Gibt es die Welt? 9783495860465, 9783495486689


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Table of contents :
Vorrede
Inhalt
1. Realismus und Idealismus
2. Was heißt: »Es gibt«?
3. Faktizität
4. Objektivität
5. Einzelheit
6. Welt
7. Widerlegung des Realismus und des Idealismus
8. Innenwelt und Außenwelt
9. Erkenntnistheoretischer Explikationismus
10. Vorgegebenheit und Konstruktion
Personenregister
Sachregister
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Gibt es die Welt?
 9783495860465, 9783495486689

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Hermann Schmitz

Gibt es die Welt?

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495860465

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Hermann Schmitz Gibt es die Welt?

VERLAG KARL ALBER

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Die Welt gibt es nicht als fest vorgegebenen, wenn auch veränderlichen Bestand. Sie ist eine Form mit bestimmter Struktur, ein Rahmen, der nie durchgängig auf eine einzige Weise gefüllt ist. Dieser Rahmen versteht sich nicht von selbst. Zu seinen Voraussetzungen gehören Einzelheit und Selbstheit (dass etwas selbst ist, gleichsam in eigener Person). Diese Voraussetzungen hängen von Ereignissen ab, die auch ausbleiben können. Die Schichten des Vorgegebenen und des Konstruierten im Aufbau der Welt werden sorgfältig unterschieden. Dabei erledigt sich mit dem Realismus auch der konstruktive Idealismus.

Der Autor: Hermann Schmitz, geb. 1928 in Leipzig, promoviert 1955, habilitiert für Philosophie 1958; 1971 bis 1993 ordentlicher Professor für Philosophie an der Universität Kiel. Begründer der Neuen Phänomenologie. Autor zahlreicher Bücher und Aufsätze. Zuletzt im Verlag Karl Alber erschienen sind: Der Weg der europäischen Philosophie. Eine Gewissenserforschung (2007), Logische Untersuchungen (2008), Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie (2009), Jenseits des Naturalismus (2010), Bewusstsein (2010), Das Reich der Normen (2012), Kritische Grundlegung der Mathematik (2013) und Phänomenologie der Zeit (2014).

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Hermann Schmitz

Gibt es die Welt?

Verlag Karl Alber Freiburg / München

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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2014 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48668-9 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-86046-5

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Dem Andenken an Erich Rothacker (1888–1965) gewidmet

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Inhalt

Vorrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Realismus und Idealismus . . . . . . . . . . . . . . .

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. . . . . . . . . . . . . . . . .

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3. Faktizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4. Objektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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5. Einzelheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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6. Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Was heißt: »Es gibt«?

7. Widerlegung des Realismus und des Idealismus . . . 109 8. Innenwelt und Außenwelt . . . . . . . . . . . . . . . 116 9. Der erkenntnistheoretische Explikationismus . . . . 131 10. Vorgegebenheit und Konstruktion . . . . . . . . . . 141 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149

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Vorrede

Philosophie ist, meiner Bestimmung ihres Wesens nach, Sichbesinnen des Menschen auf sein Sichfinden in seiner Umgebung auf Grund einer Beirrung dieses Sichfindens. Die Umgebung besteht zunächst in den Situationen, in denen er lebt, aber er kann in diesen Situationen nicht befangen bleiben und übersteigt sie auf einen Rahmen hin, der alle Situationen umfasst und übertrifft: die Welt. Der Abstand des Menschen von dieser ihn überragenden Umgebung ist so groß, dass er zur Beirrung einlädt und Fragen weckt wie diese: Gibt es sie überhaupt, die Welt? (Frege und Carnap hielten diese Frage für sinnlos, doch wird sich ihr Irrtum schnell herausstellen.) Und wenn ja, wie gibt es sie? Wie stabil, wie verlässlich ist sie? Die Erörterung dieser Fragen und meine Antworten darauf bilden den Inhalt dieses Buches. Es schreibt für wichtige (wenn auch nicht alle) Themen mein älteres Buch Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie (Bonn 1994) fort. Ich erinnere auch an meinen Artikel »Welt« in: Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Band 3, Freiburg / München 2011, S. 2466–2486. Das Buch ist dem Andenken an Erich Rothacker gewidmet. Der Grund dafür wird am Ende des 9. Kapitels angegeben. Hermann Schmitz

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1. Realismus und Idealismus

Die Rede ist hier von der Welt schlechthin, im bestimmten Singular, der den Plural (»Welten«) ausschließt. Für philosophische Standpunkte in der Frage, ob und wie die Welt existiert, sind »Realismus« und »Idealismus« geläufige Titel. Für den Realisten ist die Welt einfach da, wenn auch vielleicht nicht von selbst und nicht fertig, aber weitgehend ohne Rücksicht auf den Menschen, der in ihr vorkommt. Für den Idealisten ist die Welt ein Beiwerk (Epiphänomen) menschlichen Vorstellens (Bewussthabens) oder einer analog dazu im Menschen unbewusst wirkenden Gestaltungskraft oder eines Bewussthabens, das in gewissem Sinn übermenschlich ist, zu dem sich der Mensch aber erheben kann, wenn er sich darauf besinnt, was er eigentlich ist. Der Gegensatz beider Positionen ist zunächst ontologisch, wird aber meist als erkenntnistheoretischer verstanden, obwohl er für die Erkenntnis nicht sehr viel ausmacht. Schon Kant, ein Idealist, lehrt die Gleichgültigkeit wissenschaftlicher Erkenntnis dieser Alternative gegenüber, in dem Maß, dass selbst der extreme Idealismus, der Solipsismus, der die Welt im Bewussthaben eines Bewussthabers untergehen lässt, dieser Erkenntnis keine Schwierigkeit bereite: »Wie wenn das idealistische System (dass ich selbst allein die Welt bin) das allein von uns denkbare wäre? Die Wissenschaft würde dabei nichts verlieren – Es kommt nur auf den gesetzmäßigen Zusammenhang aller Erscheinungen an.« 1 Um so größer ist die anthropologische Bedeutung der Frage. Sie betrifft die Stellung des Menschen in und zur Welt, die nach realistischer Ansicht dem Menschen im Wesentlichen vorAkademieausgabe von Kants Schriften, Band XXI, S. 88 Z. 3–6 (Opus postumum).

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gegeben ist, abgesehen von den verhältnismäßig kleinen Ausschnitten in ihr, die er durch sein Wirken gestaltet; das gelte ebenso ontogenetisch (für den Einzelnen) wie phylognetisch (für die Menschheit). Ein typischer Vertreter dieses – den Menschen gewöhnlich selbstverständlichen – Realismus war Nicolai Hartmann, der das »anthropologische Grundverhältnis« als »die Einbettung des Menschen in die vorbestehende reale Welt, wozu auch die ganze Mannigfaltigkeit seiner Anpassungen an sie gehört«, versteht. 2 »Der Mensch steht eben von vornherein und unabhängig von allem Erkennen in der Welt, die ihrerseits auch ohne ihn da war. Das Auftreten des Menschen in der Welt ist sekundär und setzt, anthropologisch gesehen, sie schon als bestehend voraus.« 3 Der Idealismus kappt diese Überzeugung der Vorgegebenheit, indem er die Welt zu einem Nachtrag menschlichen oder den Menschen wenigstens beteiligenden Vorstellens und Gestaltens herabsetzt. An dieser Stelle wird die Alternative philosophisch besonders wichtig. Philosophie ist, wie ich seit 1964 oft gesagt habe, Sichbesinnen des Menschen auf sein Sichfinden in seiner Umgebung. Dass es ihrer zum Menschsein bedarf, ergibt sich aus dem Verhältnis des Menschen zu den Situationen, in denen er sich befindet. Tiere sind in Situationen (aktuellen und zuständlichen) gefangen. Der Mensch kann dank seines Vermögens satzförmiger Rede aus den Situationen, einzelne Bedeutungen (Sachverhalte, Programme, Probleme) aus ihnen entbindend und zu Konstellationen kombinierend, heraustreten, sie in den Griff nehmen und überholen. Damit verliert er aber die den Tieren selbstverständliche Fassung durch den Nomos (den Programmgehalt) der Situationen. Er findet sich selbst gleichsam neben den Situationen und muss doch in ihnen leben. Dazu bedarf er – nicht immer, sondern erst, wenn instinktive Sicherheit Kleinere Schriften I, Berlin 1956, S. 226 (Naturphilosophie und Anthropologie) 3 Ebd. S. 218 2

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und Gewohnheit ihn nicht mehr fest tragen – der Besinnung auf sein Sichfinden in seiner Umgebung, der Philosophie, sei es der wissenschaftlichen oder meist der spontanen, alltäglichen seiner Einfälle und aufgegriffenen Annahmen. Weil er aber über die Situationen hinaus ist, genügt ihm nicht die wendige Einstellung auf diese oder jene Situation, sondern sein Horizont ist weiter, bis hin zu einer großen, alle Situationen umfassenden Umgebung, der Welt. An sie richtet er die Frage: Was muss ich gelten lassen, als Gebender (z. B. in Verpflichtungen) und als Nehmender (z. B. in zugemuteten Überzeugungen)? Für die Antworten, die er sucht, wird seine realistische oder idealistische Einstellung ins Gewicht fallen. Wenn er an die wesentliche Vorgegebenheit der Welt glaubt, wird seine Neigung zur Anpassung gestärkt werden, vielleicht aber auch auf dem Hintergrund der Vorgegebenheit sein Mut und Eifer in Inseln selbständigen Gestaltens zunehmen. Wenn er dagegen als Idealist meint, an der Welt im Ganzen trotz aller unvermeidlichen Details beteiligt zu sein, wird seine Bereitschaft zur Anpassung einen breiteren Spielraum für Vorbehalte haben. Auf jeden Fall wird die Besinnung des Menschen auf sein Sichfinden in seiner Umgebung dadurch beeinflusst, wie sehr er glaubt, sich auf diese Umgebung verlassen zu können. Wenn er als Realist an die wesentliche Vorgegebenheit der Welt glaubt, wird dieser Verlass festere Wurzeln haben als im anderen Fall. Carnap 4 unterscheidet, bezüglich auf einen durch eine geregelte Sprechweise abgegrenzten Gegenstandsbereich, interne und externe Fragen. Die internen Fragen betreffen die Existenz von Gegenständen innerhalb des Rahmens, die externen die Existenz des ganzen Systems der betreffenden Gegenstände. Die internen Fragen können nach Carnap mit logischen oder Rudolf Carnap: Empiricism, Semantics, and Ontology, in: Revue Internationale de Philosophie 4, 1950, S. 20–40, leicht geändert wieder abgedruckt in: R. C., Meaning and Necessity, enlarged edition, Chicago 1956, S. 205– 221, danach hier wiedergegeben.

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empirischen Methoden beantwortet werden. Dagegen sei die Erledigung der externen Fragen keine Aufgabe der Erkenntnis, sondern der Entscheidung für eine das Gebiet einführende systematische Sprechweise. »An alleged statement of the reality of the system of entities is a pseudo-statement without cognitive content.« (S. 214) Als erstes Beispiel diskutiert Carnap die Frage, ob es die Dingwelt gibt. »Realists give an affirmative answer, subjective idealists a negative one, and the controversy goes on for centuries without ever being solved. And it cannot been solved because it is framed in a wrong way. To be real in the scientific sense means to be an element of the system; hence this concept cannot be meaningfully applied to the system itself.« (207)

Carnap übersieht den Richtungsunterschied philosophischen und spezialwissenschaftlichen Erkenntnisbemühens. Dass sich der Mensch um Wissen auf speziellen Gebieten mit einer darauf abgestellten geregelten Sprechweise bemüht, entspricht seiner natürlichen Anlage und Aufgabe, aber unter dem Vorbehalt einer philosophischen Besinnung auf sein Sichfinden in seiner Umgebung. Indem er nämlich eine Sprechweise annimmt, die belastbar genug für Existenzbehauptungen ist, hat er sich schon entschieden, etwas gelten zu lassen, und damit die philosophische Besinnung, was er überhaupt gelten lassen muss, absolviert oder übersprungen. Carnap will ihm diese vorrangige Aufgabe abnehmen. Er argumentiert mit einer improvisierten Philosophie gegen das Philosophieren. Aus dem verlorenen Protreplikos des Aristoteles, seiner Werberede für die Philosophie, wird folgendes Argument überliefert: Wenn zu philosophieren ist, dann ist zu philosophieren; wenn aber nicht zu philosophieren ist, dann ist auch zu philosophieren (nämlich, um sich wegen der Ablehnung zu rechtfertigen); also ist zu philosophieren.5 Car5

Belege bei W. D. Ross, Aristotelis Fragmenta Selecta, Protreptikos Nr. 2

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nap befindet sich in der vertrackten Lage eines Mannes, der philosophiert, um das Philosophieren als überflüssig zu erweisen. Die Grundannahme des Realismus, die Vorgegebenheit der Welt, kann man sich durch das Gedankenexperiment verdeutlichen, dass es prinzipiell – mindestens für einen Allwissenden – möglich ist, die Welt zu inventarisieren. Im menschlichen Leben werden z. B. beim Tode eines Erblassers oder bei Schließung und Scheidung einer Ehe Inventare eines Vermögens erstellt, um dessen Weitergabe und / oder Verteilung regeln zu können. Die Vorgegebenheit der Welt für deren partielle Fortführung durch Menschen könnte entsprechend als Vergleichbarkeit des riesigen Vermögens Welt beim Eintritt und beim Austritt der Menschen durch entsprechende Inventare veranschaulicht werden. Die Präzisierung dieses Vergleichs werde ich im Folgenden als Instrument einer kritischen Prüfung der realistischen Position benützen. Während der Realismus ziemlich durchsichtig ist, macht die Festlegung der idealistischen (genauer: subjektiv-idealistischen) Position größere Schwierigkeiten. Die Abhängigkeit der Welt von einem Bewussthaber genügt nicht, sofern dieser transzendent und also nicht dem Menschen (wenigstens unterschwellig) eingegeben oder erreichbar ist; sonst wären alle Konzepte von Gott als Weltschöpfer und -erhalter idealistische Positionen. Mit Recht betont Fichte, dass Berkeleys System kein idealistisches ist 6 , trotz »esse est percipi«, weil Gott in diesem System die Welt ersetzt. Auch Leibniz war kein Idealist. Der subjektive Idealismus kommt erst nach ihm zur Sprache, indem Kant lehrt: »Wir haben in der transzendentalen Ästhetik hinreichend bewiesen: dass alles, was im Raume oder in der Zeit angeschauet wird, mithin alle Gegenstände einer uns möglichen Erfahrung, Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 1. Abteilung, Band 4, S. 198 Z. 8 f. (Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre)

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nichts als Erscheinungen, d. i. bloße Vorstellungen sind, die, so wie sie vorgestellt werden, als ausgedehnte Wesen, oder Reihen von Veränderungen, außer unseren Gedanken keine an sich gegründete Existenz haben. Diesen Lehrbegriff nenne ich den transzendentalen Idealismus.« 7

Das ist eine milde Version des Idealismus, Berkeleys »esse est percipi« ohne Gott; Schopenhauer macht sie sich im ersten Paragraphen seines Hauptwerks Die Welt als Wille und Vorstellung zu eigen, indem er als allergewisseste Erkenntnis den Satz »Die Welt ist meine Vorstellung« verkündet, den er so interpretiert, dass für den Menschen »die Welt, welche ihn umgibt, nur als Vorstellung da ist, d. h. durchweg nur in Beziehung auf ein anderes, das Vorstellende, welches er selbst ist.« Freilich ist es mit dieser Gewissheit nicht weit her, sie ist durch ein Wortspiel erschlichen. Unzweifelhaft richtig ist der Satz nur, wenn er besagt, dass ich mir (jetzt gerade) die Welt vorstelle, was ich mühelos kann, sobald ich das Wort verstehe, aber daraus folgt doch nicht, dass die Welt nur in meiner Vorstellung ist. Kant ergänzt den milden Perzeptionsidealismus (Sein der empirischen Welt als ihr Vorgestelltwerden durch mich und meinesgleichen) durch den weit schärferen konstruktiven Idealismus, indem er lehrt, dass Gegenstände in der Welt nur mit Urteilsformen des menschlichen Verstandes durch eine davon geleitete Synthesis der Einbildungskraft hergestellt werden und die Welt nichts als die Idee einer ins Unendliche verlängerbaren Ausbreitung dieser Synthesis ist. Der Hauptvertreter dieses konstruktiven Idealismus ist Fichte in seinen späten Jenaer Jahren (etwa 1796–1799) nach seinem ersten Hauptwerk Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794/95), in dem er statt des reinen Idealismus noch eine Mischung von Idealismus und Realismus vertritt. 8 In Kritik der reinen Vernunft A490 f. B518 f. Fichte-Gesamtausgabe, Abteilung 1, Band 2, S. 412 Z. 20–30 »Dies, dass der endliche Geist notwendig etwas Absolutes außer sich setzen muss (ein

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der bald folgenden, durch eine Vorlesungsnachschrift unbekannter Schreiber belegten Wissenschaftslehre nova methodo sind die Bedenken zu Gunsten eines reinen konstruktiven Idealismus entfallen. Folgende Zitate mögen das belegen: »Die ganze Natur ist Produkt der Einbildungskraft.« 9 »Mein reines Denken hingeschaut ist Erscheinung und gibt die Welt.« 10 »Das Bestimmbare bezogen auf das Bestimmtsein ist die ganze Welt. Also haben wir hier ein wichtiges Resultat, nämlich Ich = x, Leib, Geist und Sinnenwelt ist ganz dasselbe, nur verschieden angesehen. Dieses ist der Geist der Wissenschaftslehre. (…) Alles aber ist eines, der einzige Gegenstand des Bewusstseins bin immer Ich selbst, und dieses Ich spaltet sich immer nach den Gesetzen des Bewusstseins selbst.« 11

Mit dieser monistischen Wendung hat sich der subjektive Idealismus allerdings ad absurdum geführt, denn wenn die Welt Produkt des reinen Denkens oder der Einbildungskraft und ganz dasselbe wie das Ich, nur anders angesehen, ist, wird auch das Ich, das Subjekt, zum Produkt der Einbildungskraft, und es bleibt nur noch Eingebildetes ohne Einbildenden übrig. Diese Konsequenz hat Fichte selbst gezogen 12 , und sie wird dem subDing an sich) und dennoch von der anderen Seite erkennen muss, dass dasselbe nur für ihn da sei (ein notwendiges Noumen sei), ist derjenige Zirkel, den er ins Unendliche erweitern, aus welchem er aber nie herausgehen kann. Ein System, das auf diesen Zirkel gar nicht Rücksicht nimmt, ist ein dogmatischer Idealismus; denn eigentlich ist es nur der angezeigte Zirkel, der uns begrenzt und zu endlichen Wesen macht: ein System, das aus demselben herausgegangen zu sein wähnt, ist ein transzendenter realistischer Dogmatismus. Die Wissenschaftslehre hält zwischen beiden Systemen bestimmt die Mitte, und ist ein kritischer Idealismus, den man auch einen Real-Idealismus, oder einen Ideal-Realismus nennen könnte.« 9 Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Abteilung 4, Band 2, S. 216 Z. 12 f. 10 Ebd. S. 243 Z. 14 11 Ebd. S. 228 Z. 12–15. 20–22 12 Fichte-Gesamtausgabe, Abteilung 1, Band 6, S. 251 Z. 17–20: »Alle Rea-

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jektiven Idealismus in der Tat gerecht; denn wenn alles Gegenständliche nur vom Denken oder einem anderen Vermögen vorgestellt oder konstruiert sein soll, ist gar nicht einzusehen, wie das Subjekt, das doch selbst ein Gegenstand des Denkens ist, davon ausgenommen werden könnte. Der radikale Konstruktivismus Fichtes ist in einer philosophischen Strömung oder Schule, die sich selbst so nennt und in den letzten Jahrzehnten (bis vor einiger Zeit) virulent war, wieder aufgelebt. »Der Radikale Konstruktivismus kommt auf der Grundlage physikalischer, chemischer und biologischer empirischer Theorien zu der Behauptung, Menschen als autopoietische Systeme könnten nur in ihren Kognitionsbereichen handeln und die Wirklichkeit als solche überhaupt nicht erkennen.« 13

»Die Frage – Was ist der Gegenstand der Erkenntnis? wird damit sinnlos. Es gibt keine Gegenstände der Erkenntnis. Wissen heißt fähig sein, in einer individuellen oder sozialen Situation adäquat zu operieren.« 14 Soll das ohne Anpassung gehen, oder Anpassung ohne Erkenntnis von Gegenständen? Der steile Anspruch des radikalen Konstruktivismus wirkt halsbrecherisch und ist wegen mannigfacher Widersprüche und Fehleinschätzungen so nicht haltbar 15, schon deshalb nicht, weil die Berufung auf Physik, Chemie und Biologie nicht mehr taugt, wenn man die Wirklität verwandelt sich in einen wunderbaren Traum, ohne ein Leben, von welchem geträumt wird, und ohne einen Geist, dem da träumt; in einem Traum, der in einem Träume von sich selbst zusammenhängt.« (Die Bestimmung des Menschen, 2. Buch) 13 Siegfried J. Schmidt, Der radikale Kontruktivismus. Ein neues Paradigma im interdisziplinären Diskurs, in: Der Diskurs des radikalen Konstruktivismus, hg. v. Siegfried J. Schmidt, Frankfurt a. M. 1990, S. 39 14 Humberto B. Maturana: Erkennen. Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit, Braunschweig 1985, S. 76. Maturana gilt als Stifterfigur des radikalen Konstruktivismus. 15 Sorgfältig untersucht in: Rolf Nüsse, Robert Groeben, Burkhard Freitag,

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Realismus und Idealismus

lichkeit nicht erkennen kann (und die Erkenntnis keinen Gegenstand hat), aber als philosophische Extremposition gleichwohl der Beachtung und Diskussion wert. Eine Sonderstellung nimmt der subjektive Idealismus ein, den Husserl im 1. Buch seines Werkes Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, dem Manifest seiner phänomenologischen Bewegung, vertritt. Folgende Zitate mögen das Wesentliche geben: »Andererseits ist die ganze räumlich-zeitliche Welt, der sich Mensch und menschliches Ich als untergeordnete Einzelrealitäten zurechnen, ihrem Sinn nach bloßes intentionales Sein, also ein solches, das den bloßen sekundären, relativen Sinn eines Seins für das Bewusstsein hat als in Bewusstseinssubjekten durch Erscheinungen erfahrbares und sich als Bewährungseinheit von Erscheinungen möglicherweise in infinitum bewährendes. Es ist ein Sein, das das Bewusstsein in seinen Erfahrungen setzt, das prinzipiell nur als Identisches von einstimmig motivierten Erfahrungsmannigfaltigkeiten anschaubar und bestimmbar – darüber hinaus aber ein Nichts ist, oder genauer, für das ein Darüberhinaus ein widersinniger Gedanke ist.« 16 »Eine absolute Realität gilt genauso viel wie ein rundes Viereck. Realität und Welt sind hier eben Titel für gewisse gültige Sinneseinheiten, nämlich Einheiten des ›Sinnes‹, bezogen auf gewisse ihrem Wesen nach gerade so und nicht anders sinngebende und Sinnesgültigkeit ausweisende Zusammenhänge des absoluten, reinen Bewusstseins.« 17

Margrit Schreier: Über die Erfindung/en des Radikalen Konstruktivismus. Kritische Gegenargumente aus psychologischer Sicht, Weinheim 1991 16 Erstausgabe von 1913 S. 93, in: Husserliana III, hg. v. Walter Biemel 1950 S. 117 17 Erstausgabe S. 106, ed. Biemel S. 134

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Realismus und Idealismus

Dieses reine Bewusstsein ist dem einzelnen Menschen nicht unerreichbar; er kann sich nach Husserl durch Epoché, Enthaltung vom sogenannten natürlichen Weltglauben, in es versetzen und dann als vorweltliches reines Ich die Welt »konstituieren« und auch sich selbst durch verweltlichende Selbstapperzeption zum innerweltlichen Menschen mit Körper, Schicksalen usw. machen. Die Wendung, dass das Bewusstsein die Welt mit ihren realen Inhalten in seinen Erfahrungen »setze«, klingt zwar nach einer perzeptiven und konstruktiven Abhängigkeit wie bei Kant und Fichte, aber das zweite Zitat weist eher auf eine Art magischer Bindung dem Sinn nach hin, als ob die Welt nur durch Sinnzusammenhänge bestehen könne, die sich nach Sinnzusammenhängen des Bewusstseins richten. Warum das so sein soll, bleibt zwar dunkel, aber ein erweiterter Sinn von Idealismus zeichnet sich ab, der nicht wie bei Kant und Schopenhauer eine Abhängigkeit der Welt vom bloßen Vorstellen oder wie bei Kant und Fichte vom Konstruieren des Subjektes meint, sondern eine Beteiligung anderer Art, womit der Bewussthaber und sein Bewussthaben einen unerlässlichen Beitrag dazu leisten, dass es die Welt gibt. In diesem ganz weiten Sinne, der aber nur mit umständlichen Vorbereitungen in phänomenologisch geprüfter und haltbarer Form herausgearbeitet und gegen Missverständnisse geschützt werden kann, könnte ich mich selbst dem Idealismus anschließen.

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2. Was heißt: »Es gibt«?

Philosophen antworten oft: Es gibt alles, wenigstens alles, wovon man reden kann. Dann kann man von dem, was es nicht gibt, dem Nichtseienden, gar nicht reden. Daraus macht schon Platon ein Problem. Nach seiner Meinung redet man immer nur von etwas, und wenn von etwas, von Seiendem, so dass es unmöglich wäre, von etwas, das es gar nicht gibt, zu sprechen, auch nur, um zu sagen, dass es nicht ist. 18 Die Überdehnung ohne das Problem kehrt bei Hume wieder: »An irgend etwas einfach denken, und an etwas als ein Existierendes denken, das sind nicht zwei verschiedene Dinge. Die Vorstellung der Existenz fügt, wenn sie mit der Vorstellung eines beliebigen Gegenstandes verbunden ist, nichts zu ihr hinzu.«19 Das Problem greift Markus Gabriel auf: »Wenn Judith die Eigenschaft hat, nicht zu existieren, muss sie dann nicht existieren? Schließlich kann etwas, das nicht existiert, keine Eigenschaften haben.« 20 Er löst es mit einer widerspruchsvollen Behauptung: »Es gibt auch alles, was es nicht gibt – nur gibt es dies alles nicht im selben Bereich. Elfen gibt es im Märchen, aber nicht in Hamburg.« 21 Das ist paradox, genau besehen Unsinn, und schlägt allem ins Gesicht, womit Menschen sich abfinden müssen. Wer etwas entbehrt, leidet daran, dass es dieses, das er braucht, hier und jetzt nicht gibt. Vielleicht anderswo, aber nicht dieses, das hier und jetzt fehlt; in der wirklichen Sophistes 237 d. e David Hume, Ein Traktat über die menschliche Natur, deutsch mit Anmerkungen und Register von Theodor Lipps, mit einer Einführung neu herausgegeben von Reinhard Brandt, Hamburg 1973, erste Seitenzählung S. 90 f. (1. Buch, 2. Teil, 6. Abschnitt) 20 Markus Gabriel, Warum es die Welt nicht gibt, Berlin 2013, S. 115 21 Ebd. S. 23 18 19

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Was heißt: »Es gibt«?

Welt mag er es suchen, aber doch nicht im Märchen, denn es wäre blanker Hohn, ihm zu sagen, dass es das Gesuchte eben doch gebe, aber nur im Märchen. Es dort zu suchen, wäre verrückt, denn, was es nur im Märchen gibt, gibt es nicht, erst recht nicht als seiendes Nichtseiendes. Es ist auch ganz verkehrt, zu meinen, dass man vom Nichtseienden nicht sprechen könne und es keine Eigenschaften habe. Wer das behauptet, schneidet dem menschlichen Erwarten, Planen, Phantasieren, Hoffen und Fürchten den Spielraum zum Ausgreifen ins Nichtseiende ab. Goethes Werther ist nicht weniger bestimmt als Goethe, aber nicht in der wirklichen Welt – der Welt schlechthin, die nur im Singular vorkommt –, sondern in einer bloß möglichen Welt, in die uns die Angaben des Dichters nur dürftige Einblicke gestatten; wir wissen nicht, welche es ist. Die Überdehnung des Seins auf alles, wovon man sprechen kann, ist an sich eine bloße Marotte der Philosophen, die man wegblasen kann wie ein Spinngewebe. Sie hat aber ein mächtiges Gewicht und Ansehen gewonnen durch den Einfluss Freges auf die mathematische Logik und die daran anschließende (sogenannte analytische) Philosophie. Frege überführt die Existenzbehauptung in die partikuläre Quantifikation. Durch partikuläre Quantifikation wird aus dem Gedanken, dass irgend ein Gegenstand in gewisser Weise bestimmt ist, die Behauptung, dass mindestens ein Gegenstand die betreffende Bestimmung besitzt. Wenn ein so bestimmter Gegenstand gefunden wird, darf geschlossen werden, dass mindestens ein Gegenstand so bestimmt ist. Frege deutet die Existenz eines Gegenstandes in das logische Recht um, aus jeder wahren Aussage, die einem Gegenstand eine Bestimmung gibt, in der angegebenen Weise auf eine partikulär quantifizierte Aussage zu schließen. Die partikuläre Quantifikation wird zum Instrument einer umgedeuteten Existenzauffassung, die Existenz über alles erstreckt, worüber eine wahre Aussage gemacht werden kann, d. h. über alle Fälle irgend einer Gattung (eines Begriffs, wie er sagt), die als solche die von der Gattung verliehene Bestimmtheit haben. Eine Gegenüber22 https://doi.org/10.5771/9783495860465 .

Was heißt: »Es gibt«?

stellung des Seienden und des (gleichfalls eigenschaftlich bestimmten) Nichtseienden wird auf diese Weise ebenso unmöglich wie bei Platon und Hume. An die Stelle nichtseiender Gegenstände (z. B. des Brotes, das ein Hungriger gerade entbehrt) treten Gattungen, die keineswegs nicht sind, aber ohne Fälle sind. Frege zieht die Konsequenz, dass man von keiner Sache sagen darf, sie existiere, sondern nur noch von einem Begriff, er habe Fälle. Frege geht so weit, einen Satz wie »Es gibt Julius Cäsar« für weder wahr noch falsch, sondern sinnlos auszugeben. 22 Sein Schüler und Adept Carnap kreidete Descartes das »cogito ergo sum« an, weil niemand von sich, einem Individuum, sinnvoll sagen könne, es sei. 23 Freges Umdeutung der Existenz hat durchschlagenden Erfolg gehabt. In allen Lehrbüchern der Logik und deren Ausübungen wird der Operator der partikulären Quantifikation als Existenzquantor (Hilbert: »Seinszeichen«) bezeichnet und meist durch ein Zeichen vertreten, das dem Großbuchstaben E mehr oder weniger gleicht. Gustav Bergmann erklärte das Gelingen der Rekonstruktion des umgangssprachlichen Sinnes von »existieren« durch den Existenzquantor zu einem »Eckstein positivistischer Metaphysik.« 24 Hartmut Brands warnt vor »ontologischem Wildwuchs«, der aus dem Versuch entstehen könnte, »den Existenzbegriff des partikulären Urteils vom Existenzprädikat zu unterscheiden.« 25 In der Tat ist die Umdeutung der Existenz in partikuläre Quantifikation jedoch ein schwerer logischer Fehler. Partikuläre Gottlob Frege, Kleine Schriften, hg. v. Igancio Angellini, Darmstadt 1967, S. 174 23 Rudolf Carnap, Scheinprobleme in der Philosophie und andere metaphysikkritische Schriften, hg. v. Th. Mormann, Hamburg 2004, S. 99 (aus: Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache) 24 Nach Rainer W. Trapp, Analytische Ontologie, Frankfurt a. M. 1976, S. 24 25 Hartmut Brands, »Cogito ergo sum«. Interpretationen von Kant bis Nietzsche, Freiburg / München 1982, S. 161 22

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Was heißt: »Es gibt«?

Quantifikation hat mit Existenz nichts zu tun. Das ergibt sich schon aus folgendem einfachen Gegenbeispiel: Die gegenwärtige Krise kann die Sorge wecken, dass die Menschheit noch im 3. Jahrtausend christlicher Zeitrechnung untergehen werde. Dagegen kann man aber vernünftig mahnend die Ermunterung setzen: »Der Untergang der Menschheit im 3. Jahrtausend kann noch verhindert werden.« Völlig zu Recht lässt sich daraus folgern: »Mindestens ein Ereignis kann noch verhindert werden.« Keineswegs aber darf man, der Umdeutung Freges folgend, schließen: »Es gibt ein Ereignis, das noch verhindert werden kann.« Das wäre ein Widerspruch. Was es gibt, kann man nicht mehr verhindern. Sachlich besteht der Hauptschaden der Umdeutung im voreiligen Wegschaffen eines großen Teils der wirklichen Welt mit einem Federstrich. Die partikuläre Quantifikation erstreckt sich nämlich nur auf Mannigfaltiges, das eine Anzahl hat. Sie besagt, dass dieses Mannigfaltige mindestens einen Gegenstand enthält, also mindestens die Anzahl 1 hat; es kann sich auch um eine größere Anzahl handeln, wenn viele, vielleicht gar alle Gegenstände Fälle der betreffenden Bestimmung sind, aber irgend eine (eventuell transfinite) Anzahl muss es sein. Solches Mannigfaltiges ist numerisch, es besteht aus lauter einzelnen Inhalten (s. u. 5). Ich habe bewiesen, dass keineswegs alles Mannigfaltige numerisch ist und sogar unter den Bestimmungen jedes beliebigen Gegenstandes nicht-numerisches Mannigfaltiges vorkommt. 26 Wenn die Existenz auf den Bereich, in dem partikuläre Quantifikation sinnvoll ist, beschränkt wird, hat man dieses nicht numerische Mannigfaltige einfach weggeredet. Das mag zwar dem Mathematiker – und die moderne Logik ist von Mathematikern geformt – willkommen sein, weil die Mathematik nur das numerische Mannigfaltige zum Gegenstand hat und bemüht ist, dessen Bereich so weit

Hermann Schmitz, Kritische Grundlegung der Mathematik, Freiburg / München 2013, S. 69–77

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wie möglich auszudehnen, aber mit einem solchen Handstreich gegen die Fülle der Wirklichkeit macht man es sich zu leicht. Mit der Abweisung des seit Frege in der Logik zur Herrschaft gelangten Existenzverständnisses wird es wieder zulässig, Existenz unmittelbar von Gegenständen auszusagen und auch solche Fragen zu stellen wie: »Gibt es die Welt?« Das bedeutet aber nicht, die Existenz wie eine gewöhnliche Eigenschaft unter andere Bestimmungen einer Sache einzureihen. Vielmehr besitzt sie eine Sonderstellung, die sich in dem Satz ausdrücken lässt: Sein (Existenz, Dasein, Wirklichkeit 27 ) ist kein Attribut. Als Attribut bezeichne ich eine Bestimmung einer Sache, wenn sie für deren Identität wesentlich ist, in dem Sinn, dass eine Sache, die diese Bestimmung nicht besitzt, jedenfalls eine andere Sache wäre. Das Wort »wesentlich« ist nicht als Gegenteil von »unwesentlich, akzidentell, nebensächlich« zu verstehen; vielmehr können auch ganz zufällige Nebensächlichkeiten Attribute sein, z. B., dass ich gerade sitze, denn jemand, der jetzt stünde, könnte nicht ich sein, da niemand zugleich sitzen und stehen kann. Auch die jeweilige Zahl der Haare auf meinem Kopf ist von dieser Art. Offenbar kommen alle Attribute einer Sache mit logischer Notwendigkeit zu, da es nicht angeht, dass eine Sache eine andere als sie selbst ist. Dies gilt ohne Einschränkung allerdings nur im Bereich der objektiven Tatsachen, d. h. solcher, die jeder aussagen kann, sofern er genug weiß und gut genug sprechen kann; dass es auch andere gibt und warum für sie eine Einschränkung gemacht werden muss, soll nachher (4) gezeigt werden. Im Bereich objektiver Tatsachen steht aber fest: Jede Sache besitzt alle ihre Attribute notwendig. Daraus folgt, dass Existenz (Sein) kein Attribut ist. Wäre Existenz Attribut irgend einer Sache, dann müsste diese Sache existieren. Also wäre notwendig, dass irgend etwas existiert. Das ist aber nicht notwendig. VielAlle diese Ausdrücke sind Synonyme. Der Versuch, ihre Bedeutung zu differenzieren, verwischt nur die scharfe Gegenüberstellung von Sein und Nichtsein.

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mehr ist widerspruchsfrei möglich, wenn auch nicht wirklich, dass es gar nichts gibt. Das zeigt sich, wenn man in Gedanken alles mit Nichtsein belegt. Diese Belegung ist widerspruchsfrei; es können keine Doppelbelegungen (mit Sein und Nichtsein) auftreten, wie sie unvermeidlich wären, wenn man alles mit Sein belegen wollte. Wenn es nichts gibt, kann nichts etwas anderem den Platz im Sein streitig machen. Markus Gabriel setzt dem die Behauptung entgegen, dass es dann wenigstens die Tatsache, dass es nichts gibt, geben müsse. »Daraus folgt, dass es unmöglich ist, dass es absolut gar nichts gibt. Denn es muss mindestens eine Tatsache geben, damit es nichts anderes geben kann.« 28 Das ist falsch gedacht. Im angegebenen Fall wäre vielmehr dies, dass es gar nichts gibt, eine Tatsache, die es nicht gibt, unerachtet sie eine Tatsache wäre. Es ist also prinzipiell möglich, dass eine Tatsache, ohne etwas von ihrer Tatsächlichkeit einzubüßen, nicht existiert. Mit diesem Argument habe ich den von vielen Philosophen akzeptierten Versuch widerlegt, Tatsachen als die wirklich existierenden Sachverhalte auszuzeichnen. 29 Existenz ist also kein Attribut. Daraus folgt, dass auch Existenz-Inductiva keine Attribute sind. Ein Existenz-Inductivum ist eine Bestimmung, aus der, wenn sie Attribut einer Sache ist, logisch folgt, dass irgend eine Sache (dieselbe oder eine andere) existiert (einschließlich vergangener oder zukünftiger Existenz). Da jede Sache ihre Attribute notwendig besitzt, wäre wegen des Folgens auch die Existenz einer Sache notwendig, wenn ein Existenz-Inductivum Attribut von etwas wäre. Für keine Sache ist aber ihre Existenz notwendig, da es sogar möglich (nicht wirklich) ist, dass gar nichts existiert. Also können Existenz-Inductiva keine Attribute sein. Existenz-Inductiva sind außer der Existenz selbst z. B. die Wahrheit affirmativer Existenzsätze Wie Anmerkung 20, S. 49 Hermann Schmitz, System der Philosophie, Band IV, Bonn 1980, in Studienausgabe 2005, S. 532

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und die Tatsächlichkeit der entsprechenden Tatsachen, die Erzeugerschaft im Sinne der Leistung, eine Sache aus dem Nichtsein ins Sein zu befördern, ferner Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft; denn vergangen ist, was nicht mehr ist, gegenwärtig ist, was ist in der Weise, nicht mehr noch nicht und noch nicht nicht mehr zu sein, und zukünftig ist, was noch nicht ist (geschlossene Zukunft als vor dem Entstehen unabtrennbarer Bestandteil der offenen Zukunft). 30 Da Existenz-Inductiva keine Attribute sind, also belanglos für die Identität einer Sache als diese und keine andere Sache, kann mit jeder Sache, die durch ein Existenz-Inductivum bestimmt ist, eine Sache ohne dieses Existenz-Inductivum identisch sein. Das ist in der Tat der Fall im Verhältnis von Gegenwart und Vergangenheit als Existenz-Inductiven. Das Vergangene ist genau dasselbe wie das Gegenwärtige von einst; sonst könnte sich nämlich niemand an etwas erinnern, sondern nur an eine andere Sache als die gemeinte, nämlich eine durch den Wechsel von Gegenwart in Vergangenheit modifizierte; trotz dieser Identität besteht der Unterschied, dass das Gegenwärtige existiert, das Vergangene aber nicht, nämlich nicht mehr, ist. Eine Sache, die ist, ist also identisch mit einer Sache, die nicht ist; das ist kein Widerspruch, da Sein für Identität belanglos ist. 30 Dass diese Definitionen durch Tatsachen gedeckt sind, habe ich in Phänomenologie der Zeit (Freiburg i. Br. 2014) gezeigt, ebd. S. 149–163 über offene und geschlossene Zukunft. Der Überschuss der offenen Zukunft über die geschlossene besteht darin, dass mehr noch möglich ist als das, was noch nicht ist, mit anderen Worten: dass für Sachverhalte p sowohl möglich ist, dass p eine Tatsache sein wird, als auch, dass p keine Tatsache sein wird. Mit dem Entstehen (Übergang von Zukunft in Gegenwart) entfällt diese doppelte Möglichkeit, aber es bleibt bei der Unbestimmtheit, die aus der Falschheit des Grundsatzes der durchgängigen Bestimmung (für jeden beliebigen Gegenstand) folgt. Diese Unbestimmtheit ist also schwächer als jene, obwohl aus dieser Falschheit für die offene Zukunft auch die stärkere Unbestimmtheit (der doppelten Möglichkeit) folgt; denn sonst wäre alles Gegenwärtige und Vergangene von der Zukunft her durchgängig bestimmt.

