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German Pages XI, 312 [317] Year 2020
Ulrike Kadi / Gerhard Unterthurner (Hg.)
Macht – Knoten – Fleisch Topographien des Körpers bei Foucault, Lacan und Merleau-Ponty
ABHANDLUNGEN ZUR PHILOSOPHIE
Abhandlungen zur Philosophie
In dieser Reihe erscheinen Monographien und Sammelbände zur Philosophie bzw. zu angrenzenden oder die Fachgrenze überschreitenden Themen. Klassische Gebiete sollen neu abgesteckt, aktuelle Felder bearbeitet und innovative Fragen formuliert und zur Diskussion gestellt werden. Wir freuen uns über Ihr Interesse und Ihren Vorschlag! Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/15906
Ulrike Kadi · Gerhard Unterthurner (Hrsg.)
Macht – Knoten – Fleisch Topographien des Körpers bei Foucault, Lacan und Merleau-Ponty
Hrsg. Ulrike Kadi Universitätsklinik für Psychoanalyse und Psychotherapie, Medizinische Universität Wien Wien, Österreich
Gerhard Unterthurner Institut für Philosophie, Universität Wien Wien, Österreich
Viele Texte im vorliegenden Band sind im Rahmen der Konferenz „Topographien des Körpers“ (5.–7. Oktober 2017 in Wien) vorgetragen worden. Wie die Konferenz ist dieses Buch im Projekt „Topographien des Körpers: phänomenologische, genealogische und psychoanalytische Forschungen“ (P25977-G22) entstanden, das vom Österreichischen Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) unterstützt wurde. Abhandlungen zur Philosophie ISBN 978-3-476-04956-8 ISBN 978-3-476-04957-5 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-476-04957-5 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Frank Schindler J.B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Ulrike Kadi und Gerhard Unterthurner 2
Körper im Zwielicht: Inkorporierte Geschichte und leibliche Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Maren Wehrle
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Zwischen Selbst- und Fremdführung: Die Praxis der Freiheit bei Michel Foucault und Maurice Merleau-Ponty . . . . . . . . 27 Sophia Prinz
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Körper, Kräfte, Gewohnheiten: Foucault mit und ohne Merleau-Ponty. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Gerhard Unterthurner
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„Der Körper ist der kleine utopische Kern, der Mittelpunkt der Welt“: Von anderen Räumen und Körpern bei Michel Foucault und Roland Barthes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Tobias Nikolaus Klass
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Die drei Körper in Lacans Knoten-Topologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Rolf Nemitz
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That’s knot psychoanalysis! Warum und wie verwendet Lacan die Mathematik?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Timo Storck
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De_formatio_ne corporis oder: Unbilden des Körpers: Natologische und topologische Aspekte der Lacan’schen Psychoanalyse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Artur R. Boelderl
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Lacans (TV-)Loge: Eine Medienarchäologie des OnlineTheorie-Videos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Knut Ebeling
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Inhaltsverzeichnis
10 Im Echoraum des Körpers. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Mai Wegener 11 Das Stigma des Realen: Philosophische Anmerkungen zu Lacans Körper-Begriff. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Wolfram Bergande 12 Körper: Wissen und Schreiben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Ulrike Kadi 13 Topik, Physik, Dramatik des Menschenkörpers. Bei Helmuth Plessner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Walter Seitter 14 Fungierende Leiblichkeit: Kleine Verteidigung von Merleau-Pontys Begriff der fungierenden Intentionalität. . . . . . 253 Silvia Stoller 15 Das Unbewusste als Zwischenleiblichkeit, als Topologie des Imaginären und als Intertextualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Rolf-Peter Warsitz 16 Merleau-Pontys politische Ontologie und Guattaris begehrende Maschinen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Stefan Kristensen 17 Janet Cardiffs epochale Topographie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Helen A. Fielding
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Wolfram Bergande (Dr. phil., M.A.) ist Lehrbeauftragter am Fachbereich Kunst und Design der Hochschule für Künste Bremen und an der Fakultät Gestaltung der Universität der Künste Berlin. Zuletzt erschienen: Wolfram Bergande (Hg.): Kreative Zerstörung. Über Macht und Ohnmacht des Destruktiven in den Künsten, Turia + Kant 2017. Weitere Informationen unter: www.bergande.de. Artur R. Boelderl ist Philosoph und Literaturwissenschaftler, Universitätsdozent für Philosophie am Institut für Philosophie an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt und Senior Scientist am Robert-Musil-Institut für Literaturforschung/ Kärntner Literaturarchiv ebenda. Er ist einer von drei Kuratoren des Internetportals MUSIL ONLINE (http://www.musilonline.at) und Redaktionsmitglied von RISS. Zeitschrift für Psychoanalyse (http://www.textem.de/riss.html). Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Philosophie des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart, bes. Phänomenologie, Hermeneutik und Dekonstruktion, Philosophie und/der Psychoanalyse, Literaturtheorie und Literaturvermittlung sowie Philosophische Natologie. Zu seinen jüngeren Veröffentlichungen gehören: Welt der Abgründe. Zu Georges Bataille (Hg., Wien, Berlin: Turia + Kant 2015), „Die Zukunft gehört den Phantomen“. Kunst und Politik nach Derrida (Mit-Hg., Bielefeld: transcript 2018), Vom Krankmelden und Gesundschreiben. Literatur und/als Psycho-Soma-Poetologie? (Hg., Innsbruck, Wien, Bozen: StudienVerlag 2018) und Kakanien oder ka Kakanien? Österreichs Geschick 1918–2018 im Spiegel der Literaturen (Hg., Innsbruck, Wien, Bozen: StudienVerlag 2020) http://uni-klu.academia.edu/Boelderl bzw. http://www.boelderl.net. Knut Ebeling ist Professor für Medientheorie und Ästhetik an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee. Zahlreiche Publikationen zu zeitgenössischer Theorie, Kunst und Ästhetik, zuletzt: Wilde Archäologien 1. Theorien materieller Kultur von Kant bis Kittler, Berlin 2012; Wilde Archäologien 2. Begriffe der Materialität der Zeit von Archiv bis Zerstörung, Berlin 2016; There Is No Now. An Archaeology of Contemporaneity, Berlin 2017.
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Helen A. Fielding ist Associate Professor of Philosophy and Gender, Sexuality and Women’s Studies an der University of Western Ontario, Canada. Forschungsschwerpunkte: Merleau-Ponty, feministische Phänomenologie und phänomenologische Ästhetik. Jüngste Publikationen: Helen A. Fielding, Dorothea E. Olkowski (Hg.), Feminist Phenomenology Futures, Indiana University Press, 2017; „Cultivating Perception: Phenomenological Encounters with Artworks“. In: Signs: Journal on Women in Culture and Society. Symposium on „Politics of the Sensing Subject: Gender, Perception, Art“, Anne Keefe (Hg.). 40.2 (2015), 280–289; „Dwelling and Public Art: Serra and Bourgeois“. In: Rachel McCann, Patricia Locke (Hg.), MerleauPonty: Space, Place, Architecture (2016) Ohio University Press, 258–281; Cultivating Perception: Phenomenological Enactments of Ethics, Politics and Culture, Indiana University Press (erscheint 2022). Ulrike Kadi ist Psychoanalytikerin (WAP/IPA), Philosophin und Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin an der Universitätsklinik für Psychoanalyse und Psychotherapie der Medizinischen Universität Wien sowie in freier Praxis. Sie war Projektleiterin des FWF-Forschungsprojekts „Topographien des Körpers: phänomenologische, genealogische und psychoanalytische Forschungen“ (P25977-G22). Forschungsschwerpunkte: Theorien des Körpers, strukturale Psychoanalyse, Geschlechterforschung. Rezente Publikationen: „Transsexualität nach Jacques Lacan. Singularität als Möglichkeit im Ausgang von einer Unmöglichkeit“. In: Metodo. International Studies in Phenomenology and Philosophy 2019/7(1), 141–169; gem. mit Katharina Leithner-Dziubas: „Das Monster einer zweibeinigen Gebärmutter. Leihmutterschaft als Ortswechsel“. In: Feministische Studien 1/19, 14–29; „Von innen aufgefressen? Facetten des Körperraums in Psychoanalyse und Medizin“. In: Helmwart Hierdeis, Martin Scherer (Hg.): Psychoanalyse und Medizin. Perspektiven, Differenzen, Kooperationen, Göttingen 2018, 101–122. Tobias Nikolaus Klass ist zurzeit Akademischer Rat auf Lebenszeit am Philosophischen Seminar der Bergischen Universität Wuppertal. Aktuelle Schwerpunkte seiner Forschung sind strukturalistische und poststrukturalistische Philosophien des Politischen, ausgewählte Autoren der älteren Frankfurter Schule und deren Erbschaften sowie Theorien des Dekolonialen. Jüngste Publikationen: Journal Phänomenologie, Hg. Schwerpunkt-Heft „Interventionen. Jacques Rancière und die Philosophie“ (Heft 38/2013); Leiblichkeit. Geschichte und Aktualität eines Konzepts, Hg. mit T. Bedorf, C. Grüny und E. Alloa, Tübingen 2012 (durchgesehene und erweiterte 2. Auflage 2019); Leib – Körper – Politik. Untersuchungen zur Leiblichkeit des Politischen, Hg. (mit T. Bedorf), Weilerswist 2015; Journal Phänomenologie, Hg. (mit M. Schnell) Schwerpunkt-Heft „Roland Barthes“ (Heft 47/2017). Stefan Kristensen ist Philosoph; 2010–2016 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kunstgeschichte, Universität Genf; 2017–2019 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Heidelberg (Projektförderung Fritz Thyssen Stiftung); seit September 2019 Professor für Ästhetik an der Universität Straßburg (Fakultät der Künste). Forschungsschwerpunkte: Subjektivitätstheorie, Filmtheorie, Psycho-
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
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pathologie der Maschinen. (Buch-)Publikationen: Parole et subjectivité. MerleauPonty et la phénoménologie de l’expression, Hildesheim 2010; Jean-Luc Godard Philosophe, Lausanne 2014; La Machine sensible, Paris 2017. Rolf Nemitz, Autor des Blogs „Lacan entziffern“, ist habilitierter Erziehungswissenschaftler und wohnt in Berlin. Er arbeitete an zahlreichen Universitäten. Zu seinen Veröffentlichungen gehört: Kinder und Erwachsene. Zur Kritik der pädagogischen Differenz, Hamburg 1996. Sophia Prinz, Dr. phil., ist Gastprofessorin für Theorie der Gestaltung/Gender Studies an der Universität der Künste, Berlin. Forschungsschwerpunkte: Kultursoziologie, Praxistheorie, Leibphänomenologie, visuelle Kultur, ästhetische Theorie, Transkulturalität. Jüngste Veröffentlichungen: „Relationalität statt Kulturvergleich. Zur Praxis des Sehens im enzyklopädischen Museum“. In: Britta Hochkirch u. a. (Hg.): BlickWechsel. Praktiken des Vergleichens von Bildern, Kunstwerken und visuellen Kulturen, Bielefeld: Bielefeld University Press 2019 (im Erscheinen); „Das Tableau der ‚weißen Weltʻ. Wahrnehmung und Rassismus aus praxistheoretischer Perspektive“. In: Susanne Gottuck u. a. (Hg.): Sehen (ver)lernen, Wiesbaden: VS Verlag 2019, 45–70; „Das unterschlagene Erbe. Merleau-Pontys Beitrag zur Praxistheorie“. In: Thomas Bedorf, Selin Gerlek (Hg.): Phänomenologie und Praxistheorie, Phänomenologische Forschungen Jg. 2017, Heft 2, 77–92. Walter Seitter ist Philosoph in Wien. Forschungsschwerpunkte: Philosophische Physik, Anthropologie, Ästhetik. Publikationen (u. a.): Physik des Daseins. Bausteine zu einer Philosophie der Erscheinungen, Wien 1997; Physik der Medien. Materialien, Apparate, Präsentierungen, Weimar 2002; Menschenfassungen. Studien zur Erkenntnispolitikwissenschaft, Weilerswist 2012; Aristoteles betrachten und besprechen (Metaphysik I–VI), Freiburg-München 2018. Silvia Stoller ist Universitätsdozentin am Institut für Philosophie der Universität Wien und Lehrbeauftragte am Institut für Erziehungs- und Bildungswissenschaft an der Karl-Franzens-Universität. 2018/2019 war sie Mitarbeiterin in dem von Ulrike Kadi geleiteten FWF-Projekt „Topographien des Körpers“ an der MedUni Wien. Ihre Schwerpunkte in Lehre und Forschung liegen im Bereich der feministischen Philosophie und Gender Studies, der Masculinity Studies, der Phänomenologie und französischen Gegenwartsphilosophie sowie der philosophischen Anthropologie (Schmerz, Liebe, Alter, Lachen). Letzte Buchpublikation: Susanne Hochreiter, Silvia Stoller (Hg.): Mann – Männer – Männlichkeiten. Interdisziplinäre Beiträge aus den Masculinity Studies. Wien, Praesens 2018. Derzeit arbeitet sie an einem Buchmanuskript zur Philosophie des Lachens und an einer Einführung in die philosophische Männlichkeitsforschung. Timo Storck, Prof. Dr. phil. habil., Dipl.-Psych., ist seit 2015 Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Psychologischen Hochschule Berlin sowie psychologischer Psychotherapeut und Psychoanalytiker (DPV, IPA).
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Zuvor wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universitäten Bremen und Kassel sowie der Medizinischen Universität Wien (2014–2016, im Projekt „Topographien des Körpers“). Mitherausgeber der Zeitschriften Forum der Psychoanalyse und Psychoanalyse – Texte zur Sozialforschung sowie der Buchreihe „Im Dialog: Psychoanalyse und Filmtheorie“. Mitglied im Herausgeberbeirat der Buchreihe „Internationale Psychoanalyse“. Forschungsschwerpunkten u. a.: Konzeptvergleichende Psychotherapieforschung, Verstehen in der Psychotherapie (z. B. in Fallbesprechungen), psychosomatische Erkrankungen, Psychoanalyse und Film. Aktuelle Publikationen: Psychoanalyse nach Sigmund Freud, Kohlhammer 2018, sowie die Buchreihe „Grundelemente psychodynamischen Denkens“, Kohlhammer, seit 2018, mit bisher fünf Bänden. Gerhard Unterthurner ist Universitätslektor am Institut für Philosophie der Universität Wien. Von 2014 bis 2019 Nationaler Forschungspartner am Institut für Philosophie der Universität Wien des FWF-Projekts „Topographien des Körpers: phänomenologische, genealogische und psychoanalytische Forschungen“ (P25977G22). Jüngste Publikationen: „‚Die Welt ist eine große Anstalt‘. Exklusionen in foucaultschen Geschichten des Strafens“. In: Marc Rölli, Roberto Nigro (Hg.), Vierzig Jahre „Überwachen und Strafen“. Zur Aktualität der Foucaultʼschen Machtanalyse, Bielefeld: transcript 2017, 63–94; „Eine Genealogie europäischer Rationalitätsformen – Anmerkungen zur Biomacht nach Foucault“. In: Gerhard Unterthurner, Erik M. Vogt (Hg.), Bruchlinien Europas. Philosophische Erkundungen bei Badiou, Adorno, Žižek und anderen, Wien, Berlin: Turia + Kant 2016, 157–188; gem. mit Andreas Hetzel (Hg.), Postdemokratie und die Verleugnung des Politischen, BadenBaden: Nomos 2016. Rolf-Peter Warsitz, Prof. Dr. med. Dr. phil, lehrte bis 2016 Soziale Therapie und Philosophie an der Universität Kassel, ist Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats der IPU Berlin, arbeitet als Psychoanalytiker und Lehranalytiker (DPV/ IPA) in Kassel, ist Ausbildungsleiter für psychoanalytische Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie der Uni-KIMS- Ausbildungsstätte in Kassel, Mitherausgeber der Zeitschrift PSYCHE. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Erkenntnistheorie der Psychoanalyse, Psychoanalyse und Fremdenfeindlichkeit. Letzte Veröffentlichungen: „Imaginäre Verkennung als Bedingung der Wahrheit des Subjekts in der Psychoanalyse“. In: E. Angehrn, J. Küchenhoff (Hg.): Selbsttäuschung. Eine Herausforderung für Philosophie und Psychoanalyse, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2017, 123–137; „‚Mémoire involontaire‘ und die Fallstricke der Erinnerung“. In: E. Angehrn, J. Küchenhoff (Hg.): Das unerledigte Vergangene. Konstellationen der Erinnerung, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2015, 151– 174; Rolf-Peter Warsitz, Joachim Küchenhoff: Psychoanalyse als Erkenntnistheorie. Psychoanalytische Erkenntnisverfahren, Stuttgart: Kohlhammer 2015. Mai Wegener, Dr. phil, Psychoanalytikerin in freier Praxis in Berlin. Miteröffnerin des Psychoanalytischen Salon Berlin (www.pasberlin.de) und Mitbegründerin der Psychoanalytischen Bibliothek Berlin (http://psybi-berlin.de/). Mitherausgeberin
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
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der Zeitschrift RISS. Publiziert und lehrt zur Psychoanalyse und im Feld der Kulturwissenschaften. Jüngste Aufsätze: „Zu Sigmund Freuds Entwurf einer Psychologie von 1895“. In: FREUD. Berggasse 19 – Ursprungsort der Psychoanalyse. Katalog des SF Museums Wien, Hg.v. M. Pessler, D. Finzi. Berlin 2020; „Zur Sexuellen Basis der Familie“. In: Mutter, Vater und andere Genealogien. Sigmund-Freud-Vorlesungen 2018. Hg. von U. Kadi, S. Schlüter, E. Skale, Wien 2019; „Wissenschaft und Liebe – Notiz zur Übertragung“. In: RISS 89, 2018/2; „Nicht den Sinn, sondern den Körper treffen: Deuten in der Psychoanalyse“. In: Was heißt Deuten? Hg. v. S. Lüdemann, Th. Vesting, München 2017. Maren Wehrle, Dr. phil., Assistant Professor an der Erasmus School of Philosophy, Erasmus University, Rotterdam, Niederlande. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Phänomenologie, Interdisziplinäre Anthropologie, Feministische Philosophie/ Gender Studies. Sie publiziert zu den Themen Normalität und Normativität, Leiblichkeit, Habitualität und Aufmerksamkeit; u. a. die Monographie Horizonte der Aufmerksamkeit. Entwurf einer dynamischen Konzeption der Aufmerksamkeit aus phänomenologischer und kognitionspsychologischer Sicht, München: Wilhelm Fink 2013, zusammen mit Sebastian Luft (Hg.): Husserl-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung, Metzler: Stuttgart 2017. Jüngste Artikel: u. a. mit Julia Jansen: „The Normal Body. Female Bodies in Changing Contexts of Normalization and Optimization“. In: L. Dolezaal, C. Fischer (Hg.), New Feminist Perspectives on Embodiment, Palgrave MacMillan 2018, 37–55; „Normative Embodiment. The Role of the Body in Foucault’s Genealogy. A Phenomenological Re-Reading“. In: Journal of the British Society for Phenomenology, vol. 47/1 (2016), 56–72; „Normale und normalisierte Erfahrung. Das Ineinander von Diskurs und Erfahrung“. In: H. Landweer, I. Marcinski (Hg.), Dem Erleben auf der Spur. Feminismus und die Philosophie des Leibes, Bielefeld: transcript Verlag 2016, 235–257.
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Einleitung Ulrike Kadi und Gerhard Unterthurner
Zusammenfassung
Das Vorwort leitet in die Gesamthematik des Bandes ein, der großteils auf die Konferenz „Topographien des Körpers. Foucault, Lacan, Merleau-Ponty in der Diskussion“ (5. -7. Oktober 2017 in Wien) zurückgeht. Programmatisch wird im Vorwort die Bedeutung von Foucault, Lacan und Merelau-Ponty für eine kritische Theorie des Körpers behandelt und ein kurzer Überblick über die verhandelten Beiträge des Bandes geliefert. Unsere Körper haben wir und sind wir. Unsere Körper begleiten uns auf allen unseren Wegen. Unsere Körper bestimmen auf oft unbemerkte Weise unsere alltäglichen Praktiken. All das wäre kein Anlass für ein Buch über unsere Körper. Es sind keine Phänomene natürlicher Selbstverständlichkeit (Blankenburg), sondern den Körper betreffende Veränderungen und ihre notwendige Analyse, die zu dem hier vorliegenden Band geführt haben. Einiges hat sich verändert für den Körper. Manche gehen so weit zu sagen, dass die Seele in den letzten Jahrzehnten zum Körper geworden ist (vgl. Michaud 2006, S. 450 f.). Auch wenn sich ein solcher Umbruch kaum generell bestätigen lässt, macht die Formulierung aufmerksam auf mehrere Trends: Der Körper genießt in unseren Tagen ein hohes Maß an Aufmerksamkeit und wird an manchen Stellen sogar zum Erbe von anderen Konzepten (vgl. Schürmann 2003, S. 50).
U. Kadi (*) Universitätsklinik für Psychoanalyse und Psychotherapie, Medizinische Universität Wien, Wien, Österreich E-Mail: [email protected] G. Unterthurner Institut für Philosophie, Universität Wien, Wien, Österreich E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 U. Kadi und G. Unterthurner (Hrsg.), Macht – Knoten – Fleisch, Abhandlungen zur Philosophie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04957-5_1
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U. Kadi und G. Unterthurner
assenmedial vermittelte, idealisierte Körperbilder prägen das zeitgenössische M imaginäre Selbstverständnis und leisten einen beträchtlichen Beitrag zur narzisstischen (Über-)Besetzung des Körpers. Ein Wandel ist weiters festzustellen mit Blick auf den alltäglichen Umgang mit dem Körper, der bei vielen Menschen von Fitness- wie Ernährungskulten dominiert wird. Die Arbeit an sich selbst ist in der Gegenwart vor allem auch eine Arbeit am eigenen Körper, der jung, schön, schlank und fit sein soll und dessen Aussehen je nach Fitness beurteilt wird (Martschukat 2019). Psychische Störungen treten vermehrt als körpergebundene Veränderungen auf – etwa in Gestalt von Süchten oder in Form von psychosomatischen Beschwerden. Die Medikalisierung des Körpers erscheint auf einmal selbstverständlicher. Eine Präventionslogik breitet sich ohne allzu großen Widerstand aus, was sich etwa an der globalen Durchsetzung von Rauchverboten oder an lokalen Screeningprogrammen für verschiedene Krankheiten ablesen lässt. Auch die medizinisch assistierte Reproduktion oder die plastisch chirurgische Gestaltbarkeit des Körpers lassen an ein Zusammenspiel von triebbestimmten narzisstischen Wünschen und deren technischer Umsetzung in einem körperbetonten sozialen Klima denken. Die vielen Veränderungen haben das theoretische Interesse am Körper beflügelt. Einige sprechen dabei sogar von einem somatic, corporeal oder body turn (Gugutzer 2006; vgl. Alloa et al. 2019, S. 1). Es ist von einer neuen Subjektivierung nach einem bürgerlichen und einem Angestelltensubjekt (Reckwitz 2006, S. 567 ff.) die Rede, von Hoffnungen auf den Körper als Ersatz für eine seit längerem verloren gegangene Identitätsbasis (Bauman 2003). Neben einem erhofften Freiheitsgewinn steht die zunehmend selbstverständliche Gestaltung des Körpers auch im Kontext von „Normierungs- und […] Herrschaftsprozessen“ (Villa 2011, S. 17), die das Subjekt heute weniger von außen her zu bedrohen, als von innen her zu bewohnen scheinen. Im vorliegenden Band treffen hauptsächlich Ansätze dreier französischer Autoren aufeinander, nämlich phänomenologische Thesen zum Körper von Maurice Merleau-Ponty, psychoanalytische von Jacques Lacan und genealogische von Michel Foucault. Der phänomenologische Ansatz geht zurück auf den erfahrenen und gelebten Leib. Mit der Radikalisierung zu einer genetischen Phänomenologie, die Bedeutungsstrukturen auf ihre Genese hin befragt, wird der Raum eröffnet für unbewusste Sinnprozesse, die von der Psychoanalyse eingebracht werden. Übergreifende historische Ordnungen des Körpers kommen dagegen durch eine genealogische Perspektive verstärkt ins Spiel. Merleau-Pontys Phänomenologie ist dabei wohl einer der ambitioniertesten Versuche, Subjekt und Vernunft radikal zu verkörpern. Der Leib ist für MerleauPonty das Medium des Weltbezugs und steht für die Verankerung in der Welt. Der Ausgang vom leiblichen Verhalten und einer primären Zugehörigkeit zu bzw. Verflechtung mit der Welt führt zu einer Sinnstiftung, die grundlegender als die eines konstituierenden Bewusstseins ist. Dies wird radikalisiert in seiner späteren strukturalen Ontologie: Das Denken des Leibes wird darin ausgeweitet zu einer Ontologie des Fleisches (chair), und die Sinnstiftung wird von einer „dritten Dimension“, einem Zwischenbereich oder einer „Zwischenleiblichkeit“
1 Einleitung
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(intercorporeité) her gedacht, von der her die Konstitution von Subjekt und Objekt erst verständlich wird. In Foucaults Arbeiten zum Körper lassen sich einerseits Bezüge zu Merleau-Ponty finden. Sie stehen jedoch andererseits auch in der Tradition Nietzsches und dessen Genealogie. Foucault versucht zu zeigen, dass der Körper durch und durch geschichtlich ist, dass er außerdem immer schon im Feld von Macht-Wissens-Verhältnissen steht und dass schließlich die Besetzung des Körpers durch Macht-Wissen-Verhältnisse nicht primär etwas Repressives ist, sondern wirklichkeitskonstituierend. Der individuelle wie der kollektive Körper sind bei Foucault Zielscheiben der Macht. Sie sind Orte der Einschreibung von Ordnungen; jeweilige Machtverhältnisse führen zu jeweils historischen Körperformen und damit auch zu jeweils historischen Subjektivitätsformen. Foucaults Analysen zu bestimmten historischen Körperformen richten sich dabei nicht nur auf einzelne Körper, sondern zunehmend auch auf den Gesellschaftskörper, der für ihn seit dem 19. Jahrhundert keine Metapher mehr ist, sondern „biologische“ Realität annimmt, der vor drohenden Gefahren geschützt werden muss. Das Stichwort „Körper“ gehört nicht zum spezifischen Vokabular der Psychoanalyse, auch wenn in Körperforschungen oftmals auf Lacans Text über das Spiegelstadium zurückgegriffen wird. Das in diesem Ansatz betonte Spiel zwischen Blicken und einem Bild betrifft den Körper vor allem in seiner narzisstischen Potenz. Lacan galt dieser imaginäre Aspekt des Körpers insbesondere in seiner strukturalistischen Phase als ein täuschendes Phänomen, das er der fluiden Verankerung des Subjekts in der Sprache nicht nur zur Seite, sondern auch gegenüberstellte. Von der Forschung weniger beachtet, taucht der Körper bei ihm aber auch in anderen, zum Beispiel in knotentheoretischen Zusammenhängen auf. So liest er in einem seiner späten Seminare einen Teil von Freuds bekannter Skizze vom Ich, Es und Überich als einen Dottersack und damit als eine körperliche Struktur. Solche überraschenden Verbindungen nutzt er zur Beschreibung der psychoanalytischen Praxis mit topologischen Mitteln. Lacan bespricht und umschreibt in seinen Seminaren oftmals den Ort des Körpers in der Kur. Den Körper dabei als Knoten und den Knoten als Körper zu nehmen, ist auch eine Konsequenz seiner langen Suche nach einem wissenschaftlichen Rahmen für psychoanalytische Forschung (vgl. Hoens 2016, S. 60), der sich weder auf psychologische Annahmen noch auf neurowissenschaftliche Postulate beschränkt. Lacan scheut dabei nicht davor zurück, auch Sackgassen möglicher Thematisierung des Körpers zu benennen. Nicht nur deswegen kann auch seine Form der ( Nicht-)Einbeziehung des Körpers einiges zu brisanten aktuellen Diskussionen beitragen. Warum gerade diese drei Autoren? Fest steht, dass es für eine gegenwärtig notwendige kritische Theorie des Leibes/Körpers verschiedener Ansätze bedarf. Folgende Aspekte machen die drei Autoren trotz und gerade auch wegen der zwischen ihnen bestehenden Differenzen besonders geeignet, Bausteine für aktuelle Diskurse über den Körper zu liefern: Für alle drei, für Merleau-Ponty, Foucault und Lacan ist der Körper/ Leib nicht nur ein Thema unter anderen. Alle drei stehen für eine Kritik an bestimmten Subjekt- und Bewusstseinskonzeptionen, die von einem sich selbst
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U. Kadi und G. Unterthurner
transparenten Bewusstsein ausgehen. Alle drei betonen eine Dezentrierung des Subjekts. Das bewusste Ich gilt ihnen nicht als Zentrum der Bedeutungsstiftung, der Körper nicht als vollständig beherrschbar. Das Denken des Leibes/ Körpers führt bei M erleau-Ponty, Foucault und Lacan daher zu Versuchen – wenn auch mit verschiedensten Ausgangspunkten und Leitfäden –, das Verhältnis von Psyche und Körper, von Mensch und Welt radikal neu zu denken. Dabei werden traditionelle Hierarchien und Dualismen wie eben Psyche und Körper, innen und außen, Tiefe und Oberfläche kritisch hinterfragt und umcodiert. Auf gewisse Weise gehören daher alle drei Autoren in die Geschichte der Kritik eines cartesianischen Dualismus, der das Denken des Körpers bis in die Gegenwart prägt, ohne dass sie dagegen eine einfache, bruchlose und mythische Leib-Seele-Einheit setzen. Ein Um- und Neudenken des Körpers, wie radikal es auch sein möge, kann nun allerdings nicht auf einmal und überall gleichzeitig stattfinden. Die in dem vorliegenden Band versammelten Texte erstellen daher unter den Stichworten „Macht“, „Knoten“ und „Fleisch“ einzelne Topographien (vgl. Waldenfels 1997, S. 12) zur Erkundung lokal begrenzter körpertheoretischer Zusammenhänge. Sie beziehen sich zumeist auf bestimmte Ansätze oder Fragestellungen aus dem Corpus, den die drei Autoren hinterlassen haben. Den Anfang machen Texte, in denen mit dem Schlagwort „Macht“ Foucaults Beiträge zum Denken des Körpers hervorgehoben werden. Maren Wehrle thematisiert die Beziehung von historischen Strukturen und leiblicher Praxis aus den Perspektiven von Foucault und Merleau-Ponty. Sie stellt strikt normierte Formen offeneren Formen der Habitualisierung gegenüber, um Möglichkeiten des Widerstands herauszuarbeiten. Auch Sophia Prinz hat die Praxis im Blick, wenn sie Foucaults theoretische Entwicklung von einem diskurstheoretischen über einen machttheoretischen bis hin zu einem praxistheoretischen Körper- und Subjektbegriff nachzeichnet und beide mit Merleau-Pontys Analyse des Zur-Welt-Seins und der Freiheit in Beziehung setzt. Die Habitualisierung ist ebenfalls Thema von Gerhard Unterthurners Text. Er fokussiert auf Foucaults Analyse des Körpers im Rahmen der Disziplinarmacht und situiert diese zwischen Merleau-Ponty und Nietzsche. Der vierte Text, der sich von Foucault aus der Frage nach neuen Denkansätzen zum Körper nähert, zieht vor allem dessen Texte zum utopischen Körper und zu den Heterotopien heran: Tobias Klass arbeitet ein oft wenig gesehenes utopisches Verständnis des Körpers bei Foucault heraus und erläutert dessen Ausformulierung und Fortschreibung bei Roland Barthes. Unter dem Stichwort „Knoten“ sind Texte versammelt, in welchen Lacans Überlegungen in der Argumentation Vorrang haben. Rolf Nemitz erläutert zunächst die komplexen Zusammenhänge zwischen einem psychoanalytischen Denken des Körpers und verschiedenen Verortungen des Körpers, wie Lacan sie in seinen späten Seminaren angesprochen hat. Welche Motive und vor allem erkenntnisleitenden Absichten für Lacans Gebrauch der Topologie und dabei insbesondere der Knotenlehre bestimmend waren, beschreibt Timo Storck. Artur Boelderl kontrastiert eine topologische mit anderen Herangehensweisen. Er sieht im Kern von Lacans Bezugnahmen auf die Topologie eine Betonung von trotz Verformung unveränderbarer Eigenschaften von Körpern und unterstreicht bei Lacan
1 Einleitung
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in dessen späten Arbeiten einen Vorrang der Form vor der für M erleau-Ponty wichtigeren Gestalt. Lacans körperlicher Gestalt in einem Fernsehauftritt, der als Text unter dem Titel Télévision (Lacan 2001) veröffentlicht worden ist, widmet sich Knut Ebeling. Den Ausgangspunkt von Mai Wegeners Artikel bildet der Körper als eine erregbare, genießende Substanz. Als Agens der Erregung wird in der psychoanalytischen Kur die Stimme und mit ihr der Buchstabe wirksam, womit Wegener Lacans spezielles Interesse für James Joyce und sein Schreiben in Verbindung bringt. Wolfgang Bergande hebt hervor, dass Lacans Annäherung an Fragen des Körpers keine phänomenologische Perspektive favorisiert, sondern sich (theoretischen wie realen) Sackgassen einer psychoanalytischen Erforschung des Körpers durch topologische Metaphern zu entziehen sucht. Ulrike Kadi arbeitet einige der Voraussetzungen heraus, die bei Lacans Annahmen zum Körper wie zum Fleisch mitzubedenken sind und die auch in jenem Verhältnis eine Rolle spielen, das Guy Félix Duportail zwischen Lacans und Merleau-Pontys Auseinandersetzung mit dem Fleisch aufgreift. Am Ende dieses Abschnitts steht ein Text von Walter Seitter. Seine Überlegungen nehmen ihren Ausgang bei einem vierten Denker des Körpers, nämlich bei Helmuth Plessner. Seitter widmet sich der Herkunft, dem Schicksal und der Bedeutung des thermodynamischen Begriffs der Entropie, der auch in einzelnen Argumentationen Lacans eine Rolle gespielt hat. Mit dem Ausdruck „Fleisch“ rücken schließlich Merleau-Pontys Thesen in den Fokus: Silvia Stoller geht Merleau-Pontys Thematisierungen der fungierenden Intentionalität nach, um dieses für ein Denken der Leiblichkeit fruchtbar zu machen und gegen Kritiken an der Intentionalität zu verteidigen. In Rolf-Peter Warsitzʼ darauf folgendem Text bildet Merleau-Pontys Begriff der Zwischenleiblichkeit den Ausgangspunkt für eine Annäherung an das Freudsche Unbewusste. Dialektiken zwischen Symbolischem und Imaginären (Lacan) und zwischen Semiose und Signifikantensprache (Kristeva) werden gleichermaßen berücksichtigt, um die dynamische Räumlichkeit des Unbewussten in den Vordergrund zu stellen. Merleau-Pontys Ontologie des Fleisches lässt sich für Stefan Kristensen nur vor dem Hintergrund von Paul Schilders Körperschema und einzelnen topologischen Thesen verstehen. Kristensen möchte darstellen, inwiefern der Leib immer schon sozial und politisch ist. Helen A. Fielding bezieht sich in ihrem Text auf ein Kunstwerk in einer Ausstellung, nämlich auf die Audio-Installation „Forty-Part-Motet“ (2001) von Janet Cardiff. Auf Basis von Merleau-Pontys Thesen zur Leiblichkeit der Wahrnehmung versteht Fielding Cardiffs Arbeit als ein leibliches Verbindungsstück zwischen den AusstellungsbesucherInnen und lotet Transformationspotenziale dieser Erfahrung aus. Viele der Texte im vorliegenden Band sind im Rahmen der Konferenz Topographien des Körpers (5.–7. Oktober 2017 in Wien) vorgetragen worden. Wie die Konferenz ist dieses Buch im Projekt „Topographien des Körpers: phänomenologische, genealogische und psychoanalytische Forschungen“ (P25977-G22) entstanden, das vom Österreichischen Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) gefördert wurde und dem an dieser Stelle dafür gedankt sei.
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U. Kadi und G. Unterthurner
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Körper im Zwielicht* Inkorporierte Geschichte und leibliche Praxis Maren Wehrle
Zusammenfassung
Der folgende Beitrag thematisiert die Interrelation von historischen Strukturen und leiblicher Praxis aus den Perspektiven von Foucault und Merleau-Ponty. Dabei wird versucht, zwischen strikt normierten und offeneren Formen der Habitualisierung zu unterscheiden. Abschließend soll gezeigt werden, dass auch normierte Formen der Habitualisierung eine gewisse leibliche Praxis voraussetzen. Geschichtliche Strukturen oder Macht schreiben sich nicht einfach so in die Körper ein, sondern müssen wiederholt angeeignet und praktisch eingeübt werden. In diesen individuellen Prozessen liegt immer auch die Möglichkeit der Verschiebung, Veränderung oder gar Neuentstehung von geschichtlichen (Macht-)Strukturen.
1 Vorwort In Anlehnung an die Ausführungen von Bernhard Waldenfels zur Zwielichtigkeit der Ordnung möchte ich hier in doppelter Weise von Körpern im Zwielicht sowie der Zwielichtigkeit dieser Leibkörper selbst sprechen. Genauso, wie die Welt immer schon da ist, vor jeder Analyse,1 gilt dies für den eigenen Körper. Welt 1„Die
Welt ist da, vor jeder Analyse“ (Merleau-Ponty 1966, S. 6).
*Dies ist eine Anlehnung an Bernhard Waldenfels’ Untersuchung zur Ordnung und Ordnungsbildung (Waldenfels 2013).
M. Wehrle (*) Erasmus School of Philosophy, Erasmus University Rotterdam, Rotterdam, Niederlande E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 U. Kadi und G. Unterthurner (Hrsg.), Macht – Knoten – Fleisch, Abhandlungen zur Philosophie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04957-5_2
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und Körper sind dabei immer schon als Teil einer Ordnung gegeben, die gleichursprünglich immer schon besteht, wenn wir Welt, uns selbst und andere als Körper erfahren. „Es gibt Ordnung“, wie Waldenfels mit Foucault (Waldenfels 2013, S. 10; Foucault 1974, 2000) feststellt, diese besteht immer schon, wenn wir anfangen zu denken oder gar zu erfahren. Zugleich kann man von der Ordnung weder im Singular noch als statisch unveränderlichem Zustand sprechen. Bei näherem Hinsehen erweist sie sich als partiell, fragmentarisch und fragil, als etwas, das beständig in Entstehung und Veränderung begriffen ist. Diese Zwielichtigkeit zwischen Faktum und Kontingenz, Statik und Dynamik, Materialität und Praxis, Permanenz und Entzug zeigt sich auch in der Art und Weise, wie wir unsere Körper erfahren und als diese körperlich handeln. Körper sind dabei immer schon von bestehenden historischen Ordnungen durchdrungen, die sich in ihre Form, Bewegung und Praxis einschreiben und in ihnen ausdrücken. Aber gerade das Faktum dieser Praktiken selbst impliziert eine notwendige Kontingenz der Ordnung, die sich in ihnen niederschlägt. An dieser Stelle verbirgt sich dasjenige, was Waldenfels einen ‚Überschuss der Ordnung‘ oder Erfahrung nennt, etwas, das nicht gänzlich nach schon bestehenden Regeln abläuft, bestimmt oder kontrolliert werden kann. Gerade dieser Überschuss macht es möglich, dass neue Ordnungen und andere Normen entstehen können. Körper, die vollständig im Licht stünden, ausgelichtet und transparent wären, verlören demnach diese Dynamik, Fragilität und Kreativität und damit ihre Lebendigkeit.
2 Einleitung Betrachten wir Leiblichkeit aus phänomenologischer Perspektive, fallen uns meist positive Konnotationen ein, der Leib wird als Empfindungsfeld, als Ausdruck praktischer Möglichkeiten und Fähigkeiten, als unser Vehikel zur Welt oder Ankerpunkt in der Welt (Merleau-Ponty 1966) beschrieben: Durch seine kinästhetischen Funktionen ermöglicht er uns, uns frei zu bewegen, unsere räumliche Umgebung zu entdecken und zu bewohnen; der eigene Leib ist der Nullpunkt unserer Orientierung, von dem jede Wahrnehmung ihren Ausgang nimmt, ein ‚Ich kann‘ bzw. eine fungierende Intentionalität, die Sinn stiftet und habituell bewahrt und sich im beständigen Dialog mit der Welt und anderen befindet (Husserl 1952, S. 143–163). Zugleich sind wir aber immer auch körperlich, d. h. materiell, räumlich ausgebreitet, und damit auch sterblich und kausalen Einflüssen ausgesetzt. Husserl benutzt in diesem Zusammenhang den Terminus Leibkörper, der auf die notwendige Verbindung der gelebten Leiblichkeit mit ihren materiellen und physischen Aspekten hinweist. Die Unterscheidung zwischen Leib und Körper wird oft verkürzt auf die
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subjektiv erlebten Aspekt einerseits und die materiellen Aspekte andererseits, jedoch zielt Husserl hierbei nicht auf eine Trennung zwischen Erleben und Materialität ab. Im Gegenteil, um überhaupt empfinden zu können oder gar ein aktives Subjekt der Wahrnehmung zu sein, muss der Leib physisch und materiell sein. Es geht Husserl also nicht um die Differenz zwischen materiell einerseits und gelebt andererseits, sondern vielmehr um den Unterschied zwischen einem implizit operierenden Leib (Subjekt der Wahrnehmung) und einem thematischen Körper (wahrgenommener Gegenstand oder Objekt), d. h. die Tatsache, dass wir uns sowohl als Subjekt der Erfahrung als auch als materiellen Körper erfahren (vgl. Bedorf 2015; Wehrle 2019).2 Dies beschreibt Husserl anhand des Beispiels der Doppelempfindung, in der sich die eigene Hand einmal als Objekt mit entsprechenden empfundenen Eigenschaften wie Größe oder Rauigkeit zeigt und ein anderes Mal als Hand, die empfindet und sogenannte nicht gegenständliche Berührungs- oder Bewegungsempfindungen hat. Jedoch ist der erfahrende und operative Leib primär, bei genauerer phänomenologischer Untersuchung erweist sich, dass die berührte Hand nur dann als Körperobjekt mit Eigenschaften erscheinen kann, wenn man von den propriozeptiven ‚Empfindnissen‘, d. h. dem Leib als empfindendem Subjekt, ‚abstrahiert‘ (Husserl 1952, S. 145, 150). Beides, unsere operative Leiblichkeit sowie der wahrgenommene oder thematisierte Körper, ist daher notwendig materiell verfasst, jedoch nie auf ein gewöhnliches materielles Ding reduzierbar. Der Leib als empfindender und operativer kann dabei wiederum in zwei unterschiedliche Schichten, die aktuelle und die habituelle (Merleau-Ponty 1966, S. 107), differenziert werden, wie Merleau-Ponty dies tut.3 Einmal diejenige Schicht, die aktuell empfindet, sich bewegt und leiblich zur Welt ist; und einmal diejenige, die unsere Erfahrungsvergangenheit in Form von erworbenen praktischen Fähigkeiten und Gewöhnungen repräsentiert. Der operative Leib, mitsamt seiner aktuellen Erfahrung und habituellen Erwerben, ist dabei durch seine fungierende Intentionalität gekennzeichnet. Diese fundamentale Form von
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doppelte Struktur des Leibes findet sich auch im Spätwerk von Merleau-Ponty wieder. Hier wird der Leib als „zweiblättriges Wesen“ (Merleau-Ponty 2011, S. 180) beschrieben: Im Gegensatz zur Phänomenologie der Wahrnehmung ist nicht die zeitliche Ambiguität Merkmal dieser Zweiheit, sondern ein ‚räumliches Zugleich‘ von Subjekt und Objekt, das positiv als „doppelte Zugehörigkeit“ des Leibes zu zwei verschiedenen Ordnungen, dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren, gewertet wird. Diese doppelte Struktur des Leibes ist abgeleitet aus dem Phänomen der Doppelempfindung bei Husserl und „lehrt uns, daß ein Bezug den anderen hervorruft“ (Merleau-Ponty 2011, S. 180). Die verschiedenen Bezüge des Leibes zu sich selbst und zur Welt sind hier eingebunden in den allgemeinen Horizont des Fleisches. 3Im Unterschied zu Thomas Bedorfs Konzept der ‚korporalen Differenz‘ (Bedorf 2017) verstehe ich die habituelle Schicht des Leibes hier nicht als dem Körper, sondern als dem Leib zugehörig, da diese operativ wirksam und nicht thematisch ist. Die zwei Schichten bilden damit eine temporale Zwielichtigkeit innerhalb des Leibes und der korporalen Differenz. Die habituelle Schicht ist dabei ebenfalls durch ihre Materialität gekennzeichnet und trägt maßgeblich zum Thematischwerden des Leibes als Körper bei, etwa wenn aktuelle und habituelle Schicht auseinanderfallen, wie z. B. bei Störungen und Unterbrechungen der aktuellen Operationen des Leibes.
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Intentionalität fungiert in aller Erfahrung praktisch und gewährleistet eine allgemeine leiblich praktische Gerichtetheit und Responsivität gegenüber der Welt.4 Wie wir die Welt erfahren und ob wir uns in ihr zurechtfinden und wohl fühlen, hängt dabei maßgeblich von vergangenen Erfahrungen und Habitualitäten ab. Die habituelle Schicht des Leibes ist es, die die aktuelle Erfahrung strukturiert und nach Bekanntem und Unbekanntem, Relevantem und Irrelevantem sortiert. Gleichzeitig ist die habituelle Schicht des Leibes in den aktuellen Handlungen und Wahrnehmungen des Leibes fundiert, hier machen wir uns vertraut mit der Welt, kommt es zum Erwerb von Fähigkeiten wie Greifen, Laufen, Klettern usw. Die habituelle Schicht des Leibes trägt dabei nicht nur die jeweils individuelle Erfahrungsgeschichte in sich, sondern inkorporiert auch einen über das Individuum hinausgehenden vorpersonalen Horizont, eine anonyme generative oder evolutionäre sowie historisch-soziale Vorgeschichte. Der Leib ist dadurch niemals ‚nur‘ individuell, vollständig autonom oder lediglich ‚natürlich‘, sondern immer schon ein Ausdruck von Geschichte und (sozialem) Umfeld, das sich durch die Erfahrungen in die Fähigkeiten sowie die Materialität des Leibes einschreibt. Derselbe Leibkörper, der in der Phänomenologie meist als gelebte und leibliche Praxis im Zentrum steht, kann sich daher auch aus einem ganz anderen Blickwinkel präsentieren: weniger als Ausgangspunkt oder Vehikel von Wahrnehmung, Bewegung und praktischen Handlungen als vielmehr als Ausdruck, Feld oder Träger inkorporierter Geschichte, sozialer und generativer Strukturen oder gar als Produkt bzw. Austragungsfeld von Machtkonstellationen, -techniken und -praktiken. Als Ausdruck oder Betätigungsfeld der Geschichte sind Leibkörper nicht nur leiblich individuell oder aber rein materiell bzw. natürlich, sondern haben eine transindividuelle sowie historische Dimension. Wie Nietzsche festhält, ist der Körper derjenige Ort, wo Geschichte ihren konkreten Ausdruck findet, sich zeigt (Nietzsche 1980, S. 392). Erst am Leib lässt sich die wirkliche Genealogie ablesen, und mit Foucault lässt sich ergänzend hinzufügen, dass die Genealogie als Analyse der Herkunft dort steht, „wo sich Leib und Geschichte verschränken“ (Foucault 2000, S. 75). Jede Genealogie muss deshalb zeigen können, „wie der Leib von der Geschichte durchdrungen ist und wie die Geschichte am Leib nagt“ (Foucault 2000, S. 75). Diese Geschichte beschränkt sich nicht auf das, was ein Individuum zeit seines Lebens selbst erfahren hat, auf das, was sich in seinen Interaktionen mit der Welt und anderen Subjekten ausgebildet hat, sondern umfasst auch überindividuelle Diskurse, Ordnungen und Strukturen, die sich generativ, sozial oder sogar mit Gewalt und vermittels Praktiken in den Leib einschreiben. Weit zurückreichende Ereignisse, Lebensumstände sowie institutionalisierte Strukturen und Lebensorganisationen schreiben sich regelrecht „in das Nervensystem, in das Temperament, in den Verdauungsapparat“ (Foucault 2000, S. 75) ein, sodass man am aktuellen Leib noch das Stigma vergangener Leiber und Ereignisse ablesen kann.5 4Die
fungierende Intentionalität zeichnet sich im Gegensatz zur klassischen und höherstufigen Form der gegenstandsbezogenen Intentionalität durch ihren holistischen und handlungsorientierten Charakter aus, d. h. sie richtet sich nicht primär auf einzelne thematische und herausgehobene Gegenstände (wie etwa die Wahrnehmung oder Vorstellung eines Hauses), sondern auf handlungsrelevante Situationen, Affordanzen (vgl. Gibson 1979) und Kontexte der Umwelt. 5Vgl. hierzu auch Wehrle (2014), S. 175 f.
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In einem solchen Licht erscheinen Körper in all ihrer Formbarkeit, Durchlässigkeit und Fragilität, gezeichnet von oft widrigen Lebensumständen und beliebter Angriffspunkt von Macht – wie dies auch in der amerikanischen wie europäischen postkolonialen Theorie eindrücklich dokumentiert und beschrieben wurde. Man denke etwa an die berühmte Aussprache von Aimé Césaire über den Kolonialismus, in der er entgegen der von kolonialer Seite gängigen Interpretation, dass Kolonialismus einen Beitrag zur Gesundheit, Religion, Moral, Sitte und Bildung der Kolonialisierten geleistet habe, die Sicht von „Millionen Menschen“ betont, „denen man geschickt das Zittern, den Kniefall, das Domestikentum eingebläut hat“ (Césaire 2017, S. 14). Die Wirkungen des Kolonialismus auf die Art und Weise, wie wir uns verhalten, bewegen und selbst wahrnehmen, beschreibt auch Frantz Fanon eindrücklich mit Bezug auf Merleau-Pontys Konzept des Körperschemas, das er um eine historische und rassenspezifische Form ergänzt (Fanon 1980). Im Folgenden möchte ich mich jedoch auf Michel Foucaults Thematisierung der Körper und deren historischer und räumlicher Ein- und Zuordnung beschränken. In Foucaults mittleren und späteren Schriften spielt der Körper eine bedeutsame Rolle, wenn es darum geht zu klären, wie historisch spezifische Machtformen ihre Subjekte konstituieren.
3 Inkorporierung von Geschichte Damit Macht nachhaltig wirksam sein kann, reicht es nicht aus, dass sie unsere Vorstellungen, unsere Wahrnehmung und unser Denken bestimmt, sie muss Teil unserer Erfahrung und unserer Körper selbst werden. Foucault beschreibt diese Einschreibung historischer Machtrelationen in die Körper als Techniken der Disziplinierung oder Normalisierung, die gelehrige, wirtschaftlich und gesellschaftlich nützliche Körper produziert. Wurden die von der Normalität abweichenden Körper in den früheren Schriften und historischen Beschreibungen Foucaults lediglich räumlich separiert, wie die Irren auf dem Narrenschiff und später in den Psychiatrien (Foucault 1969) oder die Kranken in den Krankenhäusern (Foucault 1973), operieren die klassifizierenden und abgrenzenden Machtpraktiken in den Gefängnissen bzw. im Zeitalter der Disziplin differenzierter und vor allem nachhaltiger. Foucaults Beschreibungen der Disziplinarmacht bzw. Normalisierung oder Normierung können daher als Beispiele für eine gewaltsame oder strikt normierte bzw. fixierte Inkorporierung von Geschichte gelten. Die Feststellung, dass Geschichte bzw. Strukturen vom Individuum inkorporiert werden, ist per se erst einmal als unproblematisch bzw. als an sich weder positiv noch negativ zu bewerten. Wie Bourdieu betont, ist dies ein notwendiger Vorgang für jede Sozialität, der Habitus als inkorporierte Geschichte hat zunächst eine ermöglichende Funktion, durch Mimesis und wiederholte Einübung erwerben wir generatives praktisches Wissen, Fähigkeiten, Gesten usw., die es ermöglichen, sich in einem entsprechenden sozialen Umfeld zurechtzufinden und in ihm aktiv partizipieren zu können (vgl. Bourdieu 1979).
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Jedoch können die so eingeübten Strukturen und Normen ebenfalls Ausdruck von Machtdispositiven sein, die sich den Körper gezielt nutzbar machen. Im 18. Jahrhundert geschieht dies nach Foucault etwa durch Techniken der Disziplinierung. Disziplinierende Techniken zielen auf die räumliche und zeitliche Individualisierung sowie Funktionalisierung und effektive Organisation von Körpern zum Zwecke des ökonomischen oder gesellschaftlichen Nutzens. Zunächst erfolgt diese ganz konkret durch die Verteilung der Individuen im Raum. Dieser Raum muss dabei nicht vollständig abgeschlossen sein, wie in einem Gefängnis oder einer Psychiatrie, vielmehr findet eine Lokalisierung und Parzellierung statt, die streng funktional, z. B. nach möglichen Arbeitsschritten, ausgerichtet ist. Spitäler, Schulen oder das Militär sind etwa nach dem Vorbild sogenannter ‚Tableaus‘ organisiert. Die Körper der PatientInnen, SchülerInnen oder SoldatInnen werden hier getreu dem Motto „Jedem Individuum seinen Platz und auf jeden Platz ein Individuum“ angeordnet (Foucault 1994, S. 83, vgl. 89). Die genaue Festlegung der Körper auf ihre Plätze macht eine Überwachung möglich und verhindert ‚gefährliche‘ Verbindungen zwischen Körpern in nicht vorher festgelegten räumlichen Konstellationen. Damit wird zugleich ein nutzbarer Raum geschaffen, wie etwa in einer Fabrik, in welcher jeder Arbeitsschritt im Voraus definiert und an Einzelkörper sowie deren spezifische Plätze gebunden ist. Eine ähnliche räumliche Aufteilung weist das Spital auf: Nicht allein, da es dadurch Körper effizienter behandeln kann, sondern auch, um diese nach Krankheiten und Zuständen zu klassifizieren und zu filtern. Man schafft damit nach Foucault ein System zur Feststellung der Anzahl der Kranken, ihrer Identität, Zugehörigkeit, man reglementiert ihr Kommen und Gehen, registriert die Behandlungen und nimmt räumliche Isolierungen vor. Individuelle Körper sind im Kontext der Disziplinierung austauschbar, sie bestimmen sich lediglich durch ihren Platz innerhalb einer Reihe, eines Funktionsprozesses, oder ihren Abstand von anderen Körpern, ihren Rang innerhalb einer Ordnung. Durch die genaue Lokalisierung werden die Körper individualisiert und zugleich desubjektiviert, als funktionaler Teil einer Relation von definierten Registrier- und Arbeitsschritten. Diese räumliche Anordnung der Körper in der Disziplin ist zugleich eine hierarchisierende Zuordnung, der Platz, der dem Individuum zugeordnet wird, markiert seine Stellung oder Leistung innerhalb einer Gesellschaft oder spezifischen Institution: Die räumliche Aufteilung repräsentiert eine entsprechende Rangordnung. Dies geht einher mit einer strikten zeitlichen Kontrolle der Körper und der Zergliederung ihrer Tätigkeiten, exemplarisch repräsentiert durch die zeitlich festgelegte Abfolge der Bewegungen bei militärischen Manövern oder sportlichen Übungen. Im Falle eines „Manövers“ wird etwa durch wiederholte Einübung eine strikte Korrelation zwischen dem Subjekt und dem benutzten Objekt (dem Gewehr) hergestellt. Dabei werden Körper und Objekt „fest aneinandergebunden“, sodass sie einen einzigen Komplex aus Körper und Maschine bilden. Das Gewehr wird somit regelrecht zur Erweiterung des Körpers und seine Fähigkeiten – mit Merleau-Ponty gesprochen – Teil des Körperschemas. Im Rahmen einer solchen Übung werden alle Bewegungen in einzelne Elemente zerlegt, deren Reihenfolge und zeitliche
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Dauer genau festgelegt ist. Ob die vorab definierten Teilziele der jeweiligen Übung oder Tätigkeit erreicht wurden, entscheidet am Ende eine Prüfung. Eine solche Disziplinierung, die in ähnlicher Weise auch im Schulunterricht und in anderen Formen des normgeleiteten Lernens zu finden ist, folgt dem Prinzip der analogen Wiederholung. Durch die normgeleitete kontinuierliche Wiederholung gewisser Bewegungen und Verhaltensweisen vollzieht sich dabei eine Vereinheitlichung sowie Beherrschung sowohl der Zeit als auch des Körpers. Eine solche Kontrolle über die Verteilung, die Ausführung von Tätigkeiten und das Zusammenspiel von Körpern gewährleistet wiederum den Gehorsam der involvierten Individuen, eine bessere Ökonomie von Zeit und Energie sowie eine Organisation, die „aus den unübersichtlichen, unnützen und gefährlichen Mengen geordnete Vielheiten“ (Foucault 1994, S. 190) macht. Was hier beschrieben wird, ist die Art und Weise, wie übergreifende Normen (wie man sich zu verhalten oder zu bewegen hat) und darin enthaltene Machtdispositive inkorporiert und habitualisiert werden. Sie erhalten damit den Status einer ‚zweiten Natur‘ oder besser gesagt: Sie werden zu der ersten und einzigen Natur, die uns zugänglich ist, indem sie Teil des leiblichen Subjekts und seiner alltäglichen Erfahrung werden. In der Disziplinierung findet eine externe Normalisierung statt. Also eine Normalisierung, die im Fall der Disziplinarmacht zunächst extern ihren Ausgang nimmt, dabei aber intern wirksam wird, d. h. gleiche bzw. gleich ausgerichtete und damit vergleichbare Körper und Subjekte regelrecht ‚schafft‘. Diese extern initiierte Normalisierung wird dabei ungefragt als habituelle Normalität über- oder angenommen, d. h. unmittelbar erfahren, und entzieht sich damit gerade einer expliziten Thematisierung. In Sexualität und Wahrheit beschreibt Foucault eine neuartige Form der Biomacht, die diese Tendenzen fortschreibt, jedoch qualitativ verändert (Foucault 1983). Auch in diesem Kontext werden Körper problematisiert, nun aber nicht mehr direkt diszipliniert, sondern zunächst mit Hilfe von Institutionen wie der Familie oder der professionalisierten Medizin klassifiziert und reguliert. Es erfolgt daher nicht nur eine Disziplinierung einzelner Körper(gruppen) durch „Dressur, Intensivierung und Verteilung der Kräfte“ (Foucault 1994, S. 140), sondern darüber hinaus eine überindividuelle Regulierung der Bevölkerung: „Die Mechanismen der Macht zielen auf den Körper, auf das Leben und seine Expansion, auf die Erhaltung, Ertüchtigung, Ermächtigung oder Nutzbarmachung der ganzen Art ab“ (Foucault 1994, S. 142). Im Licht einer solchen mehr organisatorischen denn disziplinierenden Form der Macht wird deutlich, wie individuelle und überindividuelle Faktoren, genetische und genealogische Aspekte im Körper bzw. Leib verschränkt sind und ihn gerade deshalb zum Angriffspunkt der Macht werden lassen. Biomacht wirkt demnach nicht mehr direkt auf einzelne Körper, um deren Verhalten zu normieren, dafür lenkt sie Körper allgemein hin zu einem Ideal der Normalität durch eine proaktiv wirkende institutionalisierte Vor- und Nachsorge. Es wird nicht mehr nach explizit festgelegten Verhaltensnormen diszipliniert, sondern die statistische Erfassung der Körper rückt in den Vordergrund. Das vermeintlich neutral erfasste statistische ‚Normale‘ wird hernach als Maßstab für die
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zukünftige Kontrolle und Regulierung genommen. Die disziplinierenden Praktiken werden dann in modernen und gegenwärtigen liberal-demokratischen Gesellschaften durch ein Regieren ablöst, das per definitionem maßgeblich auf die vermeintliche Handlungs- und Wahlfreiheit der Subjekte angewiesen ist.6 Ein Teil des Regierens, Organisierens und Ordnens der Körper wird hier durch diese selbst ausgeführt (vgl. Foucault 2004b). Die jeweiligen extern wirkenden Normen sind nun einem inneren Streben nach Normalität und Optimalität gewichen, dem jeder freiwillig, d. h. aus eigenem Antrieb, genügen will. Foucaults Beschreibung von normierenden und normalisierenden Praktiken war und ist ebenfalls relevant für feministische Untersuchungen zur Inkorporierung von Geschlechternormen. Hierbei geht es darum, wie entsprechende Geschlechtsnormen, die bestimmen, wie eine Frau zu sein hat, konkret verleiblicht werden. Ein solches vermeintlich Weibliches wird jeweils durch Erziehung, Umgebung und Interaktionen mit Peergroups vermittelt. Dabei wird bestimmtes Verhalten, welches man durch Imitation und gemeinsam ausgeübte Tätigkeiten erwirbt, entsprechend positiv bestätigt oder erfährt eine ablehnende Reaktion. Das, was als weiblich anerkannt oder implizit vorausgesetzt wird, ist denn auch dasjenige Verhalten oder Aussehen, das bei biologisch als Mädchen identifizierten Personen jeweils positiv verstärkt wird. In einer solchen Weise wird das vermeintlich ‚Weibliche‘ durch wiederholte Tätigkeiten und Interaktionen eingeübt und dabei habitualisiert. Iris Marion Young beschreibt dies etwa in ihrem bekannten Aufsatz „Throwing Like a Girl“ (Young 1980): Werfen wie ein Mädchen ist dabei durch typische ‚weibliche‘, d. h. in diesem historischen Kontext entsprechend ‚zögerliche‘ Bewegungsmuster gekennzeichnet, die sich vom ‚normalen‘ Werfen, d. h. hier vom männlichen Werfen, unterscheiden. Young spricht etwa von einer gehemmten Intentionalität, einer fehlenden Ausnützung der leiblichen Kraft und des Raumes sowie einer verstärkten Aufmerksamkeit auf unseren Körper. Obwohl Young hier, ohne weitere Reflexion, das weibliche Werfen lediglich in Negation bezüglich des männlichen beschreibt und damit männliches Werfen automatisch zum Normalen und das weibliche zur Abweichung deklariert, ist ihre Analyse sehr aufschlussreich, da sie gerade die Einschränkungen dieser Weiblichkeitsdefinition (im Gegensatz zur ebenso historisch relativen Männlichkeitsdefinition) aufzeigt. Young behauptet gegen damals vorherrschende naturalisierende Interpretationen, dass die Zögerlichkeit und Gehemmtheit des typisch weiblichen Werfens gerade nicht auf eine vorab feststehende weibliche Natur oder Essenz zurückgeführt werden kann, sondern gerade auf lebensweltliche und situative Unterschiede. Mag es auch anatomische und nichtsituative Unterschiede zwischen Geschlechtern
6Vgl.
hierzu Protevi (2010) und Mitcheson (2012). Da Macht bei Foucault nicht etwas ist, was jemand oder eine Gruppe von Herrschenden lediglich besitzt, sondern sich vielmehr als dynamische Relation oder strategisches Operieren äußert, ändern sich ihre Formationen und Gestalten beständig. Regieren ist in diesem Kontext auch ein strategisches Feld von Machtrelationen, in welchem sich Technologien der Kontrolle über andere mit denen der Selbstkontrolle überschneiden: „Thus, governmentality introduces the notion that we act not just to influence the conduct of others but to control our own conduct, and to control how others will control their own conduct“ (Mitcheson 2012, S. 4).
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geben, so lässt sich dadurch eventuell die Weite oder Stärke eines jeweiligen Werfens erklären, nicht jedoch der ‚zögerliche‘ Stil der Bewegung. Der typische weibliche Bewegungsstil geht ihr zufolge daher weniger auf anatomische denn auf soziale und individuelle Umstände zurück: Mädchen werfen demnach anders aufgrund fehlender Übung (risikoreiche, sportliche körperliche Tätigkeiten werden bei Mädchen weniger gefördert bzw. positiv bestätigt) und der von ihnen habitualisierten Weiblichkeitsnormen. Mädchen, die erfolgreich als Mädchen sozialisiert wurden, haben damit ebenfalls ein typisches, d. h. als weiblich assoziiertes, Verhalten erworben, würden sie anders werfen, widerspräche dies demnach ihrer verleiblichten Weiblichkeit und würde daher als fremd oder ungewohnt erfahren werden. Wie Young es ausdrückt, haben Mädchen – zumindest in den vergangenen Jahrzehnten – dieses Bewegungsmuster durch wiederholtes Üben angenommen und damit zugleich eine entsprechende Zögerlichkeit, Zurückhaltung und Scheu inkorporiert: „Walking like a girl, tilting her head like a girl, standing and sitting like a girl, gesturing like a girl, and so on. She is told that she must be careful not to get hurt, not to get dirty, not to tear her clothes, that the things she desires to do are dangerous for her. Thus she develops a bodily timidity which increases with age. In assuming herself as a girl, she takes herself up as fragile.“ (Young 1980, S. 153)
Diese Tendenz sieht Young auch 20 Jahre nach dem Erscheinen des Artikels mit Blick auf ihre Studentinnen bestätigt (Young 1998). Trotz der weitgehenden gesellschaftlichen Gleichstellung (in westlichen Gesellschaften) bleibt der Zweifel daran, eine Tätigkeit erfolgreich ausüben zu können, sowie die überhöhte Aufmerksamkeit darauf, wie der eigene Körper bei einer solchen Ausübung auf andere wirkt, in der Erfahrung der Mädchen oder Frauen bestehen. Wie Gail Weiss es ausdrückt: Anstatt bei eigentlich machbaren Aufgaben einfach loszulegen und sich auszuprobieren, nistet sich hier ein nagender Zweifel ein – „maybe ‚I cannot‘ undertake them successfully“ (Weiss 2015, S. 79). Susan Bartky argumentiert ähnlich, bezieht sich jedoch nicht auf phänomenologische Ansätze wie denjenigen Merleau-Pontys, sondern direkt auf die Arbeiten Foucaults. Sie argumentiert, dass in einer patriarchalischen Gesellschaft, in der Frauen lediglich als Objekte des Wohlgefallens oder Subjekte im Dienste der Fürsorge definiert werden, Mädchen regelrecht lernen, dass sie potenzielle Objekte für die Blicke, Intentionen und Manipulationen anderer sind. Bartky untersucht hierbei besonders Praktiken der Schönheitsoptimierung wie Abnehmen, Diät, Fitness und Kosmetik und definiert diese als Techniken der Normalisierung (Bartky 1997). Diese scheinbar freiwillig ausgeübten oder gar zur (post)modernen Selbstsorge gehörenden Praktiken sind demnach nichts anderes als versteckte Disziplinierungen. Und zwar deshalb, weil sie auf das Ideal des normalen weiblichen Körpers abzielen und damit nach einer umfassenden und fortwährenden Regulierung der Größe und Form eines solchen Körpers sowie seiner Haltung, seiner Gesten und seines Verhaltens streben. Dies zeigt sich noch heute in den jeweiligen Diskursen rund um das Weibliche, wie Johanna Oksala in ihrem
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aktuellen Buch Feminist Experiences mit Bezug auf Bartky beschreibt: „Expert discourses on how to walk, talk, style one’s hair, care for one’s skin, and wear makeup create habits conductive to the requirements of submissive femininity“ (Oksala 2016, S. 113). Dies mag ein wenig pessimistisch und deterministisch anmuten in Zeiten, in denen die meisten Frauen zumindest theoretisch Karriere machen können, Frauenfußball auch endlich kommerziell etabliert ist und zumindest einige Länder von Frauen regiert werden, wie z. B. Deutschland seit mehr als einem Jahrzehnt. Doch dies könnte Oksala zufolge täuschen, da gerade das feminine Subjekt des Neoliberalismus in einer besonders perfiden, weil versteckten Form der Normalisierung gefangen ist, die sich als Freiheit, Selbstbestimmung und Selbstsorge ausgibt. Es stimmt, in gegenwärtigen westlichen Formen der Macht wie der Gouvernementalität (Foucault 2004a, b) gibt es kaum oder keine strikten Normen mehr, wie eine Frau zu sein hat, die bei Abweichung oder Widerhandlung entsprechend sanktioniert werden. Genauso wenig sind heutige gesellschaftliche und wirtschaftliche Prozess durch explizite Formen von Disziplinierung gekennzeichnet. Keine allgemeingültigen und vorab festgeschriebenen Normen bestimmen unseren Alltag, stattdessen scheinen diese sozialen Normen sich eher aufzulösen oder zu pluralisieren. Jedoch schleichen sich diese durch die Hintertür wieder herein in der Form statistisch feststellbarer Normalität oder Optimalität, die als Ideal in der Arbeits- und Privatwelt gelten, Erfolg und Anerkennung versprechen und täglich in den sozial Medien wie Instagram und Facebook zelebriert werden. Diese Normen treten nun nicht mehr in zentralistischer Weise auf, durch das Disziplinieren im Rahmen von Institutionen, nichtsdestoweniger sind diese Normalitäten und Ideale überall gegenwärtig und muss der Einzelne sich an ihnen ausrichten, will er zu der einen oder anderen Gesellschaft hinzugehören. Durch ständige Präsenz der Gesichter und Körper in den sozialen Medien erhöht sich der Druck zur Normalisierung eher noch, da hier jeder das perfekte Bild seiner selbst und seiner Tätigkeiten vermitteln möchte. Das Ideale und Perfekte ist hier jedoch nur eine etwas überhöhte Variante des Normalen, geht es doch nicht um eine wirkliche Abweichung oder etwas qualitativ Anderes, sondern lediglich um eine schönes Foto innerhalb des Normalen, d. h. der Regeln von Instagram. Abweichungen von dieser Normalität werden nun nicht mehr direkt sanktioniert, jedoch genauestens registriert und markiert und führen zu ‚impliziten‘ Formen von Ausschließung wie fehlende Anerkennung in sozialen Netzwerken oder Nachteile auf dem sozialen oder wirtschaftlichen Markt. Hierzu passt, dass in den letzten Jahren die Optimierungsindustrie massiv zugenommen hat, etwa Kosmetik, Anti-Aging sowie Schönheitschirurgie. Als freie Interessensubjekte entscheiden sich Frauen wie Männer nun ‚freiwillig‘ für körperliche Anpassungen und Optimierungen, um ihr humanes Kapital zu vergrößern. Wie Johanna Oksala argumentiert, verschleiert diese produktive ökonomische Normalisierung in noch größerem Maße als die Disziplinierung, dass Frauen immer noch soziale Differenzen und Machthierarchien durch entsprechende Praktiken internalisieren, die zum Teil ihrer Subjektivität werden. Nur dass dies jetzt als ein Resultat der freien Wahl dargestellt und erfahren wird und nicht mehr
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als ein externer Zwang. Der Glaube, jede habe die totale Kontrolle über ihr Leben und die praktizierte traditionelle Weiblichkeit sei privat und eigene Wahl, trügt. Speziell der Glaube der Frauen, alles erreichen zu können, wenn sie nur wollen, nicht trotz ihrer Weiblichkeit, sondern gerade wegen ihrer, macht sie anfällig für Praktiken der Gender-Normalisierung: „If we believe the neoliberal doctrine that subjects do nothing that is not in their own interest, then normative femininity must be what we truly want“ (Oksala 2016, S. 126). Das Beispiel der Disziplinartechniken zeigt eine ‚gewaltsame‘ und ‚extern angeleitete‘ Inkorporierung von Geschichte, die bestimmt, wer welchen Platz einnimmt und einnehmen kann, wie entsprechende Bewegungen und Handlungen ausgeführt werden. Abweichungen davon werden umgehend sanktioniert, sodass man hier von einer Normierung oder sogar Konditionierung der Körper oder besser der operativen Leiber selbst sprechen kann. Modernere Praktiken der Macht, wie etwa die Gouvernementalität (Foucault 2004a, b), fungieren dahingehend nur noch indirekt normierend, aber dafür nicht weniger invasiv bzw. selektiv. Während Normierungen bei Formen der Disziplinarmacht nach Foucault und Bartky als streng fixierte und überwachte Habitualisierungen noch sichtbar sind, werden diese Prozesse von einer neoliberalen Ordnungsform fast vollständig aufgesogen. Hier findet man keine sozialen Normen oder mögliche Sanktionen mehr, die auf eine beschränkende oder ausschließende Wirkungsweise der Macht hindeuten könnten. Historische Normen werden hier in einem Maße internalisiert, dass sie unser Subjektsein, d. h. unsere Identität und Bedürfnisse, fast vollständig bestimmen. Die Praktiken einer solchen normalisierenden Macht erscheinen darum nur noch als Ausdruck der eigenen Bedürfnisse und der freien Wahl innerhalb einer marktorientierten Gesellschaft.
4 Leibliche Praxis7 Wie steht es aber nun mit den passiven, aktiven, kontingenten, kreativen und daher nicht kontrollierbaren Praktiken des Körpers? Sind die Art und Weise, wie wir uns jeweils verhalten und die Welt und uns selbst erfahren, vollständig normiert? Sehen wir uns die Leibkörper nun in einem anderen Licht an, demjenigen aus der Erste-Person-Perspektive der leiblichen Praxis, stellt sich die Lage etwas anders dar. Mit Merleau-Ponty lässt sich zunächst zeigen, dass auch normierte Formen der Habitualisierung eine gewisse leibliche Praxis voraussetzen (Merleau-Ponty 1966). Geschichtliche Strukturen oder Macht schreiben sich nicht einfach so in die Körper
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verwende den Terminus leibliche Praxis lediglich in einem allgemeinen Sinn. Die Perspektive auf die leibliche Praxis soll die jeweilige (thematische oder nicht thematische) Aktivität, Praxis und darin enthaltene Kreativität ins Licht rücken, gegenüber einem bloß passiven Verständnis der Inkorporierung. Für eine theoretisch tiefer gehende Auseinandersetzung mit dem Konzept der leiblichen Praxis in Phänomenologie und Praxistheorie vgl. Alkemeyer et al. (2015) und Bedorf und Gerlek (2017).
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ein, sondern müssen wiederholt angeeignet und praktisch eingeübt werden. In diesen individuellen Prozessen liegt immer auch die Möglichkeit der Verschiebung, Veränderung oder gar Neuentstehung geschichtlicher ( Macht-)Strukturen.8 Obige Prozesse der Inkorporierung lassen sich phänomenologisch als Habitualisierung, d. h. als Erwerb praktischer Fähigkeiten sowie Gewöhnung, beschreiben. Habitualisierungsprozesse sind hier zunächst neutral bzw. positiv konnotiert, da sie notwendig für jede konkrete, kohärente und stabile Erfahrung von Subjekten sind. Jede Erfahrung und Interaktion hinterlässt insofern ihre Spuren im Subjekt und verändert dieses und damit auch seine zukünftigen Erfahrungen in bleibender Weise (vgl. Herrmann 2015). Durch wiederholte Interaktionen mit der Umwelt und Gewöhnung erwirbt es einerseits bleibenden Sinn und habituelles Wissen und andererseits praktische Vermögen, Fertigkeiten und einen bleibenden individuellen wie typischen Erfahrungsstil. Diese erworbenen Fähigkeiten bzw. dieser Stil bilden das praktische Vermögen des Subjekts, sein „Ich kann“, und haben zur Folge, dass die Welt für es – zumindest ihrer Typik nach – bekannt und vertraut ist. All dies gewährleistet, dass wir uns im alltäglichen Leben mühelos zurechtfinden und die Welt, die anderen Subjekte sowie uns selbst als relativ einheitlich, stabil und sinnvoll erfahren, und ermöglicht insofern antizipierendes Verhalten. Zugleich sind Habitualisierungen bzw. das habituelle Können ihrem Wesen nach konservativ und wenig transparent. Habituelles Gebrauchswissen wird meist nicht explizit erworben, sondern schlägt sich nieder als Resultat von Erfahrung und Sozialisierung, d. h. von Beobachtung, Imitation und Einübung des Verhaltens anderer. Dasselbe gilt für den Erwerb von Bewegungen, Gesten und praktischen Vermögen und Gewöhnungen. Wie Merleau-Ponty betont, macht die habituelle Schicht des Leibes es zwar erst möglich, sich in der Welt zu orientieren, ist dabei aber mit seinen spezifischen Reaktionsweisen und Bewegungsabläufen für das personale Subjekt nicht eigens thematisch. Habituelle Vermögen und Kenntnisse repräsentieren dabei sowohl die Spuren des Vergangenen im Subjekt, im biographischen sowie im historischen Sinn, als auch das Gemeinsame (Tradition, Sozialität), da Subjekte in einer historischen, sozialen und kulturellen Welt situiert sind und Habitualitäten daher nie nur individuell, sondern immer auch intersubjektiv und generativ erworben sind. Daher ist leibliche Habitualität in zweifacher Weise anonym und opak, sie trägt das biographische sowie das historisch-kulturelle Unbewusste in sich. Mit Husserl und Merleau-Ponty lässt sich hier zunächst zwischen dem wahrgenommenen Körper, dem Körperbild sowie dem operativen Leib bzw. dem ihm zugehörigen Körperschema unterscheiden (Merleau-Ponty 1966, S. 125). Ersteres ist das Bild, das wir von unserem Körper haben, d. h. dessen, wie wir ihn mit den Augen anderer sehen. Hier werden implizite Wahrnehmungs- und Denkschemata angewendet, um uns (geschlechtsspezifisch) zu beurteilen. Das Körperschema hingegen bezieht sich auf unser operatives Leibsein, es ist ein unmittelbares Wissen 8Dies
lässt sich ebenfalls mit, d. h. innerhalb von Foucaults Ansatz belegen, in seiner Analyse der Disziplinierung genauso wie in den dezidiert Praxis orientierten Techniken des Selbst seines Spätwerks (Foucault 1989a, b, 2004c; vgl. Mitcheson 2012).
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um unsere Lage, Position, Stellung und unsere praktischen Möglichkeiten in der Welt. Durch Interaktionen mit der Welt verwandelt sich das Körperschema ständig, es werden neue Fertigkeiten erworben oder die Reichweite der Erfahrung durch Inkorporierung von Werkzeugen erweitert. Dies ist möglich mit Hilfe leiblicher Gewöhnung. Der inkorporierte „Stock des Blinden“ (Merleau-Ponty 1966, S. 173) ist etwa für diesen kein fremdes Objekt oder Hilfsmittel mehr, sondern er erfährt vielmehr die Welt unmittelbar durch ihn. In ähnlicher Weise ließe sich eine Inkorporierung von Geschichte, konkreter von geschichtlich relativen Normen, verstehen: Vermittelt durch Erziehung, intersubjektiv angeleitete Erfahrung, Imitation und entsprechende positive oder negative Bestätigung werden soziale Praktiken und Konventionen eingeübt und habitualisiert und entsprechende Bewegungsmuster, Gesten und Fertigkeiten erworben, die dann in das jeweilige Körperschema integriert werden. Die so inkorporierten Normen sind in noch viel größerem Maße permanent und implizit als die oben genannten Denkschemata, die das Körperbild prägen. Sie bestimmen das leibliche Zur-Welt-Sein, unsere Individualität und Identität, sie sind wie beim Stock des Blinden dasjenige, womit wir die Welt erfahren. Welche sozialen Normen wir wie inkorporieren, hängt nun von den historisch-kulturell konstituierten Situationen oder Lebenswelten ab. Je mehr sich die Situationen (vgl. Beauvoir 2016) oder sozialen Felder (Bourdieu 1979, 1989), in denen Menschen sich zumeist aufhalten und interagieren, unterscheiden, etwa nach Klasse, Geschlecht oder ethnischer Herkunft, und je stärker diese internen Differenzierungen und Normen im Vorhinein festgeschrieben sind, desto strikter sind die jeweiligen Habitualisierungen extern normiert und desto unterschiedlicher fallen diese aus. Insofern ist weibliche oder nicht ‚weiße‘ Leiblichkeit innerhalb eines patriarchalisch-männlich-westlichen Umfeldes eben nicht immer durch ein „Ich kann“, sondern oft durch ein „Ich kann nicht“ charakterisiert (vgl. Weiss 2015; Fanon 1980; Garland-Thomson 2011). Wenn nun jede Inkorporierung von Geschichte, Strukturen, Normen oder Machtkonstellationen einen Prozess der Habitualisierung voraussetzt, lässt sich mit Merleau-Ponty argumentieren, dass dies zugleich gepaart sein muss mit einer irgendwie gearteten Aktivität oder gar einem „schöpferischen Tun“ (Merleau-Ponty 1966, S. 85). Habitualisierung ist in diesem Sinne keine automatische Wiederholung, sondern immer auch die Stiftung oder der Erwerb eines motorisch-praktischen Sinnes (Merleau-Ponty 1966, S. 177). Ohne eine wie auch immer geartete Aktivität könnte keine leibliche Fertigkeit erworben werden. Auch Kultur und Normen werden nicht nur passiv übernommen oder uns gewaltsam aufgezwungen, sondern sind etwas, das wir uns irgendwie aneignen bzw. ‚einverleiben‘ müssen, damit es ein Teil von uns wird. Aufgrund der Wiederholung, die für eine solche Inkorporierung und Habitualisierung notwendig ist, zeigt sich eine Verschiebung der entsprechenden Strukturen und Vermögen. Nichts wird in identischer Weise wiederholt, im Prozess der Aneignung und Wiederholung vollzieht sich eine Bedeutungsverschiebung, nicht nur im Bereich der Sprache und Signifikation, wie es Butler mit Derrida beschrieben hat, sondern gerade auch im praktischen Bereich der Erfahrung (Butler 1991, 1995, 1998; vgl. Käll 2015;
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Bedorf 2015). Beim Erlernen und Habitualisieren einer Bewegung wie Laufen oder Schreibmaschineschreiben ist der Leib aktiv, indem er sich ausprobiert und seine Fähigkeiten und Möglichkeiten sowie seine Umgebung entdeckt. Niemand übt die entsprechenden Tätigkeiten demnach in exakt derselben Weise aus wie der andere, sondern jede entwickelt neben einem kulturellen auch einen individuellen Stil. Wie sollten sonst neue Bewegungsformen (z. B. Sportarten) und Gesten entstehen? Am Anfang jeder Gewöhnung oder Inkorporierung steht so die Spontaneität des Erfahrungsfeldes und der aktuellen Handlung. Jedes Aufnehmen oder Aneignen birgt daher ein Moment der Neuschöpfung in sich. Habitualisierung ist daher nicht nur neutrale Aufnahme bestehender Strukturen, sondern verändert diese im Prozess dieser Aneignung. Selbst wenn wie bei der Disziplinierung die Ausführung der Bewegungen vollständig im Voraus reguliert und bei Zuwiderhandlung sanktioniert wird, bleibt eine gewisse Aktivität oder gar Kreativität bestehen. In der Wiederholung können zufällig neue Bewegungen und Gesten entstehen oder andere wegfallen. Die ausgebildete Gewohnheit ist dabei nicht an die Bedingungen ihrer Habitualisierung gebunden, eine erlernte Fertigkeit ist variabel und kann in verschiedenen Kontexten ausgeübt, erweitert oder zweckentfremdet werden. Habe ich etwa gelernt, Klavier zu spielen, kann ich dies auf den verschiedensten Klavieren oder Orgeln und selbst anderen Instrumenten mit Tasten anwenden. Dies lässt sich auf Disziplinierungen bzw. vermeintlich männliche oder weibliche Gewohnheiten übertragen, z. B. kann das Marschieren innerhalb einer Tanzperformance genutzt werden, Schminkpraktiken können nicht nur der Normalisierung, sondern auch der Subversion dienen. Zudem können sich die Kontexte und Zuschreibungen selbst ändern, wenn vermeintlich weibliche oder männliche Bewegungsformen diese Konnotationen langsam verlieren, z. B. bei bestimmten Sportarten (Tennis, Fußball usw.). Geschichtliche Strukturen werden in diesem Sinne in ein dynamisches und sich ständig erweiterndes Körperschema integriert. Hierdurch entstehen Variationen in Intensität und Gestalt (Pluralität und Diversität inkorporierter Weiblichkeit), und die Dynamik und Fragilität dieser Inkorporierungs- und Habitualisierungsvorgänge werden sichtbar, d. h., es wird sichtbar, inwiefern innerhalb dieser Prozesse bereits eine Performativität bzw. die Möglichkeit der Veränderung angelegt ist. Die Inkorporation geschichtlicher Normen kann daher nie vollständig und nicht von jedem Individuum in gleicher Weise vollzogen werden. Der Prozess der Inkorporierung und seine Akteure (leibliche erfahrende Subjekte) sind nicht berechenbar. Hier entsteht Spielraum für Parodie, Verschiebungen und subversive Verkörperungen, die die jeweiligen Regeln und herrschenden Strukturen, wie etwa die binäre Einteilung der Geschlechter, übersteigen. Diese Spielräume können dabei zunächst als Abweichungen, Irritationen und Bruch mit der gewohnten Erfahrung, dem normalen oder normierten Verhalten auftreten. Dies spielt sich entweder auf der operativen Ebene des Leibseins ab, also innerhalb der subjektiven Erfahrung der Welt, oder durch eine Objektivierung durch die Blicke und Reaktionen anderer Subjekte, die uns auf das nicht normale oder regelmäßige Verhalten hinweisen. In der Erste-Person-Perspektive
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des operativen Leibseins kommt es dann zu einer Erfahrung der Abweichung zwischen dem, was ein Subjekt gewohnheitsmäßig antizipiert, und dem, was tatsächlich passiert oder erfahren wird. Dies kann wiederum auf Veränderungen in der Körperlichkeit des Subjekts (durch Krankheit, Altern oder neutrale Veränderung in Gestalt und Fähigkeiten) oder der entsprechenden Mitsubjekte bzw. der Umgebung zurückgehen. Eine solche Erfahrung der Abweichung lässt dabei den Körper als Körper für uns thematisch und problematisch werden, in gleicher Weise, wie dies die objektivierenden Blicke und Reaktionen der Anderen tun. Jedoch kann eine solche Problematisierung, die mit einer notwendigen Distanz einhergeht, auch im positiven Sinne zu einer reflexiven Distanz zu unserer Körperlichkeit und operativen Leiblichkeit führen, die es erlaubt, die Regelhaftigkeit und inkorporierten Normen als solche explizit zu machen und letztlich aktiv zu transformieren. Die Fähigkeit, sich vom eigenen leiblichen ‚Innensein‘ abzusetzen und seinen Körper als ‚Körperding‘ wahrzunehmen, wäre somit ein Weg, wie die „Reflexivität den Weg“ in die leibliche Praxis finden könnte (Bedorf 2015, S. 145; vgl. Ingerslev 2013).
5 Fazit: Zwielichtige Leibkörper Körper im Zwielicht sind Träger oder Handlungsfelder von Geschichte, im positiven Sinn eines generativen Prinzips oder der Weitergabe von Kultur, genauso wie negativ als Erscheinungsort vergangener Kämpfe, Machtkonstellationen und Unterdrückungen; zugleich sind dieselben Leibkörper aktiv, wenn auch nicht thematisch oder explizit, an dieser Geschichte praktisch beteiligt: in der Interaktion mit Welt und Anderen werden geschichtliche Strukturen nicht nur angeeignet und eingeübt, sondern auch verschoben und verändert. Körper oder besser Leibkörper sind noch in einem anderen Sinne zwielichtig. Als leibseiende und körperhabende Menschen sind wir nie nur wahrgenommener oder materieller Körper, sondern immer auch der Körper, der wahrnimmt und seine Materialität irgendwie empfindet (vgl. Al-Saji 2010). Zugleich können wir nie vollständig in unserem operativen Leibsein, in unseren Bewegungen und Handlungen, in unserer Gerichtetheit zur Welt aufgehen, immer sind wir auf den Körper, den wir haben, zurückgeworfen, der sich in unser Bewusstsein drängt und unsere Aufmerksamkeit fordert. Zugleich sind wir nie, wie gewöhnliche Körper, an genau einem Ort oder Zeitpunkt, sondern tragen die Vergangenheit als sedimentierte und habitualisierte Geschichte in und mit uns und sind zugleich in Wahrnehmung und Bewegung über den aktuellen Raum und Zeitpunkt hinaus, zwischen Vorher und Nachher, Hier und Dort. Diese Zwielichtigkeit geht mit einer nicht einzuholenden Ambivalenz und Anonymität einher, die Leibkörper zum Angriffspunkt von Macht und Normierung machen: Wie Judith Butler betont, sind wir dadurch von Normen bestimmt, die nicht unsere sind und eine andere Zeitlichkeit repräsentieren. „Die Normen […] sind nicht wirklich meine. Sie kommen nicht mit mir in die Welt; die Zeitlichkeit ihres Erscheinens deckt sich nicht mit der Zeitlichkeit meines eigenen Lebens“
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(Butler 2007, S. 50). Und doch sind diese Normen in meine leibliche Praxis eingeschrieben, von klein an aufgenommen, eingeübt, wiederholt und bestätigt in Interaktionen mit Anderen über Generationen hinweg. Sie werden Teil einer individuellen, wenn auch nicht thematischen personalen Geschichte, Teil der habituellen Schicht des Leibes, wie Merleau-Ponty es nennt, ohne die der aktuell operierende und auf die Welt gerichtete Leib zu keiner einzigen Praxis in der Lage wäre. Dieser habituelle Leib ist es, welcher unsere nie erzählte, nicht narrative, sondern praktisch wirksame Vorgeschichte in sich aufgenommen hat. Wie Butler betont, ist diese Vorgeschichte nicht auf unsere individuelle Erfahrungsgeschichte beschränkt, sondern birgt in sich die Geschichte von Generationen, verschränkt in sich biologische, evolutionäre, kulturelle und soziale Dispositionen und Horizonte. Aufgrund der Situierung des Leibes in der Welt beeinflusst die überindividuelle Geschichte als seine Vorgeschichte implizit jede Erfahrung des Subjekt, kann jedoch nie explizit erfahren oder erinnert werden: Sie ist eine Vergangenheit, „die niemals Gegenwart war“ (Merleau-Ponty 1966, S. 283). Zugleich zeigt sich hier, dass wir auch topographisch sozusagen fremdbestimmt sind: Die Art und Weise, wie wir Raum erleben, ihm einwohnen, unsere Umgebung explorieren oder gestalten können, hängt maßgeblich davon ab, in welche historische oder soziale Situation wir hineingeboren sind, welcher Platz uns zugewiesen wird, welche (öffentlichen) Räume, Plätze wir einnehmen können oder für uns überhaupt zugänglich sind. Strukturen, Diskurse oder Normen sind nur deshalb so mächtig, wirksam und langlebig und verbergen nur deshalb ihre geschichtliche Relativität und Entstehung so effektiv, weil sie Teil unserer zwielichtigen leiblichen Erfahrung sind – nicht nur in der Weise, wie wir uns selbst und andere als Körper wahrnehmen, vielmehr sind sie auch Teil unseres operativen Leibseins, sie formen, wie wir uns bewegen, was uns auffällt, was wir wollen und fühlen. Solche normalen und normalisierten Praktiken und Erfahrungen gehören zur Kontinuität, Sozialität und Identität einer Kultur. Gleichzeitig können sie aber auch zu einer gewaltsamen Normierung und Ausschließung führen. Die Inkorporierung von Geschichte in Form geschichtlicher Normen nimmt so immer auch eine Normierung der Erfahrung vor und bestimmt demzufolge, welche Personen, Ereignisse, Subjekte und Körper für uns in einer gewissen Zeit „von Gewicht“ sind und welche nicht. Gewisse Erfahrungen, Körper und Subjekte, die durch dieses normative Raster oder aus dem Bereich des Wahren und Falschen (d. h. des Beurteilbaren) herausfallen – wie z. B. (transsexuelle) Körper, die in einer herrschenden normativen Matrix nicht repräsentiert sind –, werden schlicht nicht gesehen und gehört oder sogar gewaltsam ausgeschlossen. Die Inkorporierung von Geschichte aktualisiert und stabilisiert so beständig gewisse Normensysteme, ohne dass uns diese Vorgänge transparent werden. Leibliche Erfahrung hat in dieser Hinsicht nicht nur eine ermöglichende, sondern auch eine beschränkende Funktion, sie ermöglicht manche Erfahrungen und verunmöglicht andere, wie Waldenfels es ausdrückt. Nicht die Inkorporierung von Geschichte, das Einschreiben von Normen und Strukturen, ist jedoch das Problem, sondern ihre implizite Wirkungsweise, die uns glauben macht, dass es schon
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immer so war und immer so sein wird, dass die Weise, wie wir erfahren, objektiv, natürlich und universal ist. Dies ist problematisch, da es auf eine Fixierung von Machtkonstellationen hinweist, die Ausdruck einer zu rigiden geschichtlichen Ordnung ist. Das Problem, das hierbei bestehen bleibt, ist, inwiefern eine Ordnung, welche die implizite Grundlage unserer Erfahrung und leiblichen Praxis ist, überhaupt reflexiv thematisch werden kann. In welchem Maße ist Erfahrung überhaupt in der Lage, sich über ihre eigene Selektivität und Ausschließung Rechenschaft abzulegen? Vielleicht liegt die Lösung für dieses Problem weniger in unserer philosophischen Fähigkeit zu reflektieren oder in der Vernunft als vielmehr in unserer leiblichen Erfahrung selbst bzw. unserem zwielichtigen Wesen als Leibkörper. Wie deutlich wurde, liegt bereits innerhalb der Leiblichkeit die Möglichkeit zur Distanz und Reflexion auf die bestehenden Normen. Diese Distanz in der eigenen Selbsterfahrung, diese Dualität im Inneren selbst, ist es, die uns nach Plessner dazu nötigt, unser Verhältnis zu unserer Umwelt, unseren eigenen nicht fixierten (Körper-)Grenzen ständig neu auszuhandeln und zu realisieren. Diese dreifache Verdoppelung aus Leibsein, Körperhaben und der Erfahrung dieses Vermitteltseins von einem „exzentrischen Standpunkt“ (Plessner 1975) aus ist es, was den Menschen generell einer eindeutigen Bestimmung entzieht. Hier zeigt sich, dass leibliche Erfahrung nie vollständig normiert werden kann, anders wären solche Unstimmigkeiten, Brüche, aber auch neue Erfahrungen niemals möglich. Körper als zwielichtige sind demnach nie vollständig topographierbar oder lokalisierbar, sie versammeln in sich die Vergangenheit, die Gewohnheiten und Praktiken ihrer Vorgänger, und weisen zugleich in ihrem Zur-Welt-Sein, in ihrer aktuellen Praxis, immer schon zeitlich und örtlich über sich hinaus. Sie sind damit jeweils geschichtlich bestimmt und durch Machtverhältnisse geprägt, können aber auch im Ausgang wiederum zusammen geschichtsstiftend wirken. Dass der Körper durch die Inkorporierung von Geschichte und seine vergangenen Praktiken eine Geschichte hat, bedeutet zugleich, dass wir mit anderen eine Körpergeschichte teilen, mit denjenigen Menschen, die ähnliche Erfahrungen im Positiven wie im Negativen (z. B. Armut, Mangel, Unterdrückung, Ausgrenzung) gemacht haben. Aus diesem Grund sind wir auf ähnliche Weise sensibel und verletzbar, sind uns ähnliche Dinge wichtig oder unwichtig. Verständnis und gemeinsames Handeln wie auch Widerstand können aus einer solchen geteilten körperlichen Leidens- oder Lebensgeschichte motiviert sein und erwachsen. Doch auch jenseits einer ähnlichen oder geteilten Körperlichkeit, des konkreten Wies der Körperlichkeit, besteht eine allgemeine Ebene der Sensibilität, Verletzlichkeit und leiblichen Offenheit – die wir mit allen Leibkörpern, auch Tieren, teilen. Diese Responsivität und Offenheit für die Anderen und das Andere fußt gerade auf der Zwielichtigkeit der Körper und macht damit (zumindest potenziell) Empathie und Verantwortung im Sinne Levinas’ und Waldenfels’ möglich.
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Zwischen Selbst- und Fremdführung Die Praxis der Freiheit bei Michel Foucault und Maurice Merleau-Ponty Sophia Prinz
Zusammenfassung
Im Zuge seiner Auseinandersetzung mit der Frage der „relativen Freiheit“ des Subjekts gelangt der späte Foucault trotz seiner anfänglichen Abgrenzung gegenüber der Phänomenologie zu einem ganz ähnlichen Schluss wie dreißig Jahre zuvor sein Lehrer Maurice Merleau-Ponty. Das körperliche Subjekt, so die These, wird durch die jeweils vorherrschenden Regierungsdispositive zugerichtet, bildet auf dieser Grundlage jedoch auch das Vermögen aus, sich diesen Ordnungen gegenüber kritisch zu positionieren. Ausgehend von dieser Beobachtung rekonstruiert der Aufsatz Foucaults theoretische Entwicklung von einem diskurstheoretischen, über ein machttherretischen bis hin zu einem praxistheoretischen Körper- und Subjektbegriff und setzt diese verschiedenen Ansätze mit Merleau-Pontys Theorie des „Zur-Welt-Sein“ des Leibes in Beziehung. Der Körper als Gegenstand und Austragungsort historischer Macht-, Wissensund Subjektivierungspraktiken nimmt in Michel Foucaults gesamtem Werk eine zentrale Stellung ein – allerdings mit je unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen. Während sich Foucault in seinen frühen Schriften über den „Wahn“ und das literarische Schreiben vor allem für den „gefallenen Körper“ (Foucault 2001a, S. 320) und das Moment der Transgressivität interessiert hat, nimmt er seit seiner „archäologischen“ Phase in den 1960er Jahren eine nüchternere
S. Prinz (*) Institut für Geschichte und Theorie der Gestaltung, Universität der Künste Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 U. Kadi und G. Unterthurner (Hrsg.), Macht – Knoten – Fleisch, Abhandlungen zur Philosophie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04957-5_3
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Position ein. Ihm geht es nicht länger darum, die körperliche Überschreitung in ihrer Positivität zu erfassen – ein Unterfangen, das, wie er später selbst feststellen wird, nicht gelingen kann –, sondern umgekehrt darum, die modernen humanwissenschaftlichen Diskurse offenzulegen, die den (anormalen) Körper zum Objekt einer wissenschaftlichen Beobachtung und Erkenntnis gemacht haben. Diesen Ansatz, der nach den historischen Bedingungen der Wissens- und Subjektkonstitution fragt, baut Foucault in der darauffolgenden „genealogischen Phase“ weiter aus: Neben den Wissensordnungen untersucht er nun auch jene materiellen „Machttechnologien“, die ganz konkret an den Körper Hand anlegen, um ihn zu züchtigen und zu dressieren. In seinem Spätwerk schließlich widmet sich Foucault erstmals ganz ausdrücklich solchen Praktiken, mit denen das Subjekt auf sich selbst formend einwirken kann. Diese neuerliche Wende hin zur Frage der „Selbsttechnologien“ und der „relativen Freiheit“ des Subjekts wurde zunächst von einigen seiner Kritiker_innen als „heilloser Subjektivismus“ (Habermas 1985, S. 324) abgetan. Wie Foucault selbst jedoch immer wieder betont hat – und in der gegenwärtigen Rezeption auch überwiegend so eingeschätzt wird –, handelt es sich jedoch um eine konsequente Weiterführung seiner Geschichte der Subjektivität in Richtung einer stringenten Theorie der Praxis.1 Unter dem Sammelbegriff „Praxistheorie“ werden in der Sozialtheorie solche Positionen zusammengefasst, die mithilfe des Begriffs der körperlichen Praxis einen Mittelweg zwischen Objektivismus und Subjektivismus einschlagen. Für die Praxistheorie ist die Gesellschaft also weder auf abstrakte soziale Strukturen noch auf bewusst ausgeführte, intentionale Handlungsakte zurückzuführen, wie es die klassischen strukturalistischen, ökonomistischen oder systemtheoretischen Positionen auf der einen und die akteurszentrierten, sozialphänomenologischen Positionen auf der anderen Seite angenommen haben. Demgegenüber geht die Praxistheorie davon aus, dass sich die gesellschaftliche Ordnung in den weitgehend unbewusst ausgeführten körperlichen (Alltags-)Praktiken der Subjekte herausbildet. Entscheidend ist dabei, dass diese unbewussten Praktiken weder als vollständig determiniert noch als völlig frei angesehen werden. Die Praxistheorie nimmt vielmehr an, dass das Subjekt durch seinen wiederholten praktischen Umgang mit seiner sozialen und materiellen Umwelt ein flexibles implizites „Körperwissen“ ausbildet, das allen seinen Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsweisen als generatives Prinzip zugrunde liegt. Das bedeutet, dass die tatsächlich ausgeführten Praktiken zwar immer wieder ähnlichen Mustern folgen, aber situativ variieren können.2
1Foucault
spricht selbst allerdings nicht von „Praxistheorie“, verwendet jedoch den Begriff der Praxis durchgehend. 2Für einen Überblick siehe etwa Reckwitz (2003) sowie Schäfer (2013).
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Wie Andreas Reckwitz in Die Transformation der Kulturtheorien (2000) herausgearbeitet hat, kann die praxistheoretische Perspektive als eine Zusammenführung poststrukturalistischer und phänomenologischer Ansätze interpretiert werden. In diesem Sinne ist auch Foucaults praxistheoretische Weiterführung seines archäologischen und genealogischen Vokabulars als eine Art Rückkehr zum leibphänomenologischen Subjekt- und Körperbegriff seines Lehrers Maurice Merleau-Ponty zu verstehen. Denn obwohl sich Foucault immer wieder vehement von der phänomenologischen Tradition abgegrenzt hat, lässt sich zeigen, dass er – quasi unter der Hand – einige wichtige phänomenologische Grundeinsichten übernommen und lediglich weiter radikalisiert hat. So hatte Merleau-Ponty bereits in seiner Phänomenologie der Wahrnehmung ein weitgehend dezentriertes Subjektmodell anvisiert und sich – die theoretischen Entwicklungen seiner Schüler_innengeneration vorwegnehmend – in den 1950er Jahren sowohl mit dem marxistischen Praxisbegriff als auch mit dem Strukturalismus als möglichem „Ausweg aus der Subjekt-Objekt-Beziehung“ (MerleauPonty 2003b, S. 239) auseinandergesetzt.3 Beide Begriffe, so Merleau-Ponty, versuchen das Zusammenspiel und Wechselverhältnis zwischen der „objektiven“ gesellschaftlichen Ordnung auf der einen und dem „subjektiven“ individuellen Verhalten auf der anderen Seite konzeptuell zu erfassen. Sie lassen uns mit anderen Worten verstehen, „wie wir mit der gesellschaftlich-geschichtlichen Welt kreisförmig zusammengeschlossen sind, sofern sich der Mensch sich selbst gegenüber exzentrisch verhält und das Soziale nur in ihm sein Zentrum findet“ (Merleau-Ponty 2003b, S. 239).4 Mit Bernhard Waldenfels könnte man somit behaupten, dass Foucault „die genetische Phänomenologie“ nicht überwindet, sondern lediglich „mit anderen Mitteln fortsetzt“ (Waldenfels 1983, S. 517). Diese konzeptuelle Nähe wird vor allem an Foucaults spätem Kritikbegriff offensichtlich. Zwar geht er auch in Was ist Kritik? (Foucault 1992) oder „Subjekt und Macht“ (Foucault 2005c) davon aus, dass das Subjekt in seinem Sosein von den vorherrschenden Dispositiven bedingt wird, betont aber, dass es nach Maßgabe ebendieser Subjektivierungsformen über die relative oder bedingte Freiheit verfügt, sich kritisch von seinen Daseinsbedingungen abzusetzen. Ein ganz ähnlicher Gedanke findet sich auch im Freiheitskapitel der Phänomenologie der Wahrnehmung (Merleau-Ponty 1966). In der nun folgenden Rekapitulation des Foucault’schen Körperbegriffs sollen daher auch die jeweiligen Überschneidungen mit und Differenzen zu MerleauPonty genauer herausgearbeitet werden.5 Aus praxistheoretischer Perspektive ist
3Für
eine praxistheoretische Relektüre von Merleau-Ponty siehe etwa Bedorf und Gerlek (2017). Merleau-Ponty als Vordenker der soziologischen Praxistheorie siehe auch Prinz (2017). 5Die vorliegende Rekapitulation beginnt mit der Diskurstheorie der 1960er Jahre. Für eine Analyse der Phänomenologie-Rezeption in Foucaults früheren Schriften zur Literatur und zum Wahn siehe Unterthurner (2007). 4Zu
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dabei vor allem von Interesse, wie Foucault in seinen verschiedenen Schaffensphasen das konstitutive Wechselverhältnis zwischen den äußeren sozialen Ordnungen auf der einen und dem individuellen Körper auf der anderen Seite denkt: also ob und wie er etwa den Vorgang der Inkorporierung reflektiert, ob er ein implizites Wissen kennt und wie viel individuellen Handlungsspielraum er dem einzelnen Subjekt einräumt.
1 Der diskursiv hervorgebrachte Körper Foucault entwirft seine archäologische Diskurstheorie in scharfer Abgrenzung von der Phänomenologie, die in Frankreich seit den 1930er Jahren den Ton der philosophischen Debatten angegeben hatte. Eines seiner wichtigsten Werke, Die Ordnung der Dinge (Foucault 1974), kann daher nicht nur als der Versuch gelten, eine neue Geschichte des Wissens zu begründen, sondern muss zugleich als eine antiphänomenologische „Kampfschrift“ (Lebrun 1991, S. 25) verstanden werden, mit der sich Foucault von seinen eigenen philosophischen Wurzeln lossagen wollte. Auch wenn Foucault nur ganz generisch von der Phänomenologie als solcher spricht, scheint seine Kritik insbesondere gegen Merleau-Pontys Leibphänomenologie gerichtet zu sein. Dieser hatte in der Phänomenologie der Wahrnehmung im Anschluss an Heidegger das „Zur-Welt-Sein“ („être-au-monde“) (Merleau-Ponty 1966, S. 10)6 des wahrnehmenden und praktisch tätigen Leibes als die vorprädikative Möglichkeitsbedingung allen Denkens ausgewiesen. Aus leibphänomenologischer Sicht ist das Subjekt also nicht von vornherein mit transzendentalen Erkenntniskräften ausgestattet, wie es noch die klassische Bewusstseinsphilosophie annahm. Vielmehr erwirbt es seine Wahrnehmungs-, Handlungs- und Erkenntnisfähigkeit erst durch seine tätige Auseinandersetzung mit den praktischen Anforderungen der empirischen Welt. Dem praxistheoretischen Konzept des „Körperwissens“ nicht unähnlich, nimmt Merleau-Ponty dabei an, dass sich diese innerweltlich erworbenen Fähigkeiten in einem kohärent fungierenden Körperschema sedimentieren7 und auch dann „nicht mehr annulliert zu werden [vermögen]“ (Merleau-Ponty 1966, S. 379), wenn der „aktuelle Leib“ dem „habituellen Leib“ nicht mehr entspricht (Merleau-Ponty 1966, S. 107).8 Was Foucault an dieser
6Allerdings
folgt Merleau-Ponty Heidegger nicht in dessen latent negativer Interpretation des Indie-Welt-„Geworfenseins“ und betont stattdessen, dass das „Zur-Welt-Kommen“ der Existenz die Voraussetzung aller subjektiven Handlungsmacht darstellt (Günzel 2007, S. 40). 7Zum Begriff des Körperschemas siehe Kristensen (2012). Tatsächlich lassen sich einige Parallelen zwischen Merleau-Pontys Begriff des Körperschemas und Pierre Bourdieus Habitusbegriff ausmachen. Siehe dazu auch Bongaerts (2003), Crossley (2013) und Prinz (2017, S. 79). 8Diese Persistenz der „Urgewohnheiten“ macht Merleau-Ponty an dem Phänomen des Phantomarms fest (Merleau-Ponty 1966, S. 106 ff.). Bei Bourdieu findet sich mit dem Begriff des „Hysteresis-Effekts“ eine ähnliche Denkfigur. Allerdings interessiert er sich weniger für körperliche Läsionen oder Einschränkungen als für das „Weiterwirken der Erstkonditionierungen“ unter veränderten sozialen Bedingungen (Bourdieu 1993, S. 116 f.).
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Konstruktion bemängelt, hatte schon Merleau-Ponty selbstkritisch als die „schlechte Ambiguität“ (Merleau-Ponty 1973, S. 16) des Leibbegriffs bezeichnet: Denn auf der einen Seite wird das leibliche Subjekt als ein von den empirischen Gegebenheiten der Welt bedingtes Wesen entworfen, andererseits wird ihm aber gerade aufgrund dieser empirischen Bedingtheit eine genuine Erkenntnisfähigkeit zugesprochen.9 Um sich von diesem unentschiedenen Changieren zwischen Empirismus und Transzendentalismus zu distanzieren, entwirft Foucault in der Archäologie des Wissens ein radikal anti-anthropozentrisches und anti-hermeneutisches Theoriemodell, dem zufolge die Genese des Wissens weder aus der „unmittelbaren Fülle“ (Foucault 1981, S. 72) der beobachtbaren Dinge resultiert noch auf das sinnstiftende Bewusstsein des Subjekts zurückgeführt werden kann. Die Bedingungen der Möglichkeit des Denkens und Sagens, so seine These, sind vielmehr in den empirisch beobachtbaren Aussageformationen einer Zeit oder, wie er es nennen wird, dem Diskurs zu suchen. Diese „Aussageformationen“ verweisen dabei nicht auf eine dahinterliegende, hermeneutisch zu entziffernde Bedeutung, sondern sind als anonyme, quasimaterielle „Monumente“ (Foucault 1981, S. 198) zu verstehen, deren Topologie festlegt, welche Phänomene überhaupt zum Gegenstand des Wissens werden können und welche Aussagen in welchem Kontext realisierbar sind.10 Mehr noch: Nicht nur das Sagen und Denken, auch alle anderen körperlichen Praktiken – wie beispielsweise das leibliche Wahrnehmen, das in der Leibphänomenologie allem bewussten Denken und Sprechen vorgelagert ist11 – werden Foucault zufolge von dem anonymen Diskurs vorgezeichnet.12 In
9In
Die Ordnung der Dinge bezeichnet Foucault die Phänomenologie daher auch als einen „Diskurs gemischter Natur“ (Foucault 1974, S. 388). 10Zwar sind diese topologischen Regelmäßigkeiten im Unterschied zur hermeneutischen Bedeutung insofern „unverborgen“, als sie sich an der Oberfläche der Diskurse ablesen lassen, werden aber im Alltagsverständnis nicht als eine das Denken bedingende Instanz wahrgenommen (Foucault 1981, S. 158). Foucault spricht daher auch von dem „positive[n] Unbewußte[n] des Wissens“ (Foucault 1974, S. 11). 11Merleau-Ponty zufolge basieren alle körperlich-mentalen Akte, Verhaltensweisen und Ausdrucksformen auf den primordialen Strukturierungsleistungen der sinnlich-sinnstiftenden Wahrnehmung. In diesem Sinne versteht Merleau-Ponty den wahrnehmenden Leib selbst als eine Art vorprädikativen „Erkenntnisorganismus“ oder als „Erkenntniswerkzeug“ (Merleau-Ponty 1966, S. 273, 403). Ganz ähnlich heißt es auch bei Heidegger in Sein und Zeit: „Alles vorprädikative schlichte Sehen des Zuhandenen ist an ihm selbst schon verstehend-auslegend“ (Heidegger 1927, S. 149). Zum „Primat der Wahrnehmung“ siehe auch Merleau-Ponty (2003a). 12Foucault zieht sich somit keinesfalls auf die Analyse eines „autonomen Diskurses“ zurück, wie ihm manche Kritiker vorgeworfen haben, sondern interessiert sich gerade für das Verhältnis von diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken (Foucault 1981, S. 68, 231). In einem Gespräch mit Raymond Bellour betont Foucault daher nachdrücklich: „[…] eine Beschreibung dieser autonomen Schicht der Diskurse lohnt sich nur, wenn man sie in ein Verhältnis zu anderen Schichten, Praktiken, Institutionen, sozialen und politischen Beziehungen setzen kann. Dieses Verhältnis hat mich immer sehr interessiert“ (Foucault 2001b, S. 756). Allerdings räumt er in der Archäologie des Wissens dem „seriösen“ Diskurs insofern eine primäre Funktion ein, als er die Verknüpfungen und Relationen zwischen den „wirklichen“ Praktiken, Dingen und Aussagen herstellt.
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diesem Sinne stellt er beispielsweise in der Archäologie des Wissens heraus, dass die moderne medizinische Diagnostik nicht aus einer veränderten Beobachtungshaltung des Arztes erwachsen ist, wie er noch in Die Geburt der Klinik angenommen hatte (Foucault 1988). Vielmehr geht er nun davon aus, dass der anonyme klinische Diskurs die heterogenen Elemente der Untersuchungspraxis – die Institution, den Raum, den Arzt, die Krankheit, die Geräte – anders verknüpft und somit einen neuartigen Wahrnehmungsraum eingerichtet hat, der den Körper des Patienten in veränderter Weise sichtbar macht (Foucault 1981, S. 51, 79 f.). Der Körper erscheint in der archäologischen Perspektive somit in zweifacher Weise diskursiv konstruiert: Zum einen bildet er einen Gegenstand des humanwissenschaftlichen Diskurses, der vorzeichnet, was an ihm wie beobachtbar und beschreibbar ist und was als normal oder pathologisch gilt. Zum anderen werden seine scheinbar ureigensten Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeiten von ebenjenen Diskursen allererst hervorgebracht. Das körperliche Subjekt wird somit nicht nur als Erkenntnisobjekt, sondern ebenso als Erkenntnissubjekt von einer übergeordneten diskursiven Ordnung konditioniert. Das Subjekt der humanwissenschaftlichen Beobachtung ist somit ein „determinierter und leerer Platz, der wirklich von verschiedenen Individuen ausgefüllt werden kann“ (Foucault 1981, S. 139). Damit dreht Foucault die leibphänomenologische Argumentationsfigur gewissermaßen um: Nicht der wahrnehmende Leib bildet den Nullpunkt des Weltbezugs,13 es ist vielmehr ein spezifisch ausgewiesener Bereich der „äußeren Welt“, nämlich der seriöse Diskurs, der im Sinne eines „historischen Apriori“14 dem wahrnehmenden, handelnden und denkenden Subjekt seinen Ort in der Welt zuweist. Trotz dieser fundamentalen Differenz der theoretischen Zugangsweisen lassen sich auch einige Parallelen zwischen Archäologie und Leibphänomenologie feststellen. Denn selbst wenn Merleau-Ponty in erster Linie daran interessiert ist, an den Ursprung aller Wahrnehmungs- und Sinnstiftungsprozesse zurückzukehren,15 und 13So
heißt es bei Merleau-Ponty in Das Sichtbare und das Unsichtbare: „[…] mein Leib ist nicht nur ein Wahrnehmungsgegenstand unter anderen, er ist Maßstab für alles, Nullpunkt aller Dimensionen der Welt“ (Merleau-Ponty 1986, S. 314). Husserl spricht ebenfalls vom Leib als „Nullpunkt der Orientierung“ (Husserl 1952, S. 158). 14Die paradoxale Denkfigur des „historischen Apriori“, das „in einer bestimmten Epoche in der Erfahrung ein mögliches Wissensfeld abtrennt, die Seinsweise der Gegenstände, die darin erscheinen, definiert, den alltäglichen Blick mit theoretischen Kräften ausstattet und die Bedingungen definiert, in denen man die Rede über die Dinge halten kann, die als wahr anerkannt wird“ (Foucault 1974, S. 204), übernimmt Michel Foucault in seinen Grundzügen von Merleau-Ponty (Merleau-Ponty 1966, S. 113). Bereits bei Husserl findet sich der Begriff des „historischen Apriori“, meint hier jedoch nicht, dass das Apriori je nach historischer Lebenswelt eine andere Form annimmt, sondern dass die Struktur der Lebenswelt bzw. Historizität eine universelle Gültigkeit besitzt (Husserl 1976, S. 140 ff., 380). 15Ziel der Phänomenologie der Wahrnehmung ist, die grundlegenden Mechanismen der perzeptiven Artikulationsprozesse offenzulegen, durch die das undifferenzierte Rauschen der Welt in eine Vielheit von abgrenzbaren und handhabbaren Gestalten transformiert wird. Da der Leib aber per definitionem immer in einer konkreten Welt situiert und damit stets an eine bestimmte zeitliche
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mitunter dazu tendiert, die Privilegien des Bewusstseins lediglich an den Leib zu delegieren (Waldenfels 1983, S. 177), hat er mit seinem Begriff des Zur-Welt-Seins des Leibes einer grundlegenden Dezentrierung und Historisierung des Subjekts Vorschub geleistet. Denn der so verstandene Leib muss schon deshalb eine historisch und soziokulturell spezifische Gestalt annehmen, weil die empirische Welt, in der er sein Körperschema erwirbt, stets einen historischen und gesellschaftlichen Index aufweist. Die Gesellschaft ist für den Leib also kein Mehrwert, der ihm äußerlich bliebe, sondern stellt immer schon eine Dimension seines fungierenden Körperschemas dar. Dementsprechend heißt es in „Marxismus und Philosophie“: „Die Gesellschaft ist für das Individuum nicht ein erlittener Unfall, sondern eine Dimension des Seins. Das Individuum ist nicht in der Gesellschaft, wie ein Gegenstand in einer Schachtel ist, er [sic] nimmt sie auf sich mittels dessen, was sein Innerstes ist“ (Merleau-Ponty 2000, S. 175). Diese „Einverleibung“ der gesellschaftlichen Ordnung erfolgt über drei Medien des Sozialen: Neben dem sich verhaltenden Leib des Anderen als „erste[m] aller Kulturgegenstände“ (Merleau-Ponty 1966, S. 400) sowie den kulturellen Artefakten (Merleau-Ponty 1966, S. 179, 399) gehört dazu auch die Institution der konventionalisierten oder, wie er es nennt, der „gesprochenen Sprache“ (MerleauPonty 1966, S. 232). Während er diese „gesprochene Sprache“ zunächst noch als Sedimentationen ehemals originärer leiblicher Ausdrucksakte versteht (MerleauPonty 1966, S. 232), entwickelt er in den 1950er Jahren im Rekurs auf Ferdinand de Saussures strukturalistische Linguistik eine differenzielle Sprachtheorie. Demzufolge liegt die Bedeutung in den Worten niemals positiv vor, sondern wird erst durch die regelbasierte Kombination und Rekombination sprachlicher Zeichen hervorgebracht: „Sprechen besagt nämlich nicht, daß man eine gewisse Anzahl von Zeichen zur Verfügung hat, sondern daß man die Sprache besitzt in Form eines Unterscheidungsprinzips, wie groß immer die Zahl der Zeichen sein mag, die sich speziell daraus gewinnen lassen“ (Merleau-Ponty 1984, S. 54). Der Sinn kann somit stets nur negativ, d. h. in dem Dazwischen oder am „Rand der Zeichen“ (Merleau-Ponty 2007, S. 55) entstehen. Ähnlich wie die Poststrukturalisten legt Merleau-Ponty dabei sein analytisches Augenmerk auf den „aktuellen Gebrauch“ der Sprache (parole) und nicht auf ihre überindividuelle Struktur (langue): „[D]ie Sprache ist nicht wie ein Gefängnis, in dem wir eingeschlossen sind, sie ist kein Führer, deren Anweisungen wir blind zu befolgen hätten“ (Merleau-Ponty 1984, S. 121 f.). Merleau-Pontys Konzept der gesprochenen Sprache als Institution stimmt damit in zweifacher Hinsicht mit Foucaults Begriff des Diskurses überein: Erstens interpretieren beide die tatsächlich gesprochene Sprache als eine Art „konkretes“ oder „historisches Apriori“, welches dem Subjekt eine bestimmte Form des Weltbezugs nahelegt. Und zweitens gehen beide davon aus, dass die Bedeutung weder im Bewusstsein präexistiert noch von einer starren Sprachstruktur vorgezeichnet wird. Erst die tatsächlich ausgeübte „diskursive Praxis“, die die „Wörter und
und räumliche Perspektivität gebunden ist, glaubt jedoch Merleau-Ponty im Unterschied zu Husserl nicht daran, dass eine vollständige Reduktion möglich sei (Merleau-Ponty 1966, S. 11).
