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German Pages 262 Year 2014
Malte Kleinwort, Joseph Vogl (Hg.) »Schloss«-Topographien
Lettre
Malte Kleinwort, Joseph Vogl (Hg.)
»Schloss«-Topographien Lektüren zu Kafkas Romanfragment
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Siglen | 7 Einleitung
MALTE KLEINWORT UND JOSEPH VOGL | 11
PREKÄRE R ÄUME
ZWISCHEN
STELLE
UND
S CHWELLE
Am Schlossberg
JOSEPH VOGL | 23 Kafkas Labyrinthe
BETTINE MENKE | 33 Ritardando im Schloss
STANLEY CORNGOLD | 67 Das Schloss zwischen Buch und Handschrift
MALTE KLEINWORT | 85
DISKURSRÄUME
UND
R AUMDISKURSE
Klamm and the Double Asymmetry of The Castle
ANNE JAMISON | 111 Allogenität und Assemblage Kafkas Schloss mit Blüher und Latour
BENNO WAGNER | 131
Polyperspektivisch und polyfunktional Annäherungen an Kafkas Schloss
MANFRED ENGEL | 175
W AHRNEHMUNG
UND
D EUTUNG
VON
R ÄUMEN
Kafkas Architekturen – Das Schloss
GERHARD NEUMANN | 197 Schlaflosigkeit Kafkas Schloss zwischen Müdigkeit und Wachen
CAROLIN DUTTLINGER | 219 Interpretation’s End The Place of Possibility in The Castle
MICHAEL WOOD | 245
Zu den Autorinnen und Autoren | 253 Personenregister | 257
Siglen
KKA
1
Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe, hg. v. Jürgen Born, Gerhard Neumann, Malcolm Pasley und Jost Schillemeit, New York, Frankfurt am Main: Fischer 1982ff. S [App.]
Das Schloss1 [Apparatband], hg. v. Malcolm Pasley, 1982.
V [App.]
Der Verschollene [Apparatband], hg. v. Jost Schillemeit, 1983.
Tb [Komm./App.]
Tagebücher [Kommentarband/Apparatband], hg. v. Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Malcolm Pasley, 1989.
P [App.]
Der Process [Apparatband], hg. v. Malcolm Pasley, 1990.
In der KKA wurde aufgrund einer fragwürdigen Vorentscheidung »stillschweigend« (S App. 7) jedes ss aus Kafkas Handschrift in ein ß umgewandelt (vgl. bspw. S App. 8), wenn es nach den zu Beginn des Erscheinens der KKA gültigen Rechtschreibregeln geboten war. Diese Umwandlung, die zu fragwürdigen Hybriden wie dem Titel »Der Proceß« geführt hat, wurde in diesem Band bei Titeln und Zitaten aus der KKA zurückgenommen. Tatsächlich ist in Kafkas Handschriften mit Ausnahme seiner frühen, in Kurrentschrift niedergeschriebenen Texte kein ß zu finden.
8 | SIGLEN
NSF I [App.]
Nachgelassene Schriften und Fragmente I [Apparatband], hg. v. Malcolm Pasley, 1993.
NSF II [App.]
Nachgelassene Schriften und Fragmente II [Apparatband], hg. v. Jost Schillemeit, 1993.
DzL [App.]
Drucke zu Lebzeiten [Apparatband], hg. v. Wolf Kittler, Hans-Gerd Koch und Gerhard Neumann, 1996.
Briefe 1900-1912
Briefe 1900-1912, hg. v. Hans-Gerd Koch, 1999.
Briefe 1914-1917
Briefe 1914-1917, hg. v. Hans-Gerd Koch, 2005.
Briefe 1918-1920
Briefe 1918-1920, hg. v. Hans-Gerd Koch, 2013.
AS [DVD]
Amtliche Schriften [DVD], hg. v. Klaus Hermsdorf und Benno Wagner, 2004.
FKA
Historisch-Kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoscripte, hg. v. Roland Reuß und Peter Staengle, Basel, Frankfurt am Main: Stroemfeld 1995ff. FKA P (Hefttitel)
Der Process, 1997.
FKA BeK
Beschreibung eines Kampfes, 1999.
FKA GzU
Gegen zwölf Uhr […], 1999.
FKA OQH (1/2)
Oxforder Quarthefte 1&2, 2001.
FKA OOH (3/4)
Oxforder Oktavhefte 3&4, 2008.
FKA OOH (5/6)
Oxforder Oktavhefte 5&6, 2009.
S IGLEN
|9
BaB
Max Brod. Franz Kafka. Eine Freundschaft. Briefwechsel, hg. v. Malcolm Pasley, Frankfurt am Main: Fischer 1989.
BaF
Briefe an Felice und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit, hg. v. Erich Heller und Jürgen Born, Frankfurt am Main: Fischer 1967.
BaM
Briefe an Milena, hg. v. Jürgen Born und Michael Müller, Frankfurt am Main: Fischer 1986.
BaO
Briefe an Ottla und die Familie, hg. v. Hartmut Binder und Klaus Wagenbach, Frankfurt am Main: Fischer 1974.
Br
Briefe 1902-1924, hg. v. Max Brod, Frankfurt am Main: Fischer 1975.
Brod P
Der Prozeß [1925], hg. v. Max Brod, Frankfurt am Main: Fischer 1988.
Brod S
Das Schloß [1926], hg. v. Max Brod, Frankfurt am Main: Fischer 1988.
Brod BeK
Beschreibung eines Kampfes. Novellen. Skizzen. Aphorismen. Aus dem Nachlass [1954], hg. v. Max Brod, Frankfurt am Main: Fischer 1980.
Einleitung M ALTE K LEINWORT
UND
J OSEPH V OGL
Schliesslich konnte der Herr Vorsteher gar nichts mehr zu Ihren Gunsten vorbringen, lachte und sagte nur, Sie seien doch Landvermesser und würden daher die Beete im Schulgarten besonders schön gerade ziehen können. (S 146)
Einerseits wünscht sich K. nichts sehnlicher, als ins Schloss zu gelangen und dort als Landvermesser anerkannt zu werden, andererseits ist er im Dorf gewissermaßen bereits im Schloss und mitten in seinem Kampf um Anerkennung. Das ist, in einem Satz zusammengefasst, die topographische Grundproblematik von Franz Kafkas Das Schloss. Einerseits noch längst nicht dort, wo es einen hinzieht, andererseits immer schon da, wenn auch nicht ganz. Schloss und Dorf sind nicht Teil einer einzigen kartographierbaren Topographie, sondern in sich widersprüchliche Angebote zur Verortung, deren Analyse es erfordert, von Topographien im Plural zu sprechen: Kafkas Schloss verlangt also topographische Deutungen, die sich nicht in einer Topographie zusammenfassen lassen. Der Band erhebt nicht den Anspruch, die möglichen Interferenzen und Interdependenzen von Literatur und Topographie am Beispiel von
12 | MALTE KLEINWORT UND J OSEPH V OGL
Kafkas Das Schloss erschöpfend zu behandeln. 1 Er präsentiert vielmehr einige Annäherungsversuche an Kafkas letztes Großprosafragment, deren Problematik von K.’s eigenem und vergeblichem Spaziergang zum Schloss bereits vorweggenommen und vorgegeben wird: Die Straße, auf der K., der Landvermesser, ging, »führte nicht zum Schlossberg, sie führte nur nahe heran, dann aber wie absichtlich bog sie ab und wenn sie sich auch vom Schloss nicht entfernte, so kam sie ihm doch auch
1
Es ist bemerkenswert, wie sehr sich die Literaturwissenschaft in den letzten Jahren für Fragen der Topographie interessiert hat und wie viele Forschungszweige in diesem Interesse miteinander vernetzt worden sind. Zwar ist der Rede von Zeitenwenden wie der Proklamation von einem spatial, topological oder topographical turn zur Jahrtausendwende mit großer Vorsicht zu begegnen, zumindest hat das Interesse in den Jahren danach aber nicht nachgelassen, sondern scheint sich in letzter Zeit sogar noch zu verstärken, was sicherlich mit den erhöhten Anforderungen an Interdisziplinarität erklärt werden kann. Symptomatisch für diese Entwicklung ist, dass kurz nach der Tagung, auf die dieser Band zurückgeht, ein Workshop stattfand, der sich unter dem Titel »Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn« ebenfalls auf einen Text von Kafka – Der Bau statt Das Schloss – konzentrierte und ihn mit Fragen nach dem Verhältnis von Raum und Literatur konfrontierte. Der daraus hervorgegangene Tagungsband (Dorit Müller und Julia Weber [Hg.]: Die Räume der Literatur. Exemplarische Zugänge zu Kafkas Erzählung ›Der Bau‹, Berlin: Walter de Gruyter 2013) befindet sich im Erscheinen. Ein hilfreicher Überblick über die verschiedenen Möglichkeiten, das Verhältnis von Raum und Literatur zu denken, ist zu finden in: Wolfgang Hallet und Birgit Neumann: »Raum und Bewegung in der Literatur: Zur Einleitung«, in: dies. (Hg.): Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn, Bielefeld: transcript 2009, 11-32. Im engeren Sinne topographische Fragestellungen hat Stefan Gradmann an Das Schloss herangetragen, sich dabei indes vor allem darauf konzentriert, in welcher Weise K. bei seinen Raumerkundungen tatsächlich als eine Art Landvermesser tätig ist (vgl. Topographie / Text. Zur Funktion räumlicher Modellbildung in den Werken von Adalbert Stifter und Franz Kafka, Frankfurt am Main: Hain 1990, 121-131). Fragen nach der Struktur der Erzählrede verbindet Martin Kölbel in seiner lesenswerten Studie mit Fragen nach der Architektur und Topographie im Schloss (vgl.
E INLEITUNG
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nicht näher« (S 21).2 So bilden die Pfade zum Schloss wie die Wege zum Schloss kein übersichtliches Verkehrsnetz, sondern nehmen eher den Charakter eines Labyrinths an, in dem jeder Schritt voran der Gefahr der Desorientierung ausgesetzt ist. Ein wichtiger Orientierungspunkt im Band ist indes die Frage nach den bislang erst in Ansätzen untersuchten thematischen, narrativen und poetologischen Eigenheiten des späten Kafka, seines Spätstils. So gehören zu den möglichen Merkmalen dieses Spätstils etwa eine uneindeutige Fokalisierung im Erzählprozess, das Ausufern reflexiver Passagen, die Häufung von Künstlerfiguren und Kontrollszenarien, das Schwinden von prägenden Oppositionen wie Amt und Leben, Eigenem und Fremdem oder eine nachlassende Virulenz von thematischen Komplexen wie Gesetz, Gericht, Schuld und Strafe.3 Nachdem sich die KafkaPhilologie weitgehend von spekulativen – allegorischen, parabolischen und existenzialphilosophischen – Deutungen gelöst hat, können heute wenigstens drei Fragestellungen identifiziert werden, die innovative Annäherungen an Kafkas letztes großes Schreibprojekt zu bieten versprechen. Dazu zählt erstens eine poetologische Perspektive, in der Kafkas Text als besondere Ausprägung eines Institutionenromans erscheint. Die Verschränkung von Romanform und Lebensform sowie die Frage nach der narrativen Kodierung von Lebensgeschichten werden zum Angelpunkt von Analysen, die formale und thematische Aspekte des Textes gleichermaßen berücksichtigen und den literaturhistorischen Ort des Schloss-Romans – etwa vor dem Hintergrund des Entwicklungs- und
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3
Die Erzählrede in Franz Kafkas ›Das Schloss‹, Frankfurt am Main, Basel: Stroemfeld 2006). Ein Wegenetz der Schloss-Forschung ist bei Stephen D. Dowden zu finden, der anhand der Forschungsbeiträge zum Schloss in chronologischer Abfolge die literaturwissenschaftlichen Moden und Konjunkturen von der Weimarer Republik bis in die Neunziger Jahre hinein aufgearbeitet hat (vgl. Kafka’s Castle and the Critical Imagination, Camden: Columbia 1995). Zum späten Kafka vgl. die Beiträge im Band Kafkas Spätstil / Kafka’s Late Style, hg. v. Stanley Corngold und Michael Jennings, zugl. Monatshefte, Vol. 103-3 (2011); Malte Kleinwort: Der späte Kafka. Spätstil als Stilsuspension, München: Fink 2013.
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Bildungsgenres – in gattungsspezifischen Transformationen erkennen lassen.4 Zweitens ist eine gesteigerte Aufmerksamkeit für Kafkas Berufstätigkeit in der Prager Arbeiter-und-Unfall-Versicherungsanstalt und für die diskurshistorische Relevanz seiner Amtlichen Schriften zu berücksichtigen. Die zahlreichen Interferenzen zwischen Kafkas literarischen Texten und versicherungstechnischen Fragestellungen betreffen nicht nur die Darstellung von bürokratischen Apparaten und modernen Verwaltungsstrukturen, die eine Revision bisheriger Stereotype der Bürokratiekritik nahe legen. Die Beschäftigung mit der Relevanz von Wahrscheinlichkeitstheorie und statistischen Verfahren hat vielmehr grundlegende Fragen nach Erzählstrukturen beziehungsweise nach der Koordination von narrativen Ereignissen aufgeworfen und überdies zu einer neuen Kontextualisierung innerhalb moderner Erzählliteratur – zum Beispiel in Korrespondenz mit Robert Musils Mann ohne Eigenschaften – geführt.5 Drittens erleichtert es die Veröffentlichung der Faksimiles im Rahmen der Franz Kafka-Ausgabe (FKA), durch Untersuchungen zum Verlauf von Schreibprozessen oder zur Art und Anordnung von Aufzeichnungen textgenetische Perspektiven zu präzisieren beziehungsweise arbeitstechnische und intertextuelle Bezüge des Schloss-Fragments zu anderen Erzähltexten der Spätzeit herzustellen. Dabei geht es auch um die
4
5
Vgl. Rüdiger Campe: »Kafkas Institutionenroman. Der Proceß, Das Schloß«, in: ders. und Michael Niehaus (Hg.): Gesetz. Ironie, Heidelberg: Synchron-Verlag 2004, 197-208; Arne Höcker und Oliver Simons (Hg.): Kafkas Institutionen, Bielefeld: transcript 2007. Vgl. bspw. Benno Wagner: »Die Majuskel-Schrift unseres Erdendaseins. Kafkas Kulturversicherung«, in: Hoffmansthal-Jahrbuch zur europäischen Moderne 12/2004, 337-363; Burkhardt Wolf: »Zwischen Tabelle und Augenschein. Abstraktion und Evidenz bei Franz Kafka«, in: Sibylle Peters und Martin Jörg Schäfer (Hg.): ›Intellektuale Anschauung‹. Figurationen der Evidenz zwischen Kunst und Wissen, Bielefeld: transcript 2006, 239257; Claudia Lieb: Crash. Der Unfall der Moderne, Münster: Aisthesis 2009.
E INLEITUNG
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Frage, welche Art von Fragmentarizität – Abbruch, Scheitern, Unabschließbarkeit – zu reklamieren sei.6 Das leitende Motiv des Bandes ist dabei die Frage nach der Topographie in einem mehrfachen Sinn. So zielt die Frage ebenso auf K.’s Schwierigkeiten, in der Schloss-Welt voranzukommen, wie auf die labyrinthische Anlage des Romanfragments, die (Un-)Zugänglichkeit des Schlosses/Schlosses, auf den retardierenden Fortgang des Erzähl- und Schreibprozesses oder die Bahnung unterschiedlicher, zuweilen divergierender, analytischer Zugänge zum Schloss. Der erste von drei Abschnitten adressiert die prekären Räume zwischen Stelle und Schwelle. Dabei wird vor allem auf den Grundwiderspruch in Das Schloss referiert, dass beständig Angebote zur Verortung oder – in anderen Worten – Stellenangebote zu finden sind, diese aber zugleich eingeklammert und in Frage gestellt werden. Wie die Anstellung K.’s als Landvermesser sind auch alle anderen Stellen im Schloss einerseits in einem hohen Maße erklärungsbedürftig und andererseits jeweils an einen bestimmten Zeitpunkt oder eine bestimmte Perspektive gebunden. JOSEPH VOGL weist in seinem Beitrag auf die den Schloss-Topographien zugrundeliegende, in sich widersprüchliche Topologie hin. Statt fest definierter Räume wird im Schloss ein »entorteter Ort« produziert, der »jeden bestimmten Platz ins Wanken und Gleiten bringt«; statt begrenzter und markierter Wege oder Irrwege ist ein Verschwinden von Wegen und die Entstehung von Unwägbarkeiten zu beobachten. Im Rückgriff auf geometrische Theoreme erweist sich der Weg zum Schlossberg als »eine Linie, die in jedem ihrer Punkte anhält und die Richtung wechselt, sich verzweigt und somit unstetig wird«. Angebote zur Verortung wie Dorf, Schloss oder Schlossberg fungieren im Schloss schließlich nicht als Orientierungspunkte, sondern als »Aggregate des Möglichen«, aus denen eine »unfertige, in die Schwebe versetzte Welt« resultiert. BETTINE MENKE geht in ihrem Beitrag der Frage nach, unter welchen Bedingungen Das Schloss als ein Labyrinth bezeichnet werden 6
Vgl. Kölbel, Die Erzählrede in Franz Kafkas ›Das Schloss‹, s. Anm. 1; Caspar Battegay, Felix Christen und Wolfram Groddeck (Hg.): Schrift und Zeit in Franz Kafkas Oktavheften, Göttingen: Wallstein 2010.
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kann. Im Rückgriff auf Umberto Ecos Unterscheidung von LabyrinthModellen arbeitet sie heraus, was dafür und was dagegen spricht, Das Schloss als ein Einweg-Labyrinth, einen Irrgarten oder ein Rhizom-Labyrinth anzusehen. Ist an der Einordnung als klassisches Einweg-Labyrinth problematisch, dass dieses bei genauerer Betrachtung auch bereits dem Modell eines Irrgartens entspricht, widersetzt sich Das Schloss wiederum der Einordnung als Irrgarten-Labyrinth durch die Instabilität und Variabilität der dort zu findenden räumlichen Unterscheidungen. Während das Rhizom-Labyrinth schließlich, nach MENKE, weiterhin an Formen der Zentrierung und Hierarchisierung gebunden bleibt, enträt Das Schloss derartigen Ordnungskategorien. Nach einer genauen Lektüre und Analyse vor allem der behördlichen Vorgänge im Schloss kommt MENKE zu dem Schluss, dass jegliche Stellen, seien es textuelle, räumliche oder institutionelle, »nicht sie selbst bleiben, sondern (noch) unvorhersehbar und (schon) unauffindbar sind«. Bestimmt werden die Stellen durch keine Struktur, sondern durch ein »Kraftfeld«, das »von Spannungen, Kräften, Reizungen und Störungen, Irrungen und Winden« durchzogen ist. STANLEY CORNGOLD schlägt in seinem Beitrag vor, Motive, Phrasen oder Textpartikel, die uns beim Lesen vom Schloss an frühere Texte von Kafka erinnern, als Kafka-Meme zu bezeichnen. Diese Erinnerungsanker bewirken beim Lesen eine auf den Moment beschränkte, als »Euphorie empfundener Bedeutung«, aus der indes keine manifeste Deutung erwächst. Wie CORNGOLD anhand einer Reihe von Beispielen demonstriert, verzögern die Kafka-Meme das nachvollziehende Verstehen des Romanfragments, gleichwohl sie in »Knäuel[n] der vermeintlich fortschreitenden Handlung« mit dem Schloss verbunden sind. Die für Kafkas späte Texte charakteristischen unscheinbaren Rückbezüge sind Teil einer Topographie, in der jeder Weg auf einen Abweg führt und in der die Ankunft an einem Ort immer wieder aufgeschoben und hinausgezögert wird. MALTE KLEINWORT widmet sich in seinem Beitrag den Gemeinsamkeiten der topographischen Differenzierung von Dorf und Schloss auf der einen Seite und der Unterscheidung von Handschrift und Buch auf der anderen. Die drei großen Kafka-Editionen erweisen sich in der Folge als drei unterschiedliche Umgangsweisen mit dem komplexen Ver-
E INLEITUNG
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hältnis von Handschrift und Buch oder – in der verfolgten Analogie – mit der Aufgabe, die aus der Topographie von Dorf und Schloss erwächst. Die Schlossgeschichten als eine Art Verkehrsknotenpunkt zwischen Dorf und Schloss ebnen den Weg für Alternativen zu Handschrift und Buch, für die sich Kafka im Anschluss an Das Schloss interessierte. Als Alternativen werden Kafkas Hebräischstudien, Ansätze zu einer Reihe von K.-Geschichten und die Fokussierung auf mündliches Erzählen in seinen späten Texten vorgestellt. Im zweiten Abschnitt dieses Bandes stehen die Interferenzen von Diskursräumen und Raumdiskursen im Mittelpunkt. Es geht dabei nicht nur darum, wie im Schloss über Räume geredet wird und inwiefern dieses Reden über Räume selbst räumlich zu interpretieren ist. Vielmehr werden einige Raumdiskurse und Diskursräume aus dem Kontext vom Schloss in Augenschein genommen. Neben bevölkerungsstatistischen und territorialen Fragen werden Fragen nach der Perspektivierung des soziologischen Blicks verhandelt und Überlegungen zu Kafkas Positionierung zwischen zeitgenössischen Diskursen und – von Kafka aus gesehen – zukünftigen Theorieentwürfen angestellt. ANNE JAMISON arbeitet in ihrem Beitrag die komplexe Sprachenpolitik in der nach dem Ersten Weltkrieg gegründeten Tschechoslowakischen Republik auf. Immer wieder stieß der junge Staat mit seinen Bemühungen, die Bevölkerung nach Sprachen einzuteilen, um beispielsweise in bestimmten Gebieten Sprachen Sonderrechte einzuräumen, auf große Probleme. Das hing vor allem mit der Zwei- oder Mehrsprachigkeit eines großen Teils der Bevölkerung zusammen. Wie beispielsweise die Juden, die zwar in der Mehrheit deutschsprachig waren, das Tschechische als Verkehrssprache aber auch in weiten Teilen beherrschten und akzeptierten, einzuordnen wären, war, wie JAMISON herausstellt, strittig und wurde in Zeitungen zu jener Zeit kontrovers diskutiert. Anstatt diese Verwicklungen im Schloss schlicht ab- oder nachzubilden, erscheinen sie bei Kafka auf intrikate Weise mit grundlegenden Fragestellungen über die Funktionsweisen von Sprachen verbunden, wie sie in den Zwanziger und Dreißiger Jahren von Prager Strukturalisten wie Roman Jakobson diskutiert wurden. Die Unnahbarkeit des Schlosses und seine gleichzeitige Immanenz im dörflichen Alltagsleben werden in Beziehung gesetzt zu dem einerseits pragmatischen und an-
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dererseits widersprüchlichen Umgang mit der Sprachenvielfalt Prags zu Kafkas Lebzeiten. BENNO WAGNER weist in seinem Beitrag nach, wie wichtig für Kafkas Schloss-Topographien der Rassendiskurs von Hans Blüher einerseits und Implemente der späteren Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) von Bruno Latour andererseits gewesen sind. Lässt sich Kafkas vertikale Unterscheidung von Dorf und Schloss mit der Unterscheidung von primärer und sekundärer Rasse bei Blüher lesen, kann die Identifikation und Einebnung von Dorf und Schloss – und damit eine Art Einspruch gegen das von Blüher inspirierte Gesellschaftsbild – im Rückgriff auf Elemente der ANT besser verstanden werden. Kafka konfrontiert in dem Paradox der gleichzeitigen Unterscheidung und Identifikation von Dorf und Schloss eine panoramatische Sicht auf die Gesellschaft mit einer oligoptischen. Mit einer Vielzahl von Belegen weist Wagner nach, dass dieser Widerstreit nicht nur für die Topographien im Schloss prägend gewesen ist, sondern auch für biopolitische Fragestellungen, denen Kafka bei seiner Arbeit in der AUVA begegnet ist. MANFRED ENGEL versucht in seinem Beitrag zu klären, was es mit dem Schloss im Schloss auf sich hat, und trägt dafür die verschiedenen Ansichten und Geschichten vom Schloss zusammen, die im Schloss wiedergegeben werden. Zusammen ergibt das jedoch kein konsistentes Schloss-Bild, sondern vielmehr einen komplexen Schloss-Diskurs auf der Schwelle zwischen Tradition und Moderne. Im Rückgriff auf Max Webers Herrschaftstypologie erweist sich das Schloss »als eine Hybride zwischen funktionaler Moderne und einer traditional-auratischen Ordnung mit Ausrichtung auf einen absoluten Bezugspunkt […] (der aber nicht mehr Teil einer religiösen Ordnung ist)«. Im dritten und letzten Abschnitt stehen Fragen der Wahrnehmung und der Deutung im Zentrum. Schon die erste Annäherung, der erste Blick auf Schloss und Schlossarchitektur präsentiert eine lange Beschreibung, in der sich feste Konturen auflösen, in ein Geflirre von Strichen übergehen und sich schließlich zu einer irritierenden Chiffre formieren: »Es war wie wenn irgendein trübseliger Hausbewohner, der gerechter Weise im entlegensten Zimmer des Hauses sich hätte eingesperrt halten sollen, das Dach durchbrochen und sich erhoben hätte, um sich der Welt zu zeigen« (S 18). So wenig die Schloss-Topographie
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Orientierung und Halt bietet, so wenig fügt sich sein Anblick zum überschaubaren Bild und löst allenfalls einen erratischen Signifikationsprozess aus. GERHARD NEUMANN verfolgt in seinem Beitrag die These, Kafka habe mit den drei Romanfragmenten Der Verschollene, Der Process und Das Schloss an einem großen Bildungsroman geschrieben. Bei der für einen Bildungsroman konstitutiven Erfahrung und Begegnung mit der Welt spielt im Falle vom Schloss die Architektur eine entscheidende Rolle. Wie NEUMANN an der oben erwähnten Beschreibung des Schlossgebäudes hervorhebt, ist dort ein »Wahrnehmungsspiel zwischen Konstruiertem der Welt und Konstruktion des Beobachtenden« am Werk, »das in eine Zersprengung mündet, eine explosive Dynamik, das Durchbrechen des Daches«. Dieses »Zerfallen der Wahrnehmungsperspektive« macht NEUMANN für einen »Bruch in der Konzeption des ganzen Romans« verantwortlich, wodurch sich die »anfängliche Einheit der Narration […] im Fortgang des Romans […] in eine Reihe von Geschichten« auflöst. Die zunehmenden Probleme bei der Arbeit am Schloss haben aus NEUMANNS Sicht zur Folge, dass Das Schloss in das Kurzprosastück Der Bau, das er als die »Schwundstufe eines Bildungsromans« liest, »umkipp[t]«. CAROLIN DUTTLINGER nähert sich dem Thema der Topographie ebenfalls über die Frage der Wahrnehmung. Sie sieht im Schloss eine »Poetik der Müdigkeit« am Werk, die »Stil, Erzählgestus und Struktur des Romans« affiziert. Diese Poetik der Müdigkeit oder Schlaflosigkeit, die sich vor allem bei dem von Müdigkeit geplagten Protagonisten zeigt, bewirkt ein »Aufweichen und Verschwimmen fester Grenzen, Identitäten und Kategorien« und erklärt, warum die Topographie von Schloss und Dorf »keine klaren Koordinaten« hat und sich von Anfang an »K.’s Versuchen der Vermessung und Konturierung« widersetzt. Die Unerreichbarkeit des Schlosses beruhe letztlich, so DUTTLINGER, nicht auf äußerlichen Hindernissen, »sondern auf einer anthropologischen Konstante: Der müde Leib unterläuft die Intention.« Mit der Frage nach der paradoxen Hoffnung, die Das Schloss für Leserinnen und Leser bereit hält, verhandelt MICHAEL WOOD zugleich das Paradox unendlicher Distanz zwischen Dorf und Schloss einerseits und absoluter Immanenz des Schlosses im Dorf andererseits. Die be-
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kannte Formel lautet: »Es gibt unendlich viel Hoffnung, nur nicht für uns.« Auch die Frage nach einer letzten Interpretation oder einem Ende des Interpretierens bleibt an diese zwiespältige Hoffnung gebunden. Einige Argumentationsstränge auch der anderen Beiträge des Bandes laufen in WOODS Conclusio zusammen: »[T]opography often means in this novel: a place that erases the very idea of place.« Der Sammelband geht auf den Workshop »Research Avenues into Franz Kafka’s Das Schloss« zurück, der vom 17.-19. März 2011 an der Humboldt-Universität zu Berlin stattfand. Der Workshop wurde in Kooperation mit dem PhD-Net »Das Wissen der Literatur« und im Rahmen von »The Kafka Network. A collaboration including the faculties of Princeton, Humboldt and Oxford University« organisiert. Für die Mitorganisation des Workshops danken die Herausgeber Jörn Münkner. Allen, die sich an diesem Netzwerk beteiligt haben, gilt der Dank für die ebenso intensive wie inspirierende Zusammenarbeit. Die Bodleian Library, Oxford, erteilte dankenswerterweise die Genehmigung zum Abdruck der Faksimiles von Kafkas Handschrift zum Schloss. Sophie Bunge danken die Herausgeber schließlich für die tatkräftige Unterstützung beim Lektorieren des Bandes. Malte Kleinwort und Joseph Vogl
PREKÄRE RÄUME ZWISCHEN STELLE UND SCHWELLE
Am Schlossberg1 J OSEPH V OGL
Es war spät abend als K. ankam. Das Dorf lag in tiefem Schnee. Vom Schlossberg war nichts zu sehn, Nebel und Finsternis umgaben ihn, und auch nicht der schwächste Lichtschein deutete das grosse Schloss an. Lange stand K. auf der Holzbrücke die von der Landstrasse zum Dorf führt und blickte in die scheinbare Leere empor. (S 7)
Selten hat der Anblick eines Berges eine Landschaft, einen Erzählanfang, eine Bewegung und eine Textbewegung derartig irritiert. Zwar wird der Beginn von Franz Kafkas Schloss-Roman um den Moment einer Ankunft verdoppelt. Beides aber, der Anfang des Textes und der Eintritt in eine Erzählwelt, erscheinen sogleich unterbrochen und verwirrt. Denn einerseits mündet Bewegung in Stillstand, ein erster Schritt in den Halt, und das Ganze kommt auf einer Brücke, auf einer Schwelle, an einem Anfang vor dem Anfang und an einem Ort vor dem Eintritt zum Stehen. Die Grenze zum Dorf wird nicht überschritten, die Ankunft verendet im Schwellenraum, und der Textbeginn selbst dehnt sich zur Fermate. Andererseits antwortet dieser zögernde Schritt nur auf die Ansicht einer Welt, die sich mit all ihrer Sichtbarkeit den Blicken entzieht. Das Dorf liegt zwar irgendwo, ist aber zugedeckt und verborgen »in tiefem Schnee«. Und ebenso befinden sich Schlossberg und Schloss 1
Zuerst erschienen in der Festschrift für Helmut Pfeiffer: Über Berge. Topographien der Überschreitung, hg. v. Susanne Goumegou, Brigitte Heymann, Dagmar Stöferle und Cornelia Wild, Berlin: Kadmos 2012, 83-90.
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gerade dort, wo nichts zu sehen ist, sie werden sichtbar allein durch fehlende Sicht. So sehr kein »Lichtschein« anzeigt, was dort nicht erscheint, so sehr ist diese manifeste »Leere« selbst »scheinbar« oder bloßer Schein. Das gibt dem Schlossberg seinen besonderen Platz in der Landschaft und im Text: Er verstellt den Blick mit seinem Fehlen und markiert einen Ort, der sich als Lücke und Leere erweist. Zwischen einem Etwas, das nicht erscheint, und einem Nichts, das bloßer Anschein ist, entwirft sich eine Erzählwelt, in der ein angehaltener Anfang mit purer Scheinbarkeit korrespondiert.2 Von Anbeginn macht sich Kafkas Schlossberg damit als Massiv der Hinhaltung bemerkbar, das den weiteren Verlauf von Text und Erzählung, die Topographie und den Charakter von Kafkas Schlosswelt prägt. Das betrifft erstens den Parcours, den K. einschlägt und der ein fortgesetztes Anfangen diktiert. Schon am nächsten Haltepunkt, im »Brückenhof«, wiederholt sich das. K. schläft sogleich ein, wird geweckt, schläft wieder ein, wird im Schlaf mehrmals aufgestört, um am nächsten Tag noch einmal zu erwachen (S 7-13). Vor allem aber setzt K.’s neuerlich aufgenommener Weg nur jenes Verharren vom Beginn fort. Das ist der Weg zum Schlossberg: K. nimmt sogleich die Hauptstraße vom Dorf zum Schloss, die Straße nimmt aber selbst nicht diesen Weg. K. nähert sich Schlossberg und Schloss, um ihnen nicht näher zu kommen, und so sehr er sich Schritt für Schritt fortbewegt, so sehr zeigt das Dorf »kein Ende« und gibt nur einer Lateralbewegung statt, die fortwährende Annäherung und erneute Entfernung in einem oszillierenden Wechsel verschränkt: So ging er wieder vorwärts, aber es war ein langer Weg. Die Strasse nämlich, diese Hauptstrasse des Dorfes führte nicht zum Schlossberg, sie führte nur nahe heran, dann aber wie absichtlich bog sie ab und wenn sie sich auch vom Schloss nicht entfernte, so kam sie ihm doch auch nicht näher. Immer erwartete K., dass nun endlich die Strasse zum Schloss einlenken müsse, und nur weil er es erwartete ging er weiter; offenbar infol2
Zu den Anfangsproblemen in Kafkas Schloss-Roman vgl. Martin Kölbel: Die Erzählrede in Franz Kafkas ›Das Schloss‹, Frankfurt am Main: Stroemfeld 2006; Malte Kleinwort: Der späte Kafka. Spätstil als Stilsuspension, München: Fink 2013.
A M S CHLOSSBERG
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ge seiner Müdigkeit zögerte er die Strasse zu verlassen, auch staunte er über die Länge des Dorfes, das kein Ende nahm, immer wieder die kleinen Häuschen und vereiste Fensterscheiben und Schnee und Menschenleere – endlich riss er sich los von dieser festhaltenden Strasse, ein schmales Gässchen nahm ihn auf, noch tieferer Schnee, das Herausziehen der einsinkenden Füsse war eine schwere Arbeit, Schweiss brach ihm aus, plötzlich stand er still und konnte nicht mehr weiter. (S 21)
Mit dem unerreichbaren Schlossberg stellt sich eine topographische Unsicherheit ein, die die symbolische Ordnung des gesamten Romans prägt. Denn einerseits wird K. von nun an und im Verlauf des Romans niemals die Grenze überschreiten, nie vom Dorf an den Schlossberg gelangen, er wird immer wieder – wörtlich und im übertragenen Sinn – abgelenkt, um an dessen Peripherie herumzustolpern. Andererseits konnte man gleich zu Beginn erfahren, dass man im Dorf bereits im Schloss sei und dass derjenige, der im Dorf wohnt und übernachtet, »gewissermassen im Schloss« (S 8) wohne und übernachte. Gehört somit das Dorf irgendwie zum Schloss, so gehört allerdings das Schloss nicht unbedingt zum Schloss. Was auch immer von ihm erzählt wird, lässt nur die Schlussfolgerung zu, dass man nicht im Schloss ist, wenn man sich dort befindet. Gewiss, so heißt es einmal, kann man die Grenze zum Schloss überschreiten und etwa die Schlosskanzleien betreten, ganz einfach und problemlos; »aber sind die Kanzleien das eigentliche Schloss? Und selbst wenn Kanzleien zum Schloss gehören«, sind es dann die Kanzleien, die man »betreten darf?« Natürlich, so heißt es weiter, kommt man in Kanzleien, »aber es ist doch nur ein Teil aller, dann sind Barrièren und hinter ihnen noch andere Kanzleien«. Es ist keineswegs verboten, »geradezu weiterzugehn«, und diese Barrieren darf man sich »auch nicht als eine bestimmte Grenze vorstellen«. Barrieren sind nämlich »auch in den Kanzleien«, in die man gehen kann; es gibt also Barrieren, die man »passiert«, und »sie sehen nicht anders aus« als die, über die man »noch nicht hinweggekommen ist«. Und deshalb ist auch »nicht von vornherein anzunehmen, dass sich hinter diesen letzteren Barrieren wesentlich andere Kanzleien befinden« als diejenigen, in denen man bereits war (S 275). Und so weiter. Von Barrieren gerät man nur an weitere Barrieren, von überschrittenen Grenzen an
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neue; und was man überschritten hat, kehrt in gleicher Weise wieder, ohne Anfang und Ende. Man kommt nie ins Schloss und ist immer schon dort. Das Schloss ist nichts anderes als die Schwelle zum Schloss. Oder anders gesagt: Schloss und Schlossberg sind die Titel für jene monströsen oder antinomischen Mengen, die sich selbst als Element enthalten. Das ergibt einen seltsam strukturierten Raum, der Markierungen und Grenzen setzt, um sie sogleich wieder zu löschen: einen gekerbten Raum, der sich in einen glatten verwandelt; einen glatten Raum, auf dem Marken und Einschreibungen wie auf offener See dahintreiben. Wie es eigentlich keine wirkliche Grenze zwischen Dorf und Schloss gibt, so präsentiert sich das Schloss nicht als umgrenzter Topos, sondern weist selbst nur eine endlose Serie von Barrieren und Grenzen auf. Alle Grenzziehungen sind immer schon oder nie überschritten, schwinden in der Überschreitung, führen auf weitere Grenzlinien, die sich im Unübersichtlichen verlieren. Die Grenzen, die vom Rand des Romans auf das Innere der Schloss-Topographie verweisen, ordnen, trennen und unterscheiden den Raum nicht. Sie markieren und de-markieren zugleich und organisieren den gesamten (symbolischen) Raum des Romans als eine Art Schwellenzone. Wie also Schloss und Schlossberg erstens fern und zweitens doch überall sind, so bewegt sich K. im Schloss in einem grenzenlosen Reich der Grenze. Und diese Schwelle erweist sich als Element eines Raums, der weniger topographisch als topologisch funktioniert. So liegt in Kafkas Übergangs- oder Schwellenraum die Anweisung zur Produktion dessen vor, was man Atopos nennen könnte: weder ein bestimmter Ort noch ein Nicht-Ort, sondern ein entorteter Ort, eine räumliche Lage, die jeden bestimmten Platz ins Wanken und Gleiten bringt. Der Schlossraum hat keinen festen Boden oder Grund und kennt die dauerhaften Einschreibungen eines ausgedehnten Ordnungs- und Ortungsraums nicht. Das Anhalten und die Schwelle lassen sich damit als syntaktische Grundelemente von Kafkas Schloss identifizieren, die seinen Text und seine Erzählung, seinen Raum und seinen Schriftraum (de-)strukturieren und die Frage nach dem Syntagma und der Syntaxis, der Zusammenordnung und Zusammenfügung, insgesamt aufwerfen. Und von hier aus ergibt sich wohl ein genauerer Aufschluss darüber, wie die Raum-
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ordnung dieses Textes angelegt ist. So lässt sich feststellen, dass K.’s Voranschreiten – geometrisch beziehungsweise analytisch gesprochen – keinen gewundenen Weg und keinen Irrweg, sondern überhaupt keinen Weg ergibt. Das ist seine neue historische und systematische Dimension. Wenn Kafka einmal davon gesprochen hat, dass es vielleicht ein »Ziel«, aber »keinen Weg« gebe – »was wir Weg nennen, ist Zögern« (NSF II 118) –, so enthält das eine elementare Definition dieser Struktur. Demnach besteht sie aus einer Reihe von Intervallen oder Spatien, oder genauer: Sie ergibt sich durch infinitesimale Teilungen, die Abschnitte in kleinere und diese in wiederum kleinere aufteilt. Der Weg zum Schlossberg ist ein unendlicher Interpolationsprozess, eine beliebig fortsetzbare Intervallierung des Kontinuums: eine Linie, die in jedem ihrer Punkte anhält und die Richtung wechselt, sich verzweigt und somit unstetig wird. Seit dem neunzehnten Jahrhundert haben Mathematiker das mit einigem Unbehagen als überall unstetige Funktionen beschrieben, als nowhere differentiable functions (Norbert Wiener), die sich in einer »monströsen Oszillation« einrichten und ganz und gar unanschaulich bleiben: Der Weg oder das Kontinuum ist nicht mehr – wie bei Aristoteles – das, was unteilbar ist und in einem Zug, von Anfang bis Ende, durchlaufen wird; seine Linie wird vielmehr Punkt für Punkt abgetastet und führt zu einer Art Dauerbeschäftigung mit jedem beliebigen, noch so kleinen Intervall.3 Das ergibt das Labyrinth einer Linie, die in allen ihrer Punkte irrt, sich verzweigt und die Fortsetzung ihres Wegs unterbricht, ein dauerhaftes Unterbrechen des Verlaufs. So wenig der Schwellenraum von Kafkas Schloss einer Geometrie räumlicher Ausdehnung entspricht, so sehr konvergiert die Vermessung der Schloss-Topographie offenbar mit den Problemen moderner Analysis. Es verwundert daher nicht, dass – zweitens – auch die Gestalten von Schlossberg und Schloss einer fortlaufenden Defiguration ausgesetzt sind. Das bedeutet nicht nur, dass der Blick sich in zunehmender Dämmerung verliert (S 156-157) und vom Schlossberg am Ende nur ein unbestimmter Verweis nach »dort oben« (S 358, 362) verbleibt. Genau3
Zur Geschichte dieser »Monsterfunktionen« in der analytischen Geometrie vgl. das Kapitel »Monströse Oszillationen« in: Bernhard Siegert: Passage des Digitalen. Zeichenpraktiken der neuzeitlichen Wissenschaften 15001900, Berlin: Brinkmann & Bose 2003, 313-323.
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er noch sind Schlossberg und Schloss Gegenstand einer Verzeichnung, die sich als konsequente Verwirrung von Anschauung, Bild und Begriff manifestiert. So jedenfalls erfährt es K. bei seiner Annäherung an das Schloss: Nun sah er oben das Schloss deutlich umrissen in der klaren Luft und noch mehr verdeutlicht durch den alle Formen nachbildenden, in dünner Schicht überall liegenden Schnee. […] Im Ganzen entsprach das Schloss, wie es sich hier von der Ferne zeigte, K.’s Erwartungen. Es war weder eine alte Ritterburg noch ein neuer Prunkbau, sondern eine ausgedehnte Anlage, die aus wenigen zweistöckigen, aber aus vielen eng aneinanderstehenden niedrigen Bauten bestand; hätte man nicht gewusst dass es ein Schloss ist, hätte man es für ein Städtchen halten können. […] Aber im Näherkommen enttäuschte ihn das Schloss, es war doch nur ein recht elendes Städtchen, aus Dorfhäusern zusammengetragen, ausgezeichnet nur dadurch, dass vielleicht alles aus Stein gebaut war, aber der Anstrich war längst abgefallen, und der Stein schien abzubröckeln. […] Der Turm hier oben – es war der einzig sichtbare – der Turm eines Wohnhauses, wie sich jetzt zeigte, vielleicht des Hauptschlosses, war ein einförmiger Rundbau, zum Teil von Efeu gnädig verdeckt, mit kleinen Fenstern, die jetzt in der Sonne aufstrahlten – etwas Irrsinniges hatte das – und einem söllerartigen Abschluss, dessen Mauerzinnen unsicher, unregelmässig, brüchig wie von ängstlicher oder nachlässiger Kinderhand gezeichnet sich in den blauen Himmel zackten. Es war wie wenn irgendein trübseliger Hausbewohner, der gerechter Weise im entlegensten Zimmer des Hauses sich hätte eingesperrt halten sollen, das Dach durchbrochen und sich erhoben hätte, um sich der Welt zu zeigen. (S 16-18)
Was sich hier zeigt und zugleich als Enttäuschung präsentiert, lässt sich als mehrfacher Entzug von Gewissheiten begreifen. Erstens als Blockierung des Begriffs: Das Schloss ist weder Burg noch Prunkbau, es ist eher ein Städtchen, vielleicht nichts als ein Dorf – das Schloss ist also kein Schloss. Zweitens wird dadurch die Anschauung vom Schloss selbst unkenntlich. Was sich anfangs »deutlich umrissen« vor dem Hintergrund abhebt, ist am Ende verwittert und unscharf in seinen Konturen, zu einer bloßen Schraffur und einem richtungslosen Gemenge an
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Strichen geworden. K. wird in eine Art Anschauungsqual verwickelt; das Klare und Deutliche ist dunkel und verworren geworden. Und drittens schließlich weist dieses »Schloss« darum auch jegliches bildhafte Verständnis zurück; es durchkreuzt seine eigene metaphorische Dimension. So wenig sich nämlich die Bedeutung des Berges in den Signifikanten von Burg oder bergen fortsetzt (die Semantik des pêrgos – »schützender berg«4 – ist durchkreuzt), so sehr erweist sich das, was dort oben »frei und leicht emporragt« (S 17) als Schein und weicht einem Niedergedrückten und Verflachten: Die Vertikale des Bergs wird horizontal korrigiert. Und so sehr sich im Schloss wiederum etwas zeigt, was hätte »eingesperrt« oder verschlossen bleiben sollen, so sehr wird das Verschlossene im Schloss entriegelt und entsperrt. Berg, Burg und Schloss sind also Trugbilder, und das heißt: Sie sind Bilder oder Metaphern, die sich in ihrer Bildhaftigkeit selbst widerlegen. Von Anbeginn scheint Kafkas Schlossberg auf einen Bild- und Sachbezirk zu verweisen, der im Emporstreben verflacht, sich im Bergen entbirgt und im Erschließen verschließt. Die »Anlage« des Schlosses ist also durch einen Schwellenraum und als Trugbild gleichermaßen charakterisiert, und das bedeutet, dass in ihr alle Bestimmungen eingeklammert, provisorisch oder von ihrem Gegenteil heimgesucht sind. Hat sich K. ins Dorf »verirrt« (S 8) oder hat ihn der Schlossherr »kommen lassen« (S 9)? Ist er als »Landstreicher« oder »Landvermesser« da (S 9)? Und lässt sich das »Vermessen« des Lands, das niemals geschieht, als Messen oder Ver- beziehungsweise Fehlmessen oder schlicht als Vermessenheit begreifen? Die Unentscheidbarkeit dieser Welt wird in ihrer Scheinbarkeit fortgesetzt und von einer Frageform begleitet, die in allen Bestimmtheiten wirkt. Wenn Grenzen Distinktionen und diese wiederum binäre Unterscheidungen sind, so wird eben diese Distinktionslogik durch die endlose Rekursion ihrer Unterscheidungen ausgesetzt: K. ist fort und da, im Dorf, im Schloss, nicht fort, nicht da, nicht im Dorf, nicht im Schloss … Hier herrscht die Macht des Falschen oder bloßen Scheins. Diese Ungewissheit hat überdies eine prägnante Methode. Das betrifft vor allem das Walten der zuständigen Behörde, deren Wirksam4
Vgl. den Eintrag »Berg« in: Jakob Grimm und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 1, Leipzig: S. Hirzel 1854, Sp. 1503-1506, hier: Sp. 1503.
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keit vom Berg aus gleichsam mit verminderter Zurechnung geschieht und ebenfalls in der Schwebe bleibt. Die Arbeitsweise des »behördlichen Apparates« wird einmal umständlich und folgendermaßen beschrieben: Entsprechend seiner Präcision ist er auch äusserst empfindlich. Wenn eine Angelegenheit sehr lange erwogen worden ist, kann es, auch ohne dass die Erwägungen schon beendet wären, geschehen, dass plötzlich blitzartig an einer unvorhersehbaren und auch später nicht mehr auffindbaren Stelle eine Erledigung hervorkommt, welche die Angelegenheit, wenn auch meistens sehr richtig, so doch immerhin willkürlich abschliesst. Es ist als hätte der behördliche Apparat die Spannung, die jahrelange Aufreizung durch die gleiche vielleicht an sich geringfügige Angelegenheit nicht mehr ertragen und aus sich selbst heraus ohne Mithilfe der Beamten die Entscheidung getroffen. Natürlich ist kein Wunder geschehn und gewiss hat irgendein Beamter die Erledigung geschrieben oder eine ungeschriebene Entscheidung getroffen, jedenfalls aber kann wenigstens von uns aus, von hier aus, ja selbst vom Amt aus nicht festgestellt werden, welcher Beamte in diesem Fall entschieden hat und aus welchen Gründen. […] Nun sind wie gesagt gerade diese Entscheidungen meistens vortrefflich, störend an ihnen ist nur, dass man, wie es gewöhnlich die Sache mit sich bringt, von diesen Entscheidungen zu spät erfährt und daher inzwischen über längst entschiedene Angelegenheit noch immer leidenschaftlich berät. (S 109-110)
Der behördliche Apparat operiert also ungefähr im Ungefähren; er deckt sich mit der genannten atopischen Struktur. Und er durchtrennt darum die klare und vorhersehbare Verbindung von Grund und Entscheidung, Ursache und Wirkung und präsentiert sich als Ensemble von mehr oder weniger zufälligen Ereignissen. Entscheidungen entscheiden nichts oder verfehlen die anliegenden Fälle, und was tatsächlich passiert, zieht eine diskontinuierliche, sich im Unbestimmten verlierende Spur. Die Behörde verharrt in einer eigentümlichen Inaktualität und folgt dem Grundsatz eines unzureichenden Grunds. Mit einem Prinzip der Zweideutigkeit, mit Zweideutigkeit als Prinzip setzt sie auf die Differenz des Identischen und die Identität des Verschiedenen und gene-
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riert damit die entsprechende Weltlage im Schloss. Die beiden vom Schloss herkommenden Gehilfen etwa bleiben ununterscheidbar und erhalten einen einzigen Namen; und während ein einzelner Schlossbeamter »in der Vorstellung der Menschen leicht verschiedene Gestalten« (S 268) annimmt, so ähneln die verschiedenen Beamten umgekehrt ein und demselben Exemplar. Damit wird eine signifikante Unordnung der Dinge hergestellt. Wenn das Prinzip des zureichenden Grunds eine wechselseitige Zuordnung von Begriff und Sache verlangt, so erscheint gerade diese Zuordnung blockiert: mit einer Wucherung identischer Individuen oder mit einem Individuum, das mit allen anderen austauschbar ist. Das ergibt Wiederholungen, die differenzlos im Begriff bleiben müssen und darum nicht vorgestellt, nicht erinnert, nicht erkannt und nicht repräsentiert werden können. Ähnlichkeiten trügen, Unterschiede stiften Verwirrung.5 Mit diesen Merkmalen der Schlosswelt – Schwellenraum, Trugbilder und Indetermination – lässt sich noch einmal der Ort ermessen, den der ominöse Schlossberg in Kafkas Erzählung besetzt. Denn er muss nun als jener Topos verstanden werden, von dem aus sich die erzählte Welt derealisiert. Er versammelt ein Potential, das Verwirklichungen hemmt, Konkretisierungen verzeichnet, Anschauungen verwirrt, Bestimmungen aussetzt. Schloss und Schlossberg repräsentieren nicht massive Ordnungsgefüge, sie verhalten sich vielmehr als Aggregate des Möglichen und als Schauplatz entgrenzter Kontingenz. Von Anbeginn an wird mit ihrem Fehlen die Aussicht verstellt und mit ihrer topographischen Lage jede Ausrichtung desorientiert; sie verkörpern allenfalls eine unfertige, in die Schwebe versetzte Welt. Darum wird gerade von ihnen her Kafkas Erzähl- und Schreibweise definiert. Wie nämlich K. die Schwelle der »Holzbrücke« nicht wirklich verlässt, so operiert die Erzählung selbst im Übergang. Denn die Brücke des Beginns wäre nicht nur als Medium des Übertritts – ins Dorf, an den Schlossberg heran – zu verstehen. Sofern das metaphérein der Metapher »übertragen« oder »hinübertragen« meint, situiert sich die anfängliche Brücke auch als Metapher des Transports, als Metapher des metaphorischen Prozesses überhaupt – als Metapher der Metapher markiert sie zu Beginn des 5
Vgl. Gilles Deleuze: Differenz und Wiederholung, übers. v. Joseph Vogl, München: Fink 1992, 21-25.
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Textes einen Übertritt in die symbolische Ordnung des Schlosses, den sie zugleich unterbricht. Auf dieser Brücke richtet sich Kafkas Erzählung ein und nimmt den Weg einer produktiven Verirrung. Sie betreibt selbst eine fortlaufende Entscheidung zum Unentscheidbaren; ihr Fortgang gilt einem deaktualisierenden Akt. Und das wäre schließlich Kafkas Verfahren im Schloss: Es eröffnet einen Schwellenraum, in dem sich eine progressive Ent-Schöpfung und eine Auflösung fester Weltlagen vollzieht.
Kafkas Labyrinthe B ETTINE M ENKE
»Kafkas Labyrinthe« – das war der Titel, unter dem ich für die Tagung »Research Avenues into Franz Kafka’s Das Schloss« annonciert war, ein Arbeitstitel, der Erfüllung anzukündigen oder anzuweisen scheint, eine Anweisung, der nicht zu folgen, eine Erfüllung, die wegzuarbeiten ich mich im Folgenden bemühe. Labyrinthe sind Raum-Ordnungen,1 Architekturen der Zu-Gänge, Wege und Verschließungen, 2 wie sie in Hinsicht auf die verschiedenen architektonischen Modellierungen in Kafkas Texten,3 mindestens seit sie Gilles Deleuzes’ und Félix Guatta1
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Übrigens ist schon dies auch falsch, weil kaum auszumachen ist, was das Labyrinth ist oder war, vgl. den »Labyrinthos«-Artikel in Paulys Real-Encyclopädie der Classischen Altertumswissenschaft, 23. Halbband, Stuttgart: Metzler 1924, Sp. 312-326. Eine Ordnung im oder des Raume(s) wäre das Labyrinth auch als ein tänzerischer Vollzug oder als zu lesende Konstellation der Eingeweide, vgl. Gabriele Brandstetter: Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde, Frankfurt am Main: Fischer 1995, 319-324; vgl. Karl Kerényi: Labyrinth-Studien. Labyrinthos als Linienreflex einer mythologischen Idee [1940], 2. Aufl., Zürich: Rhein 1950, 38-40; Bettine Menke: »Lesarten des Labyrinths/Schemata des Lesens«, in: Christoph Hoffmann und Caroline Welsh (Hg.): Umwege des Lesens. Aus dem Labor der philologischen Neugierde, Berlin: Parerga 2006, 185-206. Vgl. etwa Joseph P. Stern und John J. White (Hg.): Paths and Labyrinths. Nine Papers from a Kafka Symposium, London: Humanities Press 1985. Vgl. zuletzt Gerhard Neumann: »Chinesische Mauer und Schacht von Babel. Franz Kafkas Architekturen«, in: DVjs 83 (2009), 452-471. »Innerhalb
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ris Kafka. Für eine kleine Literatur in den Fokus rückten,4 gedacht werden können. Es wird aber zu fragen sein, inwiefern und ob (überhaupt) die Topographie vom Schloss als Labyrinth erschlossen werden kann. Es gibt Texte Kafkas, etwa jener abgebrochene, den Max Brod Der Bau betitelte, der nicht nur mit dem vielleicht zu spitzfindigen »Eingangslabyrint« das Modell des Labyrinths zitiert,5 und zwar als Ausschluss nach außen wie als Einschluss nach innen, als dädalisches Werk usw., um dieses Modell und seine Voraussetzungen vielfältig auseinanderzusetzen: die Positionen des Ich und des Anderen, die unauflöslich aporetisch aufeinander angewiesen sind, das integrierende Werk, das keinen Abschluss findet, sich vielmehr gegen den vermeintlichen Bauherrn versperrt, den auszuschließenden Anderen, der doch immer schon innen überall war, usw.6 Markiert im Bau das Wort Labyrinth eine Stelle metatextueller Anweisung, an der der Text sich in/auf sich selbst doppelt, und manifestiert mit diesem die »potentielle Verwirrung von figurativer und referentieller Aussage«,7 so tritt das Labyrinth aber in Kafkas Das Schloss – was immer das ist und sein könnte – wörtlich gar nicht auf. Allerdings findet sich ein »Labyrint« auf jenen Blättern, die
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solcher Bauwerke [wie Beim Bau der chinesischen Mauer] sind es Labyrinthe, die den architekturalen Kern von Mauern, Höfen, Palästen, Ein- und Ausgängen sowie Freitreppen bilden, wie in der Sage von der Kaiserlichen Botschaft« (ebd., 463). Gilles Deleuze und Félix Guattari: Kafka. Für eine kleine Literatur, übers. v. Burkhart Kroeber, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976, bes. 100-111. Vgl. NSF II 587. Diesem Text Kafkas widmete sich denn auch die Tagung Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn an der FU Berlin, Mai 2011, um »Modellanalysen« bezüglich der »Anschlussfähigkeit und praktische[n] ›Anwendbarkeit‹ verschiedener Raumkonzepte« zu veranlassen. Hinsichtlich dieser will eine aktuelle Überblicksdarstellung geben u. a.: Wolfgang Hallet und Birgit Neumann (Hg.): Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn, Bielefeld: transcript 2009. Bettine Menke: Prosopopoiia. Stimme und Text, München: Fink 2000, 29135, bspw. 79-97. Paul De Man: »Rhetorik der Tropen«, in: Allegorien des Lesens, übers. v. Werner Hamacher, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988, 160; vgl. Menke, Prosopopoiia, s. Anm. 6, 45-75, 126-135.
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Kafka zu den sogenannten Schloss-Heften zusammenstellte, anders: »verkehrt« (herum) – und wie viele andere Stücke nicht in den Romantext, der nicht einer und nicht ganz ist, integriert:8 Wo ist F.? Ich habe ihn schon lange nicht gesehn. F? Sie wissen nicht, wo F. ist? F. ist in einem Labyrint, er wird wohl kaum mehr herauskommen. F? [F] Unser F? F. mit dem Vollbart? Ebender. I(m>n) einem Labyrint? Ja. (S App. 36)
Ist F. (wie K.?) am Orte des Minotauros, der dann nicht von Theseus getötet und vor das Labyrinth geschleppt wurde? Oder »in einem Labyrint« als ein gescheiterter Theseus? Oder wie Dädalos? Der demnach nicht nur (wie bei Ovid) »kaum mehr« seines Bauwerks Schwelle wiederfand,9 sondern »wohl kaum« aus ihm heraus-finden würde. 8
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Schloss-Heft I, Bl. 14v., Rückseite des letzten von 14 zusammen aus einem anderen Heft ausgerissenen und eingelegten Blättern (vor S 53 Bl 21r.; vgl. NSF II App. 97, Zuordnung zu S 35, Z. 25-37, Z. 8). Sie werden eingeordnet als »drei kurze, mit dem Romantext inhaltlich nicht zusammenhängende, offenbar früher niedergeschriebene Texte; im Verhältnis zur Romanniederschrift kopfstehende Beschriftung« (S App. 35f.). Die sogenannten Fragmente sind in der KKA an anderer Stelle veröffentlicht, in: NSF II 363f.; vgl. Kommentar von Jost Schillemeit mit Spekulationen zur Entstehung NSF II App. 96-99; zum »Irrwege«-Geduldspiel vgl. auch NSF II 414f., NSF II App. 109 und S App. 57. Dass der »Labyrint«-Eintrag keineswegs geschrieben worden sein musste, bevor der Text auf Bl. 14v. angekommen war, dass tatsächlich Kafka später diese Eintragung in der freien Fläche auf 14v. vorgenommen haben kann, nachdem der Text schon viel weiter fortgeschritten war und für den Autor womöglich die Anmutung eines Labyrinths angenommen hatte, darauf hat mich Malte Kleinwort hingewiesen; zu Fehleinschätzungen bezüglich der Einordnung von Aufzeichnungen in der KKA, vgl. Malte Kleinwort: Kafkas Verfahren. Literatur, Individuum und Gesellschaft im Umkreis von Kafkas Briefen an Milena, Würzburg: K&N 2004, 111; sowie auch dessen Beitrag im vorliegenden Band (96). »[S]o füllt der Meister mit Irrnis all die unzähligen Gänge [innumeras errore vias]. Er selbst vermochte die Schwelle [limen] kaum mehr zu finden«
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Kafkas Labyrinthe sind, wenn seine Texte denn solche wären, keine Labyrinthe in einem traditionellen Sinne. Und dennoch ist das Labyrinth als räumliche Ordnung geeignet, Kafkas Texte, ihre Architekturen und Architexturen, ihre Gänge und Fluchten zu diskutieren.10 Denn die kafkaschen Ausprägungen des Aufschubs, des Zögerns oder Zauderns legen nahe,11 das Labyrinth und seine Konzepte für diese heranzuziehen, um sie allerdings nicht (nur) in Anspruch zu nehmen, sondern sie vielmehr in ihrer Reichweite, hier: anhand des Schlosses, zu diskutieren. Wie andere ziehe ich, der Einfachheit halber, zunächst, aber nur vorübergehend, Umberto Ecos bekannte Typologie der Labyrinth-Formen bei.12 Als dessen ersten Typus bestimmt Eco das Einweg-Labyrinth wie folgt: »[W]enn man das klassische Labyrinth auseinanderzieht, hat man einen Faden in der Hand, den Faden der Ariadne«; und: »In diesem Labyrinth kann sich niemand verirren«.13 Aber auch der eine Weg im klassischen Labyrinth ist keineswegs der gestraffte lineare Faden, sondern dieser zieht, vom Knäuel der Ariadne abgespult und ausgelegt, die Wege des Labyrinths (nach), und er bildet dieses sogar durch die vielfältigen Faltungen und Wendungen, die er choreographiert.14 Diese sind Um-Wege der Verzögerung und der Verwirrung.
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(Publius Ovidius Naso: Metamorphosen, lateinisch-deutsch, übers. v. Erich Rösch, hg. Niclas Holzberg, Zürich, Düsseldorf: Artemis & Winkler 1996, 8. Buch, Vs. 161-163). Vgl. in dieser Hinsicht die Beiträge von Gerhard Neumann und Joseph Vogl im vorliegenden Band. Das Zögern (dazwischen) kennzeichnet Paul Valéry zufolge die Poesie (auf der/als Schwelle); Über das Zaudern handelt Joseph Vogl (Zürich, Berlin: diaphanes 2007). Umberto Eco: Nachschrift zum ›Namen der Rose‹, übers. v. Burkhart Kroeber, München, Wien: Hanser 1984, 64-66; vgl. Vogl, Über das Zaudern, s. Anm. 11, 84-86. »Das klassische Labyrinth ist der Ariadne-Faden seiner selbst« (Eco, Nachschrift zum ›Namen der Rose‹, s. Anm. 12, 65); für die Unterscheidung des angeblich ursprünglichen ersten von den späteren Irrgängen vgl. Hermann Kern: Labyrinthe. Erscheinungsformen und Deutungen. 5000 Jahre Gegenwart eines Urbilds [1982], München: Prestel 1999, hier: 13. So ist der tänzerische Vollzug, nicht nur als eine Nach-, sondern auch als die Vorstellung des Labyrinths (überhaupt) aufzufassen. Jede Wiederholung
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Labyrinthische Anordnungen suchen die möglichst unendliche Verlängerung des Weges durch dessen Faltungen auf engstem Raume, und erzeugen im Hin und Her der Bewegungen Desorientierung im Raume, wie sie der ovidsche Dädalus in seinem Labyrinth erfährt: Wie der phrygische Maeander mit seinen klaren Wellen spielt [in undis ludit] und in zweideutigem Lauf [ambiguo lapsu] hin- und herfließt [refluitque fluitque], sich selbst begegnend die kommenden Wellen erblickt und bald zur Quelle, bald zum offenen Meer hin seinen unsteten Wasserlauf lenkt [incertas exercet acquas], so füllt Daedalus unzählige Wege mit Irrsal [innumeras errore vias] – kaum konnte er selbst zur Schwelle [limen] zurückfinden; so trügerisch ist das Bauwerk! 15
Umwegig, aufschiebend, verzögernd irritieren die Gänge die bestimmende Bezogenheit von Wegen auf ihr Ende, Ziel (telos) oder ihre Grenze (limen). Diese Labyrinth-Figur zitiert Kafkas Bau mit seinen Zickzack-Wegen – »ich habe dort ein kleines tolles Zickzackwerk von Gängen angelegt«, einen »Labyrintbau«, der »mir damals die Krone aller Bauten schien«, der »in Wirklichkeit aber eine viel zu dünnwandige Spielerei darstellt« (NSF II 586f.)16 – und im Hin-und-her-Laufen der Gedanken-Gänge. Die »frappante Ausführlichkeit« der Überlegungen oder Grübeleien (wie Grabungen), deren »Sinn«, so Walter Benjamin,
(auch die von Labyrinth-Weg und -Faden) doppelt und spaltet (in sich selbst). 15 Ovid, Metamorphosen, s. Anm. 9, 8. Buch, Vs. 161ff. 16 Zum einen gibt es den Vorbehalt des Bau-Herrn gegenüber diesem Anfang: »den ich aber heute wahrscheinlich richtiger als allzu kleinliche, des Gesamtbaues nicht recht würdige Bastelei beurteile« (NSF II 586f.); zum anderen belegt ein Notat aus dem Umkreis zum Bau den Zusammenhang von »Etwas Baumeistermässige[m]« und dem Labyrinth: »schon als Kind zeichnete ich Zick-zack- und Labyrinthpläne in den Sand und eilte im Geiste auf weichen Pfoten über die [schönen stillen Wege] hin« (NSF II App. 430, Einfügung in eckigen Klammern stammt aus dem Apparatband, Anm. d. Hg.); vgl. Neumann, »Chinesische Mauer und Schacht von Babel«, s. Anm. 3, 466-468).