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Diese Indifferenz der Identität gegen Existenz-Inductiva hat die Folge, dass es kein Kriterium des Seins geben kann, d. h. keine zirkelfreie (das Sein nicht schon voraussetzende) Angabe darüber, was gemeint ist, wenn man sagt, dass etwas ist. Ein solches Kriterium müsste nämlich eine scharfe Unterscheidung der Sachen, die es gibt, von den Sachen, die es nicht gibt, ermöglichen; eine solche kann aber nicht gelingen, wenn es vorkommt, dass eine Sache, die es gibt, mit einer Sache, die es nicht gibt, identisch ist. Man kann also nicht theoretisch lernen, mit Hilfe einer passenden Umschreibung, was Sein (Existenz, Wirklichkeit, Dasein) ist, sondern es nur erfahren, indem man von ihm gepackt wird, hauptsächlich in Situationen der Bedrängnis, der leiblich spürbaren Einengung. Starke Erwartungen von Philosophen aus alter und neuer Zeit werden durch diese Einsicht der Naivität überführt. Platon glaubte, das Sein wie ein gewöhnliches Attribut, wie die Farbe, vom Seienden ablesen und das Resultat in Worte fassen zu können31 , und schlug als Explikat »Vermögen« (Dynamis) vor. 32 Heidegger suchte nach dem »Sinn von Sein«, einer Umschreibung, die darüber aufklärt, »was wir mit dem Wort ›seiend‹ eigentlich meinen«, und knüpfte damit an Platons Auffassung an. 33 Solche Hoffnungen sind vergebens. Die Sonderstellung der Existenz-Inductiva neben den Attributen hat wichtige Auswirkungen auf das Verständnis der Identität, wenigstens der relativen, der Identität von etwas mit etwas. Später, bei Erörterung des Aufbaus der Einzelheit, werde ich zeigen, dass der relativen Identität die von ihr unabhängige absolute zu Grunde liegt, die Identität, selbst zu sein, noch ohne Rücksicht darauf, womit (etwa mit sich selbst) identisch. Die relative Identität wird seit Leibniz als Übereinstimmung in allen Bestimmungen verstanden, ja definiert. Das ist mit Rücksicht Kratylos 423e Sophistes 247d.e 33 Martin Heidegger, Sein und Zeit, Erste Hälfte, Halle 1927 (und öfter), S. 1 31 32

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auf die Existenz-Inductiva nach dem Gesagten unzulässig. Man müsste also wenigstens einschränken: Übereinstimmung in allen Attributen. Wenn sicher wäre, dass es außer den ExistenzInductiva keine Bestimmungen gäbe, die nicht Attribute sind, wäre das eine brauchbare Abgrenzung. Ich sehe gar keinen Anlass, die Ausnahme von den Existenz-Inductiven auf weitere Bestimmungen einer Sache auszudehnen, kann solche zusätzlichen Ausnahmen aber auch nicht ausschließen. Wenn man die Abgrenzung der Attribute offen lässt, wird die auf Attribute eingeschränkte Übereinstimmung für die Definition der relativen Identität nichtssagend, denn sie besagt nur noch, dass im Fall von Identität alle Bestimmungen, die für diese Identität wesentlich sind, übereinstimmen, und das ist selbstverständlich. Daher kann es sich empfehlen, eine bescheidenere Definition anzustreben, die nichts mehr über das Ausmaß der zur Identität erforderlichen Übereinstimmung enthält. Relative Identität liegt genau dann vor, wenn eine einzelne Sache Fall mehrerer Gattungen ist, z. B. im Fall der Identität mit sich selbst (a = a) Fall der beiden Gattungen Referens der Identitätsbeziehung und Relat der Identitätsbeziehung. Was eine einzelne Sache ist, wird später (5) erklärt und ist früher schon auseinandergesetzt worden. 34 Identität von a mit b kann demgemäß so bestimmt werden, dass eine einzelne Sache ein a (ein Fall der durch »a« beanspruchten Gattung A) und ein b (ein Fall von B) ist. Ein Beispiel: Georg ist mit Friedrich identisch, wenn Georg Friedrich Händel, der berühmte Komponist, ein Georg (einer der Träger dieses Namens) und auch ein Friedrich (ein Fall der Gattung Friedrich aller Friedriche) ist. Über das unermessliche Ausmaß der weiteren Übereinstimmungen zwischen diesem Georg und diesem Friedrich wird dadurch nichts bestimmt, aber das gehört auch nicht zu dieser Identifizierung. Von der Wirklichkeit kann man nur gepackt werden. Sie lässt sich durch keine Überlegung zur Evidenz bringen, schon gar 34

Wie Anmerkung 26, S. 28–30 und 33–47

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nicht vom ontologischen Gottesbeweis, der den Fehler macht, Wirklichkeit als Attribut zu behandeln, aber auch nicht durch Berufung auf das scheinbar unwiderlegliche Faktum, dass man gerade darüber nachdenkt. Das war der Gedankenblitz, mit dem Descartes absolute Gewissheit erzwingen wollte; sein »Cogito ergo sum« lässt sich gegen die Bedenken, die es durch den Anschein eines Syllogismus erweckte, 35 durch die Darstellung als aussagenlogischer, nicht syllogistischer Schluss absichern: »Wenn ich jetzt denke, bin ich jetzt; jetzt denke ich; also bin ich jetzt.« Freilich wurde es längst durch den Einwand von Lichtenberg in Frage gestellt: »Wir kennen nur allein die Existenz unserer Empfindungen, Vorstellungen und Gedanken. Es denkt, sollte man sagen, so wie man sagt, es blitzt. Zu sagen cogito, ist schon zu viel, wenn man es mit Ich denke übersetzt.« 36 Als reines Gedankenspiel kann man das gelten lassen, denn nicht einmal der Spruch »Ich existiere nicht« zieht einen logischen Widerspruch nach sich; er kann sogar wahr sein, wenn die halluzinierte Stimme, die ein Schizophrener oder Alkoholdelirant hört, diesen Wortlaut hat. Wenn sich Lichtenberg durchsetzt, bleibt vom »Cogito ergo sum« nur der Rumpf übrig: »Es denkt, also ist etwas.« Aber nicht einmal dieses Argument kann überzeugen. Ich zeige das, wie schon mehrfach, indem ich den Begriff des Quasi-Traumes einführe. Ein Quasi-Traum übernimmt vom echten Schlaftraum lediglich die drei folgenden Züge: 1. Dem Träumer ist die Wirklichkeit dessen, was er träumt, im Wesentlichen gewiss. Zwar können ihm Zweifel daran kommen, aber sie können sich gegen das Gewicht der Gewissheit nicht durchsetzen. 2. Aus dem Traum kann es ein Erwachen geben, bei dem sich herausstellt, dass diese Gewissheit von vornherein eine TäuVgl. das Buch von Brands, wie Anmerkung 25 Georg Christoph Lichtenbergs vermischte Schriften, Band 1, Göttingen 1853, S. 99 (nach Indizien als K76 eingeordnet in: Georg Christoph Lichtenberg, Schriften und Briefe, 2. Band: Sudelbücher Band 2, 3. Auflage München 1991, S. 412)

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schung war. Dazu genügt schon, dass dieses Erwachen möglich ist, auch wenn es nicht erreicht wird, weil der Träumer z. B. vor dem Erwachen stirbt. 3. Diese Enttäuschung ist iterierbar, in dem Sinn, dass man aus einem Traum in den nächsten usw. quasi erwacht, aber nicht echt erwacht ist, sondern immer noch weiterträumt. 37 Nun seien n > 1 über einander geschichtete Quasi-Träume als wirklich oder bei Verhinderung des Weiterträumens nach der zweiten Bedingung als erreichbar vorgestellt. Wenn n endlich ist und nach n Quasi-Träumen echtes Erwachen stattfindet, bleibt trotz Enttäuschung vieler Illusionen wenigstens die Gewissheit, dass wirklich geträumt worden ist und nun wieder im Wachzustand realistisch gedacht werden kann. Wenn aber die Leiter der geschichteten Quasi-Träume aktuell oder potentiell ins Unendliche weitergeht, führt die Quasi-Traum-Serie aus jeder Täuschung ohne Ende in eine andere, und nie wird eine gerechtfertigte Gewissheit, auch nur über das Sein des Denkens und Quasi-Träumens, erreicht. Egal, ob jemand oder nur – wie nach Lichtenberg – »es« träumt wie es blitzt, nichts bleibt von der Wirklichkeit der gesamten Leiter. Dass wir uns alle in einer solchen Leiter von Quasi-Träumen befinden, ist nicht anzunehmen, aber auch nicht logisch zwingend auszuschließen. Wenn weiter nichts als wirklich in Betracht kommt, bricht die ganze Argumentation nach Descartes und ebenso der Rest, den Lichtenberg übrig lässt, zusammen. Ein eigenes Erlebnis dieser Art berichtet Thomas Metzinger, Der EgoTunnel, Berlin 2009, S. 195 f.; er schließt mit den Worten: »Über fünf Minuten lang saß ich wie eingefroren auf der Bettkante und wagte es nicht, mich zu bewegen. Ich war mir unsicher, wie real diese Situation war. Ich verstand nicht, was gerade um mich geschehen war. Ich wagte es nicht, mich zu rühren, weil ich Angst hatte, dass ich ein weiteres Mal aufwachen könnte, in der nächsten ultrarealistischen Umgebung. In der Traumforschung ist das ein bekanntes Phänomen, man nennt es ›das falsche Erwachen‹.« Ein anderes Beispiel (nach Wolf von Siebenthal, Die Wissenschaft vom Traum, Berlin / Göttingen / Heidelberg 1953, S. 243 f.) Bei Hermann Schmitz, System der Philosophie, Band I, Bonn 1964, in Studienausgabe 2005, S. 219.

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Durch diese Überlegung will ich niemandem die Wirklichkeitsgewissheit nehmen, sondern nur auf deren Quelle hinweisen. Durch keinen Schluss von einem Attribut wie dem Denken auf das Sein kann dieses sichergestellt werden, sondern man muss es am eigenen Leibe spürend erfahren, um gewiss zu werden, dass es etwas gibt.

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3. Faktizität

Realismus ist die Überzeugung, dass die Welt, wenn auch noch nicht in endgültig fertigem Zustand, den in sie eintretenden Menschen bestimmt vorgegeben sei. Das ist das größtmögliche Ausmaß annehmbarer Vorgegebenheit, und dieser Anspruch wird zu prüfen sein. Um für die Prüfung eine Ausgangsstellung zu haben, ist es geraten, sich umzusehen, was überhaupt als Minimum vorgegeben sein muss, damit man einen Standpunkt einnehmen und dann z. B. etwas prüfen kann. Ich will nun zeigen, dass es sich dabei um Tatsachen handelt, und zwar um bloße oder – wie die Redensart lautet – nackte Tatsachen, die ihre Legitimation als solche lediglich der Wirklichkeit verdanken und nicht der Eignung für irgend welche theoretischen oder praktischen Zwecke, und dass die Legitimation absolut ist, nicht relativierbar auf Perspektiven und Standpunkte. Ob deswegen die ganze Welt (unfertig) vorgegeben ist, ist nicht gesagt. Der Rückgang auf ein sicheres Fundament ist aber schon deshalb angezeigt, weil der idealistische Gegenspieler des Realismus in Gestalt des radikalen Konstruktivismus jede Vorgegebenheit abschaffen will. Der radikale Konstruktivist v. Glasersfeld hält es für »die Tragik der abendländischen Erkenntnistheorie, dass sie von der zwar verständlichen, aber unsinnigen Annahme ausgegangen ist, dass das, was ich erkenne, schon da ist.« 38 Er will deswegen sogar die Wahrheit abschaffen, erliegt bei der Fixierung dieses Gegners aber einer verschwommenen Zweideutigkeit, wie seine folgende Äußerung zeigt: »Der radikale Konstruktivismus ist unverhohlen relativistisch. Er ersetzt den Siegfried J. Schmidt (Hg.), Der Diskurs des radikalen Konstruktivismus, Frankfurt a. M. 1990, S. 411

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Faktizität

Begriff der Wahrheit (im Sinne der wahren Abbildung einer von uns unabhängigen Realität) durch den Begriff der Viabilität innerhalb der Erfahrungswelt der Subjekte.« 39 Die Auffassung von Wahrheit, dass jemand eine von uns unabhängige Realität mit Erkenntnis dieser Wahrheit nachzeichnet, passt wohl nur mit dem Leitbild des Realismus zusammen, als ob der Betreffende eine durchgängig bestimmte Welt nur nachzuzeichnen brauchte, indem er bei jedem Zug seiner Feder nachsieht, ob der auch mit der Vorlage übereinstimmt. Das ist freilich eine sehr weitgehende und fragwürdige Annahme. Aber diesen plausiblen Angriffspunkt seines Protestes benützt v. Glasersfeld zu einer dadurch gar nicht gedeckten Exekution der »nackten« Wahrheit »nackter« Tatsachen, von denen man nicht gleich voraussehen kann, ob sie sich zu einer durchgängig bestimmten »von uns unabhängigen Realität« zusammenfügen werden. Noch weiter geht sein Gesinnungsgenosse S. J. Schmidt: »Tatsächlich liefert der Radikale Konstruktivismus keine Möglichkeit, in einem korrespondenztheoretischen Sinne zwischen Wahrheit und Falschheit von Aussagen über ›die Wirklichkeit‹ zu unterscheiden. Er liefert auch keine Handhabe, die Wahrheit seiner eigenen Aussagen (in diesem realistischen erkenntnistheoretischen Sinne) festzustellen. Vielmehr orientiert er (…) empirische Forschung radikal um auf die Frage, wie nützlich die neuen kognitiven Ordnungsrahmen für uns sind; was wir damit denken und tun können; wie sich die damit eröffneten neuen Denk- und Handlungsmöglichkeiten auf die Erreichbarkeit unserer Ziele und die Erfüllbarkeit unserer Wünsche auswirken.« 40

Ernst v. Glasersfeld, Radikaler Konstruktivismus, Frankfurt a. M. 1996, S. 56 40 Wie Anmerkung 38, S. 41 39

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Faktizität

Ausdrücklich benennt Schmidt den Realismus als Gegner, aber er schießt weit über dieses Ziel hinaus, indem er sich den Weg zur Tatsächlichkeit der nackten Tatsachen, die ausschließlich von »der Wirklichkeit« und von keiner Zweckdienlichkeit abhängen, abschneidet. Ich will zeigen, dass er sich damit die Möglichkeit nimmt, seine Ansicht vorzubringen, ohne sich selbst zu widersprechen. Ich will im Folgenden zeigen, dass die faktizistische Auffassung der Wahrheit als Zutreffen auf »nackte« Tatsachen, die nur von »der« Wirklichkeit – nicht von meiner oder deiner – abhängen und nicht durch irgend eine Zweckmäßigkeit des Wahren ersetzt werden können, unbedingt vorausgesetzt werden muss, um etwas behaupten und Glauben erwerben und finden zu können, und nur durch Ignorieren dessen, was man de facto voraussetzt, verleugnet werden kann. Die Annahme des faktizistischen Wahrheitsbegriffs wird gewöhnlich als Korrespondenztheorie der Wahrheit bezeichnet, wovon ich abrate, da dieser Titel offen lässt, womit korrespondiert wird. Wenn dafür irgend welche Sachen in Betracht gezogen werden, liegt die Umdeutung der Korrespondenz in eine Angleichung an eine Vorlage und damit das Leitbild des Realismus nahe. Der aristotelische Wahrheitsbegriff zielt auf eine Korrespondenz, die von dieser Umdeutung noch frei ist, und meint vielleicht genau den faktizistischen 41 ; erst Thomas von Aquino macht aus der Korrespondenz eine Adäquation des Intellekts an die erkannte Sache 42, und Kant lässt in diesem Sinn »Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstande« als »Namenerklärung der Wahrheit« gelten. 43 Das ist nicht nur eine unnötige Konzession an den Realismus, sondern ganz abwegig; wie könnte sich ein wahrer Spruch des Satzes »Der Himmel ist blau« dem blauen Himmel angleichen? Wenn nämlich n und enai in Metaphysik 1011b 25–27 im selben Sinn wie in der pseudo-aristotelischen Kategorienschrift 14a13 f. gebraucht werden. 42 Questiones de veritate I, questio 1, conclusio. 43 Kritik der reinen Vernunft A58B82 41

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Faktizität

Wenn man die Korrespondenz auf Tatsachen einschränken will, ist es besser, die Theorie »faktizistisch« zu nennen. Ich werde jetzt etwas zu Tatsachen sagen. Tatsachen sind tatsächliche Sachverhalte. Sie unterscheiden sich von untatsächlichen Sachverhalten dadurch, dass sie in wahren Sprüchen behauptet werden können, während jede Behauptung eines untatsächlichen Sachverhalts zwar keinen Widerspruch zur logischen Folge hat – sonst würde es sich nicht um einen Sachverhalt handeln –, aber falsch ist. Dieses Merkmal kann aber nicht zur Bestimmung des Begriffs der Tatsache verwendet werden, wenn ich mit der Annahme Recht habe, dass nur der etwas behaupten kann, der explizit oder implizit den faktizistischen Wahrheitsbegriff verwendet; denn wenn Wahrheit durch Bezug auf Tatsachen erklärt wird, kann man nicht umgekehrt Tatsachen durch Bezug auf Wahrheit bestimmen. Sachverhalte, und damit Tatsachen, werden oft als bloße Anhängsel der sprachlichen Rede angesehen; Kamlah und Lorenzen gehen so weit, den Ausdruck »Sachverhalt« als bloße Redensart zu behandeln, mit der in der Tat Sätze oder vielmehr Sprüche44 gemeint sind, wobei man sich aber verabredet hat, sie als Sachverhalte zu bezeichnen, wenn von ihnen nur solche Eigenschaften ausgesagt werden, die sie mit allen synonymen Sprüchen gemeinsam haben. 45 Diese Begriffsbestimmung ist nicht nur zirkelhaft, weil Synonymie (Sinngleichheit) wiederum nur mit (direktem oder indirektem) Bezug auf Sachverhalte eingeführt werden kann, sondern führt wie jede Reduktion der Sachverhalte auf Sprüche oder Sprüchemengen in die Irre, weil Sachverhalte vorsprachlich sind, wenn sie sich auch als diese einzelnen nur mit Hilfe der Sprache durch Rede identifizieren lassen. Dass sie Sätze sind in der Sprache gespeicherte Regeln für die Formulierung von Sprüchen; nur Sprüche, nicht Sätze, kommen in der (mündlichen oder schriftlichen) Rede vor. Dieser Unterschied wird oft, so auch von Kamlah und Lorenzen, vernachlässigt. 45 Wilhelm Kamlah, Paul Lorenzen: Logische Propädeutik. Vorschule des vernünftigen Redens, Mannheim 1967, S. 131 44

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vorsprachlich sind, also unabhängig davon, ob geredet wird, vorkommen, lässt sich schlagend an Hand der Unterscheidung zwischen objektiven und subjektiven Tatsachen beweisen. Da ich davon aber erst im nächsten Kapitel sprechen will, muss ich den Leser bis dahin vertrösten. Im Hinblick auf den bevorstehenden Beweis werde ich jetzt aber schon nach einer Bestimmung der Sachverhaltlichkeit, die keine Rücksicht auf Sprache nimmt, suchen. Meine Auskunft lautet: Sachverhalte sind diejenigen Etwasse, die etwas in Frage stellen, so dass es offen ist für eine Entscheidung, die dem Sein, der Wirklichkeit, zufällt. Wenn sich ein Frager findet, dem es auf die Entscheidung ankommt, wird der Sachverhalt zum Problem, und zwar zum theoretischen, aber nicht im Sinn einer bloß gedanklichen Übung, denn es kann sich auch um ein lebenswichtiges Problem handeln; mit »theoretisch« meine ich nur, dass die Entscheidung allein bei der Wirklichkeit liegt. Außerdem gibt es auch praktische Probleme – z. B. Was soll ich tun? –, zu denen sich Programme ebenso verhalten wie Sachverhalte zu theoretischen Problemen; dabei wird aber nicht nach der Wirklichkeit gefragt, sondern die Entscheidung richtet sich auf die Geltung einer Norm oder die Akzeptanz eines Wunsches. Sachverhalte bringen in das Gegebene nur die Eignung, befragt zu werden, die Problematizität als Potential für mögliche Problemstellung; zum wirklichen Fragen gehört eine Sprache, aber die ist für Sachverhalte nicht erforderlich. Schon die Tiere werden unruhig, wenn sie spüren, dass etwas in der Luft, d. h. in der Situation, liegt, das nicht geheuer ist, und können es doch nicht in eine Frage fassen, weil sie keine Sachverhalte als einzelne aus der Situation, in der sie gefangen sind, herauszuheben vermögen; den Menschen widerfährt oft das Entsprechende, und obwohl sie in der Explikation der Bedeutsamkeit einer Situation weiter kommen, haben sie oft Schwierigkeiten damit, die richtigen Fragen zu stellen, deren Beantwortung die Beunruhigung durch das offene Problem abschließen kann. Unter den Sachverhalten sind die Tatsachen diejenigen, die 37 https://doi.org/10.5771/9783495860465 .

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ein besonderes Verhältnis zum Sein haben, wodurch sich eine Fraglichkeit behebt, ein mögliches oder wirkliches theoretisches Problem löst. Eine echte Tatsache ist eine »nackte« oder bloße Tatsache in dem Sinn, dass ihre Tatsächlichkeit bloß von dieser Stellung zum Sein abhängt, nicht von irgend einer anderen Eignung oder Zweckdienlichkeit und nicht von einer relativierenden Einschränkung auf diesen oder jenen Standpunkt. Die faktizistische Wahrheitstheorie behauptet, dass man sinnvoll etwas nur behaupten sowie sich selbst und anderen nur glauben kann, wenn man voraussetzt, dass die oder mindestens einige Wahrheit von Sprüchen46 darin besteht, dass sie solche echten oder nackten Tatsachen angeben. Ehe ich das zu zeigen suche, will ich aber einen Blick auf die Frage werfen, wie die besondere Beziehung der Tatsachen zur Wirklichkeit näher bestimmt werden kann. Das Einfachste wäre, zu sagen: Ein Sachverhalt ist eine Tatsache, wenn er der Wirklichkeit entspricht, wenn diese sich ihm gemäß verhält. Diese Auskunft, die der fehlerhaften Adäquationstheorie der Wahrheit nach Thomas von Aquino und Kant bedenklich nahe kommt, ist aber gehaltlos, denn sie besagt nur: Eine Tatsache ist eine Tatsache, wenn es sich tatsächlich so verhält. In nichts anderem könnte die gesuchte Entsprechung bestehen. Um eine gehaltvolle Antwort zu finden, habe ich mich an die Evidenz gehalten, weil sie das Ereignis ist, in dem ein Sachverhalt als Tatsache unzweifelhaft hervortritt. In meiner ausführlichen Theorie der Evidenz 47 bin ich zu dem Ergebnis gekommen: In der Evidenz nötigt die Wirklichkeit den Betroffenen mit unbedingtem (d. h. auch durch die Mobilisierung aller Reserven seiner Kritikfähigkeit nicht überbietbarem) Ernst exiUnmittelbar kommt Wahrheit nur Sprüchen zu; im übertragenen Sinn kann man aber auch von der Wahrheit von Sätzen oder von Überzeugungen reden: Ein Satz ist wahr, wenn jeder seiner Sprüche wahr ist; eine Überzeugung ist wahr, wenn ein Spruch, der sie ausspräche, wahr wäre. 47 Hermann Schmitz, Das Reich der Normen, Freiburg i. Br. 2012, S. 24–41 (frühere Darstellungen des Themas von mir – seit 1980 – zusammenfassend) 46

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gent (d. h. mit einem Spielraum, der nur zwiespältige, nicht unbefangene, Verweigerung zulässt) die Zustimmung dazu ab, sich als einen von einem Sachverhalt Überzeugten hinzunehmen. Was gemeint ist, beleuchte ich gern an einem erdachten Beispiel aus dem Alltagsleben: Jemand hat sich eine leichtsinnige Art zu laufen angewöhnt in der Überzeugung, dass ihm nichts passieren kann; nun bricht er sich ein Bein, und damit ist er zwei Nötigungen unterworfen: erstens der automatischen Nötigung, seinen bisherigen Laufstil zu unterlassen, und zweitens der exigenten Nötigung durch die Evidenz, dass ihm eben doch etwas passieren kann. Diese Anleihe bei der Evidenz zur Bestimmung der Tatsächlichkeit hat nur den Nachteil, dass nicht alle Tatsachen evident sein können, z. B. nicht die vergangenen, die höchstens durch Erinnerung und/oder Dokumente sekundär bezeugbar sind. Um die Charakteristik auf alle Tatsachen auszudehnen, muss ich daher auf eine bloße Disposition ausweichen: Tatsachen sind die Sachverhalte, die von sich aus (ohne Rücksicht auf die Umstände) dazu geeignet sind, durch die Autorität des Seins in der Weise der Evidenz für einen Betroffenen in Kraft gesetzt zu werden. Dieses Ausweichen auf eine bloße Eignung macht deutlich, dass die Kennzeichnung von der Evidenz her ein eher peripheres Merkmal der besonderen Bindung der Tatsachen an die Wirklichkeit und nicht den Kern der Sache trifft; ich weiß mir aber nicht besser zu helfen. Ich beginne nun mein Plädoyer für die Unentbehrlichkeit des faktizistischen Wahrheitsbegriffs, wonach die Wahrheit eines Spruches auf seiner Leistung beruht, eine nackte oder bloße Tatsache darzustellen. Mein Fundament ist die Unterscheidung zwischen Aussagen und Behauptungen. Jede Behauptung ist eine Aussage, aber nicht jede Aussage ist eine Behauptung, denn es gibt Aussagen auch in Liedern, Witzen und Romanen, die nichts behaupten. Das spezifische Merkmal der Behauptungen ist der Anspruch auf Tatsächlichkeit des Ausgesagten, d. h. die mit der Formulierung der Aussage verbundene Versicherung, das das Behauptete eine Tatsache und die Behauptung deshalb 39 https://doi.org/10.5771/9783495860465 .

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wahr ist. 48 Damit ist eigentlich schon die Unentbehrlichkeit des faktizistischen Wahrheitsverständnisses für das Behauptenkönnen gezeigt, aber in der üppigen modernen Diskussion des Wahrheitsthemas gibt es einen Überfluss von Versuchen, den spezifischen Anspruch des Behauptens anders als durch Bezugnahme auf Tatsachen zu verstehen. Ein sehr einflussreicher Versuch ist das Ausweichen in die Begründbarkeit. Stegmüller wendet sich gegen den faktizistischen Wahrheitsbegriff mit der These: »Wahrheit muss als so etwas wie begründete Behauptbarkeit oder rationale Akzeptierbarkeit aufgefasst werden. Wahrheit ist rationale Akzeptierbarkeit unter idealen Bedingungen.« 49 Er setzt also die Behauptbarkeit, statt in die Bindung an Tatsächlichkeit, dieser vielmehr entgegen, indem er sie an die Begründbarkeit bindet. Eine Behauptung wäre demnach eine Aussage mit Anspruch auf Wahrheit durch Existenz eines vernünftigen Grundes. Ein solcher kann aber nur vernünftig sein, wenn er erstens selber wahr ist und zweitens wahr ist, dass die begründete Aussage aus ihm folgt. Die Wahrheit dieser beiden Aussagen kann nun natürlich nicht im Sinne des faktizistischen Wahrheitsbegriffes, der vermieden werden soll, als Tatsächlichkeit des Ausgesagten verstanden werden, also in dem Sinn, dass der Grund tatsächlich wahr ist und die Behauptung tatsächlich daraus folgt. Vielmehr muss für diese beiden Voraussetzungen deren Wahrheit in Konsequenz des rationalistischen Wahrheitsverständnisses wieder als vernünftige Begründbarkeit verstanden werden, und so werden aus den beiden Voraussetzungen im nächsten Schritt deren vier: für die Existenz des vernünftigen Grundes die Existenz eines vernünftigen Grundes für diese Existenz und die Existenz eines vernünftigen Grundes für die AbGenaueres ebd. S. 39 f. (»Anspruch« und »Versicherung« meinen hier nicht dasselbe wie »Behauptung«; sonst entstünde ein Zirkel.) 49 Wolfgang Stegmüller: Evolutionäre Erkenntnistheorie, Realismus und Wissenschaftstheorie, in: Evolutionstheorie und menschliches Selbstverständnis, hg. v. R. Spaemann u. a., Weinheim 1985, S. 5–34, hier S. 22 und 24 48

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leitbarkeit dieses vernünftigen Grundes aus jener Existenz eines vernünftigen Grundes für seine Existenz sowie zwei entsprechende Voraussetzungen für die Wahrheit der Annahme, dass die Behauptung aus dem vernünftigen Grunde folgt. Man sieht sofort, dass bei konsequentem Festhalten an dem rationalistischen statt faktizistischen Wahrheitsverständnis ein unendlicher Regress mit nach zwei Seiten exponentiell wachsenden Verästelungen folgt, die alle durchlaufen werden müssen, um sagen zu können, was behauptet (nicht bloß ausgesagt) wird, weil die einfache Berufung auf Tatsächlichkeit nicht mehr statthaft ist. Natürlich hülfe es auch nichts, den unendlichen Baum von Gründen durch die Behauptung abzukürzen: »Alle diese unendlich vielen Begründungen stehen bereit.« Das wäre eine neue Ausgangsbehauptung, an die sich wieder ein unendlicher Baum von Voraussetzungen anschließen würde. Das rationalistische Wahrheitsverständnis, das die Bindung der Wahrheit an bloße Tatsachen durch die Bindung der Wahrheit an rationale Begründbarkeit ersetzen will, scheitert also daran, dass es unmöglich wird, dem Behaupten einen Sinn zu geben, der über das bloße Aussagen hinausführt, ohne eine unendlich lange und zudem unendlich sich verzweigende Folge von Begründungen zu durchlaufen. Dieses Versagen zieht viele verwandte Ersatztheorien mit sich, etwa alle Kohärenztheorien der Wahrheit, die auf Begründbarkeit der einzelnen Behauptung durch Einbettung in einen Zusammenhang vieler sich gegenseitig tragender Behauptungen setzen und damit der rationalistischen Theorie nur einen kollektivistischen Zug verleihen. Ebenso versagt die Konsensustheorie (Peirce, Habermas), die die rationale Akzeptierbarkeit unter idealen Bedingungen nach Stegmüller als die Aussicht interpretiert, dass sich vernünftige Menschen bei sachlicher, fairer Diskussion einmal einigen werden, und diese Aussicht an die Stelle der Rücksicht auf Tatsachen setzt. Ihr fällt zusätzlich zur Last, dass kein Merkmal angegeben werden kann, wann die erwartete Übereinstimmung erreicht ist, denn diese kann durch nachträgliche Bedenken jederzeit auf41 https://doi.org/10.5771/9783495860465 .

Faktizität

gehoben werden, wofür die Geschichte der Naturwissenschaft Beispiele gibt. Solche Vorschläge bleiben im Bannkreis eines rationalistischen Ersatzes für den Faktizismus; es gibt aber auch Versuche, die exklusive Bindung der Wahrheit an Tatsachen durch eine Zweckdienlichkeit nicht rationaler Art zu ersetzen. Das ist der Fall des Pragmatismus, der die Orientierung der Wahrheit an bloßen Tatsachen durch die Rücksicht auf Nützlichkeit ersetzen will, exemplarisch bei Schmidt40, der den Korrespondenzbegriff der Wahrheit (den faktizistischen) ablösen will durch Wahrheit als Nützlichkeit für das Erreichen unserer Zwecke und die Erfüllung unserer Wünsche. Es handle sich z. B. um die Behauptung, dass es gerade regnet. Sie kann nun nicht als Berufung auf die einfache Tatsache, dass es regnet, verstanden werden, sondern nur noch als Behauptung der Nützlichkeit, zu sagen oder zu glauben, dass es gerade regnet. Aber ist denn nun diese neue Behauptung, dass diese Annahme nützlich ist, wenigstens Feststellung einer Tatsache? Natürlich ist das nicht mehr zulässig sagbar; ihr Sinn als Behauptung ist nur noch, festzustellen, dass es nützlich ist, anzunehmen, dass es nützlich ist, zu sagen oder zu glauben, dass es gerade regnet. So enthält jede Behauptung die Beteuerung ihrer Nützlichkeit, die sie erst zu einer Behauptung macht, von einer Nützlichkeitsbeteuerung höherer Stufe; keine kann von sich aus definitiv akzeptiert werden, weil die Berufung auf die schlichte Tatsache, dass etwas nützlich ist, ebenso wie die Berufung auf die schlichte Tatsache, dass es regnet, den verpönten Korrespondenzbegriff wieder einführen würde. So scheitert der pragmatistische Wahrheitsbegriff ebenso wie der rationalistische an einem unendlichen Regress vor der Aufgabe, dem Behaupten einen über das bloße Aussagen hinausgehenden Sinn zu geben. Der Pragmatismus ist sogar in einer schlechteren Lage als der Rationalismus, der im Einzelfall für rationale Akzeptierbarkeit einen Grund und ein Begründungsverfahren angeben kann, während der konsequente Pragmatist gar kein Verifikationsverfahren anbieten kann, da z. B. bezüglich der Behauptung, dass es gerade regnet, schlichtes 42 https://doi.org/10.5771/9783495860465 .

Faktizität

Nachsehen, da es wirklich regnet, als Anleihe bei dem verpönten Korrespondenzbegriff der Wahrheit untersagt ist. Dass es nicht angeht, die Bindung der Wahrheit von Sprüchen an bloße Tatsachen durch die Bindung an eine Zweckdienlichkeit oder Eignung anderer Art zu ersetzen, weil damit der spezifische Sinn des Behauptens verloren geht, dürfte deutlich geworden sein. Auf dieselbe Weise lässt sich zeigen, dass dieser Sinn auch keine Relativierung der Wahrheit und der Tatsachen verträgt, in der Weise, dass die Tatsachen, an die das Behaupten seinen Anspruch bindet, nicht mehr Tatsachen an sich (absolute Tatsachen), sondern nur Tataschen in Bezug und Einschränkung auf einen Standpunkt wären, z. B. Tatsachen nur für mich (in meiner Perspektive) oder für ein Volk oder eine Kultur. Ich zeige das an mir als Beispiel. Wenn alle Tatsachen auf Standpunkte relativiert wären, wären alle Tatsachen für mich nicht mehr frei von dieser Relativierung, nicht mehr Tatsachen an sich. Irgend eine davon sei eine Tatsache T für mich. Dass sie es ist, wäre dann auch nur eine Tatsache für mich, nicht an sich; T wäre also nur für mich für mich eine Tatsache, und wieder bahnt sich ein regressus ad infinitum an, da aus gleichem Grund die Kette zur Tatsache für mich für mich für mich usw. verlängert werden kann. Der Anspruch auf Tatsächlichkeit des Behaupteten, der im Behaupten erhoben wird, verwandelt sich dann in den Anspruch einer Tatsächlichkeit für mich, aber nur für mich für mich, vielmehr nur für mich für mich für mich … usw. ad infinitum. Einen solchen Anspruch kann niemand erheben, weil niemand (jedenfalls kein Mensch) eine unendlich lange Kette durchlaufen kann. Er kann ihn auch nicht durch summarischen Bezug auf die ganze Kette verkürzen, aus dem schon angegebenen Grund: Die verkürzte Ausgabe wäre wieder eine Behauptung, für die sich aus der Relativierung aller behaupteten Tatsachen abermals der Regress ergeben würde. Damit stellt sich heraus: Wenn das Behaupten seine spezifische Besonderheit unter den Aussagen (den Anspruch auf Tatsächlichkeit) behalten soll, muss mein Anspruch auf Tatsächlichkeit, den ich behaupte 43 https://doi.org/10.5771/9783495860465 .

Faktizität

und erhebe, auch auf irgend welche Tatsachen gehen, die an sich (nicht nur mit Einschränkung für mich) Tatsachen sind, sofern ich mich bei der Behauptung nicht irre. Eine umfassende Relativierung aller Tatsachen verträgt sich nicht mit dem Behaupten. Sie verträgt sich auch nicht mit der Glaubwürdigkeit. Der radikale Konstruktivist Ernst v. Glasersfeld führt in einem der Siegener Gespräche über radikalen Konstruktivismus aus: »Der Konstruktivismus, ich kann das nicht oft genug wiederholen, befasst sich nur mit dem kognitiven Aspekt und nicht mit dem, was ›in der Tat‹ oder tatsächlich vorhanden ist. Wenn man das genau nehmen will, müsste man von jedem Wort, das man sagt oder schreibt, sagen: Das erscheint mir so. Damit der Leser nicht den Eindruck bekommt, man möchte sagen: Das ist, wie es wirklich ist. Denn das sollte man nie sagen.« 50

Aber dann kann man auch nicht mehr sagen: Das erscheint mir tatsächlich so. Der Leser kann sich dann bei nichts, was ihm gesagt wird, darauf verlassen, dass es wirklich so gemeint ist, wie gesagt wird. Was tatsächlich die Meinung des Autors ist, weiß nicht einmal dieser selbst, da auch ihm nur noch so erscheint, was er meint, wenn er etwas sagt. Die Wendung »Das erscheint mir so« ist ja offenbar so zu verstehen, dass die behaupteten Tatsachen keine Tatsachen an sich, sondern Tatsachen für ihn, in seiner Perspektive, sind, hinter denen sich entzieht, was an sich ist, sogar, wenn es sich um den eigenen Zustand des Autors, etwa seiner Meinungen und Intentionen, handelt. Dann wird alles unglaubwürdig. V. Glasersfeld scheitert beim Behaupten daran, dass er unter dem, was er behauptet, keine nackten Tatsachen an sich gelten lässt. Zum Schluss werfe ich noch einen Blick auf eine der heute noch nicht ganz seltenen »deflationistischen« Auffassungen der Siegfried J. Schmidt (Hg.), Der Diskurs des radikalen Konstruktivismus, Frankfurt a. M. 1990, S. 408

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Faktizität

Wahrheit, die diese mehr oder weniger überflüssig zu machen suchen, die sogenannte Redundanztheorie, wonach »wahr« nur den Sinn einer bestätigenden Stellungnahme (wie »That’s true« im Englischen für »Das stimmt« im Deutschen) hat, also nur über den Sprecher (seine Zustimmung) Auskunft gibt. Diese vermeintliche Abwertung der gegenständlichen Bedeutung des Prädikats beruht auf dem Versäumnis, sich mit dem Sinn der Bestätigung zu beschäftigen. Meines Erachtens handelt es sich darum, dass der Anspruch auf Tatsächlichkeit des Ausgesagten erhoben oder wenigstens bekräftigt wird. Das ist aber der Zusatz des Anspruchs auf Tatsächlichkeit zum Ausgesagten, der das Spezifische des Behauptens ausmacht. Die Redundanztheorie erledigt also keineswegs den Zusammenhang von Wahrheit und Tatsache, sondern führt an die Einsicht heran, dass ohne diesen Zusammenhang kein Behaupten möglich ist.