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Dinge“16 mithilfe historisch spezifischer Regeln zueinander ins Verhältnis setzt, bringt gültige Aussagen hervor. Man könnte also sagen, dass Foucaults Archäologie die leibphänomenologische Analyse insofern radikalisiert, als sie das „Zur-Welt-Sein“, das ein „Zur-Gesellschaft-Sein“ impliziert, auf eine einzige konkrete Instanz, den Diskurs oder die gesprochene Sprache, verengt.17 Praxistheoretisch gesehen hat diese Radikalisierung sowohl Vor- als auch Nachteile. Zu den Vorteilen zählt sicherlich, dass sich die Diskurstheorie noch entschiedener als die Leibphänomenologie von der Bewusstseinsphilosophie lossagt und sich nicht, oder besser: nicht gleichermaßen,18 in eine transzendentalempirische Argumentationsfigur verstrickt. Zudem kann sie noch konsequenter als die Leibphänomenologie aufzeigen, warum und inwiefern das Subjekt als ein historisch und soziokulturell kontingentes Wesen angesehen werden muss. Diesen analyse- und theoriesystematischen Vorteilen stehen aber auch einige Nachteile gegenüber: So impliziert die einseitige Konzentration auf den Diskurs, dass alle nicht-diskursiven Praktiken und Erfahrungen des Subjekts und somit auch der Körper zu Epiphänomenen degradiert werden. Damit bleibt die Archäologie jedoch hinter dem leibphänomenologischen Anspruch zurück, die cartesianische Körper-Geist-Dichotomie mithilfe des Begriffs des Leibes bzw. des leiblichen Verhaltens zu überwinden, und kann dementsprechend auch nicht die Eigenlogik der körperlichen Praxis denken. Der Verzicht auf einen starken Körper- und Erfahrungsbegriff führt ferner dazu, dass der frühe Foucault weder den historischen Wandel noch die (kritische) Aktivität des Subjekts begründen kann. Denn dadurch, dass er vom Individuum und seinen alltäglichen Praktiken abstrahiert und sich allein auf die Regelmäßigkeiten der übergeordneten Denksysteme konzentriert, verliert er aus den Augen, dass die diskursiv konstruierten Denk-, Wahrnehmungsund Erfahrungsangebote von den historischen Subjekten jeweils unterschiedlich aufgegriffen, ausgefüllt und im Grenzfall auch verschoben werden können.
2 Der unterworfene Körper Es mag sowohl an diesen theoriesystematischen Engpässen der Archäologie als auch an seinem wachsenden politischen Engagement liegen, dass Foucault in den darauffolgenden Jahren, seiner „genealogischen“ Phase, von dem latenten
16So
der Titel der französischen Ausgabe von Die Ordnung der Dinge. zufolge ist es der Diskurs, der die Beziehungen und den Zusammenhalt der nicht-diskursiven Praktiken gewährleistet (siehe dazu Foucault 1981, S. 106). 18So haben etwa Dreyfus und Rabinow herausgestellt, dass auch die archäologische Methode insofern ein „Diskurs gemischter Natur“ sei, als sie genauso wie die Leibphänomenologie eine empirische Regelmäßigkeit, nämlich die der Aussageformationen, zur historischtranszendentalen Möglichkeitsbedingung des Bewusstseins erhebt (Dreyfus und Rabinow 1987, S. 119). 17Foucault
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„Textualismus“ der Archäologie Abstand nimmt und sowohl den Aspekt des Körpers als auch die materiellen und sozialen „Hintergrundpraktiken“ in den Blick nimmt (Dreyfus und Rabinow 1987, S. 195). Allerdings bezieht er sich dabei nicht auf Merleau-Ponty, was wohl angesichts seiner eigenen akademischen Laufbahn nahegelegen hätte.19 In seiner Antrittsvorlesung am Collège de France kündigt er stattdessen an, seine archäologische Methode um eine von Friedrich Nietzsche inspirierte Genealogie der Macht ergänzen zu wollen (Foucault 1991, S. 39 ff.).20 Dieser vertrat die anti-idealistische These, dass die historische Genese des Aufklärungssubjekts nicht auf die beständig fortschreitende Entwicklung der menschlichen Erkenntnisfähigkeit zurückzuführen sei, sondern auf die Geschichte antagonistischer gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse. Die (wissenschaftliche) Suche nach der Wahrheit sei demnach nicht von dem hehren Wunsch getragen, „eine im Ursprung verborgene Bedeutung langsam ans Licht zu holen“ (Foucault 2002a, S. 178). Vielmehr sei jedes Deuten lediglich darauf ausgerichtet, „sich mit Gewalt und List eines Regelsystems zu bemächtigen, das in sich keine Wesensbedeutung trägt, und es in den Dienst eines neuen Willens zu stellen, in ein anderes Spiel einzubringen und anderen Regeln zu unterwerfen“ (Foucault 2002a, S. 178). Aus genealogischer Perspektive lässt sich die Geschichte der Wahrheitsregime folglich nicht länger als bloße Abfolge historisch kontingenter Aussageformationen erzählen. Vielmehr zielt die historische Analyse darauf ab, die lächerlichen Zufälle, aberwitzigen Irrtümer und niederen Kämpfe offenzulegen, die einen Wechsel der Diskurse herbeigeführt haben.21 In einem Interview von 1976 bringt Foucault diese neue Analyseperspektive folgendermaßen auf den Punkt: „Gesellschaft wird nicht von Diskursen strukturiert, sondern von Machtrelationen, die nicht nach dem großen Modell der Sprache und der Zeichen zu denken sind, sondern nach der Logik des Krieges und der Schlacht“ (Foucault 2003a, S. 192). In Abgrenzung von juridischen, marxistischen und psychoanalytischen Ansätzen versteht Foucault unter Macht jedoch nicht eine bei einer Klasse oder einer Person lokalisierte repressive Instanz, die präexistierende Praktiken und Subjektivierungsweisen lediglich einschränkt. Vielmehr muss umgekehrt davon ausgegangen werden, dass es sich bei der Macht um eine anonyme, produktive Kraft (Foucault 1977, S. 41, 250) handelt, die das Bewusstsein und das Begehren der Subjekte allererst erzeugt. „Sie [die Analyse] muss zeigen, dass die Macht noch
19Wie
Didier Eribon in seiner Foucault-Biographie anmerkt, hat Foucault Ende der 1940er Jahre keine Vorlesung von Merleau-Ponty versäumt (Eribon 1993, S. 62). 20Auch Merleau-Ponty hat sich – genauso wie nach ihm Foucault – von Nietzsches Empfehlung, die Geschichte der Moral am „Leitfaden des Leibes“ zu untersuchen, anregen lassen (Waldenfels 2000, S. 16), verfolgt mit seinem Leibbegriff jedoch insofern ein anderes Ziel, als er den Körper nicht an die Stelle der Vernunft stellt, sondern vielmehr von einer vorbewussten Vernunft des Leibes ausgeht (Bermes 2004, S. 71). 21So heißt es in „Nietzsche, Genealogie, die Historie“: „Das komplizierte Netz der Herkunft [unser selbst, S.P.] aufdröseln heißt […] entdecken, dass an der Wurzel dessen, was wir erkennen und was wir sind, nicht die Wahrheit liegt und auch nicht das Sein, sondern die Äußerlichkeit des Zufalls“ (Foucault 2002a, S. 172).
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hinterhältiger ist. Dass sie nicht allein darin besteht zu unterdrücken – zu verhindern, Hindernisse aufzurichten und zu bestrafen –, sondern dass sie noch viel tiefer eindringt, indem sie Begehren schafft, Lust hervorruft und Wissen hervorbringt“ (Foucault 2002c, S. 956). Mit Rekurs auf Nietzsches Genealogie kommt für Foucault zudem erstmals der Körper als zentrales Medium der Geschichte ins Spiel. Denn Nietzsche zufolge können die historischen Kräfteverhältnisse nur dann ihre Wirkung entfalten, wenn sie den Körper systematisch besetzen. So heißt es dementsprechend bei Foucault: „Wenn ich an die Mechanik der Macht denke, dann denke ich an ihre kapillare Existenzform, an den Punkt, an dem die Macht den Kern der Individuen angreift, an ihre Körper rührt, sich in ihre Gesten, ihre Einstellungen, ihre Diskurse, ihr Lernen und ihr alltägliches Leben einschaltet“ (Foucault 2002b, S. 915). Diese minutiöse körperliche Dressur vollzieht sich Foucault zufolge innerhalb eines heterogenen Macht-Wissens-Dispositivs, das sowohl diskursive als auch nicht-diskursive Techniken und Prozeduren umfasst. Die genealogische Perspektive erweitert somit gleich in mehrfacher Hinsicht Foucaults bisheriges Geschichtsmodell. Denn während er sich in der diskursanalytischen Phase weder für die nicht-diskursiven Praktiken und „objektiven“ Ordnungen noch für das Subjekt in seiner körperlichen Materialität und den Vorgang der Inkorporierung interessiert hat, widmet er sich nun der Frage, wie das Subjekt durch die körperliche Konfrontation mit den verschiedenen Zwangsmechanismen der Macht-Wissens-Dispositive seine äußeren Daseinsbedingungen in sich aufnimmt. Wie Foucault mehrfach betont, läuft dieser körperzentrierte Subjektivierungsprozess jedoch nicht zwangsläufig gewaltförmig ab. Im Gegenteil: Das moderne Disziplinarregime zeichnet sich gerade dadurch aus, dass es auf die blutigen Gewaltexzesse des Ancien Régime verzichtet und stattdessen mit allumfassenden Überwachungs- und Dressurapparaten das Subjekt dazu anhält, bestimmte körperlich-mentale Praktiken, Selbstverhältnisse und Interaktionsformen kontinuierlich einzuüben. Augenscheinlich wird dies insbesondere am Panoptismus, den Foucault als eine Art Chiffre der modernen Disziplinarmacht interpretiert: Allein durch das ausgeklügelte architektonische „Kalkül der Öffnungen, Wände und Zwischenräume, der Durchgänge und Durchblicke“ (Foucault 1977, S. 222) würde das Subjekt dazu gebracht, sich an die geltenden Normen anzupassen. Im Unterschied zu den klassischen Gesellschaftstheorien, die das moderne Subjekt als ein moralisch-vergeistigtes Wesen und die bürgerliche Herrschaftsform als eine „entkörperlichten“ Modus der Machtausübung verstehen, deutet Foucault die moderne Disziplinarmacht also als eine genuin physische Technologie, die über den „gewaltlosen Zwang“ der Gefängnisse, Schulen und Fabriken sowie der Beichtstühle, Therapeut_ innen und Familien operiert, um das moderne, vernunftbegabte bürgerliche Subjekt zu produzieren. Die Vernunft, die von der modernen Aufklärungsphilosophie als der eigentliche Ort der (Willens-)Freiheit angesehen wurde, erscheint somit als bloßer Effekt einer genuinen körperlichen Unfreiheit. Oder wie es Foucault selbst ausdrückt: „Die ‚Aufklärung‘, welche die Freiheiten entdeckt hat, hat auch die Disziplin erfunden“ (Foucault 1977, S. 285).
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Mit dieser genealogischen Neuausrichtung rückt Foucaults historische Perspektive wieder dichter an die Leibphänomenologie heran. Denn auch Merleau-Ponty nimmt an, dass der Leib durch seine konkreten, äußeren Daseinsbindungen an historisch spezifischer Form gewinnt. Trotz dieser grundlegenden Übereinstimmung schlägt Foucault aber auch hier einen anderen Weg ein: Statt bei den sinnstiftenden Prozessen des individuellen Leibes anzusetzen und die Ausbildung der perzeptiv-praktischen Fähigkeiten als einen wechselseitigen Aushandlungsprozess zwischen Welt und aktivem Leib zu verstehen, führt er das Erlernen körperlicher Praktiken einseitig auf die äußeren Machttechnologien zurück, die formend auf den Körper einwirken. Foucault legt seinem Körperbegriff somit ebenfalls eine radikal dezentrierende Argumentationsfigur zugrunde, welche die äußeren Verhältnisse und Zurichtungsprozeduren als das ursächliche, konkrete Apriori des körperlichen und kognitiven Soseins des historischen Subjekts identifiziert: „Meine Suche geht dahin, dass ich zeigen möchte, wie die Machtverhältnisse materiell in die eigentliche Dichte der Körper übergehen können, ohne dass sie durch die Vorstellung der Subjekte übertragen werden müssen“ (Foucault 2003b, S. 302). Diese Ausrichtung auf die äußeren Bedingungsfaktoren des historischen Körpersubjekts impliziert, dass Foucault auch hinsichtlich der Frage des Raums und der Visualität ein ganz anderes Interesse verfolgt als Merleau-Ponty. Während Letzterer in der Phänomenologie der Wahrnehmung herausarbeitet, wie der Leib seine Umgebung als einen funktionalen Wahrnehmungs- und Tätigkeitsraum für sich erschließt, geht es Foucault allein um die disziplinierenden Effekte der räumlichen Strukturen und Beobachtungsverhältnisse. Damit trifft auch auf die Genealogie zu, was bereits für die Archäologie festgehalten wurde, nämlich dass sie viel pointierter als die akteurszentrierte Leibphänomenologie herausarbeiten kann, wie das Subjekt, sein Körper und seine Erfahrungen durch die sozialen und historischen Dispositive erzeugt werden. Allerdings hat diese analytische Schärfe auch ihren Preis: So versäumt Foucault nicht nur, das Wahrnehmungsvermögen als eine durch die machttechnologische Zurichtung erzeugte körperliche Fähigkeit zu analysieren,22 sondern vermag auch nicht, den Vorgang der Inkorporierung sowie die Abweichung von der Norm zufriedenstellend zu beschreiben. Da Foucault dem Körper, der Psyche und dem Bewusstsein keine Eigenlogik jenseits ihrer Zurichtung durch Macht-WissensDispositive zuspricht, müssten sich die Subjekte allen Dispositiven umstandslos anpassen können. Dass dies jedoch nicht der Fall ist und somit nicht alle körperlichen Subjekte gleichermaßen diszipliniert werden können, macht Foucault selbst immer wieder deutlich – etwa mit seiner Analyse der „Delinquenz“ oder des „Anormalen“. Zwar lassen sich auch diese Praktiken und ihre diskursiven Rahmungen als Effekte des modernen Macht-Wissens verstehen, sie entsprechen jedoch nicht der Norm, die den Machtmechanismen der Disziplinardispositive
22Bereits
Karl Marx hat auf die Verkümmerung der Sinnlichkeit durch die repetitive Maschinenarbeit hingewiesen (Marx 1844, S. 541 f.).
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zugrunde liegt. Eine solche Abweichung von der körperlichen Norm lässt sich jedoch mit dem genealogischen Modell allein nicht erklären. Jedenfalls nicht, wenn es auf die der Genealogie gegenläufigen Annahme eines primordialen „natürlichen“ Körpers verzichten will, der sich gegen seine völlige Vereinnahmung durch die Macht-Wissens-Dispositive sperrt. So wirft etwa Judith Butler Foucault vor, dass er trotz genealogischer Historisierung eine genuine Materialität des Körpers, die der kulturellen „Einschreibung“ vorausginge, implizit vorauszusetzen scheint (Butler 1991, S. 192 ff.). Als Beleg dafür verweist sie u. a. auf Foucaults Text über die tragische Geschichte des in einem katholischen Mädchenpensionat aufgewachsenen „Hermaphroditen“23 Herculine Barbin, dem es nicht gelingt, sich in das streng binär und heteronormativ strukturierte Sexualitätsdispositiv des ausgehenden 19. Jahrhunderts einzufügen (Foucault 2005a). Denn während Herculine mit ihrem „abweichenden Körper“ (Foucault 2005a, S. 147) in der „christlich-weiblichen Eingeschlechtlichkeit“ (Foucault 2005a, S. 148) des Pensionats mit aller Diskretion und Zärtlichkeit aufgenommen worden war, wurde sie nach ihrer „Entdeckung“ durch zwei Männer, einem Priester und einem Arzt, per Gerichtsentscheid dazu gezwungen, eine eindeutige geschlechtliche Identität, nämlich die männliche, anzunehmen – eine Zwangsmaßnahme, die sie schließlich in den Selbstmord treiben sollte. Allerdings lässt sich gerade dieser Text auch anders interpretieren. Denn während Butler in Foucaults Beschreibung die unzulässige Annahme einer „vordiskursiven Mannigfaltigkeit der Körperkräfte“ wittert, die aufgrund ihrer genuinen Materialität „die Regulierungsverfahren der kulturellen Kohärenz stört“ (Butler 1991, S. 193), kann Herculines Unvermögen oder Weigerung, sich den binären Geschlechtercodes zu beugen, auch als eine andere Form der Störung interpretiert werden: als eine Störung, die dann entsteht, wenn ein Körper aus einem Dispositiv (dem „eingeschlechtlichen“ Mädchenpensionat) in ein anderes gerät (das patriarchal strukturierte, heteronormative Sexualitätsdispositv). Auch wenn Foucault selbst diesen theoretischen Schluss nicht explizit zieht, lässt sich an dieser Stelle somit eine potenzielle Entsprechung mit den bereits erwähnten leibphänomenologischen bzw. praxistheoretischen Konzepten des persistenten „Körperschemas“ bzw. „Körperwissens“ ausmachen, wonach ein einmal sozialisierter Körper sich nicht ohne weiteres an neue sozio-materielle Anforderungen anpassen kann. Mit der mangelnden Berücksichtigung der unterschiedlichen „Einverleibung“ der dispositiven Ordnungen und der Zeitlichkeit des „Körperwissens“ ist auch noch eine weitere Schwachstelle des genealogischen Machtmodells verknüpft: die Frage des aktiven Widerstands. Zwar hat Foucault stets nachdrücklich betont, dass die Macht notwendigerweise bestimmte körperliche „Resistenzen“ oder Widerstände hervorruft (Foucault 1987, S. 117; 2002a, S. 179), aber er kann weder mit dem deterministischen Körper- und Subjektbegriff aus Überwachen
23Diese
Bezeichnung übermimmt Foucault aus den historischen Quellen.
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und Strafen noch mit dem antisubjektivistischen Widerstandskonzept aus Der Wille zum Wissen24 ausreichend begründen, warum und inwiefern die historischen Subjekte den diskursiven und nicht-diskursiven Bedingungen ihrer Genese einen Widerstand entgegensetzen können. Er kann mit anderen Worten nicht aufzeigen, welche strategischen Möglichkeiten den sozial marginalisierten und unterdrückten Subjekten zur Verfügung stehen, um die bestehenden Machtverhältnisse zu kritisieren, mit „abweichendem Verhalten“ zu unterlaufen oder gar aktiv zu ihren Gunsten zu verschieben. Allein am Schluss von Der Wille zum Wissen macht er eine Andeutung, wie sich das Subjekt aktiv gegen das Sexualitätsdispositiv abgrenzen könnte: Man muß sich von der Instanz des Sexes frei machen, will man die Mechanismen der Sexualität taktisch umkehren, um die Körper, die Lüste, die Wissen in ihrer Vielfältigkeit und Widerstandsfähigkeit gegen die Zugriffe der Macht auszuspielen. Gegen das Sexualitätsdispositiv kann der Stützpunkt des Gegenangriffs nicht das Sex-Begehren sein, sondern die Körper und die Lüste. (Foucault 1987, S. 187)
Allerdings wird an dieser Stelle nicht so recht deutlich, wie genau sich „die Körper und die Lüste“, die aus genealogischer Perspektive ebenfalls als Erzeugnisse des Macht-Wissens gedacht werden müssen, für einen „Gegenangriff“ gegen das psychoanalytische Diskurskonstrukt des Sex-Begehrens einsetzen lassen.25 Erst im Kontext seiner späteren Auseinandersetzung mit den antiken Selbsttechnologien auf der einen und der (neoliberalen) Gouvernementalität auf der anderen Seite gelingt es ihm, die „relative Freiheit“ des Subjekts in sein Theoriegerüst mit aufzunehmen. Der Körper erscheint nun nicht mehr als bloßes Resultat einer anonymen Zurichtungsprozedur, sondern ebenso als Gegenstand einer aktiven Selbstformung.
3 Zwischen Selbst- und Fremdführung Den Begriff der „Gouvernementalität“ entwickelt Foucault im Zusammenhang mit seinen Untersuchungen zur neoliberalen Regierungskunst, die gewissermaßen als Ergänzungen und Ausdifferenzierung seiner Modernediagnose aus Überwachen und Strafen gelten können. Demnach unterscheidet sich die „politische Vernunft“ des Liberalismus von der rein mikropolitisch agierenden disziplinarischen Zurichtung vor allem dadurch, dass sie auf makropolitischer Ebene versucht, die
24In
Der Wille zum Wissen stellt Foucault die These auf, dass der Widerstand allein aus dem „Dazwischen“ der antagonistischen Kräfteverhältnisse und polyvalenten Diskurse resultiert (Foucault 1987, S. 117), macht aber nicht deutlich, inwiefern in diesem Dazwischen auch widerständige Praktiken und Subjektpositionen entstehen können. 25So fragt etwa Deleuze, ob sich Foucaults Vorstellung einer widerständigen „Körper-Lust“ mit seinem Begriffspaar organloser Körper – (de-territorialisierendes) Begehren deckt (siehe Deleuze 1995, S. 238).
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Bevölkerungsrisiken einzudämmen und die äußeren Bedingungen für den freien, marktförmigen Tausch zu verbessern. Gerade um Letzteres zu gewährleisten, setzt die liberale Gouvernementalität nicht nur auf Zwang, Disziplin und Vereinheitlichung, sondern hält die Subjekte durch indirekte Lenkungsmechanismen dazu an, einen unternehmerischen Geist zu entwickeln und ihre Handlungen an den Gesetzen des Marktes auszurichten.26 Foucault verwendet den Gouvernementalitätsbegriff also zunächst in einem rein gesellschaftstheoretischen Sinne, nämlich als Bezeichnung für die historisch spezifische Form der biopolitisch-liberalen Machtausübung, die mit dem Konzept der Selbsttechnologien, das er demgegenüber im zweiten und dritten Buch seiner Geschichte der Sexualität (Foucault 1989a, b) ausbuchstabiert, auf den ersten Blick kaum etwas zu tun zu haben scheint. Denn Foucault wagte mit diesen letzteren Arbeiten sowohl einen zeitlichen als auch einen thematischen Sprung: Anstatt die historischen Bedingungen des modernen Denkens und der modernen Subjektivität offenzulegen, wendet er sich mit der griechisch-römischen Antike nun einer von ihm bisher noch nicht behandelten historischen Epoche zu. Zudem geht er erstmalig der Frage nach, wie die Individuen durch bestimmte Moralkodizes dazu gebracht werden, sich selbst als ethische Subjekte zu konstituieren. So zeichnet sich die antike Ethik Foucault zufolge gegenüber der christlichen Verbotsmoral vor allem dadurch aus, dass sie die Praktiken, Denkweisen und Selbstverhältnisse der Subjekte nicht zu kontrollieren und zu dominieren sucht, sondern die Individuen lediglich dazu ermuntert, sich durch freiwillig ausgeführte körperliche und mentale Übungen – wie Gymnastik, Gesundheitspflege (vgl. Foucault 1989a, S. 133 ff.), Spaziergänge (vgl. Foucault 2004a, S. 278 f.; 2005d, S. 772), Enthaltsamkeit (vgl. Foucault 1989a, Kap. 2; b, Kap. 4) oder Tagebuchschreiben – zu „freien“, souveränen und glücklichen Subjekten zu entwickeln. In diesem Sinne beschreibt Foucault die antike Ethik als eine „Praxis der Freiheit“ (Foucault 2005e, S. 879), die es dem Einzelnen ermöglich[t], aus eigener Kraft oder mit Hilfe anderer eine Reihe von Operationen an seinem Körper oder seiner Seele, seinem Denken, seinem Verhalten und seiner Existenzweise vorzunehmen, mit dem Ziel, sich so zu verändern, dass er einen gewissen Zustand des Glücks, der Reinheit, der Weisheit, der Vollkommenheit oder der Unsterblichkeit erlangt. (Foucault 2005f, S. 968)
Vor diesem Hintergrund wird nun auch deutlich, was Foucault in Der Wille zum Wissen gemeint haben könnte, als er den Körper und die Lüste als Ansatzpunkte eines Widerstands gegen das Sexualitätsdispositiv deklarierte: Anstatt das vermeintlich „natürliche“ sexuelle Begehren als gegeben hinzunehmen, müssen der
26Foucault
führt diesen gouvernementalen Paradigmenwechsel auf die politische und ökonomische Krise des Keynesianismus zurück. Diese hatte zur Folge, dass sich der ökonomische Diskurs nicht länger an der effizienten Produktion und dem Warentausch als Leitprinzipien orientierte, sondern den unternehmerischen Wettbewerb und die Produktinnovation zu den obersten Zielen der wirtschaftlichen Tätigkeiten erklärte (Foucault 2004b, S. 208).
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Körper und die Lüste zum Gegenstand einer konsequenten Selbstformung gemacht werden.27 Wie Foucault in seinen Vorlesungen der 1980er Jahre Die Hermeneutik des Subjekts, Die Regierung des Selbst und der Anderen und Der Mut zur Wahrheit herausarbeitet, sind diese antiken Praktiken der Selbstsorge stets mit dem Problem verknüpft, einen Zugang zur Wahrheit zu erhalten. Denn im Unterschied zum neuzeitlichen cartesianischen Denken, das das menschliche Subjekt für per se erkenntnisfähig hält, gehen die antiken griechischen bzw. römischen Philosophien seit Platons Alkibiades davon aus, dass eine praktisch-ethische „Sorge um sich“, eine epimeleisthai sautou, die Vorbedingung einer möglichen Erkenntnis seiner selbst und der Welt darstellt. Die ethische Praktik der körperlich-mentalen Selbstsorge ist somit als eine Art „Geistigkeitsvoraussetzung“ für den Zugang zur Wahrheit anzusehen (Foucault 2004a, S. 32). Nach dem Studium der Wahrheitsspiele und ihrem Verhältnis zueinander […] und nach dem Studium der Wahrheitsmechanismen im Verhältnis zu den Machtbeziehungen […] schien sich mir eine andere Arbeit aufzudrängen: das Studium der Wahrheitsspiele im Verhältnis seiner selbst zu sich und der Konstitution seiner selber als Subjekt. (Foucault 1989a, S. 12)
Diese Hinwendung zur Frage der Selbsttechnologien ist somit nicht allein als eine historische Beobachtung zu werten, sondern impliziert auch eine grundlegende theoretische Transformation des Subjektbegriffs. Denn während Foucault in seiner archäologischen und genealogischen Konzeption das Subjekt als bloßes Abziehbild oder „Einfaltung“ des Diskurses und der Machttechnologien entwarf, hebt er nun explizit hervor, dass das einzelne Subjekt die jeweils vorherrschenden Moralvorschriften unterschiedlich interpretieren, inkorporieren und performativ umsetzen kann (Foucault 1989a, S. 36 ff.; 2005d, S. 759). Die historischen Macht-Wissens-Komplexe leiten die Praktiken der Subjekte somit weiterhin an, determinieren sie aber nicht mehr vollständig. Ihnen ist vielmehr ein gewisser Anwendungsspielraum inhärent, der verschiedene Formen der Selbstführung und -interpretation zulässt (Foucault 2005d, S. 759). Das historische Subjekt erscheint somit als ein „relativ freier“ Akteur, der in seinen körperlich-mentalen Selbsttechnologien die „symbolischen Systeme zugleich verwendet und durchkreuzt“ (Foucault 2005d, S. 773). Dieses Konzept der Selbstsorge als Praxis der Freiheit führt er in seinen späteren Texten explizit mit dem Begriff der Gouvernementalität zusammen (Foucault 2004a, S. 314 ff.; 2005b, c, 2012a, S. 18, 64): „Die Gliederung zwischen den Veridiktionsmodi, den Techniken der Gouvernementalität und der Selbstpraktiken ist im Grunde das, was ich immer zu beschreiben versucht habe“ (Foucault 2012b, S. 23).
27In diesem Sinne hält er in Subjektivität und Wahrheit fest, dass die griechische aphrodisia etwas anderes meint als „Sexualität“: „Es geht um Handlungen und Lust, nicht um Begehren. Es geht um die Bildung des Selbst durch Lebenstechniken und nicht um Verdrängung aufgrund von Verboten und Geboten“ (Foucault 2005b, S. 261).
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Die Machtrelationen seien demzufolge gerade nicht als ein irreduzibler Antagonismus widerstreitender Kräfte zu verstehen, wie er noch zu Beginn seiner genealogischen Phase angenommen hat, sondern werden von dem Zusammenspiel der miteinander verwobenen „Selbst-“ und „Fremdführungen“ getragen. In Subjekt und Macht heißt es dementsprechend: Der Ausdruck ‚Führung‘ (conduite) vermag in seiner Mehrdeutigkeit das Spezifische an den Machtbeziehungen vielleicht noch am besten zu erfassen. ‚Führung‘ heißt einerseits, andere (durch mehr oder weniger strengen Zwang) zu lenken, und andererseits, sich (gut oder schlecht) aufzuführen, also sich in einem mehr oder weniger offenen Handlungsfeld zu verhalten. Machtausübung besteht darin, ‚Führung zu lenken‘, also Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit von Verhalten zu nehmen. (Foucault 2005c, S. 286)
Somit existieren Machtverhältnisse im Sinne von „Führung“ gerade dort, wo die relative Freiheit des Subjekts gewährleistet ist, sich selbst – nach Maßgabe der bestehenden gouvernementalen Ordnung – (anders) zu führen: „Wenn es Machtbeziehungen gibt, die das gesamte soziale Feld durchziehen, dann deshalb, weil es überall Freiheit gibt“ (Foucault 2005e, S. 890). Und an anderer Stelle: Macht kann nur über ‚freie Subjekte‘ ausgeübt werden, insofern sie ‚frei‘ sind – und damit seien hier individuelle oder kollektive Subjekte gemeint, die jeweils über mehrere Verhaltens-, Reaktions- oder Handlungsmöglichkeiten verfügen. Wo die Bedingungen des Handelns vollständig determiniert sind, kann es keine Machtbeziehung geben. (Foucault 2005c, S. 287)
Foucault entwirft hiermit ein komplexeres machttheoretisches Modell, wonach die Regierungstechnologien einen mehr oder weniger offenen Möglichkeitsraum einrichten, der eine bestimmte Bandbreite an Handlungsweisen und Erfahrungen zulässt (Foucault 2005c, S. 287). Das historische Subjekt ist demnach weder vollständig von seinen äußeren Bedingungen geformt noch vollständig selbstbestimmt, sondern bildet sich an der Schnittstelle von diskursiven und machttechnologischen „Fremdführungen“ auf der einen und den Praktiken der „Selbstführung“ auf der anderen Seite aus. Wie Foucault in seinem Aufsatz Was ist Kritik? herausstreicht, beschränkt sich die Aktivität des Subjekts aber nicht nur darauf, sich zu den objektiven Zwängen des Dispositivs auf verschiedene Weisen verhalten zu können. Mithilfe der Fähigkeiten, die es innerhalb der bestehenden Regierungsdispositive erworben hat, ist es auch dazu in der Lage, sich kritisch von seinen eigenen Daseinsbedingungen abzusetzen. Diese Kritik ist dabei nicht als ein kognitiver oder sprachlicher Akt zu interpretieren, der auf unerschütterlichen, klar zu benennenden Prinzipien basiert, sondern muss als eine beständige Arbeit an den Möglichkeiten und Grenzen der bestehenden Selbsttechnologien und Macht-Wissens-Regime verstanden werden – als eine körperliche Praxis der Ent-unterwerfung, die stets an die Formen und Regeln der Unterwerfung gekoppelt bleibt. Foucault definiert die Kritik daher auch als „die Kunst nicht dermaßen regiert zu werden“ (Foucault 1992, S. 12),
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d. h., „nicht von denen da“ und „nicht um diesen Preis regiert zu werden“ (Foucault 1992, S. 52). Mit dieser Bestimmung der Kritik als Praxis knüpft er explizit an Kants 1784 veröffentlichten Essay „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ (Kant 1964) an – allerdings nicht in der Tradition der „Analytik der Wahrheit“, die ausgehend von Kants Erkenntnistheorie universell gültige Regeln der Wahrheit zu bestimmen sucht, sondern im Sinne einer „Ontologie der Gegenwart“, d. h. einer kritischen Haltung gegenüber den Daseinsbedingungen der eigenen Existenz (Foucault 2012a, S. 27 ff.). Dass die Auseinandersetzung mit Kant auch seine Analyse der antiken Selbstpraktiken anleitet, wird in der Vorlesung Die Regierung des Selbst und der Anderen deutlich: Dort bindet er Kants Haltung der Kritik an die Tradition der parrhesia zurück, der „freimütigen“ Rede, die als einer der zentralen Bausteine der antiken „Sorge um sich“ gelten kann (Foucault 2012a, S. 439).28 Die parrhesia weise insofern Ähnlichkeiten zur Kritik als Haltung auf, als sie ebenfalls darauf ausgerichtet sei, den Begrenzungen der bestehenden Gouvernementalität und ihren Trägern eine schonungslose Wahrheit entgegenzuhalten29 – und das ungeachtet möglicher negativer Folgen für das Selbst: „Parrhesia [gibt es] immer dann, wenn das Wahrsprechen sich unter solchen Bedingungen vollzieht, daß die Tatsache, daß man die Wahrheit sagt, und die Tatsache, daß sie ausgesprochen wurde, kostspielige Konsequenzen für diejenigen, die die Wahrheit gesagt haben, nach sich ziehen wird, kann oder muß“ (Foucault 2012a, S. 83). Eine solche „kostspielige Konsequenz“ beinhaltete mitunter körperliche Gewalt oder sogar den Tod, wie Foucault unter anderem am Beispiel von Sokrates ausführt. Das „Wahrsprechen“ ist demnach als eine Praxis zu verstehen, die sich aktiv auf die bestehende Gouvernementalität bezieht. Dabei ist weder davon auszugehen, dass sich die parrhesia außerhalb der gültigen Wahrheitsspiele bewegt, noch davon, dass sie jemals ihren Abschluss findet. Vielmehr handelt es sich um eine durch und durch relationale Praxis, die selbst notwendigerweise historisch situiert ist. In diesem Sinne schließt Foucault seine letzte Vorlesung Der Mut zur Wahrheit mit folgenden Worten ab: „Es gibt keine Einsetzung der Wahrheit ohne eine wesentliche Setzung der Andersheit; die Wahrheit ist nie dasselbe; Wahrheit kann es nur in Form der anderen Welt und des anderen Lebens geben“ (Foucault 2012b, S. 438). Und in Die Ethik der Sorge um sich als Praxis der Freiheit heißt es entsprechend: „Der Herrschaft einer Wahrheit entkommt man also nicht, indem man ein Spiel spielt, das dem Spiel der Wahrheit vollständig fremd ist, sondern indem
28Siehe
dazu auch Kertscher (2012). parrhesia hat dementsprechend etwas Gewaltsames an sich: „[B]ei der parrhesia [schlägt] derjenige, der die Wahrheit sagt, diese Wahrheit seinem Gesprächspartner ins Gesicht. Diese Wahrheit ist so heftig, so schroff und wird auf so einschneidende und endgültige Weise gesagt, daß der gegenüberstehende andere nur noch schweigen kann oder vor Wut erstickt oder Zuflucht zu einem ganz anderen Register nimmt, was im Falle von Dionysios in Bezug auf Platon in einem Mordversuch besteht“ (Foucault 2012a, S. 81).
29Die
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man das Wahrheitsspiel anders spielt, indem man ein anderes Spiel, eine andere Partie oder mit anderen Trümpfen spielt“ (Foucault 2005e, S. 895). In seinem Spätwerk relativiert Foucault also nicht nur seine Kritik am Aufklärungssubjekt, indem er die aufklärerische Kritik als eine konkrete Praxis der Veridiktion reformuliert, er gibt zudem seine resolut anti-subjektivistische Haltung auf, um dem Subjekt nunmehr eine „relative Freiheit“ gegenüber ihren gouvernementalen Daseinsbedingungen zuzugestehen. Wie bereits angedeutet, kommt diese „offenere“ Macht- und Subjektkonzeption zum einen den praxeologischen Grundannahmen entgegen, dass sich die Gesellschaft erstens über individuell ausgeführte, aber kollektiv geteilte körperliche Praktiken reproduziert und dass zweitens das Individuum in seinen Praktiken von der Gesellschaft nicht vollständig determiniert wird. Zudem weist Foucaults Konzept der „relativen Freiheit“ des Subjekts erstaunliche Parallelen zu Merleau-Pontys Freiheitsbegriff aus dem letzten Kapitel der Phänomenologie der Wahrnehmung auf. Merleau-Ponty stellt hier im Rekurs auf den frühen, noch humanistisch geprägten Marx heraus, dass die Subjekte zwar durchaus in der Lage seien, ihre Lebensbedingungen aktiv zu beeinflussen oder gar zu transformieren, merkt aber zugleich an, dass das leibliche Subjekt aufgrund seines Körperschemas, das es im Umgang mit ebendiesen „äußeren Strukturen“ erworben habe, stets an seine soziale Herkunft gebunden bleibe. Das freiheitliche Handeln ist aus leibphänomenologischer Sicht also kein voluntaristischer Akt, der die vorgefundene Welt nach Gutdünken umordnen kann, sondern eine Praxis, die sich mit den gegebenen Situationen auseinandersetzen muss, um sie übersteigen oder umgestalten zu können. Was also ist die Freiheit? Geboren werden heißt in eins, aus der Welt geboren werden und zur Welt geboren werden. Die Welt ist schon konstituiert, aber nie ist sie auch vollständig konstituiert. In der ersten Hinsicht sind wir von ihr in Anspruch genommen, in der zweiten offen für unendliche Möglichkeiten. (Merleau-Ponty 1966, S. 514)
Am Ende seiner intellektuellen Laufbahn kehrt Foucault somit zu einem Punkt zurück, von dem er sich mit seiner Archäologie eigentlich entfernen wollte, nämlich zu einem zirkulär argumentierenden Subjektmodell, das in den äußeren, empirischen Bedingungsverhältnissen des Individuums die notwendige Grundlage dafür sieht, dass es die Parameter seines eigenen Bedingtseins in seinen Praktiken verändern kann. Allerdings – und das ist die zentrale Differenz zwischen poststrukturalistischer Gouvernementalitätstheorie und leibphänomenologischem Geschichtsbegriff – legt Erstere trotz zögerlicher Berücksichtigung der körperlich-mentalen „Erfahrungsformen“ und einiger Zugeständnisse an die „Aktivität“ des Subjekts ihren analytischen und theoretischen Schwerpunkt weiterhin auf die subjekt- und praxiskonstitutive Funktion der diskursiven und nicht-diskursiven Strukturen des Dispositivs, während sich die leibphänomenologische Perspektive in erster Linie mit der leiblichen Wahrnehmung auseinandersetzt und dafür die Historizität des Subjekts nicht konsequent ausbuchstabiert. Beide Ansätze können also voneinander profitieren: Foucaults historisches Körper- und Subjektmodell von dem differenzierten Wahrnehmungs- und Erfahrungsbegriff
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der Leibphänomenologie und die leibphänomenologische Wahrnehmungstheorie umgekehrt von der konsequent historisierenden Perspektive des Gouvernementalitätsmodells. Vor diesem Hintergrund ließe sich zum einen herausarbeiten, ob und inwiefern die vorherrschenden gesellschaftlichen Dispositive eine je spezifische sinnliche Ordnung aufweisen, die als historisches Apriori in die körperlich verankerten Wahrnehmungsschemata der darin sozialisierten Subjekte eingeht. Zum anderen ließe sich fragen, wie umgekehrt ein Subjekt aufgrund seines Wahrnehmungswissens, das es durch seine individuelle Dispositivbiographie ausgebildet hat, dem formalen Setting, in dem es aktuell situiert ist, handelnd-wahrnehmend und modifizierend begegnen kann. Eine kritische Haltung, so könnte man im Anschluss daran vermuten, kann bereits mit einer Blickverschiebung beginnen. Das Subjekt kann üben, die Dinge, Personen oder Zusammenhänge anders wahrzunehmen, als es die Dispositive vorsehen.30
4 Ausblick: Das spezifische Außerordentliche Allerdings weist diese praxeologische Bestimmung der Freiheit als relationale Praxis eine systematische Leerstelle auf: die Erfahrung der Kontingenz, des unwillkürlichen Scheiterns oder der genuinen Instabilität von Ordnung.31 Selbst das kritische und das „anormale“ Subjekt erscheinen in Foucaults Perspektive als von Dispositiven und Selbsttechnologien durch und durch konstruierte Wesen, die zwar körperliche Gewalt und Zurichtungsprozeduren über sich ergehen lassen müssen, aber niemals von situativen Erfahrungen irritiert oder aus der Bahn geworfen werden. Foucault rechnet mit anderen Worten nicht damit, dass Macht- oder Selbsttechnologien auch versagen können. Hingegen hat Merleau-Ponty auf den „Schrecken unserer Kontingenz“ (Merleau-Ponty 1966, S. 297) aufmerksam gemacht, der aus einem drohenden Zusammenbruch des eigenen Körperschemas resultiert. Diese Erfahrung macht er jedoch an konkreten physiologischen Beeinträchtigungen – wie etwa einer Amputation – fest und zeigt nicht auf, inwiefern dem Körperschema von vornherein eine genuine Instabilität eingeschrieben ist. Demgegenüber ließe sich jedoch vermuten, dass allen Praktiken und gouvernementalen Ordnungen immer schon ein spezifisches Außerordentliches (Waldenfels 2013, S. 161 ff.) inhärent ist, das neben den aktiven kritischen Praktiken oder unglücklichen Läsionen eine Quelle systematischer Verschiebungen im MachtWissen darstellen kann.
30Siehe
zu diesen beiden Punkten ausführlich Prinz (2014, S. 329 ff.). eine grundlegende Auseinandersetzung mit der Frage der Instabilität in der Praxistheorie siehe Schäfer (2013). 31Für
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Dieses Außerordentliche wäre dabei nicht positiv zu bestimmen, sondern muss als eine strukturell angelegte Bruchstelle des Dispositivs verstanden werden, die unter verschiedenen Bedingungen auftreten kann.32 Wie bereits Judith Butler in Psyche der Macht (Butler 2001) andeutet, ließe sich eine solche Theorie des „spezifisch Außerordentlichen“ im Rekurs auf einen weiteren Ansatz, von dem sich Foucault systematisch abgegrenzt hat, ausformulieren: die Lacan’sche Psychoanalyse. Denn Lacans Modell eines vom symbolischen System gespaltenen Subjekts, das gerade deswegen beunruhigt und heimgesucht werden kann, weil das Symbolische Lücken aufweist und das Imaginäre nie halten kann, was es verspricht, macht deutlich, dass jede Subjektivierungsweise, auch wenn sie mit den gesellschaftlichen Ordnungen konform geht, von einer genuinen Instabilität bedroht ist.33
Literatur Bedorf, Thomas/Gerlek, Selin (Hg.): Phänomenologie und Praxistheorie – eine Verhältnisbestimmung. Sonderband der Phänomenologischen Forschungen. München. Bermes, Christian (2004): Maurice Merleau-Ponty zur Einführung. Hamburg. Bongaerts, Gregor (2003): Eingefleischte Sozialität. Zur Phänomenologie sozialer Praxis. In: Sociologia Internationalis 41/1, 25–53. Bourdieu, Pierre (1993): Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt a. M. (frz. 1980). Butler, Judith (1991): Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a. M. (engl. 1990). Butler, Judith (2001): Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. Frankfurt a. M. (engl. 1997). Crossley, Nick (2013): Habit and Habitus. In: Body & Society 19/2–3, 136–161. Deleuze, Gilles (1995): Begehren und Lust. In: Friedrich Balke/Joseph Vogl (Hg.): Gilles Deleuze. Fluchtlinien der Philosophie. München, 230–240 (frz. 1977). Dreyfus, Hubert L./Rabinow, Paul (1987): Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik. Frankfurt a. M. (engl. 1982). Eribon, Didier (1993): Michel Foucault. Eine Biographie. Frankfurt a. M. (frz. 1989). Foucault, Michel (1974): Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt a. M. (frz. 1966). Foucault, Michel (1977): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a. M. (frz. 1975). Foucault, Michel (1981): Archäologie des Wissens. Frankfurt a. M. (frz. 1969). Foucault, Michel (1987): Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, Band 1. Frankfurt a. M. (frz. 1976).
32So
schreibt auch Deleuze, dass es eine theoretische Herausforderung darstellt, zu begründen, inwiefern allen Machtdispositiven von vornherein „Deterritorialisierungsspitzen“ inhärent seien (Deleuze 1995, S. 233). 33Während Butler das Widerständige allein im Imaginären verortet, scheint es jedoch schlüssiger, Foucaults Dispositiv- und Subjekttheorie mit den drei „Registern“ zusammenzuführen und das Moment des Instabilen in der Differenz bzw. dem Zusammenspiel von Symbolischem, Realem und Imaginärem zu suchen. Siehe dazu auch Prinz (2014, S. 271 ff.).
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4
Körper, Kräfte, Gewohnheiten Foucault mit und ohne Merleau-Ponty Gerhard Unterthurner
Die Aktivität notwendig unbewußter Kräfte: das ist es, was den Körper zu etwas allen Reaktionen, und im Besonderen jeder Reaktion des Ich, die man Bewußtsein nennt, Überlegenem, Höherem macht. (Deleuze 1991, S. 47 f.)
Zusammenfassung
Foucault hat keine allgemeine Theorie des Körpers entwickelt, sondern historische Körperformen analysiert. Seine implizite Körpertheorie kann dabei jedoch zwischen Merleau-Ponty und Spinoza/Nietzsche/Deleuze situiert werden. Im Text werden neben einer Skizze des jeweiligen Ansatzpunktes des Leib/Körper-Denkens bei Merleau-Ponty und Foucault auf einige Nähen und Differenzen hingewiesen. Dabei liegt der Fokus auf Merleau-Pontys Konzepte des Körperschemas und der Gewohnheit (habitude) und die von Foucault thematisierte Disziplinarmacht in Überwachen und Strafen, in deren Rahmen körperliches Üben und Gewohnheitserwerb ebenfalls eine zentrale Rolle spielen. Der für Foucault ebenfalls wichtige Begriff der Kraft in Bezug auf den Körper situiert ihn dann mehr wieder in der Tradition des Körperdenkens von Spinoza/Nietzsche/Deleuze.
G. Unterthurner (*) Universität Wien, Wien, Österreich E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 U. Kadi und G. Unterthurner (Hrsg.), Macht – Knoten – Fleisch, Abhandlungen zur Philosophie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04957-5_4
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Merleau-Ponty und Foucault sind – neben Bourdieu, Butler u. a. – zentrale Referenzautoren der Gegenwart, was das Thema Leib/Körper anbelangt.1 Während die Nähe Bourdieus zu Merleau-Ponty – vor allem wegen der Habitustheorie – naheliegender und offensichtlicher ist, scheinen die Ansätze Merleau-Pontys und Foucaults weiter auseinanderzuliegen. Denn während phänomenologische Autoren wie Merleau-Ponty auf die Erfahrung des Leibes und den gelebten Leib rekurrieren und den Leib als aktiven und bedeutungskonstituierenden in den Blick bringen, scheint Foucault in seinen machttheoretischen Schriften wie Überwachen und Strafen oder Der Wille zum Wissen ihn nur als „Objekt“ einer wissens- und machttechnischen Bezugnahme in den Blick zu bringen, ein passives Objekt, in das sich gesellschaftliche Strukturen einschreiben. Ein Modell, das vom gelebten und erfahrenen Leib ausgeht, scheint einem Einschreibe- bzw. Inskriptionsmodell gegenüberzustehen.2 Und dennoch stellt sich die Frage, ob eine solche Gegenüberstellung nicht zu einfach ist, auch wenn es natürlich stimmt, dass im einen Fall schwerpunktmäßig die Erfahrung stärker in den Vordergrund gerückt wird, im anderen Fall übergreifende historische und soziale Strukturen thematisiert werden, die im Rekurs auf die Erfahrung nicht zu Gesicht kommen.3 Insofern sollen im Folgenden neben einer Skizze des jeweiligen Ansatzpunktes des Leib/KörperDenkens bei Merleau-Ponty und Foucault auf einige Nähen und Differenzen hingewiesen werden. Dabei wird ein Fokus auf Merleau-Pontys Theoreme des Körperschemas und der Gewohnheit (habitude) und die von Foucault thematisierte Disziplinarmacht, in deren Rahmen körperliches Üben und der Gewohnheitserwerb ebenfalls eine wichtige Rolle spielen, gelegt.4
1 Merleau-Pontys grundlegender Ansatzpunkt ist es, dass es das leibliche Verhalten ist, in dem der Bezug zur Welt gestiftet wird. Schon die einfachsten leiblichen Bewegungen wie z. B. Greifen und Zeigen und überhaupt die Motorik sind intentional auf Sinn ausgerichtet (Merleau-Ponty 1966, S. 123 ff., 171), und schon auf der Ebene des Organismus finden sich bedeutungshafte Strukturen und nicht einfach Reiz-Reaktions-Mechanismen. Merleau-Ponty spricht daher vom Leib auch
1Es
ist oft üblich, Foucault, Bourdieu, die feministische Theorie u. a. für das seit Jahrzehnten zentral gewordene Thema des Leibes/Körpers zu nennen (vgl. Gugutzer 2004). Auch in den gegenwärtigen Praxistheorien mit dem Ausgang von der leiblichen Praxis sind Bourdieu und Foucault, aber auch Merleau-Ponty zentrale Referenzautoren (vgl. Bedorf 2015, S. 132 ff.; Prinz 2014). 2Vgl. Grosz (1995, S. 33), die diesen Gegensatz so aufmacht, obwohl sie meint, dass es beider Zugänge bedarf. 3Und natürlich arbeiten PhänomenologInnen wie Meyer-Drawe oder Waldenfels schon lange mit Merleau-Ponty und Foucault (z. B. Meyer-Drawe 1990; Waldenfels 1987). Zu Nähen und Differenzen von Merleau-Ponty und Foucault vgl. auch bspw. Crossley (1996), Oksala (2005), Prinz (2014) und Wehrle (2017). 4Der Fokus ist dabei bei Foucault ein sehr enger, da seine wichtigen Analysen zum sexuellen Körper oder zum biopolitischen Bevölkerungskörper hier nicht thematisch werden.
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als „natürlichem Ich“ (Merleau-Ponty 1966, S. 204), womit gemeint ist, dass der Leib vorpersonal sinnstiftend ist, eine Sinnstiftung, „die nicht die eines universalen konstituierenden Bewußtseins ist“ (Merleau-Ponty 1966, S. 177) und insofern zu einer Dezentrierung des Bewusstseins führt (Meyer-Drawe 1984, S. 135). Leiblichkeit steht daher auch für eine Sphäre der Anonymität und Generalität, die einen in der Welt verankert, sodass Merleau-Ponty auch sagen kann: „[…] als vorpersönliches Zugehören zu einer Form von Welt überhaupt, als anonymes und allgemeines Dasein, spielt mein Organismus im Grunde meiner persönlichen Existenz die Rolle eines angeborenen Komplexes“ (Merleau-Ponty 1966, S. 108 f.).5 In Bezug auf Räumlichkeit bedeutet Leiblichkeit, dass der Leib der Nullpunkt der Orientierung ist und nicht einfach nur ein Körper im Raum (MerleauPonty 1966, S. 125). Immer ist man von einem situativen leiblichen Hier auf die Welt und die Dinge bezogen. Die Eigenleibräumlichkeit wird dabei von MerleauPonty mit dem Begriff des Körperschemas zu erläutern versucht, der eine Antwort auf die Frage darstellt, wie sich die Einheitlichkeit des eigenen Leibes ergibt (Waldenfels 2000, S. 113). Hier geht es auch um die unthematische Erschlossenheit des eigenen Leibes als eines einheitlichen in der Welt. Man „weiß“ normalerweise unthematisch, wo die eigenen Hände und Füße sind und dass sie die eigenen sind, man muss sie nicht erst suchen. Im Gegensatz zu anderen Ansätzen, in denen das Körperschema als eine Vorstellung oder ein Bewusstsein von Körperteilen interpretiert wird, ist das Körperschema bei Merleau-Ponty eine Strukturierung, die sich im leiblichen Bewegen selbst vom Spielraum der Möglichkeiten her ergibt (Merleau-Ponty 1966, S. 125; vgl. Waldenfels 2000, S. 118; Gerlek und Kristensen 2017). Beispiele für Pathologien des Körperschemas wären das Phantomglied, wo ein amputiertes Glied immer noch gespürt, also zum Körperschema gezählt wird, obwohl es faktisch nicht mehr da ist. Das interpretiert Merleau-Ponty als eine Fixierung an eine Vergangenheit mit ihren Möglichkeiten des Verhaltens, in der es das Glied noch gab. Die Amputation steht für einen Verlust an Möglichkeiten, und insofern ist hier ein Nicht-anerkennen-Wollen dieses Verlusts im Spiel, und das amputierte Glied zählt immer noch zum Körperschema. Merleau-Ponty unterscheidet hier die aktuelle von der habituellen Leiblichkeit: Auf der Ebene der habituellen Leiblichkeit „glaubt“ sozusagen der Leib immer noch an sein Glied und die Möglichkeiten, die damit verbunden sind, obwohl dieses auf der aktuellen Ebene nicht mehr zur Verfügung steht (Merleau-Ponty 1966, S. 107). Habituelle Leiblichkeit steht also für ein präreflexives Können, das einen in der Welt verankert, ein Wissen und Verstehen, das nicht ein bewusstes Wissen ist (Merleau-Ponty 1966, S. 174).6 Und darum ist auch jedes „Ich denke“ in einem leiblichen „Ich kann“
5Diese
Formulierungen haben natürlich die Gefahr, den Leib zu einem Quasisubjekt zu machen. Merleau-Ponty spricht in seinem Frühwerk auch noch teilweise eine bewusstseins- bzw. subjektphilosophische Sprache, die er später kritisieren wird (Waldenfels 1983, S. 177). 6Merleau-Ponty entwickelt seine Theorie vor allem am Beispiel pathologischer Fälle, um als Kontrast den „normalen“ Weltbezug beschreiben zu können. Dabei ist eine Schicht des Textes auf eine innere Normativität des Leibes bezogen, der für Merleau-Ponty für ein „sein Gleichgewicht suchendes Ganzes erlebt-gelebter Bedeutungen“ (Merleau-Ponty 1966, S. 184) steht und qua Lebewesen und Organismus „selbst die Normen seiner Umwelt entwirft“ (Merleau-Ponty 1966,
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fundiert, weil jeder bewusstseinsmäßige Selbstbezug dieses verhaltensmäßige Tunkönnen und den mit der Leiblichkeit mitgesetzten Möglichkeitsraum voraussetzt (Merleau-Ponty 1966, S. 166). Dieses präreflexive Können ist qua Habitualisierung geschichtlich, insofern es hier um den Erwerb von Gewohnheiten (habitude) geht. Indem man etwas immer wieder tut, erwirbt man Habitualitäten/Gewohnheiten, die für Merleau-Ponty nicht für ein bewusstes Wissen stehen, das angewandt wird, und auch nicht für einen Automatismus, sondern für „das Vermögen, Situationen gewisser Gestalt in Lösungen eines gewissen Typs zu entsprechen, wobei die Situationen von einem Fall zum anderen sehr verschiedene sein können“ (Merleau-Ponty 1966, S. 172, 174; vgl. Merleau-Ponty 1994, S. 257). Merleau-Ponty bringt u. a. als Beispiele den Tanz, das Autofahren, den Blindenstock, der vom Blinden integriert wird, das Orgelspielen und Schreibmaschineschreiben oder grundlegender schon das Farbenlernen des Kindes – beim Tanz z. B. wird nicht ein bewusstes Wissen einer Bewegungsformel umgesetzt, sondern erwirbt man eine Bewegungsbedeutung (Merleau-Ponty 1966, S. 172 ff., 184). Auch wenn im Einzelnen bewusstes Wissen mitspielt, geht es doch primär um eine Habitualisierung und Eingewöhnung auf präreflexiver Ebene und damit auch um eine Einverleibung von Strukturen. Gewöhnung/Habitualisierung ist dabei auch eine „Verwandlung und Bereicherung des Körperschemas“ (Merleau-Ponty 1966, S. 172). Das Sein-zur-Welt wird erweitert, was bedeutet, „einen neuen Gebrauch [usage] des eigenen Leibes sich zu eigen zu machen“ (Merleau-Ponty 1966, 184) und damit eine neue Welt im Sinne eines Spielraums von Möglichkeiten zu erwerben, und Werkzeuge und Technik müssen ebenfalls als Erweiterung des Möglichkeitsspielraums und des Körperschemas gedacht werden (Merleau-Ponty 1966, S. 173). Möglichkeiten zu erwerben und etwas tun zu können heißt naturgemäß auch, Macht zu haben und Macht zu erwerben, das Subjekt Merleau-Pontys ist daher durch den Primat des „Ich kann“ ein Subjekt der Macht.7 Die Gewohnheiten dieses „Ich kann“-Subjekts führen nun zu einer Stabilität und Vertrautheit der Alltagswelt als die eine Seite des Weltbezugs, deren andere die Spontaneität des Verhaltens ist (Merleau-Ponty 1966, S. 158, 176). Und wegen dieser starken Betonung des Gewohnheitsaspekts kann Merleau-Ponty auch Freiheitskonzeptionen wie die von Sartre kritisieren, die aus seiner Sicht behaupten, man könne von einem Tag auf den anderen ein anderer werden, und nicht die
S. 102) – insofern ist normales Leben in der Nachfolge von Goldstein normatives Leben und auf vitale Normen ausgerichtet. Normalität heißt für Merleau-Ponty vor allem Integration, d. h. möglichst integriertes Verhalten, auch wenn „die Integration niemals eine absolute [ist] und […] immer wieder [scheitert]“ (Merleau-Ponty 1976, S. 243; vgl. Frostholm 1978, S. 141–152). Das „normale Subjekt“ Merleau-Pontys wäre natürlich auf Foucaults Historisierung von Normalität zu beziehen, d. h. auch auf das Verhältnis von vitalen Normen und sozialen Normen (vgl. in Bezug auf Foucault und Canguilhem, für den ebenfalls wie für Merleau-Ponty Goldstein wichtig war, Muhle 2013). 7Diese Auslegung hat theoretische Ansätze im Hintergrund, die Macht als Möglichkeit und TunKönnen fassen (Menke 2003b, S. 288; 2017, S. 8 ff., 42 ff.) – siehe unten.
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Macht der Gewohnheit bzw. von Zwängen beachten (vgl. Merleau-Ponty 1966, S. 501 f.). Die einverleibten Strukturen der Welt sind nicht ein Regelwissen, das man einfach bewusst machen kann und dann bewusst verändern. Und sie sind auch soziale Strukturen, da es kein Individuum jenseits von Klassen gibt – diese gehen nicht im Bewusstsein von ihnen auf, sondern sind eine Weise der Koexistenz (Merleau-Ponty 1966, S. 502 ff.). Der Leib ist daher „nicht als eine vorsoziale und natürliche Instanz zu verstehen, sondern als Resultat einer Reihe von Praktiken der Eingewöhnung“ (Herrmann 2015, S. 80; vgl. Prinz 2014, S. 175 ff.). Leiblichkeit steht zwar auch für die Naturseite des Subjekts und faktische Vorgegebenheit, die aber immer schon kulturell überformt ist, auch wenn sie nie gänzlich darin aufgeht.8 Jedoch ist schon diese Redeweise problematisch: „Es geht schlechterdings nicht an, beim Menschen eine erste Schicht von ‚natürlich‘ genannten Verhaltungen und eine zweite, erst hergestellte und darübergelegte Schicht der geistigen oder KulturWelt unterscheiden zu wollen“ (Merleau-Ponty 1966, S. 224). Gefühle z. B. wie der Zorn, aber auch das Küssen oder die Vaterschaft sind nach Merleau-Ponty erfunden wie Worte, sind Institutionen und stehen für einen jeweiligen kulturellen Gebrauch des Leibes. Alles am Menschen ist daher natürlich und kulturell zugleich (Merleau-Ponty 1966, S. 224). Und daher kann er sagen: „Der Mensch ist eine geschichtliche Idee, keine natürliche Spezies“ (Merleau-Ponty 1966, S. 203). Diese Sozialität und Kulturalität wird jedoch erst nach der Phänomenologie der Wahrnehmung stärker gewichtet und bekommt auch eine dramatischere Seite (Merleau-Ponty 1994). Dabei ist vor allem neben dem Strukturalismus die verstärkte Rezeption der Psychoanalyse, und hier vor allem Klein, Lacan und Schilder, aber auch die Kulturanthropologie Meads, Malinowskis, Lévi-Strauss’ u. a. zentral geworden (vgl. Waldenfels 1994a; Gerlek und Kristensen 2017). D. h., auch Geschichte und Ethnologie werden nun radikaler bedeutsam, da gewisse Strukturen erst dadurch sichtbar werden und man die eigene Zivilisation nur durch Rekurs auf die Geschichte und Zivilisationsvergleich verstehen kann – ein methodisches Vorgehen, das dann für Foucault zentral wird (Merleau-Ponty 1994, S. 104). In Bezug auf den Eigenleib beleuchtet Merleau-Ponty nun in seiner Rezeption der Theorie des Spiegelstadiums von Lacan verstärkt die psychogenetische Seite des Körperschemas, d. h., wie die Einheitlichkeit des eigenen Körpers erst durch die Identifikation mit dem eigenen Spiegelbild entsteht und daher auch für eine grundlegende Entfremdung steht, weil diese Ganzheitlichkeit immer auch imaginäre Aspekte hat (Merleau-Ponty 1994, S. 317 ff.; vgl. Meyer-Drawe 1984, S. 182 ff.). Das Eigene und damit der Eigenleib verliert seine Selbstverständlichkeit radikaler, als es in der Phänomenologie der Wahrnehmung der
8Die Naturseite ist natürlich das „Biologische“ bzw. der Organismus – und „‚Leben‘ die primordinale Seinsart […], die alles ‚Erleben‘ einer Welt erst möglich macht“ –, der zwar in die Existenz integriert ist als „vorgegebenes anonymes Sein“ (Merleau-Ponty 1966, S. 191), aber nicht vollständig, weswegen ich auch „nie ganz mit mir eins sein“ kann (Merleau-Ponty 1966, S. 398).
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Fall war. Und dabei ist die Psychogenese nur die eine Seite, weil individuelle und soziale Faktoren gar nicht getrennt werden können: „Das psychische Privatleben ist bereits institutionalisiert“ (Merleau-Ponty 1994, S. 392). Diese Institutionalisierung heißt, dass die Kultur als „Gesamtheit aller Einstellungen“ innerhalb einer Gesellschaft dem Einzelnen auferlegt wird, womit auch bestimmte „Techniken des Körpers“ impliziert sind (Merleau-Ponty 1994, S. 106, 390 f.). Nun wird auch, was in der Phänomenologie der Wahrnehmung noch als Gebrauch des eigenen Leibes thematisiert wurde, mit Maussʼ Begriff der Körpertechnik angesprochen (Merleau-Ponty 1994, S. 391). So ist auch die Technizität nichts äußerlich zum Leib Dazukommendes, sondern der Körper ist, um es mit Mauss zu sagen, „das erste und natürlichste technische Objekt und gleichzeitig technisches Mittel des Menschen“ (Mauss 1989, S. 206). Von Körpertechniken auszugehen verbietet es einerseits, von einem Arkanum oder Residuum des Leibes auszugehen, das der Kulturalität als Restposten oder unberührte Heimatlichkeit hierarchisch vorausgeht. Das bedeutet jedoch nicht, dass der Leib vollständig in den konstituierten Ordnungen aufgeht, er steht auch für ein Überschussmoment, das Waldenfels mit dem Begriff des „wilden Leibes“ (Waldenfels 1999, 31) fasst.9 Zum anderen bedeutet der Rekurs auf Körpertechniken keine Betrachtung von außen als objektiviertes Körperding, weil der Leib selbst eine „quasi-technicality“ (Casey 1998, S. 213) beinhaltet. Oder wie es konzise Meyer-Drawe sagt: „Wir sind nicht nur unser Leib. Wir bedienen uns auch unseres Körpers, indem wir bestimmte Körpertechniken ausbilden, von denen wir oft nicht mehr wissen, dass es solche sind. […] Es gibt kein natürliches Leben des Körpers. Von Beginn an wird er auf seine Welt eingerichtet“ (Meyer-Drawe 2016, S. 215). Was das Körperschema und das Thema der Gewohnheit anbelangt, zeigt sich hier die dramatischere Seite, insofern die Entwicklung des Körperschemas nicht nur eine Anreicherung und Erweiterung ist, wie es noch in der Phänomenologie der Wahrnehmung geheißen hat.10 Mit der Figur des Polymorphismus werden nun Momente der „Vielförmigkeit in Bezug auf Gestaltungen und Strukturen“ (Waldenfels 2000, S. 178 f.) hervorgehoben, sodass wie bei Freuds polymorphperverser Sexualität, die sich auch nicht einfach auslöscht in der genitalen Sexualität, in neuen Gestalten oder Körperschemas die alten nicht vollständig aufgehoben werden können (Merleau-Ponty 1994, S. 170, 322). Gerade in der Kritik an Piaget geht es Merleau-Ponty darum, an die Entwicklung des Kindes keine Teleologie einer Fortschrittsgeschichte hin zu einer Erwachsenenrationalität anzulegen
9Auch
Bourdieu spricht vom „wilden Körper“, der durch die Sozialisierung zunehmend durch den habituierten Körper ersetzt wird (Bourdieu 1976, S. 199). 10In der Struktur des Verhaltens (1942) schien es zudem, dass die Kindheit vollständig integriert werden könnte und daher „kindliche Stellungnahmen“ (Merleau-Ponty 1976, 203) nur in der Pathologie auftauchen. Liebsch sieht in den Vorlesungen an der Sorbonne ein Gegengewicht gegenüber der starken Betonung von Integration und auch Progression, wie sie noch die Die Struktur des Verhaltens und die Phänomenologie der Wahrnehmung kennzeichnete (Liebsch 1994, S. 184 f.).
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(Merleau-Ponty 1994, S. 190 ff., 240 ff., 258 ff., 271 ff.; vgl. schon Merleau-Ponty 1966, S. 407; vgl. Meyer-Drawe 1984, S. 175 ff.). Insofern könnte man sagen, dass die Entwicklung des Körperschemas und der Gewohnheiten auch eine Verlustgeschichte ist und dass jeder Gewohnheitserwerb nicht nur für ein „Ich kann“ steht, sondern auch für ein „Ich kann nicht (mehr)“.11
2 Die Historizität und Sozialität des Körpers ist nun ein zentrales Thema Foucaults. Mit Foucault gerät man jedoch in ein Klima der Absetzbewegung von der Phänomenologie, die er als eine Theorie eines transzendentalen bzw. sinnstiftenden Subjekts gelesen hat, die es zu verabschieden gilt (Waldenfels 1983, S. 513 ff.).12 Was den Körper anbelangt, hat Foucault dabei nicht den Anspruch, eine allgemeine Theorie des Körpers zu liefern (Gehring 2004, S. 104; Oksala 2005, S. 111). Er analysiert vor allem historische Körperformen, die mit bestimmten Machtverhältnissen verbunden sind und zu einer spezi-
11Das „Ich kann nicht“ war in der Phänomenologie der Wahrnehmung vor allem im Rahmen der Pathologie thematisch geworden. Von Youngs berühmtem Essay Werfen wie ein Mädchen her ergibt sich natürlich die Frage, ob Merleau-Ponty nicht ein Subjekt thematisiert, das zu stark in seinem Leib zu Hause ist. Zumindest zeigt Young, dass Leiblichkeit für Frauen in westlichen Industrienationen zumindest bis in die 1970er Jahre und darüber hinaus durch ihre Sozialisation auch durch ein „Ich kann nicht“ gekennzeichnet war (Young 1993). Ähnliche Fragen ergeben sich von Fanons Analyse des kolonialisierten, d. h. farbigen Leibes her, der immer auf seine Hautfarbe verwiesen ist und daher „in der weißen Welt“ auf „Schwierigkeiten bei der Herausbildung seines Körperschemas“ stößt, das von einem „epidermischen Rassenschema“ bestimmt wird (Fanon 1985, S. 80 f.). Ähnlich meint Bourdieu in Bezug auf die Klassenlage, dass nur das Verhältnis des Bürgers zum Körper ein ungezwungenes ist, während das Verhältnis des Kleinbürgers zum Körper und zur Sprache eines ist, das von „Zaghaftigkeit, Anspannung und Überkorrektheit“ charakterisiert ist (Bourdieu 1993, S. 126). Dies bedeutet keinen grundsätzlichen Einwand gegen Merleau-Ponty, da für diesen wie gesagt der Leib immer schon kulturell überformt ist. Jedoch lassen die „pathologischen“ Beispiele die soziale und geschichtliche Dimension des Leibes und damit der „Normalität“ in den Hintergrund treten. Beispielsweise wurde in Bezug auf Merleau-Pontys Sexualitätskapitel von Butler moniert, ob nicht in der Analyse eines Mannes (der sich nicht für die „körperliche Liebe“ mit Frauen interessiert und dessen erotisches Verstehen in der Merleau-Ponty-Interpretation daher gestört ist) ungeschichtlich Heterosexualität vorausgesetzt wird (Butler 1997; vgl. dazu Stoller 2010, S. 371 ff.; Herrmann 2015). Auch wenn die Kritik Butlers überzogen und teilweise ironisch ist, wird dennoch die Frage nach den Leitfäden und Beispielen, die eine phänomenologische Beschreibung leiten, ins Licht gerückt. Was Männlichkeit und Weiblichkeit anbelangt, schreibt Merleau-Ponty später jedoch klar, dass „die Eigenschaften der Frau und des Mannes […] nicht als natürliche Attribute betrachtet werden [dürfen], sondern als historische Qualitäten“; es gibt „nicht ein ewig Männliches und Weibliches“ (Merleau-Ponty 1994, S. 394) bzw. auch: „Die Libido ist gerade keine eindeutige Ausrichtung auf ein bestimmtes Geschlecht hin, sondern ein phantastischer Polymorphismus, eine Möglichkeit verschiedener ‚sexueller Positionen‘“ (Merleau-Ponty 2000, S. 376). 12Foucaults
scharfe Absetzbewegung täuscht jedoch darüber, dass man sein Denken auch als kritische „Transformation der Phänomenologie“ begreifen kann, die – indem sie die Frage nach der historischen Genese von Sinn radikalisiert – „die genetische Phänomenologie mit anderen Mitteln fortsetzt“ (Waldenfels 1983, S. 488, 517).
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fischen Subjektivitätsform führen, um genealogisch die eigene Gegenwart und Identität radikal infrage zu stellen. Aber auch wenn Foucault den Körper radikal historisiert, sind hier bestimmte allgemeinere Modelle und Leitfäden der Thematisierung des Körpers am Werk, die ihn in einem Spannungsfeld zwischen Merleau-Ponty und Nietzsche/Deleuze situieren. Explizit am nächsten zum phänomenologischen Leibbegriff – bevor er noch seine Analysen in die Genealogie von Nietzsche einträgt – ist Foucault im Radiovortrag „Der utopische Körper“ (1966). Obwohl er zeitgleich in der Ordnung der Dinge (1966) Kritik an der Phänomenologie geübt hat, wo er deren Rekurs auf die gelebte Erfahrung und den Körper in das zu kritisierende anthropologische Denken eingeordnet hat (Foucault 1971, S. 387 f.), übernimmt er hier – ohne Namen zu nennen – einige grundlegende Charakteristika der phänomenologischen Analyse des Leibes. Der Leib ist für Foucault wie in der Phänomenologie der „Nullpunkt der Welt“ (Foucault 2005, S. 34), er ist der Ausgangspunkt der Orientierung; er ist ständig da, man kann ihm nicht entkommen, da man mit ihm eins ist; er ist sichtbar und unsichtbar zugleich (weil er einem immer im Rücken ist); er ist kein Ding, wird aber zum Ding in der Krankheit (Foucault 2005, S. 25 ff., 29 ff.).13 Aber nicht nur Merleau-Ponty ist hier im Hintergrund am Werk, auch Lacan mit seiner Theorie des Spiegelstadiums hat Eingang gefunden, da Foucault davon ausgeht, dass Kinder bis ins erste Lebensjahr einen „zerstreuten Körper [corps dispersé]“ (Foucault 2005, S. 34) haben, der erst durch die Erfahrung des Spiegelbilds Gestalt und Einheit annimmt. Erst der Spiegel wie auch die Leiche lehren, „dass wir einen Körper haben, dass dieser Körper eine Form besitzt, einen Umriss“ (Foucault 2005, S. 35), und diese Einheit bringt die „große utopische Raserei zum Verstummen, die dazu führt, dass unser Körper ständig zerfällt und sich verflüchtigt“ (Foucault 2005, S. 35). Wegen dieser imaginären Ganzheit ist dieser Körper auch ein „Fantom, das nur der Spiegelwelt mit ihren Trugbildern angehört“ (Foucault 2005, S. 30). Foucaults Thematisierung des Körpers wird später eine andere sein, jedoch findet sich hier auch ein zentraler Gedanke von ihm: dass Körper eine Genese haben und eine Vielheit zur Einheit gebracht wird. Während in diesem phänomenologie- und psychoanalysenahen Text die Einheitsstiftung des Leibes jedoch noch von der Spiegel- und Todeserfahrung her gedacht wird, wird diese nun in der Folge von der Besetzung durch Machtverhältnisse her interpretiert. Auch wenn der Körper bei Foucault in seinen Texten der 60er Jahre (wie z. B. in der Geburt der Klinik) oft eine wichtige Rolle spielte (Sforzini 2014, S. 11 ff.; Schneider 2012, S. 261 ff.), zentral für sein Denken wird er im Zuge der expliziten Hinwendung zum Thema Macht und zur Genealogie Nietzsches in den 70er Jahren. Ausgesprochen wird das dabei schon in seinem Text „Nietzsche, die Genealogie, die Historie“ (1971): Hier ist der Leib (corps) der „Ort der Herkunft“, in ihm schreibt sich die Geschichte ein: Der Leib ist die „Oberfläche der
13Vgl. zur Ständigkeit des Leibes, Nullpunkt der Orientierung usw. Merleau-Ponty (1966, S. 115 ff., 123 ff.); vgl. Stoller (2010, S. 93 ff.) Zum „Der utopische Körper“-Text vgl. Klass (2016).
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Einschreibung der Ereignisse [surface d’inscription des événements]“ (Foucault 2002a, S. 174, Übers. geändert), sodass der Genealoge „als Analyse der Herkunft eine Verbindung zwischen Leib und Geschichte“ (Foucault 2002a, S. 174) herstellt. Aber nicht nur das: Der Leib ist auch der „Ort der Zersetzung des Ich (dem er die Schimäre einer substanziellen Einheit zu unterstellen versucht); ein Körper, der in ständigem Zerfall begriffen ist“ (Foucault 2002a, S. 174). Mit Nietzsche steht der Leib bei Foucault für die Dezentrierung des Subjekts, das Bewusstsein ist etwas Abkünftiges, es wird zum Symptom einer Tätigkeit von Kräften (Deleuze 1991, S. 45), sodass der Leib nicht nur dasjenige ist, in das sich Ordnungen einschreiben, sondern auch der Ort des Widerstands gegen Ordnungen und Einheitsstiftungen ist und für ein Überschussmoment steht. Diese beiden Momente – Dezentrierung und Überschussmoment – sind natürlich auch zentral für Merleau-Ponty, wenn auch hier mit Nietzsche radikaler gegen jegliche Form von Bewusstseinsphilosophie und imaginäre Ganzheitsvorstellungen formuliert. Diese Rezeption von Nietzsche bedeutet nun vor allem ein neues Denken der Macht, wie es sich zum ersten Mal in Überwachen und Strafen zeigt. Grundlegender Ausgangspunkt Foucaults ist es dabei, Macht nicht mehr primär negativ zu denken als Verbot oder Unterdrückung/Repression, sondern produktiv als dasjenige, was in Verbindung mit bestimmten Wissensweisen – darum spricht er von Macht/Wissen-Komplexen – allererst Subjekte konstituiert. Machtverhältnisse sind produktiv und erschaffen auf gewisse Weise Wirklichkeit (Foucault 1976, S. 250). Machtverhältnisse wirken daher nicht nachträglich auf ein fertiges Subjekt ein, da „das erkennende Subjekt, das zu erkennende Objekt und die Erkenntnisweisen jeweils Effekte jener fundamentalen Macht-Wissen-Komplexe und ihrer historischen Transformationen bilden“ (Foucault 1976, S. 39).14 Insofern sind die Macht/Wissen-Komplexe der Subjekt-Objekt-Beziehung als Möglichkeitsbedingung vorgelagert, Macht ist als konstitutives bzw. transzendentales Moment zu interpretieren (Oksala 2005, S. 94 f., 103) und bedeutet daher nicht, dass Macht einfach deterministisch oder kausal Subjekte hervorbringt. Diese Konstitution bzw. Produktion von Subjektivitätsformen vollzieht sich nun für Foucault vor allem über den Körper, der Körper ist dasjenige, worin sich die Macht-Wissen-Komplexe einschreiben bzw. was sie besetzen und wodurch eine bestimmte Subjektivitätsform entsteht. Neben „Einschreibung“ (inscription) verwendet Foucault auch Begriffe wie „Besetzung“ (investissement) oder auch „Einpflanzung“ (implantation), die auch auf die Psychoanalyse verweisen, um dieses Verhältnis von Macht-Wissen und Körper zu bestimmen (Foucault 1976, S. 37; 1977, S. 50).15 Einschreibung verweist dabei neben der Schriftmetaphorik auf das 14Mit
diesem produktiven Machtbegriff kann man Foucault in einer Tradition verorten, die von Aristoteles über Spinoza bis hin zu Nietzsche reicht (siehe Saar 2007, S. 234 ff.). 15Foucault hat dabei angemerkt, wie viel sein Denken Deleuzes Nietzsche-Buch (1962) und Deleuzes/Guattaris Anti-Ödipus (1972) verdankt (Foucault 1976, S. 35; 2002b, S. 390). So hat der Anti-Ödipus mit Nietzsche von der Grausamkeit der Kultur gesprochen, die sich in die Körper einschreibt, welche Einschreibung gleichzeitig eine Besetzung der Organe und des Körpers ist
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gewaltsame Moment und Besetzung auf den Kräfteaspekt der Ordnungsstiftung. Auf der Seite des Worin der Einschreibung oder des Was der Besetzung spricht Foucault ganz allgemein von den Körpern (corps) und Kräften (forces) (Foucault 1976, S. 36, 38, 177), die jedoch immer schon in eine Ordnung eingegangen sind bzw. immer schon besetzt sind (siehe unten).16 Nun könnte man meinen, wie auch an Foucault kritisiert wurde, dass die Rede von Einschreibung eine Art natürlichen Körper voraussetzt, in den sich nachträglich die Machtverhältnisse einschreiben – dies würde aber den konstitutiven bzw. produktiven Charakter von Machtverhältnissen nicht beachten.17 Die „politische Besetzung [investissement] des Körpers“ (Foucault 1976, S. 37) bzw. „politische Technologie des Körpers“ (Foucault 1976, S. 34, 209) bedeutet daher nicht, dass die Macht etwas Äußerliches ist, das eventuell einen „natürlichen“ Körper erst nachträglich formt und ihn beeinflusst oder eine ursprüngliche Naturhaftigkeit (oder Triebnatur) unterdrückt:18 Der Clou von Foucaults Machtanalyse ist es gerade, solche Vorstellungen hinter sich zu lassen, die nach dem Modell einer Repression gedacht werden, und stattdessen zu zeigen, dass wie gesagt Macht an der Konstitution von Subjektivität und Körperformen beteiligt ist. Macht geht durch den Einzelnen hindurch, und auf gewisse Weise werden Körper bzw. eine Vielfalt zu Subjekten gemacht (Foucault 2001, S. 43). Daher wird die moderne Seele in bestimmten körperlichen Praktiken erst hervorgebracht, was Nietzsche die „Verinnerlichung des Menschen“ (Nietzsche 1988, S. 322) nennt. Die Seele ist
(Deleuze und Guattari 1974, S. 180, 184, 213, 241). Zur Einschreibung bei Nietzsche siehe Kalb (2000, S. 108 ff.); zur Besetzung bei Freud siehe Laplanche und Pontalis (1973, S. 92 ff.). 16In Der Wille zum Wissen (1976) wird er dann von den Körpern und den Lüsten sprechen (Foucault 1977, S. 187). 17Butler wirft Foucault vor, dass mit der Rede von Einschreibung ein vorkultureller Körper bzw. passives Substrat vorausgesetzt würde (Butler 1991, S. 142 ff., 190 ff.). Man kann jedoch Einschreibung und andere Schriftmetaphoriken verschieden verwenden bis hin zu einem radikal metaphysikkritischen Sinn, wie bei Derrida oder Waldenfels, sodass jede Erfahrung „mit dem Index einer unwiderruflichen Nachträglichkeit“ versehen ist und es keinen selbstpräsenten Ursprung mehr gibt (Waldenfels 1994b, S. 552–556). Zudem: Wenn man die Genese von Ordnungen oder Subjektivität denken will, braucht man Begriffe für das Woraus oder Worin der Ordnung, und es ist nicht selbstverständlich, diesen „Vorbereich“ als Natur oder passiv anzusetzen. Es ist dabei klar, „dass es keinen Terminus zur Bezeichnung dessen gibt, was der Subjektivierung vorausliegt, der nicht selbst bereits eine spezifische Interpretation wäre“ (Ricken 2013, S. 43), was aber nicht bedeutet, dass es eine reine Konstruktion ist. Waldenfels spricht dabei von einem Zu-Ordnenden, das der Ordnung vorausgeht, sich aber nur nachträglich als das thematisieren lässt, was über die Ordnung hinausgeht (Waldenfels 1987, S. 173 f.). Butler rekurriert in späteren Texten selbst auf ein Vor der Ordnung: Sie spricht von Individuen, die zu Subjekten werden (Butler 2001, S. 15 f.) – es ist für sie nun eine notwendige Paradoxie, auf etwas zu rekurrieren, dessen Genese erst erklärt werden soll. 18Oder wenn man einen anderen Begriff des Außen starkmachen will, dann gibt es gar kein vorwegbestehendes Innen, und das Innen wäre eine „Faltung des Außen“ (Deleuze 1987, S. 135).
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daher für Foucault „Effekt und Instrument“ (Foucault 1976, S. 42) von Machtverhältnissen.19 Analog wie die Strukturen und Gestalten bei Merleau-Ponty (oder dann auch bei Bourdieu) schreiben sich also Ordnungen der Macht vorwiegend in den Leib bzw. leibliche Praktiken ein. Foucault hat dabei jedoch auch ähnliche Gegner wie Merleau-Ponty. Genauso wenig wie man bei Merleau-Ponty primär über Vorstellungen/Repräsentationen in der Welt verankert ist – auch das Körperschema ist keine Vorstellung –, genauso wenig ist das bei Foucault der Fall. So kann er sagen: „Meine Suche geht dahin, dass ich zeigen möchte, wie die Machtverhältnisse materiell in die eigentliche Dichte des Körpers übergehen können, ohne dass sie durch die Vorstellung der Subjekte übertragen werden müssen. Wenn die Macht den Körper trifft, so nicht, weil sie zunächst im Bewusstsein der Leute verinnerlicht wurde“ (Foucault 2003a, S. 302). Gegen den marxistischen Ideologiebegriff, der, wie Foucault sagt, „die Machtwirkungen auf der Ebene der Ideologie“ (Foucault 2002d, S. 936) und damit des Bewusstseins ansetzt, geht Foucault davon aus, dass „nichts materieller, nichts physischer, körperlicher als die Ausübung der Macht“ (Foucault 2002d, S. 935) ist.20 Der körpertechnische Zugriff als konstitutives Moment für eine bestimmte Form von Subjekt wird nun in Überwachen und Strafen in Bezug auf einen zentralen Machttypus herausgearbeitet, die Disziplinarmacht.21 Foucault sagt zwar, dass in allen Gesellschaften der Körper von Mächten vereinnahmt wird, doch im klassischen Zeitalter geschieht etwas Neues (Foucault 1976, S. 174). Denn während der Körper der Untertanen in Feudalgesellschaften zuvor derjenige ist, der vom Souverän gemartert und gebrandmarkt werden kann – er ist vor allem eine Oberfläche der Einschreibung von Martern und Strafen, er erhält insofern Male (marques) der Rache bei einer Verurteilung (Foucault 1976, S. 44–90; 2002c, S. 762) –, gilt nun die „Aufmerksamkeit […] dem Körper, den man manipuliert, formiert und dressiert, der gehorcht, antwortet, gewandt wird und dessen Kräfte sich mehren“ (Foucault 1976, S. 174).22 Die Disziplinen stehen
19Mit
dem Modell – dass die Seele ein Produkt gewisser Affektionen bzw. Besetzungen des Körpers ist – wird, so Röttgers, eine klassische Topologie, die die Seele mit einer eigentlichen Tiefe bzw. einem Innen und den Körper mit einer uneigentlichen Oberfläche bzw. einem Außen verbunden hat, umgedreht bzw. aufgelöst. Diese „Depotenzierung des Seelenbegriffs“ als einer innerlichen Tiefe ist für Röttgers auch bei Merleau-Ponty am Werk (Röttgers 1997, S. 151–174). 20Auch Bourdieu wird sich von der Ausrichtung am Bewusstsein und dem Ideologiebegriff absetzen (Bourdieu 2001, S. 227). Alle drei Autoren (Merleau-Ponty, Foucault, Bourdieu) mit ihrer starken Betonung der leiblichen Praktiken bzw. der Praktiken der Einverleibung von Ordnungen sind deshalb so attraktiv für gegenwärtige Praxistheorien, die die Rolle der Körperlichkeit von Praktiken betonen (vgl. Bedorf 2015; Prinz 2014). 21Vgl. die große Studie von Bröckling zu den Disziplinen, der auch auf Parallelen Foucaults zu Weber, Elias und Goffman verweist, für die ebenfalls Disziplinierung ein wichtiges Signum der Moderne ist (Bröckling 1997, S. 12 ff.). 22Zur Zeit von Überwachen und Strafen scheint daher Foucault den Begriff der Einschreibung enger zu fassen im Sinne der Kennzeichnung der Körper in der Folter.
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dabei für die in Militär, Schule, Fabrik, Gefängnis, Klinik dominant werdenden „Methoden, welche die peinliche Kontrolle der Körpertätigkeiten und die dauerhafte Unterwerfung [asujettissement] ihrer Kräfte ermöglichen und sie gelehrig/ nützlich machen“ (Foucault 1976, S. 175). Der Mensch wird hier als Maschine betrachtet (Foucault 1976, S. 174), und dies ist auch ein Verhaltensprogramm, bzw. quasi merleau-pontyanisch gesprochen wird ein neues historisches Körperschema institutionalisiert: Im Gegensatz zu früher wird z. B. der Soldat des 18. Jahrhunderts als „ein formloser Teig“ interpretiert, den man zu einer Maschine im militärischen Drill heranzüchtet. Ein Akt wie das Marschieren wird in die Einzelteile zerlegt, die Haltung des Körpers und seiner Teile wird festgelegt und somit einem „Verhaltensschema“ unterworfen; es geht darum, die effektivste Beziehung zwischen Gesten und Gesamthaltung des Körpers und die beste Abstimmung auf die zu behandelnden Objekte wie Waffen, Instrumente, Maschinen herzustellen (Foucault 1976, S. 195 f.): „Schritt für Schritt hat man die Haltungen zurechtgerichtet, bis ein kalkulierter Zwang jeden Körperteil durchzieht und bemeistert, den gesamten Körper zusammenhält und verfügbar macht und sich insgeheim bis in die Automatik der Gewohnheiten [habitudes] durchsetzt“ (Foucault 1976, S. 173). Insofern arbeitet diese Körperordnung nicht mehr vorwiegend mit Malen oder Zeichen, sondern mit Spuren (traces), die die Dressuren des Körpers in Form von Gewohnheiten (habitudes) im Verhalten hinterlassen (Foucault 1976, S. 170).23 Gewohnheiten ausbilden bedeutet aber, wie oben bei Merleau-Ponty bemerkt, etwas immer wieder tun, wiederholen und es vor allem leiblich tun. Daher betont Foucault als einen entscheidenden Mechanismus das Üben (exercise): „Die Übung ist nämlich jene Technik, mit der man den Körpern Aufgaben stellt, die sich durch Wiederholung, Unterschiedlichkeit und Abstufung auszeichnen.[…] Auf diese Weise gewährleisten sie in der Form der Stetigkeit und des Zwanges sowohl Steigerung wie Beobachtung und Qualifizierung“ (Foucault 1976, S. 208; vgl. 2003b, S. 79 ff.). Das Üben hat natürlich eine lange Vorgeschichte wie z. B. in religiösen Askesetechniken, wird aber nun ein zentrales Element in einer politischen Technologie des Körpers, die nicht mehr wie in der Askese auf die Erlangung eines jenseitigen Heils zielt, sondern auf eine dauernde Unterwerfung (Foucault 1976, S. 209). Das Üben muss dabei auch bestimmte natürliche Erfordernisse, die einem Organismus eigenen Funktionsbedingungen, berück-
23Die
Disziplinen werden in Überwachen und Strafen und zeitgleichen Vorlesungen minutiös analysiert. Durch bestimmte Raumordnungen und die Verteilung und Überwachung von Individuen in Kaserne, Fabrik, Schule, Gefängnis, durch die „Herstellung einer vollständig nutzbaren Zeit“ (Foucault 1976, S. 193), durch Übungen und Dressuren, durch die Normierung des Verhaltens, ausgerichtet an der Leitunterscheidung normal/anormal, usw. entsteht eine „erschöpfende Vereinnahmung des Körpers, der Gesten, der Zeit, des Verhaltens des Individuums“ (Foucault 2003b, S. 77). Die Lebenszeit soll in Arbeitszeit und der Körper in Arbeitskraft für den kapitalistischen Produktionsapparat verwandelt werden (Foucault 2002c, S. 762), eine neue Ordnung, die sich gegen jegliche „Ökonomie der Verausgabung und des Exzesses“ (Foucault 1976, S. 111) – Feste, Faulheit, Lotterie, Nichtsparen, Trunksucht, sexuelle Befriedigung außerhalb der Familie … – richtet (Foucault 2015, S. 260 ff.).
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sichtigen – daher entdeckt die Disziplin auch so etwas wie den „natürlichen Körper“ als einen „Träger von Kräften“ (Foucault 1976, S. 199, 231), der langsam den mechanischen Körper ablöst, wie er noch cartesianische Vorstellungen prägte.24 Insofern ist das oben zum „formlosen Teig“ des Soldaten Gesagte nur halbrichtig, weil es doch auch organismische Bedingungen gibt und die Disziplinen diese zu berücksichtigen haben. Dabei zeigt sich für Foucault auch ein entscheidender Bedeutungswandel in der Geschichte der Gewohnheiten: Während im 18. Jahrhundert der Begriff der Gewohnheit wie z. B. bei David Hume u. a. einen kritischen Charakter hat, da damit die Künstlichkeit von Institutionen und Autoritäten nachgewiesen wird, um transzendente Instanzen zu kritisieren, wird er im 19. Jahrhundert zu einem Begriff, der Herrschaftsordnungen stützt. Nicht mehr geht es darum, die herrschende Moral zu hinterfragen, sondern die Gewohnheit wird präskriptiv verwendet: „Die Gewohnheit ist das, dem sich die Leute unterwerfen müssen“ (Foucault 2015, S. 323). Und dies betrifft vor allem die Besitzlosen. Denn während die Besitzenden sich über den Vertrag aneinander binden und damit ihr Eigentum garantieren, werden die Besitzlosen mittels Gewohnheit an den kapitalistischen Produktionsapparat gebunden (Foucault 2015, S. 323 f.).25 Habitualisierung, Gewohnheitsbildung, Üben sind wie gesagt zentrale Momente der Disziplinierung. Foucault betont, dass damit die Kräfte des Körpers in bestimmte Bahnen gelenkt und Fähigkeiten erworben werden (Foucault 1976, S. 177). Die Disziplinen, das Üben und der Gewohnheitserwerb führen also auch bei Foucault wie bei Merleau-Ponty zu einem „Ich kann“, zu einem Subjekt als Könner, wenn auch mit einem kritischen und historischen Index versehen (Menke 2003b).
3 Von der Phänomenologie Merleau-Pontys aus betrachtet kann man nun Foucaults Analyse der Körpertechniken der Disziplinierung als die Beschreibung eines bestimmten historisch-gesellschaftlichen Körperschemas bzw. einer spezifischen Habitualisierung interpretieren. Das Körperschema hatte schon bei Merleau-Ponty eine Genese, die jedoch zunehmend stärker mit psychoanalytischen Modellen interpretiert wurde, und ist immer schon intersubjektiv bestimmt. Foucault radikalisiert diese intersubjektive Genese, indem er sie mit übergreifenden historischen und gesellschaftlichen Strukturen in Verbindung bringt, die in der
24Die
„Natürlichkeit des Körpers“ und damit der Lebensbegriff als Machtkorrelat wird Foucault nach Überwachen und Strafen in seinen Analysen zur Biomacht weiterverfolgen (vgl. Muhle 2013, S. 172 ff.). 25Gamm verweist darauf, dass Foucault und Hegel mit dem Begriff der Gewohnheit eine bestimmte Konstitution von Subjektivität, wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen, der eine positiv als Fortschritt und der andere negativ als Gewalt, beschreiben und wie daher im Begriff der Gewohnheit „eine ganze Maschinerie von Gewalt wirkt und zur Sichtbarkeit gelangt“ (Gamm 1981, S. 169).
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foucaultschen Interpretation Macht/Wissen-Komplexe sind. Der Machtgesichtspunkt im Sinne Nietzsches ist natürlich eine Schwerpunktverlagerung im Vergleich zu phänomenologischen Analysen.26 Was die Gewohnheit anbelangt, wie sie in der von Foucault analysierten Disziplinarmacht thematisiert wird, kann man von phänomenologischer, aber auch von pragmatistischer Seite einwenden, dass Gewohnheit in Überwachen und Strafen nur im herrschaftsunterstützenden Modus und insofern negativ in den Blick kommt (Wehrle 2017; zum pragmatistischen Gewohnheitsbegriff Rölli 2015; vgl. auch Crossley 1996). Die Phänomenologie hat dagegen einen weiteren Begriff von Gewohnheit bzw. Habitualisierung, insofern Wiederholungsprozesse grundlegend für die Organisation von Erfahrung und damit Subjekt-, Ding- und Weltkonstitution sind und Habitualisierung dafür steht, dass Ordnungen immer verkörpert und einverleibt werden. Foucault auf der anderen Seite macht dagegen den Gewalt- und Machtaspekt von Gewohnheit und Habitualisierung auf (wie überhaupt von Subjektkonstitution), und da sein historisches Philosophieren nicht primär auf allgemeine Bedingungen der Möglichkeit von Ordnungsbildung, sondern auf das historische Apriori spezifischer Ordnungen geht, kann er auch zeigen, dass für einen in der Moderne entstehenden neuen Machttypus bestimmte Gewohnheiten und d. h. körperliche Übungen zentral werden. Foucault selbst, um dies hier hinzuzufügen, ist bekanntlich nicht bei der Analyse der Disziplinarmacht und der negativen Charakterisierung des Übens stehengeblieben. Zum einen hat er kurz nach Überwachen und Strafen bei der Thematisierung der Sexualität den Körper der Lüste und den biopolitischen Körper der Bevölkerung thematisiert, dem auch nichtdisziplinäre Machttechniken entsprechen (Foucault 1977). Zum anderen hat in seinen späten Texten zu den antiken Selbsttechniken auch das Üben einen zweideutigen Charakter erhalten (Foucault 2004). Diese sind jetzt nicht mehr wie in der Analyse der Disziplinarmacht einfach Techniken, um einen an einen bestimmten Apparat zu binden und zu unterwerfen, sondern sie stehen auch für die Möglichkeit, Selbstverhältnisse auszubilden, die neben dem beschränkenden auch einen freiheitsermöglichenden Charakter haben.27 Anstatt jedoch darauf näher einzugehen, sei abschließend noch einmal auf Überwachen und Strafen zurückgekommen, um die Schwerpunktverlagerung von der Phänomenologie zu Nietzsche und zum Machtgesichtspunkt in Bezug auf die Körper noch auf andere Weise in den Blick zu nehmen. Oben wurde gesagt, dass der Körper und seine Kräfte oder besser: die Körper und die Kräfte Foucaults Anzeige dafür sind, was da geformt wird und was sich
26Vgl.
jedoch Gerlek/Kristensen, die den Machtgesichtspunkt, von Deleuze/Guattari herkommend, in Merleau-Pontys Analyse des Körperschemas einschreiben (Gerlek und Kristensen 2017). 27Das Üben erhält daher wie die Praktiken der Subjektivierung einen zweideutigen Charakter, insofern sie disziplinierend und befreiend sein können, wobei befreiend kein Außerhalb von Macht bedeutet, sondern Gegen-Macht (Menke 2003b; Gelhard 2013).
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formt, auch wenn er in Überwachen und Strafen vor allem das Geformtwerden (z. B. als Dressur) betont.28 Dabei bedeutet Disziplinierung einen ganz bestimmten Umgang mit den Kräften des Körpers: „Die Disziplin steigert die Kräfte des Körpers [les forces du corps] (um die ökonomische Nützlichkeit zu erhöhen) und schwächt diese selben Kräfte (um sie politisch fügsam zu machen)“ (Foucault 1976, S. 177). Diese gleichzeitige Steigerung und Schwächung der Kräfte heißt für Foucault: „[…] sie [die Disziplin, Anm. G.U.] spaltet die Macht des Körpers [le pouvoir du corps]; sie macht daraus einerseits eine ‚Fähigkeit‘, eine ‚Tauglichkeit‘, die sie zu steigern sucht; und andererseits polt sie die Energie, die Mächtigkeit, die daraus resultieren könnte, zu einem Verhältnis strikter Unterwerfung“ (Foucault 1976, S. 177) um. Oder wie er auch sagt: Die Kraft des Körpers wird „als ‚politische‘ Kraft zurückgeschraubt und als nutzbare Kraft gesteigert“ (Foucault 1976, S. 284). Dabei ist hier zweierlei zu betonen. Zum einen entdecken wie oben gesagt erst die Disziplinen den Körper als Träger von Kräften, zum anderen verweist der Kraftbegriff auf Foucaults eigene Konzeption von Macht, die als „Vielfältigkeit von Kraftverhältnissen“ (Foucault 1977, S. 113) bestimmt wird.29 Hinter dieser Konzeption der Körper und der Kräfte steht Nietzsche und auch Spinoza (Deleuze 1987, S. 99 ff.; Balke 2004) bzw. eine Traditionslinie, die das Subjekt vom Kraftbegriff her auslegt (Menke 2017). Die Körper werden hier von der Macht, zu affizieren und affiziert zu werden, gedacht. Foucault beschreibt daher die Formung „hinreichend sensibler Körper-Materien, die geeignet sind, im Zusammenspiel mit einer affizierenden Macht zu funktionieren und die dabei ganz ‚unwahrscheinliche‘ Transformationen erleiden“ (Balke 2004, S. 133, 139). Die Spinozaund Nietzsche-Erbschaft zeigt sich dabei, so Balke, auch in der Betonung der Differenz von gleichzeitiger Steigerung und Schwächung der Kräfte, hatte doch Deleuze in seiner Spinoza-Studie ausgeführt, dass „der Schwache […] nicht jemand [ist], dessen Kraft, absolut genommen, vermindert ist“, sondern „der von seinem Tätigkeitsvermögen getrennt bleibt, wie stark auch immer er ist“ – bei Nietzsche wäre es das Reaktivwerden der Kräfte, das Ressentiment (Deleuze 1991, S. 64, 122 ff.; 1993, S. 238; Balke 2004, S. 140).30 Diese Trennung vom Tätigkeitsvermögen, diese Spaltung der Macht des Körpers wird natürlich bei Deleuze allgemein formuliert und in einer grundlegenden Position gebündelt, bei Foucault jedoch auf einen spezifischen historischen Machttypus angewandt.31 28Die
Frage nach dem Sich der Formung bzw. nach den Selbstverhältnissen wird bei Foucault erst später thematisch im Rahmen der antiken Selbsttechniken (Foucault 1986, 2004). 29In späteren Texten zur Antike wird dann jedoch auch die griechische Ontologie, die sich um die Erotik herum ausdrückt, als eine der Kräfte interpretiert (Foucault 1986, S. 58 f., 68). 30Deleuze hat daher mit Spinoza und Nietzsche auch ein „ethisches Kriterium“, insofern es darum geht, „bis zur Grenze dessen zu gehen, was man kann“, d. h. das Affiziertseinkönnen und das Tätigkeitsvermögen zu vergrößern und die lebensverneinenden Affekte zu bekämpfen (Deleuze 1993, S. 238 f.). 31Die Disziplinen bewirtschaften jedoch nicht nur die Kräfte des Einzelkörpers, sie sind auch gegen die Kräfte/Macht gerichtet, die sich aus den Assoziationen der Einzelnen ergeben könnten:
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Körper stehen daher im Feld von Affizierungsverhältnissen, sie affizieren und werden affiziert und erlangen ihre Form und Einheit als durch diese Affizierungsverhältnisse bzw. Kräfteverhältnisse konstituiert. Auch der konstituierte Körper verweist daher auf eine Vielheit, die zu einer Einheit gebracht wurde, er ist „aus einer Vielzahl irreduzibler Kräfte zusammengefügt; seine Einheit ist die eines vielschichtigen Phänomens, ist eine ‚Machteinheit‘“ (Deleuze 1991, S. 46). Und weil die nietzscheanisch-spinozistisch inspirierte Rede von Kräften und Machtverhältnissen auf eine hochdynamische und relationale Ontologie und Wirklichkeitskonzeption verweist (Saar 2007, S. 206 ff.; Gehring 2004, S. 114 ff.), gehen die Körper und Kräfte auch nie vollständig in einer Ordnung auf.32 Dies wäre daher die Basis für Widerstand, wobei dies natürlich nur eine allgemeine Bedingung der Möglichkeit ist und noch nichts über konkrete Widerstände aussagt. Jedoch verweist der Kräftebegriff darauf, dass die Körper in Überwachen und Strafen nicht nur passiv sind (Patton 1997), wie es die foucaultsche Analyse der großen Maschinerie der Zurichtung und Dressur der Körper in Überwachen und Strafen prägt und nahelegt.33
„Unruhen, Aufstände, spontane Organisationen, Zusammenschlüsse – alle Formen horizontaler Verbindung“ (Foucault 1976, S. 282). Die Disziplinen verwandeln die Menge (multitude) der Leute und deren mögliche Macht in eine geordnete Vielheit von getrennten Individuen (Foucault 1976, S. 183, 190, 258, 281 f.). Auch dies könnte man in ein Spinoza-Register einzeichnen, insofern die Disziplinen die Fähigkeit, zu affizieren und affiziert zu werden, die in einer Vermehrung der Tätigkeitsvermögen resultieren könnte, vermindern (vgl. zu Spinoza Rölli 2019, S. 166 ff.). 32Natürlich wurde hier der Vorwurf laut, dass bei Nietzsche alles auf eine Metaphysik oder einen Monismus der Macht zurückgeführt wird. Die neuere Nietzsche-Forschung hat Nietzsche jedenfalls gegen diese Vorwürfe verteidigt, indem sie auf den radikalen Pluralismus bei ihm hinwies. Da Kräfte nie im Singular vorkommen, sondern ausschließlich in Relationen, stellt die bei Nietzsche als Verhältnis von Kräften bestimmte Macht auch kein letztes metaphysisches Prinzip mehr dar (vgl. Müller-Lauter 1971). 33Menke verweist in Bezug auf den Kräftebegriff noch auf einen weiteren Konnex, und zwar dass in der parallel zur Disziplinarmacht entstehenden Ästhetik seit Baumgarten (über Leibniz und Herder bis Nietzsche u. a.) ebenfalls das Subjekt vom Kraftbegriff her ausgelegt wird, insofern es als „ein Selbstverhältnis von und zu Kräften“ bestimmt wird: „Sie [die Ästhetik, aber auch die Disziplin, Anm. G.U.] definiert das Subjekt nicht mehr rationalistisch als Subjekt der Gewißheit, sondern […] als eine von Trieben und Kräften, die sich entwickeln und lenken lassen“ (Menke 2003b, S. 287). Beide (Disziplin und Ästhetik) gehen von einem Vorrang des praktischen Selbstverhältnisses vor jeglichem theoretischen Selbstbezug aus. Kräfte liegen dabei dem Subjekt voraus, das durch die Schematisierung von Kräften und das heißt durch Disziplinierung und Üben zu einem Subjekt von Vermögen und der Praxis, d. h. des „Ich kann“, wird: „Vermögen zu haben, heißt, ein Subjekt zu sein: ein Subjekt zu sein, heißt etwas zu können. […] Während Vermögen durch soziale Übung erworben werden, haben Menschen bereits Kräfte, bevor sie zu Subjekten abgerichtet werden. Kräfte sind menschlich, aber vorsubjektiv“ (Menke 2013, S. 13; vgl. dazu Ricken 2013, S. 44). Insofern ist Subjektivität Macht im Sinne des Tun-Könnens (Menke 2003b, S. 288; 2017, S. 44). Während nun in der Disziplinarmacht die Kräfte in die zunehmende Selbstkontrolle und die Produktivitätssteigerung des Kapitalismus eingespannt werden, verweisen die unbewussten Kräfte, wie in der ästhetischen Erfahrung thematisiert, auf eine letztliche Undisziplinierbarkeit und Exzessivität des „Lebens“, die nichtnormativ, nichtmechanisch und ohne biologische Zweckmäßigkeit ist (Menke 2003a, S. 120 f.).
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Diesen Gesichtspunkt der Kräfte hier zu betonen ist natürlich eine Interpretation, die stärker von Deleuze, Balke und Menke herkommt.34 Bei Foucault selbst jedoch ist die Rede von Kräfteverhältnissen eher der Gesichtspunkt und Hintergrund seiner konkreten Analysen. Foucault hat das daher in Bezug auf den Leib/Körper auch nicht näher ausgeführt, wie es beispielsweise Deleuze mit Spinoza oder Nietzsche getan hat. Er hat wie oben gesagt nicht den Anspruch, eine allgemeinere Theorie des Leibes/Körpers zu liefern, sein Erkenntnisinteresse richtet sich auf die Analyse historischer Formen des Körpers. Jedoch verweist der Kräftebegriff auf eine Dimension des Körpers, die nicht in den konstituierten Formen aufgeht.35 Was hier aber, um abschließend auf die Phänomenologie zurückzukommen, auch allgemeiner auf dem Spiel steht, ist das Verhältnis von Sinn/Bedeutung/Form und Kraft/Macht. Derrida hat in den 1960er Jahren der Phänomenologie vorgeworfen, dass „das Denken der Intensität oder der Kraft, das Denken der Macht“ (Derrida 1976, S. 48) in ihr fehlt.36 Foucault und andere wie Deleuze oder Lyotard – und Letztere auch mit einem systematischen Interesse an einer Theorie des Körpers in ihrer Auseinandersetzung mit und Kritik an der Psychoanalyse – haben den nietzscheanischen Kraftbegriff (und damit verbunden Begriffe wie Intensität, Affekt, Begehren oder Lust) gegen an Sinn und Bedeutung orientierte Analysen ins Spiel gebracht. Dieser lässt sich nicht einfach eintragen in eine Sprache von Sinn/ Bedeutung oder auch einen Begriff des Leibes, der diesen als primär sinnstiftend und welterschließend fasst.37 Damit ist hier natürlich nur ein Problemhorizont
Kraft wird hierbei grundlegend gedacht zu einem Verweis auf eine radikale Unbestimmtheit und Negativität des Lebens (Menke 2015, S. 150 ff.). Insofern überschreitet die ästhetische Erfahrung die disziplinäre Macht und auch biologische Fassungen des Lebens (Menke 2015, S. 157; 2018, S. 41 ff.). Dazu muss hier bemerkt werden, dass Menke Foucaults Disziplinen enthistorisiert, insofern diese hier für den Übergang vom Vorsubjektiven zum Subjekt verwendet werden (Menke 2013, S. 151; 2017, S. 46 ff.) – PhänomenologInnen werden wohl eher von Habitualisierung sprechen. Foucault hat auch keinen Lebensbegriff, der auf gewisse Weise affirmativ ist wie bei Menke, da Leben bei Foucault nur das Korrelat der Biomacht ist. 34Deleuze hat hier jedoch eine Ebene unterhalb der Dispositive bzw. Ordnungen der Macht, die Foucault analysiert, eingezogen, eine Ebene von mikrologischen und virtuellen Kräften, die den Macht/Wissen-Komplexen entgehen (siehe Krause und Rölli 2005). 35Wie oben gesagt, verweist bei Menke der Kraftbegriff auch auf eine bestimmte Erfahrung und bei Deleuze auf eine genetische Theorie der Erfahrung (Rölli 2003, S. 386 ff.), was eine Schnittstelle mit dem Erfahrungsbegriff in der Phänomenologie ist. 36Auch Ricœurs Verteidigung der freudschen Energetik und des Vokabulars der Kraft gegen eine zu direkt vorgehende Phänomenologie und Hermeneutik widersetzte sich der Reduktion von Kraft (und des ökonomischen Gesichtspunkts) auf Sinn (Ricœur 1974). 37Analog formuliert von Cremonini in Bezug auf die Psychoanalyse: „Während der phänomenologisch gedachte Leib also die Welt der Objekte erschließt, erschließen der unbewusste Triebleib […] die (Un)Welt der Begehrensobjekte“ (Cremonini 2012, S. 193). Auch der deleuzesche „Körper ohne Organe“ konfrontiert, so Schaub, den phänomenologischen Leib mit der „extremsten Möglichkeit, überhaupt nicht länger integraler Leib sein zu können“ (Schaub 2012, S. 303). Vgl. Kristensen (2016). Dies bezieht sich v. a. auf den Leibbegriff der Phänomenologie der Wahr-
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genannt, auf den Foucaults Körper verweisen und wo auch Foucaults Analysen zur Sexualität einbezogen werden müssten.38
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„Der Körper ist der kleine utopische Kern, der Mittelpunkt der Welt“ Von anderen Räumen und Körpern bei Michel Foucault und Roland Barthes Tobias Nikolaus Klass
Zusammenfassung
Wer an „Körper“ bei Foucault denkt, denkt an gepeinigte, disziplinierte, reden gemachte, kurz: durch und durch fremdkonstituierte Körpermaschinen. Für die Idee irreduzibler Eigenleiblichkeit, für einen Leib, der Nullpunkt der Erfahrung ist, als Zwischenreich die Tür zum anderen öffnet, o.Ä. bleibt da wenig Raum. Nur an einer Stelle blitzt eine Idee von „Leiblichkeit“ auch bei Foucault auf, die sich auf verwirrende Weise vom sonstigen Werk abhebt: im kleinen Radiovortrag „Le corps utopique“ von 1966. Dieser ist in direkter Nachbarschaft und zeitlicher Nähe zum berühmten Vortrag „Les hétérotopies“ entstanden, ohne freilich, dass Foucault je beide Texte aufeinander bezogen hätte. Eben dies wird im ersten Teil des vorliegenden Textes nachgeholt, zum einen, um das besondere Verhältnis von Raum und Körper im Denken Foucaults dieser Zeit besser verstehen zu können; und zum anderen, weil beide an sich änigmatischen Konzepte von „anderem“ Raum und „anderem“ Körper einander gegenseitig erhellen. Dabei kommt nicht nur ein anderes Verständnis von Körperlich- oder auch Leiblichkeit in Foucaults Werk, sondern auch ein „utopisches“ und damit politisches Denken zum Vorschein, das Foucault selbst weder gesehen noch weiter verfolgt hat. Erstaunlicherweise lassen sich aber Ansätze genau dazu bei Roland Barthes finden, vor allem in seinen ersten Texten und Vorlesungen nach Antritt seiner Stelle am Collège de France, die auch als eine Hommage an Foucault verstanden werden können, dessen Engagement Barthes zu einem nicht unwesentlichen Teil seine Stelle am Collège de France verdankt. Wie Barthes hier das utopische Projekt, das Foucault
T. N. Klass (*) Philosophisches Seminar, Bergische Universität Wuppertal, Wuppertal, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 U. Kadi und G. Unterthurner (Hrsg.), Macht – Knoten – Fleisch, Abhandlungen zur Philosophie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04957-5_5
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mit seinen Konzepten von „anderem Raum“ und „utopischem Körper“ zu denken möglich gemacht hat, auszubuchstabieren versucht, darum geht es im zweiten Teil meiner Überlegungen.
1 Einleitung Michel Foucaults Körperbegriff, wie er – als eine von Disziplinartechniken geformte Apparatur – vor allem aus seinen Schriften der 1970er Jahre bekannt ist, scheint denkbar weit entfernt von Merleau-Pontys reichen und vielgestaltigen Ausdifferenzierungsversuchen der phänomenologischen Leib-Körper-Differenz. Zwar ist auch bei Foucault die Logik des Körpers stets gebunden an eine Logik des Raums bzw. der räumlichen Entfaltung; doch bleiben sowohl sein Körper- als auch sein Raumbegriff fundamental antiphänomenologisch. Ein Zusammendenken oder auch nur ein Vergleich beider Ansätze scheint daher von Anfang an zum Scheitern verurteilt (vgl. Schneider 2019). Dass es gleichwohl sinnvoll ist, Foucaults Raum- und Körperverständnis vor dem Hintergrund phänomenologischer Grundintuitionen zu thematisieren, liegt vor allem an einer kurzen Phase Mitte der 1960er Jahre in Foucaults Denken, in der dieser – überraschenderweise in Auseinandersetzung mit dem und im Anschluss an das Konzept der „Utopie“ – sowohl einen Raum- als auch einen Körperbegriff entwickelt, denen man mit Grund in zentralen Hinsichten eine große Nähe zu Intuitionen Merleau-Pontys und anderer Phänomenologen attestieren kann. Um den anderen Raumbegriff – von Foucault gefasst unter dem Titel der „Heterotopie“ – soll es in Abschn. 1 des vorliegenden Textes gehen, um den anderen Körperbegriff – von Foucault als „utopischer Körper“ thematisiert – und auch das Zusammenspiel beider – also von Heterotopie und utopischem Körper – in Abschn. 2 (wobei die Spiegelerfahrung, Zentrum des Lacan’schen „Spiegelstadiums“, in Foucaults Reflexionen keine unwesentliche Rolle spielen wird). Abschn. 3 schließlich versucht mit Foucault über Foucault hinauszugehen: in Anlehnung vor allem an Roland Barthes. Dieser nämlich entwickelt im Jahr 1977 in seinen ersten Veranstaltungen am Collège de France eine Vorstellung vom Zusammenspiel anderer Räume mit anderen Körpern – ebenfalls in Auseinandersetzung mit der und im Anschluss an die Tradition der Utopie –, die sich deutlich an Foucault orientiert und doch zugleich an entscheidender Stelle über ihn hinausgeht.
2 Foucaults Bestimmung der „Heterotopie“ Die Textgrundlage zur Bestimmung des Konzeptes der „Heterotopie“ in Foucaults Werk ist denkbar schmal. Zum ersten Mal taucht der Begriff im Jahr 1966 im Vorwort zu Les mots et les choses (vgl. Foucault 1974) auf und soll dort helfen, die von Borges vorgestellte seltsame und verwirrende diskursive Präsentation der Ordnung der Dinge in einer „chinesischen Enzyklopädie“ theoretisch zu beschreiben. Spielt
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der Begriff – der hier deutlich als eine Variation des Bataille’schen Begriffs der „Heterologie“ gedacht ist – im genannten Vorwort nur eine Nebenrolle (im Werk selbst kommt er gar nicht mehr vor), stellt Foucault ihn in einem Radiovortrag mit dem Titel „Les Hétérotopies“, der als Beitrag zu einer Serie von Vorträgen zum Thema „Utopie und Literatur“ im Dezember 1966 gesendet wurde, ins Zentrum seiner Überlegungen. Im Jahr 1967 schließlich überarbeitet Foucault auf Nachfrage des Architekten Lionel Schein besagten Radiovortrag, um seine Gedanken zur Heterotopie einer Gruppe von theoretisch interessierten Architekten in Paris vorstellen zu können. Diese überarbeitete Version hat Foucault selbst im Weiteren nicht beachtet und auch nicht publiziert; sie wurde erst im Jahr 1984 – Foucaults Todesjahr – im Rahmen der Internationalen Bauausstellung (IBA) in Berlin in der Architekturzeitschrift Architécture, Mouvement, Continuité unter dem Titel „Des espaces autres“ veröffentlicht.1 Nun variiert die Idee der „Heterotopien“ nicht unbeträchtlich zwischen den genannten Texten – vor allem zwischen der Verwendung des Begriffs im Vorwort zu Les mots et les choses und derjenigen in den späteren Vorträgen –, gleichwohl lässt sich aus allem so etwas wie eine Kernidee isolieren (für eine ausführlichere Darstellung siehe Klass 2008, 2009). Um diese einsichtig machen zu können, ist unverzichtbar, zuerst zu verstehen, um welche Art von Raumverständnis es beim Konzept „Heterotopie“ – das, wie gesagt, eine Fortentwicklung des Bataille’schen, diskursorientierten Konzepts der Heterologie darstellt – überhaupt geht. Zwei Ebenen gilt es dazu voneinander abzuheben: eine topologische von einer topographischen. Diese Unterscheidung wird klarer, wenn man Foucault darin folgt, sein Konzept „Heterotopie“ durch Anlehnung an das und zugleich in Abgrenzung vom Konzept der „Utopie“ zu erläutern (was Foucault selbst in allen drei genannten Texten tut). „Utopien“ sind, wie das Wort sagt, zuerst einmal eine Negation: Nicht-Orte. Was wird hier negiert? Für Foucault ist die Sache klar (etwas zu klar): Utopien, behauptet Foucault, seien Nicht-Orte, insofern sie „ohne realen Ort“ in der Welt seien, „zutiefst irreale Räume“ (Foucault 2017, S. 935). Dies ist für Foucault gleichbedeutend damit, dass sie bloße Fiktion sind, d. h. „geboren im Kopf der Menschen“ (Foucault 2013b, S. 9). Diese Negation sei eine topographische genannt: Ein Nicht-Ort ist hier gedacht als Ort, der nicht real existiert, in einem bestehenden Raumgefüge nicht vorkommt. Gleichwohl, führt Foucault seine Überlegungen fort, „trösten“ Utopien: „Die Utopien“, heißt es in Les mots les choses, „trösten; wenn sie keinen realen Sitz haben, entfalten sie sich dennoch in einem wunderbaren und glatten Raum, sie öffnen Städte mit weiten Avenuen, wohlbepflanzte Gärten, leicht zugängliche Länder, selbst wenn ihr Zugang schimärisch ist“ (Foucault 1974, S. 20). Utopien sind also Negationen, aber: sie machen dabei doch Sinn, vermögen es, trotz Negation, Sinn zu generieren, sich, wie Foucault schreibt, „in der fundamentalen Dimension der fabula“ (Foucault 1974,
1Zur
Editionsgeschichte der Vorträge siehe Defert (2013). Im Band Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge finden sich beide Vorträge in einer deutschen und einer französischen Version (Foucault 2013a, b).