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»Verzögerung« sei, macht die Labyrinthik des Textes aus.17 Die, Maurice Blanchot zufolge, »endlosen Mäander der Reflexion«, die Kafkas Texte vorstellen,18 weisen die labyrinthische Organisiertheit als eine Arabeske aus, die aber nicht die Zutat zu einer zentralen mimetischen Darstellung abgibt. Diesem ersten Labyrinth-Modell entsprechend »führte« in Kafkas Schloss der Weg »nicht zum Schlossberg«, die Straße führte nur nahe heran, dann aber wie absichtlich bog sie ab und wenn sie sich auch vom Schloss nicht entfernte, so kam sie ihm doch auch nicht näher. Immer erwartete K., dass nun endlich die Strasse zum Schloss einlenken müsse[.] (S 21)19
Derart nimmt das Dorf »kein Ende« (S 21). – Das muss jede Suche nach (Forschungs-)Wegen ins Schloss auf der Rechnung haben. Wenn dies nicht näher Kommen auf Dauer gestellt, end-los bliebe, dann handelt es sich um kein klassisches Labyrinth, das durch die Bezogenheit auf ein Ende, Zentrum und Ausgang bestimmt wäre. So ein-wegig es sein mag, ist aber doch auch das klassische Labyrinth nicht die Anweisung auf die Sukzession der Abfolge am Faden, sondern es vollzieht mit seinen Knitterungen und Faltungen vielfältige Wendungen, Umbrüche, Diskontinuitäten. Die vermeintliche Kontinui17 Walter Benjamin: »Franz Kafka: Beim Bau der Chinesischen Mauer«, in:
Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. II.2, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974, 676-683, hier: 679. 18 Maurice Blanchot: Von Kafka zu Kafka, übers. v. Elsbeth Dangel, Frankfurt am Main: Fischer 1993, 56. 19 Dieses Modell ist auch in Kafkas Bestimmung der Unfreiheit des Wegs durch die Wüste – Jorge Luis Borges zufolge ein anderes Labyrinth (vgl. Los dos reyes y los dos laberintos [1949], in: El Aleph, Buenos Aires: Emecé 1996, 215-216) – zu erkennen: »Dein Wille ist frei heisst: er war frei, als er die Wüste wollte | er ist frei, da er den Weg zu ihrer Durchquerung wählen kann, […] er ist aber auch unfrei, […] da jeder Weg labyrintisch jedes [Stück] Fußbreit Wüste berührt« (NSF II App. 231, Einfügung in eckigen Klammern stammt aus dem Apparatband, Anm. d. Hg.). Eine der durchprobierten Varianten zu jenem Notat fasst die Wüste als »Leben« (vgl. NSF II 94f.).
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tät der Abfolge ist mit der Wendung, die die Linie eng sich faltend nimmt, bestimmt als Gleichzeitigkeit von Vorwärtsbewegung und Unterbrechung.20 J. Hillis Miller macht diese Wendung (in) der Linie aus: »In this turning it subverts its own linearity and becomes repetition […]; repetition is what disturbs, suspends, or destroys the linearity of the line«.21 In der Wiederholung falten sich eine Differenz und eine Identität aufeinander, das ist, wie Jacques Derrida bemerkt, das Gesetz aller textuellen Effekte.22 Jede Linie hat »slightly asymmetrical echoes«,23 in denen sie sich unheimlich doppelt und von sich ohne identifizierbare Unterschiede differiert. So haben die mythischen Labyrinth-Erzählungen ihre Wiederholungen, doppeln sie sich, in sich unabgeschlossen, in anderen, falten sich in sich selbst und aufeinander – ohne ein abschließendes Ende.24 Derart ist die Textur oder das Netz bereits im Faden angelegt, in Ariadne echot Arachne, die Weberin,25 und insofern ist die Scheidung der Labyrinth-Typen unhaltbar, die insbesondere ein vermeintlich ursprüngliches Einweg-Labyrinth von den vermeintlich erst später sich hinzufügenden Wirrnissen des auf ein bloßes spätes Missverständnis der Labyrinthe zurückgehenden Irrgang-Labyrinthes scheiden und damit vor diesen bewahren will.26 20 So Brandstetter, Tanz-Lektüren, s. Anm. 1, 326. 21 J. Hillis Miller: »Ariadne’s Thread. Repetition and the Narrative Line«, in:
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Critical Inquiry 3 (1976), 57-77, hier: 68 und 70. »[T]he image of the line« »tends to be logocentric, monological«, aber »[it] subverts itself by becoming ›complex‹ – knotted, repetitive, doubled, broken, phantasmal« (ebd., 68f.). Jacques Derrida: »La double séance«, in: La dissémination, Paris: Éd. du Seuil 1972, 199-317, hier: 309; dt.: Dissemination, übers. v. Hans Dieter Gondek, Wien: Passagen 1995, 311. Miller, »Ariadne’s Thread«, s. Anm. 21, 62. Die Erzählung »has to be traced and retraced, thread over thread in the labyrinth, without ever becoming wholly perspicuous« (ebd., 65). Es handelt sich um die Erzähl-Linien von Minos, Pasiphae, Minotauros, Daidalos, Theseus, Ariadne, Dionysos, Aphrodite, Phädra, Perdix und weiteren. Miller, »Ariadne’s Thread«, s. Anm. 21, 66; vgl. ebd., 62. Vgl. Kern, Labyrinthe, s. Anm. 13, 13, 18 und öfter; dagegen werden die Augen von Dädalos in seinem Labyrinth »durch die verschiedensten gewundenen Umwege [wie »in zweideutigem Gleiten« des Mäander] in die
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Wie im Bau-Fragment die Gedanken-Gänge des grübelnden Tiers, die die Architektur auch demontieren und die die bauherrliche Instanz, die sie installieren, auch disseminieren, so sind auch im Schloss die Argumentationsgänge, die das Schloss, die Verbindungen zu diesem und deren Un-/Zugänglichkeiten erkunden,27 labyrinthisch in einem genauen Sinne, so etwa die K.’s, wenn er der Wirtin des Brückenhofes, die Bescheid zu wissen sich anmaßt, entgegnet: Denn Sie irren gewiss auch, wenn Sie glauben, dass Frieda von dem Augenblick an, wo ich auftrat, für Klamm bedeutungslos geworden ist. […] Durch mich kann in Klamms Beziehung zu Frieda nichts geändert worden sein. Entweder bestand keine wesentliche Beziehung – das sagen eigentlich diejenigen welche Frieda den Ehrennamen Geliebte nehmen – nun dann besteht sie auch heute nicht, oder aber sie bestand, wie könnte sie dann durch mich, wie Sie richtig sagten, ein Nichts in Klamms Augen, wie könnte sie dann durch mich gestört sein. (S 83)
Wenn K. derart, und immer wieder, der Undurchdringlichkeit des unbekannten Terrains durch Unterscheidungen beizukommen sucht, dann entwirft und exploriert sein Argumentationsgang (zunächst) ein Labyrinth des zweiten von Eco aufgeführten Typus, das »barock-manieristische Labyrinth, der Irrgarten« der Y-Gabelungen oder X-Kreuzungen. Wie solche »Kreuz- und Quergänge« des Baus so literal wie grübelnd Irre« geführt (Ovid, Metamorphosen, s. Anm. 9, 8. Buch, Vs. 161-163); nach einer anderen Version der Geschichte finden sich zuerst exzentrische Mäander-Ornamente und -Texturen, denen die sogenannte eigentliche Labyrinthform entstamme (Richard Eilmann: Labyrinthos. Ein Beitrag zur Geschichte einer Vorstellung und eines Ornaments, Athen: Hestia 1931). Gegen die Verfallsgeschichte vgl. ausführlich Menke, »Lesarten des Labyrinths/Schemata des Lesens«, s. Anm. 1, 200-205. 27 »Jede Information über die Funktionsweise der Behörde ist vielleicht auch oder nur ein Stück Schloss-Mythos; alle Andeutungen über den Daseinsgrund des Schlosses sind vielleicht nur oder auch Hinweise zum bloßen Überleben in ihr« (Rüdiger Campe: »Kafkas Institutionenroman. ›Der Proceß‹, ›Das Schloss‹«, in: ders. und Michael Niehaus [Hg]: Gesetz. Ironie: Festschrift für Manfred Schneider, Heidelberg: Synchron Wissenschaftsverlag der Autoren 2004, 197-208, hier: 207).
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unaufhörlich durchlaufen werden (NSF II 584), so wird im Schloss die »Briefgeschichte« »kreuz und quer« immer wieder durchgenommen (S 330) »endlos« (S 363). Wenn man, so Eco, das Irrgarten-Labyrinth »auseinanderzieht«, »erhält man eine Art Baum, ein Gebilde mit zahlreichen Ästen und Zweigen aus toten Seitengängen. Es hat einen Ausgang, aber der ist nicht leicht zu finden. Man braucht einen Faden der Ariadne, um sich nicht zu verirren. Dieses Labyrinth ist ein Modell des trial-and-error-Verfahrens.«28 Die zitierte Argumentation K.’s entwirft nun zwar mit der Gabelung entweder-oder ein solches Baum-Schema der Entscheidungen, aber die vermeintlich sich aufgabelnden Alternativen sind verschiedene Modi derselben Unmöglichkeit, »dass Frieda […] für Klamm bedeutungslos geworden ist«, sie machen keinen Unterschied und eröffnen keine Ent-Scheidung. Es muss hier nicht nur nicht entschieden werden, sondern es ist hier gar nichts zu entscheiden, denn umgekehrt ist, was ist, in sich selbst unentscheidbar gedoppelt/gespalten, das Wirkliche bekommt die Modalität des »sei es … sei es«, das es »als Zwischenraum artikuliert« (so Joseph Vogl).29 Wo keine distinktive Unterschiedenheit gegeben ist, differiert potentiell jeder Punkt unentscheidbar von/in sich selbst. Der Garten, in dem die Pfade sich verzweigen (se bifurcan), ist, wie Jorge Luis Borges vorstellt, der Raum der Gleichzeitigkeit aller sich gabelnder Möglichkeiten (hier auch der Unmöglichkeiten),30 die jede Wirklichkeit – als Vorbehalt gegen diese – begleiten und aushöhlen.31 Denn dieser Raum untersteht nicht der von 28 Eco, Nachschrift zum ›Namen der Rose‹, s. Anm. 12, 64f.; William H.
Matthews analysierte die Wegenetze Hampton Court und Hatfield House durch deren Darstellung als »straight-line diagram« von Abzweigen, Sackgassen und Loops (Mazes and Labyrinths, London und weitere: Longmans, Green 1922, 187); als Entscheidungs-Baum oder Graph ist es Gegenstand der Mathematik. 29 Vogl, Über das Zaudern, s. Anm. 11, 77f. und 107 (mit S 87). 30 Jorge Luis Borges: El jardín de senderos que se bifurcan [1944], in: Ficciones, Madrid: Alianza Editorial 1995, 11-116; vgl. Gilles Deleuze: Die Falte. Leibniz und der Barock [1988], Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000, 102-105. 31 K. muss auch die Unmöglichkeiten ins Kalkül ziehen: »Wenn es, wie Sie sagen, für mich unmöglich ist, mit Klamm zu sprechen, so werde ich es eben nicht erreichen, ob man mich bittet oder nicht. Wenn es aber doch
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Eco, der von »Zweigen aus toten Seitengängen« weiß, unterstellten Hierarchie; vielmehr ist jedes (jeweilige) Wirkliche an deren Hintergrund der ausgeschlossenen Möglichkeiten verwiesen, und differiert derart von sich selbst. Ich weiß nicht ob in Ihrem Fall eine solche Entscheidung ergangen ist – manches spricht dafür, manches dagegen – wenn es aber geschehen wäre, so wäre die Berufung an Sie geschickt worden und Sie hätten die grosse Reise hierher gemacht, viel Zeit wäre dabei vergangen und inzwischen hätte noch immer Sordini hier in der gleichen Sache bis zur Erschöpfung gearbeitet, Brunswick intrigiert und ich wäre von beiden gequält worden. Diese Möglichkeit deute ich nur an. (S 110f.)
Derart wird die Wirklichkeit, die bereits eingetreten ist und insofern abgeschlossen wäre, gar nicht über die kontingenten Möglichkeiten (gemäß der Entgegensetzung von Weg und Abweg) entschieden haben. Sie ist vielmehr im Modus des Konditional II, »wenn es aber geschehen wäre«, »suspendiert«.32 Nach dem Labyrinth-Modell des sogenannten Irrgartens, der der Hierarchie von Weg und Ziel, von Sackgasse und Zielführung untersteht und diese umgekehrt aus- und vorführt, entspricht die Lösung des Rätsels, das das Irrgang-Labyrinth zu stellen scheint, dem UmwegeModell, das schon durch das klassische Labyrinth oder als eine Organisation des Verzögerns, des Aufschubs der Ankunft realisiert ist. Das möglich sein sollte, warum soll ich es dann nicht tun, besonders da dann mit dem Wegfall Ihres Haupteinwandes auch Ihre weiteren Befürchtungen sehr fraglich werden. Freilich unwissend bin ich, die Wahrheit bleibt jedenfalls bestehn und das ist sehr traurig für mich, aber es hat doch auch den Vorteil, dass der Unwissende mehr wagt […]. Diese Folgen [der Unwissenheit] treffen aber doch im Wesentlichen nur mich […]. Was fürchten Sie also?« (S 91) Es folgen Neuaufnahmen und Verschiebungen. 32 Insofern wird eine größere Reichweite absehbar für den von Rainer Nägele der Eingangsformel zu Kafkas Ein altes Blatt (»Es ist als wäre«) abgelesenen Befund: »das ›ist‹, das im ›wäre‹ suspendiert […] scheint« (»Es ist als wäre. Zur Seinsweise eines alten Blattes«, in: Isolde Schiffermüller und Elmar Locher [Hg.]: Franz Kafka: Ein Landarzt. Interpretationen, Bozen: Edition Sturzflüge 2004, 61-72, hier: 65).
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Rätsel der Irrgänge ist durch das Regeln oder Algorithmen folgende Abschreiten (notfalls) aller Wege zum Zentrum oder Ausgang prinzipiell immer lösbar.33 Verfahren weisen einen (möglicherweise) uneleganten, da langwierigen, im Versuch viele Fehlgänge begehenden, aus ihnen zurückkehrenden, in wiederholten Versuchen und Revisionen des Irrgehens sich verlängernden, allenfalls einem möglichen Zeitproblem erliegenden Weg zum Auffinden des Zentrums oder Ausgangs. Trial-and- error – als Lösungsweg – setzt allerdings voraus, dass jeweils im Irrweg als »totem Seitengang« um- und »zum Ausgangspunkt« zurückgekehrt werden kann. Das nimmt sich bei Kafka aber (zuweilen) anders aus,34 so etwa in den Forschungen eines Hundes, einem jener kürzeren Texte, die Kafka, den Schloss-Roman abbrechend, an dessen Stelle und als dessen Supplement schrieb: Aber auch das Zögern unserer Urväter glaube ich zu verstehen, […]. Als unsere Urväter abirrten, dachten sie wohl kaum an ein endloses Irren, sie sahen ja förmlich noch den Kreuzweg, es war leicht wann immer zurückzukehren und wenn sie zurückzukehren zögerten, so nur deshalb, weil sie noch eine kurze Zeit sich des Hundelebens freuen wollten, es war noch gar kein eigentliches Hundeleben und schon schien es ihnen berauschend schön, wie musste es erst später werden, wenigstens noch ein kleines 33 Vgl. die in Labyrinth-Erkundungen lösenden Algorithmen des Fernmelde-
technikers Charles Pierre Trémaux (1886) und des Mathematikers Gaston Tarry; Eco übernahm es für die Detektive im Bibliothekslabyrinth (Der Name der Rose, München: dtv 1983, 223f.); vgl. Peter Berz: »das labyrinth – spiel des wissens«, in: Bodo-Michael Baumuk und Margret KampmeyerKäding (Hg.): 7 Hügel. Bilder und Zeichen des 21. Jahrhunderts, VII: träumen. Sinne, Spiele, Leidenschaften: Über die subjektive Seite der Vernunft, Berlin: Henschel und Berliner Festspiele GmbH 2000, 112-114, hier: 113f.; ders.: »Bau Ort Weg. Mediengeschichte des Labyrinths«, in: Programm und Umgebung. Zwölf Studien zur historischen Medientheorie, Habilitationsschrift an der Humboldt-Universität zu Berlin 2006, 191-230, hier: 214222 und 228f. 34 Vgl. auch die Struktur und »Bauart« der die »winzige Oase« ganz ausfüllenden »allerdings riesenhaft[en]« »Karawanserei«: »Es war für einen Fremden, so schien es mir wenigstens, unmöglich sich dort zurechtzufinden« (NSF II 355).
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Weilchen später und so irrten sie weiter. Sie wussten nicht, […] dass sie, als sie das Hundeleben zu freuen begann, schon eine recht althündische Seele haben mussten und schon gar nicht mehr so nahe dem Ausgangspunkt waren, wie es ihnen schien oder wie ihr in allen Hundefreuden schwelgendes Auge sie glauben machen wollte. (NSF II 456f.)
Die »Abirrung«, Eco zufolge, ein »toter Seitengang«, ist, um der »Hundefreuden« willen, derart zum Verzögern einer Rückkehr zum »Kreuzweg« geworden, dass der supponierte »Ausgangspunkt« vor dem Abzweig ins »Hundeleben« gar nicht mehr einnehmbar wäre: »[A]ls sie das Hundeleben zu freuen begann«, mussten sie »schon eine recht althündische Seele haben« (ebd., Herv. d. Verf.). Es handelt sich um das »endlose Irren«, das das ganz un-melancholische Sich-Freuen am »Hundeleben« ist. Umgekehrt kann man sich im Irrgarten der Scheidewege gar nicht verlieren, weil es Verfahren gibt, nach deren Vorschrift man immer (irgendwann) aus dem Labyrinth herausfinden wird, denn für dieses gilt, so Christoph Hoffmann, dass die jeweilige Struktur unverändert bleibt, oder anders: solange die Struktur stabil bleibt und damit endlich ist.35 Das ist im Schloss nicht der Fall. Wenn jedes Kalkül möglicher Fälle beantwortet werden kann: »Es gibt noch andere Möglichkeiten, viel wahrscheinlichere«, »dass er z. B. Sie stehn lässt und weggeht« (S App. 225),36 so vervielfältigt das nicht nur die Knoten und Scheidewege. Vielmehr wird dadurch, dass die Problemlage sich ständig verän35 Christoph Hoffmann (per Email im August 2004): »Das Labyrinth schafft
nur den Anschein eines Verirrens. Dagegen in der Wüste, auf See, fehlt diese feste Struktur«; oder: »im Labyrinth verirrt man sich, in der Wüste verliert man sich«. 36 Das ist die Entgegnung der Wirtin auf K.’s Argumentation: »Für seine Antwort aber gibt es 3 Möglichkeiten, entweder wird er sagen: ›Es war nicht mein Wille‹ oder ›es war mein Wille‹ oder er wird schweigen. Die erste Möglichkeit schliesse ich vorläufig aus der Überlegung aus, zum Teil auch aus Rücksicht auf Sie, das Schweigen aber würde ich als Zustimmung deuten« (S App. 225, bezogen auf S 137, Zeile 13). Die Trifurkation der Möglichkeiten wurde durch Dezision »vorläufig« reduziert, von den verbleibenden beiden wird die dritte auf die zweite zurückgeführt.
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dert haben wird, »der vermeintliche Irrgarten eine immer neue Struktur« annimmt (Hoffmann), die Auflösung ins Endlose aufgeschoben.37 Dann aber handelt es sich nicht mehr um das Labyrinth (des zweiten Typus), für das Regularien des trial-and-error den Lösungsweg angeben. Die dritte und letzte der Labyrinth-Formen ist Eco zufolge das Netz oder mit dem Begriff von Deleuze/Guattari das Rhizom. Das »RhizomLabyrinth«, so Eco, lässt als vieldimensionale Vernetzung die Anordnung von Zentrum und Peripherie, die geregelte Relation von Aufschub und Ankunft, die sowohl das klassische als auch das Irrgarten-Labyrinth ausmacht, zurück.38 Es hat keinen Eingang und keinen Ausgang,39 kein abgeschiedenes Innen und kein Außen. Das Netz oder Rhizom ist zum einen die überbietende Realisierung des Labyrinths, das (so Deleuze) »etymologisch« »vielfältig« ist, »weil es viele Falten hat«, 40 – zum anderen aber Anti-Labyrinth,41 weil es die alle Labyrinthe organisierenden Gegensätze, die hierarchisierenden Oppositionen von Weg und Ziel, von Aufschub und Ankunft, Zentrum und Rand, von Innenraum und Ausgang, aussetzt und an die vervielfachten dezentrierten Verkettungen aller Wege suspendiert.
37 »[E]in Aufschub der Auflösung trat ein, weil der vermeintliche Irrgarten
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eine immer neue Struktur annahm; vom Hundertsten aufs Tausendste, ein gelöstes Problem bringt zugleich das nächste hervor«; »die Sache wird nicht unlösbar, aber endlos; etwas, das als klar umrissenes Unternehmen beginnt, explodiert im Verlauf der Untersuchung und erlaubt keine Schließung mehr (nur noch den – vernünftig begründeten – Abbruch). Das ›Labyrinth‹ gibt demgegenüber ein gnädiges Bild: Ich durchlaufe die ganze schwierige Arbeit, aber die Arbeit ist (nach und nach) überschaubar (besitzt eine feste Struktur) und vor allem zu bewältigen (gleich einer Prüfung)« (Hoffmann, s. Anm. 35). Eco, Nachschrift zum ›Namen der Rose‹, s. Anm. 12, 64f. Ebd. Deleuze, Die Falte, s. Anm. 30, 11, vgl. S 197 und 53f. Wie die Wüste (vgl. Borges, Los dos reyes y los dos laberintos, s. Anm. 19; deutsch: Die zwei Könige und die zwei Labyrinthe, in: Das Aleph, übers. v. Karl August Horst und Gisbert Haefs, Frankfurt am Main: Fischer 1992, 117f.).
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Die die klassischen und barocken Labyrinthe bestimmenden Oppositionen können als Relation von Horizontalität und Vertikalität reformuliert werden. Die horizontale Ausformulierung des Labyrinths als einer Choreo-Graphie wird durch dessen Zentrierung durch das Monster oder durch das Entkommen, das Heil, vertikalisiert. Das doppelt sich in der architektonischen Ausführung als Türme, die das zu erreichende Zentrum einer Labyrinth-Anlage markieren konnten und jenen Aussichtspunkt boten, von dem her die Anordnung der (Irr-)Wege in den Überblick, den das Begehen der Wege aussichtslos ausschloss, zu nehmen war. Aus dieser Perspektive wird der Blick, der versuchte, der Linie in den Verflechtungen nachvollziehend zu folgen, auch beim Mäander-Labyrinth vor allem auf die Ornamentik und die Schwierigkeit des Linienwerks treffen, aber nicht am zentralen Ort deren Lösung finden. 42 Das Labyrinth ist eine Figur des Lesens; es stellt eine Lesefrage nicht nur als Figur des Rätsels und der Verschlossenheit, sondern als ein Gewebe, das den Blick ans Ornament als Figur in der Fläche, und damit an die Verflechtungs-Oberfläche bindet, in der Figuren sich abzeichnen, 43 der der Sinn impliziert ist und nicht ihr Jenseits oder Ausgang.44 Viel42 Auch nicht im Flug als der Flucht des Daidalos (Joseph Leo Körner: Die
Suche nach dem Labyrinth. Der Mythos von Dädalus und Ikarus, übers. v. Lore Brüggemann, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983, 41), da diese keine endgültige war, er vielmehr wiederholend von Minos, durch Spiralgänge und sich windende Fäden wieder eingeholt wird. 43 Vgl. die »Verkettungen« Leonardo da Vincis, »fantasia di vinci«, »a regular design of a series of knots«, Labyrinth-Studien und Teil seiner Beschäftigung mit Geheimschriften, Ananda K. Coomaraswamy: »The Iconography of Dürer’s ›Knots‹ and Leonardo’s Concatenation«, in: The Art Quaterly 7 (1944), 109-128, hier: 109f., 113-116; Gustav R. Hocke: Die Welt als Labyrinth. Manier und Manie in der europäischen Kunst, Hamburg: Rowohlt 1968, 98-100; Abb. 109 und weitere. Auch barocke Labyrinth-Figurengedichte schreiben eine erschwerte Leselinie vor und behaupten sich zugleich als Flächenfigur; vgl. Kern, Labyrinthe, s. Anm. 13, 284 (Abb. 356) und 309-318; Jeremy Adler und Ulrich Ernst: Text als Figur. Visuelle Poesie von der Antike bis zur Moderne, 2. Aufl., Weinheim: VCH Verlagsgesellschaft mbH 1988, 169-173. 44 Leonardo da Vincis Verflechtungen stellen die Welten-Verknotung vor; und mag auch eine Lösung aus den Knoten gesucht werden, so handelt es sich
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mehr vervielfacht ein Labyrinth die Modi des Lesens oder Sehens: als Ornament oder Arabeske, als Spur, lineare Anweisung, Grundriss, Flächenfigur, als Choreo-Graphie, die vollzogen sein will, als Kenn- oder Gedächtnis-Zeichen usw.,45 und hält die Unentscheidbarkeit der Hinsichten oder deren Vexationen. Wie einerseits die oppositive und hierarchische Struktur des klassischen und des Irr-Labyrinths in der Relation von horizontaler Anordnung (Mauern oder Bewegungen) und Turm dargestellt werden konnte, so gehört andererseits umgekehrt der Ikonographie des Babel-Turmbaus Labyrinthisches an (so im Gemälde Pieter Bruegels des Älteren als dessen Spiralanlage und deren Un-Vollendung und/oder Zerfall). Kafkas Texte Das Stadtwappen und Beim Bau der Chinesischen Mauer halten Mauer und Babel-Turm als Projekte der Konstitution von Einheit zusammen, die sie verschieden modellieren: als Ausschluss nach außen, der durch die Mauer dargestellt wird, und des Abschlusses, der im Innern statthabe, der im Turm wie im einen Namen sich her- und darstellen sollte. Die Texte vollziehen eine Art Umlegung des Turms als der vertikalen Ausrichtung der Zentrierung beziehungsweise der Fundierung jener Einheit, für die der Babel-Turm steht, die er konstituieren und manifestieren sollte, in horizontale Bahnen.46 So etwas zeichnet sich in Kafkas Schloss bereits anfänglich, beim (durch die Schneeauflage, die die Kontur nachzieht, »noch verdeutlicht[en]«) »Anblick des Schlosses« ab, das »eine ausgedehnte Anlage« heißt: »hätte man nicht gewusst dass es ein Schloss ist, hätte man es für ein Städtchen halten können« (S 16f.); und »es war«, wie es dann heißt, »doch nur ein recht doch um »an omnipresent thread, immanent and transcendent« (Coomaraswamy, »The Iconography of Dürer’s ›Knots‹ and Leonardo’s Concatenation«, s. Anm. 43, 117): »content and shape are indivisible« (ebd., 120f.). 45 Vgl. die bereits alten Diskussionen in »Labyrinthos«, Paulys Real-Encyclopädie, s. Anm. 1, Sp. 316f; Kerény, Labyrinth-Studien, s. Anm. 1, 55; Körner, Die Suche nach dem Labyrinth, s. Anm. 42, 82; Eilmann, Labyrinthos, s. Anm. 26, 59-65. 46 Für die genaue Lektüre anstelle dieser sehr abgekürzten Formulierung vgl. Bettine Menke: »… beim babylonischen Turmbau«, in: Hansjörg Bay und Christof Hamann (Hg.): Odradeks Lachen. Fremdheit bei Kafka, Freiburg im Breisgau: Rombach 2006, 89-114 (mit weiterer Literatur).
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elendes Städtchen, aus Dorfhäusern zusammengetragen« (S 17).47 Derart greift die vermeintliche Peripherie des Schlosses über und usurpiert das vermeintliche Zentrum, durch das sie (als Peripherie) bestimmt und strukturiert wäre. Einerseits ist das Schloss dadurch entzogen, andererseits heißt es, »dass man im Dorf bereits im Schloss sei« (S 8),48 und umgekehrt ist unklar, wo »das Schloss« (S 16) und ob man »im Schloss« (S 8) als der horizontalen Anordnung der Kanzleien und der Barrieren im Schloss wäre. Statt der Grenze wird, mit den Worten Walter Benjamins, eine »Zone« oder »Schwelle«,49 oder ein »Schwellenraum, eine Grenze, die sich weitet und die man nicht übertritt«, so Joseph Vogl, organisiert.50 Die Topographie von Innen und Außen, die 47 »Nur solange das Schloss sich den Blicken entzog, war es Emblem des Zen-
trums der Macht. [vgl. S 7] Als sichtbarer Bau ist es nur das, wovon es sich unterscheiden soll. Das Schloss ist eine Collage aus Stücken des Dorfes, das es vom inneren Außen der Institution her beherrscht. Der nach außen hin randlose Raum der Institution ist im Inneren von einer Grenze zwischen Herrschaftsgebiet und zentralem Ort der Herrschaft durchzogen, die es erst zum Territorium macht; die aber nur da ist, wenn man sie (wie K. zu Anfang, von der Brücke aus) nicht sieht« (Campe, »Kafkas Institutionenroman«, s. Anm. 27, 206; vgl. Vogl, Über das Zaudern, s. Anm. 11, 79-81). 48 Vogl, Über das Zaudern, s. Anm. 11, 81. »Zwischen den Bauern und dem Schloss ist kein Unterschied« (S 20) – »Und diese Auskunft bestätigt nur, was er vorher schon gesehen hat« (Campe, »Kafkas Institutionenroman«, s. Anm. 27, 206); das heißt: »Alle gehören zum Schloss und sind gleichzeitig durch einen nicht zu überbrückenden Abstand von ihm getrennt« (Friedrich Balke: »Fluchtlinien des Staates. Kafkas Begriff des Politischen«, in: ders. und Joseph Vogl [Hg.]: Gilles Deleuze – Fluchtlinien der Philosophie, München: Fink 1996, 150-178, hier: 168, vgl. 174). 49 Walter Benjamin: »Passagen-Werk«, in: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. V.1, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974, 618 [O 2a, 1]. 50 Vogl, Über das Zaudern, s. Anm. 11, 79. »Das Schloss ist nichts anderes als die Schwelle zum Schloss« (ebd., 81) oder die »Zone der Ununterscheidbarkeit im Verhältnis zu seiner Verbreitung in einem mikrologischen Gewebe« (Balke, »Fluchtlinien des Staates«, s. Anm. 48, 168), artikuliert durch die »horizontale Kontiguität der Kanzleien« (ebd., vgl. 174 und 165 sowie Vogl, Über das Zaudern, s. Anm. 11, 82); »im Schloss tendieren die
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der Logik des Labyrinths zufolge dessen innere Struktur bestimmte, müsste als Strukturierung durch die im Innern sich wieder-eintragende vertikale Grenze sich ausmachen lassen (das ist Rüdiger Campe zufolge die Struktur der Institution).51 Das Vor-Bild dazu gäbe der Kirchturm der »alten Heimat«, der die zentrierte hierarchische Ordnung in räumlichem und zeitlichem Belang als eine Vertikalisierung vorträgt,52 während im hier durchgeführten Vergleich die ver-ziehende Beschreibung vom »Turm hier oben« (S 18) selbst das Medium der Dezentrierung und Deformation wird: Der Turm hier oben – es war der einzige sichtbare –, der Turm eines Wohnhauses, wie sich jetzt zeigte, vielleicht des Hauptschlosses, war ein einförmiger Rundbau, zum Teil gnädig von Epheu verdeckt, mit kleinen Innenräume der Institution dazu, das Ganze des verfügbaren Raumes einzunehmen und damit die Grenze selbst zum Verschwinden zu bringen«, oder vielmehr »[i]hre Bedeutung ist mit Notwendigkeit vorausgesetzt, ohne dass es ein Kriterium ihrer Überprüfbarkeit gibt – kein Maß dafür, was und wie sie abgrenzt und unterscheidet« (Campe, »Kafkas Institutionenroman«, s. Anm. 27, 205f.). 51 Zur Topographie der Institution, zu der »Beobachtung ihres Innen und Außen, dem Verlauf der Grenze und der Regeln des Übertritts« sowie zum reentry der Grenze vgl. Campe, »Kafkas Institutionenroman«, s. Anm. 27, 204-207. »Für den Roman wird das Territorium der Institution zur Innenwelt ohne Außenwelt. Die Grenze nach außen, deren berechtigte oder unberechtigte Überschreitung die Handlung bis zum Ende dirigiert, wird nie wieder sichtbar. Das ganze Gewicht der Grenzziehung verlagert sich auf die Binnengrenze zwischen Dorf und Schloss, zwischen beherrschtem Gebiet und beherrschender Instanz. […] Die Evidenz der horizontalen Außengrenze ist ganz an die vertikale Binnengrenze verlegt. Ihrer Funktion nach ist diese Grenze ebenso scharf gezogen, wie sie zunehmend unsicher wird« (ebd., 206). 52 »Und er verglich in Gedanken den Kirchturm der Heimat mit dem Turm dort oben. Jener Turm, bestimmt, ohne Zögern, geradenwegs nach oben sich verjüngend, breitdachig abschliessend mit roten Ziegeln, ein irdisches Gebäude – was können wir anderes bauen? – aber mit höherem Ziel als das niedrige Häusergemenge und mit klarerem Ausdruck als ihn der trübe Werktag hat« (S 18).
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Fenstern, die jetzt in der Sonne aufstrahlten – etwas Irrsinniges hatte das – und einem söllerartigen Abschluss, dessen Mauerzinnen unsicher, unregelmässig, brüchig wie von ängstlicher oder nachlässiger Kinderhand gezeichnet sich in den blauen Himmel zackten. (S 18)
Es ist derart gerade der Abschluss des Turms, an (der) Stelle seines baulichen »Abschlusses«, ein Abschluss im Sinne der begrenzend figurierenden Kontur, die als Zeichnung auf die Papierfläche zurückverweist, der derart zum Medium der Defiguration geworden ist: in diskontinuierlichen, wie zufällig hin- und fortgezogenen Linien, Fluchtlinien, entlang derer Kräfte sich verteilen (so Friedrich Balke mit dem Begriff Deleuzes/Guattaris)53 oder vielmehr »ein richtungsloses Gemenge von Strichen« (so Vogl).54 Statt Ordnung als Zentrierung im vertikalen Bezugs- und Bestimmungspunkt lokalisierend zur Darstellung zu bringen, zeigt sich das nach Gesetz Versperrte: »Es war wie wenn irgendein trübseliger Hausbewohner, der gerechter Weise im entlegensten Zimmer des Hauses sich hätte eingesperrt halten sollen« – wie der Minotaurus – »sich erhoben hätte, um sich der Welt zu zeigen« (S 18). In dieser Ausstülpung ist die Struktur der Einschließung durch Ein-Faltung disartikuliert, verstreut. Nicht nur wird derart im Schloss die Grenze von Innen und Außen, die das Labyrinth organisiert, durch deren re-entry als Staffelung im Innern re-artikuliert, wie mit Campe die Topographie der Institution (als gegliederter Zusammenhang von Schloss und Dorf) aufzufassen wäre,55 vielmehr entzieht sich gerade an dieser Stelle die Form gebende Grenze, verzieht sich unverortbar (so wirksam sie auch
53 Balke, »Fluchtlinien des Staates«, s. Anm. 48, 172-175, vgl. 170. »Im Turm
ziehen sich alle deformierenden Kräfte, die das Schloss heimsuchen, zusammen und berauben ihn am Ende sogar seiner architektonischen Qualität, indem sie eine Ununterscheidbarkeitszone zwischen dem Architektonischen und dem Piktoralen einrichten«; »diagrammatische Linien« »entbinden« »die Kontur von der Aufgabe […], im Raum eine Form abzugrenzen« (ebd., 175). 54 Vogl, Über das Zaudern, s. Anm. 11, 80. 55 Campe, »Kafkas Institutionenroman«, s. Anm. 27, 204-206.
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ist), entlang anderer Linien, so »unregelmässig«, so »brüchig« und »nachlässig« sie sich zick-zacken mögen.56 Gibt es »hier« ein strukturierendes Zentrum? – so abwesend, 57 so entzogen es auch sei – und daher doch umso mächtiger wirksam. Die Beantwortung dieser Frage entschiede darüber, ob überhaupt oder inwiefern die Schloss-Struktur, der gegliederte Zusammenhang von Schloss und Dorf als Labyrinth gedacht werden kann. Denn Ecos Rede vom »Rhizom-Labyrinth« ist darin konzeptuell beschränkt, dass das Rhizom dadurch als Labyrinth, und sei es als dessen letzte Stufe, aufgefasst wird, und verfehlt darin, dass dieses damit doch noch – und sei es negativ – an die oppositive und hierarchische Ordnung gebunden wird, deren Formel das Labyrinth war. 58 Sind nun die Anordnungen der Schloss-Welt durch deren Zentrum strukturiert, das seine Peripherie bestimmte und nur insofern dessen Zentrum wäre? Ein Hinweis, der in diese Richtung ginge, wäre, dass, so Ludo Verbeeck, »der beschriebene Komplex, samt der in ihm waltenden Behörde, entgegen allem Anschein ›Schloss‹ heißt«.59 »›Schloss‹«, das aktiviert als ein homonymer pun das »semantische Feld der Ein- und Ausschließungen«,60 und taugt derart als Metapher des Arkanums, das sowohl den Aus-, wie den Einschluss reguliert. »›Schloss‹« wird hier aber kenntlich als »arbiträr[er] 56 Vgl. das »zigzag«, das des Z selbst wie der Wege der Fliegen oder der Blit-
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ze, in: Pierre-André Boutang (Regisseur und Produzent): L’Abécédaire de Gilles Deleuze. Avec Claire Parnet [1988], DVD, Paris: Ed. Montpamasse 1997. Das wäre eine typische Modellierung, vgl. etwa Jacob Burnett: »Strange Loops and the Absent Center in The Castle«, in: Stanley Corngold und Ruth V. Gross (Hg.): Kafka for the 21st Century, Rochester, New York: Camden House 2011, 105-119. Insofern widerspreche ich auch der Wortverwendung von Joseph Vogl, der vom Rhizom als Labyrinth spricht, Über das Zaudern, s. Anm. 11, 84-86, aber: 89f.; ders. in: Alexander Kluge und Joseph Vogl: Soll und Haben. Fernsehgespräche, Zürich, Berlin: diaphanes 2009, darin: »Ein Labyrinth ohne Anfang und Ende«, 309-317, hier: 309. Ludo Verbeeck: »Auswandern: Unnütze Prolegomena zu Kafkas Schloss«, in: ders. u. a. (Hg.): Schloss-Geschichten. Zu Kafkas drittem Romanplan – eine Diskussion, Eggingen: Edition Isele 2007, 11-64, hier: 31. Ebd., 15.
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Name«61 (für die leere Stelle62 oder das Beschrieben-Ausgeschriebene). Die Metapher ist, so Anselm Haverkamp nach Derrida, der »alte Name« oder das Paleonym der Allegorie der Abschließung,63 der im hermeneutischen Register stets die, und sei es die aufgeschobene, Eröffnung des Arkanums verspricht und durch dieses Versprechen bindet, der wiederholt eine Durchstreichung erfährt, in der »überholenden Durchstreichung« aber lesbar bleibt; »das einzige, was lesbar geblieben ist oder doch nur – allfällig, allenfalls – den Anschein von Lesbarkeit beschwören kann«, wie Haverkamp fortsetzt. Man kann hier nicht auswandern, hat Verbeeck argumentiert,64 weil es (von innen) kein distinktes Draußen, das jenseits einer verorteten Grenze läge, gibt. So befinden sich nach der Stagnation in der »Ankunft«, die die »Grenze« als »Schwellenraum« ermisst,65 der Text wie auch K. schon jenseits der (dann unverortbaren) Grenze; nachträglich scheint auch der (doch vermeintlich überraschenden) »Ankunft« K.’s vorlaufend im Modus des Geredes immer schon vorgegriffen worden zu sein. »Schloss«, ein Name für Effekte, der Effekte zeitigt, stellt als der arbiträre, als der er sich zeigt, keine Verankerung (für eine Struktur), sondern führt als Wort in jene Zone der Landstreicherei, aus der auch der »Landvermesser« stammt, hervorgebracht (vielleicht, so Verbeeck) durch den »Lapsus«, wie/als ein »billiges Wortspiel«.66 Wörtlich insistieren im 61 Vgl. ebd., 31. 62 Das bezieht sich auf den suspendierten Eingang zum Schloss (S 7); vgl.
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dazu Joseph Vogl im vorliegenden Band; ders., Über das Zaudern, s. Anm. 11, 79; Campe, »Kafkas Institutionenroman«, s. Anm. 27, 206. Hier und das Folgende Anselm Haverkamp: »Kafkas Pannen: Poetik des Landstreichens im dichtgemachten Text«, in: Ludo Verbeeck u. a.: SchlossGeschichten. Zu Kafkas drittem Romanplan – eine Diskussion, Eggingen: Edition Isele 2007, 110-118, hier: 113. So, mit Bezug u.a. auf S 215-222, Verbeeck, »Auswandern«, s. Anm. 59, 16-18 und 24f.; es gebe »kein Draußen im Schloss« (ebd., 18). Vgl. Vogl, Über das Zaudern, s. Anm. 11, 79-81; ders. im vorliegenden Band. Was wäre, »wenn Das Schloß der Effekt eines Wortspiels wäre«, fragt Verbeeck: »ein dem Kastellanssohn mit dem Ausruf ›Landstreichermanieren‹ unterlaufener Lapsus, die – angebliche? – Berufung K.’s zum Landvermesser somit eine bloße Kaprize der Sprache? Ein billiges Wortspiel obendrein,
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Schloss-Text die Schließungen und Abschlüsse, die als das »willkürliche« (S 110) und daher ver-endlosende (Nicht-)Abschließen und die durch dessen Kontrollen aufgeschobene »schliessliche Entscheidung« durchgeführt sind (S App. 211).67 Das Wort beherbergt, ohne es einschließen zu können, als je schon gegen sich selbst verschobenes, das »›[g]ewissermassen im Schloss‹ beschlossen[e]« Außen.68 Als das Nicht-Identische der Signifikanten, die sich immer schon woandershin verkettet haben, lauert es (unentscheidbar) überall. Alle Wörter sind von der nicht kontrollierten, unabschließbaren Umherstreicherei im Gelände heimgesucht, das von keinem Zentrum kontrolliert wird, die als »Landstreicherei«69 »lügnerisch« heißt (S 12), durchtrieben, ja intriwie es dieser Art Sprachspielen nun einmal eigen ist« (Verbeeck, »Auswandern«, s. Anm. 59, 11f.). Vom zweiten Telefonat ist zu hören: »›Ein Irrtum also? […] Wie soll ich es aber jetzt dem Herrn Landvermesser erklären?‹ K. horchte auf. Das Schloss hatte ihn also zum Landvermesser ernannt. Das war einerseits ungünstig für ihn, denn es zeigte, dass man im Schloss alles Nötige über ihn wusste, die Kräfteverhältnisse abgewogen hatte und den Kampf lächelnd aufnahm. Es war aber andererseits auch günstig, denn es bewies seiner Meinung nach, dass man ihn unterschätzte und dass er mehr Freiheit haben würde als er hätte von vorneherein hoffen dürfen. Und wenn man glaubte durch diese geistig gewiss überlegene Anerkennung seiner Landvermesserschaft ihn dauernd in Schrecken halten zu können, so täuschte man sich, es überschauerte ihn leicht, das war aber alles« (S 12f.). 67 So u. a. in einer gestrichenen Variante zu S 117, Zeile 25: »Einer wirklichen (A>a)mtlichen Entscheidung gehn unzählige, kleine Erhebungen und Überlegungen voraus, es bedarf dazu der jahrelangen Arbeit der besten Beamten, [die nicht künstlich abgekü] auch dann wenn etwa diese Beamten gleich anfangs die [(x>E)entents] Entscheidung wussten. Und gibt es denn überhaupt eine schliessliche Entscheidung? Um sie nicht aufkommen zu lassen, sind ja die Kontrollämter da.‹ Absatz ›Nun ja‹ sagte K. ›es ist alles ausgezeichnet eingerichtet, wer zweifelt noch daran? […]‹« (S App. 211, Einfügungen in eckigen Klammern stammen aus dem Apparatband, Anm. d. Hg.). 68 Nach Verbeeck, »Auswandern«, s. Anm. 59, 18f.; Haverkamp, »Kafkas Pannen«, s. Anm. 63, 114. 69 Im Bau ist der feindliche Eindringling »von meiner Art« aber ein »Waldbruder, ein Liebhaber des Friedens, aber ein wüster Lump, der wohnen will,
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gant wäre (S 381),70 aber aus jeder personalen oder intentionalen Zurechnung entlassen ist: »sinnlos arbeitend wie der Wind« (S 186).71 Das double der Worte, das der Lapsus aus der Latenz treten lässt, situiert jedes Wort zwischen den Stellen, an denen die sprachlichen Elemente vermutet werden, aber nicht fixiert werden können. Auch insofern ist die Schloss-Struktur oder die »amtliche Organisation«, die, so »[l]ückenlos[]« sie sei (S 417), doch ein »unübertreffliches Sieb« heißen kann,72 gewiss nicht dicht. Kennzeichnet das Labyrinth, dass man sich in ihm, so Hoffmann, gar nicht verlieren kann, weil »die je einzelne gegebene Struktur unveränderlich«73 bleibt, so ist dagegen die im Schloss-Text explorierte Schloss-Struktur eine »ständig sich verschiebende«, 74 keine endliche Struktur. Weil/oder insofern der vermeintliche Irrgarten eine immer
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ohne zu bauen« (NSF II 596); in einer gestrichenen Passage wird er »alle[n] Landstreicher[n] und Waldbrüder[n]« zugerechnet; »ich aber bin Baumeister« (NSF II App. 439). Von den »Gehilfen« heißt es, dass sie »unkontrolliert umherstreichen und ihre Intrigen, für die sie besondere Anlagen zu haben schienen, frei betreiben« (S 381). »Frei« ist hier kein Mensch, sondern eher das Schloss; »manchmal« ist es, »als beobachte er [K.] jemanden, der ruhig dasitze und vor sich hinsehe, nicht etwa in Gedanken verloren und dadurch gegen alles abgeschlossen, sondern frei und unbekümmert« (S 156). Nach Auskunft Bürgels: »Was für ein sonderbar und ganz bestimmt geformtes, kleines und geschicktes Körnchen müsste eine solche Partei sein, um durch das unübertreffliche Sieb durchzugleiten. Sie glauben es kann gar nicht vorkommen? Sie haben Recht, es kann gar nicht vorkommen. Aber eines Nachts – wer kann für alles bürgen? – kommt es doch vor« (S 421); die Antwort liegt beim Zusammenhang von Körnigkeit und »grossen Zahlen« (S 421), der erlaubt, die »vollkommene Unwahrscheinlichkeit« (S 421) ins Kalkül zu ziehen. Das Schloss ist bestimmt durch Durchlässigkeiten, nicht nur durch Botschaften (die doch stets noch ans entzogene Zentrum binden), sondern auch durch Gucklöcher, Schlüssellöcher und Spalten (S 184f., 6062 und öfter). Hoffmann, s. Anm. 35. Ebd.
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neue Struktur annimmt, wird »die Sache […] endlos«, 75 handelt es sich um keine Struktur, die durch Zentrum und Peripherie, Innen und Außen, Weg und telos (Ende als Ziel) organisiert ist, und weiter (vielleicht) um gar keine (strukturalistische) Struktur mehr – so sehr das Schloss auch aus Versuchen besteht, die Undurchdringlichkeit als Struktur aufzuschließen; das bleibt in allem Unter-Scheiden undurchsichtig, endlos. Die Anordnung hier von Schloss und/als Dorf ist eine solche, in der nicht (mehr) lokalisierbare Züge getan werden,76 vielmehr ihre Stellen, die durch die Struktur bestimmt wären, nicht sie selbst bleiben, sondern (noch) unvorhersehbar und (schon) unauffindbar sind. Ich beziehe mich damit (versteht sich) auf die bekannte Stelle der Darlegung des Gemeindevorstehers, der »auf eine besondere Eigenschaft unseres behördlichen Apparates zu sprechen« kommt: Entsprechend seiner Präcision ist er auch äußerst empfindlich.77 Wenn eine Angelegenheit sehr lange erwogen worden ist, kann es, auch ohne dass die Erwägungen schon beendet wären, geschehn, dass plötzlich blitzartig an einer unvorhersehbaren und auch später nicht mehr auffindbaren Stelle eine Erledigung hervorkommt, welche die Angelegenheit, wenn auch meistens sehr richtig, so doch immerhin willkürlich abschließt. (S 109f.)
75 Ebd. 76 Dazu und zum Folgenden vgl. Gilles Deleuze: Woran erkennt man den
Strukturalismus?, übers. v. Eva Brückner-Pfaffenberger und Donald Watts Tuckwiller, Berlin: Merve 1992. 77 Der Schloss-Text weiß auch von »empfindliche[n] Stellen«, die jeder habe (vgl. S 128). Die Parallele im Bau akzentuiert den Ort: »dort [so das Tier/der Bauherr] an jener Stelle im dunklen Moos [am Eingangsloch] bin ich sterblich und in meinen Träumen schnuppert dort oft eine lüsterne Schnauze unaufhörlich herum« (NSF II 577); durch deren Prätext – »Hier ist die Stelle, wo ich sterblich bin«, so der (vermeintlich) souveräne Herrscher in Friedrich Schillers Don Karlos (I. Akt, 6. Szene, Vers 865) – ist die Fraglichkeit dessen, was »mein eigen« wäre, akzentuiert: als dessen Sekundarität (immer schon) und dessen Versehrbarkeit durch die Angewiesenheit auf die Andere(n).
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Solche Abschlüsse sind durch ihre Zufälligkeit das Medium der Endlosigkeit, wie im Schloss bezüglich der Brief-Geschichte gesagt wird: [D]ie Briefe richtig zu beurteilen, ist ja unmöglich, sie wechseln selbst fortwährend ihren Wert, die Überlegungen, zu denen sie Anlass geben, sind endlos und wo man dabei gerade Halt macht, ist nur durch den Zufall bestimmt, also auch die Meinung eine zufällige. (S 363)
Ich unterstreiche am zuvor Zitierten das Wort »Stelle«, und zwar in Bezug auf die Anordnung. Ständig geht es im Schloss um eine »Stelle« oder »Stellung«, zum Beispiel die als Schuldiener (S 146), eine »vorläufige«, »vielleicht nicht die richtige«, »zu provisorisch« (S App. 263, 475, und öfter), die »auszufüllen« (S 146), »an[zu]nehmen« (S 150) oder einzunehmen sei (S 152) oder auch verliehen wird (S 152). Wenn K. annehmen mag: »aber es war immerhin ein fester Ausgangspunkt« (in einer gestrichenen Variante, S App. 263), so kommt es, so Verbeeck, »in diesem Buch immer wieder [darauf] an[], […] zu wissen, wo man sich befindet«,78 aber es macht damit die Lokalisierbarkeit fraglich und suspendiert die Verortung. Es handelt sich um keine Struktur, in der Stellen durch die Anordnung aus Unterscheidungen und Relationen bestimmt sind. Über die »Stellen« werden auch die Texte aufgefasst, so der erste Brief »vom Schloss«, der K. durch den Boten Barnabas erreicht (S 38f.), der im Schloss-Text im Wortlaut zitiert wird, wenn er seine zweite Lektüre erfährt (S 40-43), und zwar zitierend als »nicht einheitlich«: Er war nicht einheitlich, es gab Stellen wo mit ihm wie mit einem Freien gesprochen wurde, dessen eigenen Willen man anerkennt […]. Es gab aber wieder Stellen, wo er offen oder versteckt als ein kleiner vom Sitz jenes Vorstandes kaum bemerkbarer Arbeiter behandelt wurde […]. Das waren zweifellos Widersprüche, sie waren so sichtbar dass sie beabsichtigt sein mussten. […] Vielmehr sah er darin eine ihm offen dargebotene Wahl, es war ihm überlassen, was er aus den Anordnungen des Briefes machen wollte[.] (S 41f.) 78 Verbeeck, »Auswandern«, s. Anm. 59, 15.
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K. vollzieht hier eine Stellen-Lese, wie sie etwa Eva Geulen bestimmt hat;79 sie ist operativ als Zitation des Textes in seinen Teilstücken und kennzeichnet zugleich, »was er aus den Anordnungen des Briefes machen wollte«, als Wortspiel lesend, den Text als An-Ordnung. Es ist dies eine Anordnung, die offenbar ihre Elemente nicht auf ihre sie bestimmenden Stellen verpflichten kann. Erneut wird hier im Wege des Kalküls der mit den Widersprüchen des Brieftextes scheinbar zur »Wahl« gestellten Möglichkeiten (scheinbar als Alternative von »scheinbar« und im Ernst) deren Entscheidbarkeit suspendiert worden sein.80 Wird dieser Brief im Weiteren einer Deutung durch den Vorsteher derart unterzogen (S 113f.), dass K. zufolge nichts als das »leere[] Blatt Papier« von ihm bleibt (S 114), so »hing« K. hier »den Brief an den Nagel«, von dem er zuvor ein Bild genommen hatte (S 43). Alle Stellen der Texte (im Roman und die des Romans) können hinsichtlich der Verstellbarkeit der Elemente ausgespielt werden, in Wortspielen, wie sie hier auch mit »Platz behaupten« (S 168), »folgen« (S 148/9; S App. 188f.) und »Verkehr« mit …81 getrieben werden. Das 79 Eva Geulen: »Stellen-Lese«, in: MLN 3 (2001), 475-501; vgl. Stefan Willer:
»Fallen, Stellen. Örter der Lektüre«, in: Robert Stockhammer (Hg.): TopoGraphien der Moderne. Medien zur Repräsentation und Konstruktion von Räumen, München: Fink 2005, 197-226. 80 Aus den »Widersprüchen« des Brieftextes macht K. die Unter-Scheidung, die ihm die »Wahl« einräumte zwischen einer Stellung als Dorfarbeiter oder als »scheinbarer Dorfarbeiter«, der »in Wirklichkeit« durch die möglichen kommenden oder ausbleibenden Nachrichten ans Schloss gefesselt wäre (S 42, Herv. d. Verf.). Gegen die Gebundenheit des »scheinbaren Dorfarbeiters« ans Schloss beziehungsweise durch die möglichen Nachrichten ans abwesende Zentrum entscheidet K. aber paradoxerweise, weil nur »möglichst weit den Herren vom Schloss entrückt« »etwas im Schloss zu erreichen« sei (S 42), also indem er sich negativ doch ans Arkanum bindet. Zugleich begäbe er sich aber in die »Gefahr«, im »Arbeitersein« (S 42) »in allem furchtbaren Ernst, ohne jeden Ausblick« (S 43) zu sein; das erinnert an das Hund-Schon-Geworden-Sein. 81 Der »Verkehr mit Behörden« (S 92 und S 94f.) wird mit der Wortverwendung »Frieda, die solange mit Klamm verkehrt hat« (S 126f.) in seiner Zweideutigkeit ausgespielt (vgl. zu Amt und Leben S 93); vgl. auch die
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Wortspiel manifestiert die Möglichkeit der Verstellbarkeit der durch ihre Stellen bestimmten Elemente, die nicht kontrollierte Ablösbarkeit der Elemente von ihren Stellen, sodass jede vermeintliche Entität als in und von sich selbst differierende kenntlich wird. Wenn allein die Zuordnung des Elements zur Stelle Sinn erzeugt, verweist das Wortspiel als »Spiel mit Umstellungen und Versetzungen des Elements« den Sinn »als der (konventionellen) Zuordnung von Element und Stelle« an den »Unsinn« von Stellung und Verstellbarkeit,82 indem es der Elemente »stumme Beweglichkeit, seine Iterierbarkeit andernorts, außerhalb der ihm zugewiesenen Position« aktualisiert: »Das Spiel der Ersetzungen hat keine externe Verankerung.«83 Die Wörter werden vielmehr in ihren Elementen an den Zu-Fall der Sprache, an die Zufälligkeit ihres Zutrags und ihrer Beziehungen verwiesen. Derart verfahrend ist ja auch Kafkas Text offenbar nicht (bauherrlich) von innen regiert, nicht einer und nicht in sich geschlossen, sondern auf Verstellbarkeit als Grund der Fügung von disparaten Singularitäten angelegt.84 Erkundungen der Briefe haben wie die aller Schriftstücke, ihrer Formate und ihres Mediums Teil an der Verschiebung beziehungsweise der Ablösung von aller Deutung oder Auslegung, die das »Schloss« als Paleonym für die hermeneutische Frage figuriert, als Metapher für die Verwörtlichung von »[d]er Segen war über Ihnen« (S 135) oder »der Tisch, der einem […] mit seiner schmutzverkrusteten Platte förmlich nachgestarrt hatte« (S 141). 82 David E. Wellbery: »Der Zufall der Geburt. Sternes Poetik der Kontingenz«, in: Gerhart v. Graevenitz und Odo Marquard (Hg.): Kontingenz, München: Fink 1998, 291-317, hier: 312f.; so auch Deleuze, Woran erkennt man den Strukturalismus?, s. Anm. 76. 83 Wellbery, »Der Zufall der Geburt«, s. Anm. 82, 313; das tritt auf als Kräfte (wie der Wind), die an etwas oder jemandem »reissen« (S 184 und S 216) oder »zerren« (S 186). 84 Gestrichene Passagen können, so Malte Kleinwort, im Verlauf des Schreibens am Schloss an andere Stellen platziert werden, sodass bspw. die Wirtin zitiert, was in einem gestrichenen Akteneintrag über K. stand (vgl. Der späte Kafka. Spätstil als Stilsuspension, München: Fink 2013, 227f.). Das »System der Teilbauten« oder »gelöste Glieder« sind dafür metatextuelle Metaphern (vgl. Menke, »… beim babylonischen Turmbau«, s. Anm. 46, 110-112.
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Verschlossenheit, die die Eröffnung des Arkanums stets noch verspricht. Diese Verschiebung oder Ablösung wird in Kafkas Schloss an den Briefen durchgeführt, insofern deren Erkundungen weniger jenseits der Botschaft führen als diesseits ihrer auf andere Dimensionen der Mitteilungen treffen, die des Mediums bis zum Blatt Papier, das zum Schiffchen gefaltet oder zerknüllt werden kann.85 Im überall wehenden Wind, der nicht zuletzt im Korridor des Gasthauses der Herren aus dem Schloss reißt und zerrt (S 184ff.), musste K. »den grossen Briefbogen zum Lesen ganz klein zusammenfalten, um ihn vor dem Wind zu schützen. Dann las er […]« (S 187). Dann las er aber notgedrungen nur Stellen oder Teilstücke, und er musste das zusammengefaltete Papier zum Lesen wohl immer wieder um- und wiedereingefaltet haben. Die Struktur von Stellen, die vielleicht keine mehr ist: nämlich keine Struktur, die die Stellen bestimmt, und keine von durch den Platz in der Struktur bestimmten Stellen, wird vielmehr als ein Kraftfeld vorgestellt, durchzogen von Spannungen, Kräften, Reizungen und Störungen, Irrungen und Winden, Vektoren der Defiguration.86 Die bereits zitierte Stelle, »dass plötzlich blitzartig an einer unvorhersehbaren und auch später nicht mehr auffindbaren Stelle eine Erledigung hervorkommt« (S 109f., Herv. d. Verf.), verweist auf Vorgänge im »Apparat«, die in deren »unvorhersehbaren« Hervorkommnissen sich manifestiert haben werden, die nachträglich nur, in ihren so blitzartigen wie unvorhersehbaren Wirkungen,87 jene Spannungen, Reizungen und Verknüpfungen 85 Die Frau des Vorstehers »spielte« »traumverloren mit Klamms Brief […],
aus dem sie ein Schiffchen geformt hatte, erschrocken nahm es ihr K. jetzt fort« (S 119). Ein anderes Papier (»Das könnte recht gut mein Akt sein«, so K.) wird im Korridor vom Bureau-Diener zerrissen (S 438). 86 »[D]ass hier Kräfte im Spiel sind« (S 390), »dass es Dich zu ihnen [den Gehilfen] zieht« (S 390), auch: »konnte ich mich nicht halten«, »zog mich hinaus« (S 393), »riss der Wind […] an ihnen« (S 184), »fortgezerrt« (S 186), »wo alle an mir reissen« (S 216). 87 Die Nicht-Feststellbarkeit der Stellen überbietet noch Freuds Auffassung des Witzes: »Auf welcher Seite sich uns der Witzcharakter zeigt, dort wollen wir ihn weiter verfolgen und versuchen, seiner habhaft zu werden« (Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten [1905], in: Gesammelte Werke, hg. v. Anna Freud, Frankfurt am Main: Fischer 1999, Bd. 6, 14f.), zwei
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erraten lassen (damit zitiere ich Sigmund Freud),88 die diese hervorgebracht haben werden: »[V]iel später« und durch anderswo verortete Kontroll-Instanzen werden die Hervorkommnisse zu Feststellungen: zu spät (S 110f.),89 sodass das Verhältnis aller Apparat-internen Vorgänge zum Wissen (von diesen) gelöst wäre. Was als umwegige, verzögerte und selbst verzögernde Ausrichtung aufs Zentrum (oder Ziel) mit der alten und so altehrwürdig fortgeführten Metapher des Weges90 im hermeneutischen Register der Zentrierung, der Verschließung, von Ein- und Ausschluss gefasst ist, wird hier (das ist immer die Schloss-Welt, die keine ist, und der Text) mit dem Wort »Weg« einer doppelten Verschiebung unterzogen: Zum einen als der Weg nicht von Subjekten der Entscheidung oder Wahl, sondern als der der Akten, hinsichtlich dessen, anders als zunächst mit der Rede »Ausgänge« jedoch, »durch die ihm der ›Witz‹ [immer] entwischen könnte« (Sarah Kofman: Die lachenden Dritten. Freud und der Witz, übers. v. Monika Buchgeister und Hans-Walter Schmidt, München: Klett Cotta 1990, 50). 88 Freud, Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten, s. Anm. 87, 142. 89 »Es ist als hätte der behördliche Apparat die Spannung, die jahrelange Aufreizung durch die gleiche vielleicht an sich geringfügige Angelegenheit nicht mehr ertragen und aus sich selbst heraus ohne Mithilfe der Beamten die Entscheidung getroffen. Natürlich ist kein Wunder geschehn und gewiss hat irgendein Beamter die Erledigung geschrieben oder eine ungeschriebene Entscheidung getroffen, jedenfalls aber kann wenigstens von uns aus, von hier aus, ja selbst vom Amt aus nicht festgestellt werden, welcher Beamte in diesem Fall entschieden hat und aus welchen Gründen. Erst die Kontrollämter stellen das viel später fest, wir aber erfahren es nicht mehr, es würde übrigens dann auch kaum jemand noch interessieren« (S 110). »Nun sind wie gesagt gerade diese Entscheidungen meistens vortrefflich, störend ist an ihnen nur, dass man, wie es gewöhnlich die Sache mit sich bringt, von diesen Entscheidungen zu spät erfährt« (S 110f.). Das ist der Hintergrund der oben zitierten Bemerkung: »Ich weiß nicht ob in Ihrem Falle eine solche Entscheidung ergangen ist […] – wenn es aber geschehen wäre, […]« (S 110). 90 Vgl. etwa das Notat zum »Weg« als »Zögern« als disparates Element aus dem Umkreis von Kafkas babylonischem Turmbau (NSF II 322), neben vielen anderen, vgl. Gerhard Neumann: »Umkehrung und Ablenkung. Franz Kafkas ›Gleitendes Paradox‹«, in: DVjs 42 (1968), 702-744.