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4. Objektivität

Unter »Objektivität« pflegt man die Haltung des sich besinnenden und um Erkenntnis bemühten Menschen zu verstehen, in der er bemüht ist, sein affektives Betroffensein zurückzustellen, um »sine ira et studio«, ohne Eifer für oder gegen sein Objekt, mit unbefangener Sachlichkeit diesem gerecht zu werden. So zu verfahren, ist unerlässlich für sauberen Erkenntnisgewinn und braucht gar nicht das Zeugnis des affektiven Betroffenseins zu verleugnen; denn der Mensch kann sich die Doppelseitigkeit leisten, einerseits sein affektives Betroffensein kühl zu beobachten und andererseits darin und dafür lebendig engagiert zu sein. Er hat die Fähigkeit zur Selbstkontrolle. Gefährlich wird es erst, wenn der Betreffende seine Objektivität ausschließlich setzt und sein affektives Betroffensein nur noch als einen Gegenstand auffasst, den er in nüchterner Einstellung zur Kenntnis nimmt und gleichsam seziert, statt sich beim Erkenntnisstreben zugleich darauf einzulassen. Er genießt dann die Souveränität eines Beobachters, der vermeintlich gar nicht mehr dazugehört. Das ist die Haltung Spinozas, der aus der allgemeinen Naturgesetzlichkeit folgert, es müsse »die Art der Erkenntnis für die Natur aller und jeder Dinge ein und dieselbe sein, nämlich die Erkenntnis durch die allgemeinen Gesetze und Regeln der Natur«, und daher ankündigt, er werde »die menschlichen Handlungen und Triebe ebenso betrachten, als wenn die Untersuchung es mit Linien, Flächen und Körpern zu tun hätte.« 51 Das ist der Physikalismus, den der Wiener neopositivistische Kreis (Neurath, Carnap u. a.) Ethik, Teil III, De origine et natura affectuum, Einleitung (Spinoza, Ethik, übersetzt von Otto Baensch, mit einer Einleitung von Rudolf Schottlaender, Hamburg 1955, S. 109)

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Objektivität

als Typus einer Einheitswissenschaft über alles erstrecken wollte, mit lauter gleichgültig daliegenden Mosaiksteinen, die in naturgesetzliche Zusammenhänge eingeordnet und eventuell nach Bacons Prinzipien nutzbar gemacht werden können. Diese schon bei Spinoza vom naturwissenschaftlichen Denken angetriebene extreme Versachlichung und Neutralisierung hat eine paradoxe und doch logische Folge: Der Bewussthaber, der affektiv betroffen werden kann, geht verloren. Diesen Verlust konstatiert Hume: »Ich meines Teils kann, wenn ich mir das, was ich als ›mich‹ bezeichne, so unmittelbar wie möglich vergegenwärtige, nicht umhin, jedesmal über die eine oder andere bestimmte Perzeption zu stolpern, die Perzeption der Wärme oder Kälte, des Lichtes oder Schattens, der Liebe oder des Hasses, der Lust oder Unlust. Niemals treffe ich mich ohne eine Perzeption an und niemals kann ich etwas anderes beobachten als eine Perzeption.« 52

Die gleichförmige Reihung von Liebe und Hass mit Licht und Schatten, Wärme und Kälte zeigt den Physikalismus an. Menschen sind in dieser Sicht »nichts als ein Bündel oder ein Zusammen verschiedener Perzeptionen, die einander mit unbegreiflicher Schnelligkeit folgen und ständig in Fluss und Bewegung sind, (…) Die einander folgenden Perzeptionen sind allein das, was den Geist ausmacht, während wir ganz und gar nichts von einem Schauplatz wissen, auf dem sich jene Szenen abspielen, oder von einem Material, aus dem dieser Schauplatz gezimmert wäre.« 53 David Hume, Ein Traktat über die menschliche Natur, deutsch mit Anmerkungen und Register von Theodor Lipps, mit einer Einführung von hg. v. Reinhard Brandt, Hamburg 1973, S. 326 (1. Buch, 4. Teil, 6. Abschnitt) 53 Ebd. S. 327 f. 52

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Objektivität

Diese eigentümliche Selbstvernichtung des in gleichgültiger Objektivität verharrenden Selbstbeobachters – in Lichenbergs genialem Aperçu36 auf die Spitze getrieben – ist die folgerichtige Strafe dafür, dass er sich dem affektiven Betroffensein entzogen hat, gleich dem Philosophen, der nach Lucrez am Strand den Anblick der im stürmischen Meer um ihr Leben kämpfenden Schiffer genießt, weil er sich freut, von solchen Übeln frei zu sein. 54 So kann sich der Physikalist nur deshalb in seinen Empfindungen (Mach) oder Perzeptionen (Hume) verlieren, weil er ruhig und ungerührt am Schreibtisch sitzt. Würde er buchstäblich brennen oder auch nur von »brennender« Scham befallen werden, so wäre ihm schnell klar, dass es ihn selbst gibt und nicht nur ein Haufen von Perzeptionen gewisse Modifikationen durchmacht. Nur künstliche Flucht in ein intellektuelles Asyl gestattet ihm die Selbstverkennung. Der in einseitiger Objektivität befangene Beobachter verliert sich selbst. Das liegt daran, dass er auf Grund seiner Abdeckung gegen das affektive Betroffensein keine Tatsachen zur Kenntnis nimmt, zu denen von vornherein gehört, dass es sich um ihn selbst handelt. Wittgenstein drückt dies so aus, dass in einem großen Register der Welt, wie er sie vorfand, kein Subjekt (= Bewussthaber) vorkäme. 55 Das Vorfinden als Erfolg eines Beobachtens in Objektivität kann nur Befunde in der dritten grammatischen Person erheben, die niemandem Anlass geben, etwas davon für sich selbst zu halten. Es gibt nur eine einzige Gruppe von Tatsachen, die auch dieses leisten, und das sind die Tatsachen des affektiven Betroffenseins. Affektives Betroffensein besteht darin, dass jemandem etwas nahe geht, ihm zusetzt, ihm zu schaffen macht, ihn angeht, ihm am Herzen liegt; man kann viele Umschreibungen finden. General Ludendorff hat, wie ich einmal gelesen habe, gesagt, ihm sei, als er 1918 die Niederlage Deutschlands eingestehen musste, zumute gewesen, als ob 54 55

De rerum natura, 2. Buch, Vers 1–4 Logisch-philosophische Abhandlung 5. 631

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Objektivität

etwas Liebes gestorben sei. Dem kühlen Strategen war das Ereignis nahe gegangen. Tatsachen des affektiven Betroffenseins sind solche, die einem Bewussthaber nahe gehen, erfreulich, betrübend oder auch nur seinen Eifer treibend oder lähmend. Ihr Gegenteil sind die gleichgültigen Tatsachen, gleichgültig nicht in dem Sinn, dass sie charakter- und akzentlos, ohne Unterschiede der Betonung des Wichtigen und weniger Wichtigen, wären, sondern so, dass sie keinem Bewussthaber nahe gehen, den sie persönlich berühren (wenn er eine Person ist, sonst entsprechend). Tatsachen des affektiven Betroffenseins haben allen anderen Tatsachen eine Besonderheit voraus: Jeweils höchstens einer (sehr oft keiner), und zwar der affektiv Betroffene, ist in der Lage, sie auszusagen. Wenn ein Anderer sie mir – falls ich der Betroffene bin – nachsprechen will, wird daraus eine neutrale Tatsache, die jeder sagen kann, der genug weiß und gut genug sprechen kann. Das liegt daran, dass dieses Nahegehen so unmittelbar für mich oder das meine ist, dass es sich nicht neutralisieren, d. h. von der Bindung an mich lösen und übertragen lässt. Wenn diese Nuance in einer Tatsache fehlt, gehört nichts zu ihr, das auf einen Bewussthaber, dem sie zugehört, zu schließen gestattete. Fichte fragt einmal: »Ich schreibe, es schreiben aber auch andere neben mir. Woher weiß ich nun, dass mein Schreiben nicht das Schreiben eines andern ist?« 56 Wenn es sich um das bloße Schreiben handelt, gibt es darauf keine Antwort, aus dem von Fichte genannten Grund: Ein Anderer könnte ebenso schreiben. Wenn ich aber mit Eifer oder Verdruss schreibe, weiß ich sofort, dass ich der Schreiber bin, und wenn ein Anderer mir das nachspricht, verwandelt sich die Tatsache in eine andere; denn er kann zwar sagen, dass Hermann Schmitz eifrig oder verdrossen schreibt, aber er kann nicht sagen, dass ich dieser Hermann

Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 4. Abteilung, Band 2, S. 232 (Wissenschaftslehre nova methodo)

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Schmitz bin, und nur deswegen geht dieses Schreiben mir nahe. Das gilt nicht nur für einzelne Eigenschaften, sondern auch für alle zusammen. Nach Leibniz hat Gott aus allen möglichen Welten die beste ausgewählt und dabei alle Rollen der Teilnehmer, d. h. alle Eigenschaften und Beziehungen, auf das Feinste verteilt. Die Welt, die dabei herauskommt, ist eine Welt ohne affektives Betroffensein, denn durch Gottes Wahl steht keineswegs fest, wer diese Rollen übernimmt. Eine darin ist die des Hermann Schmitz. Sie ist mir zugefallen, aber in allen Zügen dieses Mannes, die ein Anderer als ich, z. B. Gott, aussagen könnte, ist nichts enthalten, das darauf schließen lässt, dass ich er bin. Ich könnte auch ein Anderer sein. Bloß mein affektives Betroffensein bürgt dafür, dass ich er bin, weil es mich an die Schicksale des Hermann Schmitz bindet. Diese Einsicht gestattet, an die Stelle der vagen und einfühlungsbedürftigen Charakterisierung durch Nahegehen, die zur Einführung unerlässlich ist, eine begrifflich präzise und leicht objektivierbare Bestimmung zu setzen: Tatsachen des affektiven Betroffenseins sind solche, die höchstens der Betroffene, und zwar im eigenen Namen, aussagen kann. Ich nenne sie subjektive Tatsachen, genauer: für jemand, den Betroffenen, subjektive. Ihnen gegenüber stehen die Tatsachen, die jeder aussagen kann, sofern er genug weiß und gut genug sprechen kann: die objektiven und neutralen Tatsachen. Sie sind die Tatsachen, an die sich das einseitig von Objektivität geleitete Vorfinden hält, das das affektive Betroffensein um der neutralen Unbefangenheit willen nicht nur zurückstellt, sondern ganz davon abstrahiert, so dass es ihm aus dem Blick gerät. Diese Unterscheidung bringt zunächst den Gewinn, dass nicht mehr die Existenz so verschiedener Klassen von Tatsachen bestritten werden kann, da ein genaues Unterscheidungsmerkmal angegeben wird. Andererseits läge der Einwand nahe und ist auch erhoben worden, dass das affektive Betroffensein keine neue Art von Tatsachen erzeuge, sondern nur einen Aspekt, eine Beleuchtung derselben Tatsache, einmal in der Außenperspektive des neutralen Beobachters 50 https://doi.org/10.5771/9783495860465 .

Objektivität

(ohne affektives Betroffensein) und einmal in der Innenperspektive mit persönlicher Anteilnahme. Dieser Einwand ist durch die getroffene Unterscheidung hinfällig. Ich will ihn aber noch anschaulicher widerlegen, indem ich zeige, dass in der Außenperspektive vom Beobachter B derselbe Unterschied zwischen den für seinen Mitmenschen A subjektiven Tatsachen und den objektiven gemacht wird, wie A ihn durch sein affektives Betroffensein spürt. Ich zeige das am Sinn des Pronomens »ich« der ersten Person des Singulars. Als Pronomen vertritt es in einer gesprochenen oder geschriebenen Rede einen Namen des Sprechers und kann dann ohne Sinnverlust durch einen solchen Namen ersetzt werden. Eine andere Bedeutung bekommt es in Situationen, in denen es auf ausgeprägtes affektives Betroffensein des Sprechers ankommt. Dann signalisiert dieses Pronomen zudem, dass die dargestellte Tatsache keine neutrale und objektive, sondern eine für den Sprecher subjektive Tatsache ist, die höchstens er aussagen kann. Ich zeige das am Beispiel einer von mir ad hoc erfundenen Figur namens Peter Schulze. Zunächst eine Liebeserklärung, bei der sich folgender Dialog abspielt: Mann: »Peter Schulze liebt dich.« Frau: »Warum sagst du nicht: Ich liebe dich?« Mann: »Das ist doch ganz überflüssig.« Frau: »Das ist gar nicht überflüssig, gerade darauf kommt es mir an.«

Die Liebeserklärung ist missglückt, die Frau verstimmt. Sie wollte hören, was nicht jeder über Schulze sagen kann, sondern nur er über sich: sein ganz persönliches affektives Betroffensein. Nun eine Szene im Beichtstuhl: Sünder: »Peter Schulze hat gesündigt.« Beichtvater: »Sprich: Ich habe gesündigt.« Sünder: »Das ist doch ganz überflüssig.«

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Darauf verweigert der Beichtvater die Absolution, weil er an der Ernsthaftigkeit von Schulzes Reue zweifelt. Bald danach ertönt ein Hilferuf aus dem Wasser: »Hilfe, Peter Schulze ertrinkt, das bin übrigens ich.« Der Zusatz mit »übrigens« besagt, wenn »ich« als bloßes Pronomen verstanden wird, dass der Sprecher Peter Schulze ist; dieser hätte das Gemeinte dann auch so ausdrücken können: »Hilfe, der Sprecher dieser Rede, Herr Peter Schulze, ertrinkt.« Beide Formulierungen dürften aber eher Verwunderung und Neugierde als spontane Hilfsbereitschaft auslösen. Schulzes Fehler ist in allen drei Fällen, dass er das Wort bloß als Pronomen bei der Darstellung objektiver Tatsachen gebrauchen will. Was von ihm erwartet wird, ist nicht etwa ein besonders eindringlicher Gefühlsausdruck seiner Innenperspektive, der den Schaden der Formulierung nicht heilen würde, sondern die Darstellung einer für den Sprecher subjektiven Tatsache, die als Aussage sein affektives Betroffensein bezeugt und nur ihm möglich ist. Eine andere wichtige Auswertung des Unterschieds betrifft das Verhältnis einer Tatsache zu ihrem Inhalt. Zwischen subjektiven und objektiven Tatsachen gibt es keinen unüberwindlichen Inhaltsunterschied. Das ergibt sich in meinem Fall, und entsprechend in jedem, einfach dadurch, dass ich Hermann Schmitz bin. Meine Attribute müssen also auch die seinen sein, auch wenn davon abgesehen wird, dass ich er bin, denn wegen der Identität übertragen sie sich auf ihn. Das gilt sogar für mein affektives Betroffensein. Von Hermann Schmitz kann jeder, der genug weiß und gut genug sprechen kann, sagen, dass Hermann Schmitz so und so affektiv betroffen ist, und das ist dann gegebenenfalls eine objektive oder neutrale Tatsache. Aber das affektive Betroffensein, das in diese objektive Tatsache eingeht, ist nicht mein vollständiges affektives Betroffensein, weil in diese objektive Tatsache, die der Mitmensch aussagen kann, nicht eingeht, dass ich dieser so affektiv betroffene Hermann Schmitz bin, und erst daran hängt mein volles affektives Betroffensein, nicht daran, dass ein gewisser Hermann Schmitz, abgesehen da52 https://doi.org/10.5771/9783495860465 .

Objektivität

von, dass ich er bin, so betroffen ist. Hier liegt ein Unterschied vor, der nicht zum Inhalt gehört und nur die Tatsächlichkeit betreffen kann. Der bloß neutralen und objektiven Tatsache fehlt als solcher die spezifische Dringlichkeit der subjektiven, dem Betroffenen nahe zu gehen. Sie bringt das affektive Betroffensein in das Milieu einer Tatsächlichkeit, die zu matt, zu blass für es ist. Diese Blässe war es, die die Geliebte an der ihr als Liebeserklärung von Peter Schulze mitgeteilten Tatsache störte. Es gibt also nicht nur verschiedene Tatsachen, sondern auch verschiedene Tatsächlichkeiten. Wenn es aber Tatsächlichkeiten gibt, dann gibt es jedenfalls auch Tatsachen. Das ist der schlagende Beweis für die Existenz von Tatsachen, den ich im vorigen Kapitel angekündigt habe. Er macht zugleich deutlich, dass Tatsachen nicht von der Sprache und Rede abhängen. Offenbar sind viele Lebewesen affektiv betroffen, die über keine Sprache verfügen, und bei den anderen bleibt das affektive Betroffensein meistens sprachlos. Aus der Inhaltsgleichheit objektiver und subjektiver Tatsachen ergibt sich, dass sich die Notwendigkeit aller Attribute für die durch sie bestimmte Sache (s. o. 2) nicht von den objektiven Tatsachen auf die für jemand subjektiven vererbt, denn in diesen Attributen, abgesehen von seinem affektiven Betroffensein, liegt nichts, das zu schließen gestattete, dass er sie hat. Der Unterschied der subjektiven und objektiven oder neutralen Bedeutungen überträgt sich von den Tatsachen auf die Programme und die Probleme. Für die Offiziere vor einer Schlacht ist der Erfolg des Schlachtplanes ein subjektives, mit affektivem Betroffensein geladenes Programm, ein Wunsch, bei kritischem Stand der Schlacht ein ebensolches Problem, eine Sorge; an die Stelle militärischer Offiziere kann man auch die Agenten eines demokratischen Wahlkampfs setzen. Für den nüchtern referierenden Historiker und erst recht für den Geschichtslehrer, der sich und seine Schüler mit der Erzählung des Geschehens vielleicht sogar langweilt, ist die betreffende Bedeutung dagegen neutral geworden, ein bloß noch objektives Programm bzw. Pro53 https://doi.org/10.5771/9783495860465 .

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blem. Während Programme und Probleme so gut wie Sachverhalte für jemand subjektiv sein können, gilt dies nicht allgemein für untatsächliche Sachverhalte, nämlich dann nicht, wenn das affektive Betroffensein in ihnen bloß fingiert ist, indem man sich wie ein Unbeteiligter etwa bloß vorstellt, man sei traurig. In solchen Fällen stehen sie auf einer Stufe mit den objektiven Tatsachen des affektiven Betroffenseins, den z. B. ein Mitmensch von mir mit den Worten aussagen kann: »Hermann Schmitz ist affektiv betroffen.« 57 Von den subjektiven Tatsachen aus sind die objektiven erreichbar. Das geschieht willkürlich durch Objektivität als eine Haltung, in der von der Subjektivität des affektiven Betroffenseins abgesehen wird. Darunter braucht das Nahegehen nicht zu leiden; es handelt sich nur darum, neben die subjektive Tatsache eine neutrale gleichen Inhalts zu stellen, die jene verdrängen kann, aber nicht muss. Man kann affektiv betroffen sein und sich davon nüchtern Rechenschaft geben. Die Neutralisierung braucht aber nicht ein absichtliches Abschälen der Subjektivität zu sein; diese kann auch spontan abfallen, etwa bei Enttäuschung, wenn man merkt, dass man sich auf Illusionen verlassen hat und das Vertraute plötzlich fremd wird. Das Abfallen von Subjektivität ist ein normaler und unentbehrlicher Bestandteil des Reifens zur erwachsenen Person, weil es Gelegenheit schafft, das Eigene vom Fremden abzugrenzen. Umgekehrt sind von den objektiven Tatsachen aus die für jemand subjektiven niemals zu erreichen. Das liegt an der potentiellen Inhaltsgleichheit. Durch noch so großes Auffüllen einer objektiven Tatsache, z. B. durch ausdrückliche Erwähnung des affektiven Betroffenseins in ihrer sprachlichen Beschreibung, kommt man nie an eine für jemand subjektive Tatsache heran, da der Unterschied nicht am Inhalt, sondern an der anderen Tatsächlichkeit liegt. Die subjektiven Tatsachen sind also reicher als die entsprechenden objektiven oder neutralen, deren Tatsächlichkeit durch den Ausfall der Sub57

Ich habe diese Ausnahme bisher nicht berücksichtigt.

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jektivität verarmt (gleichsam abgeblasst) ist. Wenn auch nicht inhaltlich, so doch sprachlich sind von den objektiven Tatsachen her die subjektiven aber doch erreichbar. Zunächst gibt es zu jeder für jemand subjektiven Tatsache die objektive, dass es sie gibt; sodann kann ein Anderer A eine für seinen Mitmenschen B subjektive Tatsache zwar nicht aussagen (ihm nachsprechen), wohl aber kennzeichnen (z. B. als die Tatsache, die B, wenn er spräche, mit den Worten »Ich bin traurig, hungrig, glücklich pp.« darstellen würde) und daher so gut wie B (oder besser) darüber sprechen. Zur Aussage einer subjektiven Tatsache bedarf es keiner Privatsprache. Objektive und subjektive Tatsachen lassen sich mit demselben sprachlichen Material darstellen. Auch sind objektive und für jemand subjektive Tatsachen in gleicher Weise nackte oder bloße Tatsachen an sich im Sinne der unter 3 eingeführten Ausdrucksweise. Die Relativierung einer Tatsache durch ihre Subjektivität für jemand impliziert keine Abschwächung der Geltung für alle, sondern verweist auf die besondere Zugehörigkeit der Tatsache zu einem Bewussthaber, auf ihre Intimität. Dass sie aber in unbeschränkter Geltung den objektiven Tatsachen nicht nachsteht, zeigt schon der Umstand, dass es zu jeder für jemand subjektiven Tatsache die objektive Tatsache gibt, dass es diese subjektive Tatsache gibt. Man muss also zwei Verwendungen der Präposition »für« unterscheiden: einmal in der abschwächenden Form, dass es nur für jemand und nicht an sich eine Tatsache sei, dass …, und zweitens in der nicht abschwächenden Form, dass es eine für N.N. subjektive Tatsache ist, dass …, und zwar eine Tatsache mit reicherer Tatsächlichkeit als die durch Neutralisierung aus ihr gewinnbare objektive. Dies ist meine Antwort auf die Frage, wie eine Objektivierung zu Stande kommt, für die sich der Beobachter mit der Haltung der Objektivität von den subjektiven Tatsachen seines affektiven Betroffenseins so abgewendet hat, dass er von allen Tatsachen nur noch die objektiven in den Blick bekommt, in denen nichts mehr davon enthalten ist, dass es sich um ihn selbst handelt. Wer sich so von der Befangenheit in seiner Subjektivi55 https://doi.org/10.5771/9783495860465 .

Objektivität

tät frei gemacht hat, ist der Versuchung ausgesetzt, sich in dem Glauben zu wiegen, er habe nun, ungetrübt von dieser Befangenheit, die Tatsachen an sich vor Augen, nämlich die Welt als alles, was der Fall ist, die Gesamtheit der Tatsachen. 58 In Wirklichkeit registriert er nur noch einen Befund, in dem nichts ihm sagt, dass es sich bei etwas um ihn selbst handelt. Er macht den Fehler, die objektiven Tatsachen für alle Tatsachen zu halten. Auf diesem Fehler beruht ein sehr bekannt gewordener moderner Versuch, sich an die Möglichkeit der Objektivierung heranzutasten: das Buch von Thomas Nagel über den Blick von Nirgendwo. 59 Damit will ich mich nun auseinandersetzen. Nagel kommt bei der Herausschälung seiner strikten Subjektivität, er selbst zu sein, aus den objektiven Tatsachen genauso weit wie Fichte: Er bemerkt, dass in ihnen als allem, »was ich erfahren und lernen kann« (Fichte 60 ), nichts an dem Thomas Nagel, der er ist, darauf deutet, dass gerade er dieser Thomas Nagel ist. Er rettet das Fehlende aber nicht in die Auffüllung der objektiven Tatsächlichkeit zur reicheren subjektiven, sondern durch Abreise von allen Tatsachen, die in einer Weltbeschreibung vorkommen können, in ein Niemandsland: Über der konkreten Person des Thomas Nagel erhebt sich nach seiner Meinung er selbst als ein objektives Selbst, das mit einem Blick Wittgenstein, Logisch-philosophische Abhandlung, 1 und 1.1 Thomas Nagel, The View from Nowhere, Oxford 1986, von mir benützt in der deutschen Übersetzung von Michael Gebauer: Der Blick von Nirgendwo, Frankfurt a. M. 1992 60 Johann Gottlieb Fichte. System der Sittenlehre, Einleitung, Nr. 4 (FichteGesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Abteilung 1, Band 5, S. 22 f.): »(…) so liegt doch noch etwas in der Vorstellung von meiner Wirksamkeit, was mir schlechthin nicht von außen kommen kann, sondern in mir selbst liegen muss, was ich nicht erfahren und lernen kann, sondern unmittelbar wissen muss: dies, dass ich selbst der letzte Grund der geschehenen Veränderung sein soll.« Vgl. dazu den Aufschluss, den Fichte über die »Seele seines Systems«, den Satz »Das Ich setzt sich selbst«, in seinem Brief an Reinhold vom 2. Juli 1795 gibt (Fichte Gesamtausgabe, Abteilung 3, Band 2, S. 344). 58 59

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von Nirgendwo alle konkreten Personen mit ihren Perspektiven einschließlich der seinigen unperspektivisch objektiviert. Es entspricht dem absoluten Ich Fichtes, das nur sich selbst setzt, wenigstens darin, dass beide Konstrukte auf einem Ausweichen vor den objektiven als vermeintlich allen Tatsachen in eine Sonderstellung über der Welt (dem Nicht-Ich nach Fichte) beruhen. Fichte hat diese Konzeption bald gegen die eines Zwiespalts (Schweben der Einbildungskraft, transzendentaler Zirkel) gewechselt 61 ; bei Nagel findet sich nichts dergleichen. Ich halte nichts von solchen Hypostasierungen, die Nagel so weit führen, dass er nicht nur den Übergang von dem objektiven Thomas Nagel zu ihm selbst, der Thomas Nagel ist, rätselhaft findet, sondern nicht einmal daran glauben will, dass er Thomas Nagel ist, weil er sich als objektives Selbst über diesen hinaus zu heben glaubt. Über die nach seiner Meinung sonst triviale, weil durch die bloß pronominale Funktion des Wortes »ich« und seiner Synonyme erklärliche Identifizierung seiner selbst mit Thomas Nagel hinaus kommt für ihn eine ernsthafte philosophische Problematik zu Stande nur durch das objektive Selbst, das er außerdem noch sein will. 62 Ihm fehlt die Einsicht in die subjektiven Tatsachen des affektiven Betroffenseins, die nicht inhaltlich reicher sind als die entsprechenden objektiven, aber mit reicherer Tatsächlichkeit, die durch Abfallen der Subjektivität verblasst und entkräftet wird. Zwar gewinnt die Person durch die Neutralisierung von Tatsachen ungeheuer an Möglichkeiten und Weite des Horizonts, aber den Tatsachen selbst bringt diese Neutralisierung eine Verarmung.63 Im Abstieg von der Subjektivität zur Vgl. Hermann Schmitz, Die entfremdete Subjektivität. Von Fichte zu Hegel, Bonn 1992, S. 5–110 62 Wie Anmerkung 59, S. 114 63 Vgl. Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre, 2. Buch, 11. Kapitel, Wilhelm an Natalie: »Betracht ich nach so viel Jahren meinen damaligen Zustand, so scheint er mir wirklich beneidenswert. Unerwartet, in denselbigen Augenblick ergriffen mich das Vorgefühl von Freundschaft und Liebe. (…) Und wenn ich hier noch eine Betrachtung anknüpfe, so darf ich wohl be61

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Objektivität

Neutralität gewinnt die Person Distanz und Übersicht. Dazu bedarf sie der Vereinzelung und in deren Gefolge der Neutralisierung von Bedeutungen und Verfremdung von Sachen. Wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, ist die Objektivierung auch ohne ein von nirgendwo her blickendes Subjekt möglich; ihre Anwendung auf die Selbstzuwendung habe ich einmal als objektivierende spielerische Identifizierung mit Regeldistanz und persönlicher Distanz (nach Baerwald) beschrieben. 64 Wenn es gelungen ist, alle mögliche Vereinzelung mit der Welt als möglichem Feld und Rahmen zu umspannen (s. u. 6), lohnt sich das Opfer der unversehrten Tatsächlichkeit durch die Chance umfassender Vergegenständlichung. Dann braucht man keinen überweltlichen Bewussthaber. Aber man darf diese Welt, in der sich subjektive und objektive Tatsachen, Programme und Probleme mischen, nicht auf das Maß einer Welt bloß objektiver Tatsachen zurückstutzen. Dann verliert man sich aus dem Blick und wird sich doch nicht los.

kennen, dass im Laufe des Lebens mir dieses erste Aufblühen der Außenwelt als die eigentliche Originalnatur vorkam, gegen die alles übrige, was uns nachher zu den Sinnen kommt, nur Kopien zu sein scheinen, die bei aller Annäherung an jenes doch des eigentlich ursprünglichen Geistes und Sinnes ermangeln. Wie müssten wir verzweifeln, das Äußere so kalt, so leblos zu erblicken, wenn nicht in unserem Innern sich etwas entwickelte, das auf eine ganz andere Weise die Natur verherrlicht, indem es uns selbst zu verschönen eine schöpferische Kraft erweist.« 64 Hermann Schmitz, System der Philosophie, Band III, Teil 4: Das Göttliche und der Raum, Bonn 1977, in Studienausgabe 2005, S. 383–386

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5. Einzelheit

Im nächsten Kapitel werde ich die Welt als das Feld bestimmen, das, mit einer Struktur versehen, alle mögliche Vereinzelung umspannt. Daher muss ich zunächst aufklären, was es mit Einzelheit auf sich hat. In meinem Buch Kritische Grundlegung der Mathematik habe ich bewiesen, dass folgende drei Begriffsbestimmungen logisch äquivalent sind: Einzeln ist, was Element einer Menge mit der Anzahl 1 ist, wobei 1 die Anzahl jeder nicht leeren Menge ist, in der jedes Element mit jedem identisch ist; einzeln ist, was eine Anzahl um 1 vermehrt; einzeln ist, was Element irgend einer endlichen Menge ist. 65 In der gesamten philosophischen Tradition wie im Alltagsdenken achtet man nicht auf das Besondere dieser vermeintlich selbstverständlichen Eigenschaft und lässt sie in der Identität aufgehen; das ist eine verhängnisvolle Nachlässigkeit, theoretisch sowohl wie – bis ins Weltgeschichtliche hinein – lebenspraktisch. Identität ist eine der Voraussetzungen von Einzelheit, wenigstens eine Identität von den beiden, die säuberlich aus einander gehalten werden müssen, was auch nicht zu geschehen pflegt. Es gibt absolute und relative Identität. Die absolute Identität ist eine Voraussetzung, die relative eine Folge der Einzelheit. Relative Identität besteht darin, dass etwas mit etwas identisch ist; sie wird gewöhnlich allein als Identität in Betracht gezogen. Absolute Identität besteht darin, dass etwas selbst ist und, wenn noch anderes in Betracht kommt, verschieden davon. Man kann sich absolute Identität an der Möglichkeit veranschaulichen, etwas als dieses oder jenes herauszugreifen. Relative Identität setzt absolute voHermann Schmitz, Kritische Grundlegung der Mathematik, Freiburg / München 2013, S. 28–30

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raus, wie ich so bewiesen habe 66 : Relative Identität von A und B besteht darin, dass sie in allen Attributen übereinstimmen: Wenn aber auch nur zwei Attribute, x und y, verglichen werden, muss man voraussetzen, dass dasselbe A, das x besitzt, auch y besitzt, sonst hätte der Vergleich mit B keinen Sinn. Wenn diese vorausgesetzte Identität oder Selbigkeit von A von gleicher Art wäre wie die relative von A mit B, einschließlich der von A mit A (weil A = B), entstünde ein regressus ad infinitum. Dann müsste nämlich, entsprechend wie beim ersten Mal, ein C angenommen werden, das identisch ist mit dem A, das x besitzt, und dem A, das y besitzt. Unter der Voraussetzung, dass alle Identität relativ ist, würde C dasselbe Schicksal haben wie A: Es könnte seine Aufgabe nur erfüllen durch ein D, das identisch ist mit dem C, das identisch ist, mit dem A, das x besitzt, aber auch mit dem C, das identisch ist mit dem A, das y besitzt, und so ginge es weiter ad infinitum. Man käme dann zu einer unendlichen Voraussetzung immer neuer Identitätsträger, aber nie zu einem A, das unmittelbar und geradezu durch Übereinstimmung in allen Attributen mit einem B identisch sein könnte. Der einzige Ausweg aus dieser Verstrickung besteht darin, den Regress gleich beim ersten Schritt anzuhalten und sich klar zu machen, dass die Identität von A, die für den Vergleich mit A oder B auf relative Identität erforderlich ist, von anderer Art als diese relative Identität ist, nämlich absolute Identität, keine Beziehung (außer eventuell die der Verschiedenheit von anderem). Relative Identität einer Sache besteht darin, dass sie Fall mehrerer Gattungen ist. Ich mache das an einem Beispiel deutlich. Ein türkischer Schuster in Kreuzberg ist identisch mit einem Berliner, einem Türken, einem Moslem, einem Familienvater usw., das heißt: Er ist sowohl ein Schuster als auch ein Berliner als auch ein Türke, ein Moslem, ein Familienvater, mit anderen Worten: ein Fall der Gattungen Schuster, Berliner, Türke, Mos-

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Ebd. S. 49

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lem, Familienvater. Absolute Identität mit Fallsein unter einer Gattung genügt zur Einzelheit, wie ich gleich zeigen werde; daher kann nur Einzelnes relativ identisch sein, und relative Identität ist eine Folge der Einzelheit, so wie absolute Identität deren Voraussetzung. Gattungen sind aber nur für Attribute definiert, wie sich gleich herausstellen wird. Nicht alle Bestimmungen einer Sache sind Attribute von ihr; das hat sich unter 2 an den Existenz-Inductiva herausgestellt. Die in der Logik übliche, auf Leibniz zurückgehende Auffassung der Identität als Übereinstimmung in allen Bestimmungen ist also unhaltbar. Attribute sind diejenigen Bestimmungen einer einzelnen Sache, die für deren absolute Identität wesentlich sind, so dass eine Sache, die ein solches Attribut nicht besitzt, nicht diese Sache sein kann. Da sich die Unterklasse der Attribute in der Oberklasse der Bestimmungen einer Sache nicht scharf abgrenzen lässt – man kann nur vermuten, dass die Existenz-Inductiva die einzigen Ausnahmen sein werden –, könnte es sich empfehlen, sich manchmal auf die bescheidenere, jedenfalls zuverlässige Definition zurückzuziehen, die nur auf die Identität von Fällen Bezug nimmt: Wenn eine einzelne Sache ein a und ein b ist, dann ist ein Fall der Gattung a mit einem Fall der Gattung b identisch, z. B. bei Identität mit sich selbst: ein Fall der Gattung Referens der Identität mit einem Fall der Gattung Relat der Identität. Was ein Fall und was eine Gattung ist, wird gleich erklärt. Zuvor muss aber ein anderes Begriffspaar durchgenommen werden, da seine Kenntnis zum Studium der Einzelheit und ihrer Stellung im Aufbau der Welt unentbehrlich ist. Es handelt sich um Verhältnisse und Beziehungen. Sowohl die klassische Kategorienlehre seit Platon 67 und Aristoteles als auch die moderne Logik machen bei den Beziehungen Halt und ignorieren die Verhältnisse, die die Grundlage der Beziehungen sind; nur Leibniz erwähnt sie einmal, aber nur, um sie in das Reich bloßer

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Sophistes 255c

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(»idealer«) Gedankendinge zu verweisen. 68 Beziehungen sind gerichtet (von etwas, das sich bezieht, auf etwas, worauf es sich bezieht), Verhältnisse ungerichtet. Beziehungen entstehen durch Spaltung von Verhältnissen; so ist z. B. eine Landkarte weiter nichts als eine Ansammlung von Angaben unzähliger Verhältnisse, aus denen Beziehungen abgespalten werden, wenn jemand sich an der Karte orientiert, etwa um sich auf den Weg zu machen. Das Potenzverhältnis kann in die Beziehungen der Potenz zur Wurzel und der Wurzel zur Potenz gespalten werden, das Verhältnis des Nebeneinanderliegens, allerdings erst nach Hinzunahme eines Beobachterstandpunktes, in die Beziehungen, rechts und links vom anderen zu liegen. Alle Beziehungen entstehen durch Spaltung von Verhältnissen. Zum Beweis dient mir die Umkehrbarkeit der Beziehungen. Sie setzt Verhältnisse als invariante Fundamente für die Umkehrung voraus. Wenn ein solches Fundament fehlt, ist die Umkehr der Richtung unmöglich. Das zeigt sich an den (gleichfalls gerichteten) Abläufen. Während die Beziehung vom Vater zum Sohn durch Umkehr der Reihenfolge (vom Sohn zum Vater) zum Ausgangspunkt zurückkehrt, ergibt die Umkehr der Reihenfolge bei Abläufen nur eine Fortsetzung zum noch Späteren. Die Zeit fließt, geht voran; ihr fehlt daher das beharrende Fundament, das den Beziehungen die echte Umkehrung erlaubt. Nicht alle Verhältnisse bieten sich zur Spaltung in Beziehungen an. Lehrreich ist ein Vergleich zwischen Landkarten und Gemälden. Landkarten können vollständig in Beziehungen aufgespalten werden, Gemälde nur unvollkommen. Die Sixtinische Madonna bietet dazu durch die dreieckige Anordnung der Hauptfiguren und die Blickrichtungen optimale, aber keineswegs hundertprozentige Gelegenheit, aber bei Landschaftsbildern und Seestücken, Schlachtenbildern wie der Alexander-

5. Schreiben an Clarke Nr. (47), Correspondance Leibniz-Clarke présentée (…) par André Robinet, Paris 1957, S. 144 f.

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schlacht von Altdorfer usw. wird der Versuch fast aussichtslos. Es gibt also ein Kontinuum größerer und geringerer Zugänglichkeit der Verhältnisse für die Aufspaltung in Beziehungen. Am den Landkarten entgegengesetzten Ende stehen die ganz unspaltbaren Verhältnisse, z. B. die simultanen Akkorde der Musik, die ein Feinhöriger höchstens in Intervalle, die wieder Verhältnisse sind, zerlegen kann; um Beziehungen zwischen Tönen zu erfassen, muss man sukzessiv hören. Für Einzelheit sind die unspaltbaren Verhältnisse wichtig wegen des Unterschieds der Angewiesenheit auf Einzelnes bei Beziehungen einerseits, Verhältnissen andererseits. Beziehungen benötigen einzelne Beziehungsglieder, weil sie sich durch Zahlen unterscheiden, sowohl der Stellen als auch der Teilnehmer. Die Selbsttötung hat die Stellenzahl 2 und die Teilnehmerzahl 1, die Tötung eines Feindes die Stellenzahl 2 und die Teilnehmerzahl 2, die Anstiftung zur Selbsttötung die Stellenzahl 3 und die Teilnehmerzahl 2. Zahlen sind das, was Mengen Personen so entgegenbringen, dass Zählen möglich wird: die Zählbarkeit, d. h. die umkehrbar eindeutige Abbildbarkeit 69 , bestehend in der Bildbarkeit geordneter Paare, in denen nur einzelne Etwasse vorkommen können; daher kann das zählbare Mannigfaltige immer nur aus Einzelnem bestehen. Verhältnisse, die zur Spaltung in Beziehungen bereitliegen, müssen ebenso aus lauter Einzelnem bestehen. Anders verhalten sich unspaltbare Verhältnisse. Wegen ihrer Ungerichtetheit bedürfen sie nicht des Einzelnen zur Auszeichnung von Herkunft und Ziel der Richtung. In der Tat kommen sie unter Umständen mit Gliedern, die nicht einzeln sind, aus. Für die Vorgeschichte der Einzelheit im Mannigfaltigen sind daher die unspaltbaren Verhältnisse so interessant, dass ich Beispiele für sie zunächst ausführlich betrachten will. Ein Kontinuum des Abfalls der Einzelheit lässt sich nachzeichnen an den unspaltbaren Verhältnissen leiblicher Dynamik und leiblicher Kommunikation, für die ich meine phänomenolo69

Wie Anmerkung 65, S. 23–31: Zahl

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gisch erarbeiteten und an anderer Stelle explizierten Begriffe 70 hier ohne Erläuterung einsetze, um nicht zu weit abzuschweifen. Am oberen Ende steht das gemeinsame Sägen mit der zweigriffigen Baumsäge, ein unspaltbares Verhältnis: Beide Sägenden übernehmen im Wechsel Initiative und Reaktion, aber ohne Bewusstsein vom Verhältnis des eigenen Beitrags zu dem des anderen. Die Größe ihrer Beteiligung schwankt, aber die Differenz wird unbemerkt vom Partner ausgeglichen. Keiner kann den Gegenspieler vom eigenen Selbst trennen. Auch die Wahrnehmung der gemeinsamen Tätigkeit ist gemeinsam. Es ist gar nicht so leicht, absichtlich zu stören, weil man sich unwillkürlich auf den Partner einspielt. Es besteht kein Bewusstsein des eigenen Beitrags im Verhältnis zu dem des andern. Nur wenn einer die Arbeit ganz einstellt, merkt es der andere, aber zunächst nur als unvermitteltes Schwerergehen. 71 Diese Einleibung in einen gemeinsamen vitalen Antrieb ist hauptsächlich solidarisch (ohne Zuwendung zum Partner), tastet aber die Einzelheit der Beteiligten nicht oder nur wenig an, da sie eher selten so eifrig bei der Arbeit sein dürften, dass sie in dem gemeinsamen Wirken ganz »aufgehen«. Das dürfte schon eher der Fall sein bei gemeinsamem Singen – etwa hingerissen im Chor unter einem charismatischen Dirigenten – oder gemeinsamem Musizieren; wenn sich in solcher solidarischer Einleibung der Sänger oder der Orchesterspieler seinem Nebenmann zuwendet, wird der gemeinsame Antrieb gestört. Bis zum Verlust der Einzelheit geht das unspaltbare Verhältnis in der ekstatischen solidarischen Einleibung der Liebenden gemäß Goethes Vers (Die Braut von Korinth): »Eins ist nur im andern sich bewusst.« Diese Liebenden sind zwar immer noch sich bewusst, aber nur im andern, und daher nur als Paar; kein Glied kann mehr nach außen oder Hermann Schmitz, Der Leib, Berlin 2011, S. 15–27: Die Dynamik des Leibes, S. 29–53: Leibliche Kommuikation 71 Nach Paul Christian, Renate Haas: Wesen und Formen der Bipersonalität, Stuttgart 1949, S. 9, 10, 11, 12, 19, 71 70