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S. 20) anzusiedeln. Negiert wird also in der Utopie der Ort in der Welt, nicht aber, so zumindest sieht es Foucault, der Ort im symbolischen System; anders gesagt: Topographisch ist die Utopie eine Negation, topologisch – im Sinne von: in der Architektur der Sinngenese2 – dagegen Affirmation; denn sie greift den Sinnbestand, d. i. die Ordnung der Welt und der Dinge, nicht an. Im Gegenteil: Sie hilft gar, Lücken zu schließen, bestehende Topologien zu „glätten“ und so über reale Brüche und Unsicherheiten hinwegzu-„trösten“. In dem letztgenannten Charakteristikum unterscheiden sich Heterotopien nun laut Foucault fundamental von Utopien. Zwar ist auch das „heteron“ in Heterotopien zuerst gemeint als eine Negation; Foucault nennt Heterotopien selbst explizit auch „Atopie“3. Doch negiert diese Atopie dabei genau das, was eben die Utopie laut Foucault noch affirmiert: die Topologie des bestehenden Sinngefüges, das Geflecht von Relationen und Bezüglichkeiten, das Sinngenese allererst möglich macht. Dieses atopische Moment, diese Negation der bestehenden Topologie – der sich die Heterotopie so „entgegensetzt“ bzw. „widersetzt“ (Foucault 2013b, S. 10) – führt zu einer Beunruhigung vor allem auf der Ebene des Sinns, zu Unverstehbarkeit und Verwirrung. „Wie das denken?“, das ist nach Foucault die Frage angesichts der seltsamen „chinesischen Enzyklopädie“ von Borges, der das Konzept der Heterotopie eine Form zu geben versucht. So weit das grobe Schema. Das sich nun, wie erwähnt, zum einen im Folgenden wandelt und dabei weiter ausdifferenziert; und das damit zum anderen weiter ausdifferenziert werden muss, um überhaupt verständlich zu bleiben. Der Wandel und die weitere Ausdifferenzierung des Konzepts der Heterotopie vollziehen sich, wie erwähnt, vor allem im Übergang von der Einleitung von Les mots et les choses zu den beiden Vorträgen „Les hétérotopies“ und „Des espaces autres“. Während im erstgenannten Text nämlich Heterotopien eigentlich noch ganz und gar als Heterologien gefasst sind – es geht hier, wie angesprochen, zuerst um diskursive (Un-)Ordnungen –, präsentiert Foucault Heterotopien in den späteren Texten selbst als reale Orte einer gegebenen Topographie, die klar benennbar sind: Kinos, Friedhöfe, Bordelle, Gärten, den Club Méditerranée, Museen, Schiffe u. a. (vgl. Foucault 2013b, S. 11 ff.; 2017, S. 936 ff.). Wodurch aus der vordem rein topologisch gedachten Negation nun eine zugleich topographische zu werden scheint: Es geht fortan um reale Orte, und zwar solche, die sich nicht nur von anderen in Gestalt und Funktion eines gegebenen Ortsgefüges unterscheiden, sondern die sich allen anderen Orten eines Ortsgefüges entgegenstellen; und dabei und dadurch, wie Foucault schreibt, die gegebene Ordnung „beunruhigen“ oder auch „neutralisieren“, „suspendieren“, „unterminieren“, „erschüttern“, „verkehren“ oder gar „zerstören“ (vgl. Foucault 2013b, S. 10; 2017, S. 935). Kurz: Heterotopien
2Zum
Begriff des „topologischen Raums“ siehe Deleuze (1992, vor allem S. 15 ff.). ‚Gemeinsame‘ des Ortes und des Namens [ist] verlorengegangen […]: Atopie, Aphasie“ (vgl. Foucault 1974, S. 21).
3„Das
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negieren das bestehende Raumgefüge, das stets zugleich ein Sinngefüge ist, in einer sehr großen Bandbreite unterschiedlicher Arten von Negation.4 Diese topographische Neubestimmung der Heterotopien wirft nun freilich eine Reihe von Verständnisfragen auf und nötigt so zu den genannten weiteren Ausdifferenzierungen. Besagte Verständnisfragen betreffen einerseits die verschiedenen Formen der Negation (denn „suspendieren“ ist doch etwas fundamental anderes als etwa „verkehren“ oder sogar „zerstören“). Vor allem aber gilt es das folgende Problem zu lösen: Wenn auch Heterotopien topographisch gedacht werden sollen – er nennt die Heterotopie in den Vorträgen explizit einen „realen, auf der Karte zu findenden Ort“ (Foucault 2013b, S. 9) –, sie dabei zugleich aber „eine Art Utopie“ (und nicht einfach nur irgendwelche weiteren Orte) sein sollen: Was meint dann hier „Verwirklichung“? Bekannt ist, dass es in der Geschichte der Utopie zahlreiche Verwirklichungsversuche gegeben hat: begonnen mit den frühsozialistischen Projekten5 über die Gartenstadt-Utopien Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts6 und die Großstadtphantasien vieler Bauhaus-Architekten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis hin zu den Aussteigerkommunen in der westlichen Welt vor allem ab den 1960er Jahren. Eine derartige Form von „Verwirklichung“ aber hat Foucault ganz offensichtlich nicht gemeint. Ganz empirisch kann das nicht sein – ein Friedhof, Bordell oder Schiff sind weder in ihrer Ausgestaltung noch in ihrer Funktion das Gleiche wie eine irgendwo in einem unbekannten Land gegründete neue Gemeinschaft, in der Gleichgesinnte eine bessere Welt aufzubauen versuchen –, aber auch theoretisch nicht. Und das schon allein deshalb, weil sie, eingedenk der bisherigen Bestimmungen Foucaults sowohl der Utopie als auch der Heterotopie, ein Paradox beschreiben: wie verwirklichen, wie „real“ werden lassen, was sich per definitionem als irreal und damit nicht zu verwirklichen ausweist – wie also das Unwirkliche verwirklichen, ohne es zu zerstören?7
4Hätte
Foucault sich nur etwas besser in der Geschichte der Utopie ausgekannt, wäre ihm aufgefallen, wie sehr sein Projekt der „Heterotopie“ zentrale Motive des Utopischen nicht übersteigt, sondern beerbt. So auch in diesem: Die Negation, d. i. die Kritik und damit das Aufstören des Bestehenden, gehört seit Morus zum Grundbestand utopischen Wollens. Klassische Utopien haben selten dazu gedient, Menschen zu „trösten“ angesichts ihrer Unzufriedenheit mit den bestehenden Verhältnissen, sondern im Gegenteil: Utopien waren stets Versuche, die Unzufriedenheit mit dem Gegebenen zu artikulieren. Und zwar in Form einer Gegenwelt, in der das, was als kritikwürdig erschien, aufgehoben ist durch eine bessere Form der Gestaltung des sozialen Lebens. 5Die berühmtesten sind wohl die Fourier’schen „Phalanstères“, Robert Owens Kolonie „NewLamarck“ bzw. „New Harmony“, die verschiedenen Unternehmungen der Saint-Simonisten so wie Étienne Cabets „Ikarien“-Projekt. Vgl. Ramm (1964). 6Vgl. etwa Morris (2009) oder Projekte wie die Gartenstadt Hellerau bei Dresden, die Anfang des 20. Jahrhunderts entstand. 7Dieses Paradox hat die Utopie schon immer begleitet und wurde in der Utopie-Theorie Gustav Landauers zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf den Punkt gebracht: der das Utopische ganz im Möglichkeitsdenken, im Übersteigen des Gegebenen auf seine Möglichkeiten hin verortete – und so jeder Utopie-Verwirklichung eine unausweichliche Utopie-Zerstörung attestiert hat (vgl. Landauer 2003).
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Um diese zentrale Frage beantworten zu können, muss man klären, was an Utopischem es eigentlich genau ist, das in Heterotopien real werden soll (und damit Heterotopien erst zu dem machen, was sie sind; Utopisches real werden zu lassen: das ist das Eigentliche und Eigene von Heterotopien – lange bevor sie Widerstandsorte gegen „die Macht“ oder Sinnareale der „Transgression“ sind8). Gemeinhin wird der Kern des Utopischen in Bildern oder Entwürfen einer besseren, ja perfekten Form gesellschaftlichen Zusammenlebens gesehen.9 Das aber ist ganz offensichtlich nicht, was Foucault selbst mit „Verwirklichung“ von Utopischem meint, wenn er von Heterotopien redet (wie seine Beispiele zeigen: Friedhofe, Schiffe, Gärten sind nicht zuerst „wunderbare Städte mit weiten Avenuen“, nicht Orte endlich gelingender Sozialität o. Ä.). Nun ist freilich eben dies ganz sicher nicht das Einzige bzw. nur ein Teil des initialen Projekts der Utopie selbst. Im Zentrum schon der klassischen Utopie nämlich stand neben dem Traum einer besseren Form des Gemeinschaftslebens immer schon auch etwas anderes (und das kommt eben – gegen seine eigenen expliziten Bestimmungen von Utopie – auch bei Foucault zum Tragen; als bräche sich genau das kulturelle Unbewusste auch bei ihm Bahn, das er in Bezug auf andere immer beschworen, für sein eigenes Denken aber nie in Anschlag gebracht hat). Auf dieses „andere“ verweist nicht zuletzt Foucaults Auszeichnung des Schiffes als „Heterotopie par excellence“ (Foucault 2013b, S. 21 f.; 2017, S. 942): Es geht auch ihm – wie schon den klassischen Utopien – um die Suche nach und das Finden von Orten (irgendwo im Unbekannten: wofür gemeinhin der Ozean steht, den zu durchqueren und in dem sich zu orientieren Schiffe vermögen10), an denen die Grenze zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit aufgehoben ist.11 Und zwar derart, dass das Mögliche und das Wirkliche nicht mehr einfach Gegensätze sind, sondern das Wirkliche sich öffnet für die in ihm selbst gegebenen realen, aber eben noch nicht verwirklichten Möglichkeiten (und zwar weil, das ist der kritische Stachel schon der Utopie, sie in der gegebenen Ordnung der Dinge nicht verwirklichbar sind – darin liegt die erste Auszeichnung bereits von Utopien als „Gegen-Räume[n]“ (Foucault 2013b, S. 10), als Entwürfen von Orten, deren Erscheinung bereits als ein Angriff auf das Bestehende scheint12). 8Die
letztgenannte Lesart hat lange das Verständnis der Heterotopien beherrscht; vgl. für viele mögliche andere Chlada 2005. 9Darauf spielt wohl auch Foucault in seiner oben zitierten Bestimmung der Utopie in Les mots et les choses an, wenn er davon spricht, Utopien schafften einen „wunderbaren und glatten Raum“, „Städte mit weiten Avenuen“, „wohlbepflanzte Gärten“ usw. 10Zum Schiff als zentralem Medium des Erschließens des Neuen noch bei Morus gesellen sich in der weiteren Geschichte der Utopie weitere schiffartige Vehikel: wie Raumschiffe etwa oder auch Zeitmaschinen. 11Besonders sinnfällig wird dies in Cyrano de Bergeracs utopischer Erzählung „L’autre monde“, wo die Menschen, sobald sie den anderen Ort betreten, anfangen, sich auch selbst zu verwandeln, jünger zu werden (vgl. Bergerac 2009). 12Zwei banale, allgemein bekannte Details aus der Geschichte der Utopie mögen von diesem Grundzug des Utopischen zeugen: So wunderbar (und kritisch) Utopia bei Morus dem Zeitgenossen erscheinen musste (nur sechs Stunden Arbeit, alle Grundbedürfnisse für alle gestillt),
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Fasst man es so, dann wäre die nun zu stellende Frage: Welche Art von realen Möglichkeiten sind es, denen die Heterotopie Raum – und zwar: realen Raum – zu geben vermag? Welche unverwirklichte Möglichkeit – deren Verwirklichung dann nicht einfach nur ein weiteres anderes, ein zusätzlicher Stein im Gefüge der Welt wäre (Erholungsräume, Verkehrsräume usw.), sondern dieses Gefüge im Allgemeinen in Frage zu stellen anhebt?13 Bzw. konkreter Richtung Heterotopie gefragt: Welche unverwirklichte Möglichkeit erhält ihren realen Raum auf dem Schiff, im Bordell, im Club Méditerranée, im Garten oder auf dem Friedhof?
3 Foucaults Reflexionen zum „utopischen Körper“ An ebendiesem Punkt soll nun der Körper, genauer: der „utopische Körper“ ins Spiel kommen, so wie Foucault ihn im gleichnamigen Vortrag entwirft. Denn ohne ihn, scheint mir, kann die Frage nach der Verwirklichung eines durch bloße (wenn auch „reale“) Möglichkeit Ausgezeichneten nicht wirklich verständlich gemacht werden. Was also hat es mit diesem „utopischen Körper“ auf sich? Foucault beginnt seine Überlegungen zum Thema in einem nur zwei Wochen nach der Radiosendung „Les Hétérotopies“ ausgestrahlten Vortrag mit Formulierungen, die, wie verschiedentlich festgestellt wurde, stark an phänomenologische Grundintuitionen erinnern. Diese Konstatierung einer Nähe – vornehmlich zu Merleau-Ponty – rührt wohl zuerst von Foucaults initialer Bestimmung des Körpers als eines unentrinnbaren Zugangs zur Welt her: „Ich könnte“, heißt es da, „bis ans Ende der Welt laufen, ich könnte mich morgens unter der Decke verkriechen, […] er [der Körper] wäre immer dort, wo ich bin. Er ist unausweichlich immer hier und niemals anderswo“ (Foucault 2013a, S. 25). Ebendiese letzte Formulierung – diejenige vom „anderswo“ – nun bringt Foucault dazu zu behaupten, dass mein Körper in dieser seiner Bestimmung als „absoluter Ort“, „mit dem ich buchstäblich eins bin“, „das genaue Gegenteil einer Utopie“ ist.
man findet in ganz Utopia keinerlei Einhorn oder andere Fabelwesen, die das Ganze eindeutig zur bloßen Fiktion gemacht hätten. Und auch in Francis Bacons Nova Atlantis wirken viele der technischen Erfindungen atemberaubend (Schiffe, die unter Wasser schwimmen; Instrumente, anhand derer man über weite Entfernungen hinweg miteinander reden kann, u. a.), die technische Entwicklung aber hat gezeigt, dass Bacon, der darin große Kenntnis besaß, stets versucht hat, im Raum des zwar Unverwirklichten, aber doch technisch Denkbaren zu bleiben. 13Ein für die Entstehung von Morus’ Utopia zentraler Text war Amerigo Vespuccis Bericht von seiner Reise nach Südamerika, den dieser nicht ohne Grund „Mundus Novus“ – „Neue Welt“ – genannt hat. Denn, so behauptet Vespucci – anders als Kolumbus, der einfach meinte, eine bis dato unbekannte Insel vor China entdeckt zu haben –, seine Entdeckung sei nicht nur die einer neuen Welt gewesen, sondern nach dieser Entdeckung müsse die Alte Welt und damit die Welt insgesamt neu bestimmt werden, weil die Relationen, in denen die Welt bisher bestimmt wurde, neu, d. i. anders zu denken seien (vgl. Vespucci 2014).
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„Mein Körper“, beschließt Foucault diesen Gedanken, „ist eine gnadenlose Topie“ (Foucault 2013a, S. 25). Neben dem interessanten Detail, dass Foucault hier explizit auf den Landauer’schen Begriff der „Topie“ zurückgreift und damit seine Überlegungen – gewollt oder ungewollt – in diese Tradition der Utopie stellt, ist es natürlich vor allem die starke Dichotomisierung zwischen Topie und Utopie, die ins Auge springt. Sie erinnert in ihrer dialektischen Unerbittlichkeit auf den ersten Blick eher an Sartre als an Merleau-Ponty, zumal sie auch in der folgenden Verfeinerung des Gedankens methodisch ausschlaggebend bleibt: Denn der Körper – als „absoluter Ort“ – ist da nicht nur das vollständige Gegenteil jeder Utopie – als eines „ortlosen Orts“ –, sondern der Körper ist zugleich auch der Ursprung aller Utopien. Und zwar wieder in Form eines Körpers, freilich in der seiner eigenen Negation: eines körperlosen Körpers („d’un corps incorporel“). Als Beispiele für diese köperlosen Körper nennt Foucault Wesen wie Feen oder Kobolde, Phantasmen auch vom leichten, unbeschwerten oder unsichtbaren Körper (vgl. Foucault 2013a, S. 26). In diesen Beispielen deutet sich aber auch schon an, wie – phänomenologisch gesprochen – Foucault den Dreh weg vom methodischen „Sartrianismus“ zum methodischen „Merleau-Pontyismus“ schafft: Denn die bisher eingeführte starke Dichotomisierung zwischen Ort und Nicht-Ort, anwesend und abwesend, Sein und Nichts (und nichts dazwischen) lässt sich laut Foucault, schaut man sich den Körper genauer an, nicht durchhalten, weil er sich „nicht so leicht reduzieren“ lässt (Foucault 2013a, S. 28). Auch Foucault entdeckt also, dass es etwas am Körper gibt, das mehr oder etwas anderes ist als Körper, als im Begriff des Körpers als eines anwesenden Etwas gedacht ist.14 Was ist sein Argument für diesen Antireduktionismus, für dieses Abheben des Körpers von sich selbst? Das Argument lautet, dass der Körper selbst immer „ortlose Orte“ (Foucault 2013a, S. 28) besitze. Und als Beispiel nennt er hier tatsächlich eines, das wirklich jedem Phänomenologen wohlvertraut ist: den eigenen Kopf. Der einerseits durch die Augen die Welt in sich hineinkommen und so Innen und Außen untrennbar voneinander werden lässt, und auch: ununterscheidbar. Und damit eben auch die Trennung selbst von Innen und Außen in dieser Eindeutigkeit in Frage stellt. Und der sich andererseits nicht nur als vollkommen sichtbar (vor allem in der „Nacktheit“ im Blick des anderen, wie es noch einmal Sartre’sch heißt), sondern zugleich auch als opak und unsichtbar erweist – verkörpert etwa in der Rückseite des eigenen Schädels, von der man weiß, dass sie da ist, die man aber nie sehen kann. Und damit den Schädel nie als Ganzes, als Einheit erfahren (vgl. Foucault 2013a, S. 28 f.). In all diesen – und noch einigen weiteren – Reflexionen zur Selbstdifferenz des Körpers geht es Foucault vor allem darum, einen Punkt zu herauszustreichen: Es
14Eben
diese Entdeckung, dass es da etwas am Körper gibt, das in einem bloß physiologischen Begriff von ihm nicht aufgeht, kann man wohl mit Grund als zentrale Intuition der phänomenologischen Leib-Körper-Differenz ansehen. Zur Einführung in diese Thematik siehe Alloa et al. 2019.
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gibt nicht einfach den Raum, der da ist, und darin einen Körper, der ebenfalls da ist, getrennt als von seinem Gegenteil von allem, was nicht ist, „ohne Ort“ und „körperlos“, sondern der Körper ist – wie der Raum in der Heterotopie – zugleich Ort und Nicht-Ort, Körper und Nicht-Körper, ist Ding, und zugleich „ist nichts weniger Ding als er“. Daher, fasst Foucault diesen Gedanken zusammen, sei es „dumm, wenn ich eben meinte, der Körper sei niemals anderswo, er sei immer nur hier und widersetze sich jeglicher Utopie“ (Foucault 2013a, S. 33). Sondern „in Wirklichkeit ist mein Körper stets anderswo, er ist mit allen ‚Anderswos‘ der Welt verbunden, er ist anderswo als in der Welt“. Prägnanter gesagt: Der Körper „ist der kleine utopische Kern, der Mittelpunkt der Welt“ (Foucault 2013a, S. 34) – und eben insofern als Körper immer schon „utopischer Körper“. Das Problem ist nun aber – und das ist vielleicht das Besondere von Foucaults Position –, dass dieses utopische Moment des Körpers aus sich nicht erfahrbar ist; zumindest nicht in einer Welt, in der alles seinen Platz hat nur dadurch, dass etwas anderes diesen Platz eben nicht besetzt. Um erfahrbar sein zu können, braucht das den Körper konstituierende Zugleich von An- und Abwesenheit besondere Räume, die in vergleichbarer Weise zugleich sind und nicht sind wie der Körper und die daher dieser Art von Sein Raum zu geben vermögen. Und an dieser Stelle erhält der Spiegel für Foucault eine besondere Bedeutung: „Bedenkt man“, schreibt Foucault, „dass Spiegelbilder sich in einem für uns unzugänglichen Raum befinden […], und bedenkt man, dass [der] Spiegel […] sich stets anderswo [befindet], wird deutlich, dass nur Utopien die tiefgründige, beherrschende Utopie unseres Körpers in sich aufnehmen […] können“ (Foucault 2013a, S. 35) – d. h. erfahrbar machen. Damit wird der Spiegel zum entscheidenden Scharnier zwischen den Konzepten des utopischen Körpers und der Heterotopie – was Foucault selbst 1966 nicht zu sehen imstande war, was aber im späten Text „Des espaces autres“ thematisch wird: „Ich glaube“, heißt es da, „dass es zwischen den Utopien und den Heterotopien eine gemeinsame Erfahrung gibt, für die der Spiegel steht“ (Foucault 2017, S. 935). Denn einerseits, so Foucault, sei der Spiegel „eine Utopie, weil er ein Ort ohne Ort ist. Im Spiegel sehe ich mich dort, wo ich nicht bin, in einem irrealen Raum“ (Foucault 2017, S. 935) – jenseits meiner selbst. Doch das ist eben nicht alles, da es eine zweite Seite ebendieser Erfahrung gibt, die den Spiegel zugleich zu einer Heterotopie mache, „insofern der Spiegel wirklich existiert und gewissermaßen eine Rückwirkung auf den Ort ausübt, an dem ich mich befinde“ (Foucault 2017, S. 935). Diese Rückwirkung ist die folgende: „Durch den Spiegel entdecke ich, dass ich nicht an dem Ort bin, an dem ich bin, da ich mich dort drüben sehe. Durch diesen Blick, der gleichsam tief aus dem virtuellen Raum hinter dem Spiegel zu mir dringt, kehre ich zu mir selbst zurück, richte meinen Blick wieder auf mich selbst und sehe mich wieder dort, wo ich bin“ (Foucault 2017, S. 935). Das also ist die Erfahrung, die der Spiegel eröffnet: mich mir selbst zu geben (mich an dem Ort zu „rekonstituieren“, wie es im Original heißt, an dem ich mich vorher schon immer wähnte) als ein Irrealer, d. i. als einer, der nur da und nur dann ist, als einer ist, wo er eben nicht ist: im Bild seiner selbst außer
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sich.15 Was, umgekehrt, zugleich bedeutet: meine mich konstituierende Irrealität – man könnte auch sagen: meine realen Möglichkeiten – real zu erfahren, d. i. mich real zu erfahren als „utopischer Kern im Mittelpunkt der Welt“. Verstünde man es freilich nur so wie bisher dargestellt – dass also erst besondere Räume wie Heterotopien das utopische Potenzial des Körpers freizusetzen imstande sind –, ergäbe sich ein einseitigeres Bild, als Foucault selbst zeichnet. Denn für ihn ist der Körper selbst in diesem Spiel nicht einfach passiv, nicht einfach das Ding, das im heterotopen Raum plötzlich sich öffnet für seine Möglichkeiten, sondern selbst ein „große[r] utopische[r] Akteur“, etwa in Praktiken wie „Maskieren, Schminken und Tätowieren“. Derartige Aktivitäten nämlich, so Foucault, wären beileibe nicht einfach dazu da, den Körper prothetisch zu steigern, ihn also „anders“ werden zu lassen im Sinne von: besser, größer, schöner, potenter. Sondern durch sie, so seine These, trete der Körper „in Kommunikation mit anderen Mächten und unsichtbaren Kräften“ (Foucault 2013a, S. 31). Besagte Aktivitäten täten dies, fährt er fort, indem sie „auf dem Körper eine Sprache nieder[legen], eine rätselhafte, verschlüsselte, geheime, heilige Sprache“, und so den Körper „in einen anderen Raum [versetzen], an einen anderen Ort, der nicht direkt zu dieser Welt gehört“. Kurz: „Maskieren, Tätowieren und Schminken [sind] Operationen, durch die der Körper aus seinem eigenen Raum herausgerissen und in einen anderen Raum versetzt wird“ (Foucault 2013a, S. 32). Was geschieht hier? Das Schiff, dieses wichtigste Vehikel der utopischen Aktivität, trägt hier nicht mehr Körper vom Bekannten ins Unbekannte, vom Wirklichen zu seinen Möglichkeiten, sondern der Körper selbst wird zum Schiff: zum Medium des Übergangs vom Wirklichen ins Mögliche, zum Medium der Entortung.16 Der utopische Körper ist so nicht mehr einfach „mit allen Anderswos der Welt verbunden“, wie es zu Anfang hieß, sondern er verbindet sie eigentlich erst miteinander. Seine eingangs beschriebene ontologische Ambiguität ist nicht nur ein Zustand, sie ist auch eine Bewegung. Es ist der utopische Körper, der das Anderswo ins Hier holt, der aus einer Topie eine U- oder Heterotopie macht, er ist Medium dieses Transfers. Freilich braucht es dazu, so Foucault, Hilfsmittel, die dieses Potenzial und diese Macht in ihm aktiveren. Die für Foucault zuerst „Operationen“ sind, d. i. ritualisierte Körpertechniken wie eben Schminken, Tätowieren, Maskieren. Gerade das Tätowieren macht besonders sinnfällig, worum es Foucault geht: Die Haut wird klassisch als wichtige Innen-Außen-Grenze zwischen Körper und Umwelt beschrieben. Während nun Schminken und Maskieren sich auf besagter Haut niederlegen, um diese Grenze zwischen Innen und Außen zu verändern, geht
15Es
ist wohl nicht zu waghalsig zu vermuten, dass hinter diesen Überlegungen eine Anleihe Foucaults bei Lacans Idee des „Spiegelstadiums“ steht, in der es ja auch zuerst um den Prozess der Ich-Konstitution durch die Spiegelerfahrung geht. 16Diese Idee wurde in der Geschichte der Utopie schon früh aufgeworfen, etwa bei Cyrano de Bergerac: dank Präparierung des Körpers, der den Transfer leistet und zugleich in der neuen Welt sich wandelt (vgl. Bergerac 2009).
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das Tätowieren einen Schritt weiter: Denn es hinterlässt nicht nur auf der Haut sichtbare Spuren, sondern dringt in die Haut ein, perforiert sie, um sie durchlässig werden zu lassen. So wird einsichtig, was Foucault meint, wenn er schreibt, der Körper werde durch besagte Techniken „aus seinem eigenen Raum herausgerissen und in einen anderen Raum versetzt“ (Foucault 2013a, S. 32). Wenn ich also – könnte man zusammenfassend sagen – am Ende des Abschnitts zur Heterotopie gefragt habe (um das Spezifische der Heterotopie als verwirklichte Utopie zu verstehen), welche Art von realen Möglichkeiten es seien, denen die Heterotopie Raum – und zwar: realen Raum – zu geben versucht, dann könnte man jetzt sagen: Es sind die des Körpers, genauer des Körpers, insofern er selbst immer schon utopischer Körper ist, insofern er selbst immer schon im Hier mit allen Anderswos der Welt verbunden ist. Bzw. diese Verbindung durch spezifische Praktiken und anhand spezifischer Techniken herstellt. Ganz konkret: der trauernde Körper, der auf dem Friedhof einen Raum erhält, an dem er mit der Unterscheidung Leben-Tod, die unseren Alltag rhythmisiert, sich nicht abzufinden braucht, diese hinter sich lässt; oder der begehrende Körper, der im Club Méditerranée eine Lust und ein Begehren lebt, für das es in einer gegebenen gesellschaftlichen Ordnung keinen Platz gibt. Das aber als reale Möglichkeit in ihm steckt, gelebt werden will.
4 Roland Barthes Dieses Konzept von Heterotopie kann nun zwar zeigen, wie bestimmte Aktivitäten von Körpern – vielleicht sollte man vorsichtiger sagen: die Aktivierung bestimmter leiblicher Potenziale – in besonderen Räumen diesen Zugang zu ihren realen Möglichkeiten verschaffen, die das gegebene Wirkliche übersteigen und in Frage stellen;17 was, wie ich eingangs zu zeigen versucht habe, ein wichtiger Teil des Utopischen ist. Was dabei aber verlorengeht, ist das zuerst genannte Kernelement des Utopischen: das kommunitäre. Das die besagten realen Möglichkeiten, oder genauer: das (Aus-)Leben der besagten Möglichkeiten, nicht nur individuell – man könnte auch sagen: egologisch –, sondern kollektiv verstanden und ins Werk gesetzt wissen möchte.18 Diese Seite des Utopischen, die in Foucaults Heterotopie fast vollständig verschwunden ist, kommt nun bei Roland Barthes wieder zum Vorschein. Und zwar
17Wobei
hier natürlich auch kritische Rückfragen zu stellen wären: Stellt – um nur eines der von Foucault gegebenen Beispiele für Heterotopien zu betrachten – das Bordell die gesellschaftliche Ordnung wirklich in Frage, oder ist das nicht eine Romantisierung, die an der Lebenswirklichkeit nachgerade zynisch vorbeigeht? Zu einer Betrachtung des Bordells als Heterotopie siehe Ziemann (2017). 18Ebendiese Kritik wurde nicht zu Unrecht an Foucault häufig geübt, als er Ende der 1970er Jahr das zuvor so sorgsam aus seiner Theorie gestrichene Subjekt für sich wiederentdeckt hat: dass diese durch besondere Praktiken gestaltete „Ästhetik der Existenz“ vom liberalen „Lifestyle“, d. i. dessen Egologie schwer zu unterscheiden ist.
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nicht einfach als ein anderes Konzept, das eben in dieser Hinsicht „besser“ ist als dasjenige Foucaults, sondern als ein Konzept, das sich in direkter Auseinandersetzung mit Foucault allererst entwickelt hat (d. i. zentrale Foucault’sche Motive aufnimmt und weiterentwickelt). Auch die Darstellung dieses Modells sei auf wesentliche Momente beschränkt.19 Ich beginne mit dem Ausweis einer intrinsischen Verbundenheit des Barthes’schen mit dem Foucault’schen Ansatz (dazu ausführlicher siehe Klass 2017). 1975 war, wie bekannt, Überwachen und Strafen (Foucault 1975) erschienen, 1976 Der Wille zum Wissen (Foucault 1976) – Foucaults machttheoretischen Hauptwerke. Ebenfalls 1976 trat Roland Barthes seinen Lehrstuhl für literarische Semiologie am Collège de France an, was zu einem guten Teil dem Engagement Michel Foucaults zu verdanken war, der Barthes für diese Position vorgeschlagen und dessen Kandidatur er intensiv unterstützt hatte. Eben deshalb fühlte Barthes sich Foucault gegenüber zu großem Dank verpflichtet, was deutliche Spuren in Barthes’ Antrittsvorlesung am Collège de France – überschrieben mit „Leçon“ (Barthes 1980) – am 7. Januar 1977 hinterlassen hat, ebenso wie in seiner eine Woche nach der Antrittsvorlesung beginnenden ersten Vorlesungsreihe zum Thema „Comment vivre ensemble“ (Barthes 2002). Beide Texte zusammengenommen stellen die Grundlage des Barthes’schen utopischen Projekts dar. Beginnen wir mit Barthes’ Antrittsvorlesung am Collège de France. Ganz offensichtlich ist diese zuerst und vor allem Ausdruck der Barthes ein Leben lang begleitenden tiefen Verbundenheit mit der und Verehrung für die Literatur, zugleich ist sie aber auch ganz offensichtlich eine direkte Anknüpfung an, aber auch Auseinandersetzung mit Foucaults Forschen und Lehren der letzten Jahre: abzulesen schon an der einfachen Tatsache, dass Barthes in seiner Antrittsvorlesung zuerst und vor allem über das Walten und Wirken „der Macht“ nachdenkt, ein Konzept, das sich in dieser Eindeutigkeit zuvor bei ihm selten findet und das zugleich in dieser Zeit von niemandem so sehr besetzt und ausdekliniert worden ist wie von Foucault. Noch eindeutiger als auf die beiden eben genannten großen Studien bezieht sich Barthes’ Antrittsvorlesung auf Foucaults einige Jahre zuvor in ebenderselben Institution gehaltene Vorlesung L’ordre du discours (Foucault 1971). Wie Foucault in seiner Antrittsvorlesung vor ihm reflektiert auch Barthes in der seinen zuerst die normierende Macht der herrschenden Sprache; und wie Foucault sucht Barthes in seinen Reflexionen Wege, wie man ebendieser Macht sich entzieht bzw. ihr etwas entgegenstellt. Genauer: Dreh- und Angelpunkt sowohl der Foucault’schen als auch der Barthes’schen Antrittsvorlesung ist die Suche nach einem Ort „jenseits der Macht“ („hors-pouvoir“). Und zwar: im Schreiben und Sprechen selbst. Damit aber steuert Barthes geradewegs in denselben performativen Selbstwiderspruch wie Foucault: Denn wenn die Macht tatsächlich, wie Foucault in Der Wille zum Wissen behauptet, „überall“ ist – eine Behauptung, die Barthes so fast wörtlich in der Leçon übernimmt, wenn er schreibt: die Macht
19Für
eine ausführlichere Betrachtung des Projekts der „Idiorrhythmie“ siehe Klass (2015).
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sei „in jedem Diskurs“, sogar in dem, der „von einer Stätte außerhalb der Macht (d’un lieu hors pouvoir) aus“ (Barthes 1980, S. 12/13) spricht –, wie dann je „horspouvoir“ sein können? Wie einer Macht entkommen, die sogar die Orte jenseits der Macht besetzt? Indem man, lautet – grob verkürzt – Barthes’ Antwort, weniger nach der Sprache selbst als genauer nach dem genannten „Ort“ jenseits der Macht fragt: was zu tun Barthes eben in der schon eine Woche nach der Inauguralvorlesung beginnenden ersten Vorlesungsreihe unter dem genannten Titel „Wie zusammen leben?“ anhebt. Dabei sind es diesmal vor allem Foucaults Überlegungen zum Panopticon als Matrix des Panoptismus, der seinerseits für die Genese des modernen „autonomen“ Subjekts konstitutiv ist, die Barthes Anknüpfungspunkt und zugleich Kontrastfolie bedeuten. Zentrum der Barthes’schen Reflexionen zu einer möglichen Form des Zusammenlebens nämlich ist – darin dem Morus’schen Urbild aller Utopien verwandt – eine an einem mönchischen Vorbild orientierte Lebensweise, die wie der Panoptismus zuerst auf einer besonderen räumlichen Entfaltung bzw. Entfaltung im Raum beruht. Auf den ersten Blick wirkt Barthes’ Gemeinschaft dabei wie eine Disziplinargesellschaft, d. h. weist zu ihr deutlich große Ähnlichkeiten auf (das Kloster hat ja schon in Überwachen und Strafen in der Genese des Panoptismus eine wichtige Rolle gespielt); de facto aber soll sie genau deren Gegenteil vorstellen, weil sie an entscheidender Stelle von ihr abweicht. Bevor ich mich diesem Modell genauer zuwende, zuvor ein paar Worte zur Genese desselben in Barthes’ Werk, denn es hat darin, schaut man nur etwas genauer hin, tatsächlich eine nicht unbeträchtliche Vorgeschichte. Sowohl der Körper als auch der Raum (bzw. der Ort oder auch besondere Orte) nämlich spielen seit je eine wichtige Rolle im Textkosmos des Semiologen – beide wären eine eigene Untersuchung wert, so viele Details lassen sich in Barthes’ Schriften finden, hat man erst einmal angefangen, nach ihnen zu suchen –, auch und gerade als zentrales Moment der Selbst- bzw. einer möglichen Gemeinschaftskonstitution (die ja das Zentrum auch des Panoptismus ausmachen). Zur Bedeutung des Körpers möchte ich nur auf einige zentrale Denkfiguren aus Le plaisir du texte von 1973 (Barthes 2010) verweisen, weil hier die bei Barthes allerorten auftauchende, für ihn wesentliche Frage nach der „Lust“, die sowohl die Produktion als auch die Rezeption von Texten bereiten können, direkt mit der Frage nach dem Körper eng geführt wird. „Die Lust am Text“, heißt es da allgemein, „das ist jener Augenblick, in dem mein Körper seinen eigenen Ideen folgt – denn mein Körper hat nicht dieselben Ideen wie ich“ (Barthes 2010, S. 27). Diese gleichzeitige Verortung des Ich im Körper und seine Trennung von ihm sorgen dafür, dass dieses Ich, dessen Körper da Lust empfindet, ein gespaltenes, „anachronistisches“ Subjekt ist: „Es genießt die Konsistenz seines Ich (das ist seine Lust [plaisir]) und sucht nach seinem Verlust (das ist seine Wollust [jouissance]). Es ist ein zweifach zerklüftetes, zweifach perverses Subjekt“ (Barthes 2010, S. 24). Eine derartige Spannung oder Spaltung des sich in der körperlichen Lust erfahrenden Ich verlängert Barthes schon hier gedanklich ins Kollektive, genauer: eine „Gesellschaft der Textfreunde“, die er wie folgt beschreibt: „Ihre Mitglieder hätten
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nichts miteinander gemein (denn es gibt keine zwangsläufige Übereinstimmung, was die Texte der Lust angeht).[…] Eine derartige Gesellschaft hätte keinen Ort, könnte sich allein in der reinen Atopie bewegen; sie wäre gleichwohl eine Art Phalanstère, denn die Widersprüche würden hier anerkannt (und folglich die Risiken ideologischer Heuchelei eingedämmt), die Differenz würde beachtet und der Konflikt zur Bedeutungslosigkeit verdammt (da er keinerlei Lust erzeugt)“ (Barthes 2010, S. 24). Mit diesen wenigen Zitaten deutet sich eine Konstellation an, die die Subjektkonstitution sowohl an den Körper als auch an dessen Positionierung im Raum bindet (und zwar eine a- bzw. utopische Räumlichkeit). Dabei ist der – vorderhand überraschend wirkende – Verweis auf die Fourier’schen „Phalanstères“ (die gerade keine Atopie, sondern eine der wenigen realen Versuche von Utopieverwirklichung darstellen) in diesem Kontext kein zufälliger. Drei Jahre zuvor nämlich hatte sich Barthes ausführlich mit ebenjenen Phalanstères auseinandergesetzt: in einem zuerst 1970 in der Zeitschrift Critique veröffentlichten Text zu Charles Fourier, dem geistigen Vater der Phalanstère, ein Text, der in überarbeiteter Form in das 1971 erschienene Buch Sade, Fourier, Loyola (Barthes 1974) eingegangen ist. Was Barthes bei Fourier vor allem sucht, ist ein Modell für eine von den vorherrschenden Mustern abweichende Art des Zusammenlebens (ein Thema, wie Barthes’ Biographin Tiphaine Samoyault jüngst nachgewiesen hat, das Barthes in dieser Zeit sowohl praktisch wie theoretisch interessiert; vgl. Samoyault 2015, S. 545 f.). Angezogen ist Barthes bei Fourier zuallererst von dessen grundsätzlich eudämonistischem Ansatz: „Der Beweggrund der ganzen Fourierschen Konstruktion (Kombination) ist nicht Gerechtigkeit, Gleichheit, Freiheit, usw. sondern Lust [plaisir]. Der Fourierismus ist ein radikaler Eudämonismus“, heißt es in Sade, Fourier, Loyola (Barthes 1974, S. 95). Diese Lust sorgt von sich aus dafür, dass ihr „alles andere nach[folgt]: die Organisation, die Grenzen, die Werte der Lust“ (Barthes 1974, S. 94). So entstehen eine „fatale Induktion, die die geringste Modulation unseres Begehrens an die weiteste Gesellschaftlichkeit bindet“, sowie ein „einzigartiger Raum, in dem sich Phantasma und gesellschaftliche Kombinatorik verbinden“ (Barthes 1974, S. 94). Dieser Raum – der sich konkret im Modell der Phalanstères niederschlagen soll – wird dabei deutlich abgehoben von der Raumvorstellung, wie andere Sozialutopiker seiner Zeit ihn bestimmen: so wie etwa „das Experiment Owens in New-Lamarck“, das „als ‚zu streng‘ verurteilt“ wurde – weil es die Lust, „das principium perennis der sozialen Organisation“ (Barthes 1974, S. 97), vergessen hat. Von diesen kurzen Vorbemerkungen sei nun endlich zur Vorlesung Comment vivre ensemble übergegangen. In dieser stellt Barthes die Idee einer Utopie vor, die er „Idiorrhythmie“ nennt (was auf den ersten Blick überhaupt nicht darauf verweist, es könnte sich hier um ein Gegenkonzept zum Panopticon handeln). Ausgang seiner Reflexionen ist dabei – wie schon bei der oben genannten „Gesellschaft der Textfreunde“ – die Frage, wie eine Gemeinschaft derer denkbar wäre, die „nichts miteinander gemein haben“, kurz: eine Gemeinschaft der Verschiedenen – d. i. derer, die eben anders sind, abweichen von der Ordnung des Gegebenen. Diese Andersheit macht Barthes dabei freilich nicht an Charakter,
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Überzeugungen oder mentalen Haltungen fest (es geht also nicht um „Pluralität“ im eminent politischen Sinne, wie man sie etwa bei Hannah Arendt findet), sondern am – leiblich gedachten – „Rhythmus“ eines Lebens: als basalste, sinnlichste und zugleich unverfügbarste Stufe der Differenz. Deren Eigenheit es für Barthes bei der und durch die Vergemeinschaftung zuerst zu schützen gilt (daher die Idee einer „Idiorrhythmie“: des Eigen-Rhythmus), ganz wie Kontraktualisten die Freiheit, die für den Gemeinschaftsvertrag aufgegeben wird, eben durch dieses Aufgeben zu schützen suchen. Nun lässt sich ein solcher leiblicher Eigenrhythmus freilich nicht dadurch schützen, dass man – eben wie bei einem Vertrag – Grenzen festlegt und Grenzüberschreitungen sanktioniert (wie der klassische Kontraktualismus dies versucht). Sondern – und hier kommt die Bedeutung des Raums ins Spiel – vor allem durch eine Gestaltung von Lebensräumen, die verschiedenen Rhythmen möglich macht, nebeneinander zu existieren, ohne deshalb in egologischen Atomismus zu zerstäuben (wo dann eben jeder einfach „nach seinem Rhythmus“ leben würde; bei Barthes ist der Eigenrhythmus per se gebunden an die inaugurale Frage „Wie zusammen leben“, nicht einfach an die einer möglichst wilden, uneingeschränkten Entfaltung des Ich). Für eine solche den Eigenrhythmus (und damit die Andersheit) des Einzelnen bewahrende, aber eben doch kollektive Lebensform findet Barthes tatsächlich ein konkretes Vorbild: in einer Anachoretenkolonie auf dem griechischen Berg Athos. Diese mönchische Lebensform unterscheidet sich vom klassischen Modell klösterlichen Zusammenlebens vor allem dadurch, dass hier nicht jeder denselben, die Tagesabläufe genau bestimmenden Rhythmisierungen unterworfen ist (zu einer festgesetzten Zeit aufstehen, beten, essen, arbeiten usw.), sondern eher Räume zur Verfügung gestellt werden (Lebenszellen als Refugium des Einzelnen ebenso wie Parkanlagen und Gebäude für die Momente der Begegnung), die gemeinsame Aktivitäten möglich machen, ohne sie doch zu erzwingen; vor allem nicht durch Aufzwingen eines Kollektivrhythmus auf Kosten des Eigenrhythmus (also die klassische Strategie der Disziplinierung, wie sie etwa in der Idee der „Leibeserziehung“ nachwirkt, in der alle in einen kollektiven Rhythmus eingespannt werden). Kurz: Auch Barthes stellt durchaus die leiblich gedachte Rhythmisierung ins Zentrum seiner Überlegungen zur Subjekt- und gleichzeitigen Gemeinschaftskonstitution; und auch er will dies vor allem als ein Feld der Praxis, der Bestimmung von Räumen und Aktivitäten in Räumen gedacht wissen (und nicht als das Sich-Verpflichten auf eine gemeinsame Idee). Dabei aber steht in der Spannung von Ich und Allgemeinheit eher die Abweichung des Einzelnen vom Kollektiv im Vordergrund und gerade nicht umgekehrt die Disziplinierung des Einzelnen durch kollektive Gleichschaltung (wie in der auf Gleichtaktung setzenden Disziplinierung). Als politische Anknüpfungs- und zugleich Abgrenzungsfolie dient Barthes auch hier das Fourier’sche Modell der Phalanstères, und eben das ist ausgesprochen sprechend. Als erste Gemeinsamkeit hebt Barthes hervor, dass es auch Fourier zuerst um die Gestaltung eines Ortes, einer Landschaft geht, die eine bestimmte Form des gelingenden Zusammenlebens allererst möglich machen soll. Zudem
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ist für Barthes zentral, dass auch bei Fourier Einsamkeit nicht als Gegensatz zur Gemeinschaftlichkeit gesehen wird, sondern als deren Grundlage. Diese Gemeinsamkeit ist dabei mehr als nur ein liebenswerter Ausdruck einer Idiosynkrasie zweier Einzelgänger und Freunde des Paradoxen. Denn es verbirgt sich darin ein gerade für Utopiker ungewohntes Moment: die bessere Welten gemeinhin aus Negationsfiguren kreieren, aus der Aufhebung eines Mangels (eines „Noch-Nicht“, wie es bei Bloch heißt). Gerade diese Grundfigur des Utopischen aber möchte Barthes mit Fourier gebrochen wissen: dessen Vorstellung von einer Gemeinschaft der Einzelgänger per se „nicht dialektisch“ sei, nicht „Negation der Negation“, nicht ein „Gegenbild einer Frustration“. Sondern für Barthes entwirft Fourier mit seinen Phalanstères ein „absolut positives Szenario, welches das Positive des Begehrens in Szene setzt, das nur Positives kennt“ (Barthes 2002, S. 39). An dieser Stelle schlägt bei Barthes, bei aller Bescheidenheit des Programms, ein Funke nietzscheanischer Heroismus durch: der den Traum negationsfreier – und das heißt: ressentimentfreier –, absoluter Selbstsetzung träumt. In einem Punkt aber möchte Barthes seine Utopie einer Idiorrhythmie doch deutlich von Fouriers Modell abgegrenzt wissen: in dem nämlich, was er die „tiefe Unmenschlichkeit der Fourier’schen Phalanstères“ nennt, mit ihrem „timing von einer Viertelstunde zur nächsten“ (Barthes 2002, S. 46). Barthes’ Vorstellung einer Gestaltung oder Rhythmisierung einer Landschaft zur Ermöglichung eines gelungenen Zusammenlebens Singulärer soll eben nicht gleichbedeutend sein mit der vollständigen, den Einzelnen von außen betreffenden Rhythmisierung seiner Tagesabläufe, die zudem für alle gleich ist. Sondern dem allgemeinen Rhythmus – der weiter existiert – soll der Rhythmus des Einzelnen als gestaltender Eigenwert gegenüberstehen. „Was mich hier beschäftigt“, fasst Barthes diese Überlegungen zusammen, „ist eine bestimmte Lebensvorstellung, eine Lebensweise, eine Lebensführung, diaita, Diät.[…] Etwas wie eine auf geregelte Weise unterbrochene Einsamkeit; die Paradoxie, der Widerspruch, die Aporie einer Vergemeinschaftung der Distanzen, ein utopischer Sozialismus der Distanz“ (Barthes 2002, S. 42). Dieses Modell müsste nun natürlich an vielen Stellen noch sehr viel weiter und genauer ausbuchstabiert werden: Was genau meint Rhythmus hier? In welcher Verbindung stehen die Gestaltungen der Räume mit den Rhythmen der Körper? Was ist das ordnende Moment der Gemeinschaft, wann wird die Abweichung zu groß, und wer sanktioniert – wenn überhaupt – eine solche Abweichung und wodurch? Statt ebendies zu tun, sei noch einmal die Grundidee des vorliegenden Aufsatzes abschließend zusammengefasst: Mitte der 1960er Jahre entdeckt Michel Foucault in Auseinandersetzung mit der Idee der Utopie sowohl einen Raum- als auch einen Körperbegriff (die Begriffe der „Heterotopie“ sowie des „utopischen Körpers“), die je in sich, vor allem aber in ihrer Bezogenheit aufeinander eine ungewöhnliche Nähe zu phänomenologischen Grundintuitionen zum Eigenleib und seiner Entfaltung des Raums aufweisen. Kern beider Begriffe ist das Aufscheinen ungesehener Möglichkeiten im Wirklichen, die zuerst reale Möglichkeiten des Wirklichen selbst sind (d. i. nicht ein bloßes Schwelgen in absoluten Unmöglichkeiten). Derart zur Erscheinung gelangt stellen besagte
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reale Möglichkeiten eine Beunruhigung des Bestehenden dar, dem sie sich als sein jeweils unverwirklichtes anderes entgegenstellen und es so „suspendieren“, „unterminieren“, „erschüttern“, „verkehren“ oder gar „zerstören“. Ist freilich bei Foucault der Ausgangspunkt dieser Entdeckung – die Idee der Utopie – nur zum Teil in die Entdeckung eingeflossen (nämlich als ein Spiel mit realen Möglichkeiten), kommt erst bei Roland Barthes, der mit seinen Überlegungen in „Comment vivre ensemble“ direkt an Foucault’sche Intuitionen sowohl zum Raum- als auch zum Körperbegriff anschließt, auch die politische Dimension des Utopischen – und damit das Utopische tout court – wirklich zum Tragen. Sodass es erst Roland Barthes wirklich gelingt, Grundkoordinaten einer Gestaltung des Raums zu denken, die dem Eigenleib in seiner ihn definierenden Ambiguität und Selbstalterität derart Raum gibt, dass er durch die Entdeckung der realen Möglichkeiten seiner selbst nicht in reine Egologie absinkt, sondern Teil einer eigenen Form von „Zwischenleiblichlichkeit“ (Merleau-Ponty) wird (werden kann), die das kommunitäre Moment nicht gegen, sondern allererst durch die konstitutive leibliche Alterität entdeckt und bewahrt. Auch wenn das Barthes’sche Projekt selbst an vielen Stellen noch sehr offen und in manchen Hinsichten sicher auch problematisch ist, so scheint sich mit ihm doch eine Tür zu öffnen, Foucaults Entdeckung der „Heterotopie“ bzw. des „utopischen Körpers“ fruchtbar zusammen und zugleich weiter zu denken.20
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20Giorgio
Agamben hat im vierten und letzten Teil seines Homo-sacer-Projekts ein Modell von Gemeinschaft entworfen, das in vielerlei Hinsicht sowohl an Foucault – vor allem dessen Überlegungen zur Biopolitik, d. i. zum Einbezug des „Lebens“ in die Politik – als auch (ohne es zu wissen) an Barthes’ mönchische Vision des Zusammenlebens anschließt. Hier gäbe es noch manches für die politische Philosophie zu entdecken (vgl. Agamben 2012).
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Die drei Körper in Lacans KnotenTopologie Rolf Nemitz
Zusammenfassung
Die bisherige Psychoanalyse, sagt Lacan, begreift den Körper als einen Sack mit Öffnungen. Und auch Freuds zweite Topik beruht, Lacan zufolge, auf dieser Körperkonzeption. Das heißt für ihn: Die psychoanalytische Metapsychologie steht im Banne des Imaginären. Seit der symbolischen Wende in den 50er Jahren gibt es für ihn drei Körper: einen imaginären Körper, einen symbolischen Körper und einen realen Körper. In den späten Seminaren versucht er, diese drei Körper mithilfe der mathematischen Topologie und der Knotentheorie zu verorten. Der Artikel bezieht sich auf Lacans Seminare 21 bis 24 sowie auf den Vortrag Die Dritte. Die Veranstalter dieser Tagung haben mich gebeten, über Topographien des Körpers beim späten Lacan zu sprechen.1 Dabei soll es speziell um den Lacan der Seminare 22 bis 24 gehen. Das Seminar 22 von 1974/1975 heißt RSI (für Reales, Symbolisches, Imaginäres), das Seminar 23 von 1975/1976 nennt sich Das Sinthom (eine latini sierende Schreibweise für das Symptom), das Seminar 24 von 1976/1977 hat einen unübersetzbaren Titel, L’insu que sait de l’une-bévue s’aile à mourre.2
1Tagung „Topographien des Körpers. Foucault, Lacan, Merleau-Ponty in der Diskussion“ (Wien, 5. bis 7. Oktober 2017, vorgetragen am 7. Oktober). 2Wörtlich übersetzt: Der Misserfolg, den von einem Schnitzer weiß, flügelt sich zum Knobeln. Laut gelesen, hört man: L’insuccès de l’Unbewu, c’est l’amour, „Der Misserfolg des Unbewu[ssten], das ist die Liebe“.
R. Nemitz (*) Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 U. Kadi und G. Unterthurner (Hrsg.), Macht – Knoten – Fleisch, Abhandlungen zur Philosophie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04957-5_6
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Der Körper, um den es in dieser Konferenz geht, ist der menschliche Körper, und tatsächlich ist in diesen Seminaren der menschliche Körper immer wieder ein Thema. Findet man bei Lacan eine „Topographie“ des menschlichen Körpers? Sofern man unter einer Topographie die konkrete Beschreibung eines bestimmten Raumes versteht, wird man passen müssen – eine Topographie in diesem Sinne ist bei Lacan nicht zu finden. Was ihn in diesen Seminaren interessiert, ist nicht die Topographie, sondern die Topologie als eine Disziplin der Mathematik, als moderne Form der Geometrie. Ich habe das Thema, das mir vorgeschlagen wurde, deshalb modifiziert und werde statt über die „Topographie“ des Körpers über die „Topologie“ des Körpers beim späten Lacan sprechen, über die Verortung des menschlichen Körpers in bestimmten topologischen Strukturen. Lacan betont, dass die mathematische Topologie auf das Schreiben und auf das Zeichnen angewiesen ist, also, um griechisch zu sprechen, auf das graphein – der Topos, der Raum, wird mithilfe von Graphien untersucht. Die Topo-Logie beruht auf der Topo-Graphie. Ein entscheidender Einschnitt in der Entwicklung von Lacans Theorie liegt meines Erachtens bei Seminar 21 von 1973/1974, Les non-dupes errent („Die Nicht-Betrogenen irren“, lautgleich mit Les noms-du-père, „Die Namen-desVaters“) sowie bei einem Vortrag von 1974, in dem Lacan dieses Seminar zusammenfasst und zuspitzt; der Titel des Vortrags ist „Die Dritte“. Ich werde also über den menschlichen Körper in der Topologie des späten Lacan sprechen und beziehe mich dafür auf die Seminar 21 bis 24 sowie auf „Die Dritte“. Zunächst werde ich skizzieren, wie Lacan sich davor über den menschlichen Körper geäußert hatte. Danach geht es um die Neuerung, die sich um 1973 herum vollzieht, die Orientierung an der Knotentheorie. Und schließlich werde ich die genannten vier Texte unter dem hier interessierenden Gesichtspunkt vorstellen: Wie verortet Lacan den Körper in der Topologie? Da Lacan seine Theorie beständig umbaut, stelle ich die Texte in chronologischer Reihenfolge vor.
1 Vorgeschichte Das berühmteste Theorem des frühen Lacan über den Körper ist seine Konzeption des Spiegelstadiums; sie geht auf das Jahr 1936 zurück (vgl. Lacan 1980, S. 57–62).3 Das Ich im Sinne der Psychoanalyse beruht letztlich darauf, so behauptet Lacan, dass der Säugling in einer bestimmten Phase in einem Spiegel sein eigenes Bild erblickt. Zu diesem Zeitpunkt ist der Körper des Kindes, Lacan zufolge, noch disharmonisch: Die Motorik ist unkoordiniert, die Triebe sind chaotisch. Im Spiegelbild antizipiert das Kind die Einheit seines Körpers, deshalb bricht es bei seinem Anblick in Jubel aus. Der Körper wird hier von Lacan also
3Der
Text von 1936 ist verlorengegangen. Die älteste erhaltene Version der Theorie des Spiegelstadiums ist von 1938 (Lacan 1980).
6 Die drei Körper in Lacans Knoten-Topologie
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Abb. 1 Zweite Topik (Freud, „Das Ich und das Es“). (Aus Freud 2000a, S. 293)
in einer Polarität verortet, in der Spannung zwischen dem gefühlten Körper, der gewissermaßen als zerrissen empfunden wird, und dem angeschauten Körper, der dem Säugling in illusorischer Weise als einheitlich erscheint, wobei die Zerrissenheit dann in den Phantasien des zerstückelten Körpers wiedererscheint. 1953 erfindet Lacan dann die Trinität des Symbolischen, des Imaginären und des Realen (vgl. Lacan 2006a). Von nun an wird er sich bemühen, den Begriffsapparat der Psychoanalyse neu zu bestimmen: durch Beziehungen zu diesen drei Registern. Von der Lacan’schen Triade wird auch der Körper erfasst, und das heißt, es gibt jetzt für ihn drei Körper: den Körper im Symbolischen, im Imaginären und im Realen. In einem Aufsatz von 1962 kann man lesen: Die Psychoanalyse impliziert erstens „das Reale des Körpers“, zweitens „das Imaginäre seines mentalen Schemas“ und schließlich die Elemente einer „Heraldik“, eines „Wappens des Körpers“ (Lacan 2015b, S. 338). Das Reale des Körpers, das ist der Körper außerhalb des Imaginären und des Symbolischen, außerhalb von Verbildlichung und Versprachlichung. Das Imaginäre seines mentalen Schemas – diese Formulierung bezieht sich auf das im Spiegelstadium geprägte Körperbild. Die Elemente einer „Heraldik“ oder eines „Wappens“ haben Bedeutungen, sie fungieren als Signifikanten, und damit sind wir beim Körper in der Ordnung des Symbolischen. Ebenfalls um 1953 herum übernimmt Lacan von Hegel das Begriffspaar Begierde und Genuss, er übersetzt es (Kojève folgend) mit désir und jouissance (vgl. Lacan 2016a, S. 294). In den Jahren danach wird er diese Opposition ausarbeiten, und dabei bezieht er den Begriff der jouissance ausdrücklich auf den des Körpers. In Seminar 13 von 1965/1966, Das Objekt der Psychoanalyse, wird er sagen, „die jouissance lässt sich nur vom Körper her erfassen“ (Lacan 2006b,
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S. 214; 27.04.1966); in Seminar 14 von 1966/1967, Die Logik des Phantasmas, wird das präzisiert: Jouissance gibt es nur vom eigenen Körper her (vgl. Lacan 2017a, S. 250; 24.05.1967).4 Wenn Lacan über jouissance spricht – über Lust, Genuss, Genießen –, geht es explizit oder implizit immer auch um den Körper, um den Körper, der vom Imaginären oder vom Symbolischen umstrukturiert wird, oder um den Körper, der sich diesen Ordnungen entzieht. Das Körperbild – das Imaginäre des Körpers – hat Lacan zufolge eine fesselnde Kraft; es blockiert den Zugang zur Struktur des Unbewussten. Das hat Folgen selbst noch für die visuelle Darstellung dieser Struktur. Von Freud gibt es zeichnerische Darstellungen der sogenannten zweiten Topik, also der Gliederung in Ich, Es und Über-Ich (siehe Abb. 1).5 Lacan macht sich über dieses Diagramm lustig, er bezeichnet als „Schema in Form eines Eis“ (Lacan 2006c, S. 500) oder als „Ei-mit-dem-Auge“ (Lacan 2015a, S. 172). Sein Spott bezieht sich darauf, dass die Darstellung letztlich auf einer Art Kreis beruht, auf einer geschlossenen Linie, die ein Inneres von einem Äußeren trennt. Damit ist dieses Diagramm aber, in Lacans Perspektive, dem Körperbild verhaftet, also dem Imaginären. Für die Entwicklung seiner eigenen Theorie der Psychoanalyse sucht er nach räumlichen Darstellungen, die nicht auf dem InnenAußen-Gegensatz beruhen. Seit dem zweiten Seminar arbeitet er hierfür mit Graphen im Sinne der Mathematik, das heißt mit Gebilden, die nur aus Kanten und Eckpunkten bestehen und nicht aus Flächen (siehe Abb. 2). Ab Seminar 9 von 1961/62, Die Identifizierung, rezipiert Lacan intensiv die mathematische Topologie. Sie kennt vier Grundflächen: Sphäre, Torus, Kreuzhaube und Klein’sche Flasche. Die Sphäre – die Kugeloberfläche – ist in den Augen von Lacan eine mathematisierte Version des Körperbildes und entspricht damit dem Imaginären. Der Sphäre stellt er die drei anderen Flächen gegenüber, die er als „Asphären“ bezeichnet (vgl. Lacan 2001b, S. 471–474). Er versucht zu zeigen, dass es Entsprechungen gibt zwischen der Struktur dieser „Asphären“ und Strukturen des Unbewussten: Der Torus zeigt das Verhältnis von Anspruch und Begehren, die Kreuzhaube entspricht, sofern sie mit einem bestimmten Schnitt versehen wird, der Struktur des Phantasmas; von der Klein’schen Flasche aus versucht Lacan, die Identifizierung zu begreifen. Besonders wichtig ist für ihn der Torus (siehe Abb. 3), da bei ihm „seine peripherische Exteriorität und seine zentrale Exteriorität nur eine einzige Region
4Die These, dass jouissance immer eine jouissance des Körpers ist, findet man zuerst in dem Vortrag „De ce que j’enseigne“ („Was ich lehre“) von 1962 (vgl. Lacan 1992, 330, ALI-Nachdruck 424 f.). Sie wird wieder aufgegriffen in Seminar 13 von 1965/1966, Das Objekt der Psychoanalyse (vgl. Lacan 2006b), in der Sitzung vom 27. April 1966, und ausgearbeitet in Seminar 14 von 1966/67, Die Logik des Phantasmas (vgl. Lacan 2017a), in den Sitzungen vom 22. Februar 1967, vom 24. Mai 1967 und vom 31. Mai 1967. 5Es
gibt von Freud noch eine weitere zeichnerische Darstellung der zweiten Topik, siehe Freud 2000b, S. 514.
6 Die drei Körper in Lacans Knoten-Topologie
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Abb. 2 Schema L (Lacan, Poe-Aufsatz). (Aus Lacan 2016c, S. 63)
Abb. 3 Torus. (Aus Wikimedia Commons, Datei: Torus-40–15.svg.)
bilden“ (Lacan 2016a, S. 379), wie es bereits in „Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse“ heißt, einem Aufsatz von 1953, zugespitzt gesagt, weil hier das Innere das Äußere ist und weil damit die für das Imaginäre charakteristische Raumstruktur unterlaufen wird. Immer wieder befasst Lacan sich auch mit einer Fläche, die aus diesen Grundflächen abgeleitet ist, mit dem Möbiusband. Er begreift es als Darstellung des Subjekts im Sinne der Psychoanalyse, d. h. des Subjekts, insofern es in Bewusstes und Unbewusstes gespalten ist. So weit zur Vorgeschichte. In Seminar 14 von 1966/1967, Die Logik des Phantasmas, erklärt Lacan, der Andere sei letztendlich der Körper (vgl. Lacan 2017a, S. 242; 10.05.1967).6 In der Zusammenfassung dieses Seminars heißt es über den „Ort des Anderen“, dass er „nirgendwo anders als im Körper zu nehmen ist, dass er nicht Intersubjektivität ist, sondern Narben auf dem Integument des Körpers, Stiele, die, indem sie mit seinen Öffnungen verbunden werden, hier als Stecker dienen, altüberlieferte Kunstgriffe und Techniken, die ihn zernagen“ (Lacan 2001a, S. 327).
6Zum
Anderen (bzw. Ort des Anderen) als Körper vgl. auch die Sitzungen vom 24. und 31. Mai 1967 des Seminars Die Logik des Phantasmas.
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Abb. 4 Borromäische Ringe. (Aus Borromean Rings Clip Art von de.clipartlogo.com)
Abb. 5 Borromäische Ringe als RSI (Lacan, „Die Dritte“). (Aus Lacan 2016b, S. 190)
2 Die borromäischen Ringe In Seminar 19 von 1971/1972, … oder schlimmer, stellt Lacan zum ersten Mal die sogenannten borromäischen Ringe vor.7 Von ihnen aus wird er in den folgenden Jahren seine Theorie der Psychoanalyse umbauen (siehe Abb. 4). Die Ringe sind so miteinander verschlungen, dass zwei von ihnen nie direkt ineinandergreifen, vielmehr werden sie immer nur durch den dritten zusammengehalten. Das hat zur Folge, dass sämtliche Ringe auseinanderfallen, wenn man einen beliebigen von ihnen auftrennt. Lacan befasst sich danach intensiv mit einem Forschungsgebiet der mathematischen Topologie, in dem nicht zuletzt solche borromäischen Verkettungen untersucht werden, mit der Knotentheorie. In der Terminologie dieses Forschungsfeldes handelt es sich bei den borromäischen
7Den
ersten Hinweis auf die borromäischen Ringe gibt er in der Sitzung vom 9. Februar 1972; vgl. Lacan (2011, S. 91).
6 Die drei Körper in Lacans Knoten-Topologie
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Abb. 6 Reales, Symbolisches, Körper (Lacan, „Die Dritte“). (Aus Lacan 2016b, S. 190)
Ringen um eine Verkettung von drei trivialen Knoten, d. h. von Knoten, die nicht in sich selbst verschlungen sind, wobei die Verkettung die Brunn’sche Eigenschaft hat, die eben darin besteht, dass die Elemente stabil verbunden sind, obwohl sie nicht paarweise ineinandergreifen. Solche Verkettungen sind in den dreidimensionalen Raum eingebettet; die Zeichnung (Abb. 4) zeigt eine Projektion in den zweidimensionalen Raum, wobei die Dreidimensionalität des Objekts dadurch angezeigt wird, dass an den Kreuzungsstellen markiert ist, welche Linie oben verläuft und welche unten. Lacan baut diese Gebilde mithilfe von Schnur-Ringen nach und fertigt Unmengen von Zeichnungen hierzu an; er spricht anfangs vom „borromäische Knoten“, später, wie die Mathematiker, auch von der „borromäischen Verkettung“. Nach einigen kürzeren Hinweisen auf die borromäischen Ringe in den Seminaren 19 und 20 vollzieht Lacan im Jahr darauf einen entscheidenden Schritt, also in Seminar 21 von 1973/1974, Les non-dupes errent: Er ordnet die drei Ringe den drei Registern des Realen, des Symbolischen und des Imaginären zu.8 In dem Vortrag „Die Dritte“, in dem er dieses Seminar zusammenfasst, stellt er die Verbindung von Ringen und Benennungen so dar (siehe Abb. 5): An die Stelle von Freuds zweiter Topik mit der Annahme, dass das Ich zwischen dem Es und der Außenwelt vermittelt, tritt die These von der wechselseitigen gleichrangigen Abhängigkeit der drei Lacan’schen Register. Lacan beginnt nun, die gesamte Theorie der Psychoanalyse, die er bis zu diesem Zeitpunkt entwickelt hat, vom „borromäischen Knoten“ aus umzubauen. Seine Forschungshypothese lautet: Die Struktur des „borromäischen Knotens“ entspricht der Struktur des psychoanalytischen Feldes. Der Grundgedanke lässt sich gewissermaßen mit bloßem Auge erfassen. Die drei Register sind gleichwertig, und zwar insofern, als sie dieselbe Funktion haben: Jede der drei Ordnungen hält alle drei Ordnungen zusammen – das Reale verknüpft das Symbolische mit dem Imaginären, das Symbolische verbindet
8Diese
Zuordnung nimmt Lacan erstmals in der Sitzung vom 13. November 1973 von Seminar 21 vor, Les non-dupes errent.
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Abb. 7 Überschneidungsbereiche in den borromäischen RSI-Ringen (Lacan, „Die Dritte“). (Aus Lacan 2016b, S. 199)
das Imaginären mit dem Realen, und das Imaginäre verkettet das Reale mit dem Symbolischen. Die These der Gleichrangigkeit ist nicht ganz neu; Lacan hat sie bereits in dem Vortrag angedeutet, mit dem er 1953 die Dreiheit des Realen, des Symbolischen und des Imaginären einführte. Eine Psychoanalyse hat demnach den folgenden Ablauf: „rS – rI – iI – iR – iS – sS – SI – SR – rR – rS“. Die Großbuchstaben R, S und I stehen darin für „Reales“, „Symbolisches“ und „Imaginäres“; die kleinen Buchstaben r, s und i sind Abkürzungen für „realisieren“, „symbolisieren“ und „imaginieren“. Die Formel besagt: Eine Analyse beginnt mit dem „Realisieren des Symbols“ (rS), darauf folgt das „Realisieren des Bildes“ (rI) usw. (vgl. Lacan 2006a, S. 44–48). Die frühere Annahme, dass die Beziehungen zwischen den drei Registern durch eine Kombinatorik geregelt sind, ist von der neuen These der gleichrangigen wechselseitigen Verkettung nicht weit entfernt. Welche Folgen hat Lacans borromäische Wendung für seine Auffassung des Körpers? In dem Vortrag „Die Dritte“ von 1974 zeigt Lacan eine Reihe von Diagrammen, darunter das folgende (siehe Abb. 6): Wie man sieht, ersetzt er hier den Ausdruck „Imaginäres“ durch „Körper“. Das entspricht dem Sprachgebrauch in den späten Seminaren: Wenn dort vom Körper die Rede ist, ist meist das Körperbild gemeint. Später zeigt Lacan in diesem Vortrag das folgende Schema (siehe Abb. 7): Die dreidimensionale Verkettung unterliegt in der Zeichnung einer „Plättung“, wie Lacan die zweidimensionale Darstellung nennt. Hierdurch entstehen, ähnlich wie bei einem Venn-Diagramm, Teilflächen, und Lacan bezeichnet die Segmente mit Begriffen seiner Theorie. Das Wort „Körper“ ist jetzt nach unten gerutscht; es bezieht sich nicht mehr auf den gesamten Ring, sondern nur auf die obere Teilfläche. Die vier Überschneidungsbereiche sind mit „Jϕ“, „JA“, „Sinn“ und „a“ bezeichnet. Diese Termini beziehen sich auf unterschiedliche Arten der jouissance, auf Formen der Lust, des Genießens.
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• „Körper“ meint in diesem Schema: die durch die Beziehung zum Körperbild regulierte Lust; im Vortrag nennt er sie „Körperlust“ und auch „Lebenslust“ (Lacan 2016b, S. 190). • „Jϕ“ steht für die jouissance phallique, für die „phallische Lust“, für das „phallische Genießen“; gemeint ist die durch den Kastrationskomplex strukturierte sexuelle Lust (vgl. Lacan 2011, S. 31 f.; 15.12.1971). • „JA“ ist eine Abkürzung für jouissance de l’Autre. Der Genitiv ist hier, wie Lacan im RSI-Seminar klarstellen wird, ein Genitivus objectivus (vgl. Lacan 2012, S. 9; 10.12.1974; Lacan 2015c, S. 33; 11.02.1975), es geht also um die „Lust am Anderen“, gemeint ist die Lust am Körper des anderen Geschlechts. Um diese Lust handelt es sich insofern, als sie unzugänglich ist; in einem späteren Seminar wird Lacan dieses Feld deshalb zur Verdeutlichung mit JȺ bezeichnen, also mit einem durchgestrichenen A (vgl. Lacan 2017b, S. 51; 16.12.1975).9 • Mit „Sinn“ ist der Sinn des Symptoms gemeint, der Sinn als Effekt der Deutung (vgl. Nemitz 2014b). Auch das Sinnverstehen geht mit einer bestimmten Lust einher.10 Lacan bezieht sich darauf mit dem Wortspiel jouissance / j’ouï sens, „Lust“/„ich höre Sinn“.11 • Das kleine a steht für eine Entität, die Lacan als Objekt a bezeichnet, das ist seine Neufassung des von Melanie Klein in die Psychoanalyse eingeführten Partialobjekts. Für Lacan gibt es vier Objekte a: Brust, Kot, Blick und Stimme. Diese Objekte sind „Körpersplitter“, wie es in „Die Dritte“ heißt (Lacan 2016b, S. 189). Auch das Objekt a steht im Diagramm für eine bestimmte Lust, die Lacan als plus-de-jouir bezeichnet, als „Mehrlust“.12 Die Mehrlust ist die mit dem Symptom verbundene „Ersatzbefriedigung“, wie Freud sich ausdrückt (vgl. Freud 2000c, S. 220). Das Diagramm zeigt also die Gliederung des Feldes der Lust, über das Lacan in einem früheren Seminar bemerkte, dass er sich gewünscht habe, dass man es „das Lacan’sche Feld“ nennt (vgl. Lacan 1991, S. 93; 11.02.1970). Insgesamt versucht das Diagramm zu zeigen, dass sich die Beziehungen zwischen diesen Lustarten als Beziehungen zwischen dem Realen, dem Symbolischen und dem Imaginären
9Vgl.
hierzu ausführlich Nemitz (2014a). „Das Imaginäre ist das, was die Entzifferung zu einem Halt bringt, das ist der Sinn. Wie ich Ihnen bereits gesagt habe, muss man ja irgendwo aufhören und sogar so früh, wie man kann. Das ist das Imaginäre, das ist immer eine Intuition dessen, was zu symbolisieren ist; wie ich gerade gesagt habe, etwas zum Kauen, zum Denken, wie man sagt. Und, um es klar zu sagen, eine undeutliche Lust (jouissance)“ (Lacan 2015d, S. 4). 11Vgl. Seminar 22, Sitzung vom 8. April 1975, Lacan (2015c, S. 69); Seminar 23, Sitzung vom 13. Januar 1976, Lacan (2017b, S. 76). Man findet das Wortspiel bereits in Lacan (2015b, S. 360). 12Der Begriff plus-de-jouir wird von Lacan in Seminar 16 von 1968/1969 eingeführt, D’un Autre à l’autre (vgl. Lacan 2006d). Die deutsche Übersetzung mit „Mehrlust“ ist von Lacan. 10Lacan:
98
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Abb. 8 Borromäische Ringe mit „Körper“ und „Leben“ (Lacan, „Die Dritte“). (Aus Lacan 2016b, S. 200)
rekonstruieren lassen. Ich kann das an dieser Stelle nicht vollständig durchdeklinieren, hier nur einige Hinweise: • Den Mittelpunkt des Schemas nimmt das Objekt a ein. Soll heißen: Die Mehrlust stützt sich auf das Reale, das Symbolische und das Imaginäre, und sie bildet den „Kern der Lust“, sie ist die „Bedingung“ jeder anderen Lust (Lacan 2016b, S. 189). Das Objekt a gehört zum Imaginären, insofern es als Körperteil imaginiert wird, zum Symbolischen, insofern es durch einen Schnitt erzeugt wird, zum Realen, insofern es auf eine Unmöglichkeit verweist. • Die phallische Lust liegt im Überschneidungsbereich des Symbolischen und des Realen. Das Subjekt versucht diese Lust zu symbolisieren, so wie der kleine Hans, der, als er seine ersten Erektionen hat, überall nach dem
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Wiwimacher sucht;13 diese Lust hat jedoch einen traumatischen Kern, es gibt hier etwas Unsymbolisierbares. • Die phallische Lust und die Körperlust sind einander äußerlich; soll heißen: Die phallische Lust wird im Verhältnis zur Körperlust als „anomal“ empfunden (Lacan 2016b, S. 190), als eine Art Parasit (vgl. Lacan 2015d, S. 106; 11.06.1974). Viele Analysanden erzählen, so berichtet Lacan in „Die Dritte“, dass sie sich an ihre erste Masturbation immer erinnern werden – warum? Weil das „den Schirm sprengt“ (Lacan 2016b, S. 190), wie er sich ausdrückt, anders gesagt: weil diese Art der Lust den Rahmen der Körperlust sprengt. In „Die Dritte“ stellt Lacan noch eine weitere Version der borromäischen Ringe vor, die, wenn man so sagen darf, stark komplexifiziert ist (siehe Abb. 8): Man sieht hier wieder die drei mit R, S und I bezeichneten Kreise, außerdem die schon bekannten Einträge „Körper“, „Sinn“ und „JA“. Was die übrigen Einträge angeht, möchte ich nur einen Punkt hervorheben. Im Ring des Realen findet man die Bezeichnungen „Wissenschaft“ und „Leben“. Sie sind durch einen Pfeil verbunden, der von „Wissenschaft“ zu „Leben“ führt; dieser Pfeil wird durch „Vorstellung“ und „Vbw“ (für „Vorbewusstes“) durchkreuzt. Lacan unterscheidet hier also das Leben vom Körper. Freud hat von August Weismann die Unterscheidung der lebenden Substanz in eine sterbliche und eine unsterbliche Hälfte übernommen; die sterbliche Hälfte ist der Körper im engeren Sinne, die Keimzellen hingegen sind potenziell unsterblich (vgl. Freud 2000c, S. 254–256). Im Diagramm knüpft Lacan mit der Unterscheidung von Körper und Leben an diese Opposition an. Der Terminus „Leben“ ist im Ring des Realen verortet, und das heißt für Lacan, das Leben ist durch etwas Unmögliches charakterisiert – durch etwas, das für die Wissenschaft unmöglich ist, deshalb der Pfeil von „Wissenschaft“ zu „Leben“. Für die Wissenschaft ist es unmöglich, so behauptet Lacan, eine Vorstellung davon zu entwickeln, wie sich das DNA-Molekül entwickelt hat (vgl. Lacan 2016b, S. 200 f.), anders gesagt: Die Wissenschaft kann die Entstehung des Lebens nicht erklären.
3 Konsistenz, Loch, Ex-sistenz In den Seminaren 21 und 22 arbeitet Lacan eine weitere Dreigliederung aus, die von Konsistenz, Loch und Ex-sistenz. Diese Dreiheit bezieht sich auf die Elemente der borromäischen Verkettung, also auf die einzelnen Schnur-Ringe. Jeder dieser Ringe hat drei Merkmale: Er hat Konsistenz, d. h., er hält in sich zusammen; er hat außerdem ein Loch – eines, durch das man eine andere Schnur führen kann; und schließlich hat er Ex-sistenz: Er stößt gegen die anderen Ringe, ohne mit ihnen zu
13Der
„kleine Hans“ ist der Patient in einer von Freuds Fallstudien (vgl. Freud 2000d). Lacan bezieht sich hierauf zur Erläuterung der phallischen Lust unter anderem in Lacan (2017c, S. 42–47).
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Tab. 1 Konsistenz, Loch, Existenz (Tabelle von Koren zu Lacan, Seminar 22). (Aus Koren 2005, S. 345, Übersetzung R.N.) Reales
Symbolisches
Imaginäres
Schnur (als Materialität)
Signifikantenkette
Vorstellung Körper
Loch Das Andere Geschlecht (Symbolisch)
Urverdrängung
Körperöffnungen
Ex-Sistenz (Real)
Andere Lust Phallische Lust (außerhalb der Sprache) (außerhalb des Körpers)
Konsistenz (Imaginär)
Sinn (Reales als außerhalb des Sinns)
verschmelzen oder durch sie hindurchzugehen (das Reale besteht darin, dass man an etwas anstößt), die andere Ringe „verharren im Außen“, wie man „Ex-sistenz“ übersetzen könnte. Diese drei Merkmale – und damit wird es kompliziert – ordnet Lacan wiederum dem Imaginären, dem Symbolischen und dem Realen zu. Dem Imaginären entspricht die Konsistenz, dem Symbolischen das Loch und dem Realen die Ex-sistenz. Das heißt nun aber: Der Ring des Imaginären hat Konsistenz, Loch und Ex-sistenz, also einen imaginären, einen symbolischen und einen realen Aspekt; für die Ringe des Symbolischen und des Realen gilt das Entsprechende. Die Unterscheidung des Imaginären, des Symbolischen und des Realen wird hier also gewissermaßen in sich selbst eingetragen.14 Re-entry nennt Spencer Brown diese Struktur (vgl. Spencer Brown 1997). Auf diese Weise ergeben sich neun Felder, deren Inhalte Lacan in Seminar 22 erläutert. Daniel Koren hat das in der folgenden Kreuztabelle dargestellt; ich habe sie leicht überarbeitet (siehe Tab. 1). Einige dieser Felder sind bereits als Überschneidungsbereiche der borromäischen Verkettung bekannt: „Körper“, „Sinn“, „Andere Lust“ (im Knotendiagramm war das JA, jouissance de l’Autre), „phallische Lust“ (im Knotendiagramm: Jϕ). Andere Elemente sind neu. Unter dem hier relevanten Gesichtspunkt – der Frage nach dem Körper in der Knotentopologie – interessiert vor allem der Begriff der Körperöffnung. Damit sind die Regionen des Körpers gemeint, die Freud als „erogene Zonen“ bezeichnet. Geht man von Lacans vier Objekten a aus, sind dies der Mund, der Anus, der Lidrand und das Ohr. Im Register des Imaginären (rechte Spalte) findet man also unter dem Aspekt der Konsistenz das Körperbild; unter dem Aspekt des Lochs die Körperöffnung; und unter dem Aspekt der Ex-sistenz die phallische Lust als das, was dem Körper äußerlich ist.
14Auch
diese Theorietechnik erinnert an das Schema aus dem Vortrag von 1953, mit dem die Dreigliederung von Realem, Symbolischem und Imaginärem eingeführt wird. Die drei Ordnungen treten dort ja ebenfalls in zwei Funktionen auf (die durch Groß- und Kleinbuchstaben unterschieden werden), das Symbolische etwa als „Symbol“ und „Symbolisieren“, und diese beiden Funktionen können miteinander kombiniert werden: „Realisieren des Symbols“, „Imaginieren des Symbols“, „Symbolisieren des Symbols“ usw.
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Abb. 9 Borromäische Verkettung von vier Ringen (Lacan, Seminar 23). (Das Diagramm findet man in der Sitzung vom 17. Februar 1976; die Abbildung ist aus Lacan 2007, S. 102 (geändert); vgl. auch Lacan 2017b, S. 100)
4 Von der Drei zur Vier Eine borromäische Verkettung zeichnet sich wie gesagt dadurch aus, dass alle Komponenten auseinanderfallen, wenn man eine beliebige Komponente entfernt. Verkettungen dieses Typs lassen sich mit unendlich vielen Ringen herstellen, es müssen jedoch mindestens drei sein. In Seminar 22 beginnt Lacan sich zu fragen, wie sich eine borromäische Verkettung von vier Elementen für die Psychoanalyse fruchtbar machen lässt,15 und das führt ihn zu einem weiteren Umbau, bei dem er allerdings nur erste Schritte gehen kann. Bis dahin hatte seine Theorie ab 1953 ihren letzten Bezugspunkt in der Dreigliederung von Realem, Symbolischem und Imaginären, und obwohl Lacan seine Konzepte ständig reformuliert hat, blieb diese Grundlage 21 Jahre lang erhalten. Jetzt kommt ein viertes Element hinzu, für das gilt, dass es genauso fundamental ist wie das Reale, das Symbolische und das Imaginäre. Lacan bezeichnet das vierte Element der Verkettung anfangs, in Seminar 22, als „psychische Realität“16, als „Name-des-Vaters“, als „Namen-des-Vaters“ – Namen im Plural17 – sowie als „Benennung“18. In Seminar 23 von 1975/1976, Das Sinthom, arbeitet er die borromäische Verkettung von vier Ringen weiter aus, und jetzt nennt er das vierte Element „Symptom“ oder auch „Sinthom“ – „Sinthom“ ist eine ältere latinisierende Schreibweise, die Lacan Wortspiele etwa mit saint homme ermöglicht, mit „heiliger Mann“ (vgl. Lacan 2017b, S. 13 f.; 18.11.1975). Das Symptom ist mit dem Realen, dem Symbolischen und dem Imaginären borromäisch verkettet, d. h., es tritt jetzt in der Struktur gleichwertig neben das Reale, das Symbolische und das Imaginäre – jede dieser vier Komponenten hält alle vier zusammen. Abb. 9 zeigt eine borromäische Verkettung von vier Komponenten, wie Lacan sie in Seminar 23 vorstellt. Betrachtet man in dieser Abbildung zunächst einmal nur die
15Auf
den borromäischen Viererknoten bezieht Lacan sich zuerst in der Sitzung vom 14. Januar 1975. 16Seminar 22, Sitzung vom 14. Januar 1975. 17Seminar 22, Sitzung vom 11. Februar 1975. 18So zuerst am 15. April 1975.
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drei kreisförmigen Elemente, sieht man, dass die drei Ringe übereinander liegen, der Ring des Symbolischen liegt unten, darüber ist an den Überkreuzungsstellen der Ring des Realen platziert, und ganz oben befindet sich der Ring des Symbolischen – die drei Ringe greifen weder direkt noch auf borromäische Weise ineinander. Normalerweise würden sie also auseinanderfallen. Die vierte, an einen Bumerang erinnernde Komponente Σ (Sigma für „Symptom“) hält die vier Teile gewissermaßen zusammen. Die Sonderstellung des vierten Elements ist allerdings eine optische Illusion – da es sich um eine Verkettung mit borromäischem Charakter handelt, gilt für jeden der vier Bestandteile, dass er alle vier Komponenten zusammenhält. Im Sinthom-Seminar bemüht sich Lacan, die Viererverkettung für den Fall James Joyce fruchtbar zu machen – nicht für die Analyse seiner Texte, sondern um die Frage zu beantworten, wie Joyce als Schriftsteller funktionierte. Hierbei spielt die Frage des Körpers eine Schlüsselrolle. Die psychische Struktur von Joyce ist Lacan zufolge dadurch gekennzeichnet, dass es bei ihm im Verhältnis zum Namen-des-Vaters eine „faktische Verwerfung“ gibt (Lacan 2017b, S. 95; 10.02.1976); mit dem Namen-des-Vaters ist hier der Vater in seiner Funktion als Benennender gemeint; in der Beziehung zum benennenden Vater gibt es eine „faktische Verwerfung“, das heißt, Joyce hat gewissermaßen keinen Namen und ist in diesem Sinne verrückt. Die faktische Verwerfung des Namens-des-Vaters hat zur Folge, dass das Imaginäre bei Joyce anders funktioniert als bei den meisten Menschen. Für diese These bezieht Lacan sich auf eine Szene aus einem frühen Roman von Joyce, Ein Porträt des Künstlers als junger Mann. Stephen Dedalus streitet sich mit seinen Klassenkameraden darüber, wer der größte Dichter ist. Da er bei seiner abweichenden Meinung bleibt, wird er von ihnen geschlagen und gegen einen Zaun aus Stacheldraht gedrängt. Fünf Jahre später erinnert er sich daran, und er fragt sich, wie es kommt, dass er seinen Peinigern gegenüber keinen Groll mehr empfindet, obwohl er die Szene noch deutlich vor sich sieht und obwohl er die Feigheit und Grausamkeit seiner Kameraden nicht vergessen hat. An dieser Stelle heißt es im Roman: „Selbst in jener Nacht [nach dem Verprügeltwerden], da er auf der Jones’s Road heimwärtsstolperte, hatte er das Gefühl gehabt, daß irgendeine Macht jenen jähgewirkten Zorn so mühlos von ihm ablöste wie eine reife weiche Schale von einer Frucht“ (Joyce 1987, S. 338).
Abb. 10 Fehler in der borromäischen Verkettung (Lacan, Seminar 23). (Aus Lacan 2015f, S. 208 (geändert); Sitzung vom 11.05.1976; vgl. Lacan 2017b, S. 168)
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Abb. 11 Ego als ReparaturRing (Lacan, Seminar 23). (Aus Lacan 2015f, S. 208 (geändert); Sitzung vom 11.05.1976; vgl. Lacan 2017b, S. 168)
Lacan deutet die Szene autobiographisch und kommentiert sie so (vgl. Lacan 2017b, S. 165–172; 11.05.1976): Die Metapher des Zorns, der abfällt wie die Schale, bezieht sich auf die Psychologie des Verhältnisses von Joyce zu seinem eigenen Körper und damit auf das Bild, das Joyce von seinem Körper hat. Wenn das Körperbild beeinträchtigt wird (etwa wenn man geschlagen wird), gibt es als Antwort darauf normalerweise einen Affekt. Bei Joyce hingegen löst sich der Affekt ab „wie eine Schale“, anders gesagt, das Verhältnis zum eigenen Körper ist für Joyce etwas, das er fallenlässt. Also gibt es bei Joyce eine Besonderheit im Verhältnis zu seinem Körperbild. Der nächste Argumentationsschritt lautet: Das hat Folgen für das, was man in der Psychoanalyse „Ego“ nennt. Mit „Ego“ bezeichnet man für gewöhnlich das Verhältnis zum eigenen Körper. Bei Joyce jedoch ist das Körperbild von dem Angriff nicht betroffen, und das ist das Zeichen dafür, dass bei ihm das Ego eine andere Rolle spielt als die übliche – Ego und Körperbild sind entkoppelt. Im Falle von Joyce betätigt sich das Ego darin, dass er versucht, sich durch seine Kunst einen Namen zu machen, einen Namen, der weltberühmt ist. Auf diese Weise kompensiert er die faktische Verwerfung des Namens-des-Vaters. Der Fall Joyce – das, wodurch Joyce zum Schriftsteller wurde – beruht demnach auf folgenden Faktoren: faktische Verwerfung des Namens-des-Vaters, d. h. Verwerfung der Benennung durch den Vater; Fallenlassen des Körperbildes; Entkoppelung von Ego und Körperbild; Ego mit der Funktion, sich durch sein Werk einen Namen zu machen. Diese Struktur versucht Lacan durch eine Verkettung von vier Elementen genauer darzustellen. Im ersten Schritt wird die faktische Verwerfung des Namens-des-Vaters von Lacan durch ein Diagramm repräsentiert, in dem die Ringe des Realen und des Symbolischen nicht borromäisch durch das Imaginäre verbunden sind, sondern direkt ineinandergreifen (siehe Abb. 10). Es gibt hier einen Fehler in der Verkettung, und Lacan lokalisiert ihn an der oberen Überkreuzungsstelle: Der Ring des Symbolischen verläuft dort über dem des Realen statt darunter, wie es für eine borromäische Verkettung erforderlich wäre. Der Verkettungsfehler hat zur Folge, dass der Ring des Imaginären mit den beiden anderen Ringen nicht verknüpft ist; er kann aus der Verbindung mit dem
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Realen und dem Imaginären herausfallen und sich gewissermaßen davonmachen. Dies entspricht Lacan zufolge der Metapher vom Abfallen der Schale bzw. des Zorns. Das Entgleiten des Imaginären wird jedoch verhindert, und zwar dadurch, dass ein viertes Element ins Spiel kommt: das Ego. Es hat bei Joyce die Funktion, dass er sich (erfolgreich) bemüht, sich durch das Werk einen Namen zu machen; im Diagramm ist das Ego als Rechteck eingetragen (siehe Abb. 11). Lacan merkt hierzu an: „Durch diesen Kunstgriff der Schrift stellt sich der borromäische Knoten wieder her, würde ich sagen“ (Lacan 2017b, S. 170). Er irrt sich, die Verkettung mit dem Ego als Reparatur-Element hat keinen borromäischen Charakter. Borromäisch wäre sie, wenn alle Elemente dann auseinanderfallen, wenn man eine beliebige Komponente öffnet. Hier jedoch greifen die Ringe des Realen und des Symbolischen auch nach der Reparatur durch das Ego direkt ineinander, und das heißt: Wenn man das Ego-Element auftrennt, fallen die Ringe des Realen und des Symbolischen keineswegs auseinander – und also ist die Verkettung nicht borromäisch. Lacan bezog den Begriff des Symptoms zunächst auf einen anderen Knoten, auf den Kleeblattknoten (oder Dreierknoten); ein falscher Kleeblattknoten wird durch einen Ring repariert, und dies sorgt dafür, dass der falsche Kleeblattknoten „den Anschein bewahrt“, als wäre er ein echter Kleeblattknoten (Lacan 2017b, S. 101). Dieser Hinweis auf den Scheincharakter wird für den Joyce-Knoten rätselhafterweise fallengelassen. Die Besonderheit von Joyce, so könnte man Lacans These bezogen auf die Frage nach dem Körper zuspitzen, besteht darin, dass er ein entkörpertes Ego hat (das bezieht sich auf den Körper qua Körperbild), und die Knoten-Topologie gibt Lacan eine Möglichkeit, die Struktur dieser Entkörperung sowie ihre Ursache und ihre Funktion darzustellen.
5 Die drei Körper In Seminar 24 von 1976/77 – es hat, wie gesagt, den schönen Titel L’insu que sait de l’une-bévue s’aile à mourre – erkundet Lacan die Beziehungen zwischen der Topologie der Flächen und der Topologie der Knoten, genau gesagt zwischen dem Torus und den borromäischen Verkettungen von drei oder vier Komponenten. Ihn interessiert hier beispielsweise, dass die Elemente einer borromäischen Verkettung als Tori aufgefasst werden können oder dass man einen Hohltorus mit einer borromäischen Verkettung ausfüllen kann. Bei diesem Versuch, die Flächen und die Knoten zusammenzuführen, geht es Lacan, wie er sagt, um die géométrie véritable, um die „wahre“ oder „wirkliche“ Geometrie im Unterschied zur euklidischen Geometrie, wie man sie in der Schule lernt. Die euklidische Geometrie betrifft die „Engel“, die „reinen Geister“. Die wahre Geometrie hingegen ist eine solche, „die einen Körper hat“, anders gesagt, sie hat eine „Struktur“ (vgl. Lacan 2015e, S. 64; 15.03.1977).
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Was ist hier mit „Körper“ gemeint? Lacan bezieht sich hierfür auf den Begriff der Konsistenz und damit indirekt auf die Trias von Konsistenz, Loch und Exsistenz. Im folgenden Zitat spricht er über sich selbst in der dritten Person: Die Ausweitung von Lacan auf das Symbolische, auf das Imaginäre und auf das Reale macht es möglich, dass diese drei Termini ‚konsistieren‘. Ich bin nicht besonders stolz darauf. Immerhin ist mir jedoch klargeworden, dass ‚konsistieren‘ etwas bedeutet, nämlich dass man vom Körper sprechen muss und dass es einen Körper des Imaginären gibt, einen Körper des Symbolischen – das ist Lalangue – und einen Körper des Realen, von dem man nicht weiß, wie er herauskommt (comment il sort). (Lacan 2015e, S. 4 f.; 16.11.1976).
(a) Der Körper des Imaginären ist das Bild des eigenen Körpers. Was heißt das topologisch? Um sich vom Realen eine Vorstellung zu machen (pour se faire une idée du réel), greift man also auf das Imaginäre zurück. Schreiben Sie dann das se faire, das sich machen – ich habe gesagt, ‚um sich eine Vorstellung zu machen, se faire‘ –, schreiben Sie das als sphère, als Sphäre, und Sie wissen, was das Imaginäre bedeutet. (Lacan 2015e, S. 4; 16.11.1976).
Der imaginäre Körper ist der Körper, den man sich als sphärisch vorstellt. Diese Raumstruktur wird auf die Welt übertragen, weshalb wir sie uns als eine Art Kugel vorstellen; in früheren Seminaren hat Lacan sich häufig darauf bezogen. In Seminar 24 unternimmt er einen kleinen Versuch, unsere Bindung an die Sphäre zu lockern. Könnte man sich den Körper im Imaginären nicht statt als Sphäre als Torus vorstellen? Anatomisch gesehen sind die meisten Lebewesen um den Verdauungskanal herum gebaut, sie bilden gewissermaßen die dicke Wand einer Röhre, die vom Mund bis zum Anus reicht. Lacan nennt diese Raumstruktur trique, Knüppel, er meint damit einen Knüppel, welcher der Länge nach durchbohrt ist. Dieser gelochte Knüppel lässt sich so verformen, dass er einen Torus bildet – wir können uns vorstellen, dass er verkürzt wird und dass seine Wände so sehr verdickt werden, dass sie sich schließlich in einen Ring verwandeln. Lacan formuliert das so: Es gibt keinen Fortschritt, weil es keinen geben kann. Wenn das, was ich über die Struktur des Menschen sage, wahr ist, dreht der Mensch sich im Kreis, denn die Struktur des Menschen ist torisch. Nicht etwa, dass ich behaupten würde, dass dem so sei. Ich sage, dass man versuchen kann, einmal zu sehen, was das bringt, umso mehr, als die allAbb. 12 Körper als Knüppel (Lacan, Seminar 24). (Aus Lacan 2015e, S. 11)
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gemeine Topologie uns dazu anregt. Bislang war das ‚Weltsystem‘ immer kugelförmig. Man könnte ja vielleicht einmal wechseln. Bislang wurde die Welt – bis jetzt, so wie die Menschen das ausgedrückt haben–, wurde die Welt immer auf das Innere einer Blase gemalt. Das Lebendige begreift sich selbst als Blase. Immerhin hat es aber im Lauf der Zeit gesehen, dass es keine Kugel ist, keine Blase. Warum sollte man sich nicht klarmachen, dass es organisiert ist, ich meine: Das, was man vom lebenden Körper sieht, ist wie das organisiert, was ich beim letzten Mal als Knüppel bezeichnet habe: hier [siehe Abb. 12]. Ich versuche das so zu zeichnen. Es ist offensichtlich, dass das, was wir vom Körper kennen, insofern er konsistent ist, darauf hinausläuft. Das hier nennt man ‚ekto‘, das ‚endo‘, und da herum ist das ‚meso‘. So ist das gebaut, hier ist der Mund und dort [Gelächter] – das Gegenstück, der hintere Mund. Nur, dieser Knüppel ist nichts anderes als ein Torus. Die Tatsache, dass wir torisch sind, torique, passt ziemlich gut zu dem, was ich das letzte Mal Keule genannt habe, trique – das o wird getilgt. (Lacan 2015e, S. 11; 14.12.1976).
(b) Der Körper des Symbolischen ist lalangue, also la langue, „die Sprache“, jedoch in einem Wort geschrieben; ich übersetze das mit „Lalangue“. Lacan verwendet diesen Terminus seit 1971/72, seit der Vorlesungsreihe Das Wissen des Psychoanalytikers und dem parallel hierzu laufenden Seminar … oder schlimmer. Gemeint ist mit Lalangue die Muttersprache (die Sprache der Mutter aus der Perspektive des Kindes), insofern sie mit Mehrdeutigkeiten einhergeht. In dem Vortrag „Die Dritte“ (1974) verweist Lacan zur Erläuterung von Lalangue auf die Lautgleichheit von deux (zwei) und d’eux (von ihnen) sowie von nom (Name) und non (nein) (vgl. Lacan 2016b, S. 189); in einem Vortrag über das Symptom von 1975 bezieht er sich für Lalangue auf die Lautähnlichkeit von ne (nicht) und nœud (Knoten) (vgl. Lacan 2017c, S. 38). In „Die Dritte“ erfährt man außerdem, dass Lalangue sich aus dem Lustempfinden (jouir) gebildet hat; Lalangue zivilisiert die Lust und tötet das Leben ab, sodass die gesamte Lalangue, auch wenn sie in Gebrauch ist, eine tote Sprache ist, so heißt es hier; diese Abtötung hat zur Folge, so führt Lacan weiter aus, dass der Körper Lust an „Körpersplittern“ hat, an den Objekten a (vgl. Lacan 2016b, S. 189, 201). Das Unbewusste beruht auf Lalangue und damit auf einem „motérialisme“ (vgl. Lacan 2017c, S. 39) – ein weiterer Neologismus, ein Kofferwort aus matérialisme (Materialismus) und mot (Wort). Inwiefern ist Lalangue der Körper des Symbolischen, inwiefern stiftet Lalangue die Konsistenz des Symbolischen, seinen Zusammenhalt? In Seminar 21 heißt es, die Wörter haben nur deshalb einen Sinn, weil sie sich auf den Spuren bewegen, die von Lalangue gebahnt werden (Lacan 2015d, S. 106; 11.06.1974). Lalangue bildet demnach eine Art Unterbau, der die Verbindung von Signifikant und Signifikat fundiert. Vielleicht ist Lalangue aufgrund dieser Funktion der Unterfütterung der „Körper“ der Sprache. (c) Der Körper des Realen ist so, dass man von ihm „nicht weiß, wie er herauskommt“. Der Körper des Realen wird hier durch ein Nichtwissen charakterisiert, und das Nichtwissen bezieht sich darauf comment il sort, „wie er herauskommt“. Was könnte das heißen? In Seminar 24 liest man: „Man weiß nicht, was das ist, ein lebendiger Körper. Das ist eine Sache, die wir Gott überlassen“ (Lacan 2015e, S. 58; 08.03.1977).
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Damit könnte gemeint sein: Der lebendige Körper ist für uns zunächst etwas Imaginäres. Wenn wir jedoch fragen, was das ist, ein „lebendiger Körper“, stoßen wir auf ein Nichtwissen. Offenbar geht es hier wieder um den Begriff des Lebens, den Lacan ja bereits in dem Vortrag „Die Dritte“ im Feld des Realen lokalisierte, mit dem Argument „Das Reale ist das Unmögliche“; es ist uns unmöglich, uns vorzustellen, wie sich ein DNA-Molekül entwickelt hat. In Seminar 24 erläutert er das Nichtwissen über das Leben mit dem Zusammenbruch der Theorie der Spontanzeugung. Diese Theorie diente früher dazu, die Entstehung des Lebens zu erklären – Lebewesen, so nahm man an, entstehen spontan aus unbelebter Materie; als Beleg wurde angeführt, dass sich Mikroorganismen auf jedem beliebigen anorganischen Untergrund bilden, was man sieht, wenn man einen Becher lange genug stehen lässt – nach einiger Zeit bilden sich darin „Kulturen“. Pasteur hat nachgewiesen, dass es keine Spontanzeugung von Mikroorganismen gibt, und zwar ganz schlicht dadurch, dass er eine kleine Flasche mit Watte verstopfte und sie lange stehen ließ – nichts passierte (vgl. Lacan 2015e, S. 130 f.; 08.03.1977). Pasteur widerlegte die vorherrschende Theorie zur Erklärung der Entstehung des Lebens; die Frage, wie Leben entsteht, war damit wieder offen. Man weiß nicht, wie der Körper des Realen „herauskommt“, das dürfte also heißen: Der Körper des Realen ist der Körper unter dem Aspekt, dass man nicht weiß, wie das Leben entstanden ist. Offenbar ist Lacan auch an dieser Stelle damit befasst, Freuds (bzw. Weismanns) Opposition von sterblichem Körper und unsterblichen Keimzellen theoretisch zu rekonstruieren. Den Begriff des Körpers in der Psychoanalyse zu verorten heißt für Lacan also nicht zuletzt, sich die folgende Frage zu stellen: Was könnte aus der Freud’schen Opposition von sterblichem Körper und unsterblichen Keimzellen werden, wenn man die Unterscheidung zwischen dem Imaginären, dem Symbolischen und dem Realen für grundlegend hält?
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R. Nemitz
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6 Die drei Körper in Lacans Knoten-Topologie
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That’s knot psychoanalysis! Warum und wie verwendet Lacan die Mathematik? Timo Storck
Zusammenfassung
Im Beitrag wird untersucht, welchen Gebrauch Lacan von der Mathematik macht, insbesondere im Hinblick auf die Topologie und Knotentheorie. Im Spätwerk Lacans in den 1970er Jahren stößt Lacan an die Grenzen einer signifikantentheoretischen Konzeption und wendet sich dem mathematischen Buchstaben sowie der Ziffer zu sowie etwas später dem sogenannten borromäischen Knoten. Es werden dazu zunächst einige Figuren der linguistischen Signifikation rekapituliert und dann diskutiert, in welcher Weise die Auseinandersetzung mit dem Realen Lacan zur Mathematik führt. Es erfolgt eine gegenstandsbezogene Einführung in die Knotenlehre sowie eine Erörterung dessen, wie das Changieren zweier Darstellungsformen der auf borromäische Weise verschlungenen Ringen die Grenzbereiche zwischen den Lacanschen Registern zeigt. Die Arbeit schließt mit einem Ausblick darauf, welche Anwendungsformen sich aus einer solchen Grundlegung ergeben können.
1 Einleitung Der vorliegende Beitrag widmet sich der Untersuchung dessen, welchen Nutzen und welche konzeptuelle Bedeutung die Mathematik und deren Verwendung in der strukturalen Psychoanalyse Jacques Lacans haben. Genauer gesagt soll geprüft werden, was diesbezüglich zur Verwendung der Topologie und Knotentheorie in Lacans Spätwerk (ab ca. 1970) zu sagen ist. Es geht dabei um eine Aus-
T. Storck (*) Klinische Psychologie und Psychotherapie, Psychologische Hochschule Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 U. Kadi und G. Unterthurner (Hrsg.), Macht – Knoten – Fleisch, Abhandlungen zur Philosophie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04957-5_7
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einandersetzung damit, weshalb für Lacan eine „bloß“ signifikantentheoretische, auf die Linguistik bezogene Auffassung nicht ausreicht und um die Referenz auf Mathematik, Topologie und Knotentheorie ausgeweitet wird. Dabei werde ich im Anschluss an einige Vorbemerkungen zur „Interdisziplinarität“ Lacans (2. Teil) zunächst eine knappe Darstellung der Auffassung von Sprache und Signifikation vorlegen, wie sie in den Seminaren der 1950er Jahre entwickelt wird (3. Teil). Die Bezugnahme auf Edgar Allan Poes Erzählung „Der entwendete Brief“ und die Rolle des Buchstabens darin werden die Möglichkeit eines Übergangs zum folgenden Teil (4.) liefern, in welchem Annahmen dazu präsentiert werden, weshalb sich Lacan in seinem Spätwerk in besonderer Weise der Mathematik zuwendet. Nachdem es dabei um die Bereiche der Ziffer und des Zählens gegangen sein wird, kann die Figur der borromäisch verschlungenen Ringe („Knoten“) dargestellt und diskutiert werden (5. Teil). Die Arbeit schließt mit einem Ausblick (6.) darauf, welche Anwendungsformen sich aus einer solchen Grundlegung ergeben können. Mir geht es um das werkimmanente Herausarbeiten von Lacans Bezügen und (sofern vorhanden) Argumenten und an dieser Stelle nicht um eine Bewertung. Die Werkimmanenz mag dazu führen, dass einiges an der Darstellung wie eine Aufreihung von „Glaubenssätzen“ klingt; das lässt sich im Versuch des Nachverfolgens einer Argumentation wie derjenigen Lacans m. E. nicht zur Gänze vermeiden. Doch wie bei nur wenigen anderen Autoren leidet sowohl die zustimmende als auch die ablehnende Lacan-Rezeption zu oft darunter, dass nicht genügend expliziert wird, worauf Bezug genommen wird (z. B. auf welche Werkphase). Es soll durch die folgende Darstellung also möglich werden, die struktural-psychoanalytischen Überlegungen Lacans nachzuverfolgen und so etwa zu klären, ob Žižek (2012, S. 31) recht hat, wenn er Lacans knotentheoretische Phase als „Sackgasse“ bezeichnet.
2 Vorbemerkungen Ein Aufsatz zur Bedeutung der Mathematik und Topologie in der strukturalen Psychoanalyse erfordert (mindestens) zwei Vorbemerkungen: eine dazu, welche erkenntnisbildende Funktion jene für diese haben, und eine zweite dazu, wie sich Lacans Rekurse auf die Mathematik im Verlauf seiner Seminare entwickeln. Im Hinblick auf übliche inter- oder transdisziplinäre Vorgehensweisen und deren Begründung haben Lacans Ausflüge in die Mathematik (vgl. z. B. Cutrofello 2002; Burgoyne 2003; Sciacchitano 2004; Plotnitsky 2009) verschiedentlich Befremden hervorgerufen (am deutlichsten bei Sokal und Bricmont 1999). Kritik ist dahingehend geäußert worden, dass Lacan mathematische Begriffe falsch verwende oder dies tue, ohne dass ersichtlich würde, was dadurch in psychoanalytischer Hinsicht gezeigt oder besser verständlich gemacht würde (das prägnanteste Beispiel hierfür ist Sokals und Bricmonts Irritation angesichts dessen, dass das „männliche erektionsfähige Organ“ mit der Quadratwurzel aus –1 gleichgesetzt würde; vgl. dazu wiederum Fink 2004b). Zwar ist zum einen zu sagen, dass auch die Annahme, es gehe Lacan hier um eine metaphorische Verwendung mathematischer
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Konzepte, dem Wert dieser Bezüge nicht gerecht wird, und zum anderen, dass z. B. Begriffe wie „Raum“ oder „Grenzwert“ auch Begriffe der Mathematik sind, von dieser aber nicht monopolisiert sind. Im vorangegangenen Satz verwende ich den Begriff „Wert“ beispielsweise in einer nichtmathematischen Weise, ebenso wie in diesem den Begriff „Satz“. Jedoch entkräftet dies noch nicht den Einwand, Lacans Theorie sei auch ohne die Bezugnahme auf Figuren der Mathematik dieselbe und diese fügten jener nichts außer dem Nachweis der (Halb-)Bildung des Figurenverwenders hinzu. Die Funktion der Mathematik in den Arbeiten Lacans ist zu verstehen als eine Referenz auf jeweils bestimmte Denkfiguren (und nicht auf den Gegenstand der Mathematik oder deren Formeln und Argumentationsweisen): Lacan führt vor, wie er an Mathematik denkt, und auf diese Weise zu denken kennzeichnet seinen Zugang als einen (anti)philosophischen und psychoanalytischen (vgl. Badiou 2015). Ein denkendes Verhältnis zur Mathematik, deren Ver-Wendung (vgl. Weber 2000, S. 79 f.), wird vorgeführt, kein Theorie- oder Formelimport.1 Offenkundig lernen wir Lacans Freud, Lacans Heidegger, Lacans Hegel, Lacans Saussure, Lacans Gödel usw. kennen, somit eben Lacans Psychoanalyse, Lacans Fundamentalontologie, Lacans dialektische Bewusstseinsphilosophie, Lacans Linguistik und Lacans Mathematik. Das ist zu berücksichtigen im Hinblick auf eine Prüfung seiner Argumente. Ähnlich wie beim „Mystiker“ Bion ist ferner zu berücksichtigen, dass ein Weg gefunden werden soll, dem irrationalen Gegenstand der Psychoanalyse sprachlich und theoriebildend zu begegnen, ohne ihn (weg?) zu rationalisieren, d. h. die psychoanalytische Erkenntnishaltung und Erkenntnisse in ihrem Spannungsfeld zwischen wissenschaftlich zugänglicher Genauigkeit einerseits und ihren un-vernünftigen Elementen andererseits in Worte zu fassen. Wenn das gelingt, ist auch der Unterschied zwischen einem mystischen und einem mystifizierenden Aspekt (vgl. z. B. Will 2010) der psychoanalytischen Theoriebildung markiert, eine Grenze, um die es in der Rezeption Lacans zu Recht immer wieder geht. So weit die erste, auf die Erkenntnis- und Theoriebildung bezogene Vorbemerkung. Als zweite ist zu berücksichtigen, dass die Art und Weise des Einbezugs der mathematischen Topologie in den späten Seminaren Lacans (v. a. ab Seminar XIX von 1971/1972, Lacan 2011; vgl. z. B. Ragland und Milovanovic 2004) einem Erfordernis in der Theorieentwicklung Ausdruck verleiht. In einem konzeptgeschichtlichen Durchgang durch die Theorie Lacans kann etwa der bekannten Dreiteilung gefolgt werden, der zufolge er zunächst seine Aufmerksamkeit auf das Register des Imaginären gelegt habe (insbesondere im Spiegelstadiumvortrag: Lacan 1986c [1936]), dann auf das Symbolische (insbesondere im Psychosenseminar, aber auch auf dem Weg zu seinen vier Grund-
1Auch
Lafont (2004, S. 6; Übers. T.S.) meint: „Wir können mathematische Konzepte verwenden, aber sie können unserem Gebrauch nicht folgen.“ Miller (2004, S. 33) ist daher auch der Ansicht, die von Lacan verwendete Topologie sei nur nützlich, wenn sie als in dessen Lehre eingebettet betrachtet werde.
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begriffen: Lacan 1997 [1955/1956]; Lacan 1978 [1964]) und im Spätwerk ab ca. 1971 auf das Reale (Voruz und Wolf 2007; Thurston 2002). Wie zu zeigen sein wird, sind es Figuren aus den frühen Seminaren der 1950er Jahre, die in den späten wieder auftauchen, aber eine andere Stellung erfahren, so insbesondere der „entwendete Brief“. Nicht zuletzt tauchen Figuren wie die Umstülpung von Tori zunächst im Seminar IX zu Identifizierung (1961/1962) und später erneut im Seminar XXIV (1976/1977) auf. Gerade eine solche Umwendungsfigur bezüglich der eigenen Theorie ist es, was im sprechenden Seminartitel von 1974/1975 – „R.S.I.“ – als Häresie benannt ist, kein Umsturz, aber eine Umstülpung des Theorie-Corpus. Auch schon in den früheren Seminaren (besonders Seminar IX von 1961/1962) war es Lacan um die Mathematik und um topologische Körper gegangen (vgl. zur Einordnung Granon-Lafont 1985; Vappereau 1988; Wegener 2007), um das Möbiusband, die Kreuzkappe oder die Kleinsche Flasche. Etwa zu Beginn der 1970er Jahre aber tritt, neben den Diskursmathemen (Lacan 1991 [1969/1970]; ein Ausdruck, mit dem sich Lacan an das Mythem als Einheit der Ethnologie bei Lévi-Strauss anlehnt) oder den Sexuierungsformeln (Lacan 2011 [1971/1972]; Lacan 1986a [1972/1973]), zur bisherigen Beschäftigung mit den Flächen der Mathematik die Auseinandersetzung mit deren Räumen bzw. Körpern hinzu. Entscheidend ist dabei gewesen, dass die Linguistik und die signifikantenbegründete Theorie des Subjekts und des Unbewussten, wie sie in den bekannten Lacan’schen Formeln „Das Unbewusste ist wie eine Sprache strukturiert“ (Lacan 1978 [1964], S. 213; dem Gedanken nach bereits v. a. in Lacan 1986e [1953]) oder „Ein Signifikant ist, was das Subjekt repräsentiert für einen anderen Signifikanten“ (Lacan 1975c [1960], S. 195) zum Ausdruck kommt, für sich allein genommen Lacan nicht dazu zu bringen vermochten, seine Theorie des Subjekts so zu formulieren, wie es ihm vorschwebte (vgl. für eine ähnliche Überlegung Nobus 2003). Insbesondere die zunehmende Notwendigkeit des Einbezugs des undenkbaren, nicht darstellbaren und ex-sistierenden,2 also immer in einem ortlosen Außerhalb ansässigen Realen ließ ihn die Grenzen der Signifikantentheorie konstatieren und damit auch den Weg zur Mathematik beschreiten, denn „[d]ie Mathematisierung allein reicht an ein Reales“ (Lacan 1986a [1972/1973], S. 141) bzw. „nichts [scheint] besser geeignet den Horizont des analytischen Diskurses zu konstituieren […] als jener Gebrauch, der vom Buchstaben durch die Mathematik gemacht ist“ (Lacan 1986a [1972/1973], S. 49). Zuvor hatte es bereits geheißen: „Das Reale, von dem ich spreche, ist absolut unerreichbar, außer auf einem mathematischen Weg“ (Lacan 2013 [1971/1972], S. 65 f.). Vom Realen, so Badiou (2012, S. 114), gibt es „keine Sprache“, sondern „nur Formeln“.
2In
den späten Seminaren unterscheidet Lacan zwischen Existenz und Ex-sistenz. Letzteres benennt, angelehnt an Heidegger, etwas außerhalb Stehendes. Ein Beispiel für etwas Exsistierendes wäre der Schwerpunkt eines Torus: Er ist für die physikalischen Eigenschaften des Torus entscheidend, liegt aber außerhalb von ihm.