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vom »richtigen Weg« und vom »falschen Weg« unterstellt,91 eben diese Unterscheidung, die »endgiltige« Entscheidbarkeit über »Fehler«, suspendiert ist.92 Zum andern in der Verkettung, Metonymie, Verschiebung (déplacement) von Wegen, Übertragungen, Verbindungen zu »Berührungen«. [D]er einzige Weg [so heißt es], der für Sie [K.] zu Klamm führt, [geht] hier durch die Protokolle des Herrn Sekretärs […]. Aber ich will nicht übertreiben, vielleicht führt der Weg nicht bis zu Klamm, vielleicht hört er weit vor ihm auf, […] Jedenfalls aber ist es der einzige Weg der für Sie wenigstens in der Richtung zu Klamm führt. (S 177)
Der »einzige Weg« ist »vielleicht eine Art Verbindung mit Klamm« »durch das Protokoll« (S 181, vgl. S 180), aber diese »Verbindung« wird nicht durchs Lesen erzeugt, Klamm wird das Protokoll nicht lesen, das ist weder »nötig«, noch wäre das überhaupt »wünschenswert«, besteht nicht in »wortwörtlich[er] Kenntnis« (S 182) und schon gar nicht in irgendeiner (und sei es einer konjunktivischen, sich in ihrer Ankunft verzögernden) Botschaft (des Kaisers). Eben mit dieser »Art Verbindung« (S 181) durch das Protokoll, das nicht gelesen »in die Dorfregistratur Klamms« (S 182) komme, sei doch eben das »erreich[t]«, was K. sich erhofft habe: »vor Klamm zu sprechen, auch wenn er Sie nicht ansehn und Ihnen nicht zuhören würde«, »zumindest dieses, vielleicht aber viel mehr?« (S 182). Der Rhetorik des wirkmächtig Entzogenen, die der klassischen Repräsentation der Macht und des Zugangs zu ihr 91 »[W]enn, wie es die Regel ist, ein Akt den richtigen Weg geht, gelangt er
an seine Abteilung spätestens in einem Tag und wird am gleichen Tag noch erledigt, wenn er aber einmal den Weg verfehlt, und er muss bei der Vorzüglichkeit der Organisation den falschen Weg förmlich mit Eifer suchen, sonst findet er ihn nicht, dann dauert es freilich sehr lange« (S 101). 92 Dem »lächerliche[n] Gewirre« (S 102) ist durch »Kontrollbehörden« überhaupt nicht beizukommen; der Vorsteher stellt fest: »Es gibt nur Kontrollbehörden. Freilich, sie sind nicht dazu bestimmt, Fehler im groben Wortsinn herauszufinden, denn Fehler kommen ja nicht vor und selbst wenn einmal ein Fehler vor kommt, wie in ihrem Fall, wer darf denn endgiltig sagen, dass es ein Fehler ist« (S 104).
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eignet,93 entgegnet jene andere »Art Verbindung« (S 181) »durch das Protokoll« präzise, und zwar insofern sie in die phatische Dimension verlegt wird, die auch die »scheinbar[en]« (S 115) Berührungen »mit unsern Behörden« (S 115) heißt. Diese, so akzentuiert Verbeeck, existieren eben als scheinbare Berührungen und sind als solche zugleich wirklich. Sie umschreiben das Kraftfeld, nach dessen Vektor die Ereignisse im Schloss verlaufen und aus dem es kein Entweichen gibt.94
Zwischen (immer) seinen Weg finden oder nur falsche Wege finden, kann (hier) nicht unterschieden werden, nicht zwischen dem weit entfernt Liegenden und dem ganz Nahen der Berührungen oder der »flüsternden Verständigung« (S App. 266). Bekanntlich kommentiert der Vorsteher mit der Formulierung von den (bloß) »scheinbar[en]« (S 115) Berührungen K.’s Berufung auf die Telefon-Auskünfte aus dem Schloss, die ihn als Landvermesser anerkannt haben.95 Der Auskunft des Vorstehers zufolge kann es Botschaften durchs Telefon (aus dem Schloss) nicht geben, weil die telefonische Verbindung die Lokalisier93 Sie wird an dieser Stelle aufgerufen (S 183f.), organisiert durch die traditio-
nelle Repräsentation der Macht, der K. an dieser Stelle aufsitzt: einer unter der Metapher des Adlers auftretenden Modellierung Klamms, einer der »traditionellen Vergleiche, in denen sich die Souveränität artikuliert« (Balke, »Fluchtlinien des Staates«, s. Anm. 48, 152f.). K. unterliegt hier der wirk-mächtigen rhetorischen Produktivität der »Ferne« (diese ist das explizit »gemeinsame« tertium, S 184), des Entrücktseins (»seine uneinnehmbare Wohnung«), der Rhetorik des Arkanums, der Bindung durch das Entzogene. Der von der Wirtin gebrauchten Metapher des Löwen entgegnet K. an anderer Stelle: »Auch reden wir von keinem Löwen sondern von einem Bureauvorstand« (S App. 225). 94 Verbeeck, »Auswandern«, s. Anm. 59, 33. 95 Die beiden Auskünfte, die es anfänglich, allerdings vermittelt über ein anderes Ohr und einen anderen Mund, zu geben scheint, sind widersprüchlich: »›Ich habe es ja gesagt‹, schrie er, ›keine Spur von Landvermesser, ein gemeiner lügnerischer Landstreicher, wahrscheinlich aber ärgeres.‹« (S 12); »›Ein Irrtum also? […] Wie soll ich es aber jetzt dem Herrn Landvermesser erklären?‹ K. horchte auf. Das Schloss hatte ihn also zum Landvermesser ernannt« (S 12f.).
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barkeit und damit Identifizierbarkeit weder von Empfängern noch von Sendern erlaubt. Der Theorie des Schloss-Telefons, die der Vorsteher vorträgt (S 115), zufolge, ist durch dessen Hörmuschel das »ununterbrochene Telephonieren« im Schloss – der Kanal selbst – als »Rauschen und Gesang« zu hören.96 Derart ist es das Medium der als »scheinbare« (S 115, nach Verbeeck) wirklichen Berührungen.97 In dieser radikalen Nicht-Gestalt ist die Nicht-Botschaft vom Schloss, »dieses Rauschen und dieser Gesang« (S 116), als »das einzig Richtige und Vertrauenswerte, was uns die hiesigen Telephone übermitteln,« (S 116) gegeben: der (ironisch) reine Kontakt . Diese phatische Dimension der Mitteilung spricht K. mit »Klappere Mühle Klappere« (S 419) an. Als ein solches leeres Klappern vernimmt K. Bürgels Darlegungen, gerade wenn dieser (vermeintlich) »das Geheimnis«, der »seltenen, fast niemals vorkommenden Möglichkeit« enthüllen wird (das sind die »Massen«, die großen »Zahlen« der Fälle): K. nickte lächelnd, er glaubte jetzt alles genau zu verstehen, nicht deshalb weil es ihn bekümmerte, sondern weil er nun überzeugt war, in den nächsten Augenblicken würde er völlig einschlafen, diesmal ohne Traum 96 »Aus der Hörmuschel kam ein Summen, wie K. es sonst beim Telephonie-
ren nie gehört hatte. […] K. horchte ohne zu telephonieren« (S 36); »K. horchte dem Stimmklang nach und überhörte dabei fast die Frage« (S 37f.). 97 »›Und was das Telephon betrifft […]. In Wirtsstuben u. dgl. da mag es gute Dienste leisten, so etwa wie ein Musikautomat, mehr ist es auch nicht. Haben Sie schon einmal hier telephoniert, ja? Nun also dann werden Sie mich vielleicht verstehn. Im Schloss funktioniert das Telephon offenbar ausgezeichnet; wie man mir erzählt hat wird dort ununterbrochen telephoniert, was natürlich das Arbeiten sehr beschleunigt. Dieses ununterbrochene Telephonieren hören wir in den hiesigen Telephonen als Rauschen und Gesang, das haben Sie gewiss auch gehört. Nun ist aber dieses Rauschen und dieser Gesang das einzige Richtige und Vertrauenswerte, was uns die hiesigen Telephone übermitteln, alles andere ist trügerisch. Es gibt keine bestimmte telephonische Verbindung mit dem Schloss, keine Zentralstelle, welche unsere Anrufe weiterleitet; wenn man von hier aus jemanden im Schloss anruft, läutet es dort bei allen Apparaten der untersten Abteilungen oder vielmehr es würde bei allen läuten, wenn nicht, wie ich bestimmt weiss, bei fast allen dieses Läutwerk abgestellt wäre« (S 115f.).
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und Störung; zwischen den zuständigen Sekretären auf der einen Seite und den unzuständigen auf der andern und angesichts der Masse der voll beschäftigten Parteien würde er in tiefen Schlaf sinken und auf diese Weise allen entgehn. An die leise selbstzufriedene, für das eigene Einschlafen offenbar vergeblich arbeitende Stimme Bürgels hatte er sich nun so gewöhnt, dass sie seinen Schlaf mehr befördern als stören würde. ›Klappere Mühle klappere‹, dachte er, ›Du klapperst nur für mich.‹ (S 419)98
K. hält sich hier hörend an das Medium der Mitteilung (von Geheimnissen) als an das Sinn-ferne Geräusch, das den derart Hörenden (wie ein Schirm) abtrennt vom Etwas der Mitteilung und ihm (auf dessen nächtlicher Seite) endlich das Schlafen, ein Sinken in und Entgehen ermöglichen wird;99 »wie lange der Erzähler sich am dünnen Faden von Bürgels ausschweifenden Gedanken wird halten können, ehe der Text ins Chaotische ausbricht«, fragt sich Verbeeck und rückt den Text selbst, dessen Verfasstheit in den Blick,100 wo in diesem Erzähllinien und Botschaften an andere Dimensionen der Sprache (wie zuvor der Schrift) suspendiert sind. Wird das anfänglich zitierte »Labyrint« (S App. 36) als Meta-Kommentar zum Schloss-Schreibunternehmen aufgefasst,101 dann hat es F. wie K. im Schloss bleiben oder »kaum mehr herauskommen« lassen. Traumlos realisiert dies, was, Freud zufolge, der Traum tut: Er »verdankt seine Zulassung dem einzig während des Nachtzustandes regen Bedürfnis zu schlafen« (Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten, s. Anm. 87, 205); vgl. auch: Die Traumdeutung, in: Gesammelte Werke, hg. von Anna Freud, Frankfurt am Main: Fischer 1999, Bd. 2/3, 346-354); wie auch der Witz weder eine bestimmte »Kritik« transportieren, noch eine bestimmte (sonst versagte) Lust gewinnen will, sondern der »besseren Einsicht in die psychischen Vorgänge des Witzes« zufolge, »[allgemeine] Erleichterung« ermögliche (Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten, s. Anm. 87, 176). 99 Analoges geschieht im Bau-Fragment (NSF II 580, 601, 603), vgl. Menke, Prosopopoiia, s. Anm. 6, 106-135. 100 Verbeeck, »Auswandern«, s. Anm. 59, 52. 101 So deutet es Jost Schillemeit an (NSF II App. 99); zum Missverhältnis der Schloss-Organisation und der KKA vgl. Kleinwort, Der späte Kafka, s. Anm. 84, 215-231; vgl. auch Kleinworts Beitrag in diesem Band. 98
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Dass es kein Ende hat, hat seine Entsprechung darin, dass es kein in diesem sich vollendenden identifizierbaren verortbaren Anfang hat. »Ich kann [überall anfangen] die Untersuchung überall anfangen, wo es mir« findet sich eingetragen in einem der Hefte, die Malcolm Pasley als »Schriftträger« des Schloss-Fragments bezeichnet,102 ohne dass es aber in den Textband der KKA-Ausgabe von Das Schloss eingehen durfte. Die verschiedenen Seitenwege oder Supplemente zum Schreibunternehmen des Schlosses, dessen in Form kürzerer Prosatexte unternommenen Lösungsversuche,103 haben zum entsprechenden Gegenstück die systematische Nicht-Geschlossenheit des Schlosses als jene disparate Fügung, die dieses ist, und als die es sich ständig entzogen haben, beziehungsweise nur und stets woanders auffinden lassen wird.
102 Das Hungerkünstler-Heft als »Neunter Schriftträger« (S App. 55-58, hier:
55 und 57; oder auch: NSF II 421); das Notat ist wie die anderen auf den Blättern 1r-17v parallel zur Arbeit am Schloss (vgl. NSF II App. 107f.) oder »wohl schon nach Aufgabe des ›Schloss‹-Romans« entstanden (vermutet Schillemeit in: NSF II App. 111), kann mit Forschungen eines Hundes (vgl. NSF II 423-434), Stadtwappen und Bau in Verbindung stehen; vgl. auch den »Plan der selbstbiographischen Untersuchungen« (NSF II 373) als »Untersuchung und Auffindung möglichst kleiner Bestandteile« und als ein »mich« »aufbauen«, »womöglich aus dem Material des alten« Hauses (ebd.); das endet mit »Irrsinn«, einem »Kosakentanz« zwischen einem »halbzerstörte[n]« und einem »halbfertige[n]« Haus, »wobei der Kosak mit den Stiefelabsätzen die Erde solange scharrt und auswirft, bis sich unter ihm sein Grab bildet« (ebd.). 103 Auch das Bau-Vorhaben kann, wie im Voranstehenden, in dieser Hinsicht beigezogen werden: als eine Ausführung, die durch die architekturale Verhandlung von Bauherrschaft die Problemlage zu begrenzen versucht, bis zu deren Eingeholtwerden durch ihr Anderes, das Geräusch.
Ritardando im Schloss1 S TANLEY C ORNGOLD
Aber durch alle Arbeit erlangt man noch keinen Anspruch darauf, von allen mit Liebe behandelt zu werden, vielmehr ist man allen gänzlich fremd. Und solange Du ›man‹ sagst an Stelle von ›ich‹, ist es nichts und man kann diese Geschichte aufsagen, sobald Du aber Dir eingestehst dass Du selbst es bist, dann wirst Du förmlich durchbohrt und bist entsetzt. (NSF I 14)
Ursprünglich war ich ausgezogen, das Narrativ »amtlicher Handlungen« im Schloss zu vermessen – das heißt: die Geschichte der Handlungen der Schlossbeamten. Vorher aber musste ich mit der narrativen Logik vom Schloss zu Rande kommen, und hier begegneten mir Schwierigkeiten. Es wird kolportiert, dass Albert Einstein, nachdem ihm Thomas Mann Das Schloss zur Lektüre geliehen hatte, das Buch bald danach mit der Erklärung zurückgegeben habe, dass der menschli-
1
Aus dem Englischen von Mladen Gladiü. Die englische Originalfassung ist unter dem Titel »Ritardando in Das Schloß« erschienen in: Sabine Wilke (Hg.): From Kafka to Sebald: Modernism and Narrative Form, London: Continuum 2012, 11-26.
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che Geist nicht beschaffen sei, solche Perversität zu verstehen.2 Natürlich wäre es feige – unzulässig –, Schutz in Einsteins Schatten zu suchen, aber ich will die Schwierigkeit und die vielen Hindernisse, die Das Schloss der Kartierung einer einheitlichen narrativen Feldtheorie in den Weg stellt, hervorheben.3 Die einzelnen Episoden von Das Schloss sind von nur losem Belang für einander; sie sind weniger Kapitel in einer fortschreitenden Handlung mit erkennbarem Telos als eine Abfolge von Novellen mit einer wiederkehrenden Besetzung von Charakteren, von denen nicht alle leicht auseinander zu halten sind: Da haben wir die zwei Wirtinnen, K.’s kaum zu unterscheidende Lehrlinge, die zwei Friedas, die Beamten Sordini und Sortini. Diese lose Struktur erlaubt es Kafka, kontinuierlich zu improvisieren: Ich beziehe mich hier auf die Streuung der KafkaMeme, die über den Roman hinweg auf verschiedene Figuren verteilt werden. »Meme« meint normalerweise »eine Einheit kultureller Information […], die verbal oder durch wiederholte Handlung von einem Gedächtnis auf ein anderes übertragen wird«.4 Kafka-Meme, Partikel 2 3
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Diese wird wiedergegeben in: Michael M. Cohen: Einstein’s Rabbi: A Tale of Science and the Soul, Santa Cruz, CA: Shires 2008, 98. Bislang gibt es relativ wenig kontinuierliche Forschung zu den Besonderheiten des »späten Kafka«. Einige Schritte in diese Richtung sind unternommen worden von Stanley Corngold in »Something to Do with the Truth: Kafka’s Later Stories«, in: Lambent Traces: Franz Kafka, Princeton 2004, 111-25; vgl. auch Hansjörg Bay: »Das eigene Fremde der Kultur. Travestien der ethnographischen Situation bei Kafka«, in: DVjs 83 (2009), 287-309; Malte Kleinwort: »Rückkopplung als Störung der Autor-Funktion in späten Texten von Friedrich Nietzsche und Franz Kafka,« in: Friedrich Balke, Joseph Vogl und Benno Wagner (Hg.): Für Alle und Keinen. Lektüre, Schrift und Leben bei Nietzsche und Kafka, Zürich, Berlin: diaphanes 2008, 179-200. Eintrag »meme«, in: The American Heritage Dictionary of the English Language, 4.Aufl., Boston: Houghton Mifflin 2000, 1096. Ein »Mem« wird dort definiert als »a unit of cultural information […] transmitted verbally or by repeated action from one mind to another.« Quellentexte für die Konzeption sind Richard Dawkins: The Selfish Gene (Oxford: Oxford Univ. Press 1976) und Susan Blackmore: The Meme Machine (Oxford: Oxford Univ.
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von Kafkas früheren Schriften, werden im Schloss von Neuem aufgerufen – und in der Tat von Neuem. Es ist zum Beispiel nicht K., der das Glück und die Notwendigkeit des Alleinseins bemerkt, sondern Gisa, die blonde Lehrerin, die Theodor W. Adorno als eine Juden hassende Arierin beschreibt und die »die Bequemlichkeit und deshalb das Alleinsein über alles liebte und wahrscheinlich am glücklichsten war, wenn sie sich zuhause in völliger Freiheit auf dem Kanapee ausstrecken konnte« (S 259).5 Hier kommt einem Josef K. auf seinem Kanapee in den Sinn: »Gewöhnlich lag er dann auf dem Kanapee seines Bureaus – er konnte sein Bureau nicht mehr verlassen, ohne eine Stunde lang auf dem Kanapee sich aus zu erho[h]len – und fügte in Gedanken Beobachtung an Beobachtung« (FKA P Das Haus 248). Und wir erinnern uns an unzählige von Kafkas Tagebucheinträgen mit gleicher Färbung, zum Beispiel: »In mir selbst gibt es ohne menschliche Beziehung keine sichtbaren Lügen. Der begrenzte Kreis ist rein« (Tb 581). Dann wiederum ist es die Wirtshausprostituierte Olga (ausgerechnet sie!), die das großartige Aperçu vorlegt, welches Kafkas innerste Überzeugungen berührt, wenn es um die Möglichkeit einer richtigen Interpretation geht – sie spricht von Kontingenz, von der Unmöglichkeit eines natürlichen Endes dieser Geduldsprobe: Und die Mitte zwischen den Übertreibungen zu halten, also die Briefe richtig zu beurteilen, ist ja unmöglich, sie wechseln selbst fortwährend ihren Wert, die Überlegungen, zu denen sie Anlass geben, sind endlos, und wo man dabei gerade Halt macht, ist nur durch den Zufall bestimmt, also auch die Meinung eine zufällige. (S 363)
Man vergleiche dies nun mit dem Process: »Du musst nicht zuviel auf Meinungen achten«, sagt der Gefängniskaplan zu Josef K., »Die Schrift
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Press 1999). Das Wort »Mem« verschmilzt »Gen« und das altgriechische Wort »ȝȓȝȘȝĮ«, das »etwas Nachgeahmtes« bedeutet. Die Charakterisierung Gisas durch Adorno ist zu finden in: »Aufzeichnungen zu Kafka« [1953], in: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann, Bd. 10·1, Darmstadt: WBG 1998, 254-287, hier: 272.
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ist unveränderlich und die Meinungen sind oft nur ein Ausdruck der Verzweiflung darüber, dass dem darüber« (FKA P Im Dom 53). Solche Beispiele dessen, was ich Kafka-Meme nenne, sind Legion im Schloss; und ein Teil des hermeneutischen Reizes des Romans macht ihr Auffinden und ihre richtige Einschätzung aus; das Resultat einer solchen Praxis passt allerdings schlecht in eine totalisierende Sicht auf Kafkas Narrativ. Was hier nämlich vorliegt, ist eine andauernde Spannung zwischen entgegengesetzten temporalen Stoßrichtungen. Einerseits begegnen wir allegorischen Bruchstücken aus der Geschichte von Kafkas Schriften, die uns veranlassen, uns von der erwartbar fortschreitenden Erzählung über K’s Versuche, das Schloss zu »betreten«, zurück- und abzuwenden. Wir könnten von der hyperbolischen Kraft dieser allegorischen Dimension sprechen; sobald wir ein Kafka-Mem erahnen, erfahren wir ein unmittelbares Aufblitzen des Wiedererkennens, die Euphorie empfundener Bedeutung. Andererseits hebt sich diese plötzliche Bewegung in die Vergangenheit von der im Dämmerlicht liegenden, langsam vorrückenden Dimension des Narrativs ab, das in düsteren Innenräumen wie der »grossen Stube im Dämmerlicht« bei Lasemann (S 22) und in dämmerigen Licht kaum vorankommt, wie zum Beispiel hier: Nur fing es freilich schon zu dunkeln an und er beschleunigte die Schritte. Das Schloss, dessen Umrisse sich schon aufzulösen begannen, lag still wie immer, niemals noch hatte K. dort das geringste Zeichen von Leben gesehen, vielleicht war es gar nicht möglich aus dieser Ferne etwas zu erkennen und doch verlangten es die Augen und wollten die Stille nicht dulden. (S 156)
Und auch: Die Blicke des Beobachters konnten sich nicht [am Schloss] festhalten und glitten ab. Diese Eindruck wurde heute noch verstärkt durch das frühe Dunkel, je länger er hinsah, desto weniger erkannte er, desto tiefer sank alles in Dämmerung. (S 156f.)
Sowie:
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K. trat auf die wild umwehte Freitreppe hinaus und blickte in die Finsternis. Ein böses, böses Wetter. […] Eine intrigante Natur, scheinbar sinnlos arbeitend wie der Wind, nach fernen fremden Aufträgen, in die man nie Einsicht bekam. (S 186)
Wenn uns die Allegorie eine Art kognitive Äquivalenz ohne Überschuss bietet, dann bringt uns das Schloss-Narrativ im Gegenteil dazu, uns an die Arbeit zu machen, Metall von Schlacke zu scheiden, um einen möglichen Bedeutungszusammenhang aus vereinzelten Ereignissen, Gerede und Details herzustellen. Oder, werden wir uns fragen, liegt die Wahrheit dieses Narrativs gerade in dieser scheinbaren Schlacke – verdeckter Zierrat des Plots nach Art der Strafkolonie, wo die Nachricht dem Opfer-Leser nicht erschlossen wird, bevor er mit seinen Wunden sowohl die »authentische Schrift« als auch ihre »Schnörkel« entziffert hat? Lassen wir einmal beiseite, dass das Schreiben der Verschnörkelungen nicht aufhören wird, bis es seinen Körper ausgezehrt hat, sodass kein Sensorium überlebt, welches die Ruhm umwobene Einsicht fassen könnte. Von In der Strafkolonie aus wird man schnell zu einem anderen Kafka-Mem im Schloss geführt. Wie Bürgel, der kleine Bürge, dem schlafenden Helden, dem »bittere[n] Kraut« (S 229) K. erklärt: »Die Leibeskräfte reichen nur bis zu einer gewissen Grenze, wer kann dafür, dass gerade diese Grenze auch sonst bedeutungsvoll ist. Nein, dafür kann niemand« (S 425). Vermutlich ist es erforderlich, einige weitere Beispiele für die unzähligen Kafka-Meme, die man in ihren traumartigen Variationen im Schloss erahnen kann, anzuführen und, um ihre Anwesenheit zu erklären, eine allgemeine Theorie, die Kafka in seinem Briefwechsel mit Milena liefert, freizulegen. Hier sind zuerst die Beispiele: Da haben wir K., Kognak schlürfend in Klamms Kutsche: Das war rücksichtsvoll, aber K. wollte ihn ja bedienen; schwerfällig, ohne seine Lage zu verändern langte er nach der Seitentasche, aber nicht in der offenen Tür, die zu weit entfernt war, sondern hinter sich in die geschlossene, nun, es war gleichgültig, auch in dieser waren Flaschen. Er holte eine hervor, schraubte den Verschluss auf und roch dazu, unwillkürlich musste er lächeln, der Geruch war so süss, so schmeichelnd, so wie
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wenn man von jemand, den man sehr lieb hat, Lob und gute Worte hört und gar nicht genau weiss, um was es sich handelt und es gar nicht wissen will und nur glücklich ist in dem Bewusstsein, dass er es ist, der so spricht. ›Sollte das Kognak sein?‹ fragte sich K. zweifelnd und kostete aus Neugier. Doch, es war Kognak, merkwürdiger Weise, und brannte und wärmte. Wie es sich beim Trinken verwandelte, aus etwas, das fast nur Träger süssen Duftes war in ein kutschermässiges Getränk. ›Ist es möglich?‹ fragte sich K., wie vorwurfsvoll gegen sich selbst und trank noch einmal. Da – K. war gerade in einem langen Schluck befangen – wurde es hell, das elektrische Licht brannte, innen auf der Treppe, im Gang, im Flur, aussen über dem Eingang. Man hörte Schritte die Treppe herabkommen, die Flasche entfiel K.’s Hand, der Kognak ergoss sich über einen Pelz. (S 164f.)
Hier haben wir nun Rotpeter, den Affen, der es in Ein Bericht für eine Akademie auf die »Durchschnittsbildung eines Europäers« (DzL 312) gebracht hat, also nicht so sehr derjenigen K.’s unterlegen, wenn wir den Ansichten der Vorsteher im Schloss trauen können – der Brückenhofwirtin Gardena, der Wirtin vom Herrenhof oder – aber ja! – Pepi. Für die erste ist er eine »Blindschleiche« (S 90), für die zweite ein »Lümmel« (S 450), für die dritte der »Allergeringste[]« (S 464). Wir erinnern uns an Rotpeters »Pelz«: Ich, ich darf meine Hosen ausziehen, vor wem es mir beliebt; man wird dort nichts finden als einen wohlgepflegten Pelz und die Narbe nach einem -- wählen wir hier zu einem bestimmten Zwecke ein bestimmtes Wort, das aber nicht mißverstanden werden wolle -- die Narbe nach einem frevelhaften Schuß. (DzL 301f.)
Wir werden uns an Rotpeters wechselnde Gefühle der Glückseligkeit und dann des Ekels vor dem starken Getränk erinnern; wir erinnern uns an seine Verzückung dabei, das Getränk tief in seinen Pelz hinein zu schütten; wir erinnern uns an das Gefühl, geküsst zu werden, das ihm das Getränk bereitet (für K. im Schloss ist der schiere Geruch des Ko-
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gnaks so, als höre man Lob und gute Worte von jemandem, den man lieb hat):6 Was für ein Sieg dann allerdings für ihn wie für mich, als ich eines Abends […] eine vor meinem Käfig versehentlich stehen gelassene Schnapsflasche ergriff, […] sie schulgerecht entkorkte, an den Mund setzte und ohne Zögern, ohne Mundverziehen, als Trinker von Fach, mit rund gewälzten Augen, schwappender Kehle, wirklich und wahrhaftig leer trank; nicht mehr als Verzweifelter, sondern als Künstler die Flasche hinwarf; zwar vergaß den Bauch zu streichen; dafür aber, weil ich nicht anders konnte, weil es mich drängte, weil mir die Sinne rauschten, kurz und gut »Hallo!« ausrief, in Menschenlaut ausbrach, mit diesem Ruf in die Menschengemeinschaft sprang und ihr Echo: »Hört nur, er spricht!« wie einen Kuß auf meinem ganz schweißtriefenden Körper fühlte. […] Die Stimme versagte mir sofort wieder; stellte sich erst nach Monaten ein; der Widerwille gegen die Schnapsflasche kam sogar noch verstärkter. Aber meine Richtung allerdings war mir ein für allemal gegeben. (DzL 310f.)
Hört die Leserschaft von Amalias Bluse, wird ihrem Gedächtnis erneut auf die Sprünge geholfen. An dem Tag, an dem sie von Sortini verbal angegriffen wird, lesen wir in Olgas Erzählung: [B]esonders das Kleid Amalias war schön, die weiße Bluse vorn hoch aufgebauscht, eine Spitzenreihe über der anderen, die Mutter hatte alle ihre Spitzen dazu geborgt, ich war damals neidisch und weinte vor dem Fest die halbe Nacht durch. […] Amalia […] borgte mir deshalb, um mich zu beruhigen, ihr eigenes Halsband aus böhmischen Granaten. (S 296)
In einer quälenden Passage aus dem Brief an den Vater bezieht sich Kafka auf eine kleine Aussprache an einem der paar aufgeregten Tage nach Mitteilung meiner letzten Heiratsabsicht. Du sagtest zu mir etwa: ›Sie hat wahr6
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scheinlich irgendeine ausgesuchte Bluse angezogen, wie das die Prager Jüdinnen verstehn, und daraufhin hast Du Dich natürlich entschlossen, sie zu heiraten. Und zwar möglichst rasch, in einer Woche, morgen, heute. Ich begreife Dich nicht, Du bist doch ein erwachsener Mensch, bist in der Stadt, und weißt Dir keinen andern Rat als gleich eine Beliebige zu heiraten. Gibt es da keine anderen Möglichkeiten? Wenn Du Dich davor fürchtest, werde ich selbst mit Dir hingehn.‹ (NSF II 205)
Somit haben wir in Olgas Bericht über Amalias Fall ein traumartiges Verschmelzen dieses Netzes aus Bluse, Ehe, Böhmen, brutalem Sex und – für einige scharfsichtige Leser, wie Arnold Heidsieck einer gewesen ist – die »jüdische« Barnabas-Familie kennengelernt.7 Die Stoßrichtung dieser Paarbildung von Familien ist eine allegorische: Sie bringt das Narrativ punktuell zum Stehen, das mehr und mehr wie eine düstere Nacht erscheint, die nur von allegorischen Lichtblitzen illuminiert wird. Ein unwiderstehlich eindrucksvoller Moment ist die Geschichte von K.’s ungewöhnlicher Dreistigkeit, mit der er das »Zartgefühl der Herren« – nicht nur der Ehrenmänner, sondern auch der Herren und Meister – auf die Probe stellt, indem er es wagt, sich auf dem Korridor des Herrenhofs sehen zu lassen. Dies ist ein grauenvoller Fehler, denn, so die Herrenhofwirte, »das Zartgefühl der Herren sei grenzenlos« (S 443). In der Zwischenzeit mag die Leserschaft sich gut an vergleichbare Zeilen aus dem Process erinnern, in denen solches »Zartgefühl« auf unverwechselbare Weise die Angeklagten charakterisiert. 1913, bevor er den Process schrieb, hatte sich Kafka Felice gegenüber als ein Mann, der »mit unsichtbaren Ketten an eine unsichtbare Literatur gekettet ist, und der schreit, wenn man in die Nähe kommt, weil man, wie er behauptet, diese Kette betastet« (BaF 450), beschrieben. Diese Klage führt uns zu derjenigen Szene im Process, in der ein angeklagter Herr in den Kanzleien aufschreit, als Joseph K. seinen Arm »ganz leicht« (FKA P Im leeren Sitzungssaal Der Student Die Kanzleien 54) berührt. Der Amtsdiener erklärt daraufhin: »Die meisten Angeklagten sind so 7
Arnold Heidsieck: »Community, Delusion and Anti-Semitism in Kafka’s The Castle«, 1-15 (http://www.usc.edu/dept/LAS/german/track/heidsiec/ KafkaAntisemitism/KafkaAntisemitism.pdf vom 13.05.2012).
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empfindlich« (ebd.). »Aber er wollte ihm nicht Schmerz bereiten, hatte ihn auch nur ganz leicht erfasst angegriffen, trotzdem aber schrie der Mann auf, als habe K. ihn nicht mit zwei Fingern, sondern mit einer glühenden Zange erfasst« (ebd.). Uns bleibt nichts, als über die Inversion der Hierarchie der Zartfühlenden im Schloss nachzugrübeln, wobei die Erzählung In der Strafkolonie eine Mittelstellung in einer Serie von Texten einnimmt, da hier das Opfer der Messer schwingenden Tötungsmaschine, anders als im Process, nicht mehr der unglückliche Angeklagte, sondern der Offizier, der hohe Beamte selbst ist. Schließlich ist es bemerkenswert, wie das Mem tatsächlich ein Knäuel der vermeintlich fortschreitenden Handlung begünstigt. Wenn K. als Held der Erzählung in Samuel Becketts Worten der »viceexister« des Autors ist,8 dann hat K. in der Welt vom Schloss selbst einen vice-exister im Kind Hans Brunswick, das sagt, es »wolle ein Mann werden wie K« (S 236). Zu Hans gehört Hans’ Familie, eine Art Repositorium von Kafka-Memen: Hans’ Schwester heißt Frieda (man denke an »Frieda Brandenfeld« aus Das Urteil, ein vice-exister von Kafkas Verlobter Felice Bauer, genauso wie an K.’s Verlobte Frieda, eine Halbmaske von Kafkas Briefpartnerin Milena Jesenská). Hans’ Mutter leidet unter einer Lungenerkrankung, die gute Luft verlangt. Wir haben es hier damit zu tun, was ich punktuelle allegorische Beziehungen genannt habe. Gleichzeitig ist K.’s Verhältnis zur Familie Brunswick eines der produktiveren Handlungselemente, denn es ist Hans’ Vater, der »wenigstens nach dem Bericht des Gemeindevorstehers, der Führer derjenigen gewesen [war], welche, sei es auch aus politischen Gründen, die Berufung eines Landvermessers verlangt hatten« (S 235). Diese Tatsache treibt die Handlung an, indem sie etwas von der Vorgeschichte der Ankunft K.’s im Dorf als Landvermesser beleuchtet – es scheint, als ob die Sache vor seiner Ankunft im Dorf zumindest erörtert worden ist –, und somit könnte K. kein vollkommener Schwindler sein – vielleicht. Es ist wichtig zu betonen, dass ich, trotz der Nennung Felice Bauers und Milena Jesenskás weiter oben, Kafka-Meme nicht anhand der 8
Samuel Beckett: The Unnamable, in: The Grove Centenary Edition, Vol. 2, hg. v. Paul Auster, New York: Grove Press 2006, 309.
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Biographie Kafkas, sondern anhand textueller Heimsuchungen definiere. Nun kann ich mir den Einwand vorstellen, dass solche Entdeckungen, die im Allgemeinen das narrative Tempo hemmen, bloß zufällige Assoziationen und daher ohne Erkenntniswert sind. Kafka allerdings hat beredt über die Beharrlichkeit solcher Heimsuchungen, eben solcher »Gespenster«, geschrieben. Aus der Überfülle dokumentarischer Belege ist der ergiebigste eine oft zitierte, aber nur selten erläuterte Passage aus demjenigen Brief an Milena Jesenská, der auf den Juli 1922 datiert ist. Hier schreibt Kafka über ihren Briefwechsel, wobei er das Briefeschreiben mit Hilfe des ergreifenden Bildes von unersättlichen Gespenstern, die die Küsse, die man der Geliebten sendet, austrinken, bevor sie an ihrem Ziel ankommen, verurteilt. »Briefe schreiben«, schreibt er, »heißt, sich vor den Gespenstern entblößen, worauf sie gierig warten. Geschriebene Küsse kommen nicht an ihren Ort, sondern werden von den Gespenstern auf dem Wege ausgetrunken« (BaM 302). Wer sind diese Gespenster? Ob man es versteht oder nicht, schlägt einen dieses Bild in den Bann. Immerhin könnten wir einen Versuch unternehmen, und auf den Kontext der zitierten Briefstelle verweisen. Er eröffnet das Bild mit der Behauptung, die leichte Möglichkeit muß eine schreckliche Zerrüttung der Seelen in die Welt gebracht haben. Es ist ja ein Verkehr mit Gespenstern und zwar nicht nur mit dem Gespenst des Adressaten, sondern auch mit dem eigenen Gespenst, das sich einem unter der Hand in dem Brief, den man schreibt, entwickelt oder gar in einer Folge von Briefen, wo ein Brief den andern erhärtet und sich auf ihn als Zeugen berufen kann. (BaM 301)
J. Hillis Miller verdeutlicht das Bild: The ghosts in question here are the distorted specters or phantoms of the sender and receiver of the letter, generated by the words of the letter. The letter is an invocation of ghosts, but these are not to be identified with the sender and receiver of the letter as such. The letter itself deflects the letter and the written kisses it contains away from its intended message and its goal, its destination. The letter is deflected toward the ghosts of sender
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and recipient that the letter itself raises, by a powerful incantation or conjuration.9
Die Betonung liegt auf dem Wirken des Briefes als Erzeuger von Gespenstern. Kafkas Brief ist ein Versuch über die generative Macht von Worten und gleichzeitig ein grundlegender Hinweis auf ein Verständnis dessen, wie sich die Macht solcher Beschwörung akkumuliert. Es ist eine Frage der Geschichte von (Kafkas) Schreiben, die jedem individuellen Schreibakt vorausgeht. Noch einmal, Briefe schreiben […] ist ja ein Verkehr mit Gespenstern und zwar nicht nur mit dem Gespenst des Adressaten, sondern auch mit dem eigenen Gespenst, das sich einem unter der Hand in dem Brief, den man schreibt, entwickelt oder gar in einer Folge von Briefen, wo ein Brief den andern erhärtet und sich auf ihn als Zeugen berufen kann. (BaM 301, Herv. d. Verf.)
Denken wir anlässlich dieser Vorstellung vom Brief schlicht und einfach über Kafkas Schreibakte nach, dann werden wir sehen, dass wir es hier mit einem verdichteten Ausdruck einer Theorie zu tun haben, die einer Lektüre vom Schloss angemessen ist. Die Theorie macht die Entfremdung der empirischen Person vom transzendentalen Phantom, welches das Schreiben produziert, geltend – und somit die Entfremdung des Autors aus Fleisch und Blut von seinem Text. In diesem Lichte drehen sich Kafkas Texte, so paradox dies auch sein mag, nicht um den Autor aus Fleisch und Blut, sogar dann nicht, wenn, wie im Brief an den Vater, solche Identität das ausdrückliche Ziel wäre. Oder sie drehen sich um die Person nur im Sinne von Heideggers »um« in seinem Apothegma »zum Sein des Daseins, um das es ihm in seinem Sein selbst geht […]«10 Es ist eher so – ich betone Millers Standpunkt –, dass der Brief beziehungsweise der Text selbst den Brief beziehungsweise den Text und die geschriebenen Küsse, die er enthält, ablenkt, weg von der
J. Hillis Miller: »Derrida’s Destinerrance«, in: MLN 121-4 (2006), 893-910, hier: 901f., Herv. d. Verf. 10 Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen: Niemeyer 1963, 123. 9
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ihm zugedachten Nachricht und ihrem Ziel, ihrem Bestimmungsort. 11 Wir können uns vorstellen, dass Das Schloss eine Nachricht der beständigen Ablenkung der Bedeutung weg von einem Kommunikationskreislauf enthält. Diese Ablenkung wird durch das Abdriften von K.’s Bemühungen, mit dem Schloss zu kommunizieren, literarisch dargestellt. Aber wenn das Wissen um diese Ablenkung dem Leser vom Schloss zugestellt wird, würde das nicht bedeuten, dass die Nachricht der Nichtankunft in Wirklichkeit an ihrem Bestimmungsort eingetroffen ist? Die Antwort auf dieses Paradox ist, dass dieses Wissen nicht fixiert werden kann; es ist unvollständig. Es produziert ein Schwindelgefühl der Unbestimmtheit, ein vollkommenes Ritardando, noch keine Nachricht, und das ist die Nachricht. Die gespenstischen Überreste im Schloss, die das Narrativ unterbrechen, verlangen im Grunde eine endlose Interpretation. Wir werden diesem Vorhaben eine Schranke setzen, indem wir herausstreichen, dass diese Überreste keine empirischen Verweise sind, wie etwa Verweise auf diejenigen Personen, die Hartmut Binder zufolge als Modelle für die Besetzung seiner Charaktere dienen.12 Ich beziehe mich an dieser Stelle auf eine andere poetologische Forderung Kafkas, die sich auf »das Freie der eigentlichen Beschreibung […], die einem den Fuss vom Erlebnis löst« (Tb 87) beruft. Das Schloss ist kein Medium, in dem die Fragmente, welche zu Kafkas vermeintlich autobiographischem Projekt passen, schließlich eingebettet wären. Wir entdecken Gespenster nicht aus Kafkas Biographie, sondern aus der Geschichte seines Schreibens. Wo sind wir nun in unserer Diskussion von Kafkas Schloss-Narrativ angelangt? Solche allegorischen Unterbrechungen tragen, wenn überhaupt, nur nebenbei zu einem Verständnis des Haupt-Narrativs bei. Einige weisen durch Parodie und Inversion gestisch auf das Werk als Ganzes hin; allerdings sind wir eher geneigt, diese Meme als formale Hindernisse für ein Verständnis der Stoßrichtung dieses Epos zu betrachten. Sie hemmen das Hauptmotiv von K.’s Vorstoß zum Schloss. 11 Vgl. Miller, »Derrida’s Destinerrance«, s. Anm. 9, 902. 12 Vgl.: Hartmut Binder: Kafka in neuer Sicht. Mimik, Gestik und Personen-
gefüge als Darstellungsformen des Autobiographischen, Stuttgart: Metzler 1976.
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Was ist dann die Kernfrage, auf die das Narrativ vielleicht eine Antwort bieten müsste, aber widerstrebt, dies zu tun? Die überwältigende Frage einer Lektüre oder eines Verständnisses vom Schloss wäre dann: Was will K.? Die Frage ergibt sich nicht nur für den Leser: 30 Seiten vor Ende dieses in der KKA 495 Seiten langen Werks fragt Pepi: »Ja, woran denkt denn K.? Was hat er für besondere Dinge im Kopf? Will er etwas Besonderes erreichen? Eine gute Anstellung, eine Auszeichnung? Will er etwas derartiges?« (S 465). Wir haben gelesen, wie K. die Frage beantwortet, auch wenn Pepi diese Antwort nicht vernommen hat: »Meine Angelegenheiten mit den Behörden in Ordnung zu bringen, ist mein höchster, eigentlich mein einziger Wunsch« (S 268). K. will eine zufriedenstellende Klärung seiner »Angelegenheiten«. Diese Klärung verlangt nach einem Treffen mit den Schlossbeamten, die zuerst seinem Wunsch, ihnen gegenüberzutreten, entsprechen müssen. In diesem Licht lesen wir den Roman als einen epischen Bericht über K.’s Aufgabe, seinen Wunsch nach einem Treffen erfüllt zu bekommen und damit eine Klärung seines Falls zu erzielen. Er stellt sich die Klärung als Unterredung mit Klamm von Angesicht zu Angesicht vor: ›Was wollen Sie also von Klamm?‹ sagte die Wirtin. […] ›[…] was ich von ihm will, ist schwer zu sagen. Zunächst will ich ihn in der Nähe sehn, dann will ich seine Stimme hören, dann will ich von ihm wissen, wie er sich zu unserer Heirat verhält[.]‹ (S 137f.)
An dieser Stelle besteht K.’s Fall im Wesentlichen aus seiner bevorstehenden Heirat mit Frieda, und so möchte K. Klamms Ansichten zu dieser Sache hören. Der Inhalt dieser entscheidenden Unterredung scheint eine begriffliche Leere zu sein, auf die so etwas wie eine unverbindliche Reprise vom Urteil und vom Brief an den Vater folgt, noch ein weiteres Kafka-Mem: Der Untergeordnete (der Sohn, der Bittsteller) ersucht den Segen seines Vorgesetzten (des Vaters, der Autoritätsperson) für seine Hochzeitspläne. Aber als ob diese Rückerinnerung der Lächerlichkeit preisgegeben werden soll, hören wir von der Verachtung der Wirtin für ein solches Unternehmen, geäußert in Anwesenheit von Mo-
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mus, dem Schreiber, einem Abkömmling des griechischen Gottes des Hohns: »Haben Sie nicht selbst erklärt, dass Sie zufrieden sein würden, wenn Sie nur Gelegenheit hätten vor Klamm zu sprechen, auch wenn er Sie nicht ansehn und Ihnen nicht zuhören würde?« (S 182, Herv. d. Verf.). Die Erfüllung von K.’s Wunsch, Klamms Ansichten über seine Eheschließung zu hören, ist in keiner Weise abhängig von den Worten, die er von Klamm vielleicht hören mag. Wir werden an unsere erste Frage zurückverwiesen: Was will K.? Der Held K. kommt, offensichtlich ohne ein bestimmtes Vorhaben im Sinn, auf dem Grund und Boden des Schlosses an. Erst nach einer Weile und unter dem Druck anderer gibt er sich als vom Graf bestellter Landvermesser aus. Er ist ein Vagabund ohne Zentrum. Seine Ankunft ist eine Art zweite Geburt: Wir schlussfolgern dies aus der Tatsache, dass er, obwohl er Frau und Kind hat, schnell eine neue Familie gründet. Dies ist der anthropologische Entwicklungsgang gemäß Kafkas Bericht über K.: Der Mensch wird mit dem Schimmer einer höheren Sache geboren; ansonsten ist er ohne konkretes Begehren oder eine Vorstellung davon, was er wollen könnte. Aber er muss leben; er muss in der Zeit voranschreiten; und so wird er auf die Interpretationen achten, die andere über seine Handlungen anstellen. Übersetzt in einen Satz: Ich werde im Lichte dessen, was ihr als Absicht meiner Handlungen ausmacht, handeln. Dies ist sogar K.’s wesentlicher Refrain: »›Ja, gewiss,‹ sagte K. und überließ ihr [Olga] die Deutung der Worte« (S 58). Und welche andere Bedeutung könnte Olga in K.’s Worten finden, als die Bedeutung, von der K. beabsichtigt, dass sie sie versteht? Aber er ist seiner Absichten unkundig. Und daher ist er gezwungen, die Abwesenheit seiner Absichten als Echo zu wiederholen. Man bedenke einige frühere Auftritte des Echos: »Hier«, sagt K. in einem Telefongespräch mit dem Schloss: ›Hier der Gehilfe des Herrn Landvermessers.‹ ›Welcher Gehilfe? Welcher Herr? Welcher Landvermesser?‹ K. fiel das gestrige Telephongespräch ein, ›Fragen Sie Fritz‹, sagte er kurz. Es half, zu seinem eigenen Erstaunen. (S 37, Herv. d. Verf.)
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Einen Moment später: ›[I]ch aber bin der alte [Gehilfe], der dem Herrn Landvermesser heute nachkam.‹ ›Nein‹, schrie es nun. ›Wer bin ich also?‹ fragte K. ruhig wie bisher. Und nach einer Pause sagte die gleiche Stimme […]: ›Du bist der alte Gehilfe.‹ (S 37)
Die Antwort ist lediglich ein Echo seiner wilden Vermutung, an einem Punkt, an dem er eine restlose Leerstelle als den Ursprung seiner List erahnen kann. Er hat die Wahrheit über sein Sein, sein Begehren, das er nicht kennt, nicht gesagt, und hier wird die Lüge nur als Echo wiederholt. Andere machen sich nicht die Mühe, ihn eines Besseren zu belehren, denn sie wissen es keinen Deut besser als er. Was auf dieses Gespräch folgt, ist die Wahrheit, die K. beinahe versäumt zu verstehen: K. […] überhörte […] fast die Frage: ›Was willst Du?‹ Am liebsten hätte er den Hörer schon weggelegt. Von diesem Gespräch erwartete er nichts mehr. Nur gezwungen fragte er noch schnell: ›Wann darf mein Herr ins Schloss kommen?‹ ›Niemals‹, war die Antwort. ›Gut‹, sagte K. und hing den Hörer an. (S 37f.)
Aber es ist nicht gut: Wenn Klamm vom Schloss in den Worten, die er danach an Frieda richten wird, K.’s vermeintliches Zentrum ist, dann ist sein Ausschluss verheerend: »Du aber […] wurdest von Klamm losgerissen, ich kann nicht ermessen, was das bedeutet, aber eine Ahnung dessen habe ich doch allmählich schon bekommen, man taumelt, man kann sich nicht zurechtfinden« (S 397). Und dennoch hat K.’s Wunsch, mit Klamm verbunden zu sein, »ihn in der Nähe sehn« – »ihm gegenüber stehen« – immer nur eine bloß formale Beziehung zu dem NichtDing beschrieben, in dem er bloß instinktiv etwas erahnt, das mächtiger ist als er selbst (vgl. S 82). In diesem Licht ist es uns vielleicht erlaubt, unsere erste Vermutung zu modifizieren und das vorrangige Problem des Narrativs nicht länger in der Frage danach, was K. will (Roberto Calasso: »erwählt
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sein«; Jacob Burnett: »ein erdendes Zentrum«),13 sondern vielmehr als dessen Verborgenheit zu sehen. Die Crux besteht darin, auf das Augenfällige aufmerksam zu werden – die Tatsache, dass wir nicht wissen, was K. will, weil er nicht weiß, was er will. Letztlich ist Das Schloss ein Werk über jemanden, der nicht weiß, was er will, was heißt: über einen Jedermann. Wir wollen das, so scheint es, was wir zu wollen denken, indem wir aus der Reaktion anderer auf die ersten zufälligen Treffer bei unserer Tuchfühlung mit ihnen urteilen. K.’s zufällige Eingebung ist es, dass er als Landvermesser bestellt worden ist – ein zufälliger Treffer, da er weiß, dass er unqualifiziert ist.14 Zu K.’s Überraschung wird sein falscher Vorwand vom Schloss akzeptiert, und er wird sodann erklären, dass er tatsächlich als Landvermesser angenommen worden sei, aber dann, wiederum, nur »scheinbar« (S 313). Wir sind dorthin gelangt, von wo aus wir das Narrativ als Verwicklung zweier Fragen sehen: der Frage nach der Bedeutung von K.’s Suche und der Frage nach der Bedeutung der Tatsache, dass die Antwort verborgen ist. Wo sind die Worte, die uns die Wahrheit über sein ursprüngliches Begehren sagen werden? Nach einer Zeit werden wir vielleicht weniger aufmerksam gegenüber K.’s Abenteuern und den Reden der anderen werden, die den Roman mehr und mehr ausfüllen; weniger auf Ereignis oder Emotion oder materielles Objekt oder Charakter in der Runde sehen, denn wir warten auf die Worte, die K. aussprechen könnte, aber es nicht tut: »Dies ist, was ich will«. Robert Walsers Apho13 Roberto Calasso: K., München: Hanser 2006, 5; Jacob Burnett: »Strange
Loops and the Absent Center in The Castle«, in: Stanley Corngold und Ruth V. Gross (Hg.): Kafka for the 21st Century, Rochester: Camden House 2011, 105-119. 14 Leser von Kafkas amtlichen Schriften werden von diesem Treffer nicht überrascht sein: »In der Zeit, in der Kafka eine Versicherungspolice bearbeitete, die dazu dienen sollte, Kompensationsprämien für Arbeitnehmer auf Grundlage einer auf Anbaufläche basierenden Pauschalsteuer einzuziehen, beschwerte er sich bei der Niederlassung in Wien über die Vergeblichkeit des Unterfangens angesichts des Fehlens kompetenter Landvermesser: da gab es falsche Vermesser im Überfluss« (übersetzt aus: Stanley Corngold, Jack Greenberg und Benno Wagner [Hg.]: Franz Kafka: The Office Writings, Princeton: Princeton Univ. Press 2009, 78).
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rismus passt dazu perfekt: »In starkem Grad besitzt einer nur, was ihm fehlt, da er’s suchen muß.«15 K. muss für immer das Begehren suchen, das seine Suche antreibt. Diese – zugegebenermaßen schon ganz am Anfang und dann kontinuierlich von da an Spannung produzierende – Lücke trägt zum Ritardando im Schloss bei. Wir warten auf die Antwort. Es gibt eine dritte Dimension der Verzögerung: Das Schloss ist mit Kontrafakten gespickt, einer besonders zögerlichen Form der Aussage. Sie bietet weniger Informationen denn Hypothesen an. Fakten des Falls in einer Welt, die parallel zur brutal reduzierten, vorhandenen Welt liegt – Schnee, Kaffee, Turngeräte, die seltsame Sardinenbüchse. Wir haben diese Vermutungen ganz von Anfang an, verdichtet im Wort »scheinen«; ein Fächer von Spekulationen entfaltet sich ausgehend vom ursprünglichen Schein des Schlosses selbst, »die scheinbare Leere« (S 7). Ich schlage eine sehr unvollständige Auswahl solcher Konditionale vor: »so etwa als würde« (S 58); »es schien ihm« (S 69); »wenn es so ist« (S 84); »nicht weit davon« (S 92); »so war ihm manchmal als« (S 156); »schien, so als sei« (S 207); »vielleicht […] wäre es sogar auch Ihnen lieb« (S 209); »das war nur scheinbar« (S 313); »so als wolle er« (S 320); »tut sie so als« (S 475); »so als wolle« (S 479); »als wären es nicht viel mehr als« (S 488); »als träume sie« (S 489); »war es als überliefe sie« (S 490). Der Leser wird herausgefordert, die Beziehung dieser Parallelwelten zu verstehen. Die Dinge haben etwas miteinander zu tun; sie sind ganz sicher nicht dasselbe; sie sind nicht völlig verschieden; also welche Beziehung zwischen ihnen ist denkbar? Das eine ist wahrscheinlich das andere. Sie sind wahrscheinlich gleich, aber das lässt sich nicht beweisen. Wollte man diese Sache weiterverfolgen, dann würde man zu Recht in Kafkas amtliche Schriften hineingezogen, in denen er als Experte für auf Gesetzen der Wahrscheinlichkeit beruhende Risikoversicherungen auftritt. Aber das ist eine andere Ebene der Referenz, deren angemessene Behandlung die
15 Robert Walser: Lektüre für Minuten. Gedanken aus seinen Büchern und
Briefen, hg. v. Volker Michels, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1978, 9.
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Grenzen dieses Aufsatzes sprengen würde. 16 Meine hauptsächliche Aufgabe war es, drei Ebenen des Aufschubs und der Umleitung der Erwartung eines narrativen Telos durch den Leser, wie sie sich, mit mehr oder weniger ausgeprägter Bestimmtheit, in den so genannten realistischen Romanen von Kafkas erklärten Helden, Goethe, Stifter, Dickens, Flaubert und Dostojewski, finden lässt, vorzuschlagen. Ich nenne diese drei Faktoren des Aufschubs – oder des Ritardando – Konditionalkonstruktionen, die Leerstelle des ursprünglichen Begehrens und KafkaMeme.
16 Diese Verbindung von Ideen wird in Franz Kafka: The Ghosts in the Ma-
chine, das kürzlich von Benno Wagner und mir veröffentlicht wurde, in aller Länge entwickelt. Der Leser ist eingeladen, dieses Buch für eine angemessene Schlussfolgerung aus diesem Aufsatz zur Hand zu nehmen (vgl. Franz Kafka: The Ghosts in the Machine, Evanston: Northwestern Univ. Press 2011).
Das Schloss zwischen Buch und Handschrift M ALTE K LEINWORT
Und doch erkennt man noch jetzt aus der Anlage, und die Überlieferung bestätigt es, dass es ein weitläufiger, schlossartiger Bau gewesen ist (vgl. NSF II App. 393)1
Was ist Das Schloss? Ein unabgeschlossener Roman oder der bloße handschriftliche Entwurf zu einem Roman? Wenn in einer fiktiven Anordnung die sechs Schloss-Hefte auf der einen Seite und die zahlreichen Buchausgaben vom Schloss auf der anderen einander gegenübergestellt werden würden, ließen sich einige bemerkenswerte Ähnlichkeiten zu der eigentümlichen Topographie von Dorf und Schloss im Schloss beobachten. Im Folgenden sollen diese Ähnlichkeiten dargestellt und untersucht werden, indem ein Analogieverhältnis angenommen wird in der Beziehung von der Handschrift zur Buchausgabe und parallel dazu 1
Das in der Handschrift gestrichene Zitat stammt aus dem sechsten SchlossHeft und ist kopfstehend dem entgegengeschrieben, was üblicherweise als das Ende vom Schloss angesehen wird (vgl. S App. 51-54). Für Max Brod gehört das Zitat zu den Fragmenten »[o]hne Zusammenhang mit dem Ganzen der Erzählung« (S App. 54), und für Malcolm Pasley ist es Teil eines der »acht kurze[n], mit dem Romantext inhaltlich nicht zusammenhängende[n] Texte« (S App. 52).
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vom Dorf zum Schloss. Zwischen Handschrift und Buch oder Dorf und Schloss gibt es indes, wie am Schluss zu zeigen sein wird, noch Raum für Alternativen, an denen Kafka nach der Arbeit am Schloss Interesse zeigte. Zu den größten Rätseln des Verhältnisses von Dorf und Schloss gehört, dass deren Differenz für die Welt von Dorf und Schloss ebenso konstitutiv ist wie deren Identität. Der Landvermesser befindet sich demnach im Dorf bereits »gewissermassen im Schloss« (S 8), schafft es aber trotz großer Anstrengungen nicht in das Gebäude auf dem Schlossberg, das als eben jenes »Schloss« bezeichnet wird. Ebenso ist unzweifelhaft, dass sich die Buchausgabe vom Schloss allein durch den Bezug zur Handschrift vom Schloss legitimiert. Zugleich gibt es aber keinen einfachen, berechenbaren Weg von der Handschrift (dem Dorf) zum Buch (dem Schloss). Wer in der Handschrift liest, liest also gewissermaßen in dem als Buch bekannten Schloss und weiß doch, dass das Buch selbst in einer Faksimile-Ausgabe etwas anderes ist als die Handschrift.2
I.
Die Kafka-Editionen zwischen Dorf und Schloss
Drei Editionen von Kafkas Texten markieren zugleich drei verschiedene Einstellungen zum Verhältnis von Handschrift und Buch oder – in der hier verfolgten Analogie – von Dorf und Schloss. Die historisch erste von Max Brod nivelliert und bestätigt deren Differenz, indem sie wie K. bei seinem versuchten Spaziergang zum Schloss, über das Dorf hinwegschauend, nur Augen für das Schloss hat, das »deutlich umrissen in der klaren Luft und noch verdeutlicht durch den alle Formen nachbildenden, in dünner Schicht überall liegenden Schnee« (S 16f.) zu sehen ist. Brod gibt im Nachwort zur ersten Ausgabe zwar zu, dass Kafka Das Schloss »sichtlich nicht so nahe an den 2
Zur Unterscheidung von Handschrift und gedrucktem Text am Beispiel von Das Schloss vgl. Martin Kölbel: Die Erzählrede in Franz Kafkas ›Das Schloss‹, Frankfurt am Main, Basel: Stroemfeld 2006, bes. 35-50. Die folgenden Ausführungen haben in vielfacher Hinsicht von dieser inspirierenden Studie profitiert.
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druckfertigen Zustand herangebracht« habe wie den Process (vgl. Brod S 348), zugleich meint er aber huldigend, dass Kafka »den Umkreis der Gefühle, den der Dichter durchmessen wollte, […] innerlich restlos bewältigt« (ebd.) hat. Dazu passt auch Brods oft kritisierte theologische Deutung des Schlosses, nach der K. »die Verbindung mit der Gnade der Gottheit« zu finden glaubt, »indem er sich im Dorf zu Füßen des Schlosses einzuwurzeln sucht« (Brod S 349). Von dieser theologischen Perspektive aus betrachtet, ist die Verbindung zwischen dem Sitz der göttlichen Gnade und dem Leben der Menschen – zu Füßen des Sitzes – keine Frage der Machbarkeit, sondern eine Frage des unbedingten Gebots. Mit der Veröffentlichung sieht sich Brod geradezu als Prophet der Einheit von Handschrift und Buch-Form, wenn er schreibt, dass die Veröffentlichung von Kafkas drei fragmentarischen Großprosastücken – Der Verschollene, Der Process und Das Schloss – zeigen werde, »daß die eigentliche Bedeutung Franz Kafkas, den man bisher mit einigem Recht für einen Spezialisten, einen Meister der Kleinkunst halten konnte, in der großen epischen Form liegt« (Brod P 228).3 Dabei sollte indes nicht unerwähnt bleiben, dass für Brod außer Frage stand, dass seine Ausgabe nicht der Weisheit letzter Schluss, sondern ein work in progress war, und dass spätere Generationen bei der Veröffentlichung der Handschriften anders vorgehen werden: »[E]s gehört nicht viel Prophetengabe dazu, vorauszusehen, daß eine spätere Generation einmal auch diese gestrichenen Stellen publizieren wird« (Brod S 350).4 3
4
Wie sich Brods theologische Überlegungen mit seiner Idealisierung von Kafka verbinden lassen, ist nachzulesen in: Arnd Wedemeyer: »Diesseitswunder: Franz Kafka as Political Saint«, in: Journal of the Kafka Society of America 30:1-2 (2006), 63-75. Vgl. auch, was Brod 1935 im Nachwort zur zweiten Ausgabe vom Process geschrieben hatte: »Heute, da sich dies Werk von Jahr zu Jahr weiter eröffnet, da zumal die Wissenschaften, Theologie wie Psychologie und Philologie, von ihm ergriffen worden sind, soll einer kritischen, mit Lesarten versehenen Ausgabe, soweit dies möglich ist, vorgearbeitet worden sein« (Brod P 229). Wie eine sehr frühe Vorankündigung der FKA liest sich die folgende Überlegung von Brod in seiner Kafka-Biographie: »Letzten Endes würde nur die Photographie der Originalhandschrift vollständige Sicherheit
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Um der Öffentlichkeit die Qualität von Kafkas Großprosaversuchen zu demonstrieren, musste er über den dörflichen Charakter des Geschriebenen hinwegsehen und Entscheidungen treffen, die in der Handschrift (noch) nicht getroffen worden waren. Wie Kafka über K. auf dessen Spaziergang zum Schloss schrieb – »Nun sah er das Schloss deutlich umrissen« (S 16) –, so schrieb Brod in die Handschrift vom Schloss den folgenschweren Satz »Hier beginnt ›Das Schloß‹ M. B.« hinein (vgl. S App. 37, Abb. 1 oder Bild auf dem Buchumschlag). Während K. beim Näherkommen allerdings eingestehen musste, dass das Schloss doch »nur ein recht elendes Städtchen« (S 17) war, »aus Dorfhäusern zusammengetragen« (ebd.), blieb Brod diese Ansicht fremd. Chronologisch gesehen ist die nächste Ausgabe vom Schloss die von Malcolm Pasley im Rahmen der KKA. Sie ist der Position von Schwarzer am nächsten, der K. in der Ankunftsnacht weckt und mit der Feststellung konfrontiert: »Dieses Dorf ist Besitz des Schlosses, wer hier wohnt oder übernachtet, wohnt oder übernachtet gewissermassen im Schloss« (S 8). Als 1982 Das Schloss im ersten Band der KKA veröffentlicht wurde, war Kafka als einer der bedeutendsten Romanautoren des 20. Jahrhunderts bereits etabliert. Aufgrund dessen verfolgt die Ausgabe als Ergänzung oder Ersetzung der Brod-Ausgabe nach eigenen Angaben vor allem zwei Ziele: einmal die Herstellung eines authentischen Textes, zum anderen eine möglichst genaue Darstellung der Werk- und Textentstehung, die insbesondere alle im Manuskript erkennbaren Korrekturvorgänge vor Augen führt. (S App. 7)
Beide Ziele lassen in den Formulierungen »möglichst genaue« und »alle […] erkennbaren« noch eine Restdifferenz zwischen Buch und Handschrift durchscheinen, dokumentieren davon abgesehen indes das Bemühen, jene Differenz, so weit es eben geht, einzuebnen oder, um Schwarzers Formulierung aufzugreifen, den Besitzanspruch des Buches zu verdeutlichen. Die Differenz zwischen Dorf und Schloss, Handschrift und Buch, wird daher nicht in das Zentrum der Verhandlungen und Lückenlosigkeit gewährleisten« (Franz Kafka. Eine Biographie, Frankfurt am Main: Fischer 1954, 300).