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zum anderen in Beziehung treten, da das Verhältnis unspaltbar geworden ist, wie das der kooperierenden Körperteile beim Balancieren zum Abfangen eines drohenden Sturzes. Erst recht löst sich die antagonistische Einleibung (im Kanal des vitalen Antriebs mit Zuwendung von mindestens einer Seite) und die Ausleibung (im Kanal privativer Weitung) mit ihren Ekstasen von der Einzelheit, mindestens bei einem Partner: als Einleibung etwa im glückhaften Rausch des Motorradfahrers, der in der Schussfahrt mit seinem Fahrzeug eins wird 72 , als Ausleibung im entrückten Versinken beim Starren in Glanz (Heinrich Seuse) oder, weniger dramatisch, in der ekstatischen »sinnlichen Ichhaltung« nach Hedwig Conrad-Martius, wenn etwa bei entspanntem Liegen im Freien, in der Atmosphäre des Sonnenbades, nur noch »der Wind, der mich umspült, die Wärme, die mich einhüllt, der Duft, der in mich eingeht«, gespürt wird. 73 In einer ähnlichen Situation sitzt Nietzsche behaglich am Silser See, »wartend, wartend, doch auf nichts«, »ganz See, ganz Mittag, ganz Zeit ohne Ziel«. 74 Das klingt nach Identifizierung, aber bei echter Identität wäre nicht nur Nietzsche der Silser See, sondern auch dieser Nietzsche, was nicht stattfindet. Vielmehr handelt es sich darum, dass Nietzsche in der ekstatischen Ausleibung seine Einzelheit zu Gunsten eines unspaltbaren Verhältnisses mit See, Mittag und Zeit abstreift, also nicht mehr als Zweiter oder Dritter neben ihnen zählt, aber nicht identisch wird mit dem, worin er aufgeht. Entsprechend verhält es sich bei der als Ausleibung mit der sinnlichen Ekstase nah verwandten mystischen Ekstase, der oft beschworenen unio mystica, dem Aufgehen ins »Meer der Gottheit«. Hansjörg Znoj, Die Psychologie des Motorrads, Bern 2011, S. 69–71 Hedwig Conrad-Martius, Zur Ontologie und Erscheinungsweise der realen Außenwelt, in: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung 3, 1916, S. 345–542, hier S. 404 74 Sils Maria, in: Die fröhliche Wissenschaft, Lieder des Prinzen Vogelfrei (Nietzsches Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe von Colli und Montinari, Band 3, S. 649) 72 73

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Noch ausgeprägter ist das unspaltbare Verhältnis ohne Einzelheit der sich verhaltenden Teilnehmer bei den intensiven Größen, die zum Vorschein kommen, wenn es lauter und leiser, wärmer und kälter, heller und dunkler wird. Diese Größenunterschiede sind unverkennbar, machen aber den Philosophen seit je her Kopfzerbrechen, weil sie sich nicht durch Hinzufügung oder Wegnahme von Teilen in einem zusammengesetzten Ganzen ergeben; eine große Hitze z. B. enthält nicht mehrere milde Wärmen. Das Paradox löst sich durch die Einsicht, dass auch die intensive Größe Teile hat, aber solche, die sich nicht als einzelne auf einander beziehen lassen, sondern ohne Einzelheit in unspaltbarem, nicht in Beziehungen zerlegbarem Verhältnis miteinander stehen. Ein reiches Feld unspaltbarer Verhältnisse bietet sich weiter im Bereich der Bewussthaben an. 75 Kürzlich habe ich gezeigt, dass die Grundform schlichter Wahrnehmung, im Gegensatz zum reflektierten Beobachten mit deutlicher Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt, in einem unspaltbaren Verhältnis mit Aufgehen des Wahrnehmens im Wahrgenommenen wie bei den eben beschriebenen Ekstasen leiblicher Dynamik besteht, sowohl in kontemplativer Vertiefung als auch in dramatischen Situationen akuter Lebensgefahr. 76 Ähnlich verhält es sich mit dem unthematischen Begleitbewusstsein thematisierender Bewussthaben. Die besonnene Person, solange sie sich nicht selbst vergisst, nimmt Kenntnis nicht nur von sich, sondern auch von ihrer jeweiligen Bewussthabe im Wahrnehmen, Denken, Füh-

Ich führe hier den gewagten Neologismus »die Bewussthabe« ein (wie schon in meinem Buch Bewusstsein, 2010), weil mir die naheliegenden und gebräuchlichen Ausdrücke »Vorstellung« und »Bewusstsein von etwas« als vieldeutig und irreführend verdächtig sind. Eine Bewussthabe ist weiter nichts als die Beziehung von jemand zu etwas, das ihm bewusst ist. 76 Hermann Schmitz, Wahrnehmung als Verhältnis, in: Näher dran? Zur Phänomenologie des Wahrnehmens, hg. v. Steffen Kluck und Stefan Volke, Freiburg / München 2012, S. 245–256 75

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len, Wollen usw., aber nicht durch eine zweite, zusätzliche Bewussthabe nach Art einer Selbstbeobachtung, jedoch auch nicht so, dass die begleitete Bewussthabe sich selbst zur Kenntnis nähme, als ob man etwa das eigene Sehen sehen könnte. Statt dessen geht, analog wie bei den Ekstasen der Ausleibung, die begleitende Bewussthabe in der begleiteten auf, nicht durch echte Identifizierung, sondern in einem unspaltbaren Verhältnis, in dem sie selbst nicht einzeln ist. 77 Besonders merkwürdig ist das unspaltbare Verhältnis beim Beziehungsbewusstsein 78 ; ich komme nachher darauf zurück. Ich denke hier an disjunkte Beziehungen; das sind solche, deren Beziehungsglieder nicht als Korrelate gekennzeichnet sind, durch Bezeichnungen, die die Beziehung implizieren (wie Vater / Sohn, Subjekt / Objekt, oben / unten). Nun gilt der Satz: Jede Bewussthabe einer disjunkten Beziehung ist ein unspaltbares Verhältnis. Kant bestritt das im Zuge seiner Polemik gegen den Versuch, aus der Komplexität von Gedanken (z. B. an Beziehungen) die Einfachheit des Bewussthabers zu erweisen; nach seiner Meinung ist »die Einheit des Gedankens, der aus vielen Vorstellungen besteht, kollektiv und kann sich, den bloßen Begriffen nach, ebenso wohl auf die kollektive Einheit der daran mitwirkenden Substanzen beziehen (wie die Bewegung eines Körpers die zusammengesetzte Bewegung der Teile derselben ist) als auf die absolute Einheit des Subjekts.« 79

Sartre fasste dieses von ihm so genannte präreflexive cogito als einen Zwiespalt auf, den er als Anwesenheit bei sich im Abstand von sich beschrieb, vgl. Hermann Schmitz, Der Weg der europäischen Philosophie. Eine Gewissenserforschung, Freiburg / München 2007, Band 2, S. 778– 780. Das unspaltbare Verhältnis braucht aber nicht zwiespältig zu sein; der Zwiespalt kommt erst herein, wenn es von einer Beziehung durchkreuzt wird. 78 Bewusstsein wird hier verstanden als Bewusstgehabtwerden. 79 Kritik der reinen Vernunft A (= 1. Auflage 1781) S. 353 77

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Um ihn zu widerlegen, genügt eine beliebige Bewussthabe einer disjunkten Beziehung. Als Beispiel wähle ich die Ähnlichkeit der Sonne mit dem Mond. Diese Beziehung ist disjunkt; weder ist der Sonne eine Beziehung zur Ähnlichkeit anzumerken, noch dem Mond die Sonne oder eine Beziehung zur Ähnlichkeit. Die Bewussthabe der Ähnlichkeit der Sonne mit dem Mond enthält drei einzelne Teilbewussthaben, in die sie zerlegt werden kann, aber es ist unmöglich, sie aus diesen wieder zusammenzusetzen, wie nach Kant die Bewegung eines Körpers aus der seiner Teile, z. B. der Moleküle. Wenn die komplexe Bewussthabe zerlegt ist, bleiben zwar die drei Teilbewussthaben, aber die Bewussthaben der Ähnlichkeit der Sonne mit dem Mond ist spurlos verschwunden. Das ist nicht nur intuitiv klar, sondern lässt sich auch beweisen: Wenn die Bewussthabe der Ähnlichkeit R der Sonne a mit dem Mond b, kurz aRb, durch Zusammensetzung der drei Teilbewussthaben gebildet werden sollte, müssten zusätzliche Beziehungen und deren Bewussthaben eingeschoben werden, etwa R1 zwischen a und R mit zusätzlicher Bewussthabe von aR1R. Für die Zusammensetzung von a mit R1 wäre aus gleichem Grund eine weitere Beziehung R2 und also eine zusätzliche Bewussthabe von a R2R1 erforderlich, denn in der Bewussthabe bloß von a war ja nichts enthalten, was auf die Bewussthabe bloß von R hinführt, also auch nichts von R1. Man sieht sofort, dass R2 aus gleichem Grund ein R3 erfordert usw. ad infinitum, so dass die Zusammensetzung der Bewussthabe der Ähnlichkeit der Sonne mit dem Mond aus den drei Bewussthaben von Sonne, Mond und Ähnlichkeit an der Zumutung einer unendlichen Fülle von Bewussthaben von Beziehungen scheitert. Durch Verallgemeinerung dieses Beispiels ergibt sich der Beweis des kursiv gesetzten Satzes. Statt einer Zusammensetzung der Bewussthabe einer disjunkten Beziehung durch Beziehungen zwischen Teilbewussthaben (Teilvorstellungen) handelt es sich um ein unspaltbares Verhältnis, im Beispielfall zwischen Teilvorstellungen, die selbst einzeln sind; unspaltbare Verhältnisse kann es aber auch mit nicht einzelnen Teilnehmern geben. 68 https://doi.org/10.5771/9783495860465 .

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Mit der Einführung in die unspaltbaren Verhältnisse ist eine Schicht des Bewussthabens und Verhaltens erreicht, die die Vorstufe und gleichsam den Mutterboden des Umgangs mit Einzelheit bildet. Auf dieser Stufe gibt es schon absolute Identität und Verschiedenheit, aber noch keine Einzelheit und daher keine relative Identität sowie überhaupt keine Beziehungen, die ja nur zwischen einzelnen Teilnehmern 80 möglich sind. Dieselbe Ordnung, die unter einzelnen Teilnehmern durch Beziehungen hergestellt wird, kann ohne einzelne Teilnehmer oder mit ihnen durch unspaltbare Verhältnisse vollbracht werden. In der jetzt besprochenen Schicht, die ich als die des diffus chaotischen Mannigfaltigen bezeichne 81, besteht die Form dieser Ordnung in Situationen. Eine Situation ist Mannigfaltiges, das zusammengehalten und nach außen mehr oder weniger abgegrenzt wird durch eine binnendiffuse Bedeutsamkeit aus Bedeutungen, die Sachverhalte, Programme oder Probleme sind; binnendiffus ist die Bedeutsamkeit, weil nicht alle (im diffus chaotischen Mannigfaltigen: gar keine) Bedeutungen in ihr einzeln sind. Ein Musterbeispiel ist eine Sprache, wie sie dem Könner, der sie geläufig sprechen und verstehen kann, verfügbar ist, etwa seine Muttersprache. Eine solche Situation besteht nur in ihrer Bedeutsamkeit, deren Inhalt ausschließlich Programme sind, und zwar Regeln (d. h. Normen, Programme für möglichen Gehorsam, der unbestimmt wie häufig von der Norm zugelassen wird) für die Darstellung von Sachverhalten, Programmen und Problemen und gegebenenfalls das Erreichen weiterer Ziele in der Rede. Diese Programme sind die Sätze der Sprache, nämlich Regeln für die Formulierung von Sprüchen, die die angegebene Aufgabe bewältigen. Diese Regeln liegen dem Sprecher nicht einzeln vor, so dass er sie mustern und unter ihnen wählen »Teilnehmer« in ganz weitem, nicht auf Personen oder sonstige Bewussthaber (Subjekte) eingeschränktem Sinn 81 Im Gegensatz zum konfus chaotischen Mannigfaltigen, in dem es sogar an absoluter Identität und Verschiedenheit gebricht 80

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könnte; vielmehr greift er blind, aber treffsicher in die Sprache hinein und holt genau die Sätze heraus, die er braucht, um die gewünschte Darstellung gewisser Bedeutungen in der Rede zu vollbringen. Genau besehen bekommt er nie die einzelnen Sätze als solche zu Gesicht, sondern nur in Gestalt der Sprüche, mit denen er ihnen gehorcht; niemand weiß ja, wie er es macht, seine Absicht in die beabsichtigten Körperbewegungen beim Sprechen zu übersetzen, und folglich kennt auch niemand die genaue Regel, der er dabei gehorcht. Dennoch kann er sie mittelbar, an seinen Sprüchen, genau identifizieren; denn diese Sprüche, die in weit abweichenden Gestalten möglich sind, haben nur gemeinsam, dass sie Sprüche dieses Satzes sind. Der Sprecher erkennt seine Sätze also am Widerschein seiner Sprüche, aber sie liegen ihm nicht einzeln in der Sprache vor, wohl aber als diese absolut identischen und verschiedenen in der hochgradig verwickelten Ordnung, die von der Grammatik mehr oder weniger enträtselt wird; dass solche Ordnung, zusätzlich zu Identität und Verschiedenheit, möglich ist, verdanken die Sätze ihrem absolut unspaltbaren Verhältnis in der Sprache, das in dieser Hinsicht ebenso viel leistet wie ein Netz von Beziehungen, das einzelne Teilnehmer voraussetzen würde. Das menschliche satzförmige (d. h. von Sätzen geleitete) Reden ist eine ständige Drehbewegung, die die Orientierung in einer diffus chaotisch-mannigfaltigen Situation ohne einzelne Inhalte dazu nützt, einzelne Sachverhalte, Programme und Probleme, oft viele zusammen auf einen Schlag, aus Situationen herauszuheben und durch Beziehungen zu vernetzen. Zugleich ist es, namentlich als mündliche Rede (als Sprechen), ein Ganzes flüssiger Körperbewegung, eine weitere diffus chaotisch-mannigfaltige Situation. Das äußerst komplexe und subtile Zusammenwirken von Zunge, Lippen, Gaumen, Zähnen beim Sprechen ist von der artikulatorischen Phonetik gründlich analysiert worden, aber unvorstellbar wäre ein Sprechen, das sich mit einzelnen Schritten an diese Analyse als Vorlage hielte; vielmehr kennt sich der geläufige Sprecher in seinem Mund wie in seiner 70 https://doi.org/10.5771/9783495860465 .

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Sprache aus und findet blind, aber treffsicher das zu seiner Absicht passende Sprechverhalten in der jeweiligen Situation des Mundgeschehens. Das Entsprechende gilt für alle flüssigen Körperbewegungen. Sie würden ins Stottern und Stocken geraten, wenn man sie in einzelne Schritte zerlegen wollte, woran sich nur der Lehrling einer motorischen Kompetenz, ehe er diese im Griff hat, abmüht; dass der Könner vor Verwechslungen geschützt ist und höchst komplexe Ordnungen respektiert, also nicht in Apraxie entgleist, erweist die Anwesenheit von (absoluter) Identität und Verschiedenheit sowie von unspaltbaren Verhältnissen in der Situation bei Abwesenheit von Einzelheit und von Beziehungen. Alle menschlichen Personen stecken auf solche Weise bei allem routinierten Verhalten tief im Element diffus chaotisch-mannigfaltiger Situationen, die auch selbst nicht einzeln zu sein brauchen; jeder geht im Alltag durch unzählige Situationen hindurch, die sich nicht einzeln abheben, wenn er sie auch als einzelne thematisieren kann und manche so auffällig sind, dass sie sich als einzelne einprägen. Dieses Leben im diffus chaotisch-mannigfaltigen Milieu, das weitgehend mit leiblicher Dynamik und leiblicher Kommunikation70 ausgefüllt ist und bei Personen nur die Unterschicht ihres Lebens im Milieu der Einzelheit und der Beziehungen bildet, macht im Wesentlichen das Leben der Tiere und der Säuglinge aus. Tiere sind in Situationen gefangen, die sie in unzerlegter Ganzheit mit Rufen und Schreien (z. B. Lock-, Alarm- und Klagerufen) heraufbeschwören, modifizieren und quittieren (beantworten) können; von Säuglingen gilt das Entsprechende. Der erwachsende und erwachsene Mensch, der Mensch als Person, erhält durch seine satzförmige (von Sätzen einer Sprache geleitete) Rede die Möglichkeit, sich dieser Gefangenschaft zu entziehen, indem er aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen Bedeutungen (Sachverhalte, Programme, Probleme) herausholt, vereinzelt und unter einem Netz von Gattungen den Inhalt der Situationen umordnet, wofür ihm die relative Identität und der Unterschied entscheidende Dienste leisten. 71 https://doi.org/10.5771/9783495860465 .

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Durch die relative Identität werden die Fälle mehrerer Gattungen vielseitig, als Sachen, die man in mehr als einer Hinsicht betrachten und verwenden kann. Der Unterschied kompliziert die Verschiedenheit; während diese (als Verhältnis oder als Beziehung) zweistellig ist, ist der Unterschied eine fünfstellige Beziehung, in der Weise, dass zwei Sachen Fälle zweier Untergattungen derselben Obergattung sind: Sie unterscheiden sich in der Obergattung durch die Untergattungen. Der Unterschied ist also das Werkzeug, mit dem die aus Situationen entbundenen einzelnen Inhalte neu (unter Gattungen) geordnet, kombiniert und zerlegt werden können, um die Situationen je nach Bedarf und Interesse zu rekonstruieren und zu überholen. So wird der Mensch dem Tier überlegen. Was sind Gattungen, woher stammen sie? Sicherlich sind sie nicht vom Himmel gefallen, sondern sie stammen aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen, aus der sie mit satzförmiger Rede entbunden und in Einzelheit freigesetzt werden. Was so freigesetzt wird, sind Sachverhalte, Programme und Probleme. Für Gattungen kommen Sachverhalte in Betracht. Es fragt sich, welche Sachverhalte sich als Gattungen eignen. Unter 2 wurde gezeigt, dass jedem Gegenstand, wenigstens im Gebiet der objektiven Tatsachen 82 , seine Attribute mit logischer Notwendigkeit (bei Strafe eines Widerspruchs) zukommen, im Gegensatz zur Existenz und den übrigen Existenz-Inductiven. Für jede Sache folgt also logisch 83 für den Fall, dass sie existiert, dass mindestens ein Gegenstand mit diesem Attribut existiert. Daraus lassen sich einfach die allgemeinen Begriffe von Gattung und Fall gewinnen: Wenn für einen Gegenstand G die Behauptung, dass G existiert, einen tatsächlichen oder untatsächlichen Sachverhalt darstellt und für ein Attribut a (falls G nicht exis-

Zu dieser Einschränkung vgl. von mir: Kritische Grundlegung der Mathematik, Freiburg / München 2013, S. 36 f. 83 Zum Begriff der logischen Folge: ebd. S. 43 82

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tiert: für ein Attribut a von G 84 ) die Behauptung, dass mindestens ein Gegenstand mit dem Attribut a existiert, zur logischen Folge hat, und wenn diese Behauptung einen tatsächlichen oder untatsächlichen Sachverhalt S darstellt, dann (und nur dann) ist G ein Fall von S und S eine Gattung von G; man kann dieses Verhältnis abkürzend so ausdrücken, dass a eine Gattung von G ist, aber man soll sich durch diese übliche Ausdrucksweise nicht verleiten lassen, a als einen allgemeinen Gegenstand über allen Fällen schweben zu lassen und dadurch den unnützen Gigantenkampf der Nominalisten gegen die platonisierenden Realisten zu provozieren. Ich gebe ein Beispiel: Wenn Sokrates existiert, folgt mit logischer Notwendigkeit, dass mindestens ein Ehemann der Xanthippe existiert, weil jemand, der nicht Ehemann der Xanthippe ist, nicht Sokrates sein könnte; er würde sich mindestens in diesem Attribut von Sokrates unterscheiden. In diesem und nur in diesem Sinn ist Ehemann der Xanthippe eine Gattung von Sokrates. Gattungen sind also partikulär quantifizierte Sachverhalte. 85 Sie sind hiermit aber nur für Attribute definiert. Einzelheit und Zahl gehören zusammen. Eine Zahl ist die Zählbarkeit einer Menge, d. h. ihre Eignung zu umkehrbar eindeutiger Abbildung (von ihr und auf sie). 86 Daher müssen alle Dieser Klammerzusatz hat den Sinn, dass, wenn G nicht existiert, diese Tatsache zusammen mit der Behauptung, dass G existiert, einen Widerspruch erzeugt, aus dem jeder beliebige Satz, also auch jeder partikulär quantifizierte Satz, folgt, so dass G zu einem Fall jeder beliebigen Gattung würde, wenn dem nicht durch den Klammerzusatz vorgebeugt wird. 85 Ein Sachverhalt ist partikulär quantifiziert, wenn er von einer partikulär quantifizierten Behauptung dargestellt werden kann. 86 Meine Definition der Zahl lautet: Anzahl einer Menge M ist die Eignung irgend einer Menge, umkehrbar eindeutig auf M abgebildet zu werden. Wenn man irgend eine Menge mit der Anzahl 1 (der Anzahl jeder nicht leeren Menge, in der jedes Element mit jedem identisch ist) wählt und sukzessiv weitere solche Mengen hinzufügt, erhält man für jede Menge eine zur Bestimmung ihrer Anzahl passende Menge M, durch Limesbildung über das Endliche hinaus auch für transfinite Zahlen. Für das Nähere ver84

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Inhalte einer Menge einzeln sein, um als Glieder in ein Paar der Abbildung (und der endlichen Menge der Glieder des betreffenden Paares) eingehen zu können. Umgekehrt können nur Mengen Zahlen (Anzahlen) haben, weil sie die Umfänge von Gattungen sind, die zugleich mit dem Umfang den Inhalt (die Elemente) der Menge als ihre Fälle bestimmen. Alle Ganzen, die nicht Mengen sind, nämlich Situationen und Komplexe (d. h. Ganze mit Teilen, die durch Verknüpfung zusammenhängen) besitzen keine eindeutige Zahl: Situationen nicht, weil ihre Inhalte nicht durchgängig einzeln sind, Komplexe nicht, weil ihre Inhalte erst auf Grund einer verschieden wählbaren Einteilung feststehen. Ferner ist jedes Einzelne laut Definition Element einer Menge mit der Anzahl 1. Die Zahl ist also an das Einzelne und das Einzelne an die Zahl gebunden, weil das Einzelne Fall einer Gattung und dadurch Element einer Menge ist. Demnach kann das Einzelne nun auch seinem Aufbau nach gekennzeichnet werden: Einzeln ist, was absolut identisch und obendrein Fall einer (mindestens einer) Gattung ist; wenn es Fall mehrerer Gattungen ist, ist es obendrein relativ (mit etwas) identisch. Zu dieser Kennzeichnung muss allerdings einschränkend beigefügt werden, dass die absolute Identität ungestört sein muss; es gibt nämlich auch zwiespältiges Mannigfaltiges mit gestörter absoluter Identität, und dann ist auch die Einzelheit gestört, nämlich in gewisser Hinsicht nicht vorhanden. 87 In der neuen Bestimmung des Einzelnen als (ungestört) absolut identisch und Fall einer Gattung verbirgt sich eine Falle. Wenn nämlich die Gattung, als deren Fall etwas einzeln ist, selbst wieder einzeln sein soll, müsste sie Fall einer weiteren Gattung sein usw. ad infinitum, es sei denn, dass eine solche Gattung Fall ihrer selbst wäre und der Regress damit ein Ende weise ich auf mein zuletzt in Anmerkung 82 angegebenes Buch, S. 23–31 und 149 f. 87 Hermann Schmitz, Kritische Grundlegung der Mathematik, Freiburg / München 2013, S. 59–67, vgl. S. 13

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nähme. Dafür scheint es eine ganz einfache Aussicht zu geben, nämlich die Gattung Gattung, die ja selbst eine Gattung (Gattung aller Gattungen) und daher Fall ihrer selbst ist. Es würde dann, um Einzelnes als Fall einer einzelnen Gattung aufzufassen, genügen, diese einzelne Gattung nur überhaupt als eine Gattung (unter vielen) bewusst zu haben, ohne weiter suchen zu müssen. Leider klappt das nicht. Der Gattung bedarf es für die Einzelheit ja nur, weil sie mit ihrem Umfang zugleich ihre Fälle eindeutig festlegt, d. h. einer umkehrbar eindeutigen Abbildung (etwa als Elemente einer Menge mit der Anzahl 1, gemäß der Definition der Einzelheit) zugänglich macht. Der Umfang der Gattung Gattung (der Umfang aller Umfänge) ist aber zwiespältig gemäß der Antinomie von Cantor 88, also selbst ohne umkehrbar eindeutige Abbildbarkeit (ohne Zahl) und daher nicht geeignet, seine Fälle einzeln (im Rahmen einer umkehrbar eindeutigen Abbildung) festzulegen. Wenn diese einfache Lösung versagt, muss man, um immer eine einzelne Gattung für die Beziehung zum einzelnen Fall zu erhalten, eine unendliche Treppe besteigen, die in einen unendlich hohen Turm über einander aufgeschichteter Gattungen hineinführt. Was für Gattungen das sein sollen, ist nicht leicht zu sagen. Immerhin ist z. B. die Gattung Mensch zwar nicht ein Fall der Gattung Lebewesen, aber doch ein Fall der Gattung Gattung von Lebewesen. Auf solche oder andere Weise kann man sich die unendliche Treppe für die Ermöglichung einzelner Gattungen zurechtlegen, ohne auf etwas Unmögliches zu stoßen. Ontologisch macht der unendliche Regress also keine Schwierigkeit. Das Problem taucht erst auf, wenn es psychologisch gewendet wird. Wenn nämlich etwas einzeln (als Einzelnes, in seiner Einzelheit) nur bewusst sein könnte, sofern es als Fall einer einzelnen Gattung Ebd. S. 109–137 (über Antinomien, S. 113 und 135 zur Antinomie von Cantor. Die Antinomie von Cantor greift hier, weil es mindestens so viele Gattungen wie einzelne Gegenstände gibt [nämlich für jeden solchen Gegenstand die Gattung der mit ihm identischen Gegenstände].)

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bewusst ist, würde für das Bewussthaben der Einzelheit dieser Gattung das Bewussthaben einer weiteren Gattung erforderlich sein usw. ad infinitum, so dass etwas einzeln nur bewusst sein könnte, wenn zugleich ein unendlich hoher Turm über einander aufgeschichteter Gattungen bewusst wäre. Das ist entschieden zu viel verlangt. So käme es für Menschen nie zur Bewussthabe von Einzelnem. Da dies aber sehr wohl der Fall ist, kann die Voraussetzung nicht stimmen. Es muss also ein Weg gefunden werden, zu zeigen, dass etwas als Fall einer Gattung einzeln bewusst sein kann, auch wenn diese Gattung (zwar absolut identisch, aber) selbst nicht einzeln ist. Auf diesem Weg führen die vorstehenden Beobachtungen über absolut unspaltbare Verhältnisse. Es hat sich herausgestellt, dass die Bewussthabe disjunkter Beziehungen (d. h. solcher, deren Beziehungsglieder nicht als in Beziehung stehende Korrelate bezeichnet sind) stets ein absolut unspaltbares Verhältnis ist. Nun ist die Beziehung des Falles zur Gattung in diesem Sinne disjunkt, denn der Fall fällt unter viele Gattungen und die Gattung hat meistens viele Fälle; wenn sie aber auch nur einen einzigen hat, braucht diese Angewiesenheit nicht in ihrer Bezeichnung zum Ausdruck zu kommen. Zwar sind Fall und Gattung in abstracto Korrelate, wie Subjekt und Objekt, Vater und Kind, aber das gilt nicht in concreto, für die jeweilige Beziehung eines Falles zu einer Gattung, wodurch er als Einzelnes bewusst ist. In absolut unspaltbaren Verhältnissen brauchen die Partner, anders als die Glieder von Beziehungen, aber nicht einzeln zu sein. Das war zwar so in dem von mir oben gewählten Beispiel der Ähnlichkeit der Sonne mit dem Mond, aber es kann ja auch Bewussthaben disjunkter Beziehungen geben, in denen nicht alle Glieder einzeln sind. Ein Ausweg aus dem psychologischen Regressproblem öffnet sich, wenn man annimmt, dass etwas einzeln bewusst sein kann, wenn in der zugehörigen Bewussthabe der Beziehung auf eine Gattung diese Gattung zwar bewusst, aber nicht einzeln bewusst ist; dass dies möglich ist, ergibt sich aus der Natur dieser Bewussthabe als absolut unspaltbares Verhält76 https://doi.org/10.5771/9783495860465 .

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nis. Diese ganz abstrakte Aussicht will ich nun durch Anschauung an Beispielen beleuchten. Ich unterscheide vorbegriffliche und begriffliche Gattungen ihrem Inhalt (ihrer Intension) nach.89 Die Intension begrifflicher Gattungen besteht in einer durch Definition festgesetzten Merkmalhäufung, wie in den Listen der Horoi des Corpus Platonicum, wo z. B. der Mensch als ungeflügeltes, zweifußiges, breitnageliges und studierfähiges (für Wissenschaft über Reden aufnahmefähiges) Tier bestimmt wird. 90 Da die Analyse der Merkmale durch Zusammensetzung aus einfacheren Merkmalen nicht ad infinitum fortgesetzt werden kann, ruhen die begrifflichen Gattungen auf vorbegrifflichen, deren Intensionen Situationen mit binnendiffuser Bedeutsamkeit sind. 91 Wilhelm Betz gibt Beispiele, indem er von den Worten »Staat, Geld, Ehre, Verkehr, Schönheit, Schande« sagt, jeder kenne das, was damit gemeint ist, und habe »die entsprechenden Begriffe« (sogar der Dumme), aber kaum je eine »halbwegs brauchbare Definition dieser Begriffe. (…) Das heißt aber, wir kennen diese Begriffe, wir können sie, aber wir wissen nichts oder fast nichts davon.« 92 »Man konstruiert also Fälle zu dem Begriff, aber man gibt nicht die Merkmale des Begriffs an, was man in vielen Fällen gar nicht kann.« 93 »Psychologisch sind es Einstellungskomplexe, die selber ganz unbewusst sein können.«94 Statt »unbewusst« möchte ich lesen »nicht einzeln bewusst«; Situationen brauchen ja nicht einzeln zu sein. Die Intensionen vorbegrifflicher Gattungen Hermann Schmitz, System der Philosophie, Band IV, Bonn 1986, in Studienausgabe 2005, S. 207–210: Vorbegriffliche und begriffliche Gattungen 90 [Platon] Horoi 415a 91 Das gilt sogar, wenn die Gattung eine genaue Art wie der Kammerton a oder eine präzise Farbnuance (wie Anmerkung 89 S. 189–194) ist; die Binnendiffusion ergibt sich dann u. a. aus dem zugehörigen Feld des Verschiedenen und den eingelagerten leibverwandten synästhetischen Charakteren. 92 Wilhelm Betz, Zur Psychologie der Tiere und Menschen, Leipzig 1927, S. 57 93 Ebd. S. 58 94 Ebd. S. 57 89

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zeichnen hiernach einzelne Fälle aus, an denen sie, sobald sie selbst durch eine Bezeichnung vereinzelt sind, wiedererkannt werden können, sind aber, um ihren Beitrag zur Vereinzelung zu leisten, nicht darauf angewiesen, selbst einzeln bewusst zu sein. In dieser Lage ist etwa der platonische Laches, ein tapferer Feldherr, der, von Sokrates mit der Forderung nach Definition der Tapferkeit konfrontiert, gesteht: »Bezüglich der Tapferkeit scheint mir wohl bewusst zu sein, was sie ist, aber ich verstehe selbst nicht, wie mir das entging, so dass ich sie nicht in Worten zusammenfassen und nicht sagen kann, was sie ist.« 95 Auf die Spitze getrieben ist dieser Entzug einer bekannten und im Gebrauch beherrschten vorbegrifflichen Intension aus der vereinzelnden Fassbarkeit durch eine Bezeichnung in der Substantivierung »das Ich-weiß-nicht-was (Je-ne-sais-quoi)«. So bezeichnete man im 17. und 18. Jahrhundert den anschaulich gegebenen, aber der näheren Bestimmung sich entziehenden Charme des Kavaliers in den gebildeten Salons, der so auffiel, dass 1635 in der Akademie Gambauld einen Diskurs über das Je-ne-saisquoi vortrug.96 So kann es geschehen, dass die Intension einer vorbegrifflichen Gattung, in unspaltbarem Verhältnis einer Bewussthabe mit einem absolut identischen Etwas zusammengeschlossen, dieses einzeln als Fall bewusst macht, ohne selbst einzeln bewusst und sprachlich verfügbar zu sein. So zeigen schon kleine Kinder, die noch nicht sprechen und erst im Ansatz Sprache verstehen können, auf einzelne Gegenstände, etwa mit dem Ruf »Da! Da!«, und zeigen sie den Erwachsenen; dazu befähigen sie die Intensionen der Gattungen des Nahen, des an einem Ort Befindlichen, des in einer Richtung Befindlichen, aber Ort und Richtung sind ihnen noch nicht als einzelne Gattungen geläufig. Sogar die Tiere können aus Situationen einzelPlaton, Laches, 194b Erich Köhler, Je ne sais quoi, in: Romanisches Jahrbuch 6, 1953/54, S. 21– 59, hier S. 31; Hermann Schmitz, System der Philosophie, Band V, Bonn 1980, in Studienausgabe 2005, S. 140 f.

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ne Bedeutungen (Sachverhalte, Programme) entbinden, wie die von Karl v. Frisch entdeckte Tanzsprache der Bienen zeigt 97 , ohne doch der menschlichen, satzförmigen Rede fähig zu sein. Die Auflösung des Regressproblems liegt damit auf der Hand. Wenn die Bewussthabe von Einzelnem in seiner Einzelheit nicht an der Verstopfung durch unendlich viele vorausgesetzte Bewussthaben von Gattungen scheitern soll, muss eine Gattung als einzelne möglich und bewusst sein können, ohne Fall einer weiteren einzelnen Gattung zu sein, vielmehr in einer Bewussthabe, in der sie mit der selbst noch nicht einzelnen Intension einer vorbegrifflichen Gattung in unspaltbarem Verhältnis zusammengeschlossen ist. Das ist auch ganz plausibel, sogar für höchst abstrakte Gattungen wie Beziehung, auf die alle Konstruktionen der Logik und Mathematik zurückführen. Was eine Beziehung ist, muss man verstanden haben, ohne sich das, was man verstanden hat, anders als an einzelnen Fällen klar machen zu können, wie Laches die Tapferkeit verstanden hatte, ehe man ihn mit der Aufgabe einer Definition überforderte. Alle unsere Kenntnis von Gattungen beruht, nur verdeckt durch definitorische Merkmalhäufungen, auf Intensionen, die wir nicht einzeln herausgreifen, sondern nur an ihren Fällen intuitiv erkennen können. Die bloße Vereinzelung ist also nicht immer auf einzelne Gattungen angewiesen. Sie kann, wenigstens ausnahmsweise, auch schon den Tieren und den kleinen Kindern gelingen. Was den Menschen die Einzelheit als umstürzendes Machtmittel in die Hand gibt, um der Gefangenschaft in Situationen zu entkommen und dem Begegnendem das Gesicht der Welt in entfalteter Gegenwart zu geben, ist ihre Fähigkeit, mit Hilfe satzförmiger Rede nicht nur irgend welche Fälle, sondern auf breiter, unbegrenzter Front auch Bedeutungen (Sachverhalte, Programme, Probleme) und unter diesen Gattungen zu vereinzeln und mit relativer Identität auszustatten, so dass diese Karl v. Frisch, Aus dem Leben der Bienen, 6. überarbeitete und ergänzte Auflage, Berlin / Göttingen / Heidelberg 1959

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Bedeutungen zu Netzen einzelner Knoten (zu Konstellationen) verknüpft werden können, insbesondere die Gattungen zu nach Übereinstimmung und Unterschied geordneten Systemen, in die deren Fälle wendig ein- und umgeordnet werden können, weil sie dank relativer Identität vielseitig zugänglich sind. So kann der Mensch Situationen in den Griff nehmen, seinen Bedürfnissen und Interessen gemäß rekonstruieren und planend überholen, aber auch als Dichter, mit hinlänglich sparsamer Explikation die Situationen in ihrer Ganzheit und binnendiffusen Bedeutsamkeit schonend, sie ungebrochen vergegenwärtigen. Der Ertrag dieser Untersuchung reicht über die Lösung des Regressproblems hinaus, indem er dem Platonismus den Boden entzieht und die Herkunft der Gattungen aus der Lebenserfahrung nachzuweisen gestattet. Nach der Konvention der platonischen Akademie, die der platonische Sokrates sich zu eigen macht, entspricht jeder benannten Gattung mit mehreren Fällen eine Idee 98, und alle diese Ideen sind einzeln, in einer Version der Ideenlehre sogar isoliert. 99 Wenn demnach jede Gattung von vornherein einzeln wäre, könnte nach dem hier gewonnenen Ergebnis nichts einzeln bewusst sein. Die Gattungen müssen zur Einzelheit mit einem Übergang durch nicht einzelne Intensionen erst entbunden werden, und dieser Übergang steht ihnen offen, indem sie aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen in ein unspaltbares Verhältnis zu einzelnen Fällen heraustreten und aus diesem Verhältnis durch die satzförmige Rede des Menschen gelöst werden; diese Rede identifiziert sie als einzelne Gattungen und ordnet sie zu Konstellationen an, mit deren Hilfe die Inhalte der Situationen aus diesen herausgezogen, vereinzelt und in variablen Ordnungen umgruppiert werden. Der fast schon ewig scheinende Streit der platonischen Realisten und Nominalisten erübrigt sich damit. Der gemeinsame Platon, Staat, 596a Zu Platons Ideenlehre: Hermann Schmitz, Die Ideenlehre des Aristoteles, Band II: Platon und Aristoteles, Bonn 1985, S. 1–226

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Fehler beider Parteien ist der Singularismus, dass sie wie selbstverständlich von lauter einzelnen Etwassen (»Entitäten«) ausgehen, seien diese nun Ideen, Gattungen, Sinnesdaten, Körper, ja (für Nelson Goodman) Qualitäten. Alles Einzelne bedarf aber der Entbindung aus Situationen mit binnendiffuser Bedeutsamkeit, die vom Menschen mit satzförmiger Rede aufgebrochen und in Ordnungen anderen Typs überführt werden.