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3 Strukturale Signifikanz und die Funktion der Linguistik: Das Subjekt par lettre Entscheidend ist für Lacan die Geburt des Subjekts aus dem Verweisungsspiel der Signifikanten. Das liefert die Grundlage für die Konzeption des Symbolischen. Der in der Lacan-Rezeption oft aphoristisch anmutende Satz „Ein Signifikant ist, was das Subjekt repräsentiert für einen anderen Signifikanten“ (Lacan 1975c [1960], S. 195) weist das Subjekt zwar als Spracheffekt aus, aber damit nicht als immateriell, unkörperlich, ungeschichtlich oder kontingent und damit asubjektiv. Vielmehr wird es gebildet bzw. besser: erhält es seine Stellung aufgrund dessen, dass etwas im Spiel der Signifikanten nicht aufgeht, es einen Bruch oder einen Mangel angesichts dessen gibt, dass das Unbewusste mit einer Fremdheit der Sprache angesichts von deren „Vorgegebenheit“ (Gondek 2005, S. 511) verbunden ist, auf die das Infans stößt und die die „konstitutive Spaltung des Subjekts“ zur Folge hat. Denn schließlich „existiert“ „die Sprache mit ihrer Struktur bereits […], bevor jedes Subjekt zu einem Zeitpunkt seiner geistigen Entwicklung in sie eintritt“ (Lacan 1975a [1957], S. 19), und zwar als im Sprechen des Anderen realisierte Struktur: Deshalb ist das Unbewusste „der Diskurs des Anderen“ (vgl. Lacan 1997 [1955/1956]), ein Moment, das vom Anderen kommt. Dabei ist jedes Signifikat, so Braun (2007, S. 70), „Effekt der Differenz zwischen zweien oder mehreren Signifikanten“, und deren Verhältnis ist eines zueinander, keines zum Signifikat und auch keines zum Subjekt: Beides sind Sprach-, also Signifikanteneffekte. So verweist etwa „Pferd“ in der Phobie des Kleinen Hans (Freud 1999a [1909]) gerade nicht auf das herkömmlich im Umfeld dieser Wortverwendung gemeinte Tier, sondern auf „Vater“ oder „Phallus“ und damit auf andere Signifikanten. Die daraus resultierende neurotische/phobische Struktur ist Subjekt-Effekt, ein Subjektals-Effekt, das aufgrund des Vom-Anderen-Kommens der Sprache „barriert“ ist, von einem Bruch gekennzeichnet, der gleichwohl das Sich-an-den-AnderenRichten zeitigt und damit Anspruch und Begehren ans Bedürfnis anheftet: d. h. die Bedingungen des Psychischen schafft. Metapher und Metonymie, die Lacan (im Anschluss an Jakobson) in Auseinandersetzung mit Verdichtung und Verschiebung als Mechanismen der Traumarbeit für die Psychoanalyse als Operationen an der Sprache in den Dienst nimmt (bes. Lacan 1975a [1957], S. 36 ff.), schaffen kein Gefüge oder Gerüst, sondern sind flüchtige Effekte der Psychodynamik des Subjekts und damit auch der einer Sprache gleichgebildeten Strukturiertheit des Unbewussten. Mit Ruhs (2010, S. 43) kann daher formuliert werden, das Unbewusste sei „ein Ort von unterdrückten und verschobenen Signifikanten“, wobei diese in keinem festen Sinn-Zusammenhang stehen, solange sie nicht zur Rede gestellt werden, d. h. ins Sprechen geraten. Eine wesentliche Konsequenz der Lacan’schen Sprachkonzeption ist dabei, dass Bedeutung sich nur durch Sprechen realisiert, d. h. durch eine an einen Anderen gerichtete Rede. Lacan, der vor allen Dingen sprechend, nicht schreibend mit Sprache als Mittel der Veröffentlichung seiner Gedanken vorgeht, publiziert 1966 Geschriebenes, die Écrits, und unter der Hand
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ist damit benannt, dass die Sprache selbst noch im Sprechen nicht alles einzufangen vermag, um das es ihm theoriebildend ging, und so die Auseinandersetzung mit der Schrift ab der Veröffentlichung der Schriften3 zu einem Wesenszug des Sprechens in den Seminaren wird (vgl. zu Schreiben und Sprechen/Sprache auch Fink 2004a). Dies führt zu einer anderen Auffälligkeit, nämlich zum Umstand, dass Lacan seine Schriften mit der Seminarsitzung zum „entwendeten Brief“, der Kurzgeschichte E. A. Poes, beginnen lässt (Lacan 2015a [1954/1955]; vgl. Dravers 2004). Darin zeigt sich eine weitere Akzentsetzung im Hinblick auf die Sprache und den Signifikanten, die später eine Ergänzung durch die topologischen Gedanken und die Auseinandersetzung mit dem Realen erhalten wird: das Verhältnis des Signifikanten zum Buchstaben. In der Seminarsitzung vom 26. April 1955 (Lacan 1986b [1955]), die als Beginn der Schriften 1966 veröffentlicht worden ist, geht es Lacan um den Aufweis der Figur, dass ein Brief (als lettre zugleich der Buchstabe) immer seinen Bestimmungsort/Empfänger erreicht. Es geht hier um strukturale Positionen, die in Relation zum Zirkulieren einer symbolischen Botschaft bzw. eines Signifikanten eingenommen werden – und zwar in Form des Briefes, dessen Inhalt nicht benannt wird bzw. den Akteuren nicht bekannt ist. In einer frühen, auf Sprache und Symbolisches bezogenen Deutung des „entwendeten Briefs“ ist 1955 für Lacan entscheidend, dass sich daran das signifikative Verweisungs- und Ersetzungsspiel und der damit in Zusammenhang stehende Wiederholungsautomatismus aufzeigen lassen. Dass aber das Sprechwesen (parl-être) bereits hier als eines auftaucht, das sich als par-lettre nicht nur durch den (gesprochenen) Signifikanten, sondern auch durch den (geschriebenen) Buchstaben bestimmt, muss festgehalten werden. Wenn es bei Lacan ferner heißt: „Die Schrift, der Buchstabe, das ist im Realen, und der Signifikant im Symbolischen“ (Lacan 2007 [1970/1971], S. 60; Übers. T.S.), dann ist angesichts der Bemerkungen dazu, dass einzig die Mathematik (und die mathematische Formalisierung) ans Reale heranreiche (s. o.), der Ausgangspunkt dafür geliefert, dass der Buchstabe den Weg zur Mathematik ebnet (vgl. zu den Bemerkungen zu Mathematik/Kybernetik, die Lacan in Lacan 1986d [1966], der Seminarsitzung zum entwendeten Brief, hinzufügt, Fink 1996; Braun 2007, S. 213 ff.; Laurent 2007). Der lettre in der Erzählung Poes wird im Verlauf der Auseinandersetzung Lacans damit immer weniger Brief und immer mehr Buchstabe.4 3Lacan
meint (2007 [1970/1971], S. 57; Übers. T.S.): „Meine Schriften, ein Titel, der ironischer ist, als man glaubt, denn es handelt sich schließlich um Kongressvorträge oder – sagen wir, ich wüsste sie gern derart verstanden – um offene Briefe/Buchstaben.“ 4Damit ist die Auseinandersetzung zwischen Lacan und Derrida zum Verhältnis von Sprache und Schrift berührt (vgl. Muller und Richardson 1987; Turnheim 2009). Ein wichtiger Aspekt ihrer ist die Vorrangigkeit des Signifikanten vor dem Buchstaben bei Lacan: Wie Miller (1995) in Auseinandersetzung mit Lacans Lituraterre (2001 [1971]) schreibt, gehe es diesem um eine „Meteorologie“ der Signifikanten, die Wolken bilden, deren Bruch die Signifikate herunterregnen lasse, sodass diese Pfützen des Geschriebenen bilden. Was auch immer man von diesem Bild genau halten mag, es ist damit gesagt, dass die Buchstaben, aus denen Schrift sich bildet, eine Art Abfall sind (a letter – a litter, heißt es bei Joyce), sie sind das, was aus den Signifikanten
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4 Buchstaben schreiben und Ziffern zählen: Lacan und die Mathematik 1955 spricht Lacan in der Seminarsitzung über den entwendeten Brief, 1966 entschließt er sich dazu, diese Überlegungen als Einstieg in seine Écrits zu verwenden, und 1971 taucht der Brief in neuer Form in einer weiteren Seminarsitzung (Lacan 2007 [1970/1971]) auf, zu einer Zeit, in der sich angesichts der zunehmenden Realisierung der Lacan’schen Lehre die Knoten (erstmals im Seminarjahr 1971/1972: Lacan 2011 und 2013) einen Weg zu bahnen beginnen. Folgerichtig lässt dann auch Jacques-Alain Miller als Herausgeber Lacans Autres Écrits 2001 mit dem als „Lituraterre“ bekannten Text zur betreffenden Seminarsitzung von 1971 beginnen (Lacan 2001 [1971]).5 Im Folgenden geht es mir darum zu zeigen, dass es Buchstabe und Ziffer sind, die eine Verbindung zwischen Linguistik und Mathematik erlauben. Lacan stößt im Verlauf seiner Seminare auf die Grenzen der Signifikantentheorie, der linguistischen Referenzen, des Symbolischen und vor allem: einer verlässlichen Ordnung des Namens-des-Vaters. Der Buchstabe, dessen instanzielles Drängen sich in Lacans Theoriebildung bereits 1957 bemerkbar gemacht hat, wenn Lacan ihn dort als „jenes materielle Substrat, das der konkrete Diskurs aus der Sprache bezieht“ (1975a [1957], S. 19), bezeichnet, wird nun zunehmend als dasjenige wichtig, das dem Signifikanten als Material unterstellt ist. Der Buchstabe kann nicht gesagt, sondern nur geschrieben werden oder aber eine Klanggebung – „aaaaa“, „ooooo“ – erfahren. Diese zweite Alternative lässt die Bedeutung des Äquivoks für Lacan deutlich werden. Lacans Bemühungen um dieses sind als der Versuch eines „buchstabengetreuen“ Sprechens zu begreifen, also eines Sprechens, das die Grenzen des Symbolischen erreicht oder sogar überschreitet. Das sich auf den Gleichklang stützende Äquivok (unter denen nom-du-père/non-du-père das berühmteste ist) käme dabei einem nicht-signifikativen Sprechen als dem Verwenden des Materials der Sprache nahe. In der analytischen Praxis, so Lacan, gehe man derart vor, dass „Sinn“ darauf reduziert werde, „immer vom Äquivok aus [zu] verfahren“ (Lacan 1974/1975, S. 3). Wenn
herausgefallen ist. Insofern es Lacans Anliegen in „Lituraterre“ ist, das Verhältnis von Signifikant und Buchstabe als eines darzustellen, in welchem dieser für jenen nicht grundlegend oder primär wäre, setzt er sich von Derridas vorangegangener Argumentation in der 1967 erschienenen Grammatologie (Derrida 1974) ab und indirekt auch von dessen später (1975) in Auseinandersetzung mit Lacans Poe-Lesart entwickelten Gedanken (Derrida 1987). Dieser Kommentar zu Lacans Seminarsitzung trägt den Titel „Der Fakteur der Wahrheit“, wobei der „facteur“ im Französischen zugleich der mathematische Parameter/Faktor und der Briefträger ist. 5Natürlich kommt Lacan nicht zufällig im Seminar XVIII (2007 [1970/1971]) auf die Überlegungen aus dem Seminar II (2015a [1954/1955]) zurück – Laurent (2007, S. 27; Übers. T.S.) bezeichnet Lacans Seminarsitzung zum entwendeten Brief von 1955 mit Miller (1995) als Apolog zur späteren Seminarsitzung aus dem Seminar XVIII und diese selbst als ein „Neuschreiben“ des Textes zum „Drängen des Buchstabens“ von 1957 (Lacan 1975a [1957]).
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er etwas ausdrücken wolle, dann „äquivoziere“ er, was dezidiert als „Dit-mension“ ausgewiesen wird (Lacan 1974/1975, S. 160), also so etwas wie die Vermessung des Gesagten, oder in anderer Schreibweise (dit-mansion) als dessen Behausung. Definitorisch äußert Lacan sich in folgender Weise: „[W]as vom Unbewussten ausgehend gesagt wird, hat teil am Äquivok […], dem Prinzip des Witzes, Äquivalenz von Klang und Sinn“ (Lacan 1974/1975, S. 38). Im vorliegenden Rahmen ist aber zunächst die erste Variante der Artikulation des Buchstabens als Material des Signifikanten wichtiger: sein Schreiben. Denn dies führt Lacan zur Mathematik. Oben habe ich erwähnt, dass in seiner Sicht die Mathematisierung an ein Reales heranreicht. Genauer gesagt tut es die mathematische Formalisierung in Gestalt des Buchstabens als Mathem. Dieses soll einen Weg bieten, etwas über die Bedingungen von Sprache und Sprechen zum Ausdruck zu bringen. Die mathematische Formalisierung sei das „Ziel“ und „Ideal“ der Psychoanalyse, weil sie qua Mathem dazu fähig sei, „sich integral zu übermitteln. Die mathematische Formalisierung, das ist Geschriebenes, das aber subsistiert nur, wenn ich es dazu verwende, die Sprache darzustellen, die ich gebrauche“ (Lacan 1986a [1972/1973], S. 128; Übers. modif. T.S.). Es gibt für Lacan keine Metasprache: „[K]eine Formalisierung der Sprache ist übermittelbar ohne den Gebrauch der Sprache selbst“ (Lacan 1986a [1972/1973], S. 128), aber die Schrift könne eine Funktion erfüllen, welche der Metasprache zumindest ähnele (Lacan 1986a [1972/1973], S. 131). Lacan meint (1976/1977, S. 91): „Man bemüht sich, an die Sprache über die Schrift heran zu kommen, und die Schrift ergibt […] nur etwas in der Mathematik.“ Der Gedanke dabei ist, dass Lacans Reales unzugänglich ist, es ist, ähnlich wie der aus den Signifikanten herausgefallene Buchstabe, außerhalb dessen, worüber sich etwas sagen lässt. Die mathematischen Buchstaben (als Weg der Formalisierung) sollen eine Notation jenseits der Bedeutung liefern (ob ich den Kreisradius r nenne oder s, ist mathematisch im Grunde einerlei – der Buchstabe bedeutet als solcher nichts, und zugleich ist ihm eine bestimmte Position in Gleichungen zugewiesen bzw. gar, im Fall von Pi, ein fester Wert). Der Weg von der Linguistik zur Mathematik kann also über den Buchstaben genommen werden, für Lacan (1996 [1959/1960], S. 284) sind der „Diskurs“ und die „Macht des Signifikanten“ „aus den Kleinbuchstaben der Mathematik“ entstanden. Der Buchstabe ist nicht nur etwas, das als Konstante oder Variable (vgl. Lacan 1974/1975, S. 134 f.) in der Mathematik eine Rolle spielt, er bringt auch eine bestimmte Form der Konkretheit mit sich, er ist nicht reduzierbar, und er bedeutet nichts außer einer jenseits seiner selbst festgelegten Zuordnung, die aber auch ganz anders sein könnte. Die Matheme sind für Lacan daher „Indices einer absoluten Bedeutung“ (Lacan 1975c [1960], S. 192), und doch, so Evans’ (2002, S. 184) Hinzufügung, halten sie „jedem Versuch stand[…], sie auf eine eindeutige Bedeutung zu reduzieren […]. Matheme sollen nicht verstanden, sondern verwendet werden.“ Für Evans (Evans 2002, S. 185) ist daher in Lacans Gebrauch der Mathematik der Versuch zu sehen, „eine Methode der Formalisierung der Psychoanalyse zu entwickeln, die vielfältige Effekte der Bedeutungen ermöglicht, ohne auf eine eindeutige Bedeutung reduzierbar zu sein“. Anders als in der signifikantentheoretischen Formulierung, in welcher das Signifikat als Effekt
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der Signifikanten unter diesen entlanggleitet, heißt die Formalisierung hier, dass der Buchstabe oder die Ziffer als Festschreibungen dasjenige am Signifikanten sein soll, das direkt und ohne Gleiten auf etwas hindeutet, jedoch auf Reales, das dem Denken ex-sistierend bleibt. Und um einen Weg zum Realen zu finden, wird die mathematische Formalisierung im Schreiben erforderlich, sie ist eine Weise, „dieses Reale einzukreisen“ (Skriabine 2004, S. 89; Übers. T.S.). Das Reale schreibt etwas Konstantes in den Sinn ein bzw. bildet eine Materialität in Relation zu dem, was sinnhaft und signifikativ ist, jedoch ist es dabei eine „mathematische Formalisierung der Signifikanz“ im „Gegensatz zum Sinn“, im „Gegen-Sinn“ (Lacan 1986a [1972/1973], S. 100; Hervorh. aufgeh.; vgl. auch das Konzept des Ab-sinns in Lacan 1973 [1972]). Das Reale rückt auch deshalb an die Schrift heran bzw. diese an jenes, weil es das ist, „was man unmöglich sprechen kann“ (Lacan 1977; zit. nach Fink 2013, S. 120), sondern es „vermöchte sich einzuschreiben nur über einen Umweg der Formalisierung“ (Lacan 1986a [1972/1973], S. 100). Das Schreiben der Buchstaben in einer Formalisierung, die an das Reale reichen soll, bildet „eine Stütze, die über das Sprechen hinausgeht, ohne herauszutreten aus den Effekten des Sprache“ (Lacan 1986a [1972/1973], S. 101). Drei Seminarjahre später wird es noch deutlicher: Lacan glaubt, dass man „in der Geschichte durch kleine Stückchen Schrift ins Reale gelangt ist“ und dass es die „Schrift der kleinen […] mathematischen Buchstaben“ sei, „was das Reale trägt“ (Lacan 1975/1976, S. 57). Der Buchstabe als eine Formalisierung der Mathematik ist nicht deren einziges Element, das sie für Lacan nützlich sein lässt, ein weiteres ist die Ziffer. Sie reicht über das, was sich mittels des Buchstabens zeigen lässt, insofern hinaus, als in ihr ein Zählen impliziert ist. Das bekannteste Beispiel Lacans zum Zählen stammt aus dem Seminar XI von 1964, wenn es darum geht, ob ein Junge sich beim Abzählen seiner Brüder selbst mitzählt oder nicht: „Ich habe drei Brüder: Peter, Paul und mich.“ Im Zusammenhang der Bemerkung zum Sprachlich-strukturiert-Sein des Unbewussten erwähnt Lacan das Strukturierende des Signifikanten und wählt das Beispiel des sich und seine Brüder zählenden Jungen, um das Erkennen derjenigen „Ebene“ zu markieren, „auf der gezählt wird“, und dies „noch vor jeder Formierung des Subjekts, das denkt“ (Lacan 1978 [1964], S. 26). Neben der Bemerkung zum Zählen im Verhältnis zur Subjektbildung ist dieses Beispiel insofern wichtig, als ein Moment der Identifizierung benannt wird, das diese zwischen Zugehörigkeit und Differenz verortet (vgl. Gondek 2005). Sich zu identifizieren heißt für Lacan, sich als jemanden zu identifizieren, der wie andere ist (ich bin einer der Söhne), aber auch als denjenigen, der nicht dazugehört (ich bin keiner von denen, die meine Brüder sind). An dieser Stelle nutze ich eine der möglichen Verbindungen zwischen Zählen und Identifizierung dazu, Lacans Bemerkungen zum „einzelnen“/„einsigen“ Zug (trait unaire) darzustellen, weil hier der Bezug zur Schrift zu erkennen ist. Lacan knüpft an eine Darstellung Freuds (1999b [1921], S. 117) in „Massenpsychologie und Ich-Analyse“ an, in welcher dieser von einer Form der Identifizierung mit „eine[m] einzigen Zug“ spricht. Für Lacan wird daraus der einzelne oder auch „einsige“ (unaire, also auch: eins-hafte) Zug bzw. Strich. Er versucht damit, eine Fassung dafür zu finden, wie ein Zählen oder eine Markierung beginnt (z. B. in Lacan 1961/1962; Lacan 2015b [1966]; Lacan 2001 [1971]). Der einzelne Zug/Strich ist die Markierung, mit
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der eine Eins gezählt wird und die in einer Folge oder Wiederholung weiterer Einsen ein Abzählen von etwas ermöglicht, das gleich (alles ist jeweils der gleiche einzelne Zug) und verschieden ist (nur als getrennte lassen sie sich zählen). Das Zählen steht für Lacan dabei in einem engen Zusammenhang zum Unbewussten. Im 1973 verfassten Vorwort zum „Drängen des Buchstabens im Unbewussten“ von 1957 schreibt er, dass „dem Unbewussten ja die Arbeit der Verzifferung – nämlich dessen, was die Entzifferung auseinandernimmt – zuerkannt wird“ (Lacan 1975d [1973], S. 8). Das Unbewusste verziffert also etwas, und in diesem Gedanken ist etwas Zentrales von der psychoanalytischen Bedeutungstheorie umgewendet: Hier geht es nicht mehr um die Entzifferung oder Dechiffrierung der entstellten Abkömmlinge des Unbewussten, sondern dieses selbst ist es, das „verziffert“ und „de-entziffert“, indem es Ziffern produziert. Es verziffert insofern, als es Sprach- und Schrifteffekte zeitigt und dabei, so Lacan, begründet „[d]ie Ziffer […] die Zeichenordnung“ (Lacan 1975d [1973], S. 8). Im Seminar XXII meint er, es gebe „offensichtlich“ „einen Buchhalter im Unbewußten“ (un comptable – auch: ein Zählbares), jene „Person, […] die Ziffern kritzelt“: „Jedes Unbewußte ist ein Buchhalter. Und zwar ein Buchhalter, der die Addition beherrscht. Bis zur Multiplikation ist er noch nicht gelangt“ (Lacan 1974/1975, S. 19). Das Unbewusste ist hier etwas, das pulsierend in einem Schlag-um-Schlag das Nächste in einer zählbaren Reihe anzeigt. Es kann für die Ziffer und das Zählen im Sinn Lacans festgehalten werden, dass sich Aspekte jenseits der Signifikation ergeben: „Zählen ist, sozusagen, Arbeit am Realen“ (Schmitz 2001, S. 253). Das ist es insofern, als das Eins-mehr des Zählens einzelner Züge ein Effekt des Unbewussten ist und ferner die Ziffer die Möglichkeit bieten soll, etwas davon zu notieren. Nun ist es so, dass die Bezüge zwischen Ziffer und Buchstabe nicht nur zur Formulierung der Diskursmatheme und darin zum Realen und dessen Schreibweise führen (sollen), sondern in der so diskutierbaren Verbindung zwischen den „Substanzen“ der Linguistik und der Mathematik ist zugleich der Weg zu den topologischen Figuren des Spätwerks bereitet, die sich vor allem um die Knotentheorie ranken. Der Knoten soll dabei eine ungleich komplexere Form der Formalisierung oder Notation sein, in die nun nicht nur Reales Einzug halten soll, sondern die Struktur der psychischen Register in deren Verknüpfungen. Ich werde dabei die Überlegungen zum Symptom bzw. Sinthome als viertem Ring außen vor lassen.
5 Lacan und die Topologie der Knoten Zu den bekanntesten Figuren aus dem Spätwerk Lacans zählt der sogenannte borromäische Knoten6 als Veräußerung der Register des Imaginären, Symbolischen und Realen (vgl. Thurston 1998). Der Knoten als Terminus ist für
6Was
bei Lacan und in der überwiegenden Rezeption seiner Arbeiten „borromäischer Knoten“ genannt wird, ist streng genommen kein Knoten, sondern eine Verknüpfung dreier (trivialer) Knoten (Ringe) auf borromäische Weise (vgl. Evans 2002, S. 64). Ich werde also im Weiteren nicht vom borromäischen Knoten sprechen, sondern von borromäisch verknüpften Ringen.
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Lacan dabei nicht gänzlich neu, im „Vortrag über die psychische Kausalität“ hat er formuliert: „Das Wort ist nicht Zeichen, sondern Bedeutungs-Knoten“ (Lacan 1986f. [1946], S. 142; hier noch sehr eng z. B. an Freuds Umgang mit Bedeutung in der Rattenmann-Fallgeschichte und den dortigen Begriff des Knotenpunkts angelehnt), und im Seminar zu den Bildungen des Unbewussten (Lacan 2006 [1957/1958], S. 101) geht es um „den Knoten zwischen dem Gebrauch des Signifikanten und dem, was wir eine Befriedigung oder eine Lust nennen können“, vermutlich allerdings ohne dass dabei an die mathematische Knotentheorie gedacht werden soll. Und auch im „Drängen des Buchstabens“ gibt es eine Formulierung zur „signifikative[n] Kette“ und zur „Notwendigkeit eines topologischen Substrats“: „Ringe, die in einer Kette sich in den Ring einer andern Kette einfügen, die wieder aus Ringen besteht“ (Lacan 1975a [1957], S. 26). Die Beschäftigung mit dem Realen, die sich während der 1970er Jahre für Lacan ergibt, erfordert einen anderen Begriffsgebrauch, der sich an die mathematische Topologie der Knoten anlehnt. Der Blick darauf folgt dem Anliegen, etwas von Lacans Verwendung der Mathematik zu erörtern (vgl. zur Einführung in die Topologie z. B. Carter 1993). Lacan sieht, so Evans (2002, S. 309), in der Topologie „eine Möglichkeit […], auf eine anschauliche und rein intellektuelle Art den Begriff der Struktur zu beschreiben“.7 Er ist auf der Suche nach einer Konzeption jenseits des Imaginären, jenseits der Darstellung und Veranschaulichung – auf der Suche nach einer „Schreibweise“ des Realen in dessen Verhältnis zu den übrigen Registern des Subjekts. Grundsätzlich kann gesagt werden, dass es bei der mathematischen Topologie um die Lehre von Körpern geht, die im Anschluss an Verformungen ihre Eigenschaften behalten, und damit um eine Mathematik des Raumes jenseits seiner (euklidisch) geometrischen Eigenschaften, d. h. eines Raumes, der nicht unter Aspekten wie Winkeln, Längen oder Kanten betrachtet wird, sondern im Hinblick auf Löcher, Ränder und Lagebeziehungen. Entscheidend sind dabei die kontinuierlichen und reversiblen Verformungen, also zum Beispiel die Stauchung oder Streckung von Körpern. So sind etwa ein Schlauch und ein Ring hinsichtlich ihrer topologischen Eigenschaften homöomorph, weil jener sich durch Stauchung in diesen überführen lässt. Ecken und Kanten „dürfen“ verbogen werden bzw. sind im topologischen Raum nicht entscheidend. Ein wichtiger Vorgang in der Reihe möglicher topologischer Operationen an Körpern ist das Zerschneiden (in dessen Folge keine Homöomorphie mehr gegeben ist) – und in diesem Sinn ist dasjenige Maß entscheidend, mit dem die Anzahl der Löcher eines topologischen Körpers angegeben wird, wenn er in einem Diagramm8 als Fläche dargestellt wird: sein
7Auch
für Lafont (2004, S. 3; Übers. T.S.) ist die Topologie aus Sicht der Psychoanalyse das „Schreiben von Struktur“ und setzt damit das Projekt des Strukturalismus fort. Mit solchen Bemerkungen ist aufgegriffen, dass Lacan die „strikte Äquivalenz von Topologie und Struktur“ zeigen will (Lacan 1986a [1972/1973], S. 13).
8Mit einem „Diagramm“ bzw. einer „Projektion“ ist in der Topologie die zu Papier gebrachte, zweidimensionale Darstellung eines topologischen Körpers gemeint.
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„Geschlecht“. So hat etwa ein Kreis ein Geschlecht von null, das Diagramm eines Torus (also ein doppelter Kreis bzw. ein Kreis in einem Kreis) ein Geschlecht von eins. Durch die Angabe des Geschlechts ist auch die Anzahl der möglichen „geraden“ Schnitte entlang disjunkter geschlossener Kurven benennbar, die vorgenommen werden können, bevor der Körper in zwei oder mehr Teile zerfällt. Die Anzahl der möglichen Schnitte ist prinzipiell um eins geringer als die Anzahl der Randlinien des Körpers und entspricht damit seinem Geschlecht. Mittels dieser Maße (Geschlecht, Anzahl der Randlinien und mögliche Schnitte) lassen sich topologische Körper miteinander vergleichen, denn sie sind es, die bei topologischen Verformungen gleich bleiben. Ferner ist als Referenz für Lacan die Knotentheorie wichtig, die ein Teil der mathematischen Topologie ist. Als ein Knoten gilt ein Stück Seil oder Faden, dessen Enden miteinander verbunden sind, inklusive möglicher Windungen, Überkreuzungen usw. Der einfachste, triviale Knoten ist demnach der Fadenring selbst – der auch als Unknoten bezeichnet wird. Topologisch interessant ist die Untersuchung, welche Knoten sich ohne Zerschneidung ineinander überführen lassen, eine aus einem Seil gelegte 8 z. B. ist ein trivialer Knoten und dem zum Kreis gelegten Seil gleich (isotop). Komplizierter wird dies bei anderen, nichttrivialen Knoten, d. h. solchen, die eine oder mehr Verschlingungen aufweisen, und erst recht bei miteinander verketteten Knoten: Dann geht es um die Frage, ob sich Knoten mit hoher Verschlingungszahl und Knotenverkettungen ineinander überführen lassen, ohne dass Schnitte durchgeführt werden müssen: d. h. um die Frage, ob es sich um unterschiedliche Darstellungsformen desselben Knotens handelt. Bisher habe ich nur knapp darauf hingewiesen, dass Lacan die Knotentheorie und darin im Besonderen die Figur der drei auf borromäische Weise miteinander verknüpften Ringe dazu gebraucht, um etwas vom Verhältnis der Register und damit von der Struktur des Subjekts zu zeigen. Erstmals erwähnt wird der „borromäische Knoten“ im Seminar XIX von 1971/1972 (Lacan 2011), und gegen Ende von Seminar XX (Lacan 1986a [1972/1973]) gibt es eine ausführliche Seminarsitzung zu den Fadenringen, eingebettet in Überlegungen zum Nicht-Geschlechtsverhältnis und zum Fehlen einer Metasprache: Diese beiden mit dem Realen in Zusammenhang stehenden Aspekte sind es, die Lacan zum Knoten führen. Sein Anliegen, auf diese Weise etwas über das Reale sagen bzw. von diesem schreiben zu können, wird in einigen Bemerkungen aus dem darauffolgenden Seminar XXI (Lacan 1973/1974) erkennbar, das sich dem Diskurs und dem Unbewussten als Wissen im Realen widmet und in dem Lacan die borromäisch verknüpften Ringe dazu nutzen möchte, um auf den „Weg, der uns zum Realen führt“, zu gelangen (Lacan 1973/1974, S. 103; Übers. T.S.; vgl. auch Lacan 1975b [1974]). Der Ausdruck „borromäisch“ bezieht sich auf das Wappen eines Mailänder Adelsgeschlechts. In jenem sind drei Ringe auf eine Weise miteinander verkettet, dass bei Herauslösen eines Ringes auch zwischen den beiden anderen keine Verbindung mehr besteht und alle drei Ringe auseinanderfallen. Mathematisch spricht man davon als der brunnschen Eigenschaft. Die Ringe sind drei miteinander ver-
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kettete (triviale bzw. Un-)Knoten, die Figur selbst würde mathematisch nicht als Knoten bezeichnet. Für Lacan ist die borromäische Verknüpfung der Ringe dieselbe Struktur wie die, die er für seine drei Register des Psychischen annimmt. Diese sind miteinander ebenfalls auf eine Weise verknüpft, dass sie einander stützen bzw. bei Herauslösen eines Ringes oder einem Fehler in der Verknüpfung nicht halten (vgl. Lacan 1975/1976; Gammelgaard 2015). Lacan ordnet den drei Registern in der borromäischen Verkettung ihrerseits Eigenschaften zu (vgl. Lacan 1974/1975, S. 35 f.): dem Symbolischen das Loch, dem Imaginären die Konsistenz und dem Realen die Ex-sistenz. Kompliziert wird es nun dadurch, dass die drei verknüpften Ringe gleich sind, die Zuordnung eines Ringes zu einem Register ist (zunächst) beliebig – Lacan führt die Ringe und ihre borromäische Verkettung gerade ein, um „den drei Termen Reales, Symbolisches und Imaginäres ein gemeinsames Maß zu geben“ (Lacan 1974/1975, S. 5). Und ferner kommt jedem der Ringe jede der drei „registerspezifischen“ Eigenschaften zu: Jeder hat ein Loch in der Mitte, jeder ist (in sich) konsistent (d. h. geschlossen) und gleicht den beiden anderen, und schließlich ist auch jedem Ring etwas äußerlich, markiert er selbst eine Grenzlinie. Lacan betont, dass die borromäische Verknüpfung der Ringe nicht als eine Illustration, sondern als eine Schrift zu begreifen sei, und als diese trage sie „ein Reales“ (Lacan 1974/1975, S. 11). Ähnlich wie der Buchstabe, nur ungleich komplexer, ist also auch der „Knoten“ die Formalisierung von etwas. Es handelt sich „nicht um eine Darstellung, eine Repräsentation“, sondern „um das Reale“: „Insofern ist der Knoten kein Modell. Was Knoten macht, ist nicht imaginär, ist keine Repräsentation“, der „Knoten ist nicht Modell, er ist Träger“ (Lacan 1974/1975, S. 66 f.). Die Art und Weise, wie Lacan während seiner Seminare etwas davon an die Tafel malt oder wie es in den Seminarmitschriften abgebildet ist, ist hingegen durchaus eine Darstellungsform: eine „Plättung“, wie Lacan das Erstellen eines Diagramms nennt. Über den „Knoten“ sinnvoll zu sprechen oder ihn auf der Tafel oder einem Blatt Papier darzustellen bedeutet, ihn zu plätten, und was dadurch zutage tritt, sind „Plättungseffekte“ (Lacan 1974/1975, S. 53). Der Knoten ist real, aber „nur im Imaginären reflektiert“, wir sind auf die Plättung angewiesen, „um irgendeine Topologie darzustellen“, und dabei ist die Plättung eine „Reduktion des Imaginären“ (Lacan 1974/1975, S. 7), die etwas sicht- und vorstellbar macht. Für eine mathematische Formalisierung ist entscheidend, dass sich an sie (mathematische) Operationen anschließen lassen, d. h. letztlich, dass sie Aussagen über etwas erlaubt, die ansonsten nicht möglich sind. Das geschieht im Knotendiagramm, jedenfalls aus Sicht Lacans, auch. In der Plättung entstehen Überschneidungsflächen der drei Ringe, die für Lacan mit Buchstaben bzw. Ausdrücken versehen werden; so ist beispielsweise derjenige Bereich, in welchem sich Imaginäres und Symbolisches überlagern (deren „Schnittmenge“), der des Sinns (vgl. Lacan 1974/1975, S. 7). Für die Überschneidungsbereiche zweier Ringe ist entscheidend, dass der jeweils dritte Ring dafür eine Grenzlinie bildet (Abb. 1).
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Abb. 1 Die borromäisch verknüpften Ringe („Knoten“), aus: Lacan 1975/1976
Die Kreislinie des Realen trennt einen dann so zu nennenden Bereich des Sinns (als Überschneidungsbereich des Symbolischen und des Imaginären) vom Bereich des Objekts klein a ab. Das ist der Anteil des Realen am Sinn, sein „Sinneffekt“, und darum geht es Lacan im Seminar R.S.I., wenn er (u. a.) als das Thema das Seminarjahres 1974/1975 ausweist, „zu denken, was das Reale eines Sinneffekts sein kann“ (Lacan 1974/1975, S. 29), bzw. eine „Verortung“ der „Frage des Sinns“ ankündigt (Lacan 1974/1975, S. 39). Es wird deutlich, in welcher Weise das Reale dem Sinn ex-sistiert, indem es eine Grenzlinie bildet, die diesen Bereich erst erzeugt. Zu einem solchen Grenzstreifen, als welcher der Ring des Realen in der Plättung des „Knotens“ auftaucht, gibt es einige Bemerkungen Lacans in „Lituraterre“ von 1971 (Lacan 2001), die sich auf das Litoral beziehen (vgl. auch Laurent 2007), den Grenz-Küstenstreifen zwischen Land und Meer. Für den vorliegenden Zusammenhang ist wichtig, dass dort der Rückbezug zum Buchstaben erfolgt. Verbindet man dessen Charakterisierung als etwas, das literally auf das Litoral als Grenzstreifen zu beziehen ist, dann kann der Gedanke, dass die borromäische Verknüpfung in der flächigen Darstellung zeigt, wie das Reale einen Anteil an der Bildung des Sinns hat, fortgeführt werden. Der Buchstabe ist es dann, ohne den es keinen Sinn gibt, er selbst ist als letter aber Litoral dieses Bereichs und im selben Moment ein litter, ein Abfallprodukt des Sinns (vgl. zu letter und litter Lacans Gedanken zu Joyce in Lacan 1975/1976 oder allgemein in Lacan 2001 [1971]), was Lacan auch als Ab-Sinn bezeichnet (Lacan 1973 [1972]; vgl. Badiou 2012).9 9Wie
die Topologie etwas vom Verhältnis des Realen zum Symbolischen zeigt, wird auch im „entwendeten Brief“ angedeutet. Der Clou der Poe’schen Erzählung (die To-Poe-Logik darin, Dravers 2004) sind das Nichtauffinden des umgestülpten Kuverts durch die Polizei und das gelingende Auffinden durch Dupin. Lettre ist also nicht nur der Brief samt seinem signifikativen Zirkulieren, in dem er „immer seinen Bestimmungsort“ erreicht (Lacan 1986b [1955], S. 41), sondern er ist auch Buchstabe, und als solcher „befindet [er] sich immer und in jedem Fall an seinem Platz“ (Lacan 1986b [1955], S. 24).
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Diese Überlegungen ergeben sich aus der Plättung der borromäisch verknüpften Ringe, aus ihrer Zweidimensionalisierung, aus dem Abzug der räumlichen Dimension zugunsten der flächigen. Im Dreidimensionalen sind die Flächen zwischen den Ringen nicht identifizierbar, sie ex-sistieren der ins Dreidimensionale aufgefalteten Knotenstruktur, in der zwischen den Ringen keine Flächen zu erkennen sind, sondern Löcher. Die borromäisch verknüpften Ringe nun können für Lacan insofern als eine Schrift oder „Schreibweise“ gelten, als sie formalisiert und „geplättet“ etwas zu Papier bringen. Etwas geschieht dabei zwischen der Plättung als Schrift und der räumlichen Struktur der borromäisch verknüpften Ringe. Nimmt man den topologischen Grundgedanken einer Verformung bei beibehaltenen Eigenschaften ernst, dann wäre zu fragen, was zwischen der zweiten und der dritten Dimension, in welchen der „Knoten“ auftritt, mit der Struktur des Subjekts geschieht. Lacan will uns erklärtermaßen „durch das Gesagte“ das Reale „in seiner eigenen Dit-mension nahe[…]bringen“ (Lacan 1974/1975, S. 68). Wie ich versucht habe zu zeigen, ex-sistieren diese Überschneidungsflächen dem dreidimensionalen „Knoten“. Sie gehören zu ihm, weil durch eine Plättung nichts hinzugefügt wird (die Plättung ist eine topologische Verformung!), und doch werden sie in ihm nicht fassbar. Die Plättung ermöglicht eine Imaginierung des „Knotens“, sie erst macht aus ihm ein potenzielles Modell. Andererseits ist auch „[j]eder Raum […] platt“ (Lacan 1974/1975, S. 18).10 Die Resultate der beiden Denkweisen, die aus der Plättung und der räumlichen Vorstellung heraus vom „Knoten“ möglich sind, nämlich zum einen die Flächen, zum anderen die Löcher zwischen den Ringen, stehen in einem Verhältnis zueinander. Hier ist eine m. E. zentrale Aussage Lacans zum Knoten hinzuzuziehen, nämlich dass „das sprechende Wesen […] immer irgendwo, schlecht postiert, zwischen zwei und drei Dimensionen“ steht (Lacan 1974/1975, S. 18). Denn nimmt man die Plättung als Diagramm oder „Projektion“ im mathematischen Sinn (in dem sich die Überschneidungsflächen zeigen), dann ist der geplättete „Knoten“ zweidimensional. Die Auffaltung des „Knotens“ in den dreidimensionalen Raum, welche die „echten“ und die „falschen“ Löcher (vgl. Lacan 1975/1976, S. 15 f.) der Ringe und Verknüpfungen zeigt, kann diese Flächen nicht abbilden. Das „sprechende Wesen“ ist hier schlecht postiert und insofern in einem Dazwischen, als das Zwei- wie das Dreidimensionale etwas vermissen lassen, nämlich jeweils das, was die Überschneidungsflächen oder die Löcher vom Subjekt und seiner psychischen Struktur zeigen. Das Subjekt ist dazwischen, zwischen den beiden Darstellungsweisen der borromäisch verknüpften Ringe und deren symbolischen Bedeutungen. Während einer Arbeitstagung spricht Lacan 1975 davon, dass, „was ich als X + 1 schreiben
10Und
nicht nur dieser: Auch Sprache ist „stets geplättet“, es gibt in ihr „keine drei Dimensionen“ (Lacan 1976/1977, S. 39). Ähnliche Bemerkungen dazu, wie schwer es der Mensch bereits mit der dritten Dimension hat, gibt Lacan andernorts (Lacan 1961/1962, S. 145; Übers. T.S.): „[I]n psychischer Hinsicht haben wir nur Zugang zu zwei Dimensionen.“ Oder etwas später (Lacan 1961/1962, S. 153; Übers. T.S.): „Schon die dritte Dimension bereitet uns ‚Tiefenpsychologen‘ Probleme, um über sie auf eine abgesicherte Weise nachzudenken.“
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würde“, es sei, was „sehr präzise den borromäischen Knoten definiert“ (zit. nach Gallagher 2010, S. 11; Übers. T.S.). Im „Knoten“ spezifiziere sich „die Funktion des eins-mehr als solche“ (Lacan 1974/1975, S. 16). Was ist damit gezeigt? Was genau wird eigentlich durch den borromäischen „Knoten“ als Schreibweise formalisiert? Zum einen wird die Frage nach den Sinneffekten des Realen bzw. nach dem Realen des Sinneffekts beantwortbar. Das Reale bildet das Litoral, den Grenzbereich, der zwischen dem Imaginären und dem Symbolischen den Sinn entstehen lässt. Deutlich wird dies, wenn man den Buchstaben als den – für sich bedeutungslosen – materialen Träger des Signifikanten begreift. Die Formalisierung durch den borromäischen „Knoten“ bringt dies zu Papier. Zum anderen bezieht sich dessen Formalisierung ganz konkret auf das, wo – zwischen zwei und drei Dimensionen – das Subjekt als „Sprechwesen“ postiert ist: Es ist eine Formalisierung derjenigen (negativen) Zwischenwelt zwischen der 2 und der 3, in welcher immer nur eins-mehr oder eins-weniger „gesagt“ wird.
6 Ausblick Lacans Überschreitung einer allein linguistischen Konzeption der Psychoanalyse führt in verschiedene konzeptuelle und klinische Anwendungsbereiche. Unter diesen sind die Introjektion und/oder Inkorporation (als ein topologischstrukturaler Vorgang des Umstülpens des Innen über das Außen) und das Sprechen in der analytischen Situation (als Umwendung des Symbolischen) zu nennen. Gemeinsam ist diesen Anwendungsformen, dass etwas Nicht-Signifikatives wesentlich für die Sprachstruktur des Menschen ist. Ich kann nur kurz skizzieren, welche Folgerungen sich aus den hier erarbeiteten Figuren (Verknüpfung der Register als Ringe, Eins-mehr/eins-weniger als Wirkungen des Unbewussten, Buchstabe und Ziffer als Formalisierungen) ergeben. Es handelt sich dabei zunächst um die Bearbeitung immanenter Probleme der strukturalen Psychoanalyse, die potenziell von allgemeiner Bedeutung für die Psychoanalyse sein können. Erstens lassen sich die Verhältnisse zwischen Selbst und Anderem als Verformungen beschreiben: Eine strukturale Auffassung der Introjektion lässt sich als Umstülpungsvorgang denken, der die Charakterisierung Ferenczis der Introjektion als einer „Ausdehnung des Ichs“ aufgreift und ihren Doppelcharakter eines In-sich-Hineinnehmens und eines Sich-Ausdehnens thematisieren kann. Zweitens liegen die Überlegungen zur Topologie am Grund von Lacans (später) Auffassung des analytischen Prozesses, den er im Seminar XXIV als Umstülpung des Symbolischen um die beiden anderen Register beschreibt. Dabei handelt es sich um eine Verformung, die an der Grundstruktur des Psychischen nichts ändert, sondern vielmehr das Verhältnis zum Symptom (als viertem Ring) bzw. die Verknüpfungen der (drei) Ringe untereinander betrifft (im Spätwerk thematisiert Lacan als Ziel der Analyse die Identifizierung mit dem Symptom). Die Konzeption der Deutung ist von den Auffassungen zur Materialität des Signifikanten betroffen, insofern sie die Frage berührt, wie Sprechen die Ebene des Symbolischen überschreiten und die (borromäische) Struktur des
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Subjekts betreffen kann. Was einem buchstäblichen Sprechen am nächsten kommt, sind das Äquivok und die Poesie: Darin vermittelt sich eine Wirkung auf die Grenzen des Sinns. Erweisen sich Lacans Überlegungen zur Topologie nun immanent als Sackgasse, wie Žižek meint? Die Lektüre der Seminare der 1970er Jahre ist mühsam, man wohnt Lacan darin bei, wie er sich praktisch und theoretisch immer weiter verknotet. Sich der Un-Vernunft theoriebildend zu nähern muss aus Sicht Lacans angesichts dessen, dass der Zugang dazu diese Un-Vernunft notwendigerweise in sich trägt, nicht nur thematisch, sondern auch der Form nach an die Grenzen des Sinns führen. Für Lacan muss man eben nicht über das schweigen, worüber man nicht (täuschungsfrei) reden kann – sondern darüber schreiben. Sein Weg führt über die Mathematik, deren Formalisierungen als sinn-los aufgefasst werden.11
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11Dieser
Text entstand im Rahmen des vom Österreichischen Fonds zur Förderung wissenschaftlicher Forschung/Austrian Science Fund (FWF) geförderten Forschungsprojekts „Topographien des Körpers“ (P25977-G22).
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De_formatio_ne corporis oder: Unbilden des Körpers Natologische und topologische Aspekte der Lacan’schen Psychoanalyse Artur R. Boelderl
Die Tatsache, dass die Kette, die unbewusste Kette beim Verhältnis der Eltern Halt macht, ist begründet oder nicht, Verhältnis des Kindes zu den Eltern. (Lacan 2009, S. 15)
Zusammenfassung
Der Aufsatz sondiert Konsequenzen, die sich aus der Feststellung, dass für Lacan Geometrie und Topologie auseinanderklaffen, für seine Auffassung des Körpers ergeben: Die Geometrie geht vom Auge aus und von der Perspektive, ihr entgeht der Blick, insofern, was sie erblickt, stets eine bestimmte Gestalt ist (und sei sie auch verzerrt), ein Eines; sie verfehlt (bzw. exkludiert bewusst) die Gestalt als Fehlen, als Mangel: die Form, wobei unter Form topologisch das Ensemble jener Eigenschaften von Körpern zu verstehen wäre, die ungeachtet der Veränderung ihrer jeweiligen Gestalt (vulgo Verformung) gleich bleiben. Als Anamorphose etwa weist solche Verformung jenen Bezug zum Fehl/ Mangel an Gestalt auf, um den es Lacan geht: Es bedarf eines Lochs – de facto oder im übertragenen Sinn (was den Blickwinkel betrifft) –, d. h. der Kastration, −φ (minus phi), um sie zu erblicken. Worum es Lacan also geht, ist – sit venia litterae – „Verphormung“. Er führt die Form/Phorm (–φ als „tätowiertes Phallusphantom“) mit dem einzigen Zug/trait unaire – dem un des Unbewussten – zusammen und bringt sie mit dem Subjekt als Zählendem in Verbindung: Als Zählen ist die Form/Phorm nicht Gestalt bzw. Bild (das Eine), sondern „Gestalt*funktion“. An diese, so Lacan, sollte man sich in allen Fragen
A. R. Boelderl (*) Robert-Musil-Institut für Literaturforschung, Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, Klagenfurt, Österreich E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 U. Kadi und G. Unterthurner (Hrsg.), Macht – Knoten – Fleisch, Abhandlungen zur Philosophie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04957-5_8
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der Topologie streng halten. Das will besagen: Sie wirft Formen ab, die man ungeachtet ihrer darstellungsbedingten (geplätteten) Ähnlichkeit mit (natürlichen) Gestalten nicht für das Wahre halten darf. Während Gestalten unveränderlich sind in dem Sinn, dass ihre Verformung eine jeweils andere Gestalt (mit neuen Eigenschaften) zeitigt, ergibt die Verformung von topologischen Figuren (Formen) keine Veränderung ihrer jeweiligen Eigenschaften. Bei einer Gestalt ist klar/eindeutig, was innen und was außen ist (was Figur und was Hintergrund); topologische Figuren sind Formen, deren Innen auch ihr Außen ist und vice versa. Ob Innen und Außen mit Blick auf den Torus nun Begriffe der Struktur oder der Form sind (in Kohärenz mit dem oben Gesagten: Begriffe der Phorm oder der Gestalt), hänge, so Lacan weiter, davon ab, welche Konzeption vom Raum man habe; es gebe sicherlich eine Wahrheit des Raums, die jene des Körpers sei, welcher seinerseits auf dieser Wahrheit gründe. Insofern Lacan diese torische Dialektik von Innen und Außen in eins mit dem Körper und seiner Wahrheit sowie mit der Asymmetrie von Signifikant und Signifikat verknüpft (welche freilich rätselhaft bleibe), kehrt an dieser Stelle auch die Beziehung zum (Seins-)Mangel und damit zur Kastration, zum −φ wieder, m. a. W.: der Vorrang der Phorm/Struktur vor der Gestalt, oder in der Terminologie des Beitrags gesprochen: des Un-Bilds vor dem Bild.
1 Auch Un-Bilden brauchen einen Rahmen1: Situierende Bemerkungen Die französische Philosophin Barbara Cassin hat in ihrem Part eines gemeinsam mit Alain Badiou veröffentlichten Buches die These aufgestellt, Lacans Revolutionierung der Psychoanalyse und deren immense Herausforderung zumal für die Philosophie bestehe in einem Austausch des für die aristotelische Logik und damit in eins für das (nicht nur philosophische) Denken im Abendland maßgeblichen Satzes vom (ausgeschlossenen) Widerspruch (Met. 1005b) gegen den Satz vom ausgeschlossenen Geschlechtsverkehr bzw., genauer, des Prinzips der Logik gegen das Prinzip der Psychoanalyse: Wo zu lesen war, dass es keinen Widerspruch gibt, gelte es zu verstehen, dass es keinen Geschlechtsverkehr gibt – il n’y a pas de rapport sexuel (vgl. Badiou und Cassin 2012, S. 17). Lassen wir einmal dahingestellt, ob Lacan – in dieser (nicht unplausiblen) Lesart Cassins – damit wirklich zu einem subtilen Metaphysiker wird, wie Badiou meint (vgl. Badiou und Cassin 2012, S. 119), und halten wir für unsere gegenwärtige Perspektive lediglich fest, was damit jedenfalls unabweisbar wird: Es besteht, ganz allgemein gesagt, ein subtiler Zusammenhang zwischen Logik und Ontologie einerseits und der „Geschlechterfrage“ andererseits, der sich am jeweiligen Verhältnis zur Körperlichkeit manifestiert.
1Wie
Spiegel; vgl. Lacan (2004, S. 89), zit. nach Bühler (2009, S. 257).
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Ich habe diesen Zusammenhang andernorts (vgl. Boelderl 2012) als einen zwischen (mindestens) vier Differenzen zu formulieren versucht, die die Philosophie (und nicht nur sie) seit einigen Jahrzehnten umtreiben: die ontisch-ontologische, die sexuelle, die intergenerative (oder pädagogische; vgl. Nemitz 1996) und die natologische Differenz. Plakativer ausgedrückt: Sein ist nichts Seiendes; eine Frau ist kein Mann; ein Kind ist kein erwachsener Mensch; Geborenwerden ist nicht gleichbedeutend mit Sterben. Der Gehalt dieser Differenzen wird deutlich, wenn man die ihnen jeweils korrespondierende Figur der Leugnung ins Treffen führt: Die ontologische Differenz leugnet, wer den Unterschied zwischen Sein und Seiendem außer Acht lässt; die sexuelle Differenz leugnet, wer den Unterschied zwischen Mann und Frau ignoriert; die intergenerative Differenz leugnet, wer in Kindern nur kleine Erwachsene sieht (bzw. die Unterschiede zwischen den Lebensstufen im Allgemeinen verwischt; vgl. Portmann 1973, S. 77); und die natologische Differenz leugnet, wer in der Geburtlichkeit des Menschen eine bloß faktisch-empirische Voraussetzung für dessen Sterblichkeit erkennt. (Man könnte diese Reihe von Differenzen beispielsweise um die anthropologische Differenz ergänzen, welche von jenen verwischt wird, die in tierischen Lebensformen eine lediglich graduell von der menschlichen unterschiedene Existenzweise erblicken). Dabei – so meine These – kommt der natologischen Differenz, zumindest was ihre Erklärungskraft hinsichtlich der weiteren Differenzen betrifft, eine gewisse Sonderstellung zu; von ihr her lässt sich meines Erachtens, ohne ihr deswegen zwingend einen sei’s logischen, sei’s chronologischen oder anderweitigen Vorrang zuerkennen zu wollen, am besten ermessen, was hier philosophisch auf dem Spiel steht. Ist es nicht so, dass die bis vor wenigen Jahrzehnten gängige Verdrängung der philosophischen Bedeutsamkeit der sexuellen Differenz ihrerseits bereits das Epiphänomen einer gleichsam weiterreichenden Verdrängung der Geburtlichkeit des Daseins zugunsten seiner Sterblichkeit darstellt, die mit der Abwertung der körperlichen Existenz des Menschen qua Aufwertung seiner geistigen konvergiert; dass die die abendländische Philosophie kennzeichnende Leugnung des Unterschieds von Geburtlichkeit und Sterblichkeit der Leugnung des Geschlechtsunterschieds voraufgeht, ja dass jene Leugnung diese informiert (vgl. Boelderl 2007)? Ist es bloßer Zufall, dass traditionell nur eine der genannten vier Differenzen, die ontisch-ontologische nämlich, philosophisch nobilitiert wurde, während mit der sexuellen (wie Derridas diesbezügliche Auseinandersetzung mit Heidegger gezeigt hat) auch die anderen weitestgehend unberücksichtigt geblieben sind, als nur empirisch, nur mundan, weil bloß körperlich abgetan? Meine Überzeugung ist, dass dieser geistesgeschichtlich-philosophische Umstand seinen Grund bzw. Abgrund an dem unvordenklichen Punkt der chiasmatischen Überkreuzung von Geschlecht und Existenz findet, der als Geburt bezeichnet wird, dass es dieser „Punkt“ ist, den die Differenzen weniger gemeinsam haben, als dass sie ihn sich vielmehr „teilen“ (und der sich nicht geometrisch, sondern allenfalls topologisch fassen lässt). Worum es mir im Folgenden ginge, wäre zu zeigen, dass und inwiefern das Lacan von Barbara Cassin zugeschriebene Manöver der Ersetzung des Satzes vom (ausgeschlossenen) Widerspruch durch den Satz vom (ausgeschlossenen) Geschlechtsverkehr, seine unablässige Erinnerung an die sexuelle Differenz und
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deren aporetischen Charakter einen (verdrängten, aber stets wiederkehrenden) Fluchtpunkt in seiner, Lacans, ursprünglichen Anerkennung der Bedeutung hat, die die Geburt als Körper für das Sprechwesen Mensch besitzt. Anders gesagt: Die Formel vom Geschlechtsverkehr, den es nicht gibt, gemahnt in Lacans „reifem“ oder „entwickeltem“ Denken sowohl sachlich wie systematisch-strukturell an den Geschlechtsverkehr, den es immer schon gegeben haben wird (wiewohl sich von ihm nichts sagen lässt und nur unsere jeweilige Existenz von ihm zeugt) und der beim frühen Lacan ganz offen unter der ihm gewöhnlich zukommenden Bezeichnung „Geburt“ firmiert. Sie, die Formel, gemahnt mithin auf gar nicht so abstrakte Weise an die beschriebene Konvergenz (mit einem von Merleau-Pontys Lieblingsausdrücken zu reden) von natologischer, sexueller, intergenerativer und ontologischer Differenz. Was geboren wird, ist jedenfalls immer ein/s – Körper. Und insofern das, was da geboren wird, von einer unleugbaren Monstrosität ist (mit Derrida gesprochen), weil sein Körper zwar eine Form (forme) aufweist, aber keine Gestalt hat, kein Bild (image) von sich, sollte – ganz am Ende – auch ansatzweise durchscheinen, worauf mein Titel anspielt.
2 Il n’y a pas de rapport … natal: Ein kurzer Abriss philosophischer Natologie Historisch betrachtet, war Philosophie – man muss vielleicht der Ordnung halber ergänzen: abendländische, europäische Philosophie – bis ins 20. Jahrhundert hinein ein in erster und letzter Instanz thanatologischer Diskurs, eine einzige große Reflexion auf den Tod oder vielmehr auf das Skandalon der zeitlichen Begrenztheit menschlicher Existenz, eine weit ausholende Antwort auf das den Menschen bedrängende Problem der radikalen Kontingenz seines Lebens. Dabei ist diese radikale Kontingenz die längste Zeit über, insofern sie ausschließlich mit dem Ende des menschlichen Lebens in Verbindung gebracht wurde, in ihrer Radikalität sträflich unterschätzt worden. Die „wahre“, die „ganze“, jedenfalls die wirkliche Kontingenz – wenn man mit Bezug auf ein derartiges Thema solche Attribute verwenden darf – ist erst mit der Anerkennung nicht nur der skandalösen – und philosophischerseits stets skandalisierten – Endlichkeit des menschlichen Lebens im Tod, sondern dessen nicht minder skandalöser, aber vergleichsweise kaum je von Philosophen skandalisierter Endlichkeit am Anfang dieses Lebens, der Geburt, realisiert (vgl. Boelderl 2006). Als einer der wenigen hat der wohl nicht zufällig quer zu den meisten philosophischen Strömungen seiner Zeit denkende Georges Bataille diesen Umstand explizit formuliert: „Ich bemerke die Unsicherheit des Seins in mir. Nicht diese klassische Unsicherheit, die auf der Notwendigkeit zu sterben beruht, sondern eine neue, tiefere, die auf der geringen Aussicht beruht, die ich hatte, (überhaupt) geboren zu werden“ (hier zit. nach Bürger 1998, S. 156; vgl. auch dessen Kommentar ebd. sowie ähnlich bereits 1757 Hume 2000, S. 96). Peter Trawny schließt sich diesem Befund an: „Platons Erklärung, die Philosophie sei ein Sterbenlernen, war von so großer Bedeutung, dass ihre Folgen auch heute noch spürbar sind […]. Die Philosophie scheint dem Tod
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gewidmet zu sein. Diese schwerwiegende Orientierung am absoluten Ende (?) hat den absoluten Anfang (?) – die Geburt – verdeckt. Mehr noch: die Philosophie des Todes scheint der Geburt sogar Bedeutung gleichsam abzusaugen, dient doch das Sterbenlernen, diese Vorbereitung auf das Ende, einem alles überstrahlenden Anfang. Das Sterbenlernen ist demnach die Kunst des Sokrates, die wahre Maieutik, die nur zum Vorschein bringt, was schon selbst zum Licht drängt. […] Es hat den Anschein, als wäre die Geburt immer schon vergangen; meine ist es jedenfalls, und weil es wohl vor der Geburt kein ‚mein‘ gibt, ist sie es prinzipiell. Und so wird auch heute noch jeder, der über die, d. h. über seine oder ihre, Geburt nachzudenken beginnt, vor solcher Kontingenz erschrecken […].“ (Trawny 2009, S. 17 f.)
Als philosophische Idee sui generis ist die Geburt also (anders denn, und gerade insofern folgerichtig, als bloß metaphorische Denkfigur) – und meine Behauptung ist, sehr zu unrecht und zum Nachteil der Philosophie – im Abendland lange Zeit ein Stiefkind gewesen, und ein ungeliebtes dazu,2 obwohl die Geistesgeschichte des Abendlandes ihrerseits allererst angestoßen worden ist vom Sohn einer Hebamme, Sokrates, und zwar dezidiert als Hebammenkunst – freilich auch hier nur im übertragenen Sinn, als Kunst der richtigen Gesprächsführung. Dass man diese beiden Geburtsmomente – den „wirklichen“ und den „übertragenen“ – auch verstehen kann als zwei Anfänge, nämlich den Anfang des Lebens und den Anfang des Denkens, bzw. als zwei verschiedene, wenngleich aufeinander bezogene Aspekte der Vermittlung dieser beiden Anfänge, erhellt den systematischen Ort der Fragestellung philosophischer Natologie. Mit HansGeorg Gadamer gesagt: Es gehe einer Philosophie der Geburt darum zu „verstehen, welchen Sinn es hat, daß die Philosophie zwischen dem Anfang im Sinne des Lebensursprungs und dem Anfang des Erkennens und Denkens hin- und herschwankt“ (Gadamer 1996, S. 78). Seit relativ kurzer Zeit erst entsinnt man sich dieser mit der Geburtsthematik angezeigten denkerischen Aufgabe: Es sind die Psychoanalyse und die Tiefenpsychologie (Freud, Jung, Rank, Graber), aber auch die Sozialwissenschaften (insbesondere die Psychohistorie: Lloyd deMause) und, von diesen angestoßen, nicht zuletzt die Philosophie selbst, Nachfahrin der sokratischen Mäeutik, die im 20. Jahrhundert die Tatsache der Geburtlichkeit des Menschen, wie unausdrücklich auch nach wie vor, zusehends der Vergessenheit entreißen. Das geschieht – mehr nolens als volens – schon bei Heidegger, ganz explizit und bewusst hingegen bei und durch Arendt, Levinas, Michel Henry, Derrida, Kristeva, Nancy; auch Peter Sloterdijk wäre hier zu nennen sowie, lange vor ihm, der ganz wesentliche Beitrag des Jaspers-Schülers Hans Saner, der sich, wie Ludger Lütkehaus und Christina Schües in Deutschland (vgl. Lütkehaus 2006; Schües 2008), nicht ausschließlich,
2Für die Geburt als biologische Tatsache, d. h. als Gegenstand naturwissenschaftlicher Betrachtung, gilt das freilich nicht oder nur insofern, als Geburt schon früh als nur noch biologisches Phänomen interpretiert worden ist, dass also eine gewisse semantische und ideelle Engführung vonstattengegangen ist, die die Themen möglichen Wissens und möglicher Wissenschaft eindeutig zugeteilt und disziplinär verortet hat: Geburt ist ein Thema für die Naturwissenschaft, nicht aber für die Geisteswissenschaften.
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aber doch hauptsächlich in Arendts Spur bewegt (die Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit). Und natürlich geschieht es, noch sehr früh im Verlauf dieser vorwiegend phänomenologisch ausgerichteten Genealogie der philosophischen Natologie, bei und durch Maurice Merleau-Ponty, von dem gleich noch die Rede sein wird und dem in jüngerer und jüngster Zeit eine gar nicht so geringe Anzahl von französischen Exegeten und Interpreten just in Verlängerung dieser speziellen natologischen Perspektive zu folgen begonnen haben – z. B. Renaud Barbaras, Emmanuel de Saint-Aubert, Claude Romano sowie Frédéric Jacquet mit seinen Arbeiten über Patočka und Dufrenne (vgl. z. B. Saint-Aubert 2004, 2013; Romano 2009; Jacquet 2013a, b, 2016). In systematischer Betrachtung sticht bei den meisten der Genannten ins Auge, dass sie diese ihre zunehmende Sensibilität für die Geburtlichkeit des Menschen mit einem gesteigerten Interesse an bzw. einer entschiedenen Aufwertung der Bedeutung von Körper und Leib für die Philosophie verbinden. Philosophische Natologie bezeichnet vor diesem ideengeschichtlichen Hintergrund den Versuch, ein Denken radikaler Immanenz zu befördern, das seinen Ausgang von der rückhaltlosen Anerkennung der Endlichkeit menschlicher Existenz nimmt. Die mit der Einbeziehung der Geburtlichkeit in die philosophische Reflexion erst realisierbare absolute Kontingenz ist von vorrangiger Bedeutung für die Auseinandersetzung mit der Frage nach der Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Individuation: Solche Kontingenz ist also das Un-Prinzip der Individuation. Hier gibt es eine Gabe, die nicht empfangen werden kann, eine Gabe, die in einem Missverhältnis besteht. Denn diese Gabe ist nicht nur dem Anderen gegeben. Sie ist sich selbst der Empfang, was, wie seltsam, dem Charakter einer Gabe widerspricht. Aber hat nicht jeder Geborene eine Mutter, d. h. einen Anderen, dem er entspringt? Ich empfange mich keineswegs aus meiner Mutter, sondern aus einem Abgrund, der ich war und sein werde. Ähnlich entspringt die Mutter, d. h. die Frau, die mich geboren hat, nicht aus mir, sondern ebenfalls aus etwas Anderem. Diese Eltern sind unmöglich, die mich zur Welt bringen wollten. […] Kontingenz und Individuation sind nicht identisch. Doch zugleich sind sie nicht zu trennen. […] Die Individuation ist gewiss eine Aufgabe, ein Prozess, Bildung eben, doch sie vermag die Kontingenz der Geburt niemals wirklich hinter sich zu lassen oder aufzulösen. (Trawny 2009, S. 18)
Dieser Prozess der Bildung ist, mit anderen Worten, zugleich ein Prozess der Un-Bildung (und nicht lediglich der Um-Bildung im Sinne einer teleologischen Entwicklung). Ein Vorblick auf Merleau-Ponty erlaubt es, hinsichtlich dieser Aporie weniger von einem „Un-Prinzip der Individuation“ als vielmehr von einem „Prinzip der Un-Individuation“ zu sprechen. Im 1946 gehaltenen Vortrag Das Primat der Wahrnehmung und seine philosophischen Konsequenzen hält MerleauPonty bezüglich der Entwicklung des philosophischen Denkens im 20. Jahrhundert zunächst fest, was sich hier auf unterschiedliche Weise ankündige, sei jeweils „die Vorstellung eines Denkens, das sich daran erinnert, geboren worden zu sein, sich souverän ergreift und in dem die Tatsache, die Vernunft und die Freiheit zusammenfallen“ (Merleau-Ponty 2003, S. 45). Doch steht die anvisierte Souveränität dieses seiner Geburtlichkeit Rechnung tragenden Denkens unter der bereits ein Jahr zuvor in der Phänomenologie der Wahrnehmung getroffenen Ein-
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schränkung (qua Möglichkeitsbedingung), dass zu dieser Erinnerung oder SelbstErinnerung des Denkens an sein Geborensein sogleich die Erkenntnis hinzutrete, dass die dadurch ermöglichte Souveränität des nachgeburtlichen (Selbst-) Bewusstseins unauflöslich gebunden bleibe an jene ebenfalls in diesem Geborensein gründende „innere Schwäche“ gleichzeitiger „Aktivität oder Individualität und […] Passivität oder Allgemeinheit“, die das menschliche Dasein kennzeichne und ihm „auf immer die Dichtigkeit der absoluten Individuierung versagt“ (Merleau-Ponty 1966, S. 486). Dem liegt die im Wege einer Analyse der Zeitlichkeit gewonnene Einsicht zugrunde, dass die Geburt kein „Ereignis“ ist, wenn mit Ereignis ein punktueller Moment auf einer Linie aufeinanderfolgender Vorkommnisse gemeint ist; wenn ihr der Charakter eines Ereignisses zukommt, dann nur in dem Sinne einer Singularität, die in absoluter Konkretion zugleich das Allerallgemeinste verrät (in allen Bedeutungen dieses Wortes). Sie ist auch kein „Anfang“, kein „Beginn“ von etwas, das ohne sie nicht gewesen wäre; in ihr einen Ursprung zu sehen ist möglich nur um den Preis der Verleugnung und Auslöschung dessen, was da als „entsprungen“ auf sie zurückgeführt werden soll. Unhintergehbar fürs Denken wäre mithin nicht die Individualität dessen, der denkt, noch auch Subjekt oder Person des Denkenden; als „unhintergehbar“ in einem überraschend präzisen Sinn des Wortes erschiene vor allem die Geburtlichkeit, der alles Denken nicht-autoritativ unterstünde. Das liefe nicht auf die Binsenweisheit hinaus, der zufolge nur, wer geboren ist, überhaupt in die Lage versetzt wird zu denken. Vielmehr trüge das Denken bis in seine verzweigtesten Höhenschichten Züge eines geburtlichen Zustandes, dessen sukzessiver Hintanstellung (psychoanalytisch gesprochen: Verdrängung) es sich zuallererst verdankte. Nicht genuin philosophische, sondern einzelwissenschaftliche Indizes hierfür – im Sinne von Heideggers „formaler Anzeige“ – wären etwa die beständig rätselhaften Fragen nach der Bedingung der Möglichkeit des Übergangs von einem sprachlosen in einen Sprachzustand des menschlichen Subjekts sowie die Unterscheidung von nonverbalem und verbalem Denken und andere mehr. Der Frage, wohin unsere Erinnerung zurückreicht (in die perinatale, sogar in die pränatale Zeit) und was sich als Erfahrung davon für uns je übersetzt – man denke etwa an die Problematik der sog. Körpererinnerungen –, entspricht die Frage, worauf sie vorausweist. Das Vorlaufen zum Tode ist bekanntermaßen ein Ausgerichtetsein auf die Möglichkeit des eigenen Nichtmehrseinkönnens oder genauer: des Nichtmehr-Könnens; dieses, worunter man landläufig den Tod versteht, ist in seiner Bedeutung für menschliche Lebensentwürfe freilich kaum zu überschätzen. Und dennoch: Gilt nicht das Gleiche auch für die Geburt, und noch auf ungleich verstörendere Weise? Das Herlaufen von der Geburt ist an seinem vermeintlichen Ausgangspunkt, der Geburt nämlich, mindestens ebenso flüchtig wie das Vorauslaufen zum Tode an seinem Fluchtpunkt, dem Tod. Auch in meiner Geburt kann mich niemand vertreten; in ihr bin ich, für mich ist sie eine absolute Singularität, deren Charakter allgemeiner Verbindlichkeit (gesellschaftlich sanktioniert durch amtliche Zeugnisse und dergleichen) diese zugleich auszulöschen droht bzw. immer schon ausgelöscht hat, denn diese Singularität teile ich zugleich mit allen anderen Geborenen – eine „undarstellbare [Körper-]Gemeinschaft“ (Jean-Luc Nancy),
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offenbar konstitutiv für Individuum und Gesellschaft und doch um nichts weniger spekulativ als das Faktum des irgendwann eintretenden Todes. Wie der Tod kann auch die Geburt nur aus der Perspektive des Zeugen betrachtet und als stattgefundenes „Ereignis“ verbürgt werden. Genauso wenig wie der Tote – als der Gestorbene – vermag der nasciturus oder die nascitura – als der/die noch nicht Geborene – seine/ihre Erfahrung (des Todes/der Geburt) mitzuteilen; vonseiten therapeutischer Methoden induzierte „Wiederholungen“ von Geburtserfahrungen haben wissenschaftstheoretisch denselben Stellenwert wie die Erzählungen sogenannter (Nah-)Toderfahrungen durch vormals klinisch Tote resp. Wiedererweckte. Hier wie dort gilt die eigene Zeugenschaft nichts, auf sie kann nicht in legitimatorischer Absicht zugegriffen werden. Wie der Zeuge des Sterbemoments eines Menschen nur ihn bezeugen kann, nicht aber den Tod als solchen, so vermag genau betrachtet auch der Zeuge des Geburtsmoments eines Menschen nur ihn zu bezeugen und nicht die Geburt als solche – geht doch der Geburt als Ereignis eine neunmonatige Zeit der Reife voraus, die sich nicht in Begründungsabsicht im Hinblick auf die Geburt in Anschlag bringen lässt. Die Konzeption ist in diesem (philosophischen) Sinne nicht der „Grund“ der Geburt. (Im medizinischen Sinne ist sie das natürlich sehr wohl; diese Inkompatibilität zweier Diskurse ist wiederum mit ein Grund für die Probleme in der medizinischethischen Diskussion um die Geburtenfrage, sei es in Form der Empfängnisverhütung oder der Bioethik.) Oder sie ist es nur insofern, als sich mit gleichem Recht sagen lässt, sie (die Konzeption) sei auch der Grund des Todes. Daran lässt sich die Sinnlosigkeit einer solchen Aussage bemessen. Nicht der Tod ist das Unmögliche, sondern das Leben. Dieses zunächst frappierende Aperçu Jacques Derridas3 erhält seinen präzisen Sinn und seine Berechtigung von genau daher: Einmal geboren, ist der Tod immer möglich, ja nichts ist – sit venia verbo – „möglicher“ (im Sinne von wahrscheinlicher) im Leben als der Tod. Das Leben selbst hingegen ist geradezu unmöglich in Anbetracht der schier unzähligen Möglichkeiten, gar nicht erst geboren zu werden. Die Zahl derjenigen, die nicht geboren sind, überwiegt die Zahl der bislang in der Geschichte des menschlichen Lebens Gestorbenen immer und mit Notwendigkeit bei weitem. Letztere Zahl ist nämlich, wie unvorstellbar groß sie auch sein mag, auf alle Fälle eines: prinzipiell zählbar, d. h. endlich. Die erstere Zahl hingegen entbehrt genau dieser Qualität der zählbaren, endlichen Quantität. Somit ist die Geburt stets das Rätselhaftere, das mehr der Erklärung Bedürftige als der Tod; sie ist das eigentliche Mysterium, das Geheimnis, um das sich das menschliche Leben rankt.
3In
einem Brief an Jochen Wagner, zitiert im Programmfolder zur Tagung Auf Leben und Tod. Philosophische Passagen um Jacques Derrida (Evang. Akademie Tutzing, 20.–22. März 1998).
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3 Bild und Bildung (formation) zwischen Familie (Les complexes familiaux …) und Spiegelstadium (Le stade du miroir …): Lacans ursprüngliche Natologie Das Stichwort „rankt“ leitet über zum dritten Teil meiner Ausführungen. Aus meiner – u. a. affirmativ auf Jacques-Alain Miller (1984/2005) und eher kritisch auf Shuli Barzilai (1999) gestützten – Sicht ist der frühe Encyclopédie françaiseArtikel über „Die Familie“ für unser Verständnis Lacans das, was Freuds Entwurf aus Lacans Sicht für unser (oder jedenfalls sein) Verständnis Freuds war: Wie Freud Lacan zufolge (der seinerseits in diesem Punkt übrigens bereits Jakobson folgt) in seiner frühen Zeit mit einer notgedrungen unangemessenen (neurologisch-psychiatrisch-naturwissenschaftlichen) Terminologie Einsichten formuliert hat, deren eigentlicher Gehalt erst in der Revision („Rückkehr“) mittels einer zwischenzeitlich aufgekommenen neuen Terminologie (der linguistischstrukturalistischen) zum Vorschein kommt und zum Tragen gebracht werden kann, so hat der frühe Lacan in einer noch durch und durch psychologisch-psychiatrischmedizinischen Sprache jene Einsichten formuliert, die erst seine spätere Selbstrevision in mehreren Anläufen als „zweite Revolution der Psychoanalyse“ erweisen sollte. Die Analogie wäre zweifellos wert, näher ausgeführt und kritisch beleuchtet zu werden, was ich hier indes nicht leisten kann. Der Hinweis darauf scheint mir aber sowohl aus historischen als auch aus systematischen Gründen wichtig, auch weil im einen (Freud) wie im anderen Fall (Lacan) der jeweilige Stellenwert ihres vermeintlichen oder wirklichen Naturalismus oder gar Biologismus zur Debatte steht. Ganz konkret gesagt: „Die Familie“ enthält noch jenes Fundament, auf dem Lacan seine Revision der Freud’schen Psychoanalyse aufbaut und das in den späteren Schriften und Seminaren nur noch in kaum mehr kenntlichen Avataren aufscheint, wiewohl es dessen ungeachtet (bzw. gerade deshalb) sehr zur Aufklärung von ihrer zunehmenden Hermetizität beizutragen vermag: das Faktum der Gebürtigkeit des infans. Es wäre sicher übertrieben zu behaupten, Lacan wiederhole – wenn auch auf ungemein verklausulierte, ja verschwiegene Art – die Provokation, der Otto Rank Freuds Psychoanalyse mit seinem Trauma der Geburt ausgesetzt hat (Rank 1998); die Übertreibung dennoch hier namhaft zu machen hat indes den Vorteil, zumindest die Stoßrichtung der gegenwärtigen Überlegungen anzuzeigen. Diese Absicht verstärkend tritt die Beobachtung hinzu, dass Merleau-Ponty in seinen Vorlesungen an der Sorbonne 1949–1952 just Lacans „Familien“-Artikel wählt, um die Stadien der kindlichen Entwicklung prüfend phänomenologisch zu durchleuchten (vgl. Merleau-Ponty 1994), wohl nicht zuletzt deshalb, weil dieser ihm der selbstgestellten Aufgabe, ein Denken zu entwickeln, das sich seines Geborenseins erinnert, eine Phänomenologie des Leibes, am meisten dienlich zu sein schien (im Unterschied zum späteren „Spiegelstadium“-Aufsatz von 1949, wiewohl – das legt zumindest die deutsche Ausgabe der Vorlesungen nahe – Merleau-Ponty in anderem Zusammenhang mitunter auch auf diesen späteren Text rekurriert).
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Zum Geschick des Lacan’schen „Spiegelstadium“-Textes zwischen Marienbader Vortrag 1936 und Zürcher Vortrag 1949 (bzw. publiziertem Text in den Écrits 1966) ist den einschlägigen Ausführungen von Roudinesco (2000) historisch wenig hinzuzufügen. Sie zeigen unter Berufung auf Notizen Françoise Doltos anlässlich eines Vortrags, den Lacan im Juni 1936 in Paris hielt, zweierlei: zum einen, dass es sich dabei um den nämlichen Text gehandelt haben muss, der im August desselben Jahres in Marienbad nicht bzw. nicht zur Gänze zum Vortrag gelangte, und zum anderen, dass sein Inhalt sich mit dem des 1938 in der Encyclopédie française veröffentlichten Artikels über die Familie mit dem vollständigen Titel „Les complexes familiaux dans la formation de l’individu. Essai d’analyse d’une fonction en psychologie“ deckt (vgl. Roudinesco 2000, S. 8; vgl. auch Miller 1984/2005). Die Tragweite des von Roudinesco aufgezeigten Zusammenhangs erschöpft sich freilich nicht in der – im Übrigen unscharf formulierten – Erkenntnis, dass Lacans Ausführungen über das Spiegelstadium mit der angeblich auf den niederländischen Anatomen (nicht: Embryologen) Louis Bolk rekurrierenden These von der vorzeitigen Geburt des Menschen zusammengebracht werden müssen (vgl. Roudinesco 2000, S. 13); noch auch bleibt sie auf den zweifellos richtig erkannten Umstand beschränkt, dass Lacans Rede vom Spiegel-Stadium in Verbindung mit dem titelgebenden Terminus „Komplex“ nahelegt, im so benannten Stadium nicht eine Stufe oder Phase im entwicklungspsychologischen Sinn zu erblicken, sondern einen „Zustand, der struktural einem anderen Zustand folgt“ (Roudinesco 2000, S. 13). Insofern es für den weiteren Kontext unserer Überlegungen zu Status/Statut des Körpers als (Un-)Bild nicht unerheblich ist – ohne dass diese sich mit der Komplexität und den Problemen der Lacan’schen Spiegelstadium-Theorie en détail auseinandersetzen werden –, sei doch an dieser Stelle festgehalten, dass Bolks These weniger die Prämaturation der Geburt des Menschen als solche betrifft denn vielmehr diese vorzeitige Geburt des Menschen selbst bereits als Konsequenz dessen zu erklären sucht, was er Fötalisierung der menschlichen Form nennt und mit deren Retardation, also einer spezifischen, lebenslangen Entwicklungsverzögerung, in Verbindung bringt (vgl. Bolk 1926). Die ebenso jubilatorische wie irreführende Identifikation des kleinen Kindes mit seinem Spiegelbild, von der im Gefolge des stets verschwiegenen Henri Wallon Lacans Spiegelstadium kündet, ist also bereits von daher Identifikation eher mit einer Ungestalt als mit einer Gestalt im Sinne der individuierten Form, oder genauer: Durch die Identifikation, vermittelt über den Anderen, erhält das Formlose aufseiten der Realität eine bildliche Form und wird entgegen selbst noch dem Augenschein als ein Wert affektiv besetzt, der indes nicht einmal in der Dimension des Imaginären Bestand hat – Identifikation des zerstückelten Körpers mit einer als Form, ja Bild missverstandenen imaginären Unförmigkeit, die gleichwohl die Möglichkeit zur Bemächtigung qua Selbst-Ermächtigung eröffnet. Anders gesagt: Das Spiegelbild ist nicht von sich aus eine Ganzheit oder Totalität, so wenig wie die Selbstwahrnehmung des infans auf körperlicher Ebene eine solche erlaubt, es gelangt in seinen Status einer organisierenden Imago erst durch die symbolische
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Bestätigung durch den Anderen. Insofern ist jede Formation des Unbewussten eine De-formation des formlosen Körpers avant la lettre à travers la lettre. Ungleich weiter in der Sache als Roudinesco führt uns Jacques-Alain Miller (1984/2005), der in „Die Familie“ dezidiert einen Vorläufer von Lacans späterer Lehre sieht und – in der Retrospektive – diejenigen Züge des frühen Textes benennt, in denen er den Keim zu den bekannten späteren Elementen der Lacan’schen Psychoanalyse erkennt. Vorweg stellt er als „schockierend“ das Fehlen jeglichen Vorkommens des Unbewussten im Text fest – eine Beobachtung, die m. E. zwar nicht ganz zutrifft (als Adjektiv kommt „unbewusst“ sehr wohl vor), aber ungeachtet dessen keineswegs belanglos ist, und sei es nur in der Hinsicht, dass eine von Merleau-Pontys wiederkehrenden Infragestellungen psychoanalytischer Konzepte von phänomenologischer Warte aus eo ipso den Begriff des Unbewussten betrifft. So sagt er etwa in seinem Vorwort zu Angelo Hesnards Freud-Buch: […] man müßte die Worte und theoretischen Begriffe, die er [Freud] verwendet, nicht im wörtlichen und gewöhnlichen Sinne auffassen, sondern gemäß dem Sinn, den sie innerhalb der Erfahrung annehmen, die sie andeuten und von der wir selbst viel mehr als nur eine Ahnung haben. Solange unsere Philosophie uns noch nicht die Mittel gegeben hat, dieses Zeitlose, dieses Unzerstörbare in uns besser auszudrücken, das nach Freud das Unbewußte selbst ist, so lange ist es vielleicht ganz gut, es weiterhin das Unbewußte zu nennen. (Merleau-Ponty 2000a, S. 330)
Daher mag es gerade dieses von Miller konstatierte (relative) Fehlen des Begriffs des Unbewussten im „Familien“-Artikel gewesen sein, das Merleau-Ponty auch zur Wahl desselben als Referenztext für seine Auseinandersetzung mit Lacan bewogen hat. Doch gebe es, so Miller weiter, in der „Familie“ – anders als im unmittelbar vorausgehenden Text „Jenseits des Realitätsprinzips“ – klare Hinweise auf jene scharfe Unterscheidung zwischen dem Ich und dem Subjekt, die man als den Nabelpunkt von Lacans Lehre betrachten müsse; auch wenn Lacan zu diesem Zeitpunkt, 1938, natürlich noch nicht über jene linguistischen wie strukturalistischen Kenntnisse verfüge, die ihm später erlauben würden, das Unbewusste als wie eine Sprache strukturiert zum Angelpunkt seiner Arbeit zu machen. Dennoch – und man kann dies m. E. mit Recht noch viel stärker betonen, als Miller es tut –, sei es Lacan hier darum zu tun (und gelinge es ihm auch) zu zeigen, dass es – selbst in einer Angelegenheit wie den familiären Beziehungen, die doch stets mit Zeugung, Empfängnis, Generation und Prokreation, also letztlich mit Biologie in Verbindung gebracht wird – keine Natur gebe, die nicht von der Kultur auf eine solche Weise bearbeitet und überformt würde, dass der kulturelle Faktor letztlich dominiere, kurz gesagt: dass die Familie eine soziale Institution sei. (Es scheint im Übrigen nicht allzu weit hergeholt, Merleau-Pontys Wahl des Begriffs „Institution“, um sich von den philosophischen Aporien, die mit Husserls Rede von der Konstitution einhergehen, zu distanzieren, neben der naheliegenden wörtlichen Übersetzung des ebenfalls bei Husserl vorfindlichen
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deutschen Ausdrucks „Stiftung“ von seiner Kenntnis des Lacan-Artikels mit motiviert zu sehen; vgl. Merleau-Ponty 1973). In gewisser Weise also setzt bereits dieser frühe Text Lacans – und meine Behauptung geht dahin zu sagen: eben keineswegs zufällig am Beispiel der Familie bzw. genau genommen der prä- und perinatalen sowie frühkindlichen Lebensform – jene Dialektik von primordialer Bejahung und ursprünglicher Verneinung in Gang, innerhalb deren sich die Signifikantentheorie als spezifische Lesart der Freud’schen Psychoanalyse situieren wird. Es scheint mir von äußerster Bedeutung zu sehen, dass der von Lacan nachmals eingeführte Signifikant präzise an der Stelle im Psychismus erscheint, wo zuvor der narzisstische Knoten in Gestalt beispielsweise der „Mutterschoß-Imago“ (Lacan 1980a, S. 50) zu stehen gekommen war (vgl. Boelderl 2015). Wenn im „Familien“-Artikel von der Entwöhnung als jener frühesten Erfahrung die Rede ist, die „im menschlichen Psychismus die bleibende Spur des biologischen Bezugs (hinterläßt), den sie abbricht“ (Lacan 1980a, S. 48), dann zeigt sich, dass und wie Lacan mit der Einführung bereits der Familien-Komplexe (deren „ältester“, wie Merleau-Ponty 1994, S. 127, sagt, der der Entwöhnung ist) jener Gefahr eines biologischen Reduktionismus bezüglich der Freud’schen Entdeckung des Unbewussten zu wehren sucht, die er mit der (nicht zuletzt übersetzerischen) Engführung von „Trieb“ und „Instinkt“ verbunden sieht. Dabei lässt er keinen Zweifel daran, dass die Entwöhnung im engeren Sinn „den ersten und angemessensten psychischen Ausdruck für die dunklere Imago einer früheren, schmerzlicheren und lebenswichtigeren Entwöhnung [gibt]: jene verfrühte Trennung, die das Kind bei der Geburt von der Gebärmutter löst“ (Lacan 1980a, S. 51). In nuce enthält diese Beschreibung der prä- und perinatalen Vorgänge schon die Ansätze zu einer Theorie des Signifikanten, die auf dessen Differenzialität und Wiederholbarkeit vorab aller Bedeutung beruht. Merleau-Ponty unterstreicht diesen Sachverhalt, wenn er kurz und bündig festhält: „[…] die durch die Entwöhnung bewirkte Trennung [wiederholt und verstärkt] die durch die Geburt erfolgte Trennung“ (Merleau-Ponty 1994, S. 128) – eine Trennung freilich, die als solche erst „im Denken des Erwachsenen“ diese Bedeutung erhält (MerleauPonty 1994, S. 128). Im Denken oder vielmehr im Sprechen des Erwachsenen tritt der Signifikant das Erbe jener Spur der geburtlichen Trennungserfahrung an, in welcher – sei diese nun „[t]raumatisierend oder nicht“, so Lacan in absichtlicher oder unabsichtlicher Distanzierung gegenüber Rank (Lacan 1980a, 48; vgl. Barzilai 1999, S. 23), d. h. wohl in erster Linie: aus strukturellen Gründen – der biologische Bezug als abgebrochener fortlebt. Mit anderen Worten: Während, wie Miller betont, das Konzept des Symbolischen in diesem frühen Text noch fehlt, fungiert Lacans Rede vom Komplex (bzw. seine Gegenüberstellung desselben als durch und durch kulturell im Unterschied zum rein natürlichen Instinktbegriff) als „Ersatz-Symbolisches“; der Komplex sei eine Prästruktur, eine Struktur avant le structuralisme (und Lacan überhaupt ein Prästrukturalist, kein Poststrukturalist). Insofern Miller auch herausstreicht, dass der Komplex als Form sowohl wie als Tätigkeit mit den beiden Charakteristika Fixierung und Wiederholung für Lacan ein Wissen
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konstituiere, liegt der Schluss nahe, das zuvor beobachtete Fehlen des Begriffs des Unbewussten damit zu erklären, dass dieses hier implizit bereits in jener Gestalt in Erscheinung tritt, die es explizit erst viele Jahre später annehmen sollte: als Ungewusstes (vgl. Lacan 2009), nachdem es zwischenzeitlich begrifflich jener Transformation unterworfen war, die Lacan Die Bildungen des Unbewussten nannte (vgl. Lacan 2006). Worum es bei der Entwöhnung geht, ist entgegen allem Anschein von Natürlichkeit eine ganz und gar symbolische Funktion bzw. genauer: die Etablierung der Funktion des Symbolischen über die Einführung des Mangels. In der Trennung von der Mutterbrust als Wiederholung der Trennung bei der Geburt konsolidiert sich paradoxerweise das Objekt als fehlendes, die Objektivierung (die Lacan mit Kojève als Vergegenständlichung im Hegel’schen Sinn denkt) erweist sich zugleich als Subjektivierung. Lacan schreibt: Die Verweigerung der Entwöhnung ist es, die das Positive am Komplex begründet: die Imago des Säugungsbezugs, den die Verweigerung wieder aufzunehmen sucht. […] Da dieses Stadium dem Aufkommen der Form des Objekts vorausgeht, scheint es nicht, als könnten sich diese Inhalte im Bewußtsein repräsentieren. Sie reproduzieren sich gleichwohl in ihm: in mentalen Strukturen, die […] die späteren psychischen Erfahrungen modellieren. (Lacan 1980a, S. 49)
Die Pointe der Lacan’schen Argumentation lässt sich mit Miller so formulieren, dass der hier sowohl objekt- als auch subjektkonstitutive Bruch, den die frühe und früheste Erfahrung zeigt, in Stellung gebracht wird, um die Nichtnatürlichkeit i. S. von Nichtinstinkthaftigkeit der menschlichen Lebensweise zu demonstrieren, ohne doch deren Verwiesenheit auf natürliche Vorgänge, darunter in erster Linie ganz triviale körperliche Prozesse wie etwa den Metabolismus, zu leugnen. „Wenn wir Komplex und Instinkt opponieren“, so Lacan wörtlich, „sprechen wir dem Komplex nicht jeden biologischen Grund ab; wenn wir ihn durch bestimmte ideale Bezüge definieren, binden wir ihn gleichwohl an seine materielle Basis“ (Lacan 1980a, S. 52). Im Unterschied zum Instinkt ist der Bezug des Komplexes zu dieser seiner biologischen Basis indes ein gebrochener, insofern er allenfalls „eine vitale Insuffizienz durch die Regelung einer sozialen Funktion wettmacht“ (ebd.), das heißt: Es gibt keinen direkten Bezug zum Objekt, dieser ist vielmehr stets durch Symbolisches vermittelt; dass der Komplex einen biologischen Grund hat, verhindert nicht, dass er im Symbolischen artikuliert und eingeschrieben wird (vgl. Miller 1984/2005). Somit sei, so Miller, dass es keinen Objektbezug gebe, von Lacan hier im selben Sinne gemeint, wie er später sagen werde, dass es kein Geschlechtsverhältnis gebe. Exakt dieser Umstand ist im Familien-Artikel durch die Tatsache verdeutlicht – die Shuli Barzilai so irritiert und zu fragwürdigen Schlüssen hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Lacans früher Natologie und späteren Entwicklungen seines Denkens verleitet (vgl. Barzilai 1999, S. 38) –, dass die beiden „älteren“ Komplexe der Entwöhnung und des Eindringlings ihre Kulmination im „jüngsten“ des Ödipus finden – und der Vater in den Vordergrund rückt, zuungunsten der Mutter. Während das gleichsam mittlere Konzept des Intrusionskomplexes Lacans frühe Fassung des Spiegelstadiums enthält, wie erwähnt, und die Dimension des
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Imaginären etabliert, dienen ihm der Ödipuskomplex und die damit einhergehende Betonung der Kastration – die Lacan hier durchwegs als Fantasie bezeichnet – dazu, die These vom primären Narzissmus des Menschen zu widerlegen, indem er zeigt, dass alle früheren Verluste wie der der Mutterbrust in der Entwöhnung und die diesem noch vorausliegende Trennungserfahrung bei der Geburt ihren analytischen Wert erst retroaktiv von der Kastration her erhalten. Die Dreierfolge der Komplexe korrespondiert in diesem Sinn also recht genau der Einteilung der späteren Register des Realen, Imaginären und Symbolischen. Ohne die vorhergehenden Komplexe einfach auszublenden oder gar auszulöschen, etabliert der Ödipuskomplex mit der Vaterfunktion jene Instanz, die sich in gleichsam exemplarischer Weise als etwas zeigt, was auf keinen Fall aus der Natur abgeleitet oder durch den Instinkt erklärt werden kann. Erst unter der Perspektive des Ödipus erweisen sich die früheren Verluste nicht einfach als narzisstische Verletzungen, sondern in ihrer für den Psychismus konstitutiven Bedeutung; mit der Deutung der Kastration als Fantasie im Rahmen des Ödipuskomplexes wertet Lacan die im frühesten Erleben des infans prägenden prä- und perinatalen Erfahrungen (und damit die mütterlichen Ursprünge, wie Miller betont) nicht ab, sondern im Gegenteil auf, zumindest gegenüber der orthodoxen Freud’schen Position.
4 Der natologische Einsatz (enjeu) zwischen Lacan und Merleau-Ponty: Bild (image) und Unbild/Form (forme) vulgo Gestalt und Körper Mit dieser Aufwertung geht auch jene Neubewertung des Körpers einher, die diesen vom Imaginären her in den Blick nimmt, wofür bekanntermaßen das Spiegelstadium steht. Der zentrale Satz findet sich im Zusammenhang mit den Phantasmen der Zerstückelung, die eingeführt werden als Vorläufer des Kastrationsphantasmas: Wie dieses beziehen sie sich schlechterdings nicht auf einen wirklichen Körper, sondern auf eine irreale Struktur, die sich in der Spiegelerfahrung weniger löst als vielmehr vereinheitlicht bzw. verfestigt – das narzisstische Subjekt-Objekt. Dessen Entstehung, schreibt Lacan, „wird dadurch bedingt, daß beim Menschen die imaginären Körpergestalten der Beherrschung des eigenen Körpers vorausgehen und daß das Subjekt diesen Gestalten eine Abwehrfunktion gegen die Angst vor vitaler Zerrissenheit gibt, wie sie die Folge der Prämaturation ist“ (Lacan 1980a, S. 69). Die durch die Trennungserfahrung bei der (vorzeitigen) Geburt aufgerissene ursprüngliche Kluft wird durch diese imaginären Körpergestalten zunächst gefüllt, welche im Wege der Spiegelerfahrung nun nicht etwa einem integrierten Körperbild Platz machen, sondern einem illusorischen (Un-) Bild, dessen vermeintliche Ganzheit und Einheit sich aus einer Sedimentierung jener Gestalten speist und die Kluft im Subjekt nur unzulänglich schließt. Insofern besteht, wie Merleau-Ponty hellsichtig einwirft, aufgrund dieser seiner Beschaffenheit „kein Grund für die Annahme eines besonderen Kastrationskomplexes beim Mädchen. Die Kastrationsphantasmen sind in Wirklichkeit nur
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ein besonderer Fall der Zerstückelungsphantasmen des Körpers und treten bei jedem auf“ (Merleau-Ponty 1994, S. 134). Er überträgt die biologisch-anthropologische These von der Prämaturation, die Lacans Ausführungen zum Spiegelstadium unterfüttert, kurzerhand auf die psychologische Ebene und identifiziert im Ödipuskomplex „eine Art psychologische Pubertät, die der wirklichen Pubertät vorausgeht“ (Merleau-Ponty 1994, S. 132). Anders als Lacan tendiert Merleau-Ponty aber dazu, in dem, was für Lacan den Mangel (vitale Insuffizienz) und die Trennungserfahrungen zwar retroaktiv ordnete und bündelte, aber gerade nicht dauerhaft behob und integrierte, nämlich in der Imago, nicht eine bleibende Erinnerung an jene angstbehafteten Phantasmen zu sehen, sondern diese im Gegenteil als zwar imaginiertes, aber durchaus erreichbares Ziel psychischer wie körperlicher Reifung anzusetzen – und damit dem Begriff des Unbewussten die Schärfe zu nehmen, die Lacan durch dessen Radikalisierung zum Ungewussten eher noch zu vergrößern gesucht hatte. Lacan versuche, so Merleau-Ponty, „den Begriff des ‚Unbewußten‘ durch den Begriff des ‚Imaginären‘ zu ersetzen. Die Imago wird zum Beispiel nicht als ‚unbewußt‘ verstanden, als in der Tiefe verschüttet, sondern als ‚imaginäre‘ Formation, das heißt als in den Bewußtseinsraum projiziert“ (Merleau-Ponty 1994, S. 127); und dank des Spiegels werde „das Kind befähigt, eine systematische Beziehung zum Anderen aufzubauen“ (Merleau-Ponty 1994, S. 130) sowie eine „Art Eroberung seines Eigenleibes“ vorzunehmen (Merleau-Ponty 1994, S. 131). Im Vordergrund steht also bei Merleau-Ponty – dies ungeachtet seiner eingangs erwähnten Einsicht in die Unmöglichkeit einer vollständigen Individuation – das (Spiegel-)Bild weniger als eine strukturelle Anlage denn als eine Gestalt mit integrativer Funktion (im Sinne der Gestalttheorie), was vor allem den Leib betrifft. Das kommt nicht zuletzt dort zum Ausdruck, wo er, wie in den Vorlesungen über die Natur 1956–1960, seinem Auditorium und sich selbst Rechenschaft gibt über den Grund seiner intensiven Beschäftigung mit der Biologie in ihrer besonderen Erscheinungsform als Evolutionstheorie: Es sei ihm darum gegangen, „dem menschlichen Leib diese Tiefe, diese Archäologie, diese geburtliche Vergangenheit, diesen phylogenetischen Bezug zu geben, um ihn im vorobjektiven, umhüllenden Seinsgewebe zu restituieren, aus dem er auftaucht und das uns in jedem Augenblick eine Identität als Empfindendes und Empfindbares in Erinnerung ruft“ (Merleau-Ponty 2000b, S. 365; vgl. auch Neumann 2002, S. 155). Zwar sei diese Identität „weniger eine Identität mit sich selbst als eine Nicht-Differenz zu sich selbst“ (Merleau-Ponty 2000b, S. 219), gleichwohl sei sie es, die die Vielheit der heterogenen Momente integriere: „In dem Maße, in dem das Leben sich verwirklicht, versteckt es sich auch. Zur gleichen Zeit, in der die Herrschaft der Ganzheit sich ausbreitet [im Körper], drückt diese Ganzheit sich in einer Organisation aus, die in distinkten Teilen artikuliert wird“ (Merleau-Ponty 2000b, S. 203). Modell einer solchen Ganzheit ist die Wahrnehmung einer Gestalt, z. B. eines Kreises (Merleau-Ponty 2000b, S. 214 ff.; Neumann 2002, S. 153), letztlich eines Bildes, dessen Abwesenheit oder Nichtgegebenheit in der faktischen Wahrnehmung (die den Wahrnehmenden stets auch enteigne) es nicht daran hindere, eine bestimmte Dimension zu errichten (Merleau-Ponty 2000b, S. 219).
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Fungiert ein solches Bild qua Gestalt damit nicht doch gleichsam als ein unsichtbares Prinzip, ein „Un-Prinzip“ der Individuation, will sagen: Unterstellt Merleau-Ponty das in der Phänomenologie der Wahrnehmung eingestandene Versagen der absoluten Individuierung nicht letztlich einem kontingenten Ungenügen des Subjekts, das hinter den Möglichkeiten seiner Leiblichkeit zurückbleibt, statt es wie Lacan mit dessen unaufhebbarer Spaltung zu verbinden, die sich einem Prinzip der Un-Individuation verdankt, einem Beharren auf der ungebildetunbildlichen Form, als die der Körper nicht nur bei, sondern seit seiner Geburt in Erscheinung tritt? Ist es Zufall, dass Merleau-Ponty im Kontext der zuletzt erwähnten Naturvorlesungen auch den Instinkt rehabilitiert, indem er ihm „einen gewissen Spielraum“ attestiert, der ihm erlaube, im Leerlauf seine eingefahrenen Wege zu verlassen und zur symbolischen Tätigkeit überzugehen (Merleau-Ponty 2000b, S. 268), als würde die kulturelle/soziale/symbolische Funktion gleichsam unmittelbar, bruchlos aus den leiblichen Vollzügen erwachsen, in Verlängerung der Reihe Natur – menschlicher Leib – Logos (vgl. Neumann 2002), während Lacan seinen Begriff des Komplexes im Familien-Artikel in jenen drei Aspekten entwirft, die später, wie Miller auf überzeugende Weise vorbringt, der Trias des Symbolischen, des Imaginären und des Realen weichen, um der Konflikthaftigkeit und dem beständigen Gestaltwandel, ja der „Gestaltlosigkeit“ (in einem nachgerade Musil’schen Sinne; vgl. z. B. Wolf 2016) der menschlichen Existenz Rechnung zu tragen, auf welche die Formationen des Unbewussten antworten? „In seinem dreifachen Aspekt also“, lesen wir bei Lacan, Erkenntnisbeziehung [Symbolisches], affektive Organisationsform [Imaginäres] und Prüfung am Choc des Realen [Reales] zu sein, begreift sich der Komplex in seiner Referenz aufs Objekt. Nun aber erfordert jede objektive Identifikation, mitteilbar zu sein, d. h. sie beruht auf einem kulturellen Kriterium; daher wird sie auch zumeist auf kulturellen Wegen kommuniziert. Was die individuelle Integration der Objektivationsformen angeht, so ist sie das Werk eines dialektischen Prozesses, der jene neue Form aus den Konflikten der vorangegangenen mit dem Realen erzeugt. In diesem Prozeß gilt es das spezifische Kennzeichen der menschlichen Ordnung zu erkennen: jene Subversion aller instinktiven Fixiertheit, aus der die fundamentalen und unendliche Variationsmöglichkeiten bergenden Formen der Kultur hervorgehen. (Lacan 1980a, S. 46)
Dass wir Bilder brauchen, sei unsere animalische Schwäche, heißt es an anderer Stelle (Lacan 1980b, S. 117), und der Austreibung dieser Schwäche dienen meines Erachtens sowohl die früheste und, wie ich hoffe, einigermaßen deutlich gemacht zu haben, in ihren Grundzügen natologische Phase des Lacan’schen Denkens, wie sie uns im Familien-Artikel entgegentritt (und deren Nachwirkungen an zahlreichen Stellen späterer Instantiationen dieses Denkens ausfindig gemacht werden können), als auch die spätesten Versuche, durch topologische Figurationen bzw. deren nach Maßgabe der Geometrie unmögliche und unmöglich darstellbare, insofern unbildliche Körper dem Funktionieren des menschlichen Psychismus diesseits des unserer (Früh-)Geburtlichkeit geschuldeten Verhaftetseins ans Imaginäre allein auf die Schliche zu kommen (vgl. Boelderl 2017). Insofern wage ich die Behauptung, dass der natologische Einsatz, um den es in der hier
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versuchten Rekonstruktion der Auseinandersetzung zwischen Merleau-Ponty und Lacan in den 1950er Jahren ging, auch noch in der Topologie des Körpers beim späten Lacan der 1970er Jahre mit im Spiel ist. Deren Umrisse kann ich hier zum Abschluss freilich nur ansatzweise skizzieren.
5 Postskriptum: Verphormungen – Lacans spätere Topologie Ein Blick in die Seminare Lacans zeigt, dass auf der Ebene expliziter Begrifflichkeit vergleichsweise seltener von formation die Rede ist als von information, transformation und déformation. Diese vier Begriffe gehören per se bereits unterschiedlichen Registern (sowohl im landläufigen als auch im Lacan’schen Verständnis) an, und in der Regel tauchen nur die letzten beiden im Kontext von Ausführungen zum Körper auf. Andererseits ist auf semantischer Ebene überall dort, wo von (einer Ableitung von) „Form“/„forme“ die Rede ist, eo ipso der Körper im Spiel: Was Form annehmen/verlieren, wessen Form verändert werden kann, ist immer ein Körper (nicht notwendigerweise ein biologisch-organischer), Formationen (resp. -formationen) vollziehen sich am Körper/an Körpern (im Plural auch mit ihnen). In Verbindung mit der oben erörterten Kritik Lacans an Merleau-Pontys Leibphänomenologie betrachtet, zeigt eine Relektüre insbesondere von Seminar XI und Seminar XXIV, dass Lacan mit Blick auf die Rolle des Körpers in der Psychoanalyse den Form-Begriff gegen den der Gestalt in Stellung zu bringen trachtet – derart zwar, dass er „Form“ für kompatibel mit „Struktur“ hält bzw. ersteren Begriff in Richtung des Letzteren verschiebt und ihn so offen hält für eine in seinem Sinn topologische Auslegung der Psychoanalyse („Form“ kann mit allen drei Registern des Unbewussten in Verbindung gebracht werden), während „Gestalt“ unweigerlich an eines der drei Register, das Imaginäre, gebunden und insofern unweigerlich „geometrisch“ bleibt. Anders als der Terminus „Form“ – der schon über das linguistisch informierte Vokabular des Strukturalismus (Morph[e] ist ein Anagramm – leider kein Palindrom – von Phorm[e] …, s. u.) seine Affinität zum Bereich der Sprache im weitesten Sinn unter Beweis stellt (könnte man auch sagen, das Unbewusste sei „geformt“ wie eine Sprache? Oder gar: Es „morpht“ die Sprache?) – lässt der Ausdruck „Gestalt“ diese Nähe zum Symbolischen, genauer: zum Signifikanten, vermissen. Anders formuliert (!): „Gestalt“ suggeriert die Existenz einer gleichsam „natürlichen“ Form, an der sich Signifikantes erst festmachen kann, während doch das Vorhandensein von Signifikantem das primäre (wiewohl in sich schon differenzielle) Moment ist, das seinerseits der Natur allererst erlaubt, Gestalt anzunehmen; in diesem Sinn präzediert die Form/Struktur der Gestalt, die Topologie
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der Geometrie, der Körper als (Er-)Öffnung (Loch/Torus) dem Körper/Leib als Träger (Bild).4 Vor diesem Hintergrund ist bemerkenswert, wenn Lacan im Seminar XI, nachdem er daran erinnert hat, dass Freud das Unbewusste zuerst in Phänomenen des „Aneckens, Mißlingens, eines Knicks“ (Lacan 1987, S. 31, gemeint sind Traum, Fehlleistung, Witz) aufgespürt hat, als „die wesentliche Form, in der das Unbewußte sich uns zuerst zeigt“ (Lacan 1987, S. 31), die Diskontinuität nennt und hervorhebt, dass dieser kein un (eins/Eines) vorausgeht, um sodann seine bisherigen Seminare zusammenzufassen: […] alles, was ich die letzten Jahre gelehrt habe, geschah in der Absicht, die Forderung nach einem geschlossenen Einen zu Fall zu bringen – es ist das eine [sc. am Körper als Bild hängende] Täuschung, an die sich der Begriff eines umhüllenden Psychismus hängt, eine Art Verdoppelung des Organismus, in der jene falsche Einheit wohnen soll. Sie werden mir zustimmen, wenn ich sage, daß das in der Erfahrung des Unbewußten eingeführte un jenes un des Spalts, des Zugs, des Bruchs ist. Es zeigt sich hier plötzlich eine verkannte Form des un [die keine Gestalt ist]: das Un des Unbewußten*. Die Grenze des Unbewußten* ist sozusagen der Unbegriff* – der nicht ein Nicht-Begriff ist, sondern der Begriff eines Fehlens. (Lacan 1987, S. 32)
In Analogie dazu würde ich meinen, dass die Ungestalt keine Nicht-Gestalt, sondern die Gestalt eines Fehlens ist – ein Unbild, m. a. W.: Form. Zur Formulierung einer solchen Gestalt eines Fehlens qua Form/Struktur sei die philosophische Tradition einschließlich des Merleau-Ponty der Phänomenologie der Wahrnehmung, wie Lacan später im Seminar XI ausführt, nicht gekommen, insofern sie am Regulativ der Gestalt bzw. an der Gestalt als Regulativ festgehalten habe; zwar reiße Merleau-Ponty in Das Sichtbare und das Unsichtbare (MerleauPonty 2004) „auch die Grenzen dieser Phänomenologie“ ein, doch sei die für die Psychoanalyse entscheidende Spaltung nicht die zwischen Unsichtbarem und Sichtbarem, sondern die zwischen Auge und Blick, und das Ziel des „Freudismus“ bestehe darin, „der psychischen Realität einen Körper zu geben, ohne sie zu substantifizieren“ (vgl. Lacan 1987, S. 77–79; ähnlich mit Bezug auf MerleauPonty bzw. Das Sichtbare und das Unsichtbare Lacan 1987, S. 85–88). In den nachfolgenden Reflexionen zu Auge, Blick, Malerei und Bild wird m. E. deutlich, inwiefern für Lacan Geometrie und Topologie auseinanderklaffen, was er in den späteren Seminaren stetig weiter ausdifferenzieren wird: Die Geometrie geht vom Auge aus und von der Perspektive, ihr entgeht der Blick (vgl. Lacan 1987, S. 93), insofern, was sie erblickt, stets eine bestimmte Gestalt ist (und sei sie auch verzerrt), ein Eines; sie verfehlt (bzw. exkludiert bewusst) die Gestalt als Fehlen, als Mangel, die Form, wenn wir im Vorgriff auf die topologische Reformulierung
4Dessen ungeachtet – d. h., ohne dass er deswegen die Natur als Ursprung o. Ä. ansetzen würde – spricht Lacan „von früh bis spät“, von den ersten bis zu den letzten Seminaren, von der Natur als „Lieferantin“ der so verstandenen differenziellen Formen/Signifikanten; vgl. z. B. Sem IV (dt. Lacan 2011, 54–57), Sem XI (dt. Lacan 1987, 26 und 112 f.), Sem XXIV (12. Sitzung vom 17.05.1977: „Unsere Signifikanten werden stets empfangen“, frz. Lacan 2009).
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dieser Zusammenhänge unter Form das Ensemble jener Eigenschaften von Körpern verstehen dürfen, die ungeachtet der Veränderung ihrer jeweiligen Gestalt (vulgo Verformung) gleich bleiben. Augenfällig (falls man das sagen kann) wird diese Differenz zwischen geometrisch(-philosophischer) und topologisch(-psychoanalytischer) Betrachtungsweise der Dinge in der Anamorphose (gr. „Umformung“). Diese als gleichsam proto-topologische Figur, die im Herzen der (zentral)perspektivisch-geometralen Malerei in Erscheinung tritt, weist jenen Bezug zum Fehl/Mangel an Gestalt auf, um den es Lacan geht: Es bedarf eines Lochs – de facto oder im übertragenen Sinn (was den Blickwinkel betrifft) –, d. h. der Kastration, −φ (minus phi), um sie zu erblicken. Worum es Lacan also geht, ist – sit venia litterae – „Verphormung“. In dem heute zerstörten, ehemals an der Rue des Tournelles gelegenen Kloster der Minimen befand sich in einem der Gänge auf einer sehr langen Wand ein Gemälde, das zufälligerweise den hl. Johannes auf Pat[…]mos darstellte. Dieses Gemälde war, damit die Verformung sich voll entfalten konnte, durch ein Loch hindurch anzusehen. Es kann sein, daß die Verformung […] sämtliche paranoische[n] Doppeldeutigkeiten zur Entfaltung bringt. […] Ich möchte sogar behaupten, daß diese Faszination jenes Mehr erzeugt, das die geometralen Untersuchungen zur Perspektive unterschlagen. Wie kommt es, daß hier noch nie jemand an einen […] Erektionseffekt gedacht hat? Stellen Sie sich vor, auf das Organ würde ad hoc im Ruhezustand etwas drauftätowiert, das dann in einem andern Zustand, wenn ich so sagen darf, sich förmlich entwickelt. Wie könnte man übersehen, daß hier, der geometralen Dimension immanent – also in einer Teildimension auf dem Feld des Blicks, die mit dem Sehen als solchem noch nichts zu tun hat – eine Art Symbol der Funktion eines manque/eines Mankos in Erscheinung tritt: im Phallusphantom! (Lacan 1987, S. 94; vgl. auch das Resümee Lacan 1987, S. 109)
Die Form/Phorm (−φ als „tätowiertes Phallusphantom“) wird sodann mit dem oben erwähnten einzigen Zug/trait unaire – dem un des Unbewussten – zusammengeführt und mit dem Subjekt als Zählendem in Verbindung gebracht: „Das Subjekt selbst zeichnet sich durch diesen einzigen Zug aus, und zunächst markiert es sich als Tätowierung, der erste der Signifikanten. Sobald dieser Signifikant, dies Eine, instituiert ist – ist es möglich, ein Eines zu zählen“ (Lacan 1987, S. 148). Als Zählen ist die Form/Phorm nicht Gestalt bzw. Bild (das Eine), sondern „Gestalt*funktion“ (Lacan 1987, S. 154). An diese, so Lacan, sollte man sich in allen Fragen der Topologie streng halten. Die Topologie hat Gestaltfunktion, das will besagen: Sie wirft Formen ab, die man ungeachtet ihrer darstellungsbedingten (geplätteten) Ähnlichkeit mit (natürlichen) Gestalten nicht für das Wahre halten darf. Während Gestalten unveränderlich sind in dem Sinn, dass ihre Verformung eine jeweils andere Gestalt (mit neuen Eigenschaften) zeitigt, ergibt die Verformung von topologischen Figuren (Formen) keine Veränderung ihrer jeweiligen Eigenschaften. Bei einer Gestalt ist klar/eindeutig, was innen und was außen ist (was Figur und was Hintergrund); topologische Figuren sind Formen, deren Innen auch ihr Außen ist und vice versa: „Mit Sicherheit können uns nur solche Betrachtungen ein Bild geben, wenn es darum geht, daß das, was innen ist, auch außen ist. Sie sind daher auch unverzichtbar, wenn es ums Unbewußte geht, das in meiner Darstellung als etwas erscheint, das gleichzeitig
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innen ist im Subjekt, das sich aber allein außen verwirklicht, das heißt im Ort des Andern […]“ (Lacan 1987, S. 154). Eine vergleichbare Argumentation findet sich noch im Seminar XXIV, in dem Lacan unter dem Titel des Une-bévue zunächst sowohl das Thema des einzigen Zugs (un) als auch dasjenige des für das Unbewusste typischen Misslingens, hier Versehen (bévue) genannt, wieder aufgreift. Die Verbindung von Innen und Außen bzw. von Vorder- und Rückseite einer topologischen Figur (wie des Möbiusbandes oder eines Torus) symbolisiere sehr gut die Einheit des Unbewussten und des Bewusstseins (Lacan 2009, 2. Sitzung vom 14.12.1976), die verschiedenen Möglichkeiten, an einem Torus – der selbst ein Loch sei und in gewisser Weise den Körper repräsentiere (Lacan 2009, 2. Sitzung) – Schnitte durchzuführen bzw. zu zeigen, wie zwei Tori einander schneiden resp. wie drei (borromäisch) zusammenhängen, seien der Preis (i. S. von Erfolg?) der Psychoanalyse dafür, das, was innen sei, nämlich das Unbewusste, nach außen zu bringen (Lacan 2009, 2. Sitzung). Ob Innen und Außen mit Blick auf den Torus nun Begriffe der Struktur oder der Form sind (in Kohärenz mit dem oben Gesagten: Begriffe der Phorm oder der Gestalt), hänge, so fährt Lacan in der nächsten Sitzung fort, davon ab, welche Konzeption vom Raum man habe (Lacan 2009, 3. Sitzung vom 21.12.1976); es gebe sicherlich eine Wahrheit des Raums, die jene des Körpers sei, welcher seinerseits auf dieser Wahrheit gründe (Lacan 2009, 3. Sitzung; die scheinbar oder wirklich tautologische Aussage mag eine syntaktisch-logische Variation der topologischen Figur des Torus sein). Insofern Lacan diese torische Dialektik von Innen und Außen in eins mit dem Körper und seiner Wahrheit sowie mit der Asymmetrie von Signifikant und Signifikat verknüpft (welche freilich rätselhaft bleibe), kehrt an dieser Stelle auch die Beziehung zum (Seins-)Mangel und damit zur Kastration, zum −φ wieder, m. a. W.: der Vorrang der Phorm/Struktur vor der Gestalt (Lacan 2009, 3. Sitzung), in unserer Terminologie: des Un-Bilds vor dem Bild.5
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5Dieser
Text entstand im Rahmen des vom Österreichischen Fonds zur Förderung wissenschaftlicher Forschung/Austrian Science Fund (FWF) geförderten Forschungsprojekts „Topographien des Körpers“ (P25977-G22).
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Lacans (TV-)Loge Eine Medienarchäologie des Online-Theorie-Videos Knut Ebeling
Medien liefern immer schon Gespenstererscheinungen. (Kittler 1986, S. 22)
Zusammenfassung
Ein Ausschnitt aus den schlicht „Télévision“ genannten Fernsehvorlesungen Lacans von 1971 stellt nicht nur die Frage nach dem Beginn des Mediums aufgezeichneter Videovorträge, die heute millionenfach über Youtube abgerufen werden. Die Selbstaufzeichnung – ein frühes „Selfie“ Lacans – stellt über die Frage der generellen Aufzeichnung von Lacans berühmten Seminaren hinaus, mit der sich zuerst Friedrich Kittler beschäftigte, auch die Frage nach dem Erscheinen des Körpers im visuellen Medium: Warum begehren wir den Körper der PhilosophInnen zu sehen? Inwiefern kann der aufgezeichnete Körper als Archiv und Denkmal der eigenen, von außen betrachteten Existenz angesehen werden, wie Lacan selbst schrieb? Und was sehen wir, wenn Lacan an einer Stelle dieser Aufzeichnung aus der Haut fährt? Das Gespenst erscheint verschwommen und verpixelt wie ein Traumbild auf einem Bildschirm. In Frack und Vatermörder erinnert es an den Butler aus Dinner for One. Doch es gibt kein Dinner, es gibt eine Ansprache in einem logenhaften Wohnzimmer: Das Gespenst erscheint hinter einem Schreibtisch mit urnenförmiger Tischlampe, dahinter zwei schwere Vorhänge und ein Gemälde an der Wand. Wir sind bei Lacan zu Hause, das konspirative Seminar hat schon begonnen.