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gestellt, vielmehr kehren die nicht explizit thematisierten Widersprüche im Aufbau und der Nomenklatura der Buchausgabe wieder. Wie Schloss und Dorf stehen sich in der Ausgabe jetzt Text- und Apparatband gegenüber. Gleich dem Dorf beherbergt der Apparatband eine Fülle von Informationen, allerdings werden diese durch ein – gewissermaßen vom Schloss – verordnetes Regelwerk in einer Weise dargestellt, dass die Verhältnisse in der Handschrift daraus kaum noch herauszulesen sind. Dieses Regelwerk wiederum kann es an Widersprüchlichkeit mit den im Schloss beschriebenen Vorgängen innerhalb der Schlossbürokratie durchaus aufnehmen. Heißt es bei der Rekapitulation des ersten Briefes von Klamm an K., dass dort »zweifellose Widersprüche […] so sichtbar« (S 41) waren, »dass sie beabsichtigt sein mussten« (ebd.), könnte das Gleiche auch über einige Passagen aus der editorischen Vorbemerkung zur KKA behauptet werden. Einerseits soll der Text »weder durch Normalisierungen noch durch Korrekturen« (S App. 7) gereinigt oder geglättet werden, dann aber wird doch eingegriffen in den Text. Zuerst »nur bei offensichtlichen Versehen (z. B. Verschreibungen) und sonstigen Anomalien im Wortlaut, Orthographie und Interpunktion, die sinnstörend wirken oder die Lesbarkeit des Textes deutlich erschweren würden« (ebd.). Statt sich dem eigenen Vorhaben gemäß der Normalisierungen zu enthalten, werden also jene Anomalien, die als sinnstörend oder die Lesbarkeit erschwerend eingeschätzt werden, ausgemerzt oder eben: normalisiert. Es fällt schwer bei den verzeichneten editorischen Eingriffen – ein Großteil besteht in der Hinzufügung des in der Handschrift fehlenden Punktes hinter K. – selbst bei großzügiger Betrachtungsweise etwas auszumachen, was einen wie auch immer gearteten Sinn stören oder die Lesbarkeit auf markante Weise erschweren könnte (vgl. S App. 93-112). Der Widerspruch zur angekündigten Enthaltsamkeit, was Normalisierungen anbelangt, wächst sich angesichts der weiteren eingestandenen Eingriffe zu einer internen Widerlegung aus. Denn nicht geduldet werden fern jeder Sinn- oder Lesbarkeitsfragen »in Ziffern geschriebene[] Größen- oder Zeitangaben« (vgl. S App. 7), doppelte Anführungszeichen bei Binnenrede, fehlende Kommata nach direkter Rede und
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fehlende Punkte nach Satzende oder fehlende Abführungszeichen (vgl. S App. 8). Der Höhepunkt dieses Normalisierungseifers ist die – wohl von Verlagsseite initiierte und bei Zitaten aus der KKA in diesem Band zurückgenommene – »Ersetzung der (im Manuskript durchgehenden) ss-Schreibungen durch ß, wo dies der heutigen Regelung entspricht« (ebd.). Der daraus resultierende Hybrid-Titel »Proceß« ist mittlerweile zum running gag in der Kafka-Forschung geworden.5 Darüber hinaus werden mit Ausnahme der normalisierten Größen- und Zeitangaben alle daran anschließend genannten Normalisierungen und Ersetzungen noch nicht einmal verzeichnet oder dokumentiert, sondern stillschweigend vorgenommen. Angesichts dieses schweigsamen Ersetzungseifers könnte als weiterer Beleg für die eingangs behauptete Nähe zwischen der KKA und Schwarzer verstanden werden, dass es Schwarzers »grösstes Vergnügen« (S 257) war, mit der Lehrerin Gisa »Schulhefte zu korrigieren« (ebd.). Die nicht eigens thematisierten oder problematisierten Differenzen zwischen Handschrift und Buch verwandeln sich in der KKA in Widersprüche der editorischen Praxis. Das gilt in gleicher Weise für die Textdarstellung in den Apparatbänden. Bezeichnend für die usurpative Tendenz einer in sich widersprüchlichen Nomenklatura ist die Lemmatisierung. So wird im Apparatband der Bezug zum Textband durch ein Lemma, also ein Stichwort oder eine Stichwortgruppe aus dem Textband, auf die sich die im Apparat dargestellten Korrekturvorgänge beziehen, hergestellt. Ist die Lemmatisierung normalerweise eine Praxis, um Text- und Kommentarbereich in einer Ausgabe miteinander zu verbinden, verbindet die KKA hier das, was Kafka geschrieben hatte, nicht mit erklärenden editorischen Anmerkungen, sondern mit dem, was der Autor ebenfalls geschrieben, aber sodann gestrichen hatte. Die oft seitenlangen Streichungen im Schloss, die Kafka selbst insofern in Frage stellte, als er Teile des Gestrichenen im Verlauf des Schreibens wieder reintergrierte,6 erscheinen unter einem Lemma in eben jenem Bereich, 5
6
Vgl. bspw. Manfred Engel und Bernd Auerochs: »Hinweise zur Benutzung«, in: dies. (Hg.): Kafka-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart: Metzler 2010, XVIIf., hier: XVII. Für ein Beispiel von vielen vgl. Malte Kleinwort: Der späte Kafka. Spätstil als Stilsuspension, Fink: München 2013, 227f.
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in dem sich normalerweise Editorinnen und Editoren zu Wort melden. Zugespitzt ließe sich formulieren, dass damit das Gestrichene Teil einer editorischen Anmerkung wird, oder – von Schwarzer her gedacht – ein Teil des Dorfes zum Ort wird, an dem Schlossangelegenheiten mehr oder weniger offiziell verhandelt werden. Zu denken ist dabei an die Verhöre in den Schlafzimmern der Beamten. Mag es die KKA aufgrund des Aufbaus und der Nomenklatura der Forschung erschwert haben, sich ein Bild von der Handschrift zu machen, so hat sie doch eine beeindruckende Menge von bis dato unveröffentlichtem Text und von Informationen über die Handschriften zusammengestellt, mit denen nicht zuletzt Fragen nach der Textentstehung und dem Verhältnis von Gestrichenem und Ungestrichenem neu aufgeworfen wurden.7 War für Brod das Schloss als Sitz der Gnade der Ort, der K. »wenigstens teilweise Genugtuung« (vgl. Brod S 347) verschaffen konnte, und das Buch das Mittel, um Kafka die ihm gemäße Anerkennung zu verschaffen, scheint in der KKA das Buch – und beim Blick in den Apparatband auch das Schloss – Teil eines umfassenden Regelwerks zu sein, dass die Handschrift umzingelt oder eingrenzt und schließlich aufhebt: in der Notation der KKA. Im Schloss kommt dem Apparatband die »Dorfregistratur Klamms« (S 182) am nächsten, in der unzählige Protokolle für Klamm versammelt werden, von denen er aber, so Momus, »überhaupt keines« (ebd.) liest: »›Bleibt mir vom Leib mit Eueren Protokollen!‹ pflegt er zu sagen« (ebd.). Die in der KafkaForschung kursierenden Urteile über die Apparatbände der KKA unterscheiden sich von diesem Wort Klamms in manchen Fällen nur um Nuancen. Die von Roland Reuß und Peter Staengle herausgegebene FKA als dritte und bislang letzte große Kafka-Ausgabe umschifft mit der Wiedergabe und Transkription der Faksimiles viele Probleme der KKA, die 7
Die Überlegungen zielen weder auf eine objektive Beurteilung der KKA noch auf einen Vergleich der Editionen, sondern darauf, das Verhältnis von Dorf und Schloss im Schloss auf das Verhältnis von Handschrift und Buch zu beziehen. Ein umfassender Vergleich der Editionen ist zu finden bei Annette Schütterle (heute: Steinich): Franz Kafkas Oktavhefte. Ein Schreibprozeß als »System des Teilbaues«, Freiburg im Breisgau: Rombach 2002, bes. 268-297.
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vor allem durch die Aufteilung in Text- und Apparatband entstanden sind. Der für dieses Jahr angekündigte Band zum Schloss kommt voraussichtlich dem Ende der langen, bereits ausschnittsweise zitierten Beschreibung vom Schloss am nächsten: Der Turm hier oben […] war ein einförmiger Rundbau […] mit kleinen Fenstern […] und einem söllerartigen Abschluss, dessen Mauerzinnen unsicher, unregelmässig, brüchig wie von ängstlicher oder nachlässiger Kinderhand gezeichnet sich in den blauen Himmel zackten. Es war wie wenn irgendein trübseliger Hausbewohner, der gerechter Weise im entlegensten Zimmer des Hauses sich hätte eingesperrt halten sollen, das Dach durchbrochen und sich erhoben hätte, um sich der Welt zu zeigen. (S 18)
In dieser Beschreibung erscheint das Schloss ebenso »unregelmässig«, von Hand »gezeichnet« und singulär, wie sich Handschriften bei einer ersten Lektüre darbieten. Die Außenseiterposition auf der Schwelle zwischen Dorf und Schloss, die K. im Anschluss an die Beschreibung für sich reklamiert – »zu den Bauern gehöre ich nicht und ins Schloss wohl auch nicht« (S 20) –, könnte ebenso die FKA für sich beanspruchen. Durch die Wiedergabe und Transkription der Handschriften in großformatigen Heften ähnelt sie sich den Handschriften zwar an, identifiziert sich aber nicht mit ihnen – eine Kopie ist nicht das Original. Zugleich wahrt sie eine kritische Distanz zur traditionellen Buchform, ohne tatsächlich in einem Jenseits des Buches anzukommen. Das Schloss in der FKA wird sich am besten zwischen Buch und Handschrift verorten lassen. Kein Buch im traditionellen Sinne ist Das Schloss in der FKA vor allem, weil es sich der Erwartung, in dieser Ausgabe würden Texte produziert oder präsentiert, verweigert. Die Transkription, die in der FKA üblicherweise den Faksimiles gegenübergestellt wird, ist nach der strengen reußschen Definition gar kein Text, sondern lediglich die Umschrift eines Entwurfs: Es handelt sich bei den Autographen Kafkas und Hölderlins fast durchweg um Entwürfe […], die keinen Textstatus für sich reklamieren können. Sie lassen sich nicht einfach vortragen, es sei denn, man bestellt eine
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Menge von Sprechern, die in einer szenischen Lesung etwa Unentschiedenheiten simultan, Restitutionen im Kanon vortragen usw.8
Das gilt für die Handschriften und deren Transkriptionen in gleicher Weise. Mit der radikalen Verweigerung, der Literaturwissenschaft Texte bereitzustellen, mit denen sie zu arbeiten gewohnt ist, hält die FKA zwar ihr Gewissen rein, insofern sie sich nicht der Komplexitätsreduktion und Verfälschung schuldig macht, die mit der Umwandlung einer Handschrift in einen Text notwendigerweise einhergehen. Der Erfolg und die Akzeptanz dieser asketischen Verfahrensweise indes gründen im Falle von Kafka, wie auch bei anderen bekannten Autoren, darin, dass andere vor ihnen bereits weniger zurückhaltend gewesen waren und Texte aus dem Nachlass herausgegeben haben. Die moralische Problematik, die damit verbunden ist, dass Entwürfe aus dem Nachlass in Texte umgewandelt werden, sollte, so scheint es mir, nicht ignoriert, aber auch nicht dramatisiert werden. Insofern die FKA zwischen Handschrift und Buch oder Dorf und Schloss positioniert werden kann, ist die größte Nähe zum Protagonisten gegeben, dessen bereits zitierter, selbst eingestandener Status als Außenseiter sich in der zweiten Hälfte vom Schloss verfestigt.9 K.’s anfängliche Fixierung auf das Schloss lässt ebenso nach wie seine Faszination von den Schlossgeschichten, die er mehr und mehr als passiver Zuhörer über sich ergehen lässt.10
II.
Dorf- und Schlossgeschichten
Wie die Entwicklung K.’s ist auch das Verhältnis von Dorf und Schloss im Schloss keineswegs eindeutig bestimmbar oder statisch, sondern unbestimmt und wandelbar, und bei beiden spielen die Schlossgeschichten eine wichtige Rolle. Sie sind gewissermaßen die »Hauptstrasse des Dorfes« (S 21), über die es heißt, sie »führte nicht zum Schlossberg, sie Roland Reuß: »Text, Entwurf, Werk«, in: Text. Kritische Beiträge 10 (2005), 1-12, hier: 9. 9 Für K.’s Selbstpositionierung jenseits von Dorf und Schloss vgl. S 20. 10 Vgl. Kleinwort, Der späte Kafka, s. Anm. 6, 185-199. 8
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führte nur nahe heran« (ebd.). Machte K. bei seinem versuchten Gang zum Schloss die Erfahrung, dass jene Straße »wie absichtlich« (ebd.) abbog, so waren seine Erfahrungen mit den Schlossgeschichten kaum andere. Ging er den vermeintlichen Weg zum Schloss immer weiter, weil er erwartete, »dass nun endlich die Strasse zum Schloss einlenken müsse« (ebd.), machte er sich bei den Schlossgeschichten dieselben falschen Hoffnungen. Trotz dieser Enttäuschungen sind die Schlossgeschichten der Hauptverkehrsknotenpunkt zwischen Dorf und Schloss. Dort verkehren Dorf und Schloss miteinander, dort wird ihr Verhältnis thematisiert, und dort werden sie Teil des Lebens in und zwischen Dorf und Schloss. Es leuchtet ein, dass in der Forschung zum Schloss das Verhältnis von Dorf und Schloss immer wieder als »Machtverhältnis zwischen beherrschtem Gebiet und beherrschender Instanz«11 gedeutet worden ist. Markanterweise bedient sich das Schloss zur Durchsetzung seiner Macht indes weder der Justiz noch der Polizei. Nicht einmal von expliziten Gesetzen oder Vorschriften ist die Rede. Verstöße oder Vergehen, die im Schloss verhandelt werden, beziehen sich vielmehr auf ungeschriebene Gesetze, die eher den Charakter von diffusen Benimmregeln haben, deren Einhaltung keine offiziellen Stellen, sondern die Menschen selbst kontrollieren. Das Substitut gerichtlicher Urteile und Strafen sind die Ächtungen und Sanktionen der Dorfgemeinschaft. Ein Urteil bildet sich das Dorf nicht in einem transparenten Verfahren, sondern durch die Verbreitung, Ausschmückung und Kommentierung von Gerüchten. Die Schlossgeschichten sind dementsprechend zugleich Archiv und Medium dieser Verfahren.12 Das Fehlverhalten Ama11 Rüdiger Campe: »Kafkas Institutionenroman: ›Der Proceß‹, ›Das Schloß‹«,
in: ders. und Michael Niehaus (Hg.): Gesetz. Ironie. Festschrift für Manfred Schneider, Heidelberg: Synchron Wissenschaftsverlag der Autoren 2004, 197-208, hier: 206. Vgl. außerdem Friedrich Balke: »Fluchtlinien des Staates. Kafkas Begriff des Politischen«, in: ders. und Joseph Vogl (Hg.): Gilles Deleuze – Fluchtlinien der Philosophie, München: Fink 1996, 150-178. 12 Bislang hat sich die Forschung erstaunlich wenig mit diesen Zusammenhängen beschäftigt; für eine Ausnahme vgl. Martin Schierbaum: ›Die Sprengung des normalen Totalerlebnisses‹ – zum Verhältnis von deutschsprachiger Romanliteratur und Massenmedien im 20. Jahrhundert (im Erscheinen, zugl. Habilitationsschrift an der Universität Hamburg aus dem Jahr 2010).
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lias, von dem Olga in der mit Abstand längsten Schlossgeschichte berichtet, hätte nicht als ein solches identifiziert und sanktioniert werden können, wenn es vorher nicht als eine Schlossgeschichte im Dorf verbreitet worden wäre. Den von der Forschung immer wieder aufgegriffenen Terminus Schlossgeschichten verwendet Amalia in abschätziger Weise bezogen auf die von Olga wiedererzählte Geschichte der Ächtung ihrer Familie und weist im Anschluss daran darauf hin: »Es gibt hier Leute, die sich von solchen Geschichten nähren, sie setzen sich zusammen, so wie ihr hier sitzt, und traktieren sich gegenseitig« (S 323). Von den handelnden Personen, vom Verbreitungsgebiet und vom Ort des Geschehens her wäre es indes ebenso möglich, von Dorfgeschichten zu sprechen.13 Die doppelte Adressierbarkeit der Geschichten verdeutlicht ihre Scharnierfunktion und Bedeutsamkeit für das Verhältnis von Dorf und Schloss. Die Relevanz der Bezeichnung Schlossgeschichten erweist sich auch dadurch, dass Kafka für Das Schloss weder in den Schloss-Heften noch irgendwo sonst einen Titel niedergeschrieben hat und stattdessen lediglich in einem Brief an Brod um den 11. September 1922 erwähnt,
13 Tatsächlich könnten vermittelt durch den Terminus Dorfgeschichte oder die
Praxis des Geschichtenerzählens in einer dörflichen Umgebung einige markante Ähnlichkeiten zwischen dem Schloss und der von Uwe Baur untersuchten literarischen Gattung der Dorfgeschichte im Vormärz gefunden werden (vgl. Dorfgeschichte. Zur Entstehung und gesellschaftlichen Funktion einer literarischen Gattung im Vormärz, München: Fink 1978). Eigentümlicherweise gilt sowohl für die Geschichten im Vormärz als auch für Das Schloss, dass im Zentrum der politischen Konflikte im Dorf keine Feudalherr steht, sondern ein Verwaltungsapparat (vgl. Marcus Twellmann: »Literatur und Bürokratie im Vormärz. Zu Berthold Auerbachs Dorfgeschichten«, in: DVjs 86 [2012], 578-608, hier: 588f.). Eine weitere Parallele ist in der Bedeutung oraler Kommunikation für die Dorfgeschichten im Vormärz (vgl. ebd., 602-605, sowie: Wolfgang Seidenspinner: »Oralisierte Schriftlichkeit als Stil. Das literarische Genre Dorfgeschichte und die Kategorie der Mündlichkeit«, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur 22 [1997], 36-51) und im Schloss zu sehen. Zu Kafkas spätem Interesse an mündlichen Kommunikationsformen vgl. die Ausführungen im letzten Abschnitt dieses Beitrags.
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dass er »die Schlossgeschichte offenbar für immer liegen lassen müsse[]« (BaB 415). So wird Das Schloss in Kafkas Rückblick zu einer jener Geschichten, aus denen Das Schloss zusammengesetzt ist. Auf welche Weise das Geschichtenerzählen den Roman und die Identität des Protagonisten konstituiert und dekonstruiert, soll im Folgenden herausgearbeitet werden. Martin Kölbel hat mit seiner Lektüre der Handschrift vom Schloss überzeugend nachgewiesen, dass Anfang, Mitte und Ende nicht eindeutig zu bestimmen sind, dass also in den für ein traditionelles Werkverständnis entscheidenden Bereichen signifikante Unschärfen und Widersprüchlichkeiten zu finden sind.14 Was den Anfang betrifft, ist das Widersprüchliche offensichtlich, weil dem Anfang, wie er bei Brod und Pasley abgedruckt worden ist, bereits drei ungestrichene Seiten Text vorausgehen,15 die sich als eine Art Anfang vor dem Anfang lesen lassen, dessen Beziehung zum Folgenden unklar ist. Das sogenannte Fürstenzimmer-Fragment behandelt die Ankunft eines namenlosen Gastes im Dorf (vgl. S App. 115-120). Wie in einem Prisma finden sich dort viele der im Schloss folgenden Themen gebündelt: die Opposition zwischen dem Protagonisten und dem Schloss, zwischen Dorf und Schloss und die wichtige Rolle der Frauen und der Gerüchte.16 Bereits vor dem Eintreffen des Gastes hatte sich dessen Ankunft herumgesprochen, so Elisabeth, das Stubenmädchen, mit dem der Gast ins Gespräch kommt: ›Das ganze Dorf weiss von Deiner Ankunft, ich kann es nicht erklären, schon seit Wochen wissen es alle, es geht wohl vom Schloss aus, mehr weiss ich nicht.‹ ›Jemand vom Schloss war hier und hat mich angemel14 Vgl. Kölbel, Die Erzählrede in Franz Kafkas ›Das Schloss‹, s. Anm. 2, bes.
11-35. 15 Nach der Nomenklatura der KKA hätte dieses Fragment, da es nicht gestri-
chen worden ist, im Textband aufgeführt und nicht in den Apparatband abgeschoben werden dürfen. Das kritisiert auch Gerhard Neumann in seinem Beitrag in diesem Band (202). 16 Nach Gerhard Neumann bildet sich im Fragment bereits »der Grundriß künftigen Geschehens ab« (vgl. »Franz Kafkas ›Schloß‹-Roman. Das parasitäre Spiel der Zeichen«, in: ders. und Wolf Kittler [Hg.]: Franz Kafka: Schriftverkehr, Freiburg im Breisgau: Rombach 1990, 199-221, hier: 209).
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det?‹ ›Nein niemand war hier, die Herren vom Schloss verkehren nicht mit uns, aber die Dienerschaft oben mag davon gesprochen, Leute aus dem Dorf mögen es gehört haben, so hat es sich vielleicht verbreitet. Es kommen ja so wenig Fremde her, von einem Fremden spricht man viel.‹ (S App. 116)
Alle Informationen über die bevorstehende Ankunft des Gastes sind Teil von Gerüchten. Konsequenterweise lässt sich auch über den Ursprung des Gerüchts – »es geht wohl vom Schloss aus« (ebd.) – nur im Modus des Gerüchts spekulieren. Die nähere Erläuterung zu den Verbreitungswegen des Gerüchts umreißt einerseits bereits die komplexe Dorf-Schloss-Topographie, insofern trotz der von Elisabeth behaupteten Distanz – »die Herren vom Schloss verkehren nicht mit uns« (ebd.) – Nähe zwischen Dorf und Schloss hergestellt wird, vermittelt über das Hörensagen der Diener und Leute aus dem Dorf. Andererseits liest sich die Erläuterung bereits wie eine kleine Schlossgeschichte, die davon berichtet, wie die Dienerschaft »oben« (ebd.) im Schloss, wohl nachdem sie die Nachricht aufgeschnappt hatte, von der bevorstehenden Ankunft des namenlosen Gastes gesprochen hatte, was unten im Dorf wiederum gehört worden war und dadurch Teil vom Klatsch und Tratsch im Dorf wurde. Bemerkenswert ist das Ende dieses Anfangs, von dem sich nicht einmal sicher behaupten lässt, dass er ein Fragment ist. Der Anfang vor dem üblicherweise als Anfang bezeichneten Absatz vom Schloss endet mit Elisabeths Aufforderung, offen zu reden: »Sprich offen mit mir und ich werde Dir offen antworten« (S App. 117). Mit dem Wissen des Folgenden lässt sich diese Aufforderung auch so verstehen, dass Elisabeth vorschlägt, sich gegenseitig Schlossgeschichten zu erzählen, der Anfang vor dem Anfang wäre dann die Rahmenerzählung in einer romantisch anmutenden Erzählsituation.17 Im Gegensatz zu K., dem Landver17 Die Deutung des Anfangs vor dem Anfang als Rahmenerzählung, durch die
K. zum zweiten Mal ankommen würde, passt insofern zu den messianischen Anklängen, die dort vernehmbar sind, als dass der Messias am Jüngsten Tag bekanntlich zur Erde zurückkehren soll. Einige der erwähnten messianischen Anklänge: 1. Von der bevorstehenden Ankunft des Gastes wird geredet, als wäre sie Teil einer Prophezeiung (vgl. S App. 116); 2. Der Gast
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messer, scheint der Gast, wie seine feindliche Haltung gegenüber dem Schloss vermuten lässt, bereits Vorwissen über das Schloss zu besitzen, das er womöglich auch in der Form einer oder mehrerer Schlossgeschichten präsentieren könnte. Kafka zieht nach dieser Aufforderung jedenfalls einen Strich und schreibt einen Satz, mit dem auch so etwas wie eine Schlossgeschichte von der möglichen vergangenen Ankunft des Gastes begonnen werden könnte: »Es war spät abend als ich ankam« (S 7, S App. 120). So gelesen wäre Das Schloss nach dem Anfang vor dem Anfang die Erzählung über die Vergangenheit des Gastes, über seine Ankunft vor der Ankunft.18 In der Handschrift sieht das folgendermaßen aus:
Abb. 1: MS. Kafka 34, 2v (Bodleian Library, Oxford, verkleinert im Verhältnis 1:1,8)
Erst nachdem Kafka mehr als 40 Manuskriptseiten vollgeschrieben hatte, ändert er alle Ich- in K-Instanzen. Bis dahin ist es ein Ich-Roman, der sich mit dem Anfang vor dem Anfang auch als eine Schlossgemeint, er habe seiner »Aufgabe« sein »ganzes Leben gewidmet« (vgl. ebd.); 3. Die Waschszene, in der Elisabeth dem Gast zwar nicht dessen Füße, aber zumindest dessen Gesicht wäscht (vgl. S App. 117); 4. Elisabeth ist im Neuen Testament die Mutter von Johannes, der die Ankunft des Messias verkünden soll (vgl. Luk. 1, 5-25). 18 Den unsicheren Status der Ankunft verdeutlicht auch die Befürchtung des Gastes, er könne im Gasthaus bereits »vor [s]einer Ankunft« (S App. 116) angegriffen werden. Aus seiner eigenen Sicht ist der Gast im Gasthaus also noch gar nicht angekommen, sondern verhandelt erst die Bedingungen seiner Ankunft, und während dieser Verhandlungen wird er durch Elisabeth womöglich animiert, von seiner früheren, vergangenen Ankunft zu berichten.
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schichte aus der Vergangenheit des Gastes lesen lässt, mit welcher der Gast der Aufforderung des Stubenmädchens, offen mit ihr zu sprechen, nachkommt. So gesehen wäre der Anfang vor dem Anfang eine Rahmenerzählung, mit der das Erzählen und Erleben von Geschichten ineinander verschachtelt werden. Ein derartiges Verschachteln des Erzählens und Erlebens von Geschichten wird einen Großteil vom Schloss ausmachen. Statt einer Mitte, in welcher alle wichtigen Erzählstränge zusammenlaufen, ist nach Kölbel im Schloss lediglich ein »episodisches Erzählen« zu finden.19 Beim Blick in das dritte von sechs Schloss-Heften sind trotz dieser fehlenden Mitte Veränderungen festzustellen, die den Protagonist und die Struktur vom Schloss gleichermaßen betreffen. Hat K. anfänglich nur Augen für das Schloss und ordnet alles seinem Ziel unter, dem Schloss und dessen aus K.’s Sicht wichtigstem Vertreter Klamm näher zu kommen, lockert sich diese Fixierung zu Beginn des dritten Schloss-Heftes, wenn K. Klamm aufgrund seiner Ferne und Unnahbarkeit mit einem »Adler« (S 183) vergleicht. Statt sich dem Schloss angenähert zu haben, hat sich bei K. nach zwei vollgeschriebenen Heften lediglich der Eindruck der Ferne verfestigt. Als wäre er zurück auf Los und so klug als wie zuvor, blickt er wie anfangs auf der Holzbrücke in die »Finsternis« (S 7 und S 186). Der zweite Brief von Klamm, in dem er K. für die »landvermesserischen Arbeiten«, die er »bisher ausgeführt« hat, seine »Anerkennung« ausspricht und ihn dazu animiert, »die Arbeiten zu einem guten Ende« zu führen (vgl. S 187), ist einerseits, so K., ein »Missverständnis« (ebd.), insofern er aus seiner Sicht ja noch überhaupt gar keine Arbeiten erledigt und dem Schloss und einer offiziellen Anstellung nicht näher gekommen ist. Andererseits könnte die kuriose Würdigung und Bitte um Weiterarbeit auch so verstanden werden, dass das Schloss damit positiv würdigt, dass K. mit seinen bisherigen Aktivitäten, obwohl er sich das Gegenteil vorgenommen hatte, zu einer Vergrößerung der Distanz zwischen ihm und dem Schloss beigetragen hat. K. rückt also von seiner alleinigen Fokussierung auf das Schloss ab und gewinnt mehr und mehr Interesse für das Dorf und die im Dorf kursierenden Schlossgeschichten. Am Ende des dritten Schloss-Heftes be19 Vgl. Kölbel, Die Erzählrede in Franz Kafkas ›Das Schloss‹, s. Anm. 2, 31.
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ginnt schließlich K.’s Gespräch mit Olga, in dem Olga die Schlossgeschichte vom Fall der Familie Barnabas’ erzählt. Im Verlauf dieses Gesprächs, das selbst in der Reinschrift der KKA, in der die zum Teil mehrere Seiten langen gestrichenen Passagen nicht berücksichtigt worden sind, noch knapp einhundert Druckseiten umfasst (S 270-366), verstummt K. zusehends, wird mehr und mehr zu einem passiven Zuhörer, der von den Schlossgeschichten desorientiert und an den Rand gedrängt wird. Was K. widerfährt, geschieht auch dem Schloss. Zu Beginn in der dramatischen Exposition eines Fremden, der den Kampf gegen eine übermächtige Institution sucht, scheint Das Schloss der Entwurf eines Romans, der gedruckt und gelesen werden will, zu sein. Im Übergang vom zweiten zum dritten Schloss-Heft indes nehmen die Streichungen signifikant zu (vgl. S App. 260-289); Das Schloss wird zusehends zu einem Schreibprojekt, das nicht auf Schloss und Buch ausgerichtet ist, sondern sich mit Dorf und Handschrift begnügt. Kafka selbst schreibt am 22. Juli 1922 an Brod über die Scham, die er mit dem dritten Schloss-Heft verbindet, und dass es nur da sei »zum Geschrieben-, nicht zum Gelesenwerden« (Br 396). Unzweifelhaft erteilt Kafka hier einem Schreiben im Hinblick auf eine spätere Buchpublikation eine Absage. Das ausufernde und ermüdende Geschichtenerzählen kann gerade dadurch ab dem dritten Schloss-Heft einen solchen Raum einnehmen, weil Fragen nach dem großen Ganzen, nach einer Geschlossenheit oder einer Abrundung, wie sie normalerweise mit einem Buch verbunden werden, an Bedeutung verlieren. So wird mit K. das Schreiben an sich zunehmend desorientiert, frustriert und unsicher darüber, worum es überhaupt geht. Statt wie zu Beginn eine Anstellung als Landvermesser anzustreben, spricht K. zum Ende hin von seinem »Verlangen nach immer vollständigerer Beschäftigungslosigkeit« (S 480). Die Fäden laufen nicht zusammen, sondern auseinander, lose Enden bilden Knäuel, die sich nicht entwirren lassen. Es verwundert daher nicht, dass Das Schloss gerade in dem Moment, da weitere Schlossgeschichten weitere Verwirrung zu stiften drohen, abbricht: Die Stube in Gerstäckers Hütte war nur vom Herdfeuer matt beleuchtet und von einem Kerzenstumpf, bei dessen Licht jemand in einer Nische
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gebeugt unter den dort vortretenden schiefen Dachbalken in einem Buche las. Es war Gerstäckers Mutter. Sie reichte K. die zitternde Hand und liess ihn neben sich niedersetzen, mühselig sprach sie, man hatte Mühe sie zu verstehn, aber was sie sagte (S 495)
In einem Buch las Gerstäckers Mutter, bevor sie anfing zu sprechen und womöglich begann, weitere Schlossgeschichten zu erzählen; gerade in dem Moment, als die Vorstellung, das eben Geschriebene könne jemals in einem Buch erscheinen, in die allerfernste Ferne gerückt wurde, gerät also bezeichnenderweise ein Buch in den Blick. Doch damit ist noch nicht Schluss. Wie es einen Anfang vor dem Anfang gibt, so gibt es auch ein Ende nach dem Ende. Kafka hatte das sechste und letzte Schloss-Heft umgedreht und vom Ende her diesem offenen Ende oder Abbruch entgegengeschrieben. Brod war unsicher, wie er die zum sonstigen Schloss-Text kopfstehenden Fragmente einordnen sollte. Zuerst notierte er auf dem Deckblatt am Ende vom Schloss-Heft: »Ohne Zusammenhang mit dem Ganzen der Erzählung, Fragmente dazu und gelegentliche Einfälle« (vgl. MS Kafka 39, 47v, S App. 54). Dann korrigierte er sich, sodass dort zu lesen ist: »Ohne Zusammenhang mit dem Ganzen der Erzählung, außer dem Anfang – Fragmente und gelegentliche Einfälle« (vgl. ebd.):
Abb. 2: MS. Kafka 39, 47v. (Bodleian Library, Oxford)
Das Fragment, bei dem Brod nach seiner Korrektur doch einen Zusammenhang mit dem Ganzen der Erzählung ausmachte, lässt sich auch als eine Art Ende nach dem Ende oder Nebenausgang aus dem Schloss an-
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sehen. In ihm lästert ein namenloses Ich, wahrscheinlich Gardena, die Brückenhofwirtin, oder aber die ihr nahe und sich mit ihr häufig austauschende Herrenhofwirtin,20 gegenüber einem nicht näher bestimmten Ausschnitt der Dorfbevölkerung über den abwesenden K. Die Abwesenheit K.’s ist überaus ungewöhnlich. Selbst beim Erzählen der Schlossgeschichten ist er als Zuhörer, der im Verlauf der Handlung zunehmend schweigsamer wird, stets anwesend. Wie im Anfang vor dem Anfang nur ein namenloser Gast im Mittelpunkt steht und kein K., ist in diesem Ende nach dem Ende K. nicht mehr anwesend, sondern nur noch Gegenstand des Geredes. Fällt der Anfang vor dem Anfang, insofern er als Rahmenerzählung gedeutet wird, aus dem chronologischen Rahmen vom Schloss heraus, ist auch das Ende nach dem Ende kein Teil der Chronologie der Ereignisse. Wenn in dem Fragment vom Ende des Schloss-Hefts berichtet wird, wie K. »uns« (S App. 420) – wahrscheinlich einem der Wirtshausehepaare – »gestern« (ebd.) über sein »Erlebnis« (ebd.) mit Bürgel berichtet hatte, so kann mit der Zeitangabe innerhalb der Schloss-Welt frühestens der Tag gemeint sein, an dem Das Schloss bei Gerstäckers Mutter abbricht. Früh am Morgen des Tages, an dessen Abend K. in Gestäckers Stube bei dessen Mutter landet, berichtet K. der Wirtin und dem Wirt vom Herrenhof vom Gespräch mit Bürgel in der vorausgehenden Nacht (S 448f.). In dem Fragment vom Ende werden indes lediglich abfällige Meinungen über das Tun und Treiben von K. versammelt; als damit begonnen wird, K.’s Bericht vom Gespräch mit Bürgel wiederzugeben, bricht das Fragment ab. Die Schwierigkeiten, dieses Fragment in den SchlossZusammenhang einzuordnen, spiegeln sich wie beim Anfang vor dem Anfang in dem fragwürdigen Umgang der bisherigen Editionen damit. Brod nimmt es in seiner zweiten Auflage zwar in den Anhang mit auf, bezeichnet es aber im Nachwort der zweiten Ausgabe in Verkennung des Inhalts als »Paraphrase« der Bürgel-Episode (Brod S 355), obwohl es mitten im ersten Satz der Paraphrase abbricht (S App. 424). Zudem streicht er bei der Wiedergabe gerade eben jenen Satz, der als einziger mit einer gewissen Berechtigung als Paraphrase oder Beginn einer Paraphrase bezeichnet werden könnte (vgl. Brod S 307). Die KKA wieder20 Vgl. dazu Kleinwort, Der späte Kafka, s. Anm. 6, 226-228.
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um geht noch einen Schritt weiter und deklariert das Ende nach dem Ende als »Variante« (S App. 71) der Bürgel-Episode und versteckt es daher unter dem Lemma »7 Schrei.« mitten im Apparatband (vgl. S App. 420-428). Indem Pasley das Fragment als Variante behandelt, behauptet er implizit, dass statt der Episode in völliger Verkehrung der Chronologie der Ereignisse der Bericht von ihr eingefügt werden könnte, obwohl der an das Dorf gerichtete Bericht des namenlosen Ichs frühestens auf den Tag nach K.’s Besuch bei Gerstäcker, bei dem Das Schloss abbricht, datiert werden kann. Angesichts der zuweilen verzweifelten Bemühungen der KKA, Kafkas Texte chronologisch einzuordnen,21 ist diese Fehleinschätzung nicht frei von Komik. Wie beim Anfang vor dem Anfang vom Gast zum Ich und dann per nachträglicher Korrektur zum K. gewechselt wird, so liegt auch dem Ende nach dem Ende mit dem Bericht vom Bericht des Erlebten ein zweifacher Wechsel zugrunde: von K., der in Bürgels Schlafzimmer erst zuhört und dann einschläft, zum Ich, das im Bericht von K. über seinen nächtlichen Besuch bei Bürgel berichtete, wieder zum K., das im Bericht des namenlosen Ich vom Bericht von K. Protagonist ist. Die verschachtelten Perspektiven erklären sich vor allem durch das im Schloss omnipräsente Schlossgeschichten-Erzählen. Wenn Geschichten wie Gerüchte verbreitet werden, wechseln ständig die Referenzen. Er sagte, dass sie sagte, dass sie gehört hatte, dass er gesagt hatte, usw. In diesen unübersichtlichen Wechseln von Erzählerinnen und Erzählern, Standpunkten und Referenzen begegnen sich auch Schloss und Dorf. Vermeintliche Stellungnahmen von Schlossbeamten können darin eingeflochten sein, ohne dass sie auf tatsächliche Äußerungen zurückführbar sind. Das Hörensagen bildet insofern die Mitte zwischen Buch und Handschrift, als dass beide gleich nah und fern davon sind. Was sich so erzählt wird, kann sowohl handschriftlich als auch in Buchform festgehalten werden; allerdings transzendiert das Hörensagen beide Arten der Verschriftlichung, da es Teil einer Dynamik ist, die durch eine
21 Zu den Fehlern und Folgefehlern, die mit dem übertriebenen Bemühen,
auch das nicht eindeutig Datierbare zu datieren, einhergehen, vgl. bspw. Malte Kleinwort: Kafkas Verfahren. Literatur, Individuum und Gesellschaft im Umkreis von Kafkas Briefen an Milena, Würzburg: K&N 2004, 111.
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vorläufige handschriftliche oder gedruckte Situationsbeschreibung zwar mitbestimmt werden kann, die aber stets darüber hinausweist.
III.
Jenseits von Dorf und Schloss
Mit dem Ende nach dem Ende, das auch als K.-Kolportage bezeichnet werden könnte, insofern es aus kaum mehr als Klatsch und Tratsch über K. besteht, steuert Kafka auf ein Jenseits von Dorf und Schloss zu, auf eine Alternative zur bloßen Handschrift und zum fertigen Buch.22 Alternativen sind zu finden in seiner späten intensiven Beschäftigung mit der hebräischen Sprache, in Ansätzen zu einer Reihe von K.-Geschichten und schließlich in dem mündlichen Erzählen, das in einigen Erzählungen nach dem Abbruch der Arbeit am Schloss Ende 1922 eine wichtige Rolle spielt.23 In einigen der von Kafka erhaltenen Notizbücher aus seinen letzten beiden Lebensjahren finden sich Listen von hebräischen Wörtern, Ausdrücken und ihren Übersetzungen.24 Es handelt sich dabei unzweifel22 Möglicherweise steuerte Walter Benjamin wenige Jahre später mit dem
Schreibprojekt, das unter dem Titel Berliner Kindheit bekannt geworden ist, ebenfalls auf eine solche Alternative zu (vgl. zur Komplexität dieses Schreibprojekts Davide Giuriato: Mikrographien. Zu einer Poetologie des Schreibens in Walter Benjamins Kindheitserinnerungen [1932-1939], München: Fink 2006). 23 Das Ehepaar und drei weitere Entwürfe von Erzählungen nach dem Abbruch vom Schloss lassen sich als Ansätze zu einer Reihe von K.-Geschichten lesen, weil in ihnen jeweils eine K.-Figur vorkommt (vgl. NSF II 531, 534-541, 569f. und 575f.). 24 Vgl. FKA OOH6 31-148; das ist zugleich die erste Edition eines der Schreibhefte Kafkas mit Aufzeichnungen in Hebräisch, bei der eben jene Aufzeichnungen auch präsentiert werden. Der im Rahmen der KKA angekündigte Band über die auf mehrere Hefte verteilten Hebräisch-Aufzeichnungen lässt weiter auf sich warten. Roland Reuß weist im Anschluss an Hartmut Binder darauf hin, dass Kafka bei Ben-Tovim eine »freiere Art des Unterrichts« genoss, in dessen Rahmen die Listen wahrscheinlich zumeist per Diktat entstanden sind (vgl. »Die Oxforder Oktavhefte 5 und 6. Zur Einführung«, in: Franz Kafka-Heft 7 [Beigabe zur FKA OOH 5&6], Basel,
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haft um Aufzeichnungen, die für Kafka weder für sich als Handschrift noch in gedruckter Form – eine für ihn sicherlich absurd anmutende Möglichkeit – von großer Bedeutung oder signifikantem Wert gewesen waren oder wären. Vielmehr sind sie kaum mehr als Spuren seines Interesses und seiner Beschäftigung mit der hebräischen Sprache. Es liegt nahe, dass es Kafka bei seinen Hebräisch-Lehrstunden mit Puah BenTovim vor allem darum ging, die Sprache zu lernen, ein Gefühl für sie zu bekommen und sich Wissen über sie anzueignen; die Aufzeichnungen waren da lediglich Mittel zum Zweck. Mit Ausnahme der Erzählung Ein Traum, die Kafka aus dem Process-Zusammenhang entnahm und im Landarzt-Band veröffentlichte, war bis Ende 1922 die große Prosa Heimat von K. Das Gerede über K. aus dem fragmentarischen Ende nach dem Ende und überhaupt die nach dem Abbruch vom Schloss offene Zukunft von K., dem Landvermesser, können Kafka dazu bewegt haben, K.-Figuren auch in die kurze Prosa zu übernehmen. Für Brod war es so verstörend, dass er in der postum von ihm veröffentlichten Erzählung Das Ehepaar stillschweigend K. durch N. ersetzte.25 Auch Kafka war zu Beginn der Erzählung unschlüssig, ob er das durch die Protagonisten von Process und Schloss bekannte Kürzel verwenden sollte und änderte das erste K. in B., ersetzte dieses dann aber wieder durch K. (vgl. NSF II App. 396). Einerseits verweist Kafka mit diesen Versuchen einer kurzen Prosa über K. über den jeweiligen handschriftlichen Kontext hinaus auf zwei Fragmente großer Prosa, an denen er monatelang gearbeitet hatte, und öffnet damit einen Spalt weit die Tür zu der Möglichkeit von fortlaufenden K.-Geschichten oder Episoden, die im Stile der Kolportageliteratur fiktiv zusammentragen, was für Geschichten über K. im Umlauf sind. Andererseits sind – von Das Ehepaar abgesehen – die weiteren Prosaversuche über K. so kurz und unzugänglich, dass sie kaum ferner von Frankfurt am Main: Stroemfeld 2009, 3-15, bes. 6-8, hier: 8). Vgl. zu Kafkas Hebräischstudien generell Alfred Bodenheimer: »Kafkas Hebräischstudien. Gedanken zur Magie der Mitte und zur Fragmentierung sprachlichen Denkens«, in: Caspar Battegay, Felix Christen und Wolfram Groddeck (Hg.): Schrift und Zeit in Franz Kafkas Oktavheften, Göttingen: Wallstein 2010, 213-221. 25 Vgl. NSF II 534 und Brod BeK 95.
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einer späteren anthologischen Veröffentlichung sein könnten, zugleich aber auch nicht in ihrem handschriftlichen Kontext heimisch werden. Wenn K. in dem letzten überlieferten K.-Fragment aus dem Winter 1923/24 wie K., der Landvermesser, aus der Ferne ein Gebäude auf einem Hügel in den Blick nimmt, sich auf den Weg zu ihm macht und es im Gegensatz zu K., dem Landvermesser, tatsächlich erreicht, so ist es bezeichnenderweise, wie K. selbst feststellt, »ein kleines altes klägliches Haus« (NSF II 575). Kein Schloss also. Und auch von einem Dorf ist weit und breit nichts zu sehen; wenn schon nicht Schloss- so doch Hausgeschichten könnte lediglich eine »zitternde fast röchelnde Stimme« (ebd.) erzählen, die K. aus einem oberen Stockwerk des Hauses fragte, wer gekommen sei. Nachdem er hinaufgestiegen und oben angekommen war, brach der Text indes ab (vgl. NSF II 576). Ein literarisches Werk wird zwar häufig in Buchform präsentiert, notwendig daran gebunden ist es aber nicht. Entscheidend für den Werkstatus ist die Anerkennung durch eine signifikante Anzahl von Leuten, die diesen Status beim Reden darüber anerkennen. Kafka – davon zeugen auch seine Testamente – hat sich angesichts seiner schwerwiegenden Krankheit in seinen letzten Jahren immer wieder mit der Frage auseinandergesetzt, was von seinen Schriften bleibt.26 Trotz des in sich widersprüchlichen testamentarischen Vernichtungsauftrags an Brod,27 mit dem er seinen Nachlass kontrollieren und reglementieren wollte, wird er gewusst haben, dass über seine Schriften, über das, was aus ihnen bedeutsame Werke macht oder eben nicht, nicht er, sondern die Leute, die über seine Texte reden, das letzte Wort haben werden.28 Es verwundert daher nicht, dass in der verstörenden kleinen Erzählung Eine kleine Frau aus dem Jahr 1923 das, was die Leute über das Erzähler-Ich erzählen oder erzählen könnten, eine zentrale Rolle einnimmt. So spricht das Erzähler-Ich von den »großen Machtmitteln« 26 Kafkas Testamente aus den Jahren 1921 und 1922 sind zu finden in
BaB 365, 421f. 27 Vgl. ebd. und Roland Reuß: »Lesen, was gestrichen wurde. Für eine historisch-kritische Kafka-Ausgabe«, in: Einleitung zur FKA, Basel, Frankfurt am Main: Stroemfeld 1997, 9-24. 28 Vgl. Kölbel, Die Erzählrede in Franz Kafkas ›Das Schloss‹, s. Anm. 2, 1115; sowie Reuß, »Text, Entwurf, Werk«, s. Anm. 8, 10-12.
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(DzL 325) und vom »Gericht der Öffentlichkeit« (DzL 324). Ebenso wenig verwundert es, dass das Reden über Josefine einen Großteil der Erzählung Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse ausmacht. Zum Ende der womöglich letzten fertiggestellten Erzählung von Kafkas Hand wird Josefine als »eine kleine Episode in der ewigen Geschichte unseres Volkes« (DzL 376) bezeichnet. Sie werde »sich verlieren in der zahllosen Menge der Helden unseres Volkes, und bald, da wir keine Geschichte treiben, in gesteigerter Erlösung vergessen sein wie alle ihr Brüder« (DzL 377). Das Vergessen wird also mit der fehlenden Geschichtsschreibung begründet. Nicht erwähnt wird dabei indes die Möglichkeit, dass sich das Volk der Mäuse Geschichten von ihr erzählt, dass es sich ihrer weder in handschriftlichen Aufzeichnungen noch in klugen Büchern, sondern in »Sagen« (DzL 351), in »Lieder[n]« (ebd.) oder im »tagtägliche[n] Pfeifen« (DzL 353) erinnert. Jenseits der Gegenüberstellung von Dorf und Schloss oder Handschrift und Buch gibt es ein Reden über Dorf und Schloss und Handschrift und Buch, das als vermeintlich beiläufige Plauderei von den Gesetzmäßigkeiten einer auf den Moment konzentrierten mündlichen Kommunikation bestimmt wird. Verfolgten die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm im 19. Jahrhundert das Projekt, die im Volk kursierenden Märchen und Sagen zu sammeln und zu verschriftlichen, lassen einige späte Texte nach dem Schloss Kafkas Interesse für den umgekehrten Weg erkennen. In einer Aufzeichnung, die Kafka wahrscheinlich im Herbst 1923, also wenige Wochen vor seinem Tod, vornahm (vgl. NSF App. 133), scheint er sich mit einem Augenzwinkern an Das Schloss zurückzuerinnern. Es ist, als würde sich Kafka über die Frage, wie sich Schlössern im Allgemeinen und im Besonderen anzunähern wäre, lustig machen, und als würde es nicht darum gehen, über Das Schloss oder über Schlösser wirklich etwas zu Papier zu bringen. Stattdessen geht es um die frei flottierenden Geschichten von weit herumgekommenen Wandersleuten über ferne, verwunschene Märchenschlösser:29 29 Die Aufzeichnung bricht mit dem Buchstaben o vermutlich mitten im Wort
ob ab (vgl. NSF II 546). Die editorischen Eingriffe in diese Passage wurden zurückgenommen, daher die Zahlen auch als Zahlen wiedergegeben (vgl. NSF II App. 183).
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Ich fragte einen Wanderer den ich auf der Landstrasse traf ob hinter den 7 Meeren die 7 Wüsten wären und hinter ihnen die 7 Berge auf dem 7. Berge das Schloss und o
DISKURSRÄUME UND RAUMDISKURSE
Klamm and the Double Asymmetry of The Castle A NNE J AMISON
With the exception of a handful of letters, Kafka’s oeuvre is written in German: in the logic of the Habsburg empire, this “everyday use” makes him a German writer—at least, he would be counted as German by their census. In the census logic of Czechoslovakia, the nation-state formed in 1918 in which Kafka lived out most of his later life, it is instead the fact that Kafka spoke German first, as a native speaker, that would make him a German writer. Questions of “official” civic identity and language were weighted and fraught throughout the pre- and postwar era in Prague, but the nature of such questions, and how they ought to be posed, was far from clear. As even a casual perusal of the front pages of Czech daily newspapers attests, if there is truth to the notion that Kafka lived “between languages” in some way, never feeling at home in either Czech or German as he would sometimes claim, then this in-between status is more a regional hazard than a radical peculiarity. In part, of course, Kafka’s experience of this language culture is particular, bounded, even peculiar; that is, even if we bracket the singularity that is Kafka himself, we are still left with a demographic oddity. Kafka lived the distinctly minority experience of the German-identified assimilated urban Jew who, having grown up in Czech-majority, Austrian-ruled, and violently bilingual Prague, suddenly had to readjust to life
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in a majority Czech-ruled nation-state. Members of a community so situated might well find themselves unclear about their own linguistic belonging. Such uncertainty could only be exacerbated by the aftermath of a world war that ended an empire. When the Treaty of St. Germain divided up the empire’s territory along linguistic and ethnic lines, it placed Prague’s own castle in new political hands, the city’s imposing hilltop edifice now the metonym of a nation-state. Old rules were swept away, new laws were written, new definitions adopted: all in keeping with the prevailing political and social logic that demanded linguistic and territorial home be mapped congruently. Other voices—a distinct minority—argued for an alternative to such linguistically-determined ethnic identification, but they did not carry the day. Although it is crucial that the Schloss of Kafka’s title names a political and architectural structure very different from the Prager Burg that dominated Kafka’s home city, approaching Kafka’s Castle from this context—as we might imagine the stranger K. did—makes clear that land surveying could have everything to do with language. A great deal has been said in recent years with regard to mapping linguistic territory in Kafka’s Prague and charting Kafka’s place within it—most influentially by Gilles Deleuze (Kafka’s “Prague German” was an upstart, rebellious “minor literature”); most recently by Judith Butler (Kafka was not a German writer, but he was “certainly Czech”), and with the most diligent scholarly attention by Scott Spector (Prague Territories) and Marek Nekula (Franz Kafkas Sprachen).1 Pascale Casanova went so far as to identify Kafka as a Yiddish writer, although 1
Gilles Deleuze and Félix Guattari: Kafka: Toward a Minor Literature, trans. by Dana Polan, Minneapolis: Univ. of Minnesota Press 1986; Scott Spector: Prague Territories: National Conflict and Cultural Innovation in Franz Kafka’s Fin de Siècle, Berkeley, Los Angeles, London: Univ. of California Press 2000; Judith Butler: “Who owns Kafka?,” in: London Review of Books Vol. 33, No 5, March 2011, 3-8. Marek Nekula: Franz Kafkas Sprachen. ›… In einem Stockwerk des innern babylonischen Turmes …‹, Tübingen: Niemeyer 2003; Klaas-Hinrich Ehlers, Steffen Höhne, Václav Maidl and Marek Nekula (Ed.): %UFNHQQDFK3UDJ'HXWVFKVSUDFKLJH/LWHUDWXU im kulturellen Kontext der Donaumonarchie und der Tschechoslowakei, Frankfurt am Main, Berlin, Bern, and more: Peter Lang 2000.
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that was not a language he knew. As especially Spector and Nekula demonstrate, however, the topography of linguistic, political, and cultural territory in early twentieth-century Prague was far more convoluted than could be accurately represented in any map’s two dimensions, and certainly far more complex than could be assessed by a simple, single answer on a census. This complexity only intensifies when the creation of Czechoslovakia shifts the official linguistic power balance from minority German to majority Czech and explicitly divides national and civic territory along linguistic lines—lines that are, despite much ideologically infused effort to the contrary, hardly firm and distinct. Both The Castle with its (maybe) land-surveyor protagonist and the political context in which it was written invite us to think of language in terms of territory—but in Kafka’s novel, the (purported) surveyor’s relation and even relevance to castle territory is far from clear. In fact, we are told early on that everyone in the village understands the boundaries except for K.: “Die Grenzen unserer kleinen Wirtschaften sind abgesteckt, alles ist ordentlich eingetragen, Besitzwechsel kommt kaum vor und kleine Grenzstreitigkeiten regeln wir selbst. Was soll uns also ein Landvermesser?” (S 74). The Castle describes a community for whom boundaries, in the literal sense of property demarcations, are internally coherent and comprehensible: The citizens of castle and village don’t have to think about these rules, while K. struggles to understand them. In relation to their own territorial norms, the natives behave like native speakers of a language—especially as native speakers are understood by Kafka’s near-contemporaries, the Prague Linguistic Circle. If we read in keeping with broad period stereotypes and logic such as we find in the daily press of that era, we can readily read K. as the linguistic and territorial outsider occupying the position of the linguistically (and therefore territorially alienated) Prague Jewish community. Indeed, there is much to make such an argument persuasive. It is a persuasive argument, but not the one I’m making. I find it limiting. For all the importance I attach to illustrating how Kafka engages with his political and cultural Prague context, I fear that reducing this engagement to a one-for-one representational “matching” strategy undoes some of the uncertainty and anxiety Kafka’s novel itself seems
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at some pains to sustain. In this way, too, Kafka has something oblique in common with his Structuralist compatriots: an interest in structure and what it means. With its own obscure, convoluted, unpredictable structure, Kafka’s Castle figures his era’s changing politico-linguistic “facts on the ground” not as a map, but as a strangely mobile architecture that a non-native can never fully navigate. What it meant to be a territorial and linguistic “native,” however, and how closely those two categories aligned, was itself contested territory—in a way that the presence of a non-native made uncomfortably clear. Anxieties about linguistic home and belonging were far from peculiar to Prague’s German-Jewish population (there were also, for that matter, Czech-identified Jews). Indeed, the notion of Jewishness as an ethnic “feeling” without a matching language exacerbated such anxieties for other citizens in the new linguistically defined nation-state. These concerns are everywhere apparent in the journalistic landscape of the day. Czechoslovak law required that the population be surveyed as to native language—but what, precisely, was meant by that? Were the “ratios of public bodies,” the newspapers worried, to be “determined by the native language of people who […] have forgotten their mother tongue entirely and speak […] a completely different language?” 2 There were, in fact, many such people—and not just Jews. Many selfidentifying ethnic Czechs, particularly among older generations, had been raised in German-speaking households or educated in German. Others were from bilingual homes. Perhaps, the Czech press wondered, “citizens of the same language” should mean rather “citizens of the same nationality […] no matter for what is (or was) the language commonly used […] in public or private life”?3 These debates are ubiquitous, tortuous and often demonstrate an uncomfortable awareness of a complexity that exceeds the discursive and legal framework available for its expression. In other words, the premise that a person unambiguously inhabits a single language as a native is understood—at this popular, quotidian, print-culture level—at once as the foundational principle of the hard-fought new republic and, at the same time, as a recognizably dubious and contestable proposition. The material stakes around these 2 3
Lidové noviny 28:320, Brno, July 1, 1920, 1. My translation. Ibid.
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uncomfortably dubious questions of language are high, however, and highly tangible. With language simultaneously structuring and providing the template for the external and internal boundaries of new postwar states, fixed answers to fluid questions determined not only a sense of ethnic belonging, but borders—and also, the make-up of local civic offices, legislative representation, schooling, and other divisions of state resources. For all this civic and national importance, however, the question of language boundaries was not only the preoccupation of newspaper pages and governments. The nascent years of the Prague Linguistic Circle roughly coincide with Kafka’s last years. Though the Prague School did not officially form until 1926, the Russian linguist Roman Jakobson arrived in Prague in 1920 and published in the same leftist Czech journal (Kmen [The Stem]) as Kafka. Kafka himself subscribed to the Czech philological journal Naše Ĝeþ [Our Language], and mentions it with admiration, and debates about linguistic study and history were even covered in the newspapers, where the intense relationship between linguistic and political clout could render philology front-page news. So, while I do not argue for a direct link between Kafka and the Prague School, I do argue that their shared historical, intellectual, and, indeed, publishing milieu provides a common ground and some shared preoccupations. Prague School concerns seem far from the apportioning of bilingual post offices and, for that matter, from fictional land surveying, but they are pertinent to the way Kafka’s novel figures language by means of structure and social use.
I.
Native Language versus Dual Asymmetry
How do these two spheres—linguistics and politics—view language, and how can these two understandings and discourses be brought to bear on each other? Prague School theory defines aesthetics and poetics in terms of violation and norm, in terms of boundaries and their abrogation. Poetic language is “the violation of the norm of the standard, its systematic violation”; the norm, in turn, relies on a community of native speakers who spontaneously recognize community usage as norm. The
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stronger and more stable—and this last word is stressed—the normative language system, the greater the potential for such “consistent and deliberate violation”: a weak, undifferentiated standard makes for a weaker poetry.4 In the political sphere, then, the pressure is on drawing stable distinctions among national groups based on linguistic identification between languages, so that citizens may be properly sorted; for the Prague School, the pressure is on drawing distinctions between modes and functions within a single, native language. Even in a theoretical system so heavily reliant on a community of native speakers, however, a core theoretical text acknowledges the potential for the slippage even native speakers must contend with. Saussure student and Prague School member Sergej Karcevskij would define such a problem in 1929 as “the dual asymmetry of the linguistic sign”: to paraphrase, not only are we cursed with synonymy (morphologically different words can have similar or identical meanings), but there’s homonymy as well (the same word, or similar or identical words, can have different meanings). Even in a native language, spontaneous comprehensibility is hardly a given. Internal divisions and distinctions render a “standard language” less clear and stable than a system of communication based on norms and differences probably needs to be. Despite such acknowledged problems, a community of native speakers who spontaneously comprehend norms is a foundational basis for Prague School theory just as it is for the nation-state. A community of native speakers is also the model, I want to argue, for Castle-world “natives.” Castle-world native claims about spontaneously comprehensible property relations might be modeled directly on Saussure, on the state of affairs in a linguistic community: it is common usage that determines rules, and rules—understood and iterated without reflection—that render communication possible. Such spontaneous clarity, however, is hardly the reader’s experience of Das Schloss, and nor is it K.’s. Although K. clearly speaks the same language as the denizens of castle and village, he is repeatedly told he speaks as a foreigner or frames his own uncertainty in terms of his “strange” or “for4
Jan MukaĜovský: “Standard Language and Poetic Language,” in: A Prague School Reader on Aesthetics, Literary Structure, and Style, ed. and trans. by Paul Garvin, Washington: Georgetown Univ. Press 1964, 18.
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eign” status, especially as it influences his interactions with castle officials and norms: “Er hat recht, es ist unmöglich, ohne Erlaubnis darf kein Fremder ins Schloss” (S App. 26); “Nur ein völlig Fremder kann Ihre Frage stellen” (S 82); “Sie sind nicht aus dem Schloss, Sie sind nicht aus dem Dorfe, Sie sind nichts. Leider aber sind Sie doch etwas, ein Fremder, einer, der überzählig und überall im Weg ist” (S 73); “Für einen, der amtliche Zuschriften zu lesen versteht und infolgedessen nichtamtliche Briefe noch besser liest, ist das alles überdeutlich; dass Sie, ein Fremder, das nicht erkennen wundert mich nicht” (S 89). The castle realm’s norms and structures are spontaneously comprehensible to its citizens, while K. can barely see the buildings. He speaks the language but always seems to miss some element that would let the world it describes make sense. A stranger, K. lacks native command of the territory he is to survey. Readers must share K.’s perceptions via a tight free indirect discourse broken only several times in the narration, Kafka’s initial first person famously crossed out in draft and replaced with “K.” Thus like K., we are faced with the task of perceiving the Castle-world in relation to an unknown and apparently unstable rhetorical and referential ground. We must also recognize that this instability in the Castle-world is potentially double in nature—another dual asymmetry. Logically speaking, the responsibility for the apparent distortion in the Castleworld may rest with K.’s faulty perceptions or with the realm he regards. K.’s expectations based on his dimly sketched prior life experience (a tower, a wall to be scaled, a briefly mentioned wife and child) form the ground of his perception (analogously, his linguistic habitual use which forms his sense of the norm), but these expectations are singularly inappropriate throughout, as the natives of castle and village rarely fail to remind him. On the other hand, the customs and behaviors of the villagers and castle officials cannot fail to strike readers (as they strike K.) as strange and inconsistent, like the weirdly shifting physical architecture of the castle buildings. Since we share K.’s perceptions, it’s easier to align ourselves with his perspective (the Castle-world is inconsistent), but what if there were some consistent system of relation K. simply misses as a result of his inappropriate perceptual expectations? Yet even this reversal does not take into account the full difficulty of
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Karcevskij’s “dual asymmetry.” The either/or structure that logical argument seems to demand is deceptive: just because K. might be delusional does not mean what he views is rational or consistent. In a system that relies on language for its stability, there is always the potential that we are (to put it in everyday language) doubly screwed: K.’s perspective is skewed, and the Castle-world is crazy.
II.
Ist denn hier ein Schloss?
Couched in terms of the “language” questions so dear to the heart of the editors at the newspaper daily Lidové Noviny, double asymmetry means that not only could a question about language (“jazyk”) have many different meanings politically—it could also be asking about the tongue in your mouth. In terms of a “Schloss,” the question is whether, on the one hand, the structure has more in common with a “Prunkbau” (mansion) or a “Ritterburg” (fortified castle), as K. will later consider with great consternation, or whether, on the other hand, the title, taken in isolation as it appears on a book cover, refers to a castle or a lock. Both the Czech “jazyk” and the German “Schloss” exhibit paradigmatic Karcevskijan dual asymmetry—unclear even in a single language. As in Prague politics, these language troubles express themselves physically, tangibly, in K.’s experience. K. strains to read the Castle tower in terms of what he knows, but its boundaries and lines are not “spontaneously comprehensible.” First, he recalls the “tower” language of his “Heimat”—his native “tower” language so to speak: Jener Turm, bestimmt, ohne Zögern, geradenwegs nach oben sich verjüngend, breitdachig abschliessend mit roten Ziegeln, ein irdisches Gebäude —was können wir anderes bauen?—aber mit höherem Ziel als das niedrige Häusergemenge und mit klarerem Ausdruck als ihn der trübe Werktag hat. (S 13)
This attempt at reading does not go smoothly:
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Der Turm hier oben—es war der einzige sichtbare—, der Turm eines Wohnhauses, wie sich jetzt zeigte, vielleicht des Hauptschlosses, war ein einförmiger Rundbau, zum Teil gnädig von Epheu verdeckt, mit kleinen Fenstern, die jetzt in der Sonne aufstrahlten—etwas Irrsinniges hatte das —und einem söllerartigen Abschluss, dessen Mauerzinnen unsicher, unregelmässig, brüchig wie von ängstlicher oder nachlässiger Kinderhand gezeichnet sich in den blauen Himmel zackten. (S 14)
K. remembers a church tower from his boyhood; in trying to parse the tower he now sees, he evokes a “Ritterburg” and a “Prunkbau” and seems distressed to find that the “Schloss” is not clearly one or the other. He seeks clarity, singularity of purpose, form, identity. But, in terms of architectural language, a “Schloss,” strictly speaking, would have no ecclesiastical or fortification function. K.’s architectural myopia maps tidily onto tensions not between, but within language: he seems to suffer from the problems of synonymity, exacerbated by the possibility of temporal disjunction. As Prague Structuralist Jan MukaĜovský discusses in a later article on function in architecture, in Gothic times both “Burg” and, somewhat later, the Gothic cathedral were the dominant architectural forms that corresponded to the dominant social institutions they housed.5 A modern “Burg” like the Prague Castle might easily house the department in charge of surveying—a government-commissioned land surveyor would logically fit right in, his official status confirmed by his admittance. In fact, the presence of a castle—potentially independent of size, population, or geographical importance—conferred “city” status, as well. Castles and cathedrals not only performed and signified their function, but also signified and produced a particular political status and organization. As structures, they are distinguished and distinguishing. These earlier architectural forms, however, are historically and functionally out of step with the term “Schloss.” In fact, as MukaĜovský also notes, the “Schloss” did not emerge as a dominant architectural form until the Renaissance, when it was designed to perform the dual function of residence for the landed gentry and administrative 5
Jan MukaĜovský: “On the Problem of Functions in Architecture,” in: Structure, Sign, and Function, ed. and trans. by John Burbank and Peter Steiner, New Haven: Yale Univ. Press 1977, 236-250, see 241.