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Die Philosophen, und unter ihnen besonders die Logiker, pflegen mit der Identität unglaublich leichtsinnig umzugehen. Quine wird stereotyp der Reim zugeschrieben: »No entity without identity«; ich habe ihn in seinem Druckwerk nicht gefunden, aber wohl die in dieser Kurzform ausgedrückte Behauptung, die unter Logikern unbestritten zu sein scheint. Quine meinte sogar nur die relative Identität, und damit hat er sicher Unrecht; denn relative Identität mit etwas gibt es, wie gezeigt, nur für Einzelnes, und ungeheuer viel Mannigfaltiges ist chaotisch, mit Inhalten, die überhaupt nicht oder wenigstens nicht sämtlich einzeln sind. An absolute Identität, die für relative vorausgesetzt ist, pflegt man überhaupt nicht zu denken. Für diese aber hat der Slogan Quines wenigstens als Hypothese, nach deren Richtigkeit oder Falschheit man fragen kann, schon eher einen gewissen Reiz. Gibt es etwas (»some entity«), das nicht einmal absolut identisch, also nicht einmal selbst (geschweige denn: es selbst, mit sich selbst identisch) ist? Allerdings liegt die Entscheidung, und zwar die bejahende, schon aus der ganz gewöhnlichen Lebenserfahrung auf der Hand. Ein einfaches Beispiel eines Mannigfaltigen, dessen Inhalte nicht einmal absolut identisch sind, ist das Wasser für den Schwimmer, der sich ohne optische Vergegenwärtigung darin vorwärts kämpft oder davon ruhig tragen lässt. Ihm begegnet das Wasser als dynamisches (nicht geometrisches) Volumen, als Masse aus immer neuen Massen, Flut aus immer neuen Fluten, die aber nicht nur nicht einzeln abgepackt sind, sondern auch der Identität und Verschiedenheit ermangeln, die im diffus chaotischen Mannigfaltigen (s. o. 5) verteilt ist. Man erkennt das am Vergleich des Wassers mit der Sprache, die dem kompetenten Sprecher so geläufig ist, dass er 82 https://doi.org/10.5771/9783495860465 .

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ihre Inhalte – die Sätze, nach denen er seine Sprüche formt – zwar nicht einzeln als Muster für sein Sprechen wählen kann, aber treffsicher auf sie zugreift und genau die Sätze herausholt, die ihn bei der Realisierung seiner Absicht, gewisse Sachverhalte, Programme oder Probleme sprechend darzustellen und damit eventuell weitere Zwecke zu erreichen, zweckmäßig leiten. Der Sprecher ist dabei vor Verwechslungen hinlänglich geschützt, ebenso wie der Kauer, Geher oder Tänzer beim Bewegen der relevanten Körperteile, und dieser Schutz beweist die Anwesenheit von Identität und Verschiedenheit trotz Fehlens der Einzelheit (bei flüssiger Körperbewegung) im Mannigfaltigen. Das Entsprechende fehlt beim Wasser, wie es dem Schwimmer begegnet, der sich, z. B. kraulend, vorwärts kämpft. Er bedarf, solange er sich nicht vor einem harten Anstoßen in Acht nimmt, keines Schutzes vor Verwechslung der Fluten, durch die er sich seinen Weg bahnt, und ein solcher hätte hier keinen Sinn, keine Anwendbarkeit, weil es sich um Mannigfaltiges handelt, dessen Inhalte nicht einmal selbst und von anderen solchen Inhalten verschieden, sondern in eine homogene Masse integriert sind. Entsprechendes gilt von tiefer Dunkelheit oder einer gedankenlos lässig durchdösten Frist, überhaupt allen Gestalten eines ununterbrochenen Kontinuums. Zu solchen Erfahrungen bedarf es immerhin spezieller Lebenslagen. Ständig umgibt jeden Menschen Mannigfaltiges ohne absolute Identität seiner Inhalte aber in Gestalt der intensiven Größen, wenn etwas (oder es, im impersonalen Sinn) z. B. stärker oder schwächer, heller oder dunkler, lauter oder leiser, wärmer oder kälter, schneller oder langsamer wird. Eine Größe ist extensiv, wenn sie in einzelne Teile zerlegt und aus diesen vollständig wieder zusammengesetzt werden kann, sonst intensiv. Die extensiven Größenunterschiede kann man sich leicht durch Zusatz oder Wegnahme solcher Teile erklären, während man an intensiven Größen nichts findet, worauf man nur hinzuweisen brauchte, um die kleinere Größe zur größeren zu ergänzen. Warum trotzdem ein quantitativer und nicht nur ein 83 https://doi.org/10.5771/9783495860465 .

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qualitativer Unterschied vorliegt, ist zunächst rätselhaft. Ich habe unter 5 angegeben, wie das Rätsel gelöst werden kann: Es handelt sich um ein absolut unspaltbares (nicht in Beziehungen zerlegbares) Verhältnis von Teilen, von denen keiner einzeln ist, wie die Teile extensiver Größen nach gehöriger Einteilung (eventuell durch Markierungen im Kontinuum zur Einzelheit und Beziehungsfähigkeit befreit) einzeln sind. Der Abstand von der Einzelheit ist bei den Teilen intensiver Größen sogar weiter als beim Wasser, denn nach Teilen des Wassers kann der Schwimmer wenigstens suchen, wenn er nicht zu sehr mit dem Wasser zu tun hat, während die entsprechende Suche bei intensiven Größen keinen Sinn hat. In beiden Fällen fehlt es aber nicht nur an der Einzelheit, sondern auch an deren Voraussetzung, der absoluten Identität. Deren Fehlen bewirkt aber nicht notwendig das Fehlen von Ordnung, wie die lineare Anordnung der intensiven Größen in einer Dimension von mehr und weniger zeigt. Das absolut unspaltbare Verhältnis ist weitgehend gleicher Ordnungen fähig, wie die sind, die durch Beziehungen zwischen Einzelnen hergestellt werden. Diese Ordnungsfähigkeit übersteht, wie sich hier zeigt, außer dem Fehlen der Einzelheit auch sogar das Fehlen absoluter Identität. Ich will mich noch kurz dafür rechtfertigen, dass ich auch die Geschwindigkeit zu den intensiven Größen gezählt habe. Man pflegt sie heute als extensive Größe zu behandeln, wie die Naturwissenschaft sie braucht, gemessen mit dem Quotienten von Weg durch Zeit. Das ist das Ergebnis einer Extensivierung der Dauer durch Abbildung in den Raum vermöge der gleichförmigen Bewegung einer Uhr, die in dieser Beziehung für die Geschwindigkeit das Entsprechende leistet wie das Thermometer für die Wärme. Was aber ist eine gleichförmige Bewegung? Eine Bewegung, die weder schneller noch langsamer wird. Man gerät also in einen Definitionszirkel, wenn man Geschwindigkeit mit Hilfe gleichförmiger Bewegung bestimmt. So vernünftig das ist, wenn man Geschwindigkeit messen will, so wenig genügt dieses Verfahren zur Einführung der Geschwindigkeit in ein logisch 84 https://doi.org/10.5771/9783495860465 .

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sauberes Begriffssystem. Wenn man eine solche sucht, muss man von der intensiven Geschwindigkeit ausgehen, die jeder am Schnellen und Langsamen erfassen kann, wenn er sich dem unwillkürlichen Eindruck hingibt und nicht messen will. Dann kann man Schnelligkeit als Neigung zur Flüchtigkeit, Langsamkeit als Neigung zum Beharren verstehen oder auch auf den Gegensatz des Dichten und Lockeren beziehen. Ich habe das anderswo ausgeführt.100 Wie könnte das Universum beschaffen sein, wenn es in ihm weder Einzelheit noch absolute Identität gäbe, wenn also nicht nur nichts einzeln (Element einer endlichen Menge65, mit etwas identisch), sondern darüber hinaus sogar nichts selbst wäre? Ein einleuchtendes Modell ergibt sich aus dem, was ich über intensive Größen gesagt habe. Wir zerlegen die stetigen Schwankungen intensiver Größen durch Markierungen einzelner Zustände, häufig zum Zweck messenden oder wenigstens abschätzenden Vergleichs. In einer Welt ohne absolute Identität könnte es keine solchen Zustände geben, wohl aber ein haltloses Auf und Ab, eventuell in vielen intensiven Dimensionen, die aber nicht so und so viele (als Menge mit einer Zahl) und (weil nichts selbst wäre) nicht einmal verschieden sein könnten, aber eine reiche und keineswegs monotone Fülle enthielten. Weniger anschaulich, aber immer noch widerspruchsfrei denkbar ist eine Welt, die ohne absolute Identität ihrer Inhalte ungefähr so aussähe wie unsere Welt mit Körpern, Zuständen, Ereignissen, mit Gestalten im Sinne der Gestaltpsychologie als Figuren auf Hintergründen mit Zwischenräumen, aber ohne jede Identität, sogar absolute, und Verschiedenheit. Diese Welt wurde ebenso in bloßen Übergängen ohne Halt an etwas, das übergeht, bestehen, wie eine Welt bloß aus schwankender Intensität, und nicht einmal gestalthafter Gliederung fähig sein, trotz aller Requisiten dafür (Gestalten, Figuren, Hintergründe), denn gestalthafte Hermann Schmitz, Phänomenologie der Zeit, Freiburg / München 2014, S. 62–66

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Gliederung setzt Gegensätze (Kontraste) voraus, und die gibt es nicht ohne Verschiedenheit, diese wiederum nicht ohne Selbstheit (absolute Identität). Eine solche Welt wäre völlig verschwommen, aber in anderer Weise als eine Landschaft, deren Konturen im Nebel verschwimmen. Wie kann in den Vorrat einer solchen völlig selbstlosen Welt absolute Identität hineinkommen? Sicherlich nicht durch eine bloße Ergänzung, die den Inhalten des Vorrats den Zusatz aufdrückte, selbst zu sein, denn, um etwas zu finden, dem der Zusatz aufgedrückt werden könnte, müsste dieses schon selbst sein. Vielmehr ist ein Ereignis erforderlich, das einen Akzent setzt, der den Zusammenhang des Geschehens in gleichgültiger Selbstlosigkeit unterbricht und die einschneidende Wirksamkeit dieser Exposition so ausstrahlt, dass alles um ihn und vielleicht alles überhaupt ins Licht möglichen Selbstseins rückt. Der Zusammenhang muss zerrissen werden; dazu bedarf es des Nichtseins, in das Seiendes entgleitet. Dieses Nichtsein ist nicht das der propositionalen Negation, die sich nur auf einzelne Sachverhalte und deren Aussage bezieht. Ohnehin darf der Selbstheit weckende Einbruch nichts von Einzelheit voraussetzen, also noch weniger als die relative Identität, die erst geweckt werden soll, das Fallen unter Gattungen, das die absolute Identität zur Einzelheit ergänzt. Gesucht wird vielmehr nach der abzielenden oder finalen Negation, die wir gebrauchen, wenn wir »nein« statt »nicht« sagen. Der finale Sinn der jetzt gesuchten Negation, das Kontinuum der Selbstlosigkeit (das Hinweggehen über alles) zu zerreißen, geht auf Vernichtung. Er muss in unserer gewöhnlichen Lebenserfahrung vorkommen, denn wir haben den Übergang zur absoluten Identität und weiter zur Einzelheit geschafft. Wo kommt in unserer Lebenserfahrung etwas wie Vernichtung vor? Ich finde nur eine einzige Gelegenheit: die leibliche Dynamik der Vernichtung von Weite durch Zurückdrängung in eine Enge ohne Weite. Als Beispiel kann der Anfall oder Vorgang der Erstickung gelten, oder – banaler – ein heftiger Schreck, in dem Engung aus dem Verband mit der Weitung, in 86 https://doi.org/10.5771/9783495860465 .

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dem sie als Spannung mit der Weitung als der Schwellung zum vitalen Antrieb verschränkt ist, gleichsam aushakt. Ein Mensch lebt träge und gedankenlos, entweder dösend oder in Routinen versunken, dahin, da schreckt ihn plötzlich ein aggressives Geräusch, etwa Hundegebell oder ein schriller Pfiff, auf oder er stürzt zu Boden und kann sich gerade vor dem Aufprall noch fangen, oder er verliert den Boden unter den Füßen, weil er eine Treppenstufe übersehen hat, oder er erhält unvermittelt einen Schlag vor den Kopf. Er fährt zusammen unter dem Druck der Bedrohung durch das plötzlich hereinbrechende Neue, das die Dauer des Dahinlebens zerreißt und ihn in die Enge einer Gegenwart versetzt, die ebenso zeitlich wie räumlich ist: zeitlich als das abgerissene Plötzliche, räumlich als die Enge, in die er durch das Zusammenfahren gedrängt wird. Diese ist kein relativer, durch Lagen und Abstände in einem Koordinatensystem bestimmter, sondern ein absoluter, unmittelbar als dieser (absolut identische) bestimmter Ort; ebenso ist das Plötzliche ein absoluter Augenblick. Sie verbinden sich mit der Wirklichkeit, die in diesem Geschehen den Betroffenen unmittelbar – ohne ihm Spielraum zu lassen – packt, und mit der in dieser spielraumlosen Eindeutigkeit des Gestelltseins sich ereignenden absoluten Identität des nackten Dieses ohne Bekleidung zum Fall von Gattungen, die unter diesen Umständen nicht verfügbar sind. Dazu könnte es nicht kommen, wenn das Geschehen nur passiv über den Betroffenen hinwegginge. Er würde sich biegen wie ein Hahn im Wind und wieder aufrichten, ohne zu sich selbst zu kommen. Die absolute Identität kann nur geschehen, indem sie empfangen wird, dadurch, dass der Betroffene auf sie eingeht, sich stellt, indem er gestellt wird. Dadurch hängt die absolute Identität an der Subjektivität, dem Sicheinlassen auf das Widerfahrende im Betroffensein. Diese fünf Momente – hier, jetzt, Wirklichkeit, dieses, ich – verschmelzen beim Zerreißen der Dauer unter dem plötzlichen Andrang des Neuen, der Gegenwart exponiert und die zerrissene Dauer ins Vorbei, ins Nichtmehrsein, entgleiten lässt. Diese 87 https://doi.org/10.5771/9783495860465 .

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Verschmelzung ist keine Verknüpfung von einzelnen Elementen einer Menge mit der Anzahl 5 durch Beziehungen zwischen ihnen, sondern ein absolut unspaltbares Verhältnis. Es hat sich ja schon gezeigt, dass Ordnungen aus dem Milieu gerichteter Beziehungen, in dem wir sie gewöhnlich suchen, mehr oder weniger im Milieu ungerichteter, sogar unspaltbarer, Verhältnisse vorgebildet sein können, auch ohne Einzelheit und sogar ohne absolute Identität der Teilnehmer. Dieses unspaltbare Verhältnis der fünf Momente hier, jetzt, Dasein, dieses, ich, das sich unter dem plötzlichen Andrang des Neuen ereignet, bezeichne ich als die primitive Gegenwart. Die fünf Momente der primitiven Gegenwart will ich kurz mustern. Das Hier: Die räumliche Seite der primitiven Gegenwart ist die Enge, in die sich der Betroffene durch den Andrang des Neuen aus der Weite des Dahinlebens versetzt findet, als sei er weit weg gewesen. Sie ist ein streng, d. h. orientierungslos, absoluter Ort. Im gewöhnlichen Leben ist der Mensch in einem System relativer Orte, die sich gegenseitig der Lage und dem Abstand nach bestimmen und zu sagen gestatten, wo etwas ist, ortsräumlich orientiert. Darunter hält sich ein dem normalen Menschen wie dem Tier jederzeit unentbehrliches urtümlicheres System räumlicher Orientierung, das ohne Lagen, Abstände und WoFragen mit der einseitigen oder gegenseitigen Anpassung unumkehrbarer Richtungen auskommt, die teils aus der Enge in die Weite hervorgehen, teils aus der Weite in die Enge einstrahlen. Von der ersten Art sind namentlich die leiblichen Richtungen, unter denen für die räumliche Orientierung der Blick und die Richtungen des motorischen Körperschemas101 maßgeblich sind. Die in die Enge einstrahlenden Richtungen gehen teils vom Begegnendem als dessen Bewegungssuggestionen (Vorzeichnungen möglicher bevorstehender Bewegung, gegebenenZum motorischen Körperschema vgl. Hermann Schmitz, Der Leib, Berlin 1911, S. 21–23.

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falls über das Ausmaß der ausgeführten Bewegung hinaus) aus, teils sind sie abgründige Richtungen ohne angebbare Quelle, wie die Richtungen der reißenden Schwere und der Gefühle (als Atmosphären). Alle flüssige Körperbewegung beruht auf diesem System richtungsräumlicher Orientierung. Zwei Meisterleistungen sind: erstens die Reaktion auf einen Insektenstich, wenn die dominante Hand, ohne an einem relativen Ort gefunden zu werden, blitzschnell genau auf die gereizte Stelle schlägt, ohne diese an einem relativen Ort suchen zu müssen, um den Parasiten zu vertreiben oder zu zerquetschen; zweitens das geschickte Ausweichen, sowohl vor einer in drohender Näherung gesehenen wuchtigen Masse, das durch das Andocken des Blickes an deren Bewegungssuggestion gelingt, obwohl man den eigenen Körper nicht sieht, also auch nicht nach Lage und Abstand darauf einstellen kann, als auch in dichtem Menschengedränge, wenn man millimetergenau am Nachbarn vorbeikommt, ohne sich um die Lage von Schulter und Arm zu kümmern. Diese richtungsräumliche Orientierung kommt ohne relative Orte aus, stützt sich aber auf absolute Orte, die immer noch in einem System räumlicher Orientierung (nur nicht dem ortsräumlichen) gehalten sind. Dagegen ist der absolute Ort der primitiven Gegenwart ohne räumliche Orientierung. So etwas kommt z. B. auch bei diffuser Ängstlichkeit vor: Man fühlt sich bedroht, also an einer Stelle, wo man getroffen werden kann, aber nicht von einer durch Lage und Abstand bestimmten Quelle der Bedrohung, sondern an einem absoluten Ort ohne Rücksicht auf räumliche Orientierung. Das Jetzt: Die zeitliche Seite der primitiven Gegenwart ist das Plötzliche als der Andrang des Neuen, der in Gegenwart eindringt, indem er Dauer zerreißt und Gegenwart aus ihr abreißt; die zerrissene Dauer erhält den Abschied ins Vorbeisein, ins Nichtmehrsein des in Weite ergossenen Dahinwährens. Die abgerissene Gegenwart wird durch den Einbruch des Neuen zu absoluter Identität exponiert. Zu ihr verhält sich das Neue als das Zukünftige, das erst entsteht, aber nicht, wie das Zukünftige 89 https://doi.org/10.5771/9783495860465 .

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nach gewöhnlichem Verständnis, als das Bevorstehende, das noch nicht ist. Der Unterschied besteht darin, dass das Zukünftige der primitiven Gegenwart mit der von ihm exponierten Gegenwart in einem unspaltbaren Verhältnis (ich nenne es Appräsenz) vereinigt ist, während die Zukunft im üblichen Sinn erst nach Entfaltung der primitiven Gegenwart zur Welt (darüber gleich mehr) möglich ist, wenn eine einzelne Gegenwart einzelnen, mehr oder weniger weit entfernten Daten der Zukunft gegenübersteht und zu ihnen durch Erwartung in Beziehung gesetzt werden kann. Das Sein: Die Wirklichkeit kann, wie ich unter 2 ausgeführt habe, nicht erdacht und nicht im Denken rekonstruiert werden, sondern nur erfahren werden, indem sie den Menschen packt. Das Besondere an der Wirklichkeitserfahrung in primitiver Gegenwart besteht darin, dass sie dem Betroffenen keinen Spielraum lässt. Im normalen Leben hat man noch unter dem Druck der packenden Wirklichkeit einen Spielraum für Reflexion und Stellungnahme, sogar wenn man von ihrer Autorität genötigt wird, wie der in Kapitel 3 erwähnte leichtsinnige Läufer, der sich in der Evidenz eingestehen muss, dass ihm, da er das Bein gebrochen hat, eben doch etwas passieren kann. Dieser Spielraum kann dem Zweifel eine Stätte geben, z. B. mit dem am Schluss von Kapitel 2 ausgeführten unwiderlegbaren Argument dafür, dass gar nichts ist, aus der Konstruktion eines unendlich hohen Turmes von Quasi-Träumen. In der primitiven Gegenwart sind solche Ausweichungen vom Gepacktwerden ausgeschlossen, weil der Spielraum fehlt. Die packende Wirklichkeit ist dann unwidersprechlich. Ihr Zeugnis gibt aber nur zu verstehen, dass etwas ist und dass ich bin, wohl auch gewesen bin, indem etwas von mir mit der zerrissenen Dauer ins Nichtmehrsein entgleitet; was ist und was ich bin, wird dadurch nicht bezeugt. Das Dieses und das Ich: Absolute Identität und Subjektivität gehören zusammen. Absolute Identität, selbst zu sein, ereignet sich, indem etwas exponiert und gestellt wird, wie der Jäger das Wild und die Polizei den Verbrecher stellt; gestellt werden kann 90 https://doi.org/10.5771/9783495860465 .

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aber etwas nur, indem es sich stellt, weil sonst die Aufrichtung als Exposition an seiner Nachgiebigkeit scheitert. Die absolute Identität kommt also nur zu Stande, indem der oder das Betroffene sich auf sein affektives Betroffensein einlässt, was ursprünglich in unbeliebiger Selbstverstrickung geschieht. Daher hat das affektive Betroffensein von Anfang an eine passive und eine aktive Seite, die Passivität des Betroffenwerdens und die Aktivität, darauf einzugehen. Beide Seiten stehen zu einander in absolut unspaltbarem Verhältnis, so dass die Frage sich nicht stellt, ob der Betroffene schon selbst sein muss, um aktiv zu werden, oder ob ihm die absolute Identität erst von der Aktivität kommt. Solche Prioritätsfragen haben nur für das Verhältnis zwischen Einzelwesen, die zu einander in Beziehung treten, Sinn; hier kann davon nicht die Rede sein. Mit dem aktiv-passiven affektiven Betroffensein ist schon ein Bewussthaber da, wenn auch lange noch kein einzelnes Subjekt. Man sollte ihn aber nicht »das Ich« nennen, weil diese Substantivierung an eine falsche Vereinzelung denken lässt, z. B. an eine Ich-Instanz in der sogenannten Psyche wie in der Freud’schen Metapsychologie. Den Ausdruck »das Ich« für ein Moment der primitiven Gegenwart gebrauche ich nur ausnahmsweise zur plakativen Abkürzung. Vier Momente der primitiven Gegenwart – das Hier, das Jetzt, die absolute Identität und die Subjektivität – entspringen ihr und gehören unzertrennlich zusammen. Das fünfte Moment, das Sein (alias die Wirklichkeit, die Existenz, das Dasein) nimmt eine Sonderstellung ein. Es drängt sich in der primitiven Gegenwart in besonderer Weise, nämlich ohne Spielraum, auf; dass es aber bei dieser Gelegenheit entspringt und mit den anderen vier Momenten unzertrennlich zusammengehört, kann ich nicht erkennen. Die primitive Gegenwart ist ein ziemlich seltener Ausnahmezustand, aber von grundlegender Bedeutung für den Menschen und die Welt, weil in ihr die absolute Identität entspringt, wodurch etwas selbst und verschieden von anderem ist, mit einer 91 https://doi.org/10.5771/9783495860465 .

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Verschiedenheit, die zunächst keine Beziehung zwischen Einzelnen, sondern ein unspaltbares Verhältnis ist. Sie bedarf eines Erben oder Nachfolgers, wodurch die absolute Identität weitergetragen wird. Dieser Nachfolger wächst ihr zu in Gestalt der leiblichen Dynamik und leiblichen Kommunikation. Meine zuerst 1965 vorgelegte 102 und seither beharrlich verfolgte Theorie des Leibes habe ich kürzlich gedrängt zusammengefasst. 103 Unter dem Leib eines Bewussthabers verstehe ich den Inbegriff alles dessen, was er von sich selbst in der Gegend (nicht immer in den Grenzen) seines Körpers spüren kann, ohne sich der bekannten fünf Sinne und des aus ihren Erfahrungen (besonders denen des Sehens und Tastens) entsprungenen perzeptiven Körperschemas (der habituellen Vorstellung vom eigenen Körper) zu bedienen. Zum Leib in diesem Sinne gehören erstens die bloßen leiblichen Regungen wie Angst, Schmerz, Hunger, Durst, Wollust, Ekel, Frische, Müdigkeit, zweitens die leiblichen Regungen, die in Ergriffenheit von Gefühlen bestehen, drittens die leiblich spürbare Motorik und viertens die unumkehrbaren leiblichen Richtungen wie der Blick, das Ausatmen, das Schlucken. Der Leib unterscheidet sich vom materiellen Körper durch eine eigentümliche Ausdehnungsweise und eine eigentümliche Dynamik. Diese Dynamik verläuft in zwei Dimensionen. Die erste und grundlegende ist die Dimension von Enge und Weite, besetzt mit Tendenzen (Bewegungssuggestionen) der Engung und Weitung, die mit verschiedenen Gewichtsverhältnissen und Bindungsformen zum vitalen Antrieb aus Spannung (Engung) und Schwellung (Weitung) zusammengeschlossen sind. Aus der Spannung kann Engung als privative Engung abgespalten werden, aus der Schwellung Weitung als privative Weitung. Die zweite Dimension ist die von protopathischer und epikritiHermann Schmitz, System der Philosophie, Band II: Der Leib, Teil 1, Bonn 1965, Teil 2: Der Leib im Spiegel der Kunst, Bonn 1966 103 Hermann Schmitz, Der Leib, Berlin 2011, darin S. 7–13: Die Ausdehnung des Leibes, S. 15–27: Die Dynamik des Leibes, S. 29–53: Leibliche Kommunikation 102

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scher Tendenz; sie wird besonders in der Vitalität wichtig, die über dem Einsatz des vitalen Antriebs gegen Reize und (nach Vereinzelung) gegen Themen bestimmt. Die Spannung hält nicht nur in antagonistischer Konkurrenz die Schwellung fest, die ohne diesen Rückhalt in privative Weitung ausläuft und erschlafft, sondern hat noch andere Funktionen: die diskreten Leibesinseln zur Einheit des Leibes zusammenzuhalten und, ganz besonders, auf die primitive Gegenwart zurückzuweisen und sie gleichsam als Möglichkeit oder Aussicht vorzuzeichnen. Dadurch wird absolute Identität in alle Verrichtungen leiblicher Dynamik übertragen. Diese Ausbreitung absoluter Identität betrifft erst den eigenen Leib des jeweiligen Bewussthabers. Die leibliche Dynamik greift aber stets über diesen hinaus in Gestalt der leiblichen Kommunikation, von der hier nur die Einleibung in Betracht zu ziehen ist, die leibliche Kommunikation im Kanal des vitalen Antriebs, neben der es auch eine Ausleibung im Kanal privativer Weitung gibt. Einleibung verbindet den Leib mit Begegnendem durch einen den eigenen Leib übergreifenden vitalen Antrieb nicht nur mit Leibern, sondern auch mit Leiblosem, das durch leibnahe Brückenqualitäten (Bewegungssuggestionen und synästhetische Charaktere), die sowohl am eigenen Leib gespürt als auch am Begegnendem wahrgenommen werden können, Zugang zur leiblichen Kommunikation hat. Die Einleibung ist teils solidarisch (ohne Zuwendung der von einem gemeinsamen Antrieb geführten Teilnehmer zu einander), teils antagonistisch (mit Zuwendung von wenigstens einer Seite) und in diesem Fall teils einseitig (durch Fesselung an einen die dominante Engung des übergreifenden Antriebs besetzenden Partner, an dem der Gefesselte gleichsam hängt), teils wechselseitig (wenn die Beteiligten sich Engung und Weitung wie Bälle zuwerfen) und dann Quelle der (eventuell trügenden) Du-Evidenz, mit einem anderen Bewussthaber zu tun zu haben. Die Spannung im vitalen Antrieb der Einleibung überträgt absolute Identität auf die Teilnehmer ebenso wie der vitale Antrieb am eigenen Leib. Im 93 https://doi.org/10.5771/9783495860465 .

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Grunde ist alle Wahrnehmung absolut identischer Etwasse – vielleicht mit Ausnahme reiner Arten, in die die Ausleibung sich versenkt – Einleibung, wenn diese auch auf dem gleich zu besprechenden Niveau der zur Welt entfalteten Gegenwart durch die Subjekt-Objekt-Spaltung häufig entfremdet und mattgesetzt wird. Alle Wahrnehmung von Ausdruck (z. B. lebendiger Körper, von Naturstimmungen oder Klängen) ist jedenfalls Einleibung. Räumliche Weite und unzerrissene Dauer, Geschehen der primitiven Gegenwart, daran anschließende leibliche Dynamik und leibliche Kommunikation vom Typ der Einleibung sind die Grundzüge einer Lebensform, die ich als Leben aus primitiver Gegenwart bezeichne, weil sie sich an dieser gleichsam entzündet und von ihr die Möglichkeit, selbst zu sein, übernimmt. Es ist ein Leben in Situationen gemäß dem in Kapitel 5 eingeführten Begriff. Diese Situationen sind teils impressiv (vielsagende Eindrücke), so dass ihre Bedeutsamkeit (unbeschadet der Binnendiffusion) mit einem Schlage zum Vorschein kommen kann, teils segmentiert, so dass diese Bedeutsamkeit immer nur in Ausschnitten zum Vorschein kommt, ferner teils aktuell, so dass sie sich von Augenblick zu Augenblick ändern können, teils zuständlich, so dass nach Veränderung, außer bei Katastrophen plötzlichen Umschlagens, erst nach längeren Fristen sinnvoll gefragt werden kann. Tiere und menschliche Säuglinge (im frühen Stadium) leben aus primitiver Gegenwart. Einzelheit braucht in diesem Leben aus dem in Kapitel 5 dargelegten Grund nicht ganz zu fehlen, spielt aber eine geringe, beinahe vernachlässigbare Rolle und umfasst nicht einzelne Gattungen und deren Organisation durch Unterschiede und relative Identitäten. Tiere (und Säuglinge) sind in Situationen gefangen; sie kommen mangels Vereinzelung auch nicht zu Beziehungen, sondern leben in unspaltbaren Verhältnissen. Diese lassen recht komplizierte Ordnungen zu, die das Leben der Tiere in Gruppen und bei Ritualen der Begegnung durchziehen. Die Situationen, in denen sie befangen sind, werden von den Tieren durch Rufe und Schreie (z. B. Alarm-, Lock- und Klagerufe) ganzheitlich ange94 https://doi.org/10.5771/9783495860465 .

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sprochen, heraufbeschworen, modifiziert und beantwortet. Verständigung unter Tieren geschieht demgemäß nicht durch Gespräch oder sonstigen Dialog, sondern durch Einstimmung in gemeinsame Situationen. Absolute Identität und Verschiedenheit stehen den Tieren durchweg zur Verfügung, so dass sie bei der Bewegung vor Verwechslungen (Apraxie) geschützt sind. Ihre räumliche Orientierung ist die vorhin (beim Hier der primitiven Gegenwart) besprochene richtungsräumliche, die räumliche Bewältigung impressiver Situationen durch Einleibung. Nicht nur Tiere und Säuglinge führen ein Leben aus primitiver Gegenwart, sondern darin verharren ebenso die Personen in der breiten Unterschicht ihres routinierten Lebens (etwa bei flüssiger Körperbewegung und beim Sprachgebrauch in der Rede) sowie in Zuständen der Fassungslosigkeit. Tiere sind in Situationen gefangen. Auch ihr dürftiger, seltener Zugang zur Einzelheit auf dem Weg über Intensionen, die Gattungen auf dem Weg zur Vereinzelung, nicht einzelne Gattungen, sind (s. o. 5), hilft ihnen nicht aus der Gefangenschaft, wie das Beispiel der Bienensprache zeigt. Der Mensch104 besitzt in der wundersamen Gabe seiner satzförmigen (von den Sätzen einer Sprache geleiteten) Rede ein Werkzeug, um sich aus der Gefangenschaft zu befreien, sich über die Situationen, aus denen er dabei aber schöpfen muss, zu erheben und deren Inhalt beweglich und wählerisch neu anzuordnen. Das gelingt ihm, indem er lernt, Gattungen auf breiter Front zu vereinzeln und deren Fälle als einzelne Fälle von Gattungen identifizierbar und jederzeit verfügbar in einem Netz festzuhalten, das er aus den Gattungen nach Übereinstimmungen und Unterschieden zusammenspinnt, aber nicht so, dass das Einzelne fest in einem solchen Netz hängen bleibt; die relative Identität, etwas als Fall Von jetzt an folge ich in diesem Kapitel weitgehend der Darstellung in meinem Buch: Phänomenologie der Zeit, Freiburg i. B. 2014, S. 77–93, lasse aber dort Gesagtes aus, wenn es zum gegenwärtigen Thema, die Physiognomie der Welt, nicht erforderlich ist.

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vieler Gattungen ansprechen zu können, hilft ihm dazu, die Konstellationen umzugruppieren und durch andere zu ersetzen, indem er das Einzelne, das so in vielen Netzen Platz finden kann, bald von dieser, bald von jener Seite zum Thema macht. Diese von der sprachlichen, satzförmigen Rede gewährte Errungenschaft führt den Menschen aber noch viel weiter als nur zur Aufhängung einzelner Fälle in beweglichen Netzen von Gattungen. Ihm weitet sich das Feld möglicher Vereinzelung über jeden inhaltlich gefüllten und bestimmten Rahmen hinaus zu einem für Beliebiges aufnahmefähigen Feld, das die Welt im bestimmten Singular (als singulare tantum) 105 ist. Die Welt in diesem Sinn hat trotz ihrer Offenheit eine wohlbestimmte Struktur, die sich aus der Entfaltung der fünf Momente der primitiven Gegenwart ergibt; sie ist entfaltete Gegenwart. Jedes solche Moment entfaltet sich in eine Dimension, die ihren Beitrag zur Vereinzelung leistet. Das Hier, der streng absolute Ort der primitiven Gegenwart, ergänzt sich in der Weite des Raumes zu einem Netz relativer Orte, die zu sagen gestatten, wo etwas ist. Das Jetzt, der absolute Augenblick der primitiven Gegenwart, ergänzt sich zu einer Serie relativer, teils gegenwärtiger, teils vergangener, teils zukünftiger Augenblicke (d. h. Gegenwarten) in Früher-Später-Ordnung, die zu sagen gestatten, wann etwas ist. Das Sein (Dasein, Wirklichkeit, Existenz), das im Geschehen der primitiven Gegenwart erst dem Nichtmehrsein der zerrissenen Dauer gegenübersteht, ergänzt sich zum Gegenteil des Nichtseins überhaupt in der Weise, dass die Einzelheit die Grenze des Seienden ins Nichtseiende hinein überschreitet, wodurch Planung, Phantasie, Hoffnung, Furcht möglich werden, vorausgesetzt, es gelingt, Verhältnisse in Beziehungen zu spalten. Das Dieses der primitiven Gegenwart, die absolute Identität, ergänzt sich zur relativen Identität des Ich gehe mit dem Wort »Welt« sonst freigiebig um, spreche von dieser oder jener Welt. Wenn aber die Welt, die es nicht im Plural gibt, gemeint ist, halte ich mich genau an den jetzt eingeführten Begriff.

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Fallens einzelner Sachen unter mehrere Gattungen, wodurch diese Sachen vielseitig auffassbar werden. Die absolute Identität selbst wird durch die Aufspannung der Welt über die Situationen des Lebens aus primitiver Gegenwart hinaus auf alles übertragen, was sich zur Vereinzelung anbietet, und zur Einzelheit ergänzt. Das Ich der primitiven Gegenwart, der erst absolut identische Bewussthaber des Lebens aus primitiver Gegenwart, wird durch Selbstzuschreibung als Fall von Gattungen zum einzelnen Subjekt, um das sich eine Sphäre des Eigenen im Gegensatz zum Fremden bildet. Die diese Entfaltungen umfassende Welt ist das fünfdimensionale Feld aller möglichen (aber nicht immer alle fünf Dimensionen umfassenden) Vereinzelung, die beliebig weit getrieben werden, aber niemals das Mannigfaltige der Situationen vollständig ausschöpfen kann, weil schon zu jedem einzelnen Gegenstand eine Mannigfaltigkeit von Bestimmungen gehört, die nicht einzeln sind. 106 Wie gelingt dieser Überstieg über die Situationen zur Welt mit dem Werkzeug satzförmiger Rede? Ich habe in meinem Buch Das Reich der Normen die Vermutung geäußert, dass für diesen zur Menschwerdung des Tieres entscheidenden Schritt eine Verschiebung in der leiblichen Dynamik ausschlaggebend war. 107 Tiere leben, außer in vitalem Antrieb und Einleibung, in privativer Engung, indem sie erschrecken und stutzen; dagegen bleibt ihnen privative Weitung weitgehend versagt. Diese Ablösung von Weitung aus der Schwellung im vitalen Antrieb gibt dem Menschen enorme Chancen. Ludwig Klages sprach von Ferneempfänglichkeit; ich nenne die Versunkenheit der Ausleibung, teils in die Tiefe des Raumes, teils in absolute Arten (Starren in Glanz, Hingegebenheit an Wärme, Duft und Wind) bei Entdifferenzierung im Detail. Privative Weitung lockert die Verstrickung in das Widerfahrende, gibt Abstand und Spielraum für Kritische Grundlegung der Mathematik (wie Anmerkung 87), S. 69–76. Hermann Schmitz, Das Reich der Normen, Freiburg i. Br. 2012, S. 237– 240

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Stellungnahme. Die Situation, in denen er lebt, werden dem Menschen dadurch zugänglicher. Diese Begünstigung könnte den Menschen dazu verholfen haben, eine solche zuständliche Situation in ihren Dienst zu stellen oder anzunehmen, falls sie ihnen von sich aus zufiel; statt sich vom Nomos (dem Programmteil) dieser Situation unwissentlich führen zu lassen, wurde er ihnen zum Vorrat von Sätzen als Regeln, nach denen sie andere Situationen in der Rede aufschließen konnten, indem sie einzelne Sachverhalte, Programme und Probleme aus deren binnendiffuser Bedeutsamkeit herausholten und zu Konstellationen vernetzten. Das wäre eine Entstehung der Sprache durch Domestikation; man dürfte dann sagen: Die Sprache ist das erste Haustier des Menschen. Das scheint mir die wahrscheinlichste Hypothese über den Ursprung der Sprache zu sein, wenigstens einer Sprache, die genügend Breite und Wendigkeit für das Aufspannen der Welt über alle Situationen besaß; unvollkommene Sprachen, die nur Weniges und Spezielles einzeln zu fassen vermochten, mögen schon oft früher entstanden und wieder verschwunden sein. Kraft dieser Hypothese vermute ich, dass sich die Sprache nicht allmählich entwickelt hat, sondern gleich als Situation mit komplizierter Grammatik und beachtlichem Wortschatz den entsprechend begabten Menschen zugefallen ist, die Grammatik vielleicht eher als ein fertig festgestellter Wortlaut, für den es der Reaktion des vitalen Antriebs auf Herausforderungen in solidarischer Einleibung bedarf. 108 Ich bespreche nun einzeln die fünf Dimensionen der Entfaltung der primitiven Gegenwart zur Welt. Das Hier: Die räumliche Entfaltung der primitiven Gegenwart besteht darin, dass die räumliche Weite mit Orten besetzt wird, die sich gegenseitig durch ihre Beziehungen der Lage und des Abstands bestimmen, d. h. als einzelne identifizierbar machen. Solche Orte werden benötigt, um sagen zu können, wo etwas ist, ob es dort bleibt oder den Ort wechselt, wohin es sich 108

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bewegt, wie die Belegung der Orte wechselt. Auch für die Zeitmessung werden Orte benötigt, zu denen ein Zeiger entweder zurückkehrt (periodische Messung) oder von denen er sich in gleichförmiger Bewegung entfernt (lineare Messung wie mit Sand- oder Wasseruhr). Die Beziehungen der Lage und des Abstands müssen an umkehrbaren paarenden Verbindungen über Strecken abgelesen werden. Dazu bedarf es der Flächen. Flächen sind optisch und taktil unmittelbar zugänglich, Strecken sind dies nur an Flächen. Damit kommt ein fremdes Element in die vorhin skizzierte richtungsräumliche Orientierung des Lebens aus primitiver Gegenwart. Diese operiert in einem flächenlosen Raum ohne Unterschied der Dimensionszahl zwischen Flächen und massivem Volumen. In flächenlosen Räumen, zu denen auch der Raum der flüssigen, unreflektierten Körperbewegung gehört, ist das Volumen nicht dreidimensional, sondern dynamisch, wie das Volumen der Leibesinsel, die sich bei jedem Einatmen aus Spannung und Schwellung bildet, oder das Volumen des Wassers, in dem sich der Schwimmer vorwärts kämpft. Es bedarf einiger Kunst, dieses dynamische Volumen geometrisch umzudeuten, als ob hinter einer undurchdringlichen zweidimensionalen Trennwand eine verborgene dreidimensionale Masse stecke, in die nur durch Schnitte, also wieder durch trennende Flächen, hinter die die dreidimensionale Masse nur zurückweicht, eingedrungen werden kann. Andere flächenlose Räume sind der Raum des Schalls, der einprägsamen Stille, des Wetters, des Rückfelds, des entgegenschlagenden Windes, des Wassers für den Schwimmer. Auch die Räume des spürbaren Leibes und der Gefühle als Atmosphären sind flächenlos. Die Fläche ist überhaupt schwerer zugänglich als es scheint. Optisch verstellen sie z. B. Glanz, Schimmer und Schatten, haptisch Rauigkeit und Weichheit. Nur bei ausgezeichneten Gelegenheiten kann man sich mühelos mit Flächen bekannt machen, etwa beim Betasten glatter Oberflächen harter Körper. Der unmittelbare Zugang zu Flächen besteht sonst darin, dass man etwas als Fläche auffasst oder deutet. 99 https://doi.org/10.5771/9783495860465 .