K. Ebeling (*) Kunsthochschule Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 U. Kadi und G. Unterthurner (Hrsg.), Macht – Knoten – Fleisch, Abhandlungen zur Philosophie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04957-5_9
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Lacans Loge ist jedoch ein Szenario ohne Zuschauer, in dem nur die Schatten der gestikulierenden Hand an der Wand die Gestalt von einem Gespenst unterscheiden: Das Gespenst ist jedoch ein Gespenst von Medien, es geistert durch Fernsehsendungen und Internetkanäle, YouTube-Channels und Künstlervideos.1 Auch wenn die kleine Geisterstunde der Theorie, die Lacan télévision aufführt, ursprünglich eine televisionäre war, wird das Gespenstische heute durch die schlechte Qualität von Internetstreams, durch die Kopien und Digitalisate weiter verstärkt. Es existieren einige wenige Radiovorträge, eine Vielzahl von Seminarmitschnitten sowie zwei Fernsehaufzeichnungen Lacans, die jedoch erst mit dem Internet prominent wurden:2 Die frühere und unbekanntere ist ein Fernsehfilm mit anschließendem Interview von Françoise Wolf über ein Seminar Lacans an der Université catholique de Louvain, produziert für das belgische Fernsehen, ausgestrahlt unter dem Titel Lacan parle am 13.10.1972. In diesem Film erscheint auch Lacans Loge prominent: als Home-Movie-Szenario eines Salons mit Stühlen, in dem die „geheimen Privatseminare“ (Kittler 2004, S. 122) in der Wohnung in der Rue de Lille abgehalten wurden. Dasselbe Szenario, reduziert auf Schreibtisch mit Lampe, gibt auch das Setting des zweiten, bekannteren Fernsehfilms ab, der ein Jahr darauf von Benoît Jacquot produziert wurde. Der Film besteht aus zwei Fernsehvorlesungen von 1974, in denen Lacan auf die Fragen des unsichtbaren Jacques-Alain Miller antwortet. Die Vorlesungen wurden 1974 an zwei Samstagabenden, dem 9. und 16. März, auf dem staatlichen Sender ORTF ausgestrahlt, der ein Jahr später aufhörte zu existieren. Das Experiment mit dem Titel La Psychanalyse, das nur eine kleine Gemeinde goutierte, wird den Untergang des Senders nicht aufgehalten haben. Auf Wikipedia ist folgende Entstehungsgeschichte dieser Sendungen nachzulesen: In 1973, the film maker Benoît Jacquot approached Jacques Lacan via Jacques-Alain Miller with the idea of making a film on Lacan and his teaching. Lacan soon agreed to the project, which ultimately took the form of Miller posing questions to which Lacan replied at some length in a semi-improvised manner. The final edited film, commissioned by the ORTF, was broadcast in two parts on prime-time television (8.30 pm on two consecutive Saturday evenings) under the title ‚Psychanalyse‘.3
1Der belgische Künstler Pierre Bismuth hat der wild gestikulierenden Hand Lacans in der Loge ein Video in seiner Serie Following the Right Hand of… gewidmet, das die verschwindende Geste in eine bleibende Spur verwandelt. 2Die vollständigste Sammlung von Bild- und Tondokumenten Lacans findet sich bei Patrick Valas, http://www.valas.fr/Jacques-Lacan-Television,086 (letzter Seitenaufruf 14.03.2019). 3https://en.wikipedia.org/wiki/Television:_A_Challenge_to_the_Psychoanalytic_Establishment (letzter Seitenaufruf 28.02.2019).
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Während dieser Titel für ein Fernsehpublikum funktionieren mochte, das mit „La psychanalyse“ nicht vertraut war, änderte Lacan den Titel für das Buch, in das die Sendungen sofort transkribiert wurden. Das ebenfalls von Jacques-Alain Miller edierte Buch – keine buchstäbliche Transkription des Fernsehtextes, sondern allenfalls eine textliche Annäherung4 – sowie der Fernsehfilm, der heute durch die Internetportale geistert, wurden schlicht nach dem Medium benannt, das beide hervorgebracht hatte: Lacan télévision – was in Zeiten von YouTube freilich wie Lacans eigener Channel klingt. Was auch gar nicht so abwegig ist, schließlich gab es nicht nur Versuche, Psychoanalysen vor laufender Kamera durchzuführen (vgl. Grundmann 2015); Psychoanalytiker unterhalten heute ebenso selbstverständlich YouTube-Kanäle wie andere Therapeuten auch (wobei man sich bei den Psychoanalytikern eher fragt, was sie mit jener „Übertragung“ machen, jenem freudschen Begriff, aus dem Lacan so viel machte). Jedenfalls illustriert Lacan im Internet den medientheoretischen Evergreen des Fernseh-Startheoretikers Marshall McLuhan, nach dem der Inhalt eines Mediums immer ein anderes Medium ist: Der Inhalt der YouTube-Videos ist also die Fernsehsendung – wobei sich fragt, welches Medium Lacans Aufführungen in seiner Loge eigentlich schluckten: Theateraufführung, Vortrag oder doch die Predigt? Oder vielleicht auch das Medium der Analyse selbst?
1 Szenen der Aufzeichnung Jedenfalls muss Lacan von seiner eigenen Medienpräsenz so begeistert gewesen sein, dass er sie ebenso wie seine Seminare sofort als Text erscheinen ließ: Lacan im Fernsehen oder im Radio wurde erst durch die „Drucksachen im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit“ (Kittler 1993, S. 14), also als das Buch, berühmt, mit dem schließlich alle verfügbaren Medienkanäle besetzt waren (vgl. Lacan 1988).5 Während Foucault 1973 über den „intellectuel spécifique“ schreibt und Barthes sein Seminar gibt, setzt sich Lacan als Meisterdenker in Bild und Text in Szene. Zweifellos kann er damit als einer der intellektuellen Pioniere der Fernsehaufzeichnung gelten, der das neue Medium unverzüglich für seine Zwecke
4Neben
dem Buch existiert eine buchstäbliche Transkription des Textes der Fernsehsendung unter http://staferla.free.fr/Lacan/Television.pdf (letzter Seitenaufruf 28.02.2019). Die Transkription zeigt, dass die Fernsehsendung erst mitten in Lacans Rede einsetzt, deren erste Sätze nicht bildlich aufgezeichnet wurden. Der Audiomitschnitt der ersten Sätze von Lacan télévision ist bei Patrick Valas verfügbar: http://www.valas.fr/Jacques-Lacan-Television,086 (letzter Seitenaufruf 14.03.2019). 5Die ganze Vielfalt von Lacans Medien entfaltet sich erst bei Patrick Valas, auf dessen Seite nicht nur sämtliche Audiomitschnitte von Seminaren verfügbar sind, sondern auch die vollständige Tonspur von Lacan télevision. http://www.valas.fr/Jacques-Lacan-Television,086 (letzter Seitenaufruf 14.03.2019).
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zu nutzen begann. Lacans Medienaffinität äußerte sich in prähistorischen Aufzeichnungen von oberlehrerhaften Theorie-Lektionen in einer Zeit, in der das Fernsehen jenseits des Rheins noch als Kulturindustrie verunglimpft wurde. Auch wenn diese Aufzeichnungen kaum ohne Pleiten, Pech und Pannen abgingen, codierten sie das altehrwürdige Medium des Vortrags doch vollkommen neu. Und damit nicht genug. Lacan ließ sich nicht nur von Mikrofonen und Fernsehkameras bereitwillig aufzeichnen; in denselben Fernseh- und Radiosendungen, die ihn aufzeichneten, begann er noch während dieser Aufzeichnungen, über diese neuen Medien zu reflektieren. Auch wenn das nicht der Grund war, aus dem er später zu einem der Vordenker der frühen Medientheorie avancierte, wurde der sich aufzeichnende Lacan wiederum bald von genau jener Medientheorie theoretisiert, die sich an ihn anschloss – und zwar von einem ehemaligen Lacan-Übersetzer namens Friedrich Kittler, der Lacan übersetzte, nachdem dieser sich hatte filmen lassen: Bekanntlich war die Medientheorie ein Unfall, der sich „beim Übersetzen Lacans nach Deutschland“6 quasi en passant ereignete. Später besuchte Kittler Lacan nicht nur in Straßburg, er schrieb auch die Mediengeschichte von Lacans Mediatisierung, was zugleich die Geschichte seines eigenen Coming of Age bedeutete:7 Jedenfalls gerieten mit der Konvergenz zwischen einer mediatisierten Psychoanalyse und einer psychoanalytisch informierten Medientheorie psychische und mediale Bedingungen einer Aufzeichnung gleichermaßen ins aufgezeichnete Bild – was dieses Bild zur selbstreflexiven Repräsentation der Medientheorie Kittlers werden lässt. Wobei sich Kittlers Mediengeschichte dieser Aufzeichnungen trotz seiner Konzentration auf die technischen Medien überhaupt nicht auf die elektronischen Aufzeichnungen bezog, aus denen die Texte transkribiert worden waren (Kittler 1993): Kittler hat Lacan vermutlich nie im Fernsehen gesehen oder im Radio gehört. Jener Lacan mit „krummer Zigarillo“ (Kittler 2004, S. 122), an den sich der ehemalige Lacan-Jünger Kittler später erinnern sollte, wurde selbst gesehen und nicht aufgezeichnet. Dabei trennen medienhistorische und epistemische Abgründe die Lektüre Lacans als Text vom Sehen Lacans im Fernsehen oder dem Hören seiner Stimme im Radio. Vor dem Hintergrund der boomenden YouTube-Kultur, in der es kaum noch etwas gibt, was nicht als Bild online zur Verfügung gestellt wird, – und auch in einer Geste der Rückbesinnung auf das Ausgangsmaterial – wird die Arbeit an diesem Material hier nachgeholt: eine Medienarchäologie der YouTubeTheoriekultur.
6Kittler
(1993, S. 18). Kittler übersetzte innerhalb der 1980 erschienenen Schriften III das Kapitel über „Die Familie“, vgl. Lacan (1980, S. 39–99). 7Seinen eigenen intellektuellen Werdegang in Bezug auf Lacan beschreibt Kittler in einem Lacan télévision kongenialen Setting, nämlich in einem fünfstündigen Video-Interview mit Till Nikolaus von Heiseler, das nur als transkribiertes Buch vorliegt (Kittler und von Heiseler 2013).
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2 Medienarchäologie des Vortrags Die beiden Lacan-Sequenzen in den beiden Medien Text und Bild demonstrieren, dass jede Vortragssituation uns mit einer epistemischen Spaltung konfrontiert: Wir hören Vorträge nicht nur, wir sehen auch den oder die Vortragende/n. „Wir sind es gewohnt“, schreibt Gottfried Boehm, „Rednern vor allem zuzuhören. Versuchen wir deshalb einmal, die enge Verbindung von Stimme und Geste zu lösen, die Rede nicht zu hören, sondern zu sehen“ (Boehm 2017, S. 21). Befolgt man Boehms Rat, so sieht man schnell, dass Vorträge nicht nur aus Text-, sondern auch aus Bildinformationen bestehen – selbst wenn, was immer seltener wird, nichts gezeigt wird. Bevor man in einem Vortrag sprachlich oder inhaltlich etwas zeigt, hat man sich schon selbst gezeigt. Das Sichselbstzeigen kommt einem stets zuvor wie ein Schatten und geht dem propositionalen Zeigen voraus. Mit dem ersten „Guten Abend“ ist alles schon, wenn nicht gesagt, so doch gezeigt. Mit anderen Worten: Der Vortrag hat auch etwas mit „dem Verhältnis von Sagen, Zeigen und Sich-Zeigen zu tun, das für den Vortrag als Performanz wesentlich ist“ (Peters 2011, S. 41). Die ersten Philosophen, wie Sokrates auf dem Marktplatz oder Diogenes in seiner Tonne, müssen eine Ahnung von dieser epistemischen Verschlungenheit von Sagen und Zeigen, Bild und Text gehabt haben, wenn sie die Philosophie als Selbstausstellungspraxis beginnen lassen (vgl. Kuon 2016) – als eine performative Praxis, die erst mit dem aktuellen Label der „LecturePerformance“ zu sich selbst kommt: Diese neue Vortragskunst expliziert die Beziehungen zwischen Sagen und Zeigen und dringt, in den Worten Peters’, „ins Innere einzelner Regelsets ein, die die Beziehungen von Sagen und Zeigen entlang einer bestimmten Darstellungskonvention bestimmen“ (Peters 2011, S. 216).8 Medienhistorisch ist bedeutsam, dass Vorträge in den wenigsten Fällen für ein anderes Medium gedacht waren: „Traditionell waren Vorträge Live-Szenarien, die als solche nicht in ein anderes Medium eingingen. Zwar wurden Vorträge vielfach tradiert, jedoch als Texte, nicht als Performances. Dies ändert sich heute, und dies ist auch als ein Symptom einer gegenwärtigen Krise des Vortrags zu werten“ (Peters 2011, S. 155). Zwar ist Peters in ihrer Diagnose einer „Krise des Vortrags“ recht zu geben; dennoch ist anzunehmen, dass diese Krise nicht erst mit dem Internet einsetzt. Der mündliche Vortrag artikulierte sich stets innerhalb einer Medienkonkurrenz oder -konvergenz; Philosophen und andere Vortragende wurden beim Sprechen immer schon von diversen Medien aufgezeichnet, sprachlich von Stichwörtern bis zu Mitschriften und bildlich von Zeichnungen bis zu Fotografien. Von
8„Als Performances betrachtet, sind Vorträge als Szenarien zu verstehen, in denen Sagen und Zeigen in bestimmter, mehr oder weniger formalisierter Weise aufeinander bezogen sind, wobei sich zudem etwas zeigen kann, gewollt oder ungewollt. Ist ein Vortrag darüber hinaus als lecture performance betitelt und gerahmt, so zeigt er diese Beziehung von Sagen und Zeigen ein weiteres Mal, lässt Sagen und Zeigen als Performances sich zeigen. Im Zuge dieser Doppelung können Lecture Performances die Figurationen von Evidenz, die sich im wissenschaftlichen Vortrag entwickelt haben, als solche vorführen und damit gewissermaßen von ihrer Außenseite her befragen“ (Peters 2011, S. 212).
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Hegel sind beispielsweise einige Karikaturen von Studierenden überliefert, die ihn beim Abhalten seiner berühmten Berliner Vorlesungen im Bild aufzeichneten; eine Lithografie Franz Kuglers zeigt ihn gewissenhaft bei der Unterweisung vor Studenten am Pult.9 Dieses brav von Hand gezeichnete Bild des Vortragenden änderte sich mit den elektronischen Medien drastisch. Während Schrift und Zeichnung den Vortragenden in ihre Medien übersetzten, wird seine Stimme bald per Platte aufgezeichnet und sein Bild bald von Filmstreifen gebannt. Aus Abschriften und Abzeichnungen werden Filme, Videos und Streams realer Personen (bzw. ihre Gespenster) – die das Reale bald nicht mehr nur ergänzen, sondern ersetzen. Aus der Medienkonvergenz wird eine Medienkonkurrenz, als Bilder nicht nur mit dem Film laufen lernten, sondern mit Fernsehen und Video so billig verfügbar und übertragbar wurden, dass Vorträge massenweise verbreitbar, archivierbar und damit zuletzt auch ersetzbar wurden. Mit dem Internet erreicht diese neue Codierung des Mediums Vortrag ihren Höhepunkt; von Peters wird er als epistemische Verdopplung des Vortragenden beschrieben, dessen Status vom Zeigenden zum Gezeigten wechsle: Für sie „erweist sich die audiovisuelle Dokumentation und Distribution von Vorträgen im Internet als ein Vorgang, im Zuge dessen diese Beziehungen zwischen Sagen und Zeigen jeweils noch einmal gezeigt werden. Auch hier zeigt sich die hegemoniale Figur gegenwärtigen Vortragens: die Präsentation der Präsentation. Im Netz wird der Vortrag als Präsentation ein weiteres Mal präsentiert. Die Vortragenden werden zu Präsentierten“ (Peters 2011, S. 157).
3 Die Krise des Vortrags Die gigantischen Fragen, die sich in Zeiten von YouTube und iconic turn an die Bild gewordenen Vorträge richten, gehen weit über Lacan hinaus – offenbar hat man es mit dem Phänomen einer generellen Bildwerdung von Theorie zu tun: Theorie wird heute nicht mehr nur gelesen, sie wird auch gesehen; vielleicht wird sie schon mehr gesehen als gelesen. Der Normalkonsument sieht Theorie heute mehr, als dass er sie liest – oder er sieht sie, bevor er sie liest (was man jedenfalls von gewöhnlichen Kunsthochschulstudierenden sagen kann). Und er sieht sie tatsächlich weniger in Form von ehrwürdigem Logenfernsehen als in Form der unzähligen Vorträge, Lectures und Conferences, die auf YouTube und auf den anderen Portalen meist schlecht aufgezeichnet zugänglich sind: Die allermeisten YouTube-Theorie-Vorträge sind aufnahmetechnisch nicht besser als der unfreiwillige Theorie-Slapstick von Lacan télévision, der allerdings für das Fernsehen produziert wurde. Damit steht Lacan télévision im Gegensatz zu den meisten Vorträgen im Netz, die lediglich archivische Zweitverwertungen tatsächlicher Vortragssituationen darstellen: „Video-Lectures sind in der Regel lediglich
9https://fr.wikipedia.org/wiki/Fichier:Friedrich_Hegel_mit_Studenten_Lithographie_F_Kugler. jpg (letzter Seitenaufruf 28.02.2019).
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abgefilmte Live-Szenarios, die ihr Nachleben im Internet nicht von vornherein in Rechnung stellen“ (Peters 2011, S. 158). Vermutlich stellt diese neue Neigung zum Sehen von Theorie ein weiteres Indiz für die immer noch unwiderlegte These vom iconic turn dar, nach der wir uns an einer Wende von der Kulturtechnik der Schrift zum Bild befinden, vom Lesen zum Sehen (vgl. Maar und Burda 2004). Diese Veränderung zeigt sich zuallererst eben auch an jener (Medien-)Theorie, die sie diagnostiziert, auch sie kippt ins Bildhafte und in die Bildmedien, worüber sich kurioserweise niemand weniger Gedanken macht als die Theorie und ihre Theoretiker selbst. Noch wenn Stars der jüngeren (Medien-)Philosophie selbst Fernsehsendungen oder DVDs produzieren – wie Gilles Deleuze, Jacques Derrida oder Boris Groys –, beherzigen sie Lacans Vorstoß nur im Ausnahmefall und äußern sich in der Regel nicht über das Medium ihrer Äußerung. Aber auch das boomende Genre von Onlinevorträgen und Podcasts ist wiederum nur Teil eines größeren Medienwandels; schließlich werden die medialen Bedingungen der Vermittlung von Wissen gerade insgesamt umgepflügt, selbst an Hochschulen, die über keine digitalen Lernplattform wie MOOCs oder SPOOCs verfügen (vgl. Peters 2011, S. 156) – es gibt vermutlich kaum noch Studierende, die keine Onlinevorträge sehen oder sich nicht Wissen online vermitteln lassen (vielleicht sogar während ihrer Vorlesungen). Selbstverständlich hat dieser Medienwandel Rückwirkungen auf das Medium des Vortrags, die man als Zeichen der Krise des Vortragsdispositivs diagnostizieren kann (Peters 2011, S. 155). Dass sich das Medium des Vortrags verändert und durch die digitalen Medien in eine Krise gerät, deuten schon die folgenden Fragen an: „Schreiben Hörerinnen und Hörer eine Vorlesung mit? Auf welche Archive greifen Vortragende zu? Werden sich Vorträge verändern, wenn Vortragende mit einzukalkulieren beginnen, dass ihr Vortrag als Webvideo weiter existiert?“ (Peters 2011, S. 34) Tatsächlich ist diese Krise kaum zu übersehen, von aussterbenden Vorlesungen an Institutionen bis zu sichtbar unterforderten Studierenden, für die die klerikale Aufmerksamkeitsbeschränkung auf eine singuläre Bild-Ton-Quelle, bei der man eine Stunde einer „bewegten Büste im Postkartenformat“ (Peters 2011, S. 156) zusehen und zuhören muss, nur noch eines zu bedeuten scheint: eine grausame Folter. Zeichen dieser visuellen Unterforderung ist aber nicht nur die leidlich kommentierte Tatsache, dass kaum ein öffentlich Vortragender noch wagt, ohne visuelles Powerpoint-Popcorn vor sein Publikum zu treten und seine Zuhörer und Zuhörerinnen allein mit Worten zu foltern (Peters 2011, S. 33). Weitaus wichtiger scheint die kommende Konvergenz von Vortrag und Internet zu sein, also jene „Digitalisierung des Vortragswesens“, die mitunter in wahrhafte Screen-Performances ausartet, bei denen die Vortragenden über ihre in den Vortragsraum projizierten Bildschirmoberflächen mit mindestens zwanzig offenen Seiten und Programmen jonglieren, was der gegenwärtigen Aufmerksamkeitsökonomie näher
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zu kommen scheint.10 Schließlich werden Vorträge heute nicht erst viral, wenn sie im Netz stehen. Schon während ihrer Live-Performanz ist davon auszugehen, dass die Zuhörenden parallel die vermittelten Fakten oder Inhalte checken oder, was weitaus wahrscheinlicher ist, auch einfach nur ihre Nachrichten-, E-Mailoder Social-Media-Accounts (Peters 2011, S. 159 f.). Die kulturkritischen Einwände gegen diese Ablenkungsökonomien und Distraktionsszenarien liegen auf der Hand: dass man Theorie nicht nur sehen solle, sondern auch diskutieren; dass man Seminare nicht online besuchen könne, die neben der psychischen auch die physische Präsenz erforderten; dass man Theorie auf diese Weise konsumiere und destruiere; dass (Geistes-)Wissenschaft die Lektüre von Texten brauche und dass das Bild dabei nur störe – als ob ein Text kein Bild abgäbe.
4 Die Konkurrenz der Medien Besonders an den neuen Status des Bildes gegenüber der Theorie lohnen sich Nachfragen: Was soll das Bild in der Theorie? Warum braucht man es, warum schaut man es? Was passiert, wenn Lacan nicht nur seine Stimme, sondern auch sein Bild aufzeichnen lässt? Wozu dient dieses Bild, ist es nicht einfach überflüssig, ein unbrauchbarer Überschuss? Und warum ist es ausgerechnet das Bild eines Körpers, das wir bei den Onlinevorträgen konsumieren? Hat der Körper, oder das Bild des Körpers, insgeheim etwas mit diesem klammheimlichen Konsum zu tun? Agieren Bild, Körper und Medium hier als Komplizen oder als Medienverbund? Und welche Theorie kann man vom Bild in der Theorie generieren? Zunächst lässt sich diagnostizieren: Die gegenwärtige Bildwerdung der Theorie vollzieht sich gegen den Text und nicht gegen den Live-Vortrag – was wir aber ignorieren, wenn wir leichtfertig YouTube-Vorträge gegen reale ausspielen. Der YouTube-Vortrag ersetzt den Text und weniger den Live-Vortrag (außer wenn aus überfüllten Vortragssälen in die Nebenräume übertragen wird). Die Medienkonkurrenz, um die es heute geht, ist die zwischen YouTube-Vortrag und Lektüre – und wahrscheinlich ist Lacan télévision eines der wenigen frühen Beispiele, in denen diese Konkurrenz aus Sehen und Lesen unter ein und demselben Titel (aber in zwei Medien) enggeführt werden kann: Vermutlich war nur Lacan mediengeil genug, um ein und denselben Titel in verschiedenen Medien auszuschlachten und sich mit seinen „Drucksachen im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit“ (Kittler 1993, S. 14) sowohl als Text als auch als Bild an seine Gemeinde
10„Ein
anderer Aspekt der gegenwärtigen Digitalisierung des Vortragswesens ist dagegen bisher kaum untersucht worden: die Verbindung zwischen Vortrag und Internet. Sie bringt neue mediale Transpositionen mit sich, nicht nur im Hinblick auf die Praxis der Präsentation im Auditorium, sondern auch im Hinblick auf die Archivierung von Vorträgen im Netz: Erstmalig entstehen im Internet Archive, in denen Vorträge nicht nur als Texte, sondern als filmische Dokumente von Performances bewahrt werden“ (Peters 2011, S. 33 f.).
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zu wenden. Dabei ist heute mehr denn je eine tatsächliche Konkurrenzsituation zu befürchten, in der man kein Buch mehr zur Hand nimmt, nachdem man einen Vortrag ‚live‘ im Internet gesehen hat. Man liest Theorie heute nicht mehr, man sieht sie. Sehen oder Lesen: Das ist die epistemologische Spaltung, um die es heute geht – eine Konkurrenz, die allein zu Hause ausgefochten wird, schließlich hat man, außer bei besagten überfüllten Live-Vorträgen, noch keine Public Viewings von Onlinevorträgen gesehen. Man sieht sie in der Regel privat, zu Hause. Es gibt ja mittlerweile ganze Videokanäle, die nichts anderes tun, als Theorie-Videos und Lecture-Performances nach Hause zu liefern, Theorie- und Lecture-Lieferservices, auf die Couch oder gleich ins Bett – jedenfalls in vergleichsweise unschriftliche Situationen: Wie ironisch dabei, dass eine der Urszenen dieses heimischen Theoriekonsums ebenfalls zu Hause aufgenommen wurde: in Lacans Loge. Kurz: Es geht um eine Revolution der Produktion und Rezeption von Theorie. Doch um diese massiven Veränderungen angemessen zu beschreiben, reicht der Verweis auf Tisch und Bett kaum. Man muss schon auf Lessings frühe epistemische Unterscheidung zwischen Raumkünsten und Zeitkünsten verweisen, die hier jäh wechseln: Während Theorie bislang in den Raummedien Text und Buch stattfand, sich im Raum von Buch- oder Textseiten ausbreitete, wechselt sie plötzlich in die Zeitmedien Film und Video. Das impliziert auch einen Wechsel der epistemischen Hierarchie: Während der Leser eines Buchs den Text seiner persönlichen Lesegeschwindigkeit anpassen konnte, gibt ein Vortrag in Film oder Video seinen Zuhörern seine Zeitlichkeit vor. So weist Jacques Rancière darauf hin, dass die „materiality of the book keeps two minds at an equal distance, whereas explication is the annihilation of one mind by another“ (zit. nach Peters 2011, S. 53). Dieser Geste der Unterwerfung im Analogen ist jedoch jene Ermächtigung im Digitalen entgegenzuhalten, die das Sehen und Verfügen über einen Vortrag online bedeuten: Wie man ein Buch wiederholt lesen kann, kann man auch Theorie-Videos mehrmals schauen oder sie einfach abschalten. Das OnlineTheorie-Video wird zu einer Geste der Emanzipation: Einerseits emanzipiert es sich von der Unterworfenheit unter das Live-Szenario, andererseits aber auch von der Autorität eines Textes, der aufhöre „eine Szene der Unterweisung zu sein und stattdessen zu einem Szenario der intellektuellen Anschauung [wird]“ (Peters 2011, S. 54). Anders gesagt: Die Revolutionen der Zeitlichkeit von Theorie, die sich mit Lessing und Rancière andeuten, bedeuten auch epistemische Revolutionen: Rezipiere man Theorie nicht mehr im Medium Buch, sondern sehe sie im Internet, so wandle sich der Vortrag laut Peters vom „Platzhalter und Repräsentant[en] eines Originaltextes“ zu „Spur und Produkt des Vortragsszenarios“ (Peters 2011, S. 34). Und zuletzt geschieht auch eine Revolution des Zugriffs, der Verfügbarkeit und Verbreitung von Theorie: In Bibliotheken oder Onlinekatalogen suchte man sprachlich nach einzelnen Texten, vielleicht sogar unbekannter Autoren – Buchstaben suchten Buchstaben (vgl. Ernst et al. 2003). In Zeiten von YouTube suchen die Buchstaben Bilder – Onlinevorträge, die jedoch in den meisten Fällen nicht per Vortragstitel, sondern per Autorname gesucht werden. Die Online-TheorieSuche ist rückhaltlos der Rohheit einzelner Autornamen und der Klicks auf ihre
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beliebtesten Videos ausgeliefert – also einem Blockbuster-System, in dem Jahrtausende Theorie auf den radical chic der laufenden Saison zusammenschmelzen.
5 Das Medium der Philosophie Aber warum sollte man das Medium des Textes eigentlich vor dem Bild privilegieren? Und welches Medium der Philosophie hat eigentlich der geschriebene und später gedruckte Text abgelöst? An diesen Fragen lässt sich ablesen, dass uns Lacan télévision auch mit der alten Frage nach dem Medium der Philosophie oder, allgemeiner, der Theorie konfrontiert – eine Frage, die ein paar Jahre vor Lacans Fernsehpredigten schon von Derrida gestellt wurde. Wie man weiß, war die prominenteste Antwort auf die Frage nach dem Medium der Philosophie auch eine der ersten: Platon ernannte rund zweitausend Jahre vor der French Theory die Stimme des Philosophen zum ersten Medium der Philosophie – womit er schon zweitausend Jahre vorher das Medium von Lacan parle traf: jene Stimme, die im Vergleich zum Um- und Irrweg der Schrift in ihrer Selbstpräsenz die Message der Philosophie am besten übertrage (vgl. Kittler et al. 2002). Lange vor den aufgezeichneten Stimmen von Podcasts und YouTube dominierte – lange vor dem gedruckten Text der Philosophie – ihre gesprochene und performte Stimme. Heute lebt sie nicht nur in den bedrohten Traditionen von Vorlesung und Seminar fort, sondern auch in unzähligen Projekten performter Philosophie, ob sie nun als Spoken Philosophy, Performative Philosophy oder Philosophy-Slam firmieren. Auch an diese ‚vorwissenschaftlichen‘ – und vielleicht sogar: ‚animistischen‘ – Szenarien von Philosophie und Theorie schließt die Bildwerdung der Theorie an. Wenn in Onlinevorträgen vordergründig der Redner ins Bild gesetzt wird – meistens handelt es sich ja tatsächlich um männliche Redner –, kann man das also durchaus als Rache an Derrida und seiner Grammatologie begreifen, die 1968 gegen die verführerische Stimme des Philosophen das Medium ihrer Schrift und ihres Geschriebenseins ins Recht setzte; schließlich wird das mühselige Medium der Schrift von Onlinevorträgen zugunsten der scheinbaren Direktheit und Selbstpräsenz des mündlichen Ausdrucks umgangen – ein Argument gegen die Angestrengtheiten der Schrift, dem unzählige entspannte YouTube-Viewer heute unfreiwillig recht geben. Tatsächlich hat Lacan diese zweitausendjährige Geschichte buchstäblich ‚auf dem Schirm‘, wenn er sie im Fernsehen parallel und simultan zu den technischen Entwicklungen denkt. Denn Lacan denkt nicht über oder gegen die Technik, sondern mit ihr, in ihrem Fluss. Nach Heideggers Nachdenken über die Technik und vor Kittlers „Subjekt als Beamter“ denkt er das Subjekt zwei Jahre nach seinen Radio- und Fernsehexperimenten 1975 als eines „von Instrumenten“, wie er in Encore verlauten lässt: „Einerseits hat dieser Diskurs alle möglichen Instrumente hervorgebracht, die wir […] als Gadgets einschätzen müssen. Sie sind von da an […] Subjekte von Instrumenten, die, vom Mikroskop bis hin zum Radio und zur Television, zu Elementen ihrer Existenz werden“ (Lacan 1991, S. 89). Statt von „Existenz“ hätte die Übersetzung an dieser Stelle Heidegger-
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näher auch von „Dasein“ sprechen können, was Kittler in seiner Übersetzung dieser Passage auch tat (Kittler 1993, S. 15) – eine Stelle, die später von Kittler folgendermaßen paraphrasiert wurde: „Wir sind, sagte Lacan ins belgische Radiomikrophon, unseren Gadgets, Mikrophonen und Medien viel tiefer unterworfen als uns schwant“ (Kittler 2004, S. 123).
6 Medien der Aufzeichnung Die Unterworfenheit dieser „Subjekte von Instrumenten“ zeigte sich jedoch nicht nur darin, dass sie wie Lacan sofort und wie auf Befehl über diese Aufzeichnung zu reflektieren begannen. Auch wo er nicht über Medien reflektierte, dialogisierte Lacan instinktiv schon während seiner Vorlesungen mit Medien und ihren Institutionen – beispielsweise wenn er der SAMCDA (Société d’assistance mutuelle contre le discours analytique) den Rat erteilte, dass sie „besser daran getan [hätte], mein Gefiedel aufzunehmen“ (Lacan 1988, S. 78 f.). So beginnt man mit einem Medium zu rechnen, dessen Medium man ist. Dabei zeigen die Online-Aufzeichnungen Lacans noch etwas ganz anderes: Das Medium der Philosophie ist in den YouTube-Theorie-Videos weder Stimme noch Bild. Tatsächlich hängen diese Geisterstimmen an ihren aufzeichnenden Medien: Der Online-Lacan hängt am Internet und nicht an der Stimme. Und dem Lacan des berühmten, Buch gewordenen Seminars war nach Auskunft Kittlers ein Tonband vorgeschaltet, das die Seminare des Meisters aufzeichnete: Alle Seminare Lacans sind über Mikrophon aufs Band gesprochen. Das brauchten subalterne Hände dann nur rückzuspulen und abzuhören, um einen kleinen Medienverbund zwischen Recorder, Kopfhörer, Schreibmaschine aufzubauen und dem Meister rückmelden zu können, was er gesagt hatte. Seine Worte, gerade noch gesprochen – pünktlich vor Beginn der nächsten Seminarsitzung lagen sie ihm schon als Typoskript vor. (Kittler 1993, S. 11)
Medienhistorisch lohnt es sich, für einen Moment bei der Szene der Aufzeichnung von Lacans Seminar zu verweilen. Denn offenbar ließ sich nicht nur der Fernsehpriester in seiner Loge aufzeichnen, der Meister des Seminars tat es ebenso (tatsächlich waren beide Szenen identisch). Als Beleg für die These der Transkription vorher aufgezeichneter Seminare lassen sich die Fernsehaufzeichnungen selbst heranziehen, in denen Lacan die transkribierende(n) Person(en) direkt anspricht: „Denn Sie, der Sie mit unfehlbarem Strich mein XI. Seminar transkribiert haben, wissen das ja gut […]. Zum ersten Mal, und bei Ihnen besonders, empfand ich, dass man mir mit anderen als missmutigen Ohren zuhörte […]“ (Lacan 1988, S. 78 f.). Zwar hat es hier den Anschein, als wechsle ein übergriffiger Lacan von einer Szene der Aufzeichnung zur anderen, wenn er mitten hinein in seine Fernsehaufzeichnung mit den Transkriptoren seines Seminars zu dialogisieren beginnt. Doch tatsächlich muss man sich vor Augen halten, dass die beiden Aufzeichnungsszenen in Wirklichkeit identisch waren, denn sowohl Fernseh- als auch
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transkribierte Tonbandaufzeichnung hatten ja das Seminar bei ihm zu Hause in der Rue de Lille aufgezeichnet.11
7 Kittlers Lacan Der erste Lacan-Leser, der diese Szenen und Medien der Aufzeichnung thematisierte, war wie gesagt ein Ex-Lacan-Übersetzer namens Kittler. Kittler las Lacan vor allem über die Frage der Aufzeichnung: Wie Nietzsche für Kittler der Philosoph der Schreibmaschine war, so war Lacan für ihn der Analytiker der Tonbandaufzeichnung: Was wir heute als das berühmte Seminar von Lacan kennen, habe sich erst aufgrund eines technischen Dispositivs aus Stenografien und Transkripten, Mikrofonen und Tonbandgeräten in diesen Text verwandelt (vgl. dazu ausführlich Nemitz 2017). Zwar schoss Kittler in der Analyse von Lacans „Medienverbund“, der „all seine Reden transkribierte“ (Kittler 1993, S. 12), über sein Ziel hinaus, wenn er ihn in seiner Begeisterung für die medientechnische Codierung der Seminare auf das Medium des Tonbands reduzierte. Nach Auskunft von Rolf Nemitz wurden nicht alle, sondern nur ein Teil der Seminare per Mikrofon aufgezeichnet, der weitaus größere Teil wurde handschriftlich transkribiert (vgl. Nemitz 2017; Roudinesco 1996, S. 605 ff.; Roussan 2006). Dabei hatte auch Kittler darauf hingewiesen, dass nicht nur Maschinen, sondern auch Menschen zu diesem „Medienverbund“ gehörten. Die Aufzeichnung Lacans sei nicht nur technisch, sondern auch händisch, ja sogar familiär gewesen: So wie Anna Freud an der Schriftwerdung ihres Vaters beteiligt war, wurde Lacan von seiner Tochter Judith Bataille transkribiert, die erst später den Namen ihres Vaters annehmen sollte.12 Die zweite der „zwei parallel geschalteten Rückkopplungsschleifen“ (Kittler 1993, S. 14), die Lacan transkribierten, war nach Judith Bataille deren Ehemann, also Lacans Schwiegersohn oder „Tochtermann“ (Kittler 1993, S. 12): Jacques-Alain Miller, bis dato Chefredakteur der Lacan-Edition.13 Weil die Schriften also ebenso wenig wie die Seminare (selbst) geschrieben sind, erlaubte sich nicht nur ein Kittler, von der „dunklen Glorie der sogenannten Schriften“ (Kittler 2004, S. 120) zu frotzeln. Aus demselben Grund bindet sich an die technische Frage der Aufzeichnung Lacans die theoretische Frage nach dem Status seiner Rede: Zu wem sprach Lacan eigentlich in seinen Aufzeichnungen? Zu Zuhörern oder zu Mikrofonen? Und änderte das etwas am Status des Gesagten? Gibt es eine epistemische Differenz zwischen Live-Seminar und Auf-
11Ein
vollständiges Verzeichnis aller Video- und vor allem Audioaufzeichnungen von Seminaren Lacans findet sich bei Patrick Valas: http://www.valas.fr/Jacques-Lacan-Television,086 (letzter Seitenaufruf 14.03.2019). 12Zu Judith Bataille vgl. Roudinesco (1996, S. 191–218). 13„Bekanntlich steuert Jacques-Alain Miller den Medienverbund, der Lacans Seminare, eins nach dem anderen und über den Tod hinaus, transkribiert und vertextet“ (Kittler 1993, S. 14). Vgl. (Nemitz 2017).
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zeichnung? Zwischen YouTube-Lacan und Seminar? Zwischen realer und aufgezeichneter Stimme? Diese epistemischen oder semiotischen Fragen sind umso virulenter, als sie von Lacan selbst aufgeworfen wurden. Zwar dementierte er zu Beginn seiner Fernsehansprache die Mediendifferenz zwischen Live-Vortrag und Aufzeichnung zunächst noch: Denn es gibt keinen Unterschied zwischen dem Fernsehen und dem Publikum, vor dem ich seit langem spreche, was man mein Seminar nennt. […] Warum sollte ich demnach hier in einem anderen Ton sprechen als zu meinem Seminar? […] Zweifellos werde ich in diesem Punkt nur von ihnen unter denen, die mir zuhören, vernommen werden. Aber selbst wenn er nichts vernimmt, hat ein Analytiker die Rolle, die ich eben formuliert habe, und das Fernsehen hat sie demnach ebenso gut wie er. (Lacan 1988, S. 61)
Diese Versäumnis einer Nivellierung einer Mediendifferenz korrigierte Kittler jedoch unverzüglich. In seinem Lacan-Text weist er gleich zu Beginn triumphierend auf die dementierte Mediendifferenz hin: Lacan habe in Wirklichkeit nicht zu seinen Zuhörern, sondern zu seinen Mikrofonen gesprochen: „Der Meister sprach noch, gerade noch und nur um zu sagen, dass er gerade noch sprach. Selbstredend nicht zu den zahllosen Leuten, Frauen und Männern, die den Hörsaal der heiligen Anna füllten. Sie hörten ja nicht zu, sie wollten ihn bloß verstehen (wie der Meister es bei Gelegenheit den Rundfunkmikrophonen verriet)“ (Kittler 1993, S. 11). Direkt nach seinem Statement verweist Kittler in seinem Text logischerweise nicht auf Lacans eigene Einebnung einer Mediendifferenz, die von ihm unterschlagen wird. Stattdessen verweist er auf die „Rundfunkmikrophone“ und damit auf die Radiovorträge Lacans, in denen er anders als im Fernsehen eine Mediendifferenz zwischen dem Hören im Radio und dem persönlichen Vernehmen einer Stimme einzuführen scheint: „Ich wundere mich, davon im Radio soviel zu sagen. Weil nämlich die, die mich [im Radio] hören [écoutent], hier nicht, indem sie vernehmen [entendre], was ich sage, das Hindernis haben, mich zu vernehmen. Wo mir erscheint, dass dieses Hindernis daran hängt, dass ich es anderswo zu kalkulieren habe“ (Lacan 1988, S. 44 f.). Wo auch immer Lacan dieses „Hindernis“ „anderswo kalkuliert“ – Kittler bringt diese Unterscheidung zwischen Zuhören (écouter) und Verstehen (entendre) mit der zentralen Unterscheidung zwischen Signifikant und Signifikat in Verbindung, die „anderswo“ von Lacan „kalkuliert“ werde, wie Kittler schreibt: „All die Freunde von Weisheit und Tiefsinn, die zumal in Deutschland über Signifikant und Signifikat gegrübelt haben, könnten hören, wie einfach diese Unterscheidung läuft“ (Kittler 1993, S. 12). Als Beleg seiner Vereinfachung zitiert Kittler eine Stelle aus Encore, die er folgendermaßen übersetzt: „Das Signifikat hat nichts mit den Ohren, sondern nur mit Lektüre zu tun – mit der Lektüre dessen, was man an Signifikantem hört. Nicht das Signifikat, sondern der Signifikant ist es, was man hört“ (Kittler 1993, S. 12).14
14Die
publizierte deutsche Version lautet: dass „das Signifikat nichts zu tun hat mit den Ohren, sondern allein mit der Lektüre, der Lektüre dessen, was man von Signifikantem vernimmt. Das
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Kittler hebt also nach Lacan dessen Unterscheidung zwischen Signifikat und Signifikant, Hören und Verstehen, écouter und entendre hervor (Kittler 1993, S. 11). An die „Macht reiner Signifikanten“ (Kittler 1993, S. 12) schließt er seinen eigenen Medienbegriff an, wenn er Medien als Maschinen zur Aufzeichnung von Signifikanten definiert, die mit dem Sinnreichtum der Signifikate nichts zu schaffen haben: Medien zeichnen nur Signifikanten auf, keine Signifikate. Zugleich existieren Signifikate und Signifikanten nur im und durch das Geschriebene, „in der Dimension des Geschriebenen als solchen“, wie Kittler Lacan weiter übersetzt. Beim Hören existiere die Unterscheidung jedenfalls nicht, wo man die Signifikanten nicht vor Augen hat, weswegen sie vom Verständnis glatt geschluckt werden. Die Maschine aber verstehe nichts; sie zerschlage den Zauber des Verständnisses und zeichne nur nichts sagende Tonsignale und Zeichen auf. Denn schließlich seien „Tonbandgeräte, Fernsehkameras und Rundfunkmikrophone ja erfunden […], um Blabla zu speichern“ (Kittler 1993, S. 14 f.). Mit anderen Worten: „Gerade dass sie ‚nichts verstehen‘, rückt technische Medien an den Platz, der bei anderen Gelegenheiten Lacans Seminarteilnehmern zufällt“ (Kittler 1993, S. 15).
8 Die Materialität der Stimme Wann auch immer Lacan begann, seine Seminare per Tonband aufzuzeichnen, und wann er diese Praxis auch beendete – jedenfalls unterläuft die Aufzeichnung die metaphysische Opposition Schrift vs. Stimme glatt. Die aufgezeichnete Stimme ist nicht die reale Stimme, aber sie ist immer noch Stimme und keine Schrift. Tatsächlich hat Lacan auch ohne Kittler intensiv über sein eigenes „Blabla“ nachgedacht. Denn zum „Blabla“ braucht es zunächst eine Stimme, die es überhaupt artikuliert – und eine Stimme, die überhaupt aufgezeichnet werden kann. Und so schreibt Lacan (in der Übersetzung Kittlers) über „eine Stimme eher als eine Person, eine Stimme, die nur als aus dem Fernsehen kommend zu denken ist, eine Stimme, die nicht eksistiert, da sie nichts sagt“ (Kittler 1993, S. 51).15 Die Stimme, die aus dem Fernsehen kommt, ist eine Geisterstimme – eine Geisterstimme, der ich aber durch die Kraft meiner Vorstellung, indem ich sie für real halte, Existenz verleihe. Ich höre zwar nur die Materialität der sinnfreien Signifikanten, verwandle sie aber in meinem Verständnis in sinnhafte Signifikate.
Signifikat, das ist nicht das, was man vernimmt. Was man vernimmt, das ist der Signifikant“ (Lacan 1991, S. 8). 15Die publizierte Version spricht von „einer Stimme, die man sich nur als aus dem Fernsehen stammend vorstellen kann, eine Stimme, die nicht ex-sistiert, weil sie nämlich nichts sagt, doch die Stimme, in deren Namen ich diese Antwort ex-sistieren lasse, die Deutung ist“ (Lacan 1988, S. 80).
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Doch im Prozess der Aufnahme geschieht eine Spaltung – in Signifikate und Signifikanten: Denn während Zuhörer live die Signifikanten überhören und sie in Sinn verwandeln, kennt die Aufnahme keinen Sinn (zumindest nicht vor dem Zeitalter der künstlichen Intelligenz). Als aufgezeichneter Signifikant existiert die Stimme nicht im vollen heideggerschen Verständnis des Terminus (Dasein); seinen Bezug zu Heidegger16 deutet Lacan dadurch an, dass er im Original „ex-siste“ in dieser für die Heidegger-Übersetzungen der Zeit üblichen Form mit Bindestrich schreibt. Er hätte auch schreiben können: Sie hat kein Dasein. Denn das Blabla aus Signifikanten, das die Aufzeichnungsmedien speichern, wird erst anschließend von Hörern und Sehern entschlüsselt und (hoffentlich) verstanden. Und erst dann existiert es und hat es Dasein. Dabei wiederholt das Argument der Materialität des Signifikanten die kulturkritische Befürchtung der Verbilderung der Theorie, die verdeckt ebenfalls mit der Unterscheidung von Signifikaten und Signifikanten operierte: Während man Signifikanten konsumiert, ganz gleich ob man sie hört oder sieht, verliert man die Signifikate, das Verstehen. Das gute Verstehen (von Signifikaten) durch Lektüre wird gegen das schlechte Konsumieren (von Signifikanten) von Bildern ausgespielt. Mit dem Argument der „Macht reiner Signifikanten“ (Kittler 1993, S. 12) lässt sich auch die Metaphysik der Selbstpräsenz der Stimme kontern, wie das die 1968 erschienene Grammatologie kurz vor Lacan auch tat: Trennt man mit Saussure und Lacan, Derrida und Kittler zwischen Signifikat und Signifikant, ist es mit dem Argument der Selbstpräsenz der Stimme vorbei. Weil die Stimme zunächst sich selbst als Signifikant überträgt und ihre Aufschlüsselung als Signifikat erst später geschieht, lässt sich das Argument sogar umkehren: Die Stimme macht nicht die Bedeutung des Gesprochenen präsent, sondern sie behindert umgekehrt den Hörer bei der Entschlüsselung der Botschaft. Die Stimme wäre also nicht mehr Überbringerin, sondern Verhinderin ihrer Botschaft – beispielsweise wenn Vortragende unverständlich sprechen, Sprachfehler haben oder nuscheln. Auch von kleinen Kindern kann man den Eindruck gewinnen, dass ihre Stimme ihnen beim Überbringen ihrer Botschaften im Weg sei. Die Materialität ihrer Stimme steht der Immaterialität ihrer Botschaft im Weg. Jene „Macht reiner Signifikanten“ (Kittler 1993, S. 12), die in der Kunst, bei Performances oder Lecture-Performances reizvoll als Material verwendet werden kann, stört beim Vollzug der Kommunikation. Weil Lacan jedoch einen Begriff der Materialität der Stimme besitzt und ihm die „Macht reiner Signifikanten“ durchaus bewusst ist, kann er im Radio auf diese Hindernishaftigkeit des Sprechens zu sprechen kommen: Dort spricht er davon, der Sprecher sei im Weg, er sei ein „Hindernis“ beim Verständnis des Gesprochenen: „Weil nämlich die, die mich hören, hier nicht, indem sie vernehmen, was ich sage, das Hindernis haben, mich zu vernehmen“ (Lacan 1988, S. 44).
16Zu
Lacan und Heidegger vgl. Roudinesco (1996, S. 331–349).
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9 Der aufgezeichnete Körper Aber es gibt nicht nur die Materialität einer Stimme, es gibt auch die Materialität eines Körpers, der dieser Stimme Resonanz verleiht. Im Fall Lacans war die „irreduzible Materialität der Körperlichkeit der Rede“ (Peters 2011, S. 41) durchaus markant, wie Kittler bei der Erinnerung an seinen Besuch Lacans in Straßburg zum Besten gibt: „Während Lacan den ersten von vielen krummen Zigarillos anzündet, geben sich Anzug und Hemd als selbstentworfen zu bewundern“ (Kittler 2004, S. 122). Der krumme Zigarillo inklusive extravaganter Bluse taucht bereits beim aufgezeichneten Lacan auf: und zwar bei Lacans erster Fernsehaufzeichnung von 1972 an der Université catholique de Louvain. Ein Jahr vor Lacan télévision produziert, trug Lacan parle einen ähnlich tautologischen Titel, der sich nach dem Medium seiner Entstehung richtete, als bestehe der Inhalt der talking cure allein im Medium ihres Gesprochenwerdens (vgl. Kittler 1993, S. 14). Dabei bestanden beide Teile des Fernsehfilms nicht aus dem Sprechen Lacans, sondern vor allem darin, dass er beim Sprechen gestört wurde – was sowohl im ersten Teil geschieht, als Lacan eine Vorlesung vor Studierenden gibt, als auch im zweiten, als Lacan sich mit der Regisseurin Françoise Wolf für ein Interview zurückzieht. Nicht nur eine Stimme kann zum Hindernis werden, eine Krawatte kann es auch – weswegen Lacan zu Beginn seiner Vorlesung genau das ins Mikrofon sagt, als man ihm dasselbe an seine Krawatte befestigt: „Die Krawatte, das ist ein Hindernis.“ Lacan spricht langsam und nachdenklich. Er gibt sich lässig, die Hände in den Taschen, situationskomisch. Zu den Studierenden ist er zuvorkommend und begrüßt Zuspätkommende – sogar jenen Aufrührer im Parka, der bald auf die Bühne stürmt, um die Vorlesung zu stören. Der später als Situationist bezeichnete junge Mann hantiert auf dem Pult mit Schwamm und Becher und schüttet dessen Inhalt schließlich provokativ über das Pult. Selbst als der Aufrührerdarsteller Lacan mit Wasser bespritzt, begleitet dieser ihn mit einer Geste wohlwollenden Interesses. Nachdem der Aufrührer – ein gewisser JeanLouis Lippert, der sich später in Anatole Atlas umbenannt habe – von seinen Kommilitonen von der Bühne gezerrt wurde, entspinnt sich eine kurze Diskussion zwischen ihm und Lacan, die der Film großzügig genug ist aufzuzeichnen. Lacan hört ihm altväterlich zu. Auch im zweiten Teil des Fernsehfilms wird Lacan beim Sprechen gestört. Vordergründig hat sich die Szenerie wieder beruhigt; dennoch ist Lacan angespannter als in der öffentlichen Vorlesungssituation: In einem Büro spricht er mit seiner unsichtbaren Interviewpartnerin vor unvorteilhaft-halbgeschlossenen Jalousien. Wir sehen einen erschöpften Lacan mit noch unvorteilhafteren Schattengebirgen im Gesicht. Er seufzt, lässt sich Fragen wiederholen und reibt sich die Augen. Plötzlich geschieht ein zweiter Zwischenfall, ein kleiner Unfall, eine technische Panne:17 Mitten in Lacans Sprechen hinein ereignet sich ein Bild-
17Die
Störung ereignet sich bei 53:45 des Videos.
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schnitt, das Mikro gerät ins Bild, man hört die Stimme des Aufnahmeleiters: Lacan spricht – aber nun nicht mehr mit der Kamera und dem Publikum, sondern mit dem Aufnahmeleiter, dem Off der Aufnahme: „Wir werden das Ganze nicht von vorn beginnen lassen […]. Ich war bei ‚kein Analytiker‘ […].“ Lacan, dessen Selbstzitat seine meisterhaft freie Rede auffliegen lässt, zeigt sich kurz verärgert über den Unfall und weigert sich, das Gesagte zu wiederholen – woraufhin er seine Fassung wieder erlangt und an der abgebrochenen Stelle weiterspricht. Ein kleiner Unfall, der aus dem Fernsehfilm ebenso wenig herausredigiert wurde wie der Zwischenfall mit dem Studenten. Der sichtbar gebliebene Unfall koppelt die Frage des Bildes an die Frage nach dem Affekt und seinem Körper. Schließlich hat sich Lacan bei diesem kurzen Moment der Entgleisung oder Entstellung nicht im Griff, er verliert die Kontrolle; der Diskurs der Philosophie entgleist, der Philosoph wird entstellt – und etwas Anderes gerät ins Bild, das merkwürdigerweise in der Sendung geblieben ist. Dieses Andere, das für einen winzigen Moment an die Stelle des philosophischen Diskurses tritt, lässt sich provisorisch als ‚Affekt‘ oder ‚Vorbewusstes‘ kennzeichnen: Mit der kurzen Unbeherrschtheit gerät auch das Affektive und Vorbewusste des sonst so beherrschten Sprechers ins Blickfeld – und das ausgerechnet beim Theoretiker des Unbewussten, der selbst unablässig entstellenden unbewussten Szenen nachjagte.
10 Der Körper der Philosophen Die Aufzeichnungen Lacans, ob mit krummem Zigarillo und Bluse oder nicht, führen direkt zur Frage nach dem Körper: Wenn man die Affekte des Vorbewussten aufzeichnet, zeichnet man sie in Form eines Körpers auf, das Vorbewusste ist im Bild als oder im Körper präsent. Der Körper wird zum irreduziblen Träger oder Medium des Vorbewussten. Dabei sind das Vorbewusste und seine Affekte ebenso wenig ein verzichtbarer Zusatz oder Überschuss wie das Bild zum Ton; während der Diskurs Lacans auch ohne sein Bild vernehmbar ist, gibt es keinen Körper ohne Affekte; jeder Körper ist auch ein affektiv agierender Körper. Genau diese aufgezeichnete Unbewusstheit und Unwillkürlichkeit könnte die Frage nach der Rolle des Bildes in der Theorie beantworten – vielleicht ist sie für den Reiz dieser Bilder verantwortlich: Hier sieht man etwas Vorbewusstes in Aktion. Beim Körper des Philosophen steigert sich die Fallhöhe noch einmal. Sichtbar gesprochene Theorie ist auch deshalb so attraktiv, weil man hier die höchste Geistigkeit in einem Körper mit seinen niedrigsten Entstellungen erblickt: den überflüssigen Körper des Philosophen, seinen peinlich unterbeschäftigten Leib, jene „negativité sans emploi“ Alexandre Kojèves, die in ihrer Arbeitslosigkeit lauter Unfälle und Slapsticks in ihrer Loge vollführt. Auch wenn Lacan nicht sabbert und so seine Spucke sichtbar macht, wie es die Revue Documents vierzig Jahre zuvor demonstriert hatte (vgl. Leiris 2005; Ebeling 2008), ist niemand so anfällig für Komik wie Philosophen – das zeigt noch jede Karl-Valentin-hafte Heidegger-Aufzeichnung (weswegen Gottfried Boehm ausgerechnet beim Betrachten der berühmten Spiegel-Fotos von Heidegger auf die Idee kommt, über das Bild des Philosophen nachzudenken)
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(Boehm 2017, S. 21). Nichts sehen wir so gern entstellt wie den Geist. Nichts genießen wir mehr. Nichts genießt Bataille mehr als die Auskunft über Hegels schmerzenden Zeh, mit dem der nach eigenem Bekenntnis nicht weiter denken konnte (vgl. Bataille 1994). Vielleicht sehen wir Online-Theorie gar nicht wegen ihrer Inhalte, die man vermutlich wirklich besser als Text liest; womöglich dienen die Inhalte der philosophischen YouTuber nur als Vorwand – und der wirkliche Grund, aus dem wir uns diese Videos anschauen, wäre der voyeuristische Grund, dass wir sehen wollen: einen Körper sehen wollen, seine Affekte sehen wollen, seine Unbewusstheit sehen wollen – dass wir genau den Teil des Körpers sehen wollen, den jemand nicht unter Kontrolle hat. Wir wollen sehen, wie jemand spricht, sich bewegt, sich verhaspelt. Sehen, wie jemand denkt. Sehen, dass auch Philosophen und Philosophinnen einen Körper haben. Das könnte der Grund sein für den Genuss dieses Formats: Hier genießen wir den sinnlichen Vorteil der Deckung, einen anderen Körper zu sehen, ohne dabei selbst mit unserem gesehen zu werden – was bei jedem Live-Vortrag anders ist. Erst von dieser Einsicht aus lassen sich die Millionen Poser und YouTuber reflektieren, die sich online finden wie Sand am Meer. Aber es geht nicht nur um affektive Körper von Philosophen oder YouTubern – es geht auch um angeschlossene, aufgenommene, mediatisierte Körper (vgl. Ebeling 2019). Was wir bei Lacan und anderen sehen, sind Kurzschlüsse zwischen psychischen und medialen Bedingungen von Sprechakten; Lacans Affekte werden erst durch einen technischen Unfall auf die Bühne geschubst – und dort auch noch ertappt von einem Aufzeichnungsmedium, das dieses Gespenst erst generiert. Der Affekt auf der Bühne wird hier plötzlich mit seiner eigenen technischen Bedingung kurzgeschlossen und wird zu einem technischen Unbewussten oder einem Unbewussten der Technik. Denn erst mit dem Gestell oder Dispositiv erscheinen die Affekte des Redners: Das buchstäbliche Gestell aus Kameras und Mikrofonhalterungen, die in Lacan parle kurz ins Bild geraten, übertrifft noch das unsichtbare Dispositiv des Seminars aus Tonbändern und Transkriptionen.
11 Das Monument der Affekte Was wir sehen, ist jedoch nicht nur ein Kurzschluss zwischen den Affekten und einer Technik, sondern zwischen einem Körper, einem Bild und einem Archiv: Was man in Lacans Aufzeichnungsunfall sieht, ist nicht nur ein Körper im Bild – es ist ein aufgezeichneter Körper, ein archivierter Körper, das Archiv eines Körpers: Was man heute von Lacan 1972 sieht, ist ein elektronisch fürs Fernsehen aufgezeichnetes, dann auf Video gespeichertes, dann im Internet gestreamtes Archiv von Bildern eines Körpers. Wäre der Körper nicht aufgezeichnet worden, wäre der kleine Aussetzer nicht archiviert worden, würde er nicht existieren: Er wäre sofort vergessen, verdrängt, zerstört worden. Es gibt diesen affektiven Körper nur, weil es eine Aufzeichnung und ein Archiv dafür gibt. Das Archiv ist der Körper der Affekte, ohne den sie nicht erschienen. Weil die Affekte von sich
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aus nicht erscheinen oder sofort wieder verschwinden, ist das Vorbewusste auf sekundäre, parasitäre, supplementäre Träger angewiesen. Weil die Affekte und das Unbewusste nur aufgezeichnet existieren, sind sich Archiv und Unbewusstes solidarisch, vielleicht bedingen sie sogar einander: Kein Unbewusstes ohne Archivierung – und kein Archiv, ohne dass dort nicht irgendwelche unbewussten, unintentionalen Affekte aufgezeichnet würden. Immer wenn etwas aufgezeichnet wird, wird auch etwas Unbewusstes aufgezeichnet. Das ist die Logik eines Archivs, das nicht Sichtbares oder Seiendes repräsentiert oder aufhebt, sondern das umgekehrt etwas Sichtbarkeit und Sein verleiht, das es sonst nicht hätte (was das Archiv gerade von anderen Medien des kulturellen Gedächtnisses wie Bibliotheken oder Museen unterscheidet). Erstaunlicherweise bringt Lacan all diese Dinge selbst zur Sprache. Im ersten Band der Schriften von 1966, also noch vor den Fernsehaufzeichnungen, räumt er bereits ein, dass das Unbewusste auf sekundäre und supplementäre Träger angewiesen sei, weil es von sich aus nicht erschiene. Weil das Unbewusste nicht erscheine, sondern immer nur auf seinen Trägern wieder-erscheine, gehe es darum, die Wahrheit des Unbewussten nicht zu finden, sondern sie „wiederzufinden“. Und sie müsse – oder könne nur – „wiedergefunden“ werden, weil das Unbewusste zunächst einmal verschwunden oder abwesend war. Schließlich definiert Lacan das Unbewusste gerade durch seinen Entzug, durch seine Nichtpräsenz und Abwesenheit: „Das Unbewusste ist das Kapitel meiner Geschichte, das weiß geblieben ist oder besetzt gehalten wird von einer Lüge. Es ist das zensierte Kapitel“ (Lacan 1996, S. 98).18 Ein zensiertes Kapitel kann man jedoch nicht finden, sondern – weil der Akt seines Verschwindens seinem Erscheinen vorausgeht – nur „wiederfinden“: „Doch seine Wahrheit kann wiedergefunden werden. Zumeist steht sie schon anderswo geschrieben […].“ Was im Text Lacans folgt, ist eine erstaunliche Aufzählung sekundärer und supplementärer Träger oder Medien des Unbewussten. Die beiden ersten sind Denkmal und Archiv: 1. „– etwa auf Denkmälern: Das ist mein Leib, das heißt der hysterische Kern der Neurose, in dem das hysterische Symptom eine sprachliche Struktur aufweist und sich wie eine Inschrift entziffern lässt, die, nachdem sie einmal aufgezeichnet worden ist, ohne großen Verlust zerstört werden kann“ (Lacan 1996, S. 98). Bevor Lacan seine eigene Seminar-Stimme aufzeichnen lässt, schreibt er über die Aufzeichnung von hysterischen Symptomen und Neurosen. Darin wird der Leib von Lacan als Aufzeichnungsmedium von Symptomen oder Neurosen definiert – als lesbares Denkmal und Monument, dessen „Inschrift [sich] entziffern lässt“, die „ohne großen Verlust zerstört werden kann“ (Lacan 1996, S. 98). Das Monument des Unbewussten wird also von Lacan folgendermaßen konstruiert: Erstens werden der „hysterische Kern der Neurose“ oder das „hysterische Symptom“ vom Unbewussten aufgezeichnet und schreiben sich in einen Körper ein; zweitens kommt es dort zu einer bleibenden Inschrift,
18Dank
an Ulrike Kadi für den Hinweis auf diese Stelle.
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mit deren Hilfe sich das Unbewusste konstituiert; drittens wird das körperlich fixierte Unbewusste durch diese Inschrift zu einer stabilen Struktur, es wird als „Denkmal“ oder Monument auf Dauer gestellt; und viertens kann die Einschreibung von diesem Denkmal aber wieder verschwinden und abtauchen, denn die Einschreibung des Unbewussten darf nicht bewusst werden, nicht sichtbar werden, sie muss unsichtbar und abwesend bleiben. Diese Struktur – Symptom, Einschreibung, Zerstörung – lässt sich anhand von Lacans Entstellung im Video am eigenen Beispiel veranschaulichen; Lacans Archivierung eines Aussetzers lässt sich mit seinen eigenen Ausführungen zum Archiv lesbar machen: Die unbewusste und unsichtbare Entstellung wird zum bleibenden und sichtbaren Monument, zum Archiv ihrer eigenen Performanz – was umso aufschlussreicher ist, als Lacan die Archivierung im zweiten Teil seiner Aufzählung ausdrücklich erwähnt:
12 Das Archiv des Unbewussten 2. „– in Archivdokumenten: Das sind Erinnerungen an meine Kindheit, schwer zugänglich wie solche Dokumente, solange ich ihre Herkunft nicht kenne“ (Lacan 1996, S. 98). Die „Wahrheit des Unbewussten“ kann also auch in „Archivdokumenten“ wiedergefunden werden: Kein Unbewusstes ohne Archiv, weil seine „Wahrheit“ auf sekundäre und supplementäre Träger angewiesen ist – und kein Archiv, ohne dass dort nicht auch unbewusste und unsichtbare Dinge aufgezeichnet sind. Wie Freud koppelt Lacan sein Archiv des Unbewussten an Kindheitserinnerungen, die „schwer zugänglich“ seien „wie solche Dokumente, solange ich ihre Herkunft nicht kenne“. Hier kommt Lacan auf jene verschwundene und ‚vergrabene‘ Welt der Kindheit zurück, der sich auch Freud zufolge das Unbewusste verdanke. Und wie dort heißen die Erinnerungen nicht deshalb „Archivdokumente“, weil sie wie Inschriften an Denkmälern öffentlich aufbewahrt würden, sondern umgekehrt, weil sie eben verborgen sind wie Archivdokumente, die unter Verschluss gehalten werden. Schließlich bestand ja der Dreisatz von Freuds Theorie des Unbewussten darin, dass wir uns desto weniger an unsere Kindheitserfahrungen erinnern können, je früher sie angesiedelt sind; doch je früher sie angesiedelt sind, desto wirkungsvoller sind sie auch; was am Ende bedeutet, dass sich die Kindheitserinnerungen und Traumata umso machtvoller entfalten, je verborgener sie sind. Wenn die „Erinnerungen an meine Kindheit“ also „schwer zugänglich“ sind, dann bedeutet das zugleich, dass sie mich in ihrer Unzugänglichkeit umso mächtiger fernsteuern – woraus Lacan den (freudschen) Auftrag an den Therapeuten ableitet, ihre „Herkunft“ zu erforschen: Das war der Auftrag von Freuds Archäologie der Seele, in der der Archäologe die „Herkunft“ der Kindheitstraumata erforschen und die schwer zugänglichen Erinnerungen ausgraben sollte – auch wenn Freud als Archäologe eher in der Erde graben wollte und Lacan als Archivar eher in den Archiven (vgl. Armstrong 2005; Ebeling 2012). Doch warum wählt Lacan für die Kindheitserinnerungen das Modell des Archivs und für die symptomhaften Einschreibungen das Modell des Denkmals? Was unterscheidet die Kindheitserinnerungen von den
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Einschreibungen der hysterischen Symptome? Und was verbindet Archiv und Monument andererseits – außer der Tatsache, dass diese Begriffe drei Jahre später 1969 zu den leitenden Konzeptionen von Foucaults Archäologie des Wissens avancierten? Erstens lässt sich eine Differenz der Bewegungsrichtung feststellen: Bei den Einschreibungen in einen Körper handelt es sich um eine Bewegung der Aufnahme (in ein Monument), bei Kindheitserinnerungen hingegen um eine Entnahme (aus einem Archiv). Aus diesem Grund kann man Monument und Archiv in ihrer Zeitlichkeit unterscheiden: Im Körper-Monument wird eine Einschreibung produziert, aus dem Erinnerungs-Archiv wird sie rekonstruiert. Diese Differenz zwischen Produktion und Reproduktion erinnert zum einen an die medientechnische Unterscheidung zwischen Aufnahme und Wiedergabe, die Kittler für die Aufzeichnungsszene Lacans geltend machte, wo er von „Lacan und Gloria, also Aufnahme- und Wiedergabeknopf am psychoanalytischen Rekorder“ (Kittler 2004, S. 123) handelte. Zum anderen wird die Unterscheidung zwischen Produktion und Reproduktion aber auch von Peters für die Differenz zwischen wissenschaftlichen und künstlerischen Vorträgen geltend gemacht, denn während in der Wissenschaft der Vortrag der Reproduktion von Wissen diene, würde die Lecture-Performance selbst Wissen produzieren (Peters 2011, S. 184). Zweitens unterscheiden sich Archiv und Monument in ihrer Intentionalität: Monumente haben eine intentionale Struktur; jemand zeichnet etwas auf und will damit eine Inschrift erzeugen. Im Archiv landet man aber in der Regel unwillkürlich, weil man aufgezeichnet und gesammelt wird, möglicherweise sogar gegen den eigenen Willen. Unsere Kindheitserinnerungen kommen zustande, ohne dass wir gefragt werden, ebenso wie unsere Zeugnisse oder Dokumente meistens ungefragt im Archiv landen. Weil eine Inschrift ohne Intention schwer denkbar ist, Kindheitserinnerungen aber in den wenigsten Fällen intentional zustande kommen, erscheint das Modell des Archivs geeigneter für die Veranschaulichung der Aufzeichnung der Erinnerungen.
13 Monument oder Archiv? Zuletzt lassen sich diese beiden Kriterien für die Konzeptionen von Monument und Archiv – Produktion/Rekonstruktion und Intentionalität/Nichtintentionalität – auf Lacans eigene Aufzeichnungen zurückfalten: Lassen sich seine Aufzeichnungen in seinen eigenen Konzeptionen als Denkmal oder Archiv beschreiben? Gewiss muss man zunächst zwischen den beiden Sendungen unterscheiden, die immerhin eine Differenz in ihrer Intentionalität aufweisen: Während die Fernsehpredigt Lacan télévision völlig den Intentionen des Predigers folgt, lässt sich dies von den Unfällen von Lacan parle nicht unbedingt behaupten. Während Lacan parle den Meister in seiner doppelten Entstellung auf das Archiv festlegt, schafft er sich mit Lacan télévision sein eigenes televisionäres Denkmal: Dort erscheint er als Autor und Meister seiner eigenen Fernsehsendung, die anschließend auch noch als Buch erscheint – eine erfolgreiche Geste der Autorschaft, die Erbauung eines medialen Denkmals in eigener Sache.
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Im Gegensatz dazu wird Lacan parle zum Archiv seiner Entstellung, weil sie erstens ohne seine Einwilligung aufgezeichnet wurde und weil die peinliche Sequenz zweitens vermutlich auch ohne seine Einwilligung in der Sendung blieb. Doch das Archiv bewahrt auch und gerade das, was Subjekte nicht unbedingt für bewahrenswert halten. Doch nur weil Lacan parle also archivarisch, unzugänglich und unveränderbar war wie ein Tweet in der Welt, ist die Entstellung überhaupt erhalten geblieben – weswegen Lacan mit der Definition der Unzugänglichkeit des Archivs zugleich testamentarisch die Unauslöschbarkeit seiner eigenen hysterischen Spur verfügt hat. Er war ausgeschlossen von diesem Archiv, weswegen es in seinem Ausschluss genau die Unzugänglichkeit demonstriert, mit der er selbst das Archiv definiert: Lacan im Archiv bestätigt also unfreiwillig, was er selbst vom Archiv sagt. Damit hört das Archiv von Lacan parle nicht auf, nicht unsichtbar zu werden, was diese skurrile Sendung freilich mit den zeitgenössischen viralen Phänomenen gemeinsam hat, deren Tücke bekanntlich ebenfalls ist, dass Spuren im Internet nicht verschwinden, sondern die peinlichsten Bemerkungen, Beurteilungen oder Tweets scheinbar ewig sichtbar bleiben.
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Im Echoraum des Körpers Mai Wegener
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Zusammenfassung
Echos und Homophonien durchziehen nicht nur Lacans Sprechduktus der späten Seminare, er arbeitet hier auch an einer Theorie, die vom Körper als einer erregbaren, genießenden Substanz ausgeht, welche von Echos und Homophonien durchzogen ist. Darauf gründet Lacan die Triebe, die er „das Echo der Tatsache des Sagens im Körper“ nennt. Der Beitrag nimmt diese Grundannahme auf und sucht zu zeigen, welche Bedeutung der Stimme im Zuge der Verankerung der Sprache und des Sprechens im Körper zukommt. In einem zweiten Schritt wendet er sich einem kurzen Text von James Joyce zu, denn bei Joyce fand Lacan eine Schrift, die nicht vom Signifikanten sondern vom Buchstaben her geschrieben ist. Sie steht daher dem Echoraum des Körpers in besonderer Weise nahe. Im Unterschied zu Medizin und Prostitution geht die Psychoanalyse den Körper nur indirekt an. Sie behandelt ihn nicht unmittelbar: keine Berührungen, keine Verabreichung von Substanzen, kein Skalpell, kein Verkehr. Die indirekte Herangehensweise hat sie gemeinsam mit der Philosophie, von der man vielleicht sagen kann, dass sie, neben anderen Gegenständen, den Körper denkt. Michel Foucault und Maurice Merleau-Ponty haben ihre Versuche dazu vorgebracht. Auch die Psychoanalyse ist ein Versuch, den Körper zu denken, so könnte man sagen. Das hindert Lacan allerdings nicht, sich sogleich darüber lustig zu machen. In einer Passage seines Seminars zu James Joyce spricht er darüber, dass wir alle dazu neigen, den Körper anzubeten (adorer), indem wir ihm und
M. Wegener (*) Psychoanalytische Praxis, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 U. Kadi und G. Unterthurner (Hrsg.), Macht – Knoten – Fleisch, Abhandlungen zur Philosophie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04957-5_10
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damit uns eine imaginäre Konsistenz zusprechen. Und daran direkt anschließend sagt er:„Je le panse, c’est-à-dire je le fait panse, donc je l’essuie“ (Lacan 2005a, S. 66), was verschieden übersetzt werden kann, etwa mit: Ich striegle/heile/verbinde ihn, das heißt, ich mache daraus Wanst, also wisch’ ich ihn weg/streife ihn ab/erleide ihn. So, sagt Lacan, „lässt das sich zusammenfassen“ (Lacan 2017a, S. 69), und verpasst mit der Verballhornung von Descartes’ „Je pense, donc je suis“ – mit den Möglichkeiten der Homophonie spielend und den Körper als Gegenstand des Denkens hereinschreibend – dem berühmten Satz eine völlig neue Wendung. Die Psychoanalyse hat durchaus eine Art von Theorie des Körpers aufgestellt, des Körpers vom psychischen Apparat her genommen, wie zu ergänzen wäre. Aber Körper, das ist wichtig festzuhalten, ist kein Grundbegriff, überhaupt kein Terminus der Psychoanalyse. Zu ihren Grundbegriffen zählt vielmehr der des Triebes, der „von der biologischen Seite her“ als „Grenzbegriff zwischen Seelischem und Somatischem“ (Freud 1991b, S. 214) fungiert. In die Wahrnehmung tritt der Trieb jedoch nie direkt, sondern allein durch seine Vertretungen, die „Triebrepräsentanzen“, weshalb Freud festhält: „Die Trieblehre ist sozusagen unsere Mythologie“ (Freud 1996, S. 101). Genau genommen ist aber die Psychoanalyse ein Unternehmen, mit dem Unbewussten zu sprechen – und „mit“ ist hier sowohl im Sinne eines Gegenübers als auch in dem eines Vehikels gebraucht. In einer Psychoanalyse kommt zu Gehör, was die Einzelnen über ihren Körper denken und auch wie sie mit ihm denken, in Lapsus und Symptomen. Hier werden die subjektiven Körpertheorien entfaltet, etwa das, was Freud die „infantilen Sexualtheorien“ genannt hat. Und hier entfaltet sich auch der Körper im Sprechen, die Jouissance des Sagens. Die Psychoanalyse ist – und dies nun im Unterschied zur Philosophie und in Übereinstimmung mit Medizin und Prostitution – ja durchaus eine Behandlung. Seelenbehandlung hat Freud sie einmal genannt, talking cure, stellte Anna O. richtig. Die analytische Kur ist eine Sprechpraxis, die auch das Schweigen als Teil des Sprachnetzes miteinbezieht und die mit den weitreichenden Wirkungen des Sprechens und der Sprache arbeitet – Wirkungen, die auch den Körper (be)treffen. Man kann sagen, die psychoanalytische Kur sucht einen Echoraum an der Schnittstelle von Körper und Sprache zu installieren. Mit der Prostitution hat die Psychoanalyse gemeinsam, dass sie sich für den sexuellen Körper interessiert, den erregbaren, genießenden Körper. Freilich schließt sie den Aspekt der Fortpflanzung, von dem die Prostitution nichts wissen will, dabei nicht aus. Sie ist nicht bereit, von Leben und Tod abzusehen. Ihr Einsatz ist der geschlechtliche Körper, der (ob er sich fortpflanzt oder nicht) immer aus einer Zeugung (und sei diese künstlich) entstanden und dem Tod anheimgegeben ist. Für die Psychoanalyse ist das Sexuelle nicht ein Aspekt des Lebens unter anderen, wie für die Prostitution, sondern es ist dessen Grund. „Der Bezug auf das Genießen öffnet die einzige für uns redliche Ontik“, heißt es bei Lacan (Lacan 1968). Mit der Medizin hat die Psychoanalyse gemeinsam, dass sie ihre Behandlung und deren Wirkweise öffentlich darzulegen sucht. Sie tut dies als Rechtfertigung,
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Erprobung und Einmischung in die gegenwärtigen Diskurse und damit schon umfassender, als die Medizin es vielleicht nötig hat. Die Gemeinsamkeit ist hier schnell verlassen, denn das Sprechen vom Körper ist ein sehr anderes in Medizin und Psychoanalyse, allzumal die Psychoanalyse in ihrem Diskurs nicht davon ausgeht, Herr über den Körper zu sein. Wenn die Psychoanalyse sich in der Leib-Seele-Debatte philosophisch positionieren muss – um ein letztes Mal meinen kleinen Durchlauf durch Medizin, Prostitution und Philosophie zu bemühen –, dann tut sie das zum Beispiel so wie Lacan hier in seinem Seminar 1955: „Das ist sehr lustig, es bringt eine wirklich seltsame Inkohärenz mit sich, daß man sagt – der Mensch hat einen Körper. Für uns macht das Sinn, es ist sogar wahrscheinlich, daß das immer schon Sinn gemacht hat, für uns jedoch mehr Sinn macht als für irgend jemand sonst, denn insofern jedermann Hegelianer ist, ohne es zu wissen, haben wir mit Hegel und ohne es zu wissen die Identifikation des Menschen mit seinem Wissen, das ein akkumuliertes Wissen ist, extrem weit getrieben. Es ist ganz sonderbar, in einem Körper lokalisiert zu sein, und man kann diese Sonderbarkeit nicht bagatellisieren, auch wenn man seine Zeit damit verbringt, mit den Flügeln zu schlagen, indem man sich damit dicktut, die Einheit des Menschen wiedergefunden zu haben, die dieser Idiot Descartes zerstückelt hatte. Es ist vollkommen nutzlos, große Erklärungen über die Rückkehr des menschlichen Wesens zur Einheit, zur Seele als Form des Körpers abzugeben, unter großem Aufwand an Thomismus und Aristotelismus. Die Teilung ist ein für allemal vollzogen.“ (Lacan 1980, S. 97)
Kein Holismus, keine Ganzheit, keine Einheit von Körper und Seele in der Psychoanalyse – zumindest nicht mit Lacan. Aber auch Freud, der sich der Philosophie immer entzogen hat, bedauert: [D]en Analytiker führt seine Erfahrung aber in eine andere Welt mit anderen Phänomenen und anderen Gesetzen [als den Mediziner, M.W.]. Wie immer sich die Philosophie über die Kluft zwischen Leiblichem und Seelischem hinwegsetzen mag, für unsere Erfahrung besteht sie zunächst und gar für unsere praktischen Bemühungen. (Freud 1991a, S. 282)
Bereits im Entwurf hat Freud den psychischen Apparat, obwohl er hier als Neuronenapparat, also nicht ganz unkörperlich, konstruiert ist, deutlich abgegrenzt von dem, was er die „Körperperipherie“ oder, noch besser, die „Innenperipherie“ (Freud 1987b, S. 396; vgl. Wegener 2004, S. 114), als Rand zum Somatischen, nannte. Er setzt das Verhältnis komplex an, wie auch ein Brief an Juliette FavezBoutonnier zeigt, den er mit der Bemerkung schließt: „Die Aufstellung des Unbewußten hat alle früheren Fragestellungen umgeworfen“ (Freud 1987a, S. 672). Lacan nimmt seine oben zitierte frühe Position im Joyce-Seminar wieder auf, wo er sagt: Zu seinem eigenen Körper ein Verhältnis als Fremdem zu haben ist gewiss eine Möglichkeit, die die Tatsache des Gebrauchs des Verbs ‚haben‘ ausdrückt: Seinen Körper hat man, man ist keineswegs der Körper. Das eben läßt an die Seele glauben, wodurch es keinen
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Grund mehr gibt hier anzuhalten, und man denkt auch, daß man eine Seele hat, was die Höhe ist. (Lacan 2017a, S. 167, Übers. verändert/Lacan 2005a, S. 150)
1 Körper – Sprache Ich habe gesagt, die Psychoanalyse gehe den Körper nur indirekt an, weil nicht geschnitten oder gestreichelt wird. Das ist aber bei genauer Betrachtung nicht korrekt. Denn das Sprechen selbst, das im Zentrum der analytischen Praxis steht, ist körperlich. Man hört mit dem Ohr, spricht mit dem Mund. Der Körper ist ja da in der Kur, gelagert auf der Couch. Der Entzug des Blickkontaktes setzt den Akzent auf die sprachliche Verbindung, wobei die Verbindung zurückgenommen ist, das Sprechen bildet keinen Dialog. Der liegende Körper aber ist ein Resonanzkörper. Das Liegen verstärkt die Resonanz des Sprechens und Hörens. Daher ergibt es Sinn, wenn Freud festhält: „Psychoanalyse lernt man zunächst am eigenen Leib“ (Freud 1998, S. 12), nachdem er eingestanden hat, es finde nichts statt als ein „Austausch von Worten“ (Freud 1998, S. 9). Entscheidend, man könnte sagen, das A und O für die Analyse, ist, dass der Körper Löcher hat – Mund, Anus, Ohren und andere Öffnungen. Lacan gebraucht hier das Wort orifices, das für Öffnungen steht, die eine natürliche oder künstliche Höhlung mit einem Außen kommunizieren lassen: das Loch eines Brunnens oder der Schlot eines Vulkans, eine Höhle oder auch eine Mündung oder eben die anatomischen Öffnungen, mit denen wir es am Körper zu tun haben. Diese Löcher sind die Andockstellen der Sprache und des Anderen. Es wird daher im Folgenden eher um den gelöcherten als um den zerstückelten Körper gehen, der im Zusammenhang des Spiegelstadiums so bedeutsam ist und bis dato wohl öfter kommentiert wurde. Die Verknüpfung von Sprechen und Sprache mit dem Körper bildet den Kern, das dunkle Zentrum der Psychoanalyse. Vom parlêtre, dem Sprechwesen, ist bei Lacan die Rede, man könnte auch sagen: vom Sprechtier oder Sprechkörper, warum nicht. Als Lacan 1974 in einem Interview nach dem Auftakt des Johannesevangeliums Im Anfang war das Wort gefragt wurde, antwortet er, „ja, ich bin einverstanden […], aber es ist ein rätselhafter Anfang“ (Lacan 2006b, S. 78 f.). Er markiert eine Art von Zweizeitigkeit dieses Anfangs, denn das Wort ist in der Bibel da, schon bevor es inkarniert ist. In seinem Kommentar versammelt er dann auffällig viele Tiere: Wenn das Wort zu Fleisch wird, beginnt es saumäßig [vachement] schlecht zu laufen. Er [der Mensch, M.W.] ist auch überhaupt nicht mehr glücklich, er sieht auch überhaupt nicht mehr einem kleinen Hund ähnlich, der mit dem Schwanz wedelt, und auch nicht einem wackeren Affen, der masturbiert. Er ähnelt überhaupt nichts mehr. Er ist verwüstet durch das Wort [ravagé par le verbe]. (Lacan 2006b, S. 80, Übers. verändert)
Der Mensch ist das Wesen, das den Ort des Anderen in sich aufzunehmen hat, mit seinem Fleisch zu verknüpfen, um aus ihm heraus dann zu sprechen. Lacan bekräftigt, „dass dieser Ort des Anderen nirgendwo anders als im Körper zu fassen
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ist“ (Lacan 1968, Übers. M.W.). Dies ist der Knotenpunkt, den Lacan in der Ausarbeitung seiner Theorie in einer Bewegung des Umkreisens und Die-Kreiseenger-Ziehens ins Visier nimmt. Lacan wird sagen, dass bereits Freud diesem Zug gefolgt ist, wenn auch noch ohne eine Theorie der Sprache und des Sprechens, avant la lettre, aber mit scharfem Gespür für das Eintauchen des Seelenlebens ins Unbekannte. Freuds Rede von der Urverdrängung, von den Triebrepräsentanzen oder vom Nabel des Traums werden mit Lacan lesbar als verschiedene Anläufe, den Kreuzungspunkt von Sprache und Körper zu umkreisen. Lacan hat Freuds Arbeit weitergetrieben und verschoben, er hat den Textkörper gelöchert. Er hat, so möchte ich sagen, etwas fallen lassen, an dem Freud festhielt: die Hoffnung auf den guten Herrn, der an dieser Stelle die Kluft im Körper beruhigen könnte. Lacans Bewegung des Umkreisens und Die-Kreise-enger-Ziehens hat Folgen für das Sprechen und das Schreiben. Davon zeugt sein eigentümlicher Stil, von dem er in Anspruch nahm, dass es in dessen Schwierigkeiten „etwas gibt, das dem Objekt selbst entspricht, um das es geht“ (Lacan 2006a, S. 32). Lacans Seminare und Texte sind zunehmend gespickt mit Äquivoken, Echos und Neologismen. Es gibt Elisionen und Knoten, auffällig ist das gelockerte, wiewohl komplexe Verhältnis zum Sinn. Am Signifikanten tritt die Blödigkeit (vgl. Lacan 1986, S. 25) in den Vordergrund, d. h. die Materialität, das Buchstäbliche – bis zur Verballhornung der Sprache, dem Kalauernden etwa im Joyce-Seminar. Das hat beim Lesen, zumindest für mich, einen Effekt von Entschleunigung und von sich überraschend herstellenden Querverbindungen. Die Widerständigkeit der Sprachmaterialität bremst und lässt die Echos von Gehörtem bzw. Gelesenem auftauchen. Jede/r hat zu entscheiden, wie weit er oder sie da mitgeht. Analyse ist, so denke ich, ein Aussetzen des Nicht-wissen-Wollens. Dies ist die Verabredung. Sie ist auch ein SichAussetzen, aber doch nur so weit, wie ein jeder und eine jede es kann, und das heißt auch, es zu be- und verantworten weiß. Sprechen und Sprache sind Modulation, Wendungen des Genießens. Diese Verknüpfung ist direkt, sie herrscht. Die unterschiedlichen Diskurse gehen verschieden mit ihr um, sie wenden das Genießen anders, los wird es keine/r. Der analytische Diskurs hält das Mehrgenießen an erster Stelle präsent, denn er fragt nach dem Platz des Genießens im Sprechen überhaupt. In besonderer Weise aber legen jene Zeugnis von der Schnittstelle von Sprechen und Körper ab, die in keinem Diskurs sprechen, die dem sozialen Band entfallen: die Psychotiker, überflutet vom Genießen. Lacan hat sich von Anfang an für die Psychose interessiert. In ihr tritt die Besetztheit vom Sprachlichen in besonderer Weise in Erscheinung. So bringen die verbalen Halluzinationen jene „Beziehung des inneren Echos“ ans Licht, „in dem das Subjekt sich im Verhältnis zu seinem eigenen Diskurs befindet“ (Lacan 1981, S. 182, Übers. M.W.). Lacan hebt diese exemplarische Erfahrung der Psychose in seinem Psychosenseminar 1956 hervor, der gegenüber „das normale Subjekt eines ist, das sich in die Position setzt, den überwiegenden Teil seines inneren Diskurses nicht für ernst zu nehmen“ (Lacan 1981, S. 140, Übers. M.W.; vgl. Porge 2012, S. 25). Die Stimmhalluzination hat den Weg gebahnt, auf dem sich – dem geht Erik Porge in seinem
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Buch Voix de l’écho nach – die Stimme für Lacan als Objekt a herausschälen wird (vgl. Porge 2012, S. 37 ff.). Zwanzig Jahre nach seiner Beschäftigung mit der Paranoia Daniel Paul Schrebers, die im Zentrum des Psychosenseminars stand, wendet sich Lacan 1975 der Frage der Psychose erneut und ausführlich im Zusammenhang des schriftstellerischen Werkes von James Joyce zu. Lacans These zufolge sind in Joyce’ literarischem Schaffen sowohl die Spuren seiner Psychose zu finden wie auch das Savoir-faire, das ihn vor einem offenen Ausbruch derselben bewahrte. Was nicht verhinderte, dass seine Tochter Lucia dieses Schicksal erlitt. Joyce war, so Lacans Grundannahme, „aufgezwungenen Worten/paroles imposées“ ausgesetzt (Lacan 2017a, S. 97/Lacan 2005a, S. 91). Diese Entgrenzung bildet den Kern seiner Psychose: Worte, die in ihn eindringen und ihn besetzen ohne den Filter, der der Name des Vaters hier hätte sein können, sinnlose Worte, deren Wucherung und Stimmklang er, aufgrund des Fehlens dieser Eingrenzung, die der Name des Vaters schaffen würde, erlitt. In diesem Seminar hebt Lacan weitaus schärfer als in den frühen Jahren heraus, dass die psychotischen Phänomene vom körperlichen Befall durch das gesprochene Wort zeugen. Und er fragt sich in diesem Zusammenhang, „warum ein sogenannter normaler Mensch nicht wahrnimmt, dass das Wort ein Parasit ist, dass das Wort eine Blende [placage] ist, dass das Wort die Krebsart ist, von der das Menschenwesen befallen ist“ (Lacan 2017a, S. 101 f., Übers. verändert/Lacan 2005a, S. 95). Burroughs’ berühmter Satz „Language is a virus from outer space“ scheint hier nicht weit, doch ist Lacans Satz anders gelagert, denn er sagt nicht Sprache, sondern Wort [parole]. Lacan befindet sich auf der Seite der gehörten und gesprochenen Worte, der tatsächlich ergangenen Rede, des Sagens [dire], wie es in den späten Seminaren oft heißt, und nicht auf der Seite der Sprache als Struktur. Warum also merkt der „Normale“ den Befall vom Wort nicht? Weil sich an der Stelle, an der dieser ungeschützt erfahren wird, keiner freiwillig aufhält; weil, wer es zur Verfügung hat, sich ans Imaginäre hält, Schutzschirme und Abstandhalter aufbaut.
2 Stimme Die folgende Passage entstammt der ersten Sitzung des Joyce-Seminars. Lacan hält hier fest, daß die Triebe das Echo im Körper sind, der Tatsache, daß es ein Sagen gibt. Damit aber dieses Sagen resoniere, damit es konsoniere, […] ist es nötig, daß der Körper sensibel dafür sei. Daß er es ist, das ist eine Tatsache. Weil der Körper einige Öffnungen [orifices] hat, deren wichtigste das Ohr ist, weil es nicht verstopft, nicht geschlossen, nicht zugemacht werden kann. Auf diesem Weg antwortet im Körper das, was ich die Stimme genannt habe. (Lacan 2017a, S. 17, Übers. verändert/Lacan 2005a, S. 17)
Was sagt Lacan hier? Zuerst, dass die Triebe ein Echo im Körper sind und somit nicht selbst Körper, auch keine vom Körper ausgehende Kraft. Auch bei Freud
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ist der Trieb keine aus dem Körper stammende Kraft, sondern eine „Arbeitsanforderung, die dem Seelischen aufgrund seines Zusammenhanges mit dem Körpers auferlegt ist“ (Freud 1991b, S. 214). Aufgrund dieses Zusammenhanges wird der seelische Apparat zum Arbeiten gebracht, es besteht hier eine Spannung, ein konstanter „Drang“, sagt Freud (1991b, S. 214), den Lacan – diese Wendung gibt es bei Freud nicht – darauf bezieht, dass der Körper der Sprache und dem Sprechen ausgesetzt ist. Die Triebe sind gleichsam in den Körper durch seine Löcher „gepflanzt“. Diese Löcherung des Körpers ist das A und O, wie oben gesagt, die Basis, auf der sich die Tatsache des Sagens einnisten kann. Ohne diese offenen Stellen gäbe es keine Resonanz, keinen Widerhall vom Körper her in der Begegnung mit dem Anderen. Freud hatte begonnen, die Randzonen, die die Triebquellen bilden, zu benennen: Mund und Anus für die oralen und analen Triebregungen; Lacan hat diese Reihe um die Lidspalte und das Ohr ergänzt. Entsprechend lässt sich die Reihe der Objekte a mit Brust, Kot, Blick und Stimme angeben. Der Empfang der Sprache, so stellt Lacan 1963 klar, ist nicht an die Stimme gebunden (Lacan 2010, S. 344). Auch Gehörlose oder Taubblinde wie Helen Keller haben Zugang zur Sprache. Sprechen ist eine sprachliche Aktivität neben anderen. Nichtsdestoweniger trägt die Stimme das Sagen und die Sprache in besonderer Weise. Nehmen wir das Zitat erneut auf. Die Stimme als Objekt a wird durch das Ohr geschaffen. Aus diesem Grund spricht Lacan bereits im Seminar über die Angst detailliert über das Ohr (Lacan 2010, S. 344 f./Lacan 2004, S. 317 f.). Er beschreibt dort die physiologische Gestalt des Hörapparates, erläutert dessen Bau mit der Schnecke als Resonator, führt aus, dass er eine Art Röhre bildet, ähnlich einer Flöte, aber doch nicht wirklich einem bekannten Musikinstrument gleichend. Lacans Erläuterungen heben die Komplexität dieses Resonanzkörpers hervor, sie zielen dabei vor allem auf eines: auf das Ohr als organische Gestalt einer Leere. Im Zentrum des Ohres herrscht eine Leere, die die je spezifische Gestalt dieses Ohres trägt. Diese Leere gibt jede Resonanz, die von einer Luftdruckwirkung in ihr erzeugt wird, mit einer Eigenfrequenz wieder, sie drückt ihr ihre Eigenfrequenz auf. Die Vermittlung von eigenem und Fremdkörper geschieht hier real. Lacan zeigt sich sehr an den Details interessiert – bis er dann abbricht und sich, zur Überraschung der Leserin, für den „Umweg“ entschuldigt (Lacan 2010, S. 345). Das Einzige, was er festhält, ist, dass hier eine Art Verwandtschaft vorliegt (vgl. Lacan 2010, S. 345). Eine Verwandtschaft nämlich dieser organischen Leere mit der Leere, um die es geht. Jetzt wird deutlich, worauf Lacan in dieser Passage zugeht: auf die „Leere des Anderen als solchem […], des ex-nihilo im eigentlichen Sinne“ (Lacan 2010, S. 345), die er hier auf das Ohr übertrug. Diese Leere ist eine Setzung, es gibt keinerlei Übergang von der einen zur anderen Leere, es gibt allein die Notwendigkeit der Unterstellung dieser Letzteren für die Existenz von Sprache. „All das hat Nutzen nur als Metapher“, sagt Lacan (Lacan 2010, S. 345). Es bleibt Konstruktion, Mythos – aber an einem Punkt, an dem es überhaupt nichts anderes geben kann als Umschreibungen und Drumherumreden, Mythem oder, was Lacan zunehmend zu schreiben sucht, Mathem.
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Die Luftdruckwirkung, der Schall, formt die Leere, die an diesem Punkt, wenn es um den Anderen geht, Mangel ist, der Mangel des Anderen. Hier überblenden sich der Mangel des Anderen und die Öffnungen des Körpers. Die Öffnungen werden überformt, besetzt, noch einmal gelöchert von der Höhlung des Anderen. Das ist der Eingang der Negation ins Fleisch, von der die Tatsache des Sagens (oder der Sprache, wie es 1963 noch heißt) des parlêtre ausgeht, ausströmt, könnte man sagen. Die Textbewegung ist hier bemerkenswert. Sie hebt an mit einem Appell ans Reale, der sehr weit geführt wird. Die kommentierte Version des Seminars gibt hier sogar eine Abbildung des Innenohres dazu (Lacan o.D., 171). Man könnte glauben, es zu haben: die reale Leere in diesem Detail des Körpers, zum Greifen konkret. Dann aber wird, ohne jede Betonung, jedoch unmissverständlich, dieser Appell aufgegeben. Der Körper fällt. An dieser Stelle, in diesem Moment gibt es wirklich ein Aufblitzen des Realen. Im Zuge seiner Überlegungen bezieht sich Lacan auch auf den Topf (Lacan 2010, S. 345), den er wie das Ohr als eine Verkörperung der Leere begreift. Als vom Menschen erschaffener Gegenstand stellt der Topf die kulturelle Verfertigung solcher Höhlung in besonders elementarer Form dar. Das heißt, hier findet sich die Leere, deren organische Gestalt Lacan am Ohr interessierte, als Ergebnis menschlicher Aktivität. Lacan spricht in diesem Zusammenhang von den „primären trans-spatialen, topologischen Gegebenheiten“ (Lacan 2010, S. 345), und man kann ahnen, dass sich hier 1963 anbahnt, was Lacan später zu seiner intensiven Beschäftigung mit der Topologie führen wird. An ebendieser Stelle wird er einige Jahre später die Klein’sche Flasche hinzuziehen (vgl. Porge 2012, S. 68). Die Herausschälung der Stimme als Objekt a lässt sich nun in drei logische Momente zerlegen. Das erste logische Moment ist dabei nur als nachträgliche Konstruktion zu haben. Es ist das Trauma. Dieses Trauma, so lässt sich jetzt präzisieren, besteht nicht in einem zu starken Geräusch, einer unangenehmen Frequenz oder Ähnlichem, sondern im Hereinsprechen oder besser Hereinplatzen des Anderen in das, was der psychische Apparat des Kindes werden wird. Es geht um die nicht assimilierbare körperliche Fremdeinwirkung des Anderen, um die Höhlung im Psychischen, die hier auf dem Weg durch das Ohr vorgegangen ist. Lacan umkreist hier, wie die grundlegende Negation, auf der alles Sprechen beruht, in den Körper eingeht. Was wir einzig haben – zweites logisches Moment –, ist die Antwort dessen, was Lacan die Stimme nennt, die, halb passiv, halb aktiv als Objekt a hier entstanden sein wird. Es ist die Stimme als Rest, gleichsam als Abfall, aus der Begegnung mit dem Anderen hervorgehend. Lacan interessierte sich in diesem Zusammenhang lebhaft für eine Erscheinung bei Säuglingen, die sogenannten „hypnopompe[n] Monologe“ (Lacan 2010, S. 343), die in einem Vor-sich-hinLallen, einem Echolalie-Reden bestehen, dem Säuglinge sich vor allem am Rand des Schlafzustandes überlassen, wenn sie allein sind. In Absetzung von Piagets Deutung dieser Monologe als „egozentrisches Sprechen“ erhalten sie für Lacan ihr volles Gewicht in dem hier entfalteten Geschehen: Diese Monologe finden am Ort des Anderen statt. Hier tritt die Stimme als Objekt a auf, sie ist wirklich
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Restprodukt der Begegnung mit dem Anderen. Der psychische Apparat des Säuglings führt die Spannungen ab, die er durch das Eingebettetsein im Sprechen der Anderen aufgenommen hat, indem er beginnt, zu formen (aktiv) bzw. auszustoßen (passiv), was die Stimme ist. Es ist die vom Anderen empfangene Stimme – à-phone nennt Porge sie (Porge 2012, S. 66) –, deren Echo hier erklingt. Erst das Echo ist stimmhaft, das ist die Spaltung in diesem Feld. Allein im dritten logischen Moment beginnt die Aktivität in diesem Feld, die freilich immer von den vorangehenden Momenten unterfüttert oder besser: unterhöhlt ist. Bei Lacan heißt es: „Die Stimme antwortet auf das, was gesagt wird, aber sie kann dafür nicht bürgen/einstehen/es nicht verantworten“ (Lacan 2010, S. 345, Übersetzung erweitert M.W.). In der französischen Seminarmitschrift ist der Satz unter Ausnutzung der verschiedenen Bedeutungen von répondre formuliert: „La voix répond à ce qui se dit, mais elle ne peut pas en répondre“ (Lacan 2004, S. 318). Und weiter heißt es: „Autrement dit, pour qu’elle réponde, nous devons incorporer la voix comme l’altérité de ce qui se dit“ (Lacan 2004, S. 318), was sich übersetzen ließe: „Anders gesagt, damit sie bürgt/verantwortet, müssen wir die Stimme als die Alterität/Andersheit dessen, was gesagt wird, einverleiben“ (Lacan 2010, S. 345, Übersetzung erweitert). Die Stimme kommt von außen, vom Anderen her als ein Fremdkörper, und sie wird bei der Hereinnahme in den eigenen Körper nicht assimiliert, sie wird inkorporiert. Das heißt, sie bleibt extim. An dieser Stelle setzt wohl die große Wirkung von Musik an – als Modulation dieser Leere und als Modulation auch der hier sitzenden Angst. Lacan streift dieses Moment, wenn er von der Wirkung des Shofar spricht (vgl. Lacan 2010, S. 347, 303 ff.; Wegener 2017b, S. 30 f.), aber er lehnt es ab, das Feld der Musik zu betreten, für das die Psychoanalyse noch immer so wenig Sinn hat. An dieser Stelle entsteht, damit bleibt sie in ihrem Metier, das, was Freud das Über-Ich genannt hat, jene innere Stimme, das dictum des Subjekts. Die Stimme erhält die Verbindung zum Anderen in besonderer Weise aufrecht. Das ist ihre „phatische Funktion“ (Lacan 2010, S. 345), wie Lacan mit Jakobson sagt und sogleich hinzufügt, dass es hier nicht um Intersubjektivität gehe, sondern um die besagte Verbindung zum großgeschriebenen Anderen. Die Stimme ist der „einzige Zeuge, dass der Ort des Anderen keine Täuschung ist“ (Lacan 2006c, S. 80). Daher ihre herausragende Bedeutung unter den Objekten a. Erst hier, auf der dritten Stufe, sind wir im Feld des Signifikanten. Und es ist deutlich geworden: Dieser installiert sich auf Wegen, die dem Zugriff entzogen sind: „Der Signifikant und mit ihm die Dimension der Wahrheit tritt völlig unkontrolliert und ungeprüft in die Welt“ (Lacan 2010, S. 345 f., Übers. verändert/ Lacan 2004, S. 318 f.). Wahrheit erweist sich immer erst nachträglich – durch ihre „Echos im Realen“ (Lacan 2010, S. 345 f.).
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3 Schrift/Stimme Die Frage, der ich nun nachgehen möchte, lautet: Was gibt es in der Sprache, das zu ihr gehört, aber vor der Dimension des Signifikanten liegt? Was gibt es in ihr, das nah am Körper als Realem ist, als Fleisch? Lacan hat diese Frage zunehmend beschäftigt: eine Schrift, die nicht vom Signifikanten her kommt, das heißt nicht vom System Wort – Bedeutung her und nicht getragen vom differenziellen Schatz der Phoneme. Eine solche Schrift wäre, so Lacan, vom „einzigen Zug“ her entwickelt, von der Kerbe auf dem Knochen als geritzter Differenz. Ihr Träger wäre die unendliche Gerade, Lacan betont deren Zentrumslosigkeit und schreibt sie mit zwei Großbuchstaben, DI für „droite infinie“ (Lacan 2005a, S. 145; vgl. Lacan 2017a, S. 162). Diese Schrift kommt vom Buchstaben her und nicht vom Signifikanten – eine Unterscheidung, die wegweisend wird für Lacan. Der Buchstabe, so lässt sich sagen, hat einen Zug zum Namen, mit dem er den Sinnverlust teilt. Die Namen bilden die Knochen der Sprache, wie die Buchstaben die der Schrift. Eine solche Schrift hat Lacan bei James Joyce gefunden. Joyce’ literarische Texte zeigen eine zunehmend radikale Bearbeitung der Sprache und ihres Materials. Die Sprache wird in der Schrift zerbröselt, zerlegt und neu zusammengeschoben, verkalauert und verballhornt. Joyce arbeitet in Finnegans Wake mit sprachübergreifenden Homophonien und mit der Zersetzung der phonetischen Identität (vgl. Lacan 2017a, S. 103). Sein phonetischer oder, wie Lacan auch schreibt, faunetischer Gebrauch der Sprache (vgl. Lacan 2017a, S. 187; Lacan 2006a, S. 166) kümmert sich nicht um die phonetische Integrität einer Sprache oder auch nur eines Wortes, er stützt sich tatsächlich auf den Buchstaben und damit auf etwas der Sprache „nicht wesentliches“ (Lacan 2017a, S. 187) – „a letter, a litter“ heißt es schon in einer ganz frühen Anspielung auf Joyce, 1955 im Seminar über Poes Purloined Letter (Lacan 1975, S. 24). Was wir, als Leserinnen und Leser, hier einfangen können, ist vor allem die Jouissance des Schreibers, das Spiel mit Lalangue1 als Quelle des Genießens. Das ist, zumindest bis zu einem gewissen Punkt, lesbar. Aber es ist nicht analysierbar. Das Unbewusste kann hier nicht eingefangen werden. Denn Joyce steigt so weit aus der Konvention, dem anerkannten Schatz der Signifikanten aus, dass die Fehlleistungen keine einzelnen Ereignisse mehr sind, von denen aus eine Deutung stattfinden könnte. Dennoch schreibt Joyce auch keinen Buchstabensalat. Er schließt den Sinn keineswegs aus, seine Texte lassen vielmehr eine Überfülle an Sinn zu, sie halten den Sinn als Rätsel gegenwärtig. Die Signifikanten verschwimmen, sie sind entkräftet und überbordend zugleich. Wenn hier ein Unbewusstes berührt wird, dann ist es das des Lesers.
1Der
Neologismus Lacans sei hier mit der Definition Erik Porges gefasst als „das Integral der Äquivoke“ (Lacan 2001a, S. 490), aus denen die Muttersprache genannte Sprache des Subjekts zusammengesetzt ist, die das Funktionieren des Unbewussten sowohl in seinen Schnitzern als auch in seinem Eintauchen in das Genießen des Körpers bestimmt (vgl. Porge 2012, S. 58, Übers. M.W.).
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Joyce, den späten Joyce, lesen heißt, auf eine Art in dieser Überfülle schwimmen, aber es heißt zugleich auch an eine Grenze stoßen: an die Grenze des Sinns, an den toten Buchstaben. Das ist kein Spaß mehr, und das ist auch nicht witzig – oder nur „unausstehlich witzig“, in dem Sinn, in dem Freud die Träumer so nennt, weil sie inmitten des Traummaterials „im Gedränge sind, ihnen der gerade Weg versperrt ist“ (Freud 1986, S. 407). Joyce’ literarisches Schreiben wendet sich an ein Publikum, das bereit ist, sich mit diesem Unausstehlichen zu befassen. Er hatte es dabei, wie Lacan hervorhebt, besonders auf die Akademiker abgesehen, die sich, seinem Wunsch nach, „dreihundert Jahre“ mit ihm beschäftigen mögen (Lacan 2017a, S. 15; vgl. Ellmann 1996, S. 507). Die Aussichten stehen gut, solange die Disziplinen sich als zäh erweisen, Sinn aus seinen Texten herauszuschlagen. „[D]as Leben der Sprache“ (Lacan 2017a, S. 165) liegt im Lapsus, in der Metapher als bedeutungschaffendem Mechanismus des Unbewussten. Lacan sagt das nah an Saussure, der im Cours die syntagmatischen und die assoziativen Beziehungen, sprich: Verkettung und Ersetzung, „für das Leben der Sprache unentbehrlich“ nennt (Saussure 1967, S. 147; vgl. Fehr 1997, S. 171). Aber Lacan weist darauf hin, dass „Leben“ hier etwas gänzlich anderes ist als das Leben des Soma. Denn dieses Leben umfasst, als Teil von ihm, das Tote. Auf dessen Seite steht das Äquivok. Die Äquivoke, die eine Sprache ausmachen, bilden ihr Sediment, so wie es sich über die Zeiten absetzt und bestehen bleibt, ihr Reales. Allein von hier gibt es Berührung des Körpers, und allein hier kann, so Lacan, der Schnitt stattfinden, der das Symptom als Reales trifft, anders gesagt, das Symptom als ein an Lalangue gebundenes Körperereignis. „[L]etztlich haben wir nur dies, das Äquivoke, als Waffe gegen das Sinthom“ (Lacan 2017a, S. 17), sagt Lacan im Joyce-Seminar und setzt damit seine Akzentuierung in der Frage des Deutens (vgl. dazu Wegener 2017a). Was Joyce betrifft, geht es Lacan aber gerade nicht darum, ihn zu deuten, sondern darum zu sehen, wie er, Joyce, sein Sinthom gewebt hat. Den Terminus hat Lacan überhaupt erst ausgehend von seiner Beschäftigung mit Joyce geprägt. Mit seinen Texten, das darf hier nicht übergangen werden, hat Joyce die Öffentlichkeit adressiert. Er schrieb nicht für sich, sondern hat sein Werk im Feld der Literatur zur Anerkennung gebracht und sich darüber einen Namen gemacht – ein Name, der ihn überleben sollte. Joyce ist für Lacan einzigartig darin, bis an eine bestimmte Grenze gegangen zu sein, das Feld der Literatur, ja der Sprache, ausgelotet zu haben bis zu dieser Grenze. „Je suis au bout de l’anglais“, schrieb Joyce an einen Freund, als er mit Finnegans Wake beschäftigt war (nach Ellmann 1996, S. 528). Auf seine Art hat er etwas zu Ende gebracht, er ist bis zum Ende des Traums, der Literatur gegangen. Und eben damit hat er sich, so Lacan, – buchstäblich – auf die Struktur des LOM (Lacan 2001b, S. 565, dt. 2016; vgl. Lacan 2005b, S. 168, dt. 2017b, S. 189) reduziert: LOM, äquivok zu l’homme: der Mensch, aber geschrieben mit dem Minimum der drei Buchstaben. Joyce bzw. sein Werk verkörpert das Sinthom im öffentlichen Raum. Joyce’ Sinthom ist so etwas wie die Essenz, die Abstraktion des Symptoms als solchen.
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4 alibithename Ich möchte diese Zusammenhänge zum Schluss an einem vor einigen Jahren veröffentlichten Textfragment aufzeigen. Der Band Finn’s Hotel – nach dem Hotel, in dem Nora Barnacle arbeitete, als sie James Joyce kennenlernte – versammelt kleine Skizzen aus Joyce’ Nachlass, die nach dem Ulysses und im Vorfeld von Finnegans Wake geschrieben worden sind. In diesen Textstücken sind die Worte und Sätze noch längst nicht so verdichtet und vielsprachig geschichtet wie in Finnegans Wake. Auffällig ist vor allem ihr sprühender Witz. Der darin enthaltene drei Seiten kurzen Text „Issy and the Dragon“ zeichnet so etwas wie ein Kurzporträt ebenjener Issy oder Isolde: eine ebenso frivole wie resolute Frauensperson, die es in schamloser Kühnheit und mit weiblicher Gewitztheit mit dem Drachen aufnimmt. Der Text endet mit dem Gebet, um das es im Folgenden gehen soll. Es ist die Joyce’sche Version, und das wirklich im starken Sinne von Drehung, Torsion, Windung, des Lord’s Prayer oder Pater noster, bzw. die Joyce-Issy’sche Version, wie man sagen sollte, um nicht Joyce und seine Figuren in eins fallen zu lassen, wie Lacan das gerne tut. Das Gebet bleibt im Englischen, aber hier beginnen die Wortverdichtungen, Auslassungen und Entstellungen, von denen es in Finnegans Wake dann wimmelt. Ich gebe es hier in der linken Spalte zuerst im Original, darunter in der deutschen Übersetzung durch Friedhelm Rathjen wieder. In der rechten Spalte zum Vergleich das Lord’s Prayer bzw. Vaterunser in der dieser Bearbeitung zugrunde liegenden Fassung. Der Satz, mit dem Joyce das Gebet ankündigt, lautet: „For her piety every day God sent on the earth her one little prayer, her five seconds’ patternoster night bede and orison, so romped“ (Joyce 2013, n.p.), auf Deutsch: „Wegen ihrer Frömmigkeit schickte Gott jeden Tag ihr einziges kleines Gebet zur Erden hinab, ihre fünfsekündliche patternostrige Nachtandacht und -fürbitte, welche wie folgt getollt“ (Joyce 2014, S. 51):
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Was macht Joyce hier? Dem sei in zwei Schritten nachgegangen. Zunächst macht Joyce das Gebetsmurmeln nach, genauer, er schreibt das Murmeln, mit dem dieses millionenfach wiederholte, abgeschliffene Gebet zumeist gesprochen wird, in den Text selbst hinein. Und man kann sagen, er schreibt damit eine Stimme in den Text, bzw. andersherum, er bannt diese murmelnde Gebetsstimme, die er, wie im Grunde jeder in der christlichen Kultur, im Ohr hat, in den Text. Er bearbeitet, traktiert die Stimme-im-Ohr mit Buchstaben. Joyce schreibt dabei keinerlei phonetische Umschrift, das eben ist entscheidend. Er streicht vielmehr die Buchstaben aus, die die Murmelnde beim Murmeln verschluckt. Er arbeitet mit Elision, Auslassung: „Thy kingdom come / thy will be done“ wird zu „kingcome / illbedone“. Dabei kommt es freilich sofort zu Sinnentstellungen. „will“ wird „ill“. Oder: „on earth, as it is in heaven“ wird zu „nerth tisnevin“. Es lassen sich tatsächlich die einzelnen Buchstaben in der Originalzeile unterstreichen, die Joyce zurückbehält. An dieser Stelle nuschelt sich wahrscheinlich der heilige Kevin mit herein („heaven“/„nevin“), der der Held des vorangehenden Textstückchens war, so die Vermutung des Übersetzers Friedhelm Rathjen, der hier eine beeindruckende Arbeit gemacht hat.2 Joyce lässt zudem neue Buchstaben und Silben in das Gebet hereinfallen, Abwandlungen und Umstellungen. Manchmal ersetzt er ein Wort, wie etwa „temptation“ durch „potatoes“. Er verschiebt so den Text, füllt ihn mit oder lehrt ihn von Sinn bzw. setzt neuen Sinn frei, so wie das auch jede Fehlleistung macht. Diese entstellte Version des Gebets ist ja in der Tat nah an der Fehlleistung gebaut. Wir hören Issys Stimme, die Joyce hier in das Gebet hineinschreibt: Ihre Gebetsunlust und ihre Verführungslust. Das schnelle abendliche Runternuscheln, in das sich
2Mit
herzlichem Dank an Friedhelm Rathjen für diese Auskunft.
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ganz unheilig halbseidene Gedanken einmischen. Deswegen ist die Sache ja so urkomisch. Joyce lässt, so möchte ich sagen und nehme damit die vorangehenden Ausführungen wieder auf, unter dem Phonetischen die Buchstaben wandern. Er arbeitet mit der Lücke zwischen Buchstaben und Phonem, mit der Ambiguität des Buchstabens. Als extremstes Beispiel zitiert Lacan in seinem Vortrag „Joyce le Symptôme“ vom Juni 1975 den Satz aus Finnegans Wake: „Who ails tongue coddeau a space of dumbillsilly?“ (Lacan 2017b, S. 187) Er funktioniert allein geschrieben, nur vom Buchstaben her, denn der Witz liegt darin, in diesem Satz einen anderen zu erkennen, der sich ergibt, wenn die englisch erscheinende Wortfolge französisch gelesen wird: „Où est ton cadeau, espèce d’imbecile? […] Deutsch: Wo ist dein Geschenk, du Blödmann?“ (Lacan 2017b, S. 187) Im Unterschied zum Gebet ist hier allerdings die Sprachenmischung konstitutiv. Lacan kommentiert: Das Faunetische der Sache beruht völlig auf dem Buchstaben, also auf etwas, das der Sprache nicht wesentlich ist, etwas, das durch die Zufälle der Geschichte geflochten wurde. Dass jemand einen so erstaunlichen Gebrauch davon macht, ist an sich eine Befragung dessen, was es mit der Sprache auf sich hat. (Lacan 2017b, S. 187, Übers. verändert/Lacan 2005b, S. 166)
Für Lacan ist Joyce der, der die Befragung der Sprache und damit die Sprache selbst an einen äußersten Rand getrieben hat. Zum Verhältnis von Buchstabe und Phonem sei an dieser Stelle ein kleiner Exkurs eingeschoben. Über Ferdinand de Saussures Phonozentrismus ist viel geschrieben worden, und es hat sich darüber ein Urteil eingebürgert, das es wohl lohnt in der Schwebe zu halten. Hier sei nur auf eine Passage hingewiesen, in der Saussure mit der Schwierigkeit dieses Verhältnisses beschäftigt ist und von ihm ausgehend zu einer Formulierung kommt, die durchaus erstaunlich und auch nicht ohne Witz ist. Saussure sucht in dieser Passage des Cours nach den kleinsten konkreten Elementen der Sprache. Er kritisiert die Phonologen dafür, dass sie sich viel zu viel mit einzelnen Phonemen beschäftigen und darüber vernachlässigen, dass Phoneme im Sprechen immer als Reihung, nur in Phonemgruppen auftreten. Hier ist der Körper im Spiel, denn „es liegt nicht stets in unserer Macht, das auszusprechen, was wir wollen“ (Saussure 1967, S. 583): Physiologisch sind nicht alle Lautfolgen sprechbar. Die Zunge setzt dem eine Grenze, die zwar flexibel ist, aber doch nicht unendlich dehnbar. Jede/r kennt Zungenbrecher. Das Sprechen verlangt grundsätzlich, dass der Mund sich abwechselnd öffnet und schließt. Die zugehörigen Termini der Phonetik, Explosion und Implosion, erläutert Saussure an der Phonemgruppe „appa“: Das erste p ist implosiv – ap –, hier wird der Mund geschlossen, das zweite explosiv – pa –, der Mund öffnet sich (vgl. Saussure 1967,
3Die
von Tullio de Mauro erstellte kritische Ausgabe des Cours de linguistique générale (Saussure 1995, S. 78–86) bestätigt die folgenden nach der deutschen Standardausgabe zitierten Passagen.