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seat for the surrounding estates and villages. Yet this double function is precisely what seems most to disturb K.: the tower emerges from a “Wohnhaus” or, in the terms suggested by the Austrian census, from a “dwelling of everyday use.” In K.’s outmoded estimation, a tower’s political or religious significance should be clearly separated from the quotidian: functions should be perceptibly distinct; figure should not be confused with ground, and a castle should be distinguishable from a house. It may be that K.’s architectural language is simply out of date—as might happen when, as in the case of the Czech National Revival, you decide to base your official language not on the “everyday speech” of the peasants still speaking it, but on texts that were several hundred years old—resulting in an enormous gap between written and spoken Czech usage and even grammar that persists to this day, a gap which functions synchronically but describes a diachronic distance.6 This split further makes it probable that you could actually speak Czech “as a native” but not write it well—or vice versa, if you’d learned it from books. Such was the situation, by their own account, of a number of nineteenth-century Czech national revivalists; in fact, nationalist architectural projects such as the National Theater were valuable because the fundraising activities also put Czech-identifiers who’d grown up speaking German in contact with other like-minded nationalists. So, aspiring Czech speakers and writers—self-identified ethnic Czechs—of the nineteenth-century upper classes would be faced with the question of a “native language” that was foreign to them, or with the possibility of writing a language they could not, actually, speak “like a native” (peasant). In this case, a split within language functions like a split between languages: the grammar and stylistic differences between spoken and written Czech are broader in some areas than the differences between Czech and Slovak.
6
For discussion and documentation of the differences between the written and spoken language, see Charles Townsend: Spoken Prague Czech, Columbus: Slavica Publishers Inc. 1990.
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III.
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In terms of the state census, too, a related split within standard literary language troubles how the state (whether Austrian or, subsequently, Czechoslovak) would determine how its population was to be sorted between languages: whether by “mother tongue” or by the language of “everyday use.” National identity was determined by one’s language as reported on the census, but the meaning of the question “which language” was uncertain: was it the language you were born speaking? Or the language you used most in your everyday life? If it was the language you used in your everyday life, did that mean the one you used most at work? Or the one you used in your family? And what if you used one language in your everyday life, but felt that language had been imposed on you, and you wanted to learn to use another? Furthermore, in Prague, bilingualism generally included “Czech” and “German”; earlier, and in a different area of that country, energy had been focused on splitting what had been known as the single language “Czech” into “Czech” and “Slovak.” Linguistic boundaries determined political boundaries, but what exactly the boundaries between languages were— how to survey them—was a matter of intense debate. The 1920 Lidové noviny article illustrates how deeply imbedded in “quotidian” reality, in “everyday use” in the fullest sense, these issues were. Language statistics had already been used to determine (Czechoslovak) territory; in the new republic, they will also be used to determine rights, privileges, and the linguistic make-up of public governing bodies and offices. As the front-page article remarks, the occasion of the first Czechoslovak census brings a familiar but still difficult tangle of issues to the forefront of public consciousness. The Empire’s conflation of “everyday speech” with national identity—a policy the Czechs had long seen as an artificial way to inflate the ranks of German-identified citizens—still rankled. The newspaper recalls its role in (ultimately ineffectively) resisting this policy before the last Imperial census in 1910, when Czechs attempted “to amend the question to ask after mother tongue or nationality rather than everyday speech, but it was all in vain. Austria remained statistically faithful until the day of its
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death!”7 The paper remarks with rhetorical surprise that there is still no easy accord on the question of how nationality should be determined. Even those who favor a strictly linguistic determination do not agree: the question of whether it should be “mother tongue” or “everyday language” is charged, even polarizing. The newspaper, however, advocates a question asking directly for national self-identification—arguing that national identity should be a matter of national “feeling” rather than birthright or everyday use: Opponents of the ‘nationality’ question object, as they did in the old Austria, on the grounds […] that the subjective feelings of the population […] cannot be subject to a statistical survey […]. Those who advocate that a question about native language be used to determine the national identity of the population are risking a dangerous contradiction in all cases where the mother tongue and the nationality of the individual do not coincide (when, for instance, an individual spoke German as his mother tongue and now feels Czech or vice versa; those wanting the mother tongue to define nationality will now force that individual into an untruth […]).8
The wrong question will not only yield wrong answers, but force citizens to lie. The status of these questions are themselves in question. At any given time, though, for any given census, the questions, answers, and meanings would be fixed and would in turn fix other statistics that shape the representation, education, and economic benefits conferred on national groups: the census confers a kind of iron-clad Saussurean synchronic authority on whatever rules it adopts. Specifically, for the 1920 census, these questions would affect the accessibility of state and local offices. At another time, a specific question determining these results might stay the same while the stakes behind it might change; or, for that matter, the other way around. The language—in the sense of the terminology of the question—may change and, since the question is being asked by the state, it is crucial that the official language of the state has also changed. 7 8
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Furthermore, at no point does either the Austrian or the proposed Czechoslovak model include an option for bilingualism or binationalism—which was, after centuries of living at close quarters and intermarrying, a common enough situation for both individuals and families. The law, however, requires bilingualism of the state—and of state officials and offices—even as it withholds bilingual identification from individuals. Only questions with a yes-or-no answer have the power to require state action: The most serious objection to a question asking after nationality […] was a reference to a law which […] clearly requires a statistical investigation of the ratio of speakers of various languages relative to the general population […]. Surely it was not the intention of the language law that the linguistic ratios of public bodies be determined by the native language of people who, in some cases, have forgotten their mother tongue entirely and speak (converse in!) a completely different language. Are we not now approaching, however, a sense of ‘language’ precariously close to the famous ‘everyday language’ that had been defined as the language predominantly and ordinarily spoken by the population regardless of whether it was a ‘mother tongue’? Accordingly, if we take seriously the concept of ‘mother tongue’ as the most important, decisive indication of nationality, then we must conclude that the language law and its provisions for ‘citizens of the same language’ meant by this phrase citizens of the same nationality in the political sense, no matter for what is (or was) the language commonly used and predominantly used in public or private life.9
Complicating further these already complex interrelations is the case of Jewish identity, which is never, as we see, a question relevant only to the Jews: [W]hat of cases where the nationality in question has no living language but where, as in the case of the Jews, there are claims to a consciousness of ethnic cohesion, as with, for example, Zionist political parties? Here we come to the most serious and most important political consequence arising from the choice between questions about nationality or native lan9
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guage. Proponents of directly questioning nationality recognize that without fail the Jewish-born self-identifying Israelite (Zionist) would be able enter Jewish nationality on the census sheet. Opponents argue: how then will the section of the language law discussed above be carried out? Suppose […] that a district will number 80 percent Czech, 12 percent German, and 8 percent Zionist, a population whose language is German without exception. In this case, how should public offices be administered (in one language or bilingually)? From this example, it is clear that Germans have a political interest in ensuring that Jews not be allowed to indicate Jewish nationality, but rather be required to give their mother tongue, which must necessarily be one of the living languages. In this way, the German minority would achieve the 20% linguistic minority status and gain all the attendant legally established provisions. If we recognize on principle the notion of political-national self-identification, then it would be manifestly unjust if we wanted to withhold this opportunity from nationally conscious Jews when Zionist currents among them are undeniable. But whether we should exclude any activity by which they can, through the census process, in accordance with choices freely made, help shape the linguistic make-up of public offices in the areas where they live—that is a different question. In the case mentioned above they would influence these outcomes just the same, not freely and directly, however, but merely indirectly, generally in favor of the Czech and to the detriment of the German element.10
Whichever language question is asked of Jews, then, gains or loses population for one side or the other: asking no language question whatsoever would only shrink the ranks of both populations, but not equally. There is no neutral position. The “Jewish question” also exposes the tenuous grasp any either/or language questions can attain on actual linguistic reality “on the ground.” To return to the castle realm in terms of these questions of “quotidian” Prague: the foreign quality of K.’s speech or discourse allows us to imagine that his language of everyday use—at least, the language he uses in the world of the Castle—is not the same as his mother tongue— thus placing him at the crux of these issues so much debated in Prague in 1920. In terms of the Austrian formulation of “everyday speech,” K. 10 Lidové noviny 28:320, Brno, July 1, 1920, 1. My translation.
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could be identified as a member of the Castle nation: he clearly speaks their language. If membership was determined by “mother-tongue,” however, he would never be eligible, if we take literally the repeated castle claims that K. speaks as a stranger. If the castle were to operate in accordance with the new Czechoslovak laws, however, could K. achieve minority status—if a different “mother tongue” indeed exists— and therefore make demands of recognition and accessibility of the official offices of the state? Certainly K., like the linguistic minorities of both the former Austria and the new Czechoslovakia, seems eager for recognition. Yet there seem to be no other foreigners in the castle realm, and even minority status necessitates a community of native speakers. In some ways, his linguistic illegibility indeed places K. in the structural position of Prague Jewry as the Lidové noviny article identifies it. Jews function as a sign and focus for difficulties inherent in models based on linguistic-identity/ethnic-identity/national-boundary equivalence. In fact, one of the problems with such a reading is that K. largely fails in his attempts to disrupt the Castle-world.
IV. Klam(m): Problems in Bilingual Reading K.’s illegibility, his stranger status, may also be due to his status as a singularity within a collective—a single letter, indeed, a cipher in a system of words. But his singularity is also his name, and names and the function of letters within them had special resonance for names in this region. Kafka will later claim that only by the insertion of the letter “K.” does the proper name/word “Milena” become authentically Czech: “k.” renders the diminutive and sexualizes the name, further, transforming the “full,” “heavy” “Milena” into the Czech “sweetheart” or “lover” (BaM 68). The emphasis on the role of a single letter has powerful ramifications for The Castle, as well, as “K.” enters a new linguistic and cultural context with the aim or transforming. Such linguistic tensions also resonate with the structure and linguistic affiliation of a castle official—Klamm: or, to express notationally the bilingual duality of this name, Klam(m). And this linguistic duality of names was a regional
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feature, not specific to Jews, Czechs, or Germans, but to a long-term bilingual occupations of shared and mingled territory, to a reality that failed dramatically to fit into the boundaries of a nation-state. The 1921 phrase from the diaries “Immer M. oder nicht M., aber ein Prinzip” refers to Jesenská, naturally, but it might equally refer to the principle by which the proper name “Klamm” passes from German into Czech. Although K. completes no survey and there seems to be only a single language population, the castle official Klamm is nonetheless bilingual—even if in name only. The name Klamm (the official K. tries to meet, the one whose woman he steals) operates, like the KafkaJesenská relationship, in two languages. That the presence or absence of a single letter changes the linguistic identification of a noun is a common feature of Czech/German philology. Semantically as well as morphologically, the linguistic duality of Klamm’s name is particularly common to proper nouns: Božena NČmcová herself, the literary grandmother of the revived Czech nation, has a name that means “Mrs. German.” Jesenská’s husband, Ernst Pollak (the German Jew whose name in Czech means Earnest Polish Man) used both the Czech and German spellings of this name until 1938, the distinction turning on the doubled consonant just like his structural descendant Klamm’s. Reading names interlinguistically was a normal part of Prague life: add a letter, change languages. Or, just add “K” to get an authentically Czech sweetheart. In Klamm’s case, however, the doubled consonant is “M.”—the notation for Milena in Kafka’s diaries. The doubling of K. and Klamm is hard to miss: the two exist in a skewed structural mirror and cannot ever meet—Klamm waits for hours in the Herrenhof to avoid even being seen by K. Something separates them, though they share a woman and, of course, an initial. This relationship lends itself to a reading of K. as “Klamm”—but a version missing key parts. Complex visual, semantic, and etymological relations significantly complicate the terms of this relation, however. In German, the noun “Klamm” means “ravine or gorge”; the adjectival meaning, “tight, close, narrow” or “numb or stiff with cold,” renders an obvious female sexual image either frigid—perhaps virginal—or effects a bizarre blend with the “stiff” male erection. Charles Bernheimer cites the noun “Klammer,” “clamp, bracket, parenthesis,” and the verb
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“klammern,” to clasp, clinch, clamp.”11 The image of a “narrow, tight” “clasping” “gorge” concentrates physical fears and fantasies about the female sex organ; etymology thus casts doubt on Klamm’s potential phallic status. Thus the word’s implications are complicated enough in one language: in the split within language. Pursuing this strange psychosexual division, Bernheimer also links the name with Freud’s example of the Latin “clam” as a word which can have opposite meanings, the verb “clamare” meaning “to cry” and the adverbial “clam” signifying “softly, quietly, secretly.” If a word has opposite meanings, could it be considered deceitful? In Czech, the near morphologically identical but etymologically unrelated noun “klam” means “illusion,” “delusion” or “deceit.” The difference is that of one letter, and is visible only, accessible only through writing. “M. oder nicht M.” What separates K. from Klamm? Letters; writing; a woman: this much we know from the plot of the novel. Reading between languages but within a single word reveals another potential source of separation: an imperative from a foreign grammar. In Czech, the verb “lámat” (to break) gives—archaically—the familiar imperative “lam!” (break!). If in the Czech word “klam” we perform this imperative on itself and break it off, we are left with K., alone. The Czech imperative, in other words, sunders K. from Klam. Is he thus castrated, or undeceived? If we look at the function of the simple imperative “lam!” on the German “Klamm,” we find that the Czech familiar, the intimate imperative, separates—“breaks”—the letters “K” and “M,” while the deceitful Czech “klam” in the German “Klamm” leaves M.—alone. Or, if performing an imperative on itself would make a verb reflexive, “lámat se” would render Klamm “refracted.” The languages interpenetrate, intermingle: they do not remain distinct. If “Klamm” is a name “violated by Czech,” as Kafka asserts of the name “Milena,” what of K.? The single letter “k,” in German only a cipher, is a complete word in Czech. It is a preposition, a dative preposition of motion—motion towards something into which one cannot enter. Does this disruptive ghost of the Czech language in a German text align with the social system of the Castle-world in which K. can only 11 Charles Bernheimer: Flaubert and Kafka, New Haven: Yale Univ. Press
1982, 215-216.
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ever be foreign? Or does it represent the hope of that world’s disruption, its lurking interlinguistic presence constituting the fissure in Klamm’s name, exposing the delusional nature of the Castle system, a “minority literature” of the word? Or, finally, does Czech sunder K. irrevocably from M. by means of a hidden, formally intimate, but ultimately severing Czech imperative (“lam!”), the fissures of language(s) proving too much or too little for them? How different, how entirely grammatically and functionally distinct, “k” is from the Czech preposition “v.” An April 1918—pre-Czechoslovak Statehood—essay by the graphic designer and architect Vlastislav Hofman is entitled “ZemČ v klamu,” “v” being the locative preposition that indicates the state of being within a place: here, the land, or world, or country in delusion, or illusion, or deceit. All that is crystal-clear from the phrase is the spatial relation determined by the single prepositional letter—in isolation—and the grammatical case it governs. Klamm’s “double asymmetry” recalls or rather prefigures Karcevskij’s critique of the doubly asymmetrical linguistic sign, encapsulates and doubles the novel’s title and central structure, its core problem, and that of language(s). Stanley Corngold comments on homonymies as follows: For modern semanticists homonomies are ‘invalids’ giving rise to ‘pathological conflicts’; Kafka gives gainful employment to these martyrs of reason. Thus ‘Das Schloss’ (The Castle) also means ‘the lock’ and is related to various verbs expressing the idea of closure, of walled-aroundness; its hero, the ‘Landvermesser,’ is a ‘country surveyor,’ furthermore, ‘a materialist mis-measurer,’ but also—by suggestion—‘a hubristic lout.’12
Thus language dictates that a surveyor be a mismeasurer and a lout— and both these secondary meanings are arguably quite true of K. as he spies, lurks, has sex with his employer’s mistress on a barroom floor and then dallies with her rivals. Yet if, as I have been reading him, K. is a “non-native” speaker of the Castle-language, then these are precisely 12 Stanley Corngold: Franz Kafka: The Necessity of Form, Ithaca: Cornell
Univ. Press 1990, 94.
K LAMM
AND THE
DOUBLE A SYMMETRY
OF
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the meanings he might well fail to understand and anticipate, although everyone around him seems to expect him both to mismeasure and act loutishly. Or, perhaps, to be constitutionally unable, as “k,” to do more than approach a castle (or a lock). Is this a problem of living between languages, or does an uncomfortably bilingual context simply accentuate the extent to which there is no native language—no language in which we can feel entirely, unambiguously, “within” or at home? Or perhaps, “an infinite amount of native language—but not for us.” Prague renders what we might call “the question of language” into “the question of languages”—as in which one? When? Again, this simple addition of the pluralizing “s” at once complicates abstract questions of semantics, but also reminds us of the linguistically charged quotidian of Prague daily life, where real economics and property relations rely on this question. So, it’s a castle or a lock, but if it’s a structure you’re trying to get into, you really ought to know. Rhetoric is never, in this context, just a matter of rhetoric. Thus what seems like the peculiar, parochial and, for that matter, long defunct interlinguistic context of Kafka’s Prague is more exemplary than it seems, pointing out through its shifting fissures the undependability of language(s) we rely on for communication, but do not, after all, hold in common.
Allogenität und Assemblage Kafkas Schloss mit Blüher und Latour1 B ENNO W AGNER
Sociologists of the social seem to glide like angels, transporting power and connections almost immaterially, while the ANT-scholar has to trudge like an ant, carrying the heavy gear in order to generate even the tiniest connection. (Bruno Latour, Reassembling the Social)2 Sonst aber lassen Sie es sich gesagt sein, dass ich der Landvermesser bin, den der Graf hat kommen lassen. Meine Gehilfen mit den Apparaten kommen morgen im Wagen nach. (S 9)
Der Buchumschlag, der Bruno Latours Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) zusammenfasst, zeigt die fragmentarische Reproduktion einer Lithographie, die die Herstellung des Panoramas La Prise de Tananarive für die Pariser Weltausstellung im Jahre 1900 darstellt.
1 2
Zuerst erschienen in: IASL, Bd. 38-1 (2013), 64-99. Bruno Latour: Reassembling the Social. An Introduction to Actor-NetworkTheory, Oxford: Oxford University Press 2005, 25.
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Ausstellung – Herstellung – Darstellung: Damit ist eine zentrale methodische Perspektive des Buches auf einen Blick erfasst.
Abb. 1: Abbildung vom Umschlag von Latours Reassembling the Social
In der ANT fungieren die ausgestellten Bilder unserer Gesellschaft nicht als begriffliche Grundlage des Forschungsinteresses, sondern als sein Gegenstand. Die ANT interessiert sich für die Orte und Verfahren ihrer Herstellung, und sie gibt uns einige Regeln für die Darstellung dieser Lokalitäten und Verfahren an die Hand. Was nun die bildliche Darstellung des Lithographen Edmond Blampied betrifft, so zeigt sie die auf Schienen angebrachten Gerüste, die es den Malern ermöglichen, alle Stellen im Rund der Leinwand des Panoramas zu erreichen und zu bearbeiten. Am rechten Rand sehen wir im Vordergrund den Projektleiter, der seinem technischen Assistenten Anweisungen zur Ausführung eines bestimmten Details erteilt. Aus dem Zentrum im Hintergrund
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werden die beiden vom Schöpfer des Panoramas beobachtet, der seinerseits an der Verschalung des Heizkessels lehnt. Der historische grand récit der Eroberung Tananarives und, im gleichen Zuge, die Universalität der Pariser Exposition Universelle, werden hier als Effekte eines Akteur-Netzwerks fassbar, in dem menschliche Kreativität, Planung und Arbeit mit technischen Geräten und Prozeduren in einen unauflösbaren Zusammenhang treten. Der Kafka-Leser sieht auf einen Blick, wo hiervon die Rede ist. Vierzehn Jahre später, als grand récits mit universalem Anspruch Hochkonjunktur haben, lässt Franz Kafka seinen böhmischen Helden Karl Rossmann vor die Aufnahmebüros der Werbetruppe des angeblich größten Theaters der Welt treten. Vor diesem »großen Teater von Oklahama«, dessen Plakate wie die Propaganda der Weltkrieg-Armeen, der zionistischen Siedlungsbewegung in Palästina und der Sozialversicherung in Mitteleuropa »jede[n] […] willkommen« heißen (V 387f.), wird auch der vom Neffen eines reichen New Yorker Senators zum Hausdiener einer Prostituierten im Hinterland heruntergekommene Rossmann »als Schauspieler aufgenommen« (V 407). Im anschließenden Eignungsgespräch freilich räumt er ein, dass er »ursprünglich«, »in Europa«, habe »Ingenieur« werden wollen, und es entspinnt sich folgender Dialog: ›Nun Ingenieur‹, sagte er, ›können Sie wohl nicht gleich werden, vielleicht würde es Ihnen aber vorläufig entsprechen, irgendwelche niedrige technische Arbeiten auszuführen.‹ ›Gewiss‹ sagte Karl, er war sehr zufrieden, er wurde zwar, wenn er das Angebot annahm, aus dem Schauspielerstand unter die technischen Arbeiter geschoben, aber er glaubte tatsächlich sich bei dieser Arbeit besser bewähren zu können. (V 408)
Wenig später, beim gemeinsamen Festessen der neu Aufgenommenen, bestätigt sich Karls Berufswahl noch einmal. An einem Ende der reich gedeckten Tafel sind »Bilder von Ansichten des Teaters von Oklahama […] aufgestapelt«, die eigentlich während des Essens »von Hand zu Hand gehen sollten«. Da die ausgehungerte Tischgesellschaft sich ganz den Speisen und Getränken widmet, erreicht Karl, der am anderen Ende der Tafel sitzt, nur ein einziges Bild. »Nach diesem Bild zu schliessen«, lässt der einsinnige Erzähler uns wissen, »mussten aber alle sehr se-
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henswert sein«, um dann eine kleine Mediologie des Theaters von Oklahama zu geben: Dieses Bild stellte die Loge des Präsidenten der Vereinigten Staaten dar. Beim ersten Anblick konnte man denken, es sei nicht eine Loge, sondern die Bühne, so weit geschwungen ragte die Brüstung in den freien Raum. Diese Brüstung war ganz aus Gold in allen ihren Teilen. Zwischen den wie mit der feinsten Scheere ausgeschnittenen Säulchen waren nebeneinander Medaillons früherer Präsidenten angebracht, einer hatte eine auffallend gerade Nase, aufgeworfene Lippen und unter gewölbten Lidern starr gesenkte Augen. Rings um die Loge, von den Seiten und von der Höhe kamen Strahlen von Licht; weisses und doch mildes Licht enthüllte förmlich den Vordergrund der Loge, während ihre Tiefe hinter rotem, unter vielen Tönungen sich faltendem Sammt der an der ganzen Umrandung niederfiel und durch Schnüre gelenkt wurde, als eine dunkle rötlich schimmernde Leere erschien. Man konnte sich in dieser Loge kaum Menschen vorstellen, so selbstherrlich sah alles aus. Karl vergass das Essen nicht, sah aber doch oft die Abbildung an, die er neben seinen Teller gelegt hatte. (V 412f.)
Wie Blampied und Latour, so interessieren sich Rossmann und Kafka für die großen Inszenierungen ihrer Gesellschaft weniger in schauspielerischer als vielmehr in bühnentechnischer Hinsicht. Im Folgenden werde ich ausführlicher entfalten, was die etwas willkürliche Bild-TextZusammenstellung zu Beginn dieses Artikels immerhin andeuten mag: dass im literarischen Werk Franz Kafkas, und insbesondere in seinem letzten großen Roman, zentrale Konzepte der ANT vorweggenommen sind oder, um Latours listig-charmante Umkehrung seiner genealogischen Beziehung zum französischen Soziologen Gabriel Tarde (18431904) zu verwenden: dass die ANT zu den Vorläufern Kafkas zu zählen ist, und dass sie deshalb auch einen zielführenden Zugang zur Analyse seiner literarischen Welten eröffnet.
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Kafkas Anstalt: Ein Beitrag zur Genealogie der Akteur-Netzwerk-Theorie
Einen zentralen Antrieb der ANT bildet das theoretische wie methodologische Ungenügen am ontologisierten common sense der »Soziologie des Sozialen«. Die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstandene begriffliche Ordnung des Sozialen mit ihren Aggregaten wie Gesellschaft, Klasse, Gruppe oder Individuum und ihren Gesetzen, Normen und Regeln konnte sich, so Latour, vor allem aufgrund ihrer Anschlussfähigkeit an die mit dem Aufbau des Wohlfahrtsstaats einhergehenden ordnungspolitischen Diskurse etablieren. So erklärt Latour die wissenschaftspolitische Niederlage seines »nicht vollkommen respektablen Großvater[s]«3 Gabriel Tarde gegen Emile Durkheim mit der praktisch-politischen Kompatibilität des letzteren: »Tarde always complained that Durkheim had abandoned the task of explaining society by confusing cause and effect, replacing the understanding of the social link with a political project aimed at social engineering.«4 Mit dem Zerfall ihres ordnungspolitischen Aprioris – des Sozialstaats mittel- und westeuropäischer Prägung – im ausgehenden 20. Jahrhundert verliert diese etablierte Topologie des Sozialen rasant an Erklärungspotential: in situations where innovations proliferate, where group boundaries are uncertain, when the range of entities to be taken into account fluctuates, the sociology of the social is no longer able to trace the actors’ new associations. […] To the convenient shorthand of the social, one has to substitute the painful and costly longhand of associations.5
Die von Latour hier postulierte »sociology of associations«6 betrachtet die großen Einheiten und Strukturen des Sozialen nicht als Erklärungs3
4 5 6
Bruno Latour: »Gabriel Tarde und das Ende des Sozialen«, in: Christian Borch und Urs Staeheli (Hg.): Soziologie der Nachahmung und des Begehrens. Materialien zu Gabriel Tarde, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009, 39-61, hier 40. Latour, Reassembling the Social, s. Anm. 2, 13. Ebd., 11. Ebd., 9.
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grundlage, sondern als das zu Erklärende: als zeitlich begrenzten Effekt der fluiden und im Übrigen selbst nicht sozialen Assoziationen zwischen Menschen, anderen Lebewesen und Dingen der Natur und Technik zu Akteur-Netzwerken.7 Vor diesem Hintergrund gilt es zunächst zu erklären, wie Franz Kafka, der 40 Jahre nach Tarde, 25 Jahre nach Durkheim und zwei Jahre nach der Verkündung der bismarckschen Sozialgesetzgebung geboren wurde, und der zudem von 1908 bis 1922 als Jurist in der Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt für das Königreich Böhmen selbst organischer Intellektueller des social engineering war, sich mit solch verblüffender Präzision in die Genealogie der ANT einschleichen konnte. Mit der staatlichen Versicherung gegen Arbeitsunfälle erhebt sich in den Industriegesellschaften des 19. Jahrhunderts ein komplexes und weitreichendes Akteur-Netzwerk. Die wichtigste Grundlage seiner Macht liegt in der umfassenden Anwendung eines neuen Assoziationstyps auf die erwerbstätige Bevölkerung. An die Stelle der im liberalen Recht kodifizierten Prinzipien von Schuld und Verantwortung tritt jetzt das Berufsrisiko, das heißt die vom Tun und Lassen einzelner Arbeitnehmer und Arbeitgeber unabhängige, statistisch gemessene Wahrscheinlichkeit, mit der eine bestimmte industrielle oder handwerkliche Branche das Budget der Versicherung zur Regulierung von Unfallschäden belasten wird.8 Die mitlaufende Feststellung und praktische Implementierung dieser rein mathematischen Assoziation von Menschen, Gebäuden, Maschinen und Fertigungsverfahren zu Risikogruppen erfordert zudem die Einrichtung einer ganzen Reihe sekundärer, aber auch materiellerer Assoziationen: die laufende Kontrolle der gezahlten Löhne, die Inspektion der baulichen und technischen Einrichtung der Betriebe, die versicherungsmedizinische Untersuchung und rehabilitationsmedizinische Betreuung der geschädigten Arbeiter, die Verwaltung der betriebsstatistischen Daten und der Rentenauszahlung. Dieses riesenhafte social engineering Projekt verfolgte vor allem zwei Ziele: Das erste bestand bekanntlich darin, die vom liberalen Haftungsrecht nicht mehr zu bewältigende Beziehung zwischen verunglückten Arbeitern 7 8
Latour, Reassembling the Social, s. Anm. 2, 63-70. Dazu ausführlich François Ewald: Der Vorsorgestaat, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, 280-282.
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und Unternehmern derart neu zusammenzusetzen, dass sie nicht länger als fatale Dissoziation, als Klassenkampf, gedeutet werden konnte. Das zweite Ziel ließe sich in latourscher Terminologie als »Reinigungsarbeit« bezeichnen.9 Mit den komplexen Verflechtungen von Menschen und Maschinen unter industriellen Produktionsbedingungen war eine gigantische Hybride entstanden, an deren intentional-nichtintentionalen Handlungsgeflechten das liberale Haftungsrecht abgleiten musste. Indem nun die Unfallversicherung die Technik als Gefahrenquelle redefinierte, sie dann auf die Gesamtheit einer Arbeiterpopulation als deren Berufsrisiko bezog und genau dadurch aus der Gesellschaft aussonderte, konnte sie die reine Trennung zwischen Gesellschaft und Technik wiederherstellen. Die industrielle Produktion war nun eine Angelegenheit zwischen Arbeitnehmern, Arbeitgebern und dem Staat, die sich mit dem vertrauten Arsenal an Begriffen und Argumenten über die gerechte Bemessung der Prämien und Entschädigungssummen streiten und einigen konnten. Im europäischen Musterland der Sozialversicherung, dem Deutschen Reich, ging diese Rechnung vor allem deshalb so gut auf, weil dort die berufsgenossenschaftliche Organisation der staatlichen Unfallversicherung eine funktionale Differenzierung und mithin eine moderne Spezialisierung der Anstalten nach Produktionsbranchen ermöglichte. In Österreich hingegen stand eine Reihe politisch-konstitutioneller Faktoren dem Gelingen der Reinigungsarbeit entgegen. I.1
Territoriale Organisation
Die in den Begriffen einer Soziologie der Moderne »pathologische« (Emil Durkheim) bzw. »archaische« (Niklas Luhmann)10 segmentäre Differenzierung der österreichischen Versicherung nach Kronländern Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008, 19f. 10 Emile Durkheim: »Regeln zur Unterscheidung des Normalen und des Pathologischen«, in: ders.: Die Regeln der soziologischen Methode, Neuwied: Luchterhand 1965, 141-164; Niklas Luhmann: »Die Weltgesellschaft«, in: ders.: Soziologische Aufklärung 2, Opladen: Westdeutscher Verlag 1975, 51-71, hier: 57. 9
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brachte Anstalten und mithin Dienststellen und Beamte hervor, die je nach Zuständigkeitsbereich die Regeln der Versicherungstechnik, die Bestimmungen des Versicherungsrechts, die Normen des Unfallschutzes und die Maßregeln der Versicherungsmedizin auf ein höchst heterogenes, weil alle Produktionsbranchen und Betriebstypen des jeweiligen Kronlandes umfassendes technisches und wirtschaftliches Feld zu beziehen hatten. In diesem Sinne produzierte die territoriale, also grundsätzlich sachfremde Organisation der Arbeiterversicherung nicht den reinen Typus des weberschen Fachbeamten, sondern Universalisten oder genauer: professionelle Dilettanten, deren Fachgebiet jeweils eine ganze Welt teils höchst moderner, teils durch den technologischen Prozess bedrohter vor- oder frühmoderner Produktionsverhältnisse umfasste. Da die Versicherungsanstalten also keine Experten besaßen, die das Technikwissen einer jeweilige Branche beherrschten, blieb in den Konflikten zwischen Betrieben und der Versicherungsanstalten – beides komplexe, aus Menschen, Technologien, Medien und Verfahren zusammengesetzte Akteure – die juristisch maßgebliche Frage der agency häufig umstritten. Gerade weil sie nicht zum Differenzierungsprinzip der Anstalten werden konnte, drang also hier die Technik in die Debatten um die Verteilung sozialer Lasten als Störfaktor ungehindert wieder ein.11
11 Ein eindrucksvolles Beispiel dieser systemischen Sehschwäche in puncto
Technik bietet der Einreihungsrekurs Christian Geipel & Sohn, mechanische Weberei und Appretur in Asch (AS, Nr. 18), in dem die Prager AUVA dem Kläger in Kafkas Handschrift bescheinigt, dass im Konfliktfall die technologische Nomenklatur des Gefahrenklassenschemas den Sieg über die Berufung auf die Tatsachen der in stetiger Entwicklung begriffenen Produktionstechnik davonträgt. Für eine Sektion dieses symptomatischen Fehlbescheids vgl. den Kommentar, AS 903-909. Die Rekonstruktion dieses Falles verdeutlicht ex negativo, dass der gesamte Kommentar zu diesem Textkorpus durch eine Reformulierung in den Kategorien der ANT erheblich an Auflösungsschärfe gewinnen könnte. Im gleichen Zuge wäre der begriffliche Rahmen für eine Begründung der Integration der Amtlichen Schriften in das Gesamtwerk Kafkas erheblich zu erweitern.
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Zentralbürokratie vs. Expertenverwaltung
Eine weitere Verunsicherung der agency im Bereich der Arbeiter-Unfallversicherung war verwaltungsgeschichtlich bedingt. Seit der schmerlingschen Verfassung von 1861 hatten in Österreich zwei unterschiedliche Systeme der öffentlichen Verwaltung nebeneinander existiert. Zunächst hatte nach 1848 Kaiser Franz Joseph eine dem französischen Vorbild folgende streng zentralistische Organisation der Verwaltung eingeführt. Sämtliche Minister wurden durch den Kaiser ernannt und unterstanden, obwohl formal auch dem Parlament verantwortlich, unmittelbar der kaiserlichen Regierungsgewalt. Im Zuge der Verfassungsreform von 1861 wurden als föderalistisches Gegengewicht zu dieser rigiden Zentralverwaltung in den einzelnen Kronländern Landesverfassungen und Landtage eingerichtet. Letztere erhielten eng beschränkte legislative Kompetenzen und konstituierten ihrerseits Landessausschüsse mit wiederum begrenzten Aufgaben der Selbstverwaltung.12 In diesen hybriden und zunehmend politisierten Verwaltungsraum trat nun im Gefolge der österreichischen Sozialgesetzgebung eine historisch neuartige Verwaltung. Unter der patrimonialen Herrschaft der traditionellen k.k. Beamtenschaft tauchte ein vollkommen neuer Typ des Staatsdieners auf – der Sozialversicherungsexperte, der mit seinem Fachwissen in Teilbereichen wie Technologie, Medizin, Statistik und Sozialrecht sich anschickte, die noch an den Willen des Souveräns gebundene gute Polizei durch eine rein sachlogisch fundierte Biopolitik zu ersetzen. Freilich blieb diese Versachlichung eine bloße Tendenz, die durch die naturgemäß dilettantischen Entscheidungen der Zentralbehörden immer wieder behindert, verzögert und gebrochen wurde. Kafkas amtlicher Schriftverkehr dokumentiert immer wieder das Unverständnis, mit dem die versicherten Unternehmer ebenso wie die lokalen und zentralen Behörden diesem neuen, mit statistischem Wissen gerüsteten Akteur begegneten.13 Die Zusammenfassung aller dieser Dispute um agency findet sich in jenem notorischen Dialog im Schloss-Roman, 12 Joseph Redlich: Österreichische Regierung und Verwaltung im Weltkriege,
Wien: Hölder-Pichler-Tempsky 1925, 19, 34. 13 Vgl. vor allem die Nrn. 1, 8 und 22 der AS und die dazugehörigen Kom-
mentare.
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in dem der Dorfvorsteher K. beruflich genau dort einordnet, wo ihn, ein Kapitel zuvor, die Wirtin verortet hat, wenn sie ihn als »überzählig und überall im Weg« (S 80) bezeichnet: Sie sind als Landvermesser aufgenommen, wie Sie sagen, aber, leider, wir brauchen keinen Landvermesser. Es wäre nicht die geringste Arbeit für ihn da. Die Grenzen unserer kleinen Wirtschaften sind abgesteckt, alles ist ordentlich eingetragen, Besitzwechsel kommt kaum vor und kleine Grenzstreitigkeiten regeln wir selbst. Was soll uns also ein Landvermesser? (S 95)
I.3
Klassenkampf vs. Rassenkampf
Als weiterer Archaismus, der in Österreich der Implementierung der modernen Sozialversicherung im Wege stand, ist die Vielzahl der nationalen Konflikte des Vielvölkerstaates zu nennen. Gehörte die Sozialversicherung in West- und Mitteleuropa zu jenen Dispositiven, die nach Foucault den Dualismus des archaischen Kampfes der Rassen (Unterwerfung der anderen Rasse) in den Monismus eines biopolitischen, auf die Vermessung und Optimierung des Lebens einer Bevölkerung ausgerichteten Rassenbegriffs (Reinigung der Rasse) überführten, so verhinderte in Österreich umgekehrt die Fortsetzung der ethnischen Konflikte die reine Ausgestaltung der Sozialversicherung.14 Im Bereich der böhmischen Arbeiter-Unfallversicherung etwa gelang es den vorwiegend tschechischen Arbeitnehmern, sich ihren Verzicht auf die nationale Majorität im Vorstand der AUVA durch freie Hand bei der Handhabung der Entschädigungszahlungen entgelten zu lassen. Ermöglichte die territoriale Organisation der österreichischen AUVs den Wiedereintritt der Technik in das Feld des Sozialen, so ermöglichte der ethnische Konflikt 14 Michel Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collè-
ge de France (1975-76), Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001, 79-81. Zur österreichischen Anomalie und ihren diskursgeschichtlichen Folgen vgl. Benno Wagner: »›Sprechen kann man mit den Nomaden nicht.‹ Sprache, Gesetz und Verwaltung bei Otto Bauer und Franz Kafka«, in: Marek Nekula und Albrecht Greule (Hg.): Sprache und nationale Identität in öffentlichen Institutionen der Kafka-Zeit, Wien: Böhlau 2007, 109-128.
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den Wiedereintritt des Klassenkampfes. Die beiden Hauptziele der Reinigungsarbeit waren damit nicht zu realisieren. I.4
Betriebsgeheimnis und Gewerbeinspektorate
Ein grundlegender methodischer Zug der ANT besteht darin, den sozialen Regimen des Sehens in den Rücken zu fallen, anstatt die von ihnen gelieferten Daten und Strukturen als begriffliche Basis für die eigenen Beschreibungen zu verwenden. Dabei unterscheidet Latour das Phantasma des alles erfassenden Kontrollblicks, wie es sich in Benthams Panoptikon artikuliert, von den spezialisierten, aber lokal und fachlich begrenzten Zentren der Wahrnehmung und Verknüpfung, den Oligoptiken, wie sie die Gesellschaft in ihren Büros, Amtsstellen, Laboren und Redaktionen ausbildet: »Oligoptica are just those sites [places on earth that are fully assignable] since they do exactly the opposite of panoptica: they see much too little to feed the megalomania of the inspector or the paranoia of the inspected, but what they see, they see it well […]«15. Hiervon unterscheidet er als dritten Typus das Panorama. Dabei handelt es sich eigentlich nicht um ein Regime des Sehens, sondern des Zeigens, das heißt um eine Umkehrung der Blickordnung des Panoptikons: die Zusammenfassung der vielfältigen und in ihren Maßstäben heterogenen Wahrnehmungen der Gesellschaft oder ihrer Teile in einem big picture, einem Rundbild, das den Einzelnen im Zentrum zum Betrachter eines umfassenden Gesamtbildes werden lässt: »Contrary to oligoptica, panoramas, as etymology suggests, see everything. But they also see nothing since they simply show an image painted (or projected) on the tiny wall of a room fully closed to the outside«16. Die Differenzen, Übergänge und Konflikte zwischen diesen Regimen des Sehens und Zeigens strukturieren das Einsatzgebiet der von Kafka geleiteten Rekurs-Abteilung der Prager AUVA. Im Mittelpunkt steht dabei das auch bei Latour hervorgehobene Thema des schlechten – weil schlecht implementierten – Oligoptikons, das auch bei Latour mit einer Warnplakette versehen wird: »The tiniest bug can blind olig15 Latour, Reassembling the Social, s. Anm. 2, 181. 16 Ebd., 187.
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optica«17. In ihrer reinen mathematischen Form eröffnet die ArbeiterUnfallversicherung einen neuartigen Blick auf die Turbulenzzone der modernen Verfassung, den Bereich der Hybriden und der Quasi-Objekte. Der von Latour den Modernen bescheinigte Zwang, »›doppelt zu sehen‹«18 – »auf der einen Seite das Rechtssubjekt, auf der anderen das Wissenschaftsobjekt«, hier »die zänkische und rechnende Masse der Bürger«, dort die »materielle und stumme Masse der Objekte«19 – wird bereits von der industriellen Unfallstatistik restlos aufgehoben. Statt die Netzwerke aus Menschen, Tieren, Gebäuden und Maschinen20 entweder entlang der »Großen Trennung«21 zu reinigen, oder sie umgekehrt weiter zu vermischen, verrechnet und transkribiert sie sie in ein homogenes Feld reiner Wahrscheinlichkeiten, dessen Maßeinheit K heißt: der aus in Fünfjahresperioden durchgeführten statistischen Erhebungen gewonnenen Wahrscheinlichkeit nämlich, wie viele Kronen je 100 Kronen gezahlter Löhne in einer bestimmten Industriebranche für die Entschädigung von betriebsbezogenen Unfallschäden künftig aufzubringen sein werden. In den Fluten amtlicher und publizistischer Dokumente zur Frage der Gefahrenklassifikation fallen die von Kafka verfassten Texte dadurch auf, dass sie gegen die laufenden Betrugs- und Korrupti17 Latour, Reassembling the Social, s. Anm. 2, 187. 18 Latour, Wir sind nie modern gewesen, s. Anm. 9, 40. 19 Ebd., 42. 20 Dass die industrielle Unfallstatistik sich in der Tat auf ein Zentrum der Hy-
bridisierung richtet, mag folgender Auszug aus dem ersten Paragraphen des österreichischen AUVG von 1888 veranschaulichen: »§. 1. Alle in Fabriken und Hüttenwerken, in Bergwerken auf nicht vorbehaltene Mineralien, auf Werften, Stapeln und in Brüchen, sowie in den zu diesen Betrieben gehörigen Anlagen beschäftigten Arbeiter und Betriebsbeamten sind gegen die Folgen der beim Betriebe sich ereignenden Unfälle nach Maßgabe der Bestimmungen dieses Gesetzes versichert. […] Den im ersten Absatze angeführten Betrieben gelten im Sinne dieses Gesetzes gleich: 1. Jene Betriebe, in welchen explodirende Stoffe erzeugt oder verwendet werden; 2. jene gewerblichen oder land- und forstwirtschaftlichen Betriebe, bei denen Dampfkessel oder solche Triebwerke in Verwendung kommen, die durch elementare Kraft (Wind, Wasser, Dampf, Leuchtgas, Heißluft, Elektricität u. s. w.) oder durch Thiere bewegt werden« (AS 37f.). 21 Latour, Wir sind nie modern gewesen, s. Anm. 9, 55.
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onsmanöver der Unternehmer, Arbeiterverbände und Behörden wiederholt und explizit die Unfallstatistik als alleiniges und verbindliches Wahrnehmungsmedium postulieren: als Form eines standpunktlosen Sehens jenseits von Panoptikon, Oligoptikon und Panorama, als Regime des Sehens oder »Superschrift«, die sich dem politischen Feld des Sozialen (Staat, Unternehmer, Gewerkschaften) kategorisch entzieht.22 Allerdings lieferte die Schadensbelastungen bloß konstatierende Unfallstatistik nur ein allgemeines, auf ganze Branchen bezogenes Maß für die Gefahrenklassifikation. Um den einzelnen Betrieben zugleich einen Anreiz zu geben, ihre technischen Sicherheitsstandards laufend zu verbessern, wurde die Einordnung innerhalb der Gefahrenklassen (und mithin des Beitragsschemas) von ihrer technischen und baulichen Ausstattung abhängig gemacht. Im gleichen Zuge freilich war es den Unternehmerverbänden unter Berufung auf das Betriebsgeheimnis gelungen, das Recht zur Besichtigung ihrer Betriebe, das im ersten Entwurf des Gesetzes (1883) noch den Inspektoren der Versicherungsanstalten gewährt war, den mittlerweile neu eingerichteten Gewerbeinspektoraten zu übertragen. Mit dieser Abtrennung des probabilistischen Blicks der Unfallstatistik vom realistischen Blick der technischen Inspektoren waren nicht nur den panoptischen Träumen oder Albträumen einer alles sehenden Führerschaft die Grundlage entzogen. Vielmehr war das in Kafkas ersten Berufsjahren – und mit seiner maßgeblichen Beteiligung – mühsam gereinigte Oligoptikon der Unfallstatistik durch das ihm nur bedingt kompatible und zudem in sich korrupte Oligoptikon der nur de jure unabhängigen Gewerbeinspektorate supplementiert. In einer umfangreichen Klageschrift an das Innenministerium wird gleich zu Beginn gerade der Ausbau des Inspektorate-Netzwerks als Hauptfehlerquelle hervorgehoben,23 bedeutet er doch nichts anderes als die Wiedereinführung des human factors in das eindeutige Wahrnehmungsregime der Statistik. So heißt es über die versicherungsstatistisch unzureichend ausgebildeten und zudem für Korruption aller Art anfälligen Inspektoren: 22 »Die Statistik aber ist eindeutig«, hält die AUVA jenen Unternehmern ent-
gegen, die »gegen das [Lohnlisten-]Kontrollsystem, das die reellen Firmen schwer schädige, […] Beschwerde erhoben« hatten (AS 303, 868f.). 23 AS, Nr. 22; zu Kafkas Verfasserschaft: AS 941f.
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Die Vergrößerung dieser Übelstände ist vor Allem darauf zurückzuführen, daß die Anzahl der Gewerbeinspektorate gegenüber dem Jahre 1905 so beträchtlich vermehrt worden ist und wiederum auch die Mehrzahl dieser neuen Inspektorate neue Zentren subjektiver und den mannigfaltigsten Einflüssen angesetzter Begutachtungen gebildet hat. (AS 655f.)
Die zitierte Eingabe hebt sich nun insofern aus der Masse vergleichbarer Petitionen der AUVA hervor, als sie nun nicht einfach eine Korrektur der – tendenziell unternehmerfreundlichen – Ergebnisse der Betriebsinspektionen fordert, sondern sich ihrerseits anschickt, das schlechte Oligoptikon ausführlich in den Blick zu nehmen, also die Gewerbeinspektorate selber einer Betriebsinspektion zu unterziehen, indem sie »typisch[e]« »Formen einer ungesetzlichen Begutachtungspraxis« (AS 668). auflistet. Während freilich Kafka mit der Präzision einer latourschen ANT für eine technische Verbesserung der Oligoptika kämpft, dringen etwa von den Handwerkerinnungen des Erzgebirges ganz andere Forderungen nach Wien. Auch die Fachgenossenschaft der Holz- und Spielwarenerzeuger in Katharinaberg war mit der Arbeit der Gewerbeinspektoren unzufrieden; doch forderte man hier nicht eine Verbesserung des Oligoptikons, sondern erträumte sich eine Gefahrenklassifikation auf der Basis eines Panoramas, dessen Annäherung freilich weder ein Experte noch ein professioneller Schau-Steller, sondern allein ein Akteur, ein in der Branche beheimateter Fachmann, erreichen kann: Es kann ruhig behauptet werden, daß die Holz u. Spielwarenindustrie ein so weites Gebiet ist, daß es nur selten von einem Fachmanne, der mitten drinn im Fache steht und lebt, ganz übersehen werden kann. Keinesfalls kann es aber von Personen beurteilt werden, die das Gymnasium oder die Realschule auch mit gutem Erfolg absolviert haben, schließlich auch Ingenieur geworden sind, nicht aber selbst im Fache stehen. Ein Fach beurteilen, richtig beurteilen, kann nur der, der das Fach gelernt hat und es treibt, nicht aber der, der es treiben sieht (AS 691).
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Auch hier heißt die Losung »follow the actors«24, doch das Ziel ist keineswegs ein sorgfältiges ANT-Protokoll, sondern die Beschwörung des Panoramas als – und sei es lückenhaftes – Bollwerk der Branche gegen die vermeintlich Willkür des Oligoptikons und seiner Experten. Der Unfallversicherungsjurist Kafka, soviel dürfte unser kurzer Überblick verdeutlicht haben, war in eben jener epochalen Turbulenzzone aufgestellt, in der der von Latour rekonstruierte Kampf um die Verfassung der Moderne stattfand: die Zone der Vermischung zwischen Menschen, Materialien und Technologien. Hier eröffnen das Wissen und die Praktiken der industriellen Unfallversicherung einen neuartigen Wahrnehmungs- und Handlungsraum, der sich bereits jenseits der modernen Unterscheidung zwischen Vermischung und Reinigung der Bereiche befindet. Menschen, Materialien und Technologien erscheinen hier gleichermaßen als Risiken, als Faktoren branchenspezifischer Unfallwahrscheinlichkeiten. Kafka wiederum ist als leitender Bearbeiter der Unternehmer-Beschwerden gegen die Gefahrenklassifikation mit der Aufgabe betraut, diesem neuen, probabilistischen Regime des Sehens gegenüber den schlechten Oligoptika der Inspektorate und den panoptischen und panoramatischen Phantasien der Unternehmer und Arbeiter Geltung zu verschaffen. Wie kein anderer Schriftsteller seiner Zeit ist Kafka also mit dem Phänomen der Hybriden, der Akteur-Netzwerke und ihrer Macht über Lokalisierung, Perspektive und Maßstab konfrontiert. Von hier aus erscheint es nun kaum mehr verblüffend, wenn wir ihn als den anderen Großvater der Akteur-Netzwerk-Theorie ins Spiel bringen können. Und wenn Latour über den einen Großvater, Gabriel Tarde, entschuldigend bemerkt, »daß ein Denker von Netzwerken vor der Zeit [ihrer heutigen, vollständigen technischen Implementierung; BW] seine Intuitionen nicht in Daten umwandeln konnte«25, so wäre für Kafka hinzuzufügen: sehr wohl aber in Romanliteratur. Den Auftrag für ein solches Unternehmen erhielt Kafka nach dem Ende des Weltkriegs, als das sozial- und ethnopolitische Homogenisierungspotential des mitteleuropäischen Sozialstaats radikal in Frage gestellt wurde.
24 Latour, Reassembling the Social, s. Anm. 2, 68 und öfter. 25 Latour, »Gabriel Tarde und das Ende des Sozialen«, s. Anm. 3, 40.
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II.
Kafkas letzte Verlockung: Hans Blühers These von der »Allogenität der Menschheit«
»Es muss doch sehr locken und es lockt, einmal auf dieser deutschen und doch nicht ganz fremden Weide seine Tiere weiden zu lassen, nach Judenart«, schreibt Kafka Ende Juni 1922 an seinen Arzt und Freund Robert Klopstock, um diesen zu einer Rezension der Secessio Judaica,26 eines antisemitischen Pamphlets des deutsch-völkischen Philosophen Hans Blüher zu bewegen (Br 380). Kafka hatte den ersten Band von Blühers Hauptwerk, Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft, in der der Vordenker der Wandervogel-Bewegung die Entstehung von Staaten aus seiner Theorie der inversen Sexualität und des Männerbundes ableitet, bereits kurz nach seinem Erscheinen im Herbst 1917 gelesen und in der Korrespondenz mit Max Brod kommentiert.27 Von da ab bleibt Kafkas Schreiben im Banne Blühers. Wenn dessen Secessio-Schrift ihn im Sommer 1922 zu einer Reaktion verlockt, so besteht die Herausforderung freilich nicht unmittelbar in Blühers programmatischem Antisemitismus sine ira et studio. Die »Weide«, um die es hier geht (Br 380), ist das Gebiet der alten Pastoralmacht in ihrer neuen Gestalt und Potenz, das in der Tat sehr »deutsche[]« Terrain der Biopolitik. Deren maßgebliche machtgenealogische Bedeutung besteht bekanntlich in der Transformation der Rasse von einem polemischen in einen integrativen Begriff: An die Stelle der horizontalen und diskontinuierlichen Achse des Konflikts zwischen zwei ethnisch, sprachlich und gegebenenfalls geographisch definierten Rassen (im Plural) tritt die vertikale und kontinuierliche Achse des biopolitisch vermessenen und zu optimierenden Lebens der Bevölkerung, das heißt der Rasse im Singular. Soweit in größter Knappheit Foucaults Genealogie der Biomacht.28 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts freilich lässt sich die Entstehung eines kulturrevolutionären Diskurses beobachten, der in das kontinuierliche Feld des Lebens neuerdings einen Bruch, einen unüberbrückbaren Ab26 Hans Blüher: Secessio Judaica. Philosophische Grundlegung der histori-
schen Situation des Judentums und der antisemitischen Bewegung, Berlin: Der Weiße Ritter 1922. 27 Vgl. Briefe 1914-1917 364. 28 Vgl. Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft, s. Anm. 14, 79-81.
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stand einfügen will – ein epistemologischer Archaismus, der aus biopolitisch ermächtigten Bevölkerungen wieder Völker werden lässt. Seinen Ausgangspunkt hat dieser Diskurs – und genau deshalb ist Blühers »deutsche[] Weide« für Kafka und Klopstock »nicht ganz fremd« (Br 380) – im Zionismus. Bereits Theodor Herzls Judenstaat, stärker noch sein nachfolgender Roman Altneuland,29 setzen zur Lösung der »Judenfrage« auf Verkehrs- und Nachrichtentechnik und auf Biopolitik. Vordenker und Planer wie Max Nordau und Arthur Ruppin beschäftigen sich damit, wie Herzls mehr erdichteter als erdachter Szionismus in die Praxis umzusetzen wäre. Dennoch mangelt es diesem politisch-technologischen Projekt auf Dauer an Bindungskraft, insbesondere in der jüngeren Generation. Bereits um die Jahrhundertwende war um den Odessaer Zionisten Achad Ha’am (Ascher Ginsberg) eine Bewegung entstanden, die als Voraussetzung der politischen Gründung eines Judenstaates eine kulturelle Fundierung des Judentums forderte. Eine prägnante und massenwirksame Zuspitzung erfuhr die Position dieses Kulturzionismus in den drei Reden über das Judentum, die der junge Lemberger Philosoph Martin Buber zwischen 1909 und 1911 in Prag hielt. Auf dem Fünften Zionistischen Kongress in Basel (1901), auf dem sich der junge Buber als Vertreter der kulturzionistischen Richtung mit Herzl und Nordau überworfen hatte, hatte letzterer noch die physiologische Angleichung der »mageren und ausgemergelten Ostjuden« an die gesunden und physisch entwickelten Westjuden gefordert.30 Dieser sanitären Dimension der Biopolitik fügt Buber nun eine salutäre hinzu, indem er eine Heilsfrage als Ernährungsfrage formuliert: »diese[n] Menschen da draußen, diese[n] elenden, gebückten, schleichenden Menschen, die von Dorf zu Dorf herumhausieren und nicht wissen, woher und wozu sie morgen leben werden«31, fordert er auf, das »Blut[]«
29 Theodor Herzl: Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Ju-
denfrage, Leipzig, Wien: Breitenstein 1896; ders., Altneuland, Leipzig: Seemann 1902. 30 Vgl. Guiliano Baioni: Kafka. Literatur und Judentum, Stuttgart, Weimar: Metzler 1994, 34. 31 Martin Buber: »Das Judentum und die Juden«, in: ders.: Drei Reden über das Judentum, Frankfurt: Rütten&Loening 1920 [1911], 11-31, hier 28.
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als die »wurzelhaft nährende Macht im Einzelnen«32 wiederzuentdecken und »nunmehr wahrhaft von innen heraus Jude zu sein«33. Es ist diese neue Diät, die zu einem folgenreichen Bruch, einer Verdopplung im Kontinuum der vertikalen Rassen-Achse führt. Über der heimatlosen Dorf-Existenz des alltäglichen, »von Zwecken, von Hast, von Sucht, von Pein« wimmelnden und von Zufällen bestimmten »relativen Leben[s]« eröffnet sich nun – wie es das Wiedergeburts-Narrativ will: wieder – der Zugang zum »absoluten Leben« des Volkes, einem überhistorischen Komplex von »geistigen Werken und Werten«, in dem »die großen, leuchtenden Linien des Sinnes und der Notwendigkeit« sich abzeichnen.34 Wenige Jahre später wird dieser Wiedereintritt des Dualismus in das monistische Feld der Biopolitik zu einer der wirkungsmächtigsten Redefiguren der deutschen Mobilisierungspropaganda werden. Im Kriegspamphlet des Berliner Nationalökonomen Werner Sombart, Händler und Helden, erscheint die Fähigkeit zur Einführung eines Unterschieds in das Kontinuum des Lebens als entscheidendes Unterscheidungsmerkmal zwischen Völkern, das heißt als Grundlage eines neuen, nunmehr in expliziter Distinktion zu seinem biopolitischen Anderen definierten Rassenkampfes. Während nämlich der englische Typus des »Händlers« den Staat nur als »Versicherungsanstalt auf Gegenseitigkeit« zu begreifen vermag, ist der deutsche Typus des »Helden« durch den Willen gekennzeichnet, sein Leben ohne Risikoabwä32 Buber, »Das Judentum und die Juden«, s. Anm. 31, 19. 33 Ebd., 27. 34 Martin Buber: »Die Erneuerung des Judentums«, in: ders.: Drei Reden über
das Judentum, s. Anm. 31, 59-102, hier 72f. Es kann an dieser Stelle nicht entfaltet werden, bedarf aber zumindest der Erwähnung, dass alle im folgenden verhandelten Projekte der Aufspaltung des vertikalen Rassen-Kontinuums auf Nietzsches gegen die biopolitische Bewirtschaftung des Lebens gerichtete Lehre vom Übermenschen zurückgehen. Dabei wird Nietzsche programmatische Bejahung des ›gefährlichen Lebens‹ (vgl. Benno Wagner: »Die Versicherung des Übermenschen. Kafkas Akten«, in: Friedrich Balke, Joseph Vogl und ders. (Hg.): Für Alle und Keinen. Lektüre, Schrift und Leben bei Nietzsche und Kafka, Zürich, Berlin: diaphanes 2008, 257-292, hier 262-265) freilich jeweils durch eine rückversichernde Große Erzählung zurückgenommen.
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gung aufs Spiel zu setzen: »sich [zu] verschwenden, sich [zu] opfern – ohne Gegengabe«.35 Obwohl trotz reicher Verschwendung von Heldenleben die Händler schließlich den Sieg davontrugen, wurde der eigentümliche Diskurs einer dualistischen Biopolitik in Deutschland fortgeschrieben. Dabei sah er sich freilich zunächst auf eine ostjüdische Ausgangsposition zurückgeworfen: »Wir Deutschen«, beginnt eine Rede, die Hans Blüher 1919 an die Freideutsche Jugend richtet, sind heute das verachtetste Volk der Welt, beschimpft, gehaßt, geschmäht wegen unserer Niederlagen […]. Wir wissen keinen Augenblick, ob wir nicht zu Millionen werden verhungern und verseuchen müssen. […] in solcher Zeit fragen wir uns, ob es etwas gibt, das man uns nicht nehmen kann.36
Dieses unveräußerliche und nährende Etwas ist wiederum nicht der Staat, der nun auch im Heldenvolk, »heute […] als gar nichts weiter behandelt wird denn als Versicherungsgesellschaft«37. Dieser äußersten Verfallsform der Schutz- und Ernährungsfunktionen stellt Blüher die »Idee des Deutschen Reiches« gegenüber. Das Reich verhält sich zum zusammengebrochenen Kaiserreich wie Bubers absolutes Leben zum relativen. Seine Selektionsleistung besteht darin, »den sakralen Typus der eigenen Rasse zu züchten«. 38 Bei Blüher erfährt die bisher beschriebene Figur eines dualistischen Monismus also eine entscheidende Zuspitzung: Die Aufspaltung der Rassen-Achse resultiert hier nicht mehr aus einer individuellen (Buber) oder kollektiven Haltung (Sombart), sondern sie wird zu einer biologischen Tatsache. Zwei Jahre später will Blüher in einer religionsphilosophischen Abhandlung unter dem Titel Die Aristie des Jesus von Nazareth39 den Nachweis führen, dass das 35 Werner Sombart: Händler und Helden. Patriotische Besinnungen, Mün-
chen, Leipzig: Duncker & Humblot 1915, 64. 36 Hans Blüher: Deutsches Reich, Judentum und Sozialismus. Eine Rede an
die freideutsche Jugend, München: Steinicke 1919, 9. 37 Ebd., 7. 38 Ebd., 11. 39 Hans Blüher: Die Aristie des Jesus von Nazareth. Philosophische Grundlegung der Lehre und der Erscheinung Christi, Prien: Kampmann & Schnabel 1921.
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Christentum selbst ursprünglich auf die Taten eines höheren Menschen, des Reichsverkünders Jesus, zurückzuführen sei, dass sich also Nietzsches Genealogie der abendländischen »Sklaven-Moral« lediglich auf die Korruption der Taten Jesu durch die Kirchengeschichte beziehen ließe. Im zweiten Kapitel der Aristie hatte Blüher seine Rassentheorie in einer Weise ausformuliert, die, zu guter Letzt, zu Kafkas Schloss führen wird. »[W]er nahe am Menschen ist«, heißt es im ersten seiner dreizehn Abschnitte über »die primäre und die sekundäre Rasse«, und befangen von dieser Beziehung zum Nächsten, deutet die Menschheit als eine homogene, d.h. gleichgeborene und nur verschieden gewachsene Tierart: während der Abstand ihre Allogenität, d.h. die verschiedene Geburt und demnach das gänzlich verschiedene Schicksal zweier Rassen in ihr lehrt. Die Menschheit hat also an einer Stelle eine Einkerbung, wie der Leib einer Biene oder wie einer jener abgeschnürten Flaschenkürbisse, so daß der obere, erheblich kleinere Teil fast den Anschein erweckt, als könnte er eines Tages vom Gesamtleibe abgesprengt werden.40 40 Ebd., 47. Blühers physiologisches Bild der »Einkerbung« zielt nicht zuletzt
auf die Umkehrung der soziologischen Katastrophe des Adels, deren Schlusspunkt der Erste Weltkrieg darstellte. So schreibt er im sechsten Abschnitt seiner Allogenitätslehre: »Der freiheitlichste der Könige, Friedrich der Große, lehnte es noch mit Entrüstung ab, daß ins preußische Offizierskorps ein Bürgerlicher hineinkommen könnte, er wußte also, daß die Herrschaft im Staate nur einer bestimmten, hierzu auserwählten Rasse anvertraut war, eben dem preußischen Landadel, und daß man an dieser, von der Natur gesetzten Grenze rüttelte, wenn man Übergriffe einer anderen Gesellschaftsschicht erlaubte. Diese Tradition hat sich noch bis in die jüngste Zeit hinein gehalten; die Grenze zwischen Offizier und Mannschaft wurde stets scharf betont. […]. Dieses Bild mußte untergehen von dem Augenblicke an, als die sekundäre Rasse, gestützt auf die Tüchtigkeit, den unerwünschten Beweis anzutreten versuchte, daß man es auch lernen könne, Offizier zu sein« (Blüher, Die Aristie des Jesus von Nazareth, s. Anm. 39, 61). Von diesem Augenblick an, wäre hier präziser zu formulieren, nämlich im Ersten Weltkrieg, »mündete die Kombination von ›adligem‹ Habitus und eher ›bürgerlichem‹ Leistungsprinzip in eine Dichotomie: Im Grunde standen sich zwei Offiziersideale gegenüber […]« (Monika Wienfort: Der Adel in der Moderne, Göttingen: UTB 2006, 92).
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Während nun im Falle der geschlechtlichen Zugehörigkeit der Individuen »die Indifferenzzone […] ganz außerordentlich schmal« ist, Hermaphroditen also selten, so liegen die Dinge hinsichtlich der »beiden Rassen im Menschengeschlecht« genau umgekehrt: Die Grundkräfte, aus denen sie entstanden, sind hier nicht zwei polar wirkende, die ganze lebendige Substanz ergreifende Mächte, sondern zwei im Grunde getrennt liegende Tierarten: der homo superior und der homo inferior, zwischen denen eigentlich die Zeugungsschranke gilt […]. Durch ein Unglück im Weltablauf ist es nun der Natur nicht gelungen, diese beiden Formen rein getrennt zu halten […]; sondern es entstand vielmehr die obere Rasse mit ihrem ausgesprochen edlen Bewegungsmotiv gleich dem Schwan und dem Pferde, und die niedere mit den plumpen Bewegungen, gleich der Gans und dem Esel. […]. Die Vermischung der beiden Rassen geschah nun so, dass nicht die reinen Typen sich überwiegend häufig herausbildeten, sondern gerade umgekehrt: die Mischtypen […]. Es besteht hier also eine riesengroße Indifferenzzone, welche umgrenzt wird von einer ganz dünnen Schicht rein geratener Individuen.41
Dieses kosmologische Unfallprotokoll bewirkt eine fatale Dramatisierung des Narrativs von der vertikalen Spaltung der Rassen-Achse. Durch die Diagnose einer »riesengroßen Indifferenzzone« zwischen dem »höheren« und dem »niederen« Menschen verschafft sich Blüher zunächst einmal einen Plausibilitätsspielraum angesichts der empirischen Evidenz des monistischen Rassenbegriffs. Zugleich formuliert er als Schicksalsfrage nicht mehr eines einzelnen Volkes, sondern der ganzen Menschheit die Entmischung der Indifferenzzone durch einen, freilich prekären, Akt der richtigen bzw. korrektiven Wahrnehmung: »Die Interpretation der sekundären Rasse ist das eigentlich schlimme Schicksal der Menschheit.«42 Bei Blüher finden wir den modernen Reinigungsauftrag (Entmischung von Mensch und Technik) auf die Seite des Menschen reduziert und in die Vertikale gekippt (Entmischung der primären und der sekundären Rasse). »Die Antimodernen«, so ließe sich Blühers Projekt mit Latour kommentieren, »ändern nur die Vorzeichen 41 Blüher, Die Aristie des Jesus von Nazareth, s. Anm. 39, 50. 42 Ebd., 51.