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Mit der Fläche beginnt die Entfremdung des Raumes vom Leib. Am eigenen Leib kann man keine Flächen spüren, während man sie am eigenen Körper besehen und betasten kann. Weder die Leibesinseln haben Flächen noch leibliche Regungen irgend eines Typs von den vier vorhin aufgezählten Sorten. Das Geschenk der leibfremden Fläche ist ein großer, vielleicht entscheidender Gewinn für die personale Emanzipation, die Entfaltung der primitiven Gegenwart in der Dimension der Subjektivität. In der Fläche findet der Mensch Blickziele und kann durch deren paarende Verbindung Figuren nach Belieben ausprobieren (z. B. zeichnen); mit ihnen, in Winkeln aneinandergesetzt, kann er die räumliche Weite durch ein Netz von Orten überspinnen; sie bricht den Tiefenzug und hemmt damit die Eindringlichkeit des Begegnenden, das den Menschen durch Bewegungssuggestionen aus der Tiefe hervor und auf ihn zu in Auseinandersetzungen verstrickt; sie reflektiert die unumkehrbaren leiblichen Richtungen zu umkehrbaren Verbindungen, die zum spürbaren Leib mit seinen absoluten Orten zurückkehren, so dass der Mensch sich als Objekt unter Objekten in den Raum einordnen, damit Abstand von sich als Objekt gewinnen und durch relative Orte ein stabil gegliedertes perzeptives Körperschema (habituelles Vorstellungsbild von Lage und Abstand seiner Körperteile) erwerben kann. Das Jetzt: Im Leben aus primitiver Gegenwart ist mit der Gegenwart zusammen, durch den Riss des Abschieds der zerrissenen Dauer von ihr getrennt, das Vorbeisein, die Vergangenheit aufgetan und zugleich durch die zuständlichen Situationen, die den Riss überbrücken, mit der Gegenwart verbunden. Eine dem Nichtmehrsein entsprechende Perspektive des Nochnichtseins, der Zukünftigkeit, fehlt aber noch. Die unzerrissene Dauer, die dem Andrang des Neuen unerschöpfte Gelegenheit bietet, eignet sich als intensive Größe109 nicht zur Bahnung eines VorHermann Schmitz, Phänomenologie der Zeit, Freiburg i. Br. 2014, S. 61– 73: Dauer

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blicks in die Zukunft, und der Andrang des Neuen steht als Appräsenz in unspaltbarem Verhältnis mit der Gegenwart, so dass er nicht in die Zukunft des nur noch Bevorstehenden abgerückt werden kann. Es fehlt an einem dem Riss des Abschieds entsprechenden Schnitt; auch die im Leben aus primitiver Gegenwart ausgreifenden Protentionen des Ausseins auf etwas, z. B. in Hunger und Durst, liefern ihn nicht. Sowie aber die Vereinzelung gelungen und die Welt über deren ganze Möglichkeit aufgespannt ist, kann die Zukunft geöffnet werden, allerdings nur, wenn es gelingt, das zuvor unspaltbare Verhältnis in Beziehungen aufzuspalten. Dann kann in das Neue hinein die Phantasie und die Erwartung Einzelnes projizieren und die Wiederholungen des Andrangs, mit dem das Neue zerreißt, als Markierungen einer Anordnung benützen, die über das Gegebene hinaus ins Erwartete fortgesetzt wird. Dazu gehört freilich des Weiteren, dass Phantasie und Erwartung der Fortsetzung ins Nichtseiende (Nochnichtseiende) mächtig werden, und damit die Entfaltung der Gegenwart in der gleich zu besprechenden Dimension des Seins. Auf diese Weise wird das Neue, dem man ausgesetzt ist, zum Bevorstehenden, auf das man rechnen und sich einstellen kann. Noch weiter führt die Extensivierung der Dauer zur Zeitstrecke 110 ; damit kann die zeitliche Anordnung zum zeitlichen Abstand ergänzt werden. Dieselbe Vereinzelung mit Anordnung und Zeitabständen wird auf die Vergangenheit angewendet; so entsteht eine Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit durchlaufende Reihe relativer Gegenwarten, die teils vergangen, teils gegenwärtig, teils zukünftig sind und durch die Beziehung des Früheren zum Späteren geordnet werden. Das Sein: Die Entfaltung des Seins (der Wirklichkeit, der Existenz) aus der primitiven Gegenwart besteht darin, sich aus der engen Gegenüberstellung zum Nichtmehrsein der zerrissenen Dauer zu lösen und zum Gegenteil des Nichtseins in dessen voller Breite zu werden, so dass ein unbeschränkter Gegensatz 110

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zwischen dem Seienden und dem Nichtseienden entsteht. Die Form der Einzelheit umgreift beides, Seiendes und Nichtseiendes. Ein fingiertes, nichtseiendes Wesen, z. B. eine poetische Figur wie Goethes Werther, ist so gut ein Einzelwesen, in diesem Fall ein bestimmter Mensch, wie Goethe, wie du und ich, nur dass man nicht weiß, welcher. Eine unendliche Menge möglicher Welten, voll von Individuen, die Werther sein könnten, steht zur Verfügung; es kommt bloß darauf an, dass jedes von ihnen alle Eigenschaften besitzt, die der Dichter Werther zuschreibt oder bei ihm offensichtlich voraussetzt, und keinem eine damit unverträgliche Eigenschaft. Jeder kann sich einen solchen Werther aussuchen, aber er wird mit der Suche nicht zu Ende kommen, weil er dafür überabzählbar unendlich viele Fragen beantworten müsste. Mit der Suche nach Werther steht es nicht viel anders als mit der Suche nach einem uneindeutig beschriebenen wirklichen Menschen, nur mit dem Unterschied, dass man mehr Anhaltspunkte hätte und hoffen könnte, mit der Beantwortung nur endlich vieler Fragen auszukommen. Das Glücken der Projektion nicht des Seins, sondern der Einzelheit ins Nichtseiende hat für den Ertrag der Entfaltung der primitiven Gegenwart zur Welt gewaltige Folgen zu Gunsten des Menschen. Er benötigt das Einzelne im Nichtseienden, um phantasieren, hoffen, fürchten, erwarten, planen, wagen zu können, denn all das ist ein Ausgriff, dessen die Tiere nicht habhaft werden, weil sich ihnen die primitive Gegenwart nicht entfaltet. Aber auch dem Menschen wären solche Aussichten nicht beschieden, wenn ihnen nicht ein weiterer großer Schritt gelänge: das Spalten der Verhältnisse in Beziehungen. Nur dieses Spalten gestattet ihm, sich in dem geschlossenen Komplex eines Verhältnisses in Gedanken frei zu bewegen, sich von diesem auf jenes und zurück zu bewegen und die dabei entstehenden Komplexe beliebig umzugruppieren. Sonst entginge dem Menschen der Freiraum des Denkens, Wollens und Vorstellens, und die bloße Aussicht auf Einzelheit im Nichtseienden würde ihm nichts nützen. Der Spaltung wird aber durch das Verhältnis kein 102 https://doi.org/10.5771/9783495860465 .

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Ansatzpunkt geboten. Die Landkarte sagt nicht, von wo wohin ein Weg aus ihr abzulesen ist, wenn man nicht schon eine Richtung für das Ablesen hat. Eine Richtung hat das Denken aber nur durch das Beziehen, also nur, wenn es schon über gerichtete Beziehungen zu etwas verfügt. Es müsste also Beziehungen schon besitzen, um sie durch Spalten von Verhältnissen zu gewinnen. Das ist eine unmögliche Aufgabe. Das auf Beziehungen angewiesene (diskursive) Denken ist hilflos vor der Aufgabe, solche Beziehungen durch Spaltung von Verhältnissen zu gewinnen. Aus dieser Verlegenheit wird es erlöst durch das Geschenk einer Richtung, die ihm ohne sein Zutun zufällt, weil es wie alles Menschliche ihr ausgeliefert ist: der Richtung des Flusses der Zeit, der darin besteht, dass die Vergangenheit wächst, die Zukunft schrumpft und die Gegenwart wechselt. Die Zeit holt das Denken, das z. B. auf einer Landkarte einen Weg sucht, an einem Ausgangspunkt ab, lässt es den Weg durchlaufen und das Ziel finden, entsprechend bei anderen Denkprozessen. In einer starren Zeit, wie sie heute manche Physiker im Gefolge der Relativitätstheorie postulieren, wäre menschliches Denken unmöglich, auch das dieser Physiker. Es hängt nicht nur überhaupt, sondern speziell als diskursives Denken, von der primitiven Gegenwart und der aus dieser sich ergebenden Modalzeit 111 ab, von der dynamischen Zeit des Entstehens und Vergehens. Das Dieses: Die absolute Identität entfaltet sich zur relativen Identität von etwas mit etwas, d. h. zum Fallen einer einzelnen Sache – im weitesten Sinn des Wortes – unter mehrere Gattungen. Der Mensch, der über relative Identität verfügt, ist in Bezug auf eine solche Sache nicht in eine starre Perspektive gebannt, sondern kann die Sache von verschiedenen Seiten ansehen und auf sie zugreifen; seine Betrachtungsweise wird beweglich und für Nuancen empfindlich. Dieser Gewinn hat drei Voraussetzungen: Erstens muss überhaupt Einzelnes gefunden sein, zweitens müssen in satzförmiger Rede einzelne Gattungen entbun111

Ebd. S. 108–121

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den sein, und drittens muss die Spaltung von Verhältnissen in Beziehungen gelungen sein. Über relative Identität kann daher nur verfügen, wer satzförmiger Rede fähig ist und im Fluss der Zeit steht. Das Ich: Bei der Entfaltung der primitiven Gegenwart erhebt sich der absolut identische Bewussthaber des Lebens aus primitiver Gegenwart, sofern er – wie der normal sich entwickelnde Mensch – von dieser Entfaltung mitgenommen wird, zum einzelnen Subjekt, indem er seine absolute Identität durch das Fallsein von Gattungen ergänzt. Das geschieht durch Selbstzuschreibung, indem er je einen Fall dieser Gattungen mit sich oder umgekehrt sich mit allen diesen Fällen identifiziert, z. B. als Mensch, Frau, Gattin, Mutter, Christin, Schneiderin usw. Dann kann er sich vielseitig in ein Verhältnis zu sich selbst und zu seiner Umgebung setzen, sich seine Rolle wählen, soweit die Umstände dies zulassen, Rechenschaft ablegen usw. Dieses Vermögen ist so charakteristisch für Personen, dass ich definiere: Eine Person ist ein Bewussthaber mit Fähigkeit zur Selbstzuschreibung. Selbstzuschreibung ist ein identifizierendes Sichbewussthaben. Es vereinigt zwei Richtungen der Identifizierung: die horizontale durch alle diese Fälle hindurch und die vertikale aller dieser Fälle mit dem identifizierenden Subjekt. Die horizontale Identifizierung, selbst wenn sie auf alle Attribute des Betreffenden (alle Gattungen, unter die er fällt) ausgedehnt würde, reicht nie zu der vertikalen, denn alle diese Attribute könnte auch ein Anderer besitzen. Daraus ergibt sich eine eigentümliche Schwäche der Selbstzuschreibung, die offenkundig wird, wenn man sie, was leicht möglich ist, zur eindeutigen Kennzeichnung ergänzt. Durch jede andere Kennzeichnung kann man mit der gekennzeichneten Sache bekannt gemacht werden, mit einem zur Übernachtung zugewiesenen Hotelzimmer z. B. durch Angabe von Stadt, Straße, Hausnummer, Stockwerk und Zimmernummer. Bei der Selbstzuschreibung muss man die Bekanntschaft mit ihrem Relat, nämlich mit dem, der identifiziert und mit 104 https://doi.org/10.5771/9783495860465 .

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dem identifiziert wird, schon mitbringen, weil in allen Angaben über das, was identifiziert ist, kein zureichender Grund für die Annahme enthalten ist, dass es sich gerade um ihn handelt. Das identifizierende Sichbewussthaben der Selbstzuschreibung ist also nur möglich unter Voraussetzung eines nicht identifizierenden Bewussthabens. Wie dieses beschaffen ist, wurde in Kapitel 4 gezeigt. Es gelingt durch die subjektiven Tatsachen des affektiven Betroffenseins, dass dem Betroffenen etwas nahe geht, nicht wegen der Attribute, die ihm zukommen und für die vertikale Identifizierung unzulänglich sind, sondern wegen der für ihn subjektiven Tatsächlichkeit, aus der sich durch Wegfall dieser Subjektivität die Objektivität neutraler Tatsachen desselben Inhalts an Attributen ergibt. In den für einen selbst subjektiven Tatsachen seines affektiven Betroffenseins findet man also ohne Identifizierung sich selbst. Das ist aber nur möglich, wenn man ohne Identifizierung sich selbst finden kann, für den diese Tatsachen subjektiv sind. Die einzige Gelegenheit dazu bietet die primitive Gegenwart, in der absolute Identität und Subjektivität, dieses und ich zu sein, in absolut unspaltbarem Verhältnis so verschmolzen sind, dass sich Identifizierung erübrigt. Aus ihr geht dieses primitive Sichbewussthaben in den vitalen Antrieb über, dessen Spannung die Andeutung der primitiven Gegenwart bewahrt. Daraus ergibt sich, dass eine Person ohne primitive Gegenwart und leibliche Dynamik (mit dem vitalen Antrieb als Achse) unmöglich ist, zumal auch affektives Betroffensein immer leiblich spürbar ist, eine leibliche Regung. Die Person löst sich also auf, wenn sie nicht im Leib und seiner Dynamik, damit aber auch im Leben aus primitiver Gegenwart, in das diese Dynamik eingebettet ist, ihre Wurzel hat und auf diese Heimat immer zurückkommt. Genauso wenig wäre sie aber Person, wenn sie im Leben aus primitiver Gegenwart stecken bliebe. Um darüber hinaus zu kommen und die freie Beweglichkeit des Bewussthabers mit Fähigkeit zur Selbstzuschreibung als Fall mehrerer Gattungen zu gewinnen, muss zur Vereinzelung des einzelnen Subjekts die 105 https://doi.org/10.5771/9783495860465 .

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Neutralisierung subjektiver Tatsachen, Programme und Probleme hinzukommen, also der Abfall der Subjektivität, wodurch sich nur noch objektive Tatsachen, Programme und Probleme ergeben, die jeder aussagen kann, sofern er genug weiß und gut genug sprechen kann. Wie weit die Person mit ihrer Selbstzuschreibung ohne solche Neutralisierung kommt, kann man an schweren Träumen abnehmen, wenn irgend ein unüberwindliches Hindernis den Träumer in Angst und Verlegenheit hält. Vereinzelung, Projektion des Einzelnen ins Nichtseiende, Spaltung von Verhältnissen in Beziehungen und relative Identität sind ihm durchaus verfügbar; ihm fehlt nur die Neutralisierung, das Vermögen, von den erlebten Bedeutungen (den Tatsachen, Programmen, Problemen) die Subjektivität für ihn abzuschälen, so dass er Abstand gewinnen, die Bedeutungen objektivieren und nach deren Maßgabe die Situation überblicken und kritisch beurteilen könnte. Ohne Neutralisierung bliebe die Person hilflos; ihr fehlte die freie Beweglichkeit der Selbstzuschreibung im Stellungnehmen zu sich im Licht verschiedener Gattungen. Die Neutralisierung, volkstümlich gesprochen, die Versachlichung, d. h. der Prozess der Abschälung der Subjektivität von Bedeutungen, beginnt im normalen Menschenleben noch vor Vollendung des ersten Lebensjahres. Sie ist sowohl erlitten als selbst getätigt, jenes mehr als dieses, und läuft parallel mit der Vereinzelung. Indem einzelne Sachverhalte, Programme und Probleme aus Situationen hervortreten, kann die Subjektivität für den Betreffenden von ihnen abfallen, und damit, wenn es sich bei den Sachverhalten um Gattungen handelt (s. o. 5), von ganzen Massen ihrer Fälle, die auf einen Schlag in die Neutralität mitgezogen werden. Ein Musterbeispiel dieses Zusammenhangs ist die Enttäuschung. Eine Situation bricht zusammen, einzelne Sachverhalte werden frei, indem man z. B. erst jetzt merkt, wie gut man es gehabt hatte, während dies bis dahin in der binnendiffusen Bedeutsamkeit versenkt gewesen war, und vieles, das bis dahin selbstverständlich war, tritt einzeln hervor, aus der Subjektivität entlassen, neutral, objektiv. Man muss sich 106 https://doi.org/10.5771/9783495860465 .

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damit abfinden. Neue Tatsachen, erst recht neue Probleme und neue Programme der Anpassung, drängen sich einzeln und neutral auf, bis man sich in die neuen Lebensumstände eingelebt hat. Dem Menschen schenkt die Enttäuschung die Chance, Situationen durch Vereinzelung und Neutralisierung von Bedeutungen aufzubrechen, während dem enttäuschten Tier eine Situation nur abreißt und die folgende sich anschließt, ohne dass es der Gefangenschaft in Situationen je entkäme. Die Neutralisierung von Bedeutungen bringt der Person die Chance der Verfremdung, dass ihr etwas fremd wird. Eine Sache wird einer Person fremd (im Sinne von entfremdet 112 ), wenn der (tatsächliche oder untatsächliche) Sachverhalt, dass sie existiert, für die Person neutral wird, so dass sie nicht mehr in affektivem Betroffensein (mit Zuneigung oder Abneigung) an ihm »hängt«. Dem Fremden gegenüber bildet sich um die subjektiv gebliebenen Bedeutungen das Eigene heraus, mit breiten Grauzonen zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Die Ausarbeitung dieser Gegenüberstellung ist personale Emanzipation. Da die Person aber auf ihr leiblich-affektives Betroffensein und den Zugang zur primitiven Gegenwart angewiesen bleibt, bedarf sie einer zur personalen Emanzipation gegenläufigen personalen Regression, die die Gegenüberstellung verwischt, Bedeutungen resubjektiviert und mehr oder weniger zum Leben aus primitiver Gegenwart zurückführt. Aus personaler Emanzipation und personaler Regression angesichts von Herausforderungen, die hauptsächlich aus leiblicher Kommunikation stammen, entwickelt sich lebenslang eine persönliche Situation (volkstümlich »Persönlichkeit« der Person genannt) in Prozessen der personalen Emanzipation und personalen Regression, Implikation (in die binnendiffuse Bedeutsamkeit) und Explikation (aus ihr) mit vielen partiellen Situationen, die in der persönlichen Situation Außer der Fremdheit durch Entfremdung gibt es auch eine Urfremdheit, vgl. Hermann Schmitz, Jenseits des Naturalismus, Freiburg i. Br. 2010, S. 333–348: Entfremdung und Urfremdheit

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gleiten und sich reiben, und um die persönliche Situation herum eine persönliche Welt, bestehend aus persönlicher Eigenwelt und persönlicher Fremdwelt. Das Nähere ist in vorliegender Skizze nicht am Platz. 113 Auf diesen fünf Säulen der Entfaltung der primitiven Gegenwart ist die Welt als das Feld aller möglichen Vereinzelung aufgespannt. Da die primitive Gegenwart unteilbar ist 114 , gehören die fünf Säulen zusammen. Die Welt braucht also jedenfalls eine räumliche und eine zeitliche Seite, obwohl vieles zu ihr gehören kann, das weder räumlich noch zeitlich ist. Alle Universen werden von der Welt übergriffen. In ihr hat nicht nur das Einzelne Platz, sondern alles, was für mögliche Vereinzelung in Betracht kommt. Diese kann nie zu Ende geführt werden, wie gleich gezeigt werden wird.

Vgl. dazu von Hermann Schmitz: System der Philosophie, Band IV, Bonn 1980, in Studienausgabe 2005, S. 287–473; Der Spielraum der Gegenwart, Bonn 1999, S. 106–136; Jenseits des Naturalismus, Freiburg i. Br. 2010, S. 301–348; Bewusstsein, Freiburg i. Br. 2010, S. 99–109 114 Vielleicht mit Ausnahme des Seins, das mit den übrigen vier Momenten nicht so unzertrennlich zusammenzugehören scheint, wie diese mit einander verschmolzen sind, siehe oben 113

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7. Widerlegung des Realismus und des Idealismus

Der Realismus ist die Überzeugung des Menschen, dass er – als Individuum wie als ganze Menschheit – in eine Welt geraten ist, die im Wesentlichen fertig ist, aber umgestaltet werden kann, wozu die Menschheit im Ganzen Beträchtliches, das Individuum eher Geringes beiträgt (s. o. 1). Was heißt »im Wesentlichen fertig«? Für diese einleuchtende, aber unpräzise Vorstellung finde ich nur eine einzige begrifflich genaue Fassung: Die Welt liegt den Menschen zur Umgestaltung als durchgängig bestimmte vor. Der Grundsatz der durchgängigen Bestimmung, den Kant zuerst aufgestellt hat 115 , ist eine Spezialisierung des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten (zusammen mit dem Satz vom Widerspruch) und besagt, dass für jeden Gegenstand und jede Bestimmung der Gegenstand die Bestimmung entweder besitzt oder nicht besitzt. Ich habe in meinem Buch Kritische Grundlegung der Mathematik einen Satz als Hauptsatz aufgestellt und bewiesen, wodurch sowohl der Grundsatz der durchgängigen Bestimmung widerlegt als auch dessen logische Äquivalenz mit der These, dass alles einzeln ist, bewiesen wird. 116 Es stellt sich heraus, dass jeder beliebige Gegenstand Bestimmungen haben muss, die nicht einzeln sind, sofern er überhaupt Bestimmungen haben und nicht gänzlich unbestimmt sein soll; daraus wird mit den Merkmalen der Einzelheit65 gefolgert, dass der Grundsatz der durchgängigen Bestimmung falsch ist. Dieser Gedankengang hat enorme Konsequenzen für die Philosophie (die gelebte und die wissenschaftliche), abgesehen von seiner Anwendung Kritik der reinen Vernunft A571 f. B599 f. Hermann Schmitz. Kritische Grundlegung der Mathematik, Freiburg i. Br. 2013, S. 69–72

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auf das mathematische Beweisverfahren des indirekten Beweises. Der allgemeine Determinismus entfällt, denn wenn nicht alles durchgängig bestimmt ist, kann auch nicht alles durchgängig fremdbestimmt sein. Man darf einen Determinismus nur noch für bestimmte Eigenschaften behaupten und muss die Behauptung für jede Sorte besonders rechtfertigen, ohne sich auf einen allgemeinen Determinismus zu berufen. Ferner entfällt auch der Fatalismus, der Glaube, dass alles vorbestimmt ist, weil nur das der Zukunft angehört, was zwar noch nicht ist, aber einmal sein wird und damit die Gegenwart präformiert; vielmehr zeigt sich, dass die Zukunft offen ist, indem sie einen Überschuss dessen, was noch möglich ist, über das, was im angegebenen Sinn noch nicht ist (über die geschlossene Zukunft) enthält. 117 Das dritte Opfer, nach dem Determinismus und dem Fatalismus, ist der Realismus, die Vorstellung, dass die Welt, in der sich die Menschen befinden, sozusagen vorläufig fertig ist, wenn auch nicht endgültig, da sie durch Geschehnisse aller Art, u. a. durch menschliches Tun, umbestimmt werden kann. Für die Redeweise »vorläufig fertig« lässt sich, soviel ich sehe, keine andere Präzisierung angeben als die Anwendung des Grundsatzes der durchgängigen Bestimmung auf die Welt, und diese wie jede Anwendung des Grundsatzes ist falsch. Auch abgesehen von der Widerlegung des Grundsatzes der durchgängigen Bestimmung waren schon nach den Ergebnissen der Kapitel 5 und 6 die Aussichten für den Realismus nicht günstig. Die Welt ist ein in fünf Dimensionen strukturiertes Feld, das über alles, was einzeln sein oder werden kann, aus der satzförmigen Rede des Menschen (oder eines anderen Wesens, von dem wir aber nichts wissen) geworfen wird, indem einzelne Gattungen aus Situationen entbunden und durch Übereinstimmung und Unterschied zu Netzen verknüpft werden, in deren Maschen absolut Identisches aller Sorten als Einzelnes Platz finHermann Schmitz, Phänomenologie der Zeit, Freiburg i. Br. 2014, S. 149–163: Offene und geschlossene Zukunft. S. o. Anmerkung 30.

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Widerlegung des Realismus und des Idealismus

det, sogar – dank relativer Identität – in vielen solchen Netzen, die unter einander wieder verknüpft werden können. In Kapitel 5 stellte sich schließlich heraus, dass die zur Einzelheit benötigten Gattungen nicht, wie Platon mit allen Platonikern es sich dachte, von selbst wie Sterne am Himmel zur Verfügung stehen können, weil sonst kein Mensch etwas einzeln bewusst haben könnte, indem jede solche Bewussthabe überfrachtet wäre mit der Voraussetzung, unendlich viele über einander als Fall und Gattung geschichtete Gattungen bewusst zu haben. Als Ausweg aus diesem Dilemma ergab sich die Möglichkeit, dass etwas einzeln schon sein kann als Fall einer Intension, die noch nicht einzeln, sondern erst eine im Hervorgang aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit einer Situation befindliche Bedeutung und mit ihrem einzelnen Fall in unspaltbarem Verhältnis zusammengeschlossen ist. Auf diese Weise kann es Ansätze zur Vereinzelung schon geben, bevor Gattungen einzeln sind, aber das genügt nicht zur Aufspannung einer Welt; dafür müssen Gattungen identifizierbar einzeln und zu Netzen (Konstellationen) verknüpft sein, und das ist ohne satzförmige Rede, die Intensionen aus der Bedeutsamkeit von Situationen abschöpft und vereinzelt, nicht möglich. Die Welt kann also den Menschen nicht vorgegeben sein, weil diese sie durch ihre satzförmige Rede erst möglich machen. Die Labilität der Welt hat aber eine noch tiefere Wurzel. 118 Die fünfdimensionale Struktur der Welt ist eine Entfaltung der primitiven Gegenwart und kann keinen Bestand haben, wenn diese mit dem plötzlichen Andrang des Neuen entfällt oder nicht mehr zugänglich ist. Die primitive Gegenwart ist der Ursprung absoluter Identität (Kapitel 6). Einzelheit besteht in der Verbindung absoluter Identität (und zwar nicht durch Zwiespalt gestörter) mit dem Fallsein von Gattungen (Kapitel 5). Mit der primitiven Gegenwart entfällt also die Einzelheit, also auch die Entfaltung der primitiven Gegenwart durch Vereinzelung und 118

Ebd. S. 163–167: Anfang und Ende der Zeit

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Widerlegung des Realismus und des Idealismus

Verknüpfung von Gattungen in fünf Dimensionen. Alle diese Dimensionen brechen dann zusammen: der zum Ortsraum entfaltete Raum, die zur modalen Lagezeit entfaltete Zeit, die vom Export der Einzelheit ins Nichtseiende verklammerte Gegenüberstellung von Sein und Nichtsein, die Personalität mit Gegenüberstellung des Eigenen und Fremden. Die Welt, die fünffache Struktur dieser Entfaltung, ist dann weg. Diese Katastrophe tritt ein, sobald nicht mehr der plötzliche Andrang des Neuen Gegenwart exponiert und dadurch Dauer zerreißt und ins Nichtmehrsein verabschiedet (vorbei sein lässt). Nicht einmal die Tiere können mehr ihr Spiel im Gefängnis der Situationen treiben, mangels absoluter Identität. Die Welt ist also ein sehr labiles Gebilde, abhängig erst von der primitiven Gegenwart und sodann von der satzförmigen Rede des Menschen. Diese Genesis der Welt oder besser – mit einer Wendung von Heidegger – der Weltlichkeit der Welt als Entfaltung der Gegenwart kann aber vergessen werden. Wenigstens vier Dimensionen dieser Entfaltung laden dazu ein: der Ortsraum als emanzipiertes Hier, das Sein gegenüber dem Nichtsein als emanzipiertes Sein, die relative Identität als emanzipiertes Dieses, die Person mit Eigensphäre im Gegensatz zum Fremden als emanzipiertes Ich der primitiven Gegenwart, des aktiv-passiven affektiven Betroffenseins eines erst absolut identischen Bewussthabers. In diesen vier Dimensionen kann man sich so gut einrichten, dass man über der entfalteten Gegenwart die Entfaltung und deren Bedingtheit vergisst. Bloß die zeitliche Dimension, die Entfaltung des Jetzt, macht eine Ausnahme. In ihr ist die Entfaltung nicht so gut gelungen, gleichsam auf halber Strecke liegen geblieben. 119 Die Menschen spüren jetzt noch beständig, gerade auch in ihrem Alltagsleben, die Abkunftigkeit der Zeit von der primitiven Gegenwart an den modalen Zügen der Hermann Schmitz. Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, Freiburg i. B. 2007, 3. Auflage 2012, S. 61 f.; Der Leib, Berlin 2011, S. 133; Phänomenologie der Zeit (s. o.), S. 84–86

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Widerlegung des Realismus und des Idealismus

Zeit (als modale Lagezeit), besonders am Fluss der Zeit, dass die Vergangenheit wächst, die Zukunft schrumpft und die Gegenwart wechselt. Es wäre albern, der menschlichen Lebenserfahrung diese beständige Erinnerung an den Ursprung der Zeit abzusprechen. In der Theorie ist das aber möglich, etwa indem Physiker, ohne zu merken, dass sie sich den Ast absägen, auf dem sie als Physiker sitzen, der Zeit die modalen Züge absprechen und sie in eine »Blockzeit« verwandeln wollen, eine reine Lagezeit als spaltbares Verhältnis. 120 Das Misslingen einer auch nur dem Anschein nach glatten Emanzipation der Zeit aus der primitiven Gegenwart manifestiert sich in den tragischen Zügen der Zeit119 und den im Nachdenken über sie hervortretenden Aporien, die nur teilweise durch kritische Reflexion aufgelöst werden können, zum anderen Teil aber, um der Absurdität eines logischen Widerspruchs zu entgehen, der Behandlung mit der von mir entwickelten Logik des Zwiespalts bedürfen.121 Wenn die Welt bloß als entfaltete Gegenwart, ohne Rücksicht auf deren Entfaltung und auf die warnende Stimme der Zeit, zur Kenntnis genommen wird, kann man sich für berechtigt halten, die Weltform mit Raum und Zeit wie Newton und Kant für unendlich und unerschöpflich zu halten, und dann liegt es nahe, den Menschen in eine stabil vorgegebene Welt hineinzustellen. Eine solche für die Bodenbeschaffenheit des Weltgebäudes blinde Sicht wird zusätzlich durch die aus meiner Widerlegung des Grundsatzes der durchgängigen Bestimmung gefolgerte Widerlegung des Realismus abgefangen. Demselben Verdikt wie der Realismus verfällt der entgegengesetzte subjektive Idealismus, der die Welt aus der Leistung eines Bewussthabers hervorgehen lässt, sofern dieser als etwas verstanden wird, das im angegebenen Sinn einzeln ist. Als Einzelner ist er wie alles Einzelne nur als Fall einer Gattung möglich, und wenn er als Einzelner bewusst sein sollte, entstünde 120 121

Phänomenologie der Zeit, S. 94–96, 112 f., 142–144 Ebd. S. 176–181; Kritische Grundlegung der Mathematik, S. 123–137

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Widerlegung des Realismus und des Idealismus

wie in jedem entsprechenden Fall die Überforderung des Bewussthabens durch eine unendliche Fülle bewusst zu habender Gattungen, falls diese nicht wieder in der angegebenen Weise aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen entbunden und mittels satzförmiger Rede des Menschen vereinzelnd aufgefasst und verknüpft werden. Auch der Idealist kommt für sein Konstitutions- und Konstruktionsprinzip also nicht um die Situationen und das Schöpfen aus ihnen herum. Sein Prinzip, wenn es ein Einzelwesen sein soll, bedarf der Konstitution genauso gut wie das, was es konstituieren soll. Idealisten vergessen das regelmäßig, sowohl die Juden und Christen, die man wegen ihres ganz transzendenten Konstitutionsprinzips (göttlicher Weltschöpfer) nur in stark gedehntem Sinn als Idealisten bezeichnen sollte, als auch Idealisten im geläufigen Sinn, die wie Kant, Fichte, Husserl ein etwas nebelhaftes, aber dem menschlichen Bewussthaben näheres Prinzip (transzendentales, absolutes, reines Ich) heranziehen. Wenn dessen Leistung, wie bei Kant und im radikalen Konstruktivismus, als echtes Konstruieren oder Zusammensetzen (Kant: Synthesis, Verknüpfung) aufgefasst wird, ist das singularistische Missverständnis zum Prinzip erhoben, denn zusammensetzen kann man nur Einzelnes. Überhaupt ist der Singularismus, die Überzeugung, dass alles ohne Erfüllung weiterer Bedingungen einzeln ist, der gemeinsame Grundfehler von Realismus und Idealismus. In die realistische These der Vorgegebenheit der Welt geht er durch die mit dieser These verbundene Voraussetzung durchgängiger Bestimmtheit ein, die, wie ich in meinem Beweis des Hauptsatzes116 gezeigt habe, mit der Behauptung, dass alles einzeln ist, logisch äquivalent ist. Der Idealist nimmt für seinen die Welt konstituierenden Bewussthaber ohne Weiteres Einzelheit in Anspruch, ohne auf deren Bedingtheit zu reflektieren. Ich unterscheide mich von Idealisten darin, dass ich weit davon entfernt bin, die Welt aus einer irgendwie erzeugenden oder formenden Leistung von Menschen oder anderen Bewussthabern, die ihrem Produkt äußerlich bleiben, hervorgehen zu 114 https://doi.org/10.5771/9783495860465 .

Widerlegung des Realismus und des Idealismus

lassen. Mit der ihm zufallenden, keineswegs von ihm gemachten, eher ihm geschenkten satzförmigen Rede im Gehorsam gegen die Sätze einer Sprache gibt der Mensch einen Anstoß, der einen Prozess auslöst, in dem die primitive Gegenwart, der er selbst ausgeliefert ist, sich zur Welt entfaltet. Er macht nicht diesen Prozess, sondern ist ihm unterworfen, indem er durch Entfaltung der Subjektivität die Chance der Selbstzuschreibung erhält, die ihn zur Person macht. Der Mensch ist nicht Urheber der Welt, sondern als Medium in ihr Geschehen eingebunden, allerdings in der ausgezeichneten Rolle, diesem Geschehen – der Entfaltung der primitiven Gegenwart – als Redender das Tor geöffnet, den Anstoß gegeben zu haben, von dem aus es seine Bahnen nahm, ohne vom Menschen dazu ausersehen und auf der Bahn überwacht zu werden. Mit dieser Überzeugung verstehe ich mich als radikalisierenden Vollender der evolutionären Erkenntnistheorie. In ihrer vorliegenden Gestalt 122 lehne ich sie als Ausgeburt eines naturalistischen Realismus ab. Sie behauptet nämlich, dass sich das menschliche Erkenntnisvermögen im Verlauf der biologischen Evolution durch Anpassung an einen mittleren Bereich der Größenordnung von Weltinhalten ausgebildet hat. Ich gehe noch weiter und behaupte, dass die Welt selbst im Zuge der Evolution der Art Mensch aus dem Tierreich durch eine noch weltferne Vorstufe – das Leben aus primitiver Gegenwart in Situationen – entstanden ist, ohne dass der Mensch mehr dazu getan hat außer, dass er als von Sprache besessenes Medium das Geschehen eingeleitet und sich ihm ausgeliefert hat.

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Gerhard Vollmer, Evolutionäre Erkenntnistheorie, Stuttgart 1975

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8. Innenwelt und Außenwelt

Die fünfdimensionale Entfaltung der Gegenwart zur Welt gibt dem personal emanzipierten Menschen reichlich Gelegenheit, sich in seiner »exzentrischen Position« über den Situationen, aus deren Gefangenschaft er entkommen ist, mit sich und seiner Umgebung zu arrangieren. Er kann sich und diese, in räumlichen und zeitlichen Systemen, geordnet nach wo und wann, zusammenfassend unterbringen; er kann die Grenze zwischen dem Seienden und dem Nichtseienden sowohl respektieren als auch überschreiten, indem er das Gegebene und das Gewollte planend zueinander in Beziehung setzt; dabei ist er nicht an starre Subsumtionen gebunden, sondern kann auf Grund seines Verfügens über relative Identität das Material seiner Überlegungen vielfältig umordnen und alle Varianten ausprobieren; schließlich verfügt er dank Selbstzuschreibung, Neutralisierung und Gegenüberstellung des Eigenen und Fremden über Reflexion, Rechenschaft von sich und Abgrenzung im Verhältnis zum Umgebenden. Dies alles, könnte man denken, sollte ihm genügen, um sich in der Welt zu behaupten. Es hat ihm nicht genügt, als er in der aufblühenden Intellektualkultur Griechenlands in der 2. Hälfte des 5. vorchristlichen Jahrhunderts an eine Wasserscheide des menschlichen Weltund Selbstverständnisses kam. Der Grund dieses Ungenügens war der Bedarf, sich der Tyrannei unwillkürlicher Regungen und Impulse wie des Eros, der nach Sappho die Eingeweide erschüttert wie Sturm im Gebirge die Eichen123 , oder des Phobos, der als scheuchende Panik unversehens in Heere einfällt 124 , oder 123 124

Fragment 50 (Diehl) nach Maximus von Tyrus Herodot IV 203, 3; VII 10 e; Thukydides IV 125, 1; VII 80, 3; VIII 105, 3

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Innenwelt und Außenwelt

des Zorns usw. zu entziehen, sich ihrer zu bemächtigen, gleichsam Herr im eigenen Hause zu werden. Der Odysseus der Odyssee ist auf diesem Wege schon viel weiter als Götter und Helden der Ilias. 125 Zum Vehikel dieser Selbstbemächtigung wird in einem langen Prozess die Psyché, eigentlich die Lebendigkeit, die im Tode als geisterhafter Schatten den Körper verlässt, die aber allmählich in die Rolle einer Seele hinüberwächst. Bei Heraklit, im Anfang des 5. vorchristlichen Jahrhunderts, ist sie noch grenzenlos offen 126 , während Sophokles sie in der 2. Hälfte des Jahrhunderts mit einem Tor verschließt, das geöffnet werden kann. 127 Dieser Wechsel bezeichnet den Übergang zur Selbstdeutung des Menschen als Bewohner einer abgeschlossenen privaten Innenwelt, und damit zu einer Spaltung der bis dahin als ungeteilt verstandenen Welt. 128 Diese Weltspaltung prägt sich aus in einem neuen Paradigma menschlicher Weltund Selbstdeutung, das seither die europäische Intellektualkultur mit wenigen Ausnahmen beherrscht; ich bezeichne es als die psychologisch-reduktionistisch-introjektionistische Vergegenständlichung. 129 Sie hat drei Seiten: 1. Psychologismus: Jeder Hermann Schmitz: System der Philosophie, Band II, Teil 1, S. 445–451; Band III, Teil 2, S. 413–418; Der Weg der europäischen Philosophie. Eine Gewissenserforschung, Band 1: Antike Philosophie, Freiburg i. Br. 2007, S. 19–23 126 Fragment 22B45 bei Diels und Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker, 8. Auflage 1956 127 Fragment 393 (Pearson) 128 Die Himmel und Erde einheitlich umgreifende Konzeption der Welt als Kosmos geht erst auf Anaximenes (2. Hälfte des 6. vorchristlichen Jahrhunderts) zurück (vgl. Hermann Schmitz, Welt, in: Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Band 3, Freiburg i. Br. 2011, S. 2466–2484, hier S. 2466, mit Berufung auf: Hermann Schmitz, Anaximander und die Anfänge der griechischen Philosophie, Bonn 1988). Dennoch verstanden die Menschen vor Anaximenes die Welt einheitlich als polares Zusammengehören von Himmel und Erde. 129 Hermann Schmitz: Husserl und Heidegger, Bonn 1996, S. 75–88: Die Entstehung der psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen Denkweise; Adolf Hitler in der Geschichte, Bonn 1999, S. 32–37: Die psy125

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Innenwelt und Außenwelt

Bewussthaber erhält eine private Innenwelt, in die sein gesamtes Erleben eingeschlossen ist, so dass er, wenn er Vernunft besitzt, im eigenen Hause Herr über seine unwillkürlichen Regungen werden kann; sie ist von außen nur über Signale an die Sinnesorgane zugänglich. 2. Reduktionismus: Die zwischen den Innenwelten verbleibende empirische Außenwelt wird bis auf wenige Merkmalsorten, die durch intermomentane und intersubjektive Identifizierbarkeit, Messbarkeit und selektive Variierbarkeit für Experiment und Statistik optimal sind, und deren erdachte Träger (Atome, Substanzen) abgeschliffen. 3. Introjektion: Der Abfall der Abschleifung wird teils absichtlich in die Innenwelten (Seelen) gesteckt (spezifische Sinnesqualitäten), zum größeren Teil aber übersehen und bei Bedarf in verwandelter Form gleichfalls in den Seelen untergebracht. Dazu gehören wichtige Massen der Lebenserfahrung: der spürbare Leib und die leibliche Kommunikation 130 , die Gefühle als Atmosphären, die Situationen mit ihrer binnendiffusen Bedeutsamkeit, flächenlose Räume, Halbdinge mit unterbrechbarer Dauer und einer Kausalität ohne Unterschied von Ursache und Einwirkung. Die psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistische Vergegenständlichung kommt in der 2. Hälfte des 5. vorchristlichen Jahrhunderts als philosophisches System bei Demokrit vor und zeichnet sich besonders deutlich in der Gegenüberstellung mit dessen älterem Zeitgenossen Empedokles ab. Sie wird von Platon übernommen und mit weltgeschichtlicher Publizität ausgestrahlt: als Psychologismus und Introjektion schon früh (mit gewissen Ausnahmen in der poetischen Sprache platonischer Mythen), als Reduktionismus im Spätwerk. Platons wichtigster Beitrag besteht in der Kompensation der Verarmung der Außenwelt, der durch Introjektion der Gefühle die ergreichologistisch-reduktionistisch-introjektionistische Verfehlung; Der Ursprung des Gegenstandes. Von Parmenides bis Demokrit, Bonn 1988; Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, S. 15–27; vgl. auch: Jenseits des Naturalismus; Der Weg der europäischen Philosophie, Band 1 und 2. 130 Hermann Schmitz, Der Leib, Berlin 2011

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Innenwelt und Außenwelt

fenden Mächte entzogen sind, durch transzendenten Ersatz des Atmosphärischen in Gestalt eines metaphysisch projizierten Ideenreiches, dem die ewigen Werte des Guten, Schönen und Gerechten einen verklärenden Schimmer verleihen. Aristoteles baut die Vergegenständlichung begrifflich fassbar aus. Die Stoiker versuchen, in sie eine an der spürbaren leiblichen Dynamik orientierte Physik und Ethik einzubauen, passen sich dann aber dem Platonismus mehr oder weniger an. Der spätantike heidnische Neuplatonismus weicht, trotz fanatischer Anhänglichkeit an Platon, mehr als jede andere klassische Schule von der psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen Vergegenständlichung ab; nach Johannes Scotus Eriugena versandet diese Abweichung. Die psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistische Vergegenständlichung bleibt in der heidnischen Antike ohne einschneidende lebenspraktische Konsequenzen, abgesehen von der Kultivierung eines Gentleman-Ideals der Selbstdisziplinierung. Die Tragweite ihres Potentials für Lebens- und Umweltgestaltung enthüllt sich erst, als sie in die Hände zweier eigenständiger Bewegungen von weltgeschichtlichem Format gerät: des Christentums und der modernen Naturwissenschaft. Das Christentum legt den Akzent auf den Psychologismus und die Introjektion, treibend und getrieben durch die Sorge um das eigene Glück des Individuums (im Leben nach dem Tode) zu alarmierter Bewachung und gottgefälliger Beherrschung der unwillkürlichen Regungen. Die moderne Naturwissenschaft greift den Reduktionismus auf und findet sich in Gestalt des cartesischen Dualismus mit dem Psychologismus und der Introjektion ab. Während das Christentum seit dem 18. Jahrhundert von der Aufklärung aus der dominanten Stellung im menschlichen Welt- und Selbstverständnis verdrängt wird, übernimmt seither die Naturwissenschaft mit ihrem naturwissenschaftlichen Weltbild im Bündnis mit der Aufklärung die Herrschaft darüber, wie die Menschen sich und die Welt sehen. Durch die Hervorhebung des Reduktionismus vor den beiden anderen Zügen 119 https://doi.org/10.5771/9783495860465 .