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S. 59). Die Reihung der Phoneme beim Sprechen, das heißt die physiologische Reihe, so hält der Cours fest, „ist charakterisiert durch eine Aufeinanderfolge abgestufter explosiver und implosiver Verbindungen, die korrespondieren mit einer Aufeinanderfolge von Öffnungen und Schließungen der Mundorgane“ (Saussure 1967, S. 66). In seinem Bestreben, die wirklichen und konkreten kleinsten Elemente der Sprache zu isolieren, scheidet Saussure den Buchstaben aus: Denn der Buchstabe ist ambig. Wie er in seinem Beispiel anhand von appa – diesem anagrammatischen Papa – zeigt, teilt sich der Buchstabe P in die explosiven pas und die implosiven aps. Erst sie begrüßt Saussure als die ersten „konkrete[n] Elemente, die nicht auflösbar sind, die einen Platz einnehmen und einen Zeitteil darstellen in der gesprochenen Reihe“ (Saussure 1967, S. 62), wobei es Saussure letztlich auf das Hören, nicht auf die Artikulation ankommt, auf die „Elemente, die ins Ohr fallen“ (Saussure 1967, S. 63). Der Buchstabe P, aufgrund seiner Ambiguität, erreicht diese Konkretion nicht. Von ihm könne man nur als einer Abstraktion, einer Klasse sprechen. Saussure sagt dies mit folgendem bemerkenswerten Satz: „Man spricht von P, wie man von einer zoologischen Spezies sprechen könnte: es gibt männliche und weibliche Exemplare, aber kein ideales Exemplar der Spezies“ (Saussure 1967, S. 62). Nichts zuvor hatte dieses plötzliche Auftauchen des Geschlechtsunterschiedes angekündigt. Der Buchstabe P ist nicht konkret für Saussure, weil er nicht geschlechtlich spezifiziert ist. Ich komme zum zweiten Schritt meines Kommentars der Joyce’schen Version des Pater noster. Das Gebet, das Joyce hier bearbeitet, ist immerhin kein beliebiges, sondern das berühmteste Gebet des Christentums und außerdem eine direkte Anrede von Gottvater. Joyce lässt es ganz konsequent vom Anderen herkommen: „God sent on the earth her one little prayer“ (Joyce 2013, n.p.). Die Worte kommen nicht von der Betenden selbst. In der Tat ist das Vaterunser ja ein vorformuliertes Gebet der Heiligen Schrift. Jesus gab es seinen Jüngern, die Bibel gibt es den Betenden (Matthäus 6, 9–13, Lukas 11, 1–4). Die Worte kommen von außen, von anderswoher, vom Anderen. Aber Joyce hat das – vor dem Hintergrund der aufgezwungenen Worte – vielleicht besser gewusst als irgendjemand sonst. Wenn Lacans Behauptung stimmt, dass Joyce von der Erfahrung aufgezwungener Worte gepeinigt war, dann muss man diese Dimension hier mithören. Issy/Joyce bekommt das Gebet geschickt. Es ist Gottvaters Stimme, die sich ihm/ihr darin aufdrängt. Aber in Joyce’ Version redet eben Joyce ein wenig mit. Das ist seine Art, sich der aufgezwungenen Worte zu erwehren. Und jetzt bin ich geneigt zu sagen, dass es wirklich Joyce ist, der hier durch seine Figur Issy hindurch spricht. Das Erste, das die Richtung des Textes sofort, gleich in der ersten Zeile, ändert, ist, dass der Vater ausfällt: Aus „Our Father which art in heaven“ wird „Howfar wartnevin“. „How far“: „father“ ist zu „far“ geworden – das Wort Vater kommt nicht mehr vor. Die Karenz des Vaters, unter der Joyce gelitten hat, schreibt sich direkt in das Gebet. Und dann kommt die Zeile, derentwegen dieses Joyce’sche Pater noster nicht nur witzig ist, sondern höchst bemerkenswert: „alibithename“ schreibt
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Joyce, wo im Original steht: „Hallowed be thy name“. Anders als der Vater ist die Rede vom Namen durchaus in die Joyce’sche Version mit herübergekommen. Aber wo die Bibel den Namen heiligt, ist der Name bei Joyce nun am Platz des Alibis, an einem anderen Ort. Er wird, so könnte man sagen, dort neu errichtet, ganz so, wie sich einer ein Alibi verschafft, um an einem anderen Ort in Erscheinung zu treten, als dem des inkriminierten Geschehens. Alibithename – ist das nicht eine ziemlich gute Art zu sagen, was Joyce mit seiner Kunst geschaffen hat? Nicht: Lobpreisung des Namens, sondern: ein Alibi für den Namen des Vaters, einen Ersatz, eine Ersatzkonstruktion. Joyce hat mit seiner Literatur, die die Sprache und die Sprachen auf eine nie dagewesene Weise aufgebrochen, ineinandergeschoben und ausgelotet hat, den fehlenden Namen an einem anderen Ort (al ibi: anderer Ort) wieder aufgerichtet: im eigenen Namen.
5 Schlussbemerkung Die Psychoanalyse in ihrer indirekten Herangehensweise, mit der sie den Körper durch das Sprechen berührt, hat auf eine Art wirklich nicht viel über den Körper zu sagen. Sie hat, wie jedermann, Erfahrung mit dem Eindruck, den die Erscheinung des Körpers auf die Subjekte macht – so sehr, dass ihnen entgeht, dass er als genießende Substanz ihr Sprechen trägt. Selbstredend merken die Sprechwesen, dass sie einen Körper haben, und sie merken auch, dass ihnen dieses Haben keine Verfügungsmacht verleiht. Dass sie mit ihm sprechen und denken, ist dem Zugriff allerdings auf komplexere Weise entzogen. „Psyche ist ausgedehnt, weiß nichts davon“ (Freud 1993, S. 152). Hier liegt der Einsatzpunkt der Psychoanalyse, die es damit zu tun hat, dass der Körper vom Sprechen und der Sprache immer schon gelöchert ist und mit den Spuren, die die Subjekte davon zurückbehalten haben, buchstäblich, befasst ist. Sie bleibt auf der Seite des Sprechens, aber sie umkreist die Stimme als Verlustprodukt aus dem Einschlag des Anderen, als Andersheit des Sagens. Joyce’ späte Texte sind auf bemerkenswerte Weise aus der Äquivozität herausgearbeitet, aus der „Torsion der Stimme“ (Lacan 2017a, S. 102, Übers. verändert). Diese Bearbeitung der Stimme durch Joyce – um ihr zu entkommen oder um sie zu genießen, das lässt sich hier nicht klar trennen (vgl. Lacan 2017a, S. 104) – hat literarische Texte hervorgebracht, die die Leser in der Schrift auf etwas vom Realen des Körpers stoßen lassen. Dafür brach Joyce die phonetische Identität der Sprachen, in denen er schrieb, weit auf, so weit, dass er bis an die Grenze ihrer Zerstörung ging. „Ich habe die Sprache schlafen gelegt“, sagte er einmal über seine Arbeit an Finnegans Wake. „Da ich von der Nacht schreibe, konnte ich – und fühlte es so – die Wörter nicht in ihren üblichen Zusammenhängen gebrauchen.“ Wie zum Trost schließt er dann aber: „Wenn der Morgen anbricht, wird natürlich alles wieder deutlich werden … Ich werde ihnen die englische Sprache zurückgeben. Ich zerstöre sie nicht auf immer“ (zit. nach Ellmann 1996, S. 528).
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Philosophische Anmerkungen zu Lacans Körper-Begriff Wolfram Bergande
Man weiß nicht, was das ist, ein lebendiger Körper. Das ist eine Angelegenheit, bei der wir uns auf Gott verlassen. (Lacan 1976 [08.03.1977], S. 99)* Nun ist aber alles, was, bis in die Gegenwart, als Wissenschaft auftritt, von der Idee Gottes [l’idée de Dieu] abhängig. Die Wissenschaft und die Religion passen sehr gut zusammen. Es ist ein Theo-lirium [Dieu-lire]! (Lacan 1976 [17.05.1977], S. 130)
Zusammenfassung
Körperlichkeit im alltäglichen Sinn oder im phänomenologischen ist in Lacans psychoanalytischer Theorie von untergeordneter Bedeutung. Sie wird als imaginär erlebt und gründet in einem psychisch Realen, dem sich Lacan in seinen späten Seminaren mithilfe geometrisch-topologischer Metaphern wie dem Borromäischen Knoten nähert. Dieses Reale ist auch auf der Theorieebene eingestandenermaßen symptomatisch und genauso wie das Unbewusste nicht abschließend objektivierbar, sein Status daher ethisch und nicht mathematisch. Der menschliche Körper als solcher ist in Lacans psychoanalytischer Theorie des Subjekts so gut wie irrelevant, insbesondere – aber nicht nur – wenn man von den späten Seminaren XXII bis XXV her urteilt. Leiblichkeit, die von
*Hier
und im Folgenden sind alle Übersetzungen von mir, W. B., soweit nicht anders vermerkt
W. Bergande (*) Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 U. Kadi und G. Unterthurner (Hrsg.), Macht – Knoten – Fleisch, Abhandlungen zur Philosophie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04957-5_11
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Phänomenologen als evident beschriebene Empfindung, seinen Körper zu haben oder ein Körper zu sein, also das propriozeptiv spürbare Zusammenbestehen (die „Konsistenz“) einer „Menge von Organen“ in einem „Sack“ aus „Haut“ (Lacan 1975b [13.01.1976], S. 50 f.), ist für Lacan keine unmittelbar gegebene Tatsache, sondern „imaginärer“ (Lacan 1974 [10.12.1974], S. 4; [08.04.1975], S. 144) Aspekt einer Freud’schen „psychischen Realität“ (Lacan 1974 [14.01.1975], S. 41) und damit etwas, das sich nur allzu schnell verflüchtigt, etwa in Momenten des Unheimlichen oder des (Prä-)Psychotischen. In Seminar XXIII Le sinthome (1975–1976) sagt Lacan dazu: „Das ‚Sprechwesen‘ [parlêtre] betet seinen Körper an. Es betet ihn an. Weil es ihn zu haben glaubt. In Wirklichkeit hat es ihn nicht, vielmehr ist sein Körper seine einzige Konsistenz, mentale [Konsistenz] wohlgemerkt. Sein Körper verdünnisiert sich [fout le camp] in jedem Moment. Es ist schon wunderlich genug, dass er eine Zeit lang bestehen bleibt“ (Lacan 1975b [13.01.1976], S. 51). Das, worum es der Psychoanalyse gehen muss, das Subjekt des Unbewussten, wird gerade verfehlt, wenn es, so Lacan, von den „Beziehungen des Menschen zu seinem Körper“ her gedacht wird, denn das heißt, „schon indem man sagt ‚sein‘, […] dass er ihn besitzt, dass er ihn besitzt wie ein Möbelstück, wohlgemerkt, und dass das aber auch gar nichts mit dem zu tun hat, was erlaubt, das Subjekt strikt zu definieren. Das Subjekt definiert sich auf korrekte Weise nur darüber […], dass ein Subjekt ein Signifikant ist, insofern es gegenüber einem anderen Signifikanten repräsentiert ist“ (Lacan 1975b [13.04.1976], S. 166). Und das „Unbewusste ex-sistiert aus dem Körper heraus [ex-siste au corps]“, wie es in Seminar XXII R.S.I. (1974–1975) heißt, nicht im Körper, sondern „im dis-corps“, also einer Mischung aus Diskurs (discours), Körper (corps) und Verstimmung, denn es ist „discordant“ (Lacan 1974 [20.01.1975], S. 51), und das heißt laut Lacan insbesondere, dass es sich nicht in eine „ideelle Konsistenz des Körpers“ fügt, ob diese nun platonisch oder genetisch verstanden wird (Lacan 1974 [11.03.1975], S. 115). Ebenso hat auch der psychoanalytische Begriff des „Unbewussten“, im Gegensatz zum philosophischen, „nichts mit der Tatsache zu tun, dass man eine Menge Sachen, die den eigenen Körper betreffen, nicht weiß“ (Lacan 1974, S. 161). Der Primat der Signifikanten gegenüber dem Körper ist dabei so maßgeblich und weitreichend, dass auch intensive körperliche Erregung und Lust wie die beim Geschlechtsverkehr nur dadurch zustande kommen, dass „die Signifikanten allein unter sich im Unbewussten kopulieren“; nur durch die signifikante Einschreibung der Körper, das heißt zum Beispiel durch so etwas wie einen „standesamtlichen Eintrag [écrit d’état civil]“, werden dann auch die „Subjekte, die in der Form von Körpern daraus resultieren, dazu gebracht, mein Gott, dasselbe zu tun: Vögeln nennen sie das“ (Lacan 1974 [11.03.1975], S. 122). Affekte wie Liebe und Hass, die durch diese Körper hindurchgehen, sind zwar alles andere als nebensächlich, aber auch für den späten Lacan ist es eben immer noch primär die „Sprache, von der wir nachweislich und auf eine durch und durch maßgebliche Weise affiziert
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sind“ (Lacan 1974 [17.12.1974], S. 27). Zwar gibt es für Lacan „ein Genießen NUR des Körpers“ (Lacan 1966a [31.05.1967], S. 278) und daher für die von ihm grundsätzlich vertretene materialistische Ethik kein wie auch immer geartetes metaphysisches Genießen. Dennoch ist, wie der Fall des Senatspräsidenten Schreber gezeigt habe, „ein sexuelles Verhältnis [rapport sexuel] nur mit Gott“ möglich (Lacan 1974 [08.04.1975], S. 158), wie Lacan es pointiert ausdrückt. Denn an der Wurzel der Subjektivierung, die den Zugang zum eigenen wie zum fremden Körper allererst eröffnet, liegt die Identifizierung mit dem absoluten Einen des Monotheismus, dem mythischen ermordeten Urhordenvater aus Freuds Totem und Tabu. In der Identifizierung wird er, das heißt sein Signifikant, „symbolisch“ einverleibt (introjiziert) (Lacan 1975a, S. 97). Um demgegenüber einen Körper „als solchen zu genießen“, physisch unmittelbar und quasi diesseits der Ordnung der Signifikanten, müsste er „zerstückelt“ (Lacan 1974 [11.03.1975], S. 122) werden, also erst aus der imaginär1 erlebten Konsistenz des Organismus herausgelöst werden, wodurch er freilich zum Partialobjekt zugerichtet und entsubjektiviert würde. Nicht einmal als Resonanzraum für die graphische oder lautliche Materialität der Signifikanten hat der menschliche Körper bei Lacan ein besonderes Interesse, denn zwischen Körper und Sprache tritt nach Lacan das „Reale“ als „ein Drittes“, das diese „Konsonanz“ oder eben „(Un-)Stimmigkeit [accord / a-corps]“ zwischen beiden allererst begründet (Lacan 1975b [09.12.1975], S. 44). Und selbst „lalangue“ (Lacan 1975b [20.01.1976], S. 61), das heißt der Begriff eines Sprachgebrauchs, der wie durch Mechanismen der Traumarbeit entstellt ist, führt analytisch nicht wirklich weiter, ein Begriff, mit dem es Lacan unternimmt, die materiellen, das heißt eigentlich körperlichen, Resonanz-, Kontaminationsund Spiegeleffekte der Laut- und Schriftgestalt von Signifikanten zu fassen. Solch eine Privatsprache – ob poetisch oder psychotisch oder ‚semiotisch‘ (J. Kristeva) –, die Lacan bekanntlich zeitweise unter dem Eindruck von James Joyce’ Finnegans Wake erprobt hat, verwirft er in Seminar XXIV L’insu que sait … wieder als bloßen „Schein von Metasprache [semblant de métalangage]“ (Lacan 1976 [08.03.1977], S. 95), und zwar unter ausdrücklichem Verweis auf seinen Text „L’étourdit“ aus dem Jahr 1973, wo er die Unmöglichkeit einer Metasprache zum wiederholten Male bekräftigt (Lacan 2001, S. 450). Lacan verwirft lalangue, und dabei bleibt es, selbst wenn er im selben Moment mit der Lautgestalt von ‚Schein‘ („s’emblant“, Lacan 1976 [08.03.1977], S. 95) zu spielen beginnt, und zwar indem er die irreduzible Selbstreflexivität (frz. se – sich) und Sinnbildlichkeit (frz. emblème – Emblem) des Sprechens betont, also wiederum eine neue Metaebene oder vielmehr Unterebene der lalangue eröffnet. Und natürlich zeitigt eine Verwerfung (forclusion) – die übrigens nicht auf den Namen-des-Vaters beschränkt, sondern „etwas Radikaleres“ (Lacan 1975b [16.03.1976], S. 131) ist – in der Regel Symptome. In erkenntnistheoretischer Hinsicht jedenfalls ist lalangue
1Der Körper und die Körperlichkeit fallen nach Lacan komplett in den Bereich des Imaginären (vgl. Lacan 1974 [10.12.1974], S. 4); das „Imaginäre“ ist schlicht und einfach das „Imaginäre des Körpers“ (Lacan 1974 [08.04.1975], S. 144).
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(z. B. in Werken von James Joyce2) wie die Grundsprache des Senatspräsidenten Schreber zu beurteilen oder wie Richard Wagners Vertiefung in deutsche Wortstämme oder Martin Heideggers etymologisierende Kunstsprache: als eben nur „fast“ (Lacan 1976 [08.03.1977], S. 95) gelungener Versuch, die Dynamik des Symbolischen in einer Metasprache stillzustellen.
1 ‚Das kalte Feuer des Realen‘ Um von der imaginär erlebten Konsistenz des körperlichen Organismus, die im frühkindlichen Spiegelstadium zum (Körper-)Ich wird, Rechenschaft zu geben, spitzt Lacan in den späten Seminaren seinen Begriff des „Realen [Réel]“ (Lacan 1974 [14.01.1975], S. 40) zu einem metapsychologischen ‚Grenzbegriff‘ (Lacan 1975b [16.12.1975], S. 33 f.) zu. Lacans ‚Reales‘ hat dabei weder etwas mit Realität im Sinne von Freuds „Realitätsprinzip*“3 (Lacan 1975b, S. 33 f.) zu tun noch mit der phänomenologischen Lebenswelt noch auch mit der dreidimensionalen Alltagswelt der physikalisch messbaren Objekte. Vielmehr ist es von Freuds Begriff der psychischen Realität abgeleitet. Und die benennt eine traumatische Art von Wirklichkeit, deren Realität bzw. Historizität unentscheidbar und für die Therapie sogar ohne Belang sein kann – weswegen Lacan übrigens an einer Stelle die Geschichte (im Sinne von Historiographie) „das größte der Phantasmen“ nennt (Lacan 1975b [16.03.1976], S. 134). Die Konsistenz des Körpers ist für Lacan nun zwar imaginär, was die Binnenperspektive des Subjekts betrifft, doch metapsychologisch betrachtet ist sie psychisch-real im Sinne Freuds. Lacan konstruiert sie bekanntlich mithilfe eines topologischen Diagramms, nämlich mithilfe der drei Ringe des Borromäischen Knotens, die wiederum die drei ineinander verschränkten Dimensionen der Subjektivität symbolisieren: Reales, Symbolisches und Imaginäres, ergänzt durch das Symptom (sinthome) bzw. den/das Namen/Nein-des-Vaters (Nom/ndu-Père). Die imaginäre Konsistenz des Körpers gründet also in der psychischrealen Konsistenz bzw. ‚Verknotung‘ dieser drei subjektiven Dimensionen. Und diese psychisch-reale Verknotung ist auch genau das, an dessen Entwirrung die Psychoanalyse arbeitet bzw. laboriert. Sie ist laut Lacan psychisch-real, obwohl der Borromäische Knoten als solcher, nämlich als diagrammatische Darstellung, dem vorstellenden Denken zuzuordnen ist und deshalb dem Imaginären. Das Imaginäre wiederum funktioniert nicht „ohne Worte“ (Lacan 1975b [17.02.1976], S. 101 f.), es untersteht somit grundsätzlich dem Primat des Symbolischen; demgegenüber haben Diagramme und andere Matheme den entscheidenden Vorzug, die irreführende „Imaginarität [imaginarité]“ des leiblichen Körpers zu reduzieren, weshalb die „Topologie“ so viel „gilt wie ein Körper“
2Vgl. 3*Im
Lacan (1975b [20.01.1976], S. 61). Original deutsch.
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(Lacan 1974 [18.03.1975], S. 141). Für Lacan setzt sie somit im Grunde die von Freud bekannten schematischen Darstellungen der Topik der Psyche mit anderen Mitteln fort (Lacan 1974 [10.12.1974], S. 1 f.). Sie führt damit auch die transzendentale Ästhetik der Philosophie auf eine „mathematische Konstruktion [construction mathématique]“ (Lacan 1974 [18.03.1975], S. 141) zurück, zum Beispiel eben in Form von topologischen Knoten. Die psychische Realität der Verknotung ist der Grund, warum es Lacan in den Seminaren XXII und XXIII wiederholt ablehnt, vom Borromäischen Knoten als einem „Modell“ zu sprechen (Lacan 1974 [17.12.1974], S. 16 f.; [18.03.1975], S. 142; [09.12.1975], S. 45) oder einer „Repräsentation“ (Lacan 1974 [15.04.1975], S. 170). Denn einerseits widersetzt sich wie gesagt das metapsychologisch Reale, das „in“ ihm „ek-sistiert [ex-siste]“ (Lacan 1975b [13.01.1976], S. 52), der Vorstellbarkeit, genauso wie sich dieses ‚in‘ der Vorstellung eines Worin widersetzt. Andererseits ist der Knoten so etwas wie der „Träger [support]“ (Lacan 1975b, S. 52) des Realen, ‚Träger‘ freilich in dem ‚übertragenen‘, metaphorischen Sinn, in dem mathematische Symbole („l’écriture […] des petites lettres mathématiques“, Lacan 1975b [13.01.1976], S. 54) unanschauliche, nichtvorstellbare Realitäten ‚tragen‘, nämlich darstellbar, beschreibbar und berechenbar machen, zum Beispiel reelle (und zugleich irrationale) Zahlen, insofern sie unendlich und zu allen anderen Größen inkommensurabel sind. Somit hat der Knoten zwar im binnensubjektiv erlebten Mentalen genauso „eine Tragweite“ (Lacan 1974 [18.03.1975], S. 142) wie im psychisch Realen. Doch das kann offenbar nicht so verstanden werden, dass Symbol und Reales dabei ineinanderfallen, Träger und Getragenes identisch sind, etwa wie im Realsymbol der christlichen Theologie, auch wenn es vereinzelte Stellen gibt, an denen Lacan mit der tradierten Symbolik und Begrifflichkeit des Katholizismus zu kokettieren scheint und damit solch einer Lesart einen gewissen Vorschub leistet.4 Denn der Konsistenz des Knotens als Träger des Realen eignet, so Lacan, etwas grundsätzlich Metaphorisches und damit etwas Erratisches, das metapsychologisch unaufgelöst ist und das verhindert, dass eine bestimmte Metapher oder das Metaphorische als solches verabsolutiert würden. Zwar verbindet die drei Ringe des Knotens eine, so Lacan, „pure Konsistenz“, doch das Metaphorische daran bleibt: „Die drei halten unter sich real [réellement] zusammen. Was trotz allem die Metapher impliziert und was die Frage aufwirft, welches das ‚Irr‘ [erre] der Metapher ist“ (Lacan 1974 [17.12.1974], S. 17). Mit dem Körper als solchem jedenfalls hat der Borromäische Knoten, Lacans Paradebeispiel metapsychologischer Symbolisierung, nichts zu tun: „Es gibt keine Affinität zwischen Körper und Knoten […]“ (Lacan 1975b [13.01.1976], S. 52). Und zwar eben deshalb, weil das Reale, das er symbolisiert bzw. ‚trägt‘, selbst etwas ist, das – im Gegensatz zum Begriff des Unbewussten – „ohne Beziehung
4Zum Beispiel das Motiv des Kreuzes im Kreis bei James Joyce (Lacan 1974 [08.04.1975], S. 144) oder sein Interesse an der Dreieinigkeit als transgenerationales Prinzip der Filiation in Augustinus’ Confessiones und Richard de St. Viktors De trinitate.
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auf den Körper“ (Lacan 1975b [13.04.1976], S. 149) gedacht werden kann, also zumindest teilweise gedacht werden muss ohne Beziehung auf den Körper.5 Das Reale ist bei all dem wie gesagt ein metapsychologischer Grenzbegriff, den Lacan meist nur negativ definiert. Es sei das, was nicht von der Idee, die das Subjekt von ihm habe, abhänge; das, was immer wieder auf denselben Platz zurückkehre (Lacan 1973 [23.04.1974], S. 146). Vor allem hat es „einen traumatischen Wert“ (Lacan 1975b [13.04.1976], S. 143), der folglich ebenfalls zumindest teilweise genuin psychisch und nicht körperlichen Ursprungs sein muss. Weiterhin ist das Reale „ohne Gesetz“ (Lacan 1975b, S. 151), gemeint ist wohl: Es situiert sich diesseits der symbolischen Ordnung. Es ist nicht nur „unmöglich“ (Lacan 1974 [17.12.1974], S. 25) im Sinne von „strikt undenkbar“ (Lacan 1974 [10.12.1974], S. 3 f.), sondern soll sogar das sein, was die „Kategorie des Unmöglichen als solche einführt“ (Lacan 1974 [17.12.1974], S. 25), ob das nun streng transzendentallogisch zu verstehen ist oder zumindest subjektivitätslogisch. Damit ist es das begriffliche Pendant zu dem „Einen [Un]“, der oder das laut Lacan die logische Kategorie der Notwendigkeit begründet (Lacan 1971 [01.06.1972], S. 123; vgl. Bergande 2012b, S. 332 f.). Genauso wie lalangue letztlich auf die mythische Gesamtheit aller Frauen aus Freuds Totem und Tabu verweist (Lacan 1975b [09.03.1976], S. 123), verweist dieser oder dieses Eine, den bzw. das Lacan offenbar in Anlehnung an den jüdischen JHWE (frz. Yahvé) häufig als „Y’a de l’Un“ (Lacan 1975b [13.04.1976], S. 151; vgl. Lacan 1975b [13.01.1976], S. 50) apostrophiert, auf den bei Freud ebenso mythisch eingeführten Urhordenvater, der diese Gesamt-„Menge der Frauen“ (Lacan 1975b [09.03.1976], S. 123) sexuell genießt. Trotz aller Matheme, Diagramme und ‚Topologerien‘ (Nasio 1987, S. 149 ff.), die Lacan über die Jahre hinweg entwickelt, bleibt seine Theorie also eingerahmt in eine Mytho-Logik (vgl. Bergande 2007; Bergande 2012b), die modallogisch zwischen einer väterlich imaginierten Notwendigkeit und einer mütterlich imaginierten Unmöglichkeit operiert. Und genauso wie lalangue keine Metasprache bildet, und sei es eine poetische, kann der oder das Eine nicht mathematisch verstanden werden, weder algebraisch noch geometrisch (topologisch), sondern allenfalls transzendentaloder subjektivierungslogisch. Auf eine etwas spöttisch anmutende Frage aus seinem Auditorium, ob denn nicht das Unmögliche (frz. l’impossible) und der oder das Eine (frz. l’Un) in einem Grundbegriff wie „Ein-möglich [Un-possible]“ (Lacan 1975b [13.04.1976], S. 151) verschmolzen werden könnten, wie um einen mytho-logischen Schlussstein zu setzen, entgegnet Lacan in Seminar XXIII, dass er alles andere als erpicht sei auf sprachliche „Zweideutigkeiten“ à la lalangue; ganz im Gegenteil nimmt er für sich in Anspruch, an ihrer analytischen Aufklärung zu arbeiten: „Ich demystifiziere sie. ‚Es gibt Einen‘ [Il y a de l’Un], es ist sicher, dass mich dieser Eine stark in Verlegenheit bringt. Ich weiß nichts
5Bei
einer späteren Gelegenheit, in Seminar XXIV, diskutiert Lacan allerdings die Möglichkeit, „dass das Reale ganz speziell vom Körper abhängen würde“ (Lacan 1976 [11.01.1977], S. 60).
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damit anzufangen, da, wie jeder weiß, der Eine keine Zahl ist und ich es sogar bei Gelegenheit unterstreiche“ (Lacan 1975b, S. 151). Und tatsächlich ist es auch für den späten Lacan keine mathematische oder symbolische Realität, sondern der Inzestwunsch gegenüber der Mutter bzw. das Inzestverbot des Vaters, also der Ödipuskomplex, worin die Freud’sche psychische Realität gründet und damit auch die reale Konsistenz des Borromäischen Knotens sowie die imaginäre des Körpers: „Das, was er [Freud] die psychische Realität nennt, hat einen ganz genauen Namen, es ist das, was sich Ödipuskomplex nennt“ (Lacan 1974 [14.01.1975], S. 43). Dieses ‚ein-mögliche‘ Inzestuöse des Ödipuskomplexes, das „kalte Feuer des Realen“, wie Lacan es in Seminar XXXIII einmal nennt (Lacan 1975b [16.03.1976], S. 131), ist die unaufgelöste Ultima Ratio des Subjekts wie auch des subjektivierten Körpers.
2 Lacans Symptom Bleibt die Frage, welchen ontologischen Status dieses psychisch Reale hat. Ist es Teil des Realen verstanden als Kosmos oder Universum, wie er bzw. es von den Naturwissenschaften, insbesondere der Physik, beschrieben wird? Oder benennt das psychisch Reale doch ein lebensweltlich nicht ableitbares metapsychologisches, also streng genommen metaphysisches oder zumindest innerweltlich-transzendentes Prinzip? Der logisch vorauszusetzende – väterliche, monotheistische – Eine ist jedenfalls nicht damit gemeint: „Es gibt Einen [Il y’a de l’Un], aber man weiß nicht wo. Es ist mehr als unwahrscheinlich, dass dieser Eine [Un] das Universum [l’Univers] konstituiert“ (Lacan 1975b [13.01.1976], S. 50). Lacan näherte sich diesen Fragen bereits in früheren Seminaren. Einerseits ist das psychisch Reale offensichtlich die Ursache dafür, dass das Subjekt des Unbewussten „akosmisch“ (Lacan 1964a [16.12.1964], S. 44) ist im Sinne von atopisch, dass es ein, wie es schon in einem früheren Seminar, Seminar VII, heißt, „inkommensurables Maß, ein unendliches Maß“ (Lacan 1986, S. 364) ist, das eine vorgestellte harmonische Wohlgeordnetheit der Welt sprengt, nämlich an erster Stelle den vermeintlichen „Parallelismus zwischen Subjekt und Kosmos, der es umschließt und aus dem Subjekt Psyche, Psychologie, Mikrokosmos macht“ (Lacan 1964b [16.12.1964], S. 52), so Lacan in Seminar XII. Eine Ableitung oder auch nur Anlehnung der Psychoanalyse an einen sei es szientistischen, spekulativen (post-deleuzianischen) oder spiritualistischen Rationalismus ist daher nach Lacan nicht möglich.6 Für Freud hat das Universum ein Loch, wie Lacan ein-
6In
diesem Sinne berief sich zum Beispiel während des Zweiten Weltkriegs die offensichtlich NS-affine Psychologin Ilse Döhl auf die „analytische Psychologie von Leibniz“ (Döhl 1941, S. 19) und seinen Begriff des Unbewussten: „So wie Leibniz als Metaphysiker mit seinem dynamischen Bild der Weltordnung (prästabilierte Harmonie) die Unräumlichkeit des nach kosmischen Gesetzen der Determinierung und ihres ‚Mechanismus‘ aus Zielursachen und Wirkungsursachen wirkenden Funktionsschichtengebildes der Seele erkannt hat, so hat er zugleich als Empiriker die theoretisch einwandfrei begründete praktisch anwendbare Seelenlehre
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mal lakonisch bemerkt, ein Loch, das weder mit dem Tod noch mit einer Körperöffnung in Verbindung zu bringen sei; der Borromäische Knoten sei eine Antwort darauf (Lacan 1975b [08.04.1975], S. 154 ff.). Andererseits kann dieser Bruch zwischen Kosmos und Subjektivität – den Lacan an dieser Stelle in Descartes’ Cogito verortet und nicht etwa bei Galilei oder noch früher, in der Achsenzeit oder der patriarchal dominierten Sesshaftwerdung des Menschen in der neolithischen Revolution – nicht absolut sein. Denn wenn es, wie Lacan in Seminar XII im Anschluss an Koyré behauptet, keinen Kosmos als wohlgeordnetes Ganzes gibt, dann doch so etwas wie einen ‚Akosmismus des Ganzen‘, das heißt eine Art transzendenzlose, immanente Strukturgesamtheit, die mit symbolischen Mitteln erschlossen werden kann: Es muss irgendwo die Struktur realisiert sein, von der der Akosmismus des Ganzen abhängt, das heißt, dass an irgendeinem Ort das, was sich die Struktur nennt, die Struktur der Sprache, in der Lage ist, uns zu antworten. [Das heißt] [n]atürlich nicht, es handelt sich da natürlich in keiner Weise um etwas, was hinsichtlich der absoluten Angemessenheit der Sprache ans Reale präjudiziert, sondern um das, was, als Sprache, ins Reale all das einführt, was uns darin auf operationale Weise zugänglich ist. Die Sprache tritt ins Reale ein und kreiert dort die Struktur. Wir nehmen an dieser Operation teil, und indem wir daran teilnehmen, sind wir darin eingeschlossen, impliziert in einer strengen und kohärenten Topologie […]. (Lacan 1964a [16.12.1964], S. 45)
Bei den topologischen Mathemen wie dem Borromäischen Knoten würde es sich also um bloße operationale Konstruktionen handeln, die die Struktur der Sprache erweitern und die hinsichtlich ihrer Angemessenheit ans Reale insofern nichts präjudizieren, als sie – wie die mathematisch arbeitenden Naturwissenschaften, etwa die Quantenphysik – nicht einfach ins Reale eintreten, sondern es als Erkenntnisobjekt mitkonstituieren. Gleichwohl spekulierte Lacan zwei Jahre vorher, in Seminar IX, noch darauf, dass die Angemessenheit der topologisch aufgerüsteten und damit „anti-intuitiv“ (Lacan 1964b [03.02.1965], S. 142) gewordenen Struktur der Sprache im Verhältnis zum Realen den Bereich des bloß Metaphorischen übersteigt (vgl. Lacan 1961 [06.06.1962], S. 344). So sagt er an einer Stelle in Seminar IX im Kontext der Diskussion des Torus als eines topologischen Modells für das Verhältnis von Begehren (désir) und Verlangen (demande): Das soll Ihnen zeigen, wie man [diesen Sachverhalt] auf eine besonders exemplarische Weise vorstellen kann dank dieses topologischen Kunstgriffs [artifice topologique], dem ich, zweifeln Sie nicht daran, etwas mehr Gewicht beimesse als einem bloßen Kunstgriff, genauso und aus demselben Grund, denn das ist dasselbe wie Antworten auf eine Frage, die man mir bezüglich der Wurzel aus –1, so, wie ich sie in die Funktion des Subjekts eingeführt habe, gestellt hat: ‚Meinen Sie, indem Sie die Sache so artikulieren‘, fragte man mich, ‚etwas anderes zu zeigen als eine reine und einfache Symbolisierung, die durch etwas wie auch immer geartetes anderes ersetzbar ist, oder etwas, was radikaler mit dem
in ihren Grundzügen geschaffen, deren Neuaufbau in vollstem Gange ist und auf deren frühen deutschen Ursprung nachdrücklichst hinzuweisen wir heute mehr denn je berechtigt und verpflichtet sind“ (Döhl 1941, S. 17).
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Wesen des Subjekts zu tun hätte?‘ ‚Ja‘, habe ich gesagt, ‚das ist der Sinn, in dem das verstanden werden muss, was ich vor Ihnen entwickelt habe‘, und das ist das, was ich mir vornehme mit der Form des Torus weiterzuentwickeln. (Lacan 1961 [07.03.1962], S. 173)
Meiner Ansicht nach befindet sich Lacan zu diesem Zeitpunkt, im Jahr 1962, argumentativ auf einer schiefen Ebene, genauso wie in manchen anderen Momenten in späteren Seminaren, zum Beispiel 1974 im Seminar XXI Les nondupes errent, wo er die Vorstellung eines „Wissens [savoir] im Realen“ (Lacan 1973 [23.04.1974], S. 145) als Basis von Naturwissenschaft wie von Religion und Aberglaube diskutiert; auf einer schiefen Ebene, die – um im Bild zu bleiben – in eine spinozistische Immanenzebene ausläuft: Das All würde dann verstanden als akosmisch im objektiv-idealistischen Sinne einer absoluten Transzendenz, das heißt einer Transzendenz, die so absolut wäre, dass sie nichts mehr transzendiert, die also akosmisch, weltlos, wäre in dem Sinne, dass Welt/Realität und Geistiges/ Göttliches, Phänomenales und Noumenales, in eins fallen, z. B. wie bei Spinoza oder objektiv-idealistisch gewendet bei Hegel, in dessen System das Subjekt, das zugleich Substanz ist, sich vollkommen selbst weiß, absolut bei sich selbst ist und es daher in einem ontologischen Sinne nichts gibt, was es nicht selbst wäre. Psychisch Reales im Sinne Freuds und die mathematisch beschreibbare physikalische Realität des Universums wären ontologisch betrachtet von ein und derselben Substanz. Doch auch der späte Lacan rutscht auf dieser Ebene nicht hinunter in kosmologisch-rationalistische Spekulationen, dazu ist er wohl auch zu sehr ein Schüler Freuds, der bekanntlich mit Heinrich Heine den Himmel den Engeln und Spatzen überließ. Die Immanenzebene hat immer mindestens einen Exoten (vgl. Bergande 2012a). Lacans Subjekt ist dagegen atopisch, gerade weil es auf einen solchen Exoten als regulative Idee bezogen bleibt: auf den (freilich inexistenten) Anderendes-Anderen, im Zweifelsfall den monotheistischen Vatergott der abrahamitischen Religionen, den er, offenbar faute de mieux, an vielen Stellen skeptisch-ironisch herbeizitiert. Wie oben schon belegt wurde, ist die Topologie bei Lacan wesentlich metaphorisch, ganz wie die Sprache (das Symbolische), die sie erweitert. „[V]om Realen“ können beide immer „nur kleine Stücke [bouts de Réel]“ erreichen (Lacan 1974 [16.03.1976], S. 133). Im kurzen Seminar La topologie et le temps, in einer seiner spätesten Äußerungen dazu überhaupt, betont Lacan noch einmal das Metaphorische an seinem Gebrauch der Topologie: „Es gibt trotz allem eine Kluft zwischen der Psychoanalyse und der Topologie. Worum ich mich bemühe, ist, diese Kluft zu schließen. Die Topologie ist exemplarisch. Sie erlaubt, in der Praxis eine gewisse Anzahl an Metaphern zu machen“ (Lacan 1978b [21.11.1978], S. 3) – Metaphern, denen wie gesagt etwas irreduzibel Erratisches eignet. Das heißt auch, dass die Probleme, vor die sich der Psychoanalytiker durch seine topologischen Kunstgriffe gestellt sieht, an erster Stelle mathematische Probleme sind. Der „borromäische Knoten ist eine mathematische Frage“ und ist daher laut Lacan eben „mathematisch“ (Lacan 1978b [20.02.1979], S. 5) zu behandeln. Eine Indienstnahme als metaphorisches Analysewerkzeug bleibt bis auf weiteres außen vor. Ja, der Begriff des „Realen“ (Lacan 1978b [13.04.1976],
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S. 143), den die topologischen Kunstgriffe der späten Seminare fassbar machen sollen, ist selbst solch ein freilich etwas gewaltsamer Kunstgriff: ein „Kunstgriff [forçage] […] einer neuen Symbolisierung [écriture], eine Symbolisierung, die, mittels Metapher, eine Tragweite hat, eine Tragweite, die man durchaus symbolisch nennen muss. Es ist ein Kunstgriff neuen Typs, wenn ich so sagen darf“ (Lacan 1978b, S. 143). Schon im frühen Seminar II wies Lacan auf die Spaltung zwischen dem anschau lichen Imaginären und dem abstrakten Symbolischen hin und auf den Kunstgriff, den ihre Vermittlung erfordert, und zwar mit Bezug auf einen kanonischen Text der Philosophiegeschichte, der andernfalls gut als Referenztext einer mathematisch fundierten Psychoanalyse herhalten könnte, nämlich die ‚Geometriestunde‘ in Platons Dialog Menon (82a ff.). Wir stoßen da mit der Nase auf die Spaltung der Ebene des Imaginären oder des Intuitiven – wo tatsächlich die Wiedererinnerung funktioniert, das heißt der Typus, die ewige Form, das, was man auch die Anschauungen a priori nennen kann – und der symbolischen Funktion, die demgegenüber absolut nicht homogen ist und deren Einführung in die Realität einen gewaltsamen Kunstgriff [forcage] bedeutet. (Lacan 1978c, S. 28)
Im Menon leitet Sokrates einen zufällig ausgewählten Sklaven seines Dialogpartners Menon durch bloßes Fragen dazu an, die Lösung für ein geometrisches Problem zu finden, einen Spezialfall des Satzes des Pythagoras: Aus einem gegebenen Quadrat mit zweifüßiger Seitenlänge soll der Sklave ein Quadrat mit doppelter Fläche ableiten, und zwar, wie Sokrates anstrebt, ohne äußere Instruktion, das heißt allein dadurch, dass er logische Schlüsse zieht, und das heißt für Sokrates: allein durch das Wiedererinnern eines bereits bewusst gewesenen, aber später vergessenen Wissens. Nachdem der Sklave zunächst auf Quadrate mit einer vier- beziehungsweise dreifüßigen Seitenlänge getippt hat, kommt er schließlich, und zwar ausgehend von der Diagonale des anfangs gegebenen Quadrats, auf die richtige Lösung: Das gesuchte Quadrat hat eine Seitenfläche, die der Diagonale des anfangs gegebenen Quadrats entspricht, nämlich Wurzel aus 8. Sokrates will dann aus der Tatsache, dass der Sklave die Lösung augenscheinlich ohne fremde Belehrung finden konnte, schließen, dass alles Wissen (epistèmè) durch Wiedererinnerung (anamnesis) entstehe, nämlich durch Wiedererinnerung an die Ideen – all das im Kontext der Frage, ob und wie die Tugend, also Exzellenz verstanden vor allem als politische Qualität eines Staatsbürgers, lehrbar oder übertragbar sei, durch Autoritäten der Polis, durch Wanderlehrer wie die Sophisten oder durch Väter, die sie an ihre Söhne weitergeben. Lacan erkennt nun in Sokrates’ Vorgehensweise in der ‚Geometriestunde‘ einen Kunstgriff, der in Platons Text nicht ausdrücklich thematisiert wird. Der Kunstgriff besteht darin, dass die Lösung der Aufgabe, Wurzel aus 8, eine irrationale und also inkommensurable Zahl ist, was schon in der Antike und daher zweifellos auch Platon bekannt war; nur bei den vergleichsweise seltenen sogenannten perfekten Quadraten ist die Wurzel der Seitenlänge keine irrationale Zahl. Die Größe von Wurzel aus 8 ist nicht-periodisch unendlich, also unendlich klein, und deswegen in
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der bloßen Intuition, mit der Sokrates operiert und auf die er seine Argumentation stützt, gar nicht aufweisbar. Sokrates’ Geometriestunde ist für Lacan daher ein Paradebeispiel dafür, dass „[n]ichts […] weniger evident ist als ein Raum, der in sich selbst seine eigenen Anschauungen beinhalten würde“. Zudem gehe das Ganze mit dem retrospektiven Fehler einher „zu glauben, dass das, was die Wissenschaft durch die Intervention mit der symbolischen Funktion [erst] konstituiert, schon immer da war, dass es gegeben ist“ (Lacan 1978c, S. 29). Lacan: „In Wahrheit ist es hier, dass man sieht, an welchem Punkt es die symbolische Ordnung ist, die die gesamte Realität dessen, um das es sich handelt, einführt. Genauso sind die Bilder unseres Subjekts abgesteppt im Text seiner Geschichte […]“ (Lacan 1978c, S. 298 f.). Lacan ist mit dieser Problematisierung des Verhältnisses von Anschauung und Symbolischem weit entfernt sowohl von so etwas wie platonischem Realismus hinsichtlich der symbolischen Ordnung als auch von einer Fundierung der Psychoanalyse in der Mathematik, und sei es in der geometrischen Topologie. An die Stelle der Polyeder in Platons Timaios sollen zwar topologische Körper wie der Klein’sche „Schlauch“ (Lacan 1974 [18.03.1975], S. 141) treten, aber eben mit einem anderen, nämlich viel bescheideneren ontologischen Anspruch. Und obwohl sich Lacan an vielen anderen Stellen seines Werks auf die sokratische Aufklärung beruft, erscheint der Sokrates des Menon in Lacans Perspektive eigentlich nicht als ein Vorbild für den aufgeklärten Psychoanalytiker. Denn offensichtlich täuscht Sokrates mithilfe seines Kunstgriffs noch in dem Moment über sein mathematisches Herrschaftswissen hinweg, in dem er dem Sklaven vermeintlich Aufklärung darüber gibt – es sei denn, man wollte in Sokrates’ anamnesisMythem, das heißt in der gewagten Schlussfolgerung, alles Wissen sei bloße Wiedererinnerung an einst Gewusstes, einen Wink mit dem Zaunpfahl des Autors Platon erkennen, genauer hinzusehen und die mathèmata gerade nicht auf das Mathematische zu reduzieren. Das ist aber Auslegungssache. Jedenfalls dürfen solche Kunstgriffe nicht dazu führen, Kosmos und Subjektivität in einer entsubjektivierten Immanenzebene zu verschmelzen, das Unbewusste ins (A-)Kosmische zu projizieren und damit rationalistische Metaphysik an die Stelle von transzendentalphilosophischer Metapsychologie zu setzen, wie es freilich heute dennoch viele Post-Deleuzianer unter dem Titel Spekulativer Realismus tun. Zwar ist zumindest für den frühen Lacan des Seminars IX die Idee eines Sich-selbst-Wissens der Natur jenseits des menschlichen Horizonts noch grundsätzlich denkbar: „Wenn wir irgendwo noch den Begriff der Erkenntnis bewahren können, dann ist das sicherlich außerhalb des Feldes des Menschen. Nichts steht dem entgegen, dass wir denken, wir Positivisten, Marxisten, was auch immer Sie wollen […], dass die Natur, als solche, sich (er)kennt“ (Lacan 1961 [13.06.1962], S. 361). Doch der späte Lacan wird diese Ansicht dann als „[d]ie alte Geschichte vom Wissen im Realen“ (Lacan 1974 [18.02.1975], S. 92) abtun, als einen Topos, der laut Lacan in der Wissenschaftstheorie von Aristoteles bis Newton auftaucht, heute freilich von den Naturwissenschaften verabschiedet ist. Lacan geht sogar so weit, die „Idee selbst der Materie“ (Lacan 1974, S. 93) abzuleiten von der Materie, in die das Symbolische eingeschrieben ist, vom „signifikanten Material [matériel
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signifiant]“ (Lacan 1974, S. 93) also, dem lautlichen oder graphischen Medium des Symbolischen. Demgegenüber führt der Kurzschluss mathematischer Lehrsätze mit weltanschaulichen Konstruktionen entweder zu ‚elegantem Unsinn‘ (Sokal/Bricmont 1999) oder, sofern eine sich selbst wissende Subjektivität unterstellt wird, zu einer Form von „Theo-lirium [Dieu-lire]“ (Lacan 1976 [17.05.1977], S. 130; vgl. Epigraph), die stillschweigend von einer „Logik des Einen [logique de l’Un]“ (Lacan 1976 [08.03.1977], S. 103) gerahmt ist. Beispiele für eine solche Tendenz finden sich bis in die jüngste Gegenwart, zum Beispiel in einem Text aus einem 2016 erschienenen Sammelband zu Lacans Topologie, wo die „mathematische Logik“ als ultimative, nämlich apriorische „Wissenschaft des Realen“ präsentiert wird, die das „Denken“, das heißt das „Subjekt“ wie den „sozialen Raum“ „immer schon […] affiziert“, gerade insofern sie von einer „Verwurzelung in Übertragung und Lustprinzip abgeschnitten“ sei, sodass es dann eines dialektischen Materialismus bedürfe, um sie mit der psychoanalytischen Theorie zu verbinden (Tomsic 2016, S. 116). Im Gegensatz dazu findet sich bei Lacan immer wieder der Appell, von der unmittelbaren analytischen Praxis, von Übertragung, Deutung, Arbeit am Widerstand auszugehen. Die Psychoanalyse arbeitet mit einer Wahrheit, die erst in der singulären und signifikanten Rede des analytischen Aussagens aus dem individuellen Unbewussten heraus entsteht. Deshalb gibt es auch kein „kollektives Unbewusstes“ (Lacan 1975b [13.04.1976], S. 147), weder ein platonischmathematisch-(topo)logisches noch ein archetypisches, mit dem das psychisch Reale, geschweige denn das physikalische Reale, identifiziert werden könnte. Nach Lacan werden zwar Struktur der Erkenntnis und Struktur des Seins zeitweilig ununterscheidbar, doch nur bis neue Erkenntnisstrukturen die vorhandenen ablösen. Bis zu deren Falsifizierung lässt sich also schwer sagen, ob der als wahr erkannte Sachverhalt real ist oder bloß eine behelfsmäßige Annäherung darstellt. So kommt es zwar mit der Evolution der Wissenschaft, dass diese Materie sich schließlich und endlich so gut mit dem Spiel der Elemente, in denen man sie auflöst, vermengt, dass es am Ende [limite] fast unerkennbar ist zu wissen, was sich vor Ihnen abspielt, ob es diese Elemente, diese letzten signifikanten Elemente, sind [oder] die des Atoms; das heißt das, was Sie in sich selbst an quasi Unerkennbarem haben infolge des Fortschritts Ihres Geistes, des Spiels Ihrer Forschung, aber das, was es damit letzten Endes auf sich hat: [die Elemente] einer Struktur, die Sie auf keine Weise mehr in Beziehung setzen können zu dem, was Sie als übliche Erfahrung von der Materie haben. (Lacan 1966b [31.05.1967], S. 265)
Doch die normalwissenschaftliche Grundposition, auf die wir mit Lacan stets zurückfallen, ist und bleibt die, dass das Subjekt Signifikanten verwendet, ob alltagssprachliche oder mathematische oder andere, um sich in der Welt zu verorten und um bloß Subjektives (psychisch Reales bzw. Imaginäres) von objektiv Realem zu unterscheiden. Das gilt auch dann, wenn das Subjekt selbst als etwas definiert wird, das insofern real ist, als es sich (mit Signifikanten) auf dieses Reale beziehen kann: „Das Subjekt ist etwas“, so Lacan 1972 in Mailand,
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das wir im Realen antreffen. [Aber] nicht [in dem Sinne], dass das Subjektive gegeben wäre in dem Verständnis, das wir gewöhnlich von ‚real‘ haben, das heißt dem, das Objektivität impliziert: die[se] Verwirrung wird ohne Unterlass in den analytischen Schriften gemacht. Es erscheint im Realen insofern, als das Subjektive voraussetzt, dass wir ein Subjekt vor uns haben, das in der Lage ist, sich des Signifikanten als solchen zu bedienen […]. (Lacan 1978a, S. 34)
Besteht das eigentlich Reale also letztlich in der Kompetenz des menschlichen Subjekts, Symbole zu gebrauchen und sich damit nicht nur auf das Reale der Welt zu beziehen, sondern insbesondere auch auf sein eigenes psychisch Reales? In einer Kompetenz also, die sowohl unableitbar erscheint als auch unabschließbar? In dem genannten Mailänder Vortrag bezeichnet Lacan jedenfalls den Einwand eines Zuhörers als „triftig“ (Lacan 1978a, S. 39), dass auch der Gebrauch der Mathematik, also etwa eines „logischen, algorithmischen Apparats“, nicht dazu führen dürfe, die ständige dynamische Verschiebung des Begehrens zu blockieren, nicht zuletzt die Verschiebung des Begehrens des Wissenschaftlers oder Analytikers durch die wissenschaftlichen Sprachen und Metasprachen hindurch – sodass dieses „Begehren“ irgendwann als abschließend „erfüllt“ (Lacan 1978a, S. 38 f.) betrachtet werden könnte. Im Übrigen hat die Entwicklung der nicht-euklidischen Geometrie seit Anfang des 19. Jahrhunderts zu einer Vielzahl gleichermaßen anerkannter Geometrien geführt, deren Wahrheitsansprüche von ihren jeweiligen Anwendungsbereichen abhängen, so Christian Thiel (1995, S. 283). Sofern es um Metaphern für eine psychische Topik geht, gibt es keinen Grund, eine davon zu bevorzugen, auch wenn die Konsistenz des Borromäischen Knotens sich offensichtlich besonders gut eignet, die Verschränkung subjektiver Perspektiven in Lacans Aufsatz über „Le Temps Logique“ zu symbolisieren; sie scheint Vorläufer in Hegels Geistbegriff zu haben, die letztlich bis zu Platons Timaios reichen.7 Haben wir uns also mit einer nicht abschließend auflösbaren, symptomatischen Verschlingung von Realem, Symbolischem und Imaginärem abzufinden (Abb. 1)? Damit, dass auch die geometrische Topologie und andere Matheme letztlich Metaphern bleiben und damit, so Lacan, „auf symbolische Weise imaginär“ sind (Lacan 1976 [15.03.1977], S. 109), während umgekehrt die Psychoanalyse der Poesie darin gleicht, dass beide „auf imaginäre Weise symbolisch“ (Lacan 1976, S. 107) sind? Und nähert das die Psychoanalyse nicht in bedenklicher Weise einer wissenschaftlichen Fiktion oder sogar „Betrügerei“ (Lacan 1976, S. 106) an? Nein, muss die Antwort mit Lacan lauten, denn gerade das praktische Aushalten und Inangriffnehmen des radikal Erratischen im Subjekt ist das, was die Psychoanalyse auszeichnet. Das Subjekt, das sich auf das (psychisch) Reale bezieht, kann nämlich laut Lacan schon darin erfolgreich sein, dass es scheitert, einfach weil das Scheitern im Psychischen häufig einen Kontakt mit dem Realen anzeigt. In diesem Sinne vermutet Lacan auch, dass die verbreitete „Aversion“ gegen-
7Vgl. Lacan (1971 [03.03.1972], S. 1). Siehe den Verweis auf Platon, Timaios 32a in Hegels ‚Differenz-Schrift‘: Hegel (1998, S. 9–138), hier 97 f.
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Abb. 1 Darstellung eines von Lacan diskutierten mehrfachen Borromäischen Knotens (Lacan 1978b [12.12.1978], S. 4)
über den kontraintuitiven topologischen Modellen wie z. B. dem Borromäischen Knoten ein Hinweis auf etwas Unbewusstes oder „irreduzibel“ Urverdrängtes ist (Lacan 1974 [08.04.1975], S. 157). Diesem irreduziblen Unbewussten folgt Lacan, wie er sagt, „im Rahmen meiner Möglichkeiten“; freilich mit dem Zusatz: „Ich lege Wert auf die Feststellung, dass ich mir nichts vormache, ich will sagen, dass ich nicht glaube, dass ich da das letzte Wort gefunden habe“, denn „das wäre im eigentlichen Sinne paranoid“ (Lacan 1974, S. 157). Die Tendenz zu einer tatsächlich unmöglichen „Objektivierung des Unbewussten“ (Lacan 1976 [15.02.1977], S. 92) in einem absoluten Wissen (connaissance statt savoir) habe selbst Freud auf die schiefe Ebene zum Wahn gebracht, so Lacan, bekanntermaßen bei seiner Auseinandersetzung mit der parapsychologischen Telepathie. In Seminar XXIII geht Lacan diesbezüglich so weit zu sagen, dass sein Begriff des Realen weder identisch sei mit Freuds Begriff des Unbewussten noch notwendig, um ihn zu
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begreifen. Letztlich, so gesteht Lacan zu, ist es ein symptomatischer Begriff. Lacan: „[D]as Reale [le Réel] […] ist […] mein Symptom“ (Lacan 1975b [13.04.1976], S. 145), nämlich „meine symptomatische Antwort“ (Lacan 1975b, S. 146) auf Freuds „Entdeckung“ des Unbewussten, „vorausgesetzt, dass diese Entdeckung wahr ist“ (Lacan 1975b, S. 146).
3 Schrebers Autopsie Der psychotische Wahn des Senatspräsidenten Daniel Paul Schreber ist ein Paradebeispiel dafür, wie dramatisch sich die Auflösung der psychisch-realen bzw. imaginären (‚mentalen‘) Konsistenz des Körpers gestalten kann, wenn die ansonsten „irreduzible“ (Lacan 1966c, S. 188) ursprüngliche Identifizierung mit dem mythischen ‚Einen‘, dem inexistenten Anderen-des-Anderen, scheitert. Anstelle der Identifizierung mit dem Signifikanten dieses Einen tauchen dann die Signifikanten des unbewussten Diskurses in der psychischen Realität der unmittelbaren Körperempfindungen auf. Wie es die Psychoanalytikerin Piera Aulagnier in einem Gastvortrag in Lacans Seminar IX formuliert, kommt es im besonderen Fall des paranoiden Psychotikers anstelle dieser symbolischen Identifizierung zu einer Introjektion des symbolischen Anderen „auf Ebene seines eigenen Körpers“ (Lacan 1961 [02.05.1962], S. 266 f.). Diese Introjektion beschreibt Lacan an einer Stelle in Seminar XII allgemein als „Einverleibung*“ (Lacan 1964b [03.03.1965], S. 184) („incorporation“, Lacan 1964b, S. 183) des immateriellen Seins eines bzw. des Anderen. Das „Sein des Körpers“ oder vielmehr sein „abwesendes Wesen [essence absente]“ besteht demzufolge darin, das Wesen einer mythischen ursprünglichen Macht, des zerstückelten Vaters, des ursprünglichen Opfers, zu verzehren, in den eigenen Körper aufzunehmen, zu verstoffwechseln, zu verkörpern und an die nächste Generation weiterzugeben – wobei ‚Sein‘, wie Lacan hier betont, nur ein mystifizierender, ‚verhüllender‘ Platzhalterbegriff ist für die „Übermittlung [transmission]“ der „unfassbaren“ libidinösen Substanz des Subjekts, das heißt für die Weitergabe einer „in sich selbst unsterblichen Libido“ (Lacan 1964b, S. 183), die durch die Generationen hindurchgeht und den körperlichen Tod der zweigeschlechtlichen Individuen, die seine Träger sind, überlebt – sodass „der Körper […] etwas ist, das in einer fundamentalen Verschlingung [dévoration] subsistiert und von Sein zu Sein geht“ (Lacan 1964b, S. 183). Für philosophische Ohren klingt bei solch einem Begriff von Libido freilich etwas objektiv Idealistisches an, etwa im Sinne des objektiven Idealismus von Hegels Geist-Begriff. Doch Lacan fügt versichernd hinzu: „Das ist durchaus keine Philosophie, die ich hier predige, noch Glaube, das ist Artikulation, Form, von der ich sage, dass sie gemacht ist, um uns vor die Frage zu stellen, warum Freud es an den Anfang all dessen stellt, was er über die Identifizierung zu sagen hat“ (Lacan 1964b, S. 183). Eine eigentliche Antwort auf diese Frage wird Lacan freilich alles in allem schuldig bleiben. Jedenfalls habe Freud, so Lacan später in Seminar XXIII, eine solche „offensichtlich symbolische Übermittlung [transmission]“
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(Lacan 1975b [10.02.1976], S. 97) bei der Analyse der „christlichen Mythologie“ (Lacan 1975b, S. 97) wiedergefunden. Was Schreber betrifft, so ist er in seinem psychotischen Wahn der vom großen Anderen – letztlich: vom ‚Einen‘, der diesen Diskurs stützt – an ihn übermittelten Libido, dessen Wesen bzw. Sein, unmittelbar ausgesetzt, fast vollkommen ausgeliefert. Er kämpft einen „Vernichtungskampf“ (Schreber 2003, S. 158), bei dem er gegen genau die Assimilierung dieses Seins kämpft, offenbar weil sie ihm Unzumutbares abverlangt. Sein von Halluzinationen und inneren Stimmen bevölkerter und dadurch verheerter, mortifizierter Körper ist das Schlachtfeld dieses Kampfes: Seit den ersten Anfängen meiner Verbindung mit Gott bis auf den heutigen Tag ist mein Körper unausgesetzt der Gegenstand göttlicher Wunder gewesen. […] Ich kann sagen, daß kaum ein einziges Glied oder Organ meines Körpers vorhanden ist, das nicht vorübergehend durch Wunder geschädigt worden wäre, keine einzige Muskel, an der nicht durch Wunder herumgezerrt würde, um sie je nach der Verschiedenheit des damit verfolgten Zwecks entweder in Bewegung zu setzen oder zu lähmen. (Schreber 2003, S. 109)
Schreber lebt, um nur wenige Beispiele herauszugreifen, mit einem schmerzhaften „Lungenwurm“, der seine Lunge fast vollständig absorbiert, mit zerschmetterten Rippenknochen (Schreber 2003, S. 111), „ohne Speiseröhre und Därme“, die „wiederholt zerrissen oder verschwunden waren“, ohne „Kehlkopf[…], den ich mehr als einmal zum Theil mit aufgegessen habe“ (Schreber 2003, S. 113), erleidet Attacken auf das Lustgefühl in seinem „Samenstrang[…]“ (Schreber 2003, S. 113), auf „Kopf“ (Schreber 2003, S. 113) und „Rückenmark“ (Schreber 2003, S. 113) als Sitz seines Verstandes, während des Essens zerbrechen ihm Zähne (Schreber 2003, S. 144), und er lebt lange ohne Magen (Schreber 2003, S. 111 f.): „Die genossenen Speisen und Getränke ergossen sich dann ohne Weiteres in die Bauchhöhle und die Oberschenkel, ein Vorgang, der, so unglaublich er klingen mag, nach der Deutlichkeit der Empfindung für mich außer allem Zweifel lag“ (Schreber 2003, S. 112). Deutlicher kann es in der Tat kaum geschildert werden, wie die symbolische Einverleibung des ‚Seins des Anderen‘ im psychisch Realen des Körpers scheitert. Was in Schrebers Fall angebracht ist, ist also eine Topologie, die die psychisch-reale Konsistenz bzw. deren Zerrüttung aufklären würde.8 Eine phänomenologische Analyse oder Reduktion dagegen wäre hier überflüssig, denn die liefert Schreber größtenteils selbst, insbesondere an der ‚Deutlichkeit der Empfindung‘ bzw. der evidenten Gewissheit der eigenen Körpererlebnisse gibt es auf der reinen Erfahrungsebene nichts zu reduzieren: Dies, wie der ganze Bericht über die an meinem Körper verübten Wunder wird natürlich allen anderen Menschen über die Maßen befremdlich klingen, so daß man geneigt sein wird, daran nur die Erzeugnisse einer krankhaft erregten Einbildungskraft zu finden. Demgegenüber kann ich nur versichern, daß kaum irgend eine Erinnerung aus meinem
8Vgl. Darmon (1990, S. 182 ff.). zu Lacans topologischer Annäherung an den Fall Schreber in Seminar V Les formations de l’inconscient.
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Abb. 2 Autopsiebericht Teil 1. Stadtarchiv Leipzig, Krankenhaus Dösen/Einzelakten Nr. 1, Blatt 19 und 20. (Patientenakte Dr. Daniel Paul Schreber), Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Stadtarchivs Leipzig
Leben für mich sicherer ist, als die in diesem Kapitel erzählten Wunder. Was kann es auch Gewisseres für den Menschen geben, als das, was er an seinem eigenen Körper erlebt und empfindet? (Schreber 2003, S. 110, Fn. 68)
Schreber fordert in seinen Denkwürdigkeiten unter anderem eine „Sektion meiner Leiche“ (Schreber 2003, S. 260), die diese Gewissheit der Wunder, denen er in einer Art Dauerautopsie-seiner-selbst ausgesetzt war, bestätigen soll. Tatsächlich wurde Schrebers Leichnam nach seinem Tod 1907 seziert, wie zu erwarten ohne auffälliges Ergebnis; er starb an einer Lungenentzündung. Der vierseitige Autopsiebericht (Abb. 2 und 3; siehe Anhang), der auch eine ‚Topographie des Körpers‘ ist, könnte in keinem größeren Gegensatz zu Schrebers eigenem Erfahrungsbericht stehen und scheint insofern Lacan recht zu geben: Die psychisch-reale Konsistenz des Körpers hat nichts mit dem physikalisch realen Körper zu tun, wie ihn etwa die Medizin beschreibt. Und ebenso wäre wohl das Psychische zumindest teilweise vom Mathematischen zu trennen, was mit Rückblick auf Platon, der beides an vielen Stellen seiner Dialoge eng führt oder sogar zu identifizieren scheint, hieße, ihre ethische Dimension in den Vordergrund zu rücken und diese von der rationalen, intellektuellen abzugrenzen – und das umso
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Abb. 3 Autopsiebericht Teil 2. Stadtarchiv Leipzig, Krankenhaus Dösen/Einzelakten Nr. 1, Blatt 19 und 20 (Patientenakte Dr. Daniel Paul Schreber), Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Stadtarchivs Leipzig.
mehr, als das Unbewusste ja nach einer bekannten Bemerkung Lacans einen ethischen Status hat. So wäre schon mit Platons Schüler Aristoteles und seiner Nikomachischen Ethik die ethische Dimension gegenüber der dianoetischen, mathematischen zu betonen. Tugend und Vernunft sind danach ursprünglich in zwei Teile gespalten, genauso wie ihre jeweiligen Gegenteile, Untugend und Unvernunft: „[D]as eine hat eigentlich Vernunft und hat sie in sich selbst, das andere hat sie wie ein Kind, das auf seinen Vater hört“, das heißt so, „wie wir uns in praktischen Dingen nach dem Rate des Vaters und der Freunde, nicht wie in der Wissenschaft nach den Sätzen der Mathematik richten“ (Aristoteles 1995, S. 25). Die psychoanalytische Vernunft, die laut Freud mit leiser Stimme spricht und sich irgendwann Gehör verschafft, wäre dann aber die ethische, nicht die mathematische, womit wir freilich wieder beim symbolischen ‚Einen‘ wären, der bzw. das nicht nur Lacan damit in Verlegenheit bringt, dass es sich um keine Zahl handelt, und bei der symptomatischen Einverleibung des von ihm übermittelten ‚Seins‘.
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Der Senatspräsident Daniel Paul Schreber wird bei der Auseinandersetzung mit diesem Einen bemerkenswerterweise zu denselben Fragen geführt wie Lacan, der mit seiner Topologie zunächst einmal die Dreidimensionalität des euklidischcartesianischen Raums der Anschauung überwinden wollte, also zu Fragen nach einer möglichen vierten Dimension9 und danach, ob das Absolute und Gott als ein und derselbe akosmische, das heißt transzendenzfreie Kosmos identifiziert werden müssen oder ob sich Gott nicht vielmehr dem bekannten Kosmos entzieht als etwas A-kosmisches im dann gegenläufigen Sinne von: nicht-kosmisch, also gerade: transzendent. Gott ist von vornherein nur Nerv, nicht Körper, demnach etwas der menschliche[n] Seele Verwandtes. Die Gottesnerven sind jedoch nicht, wie im menschlichen Körper nur in beschränkter Zahl vorhanden, sondern unendlich oder ewig. […] Zwischen Gott und dem gestirnten Himmel besteht eine innige Beziehung. Ich wage nicht zu entscheiden, ob man geradezu sagen darf, daß Gott und die Sternenwelt eines und dasselbe ist oder ob man sich die Gesammtheit der Gottesnerven als etwas noch über und hinter den Sternen Lagerndes und demnach die Sterne selbst und insbesondere unsere Sonne nur als Stationen vorzustellen hat, auf denen die schaffende Wundergewalt Gottes den Weg zu unserer Erde (und etwaigen anderen bewohnten Planeten) zurücklegt. (Anmerkung: Von alledem haben auch unsere Dichter eine Ahnung ‚Droben überm Sternenzelt muss ein guter Vater wohnen‘ u.s.w.) Ebensowenig getraue ich mir zu sagen, ob auch die Weltkörper selbst (Fixsterne, Planeten u.s.w.) von Gott geschaffen worden sind, oder das göttliche Schaffen sich nur auf die organische Welt bezieht, und demnach neben der für mich unmittelbar gewiß gewordenen Existenz eines lebendigen Gottes doch auch noch Raum bliebe für die Nebularhypothese von Kant-Laplace. Die volle Wahrheit liegt vielleicht (nach Art der vierten Dimension) in einer für Menschen nicht faßbaren Diagonale beider Vorstellungsrichtungen. (Schreber 2003, S. 6)
Die Übergänge zwischen Wahn oder aufgeklärtem Mythos einerseits und mathematisch strikter Topologie andererseits sind, das ist die zentrale Hypothese dieses Beitrags, nicht nur bei Schreber fließend – sondern vermutlich bei fast allen Subjekten. Lacan, der von seinem Begriff des Realen wie oben gezeigt als seinem Symptom spricht, zeichnet es aus, dass er immer wieder – wie hier in Seminar IX – darauf hinweist, dass das Subjekt „in seiner Definition, in seiner ersten Artikulation, die Möglichkeit der psychotischen Struktur“ (Lacan 1961 [02.05.1962], S. 273) einschließt, anders gesagt: dass potenziell jede/r ein/e PsychotikerIn ist. Für Schreber stellt sich der ‚Eine‘ jedenfalls letztlich nicht als Inbegriff aller Realität heraus, wie Deleuze und Guattari fälschlicherweise behaupten (Deleuze und Guattari 2016, S. 20), sondern als ein kosmotheistischer Gott, der „sich selbst außerhalb der auch für ihn maßgeblichen Weltordnung gestellt“ (Schreber 2003, S. 44) hat und der insofern bekämpft werden kann. Deshalb repräsentiert er offenbar auch nicht an erster Stelle die symbolische Ordnung, sondern ist mindestens
9Dieser Frage ging schon der vorkritische Kant nach, vgl. den Hinweis von Thiel (1995, S. 281 f.) auf Kant (1747, S. 24 f.).
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teilweise „Repräsentant des übermächtigen Trieblebens“, wie Freud es in einem anderen Kontext formuliert (Freud 1999, S. 5). Sich das Sein dieses Anderen einzuverleiben, noch dazu sich dafür entmannen zu lassen, ist für Schreber etwas absolut Unverdauliches, auch wenn es sich ihm in Form der Seele seines zeitweiligen Therapeuten Professor Flechsig übermittelt. Diese Seele ist ein Knäuel oder Gewebe, das an Lacans Borromäische Knoten denken lässt (siehe Abb. 1) und daran, dass auch für Lacan die Konsistenz dieses Knotens zwar real, aber symptomatisch war. Schreber: Dagegen ist es ein wirklicher, d. h. nach der Bestimmtheit meiner Erinnerung in diesem Punkte für mich subjektiv gewisser Vorgang […] daß ich ungefähr um dieselbe Zeit die Seele und zwar wahrscheinlich die ganze Seele des Professor Flechsig vorübergehend im Leibe gehabt habe. Es war ein ziemlich umfänglicher Ballen oder Knäuel, den ich am ehesten mit einem entsprechenden Volumen Watte oder Spinngewebe vergleichen möchte, der mir im Wege des ‚Wunders‘ in den Bauch geschleudert worden war, vermuthlich, um darin seinen Untergang zu finden. Diese Seele im Leibe zu behalten, sozusagen zu verdauen, wäre bei dem Umfang derselben wahrscheinlich ohnedies eine Unmöglichkeit gewesen; ich entließ dieselbe jedoch, als sie sich zu befreien strebte, freiwillig, einer Art Regung des Mitleids folgend, und sie entrang sich darauf durch meinen Mund wieder nach außen. (Schreber 2003, S. 61)
„Das Stigma des Realen ist es“, so Lacan, „sich mit nichts zu verbinden“ (Lacan 1975b [16.03.1976], S. 134).
Anhang Dr. Schreber Gest.[orben] 14./4. Nachm.[ittag] 4.55 Uhr Sekt.[ion] 15./4. Warm. 11 [Grad Celsius]
Schlecht gen.[ährte] m.[ännliche] L.[eiche], Leichenst.[arre] w.[eich] Extrem.[itäten] erh.[alten], zahlr.[eiche] Totenfl.[ecken], w.[eiche] Grenze d.[es] l.[inken] Rippenb.[eins], am Rück.[en] eine handfl.[ächen] gr.[oße] grüngelb verf.[ärbte] Fläche. Rippenmuskel vo.[rn] dürftig, fast vollk.[ommen] fehl.[ende] Fettlage. Rippenknorpel sehr st.[ark] verknöchert. Bei dem Abheben der verd.[ickten] Brustw.[arze] wird in die linke Brusts.[eite] eine zwischen 1.– 4. Rippe und ein über der 5. und 6. Rippe reichende Höhle eröffnet.
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Die vordere Wand der v.[orderen] Höhle über dem Brustbein und den anlieg.[enden] Rippen verw.[undet], angefüllt mit ca. 1 1/2 Liter trübgrauer st.[ark] stinkender Flüss.[igkeit]. Die u.[ntere] Höhle ersch.[eint] über der Eröffnung der Thorax leer. Die Größe der vorl.[iegenden] Höhle ca. mannesfaustgr.[oß] Herzbeutel nach u.[nten] n.[ach] l.[inks] verschoben, enth.[ält] ca. 4 Eßl. ferößer Flüss.[igkeit]. Die Innens.[eite] d. hib. bed. [?] dünn., leicht abziehbaren, ganz fr.[ischer] blutig fibrinöser Auflagerung. Derselbe Überz.[ug] bed.[beidseitig] des H.[erzens] selbst. Die Gr.[öße] des H.[erzens] entspr. ca. der Größe des Mannes. Cons.[titution] sehr schlaffe Organe wegen einer nicht sehr st.[arken] Schicht epikardialen Fettes bed.[ingt]. Muskel d.[es] r.[echten] Ventr.[ikels] sehr schlaff und dürftig. Farbe blaßbraun. Pulmo u.[nten] zart und frei beweglich. 3 zipf. u.[nten] ebenf.[alls] o. B. [ohne Befund] l.[inkes] Ventrikel von s.[ehr] blass.[er] Cons.[titution]. Musk.[el] s.[ehr] schlaff. Aortenkl.[appe] frei bewegl.[ich]. [?]ikr. ebenf.[alls] o. B. Kranzart.[erie] stellenw.[eise] st.[ark] verhärtet, im Innern der Art.[erie] eine Menge von weißl. gelbl. Plexues, von denen einz.[elne] Neig.[ung] zu gestür.[mischem] Zerfall zeigen. Die ganze l.[inke] Brusth.[älfte] ausgef.[üllt] vom Zwerchfell bis zur Spitze durch über 2000 Kubikzentimeter der oben beschriebenen Flüssigkeit. Es best.[ehen] die erst erwähnten 2 Höhlen, wd.[ährend] die o.[obere] die kl.[einere] ist, während die seitl.[iche] die ganze Seitenk.[ante] des Torax ausfüllt, das Zwerchfell bed.[eckt] und vorn in der Geg.[end] des Herzbeutels in Ersch.[einung] getreten ist. Lungenmasse zu einer ca. fingers.[breiten] Membran zwischen den 2 Höhlen ausgez.[ogen]. L.[inkes] Pleuma schwartig verd.[ickt], von gelbgrüner Farbe. L. selbst [zusammen] in 1. Teil nah lufth., in einem auch von grauroter Farbe sehr derber Cons.[titution], aufgehob.[en?] Luftgeh.[alt?], warme Saftgeh., ausgesch.[ieden?] L. St. hinten unten. [am Seitenrand: linke Lunge 485 Gramm, rechte Lunge 740 Gramm] R.[echte] Lunge zwischen Spitze und Rippe Pleura leicht verw.[est], Cons.[titution] normal. Große Bronchien leer. Wand dazwischen etwas Schleim bed.[eckt] gr.[oße] Art.[erie] Croueger.[innsel] angef.[üllt] an der Spitze d. o. L. [der oberen Lunge] einz. bis erbsengr. schwarz
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pigmentierte Kongremente, im übrigen 3 L.[ungen] Lappen dazwischen norm.[ale] Luft, Saft u. d. Blutgeh.[alt] u.[ntere] L.[unge] ersch. Blutgeh.[alt] etw. verm.[ehrt]. Milz von normaler Größe, derber Constitution, der Durchschn.[itt] z.[eigt] s.[ehr] gew.[öhnliche] Zeich[nun]g. Farbe ist frischbraunrot. L.[inke] Niere: Kapsel leicht abstreifbar. Organ s.[ehr] blutr.[eich] Rinde und Mark deutl.[ich] geschieden. R.[echte] Niere ders.[elbe] Befund. wie l.[inks] Blase leer. Wurmforts.[atz] frei. Magen u. Darmkanal s.[ehr] st.[ark] gebläht. Magen feßt leer. Schleims.[chicht] mit rötl.[ich-] grauem Schleim übergezogen. Leber s.[ehr] blutr.[eich], derb, braunrote Farbe mit Stich ins Gelbl.[iche] Zeichen deutl.[ichen] Gallenbl.[utes] v. L. [vordere Leber] (Seitenrand: Leber 1455 Gramm) Schädeldach gering adhe[sic.]rent auch Dura, v.[on] ger.[inger] Dicke. Dura von norm.[alem] Character, die venös. Sinuke[n?] dünnfl.[üssiges] Blut ges.[amte] Pia dünn durchs.[etzt], läßt sich leicht ab. Ges.[amte] ord.[inäre] Basis im Wesentl.[ichen] dünnwandig, nur an einz.[elnen] St.[ellen] geringe umschr. derbere Stellen vorhanden. Cons.[titution] d.[er] ges.[amten] derb.[en] Ventr.[ikel] nicht erhebl.[ich] erweit.[ert] Ependym glatt, nicht granuliert. Die übr.[igen] Ventr.[ikel] ebenf.[alls] von zarter Innens.[eite] viel Blutpunkte. Hirnrind[e] nicht verschmälert. Gr.[oße] Ganglien o.[ben] L.[inks] In den Pa[/o]nts zahlr.[eiche] bis stecknadelkopfgroße riech.[ende] Blutpunkte beiders.[eits] Pat.anat.Diagnose: Pleuritio exutativa chron. Pyothorax [cieictr. /rezidiv?] Schrumpfung d.[er] l.[inken] Lunge Melaklen d. l.[inken] O.[ber]-Lungenflügels Perikarotitis fibrinosa acuta.
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Myodegenerativ cordis Sklerose der Kranzarterien Multiple Blutg. [Blutung] [rechts der Pont.]
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Körper: Wissen und Schreiben* Ulrike Kadi
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Alles muss sich drehen um die Schriften, die erscheinen werden. (Lacan 1981)
Zusammenfassung
Zum Rahmen von Jacques Lacan Körperauffassung in seinem Spätwerk gehört einerseits historisch die cartesische Trennung zwischen res extensa und res cogitans. Andererseits ist Lacan Bemühen zu beachten, Psychoanalyse in ihrem Verhältnis zu modernen Wissenschaften zu positionieren. Der (für Lacan nicht unbedingt lebendige) Körper taucht nicht nur in der Psychoanalyse doppelt auf - als Körper, der das sprechende Subjekt ist, und als Körper, den das sprechende Subjekt hat. Auch in der Lacanschen Metapsychologie zeigt sich der Körper doppelt: als topographische Illustration und als topologischer Körper, der sich in der Illustration manifestiert. Weniger bekannt als die Bezüge des Körpers zu den Registern des Imaginären, Symbolischen und Realen sind Lacans Annahmen zum Körper als Fleisch. Guy Felix Duportail hat versucht Lacans und Maurice Merleau-Pontys Denken des Fleisches anzu*Dieser
Text wurde im Rahmen des vom Österreichischen Fonds zur Förderung wissenschaftlicher Forschung/Austrian Science Fund (FWF) geförderten Forschungsprojekts „Topographien des Körpers: phänomenologische, genealogische und psychoanalytische Perspektiven“ (P25977-G22) verfasst. Eine frühere, inzwischen mehrfach überarbeitete Fassung wurde anlässlich der Tagung „Anthropographien – Erkenntnis, Anmaßung, Idolatrie“ am 16.01.2016 im Institut Français de Vienne vorgetragen. Für hilfreiche Kommentare gilt mein Dank Herbert Hrachovec, Suzanne Kirsch und Gerhard Unterthurner.
U. Kadi (*) Universitätsklinik für Psychoanalyse und Psychotherapie, Medizinische Universität Wien, Wien, Österreich E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 U. Kadi und G. Unterthurner (Hrsg.), Macht – Knoten – Fleisch, Abhandlungen zur Philosophie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04957-5_12
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nähern, indem er topologische/topographische Verbindungslinien zwischen beiden zieht. Doch Lacan denkt das mehr mit Wahrheit als mit Wissen aufgeladene Fleisch anders als der früh verstorbene Freund. In dieser Gegenüberstellung ergeben sich Hinweise, weshalb der Körper in der Psychoanalyse des späten Lacans nur als eingeschlossener Ausschluss geschrieben werden kann. Als Körpertheoretiker ist Jacques Lacan nicht bekannt geworden. Die Rolle, die der Körper in seiner am Sprechen und der Sprache orientierten psychoanalytischen Denkweise zugewiesen bekommt, wirkt auf den ersten Blick genauso wie jene der nicht existierenden Frau (Lacan 1975a), nämlich vor allem wie eine Nebenrolle (vgl. Kadi 2006). Doch ähnlich wie für Lacans Denken über Frauen ist mit diesem Hinweis nur wenig gesagt. Nebenrollen können bekanntlich durchaus große Wirkungen entfalten. Ich werde im Folgenden darstellen, wie der Körper in seiner psychoanalytischen Nebenrolle bei Lacan einen theoretischen Brennpunkt bildet. Dem Körper kommt diese Position zu, weil Lacan Psychoanalyse als eine Wissenschaft im neuzeitlichen Sinn ansieht und er den Körper dabei weder übergehen noch auf eine maschinenartige Einheit reduzieren will. Dazu schlägt er Formalisierungen vor, Schreibweisen, die auf Wissen aufbauen und dieses Wissen auch vermitteln. Er bezieht sich auf topologische Perspektiven, die er topographisch einsetzt. Wie der Körper in solchem topographisch festgehaltenen Wissen eingeschlossen ist und gleichzeitig ausgeschlossen wird, ja bleiben muss und wie Lacan mit diesem Ausschluss umgeht, wird im Folgenden gezeigt.
1 Lacan’sche Topologie? Eine mit der mathematischen Teildisziplin der Topologie liebäugelnde Form der Argumentation ist ab den frühen 50er Jahren wichtig für Lacan.1 1953 hält er einen Teil seines Seminars unter der Überschrift „Topik des Imaginären“ (Lacan 1978, S. 97 f.).2 Freilich ist die Topologie keine Topik. Doch der Verweis auf die Topik lässt erste Motive für Lacans stetiges Verweisen auf die Topologie erkennen: Wichtig sind dabei wie in der aristotelischen Topik sowohl das Bestreben, mittels passender Argumente zu überzeugen, wie auch die besondere Rolle, die Orten und Lokalitäten in einer solchen Argumentation zukommt. Zu unterschiedlichen Zeiten seiner Lehre nimmt Lacan unterschiedliche Themen der Topologie auf. Auch wenn sich eine Reihenfolge in Lacans Beschäftigung mit topologischen Themen beschreiben lässt, sind die unterschiedlichen Themen nicht streng trennbaren Zeiträumen zuzuordnen. Im Gegenteil: Lacan eignet sich die unterschied1Lacan
selbst gibt an, dass er schon als junger Medizinstudent beim anatomischen Sezieren erwartet habe, irgendwo im Körper einen Knoten zu finden (vgl. Lacan o. J.c, Sitzung vom 12.03.1974). 2Jacques-Alain Miller datiert den Beginn von Lacans Beschäftigung mit der Topologie mit dem Rom-Diskurs in dasselbe Jahr (vgl. Miller 2004, S. 29).
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221
lichen Arbeitsbereiche der Topologie nacheinander an, um sie dann oftmals auch gemeinsam zu nutzen.3 Manche AutorInnen unterscheiden bei Lacan zwei, andere drei Bereiche topologischer Bezugnahme. Mit drei Bereichen sind Graphen, Oberflächen und Knoten gemeint (vgl. etwa Gilson 1994; Vappereau 2004; Porge 2012, S. 29). Bei zweien werden die Graphen nicht als topologische mitgezählt (vgl. Ragland und Milanovic 2004). (Bestimmte) Oberflächen und ihre topologisch beschriebenen Eigenschaften zieht Lacan heran, um bestimmte Teile seiner sich entfaltenden Lehre zu markieren. Fließende Innen-Außen-Übergänge zwischen Kanten und Flächen, wie sie auf dem Torus, dem Möbiusband, der Klein’schen Flasche oder der Kreuzhaube bestehen, eignen sich für ihn, Aspekte des Subjekts in seinem Verhältnis zum Sprechen (Gilson 2004), des Schneidens (Wegener 2007, S. 243) oder des Objekts a (Nasio 1987) zu verkörpern. Die als Körper gedachten Figuren werden einerseits heuristisch eingesetzt, andererseits zu Demonstrationszwecken genutzt. Die Klein’sche Flasche – Lacan nennt sie auch „die göttliche Flasche“ („la dive bouteille“4) (Lacan 2001b, S. 202) – dient etwa der Verblüffung des Publikums, weil sie auf unerwartete Abgründe des Vorstellbaren aufmerksam macht. Sie stellt sich der selbstverständlichen Annahme entgegen, dass es eine jeweils genau bestimmbare Grenze zwischen Innen und Außen5 gibt. Innen ist auch Außen, was über den Überraschungseffekt hinaus erkennbar werden lässt, dass die Rede von einem psychischen Innenraum kein abgeschlossenes subjektives Inneres meinen kann (vgl. dazu auch Wegener 2007, S. 246), sondern ein fremdbestimmendes Außen anspricht, das als ein Innen fungiert. Anders als es dieses Beispiel nahezulegen scheint, nutzt Lacan topologische Oberflächen nicht oft in illustrativer Absicht. (Topologisches) Aussagen rangiert für ihn vor der (topologischen) Aussage. Das Aussagen konstituiert eine Realität. Die topologischen Figuren bilden für ihn eine Realität im Sprechen. Auch als ihm entgegengehalten wird, dass seine Rückgriffe auf die Topologie eher mythischen, im besten Fall analogen Charakter hätten, macht er geltend: Der Torus ist kein Analogon. Er steht vielmehr ähnlich wie das S des Subjekts für einen stattgehabt habenden Verlust, weist in der Realität des Sprechens auf etwas hin, was es vor dem ausgesprochenen Hinweis nicht gegeben hat (vgl. Lacan 1970, S. 195 f.).
3Insbesondere
Gilson (2004) zeichnet für die unterschiedlichen Phasen von Lacans topologischen Ansätzen inhaltliche Kontinuitäten nach, wenn er die Grundform des Knotens bereits im Graphen des Begehrens angelegt sieht. Hoens (2016, S. 57) unterstreicht, dass der zu den Oberflächen zählende und insofern als später hinzukommende Figur betrachtete Torus nicht erst in den 60er Jahren, sondern bereits in der Rom-Rede (Lacan 1966b, S. 321) auftaucht. 4Mit diesem Zitat spielt Lacan auf das „Orakel der göttlichen Flasche“ an, das am Ende von Rabelais’ Romanzyklus über Pantagruel und Gargantua gelöst wird. 5Die Innen-Außen-Bezüge der Figuren verleiten zur Annahme, dass es vor allem räumliche Verhältnisse sind, die Lacan mit seinen Beispielen ansprechen möchte. Das ist freilich nur eine Lesart. Es lässt sich etwa in seiner frühen Beschäftigung mit der Topologie auch ein spieltheoretischer Beitrag, eine Auseinandersetzung mit dem Zufall sehen (vgl. Cléro 2012).
222
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In ähnliche Richtung argumentiert Lacan für die später zu seinem topologischen Repertoire hinzukommende Knotentheorie: Die mathematische Beschäftigung mit den Knoten sei unzureichend (vgl. Lacan 2005b, S. 42), weil die Knoten dabei als Modell genommen werden, was sie psychoanalytisch gerade nicht sein können (vgl. Lacan 2012, S. 67). Mit Knoten wird zwar auch, aber nicht nur symbolisiert. Vielmehr zeigt sich das Subjekt (vgl. Friedman 2016, S. 187). Die variantenreichen Verknüpfungsformen von Fadenringen dienen zunächst dazu, die drei Register des Symbolischen, Realen und Imaginären als in subjektiv unterschiedlicher Weise verflochten darzustellen, das Symptom in seiner Funktion der Stabilisierung des Zusammenhaltes der Register zu entdecken. Wie bei den Oberflächen steht der heuristische Wert für Lacan auch bei den Knoten im Vordergrund (Porge 2012, S. 30) – speziell mit Blick auf klinische Zusammenhänge.6 Doch er belässt es dabei nicht. Er variiert die miteinander verflochtenen Kreise (vgl. als Beispiel Lacan 1975d), arbeitet Topologien über Topologien (vgl. Porge 2012, S. 31) aus, Metatopologien gewissermaßen, indem er Knotenformationen beschriftet und damit die Grenzen der Theorie der Fadenringe sprengt. Lacans Verwendung der Knotentheorie unterscheidet sich hinsichtlich solcher Entgrenzungsversuche nicht von seinen Bezugnahmen auf die topologisch gefassten Oberflächen (oder auch auf andere theoretische Felder). Die den KommentatorInnen überlassene Frage, ob seine Graphen zu seinem topologischen Zugang gehören oder nicht,7 ist ein weiteres Beispiel seiner Arbeitsweise. Vorsichtig ließe sich sagen: Lacans Umgang mit der Topologie hat seine Eigenheiten. Er geht gleichermaßen selektiv wie schöpferisch vor. Weniger freundlich wurde in der sogenannte Sokal-Affäre8 argumentiert. Manche verstehen Lacans Ansatz nicht erst seitdem vor allem als Idiosynkrasie und sprechen von einer Lacan’schen Mathematik, einer Lacan’schen Topologie (z. B. Gilson 1994, S. 15). Vordergründig scheinen sie den konventionellen Gebrauch der genannten theoretischen Ansätze zu forcieren. Doch die apologetische Geste dient auch dazu, den Denkraum, in dem Lacan sich mit seiner Anwendungsweise der Topologie bewegt, offen zu halten für ein produktives Arbeiten mit topologischen Figuren und Konzepten. Im Unterschied zu Freud, der kaum etwas – außer Anekdotisches – zu Geometrie oder Mathematik schreibt (vgl. Cléro 2012, S. 27), nimmt Lacan deren Impuls auf und bezieht zeitgenössische Leitwissenschaften wie die Logik oder
6Duportail
(2012, S. 69) nennt Lacans Verwendung der Topologie eine Algebraisierung der analytischen Klinik. Und er fragt folgerichtig, welche Verbindung zwischen Lacans topologischen Formulierungen und der Praxis besteht (Duportail 2012, S. 70). Wegener (2007, S. 249) sieht in der Topologie bei Lacan eine mit der klinischen Praxis korrespondierende Praxis. 7Nemitz (2010) zeigt am Beispiel des Graphen des Begehrens, an welcher Stelle er nicht der topologischen Graphentheorie entspricht. Vgl. https://lacan-entziffern.de/anderer/das-verschwindendes-grafen/ (04.05.2019). 8Vgl. Sokal und Bricmont (1998). In den im Anschluss an diesen Rundumschlag gegen postmodernes Denken entstandenen Texten zu Lacans Wissenschaftsverständnis kam es zu einer durchaus produktiven Selbstverständigung innerhalb einer an Lacans Texten interessierten Forschungscommunity (vgl. als Beispiel Glynos und Stavrakakis 2002).
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die Topologie in sein Argumentieren ein. Die Brüche in seinem Gebrauch topologischer Figuren und Funktionen lassen sich nicht leugnen (vgl. Kadi 2017). Doch das Ziel dieses ungewöhnlichen Gebrauchs liegt nicht in der korrekten Anwendung mathematischer Regeln. Sondern Lacan setzt spielerisch und ironisch, methodisch durchaus mutig variierend formale Mittel ein, um den Ort der Psychoanalyse zu markieren – einen Ort, den er sowohl als Folge (vgl. Milner 2003) wie auch inmitten einer neuzeitlich geprägten Wissenschaft sehen will. Gleichwohl ist die Psychoanalyse für ihn keine Wissenschaft, sondern in erster Linie eine Praxis (vgl. Lacan 1975c, S. 53). Der Rückgriff auf topologische Theoreme gestattet spekulative Überlegungen dazu, wie in der Praxis der Psychoanalyse Unbekanntes, noch nicht Gewusstes und Unbewusstes ins Arbeiten kommen kann. Die genannten Brüche verhindern die Entstehung eines in sich geschlossenen, kohärenten Theoriegebäudes, das Lacan ablehnen muss,9 weil es dem Gegenstand der Psychoanalyse nicht gerecht würde. Zudem verdankt sich Lacans Vorgehen auch jenem Bruch, der sich in der Psychoanalyse zwischen dem Körper als Objekt der Forschung und dem Körper als Akteur auf der Seite des Subjekts auftut.
2 Privilegierung der Schrift? Auch wenn Lacan in seinen Seminaren von der Topologie spricht, bezieht er sie vor allem in nicht-gesprochener Form als Schrift, als Topographie, ein. Der Unterschied zwischen Sprechen und Schreiben war ihm generell wichtig. Er hat auf die Differenzen zwischen einem akustisch mit Worten und einem bildhaft, mittels Buchstaben, vermittelten Zeichensystem hingewiesen: Im Vergleich mit der gesprochenen Sprache zeige sich, dass sich Geschriebenes nicht hören lasse (vgl. Lacan 2006, S. 61). Aber Geschriebenes kann neuerlich gelesen werden, was bei Gesprochenem nicht ohne technische Hilfsmittel möglich ist. In Zusammenhang mit logischen Notationen inszenierte Lacan die Differenzen zwischen Wort und Schrift. So forderte er 1966 in seinem Seminar auf, man möge an der Tafel des Hörsaals die Ziffern 1, 2, 3, 4 schreiben und „die kleinste ganze Zahl, die nicht auf dieser Tafel notiert ist“ hinzufügen (vgl. auch für das Folgende Lacan o. J.a, Sitzung vom 23.11.1966, Übers. UK). Nachdem eine Studentin die vier Ziffern samt Anweisung auf die Tafel geschrieben hatte, wies Lacan darauf hin, dass sie auch einfach der Anweisung hätte folgen können und statt des sprachlichen Ausdrucks auch 5, dann 6, dann 7, dann 8 usw. hätte schreiben können. Ohne Ende.
9Lacan
hat sich angeblich auch gegen einen von ihm so benannten Schuleneffekt (effet d’école) ausgesprochen (vgl. die Einleitung des Übersetzers zu Badiou und Roudinesco 2014). Seine Einbeziehung der Topologie ließe sich vor diesem Hintergrund als Versuch ansehen, eine jenseits von Schulen der Psychoanalyse verbreitete Begrifflichkeit gegen einen effet de colle (Klebstoffeffekt) zu verwenden – gegen einen imaginären Zusammenhalt von Gruppen innerhalb der Psychoanalyse mithilfe einzelner Konzepte, komplexer Beschreibungen oder neologistischer Bezeichnungen, die als Klebstoff (la colle) für eine Gruppe fungieren.
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U. Kadi
Sie habe den günstigeren Weg gewählt, die Aufforderung selbst wie eine logische Formel zu notieren, wodurch sie sich das Problem, bei welcher Ziffer sie aufhören solle, erspart habe. Für Lacan bleibt das Geschriebene der gesprochenen Sprache in klinischer Hinsicht nachgeordnet (vgl. Lacan 2006, S. 64). In der psychoanalytischen Praxis wird Geschriebenes in Form von Notizen, Protokollen über Stundenverläufe, klinischen Tagebüchern oder Skizzen zur Verknüpfung von Wahrnehmungen aus der klinischen Behandlung mit bekannten oder gerade entdeckten theoretischen Ansätzen wichtig. Schriftliches kann nachträglich als Beweis, etwa eines Versprechers, dienen (vgl. Lacan 1975b, S. 43). In der theoretischen Arbeit besteht ebenfalls kein Anlass zur Vernachlässigung von Geschriebenem, denn im Geschriebenen liegt die einzige Möglichkeit, die Sprache näher zu untersuchen, sie zu befragen (vgl. Lacan 2006, S. 64). Die Weise, wie Lacan auf die Verschriftlichung setzt, lässt sich als ein ambiguer Kotau vor Derridas (1967) grammatologischem Einsatz verstehen.10 Derrida fokussiert eine historische Vernachlässigung der Schrift, die Lacan so nicht im Blick hat (vgl. Kadi 2007). Lacan sieht in der Schrift nichts Vorausliegendes, sondern betrachtet sie als einen Effekt der Sprache – als einen Effekt, der ihm wichtig ist. Mit einer an Heidegger erinnernden Formulierung charakterisiert er Sprache als „Heimstatt“ für die Wahrheit und – wie zuvor in seinem legendären Wiener Vortrag (Lacan 1966c) – als einen „Anderen der Wahrheit“ (vgl. Lacan 2006, S. 64).11 Die Wahrheit spricht. In der Psychoanalyse spricht sie aus den Neurotikern selbst (vgl. Lacan o. J.b, Sitzung vom 12.01.1966). Wahrheit hängt an der gesprochenen Sprache, während die Logik als eine Spur von Sprache auf die Seite der Schrift fällt. Dort sammeln sich das Wissen und die Möglichkeit, etwas zu wissen. Schreiben heißt für Lacan: in Formeln fassen, formalisieren, Wissenschaft betreiben. Und es bedeutet auch: Es geht in der Verschriftlichung nicht direkt an die Wahrheit. Im festlegenden Schreiben bleibt etwas an der Wahrheit unzugänglich. Lacan erläutert diese Unzugänglichkeit mithilfe einer von vielen Bemerkungen zum sexuellen Verhältnis: Das sexuelle Verhältnis lässt sich nicht schreiben (vgl. Lacan 2006, S. 65), es ist nicht auf den Punkt zu bringen, kann nicht gewusst werden.12 10Vgl. zur Bezugnahme auf Derrida auch die vermutlich nicht von Lacan selbst stammenden Verweise in Lacan (2011, S. 248). 11Diesem Anderen hatte Lacan ein weibliches Geschlecht zugewiesen (vgl. Lacan 1966c, passim). Eine solche Geschlechtsbestimmung von Wahrheit, anknüpfend an Nietzsches Vermutung, die Wahrheit lasse sich als ein Weib ansehen, wird von Lacan damals nicht nietzscheanisch wegen der Verbergung von Gründen eingeführt, sondern im Kontext der psychoanalytischen Erkenntnis, dass es Sexualität und sexuelle Phantasien sind, die sämtliche Annahmen über die Wahrheit prägen. Seinen eigenen männlichen Standpunkt relativiert er dabei wie in vielen anderen Zusammenhängen nicht. 12Daran hält Lacan auch Jahre später noch fest: „Wenn ich aussage, dass es kein Geschlechtsverhältnis gibt, bezeichne ich einen sehr lokalen Punkt. Ein R markieren und es zwischen x und y zu setzen, um die Beziehung zu bezeichnen, das heißt, auf Anhieb ins Spiel des Schriebs [Geschriebenen, Übers. U.K.] einzutreten. Was das Geschlechtsverhältnis angeht, so ist es strikt unmöglich, auf irgendeine Weise xRy zu schreiben. Es gibt keine logifizierbare und zugleich mathematisierbare Erarbeitung [Ausarbeitung, Übers. R. Nemitz] des Geschlechtsverhältnisses – das ist der Akzent, den ich auf diese Aussage lege –, es gibt kein Geschlechtsverhältnis“ (Lacan 2012, S. 51).
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Zwischen Wissen und Wahrheit denkt Lacan sowohl Trennung wie fließende Übergänge. Er, der schon früh in seiner Lehre nicht nur zurück zu Freud, sondern auch zurück zu Descartes will (vgl. Badiou 2003, S. 33), gelangt zu der für ihn zentralen Gegenüberstellung von Wissen und Wahrheit im Gefolge seiner (kritischen13) Lesart des cartesischen Cogito, die er Mitte der 60er Jahre entfaltet. Zu dieser Zeit spricht er von einer Spaltung des Subjekts in ein Subjekt des Wissens und ein Subjekt der Wahrheit. Diese Spaltung ist Folge einer in Descartes’ Formulierung enthaltenen, das Subjekt entfremdenden Wahl zwischen einem „Ich denke nicht“ und einem „Ich bin nicht“.14 Sobald das Subjekt nicht denkt, muss es an seinem Sein (hier verstanden als seine Existenz) zweifeln. Dem Zweifel kann es durch eine zu Wissen führende Denktätigkeit zu entkommen versuchen. Das ist die Tätigkeit des Subjekts des Wissens. Descartes versucht dem Subjekt den Zweifel an seinem Sein, der nur jeweils für den Moment des Denkens verschwinden kann, durch den Verweis auf Gott zu nehmen. Das Subjekt der Wahrheit erhebt sich über den Zweifel am Sein. So kommt das cartesische Subjekt der Wissenschaft zu seinen beiden Anteilen: Es lässt sich als Subjekt der Wahrheit und als Subjekt des Wissens – an den Übergängen nicht klar unterscheidbar – auf einem Möbiusband vorstellen (vgl. Lacan o. J.b, Sitzung vom 01.12.1965). In der Psychoanalyse sind es die AnalytikerInnen, die als Subjekte der Wissenschaft fungieren (vgl. Lacan o. J.b, Sitzung vom 12.01.1966). Doch auf ihrer Seite bleibt die Wahrheit vor allem entzogen. Sie bringen mit ihren (An-)Deutungen die Wahrheit auf der Seite der AnalysandInnen zum Sprechen (vgl. Lacan 2006, S. 13). Das Subjekt der Wissenschaft ist auf das Schreiben angewiesen. Lacan nutzt dazu sogenannte Matheme,15 die als solche Wissen hervorbringen und sich selbst vermitteln (vgl. 2011, S. 152). Mithilfe von Mathemen wird „Wissen über Wahrheit“ zugänglich (vgl. 2011, S. 199). Das ließe sich so verstehen, dass Matheme einen Raum bilden, in welchen subjektive Erfahrungen projiziert und übertragen werden, wodurch eine wissenschaftlich legitimierbare, möglichst verlustarme Vermittlung gewährleistet wäre (vgl. Badiou und Roudinesco 2014, S. 49 f.). Doch Lacan favorisiert nicht die Möglichkeit, mit der Schrift einen Verlust zu vermeiden. „Es gibt nur Wissen in dem Sinne […], dass man sich […] vertut“ (Lacan 2009, S. 13). Die Schrift ist „Anlass von allerart Missverständnissen“ (Lacan 2006, 62, Übers. U.K.). Einiges von dem, was im schriftlich vermittelten Wissen als falsch gilt, verweist gerade auf Wahrheit: „In der klassischen Logik, man bedenke das, wird das Falsche nicht nur als Kehrseite der Wahrheit wahrgenommen, es bezeichnet sie auch gut“ (Lacan 1973a, S. 15, Übers. U.K.).
13Descartes übersehe, dass er mit der Formel des Cogito nicht nur zu sich selbst spricht, sondern einen anderen anspricht (vgl. Lacan o. J.a, Sitzung vom 11.01.1967). 14Bezüglich der gegenüber Descartes eingefügten Negation der Aussagen vgl. in Lacan (o. J.a) die Sitzungen vom 14.12.1966, 11.01.1967; bezüglich der erzwungenen Wahl (vgl. Lacan o. J.a, Sitzung vom 18.01.1967, 15.02.1967). 15Mit
dem in Anlehnung an Claude Lévi-Strauss’ Mythem gebildeten Neologismus „Mathem“ bezeichnet Lacan eine Notation im Stile der Mathematik.
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Das schriftlich festgehaltene Wissen eines wissenschaftlichen Zugangs in der Psychoanalyse im Sinne Lacans kann nicht alles fassen – eine Folge eines „geschwächten“ Binarismus (vgl. Sciacchitano 2008, S. 38): Darin gilt als wahr, was man weiß, und als falsch, was nicht gewusst wird oder einem Wissen (noch) nicht zugänglich ist (vgl. Sciacchitano 2008, S. 38).16 Beispielhaft lässt sich in diesem Sinne sagen: Da es – nicht zuletzt aufgrund der Beteiligung von Körpern – unmöglich ist, das sexuelle Verhältnis zu wissen, gibt es kein sexuelles Verhältnis.
3 Körper in der Psychoanalyse? Das oben beschriebene Verständnis von Wissen folgt Descartes’ trennender Unterscheidung von res extensa und res cogitans. Der als res extensa bearbeitete Körper gestattet es, mit empirischen Methoden vermittelbares Wissen herzustellen. Es ist ein Wissen über einen Körper, der als ein Gegenstand aufgefasst wird. Die dabei entstehende Konstellation zwischen einem nach Wissen strebenden Subjekt und einem zu erforschenden Objekt enthält eine bekannte Hierarchie: Eine tendenziell männlich konnotierte res cogitans macht sich über eine tendenziell weiblich konnotierte res extensa her (vgl. Bitsch 2009, S. 137).17 Lacan hat Wissenschaft auch als sexuelle Technik gekennzeichnet (Lacan 1973b, S. 170). Doch weder sexuell konnotierte Erkenntnisbedingungen aufseiten des erkennenden Subjekts der Wissenschaft noch vom Körperobjekt ausgehende sexuelle Attraktionen sollen bewusst werden. Die phänomenologisch fragwürdige cartesische Trennung in Körper und Seele überzeugt auch Lacan nicht. Er macht sich auf seine Weise darüber lustig: Der Mensch könne sagen, dass er ein Körper sei. Das sei durchaus vernünftig. Aber um zu sagen, dass er einen Körper habe, müsse er ihn wie ein Möbelstück behandeln – was ja durchaus vorkomme, wenn der Mensch seinen Körper in einen Eisenbahnwaggon stelle und sich mitschleppen lasse (vgl. Lacan 1975b, S. 49 f.). Die Selbstverständlichkeit, ein Körper zu sein, wird im Alltag wie in der Psychoanalyse erst relevant, wenn sie verloren ist. Körperliche oder auf den Körper bezogene Symptome machen aus einem Körper, der wir sind, einen Körper, den wir haben. Im Umgang mit solchen Symptomen unterscheidet sich der psychoanalytische Blick von einem medizinischen: In der Psychoanalyse finden sich nicht die geringsten Hinweise über das Funktionieren des Körpers (vgl. Lacan 1975c, S. 54).
16Bezüglich
der Rolle des Binarismus in der aristotelischen Semantik und der Notwendigkeit seiner Schwächung für die Psychoanalyse vgl. Sciacchitano (2004, S. 85 ff.). 17Nicht zufällig (und auch nicht erst mit Descartes) finden sich Frauen und Körper gemeinsam auf einer Seite (vgl. Kadi 2006).
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Der Körper mischt mit beim Sprechen: ohne Stimmbänder, ohne Zunge, Gaumen oder Gesicht, ohne Atmung, ohne Bewegung und ohne Beteiligung einer Vielzahl körperlicher Organe lässt sich kein Satz bilden. Der Körper wird als Instrument der Sprache verwendet, scheint aber zunächst gegenüber dieser in der Psychoanalyse zentralen Instanz ebenso wie gegenüber dem (sprachlich strukturierten) Unbewussten etwas Äußeres zu bleiben (vgl. Lacan 1975a, S. 15). Obwohl er durch die Sprache als Körper angezeigt wird, hat er selbst eine andere Form als das (sprachlich strukturierte) Unbewusste. Das Unbewusste ist „discordant“ (Lacan 2012, S. 22), hat Lacan einmal zum Verhältnis zwischen Körper und Unbewusstem gemeint. Die trennende Grenze zwischen beiden wird mit der Vorsilbe „dis“ markiert, während der Klang des Ausdrucks „discordant“ im Französischen den Körper (corps) als Wort einschließt und auf diese Weise eine Verbindung zwischen dem Körper und dem Unbewussten markiert.18 In der Praxis wie in der Theorie der Psychoanalyse rückt der Körper dort in den Vordergrund, wo Freud den Narzissmus als „den fundamentalen Knoten“ für das Weltverhältnis des Menschen ausmacht (vgl. auch für das Folgende Lacan 1975c, S. 54). Der Körper wird als eine Form wahrgenommen. Der entwicklungspsychologisch frühe Zusammenhang, in welchem der eigene wie der fremde Körper als Formen auftauchen, besteht fort und bestimmt das Verhältnis des Subjekts zu einer Welt, die zunächst nur als einheitliches Bild des Körpers repräsentiert ist, was Lacan in seiner Theorie des Spiegelstadiums (Lacan 1966a) darstellt.19 Frühe und spätere Effekte des Körpers werden psychisch gemeinsam bestimmend: Der haltgebende frühe Panzer des Bildes wird zum Zufluchtsort. Wenn das Subjekt realisiert, dass es einen Verlust erlitten hat, werden imaginäre Stücke des Körpers zu Hilfsmitteln, um dem Verlorenen näherzukommen (Lacan 2005a, S. 158). Auf solche Täuschungen ist der Mensch zwar angewiesen (vgl. Boelderl 2017), aber fassbar wird der Körper trotz der Schlüsselstellung seines Bildes nicht. Denn es muss sich angesichts der Möglichkeit einer Täuschung zumindest ein methodischer Zweifel einstellen. Das Subjekt des Wissens, das sich dem Zweifel entgegenstellt und sich der Topographie bedient, weiß, dass es einen Körper hat. Denn es ist mit Effekten beschäftigt, die auf Wirkungen des Körpers schließen lassen. Lacan arbeitet mit topologischen Mitteln Aspekte dieses Körpers heraus: die Wieder-Holung verlorener Stücke einer ganzen Gestalt des Körpers in der Auswahl der Darstellungsmittel und die Reflexion des Subjekt in seiner Darstellung des eigenen Körpers. Der vom Subjekt des Wissens aus dem Torus gewonnene Ring des Knotens
18Anzumerken ist, dass Lacan auch von einem unbewussten Wissen spricht. Mit dieser Verdoppelung der bewussten Struktur des Wissens macht er deutlich, dass das Unbewusste, mit dem es AnalytikerInnen heute zu tun bekommen, nicht jenseits eines neuzeitlichen Wissenschaftsbegriffs besteht. Er geht noch weiter: Die moderne Physik denke dieses Wissen als der Materie selbst eingeschrieben (vgl. Lacan 2012, Sitzung vom 14.01.1975). 19Dieses Theorem hat viel Verbreitung gefunden, wurde unter anderem auch von Maurice Merleau-Ponty (1988) aufgenommen.
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wiederholt basale geometrale Momente des Körpers – des Körpers als einer Oberfläche (vgl. Lacan 1975c, S. 54). Die Klein’sche Flasche, vor allem aber die Knoten, mit denen sich Wissen vermittelt, folgen der schönen, sphärischen Form, reflektieren die (embryonale) Blase und den Hautsack (vgl. Lacan 1975c, S. 54). Die Knotenschrift, die wie jede Schrift den symbolischen Gehalt des Gesprochenen in Frage stellen kann, verweist nicht nur auf das imaginäre Feld täuschungsanfälliger Spiegelungen, sondern lässt die Darstellung zu einem Gegenstand einer sich seiner selbst vergewissernden Begeisterung des Subjekts werden. Das Subjekt der Wahrheit wird von Lacan als ein Subjekt des Sprechens beschrieben. Doch es ist stets auch ein Körper. Der Körper des Subjekts der Wahrheit geht nicht auf im Körper des Subjekts des Wissens. Denn der Körper des Subjekts der Wahrheit umfasst auch einen Bereich, der einem klaren Wissen im Sinne Descartes’ entzogen bleiben muss. Dieser Bereich rückt erst zwei Jahrhunderte nach Descartes in den Vordergrund, als sich Mitte des 19. Jahrhunderts ein Bruch zwischen einer klassischen Wissenschaftsauffassung und einer modernen auftut, der eine gesonderte Beschreibung des Körpers des Subjekts der Wahrheit erst möglich macht: „An die Stelle der bis zum Ende des 19. Jahrhunderts vorstellbaren Natur tritt ein Bereich der absoluten Unerfahrbarkeit oder Unberechenbarkeit, den Lacan als das Reale benannt hat, und der die unterschiedlichsten Wissenschaftsbereiche wie ein pathogener Tsunami erfasst“ (Bitsch 2009, S. 143).20 Die Entdeckung der Psychoanalyse kündigt sich an. Denn der Umbruch fällt in die Zeit, in welcher vor Sigmund Freud und bald vor allem von diesem selbst das Unbewusste als triebbestimmter, produktiver, kreativer und jedenfalls nicht zu übergehender Ort thematisiert wird.21 Lacan reagiert mit seinem Konzept des Realen auf eine veränderte Wissenschaftslandschaft. Wissen und Wahrheit waren (seit und mit Descartes’ Abtrennung des Körpers) in neuzeitlichen Formen von (Natur-)Wissenschaft auseinandergeraten: Die Bezeugung von Wahrheit, wie sie Descartes noch mit seinem Hinweis auf Gott einbezogen hatte, hat einem methodisch klar beschriebenen Erwerb von Wissen Platz gemacht. Doch der erwähnte, zweihundert Jahre später eintretende Bruch hat in der Folge deutlich werden lassen, dass Wissenschaft mit Wahrheit, insofern diese auf eine Ungewissheit bezogen ist, verbunden bleibt (vgl. Lacan 1966d, S. 79). Der Körper in der Psychoanalyse fällt nicht mit dem Körper des Subjekts des Wissens zusammen, aber auch nicht mit dem Unbewussten, mit der Psyche oder
20In
Reaktion auf solche destabilisierenden Aussichten in der Wissenschaft setzt eine DenkGegenbewegung ein, die eine Aneignung des Ungewussten anstrebt, indem sie aus dem Anderen des Realen einen Gleichen machen möchte (vgl. Foucault 1974, S. 396) – nicht zuletzt als Reaktion auf die Unzugänglichkeit, mit der sich dieses Feld einem direkten empirischen Zugriff entzieht. Als könne das Andere der Wahrheit zum Verschwinden gebracht werden, indem es wie ein Gleiches beobachtet, berechnet oder vorhergesagt wird. 21Freud kennt anders als Lacan kein Reales. Mit seiner ersten Topik weist er dem Unbewussten als etwas Unerfahrbarem zwar einen zentralen Platz zu, andererseits lässt sich mit der Einführung seiner zweiten Topik (Freud 1999a) klinisch wie metapsychologisch manches als Teil einer Absage an das schwer oder gar nicht Zugängliche lesen.
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dem Realen (vgl. Lacan 1975d, S. 189). Lacan nutzt sein Konzept des Realen, um eine wissenschaftstheoretische Unpassung des Körpers benennen zu können. Die topologischen Ansätze Lacans sind nicht nur Figurationen des Wissens, mit welchen der Körper als erforschbarer Gegenstand untersucht wird. Sie gestatten über den Begriff des Realen eine topographische Einbeziehung auch der unfasslichen Aspekte des Körpers – Aspekte, die sich auf der Seite des Seins (vgl. Lacan 1975a, S. 100), nicht des Denkens finden. Auch wenn er mitmischt beim Sprechen (vgl. Lacan 2001a, 307), spricht der Körper als solcher nicht. Wahrheit kann nur dann auftauchen, wenn Sätze gebildet werden (vgl. Lacan 1975b, S. 43). Abgesehen vom Subjekt des Wissens, das den Körper als res extensa in seinen Funktionen beschreiben, experimentell erforschen und berechnen kann, erweist sich der Körper als solcher für das Denken als etwas Anstößiges, als etwas, woran sich und worauf das Subjekt stößt. Dem Subjekt der Wahrheit bleibt die Möglichkeit, Zeugnis von einer realen Unzugänglichkeit, von einem aus der Unzugänglichkeit folgenden Ausschluss des Körpers zu geben, indem es über Markierungen spricht, die sich vom Körper bewusst oder unbewusst finden (vgl. Lacan 1975b, S. 50).
4 Körper als Fleisch? Lacan unterscheidet ein Sprechen (und Schreiben) über das Symbolische, das Imaginäre und das Reale eines Körpers.22 Abgesehen von diesen Körpern, die durch ihr Verhältnis zur oder ihren Widerstand gegenüber Sprache geformt sind, spricht Lacan aber auch vom Fleisch (la chair) – vom Fleisch als einem Sand, in welchen Symbole geschrieben sind (Lacan 1966b, S. 280), und vom Fleisch des Subjekts, in welches das Symptom eingeschrieben (Lacan 1966b, S. 306) oder hineingedrückt (vgl. Lacan 1966c, S. 415) ist. Das Fleisch verweist auf das Subjekt der Wahrheit. Gegenüber Maurice Merleau-Ponty präsentiert sich Lacan selbst zwar auf der Seite des Subjekts des Wissens,23 aber er gibt die Perspektive eines Subjekts der Wahrheit (auf der Couch) nicht auf. Auch er glaube, dass Wahrheit stets inkarniert sei; wo das Wort Fleisch werde, gehe es um Wahrheit (vgl. Caruso 1969, S. 110). Bei anderer Gelegenheit charakterisiert Lacan das Zusammentreffen von Wort und Fleisch als eine Hervorbringung eines zweiten Körpers durch Inkorporation eines ersten symbolischen in diesem zweiten Körper (vgl. Lacan 2001d, S. 409). Später nennt Lacan den Körper des Symbolischen „lalangue“ (Lacan 2009, S. 4) und stellt mit dieser Bezeichnung eine Verknüpfung
22Siehe
Rolf Nemitz’ Text im vorliegenden Band. seinem Nachruf auf den verstorbenen Freund bemerkt Lacan, Merleau-Ponty habe in seiner Phänomenologie der Wahrnehmung den Schritt nicht gewagt, eine auf den Intuitionen der Wahrnehmung von Körpern (mit einem bestimmten Gewicht) ruhende, physikalisch allerdings falsche Realitätsauffassung als eine Konstruktion zu entlarven, was sich mithilfe historischer Umbrüche wie jenes von Galilei leicht hätte argumentieren lassen (vgl. Lacan 2001c, S. 176). 23In
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zu einem frühen Brabbeln her, zur Silbenproduktion noch vor einer fassbaren Sinnbildung. Sprache und ihre Vorformen sind mit dem Körper des Subjekts der Wahrheit verflochten.24 Dass in der Formulierung einer Fleischwerdung das Johannesevangelium anklingt, mag erstaunen. Im Spiel mit solchen theologischen Formeln hält Lacan an historisch wirksamen Vorstellungen über Wahrheit fest, die er mit zeitgenössischem Wissensgut kombiniert.25 Wohin sein Fleischkonzept reicht, was es vor allem nicht impliziert, lässt sich mit Bezug auf die hervorgehobene Stellung des Fleisches bei Merleau-Ponty genauer darstellen. Anders als bei Descartes, der mit dem Fleisch (la chair) den nicht aus Knochen bestehenden somatischen Anteil der menschlichen Körpermaschine (des Körpers des Subjekts des Wissens) bezeichnet, hat das Fleisch (la chair) bei Merleau-Ponty einen weiteren Umfang. Im Konzept des Leibs (le corps de chair)26 werden von Merleau-Ponty in phänomenologischer Tradition Zusammenhänge zwischen dem Körper und der umgebenden Welt beschrieben. Ausgehend von der Erfahrung, dass Subjekte ihren Körper im Regelfall nicht als einen Gegenstand unter anderen ansehen, unterstreicht Merleau-Ponty: Subjekte sind Körper (vgl. Merleau-Ponty 1945, S. 175) und reichen gleichzeitig leiblich über die Grenzen ihrer Haut hinaus. Ja, sie erweisen sich als eng verknüpft mit den wahrgenommenen Dingen. Der Sehsinn beispielsweise ermöglicht eine „Vermählung“ zwischen Leib und (Logik der) Welt, zumal der „Leib [weiß], was das Mehr oder Weniger dieser oder jener Farbe für das Ganze [der] Erfahrung bedeutet“ (Merleau-Ponty 1945, S. 377). Der Körper ist nicht in erster Linie im Raum, sondern zum Raum (vgl. Merleau-Ponty 1945, S. 173). Die Verbindung zwischen dem Körper und der Welt ist eng. Und Merleau-Pontys Beschreibung der Verbindung lässt im Kontext topologischer Ansätze Lacans aufhorchen: In der Erfahrung, ein Körper zu sein, sind Subjekte mit der Welt verknotet (vgl. Merleau-Ponty 1945, S. 173). Auch aus Lacans psychoanalytischer Perspektive ist der Körper nicht in den Grenzen seiner Haut eingesperrt. Lacan denkt die Konstituierung der Körperwahrnehmung von außen her: In seiner Theorie des Spiegelstadiums ist es das Bild eines anderen, eines fremden Körpers und insofern etwas dem Subjekt Äußeres, was Vorstellungen von Kohärenz und Einheit des eigenen Körpers erst möglich macht (vgl. Lacan 1966a). Später ist es der Signifikant, dem Lacan eine Funktion der Vereinheitlichung zuschreibt angesichts der Diskordanz des wie ein tierischer Organismus gegebenen Körpers (vgl. Lacan 1966b), bevor er den Signifikanten als Parasiten des Körpers bezeichnet (vgl. Lacan 2009, S. 58). Die Libido begreift er als ein Organ außerhalb des Körpers (Lacan 1973b, S. 179 ff.). Auch 24In
seinem Seminar XXIII hebt Lacan die Verkörperung der Sprache durch die Stimme und das Hören hervor (vgl. Lacan 2005b, S. 17). Vgl. dazu Mai Wegeners Text im vorliegenden Band. 25Er wiederholt und verdoppelt religiöse Formulierungen, als seien sie koaguliert (vgl. Sous 2015, S. 68), ohne dass er selbst durchgehend an ihrem Sinn festzuhalten scheint, als wollte er auch außerhalb des Behandlungsraums das Unbewusste ins Arbeiten bringen. 26Den „Leib“ als corps de chair zu übersetzen folgt Duportail (2011). Siehe dazu kritisch und zur Frage der Übersetzung des nur im Deutschen gängigen Begriffs „Leib“ bei Merleau-Ponty Alloa (2012, S. 39).