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und Richtung der Empörung.«43 Hingegen ist »nichtmodern […], wer sowohl die Verfassung der Modernen berücksichtigt als auch die Populationen von Hybriden, die sich unter dieser Verfassung ausbreiten.«44 Mit dieser Verfahrensanweisung ist die Antwort, die Kafkas SchlossRoman Blühers Aristie-Narrativ erteilt, präzise vorweggenommen.
III.
Die Antwort des Landvermessers: Allogenität und Assemblage Es ist ein Irrtum zu meinen, Kultur sei eine zusammengesetzte Größe, die sich aus diesen oder jenen Elementen entwickelt habe […]. Kultur ist ein typischer Akt, völlig unvergleichlich mit jedem anderen, Kultur ist eine Antwort auf eine bestimmte Frage, ist eine Reaktion auf einen eindeutigen Eindruck des Menschen. Es ist nötig, sich so weit wie möglich von seiner eigenen Tiergattung zu entfernen, um diesen Akt zu sehen.45
Dieser Akt der Selbstvergewisserung gegen die mächtigen Befunde der Evolutionstheorie im Prolog der Aristie des Jesus von Nazareth, dieses blühersche Pfeifen im Walde bezeichnet den epistemologisch-poetologischen Ursprungspunkt des Schloss-Romans. Bereits im Januar 1920 hatte Kafka eine detaillierte Antwort auf Blühers epistemologische Setzung notiert: »[…] könnte man sich denn vorbereiten, ehe man die Aufgabe kennt d. h. kann man überhaupt eine natürliche, eine nicht nur künstlich zusammengestellte Aufgabe bestehn?«, und im folgenden Eintrag: »Er hat den Archimedischen Punkt gefunden, hat ihn aber gegen sich ausgenützt, offenbar hat er ihn nur unter dieser Bedingung finden dürfen« (Tb 848). Im ersten Versuch des unvorbereiteten K., ins Schloss zu gelangen, wird diese Widerrede gegen Blüher topographisch in Szene gesetzt: Nun sah er oben das Schloss deutlich umrissen in der klaren Luft […]. Im Ganzen entsprach das Schloss, wie es sich hier von der Ferne zeigte, K.’s 43 Latour, Wir sind nie modern gewesen, s. Anm. 9, 66. 44 Ebd., 65. 45 Blüher, Die Aristie des Jesus von Nazareth, s. Anm. 39, 8. Herv. d. Verf.
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Erwartungen. […] Aber im Näherkommen enttäuschte ihn das Schloss, es war doch nur ein recht elendes Städtchen, aus Dorfhäusern zusammengetragen, ausgezeichnet nur dadurch, dass vielleicht alles aus Stein gebaut war, aber der Anstrich war längst abgefallen, und der Stein schien abzubröckeln (S 16f.).
Solange K. weit genug von seinem Ziel entfernt bleibt, erscheint es ihm als Schloss, das heißt als locus und topos eines höheren, vom Dorf klar unterschiedenen Lebens. Doch gerade der Versuch, in eigener Sache – Klärung seines Beschäftigungsverhältnisses als Landvermesser – auf den so gewonnenen Gegenstand zuzugreifen, führt zu dessen Zerfall: Beim Näherkommen erweist sich das Schloss als »zusammengesetzte Größe« im Sinne Blühers, als »recht elendes Städtchen, aus Dorfhäusern zusammengetragen«. Die Unterscheidung zwischen Schloss und Dorf verschwimmt wieder, und mit ihr die Aufgabe des Landvermessers, die Frage, auf die er zu reagieren hätte. Der hier zusammengestellte Dialog zwischen Blüher und Kafka zu Grundfragen der conditio humana – Allogenität oder Homogenität? – und der Verfassung der Kultur – Schöpfungsakt oder Assemblage? – durchzieht sämtliche Kapitel des Schloss-Romans. In der Tat ließe sich zeigen, dass Kafka seinen letzten großen Roman als Versuchsanordnung konzipiert, deren Testläufe vorführen, was geschieht, wenn man – unter mitteleuropäischen Bedingungen um 1900 – das soziale Spiel nach den Definitionen und Regeln spielt, die die Diskurse der Modernen (etwa: Max Weber) und der Antimodernen (hier: Hans Blüher) zur Verfügung stellen. An dieser Stelle seien vier verschiedene Dimensionen dieser Versuchsanordnung knapp skizziert. III.1 Poetik: Jenseits von Epos und Roman
»Das Epos und auch die hohe Tragödie sind das Sinnbild der primären Rasse in ihrer gesteigerten Form«, schreibt Blüher im poetologischen zehnten Abschnitt seiner Allogenitätslehre. Ihr Personal sind »reife, vollendete Gestalten […], die keine Psychologie und keine Entwicklung haben«, ihr Gegenstand sind »die Grundereignisse im Leben hochgeborener Menschen.« Hier kommt die »sekundäre Rasse« lediglich als Kol-
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lektivperson vor, als »das Volk«, sofern sie nicht »als komische Figur«, in Gestalt von »Boten und Wächtern« in die Handlung eingreift.46 Hingegen ist »der Roman das Kunstwerk des Emporkömmlings. Es wird in ihm versucht darzustellen, daß auch der gewöhnliche Mensch ein Held sein kann […]«47. Das Epos, so ließe sich Blüher in seinen eigenen Begriffen resümieren, ist der Ausdruck eines typischen Aktes, wohingegen der Roman nur eine zusammengesetzte Größe ist. Kafkas Schloss-Roman ist offensichtlich auf beiden Seiten dieser Unterscheidung zu verorten. Er aktualisiert das Epos, indem er seine Protagonisten in die primäre Gruppe der Schloss-Beamten und die sekundäre der Dorfbewohner zerfallen lässt. Erstere haben, wie Blühers »hochgeborene Menschen«, »keine Psychologie und keine Entwicklung«, letztere bieten das präzise Gegenbild zu jener »äußere[n] Erscheinung«, die nach Blüher das einzige sichtbare Anzeichen der »Geschöpfe der primären Rasse« liefert.48 Während diese »durch ihre ganze Haltung, durch ihr Auge, durch ihre dünne und hohe Stirn sich deutlich abheben von den anderen«, das heißt vor allem von der Masse des »Plattfußvolkes«49, bilden Kafkas Bauern, »die mit ihren förmlich gequälten Gesichtern – der Schädel sah aus als sei er oben platt geschlagen worden […] – ihren wulstigen Lippen, ihren offenen Mündern zusahen« (S 39), lediglich die Kulisse für K.’s Gespräch mit dem Boten Barnabas. Barnabas freilich verunsichert diese physiognomische Anzeichen-Ordnung auf fatale Weise. Der Schlossbote, der nach Blüher eigentlich zu den komischen Figuren aus dem Volk gehört, gehört in Kafkas Darstellung offenbar zu jenen, die die Natur als primär markierte, indem sie »in das Gesicht der 46 Blüher, Die Aristie des Jesus von Nazareth, s. Anm. 39, 79. 47 Ebd., 80. 48 Die Differenz zwischen deutungsbedürftigem Zeichen und eindeutigem An-
zeichen ist hier entscheidend. Blüher führt die »äußere Erscheinung« als Rückversicherung seiner riskanten Indifferenz-Diagnose ein, als unfehlbaren Gegenhalt zur Hamartia der Rassenvermischung: »Da es nun so außerordentlich schwer ist, die primären und sekundären Betätigungsformen von innen her zu unterscheiden, hat die Menschheit sich von jeher an einen Hilfsanker gehalten, den die Natur selbst ihr hingeworfen hat: die äußere Erscheinung« (Ebd., 84f.). 49 Ebd., 79.
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Menschen jenen unwiderstehlichen Glanz der Erscheinung legte, der imstande ist, die Vorübergehenden zu bannen und zur Verehrung zu zwingen«50: »Er war fast weiss gekleidet, das Kleid [hatte …] die Zartheit und Feierlichkeit eines Seidenkleides […]. Sein Gesicht war hell und offen, die Augen übergross« (S 38). K.’s Faszination und Verehrung für Barnabas beginnt erst zu schwinden, als dessen Schwester Olga K. erzählt, dass ihr Bruder, wie im Matthäus-Evangelium (Mt 22, 1-14) und bei Blüher die falschen Verkünder des Christentums, in sein Amt »bloß gerufen […], aber nicht auserwählt«51 worden war.52 Doch ist Barnabas nur ein besonders augenfälliges (!) Beispiel für die laufenden Hybridisierungseffekte der Schloss-Dorf-Topik. So wird die gesamte Handlung zwar durch zwei typisch romanhafte Motive getragen: den Aufstiegswillen K.’s und die Abstiegsangst der Familie des Barnabas, wobei gerade diese psychologischen Dispositionen im Kern aus der epischen Verfassung des Schlosses resultieren. Der eigentlich nur sehr bedingt ehrgeizige K. – »mein Ehrgeiz geht nicht dahin, grosse mich betreffende Aktensäulen entstehen und zusammenkrachen zu lassen, sondern als kleiner Landvermesser bei einem kleinen Zeichentisch ruhig zu arbeiten« (S 107) – wird allein durch die Undurchdringlichkeit der Schloss-Verwaltung zu immer neuen Anläufen veranlasst. Die Schusterfamilie aber fällt der ihr unverständlichen Allogenität der Moral zum Opfer: »Die eine Moral, die für die vornehmen Menschen, die primäre Rasse, ist eine Moral der Substanz, also des Seins, und die andere, die Moral der kleinen Leute, eine echt pragmatische Moral, eine Moral des Handelns und des Gesetzes«53. Zu den Seinsgegebenheiten der primären Substanz-Moral gehört auch jener »wilde[] und unaussprechliche[] Reiz […], den die Liebe der höheren Rasse zur niederen 50 Blüher, Die Aristie des Jesus von Nazareth, s. Anm. 39, 84. 51 Ebd., 59. 52 Kafkas Schilderung des Verbindungspersonals zum Schloss zielt immer
wieder auf die Überführung unfehlbarer Anzeichen in deutbare Zeichen. Wenn er etwa, gleich zu Beginn des Romans, den Sohn des Schlosskastellans mit einem »schauspielerhafte[n] Gesicht« (S 7) ausstattet, so ist damit zusätzlich zum Rezeptionsaspekt auch noch der Produktionsaspekt physiognomischer Zeichen betont. 53 Blüher, Die Aristie des Jesus von Nazareth, s. Anm. 39, 56.
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hat: ›… Herzoginnen im Spitzenbette weinen lassen und den dunklen [recte: dumpfen] Weg zur Magd …‹«54. So nähert sich der Schloss-Beamte Sortini, den der Schuster »als Fachmann in Feuerwehrangelegenheiten verehrt« (S 300), auf einem Fest der Dorffeuerwehr seiner besonders prächtig gekleideten Tochter Amalia – »die weisse Bluse vorn hoch aufgebauscht, eine Spitzenreihe über den anderen, die Mutter hatte alle ihre Spitzen dazu geborgt« (S 296) – für einen Moment in auffälliger Weise. Als am Morgen darauf Amalia eine Botschaft erhält, in der Sortini sie »in den gemeinsten Ausdrücken« (S 302) auffordert, sofort zu ihm in den Herrenhof zu kommen, da zerreißt sie den Brief und wirft ihn dem Boten ins Gesicht. »[S]o schadet es dem Ansehen eines der Kaste Zugehörigen z. B. nichts«, setzt Blüher seine Ausführungen zur Substanzmoral fort, wenn er sich in Liebesabenteuer noch so strafwürdiger Art einläßt […]. Was aber nicht verziehen werden kann ist: wenn es einen Skandal gibt. Vom dem Augenblicke an, wo ein Mitglied der Kaste durch das Übertreten des Gesetzes Gelegenheit zu öffentlichem Ärgernis gibt, wird es rücksichtslos fallen gelassen.55
In Kafkas Schloss, und darin liegt der für die Schloss-Welt grundlegende Vermischungs-Akt, besteht die von den Dorfbewohnern auf vielfältige Weise verehrte »Kaste« aus der relativ jungen sozialen Schicht der Berufsbeamten, die zu Lebzeiten Kafkas zugleich das Apogäum und die Wiederverkörperung des Heldentums bezeichnete.56 Dementsprechend wird Sortini nach der »Beleidigung des Boten« (S 306, 322, 346) – denn genau darin besteht der Skandal – zwar nicht »fallen gelassen« (Verstoßung, vertikal), sondern er zieht sich, unter Mitnahme des belei54 Blüher, Die Aristie des Jesus von Nazareth, s. Anm. 39, 87. 55 Ebd., 57. 56 Kafka selbst schreibt in diesem Zusammenhang am 24. November 1919 in
einem Brief an Käthe Nettel, eine Schwester Julie Wohryzeks, von einer »Auswurfklasse des europäischen Berufsmenschen« (Briefe 1918-1920 90), während sein Prager Promotor Alfred Weber den Beamten in eine neo-heroische Position rücken lässt (Alfred Weber: »Der Beamte«, in: Die Neue Rundschau, Jg. 21, Berlin 1910, 1321-1339.
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digten Boten, »in entferntere Kanzleien zurück[]« (S 346) (Versetzung, horizontal). Die entscheidende Verschiebung, die Kafkas Roman gegenüber Blühers Aristie vornimmt, liegt aber in der Erzählperspektive. »[…] der mit überwiegend primären Anzeichen ausgestattete Mensch«, beschreibt Blüher die bipolare Tragödie der Rassenvermischung, »hat heftig mit dem Eindringen der sekundären zu kämpfen, während der sekundäre gleichfalls nicht das volle Glück der Bedeutungslosigkeit genießen darf, sondern fortwährend von primären Ereignissen bedroht wird, die freilich bei ihm eine verhängnisvolle und zumeist verheerende Wirkung haben«57. Demgegenüber bleibt Kafkas Schloss-Erzählung radikal auf den zweiten Pol beschränkt. Sie ist, wie auch sämtliche Binnenerzählungen, immer nur sekundär. »›Zwischen den Bauern und dem Schloss ist kein Unterschied‹«, erfährt K. gleich zu Beginn, als er nach seinem ersten vergeblichen Versuch, ins Schloss zu gelangen, dem Dorflehrer begegnet (S 20). Dennoch, oder mit Blüher argumentiert: Gerade aufgrund dieser falschen Prämisse bleiben Geschicke des verehrten Helden Sortini und der anderen Schloss-Beamten der Erzählinstanz wie den handelnden Figuren vollkommen unzugänglich. Das gilt in gesteigerten Maße für K. »Nichts ist falscher als der moderne Standpunkt des gleichen Rechts für alle«58, folgert Blüher aus seiner Lehre von den zwei Moralen. »[…] man konnte doch wegen der verbrecherischen Handlungsweise Sortinis nicht Amalia anklagen oder gar bestrafen?« (S 306), wendet sich der hier einmal fassungslose K. an Olga, um dann, durch die ausführliche Schilderung des Verhängnisses der Schusterfamilie – ihrer schrittweisen Ausgrenzung aus der Dorfgemeinschaft ganz ohne förmlichen Prozess – eines Besseren belehrt zu werden. »Die primäre Rasse versteht die sekundäre, aber die sekundäre nicht die primäre«59. Indem Kafkas Roman lediglich durchführt, was Blühers Aristie postuliert, lässt er die primäre Welt des Schlosses als genuin »zusammengesetzte« erscheinen: als Mosaik der Vorstellungen, Sehnsüchte und Schreckbilder der sekundären Dorfwelt.
57 Blüher, Die Aristie des Jesus von Nazareth, s. Anm. 39, 51. 58 Ebd., 56. 59 Ebd., 77.
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III.2 Soziologie als Mediologie: Auf der Suche nach agency
Kafkas durchgehendes Spiel mit der von Blüher beschworenen und beklagten vertikalen Vermischung gehört freilich zu den harmloseren Vergnügen, die dem Leser des Romans ins Haus stehen. Während Blühers verunglückte Menschheit eine vollkommen technikfreie Welt bevölkert, tauchen in Kafkas Schloss technische Medien, Instrumente und Vehikel zwar in seltsamer Verknappung auf. Doch kommen horizontale Hybridisierungen zwischen Mensch und Technik immer genau dort ins Spiel, wo es um die Entmischung der vertikalen Vermischungen, der Aufklärung der Verhältnisse zwischen Schloss und Dorf geht. Das betrifft vor allem die Frage des Status von K. – gräflicher Landvermesser oder doch nur Landstreicher –, in deren Archiv unter anderem die klassische vertikale Frage nach dem richtigen und dem falschen Philosophen, der wahren und der trügerischen Ideenschau lagert.60 »If the social world was made of social interactions, it will retain a sort of provisional, unstable, and chaotic aspect«, begründet Latour seine Forderung nach der Erweiterung sozialer Akteure um Objekte einschließende »other types of links«61, die die laufend entstehenden und zerfallenden Interaktionen zwischen Menschen zu stabilisieren vermögen. Kein Wunder also, dass K., dem die Gespräche und Interaktionen mit den Dorfbewohnern kaum Halt geben, vom Stabilisierungsversprechen solcher technischen Objekte magisch angezogen wird. So sieht sich der Landvermesser, der selber ohne jede technische Ausrüstung auf den Plan tritt (vgl. Motto Nr. 3), rasch in ein dichtes Netzwerk von Medien und Vehikeln verstrickt. Kafkas Roman folgt auch hier präzise den methodologischen Vorgaben einer Soziologie der Assoziationen: »What is now highlighted much more vividly than before are all the connections, the cables, the means of transportation, the vehicles linking places together«62. Allerdings versagt dieses Netzwerk, das dem Dorfleben in der Tat eine gewisse Stabilität zu verleihen scheint, regel60 Benno Wagner: »Der Bewerber und der Prätendent. Zur Selektivität der
Idee bei Platon und Kafka«, in: Hofmannsthal-Jahrbuch, Bd. 8 (2000), 273309, hier: 275-279. 61 Latour, Reassembling the Social, s. Anm. 2, 66. 62 Ebd., 176.
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mäßig, wenn es um die notorische Landvermesser-Frage geht. Das mag eine kleine Mediologie der Schloss-Dorf-Welt verdeutlichen. Briefe. Moderne Verwaltung basiert auf Schriftlichkeit. Und tatsächlich scheint bereits das erste Schriftstück, das der glänzende und scheinbare Schlossbote Barnabas K. übermittelt, ihm die erhoffte Statusgewissheit zu gewährleisten. Der Vorsteher der X. Kanzlei, Klamm, bestätigt ihm, dass er »in die herrschaftlichen Dienste aufgenommen« (S 40) sei. Er kündigt zudem weitere Instruktionen durch K.’s Vorgesetzten, den Gemeindevorsteher des Dorfes, an. Dieser freilich weist K., anhand diverser formaler Indizien, auf die amtliche Unverbindlichkeit der Nachricht hin: »Dieser Brief ist überhaupt keine amtliche Zuschrift, sondern ein Privatbrief. […] die Beweislast dafür, dass Sie aufgenommen sind, ist Ihnen auferlegt« (S 114). Die Auslegung des Briefes entzieht damit aber nicht nur dem Adressaten, sondern auch dem Ausleger selbst seinen im Brief definierten Status (als Vorgesetzter K.’s) und stellt sich damit zuletzt selbst in Frage. In der Schloss-Dorf-Welt werden die menschlichen Akteure durch das Hinzutreten von Medien nicht bloß weiter und komplexer – sie werden vor allem unscharf. Wie im Amtssprengel des Versicherungsbeamten Kafka verschwimmt die agency zwischen den nicht hierarchisch, sondern zirkulär angeordneten Deutungsinstanzen. Schon den zweiten, scheinbar bestätigenden Bescheid von Klamm – »Die landvermesserischen Arbeiten, die Sie bisher ausgeführt haben, finden meine Anerkennung« (S 187) – erkennt K. daher ohne amtliche Hilfe als »Missverständnis«: »Der Herr ist falsch unterrichtet. Ich mache doch keine Vermesserarbeit« (S 189). Diese dreifache Ungewissheit der Form, der Sache und der agency erweckt schließlich in K. das Begehren nach einer Rückkehr zur mündlichen Kommunikation und personalen Interaktion. Er beauftragt den Boten, Klamm »gleich morgen« »[e]ine ganz kurze Botschaft zu überbringen«. Obwohl der Auftrag dann doch tatsächlich sehr wortreich ausfällt, soll Barnabas ihn »doch mündlich ausrichten, einen Brief will ich nicht schreiben, er würde doch wieder den endlosen Aktenweg gehen«. Der Inhalt der Botschaft wiederholt letztlich nur die Begründung ihrer Form: Angesichts der unkontrollierbaren Schriftkommunikation könne »nur die persönliche Vorsprache beim Herrn Vorstand […] helfen. […] auch einer etwa als notwendig erachteten Festsetzung der Zahl der
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Worte […] fügt er sich, schon mit zehn Worten glaubt er auskommen zu können« (S 192f.).63 Akten. Zu diesem Zeitpunkt, da K. aus Furcht vor dem »endlosen Aktenweg« die Verbindlichkeit der Schriftkommunikation gegen die Intimität der mündlichen Unterredung zu tauschen bereit ist, hat er das im ersten Brief angeordnete oder angebotene Gespräch mit dem Gemeindevorsteher bereits hinter sich. Kurz vor dem Besuch beim Vorsteher hatte K. die Vermischung der agencies zwischen Schloss und Dorf in einem Zwischenfazit bilanziert: »Nirgends noch hatte K. Amt und Leben so verflochten gesehen wie hier, so verflochten, dass es manchmal scheinen konnte, Amt und Leben hätten ihre Plätze gewechselt« (S 94.). Als der Gemeindevorsteher, selbst zugleich Bauer und Beamter, seine bereits weiter oben zitierte Abweisung K.’s – »[…] wir brauchen keinen Landvermesser […]« (S 95) – aufgrund der Aktenlage begründen will, da wird K.’s Eindruck einer heillosen Verflechtung nur ein weiteres Mal bestätigt. Die Schlossverwaltung erweist sich als schlechtes Oligoptikon: Der kränklich im Bett empfangende Vorsteher ist nicht in der Lage, jenen Erlass aufzufinden, auf den die – seiner Ansicht nach – irrtümliche Berufung des Landvermessers zurückgeht. Der Aktenverkehr – »Wer kann das alles zusammenhalten?« (S 97) – hat die Speicherkapazitäten seiner Bauernstube längst überschritten, so dass die Scheune als Erweiterungsdepot für die ohne Ordnung gelagerten Papiere dient. Als Mizzi, die Ehefrau und zugleich Hilfskraft des Vorstehers, den bezeichneten Akt trotz größten Bemühens nicht ohne weiteres aufzufinden vermag, beschließt der Vorsteher, die Wartezeit – »Mizzi, bitte such ein wenig schneller!« – zu füllen, indem er die Genealogie der 63 Lässt sich die hier in Rede stehende Problematik der Verwischung der
agency im Verkehr des Einzelnen mit der Behörde als wiederkehrendes Muster in den Akten der seit 1910 von Kafka geleiteten Rekursabteilung der Prager AUVA nachweisen, so gilt das gleichermaßen für den im Roman gewählten Ausweg. Seit 1908 erläutern die in weiten Teilen von Kafka verfassten Jahresberichte der Prager Anstalt unter Titeln wie »Persönlicher Verkehr mit den Unternehmern«, oder gar »Persönliche Berührung mit den Unternehmern«, wie die AUVA im Schriftverkehr sich ausdehnende Konflikte durch mündliche Vereinbarungen mit den Betriebsinhabern erfolgreich lösen konnte (vgl. AS 858f.).
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Landvermesser-Frage als Panorama präsentiert: »Ich kann Ihnen jedoch zunächst die Geschichte auch ohne Akten erzählen« (S 100). So erzählt der Vorsteher nun aus dem Gedächtnis, wie seine ursprüngliche Ablehnung der Berufung eines Landvermessers irrtümlich, und zudem als bloßer Aktendeckel ohne Inhalt, an eine falsche Abteilung der Schlossverwaltung zurückgeleitet wurde, und wie es ihm, als der Fehler lange Zeit später bemerkt wurde, nicht mehr möglich war, den Ursprung des von Natur aus autorlosen, »prozessgenerierten« Aktenvorgangs64 aus dem Gedächtnis zu rekonstruieren. Je weiter der Vorsteher nun in das von K. beklagte »lächerliche Gewirre […], welches unter Umständen über die Existenz eines Menschen entscheidet« (S 102) eindringt, desto deutlicher wird K., dass er in diesem Panorama des Schloss-Oligoptikons keinen zurechnungsfähigen Bezugspunkt seiner eigenen Handlungen wird finden können. Er versucht daher, zumindest seine eigene agency wiederherzustellen, indem er auf der Trennung von Amt und Leben beharrt: Nur glaube ich dass hier zweierlei unterschieden werden müsse, nämlich erstens das was innerhalb der Ämter vorgeht […] und zweitens meine wirkliche Person, ich, der ich ausserhalb der Ämter stehe und dem von den Ämtern eine Beeinträchtigung droht, die so unsinnig wäre, dass ich noch immer an den Ernst der Gefahr nicht glauben kann (S 105).
Der Vorsteher reagiert auf diese Forderung zwar mit einer aufschiebenden Geste – »Ich komme noch dazu« (S 105) – lässt aber zugleich aus den undurchschaubaren Kontrollämtern der Schloss-Behörde einen humanen Akteur hervortreten, in dem die gegensätzlichen Pole des Beamten und des Helden vollkommen zur Deckung gelangen. Durch seine persönliche Unfehlbarkeit verwandelt dieser Sordini die richtungslose Routine des bürokratischen Apparats in eine Serie heroischer Antagonismen: »er ist für den Angegriffenen ein schrecklicher, für die Feinde des Angegriffenen ein herrlicher Anblick.« Freilich ist es mit der hier beschworenen primären Substanz des Beamten-Heros nicht weit her. Schon im Folgenden erweist sich seine glanzvolle Erscheinung als blo64 Vgl. Cornelia Vismann: Akten. Medientechnik und Recht, Frankfurt am
Main: Fischer 2000, 8, 23.
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ße Imagination – »es ist mir noch nie gelungen, ihn mit Augen zu sehen« –, und auch als solche basiert sie auf einer nach Blüher höchst sekundären Eigenschaft: »Sordini ist ein Arbeiter«. Auf diese neuerliche Auflösung personaler agency in mechanische Arbeit, in Aktenumwälzung – das »fortwährend kurz aufeinander folgende Krachen [immerfort zusammenstürzender Aktensäulen] ist für Sordinis Arbeitszimmer bezeichnend geworden« – veranlasst K. zu einem letzten Versuch der Reinigung, der Ermächtigung des Menschen gegenüber dem Aufzeichnungsapparat: »[…] mein Ehrgeiz geht nicht dahin, grosse mich betreffende Aktensäulen entstehen und zusammenkrachen zu lassen, sondern als kleiner Landvermesser bei einem kleinen Zeichentisch ruhig zu arbeiten« (S 106f.). Doch letztlich bleiben alle Bemühungen K.’s, die hybriden Operationen der Schloss-Behörde in ein überschaubares Feld menschlicher Interaktionen zu überführen, vergeblich. »It is because an organization is even less a society than the body politic that it’s made only of movements, which are woven by the constant circulation of documents, stories, accounts, goods and passions«65 könnte ein ANTVademecum hier tröstend erläutern. Doch gehören in Kafkas Dorf die methodologischen Postulate der ANT zu den Bauernweisheiten. So wird auch Latours grundsätzliche Schlussfolgerung aus den oben geschilderten Verhältnissen – »Action should remain a surprise, a mediation, an event«66 – vom Gemeindevorsteher antizipiert, wenn er über die Arbeitsweise des »entsprechend seiner Präcision auch äusserst empfindlichen« »behördlichen Apparates« berichtet: Wenn eine Angelegenheit sehr lange erwogen worden ist, kann es, auch ohne dass die Erwägungen schon beendet wären, geschehn, dass plötzlich blitzartig an einer unvorhersehbaren und auch später nicht mehr auffindbaren Stelle eine Erledigung hervorkommt, welche die Angelegenheit, wenn auch meistens sehr richtig, so doch immerhin willkürlich abschliesst. Es ist als hätte der behördliche Apparat die Spannung, die jahrelange Aufreizung durch die gleiche vielleicht an sich geringfügige Angele-
65 Latour, Reassembling the Social, s. Anm. 2, 179. 66 Ebd., 45.
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genheit nicht mehr ertragen und aus sich selbst heraus ohne Mithilfe der Beamten die Entscheidung getroffen. (S 109f.)67
Telefone. Als verlockendstes Kontaktmedium zum Schloss erweist sich bereits zu Beginn des Romans das Telefon. Als technisch implementiertes Netzwerk verheißt es vom Raum unabhängigen, be- und zurechenbaren Echtzeitkontakt mit den Behörden. Und in der Tat scheint ja K.’s Suche nach Status und agency, und damit der Roman, bereits nach wenigen Seiten durch einen Anruf aus dem Schloss ein Ende zu finden. Nachdem die erste telefonische Anfrage im Schloss zu einem negativen Bescheid der Landvermesser-Frage geführt hatte, wird diese Auskunft in einem rasch folgenden Rückruf wieder revidiert: »Das Schloss hatte ihn also zum Landvermesser ernannt« (S 12). Doch schon als K. nach dem gescheiterten Versuch, zu Fuß ins Schloss zu gelangen, für den nächsten Morgen einen Schlitten bestellt und seine Gehilfen wegen der erforderlichen Erlaubnis anrufen lässt, zerfällt die Zurechenbarkeitsvermutung im Hinblick auf die Telefone. Als seine telefonierenden Gehilfen die Auskunft erhalten, dass K. niemals ins Schloss kommen dürfe, greift dieser selbst zum Hörer, hört aber nur ein Rauschen gleich dem »Summen zahlloser kindlicher Stimmen«, oder besser, dem »Gesang fernster, allerfernster Stimmen« (S 36). Als er schließlich doch mit einem Beamten verbunden wird, gibt er sich als sein »alter Gehilfe« aus, und tatsächlich bestätigt ihm nach anfänglichem Zögern sein Gesprächspartner: »Du bist der alte Gehilfe« (S 36f.). Obwohl sich K. als Telefonteilnehmer also schon früh mit dem gesamten Störungsspektrum funktionierender Kommunikation konfrontiert sieht – Widersinn, Rauschen, Echo –, beruft er sich im Gespräch mit dem Gemeindevorsteher genau in dem Moment, da Briefe und Akten sich für die Suche nach 67 Was der Gemeindevorsteher K. nicht ohne Bewunderung vorträgt, kennt
Kafka als wiederkehrende Klage der versicherten Unternehmer: »Noch ohne daß der Rekurs [Einspruch] erledigt ist, wird der Betriebsinhaber exekutiert. Ist er schwach fundiert, so kann dies seinen wirtschaftlichen Ruin bedeuten, ganz gleich, ob die Anstalt zu der Vorschreibung berechtigt war oder nicht«, berichtet etwa der Genossenschaftsvorsteher der Spielwarenerzeuger im Erzgebirge über die vermeintlich willkürliche Zwangsvollstreckungspraxis der Prager AUVA gegen säumige Beitragszahler (AS 690).
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agency als wertlos erweisen, doch wieder auf das erste Telefonat mit dem Schloss. Der Sohn des Unterkastellans, so wendet K. gegen die Zweifel des Vorstehers an seiner Berufung zum Landvermesser ein, »›erkundigte sich […] telephonisch bei einem Unterkastellan und bekam die Auskunft, dass ich als Landvermesser aufgenommen sei. Wie erklären Sie sich dass, Herr Vorsteher?‹ ›Sehr einfach‹, sagte der Vorsteher« (S 115). Und in der Tat wird K. nun präzise jene sehr einfache Geschichte aufgetischt, mit der Niklas Luhmann in den 1980er Jahren die theoriehungrigen Überlebenden der 1970er Jahre bewirtete. Er erfährt, »dass es Systeme gibt«, die ihre interne Funktionalität durch Inklusion gewinnen, während es zwischen diesen Systemen und ihren Umwelten keine Kommunikation gibt, sondern nur »Rauschen« und »Störung«. 68 In der nicht weniger präzisen und nicht weniger schönen Darstellung des Dorfvorstehers: Im Schloss funktioniert das Telephon offenbar ausgezeichnet; wie man mir erzählt hat wird dort ununterbrochen telephoniert, was natürlich das Arbeiten sehr beschleunigt. Dieses ununterbrochene Telephonieren hören wir in den hiesigen Telephonen als Rauschen und Gesang, das haben Sie gewiss auch gehört. Nun ist aber dieses Rauschen und dieser Gesang das einzige Richtige und Vertrauenswerte, was uns die hiesigen Telephone übermitteln, alles andere ist trügerisch. Es gibt keine bestimmte telephonische Verbindung mit dem Schloss, keine Zentralstelle, welche unsere Anrufe weiterleitet; wenn man von hier aus jemanden im Schloss anruft, läutet es dort bei allen Apparaten der untersten Abteilungen oder vielmehr es würde bei allen läuten, wenn nicht, wie ich bestimmt weiss, bei fast allen dieses Läutwerk abgestellt wäre. Hie und da aber hat ein übermüdeter Beamter das Bedürfnis sich ein wenig zu zerstreuen – besonders am Abend oder bei Nacht – und schaltet das Läutwerk ein, dann bekommen wir Antwort, allerdings eine Antwort, die nichts ist als Scherz. (S 115f.)
Einen Scherz macht sich auch Kafkas Roman, und nicht nur mit unserer soziologischen Systemtheorie – Kafka versteht Luhmann, aber Luh68 Vgl. Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theo-
rie, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 30, 122f.
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mann versteht Kafka nicht, wäre man versucht und berechtigt zu formulieren –, sondern auch mit Blühers antimodernem Entmischungs-Verdikt: »Die primäre Rasse versteht die sekundäre, aber die sekundäre nicht die primäre« (s.o.). Was Blüher als Spaltung im Kontinuum der vertikalen Rassen-Achse diagnostiziert, kehrt hier als horizontaler Effekt von Kommunikationstechnik wieder. »[W]e have to keep the social domain completely flat«, wird Latour, in anderem Zusammenhang, diese Einebnung der Vertikalen postulieren. Das Schloss ist nicht größer als das Dorf, es liegt auf keiner höheren Ebene. Es verfügt lediglich über bessere Verbindungen: »No place can be said to be bigger than any other place, but some can be said to benefit from far safer connections with many more places than others«69. So sagt man jedenfalls – in Kafkas Dorf. III.3 Bühnentechnik: Dorf- und Schlossgeschichten
Trotz der asymmetrischen Kommunikationsverhältnisse bleibt für die zeitgenössischen Biopolitiker des Geistes die epische Präsenz des primären Lebens (Buber) oder der primären Rasse (Blüher) im bzw. in der sekundären eine vitale Ernährungsfrage. Die Menschheit, so Blüher in der Aristie, »bekenn[t]« sich zu ihren Genies, einfach weil sie ohne »die schließlich überwältigende Macht der primären Rasse […] eben schlechterdings seelisch verhungern und verkommen würde«70. An dieser Stelle nun bricht die ANT, nicht ohne sich für ihren durch und durch sekundären »terrible lack of manners« zu entschuldigen, mit einer »geographical question«71 nach dem Herstellungsort der epischen Figuren und Ereignisse in Blühers Monolog hinein: It’s one of the ambitions of ANT to keep the prophetic urge that has always been associated with the social sciences, but to accompany the master narratives safely back inside the rooms where they are displayed. So here again, the voluntarily blind ANT scholar should keep asking the same mean and silly questions whenever a well-ordered pecking order 69 Latour, Reassembling the Social, s. Anm. 2, 171. 70 Blüher, Die Aristie des Jesus von Nazareth, s. Anm. 39, 75. 71 Latour, Reassembling the Social, s. Anm. 2, 175.
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between scales has been staged: »In which room? In which panorama? Through which medium? With which stage manager? How much?72
Unter dem kurzsichtigen Blick der ANT verwandeln sich folglich die Ernährungs-Narrative Bubers und Blühers in Fragen nach den Bewirtungslokalitäten. Man begreift nun, weshalb Kafka, der Bühnentechniker seiner Epoche, seinen Schloss-Roman als Wirtshaus-Komödie anlegen muss. Im Roman bleibt die Formulierung dieses Zusammenhangs der unbestechlichen Amalia vorbehalten. Als Olga (»Contrary to oligoptica, panoramas […] see everything«; s.o., I.3) wieder einmal in der Schusterhütte mit K. zusammensitzt, um am Panorama der Verstoßung ihrer Familie durch das Schloss zu arbeiten, tritt ihre Schwester (»But they also see nothing since they simply show an image painted or projected on the tiny wall of a room fully closed to the outside«, s.o., I.3) unbemerkt in den Raum. Der sich nun entspinnende Dialog ist vielleicht die präziseste und sicher die schönste der verfügbaren Zusammenfassungen der ANT: ›Schlossgeschichten werden erzählt? […] Bekümmern Dich denn solche Geschichten überhaupt? Es gibt hier Leute, die sich von solchen Geschichten nähren, sie setzen sich zusammen, so wie Ihr hier sitzt, und traktieren sich gegenseitig. Du scheinst mir aber nicht zu diesen Leuten zu gehören.‹ ›Doch‹, sagte K., ›ich gehöre genau zu ihnen, dagegen machen Leute, die sich um solche Geschichten nicht bekümmern und nur andere sich bekümmern lassen, nicht viel Eindruck auf mich.‹ ›Nun ja‹, sagte Amalia, ›aber das Interesse der Leute ist ja sehr verschiedenartig, ich hörte einmal von einem jungen Mann, der beschäftigte sich mit den Gedanken an das Schloss bei Tag und Nacht, alles andere vernachlässigte er, man fürchtete für seinen Alltagsverstand, weil sein ganzer Verstand oben im Schloss war, schliesslich aber stellte es sich heraus, dass er nicht eigentlich das Schloss, sondern nur die Tochter einer Aufwaschfrau in den Kanzleien gemeint hatte, die bekam er nun allerdings und dann war wieder alles gut.‹ ›Der Mann würde mir gefallen, glaube ich‹, sagte K. (S 323f.).
72 Latour, Reassembling the Social, s. Anm. 2, 190.
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Kafkas ANTwort auf Blüher und seine deutschen und jüdischen Vorläufer besteht in der Protokollierung der Inszenierungstechniken und Blickregime, durch die Grundfragen des menschlichen Lebens (Ernährung, Rang, Zugehörigkeit) episch totalisiert werden. Dabei werden verschiedene Verhaltensweisen in diesem Feld durchgespielt und zueinander in Bezug gesetzt. Olga, die realistische Schwester der stolzen Amalia, versucht aus einer radikal sekundären Haltung heraus, die Beziehung ihrer Familie zum Schloss auf eine handhabbare Ebene zu bringen, das heißt ein Minimum an agency zu wahren, indem sie sich etwa zur Gewinnung von Informationen über den Stand der Angelegenheit ihrer Familie regelmäßig den Schloss-Knechten hingibt. Amalia, die als einzige Figur im Roman eine rein primäre Haltung zeigt – mit den erwähnten fatalen Folgen für ihre Familie – verschmäht jegliche sekundäre Nahrung. Sie beobachtet den »Schlossgeschichten«-Konsum mit einer Mischung aus Befremden und Verachtung und bietet K. offen an, sich ihrer distanzierten Haltung anzuschließen. K. aber erteilt Amalias ostentativem Desinteresse an der von den »Schlossgeschichten« ausgehenden Faszination eine Abweisung und zeigt stattdessen seine Sympathie für den jungen Mann, dem die Faszinationskraft des Schlosses zuguterletzt zur Eroberung seiner angebeteten Aufwaschfrau verhalf. Das Schloss ist keine das Dorf umfassende oder gar erklärende Superstruktur, sondern nur ein weiteres Element der geglätteten Topographie der Schloss-Dorf-Welt: »the small [hier: die Aufwaschfrau] is being unconnected, the big one [hier: das Schloss] is to be attached.«73 Indem der Roman lediglich den Akteuren im Konfliktfeld der Inszenierungstechniken und Blickregime folgt, ohne einer Figurenperspektive oder eine Erzählerperspektive zu favorisieren, wird er zum literarischen ANT-Protokoll. Als ein weiteres Beispiel der »Lokalisierung des Globalen«74 haben wir bereits das Gespräch K.’s mit dem Gemeindevorsteher untersucht. Als das buchstäblich blinde – »›Es ist zu dunkel hier‹« (S 97) – Oligoptikon seines Gemeindebüros versagt, gewinnt der Bauer die Überhand über den Beamten – »›dazu bin ich nicht genug Beamter, ich bin Bauer und dabei bleibt es‹« (S 96) –, und die 73 Latour, Reassembling the Social, s. Anm. 2, 180. 74 So benennt Latour den ersten methodischen Zug der ANT; vgl. ebd., 173-
190.
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Akten werden von der Grundlage zum Thema seines Berichts. Das globale Panorama der Schlossbehörden entsteht in der mit Akten überfluteten Stube des bettlägerigen Gemeindevorstehers; da der Aktenverkehr aber zeitlich unabschließbar und räumlich nicht zu begrenzen ist, kann die Vollendung des Behörden-Panoramas nicht gelingen. Ein vollständiges Panorama hingegen erhält K. in seinen beiden Unterredungen mit der Wirtin des Brückenhofes. Während sich der Vorsteher ganz und gar den »Bureaueinrichtungen« im Schloss widmet – »ja, sie sind auch das wichtigste« (S 108) –, finden wir im allein von Menschen und ihren Schicksalen handelnden Schloss-Dorf-Rundbild der Wirtin Blühers allogene Weltverfassung aufs Schönste ausgeführt. Die Dorfbewohner leben ihr sekundäres Leben und müssen sich damit bescheiden, hin und wieder nach ihnen unbekannten Gesetzmäßigkeiten von den Schlossbeamten »auserwählt« oder »gerufen« zu werden. Dabei bleiben sie ihr ganzes Leben lang im Banne dieser in ihr sekundäres Leben eindringenden primären Ereignisse: »[I]mmerfort«, so berichtet die Brückenwirtin, die sich in ihrer Jugend selber einmal als Geliebte Klamms wähnte, musste ich mich fragen und höre im Grunde auch heute noch nicht auf so zu fragen: Warum ist das geschehn? Dreimal hat Dich Klamm rufen lassen und zum vierten Mal nicht mehr und niemals mehr zum vierten Mal! Was beschäftigte mich damals mehr? Worüber konnte ich denn sonst mit meinem Mann sprechen, den ich damals kurz nachher heiratete? […] Jahrelang drehten sich unsere nächtlichen Gespräche nur um Klamm und die Gründe seiner Sinnesänderung. (S 129)
Und es ist wiederum die Brückenwirtin, die K.’s Ansinnen, mit Klamm zu sprechen, als verworrene Vorstellung eines Fremden einordnet, indem sie auf die Unüberbrückbarkeit der vertikalen Kluft zwischen Dorfbewohnern und Schlossbeamten hinweist: »›Klamm soll mit Ihnen sprechen, aber er spricht doch nicht einmal mit Leuten aus dem Dorf, noch niemals hat er selbst mit jemandem aus dem Dorf gesprochen‹« (S 80). Da K. aber nicht müde wird, die Welt- bzw. Dorfsicht der Wirtin in Selbstwidersprüche zu führen, begegnet sie ihm mit eben jenem Argument, mit dem sich der Genossenschaftsvorstand der erzgebirgi-
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schen Spielwarenerzeuger die fremden Wahrnehmungsweisen der Prager Rekursabteilung verwahrt hatte (s.o., I.3): »Sie sind ein paar Tage im Ort und schon wollen Sie alles besser kennen, als die Eingeborenen, besser als ich alte Frau und als Frieda, die im Herrenhof so viel gesehen und gehört hat« (S 84). Bereits in der Monadologie Gabriel Tardes wird das Eingeboren-Sein als entscheidende Voraussetzung für den im Vergleich zu den Naturwissenschaftlern »privilegierten«, nämlich verstehenden Blick des Soziologen auf seine Ansammlung von Monaden, die menschliche Gesellschaft, identifiziert: »›[H]ier sind wir zu Hause, hier sind wir die wahren Elemente dieser kohärenten Systeme von Personen, die man Städte oder Staaten, Regimenter oder Kongregationen nennt. Was hier vor sich geht, wissen wir genau‹.«75 III.4 Landvermessung: K.’s Skalen Sie sind nicht aus dem Schloss, Sie sind nicht aus dem Dorf, sie sind nichts. Leider aber sind Sie doch etwas, ein Fremder, […] einer wegen dessen man immerfort Scherereien hat, […] dessen Absichten unbekannt sind. (S 80)
Wie schon ihre Schilderung des Dorflebens unter dem Schloss, so sind auch die Klagen der Brückenwirtin über K. eine nahtlose Fortschrift der allogenen Weltbeschreibung Blühers. Hier bringt der VermischungsUnfall des Menschengeschlechts (genauer: der Menschengeschlechter) »fortwährend« unberechenbare Störenfriede hervor, Zwischengewächse[] und haltlose[] Irrwandler, die weder ganz zur einen noch ganz zur anderen Rasse gehören […]: verworrene Halbgeister […], die während der Betrachtung der Dinge allerhand persönliche, vorgeblich unaussprechbare, jedenfalls sich aber in ihrer eigenen Seele abspielende Sensationen haben[.]76
75 Latour, »Gabriel Tarde und das Ende des Sozialen«, s. Anm. 3, 44. Binnen-
zitat aus Gabriel Tarde: Monadologie et Sociologie. 76 Blüher, Die Aristie des Jesus von Nazareth, s. Anm. 39, 65.
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Mit diesen Klagen aus den Wirtshäusern des Leibes und der Seele ist das eigentümliche Geschäft des Landvermessers K. allerdings nur zur Hälfte beschrieben. K.’s beunruhigende Stellung, genauer: Bewegung, zwischen den stabilen topographischen Polen innen und außen (Heimat/Fremde) sowie unten und oben (Dorf/Schloss) führt nämlich nicht bloß zur Verwischung der Unterschiede. Sie bringt, wie ein abschließender Blick auf den Protagonisten des Romans zeigen soll, ein weitaus bedenklicheres Phänomen als die von Blüher beklagte »Indifferenzzone« zum Vorschein: die Abhängigkeit jeglichen topographischen Maßstabes von den Akteuren selbst. Kafkas K. ist, so viel haben wir längst feststellen können, keiner jener »sharp-sighted all-encompassing overseer[s]«, die Latour durch »myopic ANT scholars« ersetzen möchte: If you stick obstinately enough to the decision of producing a continuous trail instead of a discontinuous one, then another mountains range begins to emerge. It is a landscape which runs through, crosses out, and totally shortcuts the former loci of ›local interaction‹ and of ›global context‹.77
Wenn die Brückenwirtin K. einmal mit einer »Blindschleiche« vergleicht, um seine Distanz zum »Adler« Klamm zu verdeutlichen (S 90), dann schließt sie damit zunächst ziemlich präzise an Latours methodologische Basisunterscheidung an. Dennoch ist K. weit davon entfernt, als stetig und zuverlässig arbeitende Datensonde im Sinne einer latourschen ANT zu fungieren. Nicht ohne Grund fügt Latour seiner Verfahrensanweisung eine Warnung hinzu: »don’t try to be intelligent, don’t jump, don’t switch vehicles«78. K. freilich lässt keinen dieser drei Verfahrensfehler aus. (1) Statt den Akteuren zu folgen, versucht er laufend, ihnen Widersprüche nachweisen, er ist, wie die Brückenwirtin klagt, jemand, der »nur auf seinen Kopf und nur auf seinen Kopf schwört und die wohlmeinendsten Ratschläge überhört« (S 84). (2) Dabei erliegt er wiederholt dem Begehren, zu springen, Abkürzungen ins Schloss zu finden: zunächst durch das Telefon, dann, indem er auf Klamm in dessen Schlitten wartet (S 156-169), schließlich durch seine dem Boten 77 Latour, Reassembling the Social, s. Anm. 2, 175f. 78 Ebd., 176.
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aufgetragene Bitte, Klamm zu einer persönlichen Unterredung zu treffen. (3) Und natürlich scheut er nicht davor zurück, die Vehikel ins Schloss zu wechseln, sei es, dass er für den Morgen nach dem vergeblich Fußweg zum Schloss einen Schlitten bestellt (S 34f.), sei es, dass er, nachdem Frieda sich in dieser Hinsicht als nutzlos erwiesen hat, sich Olga weiter annähert (S 346-370). Es ist aber gerade die auch in Blühers Narrativ monierte Haltlosigkeit des »Zwischengewächses« und »Irrwandlers« K., die den Lesern des Romans die topographische Grundregel der ANT: »Scale is the actor’s own achievement«79 immer wieder vor Augen führt. Jedenfalls ex negativo. Da sich das Schloss-Begehren K.’s zu seiner tatsächlichen agency im Dorf ganz und gar disproportional verhält, geraten die Maßstäbe des gerätelosen Landvermessers immer wieder aus den Fugen. Das betrifft, erstens, die Zeit. Nach seiner Rückkehr von seinem vergeblichen Fußweg zum Schloss ins Dorf war es zu seinem Erstaunen schon völlig finster. War er solange fort gewesen? Doch nur ein, zwei Stunden etwa, nach seiner Berechnung. Und am Morgen war er fortgegangen. Und kein Essensbedürfnis hatte er gehabt. Und bis vor kurzem war gleichmässige Tageshelle gewesen, erst jetzt die Finsternis. ›Kurze Tage, kurze Tage‹, sagte er zu sich, glitt vom Schlitten und ging dem Wirtshaus zu. (S 30f.)
Der gleiche Verlust über die Kontrolle der Maßstäbe betrifft, zweitens, den Raum. Als sich K., unmittelbar nach der ersten Begegnung mit dem Boten Barnabas, mit den Gehilfen seinen Landvermesser-Arbeiten zuwenden will – »›Ich hole aus dem Zimmer meine Aufzeichnungen, dann besprechen wir die nächste Arbeit‹« – da stellt er verwundert fest, dass Barnabas weder im noch vor dem Haus mehr zu sehen ist. Obwohl er glaubt, den Boten drinnen übersehen zu haben, »schrie K. noch aus aller Kraft den Namen, der Namen donnerte durch die Nacht. Und aus der Ferne kam nun doch eine schwache Antwort, so weit war also Barnabas schon. K. rief ihn zurück und ging ihm gleichzeitig entgegen; wo sie einander trafen, waren sie vom Wirtshaus nicht mehr zu sehn« (S 47). 79 Latour, Reassembling the Social, s. Anm. 2, 185.
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Schließlich und vor allem betrifft der Verlust der Maßstäbe die soziale Rangordnung. Hier ist es die Wirtin, die dem nach einer Unterredung mit Klamm trachtenden Landvermesser seine buchstäbliche Vermessenheit vorhält. Dabei gelingt es ihr selber kaum, K. in eine auf die Schloss-Dorf-Welt zutreffende Rangordnung einzufügen. Gegenüber dem »sehr hohen Rang« Klamms ist K., wie bereits gehört, »nichts«. Er ist ebenso wenig »imstande, Klamm wirklich zu sehn« (S 80), wie die »Blindschleiche« den »Adler« zu sehen vermag. Doch damit nicht genug. Auch im Verhältnis zu den Dorfbewohnern, die wenigstens dieses Schicksal mit ihm teilen, ist K.’s Stellung mehr als nur prekär. Obwohl sich die Wirtin selbst nur »in einem Wirtshaus letzten Ranges – es ist nicht letzten Ranges, aber doch nicht weit davon« einordnet, wird K. allein »von [ihr] gehalten, denn versuchen Sie es, junger Mann, wenn ich Sie aus dem Hause weise irgendwo im Dorf ein Unterkommen zu finden, und sei es in einer Hundehütte«. Als K. daraufhin »von einem recht guten Nachtlager« berichtet, »das mir freisteht« (S 85), verdeutlicht ihm die Wirtin, dass jede Verbindung mit der Familie des Barnabas ihn vollends aus der Dorfgemeinschaft ausschließen würde.
IV. Fazit: ad acta! Der Widerstand, den Kafkas Werk seiner Verortung im Epochenschema der Literatur- wie der allgemeinen Geschichte entgegensetzt, hat eine Reihe nachhaltig wirksamer geschichtsphilosophischer Diagnosen hervor getrieben. »Wie Lukács in Zeitaltern so denkt Kafka in Weltaltern«80, beschwört etwa Benjamin die transhistorische Dimension des kafkaschen Werks. Die hier geschilderten Gerichtsverfahren, so Benjamin weiter, führen »weit hinter die Zeit der Zwölf-Tafel-Gesetzgebung in eine Vorwelt zurück, über die einer der ersten Siege geschriebenes Recht war. Hier steht zwar das geschriebene Recht in Gesetzbüchern, jedoch geheim, und auf sie gestützt, übt die Vorwelt ihre 80 Walter Benjamin: »Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todesta-
ges«, in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann und Herrmann Schweppenhäuser. Bd. II.2, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, 409-438, hier: 410.
A LLOGENITÄT
UND
ASSEMBLAGE
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Herrschaft nur schrankenloser.«81 So lässt sich, in jedem Sinne fraglos, die Geschichte der diversen K.’s erzählen: ohne Akten gleichsam, nach Art der überlasteten Dorfvorsteher. Demgegenüber möchte unsere Lektüre einen anderen Erzählmodus und ein anderes Narrativ in Vorschlag bringen. Wenn Kafkas Werk sich gegen die poetologischen Einordnungen und ethischen Zumutungen des Modernismus hartnäckig sperrt, so geschieht dies einfach deshalb, weil Kafka, im präzisen Sinne Latours, »nie modern gewesen« ist. Doch muss man den Standpunkt seines Erzählens darum nicht, oder jedenfalls nicht ohne weiteres, in der Vorwelt suchen. Als »technischer Arbeiter« am Theater der Modernen hält sich Kafka vielmehr abwechselnd unter, hinter, neben und auf der Bühne auf, um die laufenden Inszenierungen nicht etwa zu »entlarve[n]«, sondern zu »entfalten«, das heißt ihre Funktionsweisen und Machteffekte mit äußerster technischer Präzision vor Augen zu stellen. Dabei antizipiert Kafkas Verfahren auf verblüffende Weise jenen »andere[n] Ausweg« aus dem Dilemma der Modernen, den die ANT den leeren Dekonstruktionskunststückchen der Postmodernen gegenüberstellt: Es folgt »gleichzeitig der offiziellen Verfassung […] und dem, was sie verbietet und erlaubt«, und es regt dazu an, »die Arbeit der Produktion von Hybriden und die Arbeit der Beseitigung dieser selben Hybriden detailliert [zu] untersuchen«. 82 Den hierfür erforderlichen nichtmodernen Standpunkt gewinnt Kafka nicht zuerst aus dem Mythos, sondern aus den Produktionstechniken der industriellen Arbeitswelt und den Verfahren ihrer Verdatung und Verwaltung im Rahmen der sozialen Unfallversicherung. An diesen Punkt der unseren heutigen Theoriedebatten vorauseilenden Nichtmodernität Kafkas knüpft sich ein zweiter Aspekt seiner Geschichtlichkeit. Sein Potential epochenübergreifender Lesbarkeit gewinnt Kafkas Werk nämlich gerade dadurch, dass es sich, als Schreibprozess, eng auf die Wendepunkte seiner eigenen historischen Aktualität bezieht.83 Nach dem Ende des Weltkriegs gelangt in Mitteleuropa 81 Ebd., 412. 82 Latour, Wir sind nie modern gewesen, s. Anm. 9, 65. 83 Für eine weitere Fallstudie zum Beleg dieser These vgl. Benno Wagner:
»›Lightning no Longer Flashes.‹ Kafka’s Chinese Voice and the Thunder of the Great War«, in: Jakob Lothe, Beatrice Sandberg und Ronald Speirs
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das Reinigungsmonopol des Sozialstaats bismarckscher Prägung an einen solchen Wendepunkt. Die – auf fatale Weise erfolgreiche – Strategie der Antimodernen wird nun darin bestehen, der laufenden Reinigung der Hybride durch biopolitische Dispositive wie die Arbeiterunfallversicherung, das heißt der rekursiven Unterscheidung von Mensch und Technik, eine absolute Trennung der beiden Bereiche gegenüberzustellen. Daraus mag dann entweder das Primat des Menschen (wie bei Hans Blüher) oder das Primat der Technik (wie bei Ernst Jünger) resultieren. In jedem Falle bleiben diese antimodernen Erzählungen der Agenda der Moderne – der Ernährung und Versicherung des Menschen – eng verbunden. Im Zusammenspiel mit einigen anderen Stücken seines Spätwerks, und im verborgenen Dialog mit einer Vielzahl weiterer, hier nicht thematisierter Zeitdiagnosen zielt Kafkas letzter Roman darauf ab, die neuartige soziale Landschaft zu vermessen, die sich aus dieser neomythologischen Recodierung der Biopolitik entfaltet. Seine Schreibweise wendet mithin die Eigenschaften jener untergegangenen »Bilderschrift«, die nach Blüher allein das Geheimnis der primären Rasse auszudrücken vermochte, gegen diesen selbst: »Diese Zeichen waren dem Gesetz der Grammatik entrückt, sie hatten Hintergründe, Rückverbindungen, die nur den Eingeweihten zugänglich waren«84. An die Stelle solch primärer Auserwähltheit hat Kafka für seine Leser eine ganz und gar sekundäre Arbeit gesetzt. Für seine Schlossgeschichten reicht es schon, sie mit den Akten zu lesen, um ihren »Innenbestand« zu »entriegel[n]«85, und um ihrer Zeitlosigkeit oder gar ihrem Aktualitätsbezug auf die Spur zu kommen.
(Hg.): Franz Kafka: Narrative, History, Genre, Columbus: Ohio State University Press 2011, 58-80. 84 Blüher, Die Aristie des Jesus von Nazareth, s. Anm. 39, 56. 85 Ebd., 63.
Polyperspektivisch und polyfunktional Annäherungen an Kafkas Schloss M ANFRED E NGEL
Immer wieder haben Interpreten von Kafkas letztem Roman versucht zu bestimmen, was das Schloss bedeutet oder wofür es steht.1 All diese Bemühungen sind mit Notwendigkeit gescheitert, weil Kafkas Textwelten sich allen allegorischen Deutungsansätze entziehen – ohne deswegen schlechterdings undeutbar zu sein. Denn es lassen sich durchaus Aussagen darüber machen, was das Schloss für einzelne Figuren oder Figurengruppen der Romanwelt bedeutet, das heißt, welche Funktion es für sie hat. Eine Rekonstruktion dieser textinternen Bestimmungen erschließt die Regeln der fiktionalen Welt und kann so zum Ausgangspunkt für verallgemeinernde – metonymische und eben nicht allegorische – Deutungen werden. Einer der Gründe für unsere Unsicherheit über das Schloss – den Roman wie die Institution – ist natürlich die Perspektivgestaltung. Daher eine kurze Vorbemerkung zur Erzähltechnik: In der Terminologie von Jürgen H. Petersen ist Das Schloss ein Text in Er-Form mit perso-
1
Vgl. den ausführlichen Forschungsbericht in: Waldemar Fromm: »Das Schloss«, in: Manfred Engel und Bernd Auerochs (Hg.): Kafka-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart, Weimar: Metzler 2010, 301-317; dort auch eine ausführliche Bibliographie zur bisherigen Forschung.
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nalem Erzählverhalten.2 Darin gleicht Kafkas letzter Roman den beiden vorangegangenen. Es gibt allerdings zwei auffällige Unterschiede: (1) Das Innere von Karl Rossmann und Josef K. war lückenlos transparent; wir erfuhren sogar, was die Figuren selbst über sich nicht erkennen konnten oder wollten. Im Bewusstseinsraum des Landvermessers K. jedoch gibt es für uns einen blinden Fleck: Über den Grund, der ihn ins Dorf geführt hat und ihn ins Schloss streben lässt, erfahren wir nichts – dass er kein Landvermesser ist und nie einen gräflichen Auftrag erhalten hat, wird schnell klar. (2) Der Gesprächsanteil im Schloss ist ungewöhnlich hoch. Dieter Krusche hat die folgenden Relationen berechnet: Im Verschollenen umfasst die Figurenrede rund 50%, im Process 60-65%, im Schloss aber 70-75%.3 Dazu kommt, dass die Figurenzahl im Schloss für Kafka ungewöhnlich groß ist – erwähnt (wenn auch natürlich nicht ausführlich geschildert) werden um die 50 Personen. Da viele davon ihre Ansichten über das Schloss und ihre Einstellung dazu ausführlich erläutern, trägt der Text, trotz der erzähltechnischen Fokalisierung auf K., deutlich polyperspektivische Züge. In einer für Kafkas Romane wiederum höchst untypischen Weise verfügen zudem viele der Figuren über eine dem Romangeschehen vorausliegende und ihr Verhalten motivierende Lebensgeschichte – etwa die Familie Barnabas’, die Brückenhofwirtin und ihr Ehemann, in Ansätzen auch der Unterkastellanssohn Schwarzer, der Schuster Brunswick und seine Familie, Pepi, Frieda und der Gehilfe Jeremias.4 Das bringt den späten Roman in einen deutlichen Zusammen2 3
4
Jürgen H. Petersen: Erzählsysteme. Eine Poetik epischer Texte, Stuttgart, Weimar: Metzler 1993. Vgl. Dieter Krusche: Kafka und Kafka-Deutung. Die problematisierte Interaktion, München: Fink 1974, 52; die Angaben beziehen sich zwar auf die alten (brodschen) Ausgaben, die Relationen dürften sich aber in der KKA nicht wesentlich verändert haben. Zum Erzählverhalten vgl. auch: Hans Zeller: »Spielregeln im Schloss. Zur Deutbarkeit von Kafkas Roman. Mit einem großen Vorspann über den Erzählmodus«, in: Roland Jost (Hg.): Im Dialog mit der Moderne. Zur deutschsprachigen Literatur von der Gründerzeit bis zur Gegenwart, Frankfurt am Main: Athenäum 1986, 276-292. In den früheren Romanen haben dagegen nur Karl Rossmann und Therese im Verschollenen eine ausführlich berichtete Vorgeschichte.
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hang mit dem Kafkas spätestes Werk prägenden Projekt »selbstbiographischer Untersuchungen«.5
I.
Dorf und Schloss – Vorüberlegungen
Bevor ich auf die unterschiedlichen auf das Schloss gerichteten Figurenperspektiven eingehe, versuche ich, einige Basisfakten zu Dorf und Schloss und ihrem Verhältnis zueinander zusammenzustellen und dabei zugleich Kategorien für die folgende Analyse zu gewinnen. Zwar werden auch alle Informationen dieses Kernbestandes perspektivgebunden, mitunter sogar mehrfach perspektivisch gebrochen vermittelt – so erzählt etwa Olga K., was sie von Barnabas über das Schloss erfahren hat. Kafkas Perspektivierungstechnik beruht jedoch auch im Schloss nicht einfach auf genereller epistemologischer Skepsis oder genereller erzählerischer Unzuverlässigkeit. Sie ist keineswegs »einsinnig«,6 da Lügen wie Selbsttäuschungen der Figuren für den Leser klar erkennbar bleiben – ein sehr einfaches Beispiel dafür wäre die lange Erzählung Pepis (S 451-488) –, ohne dass deswegen natürlich die Wahrheit selbst zugänglich würde. Insofern ist es durchaus möglich, einen Kernbereich halbwegs gesicherten Wissens herauszuarbeiten, an dem zu zweifeln es zumindest keine erkennbaren Gründe gibt. Über das Dorf und seine Bewohner erfahren wir im Roman sehr viel: Wir kennen Grundzüge seiner Topographie, wichtige Straßen und Gebäude (etwa die beiden Wirtshäuser, die Schule, die Kirche, das Wohnhaus der Familie Barnabas’) und eine Reihe seiner Bewohner, die offensichtlich zumeist Bauern und Handwerker sind. Und wir erfahren einiges über die Regeln dörflichen Zusammenlebens. Vom Schloss dagegen kennen wir allenfalls seine dem Dorf zugewandte Seite. Aller Wahrscheinlichkeit nach handelt es sich um eine 5
6
Vgl. NSF II 373. Vgl. dazu Manfred Engel: »Drei Werkphasen«, in: ders. und Bernd Auerochs (Hg.): Kafka-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart, Weimar: Metzler 2010, 81-90, bes. 89. So die in der Kafka-Forschung äußerst wirkungsmächtige Formulierung Friedrich Beißners (vgl. Der Erzähler Franz Kafka, Stuttgart: Kohlhammer 1952).