Innenwelt und Außenwelt

der psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen Vergegenständlichung kommt es in dieser zu einem Konflikt nach Art eines Kannibalismus unter Geschwistern, indem der Reduktionismus den Psychologismus verschlingt: Die Innenwelten werden von der verarmten Außenwelt mit ihren sorgfältig ausgewählten Qualitätensorten und deren erdachten Trägern absorbiert, indem das Gehirn an die Stelle der Seele tritt und für sie wahrnimmt, denkt, will usw., wie eine Phalanx von Naturwissenschaftlern und analytischen Philosophen lautstark verkündet. Mit dem naturwissenschaftlichen Weltbild werde ich mich nun beschäftigen. Das naturwissenschaftliche Weltbild baut auf der Vorstellung allgemeiner Naturgesetze auf, die besagen, dass immer dann, wenn gewisse Merkmalsorten in einer bestimmten Kombination und an bestimmten Trägern vorliegen, gleichzeitig oder danach (in bestimmtem Abstand) eine gewisse Kombination derselben oder anderer Merkmalsorten an denselben oder anderen Trägern eintritt. Allgemein können solche Gesetze natürlich nur sein, wenn sie auch in der Zukunft gelten. Dieser Erwartung steht nicht schon die Widerlegung des Grundsatzes der durchgängigen Bestimmung im Wege, denn dadurch wird nur der allgemeine Determinismus, nicht der Determinismus bezüglich bestimmter Eigenschaften ausgeschlossen. Wohl aber kollidiert die Idee des allgemeinen Naturgesetzes mit dem Überschuss der offenen Zukunft über die geschlossene, der gleichfalls aus der Widerlegung des Grundsatzes der durchgängigen Bestimmung abgeleitet werden kann.117 Zur geschlossenen Zukunft gehört alles, was noch nicht ist, aber (gemäß dem Sinn von »noch«) einmal sein wird. Wenn die Zukunft nur die geschlossene wäre, wäre der allgemeine Determinismus unausweichlich, weil dann alles, was jeweils gegenwärtig ist, genauestens präformiert wäre durch das Zukünftige; der allgemeine Determinismus ist aber ausgeschlossen; also enthält die Zukunft über die geschlossene hinaus einen Überschuss dessen, was noch möglich ist, und beide zusammen – was noch nicht ist und was noch möglich ist – 120 https://doi.org/10.5771/9783495860465 .

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bilden die offene, die ganze Zukunft. In der ganzen Zukunft ist also die geschlossene enthalten, aber sie kann nicht herausgelöst werden, weil die Entscheidung darüber, was nur noch nicht ist und was zwar möglich ist, aber nicht sein wird, erst im Entstehen und als Entstehen (Übergang von Zukunft in Gegenwart) erfolgt; wenn sie schon vorher fiele, wäre die Zukunft von da an nicht mehr offen. Der Überschuss an Möglichkeit, in die Zukunft eingelassen, infiziert diese nämlich durch und durch: Möglich ist, was sich ohne Widerspruch denken lässt, und kein Widerspruch entsteht, wenn man etwas aus der Zukunft wegdenkt. Erst durch das Entstehen tritt aus der offenen Zukunft die geschlossene heraus, so dass wir erkennen können, was damals noch nicht gewesen (inzwischen aber geworden) ist. Jedes allgemeine Naturgesetz ist aber ein Anschlag darauf, in der ganzen, offenen Zukunft ein Stück geschlossene Zukunft zu isolieren, indem vorausgesagt wird, was unter gewissen (eventuell in der Gegenwart schon gegebenen) Bedingungen sein wird. Das ist also ein Verstoß gegen die Offenheit der Zukunft. Allgemeine Naturgesetze sind daher auf die Zukunft nicht anwendbar und können somit nicht allgemein gelten. Dasselbe Ergebnis lässt sich auch auf anderem Wege gewinnen, nämlich durch Verallgemeinerung der Einwände von Nelson Goodman gegen die in der Formulierung von allgemeinen Naturgesetzen verwendeten Prädikate. 131 Ich nenne ein allgemeines Naturgesetz geil 132 , wenn jede empirische Bestätigung dieses Gesetzes ebenso die allgemeine Geltung jedes beliebigen anderen Naturgesetzes mit gleichen Anfangsbedingungen bestätigt. Dann gilt der Satz: Jedes allgemeine Naturgesetz ist geil. Der Beweis ist einfach: Jedwede Erfahrung kann höchstens bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt die Geltung des Gesetzes bestätiHermann Schmitz, Jenseits des Naturalismus, Freiburg i. Br. 2010, S. 55–57 132 In der Bedeutung von »üppig, ausschweifend, wuchernd«, wo man von geilen Pflanzentrieben und geilem Fleisch (z. B. in Wunden) spricht, vgl. Grimms Deutsches Wörterbuch, Band 5, Spalten 2587 f. 131

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gen. Damit bestätigt sie genauso gut die allgemeine Geltung eines Gesetzes, wonach die vorausgesagten Konsequenzen der Anfangsbedingungen bis zu einem unbestimmt gelassenen Zeitpunkt, frühestens dem gegenwärtigen, zwar eintreten, danach aber statt ihrer irgend welche anderen Konsequenzen. Dann kann man sich auf Grund von Erfahrungen nur darauf verlassen, dass das Gesetz jetzt oder auch noch etwas später (unklar wie lange) zutrifft, aber als allgemeines Gesetz ist es empirisch gehaltlos. Dieser Einwand ist unabhängig von dem Bedenken wegen unvollständiger Induktion, dass der Schluss von den beobachteten Fällen auf alle möglichen gewagt ist. Dieses Bedenken kann man dämpfen, indem man (etwa mit Carnap) Grade der Bestätigung annimmt. Das hilft aber nichts gegen den hier vorgebrachten Einwand. Die Lehre aus dieser Entkräftung des Konzepts allgemeiner Naturgesetze kann nur sein, dass es sich bei dem, was man so nennt, vielmehr um provisorische Regeln für die Prognose handelt, um unbestimmt weit ausgreifende Vorgriffe in einen immer begrenzten und nie ein sicheres Terrain abgrenzenden zeitlichen Horizont des Menschen. Der Mensch überhebt sich, wenn er auch nur als Erkennender an einem allgemeinen Weltregiment durch Naturgesetze teilnehmen will; wohl aber bedarf er provisorischer Regeln der Vorausschau, da er nicht mehr von Situationen geführt wird, sondern sich selbst in der Welt seinen Weg suchen und dafür planen muss. Jede objektive Rechtfertigung der Induktion oder Wahrscheinlichkeit ist auf dem Irrweg; vernünftig ist nur die subjektive Rechtfertigung, dass der ohne automatische Führung auf sich gestellte Mensch nicht am Leben bleiben kann, wenn er sich nicht nach Regeln des Geschehens umsieht, auf die er nach Maßgabe bisheriger Erfahrung bei seinem Planen am Ehesten bauen kann, ohne sich je sicher zu sein, geschweige denn, mit seinem Erkenntnisanspruch alles Geschehen umgreifen zu können. Die legitime Erkenntnisleistung der Naturwissenschaft besteht hiernach in der Prognose bis auf Weiteres, sowohl zur Bahnung des Weges für technisches Ein122 https://doi.org/10.5771/9783495860465 .

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greifen in die Natur als auch für Warnungen vor dem, wovor man sich besser hüten sollte. Da aber die Überziehung dieses Auftrags durch Anspruch auf allgemeine Naturgesetze so große, ja überwältigende Erfolge eines bewunderungswürdigen Aufwandes an Scharfsinn und Sorgfalt gebracht hat, ist es nur plausibel, dieser kühnen Überziehung Beifall zu zollen, wenn sie sich durch Umdeutung prognostischer Regeln in allgemeine Naturgesetze Gelegenheit zum Rückblick verschafft und die Menschen darüber belehren will, wie es zu dem gekommen ist, was sie jetzt beobachten können – sei es aus ferner Vergangenheit, wie im Fall der physikalischen Kosenologie und der biologischen Evolutionstheorie, sei es auf Grund von Effekten, die nach dem Naturgesetz nur winzige Bruchteile von Sekunden brauchen. Solche Umwendung von der Prognose zur Retrospektive schmeichelt der menschlichen Neugierde und hat dank der gewaltigen Vorarbeit der Naturwissenschaft gute, fast überzeugende Gründe für sich. Trotz dieser bewundernswerten Vielfalt vernünftig begründeter Ergebnisse und ihrer imponierenden systematischen Zusammenfassung unterliegt der Ansatz naturwissenschaftlichen Erklärens schweren grundsätzlichen Bedenken. Hauptsächlich sind es zwei, bezüglich des Status der Gattungen und bezüglich der Modalzeit. Einzelnes ist nur als Fall einer Gattung möglich. Die Naturwissenschaft setzt überall unbedenklich Einzelnes voraus und kümmert sich nicht um die Zusammensetzung der Einzelheit aus absoluter Identität und Fallsein. Statt dessen beschränkt sie sich darauf, Gattungen (Begriffe) nachträglich zur Orientierung für das Denken an ihre natürlichen Gegenstände anzulegen. Diese kämen als einzelne aber gar nicht ohne Abhängigkeit von Gattungen zu Stande. Wie kommen diese in die Natur? Ich antworte: durch Situationen, aus deren binnendiffuser Bedeutsamkeit sie herausgeholt und durch menschliche Rede mit Einzelheit ausgestattet werden. An der Naturwissenschaft rächt sich, dass sie von messbaren Merkmalen als der grundlegenden Gegebenheit ausgeht und nicht von bedeutsamen Si123 https://doi.org/10.5771/9783495860465 .

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tuationen. Der andere Fehler besteht darin, dass die Naturwissenschaft in der Welt nur das Seiende in Betracht zieht und nicht auch das Nichtseiende in Gestalt des Nichtmehrseienden und des Nochnichtseienden. Damit springt sie über den eigenen Schatten, denn sie ist ja für ihre wissenschaftliche Methode unweigerlich auf dieses Nichtseiende angewiesen. Der Ausweis ihrer Behauptungen geschieht durch das Experiment, und ein Experiment kann man nur ansetzen, wenn man noch nicht weiß, was herauskommt, so dass später, wenn das Experiment abgelaufen ist, der Kenntnisstand nicht mehr der gegenwärtige ist. Von der Modalzeit mit ihrer Mischung von Seiendem und Nichtseiendem hat die Naturwissenschaft unter Führung der Physik aber keinen Begriff. Sie kennt nur relative Gegenwarten, lauter gleichberechtigte Zeitpunkte oder Daten, und nicht die Gegenwart schlechthin, die dem dritten Jahrtausend christlicher Zeitrechnung die freilich nur kurzfristige Auszeichnung verleiht, das gegenwärtige zu sein. Obwohl sie diese Gegenwart benötigt, und damit die Zeitform der modalzeitlichen Lebenswelt, um überhaupt begründen zu können, hat sie keinen Begriff davon und will dann doch ohne solchen Begriff diese Lebenswelt erklären. Auf solche Weise kann sie nicht einmal Rechenschaft davon geben, was sie selbst tut. Als ein Argument für die Richtigkeit bewährter naturwissenschaftlicher Hypothesen wird manchmal die Übereinstimmung der Abschätzungen wichtiger Mess- und Schätzwerte von verschiedenen theoretischen Zugängen her angeführt. So wollte Bavink die Existenz von Atomen mit der Übereinstimmung heterogener Abschätzungen der Loschmidt’schen Zahl (der Moleküle in einem Kubikzentimeter Gas bei null Grad und einer Atmosphäre Druck) belegen, mit dieser »Übereinstimmung aller auf den verschiedensten Wegen gewonnenen quantitativen Ergebnisse«. 133 Ein anderes Beispiel fand ich jüngst, bezüglich auf Bernhard Bavink, Ergebnisse und Probleme der Naturwissenschaften, 10. Auflage, Zürich 1955, S. 21

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die Verteilung der Energie im Weltall, die nach dem neuesten Stand der Physik nur zu einem geringen Teil von der uns geläufigen strahlenden (»baryonischen«) Materie geliefert wird, zu viel größeren Teilen aber von zwei gänzlich unbekannten Wesenheiten: der dunklen Materie und der dunklen Energie. Dazu schreibt Volker Spiegel, Professor der Astrophysik in Heidelberg, dass nach dem Standardmodell »die Dunkle Energie für 68,3 Prozent der heutigen kosmischen Energiedichte verantwortlich ist und die dunkle Materie für 26,8 Prozent. Baryonische Materie steuert nur die restlichen 4,9 Prozent bei. Das Frappierende ist nur, dass diese aus dem Mikrowellenhintergrund gewonnenen Ergebnisse mit einer Vielzahl von anderen Beobachtungen übereinstimmen, die auf völlig unabhängigen Wegen gemacht wurden. Erst das macht die Hypothese von Dunkler Energie und Dunkler Materie so überzeugend.« 134

Solche Konvergenzen müssen nicht Zeugnisse für die Richtigkeit der konvergierenden Theorien sein. Es könnte eine andere Erklärung geben. Alle Beziehungen beruhen auf Spaltung ungerichteter Verhältnisse. Diese sind manchmal leicht herauszufinden und zu spalten, wie auf einer Landkarte, deren ganzer Informationsgehalt in spaltbaren Verhältnissen besteht, manchmal jedoch schwer und nur bruchstückhaft aus dem Ganzen zu lösen wie in einem Gemälde (s. o. 5). Die Welt könnte einem Gemälde ähnlicher sein als einer Landkarte. Dann können die Konvergenzen physikalischer Ergebnisse verschiedener Theorien darauf beruhen, dass die Physik mehr zufällig auf solche ungespaltenen und vielleicht unspaltbaren Verhältnisse stieße, auf die sie mit ihrer ganz auf Beziehungen abgestellten Betrachtungsweise nicht gefasst ist. Plotin beschreibt den Gegensatz von oberer Spektrum der Wissenschaft, September 2013, S. 60–70 (Der dunkle Kosmos), hier S. 64

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(geistiger, ewiger) und unterer (sinnlicher, zeitlicher) Welt als den Unterschied unspaltbarer inniger Verhältnisse und zerstreuterer Verbindungen, in denen aber die Innigkeit nicht ganz verloren geht, so dass er z. B. das Sehen durch Sympathie statt durch Signalübertragung erklärt. 135 Diese überschwängliche Metaphysik könnte phänomenologisch fruchtbar werden, wenn man an die Stelle der oberen Welt den Vorrat schwer zu hebender ungespaltener Verhältnisse in der Welt setzte, auf denen die Beziehungen an der Oberfläche schwimmen. Die gegenwärtige Physik kennt Verbindung fast nur als Beziehung; in der Relativitätstheorie ist die Signalübertragung die grundlegende. In der Quantenphysik tauchen aber auch Verschränkungen auf, die nach Maßgabe der Relativitätstheorie nicht als Beziehungen gedeutet werden können, also wohl als ungespaltene und vielleicht unspaltbare Verhältnisse verstanden werden müssen. Eine Physik, die das Meiste aus Verschränkungen statt durch Signalübertragung erklärte, würde dem Weltbild Plotins entsprechen. Meine bisherigen Einwendungen gegen das naturwissenschaftliche Weltbild betrafen das Prinzipielle; dazu kommt noch eine Kritik aus einem wesentlichen Detail. Sie betrifft das Problem der Konservierung von Information für die Wahrnehmung. Diese soll hinlänglich gute Aufschlüsse über Gegenstände in der Umgebung gewähren, immerhin so gute, dass die Bewegung unter diesen im Allgemeinen zu Erfolgen und nicht zu Katastrophen führt. Diese Gegenstände der Wahrnehmung gelten im naturwissenschaftlichen Weltbild als Quellen von Signalen, die durch Überträger (z. B. Wellen, Lichtteilchen usw.) an die Sinnesorgane weitergereicht werden. Die Wahrnehmung soll dann so zu Stande kommen, dass diese Organe die Signale aufnehmen, umwandeln und in gewandelter Form über Nerven

Hermann Schmitz: Der Weg der europäischen Philosophie. Eine Gewissenserforschung, Band 1, Freiburg i. Br. 2007, S. 326–346; Phänomenologie der Zeit, Freiburg i. Br. 2014, S. 293–299

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an das Gehirn weiterleiten, wo eine weitere Verarbeitung stattfindet. Was dann geschieht, bleibt dunkel. Entweder tritt, nach einer Version des naturwissenschaftlichen Weltbildes, das Gehirn selbst in die Rolle des wahrnehmenden Bewussthabers ein, oder es leitet die ihm zuteil gewordene und von ihm verarbeitete Information auf unbekannte Weise an diesen weiter. Schon die Konservierung ausreichender Information über die wahrgenommenen Gegenstände als Signalquellen bis zum Eintreffen der Signale an den empfindlichen Stellen der Sinnesorgane bleibt rätselhaft, weil dort nur ein winziger Rest aus der Zerstreuung der ausgesandten Signale ankommt, viel zu wenig für das kompakte Ganze, mit dem der sich bewegende Mensch, dem Zeugnis seiner Wahrnehmung folgend, erfolgreich umzugehen hat. Danach aber wird die Konservierung im naturwissenschaftlichen Weltbild unverständlich. »Die Sinnesorgane und ihre Korrespondenten werden zwar z. T. sehr spezifisch von Umweltreizen aktiviert«, die »neuronale Erregung jedoch, die aufgrund der sensorischen Reizung in den Sinnesorganen entsteht und zum Gehirn weitergeleitet wird, ist als solche unspezifisch.« »Die spezifische Modalität der Sinnesorgane, auf der unsere Sinnenwelt zu beruhen scheint, ist ›hinter‹ den Sinnesorganen offenbar verschwunden. Die Sinnesorgane übersetzen die ungeheure Vielfalt der Welt in die ›Einheitssprache‹ der elektrischen Ereignisse (Nervenpotentiale), denn nur diese Sprache kann das Gehirn verstehen.« 136 »Das Gehirn bewertet dabei die eintreffenden Signale strikt nach dem Ort ihrer Verarbeitung: Alles, was an neuronalen Impulsen in den Hinterhauptcortex gelangt, ist ein Seheindruck, und was in bestimmten Regionen des Hinterhauptcortex

Gerhard Roth, Erkenntnis und Realität. Das reale Gehirn und seine Wirklichkeit, in: Siegfried J. Schmidt (Hg.), Der Diskurs des radikalen Konstruktivismus, Frankfurt a. M. 1990, S. 229–255, hier S. 232

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verarbeitet wird, ist eine bestimmte Farbe, völlig unabhängig von der tatsächlichen Abkunft des Signals.« 137

Wenn es sich so verhält, kann das Gehirn über die Gegenstände der Wahrnehmung als Quellen informierender Signale überhaupt keinen Aufschluss geben, weder in der Rolle des wahrnehmenden Bewussthabers noch als Übermittler an diesem. Offenbar sind drei Axiome, die je einzeln dem naturwissenschaftlichen Weltbild wesentlich zu sein scheinen, im Zusammenhang inkonsistent: 1. Informationen aus der Umwelt kommen zum Wahrnehmen nur auf dem Weg über Rezeptoren (Sinnesorgane), deren Informationsertrag über Nerven zum Gehirn geleitet wird. 2. Bei dieser Leitung werden die betreffenden Botschaften ihrer Differenzierung beraubt. 3. Wahrnehmen entsteht nur im Gehirn oder auf dem Weg über das Gehirn. Die Inkonsistenz besteht darin, dass auf diese Weise vielmehr vernichtet wird, was an Information benötigt würde, um der Wahrnehmung die zum Überleben benötigte zuverlässige Brauchbarkeit zu verschaffen. Dieser Einwand trifft auch die Gehirnforschung selbst. Der Neurowissenschaftler benötigt für die Bestätigung seiner Aufstellungen zuverlässige sinnliche Wahrnehmungen von Gegenständen der Umgebung, keineswegs nur von Gehirnen, sondern z. B. von Messinstrumenten, an denen er Messwerte abliest. Wenn er sich dem naturwissenschaftlichen Weltbild einordnet und jene drei Axiome akzeptiert, muss er sich selbst die benötigte Zuverlässigkeit seiner Wahrnehmung bestreiten. Das ganze Rätsel löst sich auf, wenn man auf eine Überzeugung verzichtet, die Roth mit dankenswerter Offenheit ausspricht, während seine Mitforscher sie als selbstverständlich zu unterstellen scheinen: »Zugleich ist das Gehirn ein semantisch selbstreferentielles oder selbstexplikatives System: Es weist seiEbd. S. 234. Das ist das berühmte »Gesetz der spezifischen Sinnesenergien«, das Johannes v. Müller vor knapp 200 Jahren aufgestellt hat.

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nen eigenen Zuständen Bedeutungen zu, die nur aus ihm selbst gewonnen sind.« 138 Das ist spekulative Phantasie ohne empirische Grundlage. Noch niemand hat einen Bedeutungen zuweisenden Apparat im Gehirn gefunden. Ich muss an den Witz von Anatomen denken, der seinen Materialismus so begründet: »Ich habe schon viele Körper seziert, aber noch nie eine Seele darin gefunden.« Roths These ist eine Konsequenz des Kannibalismus, mit dem sich das naturwissenschaftliche Weltbild gegen die ihm in der psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen Vergegenständlichung, aus der es selbst hervorgegangen ist, geschwisterlich verbundene Seele kehrt: Das Gehirn schluckt die Seele und bläht sich als Bedeutungen zuweisender Apparat mit ihr auf, wie die Schlange, die nach Verschlingung des Kaninchens einen dicken Bauch bekommt. Alle Ergebnisse der Naturwissenschaften sollten in Ehren gehalten werden, einschließlich aller Beobachtungen, aus denen sich ergibt, dass Vorgänge im Gehirn (z. B. Reizungen, Verstümmelungen, Funktionsausfälle, Blutflüsse in Arterien) wichtige Veränderungen der Wahrnehmung nach sich ziehen. Nichts davon braucht in Zweifel gezogen zu werden. Aber dass das Gehirn, zusätzlich zu einem komplizierten Konzert elektrischer Ströme, auch noch mit Bedeutungen zu tun hätte, ist eine Fiktion. Die Wahrnehmung ist keine Verarbeitung physischer Signale, die aus den Sinnesorganen eintreffen, sondern als optische Wahrnehmung leibliche Kommunikation mit dem Blick, als akustische Teilhabe des Leibes am flächenlosen Raum des Schalls vermöge leiblicher Weitung, also gleichfalls leibliche Kommunikation. 139 Das naturwissenschaftliche Weltbild erfreut sich heute in der Öffentlichkeit auf Grund seiner stupenden praktischen Erfolge eines Ansehens, das dem des Christentums in der christianisierten Spätantike und im frühen Mittelalter nahe kommt. Es leidet aber am antiken Erbe der psychologistisch-reduktionistisch-in138 139

Ebd. S. 241 Zum Verständnis dieser Ausdrücke s. o. Anmerkung 130

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trojektionistischen Vergegenständlichung, auf der es selbst beruht. Diese Weltspaltung war ein Fehler. Sie sollte überwunden werden, denn die Welt ist nicht so gespalten.

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9. Erkenntnistheoretischer Explikationismus

In diesem Kapitel ziehe ich aus vorstehenden Aufstellungen erkenntnistheoretische Konsequenzen. Ich fasse sie unter dem Titel des erkenntnistheoretischen Explikationismus zusammen. Dieser Titel bezieht sich auf die Angewiesenheit der Erkenntnis auf die Explikation von Bedeutungen (d. h. Sachverhalten, Programmen, Problemen) aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen. Wesentlich für den erkenntnistheoretischen Explikationismus ist die Frontstellung gegen zwei Vorurteile: den erkenntnistheoretischen Realismus und den erkenntnistheoretischen Absolutismus. Der erkenntnistheoretische Realismus verlegt die Aufgabe der Erkenntnis in die möglichst genaue Beschreibung einzelner Sachen (auch im Zusammenhang), also in eine repräsentierende Wiedergabe, die sich der eingehenden Abbildung nähert. Der erkenntnistheoretische Absolutismus behauptet einen eindeutig festgelegten Weltinhalt, eine kanonische Weltfüllung, der sich die Erkenntnis anzupassen habe. Ich vertrete dagegen die gleichmäßige Möglichkeit vieler Weltfüllungen, die im Allgemeinen widerspruchsfrei neben einander bestehen, aber auch in Konkurrenz treten können, ohne dass dann eine endgültige Entscheidung zwischen ihnen möglich wäre. In diesem Sinn bin ich erkenntnistheoretischer Relativist. Der erkenntnistheoretische Realist kann nicht hoffen, sein Ziel einer ganz getreuen Wiedergabe der zu erkennenden Sachen in erkennender Nachzeichnung zu erreichen, weil die Endlichkeit menschlicher Beschreibungen für die Unendlichkeit der zu beschreibenden Züge und Nuancen nicht ausreicht. Wohl aber könnte er hoffen, mit seinem Bestreben immer weiter zu kommen, sich dem unerreichbaren Ziel ins Unendliche immer mehr anzunähern. Dieses Ziel wäre ein durchgängig bestimmter 131 https://doi.org/10.5771/9783495860465 .

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Gegenstand, an dessen Bestimmtheit abgemessen werden könnte, wie weit das Erkennen auf seinem unvollendbaren Weg gekommen ist. Aus meiner Wiederlegung des Grundsatzes der durchgängigen Bestimmung116 ergibt sich jedoch, dass kein Gegenstand durchgängig bestimmt ist. Der Fortschritt des Beschreibens ins Unendliche findet dort also kein Ziel, an dem er sich gradweise bewähren könnte, und läuft ins Leere. Statt in der Wiedergabe von Sachen hat die Erkenntnis daher in der zutreffenden Auszeichnung von Sachverhalten als Tatsachen ihre Aufgabe zu erblicken. Dafür bedarf es erst einmal der Bereitstellung von Sachverhalten, zwischen denen gewählt werden kann. Diese liegen, wie sich gezeigt hat, nicht gleich einzeln herum, sondern müssen aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen entbunden und mit Hilfe der Vernetzung von Gattungen, die selbst Sachverhalte sind, formulierbar und dadurch einzeln identifizierbar gemacht werden. Wenn sie dann vorliegen, kann die Evidenz47 (s. o. 3) über die Tatsächlichkeit entscheiden, die einigen von ihnen zuerkannt werden darf. Der erkenntnistheoretische Absolutismus lehrt, dass die Welt insgesamt, allen Wechsel eingerechnet, nur einen einzigen Inhalt hat, so dass der invarianten Weltform nur eine einzige Füllung zukommt. Auf jede Frage, die durch Angabe einer Tatsache beantwortet werden kann, kann demnach eine richtige Antwort gegeben werden, die unabhängig von der Art des Zugangs, der Betrachtungsweise, wahr ist; es kommt nur darauf an, den richtigen Zugang zu finden, der den unverstellten Blick auf den im Ganzen der Weltfüllung eindeutig vorgegebenen Vorrat erlaubt. Das bezieht sich vor allem auf einzelne Gegenstände, die gemäß dem singularistischen Vorurteil allein thematisiert zu werden pflegen. Nun sind einzelne Gegenstände, wie sich gezeigt hat, aber nur als Fälle von Gattungen möglich. Was sie sind, richtet sich also nicht nur nach ihrer absoluten Identität, sondern auch nach den Gattungen, unter die sie fallen. Woher diese Gattungen? Aus der Erörterung des psychologischen Regressproblems am Ende von Kapitel 5 hat sich ergeben, dass sie nicht ohne Wei132 https://doi.org/10.5771/9783495860465 .

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teres wie platonische Ideen einzeln da sein können, sondern aus Situationen mit binnendiffuser Bedeutsamkeit herausgeholt und in satzförmiger Rede festgehalten und verknüpft werden müssen, um als einzelne für die Subsumtion ihrer Fälle verfügbar zu sein. Diese Situationen sind aber durch die Welt selbst keineswegs vorgegeben, da diese nur eine Form, ein durch Entfaltung der Gegenwart über alle mögliche Vereinzelung aufgespanntes Feld ist, das die Situationen des Lebens aus primitiver Gegenwart bereits voraussetzt. Die Einheit und Einzigkeit der Welt fügt daher keineswegs die Situationen, aus denen Gattungen geschöpft werden, zu einer einzigen großen Situation zusammen, und daher ist auch die Füllung der Welt mit einzelnen Gegenständen nicht einheitlich, sondern viele solche Füllungen können sich durchdringen, je nach den Situationen, aus denen die für die Vereinzelung maßgeblichen Gattungen geschöpft sind. Ich will ein Beispiel geben. In Hölderlins Gedicht Abendphantasie lauten zwei Strophen: Am Abendhimmel blühet ein Frühling auf; Unzählig blühen die Rosen, und ruhig scheint Die goldne Welt; o dorthin nimmt mich Purpurne Wolken! und möge droben In Luft und Licht zerrinnen nur Lieb und Leid! – Doch, wie verscheucht von thöriger Bitte; flieht Der Zauber; dunkel wird’s und einsam Unter dem Himmel, wie immer, bin ich – Es wäre eine ontologische Täuschung und einfach töricht, dem Dichter ins Gesicht zu sagen, das sei ja nur schöner Schein, und in Wirklichkeit handle es sich um die subjektive Ausdeutung physikalischer und physiologischer Vorgänge, wie die Naturwissenschaft sie beschreibt. Vielmehr benützt der Dichter andere Gattungen als der Physiker (auch unter dem Schein derselben 133 https://doi.org/10.5771/9783495860465 .

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Worte), und daraus ergeben sich andere Tatsachen, obwohl die einzelnen Gegenstände, über die gesprochen wird, ihrer absoluten Identität nach dieselben sein können, z. B. hier der Abendhimmel. Ludwig Klages entwickelt in umfangreichen systematischen Untersuchungen eine Ontologie der Wirklichkeit der Bilder 140, in die Hölderlins Version gut passt. Er hält solche Bilder für wirklichkeitsnäher als die Dinge und erst recht die Gegenstände der Naturwissenschaft und gibt als wichtigstes unterscheidendes Merkmal der Bilder die unberührbare Ferne an, einen qualitativen Charakter, der sogar bei geringem räumlichen Abstand des Betrachters erhalten bleibt. Die Ontologie der Dinge im Sinne der von der Naturwissenschaft hochstilisierten alltäglichen Technik und die Ontologie der Bilder im Sinne von Klages (und Hölderlin) unterscheiden sich in der Abstraktionsbasis; ich verstehe darunter eine Konstellation vernetzter Gattungen, die durch ihre Abkunft aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit einer (zuständlichen) Situation eigentümlich geprägt sind und einzelne Fälle unter sich haben. Es wäre Unsinn, entscheiden zu wollen, welche Abstraktionsbasis an sich besser und sachgemäßer ist, die der Naturwissenschaft oder die von Klages; allerdings ist jene dieser bei Weitem vorzuziehen, wenn es sich um das Interesse menschlichen Überlebens handelt. Wer nur unter Bildern leben wollte, würde schnell zu Grunde gehen. Aber der Überlebenszweck ist kein ontologisches Argument; ebenso kann das vorwiegende Interesse auf Versenkung in die Tiefe und Fülle der Erscheinungen gehen, und dann ist Klages im Vorteil. Die beiden Vergegenständlichungsweisen können auch nicht einfach addiert werden, so dass eine im Ganzen homogene, einheitliche Weltfüllung herauskäme, nur mit verschiedenen Falten, Bergen und Tälern. Dem steht entgegen, dass absolut identische Gegenstände von verschiedenen AbstraktiLudwig Klages: Der Geist als Widersacher der Seele, 3. Auflage Bonn / München 1954, 5. Buch (S. 801–1248): Die Wirklichkeit der Bilder; Vom kosmogonischen Eros, 2. Auflage, Jena 1926

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onsbasen her Anlass zu Beschreibungen geben, die nicht zusammenpassen, z. B. als unberührbar fernes Bild und als nur durch einen eventuell sehr geringen Abstand entferntes Ding. Ich will noch ein paar weitere Beispiele für solche Wirksamkeit von Abstraktionsbasen auf unterschiedliche Weltfüllungen geben. Die europäische Intellektualkultur bevorzugt seit der psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen Vergegenständlichung – seit Demokrit und der Nachbildung seines Konzepts in Platons Timaios – mindestens für die Außenwelt eine Abstraktionsbasis aus leicht identifizierbaren, messbaren und selektiv variierbaren Merkmalsorten, in erster Linie den unspezifischen Sinnesqualitäten. Die Abstraktionsbasis der klassischen chinesischen Kultur besteht dagegen in standardisierten, gleichsam im Herbarium als Muster getrockneten, vielsagenden Eindrücken (impressiven Situationen). Dazu gehören Yang und Yin, die von den acht Grundzeichen des I Ging bezeichneten Wesenheiten und die fünf wu xing, die weder als Elemente noch als Wandlungsphasen richtig eingeordnet werden, sondern vielsagende Eindrücke sind, die sowohl an Stoffen als auch an Wandlungen abgelesen werden. Durch Gliederung des Weltinhalts nach solchen impressiven Situationen ergeben sich Übereinstimmungen, die dem Chinesen einleuchten, den an die in Europa dominante Abstraktionsbasis Gewöhnten aber nur verblüffen können. »Das Entsprechungssystem im Chinesischen ist unglaublich ergiebig; man muss immer alle Beziehungen im Auge haben, um richtig interpretieren zu können.«141 Die praktisch wirksamste Ausprägung erreicht dieses auf vielsagende Eindrücke abgestellte Entsprechungssystem in der chinesischen Medizin. 142 Eine ähnliche Abstraktionsbasis derselben Herkunft Hans Steininger, Hand- und Körperseele und der Dämon bei Kuan YinTse, Leipzig 1953, S. 77 142 Friedrich Hübatter, Die chinesische Medizin zu Beginn des XX. Jahrhunderts und ihr historischer Entwicklungsgang, Leipzig 1929; vgl. auch J. J. M. de Groot, Universismus. Die Grundlage der Religion und Ethik, des Staatswesens und der Wissenschaften Chinas, Berlin 1918, S. 120 (Tafel der 141

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aus impressiven Situationen verwenden die archaischen griechischen Denker vor der Weltspaltung. Maßgeblich ist bei ihnen der Gegensatz des Flinken, leicht Beweglichen gegen das Schwerfällige und Sperrige, wobei jenes mit dem Weiblichen, dieses mit dem Männlichen verbunden wird. So sind die Prinzipien der Kosmologie des Parmenides beschaffen 143 , und ein altes Scholion, das Simplikios in seinem Kommentar zur Physik des Aristoteles überliefert hat 144 , umkreist sie in einer für die Vergegenwärtigung vielsagender Eindrücke charakteristischen Weise mit Entsprechungen. Wie das Flinke und Sperrige des Parmenides verhalten sich bei Empedokles die weiblich (als Aphrodite) vorgestellte Liebe, die draußen wirbelt und in den Gliedern der Sterblichen Eintrachtswerke wirkt, und der trennende Streit oder Groll. Dazu passt der am eigenen Leib ermittelte Gegensatz des Schlaffen, Entspannten zum sperrig Gespannten, womit Anaximenes die Welt konstruiert.145 Dieselbe Abstraktionsbasis, aber mit entgegengesetzter, nur für das Bewegliche und Weibliche ungünstiger Bewertung, scheint in der Tafel zehn polarer Gegensätze der Weltordnung auf, die Aristoteles von den Pythagoreern überliefert; da wird das Weibliche als das zugleich Bewegte, Endlose, Krumme und Schlechte dem Männlichen gegenübergestellt, das Grenze, gut, ruhend und quadratisch ist. 146 Eine bemerkenswerte Übereinstimmung mit dem chinesischen Entsprechungssystem besteht darin, dass auf dieser Tafel das Männliche mit dem Ungeradzahligen, das Weibliche mit dem Geradzahligen assoziiert ist, wie in China die ungeraden Zahlen der ersten Dekade mit dem Himmel (dem männlichen Yang), die Entsprechungen), 321 (Chronomantik), 344 f. (Windmantik), 364–384 (Geomantik) 143 Diels und Kranz, wie Anmerkung 126, 28B8, Zeile 56–58, vgl. 28A52.53 (zum Weiblichen und Männlichen) 144 Ebd. Band I, S. 240 (zu 28B56–58) 145 Hermann Schmitz, Der Ursprung des Gegenstandes. Von Parmenides bis Demokrit, Bonn 1988, S. 197–203 146 Aristoteles, Metaphysik, 986a 22–26

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geraden mit der Erde (dem weiblichen Yin). 147 Solches Denken in vielsagenden Eindrücken zieht sich nach der psychologistischreduktionistisch-introjektionistischen Wende in eine Unterströmung der Medizin, Astrologie und Alchemie zurück und taucht in der magia naturelis des 15. und 16. Jahrhunderts, etwa bei Paracelsus, wieder markant auf. 148 Trotz der Abhängigkeit der Tatsachenfeststellung von Abstraktionsbasen braucht keine Verwirrung durch Widersprüche zu entstehen, weil jede Abstraktionsbasis Entscheidungsmöglichkeiten vorgibt, auf die von anderen Abstraktionsbasen aus nicht zugegriffen werden kann. Das liegt daran, dass Entscheidungsfragen mit Ja und Nein beantwortet werden, d. h. mit Gebrauch oder Fortlassung der Negation. Sprüche mit und ohne Negation sind aber Betätigungen derselben Sprache und damit der Abstraktionsbasis, die dieser Sprache mehr oder weniger das Gepräge gibt. Für Entscheidungen, ob …, gibt die jeweilige Abstraktionsbasis also einen autonomen Rahmen vor. Wenn der Gesundheitszustand derselben Menschen einerseits mit westlich-naturwissenschaftlichem, andererseits mit klassisch chinesischem Denken diagnostiziert wird, sind beide Urteile unabhängig und nur in begrenztem Maß gegenseitiger Kritik unterworfen; diese steht höchstens dem Erfolg zu. Diese Autonomie der Entscheidung genügt aber nicht, um eine Abstraktionsbasis vollständig zu legitimieren. Es gibt nämlich auch Situationen, denen man die Tauglichkeit als Mutterboden von Abstraktionsbasen im Dienst der Tatsachenfeststellung kaum zugestehen wird. Ich denke etwa an ein Wahnsystem, sei es im genuinen Wahn eines Paranoikers oder in induziertem Wahn, den er auf Menschen seiner Umgebung ausstrahlt. Ein intelligenter Paranoiker, der z. B. an Verfolgungswahn leidet, kann sich durch geschickte Ausreden gegen jeden Einwand immunisieren. Es fehlt De Groot, wie Anmerkung 142, S. 321 Hermann Schmitz, Der Weg der europäischen Philosophie. Eine Gewissenserforschung, Band 2, Freiburg i. Br. 2007, S. 193–196. 201–210

147 148

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ihm an Kritikfähigkeit. Er ist zu sehr in seiner Situation befangen. Demnach sollte die Ausübung der autonomen Entscheidungskompetenz im Rahmen einer Abstraktionsbasis sich niemals mit der Befangenheit begnügen, sondern um ein Höchstmaß von personaler Emanzipation, Sachlichkeit, Kritikfähigkeit bemüht sein, um bei der Anwendung der eigenen Maßstäbe den Horizont, aus dem diese geschöpft sind, auch schon etwas erweitert zu haben. Das gilt für den Reduktionisten wie für den (klassischen) Chinesen. Eine endgültige Sicherheit gibt es aber nicht. Jede Gewissheit über Evidenz ist täuschbar. Die Wahnwelt des Paranoikers wird man mit einiger Sicherheit als ganze verwerfen, wie der Paranoiker selbst, wenn ihm, wie manchmal geschieht, die erleuchtende (und enttäuschende) Einsicht kommt; die vermeintliche Evidenz, mit der ein Materialist die »Welt der Bilder« als Unsinn verlacht, wird man, einen hinlänglich weiten Horizont vorausgesetzt, mit Achselzucken quittieren. Ein sicheres Verfahren, sich bei der Wahl von Abstraktionsbasen nicht zu vergreifen, gibt es nicht, nur Wachsamkeit und eindringliche Analyse. Andererseits darf man die Relativierung der Tatsachen auf Abstraktionsbasen und damit auf die Situationen, aus denen diese gewonnen sind, auch nicht ins Extrem treiben. In Kapitel 3 habe ich gezeigt, dass die Möglichkeit des Behauptens verloren geht, wenn man nicht an nackte oder bloße Tatsachen glaubt, die an sich Tatsachen sind, unabhängig von jedem Standpunkt der Beurteilung. Der jetzt erbrachte Nachweis der Konkurrenz mehrerer autonomer Beurteilungssysteme reicht also nur zu, um den Glauben an eine einzige Füllung der Welt mit einem gegen alle Standpunkte invarianten Inhalt den Boden zu entziehen, aber nicht, um vielen einzelnen Tatsachen diese Invarianz abzusprechen. Zwar gibt es in der Tat kein allgemeines Kriterium für die Abgrenzung echter von scheinbarer Evidenz, aber die Evidenz im Augenblick kann so überwältigend sein, dass kein Zweifel mehr ernsthaft in Frage kommt. Das gilt nicht nur für die Lösung wissenschaftlicher Probleme, sondern es gibt auch ganz 138 https://doi.org/10.5771/9783495860465 .