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die phallische Lust ist etwas „Außerkörperliches“ (vgl. Lacan 1975d, S. 190). Und dass für die Liebe die Grenzen zwischen dem Körper und der Dingwelt nicht gelten, zeigt Lacan ironisch an einem Liebesverhältnis zwischen einer Mönchskutte27 und ihrem Träger, in welchem der Körper des Mönches für die Kutte zu einem Objekt a, einer libidinös aufgeladenen Restkategorie, mutiert (vgl. Lacan 1975a, S. 12). Mit solchen Beispielen kann sich der Eindruck einstellen, dass Lacan implizit den Körper als Fleisch mitdenkt – als hätte er eine posthume Aufforderung Merleau-Pontys sehr ernst genommen. Denn der betont in einer Arbeitsnotiz, dass die Psychoanalyse eine „Philosophie des Fleisches“ brauche, weil sie sonst nichts anderes als eine weitere Anthropologie wäre (Merleau-Ponty 1964, S. 315). Es wäre freilich unpassend, Lacans Psychoanalyseauffassung als anthropologische zu charakterisieren.28 Doch die Berührungspunkte zwischen Merleau-Pontys und Lacans Ansätzen haben Guy Félix Duportail bewogen, dem Ergänzungspotenzial zwischen beiden im Sinne einer „Analytik des Fleisches“ (Duportail 2011) nachzugehen. Dieser Versuch einer Engführung lässt zwar manche Divergenzen unberücksichtigt, eröffnet aber doch ein noch breiteres Verständnis einzelner Züge von Lacans Körper- und Fleischauffassung. Zu diesen Zügen gehört ein Zweifel an einem selbstverständlichen Körpersein. Am Beispiel von James Joyce und dessen Erfahrung erlittener Stockschläge insistiert Lacan auf einer Perspektive, die er unter Verweis auf Freuds Unbewusstes als spezifisch psychoanalytische charakterisiert: Man ist kein Körper, sondern man hat einen, der vor allem fremd ist (Lacan 2005b, S. 149). Anders als in der oben erwähnten Bemerkung über den Körper als Möbelstück legt Lacan hier offenbar kein Gewicht auf den Verlust der alltäglichen Erfahrung, ein Körper zu sein, sondern unterstreicht die auf der imaginären Genese jeder Körpervorstellung aufruhende Option, dass sich Joyce’ Körper im Rahmen einer
27Lebendigkeit
ist kein Kriterium für Lacans Körperbegriff, auch ein Computer oder ein Automobil gelten ihm als Körper (vgl. Lacan 2012, S. 4). In aktuellen Fortschreibungen Lacan’scher Ansätze wird dies gerne übergangen. Vgl. als ein solches Beispiel Miller (2019). 28Lacan hatte keine Anthropologie im Sinne eines naturalismusverdächtigen philosophischen Unternehmens im Blick, das sich mit Namen wie Plessner oder Scheler verknüpft. Und auch Anthropologien, wie sie in moralphilosophischen Diskursen gepflegt werden oder in manchen kulturphilosophischen Argumentationen, waren nicht seine Sache. Lacan wollte mit einem Rekurs auf einen „auf den ganzen Menschen gerichteten Impuls der Sinnproduktion“ (Rölli 2010, S. 7) nichts zu tun haben. Er wendet sich an mehreren Stellen seiner Lehre gegen humanistische Lektüren von Freuds Ansatz (vgl. als Beispiel Lacan 2001e, S. 211), tritt nach anfänglicher Begeisterung gegen eine anthropologische Hegel-Lektüre im Stil Kojèves und Sartres auf (vgl. Lucchelli 2016, S. 333) und ist in diesem Sinne Teil eines neueren französischen Antihumanismus, zu dem neben Lacan auch Deleuze, Foucault und Althusser zu zählen wären (vgl. Cremonini 2010, S. 52). Soler (2008) bezweifelt sogar Lacans Treue zu einem strukturanthropologischen Projekt, während Cremonini betont, dass Lacan Lévi-Strauss’ Strukturanthropologie aus seiner Anthropologie-Ablehnung explizit ausgeklammert habe, worin er zusammen mit „typischen Bildungen des Unbewussten“ (Cremonini 2010, S. 57) einen Hinweis auf eine Minimalanthropologie Lacans sehen möchte.
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Symptombildung in der Art einer fremden Schale ablöst und verschwindet (vgl. Lacan 2005b, S. 150). Seine Vorstellung eines vorwiegend illusionär eigenen und insofern ausgeschlossenen Körpers des Imaginären gewinnt Lacan aus der klinischen Praxis. Wegen der Verquickung mit einer Symptombildung muss eine solche Wendung vom Körpersein zum Körper(nicht)haben nicht unbedingt in Widerspruch zu Lacans Möbelstückvergleich gelesen werden. Auch die Hervorhebung der Fremdheit des eigenen Körpers bringt Lacans Körperauffassung noch nicht in einen scharfen Gegensatz zu Merleau-Ponty. Hinsichtlich einer ontologischen Verankerung des Körpers werden die Unterschiede allerdings deutlicher: Merleau-Ponty gilt das fleischliche Sein in seinem Spätwerk als ein Prototyp des Seins, das sich einer paradoxen Blickbewegung im Sichtbaren verdankt, hinter welchem sich die Gesamtheit des Sichtbaren verbirgt (vgl. Merleau-Ponty 1964, S. 177 f.). Lacan hingegen lehnt den Gedanken einer das Subjekt fundierenden Verleiblichung des Sehens ab (vgl. Lacan 2001e, S. 203). Das verführerische Bild des eigenen Körpers schafft etwas, was sich anbeten lässt (vgl. Lacan 2005b, S. 66). Sehen und anonymer Blick täuschen (vgl. Lacan 2001e, S. 203). In der Psychoanalyse hat nicht das Fleisch, sondern der fremde und insofern aus dem Eigenen ausgeschlossene Körper samt den vergeblichen, weil illusionären Versuchen seiner vollständigen Aneignung Vorrang. Merleau-Ponty betont die Kontinuität zwischen dem Körper und der Welt auch, weil Körper und Welt aus demselben Fleisch gemacht sind (vgl. MerleauPonty 1964, S. 297). Es wird dabei noch deutlicher, dass Lacans Rede vom Fleisch als einer Dimension, die nicht das Wissen, sondern die Wahrheit betrifft, eine andere ist als diejenige Merleau-Pontys. Lacan betont, dass das Reale in der Psychoanalyse die Welt nicht einbezieht (vgl. Lacan 2005b, S. 154). Über den Körper hinausreichende Bezüge führen wohl in den Raum. Die drei zu einem Borromäischen Knoten verknüpften Register machen es möglich, den Raum überhaupt zu berücksichtigen (vgl. Lacan 2009, S. 6 und 59).29 Der dem Subjekt primär fremde und insofern ausgeschlossene Körper taucht ein in den Raum (vgl. Lacan 2009, S. 17), dessen Wahrheit die des Körpers sei (Lacan 2009, S. 24). Lacan denkt offensichtlich auch Kontinuitäten zwischen dem Körper und einem Außerhalb des Körpers. Die einheitliche Fundierung beider, wie Merleau-Ponty mit seinem späten Fleischbegriff nahelegt, spielt aber für ihn, der die Inhomogenitäten zwischen dem Körper und seiner Umgebung hervorhebt, keine Rolle.
5 Fleisch schreiben? Duportail versucht auch, Konsequenzen einer Berücksichtigung des Fleisches für eine wissenschaftliche Herangehensweise zu beschreiben, die Lacan und Merleau-Ponty gemeinsam sind. Dazu liest er Merleau-Ponty aus einer von
29Für
Freuds Verständnis der Psyche war der Raum sehr viel wichtiger als das heute so populäre Thema einer stofflichen Vermittlung im psychischen Apparat (vgl. Freud 1999b, S. 221).
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Lacans topologischen Überlegungen bestimmten Perspektive. Bilder, primordialen Symbolismus und reale Ereignisse sieht Duportail bei Merleau-Ponty zu einem Kleeblattknoten verknüpft, wie ihn auch Lacan immer wieder erwähnt hat (vgl. Duportail 2011). Mit primordialem Symbolismus wird von Merleau-Ponty im Anschluss an Georges Pollitzer auf einen frühen, präkonventionellen Aspekt einer Symbolbildung hingewiesen (vgl. Duportail 2011, S. 134). Die Elemente dieses Symbolismus zeigen im Unterschied zu einer auf Konvention beruhenden Sprache eine in der Wahrnehmung und insofern leiblich vermittelte Verbindung zwischen etwas Wahrgenommenem und seiner Bedeutung. Die ihnen als präsymbolischen Bildungen fehlende innere Beweglichkeit zwischen Bedeutetem und Bedeutendem erinnert an die Verhältnisse bei wahnhaften Symbolbildungen (vgl. Duportail 2011, S. 145). Knotentheoretisch formuliert, bedeutet das: Der Knoten kann nicht halten. Seine Stabilisierung denkt Duportail analog zu Lacans Vorschlag einer sinthomatischen Verknüpfung einer psychotischen Struktur durch einen vierten Ring (vgl. Lacan 2005b, S. 88 ff.), den er unter Bezugnahme auf das Loch der vierten Schlinge, Merleau-Pontys Konzept der Reversibilität30 und den „Wirbel des Fleisches“31 mit einer erforderlichen Kastration und damit mit der Vorstellung einer symbolisch stabilisierenden Funktion des Phallus zusammenbringt (vgl. Duportail 2011, S. 160 ff.). Die in Duportails Beschreibung liegende Kritik an einem „Lapsus MerleauPontys“ (Duportail 2011, S. 142 ff.) hat auch Lacan implizit bereits notiert, als er gegenüber Merleau-Ponty auf dem Primat des Signifikanten, der bei Lacan keine präsymbolischen Bildungen umfasst, bestanden hat (vgl. Lacan 2001c, S. 181). Ob Lacan in den 70er Jahren Duportails impliziter Gegenüberstellung zwischen einer pathologischen (weil strukturgleich mit wahnhaften Bildungen) und einer normalen Struktur zugestimmt hätte, darf bezweifelt werden. Denn Lacan denkt das Subjekt zu der Zeit, in welcher er mit den Knoten argumentiert, vor allem als eine variabel verknüpfte und insofern durch vier Ringe bestimmte Struktur. Er würde daher kaum von einem Lapsus sprechen, sondern Merleau-Pontys Kleeblattknoten eher als eine unter mehreren möglichen Konstellationen ansehen. Die hier erkennbare Diskrepanz lässt sich als ein unvermeidlicher Tribut an eine Zusammenführung von Lacan’schen und Merleau-Ponty’schen Überlegungen betrachten. Auch auf der Seite Lacans tauchen dabei Schwierigkeiten auf. Duportail bezieht sich in dem, was er von Lacan übernimmt, auf eine einzige
30Merleau-Ponty
beschreibt eine Reversibilität zwischen dem Sehen und dem Tasten in einer Domäne, die von diesen Modalitäten bestimmt ist, die gleichwohl nicht zu einem einzelnen Subjekt gehört, an welcher Subjekte in der Weise, in welcher sie auch Mutmaßlich-Sicht- und Tastbares in ihre Wahrnehmung einbeziehen, teilhaben (vgl. Merleau-Ponty 1964, S. 185). 31In einer Arbeitsnotiz erwähnt Merleau-Ponty einen „verräumlichenden, verzeitlichenden Wirbel“ (Übers. U.K.), der „Fleisch“ sei (vgl. Merleau-Ponty 1964, S. 293).
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Stelle in dessen Seminar, die ihn zu einer am Phallus orientierten Auffassung32 des Sinthoms motiviert. Dieses Verständnis widerspricht der weiteren Theorie des Sinthoms bei Lacan.33 Darauf dennoch aufbauend, ändert Duportail Lacans Ansatz weitreichend, weil sich der Dialog im Bereich der Topologie zwischen Lacan’scher Psychoanalyse und Merleau-Pontys phänomenologischem Ansatz nicht ohne erhebliche Modifikationen an Lacans psychoanalytischem Subjekt der Wissenschaft etablieren lässt. Anders als die meisten AutorInnen, die den formalen Charakter mathematischer und im Speziellen topologischer Formulierungen in ihren Überlegungen zu Lacan voraussetzen, will Duportail in Lacans späten Seminaren im Gebrauch topologisch gestützter Argumente die strategische Forderung nach einer Stütze für die Wahrheit durch den großen Anderen hören. Duportail verweist auf Alexandre Koyrés Wissenschafts- und Mathematikverständnis und nennt die Mathematisierung der Psychoanalyse ein notwendiges „metaphysisches“ (Duportail 2012, S. 71) Projekt. Das Descartes’sche Cogito als Paradigma jeglicher Evidenz sei auf den großen Anderen angewiesen (vgl. Duportail 2012, S. 72). Ohne diesen und dessen Garantie gäbe es kein Subjekt der Wissenschaft. Lacan habe die Psychoanalyse zwar nicht als Wissenschaft des Subjekts beschrieben. Doch damit habe er sich nur gegen ein experimentelles Subjekt gewendet (vgl. Duportail 2012, S. 74), das einer Verhaltenspsychologie, nicht aber der Psychoanalyse entspreche. Auf derselben Linie liegt auch Duportails Behauptung, Lacan verwende den Buchstaben, um das Subjekt der Wissenschaft jenseits des Imaginären als Struktur neuerlich zu etablieren (vgl. Duportail 2012, S. 76). Diese Sicht Duportails auf Lacans Anwendung der Topologie lässt sich so verstehen, dass er im Subjekt der Wissenschaft Wissen und Wahrheit wie bei Descartes verknüpft sehen will. Für das Subjekt der Wissenschaft in der Psychoanalyse und ein neuzeitliches Verständnis von Wissenschaft, dem sich Lacan verschrieben hat, trifft dies freilich nicht mehr zu (Lacan 2001c, S. 178). Auch die Funktion des großen Anderen A wird für Lacan im Laufe seiner Lehre mehr und mehr zu einer Fiktion (vgl. Ragland 2015, S. 25). Anders als Duportail behauptet, hat Lacan in topologischer Hinsicht epistemologisch argumentiert – unter Verweis nicht auf Wahrheit, sondern auf Wissen und dessen methodisch klar umschriebenen Erwerb (vgl. Sciacchitano 2008). „Man muß den Weg wählen, auf dem die Wahrheit anzugehen ist“ (Lacan 2005b, S. 15, Übers. Max Kleiner). Freud, „ein mit Vorurteilen vollgestopfter Bourgeois“, habe das Ziel gehabt, „über den Menschen die Wahrheit zu sagen“ (Lacan 2005b, S. 30, Übers. Max Kleiner). Doch für Lacan lässt sich Wahrheit nur halbsagen (vgl. Lacan 2005b, S. 31).
32Grossman
(2010, S. 111) weist zu Recht auf die Fragwürdigkeit einer Orientierung an einer archaisch-phallischen Ontologie in Duportails Lacan-Lektüre hin. 33Vgl. zu diesem Widerspruch in Lacans Beschreibungen und einem Versuch einer integrativen Lesart Moncayo (2017, S. 96).
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Dieses „halb“ ist auf die klinische Praxis zurückzuführen, in der Wahrheit nur von der einen Seite der Couch aus geäußert werden kann. Die nur halbsagbare Wahrheit ist aber vor allem auch in Zusammenhang mit Lacans Verständnis des Körpers als eines eingeschlossenen Ausschlusses zu sehen. Eingeschlossen ist der Körper, weil er in seinem Sein an Wahrheit teilhat, an inkarnierter Wahrheit. Mit topographisch festgehaltenem Wissen über den Körper lässt sich inkarnierte Wahrheit nicht fassen. Der Körper bleibt in dieser Hinsicht topologisch ausgeschlossen (vgl. Nasio 2010, S. 24), selbst dort, wo topographisch ein Wissen von seinem Sein geschrieben wird. Anders als bei Descartes bleibt Wahrheit bei Lacan ohne Stütze, schimmert irrlichternd durch im Sein, das Lacan einmal auch als ein Genießen des Körpers (vgl. Lacan 1975a, S. 12 f.) bezeichnet – jenes Körpers, der im Genießen nicht spricht und der nicht im Spiegel auftaucht.
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Topik, Physik, Dramatik des Menschen körpers. Bei Helmuth Plessner
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Omnia corpora in quibusdam conveniunt. (Benedictus Spinoza)
Zusammenfassung
Helmuth Plessner hat seine Anthropologie in der Nähe der Naturwissenschaften und im Zuge einer eben damit entworfenen Naturphilosophie ausgearbeitet. Folglich meint er mit „Körper“ nicht von vornherein den menschlichen, sondern bestimmt dessen Eigentümlichkeit in Absetzung von den andersartigen. Dabei setzt er solche Kategorien ein wie die des Erscheinungsraumes, des Grenzregimes, der Positionalität, der Exzentrizität, der Lebensführung. In einer kurzen Notiz stellt Plessner das menschliche Körperleben in die unaufhörliche Polarität zwischen den beiden Energiewendungen namens „Ektropie“ und „Entropie“ hinein und korrigiert damit das seit dem späten 19. Jahrhundert aufgekommene Gerücht vom Endsieg der Entropie – also der Entspannung. Womit sich später dann auch Jacques Lacan auseinandergesetzt hat.
Helmuth Plessner lebte von 1892 bis 1985. Diese Jahreszahlen umspannen die Lebenszeiten der anderen drei hier besprochenen Theoretiker – und ebenso erstrecken sich seine Themenstellungen zwischen den großen Gebieten der Natur und der Politik. Beiden Gebieten hat er sich in den frühen 20er Jahren gleichzeitig zugewandt. Eine Naturphilosophie entwarf er mit der Studie Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer
W. Seitter (*) Wien, Österreich E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 U. Kadi und G. Unterthurner (Hrsg.), Macht – Knoten – Fleisch, Abhandlungen zur Philosophie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04957-5_13
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Ästhesiologie des Geistes (1923), wo er die drei Ausrichtungen der Wahrnehmung, die Ausrichtung auf Gegenstand, auf Umfeld und auf Zuständlichkeit, untersucht. In Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus (1924) unterscheidet er die Sozialformen „Gesellschaft“ und „Gemeinschaft“ und warnt vor zu viel Gemeinschaftssehnsucht. Einige Jahre später die Weiterführung der naturphilosophischen Thematik in Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie (1928) und andererseits die Polarisierung von Macht und Ohnmacht in Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht (1931). Eine Polarisierung, die geeignet ist, den Gedanken von der Einförmigkeit und von der Dämonie von „Macht“ in Frage zu stellen. Dass aber auch die Ohnmacht in sehr unterschiedlichen Formen auftritt, hat Plessner in seiner Untersuchung zu Lachen und Weinen (1941) angedeutet. Plessners naturphilosophischer Horizont, den er mit Studien der Medizin und der Biologie in ein zeitgemäßes Format gebracht hatte, bewahrt ihn davor, mit dem Begriff „Körper“ von vornherein hauptsächlich oder gar nur den menschlichen zu meinen. Er subsumiert unter diesen Begriff auch nicht nur die pflanzlichen und die tierischen Körper, sondern alle Dinge im umgangssprachlichen Sinn – also einigermaßen festkörperliche und konsistente Gebilde innerhalb einer bestimmten Größenordnung: „Wesenscharaktere des Körperdings bleiben die gleichen, ob es sich um nicht belebte oder belebte Dinge handelt. Frosch oder Palme unterliegen denselben Erscheinungsgesetzlichkeiten der Dinglichkeit […] wie Stein oder Schuh“ (Plessner 1981a, S. 138). Wichtig ist, dass hier die Erscheinungsgesetzlichkeit betont wird, womit so etwas wie Phänomenalität gesteigert oder intensiviert und indirekt auch die Leiblichkeit des so Redenden inkludiert wird: dasjenige, dem etwas erscheint – also das Wahrnehmende. Die Kennzeichnung des menschlichen Körpers nimmt Plessner in dem Werk mit dem Titel Stufen des Organischen in Angriff. Es könnte aber auch „Stufen der Dinglichkeit“ heißen, denn die erste Vergleichungsebene, die eingeführt wird, umfasst alle „Wahrnehmungsdinge“, auch die anorganischen. Und an ihnen versucht Plessner aufzuzeigen, dass ihre Struktur in einer Konvergenz- und Divergenzspannung aus substanziellem Kern und Mantel von Eigenschaften besteht, einer Doppelaspektivität aus Zentralität und Seitenhaftigkeit, die, wenn schon nicht räumlich, so doch raumbedingend oder raumhaft zu nennen ist (siehe Plessner 1981a, S. 131 ff.).1 Plessner lehnt die Begriffe „Ding“ und „Körper“ aneinander an, und er bleibt bei dieser Begriffsverschränkung auch dort, wo er vom Stein zur Palme und dann zum Frosch und schließlich zum Menschen übergeht. Wenn es um die Nuancierungen zwischen unbelebten und belebten Körpern geht, legt er innerhalb der grundsätzlich sich durchziehenden Doppelaspektivität seine Aufmerksamkeit zunächst nicht etwa auf die jeweiligen Innerlichkeiten, sondern auf die äußerste Äußerlichkeit – also auf Außengrenze, Rand, Kontur. Er meint, dass belebte
1Dass Plessners Begrifflichkeit die Raumdimensionen hervorhebt, wird neuerdings von Peter Sloterdijk unterstrichen (Sloterdijk 2017, S. 34 ff.).
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Körper dort nicht einfach aufhören, sodass dort etwas anderes anfangen kann bzw. muss, vielmehr legen „lebendige Dingkörper“ an ihren Grenzen ein anderes Erscheinungsverhalten an den Tag (Plessner 1981a, S. 148). Womit gleichzeitig die dingnahe Begrifflichkeit durch eine andere Begriffsebene nicht etwa ersetzt, sondern ergänzt wird, in der Verben wie „erscheinen“ und „sich verhalten“ dem Verb „leben“ an die Seite gestellt werden. Der lebende Körper hat nicht nur eine Begrenzung, sondern Grenzübergänge als Eigenschaften, was Plessner in die Kurzformel drängt: Er „realisiert“ seine Grenze, er „vollzieht“ sie, er ist selbst dieser Übergang (siehe Plessner 1981a, S. 154 ff.). Und setzt sich damit in den Stand, mit dem Umfeld lebenserhaltend zu kommunizieren. Plessner setzt also Leben mit einem eigenartigen Verhältnis des Körpers zu seiner Grenze, mit einem „hauthaften“ Verhältnis der Masse eines Dinges zu seiner Form gleich, wobei er auch Analogien mit weiterreichenden Phänomenen wie der „homogenen Tropfenbildung“ nicht ignoriert (Plessner 1981a, S. 145, 177). Natürlich erwähnt er auch die von den Biologen genannten Elementarfunktionen der Lebewesen, die verschiedenen der Selbsterhaltung dienenden „Autoergasien“ – bis hin zu deren Ende in der Sterblichkeit (siehe Plessner 1981a, S. 164 f.). Weitere „indikatorische Wesensmerkmale der Lebendigkeit“ nach dem Grenzregime bilden „Unstetigkeit im Stetigen“, „regelmäßige Unregelmäßigkeit“, „Tendenzcharakter“ der Bewegungen beziehungsweise ihre Spannung zwischen entgegengesetzten Tendenzen (siehe Plessner 1981a, S. 178 ff.). Das dominante phänomenale Wesensmerkmal lebender Körper sieht Plessner in der „Positionalität“, d. h. einem „Gesetzsein“, und das heißt auch in einer Art Schweben zwischen Anhebung und Niedersetzung, wozu dann noch ein Pulsieren der Außengrenze kommt (siehe Plessner 1981a, S. 183 f.). Man könne sich, so Plessner, „davon leicht überzeugen, wenn man auf den phänomenalen Wandel achtet, den ein Ding, von dessen Unbelebtheit Beweise gegeben werden können, unter Umständen durchmacht, sodaß es wie im Märchen plötzlich in voller Anschauung als lebendig dasteht. Aus einem einfachen Ding wird da mit einem Mal ein Wesen, d. h. ein für sich bestehendes Gebilde“ (Plessner 1981a, S. 185). Ein solches Wesen „füllt nicht nur eine Stelle im Raum aus, sondern es hat einen Ort, strenger gesagt: es behauptet von ihm aus einen Ort, seinen ‚natürlichen Ort‘“ (Plessner 1981a, S. 186). „Ein Ding positionalen Charakters kann nur sein, indem es wird; der Prozeß ist die Weise seines Seins.“ Ein solches Ding ist in die Lage versetzt, von ihm selbst Abstand zu nehmen. „In der Abhebung von ihm, in der Lockerung seines Seins gegen dieses Sein besteht die einzige Möglichkeit, das Übergehen (als den Sinn seiner Grenze) real an ihm zu haben“ (Plessner 1981a, S. 187). Würde es sich um ein reines Übergehen handeln – so wäre es um die Dinglichkeit des Dinges geschehen. „Zum Sinn der Grenze gehört außer dem Moment des Übergehens das Moment des Stehens, das unbedingte Halt. […] Grenze ist stehendes Übergehen, das Weiter als Halt, das Halt als Weiter. […] Das Werden bestimmt sich als das Werden eines Etwas (des Beharrenden) in dem Modus, dass das Beharren das Werden ‚trägt‘, oder das Beharren bestimmt sich als das Etwas
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eines Werdens, wobei das Werden das Beharren trägt. Jede Bestimmungsform ist ein Moment dessen, was Prozeß heißt“ (Plessner 1981a, S. 188 f.). „Der Prozeß darf die Konturierung nicht zerstören. Dann bleibt das Ding in den aufweisbaren Grenzen dasselbe. Und doch soll es sie verändern, weil der Prozeß die Weise ist, wie das Ding (in seinen Grenzen) existiert oder seine Begrenzungen als Grenzen realisiert“ (Plessner 1981a, S. 191). Möglich wird die Aufrechterhaltung der Dinglichkeit durch die Konstanz eines Typus, einer Gestaltidee, einer Formidee (siehe Plessner 1981a, S. 192 ff.). Plessner erwähnt denn auch die Frage, ob hier so etwas wie die platonische Ideenlehre Platz greift (wenn ja, dann in der aristotelischen Umprägung) (siehe Plessner 1981a, S. 209 f.). Wie am lebendigen Ding Sein und Werden, so koinzidieren an ihm auch Wirklichkeit und Möglichkeit. Seine Potenzialität bedeutet zwar ein gewisses Nochnicht-Sein, es handelt sich aber um ein „im Jetzt stehendes Nochnicht“ und ein im „Nochnicht stehendes Jetzt“, also um reale Potenzialität (siehe Plessner 1981a, S. 232 ff.). Die Potenzialität gehört zum „Eigenbestande des Seins“ eines lebendigen Dinges, das heißt, seine Positionalität impliziert nicht nur eine spezifisch abgehobene Raumhaftigkeit, sondern auch eine von der Zukunft her bestimmte Zeitlichkeit: „ein von der Zukunft her bestimmtes oder gekommenes Sein. Das faktisch Vorhandene ist also die Erfüllung einer vorgegebenen Richtung in die Zukunft, […] einer Erwartung einer Tendenz“ (siehe Plessner 1981a, S. 240). Mit der „Grenzrealisierung“ hat Plessner etwas Äußerliches und im Grunde Topologisches eingeführt. Diese Grenzrealisierung wiederum ist eine Art Verschärfung der Doppelaspektivität eines jeden Wahrnehmungsdinges, und ihr Sinn liegt darin, dass das lebendige Ding „seine dingliche Selbständigkeit mit seiner vitalen Unselbständigkeit“ vereinen muss, denn es steht in einem radikalen „Konflikt zwischen dem Zwang zur Abgeschlossenheit als physischer Körper und dem Zwang zur Aufgeschlossenheit als Organismus“ (Plessner 1981a, S. 283). Mit der dinglichen Selbständigkeit ist übrigens genau das gemeint, was Aristoteles dem „Wesen“ zugesprochen hat – dessen Protagonisten für ihn die Lebewesen sind. Für Plessner ist der Organismus nämlich nur die Hälfte seines – des Organismus – Lebens, die andere Hälfte liegt in dem, was er das „Medium“, das „Positionsfeld“, das „Umfeld“, den „Lebenskreis“ nennt – und was dem Organismus die „Subsistenzmittel, Nährstoffe, Licht, Wärme, Wasser, Gase und andere Lebewesen“ bereithält (Plessner 1981a, S. 255). Zwischen dem Organismus und dem dermaßen heterogenen Umfeld spielt sich nun keineswegs ein einziger oder einförmiger Prozess ab, sondern ein gegliederter multidirektionaler, vom Organismus gesteuerter, also geschalteter, sehr vereinfacht als „Stoffwechsel“ bezeichenbarer. Der Prozess gliedert sich in mehrere Vorgänge oder Funktionen, welche eine Differenzierung des Organismus in mehrere Abschnitte oder Teile oder Organe erfordern bzw. schaffen. Diese Differenzierung setzt bereits bei den Einzellern ein, bei den mehrzelligen Organismen erreicht sie eine Mannigfaltigkeit, wie sie in der anorganischen Natur nirgendwo vorkommt (siehe Plessner 1981a, S. 224). Dennoch setzen sie den Organismus nicht
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nur zusammen, „wie etwa die Stockwerke, Treppen, Zimmer, Fassaden, Dach, Grundstein ein Haus bilden“ (beinahe könnte man auch da von Grenzrealisierung sprechen, W.S.), „sondern sie beziehen sich überdies auf ihn als Einheit“ (Plessner 1981a, S. 225). „Ein physisches Ding von positionalem Charakter ist in ihm selber oder seine Einheit ist nicht nur funktional in allen seinen Teilen und mit ihnen wirklich, sondern […] als Einheit (Mitte, Kern) in jedem Teile vertreten“ (Plessner 1981a, S. 226). Hiermit deutet Plessner an, dass sich im lebendigen Dinge eine Art Spaltung oder Doppelung anbahnt, die sein ganzes Sein durchzieht. Da die Grenze mit ihrer Doppelfunktion der Abschließung und Eröffnung Sache des Lebewesens selbst ist, muss in diesem selbst ein „Seinskonflikt“ ausgetragen werden, muss dieses mit sich selbst zerfallen, muss seine „autonome Selbstveränderung“ doppelsinnig zusammengesetzt sein aus „Selbstzersetzung“ und „aktivem Selbstersatz“ (Plessner 1981a, S. 258 f.). Auf diesen Tatbestand wird noch zurückzukommen sein, da er das Lebewesen in einen größeren kosmischen Zusammenhang stellt. Zunächst jedoch ist eine Zweiteilung anderer Art einzuführen: Lebewesen kommen entweder in offener oder in geschlossener Form vor, im ersten Fall handelt es sich um die Gattung der pflanzlichen Wesen, im zweiten Fall um die Gattung der tierischen Wesen. Und die Angehörigen der beiden Großgattungen treten vielenorts miteinander, also nebeneinander auf (siehe Plessner 1981a, S. 282 ff.). Die offene Form gliedert den pflanzlichen Organismus als unselbständigen Abschnitt in seine Umgebung ein. Sie zeigt sich in der Tendenz zu äußerer Flächenentwicklung und verzichtet auf die Bildung irgendwelcher Zentren. In vielen Fällen bleibt die Selbständigkeit der Teile in hohem Maße gewahrt – weshalb der Botaniker Alexander Braun die Pflanze als „Dividuum“ bezeichnet hat (siehe Braun 1853). Andererseits vermeidet die Pflanze, die mit ihren äußeren Oberflächen aus Licht, Luft, Wasser, Erde anorganische Substanzen aufnimmt und in ihren Organismus verwandelt, die Ausdifferenzierung von Fress-, Verdauungsund Exkretionsorganen (siehe Plessner 1981a, S. 284 ff.). Übrigens hat Georges Bataille auf die Tendenz der Pflanzen hingewiesen, die Oberfläche ihrer grünen Substanz zu vergrößern (siehe Bataille 2001, S. 57). Plessner verwirft ausdrücklich romantische Redensarten, welche der Pflanze eine Seele einhauchen wollen – und sei es eine schlafende. Die Organisationsidee der offenen Form berge nicht irgendwelche Geheimnisse irgendeiner anderen Form – vielmehr liege sie gemäß dem „Gesetz der Wesensphänomenalität“ als eigenständige Form vor (Plessner 1981a, S. 290 f.). In der geschlossenen Organisationsform, die für das tierische Lebewesen typisch ist, muss die notwendige Kommunikation mit dem Umfeld dadurch gesichert sein, dass der Organismus in sich selbst einen Antagonismus aufbaut, der sich auf verschiedene Organe verteilt und das Ganze organisiert. Es muss – jedenfalls bei den höheren Tieren – ein „Zentralorgan“ etabliert sein, damit das Ganze zusammengefasst und repräsentiert wird. Dieses „Repräsentationsorgan […] ist
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dem Antagonismus übergeordnet und hält ihn aufrecht als Bedingung organischer Einheit“ – so die Einheit zwischen sensorischen und motorischen Leistungen (siehe Plessner 1981a, S. 293). Diese spielen sich an den äußeren Körperflächen ab. Aber für ihre zentrale Koordination werden im Inneren vielflächige, kleinflächige Organe etabliert, die wir Nervenzellen nennen. Durch die Bildung eines Zentrums tritt am Körper selbst ein realer Unterschied auf, es ändert sich positional das Ganze, und die Grundlage für alle diejenigen Erscheinungen, die an die Existenz eines Bewusstseins geknüpft sind, ist geschaffen (siehe Plessner S. 1981a, S. 298). Nach Plessner lassen sich nun Körperlichkeit und Leiblichkeit in dem Sinn unterscheiden, dass der vom Zentralorgan abhängige Körper den Titel „Leib“ bekommt, während dem Gesamtkörper die herkömmliche Bezeichnung verbleibt. Was Plessner in die umgangssprachliche Wendung „Leibhaben und Körpersein“ fasst. Dasjenige, das Leib hat und Körper ist, ist das lebendige Ding – welches aufgrund dieser grammatischen Struktur auch die Bezeichnung „Subjekt“ bekommt (siehe Plessner 1981a, S. 297). Wohlgemerkt, hier ist die Rede von der geschlossenen Organisationsform, die allen animalischen Wesen zukommt. „Die mit der geschlossenen Form verfolgte Richtung auf größtmögliche Selbständigkeit des Organismus führt dazu, der Eingeschlossenheit im Lebenskreis ein offenes Medium gegenüberzustellen. So bewegt sich das Tier von Platz zu Platz und sucht in Angriff und Verteidigung, unter beständig wechselnden Umständen Nahrung, Beute, Begattung“ (Plessner 1981a, S. 298). „Offenheit des Positionsfeldes entspricht wesensgesetzlich der geschlossenen Organisationsform, weil beide einen Tatbestand festlegen, der sich an allen tierischen Merkmalen verfolgen lässt: den Tatbestand der primären Unerfülltheit des Lebewesens“ (Plessner 1981a, S. 299). Das Säugetier beginnt als saugendes (und es besteht als atmendes). „Ein Maximum an Geschlossenheit bedingt ein Maximum an Dynamik der rastlosen Getriebenheit, der Friedlosigkeit, des Kämpfenmüssens. Ob der Instinkt für das Tier die Erfüllung des Triebes sucht oder das Tier selbst (bewußt) diese Erfüllung herbeizwingt, ist gleichgültig vor dem Gesetz, daß Tier sein Kämpfer sein heißt“ (Plessner 1981a, S. 299).2 Da dem Tier das Vermögen mangelt, wie die Pflanze aus anorganischen Bestandteilen Eiweiß, Fette und Kohlehydrate aufzubauen, braucht es organische Nahrung, „es muß vom Lebendigen leben“, „räuberisch“ sein (Plessner 1981a, S. 300). „Geschlossene Form ist Steigerung, denn sie hebt den lebendigen Körper auf ein höheres Existenzniveau“ (Plessner 1981a, S. 300). „Jäger sein müssen“ … (Plessner 2002, S. 130).
2Für
die Dauerbewegung von Suchen und Finden scheint mir die Kompassnadel ein geeignetes Bild abzugeben, die den Norden sucht und findet – und zwar zitternd. In den Suchbewegungen des Lebewesens taucht zum ersten Mal die Möglichkeit des Irrtums auf. Der französische Wissenschaftshistoriker Georges Canguilhem hat den Irrtum bereits in der Konstitution des Lebewesens als Möglichkeit aufgewiesen (Canguilhem 2004).
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Insofern das Jäger-sein-Können über das nervöse Zentralorgan geschaltet ist, wird es sich dabei um ein Hemmungsorgan, Bremsorgan, um ein „Organ des Auswählens, des Durchlassens, des Filtrierens“ handeln (Plessner 2002, S. 170). Die Positionalität der geschlossenen Form impliziert die „Unterbrochenheit des Körpers, von Lebewesen und Umfeld“, sie impliziert „Abstand und Pause“ (Plessner 2002, S. 171). Die Nerventätigkeit wäre das „dazwischen geschobene, vermittelnde und abdämpfende, hemmende, distanzierende Mittel zwischen dem Organismus und seinem Umfeld“ – wodurch das „sogenannte psychische Phänomen“ aktualisiert wird (Plessner 2002, 172). Der Organismus hat Distanz zu seiner eigenen Vergangenheit, weil er auf die Zukunft ausgerichtet ist – im Sinne des Prozesses, von dem die Rede war. „Das Sein eines Gebirges zum Beispiel ist nicht von der Art, daß es von sich aus in ein Zukünftiges hinweist. Anders bei dem Organischen. Es ist so nach seinem Sein, daß es auf sein kommendes Sein angelegt ist“ (Plessner 2002, S. 172). Und andererseits: Das Gehirn ist „kein massives Gebilde, sondern zerklüftet. Man hat den Eindruck des Abstandes, der Kluft, der Pause“ (Plessner 2002, S. 174). Was bedeuten nun Reiz, Aufspeichern, Umschalten usw.? Das bedeutet jedenfalls eine ganz eigenartige Verlangsamung des Lebensprozesses. Er wird ja mehrfach durch Zwischenschaltung geleitet […]. Der Prozeß selbst ist nur eine eigenartige Organisierung organischer Prozesse in der richtigen Verteilung, Verknüpfung und Weiterleitung und nichts anderes. So sieht man heute in dem Nervensystem zunächst einmal ein Organ der Zusammenfassung, der Organisierung und das heißt in jedem Sinne der Regulierung. Die Regulierung kann im Sinne einer Verlangsamung oder einer Beschleunigung stattfinden […]. (Plessner 2002, S. 175 f.) Biologisch ist der Reflex die schnellste Beantwortung auf einen gegebenen Reiz. Von da aus gesehen bedeuten alle Beantwortungen auf Reize, die über höhere Nervensysteme geleitet werden, eine jeweilig größere Verlangsamung. Es wird also durch diese Zusammenfassung immer Zeit gewonnen und Abstand gewonnen, und diese zeitliche Pause, die damit in den Lebensprozeß eingeführt wird, das ist es, was die entscheidende Frage nach dem Bewußtsein darstellt, denn insoweit kann man sagen, ist dies nur die Gelegenheit, daß sich die Positionalität des Lebewesens auswirken kann, die Positionalität, die nicht dem Nervensystem entspringt, sondern die sowieso schon da ist und die nur freigelegt werden muß dadurch, daß der Lebensprozeß die eigenartige Distanzmöglichkeit erhält, die Distanzmöglichkeit im raumhaften und im zeithaften Sinne. (Plessner 2002, S. 176) Das Gedächtnis […] gehört zum Wesen der frontalen bzw. der zentralen Position. Es ist ein Ausdruck davon, daß das Leben in dieser Organisationsform einen vermittelten Bezug zu seinem Vergangensein hat, zu dem, was es selbst durch die Vergangenheit hindurch geworden ist. […] Wir müssen uns eben dazu entschließen, unser eigenes Sein als durch die Zeit, die wir durchlebt haben, als sich-hindurchstreckend zu erfassen, als eine eigentümliche Einheit von Vergangenheit und Gegenwart. (Plessner 2002, S. 177)
„Alles Lebendige überhaupt, ob Pflanze oder Tier, ist seine Vergangenheit – auf eine an sich durch den Zukunftsmodus, d. h. rückläufig, vermittelte Weise. Darin liegt der Unterschied zu den unbelebten Gebilden. Ein Mineral, ein Berg, eine
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ganze Landschaft sind auch ihre Vergangenheit, aber sie werden unmittelbar von ihr gebildet, sie bestehen aus ihr […].“ Hingegen zeichnet sich das Lebendige dadurch aus, dass es „seine Vergangenheit, sein Gewordensein durch Abhebung von ihm bewahrt“ (Plessner 1981a, S. 351). „Die Position der Frontalität, raumzeithaft charakterisiert, bedeutet wirklich jene Paßhöhe, von der aus es rückwärts ins Gewesene und vorwärts ins Kommende geht“ (Plessner 1981a, S. 353). „Auf jeder Stufe bewahrt das Leben seine Vergangenheit nur kraft seines ihm selber Vorwegseins. […] Die Fundiertheit in der Zukunft ist die Möglichkeit, eine Vergangenheit zu haben und zu behalten“ (Plessner 1981a, S. 355). Im Normalfall geht die Beziehung zwischen Lebenssubjekt und Gedächtnis über seine Zukünftigkeit, ist also tendenzvermittelt … All das, was das Lebewesen zum Kommenden in Beziehung setzt: Trieb, Interesse, Wille, befördert die gedächtnisbildende, die bewahrende Funktion (siehe Plessner 1981a, S. 356). Plessner konstruiert eine Stufung, die beim nicht-positionalen anorganischen Ding mit seiner Doppelaspektivität einsetzt und zur azentrischen Positionalität übergeht, die zustande kommt, wenn ein Ding seine Außengrenze nicht nur hat, sondern ausbaut, damit sie bestimmte Austauschvorgänge möglich macht; derart positionierte Körper sind lebendige Dinge, Organismen mit einer mehr offenen oder mit einer mehr geschlossenen Organisation, also entweder azentrischer oder zentrischer Positionalität, pflanzlicher oder tierischer Natur. Diese drei Stufen lassen Steigerungen in mehrfacher Hinsicht erkennen. Eine Steigerung in der Fähigkeit einer gewissen Selbstverdoppelung durch Abhebung von sich selbst, womit auch die Unterscheidbarkeit von „Körper“ und „Leib“ entsteht. Sowie eine Steigerung im aktiven Verhalten zu Stoffen und Körpern mit zunehmender Organisation. Die erste Steigerung geht in die Richtung, dass die Lebewesen ihre Eigenkörperlichkeit modifizieren und variieren können. Die zweite Steigerung geht dahin, dass die Lebewesen mit geschlossener Organisation ihrerseits andere Lebewesen angreifen und ergreifen müssen bzw. können – also zu einem größeren Spektrum von Fremdkörpern sich verhalten. Und damit verbindet sich eine dritte Steigerung in Richtung Bewegung, Wahrnehmung, Gedächtnis, Bewusstsein. Alle diese Steigerungen setzen sich fort bei einem weiteren Typ von Ding, von Körper, von Lebewesen – nämlich bei demjenigen mit „exzentrischer Positionalität“, und das ist der Mensch, welcher Gattung sowohl Helmuth Plessner angehört wie auch wir hier. Auf dieser höchsten Positionsstufe bleibt die tierische Natur erhalten – „die geschlossene Form der Organisation wird nur bis zum Äußersten durchgeführt. Ist das Leben des Tieres zentrisch, so ist das Leben des Menschen, ohne die Zentrierung aufzugeben, exzentrisch. Exzentrizität ist die Positionalität des Menschen, die Form seiner Gestelltheit gegen das Umfeld“ (Plessner 1982, S. 10).
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„Der Exzentrizität des Lebewesens entspricht die Exzentrizität der Position, der unaufhebbare Doppelaspekt seiner Existenz als Körper und Leib, als Ding unter Dingen des einen Raum-Zeit-Kontinuums und als um eine absolute Mitte geschlossenes System in einem Raum und einer Zeit von absoluten Richtungen“ (Plessner 1982, S. 12). Die Unterscheidbarkeit von Körper und Leib bekommt eine neue Wendung – zum Körperhaben und Leibsein. Doch anstatt sie genauer zu analysieren, stelle ich die Vermutung auf, dass sie bei Plessner auch als Schlüssel für die typisch menschliche Eigenkörpervariierung eingesetzt wird: für die kulturelle, historische, soziale, individuelle Kontingenz der Körperverhalten, die sich grob gesprochen zwischen „Verkörperung“ und „Entkörperung“, Körpergestaltung und Körperausschaltung ordnen lassen (siehe Plessner 1982, S. 63 ff.). Die exzentrische Positionalität ermöglicht dem Menschen oder zwingt ihn zu Rollenspielen – in einem riesigen Spektrum, das von der professionellen Schauspielerei über eine solche Spezialisierung wie diejenige des mutmaßlichen Models, dessen Torso-Foto-Körper im Logo unserer Tagung steckt, bis hin zu unabsehbaren Macht- und Ohnmachtrollen reicht. Die Körperverhalten gliedern sich auch zwischen den Extremen eher voller Körpereinsätze etwa in Sexualität, Sport, Krankheit und tendenzieller Körperausschaltungen, als deren wichtigstes Instrumentarium das Sprechen gilt. Allerdings betrachtet Plessner die Sprache als menschliches Monopol nicht isoliert, sondern gliedert sie in einen ganzen Komplex von leibnahen Strukturen ein.3 Sprechen ist auch eine Körpertätigkeit, aber eben eine exzentrische, eine spezialisierte oder partiale, eine Leistung des Partialsubjekts. Achten wir auf unsere momentanen und hiesigen Körperpositionen und -tätigkeiten: Sitzen, Hören, Sprechen. Die andere Seite der spezifisch menschlichen Körperkonstellation besteht darin, dass der Mensch mit einem geradezu ungeheuren Spektrum von Fremdkörpern konfrontiert ist, sich selbst mit ihnen konfrontiert, konstelliert oder konkordiert. Naturkörper, Kunstkörper, Teilkörper, Zusatzkörper, Umkörper, Überkörper – wie Wörter, Bilder, Maschinen, Gewand, Haus, Stadt. Ausführlich hat Plessner die These dargelegt, dass so etwas wie Dinge (bei ihm der komplexe Basisbegriff für „Körper“) keineswegs allen Lebewesen erscheint, auch wenn sie in Abhängigkeit von ihrem Umfeld leben (Plessner 1981a, S. 321 ff., 334 ff.). Die philosophische Anthropologie kann sich nicht mit Begriffen begnügen, die die Dinglichkeit akzentuieren – sie braucht auch zeitwörtliche Begriffe. „Der Mensch lebt nur, indem er ein Leben führt […], indem er sein Leben irgendwie führt“ (Plessner 1981a, S. 384; vgl. Plessner 1981b, S. 205). Die Explikation erfolgt bei Plessner in den drei „anthropologischen Grundgesetzen“ – dem Gesetz „der natürlichen Künstlichkeit“, dem Gesetz „der vermittelten Unmittelbarkeit“, dem Gesetz „des utopischen Standorts“ (Plessner 1981a, S. 383 ff.).
3Siehe Wolfgang Eßbach: Laudatio auf Peter Sloterdijk zur Verleihung des Helmuth-PlessnerPreises 2017 der Landeshauptstadt Wiesbaden (Montag, 4. September 2017, im Festsaal des Rathauses der Stadt Wiesbaden).
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Ich komme noch einmal auf die generische Kennzeichnung der Organismen zurück – nämlich die „Grenzrealisierung“, welche solchen Dingen ein komplexes Austauschverhalten mit ihrem Umfeld ermöglicht.4 Dabei setzt Plessner auch die Begrifflichkeit ein, die ihm die seinerzeitige Biologie zur Verfügung gestellt hat – so etwa „Assimilation“ und „Dissimilation“ (siehe Plessner 1981a, S. 258 ff.). In der Assimilation werden fremdkörperliche Stoffe aufgenommen und zu körpereigenen organischen Stoffen umgearbeitet. In der Dissimilation wird aus diesen Stoffen Energie für die Eigentätigkeit des Organismus gewonnen, die Stoffe werden abgebaut. Daher wird auch von Aufbau (oder Nachbau) und Abbau gesprochen. Zwei notwendig miteinander verschränkte gegenläufige und komplementäre Prozesse. Helmuth Plessner assoziiert nun, wenn auch mit Vorbehalten, diese beiden Teilprozesse mit „Ektropie“ und „Entropie“, wobei der zweite Begriff gemäß dem Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik die irreversible Tendenz zum Chaos, zum „Wärmetod“ bezeichnet und seinerzeit eine derart große Faszination ausgeübt hat, dass man diese Tendenz über ihre korrekte Formulierung hinaus für die einzig maßgebliche zu halten geneigt war (siehe Plessner 1981a, S. 180, 260). Ein Niederschlag davon findet sich bei Sigmund Freud, der sein Lustprinzip auf dem „Abfluss unlustvoller Spannung“ begründet.5 Die schwache Konsistenz dieses Prinzips scheint Freud anfangs selbst gemerkt zu haben, da er es zunächst als „Unlustprinzip“ bezeichnete. Im Seminar XX (1972–1973) wundert sich Lacan darüber, dass das, was bei Aristoteles „als ein Nachlassen von Schmerz und sicher nicht als eine Lust“ gelten mochte, bei Freud „Lustprinzip“ heißt (siehe Lacan 1986, S. 68). Das freudsche Lustprinzip, das dem aristotelischen Bedürfnisbefriedigungsmodell entspricht, läuft letztlich auf „Spannungsverminderung auf Null“, Durchsetzung der Entropie oder „Nirwanaprinzip“ hinaus (siehe Laplanche und Pontalis 1972, S. 299 f.). Lacan ist aber bereits viel früher und expliziter auf das Problem der Entropie bei Freud gestoßen – im Seminar II (1954–1955) (siehe Lacan 1980, S. 106 ff.). Im „Wolfsmann“ habe Freud den Wiederholungszwang nicht klar von der Restitutionstendenz des Organismus geschieden. Dessen Tendenz, die Spannung auf den Tiefpunkt zu reduzieren, könne entweder zum Systemgleichgewicht oder zum Tode führen. Die Entdeckung der Entropie habe die Geister von Anfang an verwirrt: Sie hätten die Entropie verabsolutiert, indem „sie sich selber ausgelassen haben“. Ich glaube, das ist der exakt lacanianische und psychoanalytische Einwurf – der Einwurf gegen die Auslassung. Im 20. Jahrhundert hätten dann die Mathematiker mit dem Begriff der Information die Richtung situiert, die der Entropie entgegengesetzt ist – und die immer schon wirksam war (siehe Lacan
4Mit
der „Grenzrealisierung“ sind der Ausbau und die Aufrechterhaltung qualifizierter Grenzen gemeint, die filterartig bestimmte Grenzüberschreitungen zulassen. Die Auflösung solcher Grenzen läge auf der Linie einer radikalen Entropie und wäre schlicht tödlich. 5Siehe Lacan 1986, S. 68; zu Freud siehe Laplanche und Pontalis 1972, S. 297 ff. Und dazu Seitter 2003, S. 318 f.
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1980, S. 111). Und die Lacan selbst als die „edlen Modi“ der Energie bezeichnet (Lacan 1980, S. 108). Im selben Seminar kommt Lacan dann noch einmal auf die Entropie zu sprechen – aber jetzt hebt er deutlicher das Gegenprinzip hervor: „daß das Höhere im Menschen, das nicht im Menschen ist, sondern anderswo, die symbolische Ordnung ist. Im Maße des Fortgangs seiner Synthese ist Freud immer wieder genötigt, diesen äußerlichen, exzentrischen Punkt wiederherzustellen, zu restituieren“ (Lacan 1980, S. 150). Hier setzt sich Lacan ganz deutlich von der allgemein üblichen – und insofern entropischen – Entropie-Faszination ab. Im Jahre 1970 hat Lacan die Sache mit der Entropie wiederum aufgegriffen. Am 14. Jänner machte er – in Gegenwart des hier Sprechenden – den Vorschlag, die Entropie mit großem A und mit th zu schreiben – was ein Wort mit akustischem Gleichklang, aber ganz anderer Etymologie und Bedeutung ergeben würde und den Menschen zum Entropiefaktor erklären würde (siehe Lacan 1991, S. 50 ff.). Seine sehr ausführliche Darstellung geht nun eher in die Richtung einer Dominanz der Entropie. Den Antagonismus, der diese Dominanz in Frage zu stellen geeignet ist, deutet er immerhin mit zwei Hauptbegriffen der aristotelischen Ontologie an, indem er betont, das hypokeimenon, Substrat oder Subjekt, sei von jedweder ousia, Wesen oder Wesenheit, streng zu unterscheiden (siehe Lacan 1991, S. 53). Also auch vom „lebenden Individuum“ (siehe Lacan 1991, S. 12). So hat Lacan einen langen Zeitraum hindurch in eine Problematik eingegriffen, die seit dem späten 19. Jahrhundert in Wissenschaft, Philosophie und „weltanschaulicher“ Stimmung eine gewisse Rolle gespielt hat und die ich als „Entropismus“ bezeichnen würde. Philosophen wie Eduard von Hartmann (1842– 1906) mit seiner Philosophie des Unbewußten (Berlin 1869), Philipp Mainländer (1841–1876) mit der Philosophie der Erlösung (Berlin 1876, 1886) wirkten dabei mit. Auf dem Gebiet der Wissenschaft war Hermann von Helmholtz (1821–1894) anscheinend der Erste, der 1882 die Vermutung äußerte, die feineren Strukturen der lebenden organischen Gewebe würden die Verwandlung der ungeordneten Bewegungen in geordnete begünstigen und damit gegen die anscheinend allmächtige Entropietendenz wirksam sein. Mit großer Bestimmtheit hat das der Statistiker, Publizist, Sexualpolitiker und dilettierende Naturwissenschaftler Georg Hirth (1841–1916) in seinem Buch Die Ektropie der Keimsysteme (München 1900) getan, indem er Helmholtzens Vermutung bestärkte und auch gleich mit einem passenden Begriff versah. Bald danach hat der Jenaer Physiker Felix Auerbach (1856–1933) die These aufgegriffen und in mehreren Vorträgen, so auch im Nietzsche-Haus in Weimar, erläutert und begründet. 1910 erschien sein Buch Ektropismus und die physikalische Theorie des Lebens (Leipzig 1910). Er fügt dem Satz von der Erhaltung der Energie die Feststellung hinzu, dass die Energie ständig Qualitätswandlungen und Niveauwandlungen unterliegt, die mit dem Allgemeinbegriff „Tropie“ bezeichnet werden. Die Wandlung von der aktiven zur trägen Energie heißt „Entropie“. Die kann aber nur wirksam werden bzw. überhaupt vorkommen, wenn es die aktive Energie gibt bzw. wenn diese bereits wirksam geworden ist: die Ektropie (Auerbach 1910, S. 21).
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Im Kosmos sind beide Tendenzen wirksam, wobei der Ektropie eine Initialrolle zuzusprechen ist – nur unter ihrer Voraussetzung hat die Entropie sozusagen „etwas zu tun oder vielmehr abzutun“. Auerbauch bezeichnet die beiden als „Aufzug“ und „Ablauf“, als „Aufbau“ und „Abbau“ – so hat ihn dann Helmuth Plessner 1928 zitiert – oder als „Konzentration“ und „Zerstreuung“ (Auerbach 1910, S. 22). Die entropische Tendenz nimmt insgesamt zu, sie hat es leichter, sie liegt auf der Seite des Wahrscheinlichen. Die ektropische Tendenz, die auf das Unwahrscheinliche und die Ordnung zugeht, beruht auf Anstrengung, Leistung – wessen (Auerbach 1910, S. 68 f., 83)? Helmholtz und Hirth haben diese Leistung aufseiten der Organismen gesehen, Auerbach stimmt ihnen zu und führt ihre erhöhte Temperatur ins Treffen (siehe Auerbach 1910, S. 34, 66). Doch er weitet das Feld solcher Leistungen aus auf unterschiedlichste Akteure wie die Kristalle und sogar auf die Vulkanausbrüche (Auerbach 1910, S. 43, 63, 72). Ektropie verstärkt Unterschiede, Entropie ebnet sie ein – daher ist die Auffaltung der Gebirge der ersten, die Erosion der zweiten Tendenz zuzuordnen (Auerbach 1910, S. 95 f.). Doch insofern diese die Materie zerkleinert, bereitet sie feinere Ektropiebildungen, nämlich organische, vor. Halbdurchlässige Membranen ermöglichen feine Differenzierungen stabiler Art mit ständigen Austauschprozessen – womit wieder das Thema der „Grenzrealisierungen“ angeschlagen ist. Insofern die Entropie Homöostasen begünstigt, ermöglicht sie stabile Differenzprozesse und muss nicht gleich alle Differenzen auflösen – worauf Entropie letzten Endes hinausläuft (siehe Auerbach 1910, S. 64). Mit dem menschlichen Geist und folglich auch mit Technik, Wissenschaft, Kunst, Politik sind weitere Ektropiemöglichkeiten eröffnet. Und Ektropiesteigerungen, die allerdings – wie auch schon beim Beispiel des Vulkanausbruchs vermutet werden konnte – in Entropieeffekte umschlagen können, die als destruktiv, nämlich Differenzen vernichtend, wirksam werden. Wenn Felix Auerbach schreibt, „[d]ie Technik soll also Abbau, aber nicht Raubbau betreiben“, so scheint er Plessners Feststellung von der räuberischen Natur des Menschen dementieren zu wollen (Auerbach 1910, S. 77). Tatsächlich gelangt er an die Stelle, an der die menschliche Ektropiesteigerung ins Gefährliche umschlägt und daher spezifische Gegenmaßnahmen erforderlich werden. Zunehmende Ektropie steigert nicht nur Produktion deskriptiver Differenzen, sondern auch die Erzeugung optativ-normativer Gefälle – von Gut und Schlecht bis Gut und Böse. Der Antagonismus von Ektropie und Entropie durchzieht den gesamten Kosmos – also „Chaosmos“ – von der Bildung größter und kleinster, gröbster und feinster Körper bis zu deren Aktivitäten und Passivitäten. Und der Erste, der dieses Thema so angeschlagen hat, war Felix Auerbach. Er meinte auch, damit dem Denken Friedrich Nietzsches (1844–1900) nahe zu sein, und stand auf gutem Fuße mit Elisabeth Förster-Nietzsche (1846–1935) (Auerbach 1910, S. 99). Aber 1933 musste er erleben, dass sie in Weimar den gerade an die Macht gekommenen Adolf Hitler (1889–1945) empfing und sich zu dessen Politik bekannte. Dies konnte er nicht ertragen, Felix und Anna Auerbach starben von eigener Hand.
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Warum ist Felix Auerbach mit diesem hier grob skizzierten theoretischen Ansatz so unbekannt? Ein Grund dafür liegt bei dem berühmten Physiker Erwin Schrödinger (1887–1961), der in den 20er Jahren in Jena Assistent war und dann nach Nobelpreis und Auswanderung nach Irland im Jahre 1944 mit What Is Life? The Physical Aspect of the Living Cell genau denselben theoretischen Ansatz vorlegte und wissenschaftlich wesentlich besser präzisierte – dabei aber Felix Auerbach und dessen Begrifflichkeit überhaupt nicht erwähnte (Schrödinger 1946). Für „Ektropie“ setzte er den schwächlichen und uneleganten Ausdruck „negative Entropie“ ein (wiewohl die Ektropie gerade nicht etwas Negatives ist). In einem Epilog erlaubt sich Schrödinger, seiner strengen wissenschaftlichen Abhandlung „subjektive […] philosophische Folgerungen anzufügen“. In denen er ziemlich apodiktisch für die in den Upanischaden aufgezeichnete Lehre plädiert, wonach es die Seele, das Bewusstsein, das Ich nur in striktem Singular gebe; die im Westen verbreitete Pluralitätshypothese beruhe auf Illusion (Schrödinger 1946, S. 134 ff.). Wie verhält sich diese Ansicht zur Entropieproblematik? Für die „negative Entropie“ hat der französische Physiker Léon Brillouin (1889–1969) später den nur wenig besseren Ausdruck „Negentropie“ geprägt, der heute üblich ist.6 Helmuth Plessners Stufen des Organischen sind eines der wenigen heute greifbaren Bücher, in denen der hier vorgestellte Felix Auerbach genannt wird. Neuerdings wird Helmuth Plessner damit geehrt, dass seine Geburtsstadt Wiesbaden einen nach ihm benannten Preis verleiht. Im Jahre 2017 hieß der Preisträger Peter Sloterdijk, der immer wieder auf inflationäre, d. h. entropische Tendenzen in der Gegenwart hinweist.7
Literatur Auerbach, Felix (1910): Ektropismus und die physikalische Theorie des Lebens. Leipzig. Bataille, Georges (2001): Die Aufhebung der Ökonomie [1949]. München. Braun, Alexander (1853): Das Individuum der Pflanze in seinem Verhältnis zur Spezies. Generationsfolge, Generationswechsel und Generationstheilung der Pflanze. Berlin. Canguilhem, Georges (2004): Ein neuer Begriff in der Pathologie. In: Giorgio Agamben, Georges Canguilhem, Michel Foucault u. a.: Das Irrsal hilft. Berlin.
6Zur
theoretischen Explikation der Ektropie hatten auch Ludwig Boltzmann (1844–1906), Max Planck (1858–1947), Ludwig von Bertalanffy (1901–1972) beigetragen. Walter Pons versucht in Pons 1960 zu zeigen, dass die Philosophie Nicolai Hartmanns mit ihrer Schichtenlehre in diese Richtung weist. Für einen anthropologisch orientierten Begriff des Lebens wird die Entropieproblematik von dem bereits genannten Georges Canguilhem eingesetzt und neuerdings von François Jullien. 7Peter Sloterdijk stellt in Anlehnung an den Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik einen „Zivilisationstheoretischen Hauptsatz“ auf, der lautet: Die Summe der Freisetzungen von Energien im Zivilisationsprozess übersteigt regelmäßig die Leistungsfähigkeit kultivierender Bindekräfte. Siehe: Die Presse (30. September 2017), IV f.
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Lacan, Jacques (1980): Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse. Das Seminar, Buch II (1954–1955). Olten/Freiburg. Lacan, Jacques (1986): Encore. Das Seminar, Buch XX (1972–1973). Weinheim/Berlin. Lacan, Jacques (1991): Le Séminaire XVII. L’envers de la psychanalyse (1969–70). Paris. Laplanche, Jean/Pontalis, Jean-Bertrand (1972): Das Vokabular der Psychoanalyse. Frankfurt a. M. Plessner, Helmuth (1981a): Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie. Gesammelte Schriften IV. Frankfurt a. M. Plessner, Helmuth (1981b): Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht [1931]. Gesammelte Schriften V. Frankfurt a. M. Plessner, Helmuth (1982): Mit anderen Augen. Aspekte einer philosophischen Anthropologie. Stuttgart. Plessner, Helmuth (2002): Elemente der Metaphysik. Eine Vorlesung aus dem Jahre 1931/32. Berlin. Pons, Walter (1960): Steht uns der Himmel offen? Entropie – Ektropie – Ethik. Ein Beitrag zur Philosophie des Weltraumzeitalters. Wiesbaden. Schrödinger, Erwin (1946): Was ist Leben? Die lebende Zelle mit den Augen des Physikers betrachtet. Bern. Seitter, Walter (2003): Leiden, Tun. Ontologie und Lebenskunst. In: Martin Heinze/Christian Kupke/Christoph Kurth (Hg.): Das Maß des Leidens. Klinische und theoretische Aspekte seelischen Krankseins. Würzburg. Sloterdijk, Peter (2017): Nach Gott. Glaubens- und Unglaubensversuche. Berlin.
Fungierende Leiblichkeit Kleine Verteidigung von Merleau-Pontys Begriff der fungierenden Intentionalität
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Silvia Stoller
Die fungierende oder latente Intentionalität,/die Intentionalität im Inneren des Seins ist, muß wiederaufgegriffen und weiterentwickelt werden (Merleau-Ponty 1986, S. 308)
Zusammenfassung
Merleau-Ponty unterscheidet in seiner Phänomenologie der Wahrnehmung zwischen einer Aktintentionalität und einer fungierenden Intentionalität. Letztere ist maßgeblich Sache des Leibes, sodass von einer fungierenden Leiblichkeit gesprochen werden muss. Fast auf rätselhafte Weise ist diese zuständig für das Sein der Welt – selbst noch in Abwendung von ihr. Vielfach wird die Intentionalität jedoch mit dem Hinweis auf den Ereignischarakter diverser Erfahrungen, die der Intentionalität vorausgehe und dieser quasi ein Schnippchen schlage, kritisiert. Dabei wird meiner Ansicht nach die fungierende Intentionalität nicht ausreichend und nicht weitreichend genug in Betracht gezogen. In diesem Beitrag gehe ich der fungierenden Intentionalität etwas genauer nach und bemühe mich um eine Rehabilitation der fungierenden Leiblichkeit. Die zugrunde liegende These lautet, dass die erwähnte Kritik letztlich an der fungierenden Intentionalität scheitert. Positiv ausgedrückt: Die fungierende Intentionalität bzw. die fungierende Leiblichkeit ermöglicht nicht nur die Erfahrung von Ereignissen, sie steht für die Möglichkeit überhaupt, eine Welt zu haben.
S. Stoller (*) Wien, Österreich E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 U. Kadi und G. Unterthurner (Hrsg.), Macht – Knoten – Fleisch, Abhandlungen zur Philosophie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04957-5_14
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1 Einleitung Die Intentionalität ist ein zentraler Begriff der Phänomenologie. Ohne sie kann man kaum von Phänomenologie sprechen. Dennoch muss sie immer wieder näher bestimmt werden, und es müssen Formen der Intentionalität unterschieden werden. Die folgenden Überlegungen befassen sich mit einem Begriff von Intentionalität, der für die Phänomenologie der Leiblichkeit zentral ist. Es geht um die sogenannte „fungierende Intentionalität“ als um eine Sonderform der Intentionalität. Sie spielt insbesondere in der Phänomenologie Maurice MerleauPontys eine wichtige Rolle, wurde aber schon von Edmund Husserl als Bestandteil einer Phänomenologie der Leiblichkeit entwickelt.1 Trotz aller Wichtigkeit scheint die fungierende Intentionalität jedoch in der phänomenologischen Forschung nach wie vor unterbestimmt zu sein. Selbst im Rahmen der Merleau-Ponty-Forschung wird der Begriff eher nur vorausgesetzt als näher erläutert. Er wird regelmäßig als Ergänzung zur Aktintentionalität konstatiert und zur Kritik an Bewusstseinsphilosophien eingesetzt, ganz selten aber etwas genauer charakterisiert. Die spärliche Publikationslage mag als Beleg für diese seltsame Unterbestimmung dienen.2 Im Folgenden wird es nicht bloß um die Klärung eines wichtigen philosophischen Konzepts gehen, vielmehr geht es mir um eine Aufwertung der fungierenden Intentionalität, und zwar in Hinblick auf Intentionalitätsdebatten, in denen lediglich von einem bewusstseinslastigen Intentionalitätsbegriff Gebrauch gemacht wird. Die Phänomenologie wurde nämlich von jeher auch gerade wegen ihres Konzepts der Intentionalität mit Kritik bedacht. Sie sei eine idealistische Philosophie, die sich zu wenig den materiellen Bedingungen der Existenz widme, oder eine Bewusstseinsphilosophie, die nur Bewusstseinsphänomene beschreiben könne. Die bekannte und in der phänomenologischen Community vielfach ver-
1Die
Hinweise zur fungierenden Intentionalität bei Husserl sind sehr verstreut und finden sich nicht immer unter genau dieser Bezeichnung. In der Krisis-Schrift spricht Husserl beispielsweise vom „Fungieren“ im Zusammenhang mit der Subjektivät (Husserl 1954, S. 186), von einer „fungierenden Subjektivität“ (Husserl 1954, S. 259), einem „fungierenden Ich“ bzw. einem „fungierenden ego“ (Husserl 1954, S. 190) oder von einem „fungierenden Ichpol“ (Husserl 1954, S. 187). Die „fungierende Subjektivität“ wird beschrieben als eine Subjektivität, „in deren Fungieren der Seinssinn Welt überhaupt erwächst“ (Husserl 1954, S. 259). Im Paragrafen 59 ist die Rede von den „transzendental fungierenden Intentionalitäten“ (Husserl 1954, S. 212) und schließlich von der „fungierenden Intentionalität“, „welche die universale Apperzeption ist, und für die jeweiligen besonderen Apperzeptionen die konstituierende“ (Husserl 1954, S. 213). Siehe ferner die Ideen II, wo im Zusammenhang mit der Leiblichkeit von den „fungierenden Leibern“ (Husserl 1952, S. 385), dem „Fungieren des Leibes“ (Husserl 1952, S. 384) und auch von der „fungierenden Leiblichkeit“ (Husserl 1952, S. 74) gesprochen wird. 2Meines Wissens gibt es bis dato keine deutschsprachige Monographie, die sich ausschließlich mit diesem Aspekt der Phänomenologie der Leiblichkeit bei Merleau-Ponty beschäftigen würde. Das trifft auch auf den englischen Sprachraum zu, hier spricht man von der operative intentionality. Soweit ich recherchieren konnte, auch nicht im Französischen (frz. l’intentionnalité opérante). Schon von daher betrachtet legt sich eine nähere Beschäftigung mit der fungierenden Intentionalität nahe.
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wendete Formel „Bewusstsein ist immer Bewusstsein von etwas als etwas“ als Erklärung der Intentionalität bzw. des intentionalen Bewusstseins in der Tradition Husserls hat diesen Vorwurf gewiss mit unterstützt.3 Die fungierende Intentionalität ist aber eben keine Intentionalität des Bewusstseins, sondern eine Intentionalität ohne „Bewusstsein“ im engeren Sinne. Wird die Phänomenologie und mit ihr die Intentionalität auf diese Weise gedacht, ergeben sich Überschneidungen mit postphänomenologischen Ansätzen, also gerade auch mit solchen philosophischen Ansätzen, welche die Phänomenologie einer Kritik aussetzten. Postmoderne Ereignisphilosophinnen und -philosophen wenden gerne ein, dass ereignishafte Geschehnisse dem Bewusstsein zuvorkommen, sodass man nicht von einem intentionalen Subjekt, das auf etwas gerichtet wäre, sprechen könne. Katastrophen, Unfälle, Einfälle und Ähnliches würden das Subjekt überraschen, brächten es durcheinander, setzten es außer Gefecht, kämen ihm zuvor usw. Von einer Intentionalität, bei der sich das Subjekt noch in der Hand hätte, „Herr“ im eigenen Haus wäre, könne dann in der Tat nicht mehr die Rede sein. Es entsteht dann aber der Eindruck, das Subjekt wäre gänzlich den Eindrücken von außen ausgeliefert, sodass es sich verbieten würde, noch von einer Intentionalität zu sprechen, mit der das Subjekt auf etwas gerichtet wäre und somit eine gewisse Aktivität zeige. Dies halte ich für problematisch. Wie erwähnt, ist nämlich die fungierende Intentionalität eine Intentionalität ohne Bewusstsein; auch von einer Aktivität im engeren Sinne kann nicht gesprochen werden. Mit der fungierenden Intentionalität kann folglich meiner Ansicht nach gezeigt werden, dass eine pauschale Verurteilung der Intentionalität ungerechtfertigt ist. Mit der fungierenden Intentionalität lassen sich darüber hinaus fundamentale existenzielle Phänomene erklären. Demzufolge kann man mit ihrer Hilfe zu einem Verstehen der menschlichen Existenz mit philosophischen Mitteln beitragen und vielleicht sogar die Frage beantworten, wie menschliches Leben gedeutet werden kann. Gerne wage ich die Behauptung, dass die fungierende Intentionalität Bedingung des Lebens – und sogar des Sterbens ist.4
3Dass
das Bewusstsein „Bewusstsein von etwas“ ist, findet sich bei Husserl in dieser Formulierung beispielsweise im Band I der Ideen (Husserl 1976, § 36). Siehe auch: „Allgemein gehört es zum Wesen jedes aktuellen cogito, Bewußtsein von etwas zu sein“ (Husserl 1976, S. 73). 4Dies würde letztlich auch die Frage inkludieren, ob auch Tiere eine fungierende Intentionalität haben. Dass man bei all der philosophischen Rede „immer die Tiere vergisst“, darauf hat zu Recht meine Kollegin Ingvild Birkhan hingewiesen. Hilfreich bei der Beantwortung dieser Frage wäre aus phänomenologischer Sicht sicher Helmuth Plessner, weil dieser sich in seinen anthropologischen Schriften wie kaum ein Zweiter der phänomenologischen Epoche auch mit Tieren und Pflanzen beschäftigte.
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2 Aktintentionalität vs. fungierende Intentionalität Merleau-Ponty unterscheidet in der Einleitung seiner Phänomenologie der Wahrnehmung zwei Arten von Intentionalität: eine „Intentionalität der Akte“ bzw. Aktintentionalität (frz. l’intentionnalité d’acte) und eine „fungierende Intentionalität“ (frz. l’intentionnalité opérante) (Merleau-Ponty 1966, S. 15, frz. XIII). Die französische intentionnalité opérante wäre also wortwörtlich eine operierende Intentionalität. Im Englischen sagt man operative intentionality. Allerdings ist die französische Variante bei Merleau-Ponty die französische Übersetzung der fungierenden Intentionalität bei Husserl. Das deutsche Verb fungieren ist interessanterweise gar nicht so alt. Etymologisch wurde es im 17. Jahrhundert aus dem lateinischen fungi entlehnt, was „verrichten, vollbringen, vollziehen, einer Sache Genüge leisten“ bedeutet. Jedes Mal ist ein Vollzug gemeint, bei dem etwas getan wird (verrichten), ausgeführt wird (vollbringen), getan wird (vollziehen) oder jemandem oder etwas entsprochen wird (einer Sache Genüge leisten). Adjektivisch auf das Substantiv Intentionalität angewandt, wäre dann von einer verrichtenden, vollbringenden, vollziehenden oder einer Sache Genüge leistenden Intentionalität zu sprechen. In weiterer Folge hat das Wort die Bedeutung „in einer Funktion tätig sein“ angenommen (siehe Etymologisches Wörterbuch des Deutschen). So sagt man beispielsweise von einer konkreten Person, dass sie als Gleichbehandlungsbeauftragte „fungiert“. Unter Berücksichtigung dieses etymologischen Hinweises kann Folgendes festgehalten werden: Einerseits darf man beim Verb fungieren an etwas Aktives denken, das zeigen die synonymen Verben verrichten, vollbringen, vollziehen und leisten. Andererseits ist an einen Wirkungsbereich bzw. an eine Funktion zu denken, die jemand hat. Das deutsche Verb operieren ist aus dem lateinischen operari entlehnt und bedeutet so viel wie „beschäftigt sein, arbeiten, wirken, verrichten“ (ebd.). Beide Verben, also fungieren und operieren, betonen das Aktive und beinhalten die Funktion. Dennoch unterscheidet sich die fungierende Intentionalität deutlich von der Aktintentionalität. Die sogenannte „Aktintentionalität“ bei Merleau-Ponty entspricht in etwa der Intentionalität des Bewusstseins bei Husserl, wobei allerdings schon bei Husserl das Bewusstsein für die Gesamtheit von intentionalen Erlebnissen steht und beispielsweise auch Akte des Träumens oder Phantasierens mit einschließt. Für Merleau-Ponty ist die Aktintentionalität eine Intentionalität „unserer Urteile und willentlichen Stellungnahmen“ (Merleau-Ponty 1966, S. 15), also eine Intentionalität des Willens bzw. des Urteilsvermögens. Urteile wie „Das ist ein Hörsaal“ gehören demzufolge ebenso dazu wie „Mir ist kalt“ oder willentliche Stellungnahmen (frz. prises de position volontaires) wie „Meiner Meinung nach müsste Bildung einer radikalen Revision unterzogen werden“. Mit dieser Art von Intentionalität befindet man sich auf der Ebene des Bewusstseins, und man hat es mit autonomen Subjekten zu tun, das heißt mit Subjekten, die von sich aus
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etwas sagen oder tun und die bewusst – kraft ihres Willens – ihre Meinung zum Ausdruck bringen. Die fungierende Intentionalität ist von ganz anderer Art. Merleau-Ponty zufolge handelt es sich dabei um eine Intentionalität, „in der die natürliche und vorprädikative Einheit der Welt und unseres Lebens gründet“ (Merleau-Ponty 1966, S. 15). Es handelt sich seiner Auffassung zufolge um einen „erweiterten Begriff der Intentionalität“, bei dem die Intentionalität für den „Bezug zur Welt“ (Merleau-Ponty 1966, S. 15) als solchen steht. Merleau-Ponty beschreibt sie als eine Art „Grundtext“, die der objektiven Erkenntnis zugrunde liege und einem „Verstehen“ anderer Art zugänglich sei. Mit ihr würde in einem lebendigen Vollzug eine „Totalintention“ erfasst, die nicht auf einzelne Feststellungen nach Art der Aktintentionalität reduziert werden könne. Für Merleau-Ponty steht die fungierende Intentionalität für eine dem Urteilen und Stellungnehmen vorausgehende bzw. zugrunde liegende Ebene der Erfahrung von und in der Welt. Es lohnt sich auch hier, einen Blick auf das französische Original in der Phänomenologie der Wahrnehmung zu werfen. Dort heißt es: „l’intentionnalité opérante [fungierende Intentionalität], celle qui fait l’unité naturelle et antéprédicative du monde et de notre vie“ (frz. XIII). Die „operierende Intentionalität“ ist also eine Intentionalität, „welche die natürliche und vorprädikative Einheit mit der Welt und unseres Lebens herstellt“. Während die deutsche Übersetzung davon spricht, dass die Einheit mit der Welt in der fungierenden Intentionalität gründet, ist im französischen Original die Rede davon, dass die natürliche und vorprädikative Einheit unseres Lebens gemacht oder hergestellt wird – französisch faire. Was unter Umständen einen großen Unterschied macht. Im Französischen wird eindeutig erst etwas hergestellt (faire). Im Deutschen kann das Verb gründen „etwas ins Lebens rufen“ und „schaffen“ heißen, aber eben auch „auf etwas aufbauen“, „auf etwas beruhen“ und Ähnliches. Die englische Übersetzung ist besonders klar. Es heißt dort: Die Intentionalität ist „that which produces the natural and antepredicative unity of the world and of our life“ (XVIII), also die fungierende Intentionalität produziert etwas, stellt etwas her, was es vorher noch nicht gegeben hat. Von Bewusstsein ist hier keine Rede mehr. Noch in seinem Spätwerk Das Sichtbare und das Unsichtbare wird Merleau-Ponty überzeugt davon sein, dass die fungierende Intentionalität neu gedacht werden muss, und zwar gegen eine vom Bewusstsein aus gedachte Intentionalität. Die Stelle lautet: „Die fungierende oder latente Intentionalität, die Intentionalität im Inneren des Seins ist, muß wiederaufgegriffen und weiterentwickelt werden. Das ist nicht mehr vereinbar mit der ‚Phänomenologie‘, das heißt mit einer Ontologie, die alles, was nicht nichts ist, dazu verurteilt, sich dem Bewußtsein durch Abschattungen hindurch zu präsentieren und als etwas, das sich von einer originären Sinngebung herleitet, die ein Akt, d. h. ein Erlebnis unter anderen ist“ (Merleau-Ponty 1986, S. 308). Die fungierende Intentionalität wird von Merleau-Ponty gelegentlich auch als „latente (sic!) Intentionalität“ (Merleau-Ponty 1986, S. 272, 308) bezeichnet. In diesem Fall wird die Intentionalität als eine „verborgene“, „verdeckte“, „noch nicht erkennbare“, „nicht offenkundige“, „unbekannt bleibende“ Intentionalität beschrieben.
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3 Leibliche Intentionalität – fungierende Leiblichkeit Obwohl bis jetzt noch keine Rede von Leiblichkeit war, ist man mit der fungierenden Intentionalität inmitten einer Philosophie der Leiblichkeit. Intentionalität und Leiblichkeit sind untrennbar miteinander verbunden. Bei Merleau-Ponty wird die fungierende Intentionalität gleichgesetzt mit der leiblichen Intentionalität. Anders ausgedrückt: Insofern wir einen Leib (sic!) haben, haben wir eine fungierende Intentionalität. Doch „hat“ man den Leib nicht wie einen Gegenstand. Leiblich ist man auf die Welt bezogen, sodass man in der Phänomenologie sagt, dass man Leib „ist“. Es ist nicht mehr der Geist, nicht die Vernunft, nicht das Bewusstsein, sondern der Leib selbst ist es, der diesen Bezug zur Welt „herstellt“. Deshalb kann Merleau-Ponty davon sprechen, dass der Leib ein „natürliches Ich“ oder selbst „Subjekt der Wahrnehmung“ ist (Merleau-Ponty 1966, S. 243). Diese leibliche Intentionalität ist immer latent, also verborgen und untergründig wirksam. In ihr stellt sich die Einheit der Welt und unseres Lebens erst her. Deshalb kann man mit Waldenfels von einer „fungierenden Leiblichkeit“ und von einem „fungierenden Leib“ sprechen (Waldenfels 2000, S. 42). Da es sich um ein Fungieren handelt, also um eine leibliche Funktion, ist nicht so sehr nach dem Was, sondern nach dem Wie des Leibes oder der Leiblichkeit zu fragen – im Unterschied zum Körperding. Nicht die Frage ist leitend, was der Leib ist, sondern wie er ist. „Das Körperding wäre etwas, das ich beschreibe; der fungierende Leib ist der, der im Wahrnehmen, im Handeln, im Empfinden, in der Sexualität, in der Sprache usf. selbst eine bestimmte Leistung vollbringt, eine Funktion ausübt“ (Waldenfels 2000, S. 42). Eine zentrale Bestimmung der Leiblichkeit bei Merleau-Ponty ist die Öffnung zur Welt, im Französischen être-au-monde, was übersetzt Sein-zur-Welt bedeutet.5 In einer der wenigen Studien zur fungierenden Leiblichkeit zeichnet der Verfasser Werner Müller die Leiblichkeit als ein Sein zur Welt nach. Der Leib bei MerleauPonty sei eine solche „erste Öffnung auf die Welt hin“ (Müller 1975, S. 129), die fungierende Intentionalität „zu verstehen als leibliches Leben“ (Müller 1975, S. 129). Was an dieser Beschreibung auffällt, ist erstens die Öffnung, zweitens das Leben. Leib bedeutet einerseits Öffnung, andererseits Leben.6 Die Öffnung ist ein zentrales Kennzeichen der leiblichen Existenz. Es deutet vieles darauf hin, dass die fungierende Intentionalität einfach etwas ist, was uns eine wie auch immer geartete Welt ermöglicht. Ist die fungierende Intentionalität also eine Ermöglichungsfunktion?
5Im
Unterschied dazu spricht Heidegger vom In-der-Welt-sein. sei erwähnt, dass Merleau-Ponty für die Lebenswissenschaften, das heißt für die Wissenschaft vom Leben, bislang noch wenig in Anspruch genommen wurde.
6Es
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4 Beispiele: Aufwachen, Erinnern, Schmerz Drei Beispiele sollen im Folgenden die fungierende Intentionalität bzw. Leiblichkeit näher erläutern. Als Erstes können das Einschlafen und das Aufwachen genommen werden. Es scheint wie ein Rätsel, dass der Mensch imstande ist, nach dem Einschlafen wieder aufzuwachen. Gleichwohl magisch aber schläft man auch ein. Man legt sich nieder, taucht in eine andere Welt ein, sagt sich von der Welt und seinen Mitmenschen los, gibt jegliche Handlungsfähigkeit und Macht ab, vertraut sich Tag für Tag einer anderen, unbekannten Welt an, schließt die Augen und – schläft ein.7 Das Einschlafen geschieht ohne willentlichen Entschluss. Merleau-Ponty sagt, dass das Vermögen des Willens oder des Bewusstseins hier an seine „Grenze“ stößt (vgl. Merleau-Ponty 1966, S. 196). Menschen mit Einschlafschwierigkeiten wissen gut, wie kontraproduktiv der Vorsatz einzuschlafen sein kann. Der Wunsch, endlich einzuschlafen, kann für sie der Beginn einer langen schlaflosen Nacht sein. Als widersinnig gilt, den Schlaf per Befehl herbeizurufen: „Schlaf jetzt, Silvia!“ Die Phänomenologie geht vielmehr davon aus, dass der Schlaf auf die Schlafende oder den Schlafenden zukommt. Das Einschlafen wird als Moment beschrieben, in dem Müdigkeit mich überfällt, in dem man einschläft, der Schlaf kommt. Für das Aufwachen gilt Ähnliches. Weckrufe, Umgebungslärm und das Läuten eines Weckers ausgeschlossen, ist auch in diesem Fall unvorstellbar, dass man noch im Schlaf einen Entschluss fällt aufzuwachen oder dass man sich selbst befiehlt aufzuwachen: „Wach auf und öffne die Augen!“ Was aber ist es, das es uns ermöglicht, ohne unser Zutun, von der einen in die andere Welt zu wechseln? Wie kommt es vom Schlafbewusstsein zum Wachbewusstsein? Wie kann umgekehrt das Bewusstsein während des Wachens zugunsten eines bewusstlosen Zustandes während des Schlafs aufgegeben werden? Die Beantwortung dieser Frage erhellt die Bedeutung der fungierenden Leiblichkeit. Der Phänomenologie Merleau-Pontys zufolge nämlich zeichnet die fungierende Leiblichkeit dafür verantwortlich. Wenn es nicht der Geist mit seinem Willen ist, dann muss es der Leib mit seinen Sinnen sein. Leiblichkeit heißt nämlich in der Phänomenologie der Leiblichkeit immer auch Sinnlichkeit, wobei hier wiederum die Sinneswahrnehmungen und die Sinnesfunktionen gemeint sind. Eine „anonyme Wachsamkeit der Sinne“ (Merleau-Ponty 1966, S. 196) sei letztlich Garant dafür, aus dem Schlaf aufwachen zu können. Man könnte auch sagen: Das stumme Fungieren der Sinne, vielleicht auch der lebendigen organischen Funktion des Menschen, ist es, was die Schlafenden aufwachen lässt. „Gewiß ist es dieses letzte Band, das das Wiedererwachen möglich macht“ (Merleau-Ponty 1966, S. 196). Dieses „letzte Band“ ist jene fungierende Intentionalität, von der MerleauPonty behauptet, dass sie in der „natürlichen vorprädikativen Einheit der Welt und
7Freud hat den Übergang von der Wach- in die Schlafwelt in seinen Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse sehr schön beschrieben und spricht von einem „Aussetzen des Interesses an der Welt“ (Freud 1989, S. 106).
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unseres Lebens gründet“ (Merleau-Ponty 1966, S. 15), bzw. jener „Bezug zur Welt [ist], der unermüdlich in uns sich ausspricht“ (Merleau-Ponty 1966, S. 15). Als zweites Beispiel sei die Erinnerung genannt. Hier gilt Ähnliches: Erinnertes kann nicht einfach per Entschluss erinnert werden. Vielmehr hat auch die Erinnerung den Charakter eines Ein- oder Überfalls. Etwas aus der Vergangenheit fällt mir ein: Es fällt ein, und nicht: ich hole etwas aus der Vergangenheit hervor – wie ich etwa einen Schrank öffne, dem ich ein Kleidungsstück entnehme. Der Erinnerungsakt ist genau jener Akt, der sich einem willentlichen Entschluss entzieht. So wenig ich sagen kann: „Schlaf jetzt ein!“, so wenig kann ich sagen: „Erinnere dich!“8 Es drängt sich etwas ins Bewusstsein, auch wenn ich es nicht will. Die Erinnerung kommt, auch wenn ich nichts darauf gebe. Ein Einfall kann gut oder schlecht sein. Er kommt dann, wenn ich nicht mit ihm rechne. Diese Bereitschaft, so die Phänomenologie der Leiblichkeit, kann nicht viel anders erklärt werden als mit der Tatsache der leiblichen Existenz, die jenes lebendige System ist, das auch dann noch in der Welt und zur Welt sich verhält, wenn das Bewusstsein und der Wille gerade keinen Dienst haben. Als drittes und letztes Beispiel sei der Schmerz genannt. Gewöhnlich ist der Schmerz nichts, was bewusst herbeigeführt wird. Selbst in Fällen der Selbstverletzung kann man zwar den Schmerz herausfordern, ihn erwarten oder sogar erhoffen, indem man zum Beispiel noch tiefer ins Fleisch schneidet, aber dem Moment des Schmerzes selbst ist man ausgeliefert. Bei erlittenem Schmerz kann man in der Regel nicht sagen: „Ich mag keinen Schmerz, also verschwinde!“ Heftige, plötzliche und starke andauernde, also quälende Schmerzen können das Vertrauen in die Welt zerstören, die Hoffnung sterben lassen, die sozialen Kontakte brechen ab. Der chronische Schmerz kann alles vernichten, was einem gut und lieb erscheint. Elaine Scarry hat in ihrer Studie über den Körper im Schmerz die These vertreten, dass der körperliche Schmerz im Wesentlichen unausdrückbar und nicht mitteilbar ist (vgl. Scarry 1992, S. 11 ff.). Sie sieht den Grund in der alles vernichtenden Kraft des Schmerzes, der den Menschen in eine vordiskursive und vorsymbolische Sphäre zurückdränge; der Mensch im Schmerz könne nämlich nur noch unmenschliche, tierische Laute von sich geben. Nicht der gesunde Schmerz steht hier im Zentrum – das ist jener, der etwa eine Warnung sein kann, die Hand doch nicht mehr länger im Feuer zu halten –, sondern der zugefügte, ins Unerträgliche gesteigerte Schmerz, der es auf das Brechen des Willens abgesehen hat und die körperliche und geistige Integrität des Menschen zerstören will (vgl. dazu List 2003, S. 13). Es ist der Schmerz, der Ereignischarakter hat, also ein plötzlich auftretendes Geschehen (in diesem Fall unangenehmer Art), dem das Schmerz erleidende Subjekt keinen Sinn mehr abringen kann. Aus diesem Grund geht Thomas Fuchs mit Elaine Scarry von einer „fehlende[n] Intentionalität oder referenzielle[n] Bedeutung des Schmerzerlebens aus“ (Fuchs 2003, S. 22).
8Hier
ist nicht die Wiedererinnerung gemeint, sondern das Sich-Erinnern an etwas Vergessenes, Verdrängtes. Zur Erinnerung in phänomenologischer Sicht siehe Meyer-Drawe 1996, S. 151.
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Warum aber dann überhaupt noch von Schmerz und Schmerzerfahrung sprechen? Wenn der Schmerz nichts ist, was sich intentional im Bewusstsein aufbaut, wenn er sich im Gegenteil der bewussten Steuerung in der Regel entzieht, wenn er auftritt, ohne dass er erwartet und herbeigesehnt wird, was ist es dann, das ihn möglich macht?9 Mit Merleau-Pontys Phänomenologie kann man sagen, dass es die fungierende Intentionalität oder fungierende Leiblichkeit ist. Irgendetwas „fängt“ diese Erfahrung auf oder lässt diese Erfahrung zu, öffnet sich für die Schmerzerfahrung. Es ist nicht der Verstand, es ist nicht der Wille, es muss der gelebte Leib, dieses quasi „natürliche Ich“ sein. Man muss hier von einer Fähigkeit (sic!) des Schmerzerlebens sprechen, also von etwas Positivem, selbst wenn man am liebsten darauf verzichten wollte. Der Mensch ist auch ein Mensch, der Schmerzen empfinden kann (sic!) und nicht nur muss – ob man ihn will oder nicht, ob man ihn ertragen kann oder nicht.10 Dass er Schmerz empfinden kann, ebenso wie Lust und Unlust, verdankt sich wiederum, will man der Phänomenologie Merleau-Pontys folgen, der fungierenden Leiblichkeit. Ich erachte den diesbezüglichen Ansatz des Psychiaters Thomas Szasz nicht zuletzt aus diesem Grund für zentral. In seinem Buch Pain and Pleasure geht er davon aus, dass der Mensch ein homo dolorosus ist, das heißt ein Mensch, dessen Menschsein darin besteht, Schmerz und Leid erfahren zu können (Szasz 1988, S. xxxix). Auch hier ließe sich, ausgehend von der Phänomenologie, an die Psychiatrie und die Psychoanalyse anschließen, und man könnte beide miteinander ins Gespräch bringen. Wenn es zutrifft, dass der Mensch Lust und Unlust, Freud und Leid, Schmerz und Unschmerz erfahren kann, was genau ist es, das dies alles ermöglicht? Wenn es sich die menschliche Vernunft nicht aussuchen kann, wenn das Menschensubjekt aber laufend solche Erfahrungen macht, was macht dies alles möglich? Die Antwort ist: die fungierende Intentionalität oder fungierende Leiblichkeit, jenes „natürliche Ich“, von dem Merleau-Ponty sagt, dass es nicht nur das Andere der Vernunft, sondern selbst eine Art Vernünftigkeit ist, weshalb er auch vom Leib als einem „Erkennungsorganismus“ (Merleau-Ponty 1966, S. 273) oder vom „erkennenden Leib“ spricht (ebd., S. 464).
5 Heraufbeschwörung des Ereignisses Bis jetzt wurde die fungierende Intentionalität so dargestellt, als würde alles Erfahrbare ohne eigenes Zutun geschehen. Das wäre jedoch nicht ganz korrekt. Zwar muss der Gedanke aufrechterhalten bleiben, dass die fungierende
9Es ist hier nicht gemeint, dass man kein Bewusstsein vom Schmerz hat, sondern dass man bei einem plötzlich einschießenden Schmerz nicht bewusstseinsmäßig intentional auf ihn gerichtet ist. Auf diesen Diskussionspunkt hat mich freundlicherweise Walter Seitter aufmerksam gemacht. 10Diese Fähigkeit, zu empfinden, also die Affektivität, zählt im Rahmen der Phänomenologie zu den Hauptmerkmalen des Leibes (vgl. Waldenfels 2000, S. 38 f.).
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Intentionalität diesseits des Bewusstseins angesiedelt ist, also kein Bewusstseinsakt ist. Das heißt allerdings nicht, dass alles, was erfahren werden kann, gänzlich ohne eigenes Zutun geschehe. Die Frage nämlich ist, was man unter dem Eigenen und dem Zutun versteht. Wenn es so ist, dass der eigene Leib (frz. corps propre) vieles übernimmt, was nicht durch kognitive, bewusste Prozesse geleistet werden kann, so ist doch der „eigene“ Leib eben „mein“ Leib und nicht etwa der Leib eines anderen. Am Beispiel des Schlafs kann mit Merleau-Ponty gezeigt werden, dass ein minimales Zutun notwendig für das Einschlafen ist. Merleau-Ponty sagt nämlich nicht nur gegenüber bewusstseinsphilosophischen Ansätzen, dass der Schlaf „kommt“, ohne mein Zutun. Er sagt auch, dass gewisse vorbereitende Praktiken für den Schlaf notwendig seien. So sei es etwa üblich, dass man sich des Nachts ins Schlafzimmer begebe, das Licht abdrehe, sich eine Schlafkleidung anlege, dass man es sich im Bett bequem mache, eine gewisse Schlafhaltung einnehme und die Augen schließe. Merleau-Ponty führt in der Phänomenologie der Wahrnehmung aus: „[I]ch strecke mich in meinem Bette aus, auf der linken Seite, die Knie leicht angezogen […]. [Ich] beschwöre […] die Heimsuchung durch den Schlaf herauf, indem ich Atem und Haltung eines Schläfers nachahme“ (Merleau-Ponty 1966, S. 196). Das Beispiel verdeutlicht, wie man durch bestimmte Handlungen und kulturelle Praktiken den Schlaf gewissermaßen „heraufbeschwört“. Auch von einer Nachahmung ist an dieser Stelle die Rede. Indem man den Schlaf imitiert, kommt er auf eine magische Art und Weise herbei. Der Schlaf kommt also nicht ganz ohne Einflussnahme des Menschen. Mit seinen Beschreibungen will Merleau-Ponty sagen, dass gewisse Vorbereitungen, wie zum Beispiel das Einnehmen einer bestimmten Körperhaltung oder das Nachahmen eines Einschlafenden, Voraussetzung für den Schlaf sind. Das heißt, er kommt nicht wirklich ohne mein „Zutun“. Er kommt leichter, wenn man ihm einen Weg bahnt: Das Betreten des Schlafzimmers, das Anziehen des Pyjamas, das Schließen der Augen und nicht zuletzt die Erwartung (sic!) des zukünftigen Schlafes sind solche vorbereitenden und, wie MerleauPonty sagen würde, beschwörenden Praktiken. Von der angesprochenen Erwartung schreibt er in der Phänomenologie der Wahrnehmung: „Der Schlaf kommt, indem eine bestimmte willentlich eingenommene Haltung plötzlich von außen eine Bestätigung erfährt, die sie erwartete. Ich atme langsam und tief, um den Schlaf herbeizurufen“ (Merleau-Ponty 1966, S. 249). Das heißt, es wird eine bestimmte, der Schlafsituation angepasste Körperhaltung eingenommen, und dies geschieht Merleau-Ponty zufolge willentlich.11 Darauf folgt eine „Bestätigung“ (frz. confirmation), also nicht bloß eine Reaktion, sondern eine Art Antwort auf eine Art Anrufung, die von einer Erwartung ausgeht, denn eine Erwartung ist auf
11Es
ist leicht vorstellbar, dass die Körperhaltung im Falle des Schlafes nicht zwingenderweise willentlich eingenommen werden muss, und zwar in dem Sinne, dass man sich nicht immer vorsagen muss, wie man sich hinlegen soll, auf welche Seite man sich hinlegt, wie man Kopf, Rumpf, Gliedmaßen positioniert usw.
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etwas in der Zukunft gerichtet, auf etwas, was kommen soll. So spricht MerleauPonty im französischen Original nicht nur von attendre (etwas erwarten), sondern auch von appeler (herbeirufen).12 Es gibt also etwas, was dem konkreten Eintritt des Schlafs vorausgehen muss. Entweder sind es konkrete Handlungen wie das Betreten des Schlafzimmers, oder es ist etwas Abstrakteres, nämlich eine Erwartung des Zukünftigen, dessen, was folgen soll, höchstwahrscheinlich folgen wird, die Erwartung des zukünftigen Schlafs. Der eintretende Schlaf ist dann nicht viel mehr als die Bestätigung einer Erwartung oder das Einer-Anrufung-Folgen, wenn man dieser Stelle in der Phänomenologie der Wahrnehmung folgen will.
6 Beispiele: Psychoanalyse, Meditation, Feminismus Drei weitere Beispiele aus ganz unterschiedlichen Bereichen sollen zur weiteren Vertiefung des Verständnisses der fungierenden Intentionalität als grundlegendes Sein-zur-Welt dienen. Als erstes Beispiel sei die Praxis der „gleichschwebenden Aufmerksamkeit“ in der Psychoanalyse genannt (vgl. Freud 1975, S. 171 f.). Sigmund Freud galt sie als eine wichtige „technische Regel“ für die Analyse. Es handelt sich dabei um das Gegenstück der freien Assoziation der Analysandin bzw. des Analysanden. Der Regel zufolge soll die Psychoanalytikerin oder der Psychoanalytiker in der analytischen Sitzung offen sein für all das, was kommt. Man dürfe sich nicht möglichen Ereignissen versperren; wenn man schon mit einer bestimmten Erwartung oder Interpretation in die Sitzung geht, würde dies nämlich mögliche andere Ereignisse im Vorhinein beeinflussen oder gar verunmöglichen. Zwar setzt die gleichschwebende Aufmerksamkeit eine Übung voraus, und es muss eine bestimmte innere Haltung eingenommen werden, aber bezüglich der unbestimmbaren Zukünftigkeit gibt es eine Übereinstimmung. Es handelt sich um eine Öffnung auf den Anderen oder das Andere hin, die mit mehr als nur mit dem Eigenen rechnet. Man könnte auch sagen: In der freischwebenden Aufmerksamkeit bin ich in Erwartung des Anderen, wobei das Andere in concreto nicht vorher genannt werden kann – mag das, was kommt, bekannt oder unbekannt sein. Das zweite Beispiel ist die Meditation: Merleau-Pontys Phänomenologie der leiblichen Erfahrung ist im Wesentlichen eine Philosophie der Erfahrung in statu nascendi, also eine Philosophie der Erfahrung im Zustande ihres Entstehens, und das heißt, es geht um eine im Entstehen begriffene Welt: „Wir haben es […] mit einer Welt in statu nascendi zu tun“ (Waldenfels 2000, S. 74). Das setzt aber eine permanente Öffnung hin zu mehr oder bekanntem Unbekanntem voraus. MerleauPonty spricht, wie Husserl auch, gerne von der Anonymität der Erfahrung, also von einer Erfahrung, die erst noch näher benannt werden muss. Das griechische
12Das
ganze Zitat auf Französisch: „[L]e sommeil vient qand une certaine attitude volontaire reçoit soudain du dehors la confirmation qu’elle attendait. Je respirais lentement et profondément pour appeler le sommeil“ (frz. 245).
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an ónyma bedeutet: noch keinen Namen habend, unbenannt, auch unbekannt. Es scheint naheliegend, an Meditationserfahrungen zu denken. So geht es in der westlichen Meditation darum, durch ein gewisses Innehalten zur Ruhe zu kommen, mittels Konzentration auf den Atem die Aufmerksamkeit auf sich und den gegenwärtigen Moment zu lenken. Im Zuge dieser Praxis sollen die Gedanken mehr und mehr in den Hintergrund rücken. Da dies nicht zu den einfachsten Dingen zählt, besteht eine Meditationstechnik darin, die aufkommenden Gedanken schlicht zu beschreiben und sie nicht zu bewerten, um sie dann wieder vorbeiziehen zu lassen. Damit das geschehen kann, ist eine bestimmte Einstellung oder Haltung vonnöten: ein Sich-Einlassen auf den gegenwärtigen Moment, was immer er ist und bringen wird. Hier zeigt sich einmal mehr der Unterschied zwischen der Aktintentionalität und der fungierenden Intentionalität. Die Aktintentionalität ist durch eine Geschlossenheit charakterisiert, die fungierende Intentionalität durch Offenheit. In der Aktintentionalität nehme ich etwas als etwas Bestimmtes wahr, und ich kann es auch benennen: dieses „Blau des Himmels“. Der Himmel ist blau und nicht grün. Fast so etwas wie ein „secundum non datur“. Bei der fungierenden Intentionalität gibt es zwar etwas, aber man weiß nicht genau, was. Vielleicht eine Art Blau, eine wie auch immer geartete Bläuigkeit. Im einen Fall hat man eine ausgewiesene Beziehung zum Blau des Himmels (Aktintentionalität), im anderen Fall ist man bezogen auf etwas, was man dann das Blau des Himmels wird nennen können; ich bin vielleicht in eine gewisse Bläue eingetaucht, durchdrungen von einer Farbe, die ich noch nicht genau benennen kann, die sich mir – phänomenologisch – als noch unbekannt im Sinne von noch nicht benannt zeigt. Sie ist da, aber noch nicht in ihrer konkretisierten Bedeutung. Abschließend soll ein Beispiel aus der philosophischen Geschlechtertheorie genannt werden, und zwar in Zusammenhang mit Luce Irigarays differenz- bzw. alteritätstheoretischem Ansatz. Irigaray ist nicht nur für ihre Theorie der sexuellen Differenz bekannt geworden, sie hat sich auch stets um eine Theorie radikaler Alterität bemüht. Die zentrale Frage lautet: Wie kann Alterität hergestellt, gefördert, aufrechterhalten werden? Von den vielen und mitunter äußerst ungewöhnlichen Vorschlägen befindet sich einer, der nicht nur pädagogische Relevanz besitzt. Damit der Andere seine Andersheit bewahren kann und nicht bloß das Ergebnis eigener Projektionen oder Gegenstand des Willens, Wollens und Wertens (des Wertens nach meinen eigenen Maßstäben) ist, sollte man dem Anderen so begegnen, als wüsste man nichts von ihm. So sei beispielsweise den Worten des Anderen oder der Anderen voraussetzungslos zu lauschen. Das Gehörte sollte quasi als Unbekanntes aufgefasst werden. In den Worten Irigarays: „Ich höre dir zu, heißt, deinen Worten als etwas Einzigartigem, Irreduziblem […], als etwas Neuem, noch Unbekanntem zuzuhören“ (Irigaray 1996, S. 117; meine Übersetzung). „Ich höre dir zu als jemandem und als etwas, was ich noch nicht kenne“ (Irigaray 1996, S. 117; meine Übersetzung). Nur wenn ich in diesem strengen Sinne auf-merk-sam bin, kann der Andere Subjekt werden und können zwei Subjekte einander begegnen. Und zwar
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deshalb, weil der Andere nicht zum „Objekt“ meines Begehrens, meines Wollens, meiner Werte, meiner Welt degradiert wird.13 Diese Beispiele lassen an die sogenannte phänomenologische Epoché als eine bestimmte Stufe der phänomenologischen Methode der Deskription denken. Der phänomenologischen Deskription zufolge ist eine bestimmte „Einstellung“ der Phänomenologin notwendig, und zwar eine Einstellung, in der man bewusst darauf verzichtet, bei der Betrachtung der Dinge angehäuftes, erworbenes Wissen ins Spiel zu bringen. Es ist die Rede von der „Urteilsenthaltung“ (Husserl 1976, § 31). Die Phänomenologin habe rein zu beschreiben, was sich in ihrer Erfahrung zeige. Sie müsse im Zuge dessen um eine möglichst vollständige Beschreibung dessen, was sich ihr zeige, bemüht sein. So schwierig es ist, die Kenntnisse über die Welt „einzuklammern“, so liegt genau darin die Herausforderung. Die Phänomenologin muss so offen wie möglich an die Sache herangehen, um quasi „vorurteilsfrei“, wie es in der Phänomenologie heißt, weitertun zu können. Schon gar nicht dürfe sie über Sein oder Nicht-Sein des Erfahrenen Aussagen treffen.14 Es gilt nun zu klären, wie die drei Beispiele mit dem Begriff der fungierenden Intentionalität zusammenhängen. Zunächst muss ein Unterschied festgehalten werden. Bei der fungierenden Intentionalität hat man es eigentlich nicht mit einer Einstellung zu tun, die bewusst und/oder willentlich eingenommen werden kann, wie das bei der gleichschwebenden Aufmerksamkeit in der Psychoanalyse, bei der Meditation und in Irigarays Beispiel des Zuhörens und schließlich bei der phänomenologischen Urteilsenthaltung der Fall ist.15 Die fungierende Intentionalität ist im Grunde überhaupt keine Einstellung, sondern eine grundlegende menschliche Funktion des Leibes. Man kann der Leiblichkeit nicht sagen: „So, und jetzt sei eine Öffnung zur Welt!“, denn diese Aufforderung käme immer schon zu spät. Wenn die Worte an uns gerichtet werden, ist unsere leibliche Existenz immer schon – nach Art des être-au-monde – offen für die gesprochenen Worte. Es ist davon auszugehen, dass die Leiblichkeit immer schon eine Verbindung zur Welt unterhalten haben wird. Diese Beispiele demonstrieren meiner Meinung nach besonders gut, was mit dieser Offenheit des Zur-Welt-Seins gemeint ist. Im Falle der fungierenden Intentionalität handelt es sich um eine unmittelbare Offenheit, das heißt um eine Offenheit, die nicht extra hergestellt werden muss. Man muss zu diesem Zweck keine Einstellung einnehmen, wie das beispielsweise bei der phänomenologischen Einstellung der Fall ist. Wenn Merleau-Ponty sagt, dass der Leib ein „natürliches Ich“ ist, dann ließe sich für die fungierende Leiblichkeit sagen, dass sie eine natürliche Öffnung ist. Das heißt aber auch, dass das
13Siehe
dazu mehr in Stoller 2012 oder neuerdings 2019. Waldenfels hat gleichfalls die phänomenologische Epoché bei Husserl mit der gleichschwebenden Aufmerksamkeit bei Freud in Verbindung gebracht, die Ähnlichkeit dieser beiden Techniken allerdings nicht näher erläutert (vgl. Waldenfels 2019, S. 172 f.). 15Bernhard Waldenfels hebt ganz zu Recht noch einen anderen Unterschied zwischen der gleichschwebenden Aufmerksamkeit bei Freud und der phänomenologischen Reduktion bei Husserl hervor: Es handle sich in beiden Fällen um „Techniken der Analyse“ (Waldenfels 2004, S. 159). 14Bernhard
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natürliche Ich geradezu durch diese Öffnung charakterisiert ist. Ich bin (sic!) gewissermaßen immer eine Öffnung. Ich kann nicht anders, als mit der Welt in Beziehung zu stehen, und zwar schon lange bevor ich mit irgendeiner Aktintentionalität auf sie zugreife. Oder wie Merleau-Ponty auch sagt: „Die Welt ist nicht, was ich denke, sondern das, was ich lebe, ich bin offen zur Welt, unzweifelhaft kommuniziere ich mit ihr, doch ist sie nicht mein Besitz, sie ist unausschöpfbar“ (Merleau-Ponty 1966, S. 14).
7 Schluss Ich habe zu Beginn gesagt, man müsse größeres Gewicht auf die fungierende Intentionalität bzw. fungierende Leiblichkeit legen. Meiner Ansicht nach sollte das nicht nur innerhalb der Phänomenologie, sondern generell in der Philosophie geschehen und könnte auch die psychoanalytische Theorie mit einschließen, sofern Interesse an einer ganzheitlichen Sicht auf die menschliche Existenz besteht. Nach der Klärung von Begriffen habe ich einige Beispiele gegeben, die das Wirken der fungierenden Intentionalität bzw. Leiblichkeit meiner Ansicht nach besonders gut verdeutlichen können. Das waren das Aufwachen bzw. Einschlafen, die Erinnerung und der Schmerz. Das sind Beispiele, die in der Phänomenologieoder Husserl-kritischen Philosophie oft für den Beweis herhalten müssen, dass die Intentionalität außer Kraft gesetzt ist und somit die intellektuellen Fähigkeiten der menschlichen Existenz und letztendlich die Handlungsfähigkeit des Subjekts lahmgelegt sind. Allerdings habe ich versucht zu zeigen, dass von dieser Kritik nicht jede Art von Intentionalität betroffen ist. Auf die fungierende Intentionalität trifft diese Kritik nicht zu. Mehr noch: Sie ist eine notwendige Bedingung dafür, dass überhaupt etwas in der Welt erkannt, gefühlt, erlebt werden kann. Der Schmerz mag mich niederstrecken, aber dass ich ihn spüre, auch wenn ich ihn nicht mehr in Worte fassen kann, dafür muss ich noch offen sein, grundlegend offen sein. Ich mag im Schlaf mein Bewusstsein verloren und keine Macht mehr über mich, die Welt und die Anderen haben, „schlummern in der Immanenz“, wie Simone de Beauvoir einmal zum Schlafen gesagt hat,16 aber ich muss eine minimale Offenheit, eine Gerichtetheit woandershin haben, quasi eine minimale Transzendenz, da sonst unerklärlich bliebe, wie man je von der Welt der Dunkelheit in die Welt des Lichts kommt. Ich würde sogar sagen, dass die fungierende Leiblichkeit nicht nur Garantie dafür ist, aus einem tiefen Schlaf wieder aufzuwachen und mit dem Schlaf in eine andere Welt abzutauchen, sondern auch die Möglichkeitsbedingung, ins Koma zu fallen oder zu sterben. Auch die Erinnerung benötigt ein être-au-monde, eine Öffnung, eine Tür, die nur angelehnt, aber nicht verschlossen ist, damit das Erinnerte in Erscheinung treten kann. Ich muss schon
16Vgl.
„Schlummer der Immanenz“ (Beauvoir 1992, S. 816).
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da sein, um diese Erinnerung haben zu können, und ich muss dafür empfänglich sein können. Selbst das Vergessen geschieht zwar ohne meinen Willen, aber nicht ohne mich, mich in meiner Existenz, meiner leiblichen Existenz. Um die fungierende Intentionalität noch deutlicher zu machen, habe ich Vergleiche angestellt mit Techniken aus der alltäglichen Praxis wie der freischwebenden Aufmerksamkeit in der Psychoanalyse oder der Meditation, ergänzt um zwei philosophische Methodologien: Luce Irigarays Ethik der Alterität, die sich in einer unvoreingenommenen Hinwendung in Richtung des bzw. der Anderen zeigt, und der phänomenologische Schritt der Urteilsenthaltung im Zuge der Deskription der Phänomene. Diese Beispiele sollten zeigen, dass es in der Praxis immer wieder vergleichbare Erfahrungen von fungierender Offenheit gibt. Freilich darf dabei nicht übersehen werden, dass diese Beispiele nicht ganz genau das Gleiche sind wie das, was die Phänomenologie mit der fungierenden Leiblichkeit meint, denn sie setzen einen gezielten Akt der Aufmerksamkeit voraus – eine Einstellung, die eingenommen werden muss, während man sich bei der fungierenden Intentionalität gar nicht auf sie einstellen kann. Sie ist immer schon in Betrieb, und sie liegt der freischwebenden Aufmerksamkeit ebenso sehr noch zugrunde wie der Meditation oder den Formen der Urteilsenthaltung. Im Kern ging es mir darum zu zeigen, dass eine Kritik an der Intentionalität nur bei einer gewissen Form der Intentionalität, nämlich der Aktintentionalität, gerechtfertigt ist, nicht aber bei der fungierenden Intentionalität. Die fungierende Intentionalität ist eine Funktion der Leiblichkeit, weshalb von einer fungierenden Leiblichkeit gesprochen werden kann. Diese fungierende Leiblichkeit ist durch eine Offenheit zur Welt und eine Empfindsamkeit gekennzeichnet, die gewissermaßen zwischen Passivität und Aktivität angesiedelt ist. Die fungierende Leiblichkeit ist nicht aktiv, weil sie nicht mit einer Handlung vergleichbar ist, die vollführt oder unterlassen werden kann; und sie ist auch nicht passiv, weil sie nicht bloß erleidet und aufnimmt, sondern im Gegenteil gewissermaßen in Erwartung des Kommenden ist. Die sogenannten Ereignisse, die man gegebenenfalls gegen die Intentionalität ins Feld führt, zeigen also nicht nur die Grenzen der Aktintentionalität auf, sondern besonders gut auch die Funktion der fungierenden Intentionalität. Man kann noch so sehr von einem Ereignis aus der Bahn geworfen werden, sogar in eine Schockstarre verfallen, sogar den Tod erleiden, aber dass dies alles stattfinden kann, dafür muss der Mensch „empfänglich“ sein und in die Richtung zeigen können, in die es gehen kann.17
17Dieser
Text entstand im Rahmen des vom Österreichischen Fonds zur Förderung wissenschaftlicher Forschung/Austrian Science Fund (FWF) geförderten Forschungsprojekts „Topographien des Körpers“ (P25977-G22).
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Das Unbewusste als Zwischen leiblichkeit, als Topologie des Imaginären und als Intertextualität
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Rolf-Peter Warsitz
Zusammenfassung
In der philosophischen Phänomenologie hat zunächst Maurice MerleauPonty das Unbewusste als dynamischen Raum der Zwischenleiblichkeit (intercorporéité) konzipiert, der frühe Jacques Lacan hat es als strukturale Dialektik der Topologie des Imaginären und des Symbolischen gefasst, und Julia Kristeva hat es als raumzeitliche Dialektik der maternalen Semiose und der paternalen Signifkantensprache, als Intertextualität, interpretiert. Alle diese Konzeptualisierungen nähern sich der grundlegenden freudschen Entdeckung in unterschiedlicher Perspektive mit der Annahme einer dynamischen Räumlichkeit des Unbewussten. Daraus resultiert jeweils ein differenter Bezug zum psychoanalytischen Prozess.