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hierarchisch tief gestaffelte umfangreiche Behörde aus mindestens zehn Kanzleien mit zahlreichen Beamten, Sekretären, Schreibern und Dienern – die Namen von nicht weniger als 15 Schlossbeschäftigten und ihres obersten Dienstherren, des Grafen Westwest, werden ausdrücklich genannt.7 All diese Informationen beruhen aber weitestgehend auf Hörensagen. Eine Innenansicht der Behörde erhalten wir nur durch die lange, monologisierende Rede Bürgels (S 405-426). Und nur von Barnabas erfahren wir (vermittelt durch Olgas Erzählung) etwas über das Innere des Schlosses:8 [G]ewiss er [Barnabas] geht in die Kanzleien, aber sind die Kanzleien das eigentliche Schloss? Und selbst wenn Kanzleien zum Schloss gehören, sind es die Kanzleien, welche Barnabas betreten darf? Er kommt in Kanzleien, aber es ist doch nur ein Teil aller, dann sind Barrièren und hinter ihnen sind noch andere Kanzleien. Man verbietet ihm nicht geradezu weiterzugehn, aber er kann doch nicht weitergehn, wenn er seine Vorgesetzten schon gefunden hat, sie ihn abgefertigt haben und wegschicken. Man ist dort überdies immer beobachtet, wenigstens glaubt man es. Und selbst wenn er weiterginge, was würde es helfen, wenn er dort keine amtliche Arbeit hat und ein Eindringling wäre. Diese Barrieren darfst Du Dir auch nicht als eine bestimmte Grenze vorstellen, darauf macht mich auch Barnabas immer wieder aufmerksam. Barrieren sind auch in den Kanzleien, in die er geht, es gibt also auch Barrieren die er passiert und sie sehn nicht anders aus, als die, über die er noch nicht hinweggekommen ist und es ist auch deshalb nicht von vornherein anzunehmen, dass sich hinter diesen letzteren Barrieren wesentlich andere Kanzleien befinden, als jene in denen Barnabas schon war. […] Gewöhnlich wird Barnabas in ein grosses Kanzleizimmer geführt, aber es ist nicht Klamms Kanzlei, überhaupt nicht die Kanzlei eines Einzelnen. […] In eine Kanzlei darf er eintreten, aber es scheint nicht einmal eine Kanzlei, eher ein Vorzimmer der 7 8
Wie K. sagt: »die Behörde in ihrer unentwirrbaren Größe« (S 291). Barnabas’ Bericht beweist, dass das Schloss prinzipiell auch vom Dorf aus zugänglich ist. Es werden ja auch Dorfbewohner, wenn auch nur in einem komplizierten Auswahlverfahren, in den Schlossdienst aufgenommen (S 315f.); auch Jeremias, der Jugendfreund Friedas (S 392), wurde wohl so zum Schlossbediensteten.
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Kanzleien, vielleicht nicht einmal das, vielleicht ein Zimmer, wo alle zurückgehalten werden sollen, die nicht in die wirklichen Kanzleien dürfen (S 275, 280, 285f.).
Aber war Barnabas wirklich im Schloss? Wie das Zitat zeigt, war er nur in einer Kanzlei, vielleicht ja auch nur in einem »Vorzimmer«, oder gar nur in einem »Zimmer, wo alle zurückgehalten werden sollen, die nicht in die wirklichen Kanzleien dürfen«. Und selbst wenn Barnabas in den Kanzleien gewesen sein sollte: »Sind die Kanzleien das eigentliche Schloss«? 9 Sicher ist jedenfalls, dass Schloss und Dorf, trotz ihrer Bipolarität, ein geschlossenes System bilden.10 Beide sind schon topographisch – abseits der Landstraße gelegen, nur über eine Brücke erreichbar – vom Rest der Welt abgeschlossen; auch das Klima der Lokalität ist sehr eigen (und würde eigentlich nur zu einer Hochgebirgsregion passen).11 Fremde sind selten und werden nicht gerne gesehen. 12 Offensichtlich ist dieses weitgehend in sich geschlossene System eines von Herrschaft
Das Schloss bildet so den eigentlichen Rätselbereich des Romans – was für Kafkas Texte typisch ist. Keineswegs ist hier schlechterdings alles unverständlich; weite Areale von Kafkas Textwelten wirken lebensweltlich durchaus vertraut und sind von prinzipiell bekannten institutionellen Ordnungen, sozialen Regeln und psychologischen Verhaltensmechanismen bestimmt. Radikal unbestimmt bleiben so immer nur wohldefinierte Teilbereiche der fiktionalen Welten. 10 Vgl. die Aussage des Lehrers: »Zwischen den Bauern und dem Schloss ist kein Unterschied« (S 20); zu ergänzen wäre allerdings Olgas sicher ebenso richtige Einsicht: »Zwar heisst es, dass wir alle zum Schloss gehören und gar kein Abstand besteht und nichts zu überbrücken ist und das stimmt auch vielleicht für gewöhnlich, aber wir haben leider Gelegenheit gehabt, zu sehn, dass es gerade wenn es darauf ankommt, gar nicht stimmt« (S 309). 11 In Pepis Worten: »der Winter ist bei uns lang, ein sehr langer Winter und einförmig. […] in der Erinnerung […] scheint Frühjahr und Sommer so kurz, als wären es nicht viel mehr als zwei Tage und selbst an diesen Tagen […] fällt dann noch manchmal Schnee« (S 488). 12 »Gastfreundlichkeit ist bei uns nicht Sitte, wir brauchen keine Gäste« (S 24). 9
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und Abhängigkeit; allerdings zeigt seine Herrschaftsstruktur seltsam ambivalente Züge. Zu ihrer genaueren Bestimmung kann eines von Max Webers Hauptwerken verhelfen, das 1922, also etwa gleichzeitig mit der Entstehung des Schloss-Romans, postum erscheint. In Wirtschaft und Gesellschaft werden drei Typen von Herrschaft unterschieden: legale oder rationale, traditionale und charismatische Herrschaft.13 Die Terminologie, die Weber zur Beschreibung von traditionaler und rationaler (also auf juristischer Kodifizierung und Bürokratie beruhender) Herrschaft verwendet, findet sich in verblüffender Parallelität auch in Kafkas Roman, nur dass die beiden Typen dort in einer einzigen historischen Hybride verschränkt sind:14 Einerseits trägt die Herrschaft des Schlosses eindeutig traditionale, konkret: feudale oder quasi-feudale Züge; dafür sprechen schon allein Bezeichnungen wie »Schloss«, »Graf«, die »Herren oben« (S 424), der »Herrenhof«, »Kastellane« und »Unterkastellane«. Andererseits handelt es sich um eine hochmoderne, funktional ausdifferenzierte Bürokratie aus »Beamten«, »Sekretären« und »Dienern«, eine »Behörde«, »Ämter« mit »Bureaubetrieb« (S 439), eine »Organisation« (S 420), einen »behördlichen Apparat« (S 109), der sich mit den Anliegen von »Parteien« beschäftigt. Außerdem weist, wie ich noch zeigen werde, das Schloss-System mitunter auch charismatische Züge auf;15 diese beruhen, in der Definition Webers, auf als »außeralltäglich« geltenden Qualitäten von Persönlichkeiten und auf einer »aus Begeisterung oder Not und Hoffnung ge13 Vgl. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft (Grundriß der Sozialökono-
mik, 3. Abteilung), Tübingen: Mohr 1922, bes. 122-176: »Die Typen der Herrschaft« (1. Teil, Kap. 3). 14 Zu solchen Hybridbildungen und ihrer Funktion vgl. Manfred Engel: »Kafka und die moderne Welt«, in: ders. und Bernd Auerochs (Hg.): Kafka-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart, Weimar: Metzler 2010, 498-515, bes. 502-508. 15 Allerdings erfüllt charismatische Herrschaft hier nicht die Funktion, die Max Weber ihr zuschreibt, nämlich die der Aufsprengung traditional gegründeter Ordnungen. In Max Webers Sinn wäre also nur K. eine charismatische Figur – und als eine solche wird er von manchen Dorfbewohnern (wie Frieda, Olga, Pepi und Hans) ja auch angesehen.
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borenen gläubigen ganz persönlichen Hingabe« an diese Personen.16 Ich werde daher im Folgenden, in Abwandlung von Webers Terminologie, nur noch von zwei Herrschaftstypen sprechen, die sich im Dorf/Schloss-System auf eigentümliche Weise miteinander verbinden: einer bürokratisch-funktionalen und einer traditional-auratischen.
II.
Das Schloss und die Dorfbewohner
Bei allen Aussagen über die Dorfwelt ist zwischen Männern, Frauen und der Dorfgemeinschaft als Ganzem zu unterscheiden. Die Differenzen zwischen Männern und Frauen im Dorf sind unübersehbar: Ganz eindeutig sind Letztere die stärkeren Persönlichkeiten, die zugleich auch die Hauptarbeitslast tragen und dafür mit vorzeitigem Altern und physischer Schwäche zahlen – wie Gardena, die Brückenhofwirtin, Mizzi, die Frau des Vorstehers, die Frau von Otto Brunswick, die Mutter Gerstäckers. Ihre Beziehungen zum Schloss sind vor allem privatpersönlicher Natur. Die Männer dagegen vollziehen die bürokratischfunktionalen Seiten der Dorf-Schloss-Beziehung. Schon im ersten Kapitel heißt es, dass das Dorf »der Besitz des Schlosses« sei (S 8), was wohl meint, dass der gesamte Grund dem Grafen Westwest gehört. Die Herrschaft des Schlosses beruht also darauf, dass der Graf Grundherr und zugleich wichtigster Arbeitgeber ist: Bertuch, der Inhaber einer Handelsgärtnerei, liefert Gemüse ins Schloss (S 343); der Fuhrmann Gerstäcker bewirbt sich bei Dorfsekretär Erlanger um die Vergabe von Fuhren für den Bau eines Wartegebäudes (S 384); der Gemeinderat – unter Vorsitz des Dorfvorstehers, eines Bauern (S 96) – berät über die vom Schloss angeordnete Bestellung eines Landvermessers und legt (auch das ist offensichtlich möglich) Widerspruch dagegen ein (S 107109). Man veranstaltet ein Feuerwehrfest, für das das Schloss eine »Feuerspritze« (S 295) und »einige Trompeten« (S 299) spendiert hat. So weit, so normal und alltagsvertraut. Allenfalls verwundern die Überperfektion, die Überdimensionierung und die Modernität des bürokratischen Apparates, die alle kaum nötig scheinen, um ein so kleines Dorf zu verwalten. 16 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, s. Anm. 13, 140.
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Ganz anders ist das Verhältnis der Frauen zum Schloss, genauer: zu seinen Beamten. Wenn wir Olga glauben können – und vieles spricht dafür – dann »fehlt« es im »Verhältnis der Frauen zu den Beamten« »nie« »an Liebe« (S 310, auch S 311). Amalia ist hier nur die Ausnahme, die die Regel bestätigt. Frieda und vor allem Gardena belegen, dass diese Liebe freilich höchst einseitig ausfällt.17 Für die Beamten Sortini und Klamm geht es wohl nur um sexuelle Bedürfnisbefriedigung. Für die Frauen jedoch ist ihre Liebe, wie vor allem Gardena bezeugt (S 122136), ein absoluter Wert und ein bleibender, absoluter Bezugspunkt in ihrem ganzen Leben. Ihre bescheidenen Andenken an Klamm – eine »Photographie«, ein »Umhängetuch«, ein »Nachthäubchen aus zartem Spitzengewebe« (S 124, 122f.) – bewahrt Gardena wie Fetische auf. Von ihnen umgeben, liegt sie »friedlich da, alles Leid schien von ihr genommen zu sein« (S 123). Nur dreimal hat sie Klamm vor »über zwanzig Jahren« (S 127) zu sich gerufen – aber ohne dieses Erlebnis und die Erinnerung daran hätte sie »es wahrscheinlich keinen Tag hier ausgehalten« (S 126). Denn die Beziehung zu Klamm hat die zu ihrem Mann nicht nur nicht gefährdet, sondern diese recht eigentlich erst gestiftet und getragen (S 128-132). So seltsam uns das anmuten mag: Für Gardena ist ihre Beziehung zu Klamm so absolut, wie es einst nur die romantische Liebe war. Hier erweist sich die Schlossherrschaft als auratisch, als umgeben von einem absoluten Glanz. Das bestätigen auch die zahlreichen Mystifikationen um die Figur Klamms: seine »verschlafen träumerische Art« (S 286), seine gestaltwandlerische Unfassbarkeit (S 276-280), das von der Wirtin erteilte Verbot, seinen Namen auszusprechen (S 137).18
17 Es gibt freilich auch den umgekehrten Fall einer Liebe von Schloss-Män-
nern zu Dorf-Frauen – Brunswick zu seiner Frau, Schwarzer zur Lehrerin Gisa –, wo die Liebe ebenso absolut und unterwürfig zu sein scheint wie die der Dorf-Frauen zu den Beamten. Einige Andeutungen lassen vermuten, dass auch die Beziehung zwischen dem Herrenhofwirt und seiner Frau zu dieser Gruppe gehören könnte. 18 Das Gleiche gilt übrigens für den Namen des Grafen Westwest (S 20). Zur Mystifikation Klamms trägt auch der Vergleich mit einem Adler bei (S 90, 183f.).
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Ebenso völlig jenseits jeder nur bürokratisch-ökonomischen Funktion liegt die Bedeutung, die das Schloss für die Dorfgemeinschaft hat: Es konstituiert das Dorf erst als Gemeinschaft im emphatischen Sinne. Das wird besonders deutlich im Verhalten der Dorfgemeinschaft gegenüber der Familie Barnabas’. Amalias selbstbehauptende Verweigerung gilt den Dorfbewohnern – so unverständlich das für uns (wie für K.; S 303f.) auch sein mag – nicht nur als eine Unklugheit oder ein Vergehen, sondern als Bruch eines Tabus.19 Das machen die Formulierungen deutlich, die im Gespräch zwischen Olga und K. verwendet werden: Die Dorfbewohner haben »Ehrfurcht vor der Behörde« (S 288, 291); Amalias Tabuverstoß lässt sie um ihre »Reinheit« fürchten (S 322); Reden über den Tabuverstoß ist selbst ein Tabu, und zwar wegen »der Peinlichkeit der Sache« – solche »Dinge in den Mund zu nehmen scheuen« sich die Dorfbewohner (S 293); man zieht sich von der Familie zurück, »einfach um nichts von der Sache hören, nicht von ihr sprechen, nicht an sie denken, in keiner Weise von ihr berührt werden zu müssen« (S 329). Soweit zur eigentümlichen Hybridisierung von rational-bürokratischer und traditional-auratischer Herrschaft im Dorf-Schloss-System. Nur anmerken kann ich, dass an einigen Textstellen im Roman die Bürokratie selbst auratische Züge erhält, indem Entscheidungen aus ihr subjektlos zu emergieren scheinen: »als hätte der behördliche Apparat […] aus sich selbst heraus ohne Mithilfe der Beamten die Entscheidung getroffen« (S 109f.).20 19 Vgl. die einfache aber grundlegende Bestimmung, die Sigmund Freud in
seiner Schrift Totem und Tabu (1912/13) gibt: »Die Tabuverbote entbehren jeder Begründung; sie sind unbekannter Herkunft; für uns unverständlich, erscheinen sie jenen selbstverständlich, die unter ihrer Herrschaft stehen« (Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, in: Gesammelte Werke, hg. v. Anna Freud, Bd. 9, Frankfurt am Main: Fischer 1961, 27). 20 Vgl. auch die Aussagen des Vorstehers: »Äusserungen des Schlosses darf man nicht wortwörtlich hinnehmen« (S 118), »meistens vertreten sich die Beamten gegenseitig und es ist deshalb schwer die Zuständigkeit dieses oder jenes Beamten zu erkennen« (S 295, vgl. auch S 420). Auf andere Weise auratisiert wird die »Behörde« in Olgas Bericht und Bürgels Mono-
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III.
Der Landvermesser K. und das Schloss
Ganz offensichtlich ist K. ein Fremder in der Dorf-Schloss-Welt – er kommt von außen und versteht die Regeln des Systems nicht. Wenn das Schloss als eine Hybride zwischen funktionaler Moderne und einer traditional-auratischen Ordnung mit Ausrichtung auf einen absoluten Bezugspunkt erscheint (der aber nicht mehr Teil einer religiösen Ordnung ist), so ist K. demgegenüber ein eindeutig moderner Mensch. Nicht umsonst ist Freiheit sein immer wieder beschworener Zentralwert: »Ich will immer frei sein«, bekennt er gleich im ersten Kapitel (S 14). Darin ist er Amalia verwandt, die sich freilich in ihrer Aufopferung für die von zuvor ins Unglück gebrachten Eltern auch signifikant von ihm unterscheidet. Denn K. ist in radikalem Sinne a-sozial und ebenso rücksichts- wie skrupellos. Modern ist auch sein Insistieren auf einer Trennung des amtlichen und des privaten Bereiches. Dass die traditionale Dorfordnung diese Trennung nicht kennt, sieht K. sehr wohl: »Nirgends noch hatte K. Amt und Leben so verflochten gesehen wie hier« (S 94). Eben das aber macht ihm Angst: »Die Behörden«, so klagt er, »verlegten« den »Kampf« »in das ausseramtliche, völlig unübersichtliche, trübe, fremdartige Leben« (S 93). Was also will dieser moderne Fremdling im Dorf, was will er im und vom Schloss? Ich wies bereits darauf hin, dass sein Bewusstsein für uns in diesem Punkt völlig intransparent bleibt. Wir werden also TextIndizien interpretieren müssen. Das wichtigste dieser Indizien scheint mir eine Kindheitsreminiszenz zu sein, die schon allein dadurch ausgezeichnet ist, dass sie die einzige ausführliche Erinnerung K.’s an sein Leben vor dem Dorfeintritt darstellt. Nicht umsonst drängt sie sich ihm durch eine zufällige Assoziation auf, als er – neben Barnabas einhergehend und in der Hoffnung, mit diesem ins Schloss zu gelangen – zu angestrengt ist, um seine Gedanken kontrollieren zu können: log, da sie hier – in Annäherungen an die Bildlichkeit des Process und seiner Gerichtswelt – als Ort des Gesetzes erscheint. So spricht etwa Olga von »Schlossgesetzen« (S 348), Bürgel von den »geheimen Wegen des Rechtes«, die die Schlossbeamten besser kennten »als alle die advokatorischen Herrschaften« (S 418).
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Durch die Mühe, welche ihm das blosse Gehn verursachte, geschah es, dass er seine Gedanken nicht beherrschen konnte. Statt auf das Ziel gerichtet zu bleiben, verwirrten sie sich. Immer wieder tauchte die Heimat auf und Erinnerungen an sie erfüllten ihn. Auch dort stand auf dem Hauptplatz eine Kirche, zum Teil war sie von einem alten Friedhof und dieser von einer hohen Mauer umgeben. Nur sehr wenige Jungen hatten diese Mauer schon erklettert, auch K. war es noch nicht gelungen. Nicht Neugier trieb sie dazu, der Friedhof hatte vor ihnen kein Geheimnis mehr, durch seine kleine Gittertür waren sie schon oft hineingekommen, nur die glatte hohe Mauer wollten sie bezwingen. An einem Vormittag – der stille leere Platz war von Licht überflutet, wann hatte K. ihn je, früher oder später, so gesehn? – gelang es ihm überraschend leicht; an einer Stelle wo er schon oft abgewiesen worden war, erkletterte er, eine kleine Fahne zwischen den Zähnen, die Mauer im ersten Anlauf. Noch rieselte Gerölle unter ihm ab, schon war er oben. Er rammte die Fahne ein, der Wind spannte das Tuch, er blickte hinunter und in die Runde, auch über die Schulter hinweg auf die in der Erde versinkenden Kreuze, niemand war jetzt und hier grösser als er. Zufällig kam dann der Lehrer vorüber, trieb K. mit einem ärgerlichen Blick hinab, beim Absprung verletzte sich K. am Knie, nur mit Mühe kam er nachhause, aber auf der Mauer war er doch gewesen, das Gefühl dieses Sieges schien ihm damals für ein langes Leben einen Halt zu geben, was nicht ganz töricht gewesen war, denn jetzt nach vielen Jahren in der Schneenacht am Arm des Barnabas kam es ihm zuhilfe. (S 49f.)
K.’s Motivation für die Mauerbesteigung ist dem Text in einer unrealistisch-komischen – und eben dadurch als semiotisch relevant markierten – Verfremdung eingeschrieben: Mit der »kleinen Fahne zwischen den Zähnen«, die er, auf der Mauer angelangt, oben »einrammt«, benimmt er sich wie ein veritabler Gipfelstürmer – und sein Ziel ist genau das Gleiche: Es geht ihm nur darum, eine höchst schwierige Tat zu vollbringen – »die glatte hohe Mauer« will er »bezwingen« –, um daraus Selbstwertgefühl und Selbststeigerung zu gewinnen: »niemand war jetzt und hier größer als er«. Der Blick auf die »in der Erde versinkenden Kreuze« mag – auch das ist eine K. unbewusst bleibende Komisierung seines Tuns – auf den angestrebten unsterblichen Ruhm hindeuten, den
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vielleicht ein Gipfelsturm einbringen könnte, sicher aber nicht eine Mauerersteigung. Selbstwertsteigerung aber bringt dieses Erfolgserlebnis, trotz seines schmählichen Endes – der Vertreibung durch den Lehrer, der Verletzung beim Absprung – sehr wohl, wie der letzte Satz des Zitates beweist. Es scheint mir naheliegend, in dieser Kindheitserinnerung auch die Schlüsselmotivation für K.’s rätselhaftes Schlossstreben zu sehen: Wie für die Dorfbewohner ist auch für ihn das Schloss eine absolute Größe – anders als sie will er diese aber im Kampf (ein zweites Leitwort K.’s) bezwingen; Klamm ist dabei nur Mittel zum Zweck. Wie es im Text heißt: K. will an Klamm »herankommen« – »nur er, kein anderer mit seinen, mit keines andern Wünschen« –, aber »nicht um bei ihm zu ruhen sondern um an ihm vorbeizukommen, weiter, ins Schloss« (S 176). Die Dorfbewohner wollen nicht ins Schloss – der Schlosskontakt ist Teil ihres Lebens.21 K. will dorthin, und zwar durch den Sieg in einem amtlichen Kampf, der möglichst frei sein soll von allen privaten Verwicklungen.22 An diesen Unterschieden zeigt sich sehr deutlich, welche funktionalen Kontinuitäten, aber auch Veränderungen das Konzept eines absoluten Bezugspunktes im Übergang von einer traditionalen zu einer modernen Weltordnung erfahren hat: Für die Dorfbewohner begründet der Schlossbezug ihre Gemeinschaft, für die Frauen ist er letzter Sinn für ihr Leben, ein ferner Glanz, der die Mühen des Alltags überzieht – für K. aber nur noch Mittel zum Zweck der äußersten IchBehauptung und Ich-Steigerung.
21 Die einzige Ausnahme bildet die Familie Barnabas’ – das aber natürlich aus
besonderen und leicht nachvollziehbaren Gründen. K. erkennt die Verwandtschaft, die dies zwischen ihm und der Familie stiftet, durchaus: »Irgendetwas besonderes hat Euere Familie auch für mich« (S 316); in einer gestrichenen Passage schreibt er der Familie seine eigene Motivation zu »Euch fällt offenbar nichts anderes zur Last, als dass ihr weiterstrebt als die andern; […] um Euch nicht bewundern zu müssen, verachtet man Euch« (S App. 356). 22 In die K. allerdings immer mehr hineingetrieben wird, da durch Frieda sein Verhältnis zu Klamm ja auch ein privates ist – und er dies gezielt als Mittel zum Zweck ausnützen will.
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Diese Deutung von K.’s Schloss-Streben lässt sich durch die beiden Textpassagen stützen, die ihn in der Betrachtung des Schlosses zeigen:23 (1) Nun sah er oben das Schloss deutlich umrissen in der klaren Luft und noch verdeutlicht durch den alle Formen nachbildenden, in dünner Schicht überall liegenden Schnee. Übrigens schien oben auf dem Berg viel weniger Schnee zu sein als hier im Dorf, wo sich K. nicht weniger mühsam vorwärtsbrachte als gestern auf der Landstrasse. Hier reichte der Schnee bis zu den Fenstern der Hütten und lastete gleich wieder auf dem niedrigen Dach, aber oben auf dem Berg ragte alles frei und leicht empor, wenigstens schien es so von hier aus. Im Ganzen entsprach das Schloss, wie es sich hier von der Ferne zeigte, K.’s Erwartungen. Es war weder eine alte Ritterburg, noch ein neuer Prunkbau, sondern eine ausgedehnte Anlage, die aus wenigen zweistöckigen, aber aus vielen eng aneinanderstehenden niedrigern Bauten bestand; hätte man nicht gewusst dass es ein Schloss ist, hätte man es für ein Städtchen halten können. Nur einen Turm sah K., ob er zu einem Wohngebäude oder einer Kirche gehörte war nicht zu erkennen. Schwärme von Krähen umkreisten ihn. Die Augen auf das Schloss gerichtet, gieng K. weiter, nichts sonst kümmerte ihn. Aber im Näherkommen enttäuschte ihn das Schloss, es war doch nur ein recht elendes Städtchen, aus Dorfhäusern zusammengetragen, ausgezeichnet nur dadurch, dass vielleicht alles aus Stein gebaut war, aber der Anstrich war längst abgefallen, und der Stein schien abzubröckeln. Flüchtig erinnerte sich K. an sein Heimatstädtchen, es stand diesem angeblichen Schlosse kaum nach, wäre es K. nur auf die Besichtigung angekommen, dann wäre es schade um die lange Wanderschaft gewesen und er hätte vernünftiger gehandelt, wieder einmal die alte Heimat zu besuchen, wo er schon so lange nicht gewesen war. Und er verglich in 23 Zu ergänzen wäre die kurze Textstelle vom Romananfang – »Vom Schloss-
berg war nichts zu sehn, Nebel und Finsternis umgaben ihn, auch nicht der schwächste Lichtschein deutete das grosse Schloss an. Lange stand K. auf der Holzbrücke die von der Landstrasse zum Dorf führt und blickte in die scheinbare Leere empor« (S 7) –, die deutlich macht, dass K. mit einem Vorwissen von der Existenz des Schlosses ins Dorf kam, also den Kampf gezielt gesucht hat.
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Gedanken den Kirchturm der Heimat mit dem Turm dort oben. Jener Turm, bestimmt, ohne Zögern, geradenwegs nach oben sich verjüngend, breitdachig abschliessend mit roten Ziegeln, ein irdisches Gebäude – was können wir anderes bauen? – aber mit höherem Ziel als das niedrige Häusergemenge und mit klarerem Ausdruck als ihn der trübe Werktag hat. Der Turm hier oben – es war der einzige sichtbare –, der Turm eines Wohnhauses, wie sich jetzt zeigte, vielleicht des Hauptschlosses, war ein einförmiger Rundbau, zum Teil gnädig von Epheu verdeckt, mit kleinen Fenstern, die jetzt in der Sonne aufstrahlten – etwas Irrsinniges hatte das – und einem söllerartigen Abschluss, dessen Mauerzinnen unsicher, unregelmässig, brüchig wie von ängstlicher oder nachlässiger Kinderhand gezeichnet sich in den blauen Himmel zackten. Es war wie wenn irgendein trübseliger Hausbewohner, der gerechter Weise im entlegensten Zimmer des Hauses sich hätte eingesperrt halten sollen, das Dach durchbrochen und sich erhoben hätte, um sich der Welt zu zeigen. Wieder stand K. still, als hätte er im Stillestehn mehr Kraft des Urteils. (S 16-18) (2) Das Schloss, dessen Umrisse sich schon aufzulösen begannen, lag still wie immer, niemals noch hatte K. dort das geringste Zeichen von Leben gesehn, vielleicht war es gar nicht möglich aus dieser Ferne etwas zu erkennen und doch verlangten es die Augen und wollten die Stille nicht dulden. Wenn K. das Schloss ansah, so war ihm manchmal, als beobachte er jemanden, der ruhig dasitze und vor sich hinsehe, nicht etwa in Gedanken verloren und dadurch gegen alles abgeschlossen, sondern frei und unbekümmert; so als sei er allein und niemand beobachte ihn; und doch musste er merken, dass er beobachtet wurde, aber es rührte nicht im Geringsten an seine Ruhe und wirklich – man wusste nicht war es Ursache oder Folge – die Blicke des Beobachters konnten sich nicht festhalten und glitten ab. Dieser Eindruck wurde heute noch verstärkt durch das frühe Dunkel, je länger er hinsah, desto weniger erkannte er, desto tiefer sank alles in Dämmerung. (S 156f.)
Die Zitate bedürften einer ausführlichen Interpretation, die ich hier nicht leisten kann. Stattdessen konzentriere ich mich auf einen, allerdings zentralen Aspekt: Beide Passagen sind voller Perspektivsignale.
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K. beobachtet hier das Objekt seines Begehrens und artikuliert dabei sein Begehren selbst. Dies geschieht mit der für Kafkas Perspektivtechnik charakteristischen Überschreitung der Bewusstseinsgrenzen der Perspektivfigur, also ohne dass K. die Implikationen seines Denkens selbst begreifen kann.24 Beim ersten Zitat beschränke ich mich auf die rätselhafte Turmpassage. Im Vergleich mit dem Kirchturm in K.’s Heimatstadt schneidet der Schlossturm schlecht ab: Der Kirchturm strebt »geradenwegs nach oben sich verjüngend« ins Vertikale – auch das eine Ausrichtung auf ein absolutes, hier noch eindeutig religiöses Ziel. Aber er schließt »breitdachig« und markiert so zugleich die Grenze dieses Strebens: »ein irdisches Gebäude – was können wir anderes bauen? – aber mit höherem Ziel als das niedrige Häusergemenge und mit klarerem Ausdruck als ihn der trübe Werktag hat«. Der säkulare Schlossturm dagegen ist ein »einförmiger Rundbau« und hat einen »söllerartigen Abschluss«, dessen »Mauerzinnen« sich »unsicher« und »brüchig« »in den blauen Himmel zackten« – hier ist das Vertikalstreben also schon durch seine architektonische Umsetzung als problematisch ausgewiesen. Den darauf folgenden Vergleich mit einem sich erhebenden »trübseligen Hausbewohner« lese ich daher als unverstandene Selbstcharakteristik und unbewusste Selbstkritik von K.’s skrupel- und maßlosem Schlossstreben als einem Streben nach absoluter Selbsterhebung. Im zweiten Zitat findet sich eine formal sehr ähnlich gestaltete Passage. Wiederum handelt es sich um einen eigenwilligen Vergleich: Das Schloss wird mit einem Menschen verglichen, der »frei und unbeküm24 Ich demonstriere das ständige Wechselspiel von Semiotisierung und De-
mentierung der Sehnsüchte K.’s nur an zwei Beispielen: Wenn die Welt des Schlosses K. im ersten Zitat, mit deutlichem Perspektivsignal, als »frei und leicht« erscheint, so verweist dies natürlich auf seine Sehnsucht nach einer freien und leichten Existenz. Wird im gleichen Zitat der kategoriale Unterschied zwischen Dorf und Schloss aufgehoben, – »hätte man nicht gewusst dass es ein Schloss ist, hätte man es für ein Städtchen halten können« –, so wird ein zentrales Ziel von K.’s Schloss-Streben widerlegt: Das Schloss ist also kein ganz anderer, kategorisch vom Dorf unterschiedener Raum, Leben im Schloss (besser wohl: mit dem Schloss) wäre nur eine andere Variante gemeinschaftlichen Lebens.
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mert« dasitzt, »so als sei er allein und niemand beobachte ihn«, und der eben deswegen in der Tat den Blicken des Beobachters K. entgeht. Wiederum lese ich diese Stelle als dessen Projektion, diesmal nicht als unbewusste Selbstkritik, sondern als Entwurf der mit seinem SchlossStreben verbundenen Idealvorstellung einer splendid isolation in freier Selbstherrlichkeit. Dass diese kritisch zu sehen ist, verdeutlichen gleich mehrere Romanstellen – etwa die folgende Beschreibung des leeren Sieges, den K. über den Sekretär Momus errungen hat: So blieb er still, als einziger der den Platz behauptete, aber es war ein Sieg, der keine Freude machte. […] da schien es K. als habe man nun alle Verbindung mit ihm abgebrochen und als sei er nun freilich freier als jemals und könne hier auf dem ihm sonst verbotenen Ort warten solange er wolle und habe sich diese Freiheit erkämpft wie kaum ein anderer es könnte und niemand dürfe ihn anrühren oder vertreiben, ja kaum ansprechen, aber – diese Überzeugung war zumindest ebenso stark – als gäbe es gleichzeitig nichts Sinnloseres, nichts Verzweifelteres als diese Freiheit, dieses Warten, diese Unverletzlichkeit. (S 168f.)
Weitere Belegstellen wären etwa der verführerisch duftende Cognac in Klamms Schlitten, der sich bei seinem Genuss in ein bloßes Kutschergetränk verwandelt (S 164); das Erlebnis der Leere nach K.’s mühelosem Traumsieg über den »griechischen Gott« (S 416); die dunkle Ahnung, die K. bei der Heimkehr von seinem ersten vergeblichen SchlossGang befällt: Das Schloss dort oben, merkwürdig dunkel schon, das K. heute noch zu erreichen gehofft hatte, entfernte sich wieder. Als sollte ihm aber noch zum vorläufigen Abschied ein Zeichen gegeben werden, erklang dort ein Glockenton, fröhlich beschwingt, eine Glocke, die wenigstens einen Augenblick lang das Herz erbeben liess, so als drohe ihm – denn auch schmerzlich war der Klang – die Erfüllung dessen, wonach er sich unsicher sehnte. (S 29)
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Wenn man ein absolutes Ziel wirklich erreicht hätte, gäbe es eben kein Ziel mehr – dann bliebe nur völlige Leere. Zwar wird K. von einigen Dorfbewohnern (Amalia, Olga, Pepi, Frieda, Hans), aber auch von Bürgel als eine potentielle Erlöserfigur angesehen, als jemand, der sie aus der Enge und den Bindungen der Dorf-Schloss-Welt befreien könnte – was seinem leeren Schloss-Streben Inhalt und Sinn verleihen würde. In einer (gestrichenen) Romanpassage erklärt K. aber ausdrücklich: Er war nicht gekommen, um jemandem Glück zu bringen, es stand ihm frei, aus eigenem Willen auch zu helfen wenn es sich traf, aber niemand sollte ihn als Glückbringer begrüssen; wer das tat, verwirrte seine Wege, nahm ihn für Dinge in Anspruch, für die er, so gezwungen, niemals zur Verfügung stand (S App. 369).
Eine Erlöserfunktion würde nicht nur K.’s Freiheit einschränken, sondern auch die Grenze zwischen amtlich und privat, zwischen modern-individuell und traditional-gemeinschaftsbezogen aufheben, auf deren Bewahrung K. besteht.
IV. »Letztes Glück«? Gibt es also wirklich gar keine Vermittlung zwischen dem modernen K. und dem traditionalen Lebensmodell der Dorfgemeinschaft? Ich denke doch – zumindest als Andeutung einer Möglichkeit, die K. allerdings nicht dauerhaft ergreifen kann. Diese Möglichkeit illustrieren die zwei Beschreibungen körperlicher Liebe im Roman, an denen Stellen-suchende Leser freilich wenig Freude hätten: (1) sie [K. und Frieda] umfassten einander, der kleine Körper brannte in K.’s Händen, sie rollten in einer Besinnungslosigkeit, aus der sich K. fortwährend aber vergeblich zu retten suchte, paar Schritte weit, schlugen dumpf an Klamms Tür und lagen dann in den kleinen Pfützen Bieres und dem sonstigen Unrat, von dem der Boden bedeckt war. Dort vergiengen Stunden, Stunden gemeinsamen Atems, gemeinsamen Herzschlags, Stunden, in denen K. immerfort das Gefühl hatte, er verirre sich oder er sei soweit in der Fremde, wie vor ihm noch kein Mensch, eine Fremde, in
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der selbst die Luft keinen Bestandteil der Heimatluft habe, in der man vor Fremdheit ersticken müsse und in deren unsinnigen Verlockungen man doch nichts tun könne als weiter gehn, weiter sich verirren. […] K. wollte dagegen sprechen, wollte sie [Frieda] drängen zu Klamm zu gehn, begann die Reste ihrer Bluse zusammenzusuchen, aber er konnte nichts sagen, allzu glücklich war er Frieda in seinen Händen zu halten, allzu ängstlich-glücklich auch, denn es schien ihm, wenn Frieda ihn verlasse, verlasse ihn alles, was er habe. […] ›Sieh aber, wie die zwei lachen.‹ ›Wer?‹ fragte K. und wandte sich um. Auf dem Pult sassen seine beiden Gehilfen, ein wenig übernächtig, aber fröhlich, es war die Fröhlichkeit, welche treue Pflichterfüllung gibt. ›Was wollt Ihr hier‹, schrie K. als seien sie an allem schuld, er suchte ringsherum die Peitsche, die Frieda abend gehabt hatte. ›Wir mussten Dich doch suchen‹, sagten die Gehilfen, ›da Du nicht herunter zu uns in die Wirtsstube kamst, wir suchten Dich dann bei Barnabas und fanden Dich endlich hier, hier sitzen wir die ganze Nacht. Leicht ist ja der Dienst nicht.‹ (S 68f.) (2) weil der Sessel gleich neben dem Bette stand, schwankten sie [K. und Frieda] hinüber und fielen hin. Dort lagen sie, aber nicht so hingegeben wie damals in der Nacht. Sie suchte etwas und er suchte etwas, wütend, Grimmassen schneidend, sich mit dem Kopf einbohrend in der Brust des andern suchten sie und ihre Umarmungen und ihre sich aufwerfenden Körper machten sie nicht vergessen, sondern erinnerten sie an die Pflicht zu suchen, wie Hunde verzweifelt im Boden scharren so scharrten sie an ihren Körpern und hilflos enttäuscht, um noch letztes Glück zu holen, fuhren manchmal ihre Zungen breit über des andern Gesicht. Erst die Müdigkeit ließ sie still und einander dankbar werden. Die Mägde kamen dann auch herauf, »sieh, wie die hier liegen«, sagte eine und warf aus Mitleid ein Tuch über sie (S 75).
Die beiden Szenen sind nur durch wenige Stunden getrennt – und doch fällt der zweite Liebesakt deutlich unbefriedigender aus als der erste: »Nicht so hingegeben wie damals in der Nacht« sind Frieda und K. hier; »verzweifelt«, »wie Hunde« suchen sie nach etwas, was sie in ihren Körpern nicht finden, nach einem »letztem Glück«. Das lässt darauf schließen, dass sie dieses Glück in ihrem ersten Liebesakt tatsächlich
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gefunden hatten. Und obwohl in der Beschreibung der Szene vor allem K.’s (ähnlich schon von Karl Rossmann geäußerte) 25 Angst, in der sexuellen Ekstase das eigene Ich in einer grenzenlosen »Fremde« zu verlieren, artikuliert wird (S 69), ist dort in der Tat auch von den unwiderstehlichen »Verlockungen« dieser Vereinigung die Rede – und auch davon, dass K. »allzu glücklich war«, »Frieda in seinen Händen zu halten«, sodass er es nicht vermochte, sie zu Klamm zurückzuschicken. Wie erklärt sich dieser Unterschied zwischen den beiden Liebesakten? Mein – durchaus kühner – Deutungsvorschlag wäre: durch die virtuelle Anwesenheit Klamms als des von beiden präsent gewussten Dritten und durch die tatsächliche Anwesenheit von Jeremias und Artur, den Gehilfen, die voyeuristisch zuschauen. Ich lese die Szene so als nur einmal glückende Synthese dreier Elemente: Da sind erstens, natürlich, die Liebenden selbst – und damit das von K. perhorreszierte private und gemeinschaftliche Leben in »Stunden« »gemeinsamen Atems, gemeinsamen Herzschlags«. Da ist, zweitens, Klamm als absoluter Bezugspunkt der Beziehung. Und da sind, drittens, die Gehilfen, die (so berichtet es Jeremias, und wir haben keinen Grund daran zu zweifeln) K. vom Schloss geschickt wurden, um den ihn beherrschenden Geist der Schwere zu vertreiben: »Das Wichtigste aber ist«, so ihr Auftrag, »dass Ihr ihn ein wenig erheitert. Wie man mir berichtet, nimmt er alles sehr schwer« (S 367f.). Darin sind die Gehilfen übrigens unmittelbare Nachfahren der zwei Bälle und der zwei Praktikanten aus dem Fragment Blumfeld, ein älterer Junggeselle. Das dritte Element wäre also: Fröhlichkeit, Heiterkeit, selbst- und Schloss-vergessene Sinnlichkeit und Sexualität. In dem Augenblick, in dem sich diese drei Elemente vereinigen, ist K. an einem Ziel angekommen, das einen unendlich größeren Wert hat als das des Schlosses, auf das er zu Friedas und seinem eigenen Unglück fixiert bleibt. Aber vielleicht kann eine solche Integration ja nur in einem glücklichen Moment gelingen.
25 »Ihm [Karl] war als sei sie [das Dienstmädchen Johanna Brummer] ein Teil
seiner selbst und vielleicht aus diesem Grunde hatte ihn eine entsetzliche Hilfsbedürftigkeit ergriffen« (V 43).
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V.
Das Schloss als »selbstbiographische Untersuchung«
Ich hatte bereits angedeutet, dass ich den Roman als Teil des – im Konvolut 1920 einsetzenden und Kafkas spätestes Werk nachhaltig prägenden – Projektes »selbstbiographischer Untersuchungen« lese, zu dem etwa auch die Fragmente Forschungen eines Hundes und Der Bau und die Erzählungen des Hungerkünstler-Bandes gehören. Nicht um »Biographie«, so Kafka, gehe es ihm in dieser Rückkehr zu der Erzählung von Lebensgeschichten, die schon die erste Phase seines mittleren Werkes – also etwa das Urteil, die Verwandlung, den Verschollenen – bestimmt hatte, sondern um »Untersuchung und Auffindung möglichst kleiner Bestandteile« (NSF II 373), also um Einzelaspekt-orientierte Betrachtungen. Im Schloss wären das Variationen über die Konstellation traditionsfundierte Gemeinschaft versus modernes Individuum – ein, genrebedingt, weiter thematischer Rahmen, der aber durch die Erzählung vieler kleiner Geschichten ausgefüllt wird, die ganz unterschiedliche Lebensmöglichkeiten entwerfen. Mit einer Rückkehr zur Individualpsychologie, die, trotz aller Verfremdungen und Verallgemeinerungen, in Urteil und Verwandlung durchaus noch fundierend ist, hat Kafkas spätes Erzählen freilich nichts zu tun. K.’s Jugenderlebnis ist ja keine individualpsychologische Erklärung seines Schloss-Strebens, da der jugendliche Mauersturm hier nur beschrieben, nicht aber erklärend motiviert wird (etwa durch frühkindliche Prägungen, die Familienkonstellation, etc.). Vielmehr geht es Kafka – im Schloss wie im spätesten Werk überhaupt – um eine Fortsetzung des zugleich anthropologischen wie zeitdiagnostischen Projektes der Zürauer Aphorismen, nun aber eben ohne traditionelle mythische Formeln und ohne metaphysischen Gestus. Das Schloss ließe sich durchaus biographisch lesen, etwa als kritische Analyse des eigenen Lebensbankrottes durch die absolute Fixierung auf das Schreiben. Eine solche Lektüre wäre nicht einfach falsch, sondern nur zu eng gefasst, wie das biographische Lektüren bei Kafka ja immer sind. Was Kafka – wie stets: ausgehend von der eigenen Biographie – im Schloss entwirft, sind anthropologische Meditationen im Medium der Literatur über die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten geglückten Lebens.
WAHRNEHMUNG VON RÄUMEN
UND
DEUTUNG
Kafkas Architekturen – Das Schloss G ERHARD N EUMANN
›Lass die Deutungen!‹, sagte K. (S 324)
I. 1922, zwei Jahre vor seinem Tod, beendet Franz Kafka die Arbeit an seinem Roman Das Schloss, der Fragment bleibt. Schon vor Beginn der Arbeit daran hatten sich Zweifel an dessen Abschluss eingestellt – genau wie es zuvor bei dem Verschollenen und beim Process geschehen war. Aus diesem Bewusstsein möglichen Scheiterns auch des geplanten Schloss-Projekts heraus notiert sich Kafka am 18. Januar 1922 ins Tagebuch: Ein Augenblick Denken: Gib Dich zufrieden, lerne (lerne 40 jähriger) im Augenblick zu ruhn (doch, einmal konntest Du es). Ja im Augenblick, dem schrecklichen. Er ist nicht schrecklich, nur die Furcht vor der Zukunft macht ihn schrecklich. Und der Rückblick freilich auch. Was hast Du mit dem Geschenk des Geschlechtes getan? Es ist misslungen, wird man schliesslich sagen, das wird alles sein. Aber es hätte leicht gelingen können. Freilich eine Kleinigkeit und nicht einmal erkennbar, so klein ist sie, hat es entschieden. Was findest Du daran? Bei den grössten Schlachten der Weltgeschichte ist es so gewesen. Die Kleinigkeiten entscheiden über die Kleinigkeiten. (Tb 879)
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»Was hast Du mit dem Geschenk des Geschlechtes getan«: Im Blick auf das Lebensganze, im Vorblick und Rückblick zugleich, gesteht sich Kafka das Scheitern seines Lebensplanes, seines Leben-Erzählens ein. Er beklagt das nicht gelebte Leben, wie er das nicht erzählte Leben beklagt: die versäumte éducation sentimentale, wenn man es mit dieser flaubertschen Formel ausdrücken will. Er moniert das doppelte Scheitern der Berufskarriere wie das des erotischen Lebenslaufs; ein Umstand und Monitum, das schon die erste große Erzählung zum Gegenstand gemacht hatte, nämlich Das Urteil. Das Scheitern dieser so glänzend erscheinenden Karriere, wie der Brief an den Petersburger Freund sie entwirft, wird dadurch offenbar, dass Georg Bendemann diesen Brief, als er den Tod des Ertrinkens erleidet, in der Tasche seines Jacketts in das Wasser mitnimmt – als eine nie ihren Bestimmungsort findende Flaschenpost sozusagen. Der Lebensplan geht mit ihm unter. Die literarische Form, die Kafka zur Wiedergabe dieses Gelingens oder Scheiterns der Lebens- wie der Schreibkarriere vorgeschwebt hat, war von Anfang an offenbar die des Bildungsromans, wie ihn das 19. Jahrhundert hervorgebracht und zu Ende kultiviert hatte. Wie sehr diese Idee des Bildungsromans – in seiner Negativ-Form, wie Gustave Flaubert ihr Weltgeltung verschafft hat, aber auch in ihrem Optimismus in Form des Auswandererromans, dessen Held die Neue Welt erobern möchte – Kafka in ihrem Bann hält, zeigt ein Brief vom 4./5. Dezember 1912 an Felice Bauer, zwei Monate nach der Niederschrift von Das Urteil. Kafka schreibt: Liebste ich lese nämlich höllisch gerne vor, in vorbereitete und aufmerksame Ohren der Zuhörer zu brüllen, tut dem armen Herzen so wohl […] Weisst Du, Menschen kommandieren oder wenigstens an sein Kommando zu glauben – es gibt kein grösseres Wohlbehagen für den Körper. Als Kind – vor paar Jahren war ich es noch – träumte ich gern davon, in einem grossen mit Menschen angefüllten Saal – […] die ganze Education sentimentale ohne Unterbrechung soviel Tage und Nächte lang, als sich für notwendig ergeben würde, natürlich französisch (o du meine liebe Aussprache!) vorzulesen, und die Wände sollten widerhallen. (Briefe 1900-1912 298)
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So ist denn auch Kafkas erster größerer literarischer Plan, der im Tagebuch auftaucht, ein (offenbar autobiographisch eingefärbter) Bildungsroman mit dem – nicht von Kafka stammenden – Titel Der kleine Ruinenbewohner.1 Hier wird der Bildungsgedanke zwischen Stadtarchitektur und rousseauschem Natur-Paradies platziert. Es ist ganz offensichtlich, dass Kafka die beiden komplementär gedachten Modelle des Bildungsroman-Erzählens, organisches Wachstum und architekturale Konstruktion als der Weg aus der Natur in die Kultur, hier zugleich aufruft. Es gibt im Tagebuch sechs Anläufe, dieses Romanprojekt in Gang zu bringen – und sechsmal gerät der (fast identische) Anlauf ins Stocken (Tb 18-28). Dieses Spiel von geprobtem Anfang und stockendem Fortgang oder gar ausbleibendem Ende wiederholt sich dann in den drei Romanprojekten, an denen Kafka im Lauf seines Lebens laboriert. Sie sind als Teilstücke eines einzigen Bildungsromans anzusehen. Der Protagonist des Verschollenen ist ein sechzehnjähriger Pubertierender, der mit einem sexuellen Trauma in der neuen Welt landet, eine paradigmatische Ankunft in Szene setzt und als Abenteurer seinen Weg in die Identität des amerikanischen Bürgers zu finden hofft; da ist Josef K. im Process, der als Bankbeamter an seinem dreißigsten Geburtstag durch seine unverhoffte Verhaftung einen Schock erlebt, der ihn an der juristischen wie sozialen Institution, der er selbst angehört, irre werden und zuletzt den Tod finden lässt; und da ist K., der Protagonist des Schloss-Romans, nunmehr schon »in den Dreissigern« (S 11), der seine Familie verlassen hat und ein zweites, geglücktes, durch eine neue Heirat zu markierendes Leben zu finden vermeint: und zwar als Landvermesser – das heißt aber: als Repräsentant eines topischen Wissens, das am Anfang ältester Kulturen aufkommt –; also als derjenige, dem die Vermessung der Grundstücke obliegt, auf denen die Architektur den gegliederten Raum sozialen Lebens zu errichten und auszustatten vermag. Nimmt man, wie angedeutet, diese drei geprobten Anfänge als drei Stufen und Krisen eines einzigen imaginären Bildungsromans, so wird man gewahr, dass der Verschollene im Zeichen des sich in der Zeit und im Raum herstellenden Subjekts zu denken ist, als Integration des le1
»Ich hätte der kleine Ruinenbewohner sein sollen, horchend ins Geschrei der Dohlen, von ihren Schatten überflogen« (Tb 19f.). Die Dohle ist das Emblem der Kafka-Familie.
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bendigen Körpers in die Menschengemeinschaft; dass der Process-Roman den Fokus auf die Organisationen und Institutionen richtet, durch die solche Integration in die Menschengemeinschaft geregelt wird; und dass schließlich Das Schloss, der Schloss-Roman, diese zu ermöglichende Sozialisation ins Zeichen der Architektur stellt: ihre konstruktive Kraft thematisiert, die dort wirksam wird, wo die Erwartung des Ankommenden mit dem aus dem Fremden dieser neuen Welt ihm Entgegenkommenden in Konflikt gerät. Individuation, Institution und Architektur sind also die drei (aus dem Modell des Bildungsromans herauspräparierten) Dispositive, mit deren Hilfe Kafka sein Leben-Erzählen zu verwirklichen sucht.
II. Nach diesen Vorüberlegungen möchte ich nun meine Aufmerksamkeit dem Schloss-Roman Kafkas zuwenden. Es ist der Roman einer geprobten Ankunft (als eines geprobten Aufbruchs zugleich), wie sie viele Bildungsromane zeigen – auf exemplarische Weise so verschiedene Werke wie Gustave Flauberts L’Éducation sentimentale, Adalbert Stifters Nachsommer und Karl Mays Winnetou I, ein Roman, der für meinen Geschmack im Zusammenhang mit Kafka viel zu selten ins Feld geführt wird – ein Landvermesser auch dort und seine Ankunft in Nordamerika (der Roman Karl Mays ist 1893 erschienen und war ein großer Erfolg; Kafka dürfte ihn gekannt haben). K., der Protagonist des Schloss-Romans, tritt unübersehbar als ein solcher Ankommender, Sich-Bildender, seine Lebenskarriere als Hauptaufgabe Betrachtender in Erscheinung; so verkündet er gleich zu Anfang: Ich habe eine schwere Aufgabe vor mir und habe ihr mein ganzes Leben gewidmet […]. Aber weil es alles ist was ich habe, diese Aufgabe nämlich unterdrücke ich alles was mich bei ihrer Ausführung stören könnte, rücksichtslos. […] Zum Kampf bin ich ja hier[.] (S App. 116)
Kafkas Bildungsroman wäre, so gesehen, eine Beschreibung eines Kampfes. Und an zwei verschiedenen Stellen des Textes insistiert denn
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auch K.: »[E]s handelte sich um meine Existenz!« (S 143; S 102). Dabei richtet der Roman seine Aufmerksamkeit auf die zwei herkömmlichen Karrieren der Protagonisten von Bildungsromanen: die Berufskarriere und die erotische Karriere. (Auch dieses doppelte Kernmotiv erscheint bereits klar ausgesprochen in der Erzählung Das Urteil: im Brief an den Petersburger Freund.) Man denke – in der Geschichte des Bildungsromans – nur an das Vorbild Wilhelm Meister, seinen Weg über das Theater zum Wundarzt-Beruf einerseits und sein Durcharbeiten eines ganzen Registers von Frauenbeziehungen, bevor er eine Ehe ansteuert, andererseits – so salopp hat es Niklas Luhmann in seinem Buch Liebe als Passion einmal ausgedrückt. 2 In solchem doppelten Bewusstsein agiert auch K. im Schloss-Roman. Er ist zum einen durchdrungen vom beruflichen Karrierebegriff. So ermahnt er denn auch Frieda: Ist aber denn Dein ganzes früheres Leben für Dich so versunken […], dass Du nicht mehr weisst, wie um das Vorwärtskommen gekämpft werden muss, besonders wenn man von tief untenher kommt? (S 253)
Und so wird zum anderen der Roman, der als Berufssuche beginnt, je mehr er voranschreitet, desto mehr zu einer Ansammlung von erotischen Fallgeschichten. K. wird mit Olga und sogar Amalia in Verbindung gebracht; er erlebt seinen coup de foudre mit der schönen, reglosen Frau im Lehnstuhl, in der Stube der Lasemann-Familie, der Mutter von Hans Brunswick. Es ist die rätselhafteste und vielleicht interessanteste Liebesbeziehung im Roman – geknüpft an das ebenso rätselhafte Motiv vom »bittere[n] Kraut« (S 229);3 K. hat eine Affäre mit Frieda, 2 3
Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994, 138. Das Motiv des bitteren Krautes spielt eine wichtige Rolle in der Haggada. Es heißt Maror. In der Hirsch-Haggada steht geschrieben: »Rabbi Gamlie lehrte: Wer nicht an Pessach folgende Dinge bespricht, hat seiner Pflicht nicht Genüge getan: und diese sind Pessach, Mazza [ungesäuertes Brot] und Maror« (Hirsch-Haggada. Die Haggada für Pessach mit Übersetzung und Kommentar von J.M. Japhet, Zürich: Morascha 1988, 79). Der Name Bitterkraut kommt vom Stamm »marar«, »bitter sein«. Maror wird gegessen
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die sich bis zu Heiratsabsichten entwickelt; er steht in einem merkwürdigen Verhältnis zur Brückenhofwirtin, mit der er erotische Lebenskonzepte auszutauschen sich anschickt; er scheint nicht abgeneigt, mit Pepi eine Liaison anzuknüpfen. Die Frage, mit der Kafkas Schloss-Roman einsetzt, lautet nun aber: Wie beginnt eine Lebenskarriere in diesem doppelten – professionellen und erotischen – Sinne? Welches sind die Wahrnehmungsbedingungen, unter denen dieser Anfang, als eine Ankunft, steht? Kafka probt dieses Ereignis in zwei Anfangsszenen, die er, zu Beginn der Niederschrift, nebeneinander stehen lässt – ohne die eine davon zu streichen. 4 Der erste Versuch beginnt in einem Interieur, im Zimmer eines dörflichen Wirtshauses. Der zweite Anfang geht von der Holzbrücke im Freien aus, die für den, der von außen kommt, in das Dorf führt. Es sind also gewissermaßen zwei Ankunfts-Räume, zwei Ankunfts-Architekturen, die da einander gegenübergestellt werden. Diese zwei geprobten Anfänge dienen der Erhellung eines fundamentalen Wahrnehmungsproblems: der Ambiguität dessen, was Ankunft im Unbekannten heißt. Es ist der Konflikt von Eigen-Welt und Gegen-Welt. Der Ankommende bringt eine Reihe von Erwartungen mit, auf die er eine Art Antwort erhofft. Und dem Ankommenden begegnet ein Entgegen-Kommendes, das seinen Erwartungen nicht genau korrespondiert. Lichtenberg hat dieses Problem einmal so formuliert: »Der Amerikaner, der den Kolumbus zuerst entdeckte, machte eine böse Entdeckung.«5 Auf den Helden eines Bildungsromans bezogen heißt das: Dieser bringt ein Potential von Vorgaben mit, die er zu realisieren hofft. Und er stößt auf eine Gegen-Welt, mit der es zu – vielleicht unüberwindlichen – Reibungen kommt. Bernhard Waldenfels hat dies in seinem Buch Phänomenologie der Auf-
4
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zur Erinnerung an das Leben der Juden in Ägypten, wo die Ägypter das Leben von deren Vorfahren verbittert haben, vor allem durch Zwangsarbeit. Die kritische Ausgabe trägt dem nicht Rechnung (S App. 15-17); Malcolm Pasley behandelt die Gasthof-Fassung, obwohl sie nicht gestrichen ist, als Variante und verbannt sie in den Apparat. Georg Christoph Lichtenberg: Schriften und Briefe, hg. v. Wolfgang Promies, Zweiter Band (Sudelbücher II. Materialhefte, Tagebücher), München: Carl Hanser 1971, 166 (GII 184).
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merksamkeit die Friktion von Aufmerken und Auffallen genannt.6 In der Lücke zwischen beidem, das nie ganz kongruent wird, nistet die Architektur, das Ordnungsgefüge, an dem konstruierte Welt und konstruktive Kraft des ihr Begegnenden aufeinanderstoßen und in ihrer Differenz gewissermaßen abgearbeitet werden. Es ist diese Aufgabe der Übereinbringung von Erwartetem und Entgegenkommendem, vor die sich der Landvermesser K., der Architektur-Explorateur, gestellt sieht. Die beiden Szenen, mit denen der Schloss-Roman beginnt, erproben also, ob das Interieur oder das Exterieur, wie ich einmal sagen möchte, am Anfang dieses Prozesses der Weltwahrnehmung steht und wie beides, Innen und Außen, sich zueinander verhält. Ob sich daraus eine Lebenskarriere, so oder anders, konstruieren lässt? Beides wird K. vom Schloss angedient: sowohl eine Stelle als Landvermesser im Außendienst, als auch eine solche als Schuldiener im Inneren des Hauses. Es ist dabei von Wichtigkeit, dass das Fenster und der Fensterblick sich genau auf der Grenze zwischen beiden Angeboten einstellen. Freilich ist es eine Situation der Desorientierung. Der Protagonist K. behauptet, der vom Schloss geforderte Landvermesser zu sein. Die Nachricht vom Schloss – über welche Kanäle auch immer – verneint das. Als K. insistiert, kommt eine positive Botschaft. Da scheint nun aber K. seinerseits überrascht, als hätte er schon die ganz Zeit an einer solchen gezweifelt: »K. horchte auf«, heißt es da im Text. »Das Schloss hatte ihn also zum Landvermesser ernannt« (S 12). Und noch ein anderes Symptom dieser ambivalenten Situation ist erkennbar: K. behauptet, dass seine beiden Gehilfen nächstens nachkommen würden. Als dann aber tatsächlich zwei Gehilfen eintreffen, gibt er vor, sie nicht zu kennen. Dann aber ändert er seine Meinung: Es seien doch die eigenen! Hierauf wird behauptet, dass sie ihm vom Schloss zugeordnet oder gar nur zugelaufen seien … Und so geht es noch eine Weile fort. Dieses Spiel des Lebenskarrieren-Bildens ist es, das der Landvermesser spielt und das mit ihm gespielt wird. Er nennt es gelegentlich »Komödie«.7 Schon ganz zu Beginn des Romans ruft er einmal aus: 6 7
Bernhard Waldenfels: Phänomenologie der Aufmerksamkeit, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004, 65-67. Josef K. im Process spricht auch von der Komödie, die er gern mitspielen will (um dem Ernst der Situation zu entgehen): »War es eine Komödie, so
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»Genug der Komödie« (S 9); es heißt ein andermal, »Es schien aber nur Komödie zu sein« (S 38); und Frieda wirft ihm gelegentlich vor, er sei immer »bereit Komödie zu spielen« (S 246). Man könnte sagen: Es ist die Komödie des Bildungsromans, deren Spielfeld für Kafka die Architektur ist, das konstruktive Element in der Gestaltung des Lebens – des gelebten, organischen, wie des geschriebenen, digitalisierten Lebens; das Weichbild gewissermaßen zwischen vorhandener und zu konstruierender Architektur des Lebensprozesses. Ist man einmal darauf aufmerksam geworden, so gewahrt man, dass das Dispositiv der Architektur als Treibmittel einer Lebensordnung das ganze Werk Kafkas durchzieht: vom kleinen Ruinenbewohner der Frühzeit bis zum spätesten Text (auf der Wende von 1923 auf 1924) mit dem Titel Der Bau. Eine grundsätzliche Äußerung Kafkas sei hier zitiert, die das Problem präzise benennt: Der beurteilende Gedanke quält sich durch die Schmerzen, die Qual erhöhend und nichts helfend empor. Wie wenn im endgiltig verbrennenden Hause die architektonische Grundfrage zum erstenmal aufgeworfen würde. (NSF II 13)
Architektur ist für Kafka der Ort der Urteils-Bildung über die Ordnung der Welt. Für die Gültigkeit des Urteils kommt es auf die Stabilität des Beobachter-Standpunktes an. Wie dies im Schloss-Roman sich auswirkt, möchte ich im Folgenden zeigen.
III. Als K. sich auf den Weg macht, um, vom Wirtshaus aus kommend, die Lage des Schlosses zu erkunden, heißt es im Text:
wollte er mitspielen« (FKA P Jemand musste Josef K. verläumdet haben 14). Vgl. meinen Aufsatz: »Inszenierung des Anfangs. Zum Problem der sozialen Karriere in Franz Kafkas Process-Roman«, in: Schauplatz der Verwandlungen. Variationen über Inszenierung und Hybridität, hg. v. Kazuhiko Tamura, München: Iudicium 2011, 67-79.
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Nun sah er oben das Schloss deutlich umrissen in der klaren Luft und noch verdeutlicht durch den alle Formen nachbildenden, in dünner Schicht überall liegenden Schnee. Übrigens schien oben auf dem Berg viel weniger Schnee zu sein als hier im Dorf, wo sich K. nicht weniger mühsam vorwärtsbrachte als gestern auf der Landstrasse. Hier reichte der Schnee bis zu den Fenstern der Hütten und lastete gleich wieder auf dem niedrigen Dach, aber oben auf dem Berg ragte alles frei und leicht empor, wenigstens schien es so von hier aus. (S 16f.)
Zunächst erscheint das Schloss dem Wahrnehmenden deutlich umrissen. Der Schnee, der dort Kontur gibt, wird hier, im Dorf, zum Hemmnis, zur Last. Ja er macht K. zuletzt unbeweglich. Die Last erscheint aber gleichzeitig als Leichtigkeit. Dieses Paradox in der Wahrnehmung ist offenbar begründet im labilen Standpunkt, den der Ankommende und Beobachtende einnimmt. Es heißt da: Im Ganzen entsprach das Schloss, wie es sich hier von der Ferne zeigte, K.’s Erwartungen. Es war weder eine alte Ritterburg, noch ein neuer Prunkbau, sondern eine ausgedehnte Anlage, die aus wenigen zweistöckigen, aber aus vielen eng aneinanderstehenden niedrigern Bauten bestand[.] (S 17)
Hier, in diesem Wahrnehmungsakt ist es, wo, angesichts der Architektur von Dorf und Schloss, das Aufmerken des Beobachtenden und das Auffallen des Entgegenkommenden in Spannung geraten und eine eigene Dynamik erzeugen: »[…] nur weil er es erwartete ging er weiter« (S 21), heißt es da aufschlussreich. Von nun an steigert sich der Prozess der Wahrnehmungsdiffusion immer mehr: »Nur einen Turm sah K., ob er zu einem Wohngebäude oder einer Kirche gehörte war nicht zu erkennen. Schwärme von Krähen umkreisten ihn« (S 17). Es ist das Autoremblem des schwarzen Vogels – »Kafka« bedeutet auf tschechisch »Dohle« –,8 das sich hier als Schwarm unvermerkt in das Wahrneh8
Ich erläutere dieses Namensspiel zwischen Vater und Sohn ausführlich in meinem Artikel: »Franz Kafka«, in: Gunter E. Grimm und Frank Rainer Max (Hg.): Deutsche Dichter. Leben und Werk deutschsprachiger Autoren, Bd. 7 (Vom Beginn bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts), Stuttgart: Reclam 1989, 227-258.