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einfache Beispiele aus dem Alltag, wie den in Kapitel 3 erwähnten leichtsinnigen Läufer, der sich mit gebrochenem Bein eingestehen muss, dass ihm eben doch etwas passieren kann. Ebenso für unendlich viele objektive und subjektive Tatsachen. Wenn ich im Kopf rechne, weiß ich das genau. Es lohnt sich nicht, bei Beispielen zu verweilen. Diese Unterscheidung macht es möglich, dem radikalen Konstruktivismus etwas abzugewinnen, ohne ihn mitzumachen. Radikale Konstruktivisten leugnen die Erkenntnis einer unabhängigen Realität. 149 Dass dies keine sinnvolle Behauptung ist, solange man nicht nackte Tatsachen an sich gelten lässt und den Anspruch, sie zu erkennen, zurückbehält, wurde in Kapitel 3 gezeigt. So viel »unabhängige Realität« muss man also zugeben. Wenn aber die unabhängige Realität in einer einzigen, die ganze Welt umfassenden Füllung dieser Welt mit Inhalt und die Erkenntnis nur im genauen Nachzeichnen dieses Inhalts bestehen soll, ist die Verwerfung gerechtfertigt. Nur wird das von den radikalen Konstruktivisten nicht so gesagt, sondern, nach der Redensart, das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Wesentlich tiefer hat ein anderer Philosoph die Vielfältigkeit der Weltfüllungen verstanden und durchdacht, nämlich Erich Rothacker, dem ich mich persönlich verbunden fühle. 150 Rothacker war mit breiter Bildung intelligenter Blicke nach allen Seiten und tiefer Ahnungen, auch prägnanter Sentenzen, nicht so sehr aber scharfer Begriffe fähig. Dafür gelang ihm der Griff ins Konkrete, den er auf Kulturen bezog, die an gemeinschaftlichen Herausforderungen aller Art Lebensstile entwickeln, und in diesen originelle Wahrnehmungen der Wirklichkeit, die nur sekunErnst v. Glasersfeld, Radikaler Konstruktivismus, Frankfurt a. M. 1996, S. 56: »Der radikale Konstruktivismus ist unverhohlen instrumentalistisch. Er ersetzt den Begriff der Wahrheit (im Sinne der wahren Abbildung einer von uns unabhängigen Realität) durch den Begriff der Viabilität innerhalb der Erfahrungswelt der Subjekte.« 150 Er hat mich, einen schwierigen jungen Mann, mit beständigem Wohlwollen durch mein Studium und bis zur Promotion begleitet; davon habe ich mehr gewonnen als durch irgend welche Belehrung von ihm. 149

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där theoretisch verarbeitet werden. Lebensstil und Wahrnehmung machten für ihn die Welt einer Kulturgemeinschaft als eine originäre Erdeutung (oder besser Ausdeutung) der an sich unfassbaren Wirklichkeit aus, die er auch »Weltstoff« nannte. 151 Ich möchte vermuten, dass er das Wort »Welt« etwa in dem Sinn verwendete, den ich mit der Rede von zuständlichen Situationen verbinde, ohne zu glauben, dass diese immer zu »der Welt« eines Volkes oder einer Kultur zusammenlaufen. Eines der Lieblingszitate Rothackers stammte aus Rankes Zeitschriftenaufsatz Politisches Gespräch: »Ohne Sprung, ohne neuen Anfang kann man aus dem Allgemeinen gar nicht in das Besondere gelangen. Das Real-Geistige, das in ungeahnter Individualität plötzlich dir vor den Augen steht, lässt sich aus keinem höheren Prinzip ableiten. Denke dir die Aristokratie mit allen ihren Prädikaten, niemals würdest du Sparta ahnen.«

Ich glaube nicht, dass Ranke mit diesen Worten nur gegen allgemeine Begriffe protestieren wollte, etwa mit nominalistischer Tendenz. Dazu hätte er das »Real-Geistige« mit »ungeahnter Individualität« nicht nötig gehabt. Ungeahnt und unerschöpflich ist diese Individualität als eine Situation, die geistig ist durch die Fülle ihrer Bedeutsamkeit, aber mit abstrakten Begriffen in ihrer Eigenart nicht zu treffen ist, weil diese Bedeutsamkeit binnendiffus (nicht in einzelne Überzeugungen, Programme und Probleme auflösbar) ist, dafür aber ganzheitlich der historischen Intuition entgegentritt. Der Entdeckung, dass der Historiker in erster Linie nicht mit Menschen, Sachen, Handlungen, sondern mit Situationen zu tun hat, dürfte Ranke nahe gekommen sein, und ich glaube, dass Rothacker auch so etwas im Sinn hatte, wenn er Ranke zitierte. Vgl. Wilhelm Perpeet: Erich Rothacker. Philosophie des Geistes aus dem Geist der Deutschen Historischen Schule, Bonn 1968

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10. Vorgegebenheit und Konstruktion

Die in diesem Buch vorgelegten Untersuchungen bewegen sich zwischen Vorgegebenheit und Konstruktion im Verhältnis von Mensch und Welt, einschließlich dessen, was sich aus primitiveren Anfängen zur Welt entfaltet. Um sie abzurunden, gebe ich einen Überblick über die fünf Hauptstufen dieses Verhältnisses, vom Pol reiner Vorgegebenheit bis zum Ende unabgenötigter Konstruktion. 1. Gänzlich ohne Zutun dem Menschen vorgegeben ist der plötzliche Andrang des Neuen, der Dauer zerreißt, indem er primitive Gegenwart aus ihr freisetzt und die zerrissene Dauer ins Vorbeisein verabschiedet, ebenso der daraus in unzerrissene Dauer sich entwickelnde Rückstoß des vitalen Antriebs aus Spannung und Schwellung mit leiblicher Dynamik und leiblicher Kommunikation, das Leben aus primitiver Gegenwart, gefangen in Situationen und durchdrungen von der Subjektivität des affektiven Betroffenseins. 2. Durchaus dem Menschen unverfügbar, aber angestoßen durch sein Eingreifen mit satzförmiger Rede, ist die Entfaltung der primitiven Gegenwart zur Welt nach Ausbruch der Einzelheit aus Situationen in das Feld möglicher Vereinzelung mit Wo und Wann, mit Sein und Nichtsein (und Projektion der Einzelheit ins Nichtseiende), mit relativer Identität und Gegenüberstellung des Eigenen und Fremden nach Neutralisierung (Entsubjektivierung) von Bedeutungen (d. h. Sachverhalten, Programmen, Problemen). 141 https://doi.org/10.5771/9783495860465 .

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3. Der aus der Führung durch Situationen ausgebrochene Mensch muss sich in der Welt durch Umgruppierung ihrer Inhalte unter Gattungen zurechtfinden und dabei das Gegebene in mehreren Hinsichten sich zurechtlegen und sogar zurechtmachen, um überleben zu können. Dabei greift er zu Konstruktionen, die ihm durch unabweisbaren Bedarf abgenötigt werden. Dazu gehört die Metrisierung der Dauer mit Hilfe erst natürlicher, später künstlicher Uhren, mit Umdeutung der eigentlich intensiven Dauer in eine extensive Größe (Zeitstrecke) 152 , wodurch Zeitmessung und Zeiteinteilung möglich werden, ferner die Überforderung der notorisch unklaren und doch unentbehrlichen Kausalitätsvorstellung 153 durch Abnützung im täglichen Gebrauch und die Umdeutung der Halbdinge in Volldinge (z. B. des Windes in bewegte Luft, des elektrischen Schlages in eine Äußerung elektrischen Stroms), damit ununterbrochene Dauer und Unterscheidbarkeit von Ursache und Einwirkung im Begegnenden Gelegenheiten geben, abzuschätzen, was man von diesem zu erwarten hat. 4. Auch nach Bearbeitung des Weltinhalts mit solchen unerlässlichen Konstruktionen gelingt es nicht, die Welt mit einem einheitlich konzipierbaren Inhalt zu füllen, da ihre Füllung von Situationen abhängt, aus deren binnendiffuser Bedeutsamkeit durch Explikation von Sachverhalten, Programmen und Problemen die Menschen Abstraktionsbasen gewinnen, die Gattungen enthalten, als deren Fall Beliebiges, sofern nur absolut identisch, vereinzelt werden kann; diese Gattungen stehen nicht von sich aus fest, sondern müssen aus Situationen entbunden werden.

Hermann Schmitz, Phänomenologie der Zeit, Freiburg i. Br. 2014, S. 133–141 153 Ebd. S. 128–131 152

142 https://doi.org/10.5771/9783495860465 .

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Dadurch ergeben sich die kultur- und einstellungsbedingten Variationen der Vereinzelung. 5. Im Abendland entwickelt sich die konstruktive Umdeutung und Umgestaltung der Welt weit über das zur menschlichen Lebensführung unentbehrliche Maß hinaus. Den ersten Anstoß gibt die Weltspaltung durch die psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistische Vergegenständlichung. Die enormen Chancen, die der Reduktionismus der technischen Manipulation bietet, werden zunächst nicht beachtet, weil die Trägerschicht der antiken Kultur die (meist von Sklaven für sie erledigte) Handarbeit mit Werkzeugen verachtet und sich lieber in der Politik und der verehrenden Anschauung des in der Welt gegenwärtigen Göttlichen übt. Einen entscheidenden Anstoß zur Umbildung des Interesses in diese Richtung gibt das Christentum durch Bindung des gesamten affektiven Betroffenseins an das Thema der Macht, zunächst der Allmacht Gottes. Während im vorchristlichen Heidentum Macht zwar ein wichtiges Thema des affektiven Betroffenseins war, aber neben Liebe und Freundschaft, Ansehen und Reichtum, Alter, Krankheit und Tod, werden nun alle diese Themen der Rücksicht auf die Gunst des Machthabers Gott im Interesse des eigenen Glücks im Leben nach dem Tod unterstellt. Die Verwaltung dieses Heilsinteresses durch einen Stellvertreter Gottes auf Erden und dessen Anhang aus Klerikern und Laien (z. B. Kreuzfahrern) wird auf heilsfremde irdische Ziele (z. B. Kirchenstaat, 4. Kreuzzug nach Byzanz) umgeleitet und dadurch so verweltlicht, dass es den Menschen naheliegt, die transzendente Macht in die eigenen Hände zu nehmen, wobei aber die Bindung des affektiven Betroffenseins an das beherrschende Thema der Macht erhalten bleibt. Hinzu kommt die dem technischen Interesse günstige Nobilitierung der werkzeuglichen Handarbeit durch die Mönchsorden. Ganz wesentlich für die Umleitung des vom Christentum in den Mittelpunkt gestellten Interesses an Macht in seine neuzeitliche Form ist ferner 143 https://doi.org/10.5771/9783495860465 .

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eine Revolution im Denken der Scholastiker, nämlich die entschiedene Wendung zum Singularismus, der schon seit Abaelard das anfangs latente treibende Motiv im Universalienstreit war. Singularismus ist die These, dass alles einzeln ist, und zwar von sich aus, ohne weitere Voraussetzungen. Sie wird zum Prinzip durch Wilhelm von Ockham erhoben, der so weit geht, zu behaupten, dass alles Seiende (sogar jede Qualität) ein ens a se ist, ein Seiendes von sich aus, mit eigenem, nicht erborgtem Sein, und deswegen sowohl Universalien als auch Beziehungen bestreitet. Die Verbindung des Dynamismus (dominantes Machtinteresse) mit dem Singularismus ergibt das, was ich als die dynamistisch-konstellationistische Verfehlung bezeichne: Die Welt wird, unter Vernachlässigung aller Voraussetzungen des Einzelnseinkönnens, als ein riesiges Netz einzelner Knoten verstanden, das dazu da ist, vom Menschen nach seinem Belieben umgeknüpft zu werden. Diese Weltdeutung, bis 1600 aufgehalten durch die Wiederkehr des archaischen Eindrucksdenkers in der natürlichen Magie148, findet ihr ausführendes Organ in der mit Experiment und Mathematik bewaffneten modernen Naturwissenschaft. Diese sucht die Weltordnung durch allgemeine Naturgesetze, zu denen die in der Prognose bewährten Regelmäßigkeiten aufgebauscht werden, in den Griff zu nehmen. Das geht lange gut, bis die Perfektion der modernen Informationstechnik durch den Computer einen kritischen Punkt erreicht. Diese Krise entsteht durch das Zusammentreffen der dynamistisch-konstellationistischen Verfehlung mit einer Störung anderer Art, der ironistischen Verfehlung. Diese hat ihren philosophischen Ursprung in Deutschland in der letzten Dekade des 18. Jahrhunderts. Damals entdeckt Fichte, dass er mit den für ihn subjektiven Tatsachen in den objektiven Tatsachen nicht unterkommt. Da er diese aber für alle Tatsachen hält und den Sitz der subjektiven Tatsachen im affektiven Betroffensein verkennt, zieht er die Subjektivität von allen Tatsachen zurück, zuerst in ein absolutes Ich, das bloß sich selbst tut und weiter nichts, und dann, als dieser Ansatz sich als undurchführbar erweist, in das 144 https://doi.org/10.5771/9783495860465 .

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Schweben der produktiven Einbildungskraft zwischen Abhängigkeit und Unabhängigkeit (transzendentaler Zirkel8). Aus diesem Schweben macht Friedrich Schlegel die Virtuosität romantischer Ironie, sich von jedem Standpunkt abwenden und eben deshalb auf jeden stellen zu können. Er läutet damit das ironistische Zeitalter hemmungsloser Wendigkeit ein, die im 19. Jahrhundert die aristokratischen Züge des Dandies trägt und im 20. und 21. Jahrhundert zur Coolness vulgarisiert wird. Die Menschen des ironistischen Zeitalters sind dem von der dynamistisch-konstellationistischen Verfehlung mit den Mitteln der Naturwissenschaft und Technik bereitgestellten Überangebot von Netzen einzelner Knoten zum Umknüpfen nach Belieben des Benutzers ohne die Konsequenz beharrlicher Lebensführung ausgeliefert, da diese ihnen durch die Wendigkeit im ironistischen Zeitalter abgewöhnt worden ist. Daher sind sie hilflos gegen die durch fortgesetzte Verdichtung des Netzes rapide steigende Beschleunigung 154 , die dem Rhythmus des Ganges der Geschichte gefährlich wird. 155 Dieser Rhythmus besteht im doppelseitigen Wechsel der Übersetzung von Situationen in Konstellationen und der Rückübersetzung von Konstellationen in Situationen, in der Weise, dass die Menschen sich in die als Konstellationen gesetzten neuen Ordnungen als mehr oder weniger selbstverständliche Lebensform wieder einleben. Die Beschleunigung entzieht beim Übergang von Situationen zu Konstellationen die zur überlegten Steuerung erforderliche Zeit und bewirkt vor der Umwandlung der Konstellationen in neue Situationen eine Versteifung, da die Menschen sich aus dem Netz der sie kontrollierenden Informationstechnik nicht mehr zurückziehen können und keine Gelegenheit mehr haben, sich unbeobachtet gehen zu lassen und den gelassenen Eigensinn zu Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstruktur in der Moderne, Frankfurt a. M. 2005 155 Phänomenologie der Zeit, S. 208–215: Störungsstellen im Gang der Geschichte 154

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entfalten, der dazu gehört, dass der Einzelne die ihm auferlegten Ordnungen gleichsam verdaut und in die Selbstverständlichkeit seiner Lebensführung überführt. Ich wage nicht vorauszusagen, ob diese Störungen mit den Mitteln der dynamistisch-konstellationistischen und der ironistischen Verfehlung überwunden werden können oder ob der Gang der Geschichte in Chaos oder Erstarrung (oder chaotische Erstarrung) versinkt, oder ob etwas Unvorhersehbares dazwischentritt.

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Personenregister

Abaelard 144 Altdorfer, Albrecht 63 Anaximenes 117, 136 Aristoteles 14, 61, 119, 136 Bacon, Fancis 47 Bavink, Bernhard 124 Baerwald, Richard 58 Bergmann, Gustav 23 Berkeley, George 15–16 Betz, Wilhelm 77 Brands, Hartmut 23 Christian, Paul 64 Cantor, Georg 75 Carnap, Rudolf 9, 13–14, 23, 46, 122 Conrad-Martius, Hedwig 65 Demokrit 118, 135 Descartes, René 23, 30–31

Goethe, Johann Wolfgang v. 22, 57, 64, 102 Goodman, Nelson 81, 121 Groeben, Robert 18 Groot, Jan Jakob Maria de 135, 137

Haas, Renate 64 Habermas, Jürgen 41 Händel, Georg Friedrich 29 Hartmann, Nicolai 12 Heidegger, Martin 28, 112 Heraklit 117 Herodot 116 Hilbert, David 23 Hölderlin, Friedrich 133–134 Hübotter, Friedrich 135 Hume, David 21, 47, 48 Husserl, Edmund 19–20, 114 Johannes Scotus Eriugena 119

Empedokles 118, 136 Fichte, Johann Gottlieb 15–16, 18, 20, 49, 56–57, 114 Freitag, Burkhard 18 Frege, Gottlob 9, 22–25 Freud, Sigmund 91 Frisch, Karl v. 79

Gabriel, Markus 21, 26 Gambauld, Jean Ogier de 78 Glasersfeld, Ernst v. 33–34, 44, 139

Kamlah, Wilhelm 36 Kant, Immanuel 10, 15–16, 20, 35, 38, 67–68, 109, 113–114 Klages, Ludwig 97, 134 Köhler, Erich 78 Laches 78–79 Leibniz, Gottfried Wilhelm 15, 28, 50, 61 Lichtenberg, Georg Christoph 30– 31, 48 Lorenzen, Paul 36

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Personenregister

Lucrez 48 Ludendorff, Erich 48 Mach, Ernst 48 Maturana, Humberto 18 Metzinger, Thomas 31 Müller, Johannes v. 128 Nagel, Thomas 56–57 Neurath, Otto 46 Newton, Isaac 113 Nietzsche, Friedrich 65 Nüsse, Rolf 18 Ockham, Wilhelm v. 144 Paracelsus 137 Parmenides 136 Peirce, Charles 41 Perpeet, Wilhelm 140 Platon 23, 28, 61, 77–78, 80, 111, 118–119, 135 Plotin 125–126

Sappho 116 Sartre, Jean Paul 67 Schlegel, Friedrich 145 Schmidt, Siegfried J. 18, 33–35, 42 Schmitz, Hermann 24, 31, 38, 49– 50, 54, 57–59, 64, 66–67, 74, 77– 78, 80, 85, 88, 92, 97, 100, 107, 108–110, 112, 117–118, 121, 126, 136–137, 142 Schopenhauer, Arthur 16, 20 Schreier, Margrit 19 Seuse, Heinrich 65 Siebenthal, Wolf v. 31 Simplikios 136 Sokrates 73, 78, 80 Sophokles 117 Spiegel, Volker 125 Spinoza, Baruch de 46–47 Stegmüller, Wolfgang 40–41 Steininger, Hans 135 Thomas von Aquin 35, 38 Thukydides 116

Quine, Willard Van Orman 82

Vollmer, Gerhard 115

Ranke, Franz Leopold 140 Rosa, Hartmut 145 Roth, Gerhard 127–128 Rothacker, Erich 9, 139–140

Wittgenstein, Ludwig 48, 56 Xanthippe 73 Znoj, Hansjörg 65

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Sachregister

Abbildbarkeit, umkehrbar eindeutige 63, 75 Abbildung, umkehrbar eindeutige 73, 75 Abendland 143 Ablauf 62 Abschied 100–101 Absolutismus, erkenntnistheoretischer 131–132 Abstand 88–89, 98–99, 101 Abstraktionsbasis 134–138 Akkord 63 Alchemie 137 Antinomie 75 Antrieb, vitaler 64–65, 87, 92, 97– 98, 105 Anzahl 24, 30, 74 Appräsenz 90, 101 Apraxie 71, 95 Art, reine 94 Astrologie 137 Atmosphäre 89, 99, 118 Attribut 25–26, 28–29, 32, 52–53, 60–61, 72–73, 104–105 Aufklärung 119 Augenblick, absoluter 87, 96 Augenblick, relativer 96 Ausatmen 92 Ausdruck 94 Ausleibung 65, 67, 93–94, 97 Aussage 39–40 Außenwelt 118, 120, 135 Außenwelt, empirische 118 Autonomie 137 Autorität 90

Bedeutung 12, 53, 58, 69, 70–71, 79–80, 106–107, 111, 129, 131, 141 Bedeutsamkeit 94 Bedeutsamkeit, binnendiffuse 69, 71–72, 77, 80–81, 98, 106–107, 111, 114, 118, 123, 131–134, 140, 142 Begleitbewusstsein, unthematisches 66 Behauptung 39–42, 73 Beschleunigung 145 Bestimmung 28–29, 61, 109 Betroffensein, affektives 46, 48– 54, 57, 91, 105, 107, 141, 143, 144 Beurteilungssystem, autonomes 138 Bevorstehende, das 90, 101 Bewegungssuggestion 88–89, 92– 93, 100 Bewussthabe 66–68, 76, 78–79, 111 Bewussthaben 20, 76, 114 Bewussthaber 20, 48–49, 55, 91– 93, 97, 104, 112–114, 118, 127– 128 Beziehung 60–63, 66–72, 76, 79, 84, 88, 90–92, 94, 96, 99, 101– 103, 106, 116, 125–126, 144 Beziehung, disjunkte 67–68, 76 Beziehungsbewusstsein 67 Biene 79 Bienensprache 95 Bild 134–135 Blick 88–89, 92, 129

149 https://doi.org/10.5771/9783495860465 .

Sachregister

Charakter, synästhetischer 93 Christen 114 Christentum 119, 129, 143 cogito ergo sum 30 Coolness 145 Dahinleben 87–88 Dandy 145 Dasein 25, 28, 91, 96 Datum 90 Dauer 84, 87, 89–90, 94, 96, 100– 101, 112, 118, 141–142 Denken, diskursives 103 Determinismus 110, 120 Dichter 80, 133 Ding 134–135 Distanz, persönliche 58 Domestikation 98 Dualismus, cartesischer 119 Du-Evidenz 93 Durst 101 Dynamik, leibliche 63, 66, 71, 86, 92–94, 97, 105, 119, 141 Eigene, das 97, 107, 112, 116, 141 Eigenwelt, persönliche 108 Einatmen 99 Eindruck, vielsagender 135–136 Einleibung 64, 93–95, 97 Einleibung, antagonistische 65 Einleibung, solidarische 64, 93, 98 Einzelheit 28, 61, 63–66, 69, 71– 76, 79–80, 83–86, 88, 94–97, 102, 109, 111–112, 114, 123, 141 einzeln 59, 74 Ekstase 65–67 Ekstase, mystische 65 Ekstase, sinnliche 65 Emanzipation, personale 100, 107, 138 Emanzipation der Zeit 113

Enge 86–88, 92 Engung 86, 92–93 Engung, privative 92, 97 Entfaltung der Gegenwart 101– 102, 104, 108, 111–112, 115–116, 133, 141 Entscheidung 137 Entstehen 27, 103, 121 Enttäuschung 54, 106, 107 Ergriffenheit 92 Erkenntnis 131 Erkenntnistheorie, evolutionäre 115 Eros 116 Erstarrung, chaotische 146 Erstickung 86 Erwartung 90, 101 Evidenz 29, 38, 39, 90, 132, 138 Evolutionstheorie, biologische 123 Existenz 22–26, 28, 72, 91, 96, 101 Existenzsatz, affirmativer 26 Existenz-Inductivum 26, 28–29, 61, 72 Experiment 124, 144 Explikation 80, 107, 131, 142 Explikationismus, erkenntnistheoretischer 131 Exposition 86, 91 Fall 22, 29, 60–61, 72–76, 78–80, 87, 95–97, 104–106, 111, 113, 123, 132–134, 142 Fassungslosigkeit 95 Fatalismus 110 Ferne 134 Fläche 99–100 Fluss der Zeit 103–104, 113 Folge, logische 72–73 Fremde, das 97, 107, 112, 116, 141 Fremdwelt, persönliche 108

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Gattung 22, 29, 60–61, 71–76, 78– 80, 86–87, 94–97, 103–106, 110– 114, 123, 132–134, 142 Gattung, begriffliche 77 Gattung, vorbegriffliche 77–79 Ganze, das 74 Gefühl 89, 92, 99 Gegenwart 27, 87, 89–90, 95–96, 101, 103, 110, 112–113, 121, 124 Gegenwart, entfaltete 79, 94, 96, 100, 112–113 Gegenwart, primitive 88–91, 93– 98, 100–103, 105, 107, 112–113, 115, 124 Gehirn 120, 127–129 Gehirnforschung 128 Gemälde 62, 125 Geschichte 145, 146 Geschwindigkeit 84–85 Gestalt 85 Glaubwürdigkeit 44 Gott 15–16, 50, 143 Gottesbeweis, ontologischer 30 Größe, extensive 83–84, 142 Größe, intensive 66, 83–85, 100 Grundsatz der durchgängigen Bestimmung 27, 109–110, 113, 120, 132 Halbding 118, 142 Haustier 98 Hunger 101 Ich-weiß-nicht-was 78 Idealismus 11–12, 16, 20, 114 Idealismus, konstruktiver 16–17 Idealismus, subjektiver 17–19, 113 Idee, platonische 133 Ideenreich 119 Identität 25, 28–29, 52, 59, 61, 65, 70, 82–83, 85 Identität, absolute 28, 59–61, 69,

71, 74, 82–83, 85–93, 95–97, 103–105, 111–112, 123, 134 Identität, relative 28–29, 59–61, 71–72, 79–80, 82, 86, 94–96, 103–104, 106, 111–112, 116, 141 Implikation 107 Induktion, unvollständige 122 Information 127–128 Informationstechnik 144–145 Innenwelt 117–118, 120 Intension 77–80, 95, 111 Intimität 55 Introjektion 118–119 Inventar 15 Ironie, romantische 145 Juden 114 Kausalität 118, 142 Kennzeichnung 104 Kind 78–79 Kohärenztheorie der Wahrheit 41 Kommunikation, leibliche 63, 71, 92–94, 107, 118, 129, 141 Komplex 74 Konsensustheorie 41 Konservierung von Information 126 Konstellation 12, 80, 96, 98, 111, 134, 145 Konstruktion 141–142 Konstruktivismus, radikaler 18, 33–34, 44, 114, 139 Kontinuum 83–84, 86 Körper 92, 100, 129 Körperbewegung, flüssige 71, 83, 89, 95, 99 Körperschema, motorisches 88 Körperschema, perzeptives 92, 100 Korrespondenztheorie der Wahrheit 35 Kosenologie, physikalische 123

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Kriterium des Seins 28 Kritikfähigkeit 138 Lage 88–89, 98–100 Lagezeit, modale 112–113 Lagezeit, reine 113 Landkarte 62, 125 Leben aus primitiver Gegenwart 94–101, 104–105, 107, 115, 133, 141 Lebensstil 139–140 Lebenswelt 124 Leib 92–93, 99–100, 105, 118, 136 Leibesinsel 93, 99–100 Logik des Zwiespalts 113 Macht 143 magia naturalis 137 Magie, natürliche 144 Männliche, das 136 Mannigfaltiges, diffus chaotisches 69, 82 Mannigfaltiges, konfus chaotisches 69 Mannigfaltiges, numerisches 24 Mannigfaltiges, zwiespältiges 74 Mathematik 24, 79, 144 Medizin, chinesische 135 Menge 73–74, 85, 88 Menge, endliche 59, 74, 85 Mensch 11–12, 15, 33, 37, 46, 71– 72, 77, 79–81, 88, 91, 95–97, 100, 102–104, 107, 110–112, 114–117, 119, 122, 127, 141–145 Modalzeit 103, 123–124 Möglichkeit 27, 121 Naturgesetz 120–123, 144 Naturgesetz, geiles 121 Naturwissenschaft 119, 122–124, 129, 133–134, 144–145 Negation, finale 86

Negation, propositionale 86 Neue, das 87–89, 100–101, 111– 112, 141 Neuplatonismus 119 Neutralisierung 47, 54–55, 57–58, 106–107, 116, 141 Neutralität 58 Nichtmehrsein 87, 89–90, 96, 100– 101, 112 Nichtseiendes 21–23, 86, 96, 101– 102, 106, 112, 116, 124, 141 Nichtsein 25–27, 96, 101, 112, 141 Nochnichtsein 100 Nominalisten 73, 80 Norm 69 Nötigung, automatische 39 Nötigung, exigente 39 Objekt 66 Objektivität 46, 48, 50, 54–55, 105 Ordnung 84, 88, 94, 146 Orientierung, richtungsräumliche 89, 95 Ort 98–100 Ort, absoluter 87–89, 96, 100 Ort, relativer 88–89, 96, 100 Ortsraum 112 Panik 116 Person 54, 57–58, 71, 95, 104–107, 112, 115 Persönlichkeit 107 Perzeptionsidealismus 16 Phantasie 101 Philosophie 9, 12–14 Phobos 116 Physik 124–126 Physikalismus 47 Platoniker 111 Platonismus 80, 119 Plötzliche, das 87, 89 Pragmatismus 42

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Privatsprache 55 Problem 12, 53–54, 69–72, 79, 83, 98, 106–107, 131, 141–142 Problem, objektives 53, 58 Problem, praktisches 37 Problem, subjektives 53, 58 Problem, theoretisches 37, 38 Prognose 122–123, 144 Programm 12, 37, 53–54, 69–72, 79, 83, 98, 106–107, 131, 141– 142 Programm, objektives 53, 58 Programm, subjektives 53, 58 Protention 101 Psyché 117 Psychologismus 117–120 Pythagoreer 136 Quantenphysik 126 Quantifikation, partikuläre 22–24 Quasi-Traum 30–31, 90 Raum 96, 100, 112–113 Raum, flächenloser 99, 118, 129 Realismus 11–12, 15–16, 33–35, 109–110, 113–115 Realismus, erkenntnistheoretischer 131 Realisten, platonisierende 73 Rede 36, 53, 69–70, 95, 98, 123 Rede, mündliche 70 Rede, satzförmige 70–72, 79–81, 95–97, 103–104, 110–112, 114– 115, 133, 141 Reduktionismus 118–120, 143 Redundanztheorie 45 Regel 69, 98, 122 Regeldistanz 58 Regression, personale 107 Relativierung 138 Relativitätstheorie 103, 126 Retrospektive 123

Richtung 103 Richtung, abgründige 89 Richtung, leibliche 88, 92, 100 Richtung, unumkehrbare 88 Ruf 71, 94 Sachverhalt 12, 26–27, 36–39, 54, 69–72, 79, 83, 86, 98, 106–107, 131–132, 141–142 Sachverhalt, untatsächlicher 36, 54, 72–73 Sägen 64 Satz 36, 38, 69–70, 83, 98, 115 Säugling 71, 94–95 Schlucken 92 Scholastiker 144 Schreck 86 Schrei 71, 94 Schweben 145 Schwellung 87, 92–93, 97, 99, 141 Schwere, reißende 89 Schwimmer 82–83, 99 Seele 117–118, 120, 129 Seiendes 21, 23, 86, 96, 102, 116, 124 Sein 22, 25–28, 32, 37–39, 90–91, 96, 101–102, 108, 112, 141 Selbstbemächtigung 117 Selbstzuschreibung 97, 104–106, 115–116 Sichbewussthaben, identifizierendes 104–105 Signalübertragung 126 Singen 64 Singularismus 81, 114, 144 Situation 9, 12–13, 37, 69–72, 74, 77–81, 94–95, 97–98, 106–107, 111–112, 114–116, 118, 122–123, 131–133, 137–138, 140–142, 145 Situation, aktuelle 94 Situation, gemeinsame 95 Situation, impressive 94–95, 135

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Situation, persönliche 107–108 Situation, segmentierte 94 Situation, zuständliche 94, 98, 100, 134, 140 Solipsismus 11 Spannung 87, 92–93, 99, 105, 141 spielerische Identifizierung, objektivierende 58 Spielraum 90–91, 97 Sprache 36–37, 53, 69–71, 82, 98, 115, 137 Sprachgebrauch 95 Spruch 36, 38, 43, 69–70, 83 Stoiker 119 Strecke 99 Subjekt 18, 20, 34, 48, 58, 66, 91, 97, 104–105 Subjektivität 54–55, 57, 87, 90–91, 100, 105–106, 115, 141, 144 Subjektivität, strikte 56 Synonymie 36 Tatsache 26–27, 33–44, 48–52, 55– 57, 73, 107, 132–133, 138, 144 Tatsache, neutrale 49–50, 52–54, 105 Tatsache, objektive 25, 37, 50, 52– 56, 58, 72, 106, 139, 144 Tatsache, subjektive 36, 50–55, 57– 58, 105–106, 139, 144 Tatsache an sich 43–44, 55–56 Tatsache für mich 43 Tatsächlichkeit 39–41, 43, 45, 53– 55, 57–58, 132 Tatsächlichkeit, objektive 56 Tatsächlichkeit, subjektive 56 Technik 134, 145 Tendenz, epikritische 93 Tendenz, protopathische 92 Tier 12, 37, 71–72, 77–79, 88, 94– 95, 97, 102, 107, 112 Traum 30–31, 106

Überzeugung 38 Uhr 84, 142 Umfang 74–75 Universalienstreit 144 Universum 108 Unterschied 71–72, 80, 94–95, 110 Urfremdheit 107 Verbindung, umkehrbare 100 Vereinzelung 58–59, 79, 91, 93–97, 101, 105–108, 111, 133, 141, 143 Verfehlung, dynamistisch-konstellationistische 144–146 Verfehlung, ironistische 144, 146 Verfremdung 58, 107 Vergangenheit 27, 100–101, 103 Vergegenständlichung, psychologisch-reduktionistisch-introjektionistische 117–120, 129– 130, 135, 137, 143 Vergehen 103 Verhältnis 61–63, 72, 88, 91, 96, 102–104, 106, 125 Verhältnis, unspaltbares 63–71, 76, 78–80, 88, 90–92, 94, 101, 105, 111, 125–126 Vernichtung 86 Verschiedenheit 60, 69–72, 82–83, 85–86, 92, 95 Verschränkung 126 Versteifung 145 Versunkenheit 97 Vitalität 93 Vollding 142 Volumen, dynamisches 99 Vorgegebenheit 33, 141 Wahnsystem 137 Wahnwelt 138 Wahrheit 33–34, 36, 38–43

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Wahrheitsbegriff, faktizistischer 35–36, 39–40 Wahrheitstheorie, faktizistische 38 Wahrheitsverständnis, rationalistisches 40 Wahrnehmung 94, 126–129, 139– 140 Wahrnehmung, schlichte 66 Wahrscheinlichkeit 122 Wasser 82–83 Weibliche, das 136 Weite 86–89, 92, 94, 96, 98, 100, 134 Weitung 92–93, 97, 129 Weitung, privative 65, 92–93, 97 Welt 9, 12–13, 15–16, 20, 22, 24– 25, 33, 48, 50, 56–59, 79, 91, 94, 96–98, 101–102, 108–117, 122, 124–125, 132–133, 141–143 Welt, mögliche 22, 102 Welt, persönliche 108 Weltbild, naturwissenschaftliches 120, 126–129 Weltform 113, 132 Weltfüllung 131–132, 134–135, 139

Weltspaltung 117, 130, 136, 143 Weltstoff 140 Wendigkeit 145 Wert 119 Werther 22, 102 Wirklichkeit 25, 28–31, 33–35, 37– 38, 87, 90–91, 96, 101, 140 Wunsch 53 Zahl 63, 73–75, 85 Zählbarkeit 63, 73 Zeit 62, 103, 112–113 Zeitalter, ironistisches 145 Zeitmessung 99 Zeitstrecke 101, 142 Zirkel, transzendentaler 145 Zorn 117 Zukunft 27, 90, 101, 103, 110, 113, 120–121 Zukunft, geschlossene 27, 110, 120–121 Zukunft, offene 27, 120–121 Zukünftige, das 89–90 Zukünftigkeit 100 Zwiespalt 57, 67

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