1 Vorbemerkung Die Frage nach den Topographien des Körpers soll im Folgenden zur Frage nach den symbolischen Einschreibungen des imaginären Körpers im dynamischen Raum der Psychoanalyse enggeführt werden. Also nicht allein auf den biologischen Körper im euklidischen Raum wollen wir unsere Aufmerksamkeit richten, sondern besonders auf den erlebten Körper, den „Leib“ der Phänomenologen, den kulturellen Körper und den Sprachkörper, um die Dimension der Zeitlichkeit und des Sprechens darin reflektieren zu können. Meine Überlegungen zu dem Dreiklang aus Merleau-Pontys Begriff der Zwischenleiblichkeit, Lacans Topologie des Imaginären und Kristevas Kate-
R.-P. Warsitz (*) Kassel, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 U. Kadi und G. Unterthurner (Hrsg.), Macht – Knoten – Fleisch, Abhandlungen zur Philosophie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04957-5_15
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R.-P. Warsitz
gorie der Intertextualität werde ich aus einer klinisch-psychoanalytischen und einer epistemologischen Perspektive anstellen. Ich beschäftige mich seit einiger Zeit (Warsitz 2006; Warsitz 2017; Warsitz und Küchenhoff 2015; Warsitz und Küchenhoff 2017) mit der Epistemologie und der Erkenntnisanthropologie der Psychoanalyse, also mit der Frage, wie aus dem spezifischen Erfahrungsmodus des Sprechens und Zuhörens, der freien Assoziation und der gleichschwebenden Aufmerksamkeit eine ganz spezifische Form des Wissens generiert wird. Diese psychoanalytische Wissensform unterscheidet sich von anderen geistes-, sozialund naturwissenschaftlichen Erfahrungsformen dadurch, dass sie das dynamische Unbewusste zur Geltung zu bringen beansprucht. Bezüglich der im Folgenden untersuchten Modelle werde ich dann die Frage stellen, inwieweit sie eine Konzeptualisierung einer intersubjektiven, das dynamische Unbewusste zur Geltung bringenden Praxis der Psychoanalyse gewährleisten. Das dynamische Unbewusste, das aus den psychischen Räumen beider Interaktionspartner im psychoanalytischen Prozess entsteht, eröffnet – so meine Überlegung – einen stets fragil bleibenden intersubjektiven Raum. Es lässt sich demnach nicht einfach aus den vielfältigen Konzeptualisierungen von psychischer Räumlichkeit oder Körperlichkeit in der phänomenologischen Philosophie allein, auch nicht ausschließlich aus den Konzeptualisierungen des Blicks oder des Imaginären heraus verstehen, wie es einige phänomenologische Ansätze versuchen (der frühe Maurice Merleau-Ponty, Jean-Paul Sartre). Die cartesischhusserlsche Erbschaft dieser Phänomenologien führt uns nämlich eher weg von der „freudschen Entdeckung“ im engeren Sinne, weg vom dynamischen Unbewussten. Ich schlage vielmehr vor, in der Tradition einer negativen Anthropologie aus der Kritik all der positiven Bestimmungen der Conditio humana, also hier insbesondere aus der Kritik an der vom Sehen und der okularen Räumlichkeit bestimmten Konzeptualisierung psychischer Räumlichkeit, heraus ex negativo Hinweise für die gesuchte Struktur des Unbewussten zu finden. Aus dieser Kritik taucht ein vom Hören und Sprechen und von den Verwicklungen der Sprache geprägtes Verständnis des Unbewussten auf, für das ich Indizien in MerleauPontys späterer Konzeption der Zwischenleiblichkeit, in Lacans Dialektik des Symbolischen und des Imaginären in der Konstitution des Realen sowie in Julia Kristevas intertextuellem bzw. transpositionellem Begriff des Unbewussten gefunden habe. Jene negativ-anthropologische Konzeption des Unbewussten verstehe ich als eine besondere Form der „negativen Hermeneutik“, wie sie in letzter Zeit vor allem von Emil Angehrn, Joachim Küchenhoff und mir und von Timo Storck elaboriert worden ist (Angehrn 2010, 2014; Angehrn und Küchenhoff 2011, 2014; Küchenhoff 2013; Storck 2012; Warsitz 1990, 2014; Warsitz und Küchenhoff 2015). Kurz zusammengefasst: Wir können nicht sehen – und also auch nicht mit Methoden der Beobachtungswissenschaften erforschen –, was das Unbewusste unserer Analysanden uns sagt oder was beim Zuhören aus unserem eigenen Unbewussten in uns präsent wird. Wir können es nur hören im zwischenleiblichen oder intertextuellen Klang der psychoanalytischen Stunde, im Hören auf das Begehren in der Sprache, das sich im leiblichen Klangraum der Sprechens kundtut – und daraus versuchen wir dann spezifisch oder offen, gesättigt oder
15 Das Unbewusste als Zwischenleiblichkeit
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ungesättigt zu antworten.1 Im Sprachraum der analytischen Situation ereignet sich Unbewusstes, unverfügbar, nicht zu vermessen und nicht zu kontrollieren.
2 Begriffliche Verwirrungen und Entwirrungen Merleau-Pontys „Zwischenleiblichkeit“ Ich habe in früheren Arbeiten (Warsitz 1990, 1991, 1996, 2006) – vielleicht etwas voreilig – Merleau-Pontys frühe Phänomenologie der Wahrnehmung und deren husserlsches Erbe als begriffliche Wurzeln seiner späteren Kategorie der „Zwischenleiblichkeit“ betrachtet und mit Winnicotts Begriff des Übergangsraums, Lacans Topographie des Imaginären und Bions ContainerContained-Metapher (Bion 1963) in Verbindung gebracht. Nun liegen den Raumkonstruktionen in der phänomenologischen Philosophie und in der Psychoanalyse doch recht heterogene Konzeptualisierungen von Räumlichkeit und Zeitlichkeit zugrunde. Die phänomenologische Tradition von Husserl, Sartre und MerleauPonty folgt offenbar mehr dem platonisch-cartesischen Dispositiv des Auges und der Logik des Sehens, die psychoanalytische mehr dem des Hörens und der Sprache. Als „Phänomene“ gelten in dem einen Dispositiv die in Erscheinung tretenden, sichtbar werdenden Dinge (das entspricht der wörtlichen Bedeutung von „Phänomen“), im anderen die zu Gehör kommenden Worte. Merleau-Ponty und Sartre haben in ihren früheren Texten (Sartre 1991; Merleau-Ponty 1965) das Unbewusste eigentlich in einer okularen, umfangslogischen Weise verräumlicht bzw. die freudsche Begriffsverwendung abgelehnt (Warsitz 1990, S. 290 ff., 2017). Schon Merleau-Pontys Begriff der Leiblichkeit der Wahrnehmung bemisst sich an dem methodisch-solipsistischen Modell Husserls, das von dessen intentionaler Theorie des Bewusstseins geprägt ist (vgl. Apel 1973, Band 2, S. 315 ff., 1985): „Der Leib nun hat“, so Husserl, „für sein Ich die einzigartige Auszeichnung, daß er den Nullpunkt […] all [der] Orientierungen in sich trägt“ (Husserl 1952, S. 158).2 Diesen Nullpunkt der Orientierung zwischen dem Leib und seinem Ich können wir nicht anders denn als Gesichtspunkt, als Ausgangspunkt eines Blicks verstehen. Dem entsprechend sind auch die vielfältigen und heterogenen Analysen der Wahrnehmungsmodi letztlich geprägt, sei es, wenn Merleau-Ponty die optische mit der haptischen Wahrnehmung (beim Berühren der beiden eigenen Hände) (1965, S. 118 ff.) vergleicht oder nach dem „Sichtbaren und dem Unsichtbaren“ (Merleau-Ponty 1986) im gemalten Sichtbaren der Bilder Cézannes oder nach dem „indirekten Sprechen und den Stimmen des Schweigens“ (in
1Vgl.
die Phänomenologie der Responsivität bei Bernhard Waldenfels (Waldenfels 1994; Waldenfels und Därmann 1988). 2Dieses Postulat hat Husserl nie aufgegeben – und auch Merleau-Ponty folgt ihm konsequent (vgl. Holenstein 1985, S. 14 ff.).
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Merleau-Ponty 2007, S. 53–116) fragt. Dabei werden stets das Unsichtbare oder die Stimmen des Schweigens gestaltpsychologisch als abgeblendete, hinter dem vordergründigen Phänomen verborgene Gestalt supponiert. Mit diesem gestaltpsychologischen Dispositiv ist – so meine ich – ein Modell der Intersubjektivität, wie es die Theorie des dynamischen Unbewussten der Psychoanalyse erfordert, nur schwer denkbar. Merleau-Ponty wollte nämlich den psychoanalytischen Begriff des Unbewussten, den er als „proteusartig“ und „nicht ausgereift“ erachtete, durch den Begriff der zweideutigen, ambigen Wahrnehmung ersetzen (vgl. Warsitz 1990, S. 290 ff., 2017). Dieser Begriff ist der Gestaltpsychologie entlehnt und sucht die hinter der Oberfläche verborgene Gestalt, die wiederum statisch-räumlich gedacht ist (vgl. Merleau-Ponty 1986, S. 262–264 und 302 ff. über den Begriff der Gestalt). […] die Psychoanalytiker, angefangen mit Freud, begnügen sich mit einem Gerüst wenig zufriedenstellender Begriffe. Um über jene Verflechtung zwischen dem anonymen Leben des Leibes und dem offiziellen Leben der Person, die die große Entdeckung von Freud ist, Aufschluß zu geben, mußte irgend etwas zwischen den Organismus und uns selbst als einer Abfolge bewußter Akte und ausdrücklicher Kenntnisse eingeführt werden. Das war das Unbewußte Freuds. Man braucht nur die Wandlungen dieses proteusartigen Begriffs im Werke Freuds, die Verschiedenartigkeit seiner Verwendungen, die Widersprüche, die er nach sich zieht, zu verfolgen, um sich zu vergewissern, daß es sich hier nicht um einen ausgereiften Begriff handelt und daß, wie Freud es in den Essais de psychanalyse zu verstehen gibt, noch korrekt zu formulieren bleibt, was er mit dieser vorläufigen Bezeichnung fassen wollte. Das Unbewußte läßt auf den ersten Blick an den Ort einer Dynamik von Triebkräften denken, von der wir nur das Ergebnis kennen. Und doch kann das Unbewußte kein Prozeß ‚in der dritten Person‘ sein, da es selbst ja auswählt, was von uns zur offiziellen Existenz zugelassen wird, da es die Gedanken oder Situationen umgeht, denen wir uns widersetzen, und also kein Nicht-Wissen ist, sondern vielmehr ein nicht anerkanntes, unformuliertes Wissen, das wir nicht ertragen wollen. In einer noch ungenauen Sprache ist Freud hier im Begriff zu entdecken, was andere treffender als zweideutige Wahrnehmung bezeichnet haben. (Merleau-Ponty 2007, S. 340 f.)
Bereits beim frühen Merleau-Ponty vollzieht sich nun aber alsbald eine Dynamisierung, eine zeitliche Öffnung der rein räumlichen Auffassung des Nichtseins und des Unbewussten, die Cornelius Castoriadis als „Werk des Öffnens“ kommentiert, als „immer neu begonnene […] Leistung des wilden Geistes, des Geistes der Praxis: Das Subjekt ist das Öffnende“ (Castoriadis 1981, S. 126). In den posthum veröffentlichten Arbeitsnotizen über „Das Sichtbare und das Unsichtbare“ (Merleau-Ponty 1986) wird dann das Unbewusste als ein Changieren zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren bestimmt, noch nicht als Intersubjektivität, sondern als leiblicher Bezug zu den Dingen der Welt, aber immer noch aus der narzisstischen Perspektive des imaginären Ich mit dem Auge als Nullpunkt der Orientierung. Merleau-Ponty wählt dafür ein markantes Wort: „chair du monde“/„Fleisch der Welt“. Man sieht an dieser Formulierung, dass es zunächst nach wie vor die Welt der sichtbaren Dinge ist, mit denen sich der Phänomenologe befasst. Unter ihnen taucht dann auch der Mitmensch auf, der Andere, sodass sich eine Intersubjektivität als Zwischenleiblichkeit abzeichnen
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kann, aber Merleau-Ponty spricht noch nicht vom Begehren des Subjekts und des Anderen bzw. vom Begehren in der Sprache. Der Leib vereinigt uns durch seine Ontogenese direkt mit den Dingen, indem er beide Skizzen, aus denen er besteht, seine beiden Lippen verschweißt: die sinnliche Masse, die er selber ist, mit der Masse des Empfindbaren, aus der er durch Ausgliederung hervorgeht und für die er als Sehender offen bleibt. Er ist es, und er allein, weil er ein Sein mit zwei Dimensionen ist, der uns zu den Dingen selbst zu führen vermag, die ihrerseits keine Flächenwesen sind, sondern Tiefenwesen, die in einem überfliegenden Subjekt unzugänglich bleiben und sich, wenn überhaupt, nur dem öffnen, der in derselben Welt mit ihnen kommuniziert. Wenn wir vom Fleisch des Sichtbaren sprechen, […] meinen [wir] damit: das fleischliche Sein als Sein der Tiefen, mit mehreren Blattseiten oder mehreren Gesichtern, als Sein im Verborgenen und als Anwesen einer gewissen Abwesenheit, ist ein Prototyp des Seins, von dem unser empfindend-empfindbarer Leib eine bemerkenswerte Spielart darstellt, dessen konstitutives Paradox jedoch schon in allem Sichtbaren zu finden ist. (Merleau-Ponty 1986, S. 179)
Der Leib, das Fleisch der Welt und das Unbewusste sind zwar als Paradox des im Sichtbaren aufscheinenden Unsichtbaren gefasst, aber weiterhin als eine räumliche Projektion verschiedener Schichten aufeinander im okular-imaginären Sinne gedacht. Wenig später erläutert Merleau-Ponty noch: Wenn wir zeigen können, daß das Fleisch ein Grundbegriff ist, daß er nicht Vereinigung oder Bestandteil zweier Substanzen, sondern eigenständig denkbar ist, […] so kann dieser Kreislauf, […] dieses Einrollen des Sichtbaren ins Sichtbare, andere Körper genauso beseelen wie meinen eigenen […]. Wenn es sich hat einfangen lassen von einem seiner Fragmente, so ist das Eingefangensein prinzipiell erreicht und das Feld steht offen für andere Narzisse, für eine ‚Zwischenleiblichkeit‘. (Merleau-Ponty 1986, S. 184 f.)
Und: „Die Reversibilität des Sichtbaren und des Berührbaren öffnet uns zwar noch nicht dem Unkörperlichen, aber doch einem zwischenleiblichen Sein, einem präsumptiven Bereich des Sichtbaren und des Berührbaren, der sich weiter ausdehnt als die Dinge, die ich gegenwärtig berühre und sehe“ (Merleau-Ponty 1986, S. 187). Die okulare Verhaftung beim frühen Merleau-Ponty wird also später – in seinen Analysen zur intercorporeité, zur Zwischenleiblichkeit – teilweise zurückgenommen, ganz verschwunden ist sie aber nicht. Wenn wir die psychische Struktur des Leibes als eine fragile, dynamische Struktur begreifen, in der Zeit, Geschichte und die Spuren des Anderen (als Intersubjektivität) walten, dann müssen wir auch noch – so würde ich schlussfolgern – über das Konzept der Zwischenleiblichkeit, wie es der späte Merleau-Ponty erarbeitet, hinausgehen. Hier taucht der Gedanke der Fragilität der imaginären Leiblichkeit auf, die schon an Lacans Verkennungsfunktion des Imaginären rührt (siehe unten) und die gerade dadurch Intersubjektivität stiftet, dass sie stets vom Kollaps des Bildraums bedroht ist.
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Abb. 1 Alberto Giacometti (1934/1935): Der unsichtbare Gegenstand. Hände das Nichts haltend (L’objet invisible. Mains tenant le vide). (Nach Bonnefoy 1992, S. 227)
Ich möchte den Gedanken hier an einer Skulptur von Alberto Giacometti illustrieren, die den Titel „Der unsichtbare Gegenstand. Hände das Nichts/die Leere haltend“ („L’objet invisible. Mains tenant le vide“) trägt (siehe Abb. 1).
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Abb. 2 Alberto Giacometti (1932): Der Palast um vier Uhr früh. (Nach Bonnefoy 1992, S. 31)
Die ganze Figur wirkt zerbrechlich, die Darstellung der Leere verstärkt diese Fragilität, und die zahlreichen Todessymbole (in den Augen, das vogelartige Gebilde über der rechten Stuhllehne) bestärken die Gefährdung des psychischen Raums. Eine weitere Skulptur unterstreicht diesen Eindruck einer fragilen Konstruktion der Leiblichkeit bei Giacometti. Den „Palais à quatre heurs du matin“ aus Streichhölzern und eingefügten Objekten baute Giacometti zusammen mit einer Geliebten in vielen Nächten des Begehrens immer wieder auf, wobei er immer wieder schnell zerfiel (siehe Abb. 2). Die Fragilität des psychischen Raums, seine Kollapsneigung und der unermüdliche Wunsch seiner Rekonstruktion scheinen mir hier eindrucksvoll inszeniert.
Abb. 3 Andrea Garbald: Die Familie Giacometti 1909. (Nach Bonnefoy 1992, S. 37)
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In dieser frühen Photographie der Familie von Alberto Giacometti (siehe Abb. 3) scheint sich der Raum zwischen dem Fotografen und der versammelten Familie in gewisser Weise zu brechen mit der Blickachse Mutter–Sohn, in der dann die anderen Familienmitglieder, auch der Künstler-Vater und die Geschwister, nur wie Statisten wirken. Auch hier scheint im Unsichtbaren des Bildes etwas Unbewusstes auf, das von anderer Qualität ist, als es der frühe Merleau-Ponty mit seinem Begriff der ambigen Wahrnehmung intendiert hatte. Merleau-Ponty fasst also trotz der Entwicklung in seinem Denken bis zum Schluss das Unbewusste und die psychoanalytische Methode okular auf, als ein Erfassen von „Strahlen“ in einem euklidischen Raum (Merleau-Ponty 1986, S. 303). Dies lässt sich zum Beispiel an seiner Reflexion auf ein Detail von Freuds Wolfsmann-Analyse (Freud 1999b) illustrieren, auf das dann auch Lacan in seiner Würdigung von und Kritik an Merleau-Ponty Bezug nehmen wird. Die ‚Assoziationen‘ der Psychoanalyse sind in Wirklichkeit ‚Strahlen‘ der Zeit und der Welt. Z. B. die Deckerinnerung eines Schmetterlings mit gelben Streifen (Freud, der Wolfsmann, p. 124) […] deckt in der Analyse einen Zusammenhang zu / Birnen mit gelben Streifen auf, was im Russischen an Gruscha und damit an den Namen einer jungen Amme erinnert. Es gibt hier nicht drei Erinnerungen: der Schmetterling – die Birne – die Amme (mit demselben Namen), die ‚assoziativ verbunden‘ sind. Sondern es gibt hier ein gewisses Spiel des Schmetterlings innerhalb des farbigen Feldes, ein gewisses Wesen* (verbal) des Schmetterlinges und der Birne, – das mit dem sprachlichen Wesen* Gruscha kommuniziert (durch die inkarnierende Kraft der Sprache) – Es gibt 3 Wesen*, die in ihrem Zentrum miteinander verbunden sind und demselben Seinsstrahl angehören. (Merleau-Ponty 1986, S. 303 f.)
Diese Überlegungen aus den nachgelassenen Arbeitsskizzen über „Das Sichtbare und das Unsichtbare“ deuten nun bei Merleau-Ponty eine sprachanalytischstrukturale Transformation der ursprünglich platonisch-cartesisch-husserlschen Ontologie des Seins als göttlicher Blick, als Idee an: Mitten in den okularen „Strahlen der Zeit und der Welt“ tauchen nämlich der Traum auf und die Funktionsweisen der Sprache und des Unbewussten, sprich Metaphern, Symbole, Homonymien und Metonymien, wie sie Freud als Traumbildungs- und Traumarbeitsmechanismen beschreibt. Darauf greift nun Lacan in seiner Topologie des Imaginären zurück und nutzt es für seine Signifikantentheorie des Unbewussten. Allerdings hält er auch an der Kritik an der Dominanz des Auges in der Phänomenologie Merleau-Pontys fest: Dieses Sichtbare und Unsichtbare stellt für uns deutlich den Punkt heraus, an dem die philosophische Tradition angelangt ist – eine Tradition, die mit dem Aufstieg der Idee bei Platon beginnt, welche sozusagen ausgehend von einer ästhetischen Welt in einem dem Dasein als höchstes Gut vorgesetzten Zweck sich bestimmt und damit eine Schönheit erreicht, die auch ihre Grenze ist. Nicht umsonst erkennt Maurice Merleau-Ponty, daß die Idee von der Vorstellung des Auges geleitet ist. […] Das hier [bei Merleau-Ponty im Gegensatz zum freudschen Feld, Anm. R.P.W.] zum Zentrum einer Revision des Status des Geistes gemachte Auge läßt jedoch alle möglichen Resonanzen der Tradition zu, in die das Denken verwickelt bleibt. So daß Merleau-Ponty, wie ein jeder auf diesem Weg,
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nicht anders kann, als sie ein weiteres Mal auf das abstrakte Auge zu beziehen, das der cartesische Begriff des Ausgedehnten voraussetzt, mit seinem Korrelat eines Subjekts, göttliches Modul einer universellen Wahrnehmung. Die eigentlich phänomenologische Kritik der Ästhetik, die aus der Auszehrung des dem Auge entgegengebrachten Glaubens resultiert, wird nicht vorgenommen, um uns zurückzuführen zu Erkenntnistugenden der Kontemplation, empfohlen zur Askese des nous durch die antike Theorie. (Lacan 1997, S. 239 f.; vgl. 1978b, S. 77 ff.)
Lacans Topologie des Imaginären Lacan leitet aus seiner aneignenden Kritik Merleau-Pontys (und Sartres) seine eigene Unterscheidung des Auges vom Blick ab, in deren Differenz er das Aufscheinen des Unbewussten zeigen will. Darin scheint dann auch, gleichsam quer zum Imaginären als dem einen Dispositiv des Psychischen, das Symbolische als dessen anderes Dispositiv auf. Die Deckerinnerung des Schmetterlings in Freuds Wolfsmann-Analyse, die Merleau-Ponty oben zitiert hat, bringt Lacan (Lacan 1978b, S. 77 ff., 85 ff., 96) nun – sehr assoziativ, sozusagen frei assoziativ – mit dem Schmetterlingstraum von Tschuang-Tse, der träumt, er sei ein Schmetterling, in Verbindung: In einem Traum ist das Subjekt ein Schmetterling. Was besagt das? Es besagt, daß das Subjekt den Schmetterling in seiner Realität als Blick sieht. Was wären all die Figuren, Zeichnungen, Farben – wenn nicht ein geschenktes Zu-sehen-Geben, in dem sich für uns die essentielle Primitivität des Blicks abzeichnet. Ein Schmetterling, meingott, nicht mal so verschieden von dem, der den Wolfsmann terrorisiert – Maurice Merleau-Ponty weiß sehr genau, wie wichtig das ist […]. Tschuang-Tse kann, nachdem er aufgewacht ist, sich fragen, ob nicht der Schmetterling träume, Tschuang-Tse zu sein. Er hat recht, und zwar in doppelter Hinsicht, denn erstens beweist das, daß er nicht verrückt ist, er hält sich nicht für absolut mit Tschuang-Tse identisch – und zweitens, weil er sich nicht bewußt ist, daß er mit seiner Aussage so genau ins Schwarze trifft. […] Der Beweis ist, daß, solange er Schmetterling ist, ihm nicht in den Sinn kommt, sich zu fragen, ob er, als aufgewachter Tschuang-Tse, nicht der Schmetterling sei, der zu sein er eben träumt. Er wird nämlich, träumend, Schmetterling zu sein, mit Sicherheit später bezeugen müssen, daß er sich als Schmetterling vorstellte, das heißt aber nicht, daß er vom Schmetterling gefangen ist – er ist erbeuteter Schmetterling, aber Beute von nichts, denn im Traum ist er niemandes Schmetterling. Aufgewacht, ist er Tschuang-Tse für die anderen und ist in deren Schmetterlingsnetz gefangen. Deshalb kann der Schmetterling – wenn das Subjekt nicht Tschuang-Tse, sondern der Wolfsmann ist – diesem jenen phobischen Schrecken einjagen, als er erkennt, daß das Schlagen der kleinen Flügel nicht so weit vom Schlagen jener Kausierung, jenes Urstreichs entfernt ist, der sein zum ersten durch das Gitter des Begehren eingeholtes Sein markiert. (Lacan 1978b, S. 82 f.)
Über Lacans Merleau-Ponty-Kritik und seine Anklänge an den Strukturalismus und an die Linguistik von Ferdinand de Saussure hinaus würde ich doch sagen, dass Lacan in seiner Dialektik von Imaginärem und Symbolischem in der Konstitution des Realen, der psychischen Realität einen Begriff des dynamischen Unbewussten intendiert, den er allerdings nur ansatzweise elaboriert hat.
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Abb. 4 S. Freud: Ψ-Systeme (In Freud 1999a, S. 546)
Dies führt uns zu Lacans Theorie des Imaginären und des Symbolischen,3 wobei im Begriff des Imaginären nicht nur die Verkennungsfunktion des Imaginären, sondern bereits das Netz der Signifikanten waltet, in Gestalt der Einschreibungen des Begehrens und der Sprache.4 Wie versucht nun Lacan, das dynamische Unbewusste zu konzeptualisieren? Bei oberflächlicher Betrachtung könnten wir annehmen, er fasse es ebenso wie oben bei Merleau-Ponty kritisiert, nämlich räumlich-statisch bzw. okular auf, als Bild, als Spiegelbild, als optische Projektion. Er greift nämlich auf Freuds frühes Konzept des psychischen Apparats (im Entwurf einer Psychologie und in der Traumdeutung) zurück (siehe Abb. 4). Lacan nimmt nun in seiner Topologie des Imaginären (in Lacan 1978a, S. 97–206; Schemata: Lacan 1978a, S. 103 bzw. 179) Freuds topisches Modell auf und transformiert es zu einer Theorie des Imaginären als virtuelles Bild (siehe Abb. 5). Das imaginäre Ich ist ein virtuelles Bild – so wie die durch den optischen Apparat um den Blumenstrauß herum projizierte Vase, die vor dem Spiegel in einem Kasten für das Auge des Betrachters verborgen ist. Die Wahrnehmung des Blumenstraußes in der Vase ist eine undeutliche, ambige Wahrnehmung – wie Merleau-Ponty sagen würde: Sie zeigt, dass in der imaginären Erkenntnis die Illusion, die Verkennung waltet – so wie sie das Subjekt erlebt in Bezug zu seinem eigenen Spiegelbild. Die Selbsterkenntnis im Spiegel stellt immer eine imaginäre Verkennung (reconnaître – méconnaître) dar. Darüber hinaus implizieren aber die Metamorphosen des Unbewussten sowohl eine Topik des Imaginären als auch eine Räumlichkeit der Sprache: Freud nennt die Erinnerungsspuren in seinem Schema des Imaginären schließlich „Umschriften“, also symbolische Formationen.
3Vgl.
Sami-Alis (1974) psychosomatische Theorie des l’espace imaginaire. warnt Lacan immer wieder von einer gewissen hermeneutischen „Wut des Verstehens“ (Hörisch 1988): „Das was zählt, wenn man eine Erfahrung herauszuarbeiten sucht, ist nicht so sehr das, was man versteht, als vielmehr das, was man nicht versteht […]. Deuten und sich einbilden, daß man versteht, ist ganz und gar nicht dasselbe. Das ist genau das Gegenteil. Ich würde sogar sagen, daß wir die Tür des analytischen Verstehens erst auf der Basis einer bestimmten Verständnisverweigerung aufstoßen“ (Lacan 1978a, S. 97 f.). 4Methodisch
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Abb. 5 a Experiment mit dem umgekehrten Blumenstrauß, b Vereinfachtes Schema der zwei Spiegel
Lacan illustriert seine Theorie des imaginären Raums nun anhand der Analyse eines Textes von Melanie Klein („Die Bedeutung der Symbolbildung für die Ichentwicklung“) – der Fall des autistische vierjährigen kleinen Dick (Klein 1962, S. 31–44) – und später anhand einer Fallanalyse von Rosine Lefort (Fall Robert). Er unterstreicht, dass Melanie Klein dem kleinen Dick in seiner ihm supponierten imaginären Horrorwelt über das Innere des Körpers der Mutter quasi gewaltsam die Sprache überstülpt, ja aufpfropft: Sie schmeißt ihm die Symbolik mit der letzten Brutalität an den Kopf, Melanie Klein, dem kleinen Dick! Sie fängt sofort an, ihm die klotzigsten Deutungen zuzuschieben. Sie schiebt sie ihm in einer brutalen Verbalisierung des Ödipuskomplexes zu, beinahe genauso empörend für uns wie für irgendeinen anderen Leser – Du bist der kleine Zug. Du willst Deine Mutter ficken. (Lacan 1978a, S. 90)
„Dick fährt in die Mami“ (so heißt es etwas milder bei Melanie Klein: Klein 1962, S. 36). Diese Gewaltsamkeit wiederum hilft dem kleinen Dick, mit Hilfe der Symbolfunktion und seiner frühen ödipalen Fixierung seine imaginäre Bilder-
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welt zu transformieren, sie anzuerkennen, indem sie ausgesprochen, benannt und spielerisch angeeignet ist.5 Wir können daraus schließen, dass das Ich im Spiegelstadium, das imaginäre Ich, von Anfang an auch eine symbolische Funktion enthält, sonst wäre das Imaginäre des kleinen Dick über die symbolische Deutungsarbeit Melanie Kleins gar nicht erreichbar. Ja das Imaginäre, das Bildhafte ist selbst eine Sprachfunktion: In der Psychoanalyse sprechen wir ja über unsere imaginären Chimären.6
Von der Topologie des Imaginären über die Intertextualität zur Transposition/Übertragung in der Psychoanalyse (J. Kristeva) Gisela Pankow beschreibt in ihrer Analyse des dynamischen Raums und der gelebten Zeit, insbesondere bei psychotischen und bei posttraumatischen Erfahrungen, nicht nur die Leiblichkeit der Raum- und Zeiterfahrungen bzw. die zwischenleibliche Interaktion im Übergangsraum der analytischen Situation, sondern auch die Gefährdung, die Fragilität dieser zwischenleiblichen Intersubjektivität. Hier entfaltet sich und kollabiert der psychische Raum oft in schnellem Wechsel in jeder analytischen Stunde. Gerade dieser Wechsel stellt nun die Conditio sine qua non eines analytischen Prozesses des Durcharbeitens dar. „Der auseinandergefaltete Raum gebiert die Zeit“ (Pankow 1984, S. 148). Hier entfaltet sich die Resonanzerfahrung zwischen Analytiker und Analysand als eine Räumlichkeit in der Zeit und eine Zeitlichkeit des Raums bzw. als Dialektik des Sprechens in der Psychoanalyse. In jeder Stunde ereignen sich Momente der Begegnung (Resonanzerfahrungen) über deren Verfehlen. Das Begehren weist demnach eine raumzeitliche und eine sprachliche Struktur auf. Die Begegnung im psychoanalytischen Feld (Ferro 2005, 1999) lässt sich nur als zeitlicher Moment, als Ereignis denken, das stets – nicht nur bei psychotischen Raum- und Zeiterfahrungen – von der Gefahr des Grenzverlusts bzw. von der Kollapsneigung der zwischenleiblichen Räumlichkeit geprägt ist (vgl. Warsitz 2004). Darin fassen wir die Deutung als Moment der Begegnung, als Kairos bzw. als Now Moment (Stern 2005, 2011) auf, den wir allerdings nicht – wie Stern – als eine von Sprache und Begehren gereinigte rein kognitivistische Konzeption dieser raumzeitlichen Dialektik im psychoanalytischen Prozess interpretieren. Lacan hat diesen Kairos als ein Ereignis des Gelingens (griech. tynchanein) konzeptualisiert,
5Vorgreifend
sei hier erwähnt, dass dann auch Julia Kristeva ihre semiotische Theorie der Chora anhand von Melanie Kleins Analysen zur Symbolbildung (bzw. deren Vertiefung durch Susan Isaacs) weiter ausarbeiten wird (Kristeva 2008, S. 135 ff., 155 ff.). 6Vgl. die ikonische Zeichenfunktion in der Semiotik von Charles Sanders Peirce; vgl. dann auch Kristevas semiotische Triebauflage (unten). Auch bei Bions Container-Contained-Beziehung (Bion 2006, S. 85–96) handelt es sich nicht um einen rein imaginären, sondern immer schon um einen dynamischen und einen symbolisch-imaginären Raum, in dem sich das Begehren einschreibt: als Begehren in der Sprache, wie Kristeva sagt, nicht als körperlich-instinkthaft verstandener rein biologischer, außersprachliche Affekt.
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das aus Momenten des Verfehlens von Begegnung, aus Momenten der Dystychia, entspringt (Lacan 1978b, S. 59 ff.; vgl. Warsitz 1990, S. 214 ff., 2006). Der dynamische Raum wird bei Kristeva (1996a) nun als Begehren in der Sprache konzeptualisiert und in ihren frühen linguistischen Arbeiten an Michail Bachtins Begriff der Intertextualität in Bezug auf die Theorie des Romans bzw. die poetische Sprache entfaltet (vgl. Kristeva 1970). Später (Kristeva 1978) spricht sie von Transposition, von der Übertragung von semiotischen Zeichen präverbaler Art in verbale Sprachfiguren. Den frühen Ansatz der Intertextualität kann ich hier nur kurz skizzieren. Kristeva schreibt über „das Wort im intertextuellen Raum“: „[…] jeder Text baut sich als Mosaik von Zitaten auf, jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes. An die Stelle des Begriffs der Intersubjektivität tritt der Begriff der Intertextualität, und die poetische Sprache läßt sich zumindest als doppelte lesen“ (Kristeva 1996a, S. 336 f.; vgl. Berndt und Tonger-Erck 2013, S. 36 ff.). Kristeva greift dabei (wie übrigens auch Derrida) auf Platons metaphysischen Begriff der Chora/des Raums zurück, in dem alles Entstehende überhaupt möglich wird als Drittes zwischen Sein und Werden. Diese Matrix der Chora sieht sie – wie schon Platon selbst – metaphorisch im mütterlichen Raum, als „Amme des Werdens, dargestellt. Den Terminus Chora entlehnen wir Platons Timaios […], er soll eine noch ganz provisorische, im wesentlichen mobile Artikulation kennzeichnen, die aus Bewegungen und deren flüchtigen Stasen besteht. […] Zwar folgt die theoretische Beschreibung der Chora […] dem Diskurs der Repräsentation, um sie überhaupt intelligibel zu machen; doch an sich geht die Chora als Einschnitt und als Artikulation – als Rhythmus – der Evidenz und Wahrscheinlichkeit, der Räumlichkeit und Zeitlichkeit voraus. (Kristeva 1978, S. 36)
Mit ihrer Konzeption der semiotischen Chora als „Triebauflage“ (Kristeva 1978, S. 35 ff.) transformiert Kristeva nun den linguistischen Begriff der Intertextualität in einen sprachanalytisch-psychoanalytischen Begriff der Interferenz verschiedener Ebenen des Sprechens, des präverbalen semiotischen Diskurses und des verbalen Diskurses. Der Begriff der Intertextualität wird jetzt ersetzt durch den der Transposition.7 Transponiert werden dabei die affektiven, triebhaften Inhalte der maternalen Chora in die Signifikantenkette des verbalen Sprechens. Dies lässt sich stets gut an dem Urvorbild solcher Prozesse, dem kommunikativen Austausch des sprachunbegabten Infans mit seiner lallenden Vorsprache und körperbezogenen Handlungssprache mit der sowohl semiotisch wie verbal agierenden Mutter, zeigen. Dies ähnelt übrigens durchaus Daniel Sterns Überlegungen zum
7Kristeva 1978, S. 65. Die genauere Elaborierung dieses begrifflichen Übergangs findet sich allerdings in dem nicht ins Deutsche übersetzten Teil der Revolution der poetischen Sprache (Kristeva 1974, Teil B, „Le dispositif sémiotique du text“, hier 230 ff.); Kristeva stellt dort die freudschen Traumbildungsmechanismen Verdichtung und Verschiebung als Kategorien ihrer Diskursanalyse der poetischen Sprache dar.
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Gegenwartsmoment (Stern 2005, 2012). Kristeva greift neuerdings auch dessen Überlegungen zu den „pränarrativen Hüllen“ (Stern 2005, S. 74) zwischen Angst und Sprache auf (Kristeva 2000, 2008, S. 141 ff.), wobei sie nur im Gegensatz zu Stern diesen präverbalen Austausch zwischen Mutter und Kind durchaus sprachlich, nämlich semiotisch-diskursiv auffasst und nicht wie Stern als Ausdruck einer primären, völlig sprachfreien Intersubjektivität. Hier bezieht sie systematisch die Psychoanalyse in ihre linguistischen Überlegungen ein und ergänzt und unterfüttert Lacans Signifikantenstruktur der Sprache gleichsam semiotisch mit einem affektiv und triebhaft aufgeladenen präverbalen Sprechen. Hierbei greift sie – wie Lacan in seiner Theorie des Imaginären (siehe oben) – auf Melanie Kleins Symboltheorie zurück bzw. illustriert daran ihren eigenen semiotischen Ansatz (Kristeva 1978, 2008, S. 135 ff. und 156 ff.). Kristeva folgt Lacan über weite Strecken, zielt aber in ihrem doppelten Begriff der Sprache bzw. des Symbolischen in ihrer Dialektik von Semiose und Signifikanz und in ihrem semiotisch konnotierten Begriff der Muttersprache (Chora) auf eine Schicht des präverbalen Zeichenaustausches, aus dem das Sprechen in der Immanenz des Begehrens in der poetischen Sprache entsteht. Die kinetische Funktionalität, an die wir bei der Chora denken, gilt für die Zeit vor der Setzung des Zeichens; sie ist deswegen auch nicht kognitiv in dem Sinne, daß sie von einem schon konstituierten Erkenntnissubjekt getragen würde. Die die semiotische Chora organisierenden Funktionen […] lassen sich, genetisch gesprochen, nur im Lichte einer Theorie des Subjekts klären, die dieses nicht auf ein Verstandessubjekt verkürzt, sondern in ihm auch den Schauplatz der vorsymbolischen Funktionen freilegt. Auf dem Wege dorthin folgen wir zunächst Melanie Klein, die Freuds Konzept der Triebe weiterentwickelt hat. Es geht also um präödipale, semiotische Funktionen, um Energieabfuhren, die den Körper im Verhältnis zur Mutter binden und orientieren. Dabei ist zu beachten, daß der ‚Trieb‘ als solcher von vornherein ambivalent ist, sowohl aneignend wie auch destruktiv. (Kristeva 1978, S. 38)
Die Unaussprechlichkeit der latenten Triebauflagerungen im denotativen Sprechen lässt sich ikonographisch an der christlichen Auffassung der Empfängnis Jesu durch Maria illustrieren. Dabei – in der Szene der Verkündigung durch den Erzengel Gabriel – finden wir das Imaginäre und das Symbolische bereits in rudimentärer Weise dargestellt: Sie geschieht als Strahl des Sprechens vom Mund des Vaters ins Ohr der Tochter (siehe Abb. 6). Abschließend will ich nun die Bedeutung dieser Theorie der Intertextualität und der Transposition für eine aktuelle Konzeptualisierung des psychoanalytischen Prozesses aufzeigen, welche zugleich einige knappe, allerdings allzu verkürzte Parallelen zum Begriff der Reverie und der Alpha-Funktion von Bion aufweist.
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Abb. 6 a Marienkapelle in Würzburg: Die Verkündigung durch den Erzengel Gabriel, b Ohrzeugung-„Schnipsel“ (Marienkapelle Würzburg): Vom Mund des Vaters rutscht der Sohn auf einem Strahl ins Ohr der Mutter
3 Reverie und negative Semiotik Den zwischenleiblichen Raum des Sprechens im analytischen Prozess verstehen wir als Aufspannen eines „Zwischen-“ oder „Übergangs-Raums“, in dem zugleich der gesamte symbolisch-kulturelle Phantasieraum beider Protagonisten mitschwingt. Wir kennen den Begriff der Reverie als „träumerische Gelöstheit“ (wie Erika Krejci ihn übersetzt) aus Bions „Theorie des Denkens“ (Bion 1963; vgl. Ogden 1998, 2008). Bion versteht darunter das träumerische Sich-Einfühlen der Mutter in die affektiven Erlebniszustände des Säuglings bzw. des Analytikers in die vom
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Analysanden geäußerten oder inszenierten und via projektive Identifizierung in ihn deponierten Botschaften. Die Mutter (bzw. der Psychoanalytiker) nimmt – so ließe sich Bion semiologisch (nach Charles Sanders Peirce) umformulieren – unvollständige oder auch degenerierte Zeichen (indices und icons) auf, welche für den Säugling selbst unverdaulich sind oder nicht voll symbolisiert werden können und von Bion als präverbale Beta-Elemente bezeichnet werden. Die Mutter (bzw. der Psychoanalytiker) repräsentiert diese in ihrem psychischen Raum (der Reverie) und vermag sie dann als genuine Zeichen (als Symbole, Alpha-Elemente) in nunmehr verträglicher, verdaulicher Form dem Säugling (bzw. dem Analysanden) zurückzugeben. So entgiften sie den (via projektive Identifizierung) vergifteten Raum des Zeichenaustausches im Babytalk bzw. im psychoanalytischen Diskurs (Bion 2006, S. 11). Die Beta-Elemente sind somit zwar präverbal, aber nicht präsymbolisch, sie sind Zeichen (im Sinne von Peirce), Seme, deren Transformation in AlphaElemente durch die Reverie des Analytikers einen semiotischen Zeichenaustausch impliziert. Bion hat diesen Gedanken der Reverie, wiewohl äußerst populär im aktuellen Jargon der Psychoanalyse, nicht ausreichend elaboriert, insbesondere nicht auf eine moderne Sprach- bzw. Zeichentheorie bezogen, er liefert ihm aber dennoch den begrifflichen Rahmen seiner „Theorie des Denkens“ (Bion 1963). Die „träumerische Versonnenheit“, wie Peirce (Peirce 1995, S. 436) den Begriff der Reverie bezeichnet, ermöglicht als spielerisches Denken spezifische Zugänge zu Bereichen, die dem streng rationalen oder denotativen Denken vielleicht verschlossen sind. Dieser Typus des Denkens ist gerade deshalb so zentral für einen semiotischen Ansatz des psychoanalytischen Erkenntnisprozesses, weil er nicht primär vom Selbstbewusstsein ausgeht bzw. primär nicht bewusstseinsfixiert erscheint, sondern auf einen anderen Bewusstseinszustand abzielt. Auch Julia Kristeva fand, wie gezeigt, in der „Revolution der poetischen Sprache“, die die moderne Literatur auszeichnet, das Vorbild für die Formen des Sprechens in der Psychoanalyse zwischen semiotischem und signifikativem Diskurs, wenn man so will, zwischen Muttersprache und Vatersprache (Kristeva 1978, 2000). Kristeva hat diese Zusammenhänge – neben der Illustration an Texten der modernen Literatur – neuerdings häufig auch an Beispielen der darstellenden Kunst illustriert (Kristeva 2013, S. 197 ff. (2005), S. 143 ff.) (siehe Abb. 7). Kristeva erläutert ihren Begriff der abjektalen Mütterlichkeit u. a. an dieser Skulptur in Pulsions du temps (Kristeva 2013, S. 74–78) Wiederholt entfaltet sie ihren Gedanken am klinischen Syndrom der Melancholie (Kristeva 1996b, 2007). Sie fasst die Melancholie nicht – wie die moderne psychiatrische Nosographie es tut – als heute verschwundenes Störungsbild auf, sondern versteht sie als Prototyp eines inneren Sprachverlusts bzw. eines Auseinanderklaffens von signifikativem und semiotischem Diskurs. Dies nimmt in den frühen Ablösungsprozessen des Körpers des Infans von dem der Mutter seinen Anfang. In der Melancholie fallen gleichsam der semiotische und der signifikative Diskurs, die beim Erwachsenen verschränkt sind, wieder auseinander. Der Grund hierfür ist nach Kristeva, dass dem weiblichen Subjekt die dem Ödipus-
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Abb. 7 Louise Bourgeois: „Maman“ (1999) (2012 in der Neuen Kunsthalle, Hamburg, © Bildagentur-online/Ohde/picture alliance)
komplex analoge und ihm vorgelagerte Krise des Matrizids, die Abgrenzung vom mütterlichen Körper als Voraussetzung der weiblichen Sozialisation, misslingt. Der symbolische Muttermord kann psychisch nicht repräsentiert und angeeignet werden. Die Melancholie ist der Prototyp einer Störung, die in der Unfähigkeit besteht, den symbolischen Muttermord libidinös zu besetzen, zu erotisieren und kreativ in die Formensprache des symbolischen Lebens zu transformieren. Diese strukturelle Unmöglichkeit stellt dann für den Behandlungsprozess von Melancholikern ein technisches Kernproblem des Sprechens dar, da der intermediäre Raum zwischen Analytiker und Analysand nicht einfach zur Verfügung steht. Dadurch drohen eine Verarmung des assoziativen Sprechens und eine Entleerung des zwischenleiblichen Raums der Reverie und der Prosodie des analytischen Dialogs. Die Wiederherstellung des kreativen Raums der Intersubjektivität stellt die technische Crux der Deutungs-Kunst (nach Loch 1993) dar. Kristeva schreibt: Der depressive Diskurs kann monoton oder agitiert sein, aber die Sprecherin vermittelt immer den Eindruck, daß sie weder daran glaubt noch in ihm lebt, daß sie außerhalb der Sprache und innerhalb der geheimen Krypta ihres stummen Schmerzes lebt. […] Wenn die depressive Person die Sprache verwirft und sie bedeutungslos oder falsch findet, wie können wir dann einen Zugang zu ihrem Schmerz finden durch die Sprache, da Psychoanalytiker ja mit dem Sprechen arbeiten? Das ist der Grund, warum ich die Bedeutung der Stimme und der anderen Zeichen betone, die nicht linguistischer Art sind, obwohl sie durch die Sprache kommuniziert werden. In der Tat können solche Zeichen den sichersten Weg zum Verständnis der depressiven Person zur Verfügung stellen. Ich glaube, es ist wichtig zu zeigen, wie stark die depressive Person, die einen Schmerz erfährt, der oft stumm bleibt, insgeheim seelisch und auf listige Weise leidenschaftlich ist. Kurz: Man könnte die Melancholie als eine unnennbare und leere Perversion bezeichnen. Unsere Aufgabe ist es, sie auf das Niveau der Worte – und des Lebens – zu bringen. (Kristeva 1996b, S. 80, eigene Übersetzung)
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Die unnennbare „leere Perversion“ des Sprechens in der Melancholie kann also deutungstechnisch übersetzt werden mittels benennbarer sprachlicher Bilder und kreativ-symbolischer Formgebungen.
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Merleau-Pontys politische Ontologie und Guattaris begehrende Maschinen
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Stefan Kristensen
Zusammenfassung
In den letzten Jahren ist die Relevanz von Merleau-Pontys Rezeption des schilderschen Begriffs des Körperschemas stark hervorgehoben worden. Dieser Begriff sowie sein Gebrauch von Themen aus der mathematischen Topologie sind wesentlich, um seine Ontologie des Fleisches zu verstehen, besonders das bewegliche Verhältnis von Subjekt und Welt (bzw. Fleisch des Ich und Fleisch der Welt). Anhand von Arbeiten E. de Saint Auberts und G. F. Duportails werde ich versuchen zu zeigen, inwiefern die subjektive Struktur des Leibes immer schon sozial und politisch zu denken ist. Zwischen Foucaults Betonung der Ordnung und Lacans „akosmischem“ Subjekt ist dann der Raum offen für ein Denken des Subjekts in Machtverhältnissen. Dies eröffnet die Möglichkeit einer phänomenologischen Interpretation des Begriffes „Maschine“ aus Deleuze und Guattaris Anti-Ödipus.
1 Zur Einleitung Es wird hier um die Ontologie in Merleau-Pontys Spätwerk gehen. Aber es geht mir dabei nicht so sehr um die genaue Interpretation der Texte, sondern eher darum, eine bestimmte Interpretation vorzuschlagen und zu zeigen, wie diese Ontologie in Verbindung mit späteren Theorien in Verbindung gebracht werden kann. Es sind also zwei Ziele: erstens ein besonderes Verständnis vom Begriff des Fleisches und vom Subjekt innerhalb dieses Begriffs darzustellen, zweitens den Punkt aufzuweisen, wo Merleau-Pontys phänomenologisches Denken das
S. Kristensen (*) Département des arts visuels, Université de Strasbourg, Strasbourg, Frankreich E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 U. Kadi und G. Unterthurner (Hrsg.), Macht – Knoten – Fleisch, Abhandlungen zur Philosophie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04957-5_16
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analytische (schizo- oder psycho-analytische) Denken berührt. Mein Vorschlag gliedert sich in fünf Teile: Im ersten Teil diskutiere ich die Position des menschlichen Subjekts innerhalb der Ontologie des Fleisches anhand von Paul Schilders Begriff des Körperschemas und Merleau-Pontys Rezeption davon in seiner ersten Vorlesung am Collège de France; im zweiten Teil stelle ich die drei Ebenen des Körperschemas vor, und dabei wird sich herausstellen, dass das Subjekt nur transversal zu denken ist; im dritten Teil geht es um den Status des Begehrens und des Begehrtseins in diesem Rahmen; und im vierten Teil zeige ich, wie Merleau-Ponty die Frage der Technik und die des Begehrens artikuliert. Dies gibt dann den Anlass zum fünften und abschließenden Teil, wo ich den Chiasmus zwischen MerleauPontys Fleisch und Félix Guattaris Maschine skizziere.
2 Das Problem der Subjektivität im Rahmen einer Ontologie des Fleisches In der Ontologie, die sich in Merleau-Pontys Spätwerk entwickelt, ist das Sein als das grundsätzliche Element des Sensiblen angesehen. Der Begriff des Fleisches bezeichnet geradezu das Sein als das, was unserer Empfindlichkeit zugänglich ist, also als wahrnehmbares, gefühltes Sein. Das Subjekt in diesem ontologischen Rahmen ist nichts anderes als eine Falte; es ist als Subjekt ein Teil des Fleisches, es ist selbst Fleisch, aber kraft seiner besonderen Beschaffenheit als lebendige Einheit ist es der Ort eines erstaunlichen Phänomens: der Reversibilität von Berührtsein und Berühren. Diese gefaltete Gestalt erhält durch die Sedimentierung ontologischer Sachverhalte eine gewisse Stabilität, aber ich frage mich schon seit einigen Jahren, wie diese Stabilität (m. a. W. die Identität des Subjekts, die Frage, wer ich denn überhaupt bin) zustande kommt und wie sie sich hält. In einer Arbeitsnotiz vom September 1959 schreibt Merleau-Ponty, dass das wahrnehmende, sprechende und denkende Subjekt dasselbe Subjekt sein muss, aber dass man zugleich auch für die tiefen Brüche zwischen diesen Modalitäten des Subjektseins haften muss. In enger Verbindung damit frage ich mich, wie denn dieser Bereich des Fleisches überhaupt strukturiert ist, damit es ein zusammenhängendes Subjekt zustande bringt. Ist das Fleisch ein undurchsichtiges Magma von unvorhersehbaren Bewegungen, oder weist es als solches Differenzierungen, Spannungen und erkennbare Gestaltungen auf? Eine solche Frage ist auch historisch relevant, weil oft der Einwand gemacht wurde, dass die Philosophie des Fleisches undifferenziert und weich sei, etwa bei Deleuze oder Lyotard (vgl. Deleuze 1986, S. 120; Lyotard 1971, S. 22). Der erste Schritt, um diese Frage zu beantworten, ist zu erklären, wie überhaupt der Begriff des Fleisches bei Merleau-Ponty zu verstehen ist, und dafür ist seine Rezeption von Paul Schilders Begriff des Körperschemas wesentlich. Andere Quellen sind auch unentbehrlich, wie etwa die Gestaltpsychologie, die phänomenologische Philosophie, die moderne Kunst (das Denken und die Praxis Klees, Cézannes, Giacomettis u. a.), aber das Körperschema soll nicht unterschätzt werden. Als Merleau-Ponty 1952 in das Collège de France gewählt wird,
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nimmt er sein „Projekt zur Wahrnehmung“ wieder auf, und in den Notizen zur ersten Hauptvorlesung über Le Monde sensible et le monde de l’expression („Die Sinnenwelt und die Welt des Ausdrucks“) (Merleau-Ponty 2011) wird die ontologische Fragestellung im Kontext der Gestaltpsychologie eingeführt. Der erste Teil der Vorlesung ist eine detaillierte Diskussion der neuesten Forschungen der Psychologie der Wahrnehmung, von Max Wertheimer bis hin zu Albert Michotte. Der zweite Teil ist eine Lektüre und Interpretation von Schilders Hauptwerk, The Image and Appearance of the Human Body (Schilder 1950).1 Indem MerleauPonty die Experimente Albert Michottes aus seiner Wahrnehmung der Kausalität (vgl. Michotte 1946) zum sogenannten Raupeneffekt kommentiert, schreibt er: „Bewegung = Enthüllung des Seins, Resultat seiner inneren Gestaltung, und deutlich etwas anderes als Ortsveränderung“ (Merleau-Ponty 2011, S. 102).2 Der von Michotte analysierte Raupeneffekt besteht darin, dass auf einem Schirm ein Quadrat von zehn mal zehn Zentimetern gezeigt wird; dieses wird dann etwa nach rechts verlängert, bis es ein Rechteck bildet; schließlich wird es von links verkürzt, bis es wieder dasselbe Quadrat bildet, einige Zentimeter nach rechts gerückt. Das Erstaunliche ist, dass das Subjekt nicht bloß eine geometrische Form wahrnimmt, sondern eine Raupe, die nach rechts kriecht (Michotte 1946). Die Gestalt der Bewegung auf dem Schirm bewirkt den visuellen Effekt einer kriechenden Raupe. Merleau-Ponty zieht daraus den Schluss, dass das Sein selbst durch die Gestaltung der wahrgenommenen Bewegung enthüllt und wahrnehmbar wird, aber auch, dass das Sein als sinnliche Welt nicht einheitlich oder gleichförmig ist, sondern selbst als fundamentales ontologisches Element Differenzierungen und Gestaltungen aufweist. Solche Gestalten erscheinen aber nicht in der Form von Objekten; es sind auf der phänomenalen Ebene „bloß“ Modulationen des sinnlichen Seins. Das Subjekt, das diese Gestaltungen des Seins wahrnehmen kann, ist hier kein anderes als das von Paul Schilder beschriebene Körperschema. Unsere Motorik ist der „Grundsatz der Beweglichkeit der Dinge“ (Merleau-Ponty 2011, S. 128),3 schreibt Merleau-Ponty ein paar Wochen danach, indem er eine Konklusion zum Abschnitt über die Gestaltpsychologie zieht. Die wesentlichen Aspekte des leiblichen Subjekts als Körperschema sind die folgenden: 1. 2. 3. 4.
Bezugssystem, absolutes Hier, nicht Ding im Raum oder Inhalt System unmittelbarer intersensorischer équivalences Ganzheit, die den Teilen ihren Sinn vorschreibt Verhältnis zu einem äußeren Raum, der ein System mit ihm bildet, das er pflegt (fréquente). (Merleau-Ponty 2011, S. 129)
In dieser Definition steht die Dimension der Wahrnehmung und der Motorik im Vordergrund. Aber der vierte Aspekt impliziert die Möglichkeit der Einverleibung
1Schilder
lebte seit 1929 bis zu seinem Tod durch einen Autounfall 1940 in den Vereinigten Staaten. Sein Buch wurde zum ersten Mal 1935 in London publiziert. 2„mouvement = révélation de l’être, résultat de sa configuration interne, et clairement autre chose que changement de lieu“. Alle deutschen Übersetzungen von französischen Texten sind von mir. 3„Notre motricité comme fondement de la mobilité des objets“.
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„äußerer“ Phänomene, insofern diese eine Rolle für das Leben des Subjekts spielen. Auf derselben Seite schreibt er auch, dass das Körperschema das „Vermögen hat, sich alles, was für seine Handlungen wichtig ist, einzuverleiben“ (Merleau-Ponty 2011, S. 129). Es gibt also eine Plastizität des Körperschemas, das seine Zugehörigkeit zum allgemeinen Fleisch der Welt bekräftigt, aber zugleich auch eine lokale Ganzheit, die ihre Teile organisiert. Und ein bisschen später in der Vorlesung, nach einem detaillierten Kommentar zu diesen vier Aspekten, kommt er kurz zur Frage des Körperschemas und des Anderen und schreibt, dass die „vollständige Erklärung des Körperschemas nicht nur das Verhältnis des Subjekts zu sich selbst, sondern auch dasjenige zu den Anderen umfasst“ (Merleau-Ponty 2011, S. 159). Und ein paar Zeilen weiter: „Es gibt eine affektive Akzentuierung des Körperschemas, die eigentlich die Einbettung (installation) in mir von einem Verhältnis zu dem Anderen ist“ (Merleau-Ponty 2011, S. 159); aber dies bleibt in dieser ersten Vorlesung etwas kurz; in den folgenden Jahren wird er dann diesen Aspekt vertiefen und dabei immer wieder zu Schilders Buch zurückkehren.
3 Die drei Dimensionen des Körperschemas In seinem ersten Buch zum Thema schreibt Schilder zur Definition des Körperschemas: „Als Körperschema bezeichne ich das Raumbild, das jeder von sich selber hat“ (Schilder 1923, S. 2). Und diese unbeschwerte Kombination von Implizitem und Explizitem wird er sich in seinem ganzen Werk bewahren. Auf Deutsch schrieb er „Körperschema“; als er auf Englisch schrieb, musste er es dann „body image“, „postural model“ u. a. nennen, und wenn Merleau-Ponty den Terminus ins Französische importiert, heißt es „schéma corporel“, und es ergibt eigentlich in der Schilder’schen Perspektive keinen Sinn, diese Ebenen zu trennen, wie es Shaun Gallagher tut.4 Das Wesentliche dabei ist, dass die verschiedenen bewussten und unbewussten, intimen und sozialen, motorischen und affektiven Ebenen und Dimensionen immer schon miteinander verflochten sind. Dies war schon in seiner ersten Schrift zum Thema, die 1923 erschien, so: Freud hat darauf hingewiesen, daß der eigene Körper mit im besonderen Maße von Libido besetzt ist, an welchen Gebilden setzt aber diese Libido an? Wie ist das Bild, das wir uns vom eigenen Körper machen? Und werden Libidostörungen in bezug auf den eigenen Körper auch dieses Bild verändern? Das Problem der Autoskopie, der halluzinatorischen Wahrnehmung der eigenen Person im Außenraum, taucht hier auf. Die eigene Gestalt kann ja beachtet werden und eigenartige hypochondrische Sensationen können hierbei auftreten, wie ich das bei ganz anders gerichteten Versuchen zeigen konnte. Wir kommen der Fragestellung nahe, wie alle diese Dinge hirnphysiologisch zu fassen seien. Auch die psychische Repräsentation des Körperschemas, die Psychologie der Wahrnehmung des
4Vgl.
die Kritik von Emmanuel de Saint Aubert (Saint Aubert 2013).
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eigenen Körpers und der Vorstellung des eigenen Körpers bedarf noch eingehender Untersuchungen. (Schilder 1923, S. 85)
Es ist hier schon sehr klar, dass der Gebrauch des Freud’schen Begriffs der Libido daran teilhat, einen transversalen Ansatz auf das Problem des Körperschemas anzuwenden. Schilder benennt im selben Abschnitt psychodynamische und hirnpathologische Fragestellungen, ohne dass diese Zusammenstellung ein Problem darstellt. Er hat immer eine nichtbinäre Methode angewendet, bei der die Ebene der Vorstellung und die der physiologischen Prozesse nicht zwei klar identifizierte Schichten bilden, sondern eher stark miteinander verflochten sind. Wie er im Schlusskapitel von Image and Appearance schreibt: „If we wish to understand the development of the postural model of the body, we are not justified in saying that the physiological level is a primitive one and the psychic level a complicated one“ (Schilder 1950, S. 296). Es gibt keine Differenzierung, keine Strukturierung des Körperschemas ohne ein differenziertes Verhältnis zur Welt und zum Körperschema Anderer. „Even the so-called physiological investigation shows that our own postural model is not closely defined; it is changed by every object that touches the body and is related to the postural model of the persons around us“ (Schilder 1950, S. 297). Dies zeigt sich an drei wesentlichen Merkmalen: Erstens kann ein Teil des Körpers einen anderen symbolisieren – „the cavities and entrances of the body are freely interchangeable“ (Schilder 1950, S. 298); zweitens kann unsere Haltung gegenüber den verschiedenen Teilen unseres Körpers weitgehend vom Interesse der Anderen bestimmt sein; und schließlich können wir Teile des Körpers von Anderen nehmen. Und MerleauPonty gibt darauf ein genaues Echo, wenn er in derselben Vorlesung schreibt: „Die ‚elementare‘ Motorik ist immer schon Ausdrucksvermögen des Leibes in einer Welt, und [die] höheren Ausdrucksformen (Handhabung und Erkennung von Symbolen) sind auch Tatsachen von Praxis und Motorik“ (Merleau-Ponty 2011, S. 148 f.).5 Drittens können wir Teile der Körper von Anderen nehmen und sie in unser Körperschema einverleiben (incorporate), sodass „the social life is based upon the interrelations of postural models“ (Schilder 1950, S. 302), wie er ein paar Seiten weiter schreibt. Die Transversalität Schilders von der neurologischbiologischen Ebene bis hin zur sozialen Welt hat Merleau-Ponty ganz sicher interessiert, und er selbst folgt treu diesem Weg, und dies ist ein Schlüssel, um die Texte zur Psychoanalyse im Spätwerk zu verstehen.
5„Motilité ‚élémentaire‘ est déjà puissance d’expression du corps dans un monde, et formes d’expression supérieures (maniement et reconnaissance des symboles) sont encore faits de praxis ou de motilité.“
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4 Das libidinöse Subjekt bei Merleau-Ponty In einer Arbeitsnotiz vom Februar 1959 schreibt Merleau-Ponty ausgehend vom Problem der Intersubjektivität zum Begriff des Unbewussten: Dieses Unbewußte ist nicht in unserem Innersten zu suchen, hinter dem Rücken unseres ‚Bewußtseins‘, sondern vor uns als Gliederung unseres Feldes. Es ist ‚Unbewußtes‘ dadurch, dass es nicht Objekt ist, sondern das, wodurch Objekte möglich sind, es ist die Konstellation, aus der unsere Zukunft ablesbar ist – Es taucht zwischen ihnen auf wie der Abstand der Bäume voneinander oder wie ihre gemeinsame Ebene. Es ist die Urgemeinschaftung* unseres intentionalen Lebens, das Ineinander* der Anderen in uns und von uns in ihnen. (Merleau-Ponty 1986, S. 233)
Insofern das Unbewusste die Anwesenheit der Anderen impliziert, ist es ein Bereich der Beziehungen, des Begehrens, der Gespenster, der Sehnsucht, der Freude usw. Es ist die konkrete Möglichkeitsbedingung des Lebens mit den Anderen. Besonders frappierend ist hier die Weise, wie Merleau-Ponty unsere Beziehung mit den Dingen (les objets) und mit den anderen Lebendigen auf dieselbe Ebene setzt. Der Raum zwischen den Bäumen ist ein solches Beispiel, wenn er im Essay zum Kino schreibt, dass unsere Wahrnehmung grundlegend verändert würde, wenn es uns gelänge, den Raum zwischen den Bäumen auf dem Boulevard als Dinge zu sehen. Aber er verallgemeinert das Beispiel sehr stark, denn das Unbewusste gilt hier als der Grund des Miteinanderseins und nicht „nur“ als Grund des Wahrnehmungsfeldes im engen Sinn. Guy Félix Duportail fasst dies ganz schön in einem neueren Aufsatz zusammen (Duportail 2015): Die Wahrnehmung ist bei Merleau-Ponty eine Aktivität, sie stilisiert die Welt nach der Sedimentierung von Erwartungen, sie geschieht nach einem System der gegenseitigen Resonanz, und diese Resonanz auf der Seite des Subjekts ist die Anziehung, also das Begehren (le désir) in einem allgemeinen Sinn. Kurz gesagt, der Aktivität der Wahrnehmung liegt also die Spannung des Begehrens zugrunde. Duportail schreibt: „Die Erfahrung der Wahrnehmung ist die Erfahrung eines wahrnehmenden Leibes, der selbst ein praxisches Schema ist, ein Resonanzsystem zwischen Innerem und Äußerem“ (Duportail 2015, S. 235). Oder wie es Schilder selbst in 1935 schreibt: „But what else is attention than being directed towards a situation by emotional needs?“ (Schilder 1950, S. 287). Der Grund dafür ist, dass der ganze Leib wahrnimmt und dass die Anwesenheit von Anderen eine Möglichkeitsbedingung meines Wahrnehmungsvermögens ist. Die originäre Erfahrung ist somit die Sichtbarkeit meiner selbst für den Anderen. „Diese Sichtbarkeit meines Leibes (für mich, – aber auch universal und im höchsten Grade für Andere) bringt das hervor, was man Telepathie nennt“ (Merleau-Ponty 1986, S. 309), schreibt Merleau-Ponty in einer wenig kommentierten Arbeitsnotiz vom April 1960 mit dem Titel „Telepathie – Sein für Andere – Leiblichkeit“. Dort bringt er ein in meinen Augen sehr wichtiges Beispiel für seine Konzeption des Begehrens. Dasselbe Beispiel findet sich auch schon in einer früheren Notiz, datiert vom 2. Mai 1959, als er nach Manchester eingeladen war. Ich zitiere jetzt aus der Notiz vom April 1960:
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Z. B. eine Frau fühlt ihren Leib begehrt und betrachtet aufgrund nichtwahrnehmbarer Zeichen, und sogar ohne daß sie selbst diejenigen anblickt, die sie anblicken. Die ‚Telepathie‘ rührt hier daher, dass sie der tatsächlichen Wahrnehmung durch den Anderen zuvorkommt (Erotomanie) cf. Psychoanalysis and the occult6 – Man fühlt sich beobachtet (brennender Nacken), nicht weil etwas vom Blick auf unseren Leib übergeht und sich an der betrachteten Stelle einbrennt, sondern weil seinen Leib spüren auch heißt, daß man ihn spürt, wie er für andere aussieht. (Merleau-Ponty 1986, S. 310)
Dem Begehren muss also von beiden Seiten Rechnung getragen werden: von der Seite des Begehrenden, aber auch von der Seite des Begehrten, und von diesem Gesichtspunkt wird es als ein Machtverhältnis erfahren. Wenn die begehrte Frau ihren Mantel schließt, weil sie sich angeblickt fühlt, oder wenn ihr Nacken brennt, ist dies eine Erfahrung der Gefahr oder zumindest der Drohung. Die Erfahrung des Angeblicktwerdens ist immer potenziell eine Erfahrung der Gewalt, der Macht des Anderen, eine Erfahrung der Vulnerabilität. Und die Art und Weise, wie überhaupt in einer Gesellschaft angeblickt wird, ist eine politische Sache; sie ist durch soziale und kulturelle Verhältnisse sedimentiert und bestimmt weitgehend, in welchen Formen von Machtverhältnissen sich die Erfahrung des Wahrnehmens vollzieht. Ich möchte damit betonen, dass die Beschreibung des Fleisches als Bereich des Gesehenwerdens bei Merleau-Ponty sehr wohl eine politische Dimension hat und dass diese politische Dimension von den Sedimentierungen der Gesellschaft abhängt. Ich komme dann am Schluss zum Problem des Okkulten zurück, das ich jetzt beiseitelasse. Das Begehrtwerden, das Manipuliertwerden, das Angeblicktwerden, solche Erfahrungen gehen alle in Richtung Vergegenständlichung, das heißt einer Situation, in der das Subjekt als Objekt auftritt und deshalb sein Handlungsvermögen in einem gewissen Maße eingeschränkt bzw. negiert wird. Gerade deshalb bringt die Erfahrung des Begehrens und des Begehrtwerdens das Problem der Technik mit sich. Die Technik verstehe ich hier sehr allgemein als Machtdispositiv, das erlaubt, die Energie und Tätigkeit von Menschen für einen kollektiven Zweck zu mobilisieren. Modell dafür sind die Überlegungen des amerikanischen Philosophen und Historikers Lewis Mumford und sein Begriff der Megamaschine, der dann von Deleuze und Guattari im Anti-Ödipus wiederaufgenommen wurde. Mumford führt als Beispiel den Bau der Pyramiden im alten Ägypten an: Diese riesigen Monumente wurden ohne „Technik“ im eigentlichen Sinne gebaut, aber sehr wohl dank einer besonderen Maschine, und zwar der bürokratisch-religiösen Megamaschine des pharaonischen Machtapparats. Polarisiert von der göttlichen Gestalt des Pharaos war diese Megamaschine imstande, riesige kollektive Energien zu mobilisieren und zu organisieren, sodass der Bau der Pyramiden möglich wurde. Dies gilt sowohl auf der kollektiven als auch auf der individuellen Ebene: Damit alle Arbeiter intensiv und diszipliniert arbeiten, müssen die kollektiven Strukturen auch in den individuellen Körpern einverleibt
6Dies ist der Titel eines von Georges Devereux herausgegebenen Sammelbands zum Thema Psychoanalyse und Okkultismus (New York 1953).
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S. Kristensen
werden. Die These, die ich im Folgenden vorstellen möchte, ist, dass das Fleisch durch eine politische Struktur gekennzeichnet ist, und diese politische Struktur (als Ineinander von Machtverhältnissen) konstituiert das Element, woraus die Gestalt des individuellen Leibs entsteht.
5 Der technische Leib Bei Merleau-Ponty wird sich keine Theorie der Megamaschine finden, sehr wohl aber eine Artikulation des Fleisches und der Technik. Im zweiten Kapitel von Das Auge und der Geist gibt es einige wichtige Seiten zur „Technizität“ des Leibes. Er zitiert Marcel Mauss’ Satz, dass „jede Technik eine Technik des Leibes ist“ (Merleau-Ponty 1960, S. 33).7 Die Technik, schreibt er auch, „gestaltet und erweitert die metaphysische Struktur unseres Fleisches“ (Merleau-Ponty 1960, S. 33), indem er von der Rolle des Spiegels spricht. Den Spiegel gibt es, weil es schon eine „Reflexivität des Sinnlichen“ (Merleau-Ponty 1960, S. 33) gibt, und das technische Objekt ist deshalb eine Verlängerung der ohnehin im Leib eingeschriebenen Möglichkeiten. Merleau-Ponty erwähnt hier nochmals Schilder und eine Passage aus Image and Appearance of the Human Body, wo er von der doppelten Wahrnehmung sowohl der realen Finger als auch der gespenstischen Finger dort im Spiegel spricht: I sit about ten feet away from a mirror holding a pipe or a pencil in my hand and look into the mirror. I press my fingers tightly against the pipe and have clear-cut feeling of pressure in my fingers. When I look intently at the picture of my hand in the mirror I now feel clearly that the sensation of pressure is not only in my fingers in my own hand, but also in the hand which is twenty feet distant in the mirror. Even when I hold the pipe in such a way that only the pipe is seen and not my hand, I can still feel, though with some difficulty, the pressure on the pipe in the mirror. This feeling is therefore not only in my actual hand but also in the hand in the mirror. One could say that the postural model of the body is also present in my picture in the mirror. (Schilder 1950, S. 223 f.)
Schilder schließt daraus, dass die anderen Menschen als Spiegel für mich selbst fungieren; und der Kommentar Merleau-Pontys lautet: „Das Phantom des Spiegels schleppt mein Fleisch nach draußen, und dann kann das ganze Unsichtbare meines Leibes die anderen Körper, die ich sehe, besetzen“ (Merleau-Ponty 1960, S. 33). Der Spiegel wird also zu einer Möglichkeitsbedingung meiner Wahrnehmung und meines Begehrens der Anderen. Der Spiegel ist ein technisches Objekt, und als solches verlängert und verändert er die Wahrnehmungsmöglichkeiten, etwa wie der Stock die Tastmöglichkeiten des Blinden verändert und verstärkt, und diese Verstärkung hat konstitutiv mit dem Phänomen der Intersubjektivität zu tun. Weil Wahrnehmen immer schon das Angezogensein impliziert, ist die Technik konstitutiv mit dem Begehren und
7„Toute
technique est une ‚technique du corps‘“ (Merleau-Ponty 1960, S. 33).
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der Wahrnehmung verbunden, und dies schon bei Merleau-Ponty. Aber es gibt bei ihm Schwankungen, und Sophia Prinz hat gewiss recht, wenn sie sagt, dass es bei Merleau-Ponty keine Historisierung des Körperschema gibt.8 Merleau-Ponty schwankt zwischen der These der Zugehörigkeit des Subjekts zum Fleisch und der These des Wesens sui generis des Subjekts (Arbeitsnotiz „Wahrnehmendes Subjekt …“).
6 Die Maschine und das Fleisch im Chiasmus Als Schluss möchte ich noch zeigen, wie das Denken Guattaris, insbesondere sein Begriff der Maschine, die Mängel bzw. die Schwankungen von MerleauPontys Philosophie des Fleisches ergänzen kann. Inwiefern ist die Ontologie des Fleisches schwankend? In vier Hinsichten: Erstens bleibt das Verhältnis von Wissen und Begehren unklar; zweitens stellt sich die Frage der Einheitlichkeit des Fleisches – Merleau-Ponty führt wieder einen Dualismus innerhalb des Fleisches zwischen Fleisch der Welt und Fleisch des Subjekts ein;9 drittens stellt sich damit verbunden auch die Frage der Einheit des menschlichen Subjekts im Gegensatz zu seiner Angehörigkeit zum Fleisch; schließlich stellt sich die Frage der Zeitlichkeit bzw. der Geschichtlichkeit des Unbewussten: Merleau-Ponty schreibt in den Arbeitsnotizen zum Sichtbaren und Unsichtbaren, dass das Unbewusste einer mythischen Zeit angehört, aber es spielt trotzdem eine Rolle im Leben des Subjekts und kennt deshalb eine Entwicklung. Im genannten Beispiel des brennenden Nackens ist es offensichtlich, dass der begehrende Blick eine Machtausübung ist, und die Machtausübung findet dort in Form einer Drohung statt. Wenn Duportail solche Passagen kommentiert, kommt ausschließlich die Schönheit der Anziehung zutage, aber eigentlich ist die Kehrseite ebenso wichtig. Begehren ist auch das Begehren nach Herrschaft. Mein Vorschlag ist also, diese politische Interpretation der Rolle des Begehrens und der Technik bei Merleau-Ponty durch den Begriff der Maschine bei Deleuze und Guattari zu erweitern. Eine andere, parallele Möglichkeit wäre der späte Foucault, wie ich in meiner Dissertation darzustellen versucht habe.10 Die Kombination von Merleau-Ponty und Guattari ist deshalb ergiebig, weil wir uns auf der ontologischen Ebene befinden. Der Bereich des Fleisches (la chair) ist der Bereich des sinnhaften Seins, und wenn sich zeigen lässt, dass das Sein (als sinnhaft) von
8Vgl.
in diesem Band den Beitrag von Sophia Prinz. die Kritik Renaud Barbaras’ an Merleau-Ponty, z. B. in Barbaras (2003, S. 183–188). Barbaras zeigt dort, dass das Fleisch notwendigerweise eine innere Dualität aufweist und sich deshalb in ein „Fleisch der Welt“ und ein „Fleisch des Subjekts“ gliedert. Damit wird das klassische Problem des Dualismus nicht gelöst. 10Siehe Kristensen (2010, Kap. 6). Das Anliegen war dabei zu zeigen, dass die Integrität und Kontinuität des Subjekts auch von außen getragen werden können und nicht ausschließlich am Subjekt selbst hängen. 9Vgl.
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Machtverhältnissen und von Verhältnissen des Begehrens durchzogen ist, dass die Wahrnehmung überhaupt eine Dynamik des Begehrens voraussetzt, dann ist eine Theorie des maschinellen Seins notwendig. Es gilt dabei, einen Chiasmus zwischen den Werken Merleau-Pontys und denjenigen Guattaris aufzuzeigen. Die Grundthese von Deleuze und Guattari ist, dass die Grundsätze des Begehrens kollektiv, historisch-politisch sind. Eine solche Überzeugung liegt dem Begriff der begehrenden Maschine zugrunde. Die Maschine ist bei den Autoren des Anti-Ödipus deshalb in eine ontologische Perspektive zu setzen, weil es überhaupt für das Lebendige kein Draußen geben kann: Die Erde wird im Anti-Ödipus als die „primitive, wilde Einheit des Begehrens und der Produktion“ (Deleuze und Guattari 1972, S. 164) bezeichnet. Ein weiteres Argument ist, dass die Maschine ein transversaler Begriff ist: Er berührt sowohl das Biologische, das Psychische, das Soziale, eigentlich dem Fleisch sehr ähnlich. Aber in Kontrast zum Fleisch schließt die Maschine die Dimension der Energie ein. Sie bezeichnet die Energie und die Gestaltung der Energie in der Geschichte des Lebendigen, insbesondere der menschlichen Geschichte. In Guattaris eigenen Schriften ist ein besonderer Akzent auf die Subjektivität vorhanden, den es bei Deleuze so nicht gibt. Guattari schreibt z. B. am Anfang seiner letzten publizierten Schrift Chaosmose (Guattari 1992), dass er in seinen psychotherapeutischen, kulturellen und politischen Tätigkeiten immer mehr den Schwerpunkt auf die Subjektivität gesetzt hat, was heißt, dass es diesen Aspekt schon von Anfang an gab. Schon in seiner ersten theoretischen Schrift von 1969 mit dem Titel „Maschine und Struktur“ (Guattari 1972, S. 240–248) (also noch vor seiner Begegnung mit Deleuze) wird die Subjektivität in Verbindung mit einem besonderen Begriff der Maschine gesetzt. Maschine ist bei Guattari (sowie auch im gemeinsam mit Deleuze geschriebenen Werk) ein Begriff für die historische, technische, politische und kulturelle Möglichkeitsbedingung der Subjektivität. Sie steht für die Dimension des Zwanges, die das Lebendige zur Veränderung bringt, während die Struktur auf der Seite der sterilen Wiederholung der gleichen Bedeutungsinhalte steht. Indem er ein solches paradoxales Prinzip im Zentrum der Subjektivität setzt, zeigt Guattari, dass das Subjekt seine Einheit eben nicht einer reinen Selbstaffektion verdankt, sondern eher einer entgegengesetzten Kraft, die das Subjekt dazu dringt, eine Einheit in unstabilem Gleichgewicht zu bleiben. Es scheint mir deshalb, dass es sich lohnen würde, eine Studie der Möglichkeit der Ergänzung von Merleau-Pontys Ontologie durch Guattaris Maschinenbegriff zu widmen. Es würde sich zeigen, dass die Dualität des Fleisches eine Vielfalt ist, dass es eine Vielfalt von Subjektivitäten gibt, die in komplizierten und veränderlichen Verhältnissen stehen. Auch wenn es aus begrifflichen Gründen nicht hält, würde es zumindest der Ontologie des Sinnlichen eine willkommene politische Dimension verleihen (vgl. Kristensen 2016).11
11Dieser
Text entstand im Rahmen des vom Österreichischen Fonds zur Förderung wissenschaftlicher Forschung/Austrian Science Fund (FWF) geförderten Forschungsprojekts „Topographien des Körpers“ (P25977-G22).
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Literatur Barbaras, Renaud (2003): L’ambiguïté de la chair. In: Marie Cariou, Renaud Barbaras, Étienne Bimbenet (Hg.): Merleau-Ponty aux frontières de l’invisible. Milano, 183–188. Deleuze, Gilles (1986): Foucault. Paris. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix (1972): L’Anti-Œdipe. Capitalisme et schizophrenie 1. Paris. Duportail, Guy Félix (2015): Vers l’origine de la psychanalyse. In: Maria Gyemant/Delia Popa (Hg.): Approches phénoménologiques de l’inconscient. Hildesheim, 229–248. Guattari, Félix (1972): Psychanalyse et transversalité. Paris. Guattari, Félix (1992): Chaosmose. Paris. Kristensen, Stefan (2010): Parole et subjectivité. Merleau-Ponty et la phénoménologie de l’expression. Hildesheim. Kristensen, Stefan (2016): Der Leib und die Maschine. Merleau-Ponty, Deleuze und Guattari zum Verhältnis von Leiblichkeit und Maschine. In: Jörg Sternagel/Fabian Göppelsröder (Hg.): Techniken des Leibes. Weilerswist, 53–68. Lyotard, Jean-François (1971): Discours, Figure. Paris. Merleau-Ponty, Maurice (1960): L’Œil et l’esprit. Paris. Merleau-Ponty, Maurice (1986): Das Sichtbare und das Unsichtbare. Übers. von Regula Giuliani und Bernhard Waldenfels. München. Merleau-Ponty, Maurice (2011): Le monde sensible et le monde de l’expression. Cours au Collège de France. Notes. 1953. Genf. Michotte, Albert (1946): La Perception de la causalité. Leuven/Paris. Saint Aubert, Emmanuel de (2013): Être et chair. Du corps au désir: l’habilitation ontologique de la chair. Paris. Schilder, Paul (1923): Das Körperschema. Berlin/Heidelberg. Schilder, Paul (1950): The Image and Appearance of the Human Body. New York.
Janet Cardiffs epochale Topographie*
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Helen A. Fielding
Zusammenfassung
Mit Blick auf Janet Cardiffs Audio-Installation The Forty-Part Motet (2001) erforsche ich die Potentiale einer Klangtopographie, die eine andere SeinsStimmung in unserem technologischen Zeitalter möglich macht, das mit leiblicher Existenz und leiblicher Differenz kaum in Einklang steht. Unter Bezug auf Merleau-Pontys Konzept leiblicher Wahrnehmung und seine Überlegungen dazu, wie sich der Körper auf unterschiedlichen Ebenen bewegt und diese aufnimmt, untersuche ich die Art und Weise, in der Cardiffs Werk deutlich macht, dass ein epochaler Griff uns auf die Ebene einer aufmerksamen Wahrnehmungsstimmung zu ziehen vermag. Es bringt uns mit dem Gegebenen in Verbindung und nicht nur mit dem, was wir ohnehin anzutreffen erwarten. Das Werk verbindet Menschen, die es teilen, weil sie derselben Epoche angehören, derselben Öffnung, demselben Fleisch – und zwar in einer zutiefst leiblichen Weise. Zugleich verlangt es die Teilnahme der gestimmten Leiber der einzelnen Besucher*innen. Diese spiegelnde Bewegung, die das Kunstwerk zu Wege bringt, regt die Besucher*innen dazu an, einander zu begegnen. Indem es eine leibliche Ebene des Gestimmtseins in den Vordergrund rückt, macht das Werk offenbar, was es heißt, sich als leiblich gestimmte, mit anderen versammelte Wesen in derselben Klangtopographie zu erfahren. *Aus
dem Englischen von Anna Wieder und Sergej Seitz. Fielding, Helen A.: Cultivating Perception: Phenomenological Enactments of Ethics, Politics, and Culture. Übersetzter Abschnitt einer früheren Version von Kapitel 5 © [2022]. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung von Indiana University Press.
H. A. Fielding (*) Philosophy/Gender, Sexuality and Women’s Studies, The University of Western Ontario, London, Canada E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 U. Kadi und G. Unterthurner (Hrsg.), Macht – Knoten – Fleisch, Abhandlungen zur Philosophie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04957-5_17
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Während ich den langen Gang zur Museumsgalerie entlanggehe, schwellen ätherische Stimmen an und erfüllen den Raum. Sie singen Thomas Tallis’ Renaissance-Motette Spem in Alium aus dem späten 16. Jahrhundert. Die Stimmen steigen in mir auf und ziehen mich zu ihnen hin. Der Klang geht über die Grenzen des Sichtbaren hinaus und lässt die Musik ihre Wirkung entfalten, noch bevor ich den Raum betrete. Als ich um eine Ecke biege und in den luftigen Raum trete, trifft mich auf einmal die volle Wucht der Stimmen. So überwältigend die Stimmen sind, so spärlich nimmt sich das Kunstwerk aus, das sie wiedergibt: Janet Cardiffs Audioinstallation The Forty-Part Motet (2001) besteht aus vierzig Lautsprechern, die in einem elliptischen Muster in acht Fünfergruppen angeordnet sind. Die transzendenten Stimmen bereiten eine außerordentlich starke immersive Erfahrung. Die Wirkung der Musik auf die Besucher*innen ist nicht zu übersehen. Die Leute sitzen ruhig auf zentral platzierten Bänken. Manche haben ihre Augen geschlossen. Andere wandern langsam durch die Reihen der Lautsprecher. Niemand spricht. Wie Cardiff bemerkt, „treffen die Schallwellen aus den vierzig Lautsprechern in einer derart intimen und reinen Form auf deinen Körper, dass man emotional berührt wird. Der Klang hallt im eigenen Körper wider“ (Tate Modern 2017). In diesem Beitrag stelle ich einige Reflexionen ausgehend von diesem in der Tat äußerst kraftvollen Kunstwerk an, um zu sehen, wie ein säkularer Raum gleichsam in einen heiligen Raum verwandelt werden kann – einen Raum, der eine andere Seins-Stimmung ermöglicht. Der Raum erscheint heilig, insofern er sich dem öffnet, was die menschliche Verfügung und Kontrolle übersteigt, obwohl das Werk in seiner materiellen Anwesenheit davon abhängt.1 Der Zeit-Raum oder die epochale Topographie, die ich im Folgenden beschreibe, versammelt Menschen gerade durch die Bewegung der Differenzierung und nicht durch die Erhaltung des Selben. Ich frage nach der Möglichkeit, einen Raum zu eröffnen, der eine intime, aber zugleich öffentliche Form der Anwesenheit stiftet – eine Anwesenheit, die zu einer Erfahrung gemeinschaftlichen Miteinanderseins in diesem Zeitalter der Technik beitragen könnte, das durch Effizienz, Berechnung und unablässigen Wandel geprägt ist. Die Antwort liegt nicht in einer nostalgischen Abwendung von der Technik, das wäre auch gar nicht möglich (vgl. Heidegger 2000). Stattdessen geht es mir um eine Klangtopographie, die zwar wesentlich technisch ist, aber dennoch eine andere Seins-Stimmung in unserer Zeit ermöglicht – in unserer Zeit, die mit der leiblichen Existenz kaum in Einklang steht. Ich beziehe mich auf The Forty-Part Motet, weil es an der Schnittstelle des Akustischen, des Visuellen,
1Der
biblische Text von Tallis’ Musik verweist auf das, was jenseits menschlicher Kontrolle liegt. Allerdings spricht in der gegenwärtigen säkularen Kultur kaum jemand Latein, sodass die Bedeutung der Worte größtenteils verlorengeht. Dennoch verweist er auf diese Transzendenz. So lautet die Übersetzung aus dem lateinischen Original: „Ich habe niemals meine Hoffnung in irgendeinen anderen als dich gelegt, Gott Israels, der du zornig sein und doch wieder gnädig werden wirst und der du all die Sünden des leidenden Menschen vergibst. Gott, unser Herr, Schöpfer des Himmels und der Erde, sieh an unsere Niedrigkeit.“
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des Affektiven sowie der Raum- und Zeiterfahrung ansetzt, um das Potenzial einer solchen Topographie auszuloten. Ich zeige dabei auf, wie das Stück die Raumzeit und die Beziehungen darin transformiert und so andere Möglichkeiten des Miteinanderseins eröffnet. Die Erfahrung, wie affektive Lust im gemeinsamen Gestimmtsein durch Differenz entstehen kann, eröffnet neue Möglichkeiten kollektiver Transformation. Das Werk ist betörend schön und zieht die Menschen affektiv in seinen offenen Wirkungsbereich hinein. Es transformiert dabei kurzzeitig die Art und Weise, in der Besucher*innen Zeit und Raum erfahren sowie sich selbst und anderen begegnen. Aus jedem der vierzig in Kopfhöhe aufgestellten Lautsprecher kommt eine einzeln aufgenommene Stimme aus dem englischen Salisbury Cathedral Choir, die eine der vierzig verschiedenen Parts von Thomas Tallis‘ vielstimmigem Chorlied singt. Die Lautsprecher bilden acht kleine Chöre, acht Gruppen aus Bass, Bariton, Alt, Tenor und Kindersopran. Das Kunstwerk wurde in mehr als fünfzig internationalen Galerien gezeigt, u. a. in der Tate Modern, im Museum of Modern Art in New York und im San Francisco Museum of Modern Art. Das Werk transformiert jeden Ausstellungsraum auf andere Weise und handelt selbst von Raum und Zeit. Ich habe das erste Mal in der Art Gallery of Ontario (AGO) in Toronto damit gearbeitet, wo Henry Moores Gipsgüsse liegender Figuren und abstrakter Formen die Installation säumten.2 Die elf Minuten des Chorlieds sind durch dreiminütige Pausen unterbrochen. Außerdem ist die Aufnahme von Umgebungsgeräuschen überlagert (MacDonald 2009, S. 61). Die Besucher*innen hören also nicht nur jede einzelne Stimme, sondern auch die Geräusche, die die Körper machen, das Atmen, stimmliche Mängel und gewisse Laute, die in der Harmonie untergehen. Die Pause beginnt mit der Stille, die auf die Aufführung folgt; aber nach und nach wird die Stille durch das leise Plaudern der Sänger*innen unterbrochen, durch ihr Tratschen, Summen, Scherzen und Husten. Diese alltäglichen Geräusche der Menschen verweisen auf ihre Anwesenheit. Sie klingen wie echte Menschen, und obwohl ich sie nicht sehen kann, sind sie mir dennoch synästhetisch gegenwärtig. Ich höre jemanden hinter mir husten. Ich wende mich um, und obwohl ich weiß, dass es ein körperloses Husten ist, bin ich dennoch überrascht, dass niemand hinter mir steht. Das Werk stellt in Frage, was wir als wirklich erfahren. Wie Cardiffs künstlerischer Partner George Bures Miller bemerkt, umgeht der Klang „unsere intellektuellen Filter und dringt geradewegs in die Seele ein. Sogar die mürrischsten, übellaunigsten Leute gehen hinein, und man merkt, wie stark sie berührt sind“ (Eddington 2015). Wenn wir einen Chor hören, dann befinden sich die Sänger*innen für gewöhnlich auf einer Bühne vor uns – eine Perspektive, die stärker auf unserer visuellen Raumerfahrung basiert, in der die Sänger*innen gesehen werden und ihre Stimmen miteinander verschmelzen. Aber die Rezipient*innen von Cardiffs Werk gelangen in einen „dreidimensionalen“ Raum, als würden sie gleichsam „in ein
2Die AGO-Ausstellung von 2013 lässt sich unter https://www.youtube.com/watch?v=hL3U0GN7C1I und https://www.youtube.com/watch?v=Hj83cYfGtZw nachsehen.
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Musikstück eintreten“ (KQED Arts 2015). Um das Werk zu erfahren, wird man dazu ermutigt, sich frei darin herumzubewegen. Anders als bei einem Gemälde gibt es keinen richtigen Platz, an dem man stehen muss. Es gibt keinen Platz, der eine Perspektive auf das Ganze bietet. Es gibt hier, im Gegensatz etwa zur zentralperspektivischen Malerei, keinen Fluchtpunkt. Es handelt sich auch nicht bloß um mehrere Wege in das Werk, wie etwa im Falle der Landschaftsmalerei Paul Cézannes, wo man entweder links oder rechts vom Gemälde stehen kann und der Pfad jeweils dort zu beginnen scheint, wo man sich gerade befindet. Die Immersion in die Musik löst die Distanz auf, die jede Perspektive mit sich bringt. Cardiff ordnet die Lautsprecher oval an, sodass die Zuhörer*innen „die plastische Konstruktion des Stücks wirklich fühlen“ können. Sie „können hören, wie der Klang sich von einem Chor zum anderen bewegt, vor- und zurückspringt und Echos erzeugt“. Und sie „erfahren das überwältigende Gefühl, von Klangwellen getroffen zu werden“ (Cardiff 2007, S. 119). Genauso wenig, wie das Werk eine privilegierte Perspektive auf das Ganze zulässt, erlaubt es eine phänomenologische Betrachtung, die das Visuelle privilegiert. Merleau-Ponty zeigt, dass die Distanz, die durch das Sehen hergestellt wird, notwendig ist, um Dinge aus einer bestimmten Perspektive hintereinander aufgereiht wahrzunehmen. Andere Sinne wie der Tastsinn sind zu unmittelbar, um uns eine solche Tiefe zu geben. Das Sehen ermöglicht, Dinge wahrzunehmen, die extrem weit weg sind, wie die Sterne und die Sonne. Es stiftet die Allgegenwart der Erfahrung, „daß wir zur gleichen Zeit überall sind“, weil wir über die Fähigkeit verfügen, „uns selbst anderswo vorzustellen“ (Merleau-Ponty 1964, S. 40). Alles ändert sich, wenn wir uns primär auf das Hören verlassen, auch wenn es schwer ist, über das Akustische an sich nachzudenken. Wir begegnen Klängen nicht in derselben räumlichen Tiefe wie Sichtbarem. Die Klänge verstecken sich nicht hintereinander, um den Zuseher*innen zu zeigen, wie sie im Raum gruppiert sind. Hörende können sich nicht abwenden oder ihre Ohren schließen, um den Klängen zu entgehen. Selbst Taube können die Schallvibrationen nicht ausblenden. Die meisten Menschen verlassen sich primär auf den Sehsinn und fragen sich oft, wo ein Geräusch herkommt. Sie suchen auch dann eher nach visuellen Hinweisen, um die Geräuschquelle ausfindig zu machen. Im Forty-Part Motet aber nützt der Sehsinn nichts, um die Herkunft des Klangs zu bestimmen. Besucher*innen sollen durch den Raum gehen, und das Stück selbst ist ständig in Bewegung. Ich stehe neben einem stummen Lautsprecher, aber im nächsten Moment ergießt sich eine Welle der Musik über den Raum und eine Stimme beginnt neben mir zu singen. Während ich zuhöre, kristallisiert sich jede einzelne Stimme zunehmend deutlicher heraus. Ich beginne das Zusammenspiel der unvollkommenen Einzigkeit jeder Stimme des Kollektivs mit der transzendenten Harmonie zu erfahren. Das Werk gibt keine Perspektiven vor. Vielmehr basiert es auf der Vielstimmigkeit, dem verwobenen, überlappenden, gleichzeitigen Aufeinandertreffen verschiedener einzigartiger Stimmen. Während der Sehsinn Dinge hintereinander anordnet, liefert das Hören keinen solchen umfassenden Überblick. Die Begegnungen sind gleichzeitig, sie finden am selben Ort zur selben Zeit
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statt. Ihre Gegenwart ist eine sinnliche Unmittelbarkeit, die das Sehen nur selten zulässt. Wie Salomé Voegelin hervorhebt, ist Klang „nicht linear oder intentional, sondern extensiv und intersubjektiv“ (Voegelin 2010, S. 170). Es gibt nicht in derselben Weise eine Distanz zwischen dem Gehörten und dem Hören wie zwischen Objekten. Das Hören ermöglicht eine „tiefere Verstrickung mit der Welt“, einer Welt, die nicht mehr durch ein transzendentales Subjekt geordnet, sondern nur erfahren werden kann (Voegelin 2014, S. 105; 2010, S. 133). Musik als solche ruft strukturell simultane Begegnungen hervor. In ihrer Schönheit und mathematischen Komplexität „erschien diese neue Musik mittelalterlichen Ohren zu Recht revolutionär“, wie Robert Jourdain anmerkt (Jourdain 2007, S. 121). Vielstimmige Musik wie Spem in Alium ist für Stimmen komponiert, die einander kontrapunktieren, d. h. eine Note gegen eine Note setzen (oder, wie es im Lateinischen heißt, „punctus contra punctum“ singen). Sie verflechten Melodien in Harmonien, die sich begegnen, einander spiegeln und aufeinander antworten. Die Idee hinter der vielstimmigen Musik war, jeder Stimme zu erlauben, sich frei zu bewegen, was zu „vielfältigen Klangkombinationen“ führte (Jourdain 2007, S. 121). Der multimelodische oder vielstimmige Gesang enthält „mehrere unabhängige Verse, die zugleich gesungen werden“. Das Stück greift aber auch auf Einstimmigkeit zurück, wo zwei oder mehr Stimmen in Harmonie zusammenwirken, um Akkorde zu kreieren. Wie James Murray hervorhebt, mischt Tallis „die beiden Aspekte, wobei er mit der Vielstimmigkeit beginnt, schließlich zur Einstimmigkeit übergeht und mit einer großen Klimax endet, in der alle vierzig Stimmen kontrapunktisch verwoben werden“ (Murray 2010). In Cardiffs Werk ermöglichen Tallis’ Musik sowie die Technik, die einen virtuellen Chor bereitstellt, dass eine andere Raumstruktur oder Topographie entsteht. Wie die Musik selbst ermutigt das Werk die Bewegungsfreiheit der Besucher*innen, die die Unmittelbarkeit der klanglichen Begegnung des Note-gegen-Note erfahren. Das Werk entfaltet sich in der gleichzeitigen Begegnung einer Vielzahl unterschiedlicher Stimmen, die dennoch zusammen sind und zusammengehören. Wenn ich in diesem sphärischen Raum stehe, der durch die Lautsprecher aufgespannt wird, werde ich von diesen Harmonien ergriffen. Ich bringe aber auch meine eigene vergangene Erfahrungswelt mit, deren affektive Aspekte sich in diesem Raum intensivieren. Cardiff beschreibt, dass das Werk kurz nach den Terroranschlägen auf das World Trade Center vom 11. September 2001 in einer New Yorker Galerie ausgestellt wurde. Die Leute saßen in der Galerie, hörten die Musik an und weinten. Die Musik brachte sie in einem intimen und zugleich kollektiven Trauerakt zusammen (KQED Arts 2015). Über den Raum in auditiven Begriffen nachzudenken stellt eine Herausforderung dar. Konzerte reproduzieren in vielerlei Hinsicht die durch das Sehen bestimmte Raumerfahrung. Die Dynamik des Konzerts führt zu einer perspektivischen Erfahrung des Nahe- oder Entferntseins, während der Rundumsound uns eine Immersion bzw. die Erfahrung von Präsenz bietet (Schafer 1977, S. 118). Wie R. Murray Schafer schreibt, „platziert der klassische westliche Komponist den Sound in HD vor dem Auge des Ohrs“ (Schafer 1977, S. 156). Schafer, einer der frühesten und wichtigsten Autoren zum Thema der
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Klangumgebungen, weist darauf hin, dass die Redeweisen, die wir für gewöhnlich verwenden, um über Klangliches zu sprechen, aus visuellen Bildfeldern stammen, insbesondere solchen, die das Moment der perspektivischen Rangordnung bevorzugen (Schafer 1977, S. 152). So entstammen beispielsweise die Begriffe Figur, Grund und Feld – die jeweils dem Signal bzw. der klanglichen Signatur, den Umgebungs- oder Hintergrundgeräuschen sowie dem Feld, in dem der Klang ertönt, entsprechen – einem visuellen Rahmen, der ähnlich funktioniert wie die Raumniveaus, die nach Merleau-Ponty im Sehen aufgerufen werden. Ein Raumniveau bildet den Hintergrund, vor dem Dinge, Menschen und Beziehungen erscheinen. Die Beleuchtung kann etwa ein solches Niveau sein. Die Augen müssen sich anpassen, wenn man von einem hell erleuchteten in einen schummrigen Raum tritt. Indem sie sich anpassen, stimmt sich der Körper auf den Raum ein, die Farben werden heller und die Gegenstände klarer erkennbar (vgl. Merleau-Ponty 1965, S. 323 f.). Grundtöne funktionieren ähnlich, indem sie die Tonart einer musikalischen Komposition anzeigen (vgl. Schafer 1977, S. 272). In Klanglandschaften sind die Grundtöne jene Klänge, vor deren Hintergrund die klanglichen Signaturen erscheinen. Unterschiedliche Orte haben unterschiedliche Grundtöne: das Meer, der Präriewind, die Vibrationen der Straßenbahnen. Aber Schafers Konzeption hängt selbst noch zu stark an den visuell konnotierten Begriffen, was sich etwa an seinen Überlegungen zur Rolle der Technik für die erhöhte Lärmbelastung in Städten zeigt. Wie er deutlich macht, gab es eine Verschiebung weg von einer High-Fidelity-Klanglandschaft, in der einzelne Töne gegenüber jedem Hintergrundlärm hervorstachen, hin zu einer Low-Fidelity-Klanglandschaft, die die gegenwärtige Stadt auszeichnet, in der ein konstantes Rauschen überwiegt und in der es „keine Distanz gibt, sondern nur Präsenz“. In der Hi-Fi-Klanglandschaft vor-städtischer und vorindustrieller Kulturen waren Menschen gegenüber den kleinsten klanglichen Veränderungen ihrer Umwelt sensibel (Schafer 1977, S. 43 f.). Demgegenüber sind Lo-FiKlanglandschaften von Signalen überfüllt und es gibt einen Mangel an Klarheit (vgl. Schafer 1977, S. 272). In der visuellen Wahrnehmung können Grund und Figur wechseln. So kann etwa der Himmel, der zunächst den Grund für die Figur des Flugzeugs bildete, zur Figur werden, wenn wir den Himmel bemerken und in ihn eintauchen. Auch Klang kann auf diese Weise beschrieben werden. Die klangliche Signatur bzw. Figur des Flugzeugs gegenüber dem Grundton bzw. Grund des Meeresrauschens kann sich auch umkehren, indem der Klang der Wellen zur klanglichen Signatur wird. Welche Klänge Grundtöne werden und welche in den Hintergrund treten, ist zudem kulturell bestimmt. So blieb etwa das charakteristische Brummen von Maschinen, das Schafer als ‚Geräusch‘ bezeichnet, bis vor kurzem „unscheinbar“ (vgl. Schafer 1977, S. 152). Andrew Eisenberg argumentiert, Schafer würde nicht bemerken, dass seine Idee der Klanglandschaft „auf normativen Vorstellungen darüber beruht, welche Klänge ‚von Belang sind‘ und welche nicht“ (Eisenberg 2015, S. 198). So galten den Kolonisatoren etwa die Musik und die Sprache der afrikanischen Sklaven als bloßes Geräusch. Auch wenn deren Musik als „authentisches kulturelles
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Material zirkulieren“ durfte, wurde sie nicht als der „europäischen Zivilisation“ vergleichbar angesehen. Sie blieb im Hintergrund. Aber „in gegenwärtigen Widerstandsbewegungen ist der Lärm die ‚Stimme‘ der subalternen, marginalisierten Identität“. Lärm zu machen wird zur „expressiven Praxis und zum bewussten Akt der Subversion“ und kann dazu beitragen, die Ebenen durch eine Differenz in der Stimmung zum Gehörten zu verschieben (Novak 2015, S. 130 f.). The FortyPart Motet stellt Schafers nostalgisches, binäres Verständnis einer vortechnologischen Zeit in Frage. Es bezieht sich auf die Technik, um lebendige Körper und lebendige Beziehungen zu entbergen, auch wenn es als technisches Werk endlos wiederholbar ist, wobei die Wiederholung immer mit einer Differenz einhergeht, da das Werk auf menschliche Teilnahme angewiesen ist, um als Kunstwerk zu funktionieren. Die Begegnung mit dem Werk verschiebt unser Verständnis historischer Zeit, indem es mittels moderner Technik auf die Musik des 16. Jahrhunderts zurückgreift. Sie verschiebt aber auch unser phänomenales Verständnis von Zeit, indem sie sie dramatisch verlangsamt. In den elf Minuten, in denen die Stimmen erklingen, werden Zeit und Raum intensiv erfahren. Die Zeit scheint buchstäblich stillzustehen oder sich zu dehnen, sodass jeder Moment von den Stimmen durchklungen wird, die einander nachahmen, spiegeln und begegnen. Da Wahrnehmung nur in der Gegenwart stattfinden kann, vertieft diese Verlangsamung der Zeit auch die Wahrnehmung und ermöglicht eine größere Aufmerksamkeit dafür, wie die Vergangenheit und die Zukunft mit der Gegenwart verstrickt sind. Musik zu hören basiert auf dieser Versammlung der Erinnerung, des Erinnerns an das Vergangene in Erwartung des Kommenden.3 Das Werk stiftet eine andere Raumzeit als die, in der wir im Alltag leben. Sie beginnt sich aufzulösen, sobald die Musik stoppt. Die Besucher*innen befinden sich für eine gewisse Dauer im Griff dieser Raumzeit, und dieser Zustand besteht in der folgenden Stille zunächst fort. Die Stille wird in der dreiminütigen Pause nach und nach durch das Räuspern, das Husten und das Geplauder der Chormitglieder aufgehoben; der Griff lockert sich. Die Stimmen der Galeriebesucher*innen verweben sich allmählich mit den Aufzeichnungen. Aber wenn das aufgenommene Geplauder abebbt und der Chor erneut mit einem „kollektiven Atemzug“ anhebt, kann man fühlen, sehen und hören, wie die Besucher*innen in den Raum zurückgezogen werden. Sie werden sofort leise, wenn das Stück wieder losgeht. Ein Kritiker schreibt: „In dem Moment nach dem letzten Crescendo der vierzig Stimmen war ich sprachlos. Die Stille wirkte, als wäre man unfreiwillig in einen Floating-Tank gesteckt worden“ (KQED Arts 2015; Hotchkiss 2015).
3In einer Notiz zur Musik schreibt Merleau-Ponty: „Beim Hören schöner Musik: der Eindruck, dass die anhebende Bewegung bereits an ihr Ende gelangt ist, dass sie gewesen sein oder in die Zukunft einsinken wird, die man genauso begreift wie die Vergangenheit, obwohl man nicht genau wissen kann, was sie bringen wird. Antizipierte Retrospektion. Retrograde Bewegung in future: sie kommt ganz vollkommen auf mich zu“ (Merleau-Ponty 2001, S. 18).
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Das Werk stiftet eine kollektive und individuelle, geistige und sinnliche Intensität. Es bietet den Besucher*innen die Gelegenheit, sich in dem Moment sehr präsent zu fühlen, indem es das leibliche Sein in den Vordergrund rückt, was in unserem modernen Zeitalter selten geschieht. Es erinnert die Besucher*innen an die Möglichkeit, von etwas zusammengehalten zu werden, was über ihre Kräfte hinausgeht, aber zugleich von menschlicher Technik und Schöpfungskraft abhängt. Wie Jessica Wiskus in ihren Bemerkungen zu Proust festhält, „ist es nicht der Besitz des Ewigen, der Freude veranlasst, sondern die Einstimmung auf den Rhythmus des Seins“ (Wiskus 2013, S. 121). Mit Bezug auf Merleau-Ponty zeigt sie auf, dass Rhythmus bei Proust weder dadurch verwirklicht wird, dass die Sinne ein äußeres Objekt wahrnehmen, noch dadurch, dass man sich nach innen auf ein Erinnerungsbild bezieht. Vielmehr handelt es sich um eine „Struktur, die die Vergangenheit und die Gegenwart, Subjekt und Objekt, Geistiges und Sinnliches miteinander verbindet“ (Wiskus 2013, S. 120). Der Rhythmus ist eine Struktur, die Menschen im Griff hält. Er unterbricht das gewöhnliche Zeitverständnis im Sinne eines linearen Ablaufs von JetztMomenten, wie sich in der Musik deutlich zeigt: Sie hängt von der Retention des Vergangenen und der Antizipation der Zukunft ab. Darüber hinaus ist die Struktur nicht die Summe ihrer Teile; vielmehr stellt sie eine wesentlich zeitliche Form des Versammeltwerdens durch Vergegenwärtigung und Ausblendung dar. Bei Cardiff sammelt sich die Musik letztlich nur im leiblichen Hören der Galeriebesucher*innen. Selbst die Stimmen der Sänger*innen wurden einzeln aufgezeichnet. Das gemeinschaftliche Teilen wird vom Chor weg und zu den Besucher*innen hin verschoben, die in diesem sehr intimen und doch gemeinsamen Raum aufeinander aufmerksam werden. Diese zeitliche Struktur ist die Epoche. Eine Epoche stellt die Struktur eines Zeitalters dar, ist aber auch im Griff eines Kunstwerks zugegen. Giorgio Agamben weist darauf hin, dass Kunst „die ursprünglichste Gabe [ist], da sie die des ursprünglichen Ortes des Menschen ist“ (Agamben 2012, S. 134). Ein Kunstwerk zu erfahren heißt, diese ekstatische, epochale Öffnung des Rhythmus zu erfahren, „der gibt und der zugleich zurückbehält“ (Agamben 2012, S. 135). In dieser Erfahrung „finden Künstler und Betrachter ihre wesentliche Solidarität und ihr gemeinsames Fundament“ (Agamben 2012, S. 136). Dies wäre nicht möglich, wenn sie über dem Werk bzw. dem Werk als einem ästhetischen Objekt gegenüberstünden. Vielmehr ist das Kunstwerk der Ort dieser ursprünglichen Hervorbringung von Welt. Wenn wir, so Agamben, in diesem Zeitalter unsere poetischen, schöpferischen oder expressiven Kräfte verloren haben, dann können wir dieses „Maß“ „nicht einfach anderswo […] wiedererrichten“ (Agamben 2012, S. 136). Sie gehören zu einer Seins-Stimmung, die wie die Wahrnehmung selbst zum Hier und Jetzt gehört. Diese poetische oder expressive Kraft zu verlieren bedeutet, die eigene leibliche Befindlichkeit in der Welt zu verlieren. Es wäre nicht möglich, dieses Maß anderswo wiederaufzubauen, dann das Maß beginnt mit dem Leib. Unsere Leiber stellen die primordiale Ebene dar, die die eigentliche Fähigkeit ist, sich überhaupt auf eine räumliche und zeitliche Ebene hin auszurichten, wie etwa das Sein
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dieses Zeitalters. Cardiff arbeitet mit diesem Verständnis. Forty-Part Motet stiftet eine poetische Epoche innerhalb der größeren Epoche des technologischen Zeitalters. Es durchdringt Beziehungen und Erscheinungsweisen innerhalb seiner eigenen raumzeitlichen Struktur, solange die Besucher*innen in seinem Rhythmusbogen gehalten werden. Merleau-Ponty beschreibt dieses Phänomen in seinen Überlegungen zum Film. Die Struktur eines Films trägt zur Gesamtbedeutung des Werks bei, und diese Struktur wird durch die materiellen Elemente, die Cinematographie, den Schnitt, den Ton, die Musik und das Schauspiel zusammengehalten. Wenn ein Aspekt der Filmstruktur zusammenbricht, etwa wenn Stimmen synchronisiert werden, bricht die gesamte Filmstruktur zusammen (vgl. MerleauPonty 1965, S. 274). Anders als im Film oder im Kunstwerk, das Agamben beschreibt, basiert die Struktur von Forty-Part Motet sowohl auf den einzelnen Stimmen der Sänger*innen als auch auf der Teilnahme der einzelnen Besucher*innen, die die Struktur allererst ermöglichen. Ohne sie bleibt nur die materielle Technik der Lautsprecher. Das Werk stiftet eine epochale Topographie, eine Versammlung in Zeit und Raum, die die Besucher*innen anhält, sie eine Zeit lang versammelt, bevor sie sie wieder freigibt, wenn die Struktur zusammenbricht, nur um erneut anzuheben. Die Technik ermöglicht die Wiederholung des Versammelns und Zerstreuens, die sich nie gänzlich gleich bleiben. In dieser Differenzierung „transformiert“ es, wie Merleau-Ponty über die Musik schreibt (Merleau-Ponty 1996, S. 62). Auf eine Epoche eingestimmt zu sein heißt zu hören. Von Hören kommt auch Zusammengehören. Auf eine Epoche eingestimmt zu sein, zu der man gehört, bedeutet zu antworten, das Zuhören ist das Gehörige. Gestimmtsein verweist auf die Stimme, die man auch im Bestimmen findet (vgl. Heidegger 1985, S. 169, 243). Das Werk erlaubt uns, sowohl über die Epoche zu reflektieren, die uns prägt, als auch darüber, wie wir als leibliche Wesen die Raumzeit zugleich individuell und kollektiv bewohnen. Es hilft uns auch zu verstehen, wie Epochen sich verschieben können, wenn wir anders gestimmt sind. Wie Deborah Kapchan in ihren Überlegungen zum sufistischen Dhikr und zum Gesang im säkularen Frankreich aufzeigt, kann heilige Musik, wenn sie an säkularen Orten gespielt wird, die Art und Weise restrukturieren, wie Individuen sich selbst und ihre Beziehungen in einem gemeinschaftlichen Raum erfahren. Das Zuhören als Ereignis zu vollziehen kann verändern, wie Mauern und die Räume, die sie begrenzen, verstanden werden: Öffentliche Räume können zu Schauplätzen kollektiver Intimität werden (vgl. Kapchan 2013, S. 145). Ein Kommentator, Joseph Cermatori, beobachtet, dass die Besucher*innen das Werk missverstehen. Indem die Motette von der Architektonik des Heiligen in einen profanen Raum übertragen wird, ist es nicht mehr möglich, „romantisch zuzuhören, ohne Distanz, als ob man das Stück hören würde, wie es in dem abgelegenen Altarraum einer mittelalterlichen Kathedrale aufgeführt wird“ (Cermatori 2011, S. 29). Aus phänomenologischer Sicht hat Cermatori aber unrecht. Seine intellektualistische Sichtweise steht im Widerspruch zu den leiblichen Antworten der Besucher*innen. Anstatt durch diese Neueinschreibung des
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Raums entfremdet zu werden, scheinen die Besucher*innen in den affektiven Raum des Heiligen hineingezogen zu werden, der von der Kathedrale in den profanen Raum des Museums übertragen wurde. Der Raum des Werks erlaubt es wie ein heiliger Ort, sich vom Alltag zu distanzieren und gänzlich präsent zu sein. Er ermöglicht die Anerkennung dessen, was nicht der menschlichen Kontrolle unterliegt, auch wenn erst die Technik diese Erfahrung ermöglicht. Wie Cardiff ausführt, „brauchen Menschen diese emotionale Erlösung, um den Moment zu leben, um diese Präsenz und Spiritualität zu fühlen, die die Musik ihnen bringt (KQED Arts 2015). Für Merleau-Ponty ist die Musik „eine Kunst, die das Göttliche besingt, ohne an Gott glauben zu müssen oder einer Religion anzugehören oder ihre Dogmen zu befolgen, selbst ohne zu wissen, ob das Komponierte wirklich eine Hymne ist oder nur eine Weise, das Göttliche stattfinden lassen zu wollen“ (Merleau-Ponty 1996, S. 63). Die Erfahrung von Forty-Part Motet ist gleichzeitig zutiefst intim und persönlich, aber auch gemeinschaftlich und geteilt, insofern das Werk gemeinsam mit anderen erfahren wird. Die Intimität wird als eine tiefe Präsenz und als Möglichkeit von Verbindung erfahren. Das Werk verbindet die Besucher*innen, weil sie derselben epochalen Eröffnung angehören. Es aktiviert eine leibliche Topographie, die nicht auf den individuellen Standpunkten aufbaut, sondern vielmehr auf der Polyphonie unterschiedlicher Stimmen, die innerhalb des Raums aufeinander antworten. Obwohl die Erfahrung derselben Epoche zugehört, stiftet sie zugleich Differenz. Indem sie Präsenz und Differenz gleichzeitig eröffnet, ermöglicht sie Begegnung. Die Besucher*innen erfahren das Werk in etwas unterschiedlicher Weise, je nachdem, wo sie stehen oder sitzen oder wie sie sich durch das Werk bewegen bzw. was sie in die Begegnung einbringen. Das Werk befördert Differenzen durch die gleichzeitigen Begegnungen mit den einzeln aufgenommenen Stimmen, die in der epochalen Topographie des Werks versammelt werden. Dieses vielstimmige Geflecht ist nicht dasselbe wie das Geflecht, das durch die mit einer Situation einhergehenden Standpunkte hergestellt wird. Die gemeinsame Teilnahme stiftet die epochale Öffnung, die Merleau-Ponty als „ein Relief des Simultanen und des Sukzessiven“ beschreibt, als „eine räumliche und zeitliche Knetmasse, aus der die Individuen durch Differenzierung sich herausbilden“ (Merleau-Ponty 1968, S. 152 f.), in der „jede Beziehung zum Sein […] gleichzeitig Ergreifen und Ergriffenwerden“ ist (Merleau-Ponty 1968, S. 333). Anders gesagt, es geht um eine Beschreibung chiasmatischer Relationalität, die entsteht, wenn zwei oder mehr Entitäten sich überlappen oder sich verflechten, ohne zu fusionieren, aber dennoch durch einander geformt werden und durch diesen Prozess zu sich selbst kommen. Dies zeigt sich in der Art, wie die Besucher*innen einander begegnen, sei es im anerkennenden Lächeln, während sie das Werk durchwandern, oder auch nur durch die Anerkennung, dass sie eine Erfahrung teilen, auch wenn es nicht genau dieselbe ist. The Forty-Part Motet zeigt, dass das Hören nicht einfach eine Sache individueller Aufmerksamkeit ist, sondern auch eine epochale Dimension hat. Aufmerksamkeit wird von der akustischen Ebene des Werks gefordert. Das heißt nicht, dass jene, die dieses epochale Hören erfahren, alle gleich darauf
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antworten. Die Stimmung, die es stiftet, verortet die Besucher*innen im Hier und Jetzt simultaner leiblicher Begegnungen. Während meines Besuchs höre und fühle ich nicht nur intensiver, sondern auch das Sehen intensiviert sich: Henry Moores Gipsfiguren erscheinen leuchtender denn je. Ihre schwere Präsenz erobert meinen eigenen Körper und erdet ihn, während mich die Stimmen zugleich mit sich reißen und den Raum transzendieren. Diese Aufmerksamkeit gegenüber der Wahrnehmungswelt, die das Werk stiftet, dauert noch etwas an, nachdem ich den Raum verlassen habe. Andere Kunstwerke im Museum wirken dann mit größerer Intensität. Ich fühle mich lebendiger und verbundener mit den Kunstwerken und den Menschen, die mich umgeben. Letztlich kehrt mein Leib jedoch unweigerlich zur vorherrschenden epochalen Ebene zurück, die dazu tendiert, uns von der leiblichen Einstimmung auf uns selbst und die Welt, die wir täglich bewohnen, zu distanzieren. The Forty-Part Motet zeigt, was es bedeutet, sich selbst als leiblich gestimmt und mit anderen im selben Zeit-Raum oder in derselben epochalen Topographie versammelt zu erfahren. Das Werk zeigt, dass es möglich ist, epochale Bezugsweisen zueinander und zur Welt zu verschieben, indem es die Besucher*innen auf eine Ebene aufmerksamer Wahrnehmungsstimmung zieht, die Differenz im Selben zulässt. Es erreicht diese Stimmung, weil es zu den leiblichen Subjekten spricht, die sich auf neue epochale Ebenen zu bewegen vermögen, indem sie ihre eigenen partikularen Erfahrungen und Bezüge mitbringen. Diese Stimmung kann nicht durch menschliche Kontrolle orchestriert werden, auch wenn sie auf Technik basiert. Aber indem es das erscheinen lässt, was anders ist als das Menschengemachte, ermöglicht es innerhalb unseres Zeitalters die Erfahrung einer anderen Seinsweise.
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