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mungs-Geschehen einschleicht, als Signal und Marker der erzählenden Instanz. Es heißt im Text weiter: Die Augen auf das Schloss gerichtet, gieng K. weiter, nichts sonst kümmerte ihn. Aber im Näherkommen enttäuschte ihn das Schloss, es war doch nur ein recht elendes Städtchen […]. Flüchtig erinnerte sich K. an sein Heimatstädtchen, es stand diesem angeblichen Schloss kaum nach[.] (S 17)
Die Enttäuschung der Erwartung bewiegt den Beobachtenden, die Erinnerung der »alten Heimat« (S 18), wie im Text gesagt wird, also das Vertraute des Vorlebens, noch genauer und vergleichend einzuspielen: »Und er verglich«, heißt es da denn auch, »in Gedanken den Kirchturm der Heimat mit dem Turm dort oben […]« (S 18). Mit jedem weiteren Schritt K.’s beginnen sich nun die Konturen des Wahrgenommenen weiter aufzulösen – durch eine nicht zu überhörende Anspielung auf die Sprachverwirrung beim himmelstürmenden Turmbau zu Babel, von dem das Alte Testament berichtet. So heißt im weiteren Verlauf des Textes: Jener Turm, bestimmt, ohne Zögern, geradenwegs nach oben sich verjüngend, breitdachig abschliessend mit roten Ziegeln, ein irdisches Gebäude – was können wir anderes bauen? – aber mit höherem Ziel als das niedrige Häusergemenge[.] (S 18)
Die Beschreibung dieses Turms steigert sich im Folgenden dann Schritt um Schritt in eine gänzliche Auflösung, ja geradezu Explosion des im Aufmerken Auffallenden hinein: »[E]twas Irrsinniges hatte das«, sagt der Text wörtlich; und dann fügt er hinzu, dass Mauerzinnen unsicher, unregelmässig, brüchig wie von ängstlicher oder nachlässiger Kinderhand gezeichnet sich in den blauen Himmel zackten. Es war wie wenn irgendein trübseliger Hausbewohner, der gerechter Weise im entlegensten Zimmer des Hauses sich hätte eingesperrt halten sollen, das Dach durchbrochen und sich erhoben hätte, um sich der Welt zu zeigen. (S 18)
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Am Medium der Architektur entfesselt Kafka ein Wahrnehmungsspiel zwischen Konstruiertem der Welt und Konstruktion des Beobachtenden, das in eine Zersprengung mündet, eine explosive Dynamik, das Durchbrechen des Daches. Es ist der Augenblick des zu gewinnenden oder zu verfehlenden Urteils über das Wahrnehmungsgeschehen. »Wieder stand K. still, als hätte er im Stillstehn mehr Kraft des Urteils« (S 18). Aber das Urteil, welches Aufmerken und Auffallen aus ihrer Differenz heraus und zusammen führen könnte, bleibt aus. So setzt K. seinen Weg, die Suche nach dem Schloss fort. Aber nun beginnt sich eine umgekehrte Dynamik geltend zu machen, die aus der Gegenwelt des Ankommenden entbunden wird. Es heißt da: So ging er wieder vorwärts, aber es war ein langer Weg. Die Strasse nämlich diese Hauptstrasse des Dorfes führte nicht zum Schlossberg, sie führte nur nahe heran, dann aber wie absichtlich bog sie ab und wenn sie sich auch vom Schloss nicht entfernte, so kam sie ihm doch auch nicht näher. Immer erwartete K., dass nun endlich die Strasse zum Schloss einlenken müsse, und nur weil er es erwartete ging er weiter […] endlich riss er sich los von dieser festhaltenden Strasse, ein schmales Gässchen nahm ihn auf, noch tieferer Schnee, das Herausziehen der einsinkenden Füsse war eine schwere Arbeit, Schweiss brach ihm aus, plötzlich stand er still und konnte nicht mehr weiter. (S 21)
»[W]ie absichtlich« biege die Straße ab, heißt es da; und sie sei »eine festhaltende Strasse«: Deutlicher könnte die Eigenkraft und Eigensinnigkeit des Entgegenkommenden nicht ausgedrückt werden. In dieser Sequenz des Zugehens des Ankommenden auf die Welt des Schlosses antwortet die Gegenwelt dem Aufmerkenden mit einer Art bewegender Gegenkraft, die aus der vorhandenen Architektur kommt; sie äußert sich in der Art, wie das »schmale Gässchen« den Ankommenden förmlich einsaugt. Auch hier, in der zweiten Erfahrungssequenz, kommt der Gehende zuletzt zum Stillstand – aber auch hier nicht, um ein besseres Urteil zu gewinnen, sondern weil ihn eine fremde Kraft lähmt, unbeweglich macht, überwältigt, verstummen lässt. Er steckt zuletzt im
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Schnee fest. Erwartetes und Begegnendes sind nicht mehr überein zu bringen. In diesem Augenblick öffnet sich für K. ein Interieur und empfängt ihn; ein Innenraum, der ihn nie mehr aus sich entlassen wird: die dumpfe Stube der Dorfbewohner. Es ist dieses Interieur einer dampfenden und dumpfigen Stube im Dorf, in das Kafka eine Spur für den künftigen Verlauf des Schloss-Romans zu legen scheint: mit dem coup de foudre nämlich, der K. mit der geheimnisvollen Frau, einer Frau am Fenster, wie gesagt wird, im Lehnstuhl verbindet. Im Text heißt es hierzu: Aber noch überraschender, ohne dass man genau wusste worin das Überraschende bestand, war die rechte Ecke. Aus einer grossen Luke, der einzigen in der Stubenrückwand, kam dort […] bleiches Schneelicht und gab dem Kleid einer Frau, die tief in der Ecke in einem hohen Lehnstuhl müde fast lag, einen Schein wie von Seide. Sie trug einen Säugling an der Brust. Um sie herum spielten paar Kinder, Bauernkinder wie zu sehen war, sie aber schien nicht zu ihnen zu gehören, freilich, Krankheit und Müdigkeit macht auch Bauern fein. (S 23)
Das architekturale Ensemble dieses Interieurs legt, mit seinem erotischen Flair, den Keim für die künftige Karriere K.’s, seine éducation sentimentale im zweiten Teil des Romans – der dann freilich abbricht. Die Architektur des Romananfangs geleitet K., so gesehen, bei seinem versuchten Gang zum Schloss, nicht nur in seine Aktenkarriere, die von der Bürokratie verwaltet erscheint, sondern auch in den Beginn seines erotischen Lebenslaufs, der durch das Rätselbild der Frau im Lehnstuhl begründet wird: ihre laszive und dekadente Aura, die sich mit dem Bild der Madonna lactans mischt, dem feinen Schein von Seide, aus Krankheit und Müdigkeit geboren. »[D]ie Frau im Lehnstuhl«, heißt es weiter, »lag wie leblos, nicht einmal auf das Kind an ihrer Brust blickte sie hinab, sondern unbestimmt in die Höhe. K. hatte sie wohl lange angesehn, dieses sich nicht verändernde schöne traurige Bild, dann aber musste er eingeschlafen sein[.]« (S 23f.). Es ist der Augenblick, in dem die Frau zur Ikone von K.’s Begehren wird: zum Traumbild, das den Betrachter in den Schlaf mitnimmt. Als K. wieder erwacht ist und des Raumes verwiesen wird – »Gastfreundlichkeit ist bei uns nicht Sitte«
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(S 24), sagt einer der Anwesenden – ereignet sich so etwas wie K.’s gestische Liebeserklärung für die Unbekannte. Es heißt im Text: Und unerwartet für jedermann kehrte sich K. förmlich in einem Sprunge um und stand vor der Frau. Aus müden blauen Augen blickte sie K. an, ein seidenes durchsichtiges Kopftuch reichte ihr bis in die Mitte der Stirn hinab, der Säugling schlief an ihrer Brust. ›Wer bist Du?‹ fragte K. Wegwerfend, es war undeutlich ob die Verächtlichkeit K. oder ihrer eigenen Antwort galt, sagte sie: ›Ein Mädchen aus dem Schloss.‹ (S 25)
Im gleichen Augenblick wird K. von zwei Männern mit aller Kraft zur Tür gezogen und aus dem Raum hinausbefördert. Das vorläufig abschließende Bild der rätselhaften Frau verstärkt den Eindruck der Odaliske, gekreuzt mit dem der Madonna lactans – der coup de foudre offenbart sich im Drehsprung K.’s, wie sich Sortinis Liebeserklärung an Amalia im »Sprung über die Deichsel« (S 301) äußert. Der Drehsprung über die Deichsel – ein gestisches, ganz nur Kafka eigenes VerhaltensUnikat, eine seltene Pathosformel aus dem großen Archiv der Liebeserklärungen, das die Literatur bereitstellt. Die Frau ist offenbar eine Botin aus der Welt der Schloss-Erotik – oder gar ein Opfer derselben. So ist es, als zweites Dispositiv des Geschehens im Roman, die Architektur des bäuerlichen Interieurs, der K. in seinem Handeln folgt; als einer Spur für eine Karriere, die die Erotik legt. Diese Welt des dörflichen Interieurs ist so gut wie fensterlos. Einen Blick nach draußen, wie er Georg Bendemann im Urteil vom Fenster seines Privatzimmers aus am Anfang noch gewährt ist, vermag K. im Schloss-Roman nicht mehr zu gewinnen. Was bleibt in dieser für ihn fast hermetisch geschlossenen Welt, sind Gucklöcher: verstohlene Blicke ermöglichend, die durch keinen festen Standpunkt fokussiert sind. Es gibt mindestens zehn Stellen im Roman, an denen solche Blicke durch Schlüssellöcher und Türspalten, durch in die Tür gebohrte Löcher eine Rolle spielen. »Man ist dort überdies immer beobachtet, wenigstens glaubt man es« (S 275), heißt es einmal. Aber man sieht nichts, müsste man wohl hinzufügen. Zu dieser Frage des Fensters und des Fensterblicks – von innen nach außen und von außen nach innen gerichtet – ist an dieser Stelle der Argumentation einiges zu sagen.
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IV. Das Fenster ist vielleicht die bedeutendste Erfindung der Architektur. Die Fensterszene in der Literatur – und nicht minder in der Malerei – erschafft so etwas wie ein Orientierungs-Szenario in einer individuellen oder kulturellen Orientierungskrise, eine Vergewisserung in der Wahrnehmung durch Rahmung,9 durch Perspektivierung und durch Gewinnung eines Standpunktes zwischen Innen und Außen. Dabei geht es um Vergewisserung und Neuordnung zugleich; aber auch alternativ. Die Position am Fenster richtet sich auf die Findung der Selbst-Stabilisierung im Blick auf die Welt. Erst die Orientierung im Fensterblick impliziert aber auch die Gewinnung eines Urteils über die Welt. Der Fensterblick spielt eine zentrale Rolle im Wahrnehmungsspiel zwischen Aufmerken und Auffallen und der nicht schließbaren Lücke zwischen beiden. Im Schloss-Roman sind die Fensterszenen als Situationen potentieller Orientierung abhängig von dem doppelten Anfang, den Kafka dem Roman gibt, und sie modellieren sich nach diesem: als – je nach Situation – von und nach Außen oder von und nach Innen orientiert. Besonders interessant in Bezug auf den Schloss-Roman ist dabei der Umstand, dass verschiedene Figuren des Romans auch verschiedene Verhältnisse zum Phänomen des Fensters repräsentieren: K. erhält vom Autor kaum einen einzigen Fensterblick zugestanden; Amalia hat eine feste Position am Fenster, so zum Beispiel in Erwartung von Sortinis Brief; die beiden Gehilfen schließlich turnen, wenn man es so ausdrücken will, unablässig am und im Fenster herum. Paradigmatisch ist das Motiv des Fensters schon in Kafkas erster großer Erzählung in Szene gesetzt, dem Urteil. Georg Bendemann blickt vom Schreibtisch aus dem Fenster und verschließt dabei den Brief mit der Schilderung seiner beiden Lebenskarrieren »in spielerischer Langsamkeit« (DzL 41). Er wird diesen Brief dem Urteil des Vaters unterwerfen, das vernichtend ausfällt. Damit verurteilt aber der Vater den Sohn zum Tod des Ertrinkens. Im Schloss-Roman kommt ein 9
Vgl. hierzu meinen Artikel: »Die Welt im Fenster. Erkennungsszenen in der Literatur«, in: Hofmannsthal Jahrbuch. Zur Europäischen Moderne 18/2010, hg. v. Gerhard Neumann, Ursula Renner, Günter Schnitzler und Gotthart Wunberg, Freiburg i. Br.: Rombach 2010, 215-257.
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solcher Fensteraugenblick als Orientierungs-Szenario für K. nicht mehr vor. Die Differenz von innen und außen ist hier für den Protagonisten in seinem Welterleben nicht mehr fruchtbar zu machen. K. nimmt so gut wie nie die Position am Fenster ein; er blickt vielmehr durch Gucklöcher und Türspalten. K. ist, seit seinem ersten Dorfgang, der dumpfen Atmosphäre des Interieurs und einer undefinierten Innerlichkeit zugeordnet. Er besitzt, seit dem doppelten Romananfang, kein Schwellenbewusstsein mehr, das zwischen innen und außen vermitteln könnte. Er kennt keine stabile Distanz und arbeitet mit kindischen Fokussierungen und Blickorientierungen. Die Gehilfen beobachten das genau und machen sich darüber lustig: Von ihnen wusste man »aus den Erfahrungen bei Tageslicht«, heißt es im Text, »dass es sehr aufmerksame Beobachter waren, immer zu K. herüberstarrten, sei es auch dass sie in scheinbar kindlichem Spiel etwa ihre Hände als Fernrohre verwendeten und ähnlichen Unsinn trieben oder auch nur herüberblinzelten« (S 73). K. rebelliert eher gegen Fenster und Fensterblicke, als dass er sie benutzt: So wirft er einen Schneeball gegen die Fensterscheibe (S 21) oder er blockiert das Fenster, setzt sich aufs Fensterbrett, »entschlossen dort auch die Nacht zu verbringen« (S 53). Anders die Rebellin Amalia: Sie steht beinahe als einzige Figur wiederholt in der Orientierungsposition am Fenster mit dem Blick nach draußen. Am Fenster und durch das Fenster wird ihr der Brief Sortinis überreicht: »[S]ie stand beim Fenster und hielt einen Brief in der Hand, den ihr eben ein Mann durch das Fenster gereicht hatte« (S 302). Vor drei Jahren hatte sie das Fenster zugeschlagen und damit eine Ungeheuerlichkeit begangen, nämlich Beamtenliebe abgelehnt: Das Verhältnis der Frauen zu den Beamten ist, glaube mir, sehr schwer oder vielmehr immer sehr leicht zu beurteilen. Hier fehlt es an Liebe nie. Unglückliche Beamtenliebe gibt es nicht. (S 310)
Im Gegensatz zu K. sitzt sie auf der Fensterbank und sieht hinaus. Sie blieb, heißt es, »auf der Fensterbank und sah hinaus, als erwarte sie noch weitere Boten und sei bereit, jeden genau so zu behandeln wie den ersten« (S 303). Im Unterschied zu Amalia wiederum gibt Frieda nur uneindeutige Zeichen aus dem Fenster (S 217; S 255): So »schwenkte
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sie ein wenig die Hand oben aus dem Fenster, es war nicht einmal deutlich ob es Abwehr oder Gruss war« (S 255). Eine dritte Version einer weiblichen Figur am Fenster ist die Frau im Lehnstuhl, zwar unter dem Fenster, aber ganz dem Interieur zugehörig: Aus einer großen Luke fällt – von ihr scheinbar unbemerkt – bleiches Schneelicht auf sie herab »und gab«, wie es heißt, »dem Kleid einen Schein wie von Seide« (S 23). Die beiden Gehilfen K.’s schließlich sind überhaupt ständig mit den Fenstern beschäftigt und benutzen sie als Durchblick und als Durchschlupf zugleich. Sie haben die »Keckheit«, ans Fenster zu treten (S 391); sie zerschlagen ein Fenster und ziehen Frieda ins Freie (S 393); sie versuchen, durch das »verhängte Fenster in die Stube zu leuchten« (S 366) und sie machen Anstalten, durch das Fenster hineinzuklettern; sie »suchten einander zurückzudrängen, aber einer entwischte gleich dem andern und schon waren sie wieder beim Fenster« (S 126); K. »eilte in den Verschlag«, aber »das leise wie bittende Klirren der Fensterscheibe verfolgte ihn auch dort noch lange«; und dann wieder schleichen sie sich an dasselbe heran: »Gleich liess der Gehilfe von K. ab und schlich, unwiderstehlich angezogen, zum Fenster«. (S 255). Die Gehilfen sind unabhängige, koboldartige Lebensbegleiter, sie sind Beobachter und subversive Helferfiguren: Die Anklagen K.’s gegen sie »konnten alle auch viel unschuldiger gedeutet werden aus dem ganzen lächerlichen, kindischen, fahrigen, unbeherrschten Wesen der zwei« (S 216f.). Man könnte sagen, dass sie das Dämonische, von dem Goethe in Dichtung und Wahrheit spricht,10 in Gestalt bringen, indem sie es (durch Verdopplung) trivialisieren. Sie sind Grenzwesen zwischen Innen und Außen, sie sind Fensterbesessene und so durch das Fenster als Motiv im Wahrnehmungszusammenhang charakterisiert.
10 Johann Wolfgang Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, in:
ders.: Werke. Hamburger Ausgabe, hg. v. Erich Trunz, Bd. 10 (Autobiographische Schriften II), München: C. H. Beck 1994, 171-187 (Vierter Teil, Zwanzigstes Buch).
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V. Das Zerfallen der Wahrnehmungsperspektive, das sich in der Architektur im Roman Das Schloss im spannungsvollen Spiel zwischen Aufmerken und Auffallen entzündet, führt nun aber zu einem Bruch in der Konzeption des ganzen Romans. Dieser beginnt zunächst als eine Geschichte der Ankunft, die zugleich eine Wahrnehmungsgeschichte ist, berichtet von einem auktorialen Erzähler. Diese anfängliche Einheit der Narration löst sich aber Schritt für Schritt im Fortgang des Romans auf: in eine Reihe von Geschichten, die von Figuren innerhalb des Romans vorgetragen werden, und vorwiegend erotischen Charakter haben. Da ist die sogenannte Briefgeschichte Amalias, die von Olga erzählt wird; eine Geschichte der »Beamtenliebe«11 und zugleich der Ächtung einer Familie, ihrer Zerstörung durch Totschweigen im Sinne einer Ausgrenzung aus der Menschengemeinschaft. Es ist ein Fall, wie ihn Michel Foucault in seiner Abhandlung La vie des hommes infâmes erzählt haben könnte.12 Da ist die nur in kryptischen Andeutungen gebotene Liebesgeschichte K.’s mit der müden Frau im Lehnstuhl. Da ist schließlich die Zerfransung des Erzählgeschehens in andere Liebesgeschichten: die Geschichte der Brückenhof-Wirtin; die Geschichte der Lehrerin Gisa und des Kastellan-Sohnes Schwarzer; die Geschichte Friedas und Klamms, Friedas und K.’s; die Geschichte Pepis und ihrer gescheiterten Karriere … In dieses von den Figuren des Romans Erzählte sind aber dann metanarrative Bemerkungen der immer noch existierenden Autorinstanz eingeflochten – Bemerkungen, insbesondere in Amalias Briefgeschichte, die diese Zerfransung der Erzählstränge konstatieren und gewissermaßen in Rechnung stellen. So bemerkt Amalia, unvermittelt vom Hof in die Stube tretend,
11 »Das Verhältnis der Frauen zu den Beamten ist, glaube mir, sehr schwer
oder vielmehr immer sehr leicht zu beurteilen. Hier fehlt es an Liebe nie. Unglückliche Beamtenliebe gibt es nicht« (S 310). 12 »La vie des hommes infâmes«, in: Michel Foucault: Dits et écrits. 19541988, Band III (1976-1979), hg. v. Daniel Defert und François Ewald, Paris: Gallimard 1994, 237-253.
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›Schlossgeschichten werden erzählt? Noch immer sitzt Ihr beisammen? Und Du hattet doch gleich Dich verabschieden wollen, K., und nun geht es schon auf zehn. Bekümmern Dich denn solche Geschichten überhaupt? Es gibt hier Leute, die sich von solchen Geschichten nähren, sie setzen sich zusammen, so wie Ihr hier sitzt, und traktieren sich gegenseitig. Du scheinst mir aber nicht zu diesen Leuten zu gehören.‹ ›Doch‹, sagte K., ›ich gehöre genau zu ihnen[.]‹ (S 323)
Hier klingt unverkennbar die Stimme des auktorialen Erzählers mit. Das Gesagte gilt für die geschilderte Situation; aber es gilt auch für den Erzählstatus des ganzen Romans. Und auch eine andere Stelle, eine Äußerung Olgas über Amalia, ist so zu lesen: »›Es ist nicht leicht, sie genau zu verstehn, weil man oft nicht weiss, ob sie ironisch oder ernst spricht, meistens ist es ja ernst, aber es klingt ironisch.‹ ›Lass die Deutungen!‹, sagte K.« (S 324). Das könnte man geradezu als eine Leseanweisung für Kafkas ganzen Schloss-Roman auffassen.13 Und sehr ähnlich dann noch einmal Olga: Es war ja so natürlich, dass wir immerfort die Briefgeschichte besprachen, kreuz und quer in allen sicheren Einzelnheiten und allen unsicheren Möglichkeiten, und dass wir immerfort im Aussinnen von Mitteln zur guten Lösung uns übertrafen, es war natürlich und unvermeidlich, aber nicht gut, wir kamen ja dadurch immerfort tiefer in das, dem wir entgehen wollten. (S 330f.)
Und noch ein letztes Beispiel, das in diesen Zusammenhang der metanarrativen Bemerkungen gehört: Es ist abermals eine Äußerung Olgas: »Man merkte, dass wir nicht die Kraft hatten, uns aus der Briefgeschichte herauszuarbeiten« (S 332). Dies ist nun aber genau die Situation des schreibenden Franz Kafka. Die Briefgeschichte blockiert zuletzt den Fortgang des Romans. Das heißt aber für dessen Schluss: Weil die Architekturen, die der Protagonist vorfindet, durch seine konstruktive Phantasie zunehmend unlesbar werden, funktioniert auch das Narrativ nicht mehr. Weil sich die Organisation des Lebensraums durch Architektur nicht mehr herstellt, beginnt auch die Erzählordnung zu zerfallen. 13 Das Dom-Kapitel im Process hat keine andere Botschaft als diese.
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Kafka hat, im Laufe seines Schriftstellerlebens, dreimal versucht, einen Roman, genauer einen Bildungsroman zu schreiben. Und er ist dreimal gescheitert, zuletzt im Schloss: schon am Anfang des Romans, der in zwei verschiedenen Versionen vorliegt; und dann an seinem Ende, das ins Offene zerfasert. Es ist auffällig, dass Kafka, wenn seine Romane stockten, sich der Kurzprosa zuwandte; also den Bildungsroman in eine Parabel umkippen ließ; die Darstellung eines Prozesses in die Darstellung einer Krise (in einem kürzeren oder ganz kurzen Text) umwendete. So schlägt der Roman Der Verschollene in die Novelle Der Heizer um, die separat publiziert wird; so der Process-Roman in die Türhüterlegende oder den anderen kleinen Text Ein Traum, die ebenfalls separat erscheinen; und so kippt, wie ich behaupten möchte, der Schloss-Roman in das Prosastück Der Bau um.
VI. Kafkas später Text Der Bau ist, so gesehen, die Schwundstufe eines Bildungsromans – in Form einer extremen Individualgeschichte vorgetragen. Der potentielle Lebensroman ist verdichtet zu einer Krise, in der allein die Architektur, in strenger Abstraktion, den Lebensraum eines Tieres bildet; einen Raum, in dem anfänglich Aufmerken und Auffallen nahezu kongruent sind, zuletzt aber auf katastrophale Weise auseinanderbrechen. Es ist die Probe eines einzigen Wesens – der Mensch gewissermaßen als Tier genommen – auf die konstruktive Kraft, Lebensarchitektur im Spiel von Erwartung und Entgegenkommen im Raum zu verwirklichen. Kafka, sagte Bertolt Brecht einmal, habe ein, und nur ein, Problem gehabt; das sei das der Organisation gewesen. Was ihn gepackt habe, das sei die Angst vor dem Ameisenstaat: wie sich die Menschen durch die Formen ihres Zusammenlebens sich selbst entfremden.14
14 Hermann Schweppenhäuser (Hg.): Benjamin über Kafka. Texte, Briefzeug-
nisse, Aufzeichnungen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981, 161.
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Im Bau ist es ein Tier, das sich aus solcher Entfremdung heraus einen unterirdischen Lebensraum konstruiert. Als Keimzelle des Baus fungiert ein Labyrinth. Mit dem Bau versucht das Tier, eine architekturale Konstruktion seiner selbst als Bewohner eben dieser Konstruktion zu erschaffen. Zunächst stellt sich bei dem Tier, im Verlaufe seiner Arbeit, die Illusion der Vollkommenheit dieses Lebensraumes ein. Aber dann kommt, wie unvermerkt schleichend, die katastrophale Wende. Ein einziger Gedanke, der das Tier überfällt, vernichtet das Ganze seiner Konstruktion: nämlich der aus bedrohlichen Geräuschen abgeleitete Gedanke, dass das Tier nicht im selbstkonstruierten System lebt, sondern Teil eines fremden Systems ist, ohne es zu wissen. In einer gestrichenen Variante des Textes ist dann auch der Grund für dieses gänzliche Auseinanderfallen von Aufmerken und Auffallen im Wahrnehmungsprozess genannt; dass nämlich, bei der Arbeit an der Architektur des Lebensbaus, beide Bewegungen nicht mehr zusammenstimmen; dass, in der Sprache des Tiers, Bau-Ort und Bau-Plan nicht mehr vereinbar sind. Die Variante, die Kafka nicht preisgeben wollte und daher gestrichen hat, lautet: Etwas Baumeistermässiges muss aber immer in meinem Blut gewesen sein, schon als Kind zeichnete ich Zick-Zack- und Labyrinth Pläne in den Sand und eilte im Geiste auf weichen Pfoten über die vielen Striche hin. Und überall suchte ich einen passenden Ort für den Bau und nirgends konnte ich ihn finden, nirgends passte der Ort zum Plan, kein Ort schien würdig, den Plan aufzunehmen und kein Plan schien stark genug sich einem Ort einzudrücken. (NSF II App 429f.)
Der Konstruktionsplan des Tieres ist nicht stark genug, sich einem Ort einzudrücken, kein Ort scheint würdig, den Plan aufzunehmen, den das Tier entwirft. Dies ist die aporetische Formel, die Kafkas Texte aus dem Geist der Architektur prägt. Das Schutz suchende Tier Mensch, mit seiner Lebens-Architektur im Spiel von Auffallen und Aufmerken beschäftigt, endet, bestenfalls, als »kleiner Ruinenbewohner«. Wollte man diese speziellen Überlegungen zur Architektur-Funktion im Schloss-Roman und zu den Krisen, die sich bei Beginn und bei Zu-Ende-Führung des intendierten Bildungsromans einstellen, in einen
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weiteren Rahmen einbringen, so müsste man wohl noch den Roman Der Verschollene zum Vergleich heranziehen. Tut man dies probeweise, dann erweist sich, dass die Krise des Anfangs von Kafkas Texten aus dem Organischen erwächst: Karl Rossmann, der in einer Art zweiter Geburt und mit einem sexuellen Trauma behaftet, in die Neue Welt eintritt; aber auch der Affe Rotpeter im Bericht für eine Akademie, der aus der Natur in die Kultur übertreten möchte und dabei scheitert. Es erweist sich aber zugleich, dass die Krise der Lebens-Bildung auf ein Ende hin zunehmend durch Konstruktion, also architektural geprägt ist. Die Krise des Anfangs scheint sich vorwiegend an dem Ordnungsmuster des organischen Wachstums zu entzünden: als das Heraustreten des Kindes aus der Natur in die Kultur – Karl Rossmann und das von ihm unwillentlich gezeugte Kind; die sexuelle Urszene; die Entwicklung im Sinne von Zeugung und Geburt, Wachstum und Bildung. Die Krise des Endes dagegen richtet sich auf die konstruktiven Kräfte – seien sie nun in den Institutionen – Kontor, Theater, Hotel, Rennbahn, aber auch Strafapparat in der Kolonie – oder aber in den Personen wirksam, welche das gelebte Leben, den sich ausbildenden Organismus in eine soziale Struktur, eine Organisation zu bringen suchen: als abschließende Lebens-Architektur gewissermaßen, als Konstrukte der Disziplinierung, des Regelwerkes des Gesetzes. Kafkas Romananfang steht im Zeichen des biologischen Körpers, der als Entelechie auf ein Ziel hin seine Lebenslaufbahn antritt. Kafkas Romanschluss dagegen steht im Zeichen der Konstruktion, der sozialen Strategien und Institutionen, die den aus der Natur kommenden Körper modellieren, disziplinieren, oder gar zerstören. Das Argument der Evolution von Leben und das Argument der sozialen Konstruktion als Lebensarchitektur, zwei Dynamiken, aufeinander zugeordnet wie Anfang und Ende, haben damit ihre komplementäre Tragkraft für die Bildung von Individualität im Roman verloren. Es ist dieses Scheitern, von dem die Romanfragmente Kafkas zeugen.15
15 Als zusammenfassende These wird dies formuliert in meiner Studie: Ver-
fehlte Anfänge und offenes Ende. Franz Kafkas poetische Anthropologie, München: Carl Friedrich von Siemens Stiftung 2011.
Schlaflosigkeit Kafkas Schloss zwischen Müdigkeit und Wachen C AROLIN D UTTLINGER
I. Schlaf und Schlaflosigkeit sind anthropologische Konstanten. Schon immer haben die Menschen schlecht geschlafen, die Interpretationen dieses Phänomens fallen aber je nach Kontext und Epoche ganz unterschiedlich aus.1 In der Antike wurde der Schlaf keineswegs als selbstverständlich betrachtet, sondern als »something to be striven for, a quiet state that needed to be gained«.2 In der Moderne wird die Bedeutung des Schlafes mit der Einführung geregelter Arbeits- und Ruhezeiten allmählich entwertet, nicht zuletzt deshalb, weil dieser Zustand dem kapitalistischen Imperativ der permanenten Aufmerksamkeit zuwiderläuft.3 1
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Vgl. Eluned Summers-Bremner: Insomnia. A Cultural History, London: Reaktion Books 2008; Sonja Kinzler: Das Joch des Schlafs. Der Schlafdiskurs im bürgerlichen Zeitalter, Wien: Böhlau 2011. Summers-Bremner, Insomnia, s. Anm. 1, 8. Dieser Imperativ erstreckt sich von der Arbeit bis in die Freizeit. In seiner richtungsweisenden Studie zur Aufmerksamkeit im 19. Jahrhundert spricht Jonathan Crary von einem »imperative of concentrated attentiveness within the disciplinary organization of labor, education, and mass consumption« (Suspensions of Perception. Attention, Spectacle, and Modern Culture, Cambridge, Massachusetts: The MIT Press 2001, 1f.).
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Mit den sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen verändern sich auch die Erklärungsmuster. Während bis um die Mitte des 18. Jahrhunderts vor allem endogene – psychologische und physiologische – Faktoren zur Erklärung der Schlaflosigkeit herangezogen wurden, zeichnet sich in der Aufklärung eine Hinwendung zur sogenannten Reiztheorie ab, in der schlafstörende Umweltfaktoren im Zentrum stehen.4 Um 1900 wird die Schlaflosigkeit dann unter die Epochenkrankheit Neurasthenie subsummiert: Schlaflosigkeit als Symptom des nervösen Zeitalters.5 Dieser kurze historische Abriss verdeutlicht die Umbrüche, denen die Bewertung des Schlafes von der Antike bis zur Neuzeit unterworfen ist, allerdings lässt sich die Diskursgeschichte des Schlafes auch anders schreiben: als ein Netzwerk wiederkehrender Topoi und Argumentationsmuster, die in unterschiedlichen Zusammenhängen immer wieder neu aufgegriffen werden. Ein solcher Topos ist die Schlaflosigkeit des Gelehrten, der von Galen über die Schlaftraktate der Renaissance bis zu den Vitalismustheorien um 1800 fester Bestandteil des Schlafdiskurses ist und dessen Ausläufer bis in die Neurastheniedebatte reichen.6 So verurteilt der Arzt und Sozialhygieniker Christoph Wilhelm Hufeland die Nachtarbeit der Gelehrten als maßlos, unmoralisch und geradezu selbstmörderisch;7 die Diätetikliteratur der Aufklärung und Romantik 4
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Mit der Abkehr von der Humoralpathologie findet in der Aufklärung zugleich auch eine Säkularisierung des Schlafdiskurses statt, denn zuvor wurde der Schlaf gemeinhin als ein von Gott auferlegtes »Joch«, die Müdigkeit als »Strafe nach dem Sündenfall« betrachtet (vgl. Kinzler, Joch des Schlafs, s. Anm. 1, 10 und 116). So Joachim Radkaus einflussreicher, dabei aber nicht unumstrittener Epochenbegriff, vgl. »Die wilhelminische Ära als nervöses Zeitalter. Deutschland zwischen Reichsgründung und Nationalsozialismus, oder: Die Nerven als Netz zwischen Tempo- und Körpergeschichte«, in: Geschichte und Gesellschaft 20 (1994), 211-241; sowie: Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, München: Hanser 1998. Kinzler, Joch des Schlafs, s. Anm. 1, 113-115. Christoph Wilhelm Hufeland: Der Schlaf und das Schlafzimmer in Beziehung auf die Gesundheit: enthaltend eine ausführliche Belehrung für diejenigen, welche einen erquickenden und gesunden Schlaf zu haben […] wünschen; ein nöthiger Anhang zur Kunst das menschliche Leben zu verlängern, Weimar, Wien: Gerold 1803, 45.
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unterscheidet sich in diesem Punkt allerdings von der biographischen Literatur der Epoche, denn dort ist die Figur des schlaflosen, bis tief in die Nacht arbeitenden Gelehrten als Inbild bürgerlichen Fleißes vorwiegend positiv konnotiert.8 Kafka ist einer bekanntesten Schlaflosen der Weltliteratur. Wie seine Schriften zeigen, ist auch er in gewisser Hinsicht noch dem aufklärerischen Modell der nächtlichen Geistesarbeit verpflichtet, zugleich trägt die damit einhergehende Schlaflosigkeit bei ihm aber eindeutig moderne Züge. Tatsächlich oszilliert Kafka bei der Bewertung der eigenen Schlaflosigkeit zwischen zwei Extremen – teils ist sie ihm asketischer Habitus, teils zerrüttender nervöser Zustand. Wie seine Briefe und Tagebücher zeigen, ist die Schlaflosigkeit auf enge aber ambivalente Weise mit dem Schreiben verbunden, und diese Ambivalenz kommt auch in den literarischen Schriften immer wieder zum Ausdruck. Ab dem Herbst 1910 schreibt Kafka bekanntlich vor allem nachts. 9 Anfangs situiert er sein Schreiben in der Schwellenzeit zwischen Wachen und Schlafen: »Die angezündete Glühlampe, die stille Wohnung, das Dunkel draussen, die letzten Augenblicke des Wachseins sie geben mir das Recht zu schreiben und sei es auch das Elendste. Und dieses Recht benütze ich eilig. Das bin ich also« (25.12.1910; Tb 139). In dem Maße, in dem sich Kafkas Strategie der Nachtarbeit verfestigt, beschränkt sich sein Schreiben aber nicht mehr auf diese »letzten Augenblicke des Wachseins«, sondern wird im weiteren, potentiell grenzenlosen Schwellenraum der Schlaflosigkeit neu verortet: Ich glaube, diese Schlaflosigkeit kommt nur daher, dass ich schreibe. Denn so wenig und so schlecht ich schreibe, ich werde doch durch diese kleinen Erschütterungen empfindlich, spüre besonders gegen Abend und noch mehr am Morgen das Wehen, die nahe Möglichkeit grosser, mich aufreissender Zustände, die mich zu allem fähig machen könnten, und be-
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Kinzler, Joch des Schlafs, s. Anm. 1, 115. Bei Peter-André Alt stehen die Jahre 1912-1913 unter dem Zeichen der »[l]iterarische[n] Nachtarbeit« und insbesondere der »Halbschlafbilder« (vgl. Franz Kafka. Der ewige Sohn, München: Beck 2008, 308-343, insb. 312-317).
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komme dann in dem allgemeinen Lärm, der in mir ist und dem zu befehlen ich nicht Zeit habe, keine Ruhe. (02.10.1911; Tb 51)
Kafkas Tagebücher veranschaulichen, was Mediziner von Galen bis Hufeland immer wieder konstatieren: Das Schreiben und die damit verbundene geistige Anspannung vertreiben den Schlaf. 10 Allerdings ist die Schlaflosigkeit für Kafka weit mehr als eine Nebenwirkung des Schreibens: Sie ist ein geistiger und körperlicher Ausnahmezustand, der ungeahnte kreative Energien freisetzt. Wie obige Textstellen belegen, ist die Grenze zwischen Nicht-schlafen-Können und Nicht-schlafen-Wollen in Kafkas Schriften keineswegs klar definiert. Entscheidend für sein Schreiben ist nicht nur die Schlaflosigkeit, sondern auch der mit der Schlaflosigkeit einhergehende, mit dieser aber nicht deckungsgleiche Zustand des Wachens. Vor allem in den Texten der zwanziger Jahre gewinnen Wachen und Wachsamkeit eine zentrale wenn auch prekäre Bedeutung. Bereits in Der Verschollene und Der Process begegnen uns Hauptfiguren, die sich schlaflos und übermüdet den Herausforderungen von Emigration und Prozess stellen müssen.11 Die grundlegende Ambiva10 Dieser Zusammenhang wird in den Tagebüchern immer wieder beschwo-
ren. Am 16. März 1912 notiert Kafka: »Morgen, heute fange ich eine größere Arbeit an, die ungezwungen nach meinen Fähigkeiten sich richten soll. Ich werde nicht von ihr ablassen, solange ich nur kann. Lieber schlaflos sein, als so hinzuleben« (Tb 407). Am 20. Januar 1915, nach Aufgabe der Arbeit am Process, schreibt er dagegen: »Ende des Schreibens. Wann wird es mich wieder aufnehmen? […] Die mit Aufgabe des Schreibens sofort eintretende Schwerfälligkeit des Denkens […]. Möge ich den einzig hiebei denkbaren Gewinn geniessen: bessern Schlaf« (Tb 721). 11 Karl Rossmann schläft schon auf der Überfahrt von Europa aus Sorge um seinen Koffer nicht, und auch im Schlafsaal des Hotel Occidental ist an Schlaf kaum zu denken. In der Oberköchin findet er eine verwandte Seele: »›Ich schlafe nämlich‹, sagte die Oberköchin zur Erklärung, ›seit einigen Jahren ungemein schlecht. Jetzt kann ich ja mit meiner Stellung zufrieden sein und brauche eigentlich keine Sorgen zu haben. Aber es müssen die Folgen meiner frühern Sorgen sein, die mir diese Schlaflosigkeit verursachen. Wenn ich um drei Uhr früh einschlafe kann ich froh sein. Da ich aber schon um fünf, spätestens um halb sechs wieder auf dem Platze sein muss, muss
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lenz allerdings, mit der Kafka der (eigenen) Schlaflosigkeit gegenübersteht, kommt erst in den literarischen Texten der zwanziger Jahren und insbesondere im Schloss voll zum Ausdruck. Diese Wende hat unter anderem auch einen biographischen Hintergrund. Nach dem Ausbruch der Tuberkulose erfährt Kafka die eigene Schlaflosigkeit zunehmend als existentielle Bedrohung. In den Briefen aus Zürau verdecken humoristische Elemente kaum seine unterschwellige Verzweiflung über eine ihm den Schlaf raubende Mäuseplage,12 und auch die Entstehung des Schloss-Romans ist mit der Schlaflosigkeit eng verbunden. Im Januar 1922 erleidet Kafka nach drei schlaflosen Wochen einen Zusammenbruch,13 der den Erholungsurlaub in Spindelmühle und die Arbeit am Schloss einleitet. Im Tagebuch notiert er: »Unmöglichkeit zu schlafen, Unmöglichkeit zu wachen, Unmöglichkeit das Leben, genauer die Aufeinanderfolge des Lebens zu ertragen« (16.01.1922; Tb 877), und Klagen über die andauernde Schlaflosigkeit finden sich auch nach der Ankunft in Spindelmühle.14 Im August erleidet Kafka einen weiteren Zusammenbruch und bricht die Arbeit am Roman mitten im Satz ab. Auch im Schloss-Roman ist die Schlaflosigkeit ein wiederkehrendes, dabei aber zutiefst ambivalentes Motiv. K.’s zunehmende Müdigkeit ist mit dem narrativen Spannungsbogen eng verflochten, und auch stilistische und strukturelle Aspekte des Romans wie Erzählperspektive, Topographie und Figurenkonstellation können im Zeichen einer Poetik ich mich wecken lassen undzwar besonders vorsichtig, damit ich nicht noch nervöser werde als ich schon bin. […]‹« (V 176). Josef K.’s Nachtschlaf ist weniger offensichtlich beeinträchtigt, aber im fragmentarischen Kapitel Das Haus erfahren wir von seinen »Zustände[n] vollständiger Erschöpfung«, die ihn dazu zwingen, sich nach der Arbeit auf dem Kanapee im Büro auszuruhen (FKA P Das Haus 9f.). 12 In einem Brief an Felix Weltsch vom 15. November 1917 bezeichnet Kafka die nächtliche Invasion als »ein schreckliches Erlebnis […], das Grauen der Welt« (Briefe 1914-1917 365). 13 So Kafka in einem um den 24. Januar 1922 verfassten Brief an Robert Klopstock (Br 369). 14 »Schlaflos, fast gänzlich; von Träumen geplagt, so wie wenn sie in mich, in ein widerwilliges Material eingekratzt würden« (03. Februar 1922, Tb 900); »schlaflos, ohne den geringsten Zusammenhang mit Menschen« (10. Februar 1922, Tb 904).
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der Müdigkeit gelesen werden. Dabei erscheint K.’s Schlaflosigkeit aber nicht nur in einem negativen Licht. K. ist ein obdachloser Außenseiter, aber seine Schlaflosigkeit ist nicht nur umstandsgebunden, sondern trägt auch Züge der Wachsamkeit und der Berufung. Im Folgenden wende ich mich zunächst einem kurzen Text aus dem Jahr 1920 zu, der als Vorlage und Kontrastfolie für die Rolle des Wachens im SchlossRoman dient.
II. Das Fragment Versunken in die Nacht nimmt in Kafkas Schlafdiskurs eine Schlüsselstellung ein. Hier erhebt Kafka das Wachen zur solipsistischen Berufung, zugleich aber zum Bindeglied zwischen Individuum und Gemeinschaft: Versunken in die Nacht. So wie man manchmal den Kopf senkt, um nachzudenken, so ganz versunken sein in die Nacht. Ringsum schlafen die Menschen. Eine kleine Schauspielerei, eine unschuldige Selbsttäuschung dass sie in Häusern schlafen, in festen Betten unter festem Dach ausgestreckt oder geduckt auf Matratzen, in Tüchern, unter Decken, in Wirklichkeit haben sie sich zusammengefunden wie damals einmal und wie später einmal in wüster Gegend, ein Lager im Freien, eine unübersehbare Zahl Menschen, ein Heer, ein Volk, unter kaltem Himmel auf kalter Erde, hingeworfen wo man früher stand, die Stirn auf den Arm gedrückt, das Gesicht gegen den Boden hin, ruhig atmend. Und Du wachst, bist einer der Wächter, findest den nächsten durch Schwenken des brennenden Holzes aus dem Reisighaufen neben Dir. Warum wachst Du? Einer muss wachen, heisst es. Einer muss dasein, (NSF II 260f.)
Die Annahme, dass die Menschen nachts in ihren Häusern schlafen, entlarvt der Text als »Schauspielerei« und »Selbsttäuschung«. Tatsächlich ist Schlaf ein exponierter Zustand außerhalb der Grenzen bürgerlicher Existenz. Dass die Menschen in dieser feindlichen Umgebung anscheinend so ruhig schlafen, verdankt sich der Präsenz des Wachenden. Dieser wiederum ist Teil einer Untergruppe: der Gruppe der Wächter,
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die sich aus dem Kollektiv der Schlafenden rekrutiert. Das in der Wildnis ruhende Volk (oder Heer) der Schlafenden evoziert das Volk Israel auf der Flucht aus Ägypten, wobei aber die »unübersehbare Zahl« der Schlafenden diesem Bild eine über den biblischen Intertext hinausgreifende Universalität verleiht. In der biblischen Tugend des Wachens und Wartens – auf den Messias? – überlagern sich Überlieferung und Verheißung: »Einer muss wachen, heisst es. Einer muss dasein« (NSF II 261, Herv. d. Verf.). Die Nachtwache ist eine Zeit der Einsamkeit, zugleich aber der Teilhabe an einer lebendigen Tradition, denn sie ist komplementär auf den Schlaf der anderen bezogen ist, den sie ermöglicht und der ihr ihren Sinn verleiht. Damit entwirft der Text ein Modell der Arbeitsteilung, der Oszillation zwischen Einsamkeit und Gemeinschaft. Nach seiner Ablösung wird der Wachende wieder Teil der Schlafenden; auf dieser Grundlage kann er sich seiner gegenwärtigen Aufgabe mit kontemplativer Ruhe widmen, denn sein Zustand ist eben nicht Schlaflosigkeit, sondern Wachsamkeit.15 Im August 1920 schreibt Kafka an Milena Jesenská, dass er seinen »›Kriegsdienst‹ – oder richtiger ›Manöver‹leben«, das heißt: sein nächtliches Schreiben, wieder aufgenommen habe (BaM 229). Wenige Tage später entsteht Versunken in die Nacht; die Verwendung militärischer Motive in beiden Texten verleiht dem Wachen eine strategisch-agonale Qualität, allerdings geht es dabei nicht (explizit) um die Abwehr äußerer Feinde und Gefahren. Vielmehr wird das Wachen als Zustand der kontemplativ intensivierten Aufmerksamkeit gefasst, wie sie Kafka für und durch sein eigenes Schreiben immer wieder anstrebte, zugleich aber als Offenheit für Eindrücke jenseits der rationalen, bürgerlichen 15 Eine ähnlich emphatische Bejahung des Wachens findet sich in dem ver-
mutlich im Sommer 1916 entstandenen autobiographischen Fragment Jeder Mensch ist eigentümlich, wo das nächtliche heimliche Lesen als identitätsstiftender Akt erscheint: »Denn alles war unendlich oder verlief so ins Unbestimmte, dass es dem Unendlichen gleichzusetzen war, die Zeit war unendlich, es konnte also nicht zu spät sein, mein Augenlicht war unendlich, ich konnte es also nicht verderben, sogar die Nacht war unendlich […]. Das alles konnte ich nicht so ausdrücken, aber es hatte doch das Ergebnis dass ich mit meinen Bitten mir das Weiterlesen zu erlauben lästig wurde oder mich entschloss, auch ohne Erlaubnis weiter zu lesen« (NSF II 7f.).
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Existenz.16 Worauf der Wächter wartet, geht aus dem Fragment nicht hervor, das Bild des nächtlichen Lagers in der Wildnis impliziert aber, dass es sich hierbei um den Einbruch des radikal Anderen handelt, das weder vorhergesehen noch herbeigeführt, sondern lediglich wachsam er-wartet werden kann. In Versunken in die Nacht erhebt Kafka das Wachen zur Daseinsform und zur Berufung; als Teil einer lebendigen, in der Gemeinschaft verwurzelten Tradition ist diese Nachtwache potentiell endlos fortsetzbar, hat damit aber kaum Potential für narrative Entwicklung. In den Texten der zwanziger Jahre und insbesondere in Das Schloss wird der in Versunken in die Nacht entworfene Mythos der Wachsamkeit wieder aufgegriffen, zugleich aber in Frage gestellt. Auch dort spielt Wachsamkeit eine wichtige Rolle, allerdings wird das in Versunken in die Nacht entworfene Wechselverhältnis von Wächter und Gemeinschaft ins Negative gewandt, denn die Wachsamkeit des Einzelnen wird hier zur solipsistischen, selbstdestruktiven Obsession.
III. Norbert Elias beschreibt die Geschichte des Schlafs in Europa als eine Geschichte der fortschreitenden Privatisierung, Individualisierung und Intimisierung. Im Mittelalter wurde in Zimmern, in denen Betten standen, auch Gäste empfangen, aber in der frühen Neuzeit wurde diese Praxis zusammen mit der des Nacktschlafens abgelegt.17 Die Welt von 16 »Der Künstler wacht, wo […] die Menschen sich, in zivilisationsfern-ar-
chaischer Ausgesetztheit, mit dem ›Fremden‹ konfrontiert sehen, das ihr Eigenes ist« (Manfred Engel: »Zu Kafkas Kunst- und Literaturtheorie. Kunst und Künstler im literarischen Werk«, in: ders. und Bernd Auerochs [Hg.]: Kafka-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart, Weimar: Metzler 2010, 483-498, hier: 497). 17 Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Bd. 1 (Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes), Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995, 222-230. Elias’ Theorie wurde allerdings verschiedentlich als zu pauschal kritisiert (vgl. Peter Duerr: Der Mythos vom Zivilisationsprozeß, Bd. 1 [Nacktheit und Scham], Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988).
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Schloss und Dorf scheint dagegen einer älteren, vormodernen Kulturstufe verhaftet. Die Sekretäre betreiben den Parteienverkehr vorzugsweise nachts, im Bett liegend,18 und auch den Vorsteher und die Brückenhofwirtin trifft K. im Bett an. Hier wie in anderen Texten Kafkas ist das Bett ein halböffentlicher Raum, ein Ort der Machtausübung,19 aber auch »a place of revelation and truth«, 20 wo die Grenze zwischen Öffentlichem und Privatem auf folgenreiche Weise verwischt wird. Hieraus können ungeahnte Möglichkeiten erwachsen, K. erfährt diesen Zustand zunächst aber vor allem als repressiv. So verkündet Schwarzer, der K. kurz nach seiner Ankunft im Brückenhof wieder aus dem Schlaf reißt: »Dieses Dorf ist Besitz des Schlosses, wer hier wohnt oder übernachtet, wohnt oder übernachtet gewissermassen im Schloss« (S 8). K. selbst kommt bald zu einem ähnlichen Schluss: Nirgends noch hatte K. Amt und Leben so verflochten gesehen wie hier, so verflochten, dass es manchmal scheinen konnte, Amt und Leben hätten ihre Plätze gewechselt. Was bedeutete z. B. die bis jetzt nur formelle Macht welche Klamm über K.’s Dienst ausübte, verglichen mit der Macht die Klamm in K.’s Schlafkammer in aller Wirklichkeit hatte. (S 94)
18 So entnimmt K. der Unterhaltung der auf Erlanger wartenden Parteien:
»Am liebsten erledigten ja die Beamten die Amtsachen im Ausschank oder in ihrem Zimmer, womöglich während des Essens oder vom Bett aus vor dem Einschlafen oder morgens, wenn sie zu müde waren aufzustehn und sich im Bett noch ein wenig strecken wollten« (S 379). In einer gestrichenen Passage räsonniert dagegen Bürgel: »Es ist freilich eigentümlich, dass die Türen hier nicht versperrbar sind. Die meisten Herren sind damit einverstanden, die Einrichtung geht sogar auf ihre Anregung zurück, ich halte es aber für eine unwürdige Renommisterei[.]« (S App. 428f.). 19 Das Bett der Wirtin ist in einem Verschlag neben der Küche so aufgestellt, »dass man von ihm aus die ganze Küche übersehn und die Arbeit beaufsichtigen konnte. Dagegen war von der Küche aus im Verschlag kaum etwas zu sehn« (S 122). 20 Richard Sheppard: On Kafka’s Castle. A Study, London: Croon Helm 1973, 80.
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Die Bio-Macht des Schlosses erstreckt sich bis in die Schlafkammer hinein, Ort der Sexualität und des Schlafes – zweier Zustände also, in denen der Einzelne besonders verletzlich ist.21 K. zieht aus dieser Erkenntnis eine interessante Schlussfolgerung: »So kam es, dass hier ein etwas leichtsinnigeres Verfahren, eine gewisse Entspannung nur direkt gegenüber den Behörden am Platze war, während sonst aber immer grosse Vorsicht nötig war, ein Herumblicken nach allen Seiten vor jedem Schritt« (S 94). K. entwickelt hier eine zwischen Wachsamkeit (beziehungsweise Paranoia) und Entspannung genau unterscheidende Doppelstrategie; die Frage allerdings, unter welchen Umständen die Wachsamkeit der Entspannung und dem Schlaf weichen kann, wird für ihn zum Stolperstein. Auf den ersten Blick hat K.’s Schlaflosigkeit vor allem externe Gründe. Immer wieder wird er vom Schlaf abgehalten oder aus dem Schlaf gerissen, und kommt er endlich einmal zum Schlafen, so muss er mit improvisierten Lagern vorlieb nehmen: in der Wirtsstube, im Schulzimmer, auf einer Truhe in Lasemanns Haus, in Bürgels Bett.22 K. hat kein eigenes Bett und verbringt kaum mehr als eine Nacht am selben Ort. In Versunken in die Nacht führt die Abkehr von bürgerlichen Schlafgewohnheiten zu einer neuen, nomadischen Form der Gemeinschaft; im Schloss verdeutlicht dieser Zustand dagegen K.’s Außensei21 Der Begriff der Bio-Macht wird von Michel Foucault im seinem Buch Der
Wille zum Wissen entwickelt. Wie er dort argumentiert, definieren sich staatliche Machttechniken seit dem 18. Jahrhundert nicht mehr primär über den Tod, über »das alte Recht, Sterben zu machen oder Leben zu lassen«, sondern richten sich »auf das Leben und seinen ganzen Ablauf«: auf die Regulierung biologischer Prozesse wie Gesundheit, Sexualität und Fortpflanzung (Der Wille zum Wissen, übers. v. Ulrich Raulff und Walter Seitter, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, 165, Herv. im Original). K.’s Überlegungen zur Verflechtung von »Amt und Leben« (S 94) im Einflussbereich des Schlosses zielen in eine ähnliche Richtung, denn auch hier geht es um Machtstrukturen, die das Leben von Einzelnem und Gemeinschaft auf einer elementaren, körperlich-biologischen Ebene zu beeinflussen suchen. 22 Am längsten und tiefsten schläft K. im Brückenhof in dem von Frieda häuslich eingerichteten Dienstbotenzimmer, aber selbst hier muss er sich mit Störungen und Eindringlingen abfinden: »Ruhe war in dem Zimmerchen überhaupt wenig« (S 71).
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tertum und den damit einhergehenden Autonomieverlust. Gleichzeitig verleiht K.’s Schlaflosigkeit dem Roman aber auch einen besonderen Spannungsbogen, denn im Zustand wachsender Müdigkeit ist K. rationaler Entscheidungen nicht mehr fähig und verhält sich zunehmend erratisch.23 Dieser Prozess kulminiert in K.’s nächtlicher Begegnung mit dem Verbindungssekretär Bürgel. Hier ist es ausnahmsweise K., der einen anderen aus dem Schlaf reißt, aber während der muntere Bürgel sich über die Implikationen dieser Situation ausführlich ergeht, kämpft K. mit dem Schlaf und erliegt ihm schließlich, ohne die sich ihm bietende Chance zu ergreifen.24 Die Bürgel-Episode verdeutlicht, was in Versunken in die Nacht letztlich offen bleibt, nämlich die Frage nach dem Ziel des Wachens und Wartens. Es handelt sich hierbei um den Einbruch des völlig Unerwarteten, um eine »ausserordentlich selten[e]« und »gross[e] […] Gelegenheit« (S 424).25 Wie Bürgel erklärt, ist eine ungeplante nächtliche 23 Im elften Kapitel versetzt K., durch ein Geräusch aus dem Schlaf gerissen,
dem Gehilfen Artur einen Faustschlag (S 201). Nach diesem gewalttätigen Ausbruch bleibt K. trotz zunehmender Müdigkeit bis zur Begegnung mit Bürgel im 23. Kapitel wach. 24 Laut Achim Geisenhanslüke zeichnet Kafka mit K. »das Bild eines narkotisierten Selbst« (Dummheit und Witz. Poetologie des Nichtwissens, München: Fink 2011, 109). Er zitiert in diesem Zusammenhang Alain Ehrenberg, der die Depression und nicht die Neurose zur Krankheit der Moderne erklärt (vgl. Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008, 20), betont aber zugleich die komische Dimension von K.’s haltloser Müdigkeit (Geisenhanslüke, Dummheit und Witz, s. o., 109). 25 Der Begriff der Gelegenheit spielt im Roman auch sonst eine wichtige Rolle. So betont Olga K. die Vorteile einer inoffiziellen Anstellung am Schloss, denn in einer solchen Position »kann [man] günstige Gelegenheiten erkennen und benützen, man ist kein Angestellter, aber zufällig kann sich irgendeine Arbeit finden, ein Angestellter ist gerade nicht bei der Hand, ein Zuruf, man eilt herbei, und was man vor einem Augenblick noch nicht war, man ist es geworden, ist Angestellter. Allerdings wann findet sich eine solche Gelegenheit? Manchmal gleich, kaum ist man hingekommen, kaum hat man sich umgesehn, ist die Gelegenheit schon da, es hat nicht einmal jeder die Geistesgegenwart sie so als Neuling gleich zu fassen[.]« (S 351).
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Begegnung zwischen einer Partei und einem Sekretär im System eigentlich gar nicht vorgesehen und kann deshalb weder antizipiert noch absichtlich herbeigeführt werden. Der Prozess des nächtlichen Wartens zielt damit auf den günstigen Moment – auf den Kairos, der geltende Regeln außer Kraft setzt. In der griechischen Mythologie wird der Kairos als Gottheit personifiziert, als geflügelter Jüngling mit einem Haarschopf auf der Stirn und einem kahlen Hinterkopf. Der flüchtige Augenblick muss »beim Schopf gepackt werden, denn von hinten, d. h. wenn er vorbeigeeilt ist, wird dies unmöglich«. 26 Ob Kafka mit dieser mythologischen Darstellung vertraut war, ist nicht belegt, interessanterweise ähnelt aber der nackte Sekretär, dem K. im Traum begegnet, »der Statue eines griechischen Gottes« (S 415), und als K. aus seinem Traum aufschreckt, durchfährt ihn beim Anblick von Bürgels nackter Brust der Gedanke: »Hier hast du ja deinen griechischen Gott! Reiss ihn doch aus den Federn!« (S 416). Wie sich allerdings herausstellt, ist K.’s Ziel gerade nicht das Ergreifen des in Bürgel personifizierten Kairos. Im Gegenteil – für ihn ist Bürgel vor allem eins: ein Hindernis auf dem Weg in den Schlaf. Dessen zunehmend erregte Ausführungen erfährt K. zunächst als störend und später als einschläfernd: K. schlief, es war zwar kein eigentlicher Schlaf, er hörte Bürgels Worte vielleicht besser als während des frühern totmüden Wachens, Wort für Wort schlug an sein Ohr, aber das lästige Bewusstsein war geschwunden, nicht Bürgel hielt ihn mehr, nur er tastete noch manchmal nach Bürgel hin, er war noch nicht in der Tiefe des Schlafs, aber eingetaucht in ihn war er, niemand sollte ihm das mehr rauben. Und es war ihm, als sei ihm damit ein grosser Sieg gelungen und schon war auch eine Gesellschaft da es zu feiern und er oder auch jemand anderer hob das Champagnerglas zu Ehren des Sieges. Und damit alle wissen sollten, um was es sich handle, wurde der Kampf und der Sieg noch einmal wiederholt oder vielleicht gar nicht wiederholt sondern fand erst jetzt statt und war schon früher gefei-
26 »Kairos«, in: Der neue Pauly: Enzyklopädie der Antike, hg. v. Hubert Can-
cik und Helmuth Schneider, Bd. 6 (Altertum), Stuttgart, Weimar: Metzler 1999, 138f., hier: 138.
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ert worden und es wurde darin nicht abgelassen ihn zu feiern, weil der Ausgang glücklicher Weise gewiss war. (S 415)
In dem Kampf, den K. im Traum ausficht und den er mit Leichtigkeit gewinnt, geht es nicht mehr um ein bestimmtes Anliegen, sondern lediglich um den Schlaf, den sich K. so verzweifelt ersehnte. Aus diesem Kampf geht K. als Sieger hervor, aber dieser Sieg entpuppt sich als Niederlage: Der Sekretär und die feiernden Gäste sind plötzlich verschwunden, und K. bleibt allein zurück. Indem K. den Kairos nicht nur verpasst sondern geradezu aktiv bekämpft, bleibt ihm am Ende gar nichts. Zweimal im Verlauf des Gesprächs schläft er ein, und zweimal erwacht er »grenzenlos schlafbedürftig« (S 426) und müder als zuvor. »Klappere Mühle klappere […], Du klapperst nur für mich« (S 419), kommentiert K. im Halbschlaf Bürgels ausschweifende Erläuterungen. Mit dieser auf den ersten Blick rätselhaften Bemerkung schließt K. an einen klassischen Topos der Schlaftheorie an, nämlich an die einschläfernde Wirkung des klappernden Mühlrads. Dieses belegt für Hufeland, dass die »Einförmigkeit des Lautes und Geräusches« schlaffördernd ist,27 und auch das Gegenteil bestätigt diese Regel: »Der Müller wacht aus dem Schlafe auf, wenn seine Mühle plötzlich still steht«. 28 Für den todmüden K. sind Bürgels Ausführungen nur ein einschläfernd-monotones Hintergrundgeräusch, und tatsächlich kommt Bürgel erst dann wirklich zum Punkt, als K. endgültig eingeschlafen ist.29 K.’s Begegnung mit Bürgel muss Kafka nachhaltig beschäftigt haben, denn hier weicht er von der Er-Perspektive des Romans ab und entwirft (wohl nachträglich) eine diese Episode einleitende Rahmenerzählung.30 In einer am Ende des sechsten und letzten Schloss-Hefts ent27 Hufeland, Der Schlaf und das Schlafzimmer, s. Anm. 7, 124 (Herv. im Ori-
ginal). 28 Christoph Wilhelm Hufeland: Bemerkungen über die Brownsche Praxis.
Erster Theil, Tübingen: Cotta 1799, 56. 29 Diese Situation erinnert an die Türhüter-Legende im Process; in beiden Texten wird eine einmalige, auf das Individuum zugeschnittene Gelegenheit verpasst, einmal durch den Tod, das andere Mal durch den Schlaf. 30 Malcolm Pasley zufolge entstand dieses Fragment wahrscheinlich nicht in Planá, sondern während eines Besuchs in Prag, und zwar entweder vom 14.
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haltenen Passage wird diese Begegnung von einem nicht namentlich identifizierten Ich-Erzähler einer ebenfalls anonym bleibenden Zuhörergruppe gegenüber ironisch kommentiert. K. selbst ist nicht persönlich anwesend, sondern lediglich Gegenstand der Erzählung und der Spekulation.31 Dabei werden verschiedene für den Textverlauf entscheidende Fragen erörtert, unter anderem auch die Rolle der Müdigkeit für Struktur und Perspektive des Romans. Der namenlose Erzähler – wohl ein Dorfbewohner – beginnt seine Schilderung mit einer Warnung: Und nun will ich Euch, so gut ich es kann, die Geschichte im Wortlaut erzählen, so minutiös wie sie K. gestern mit allen Zeichen tötlicher Verzweiflung mir erzählt hat. […] Die Geschichte selbst ist aber zu komisch, hört zu: Das eigentlich Komische ist freilich das Minutiöse und darin wird Euch in meiner Nacherzählung viel entgehn. Wenn ich es gut zustandebrächte, Ihr hättet darin den ganzen K. von Bürgel freilich kaum eine Spur. Wenn ich es zustandebrächte – das ist die Voraussetzung. Denn die Geschichte kann sonst auch sehr langweilig werden, sie hat auch dieses Element in sich. (S App. 424)
Mit der Einführung dieses anonymen Ich-Erzählers bricht Kafka mit der auktorialen Erzählperspektive des Romans, schließt aber gleichzeitig an dessen ursprüngliche Konzeption an, denn bekanntlich nahm Das Schloss als Ich-Erzählung aus der Perspektive K.’s seinen Ausgang.32 bis zum 19. Juli oder vom 31. Juli bis zum 3. September 1922 (S App. 71f.). Pasley führt diese Passage als Variante im Apparatband der KKA auf. In Max Brods erster Ausgabe des Schloss-Romans aus dem Jahr 1926 fehlt der Text, wird aber 1935 in der zweiten Ausgabe am Ende des Anhangs unter den Fragmenten mit aufgeführt. Zur Publikationsgeschichte des Textes und seiner Position »auf der Schwelle zwischen Einschluss und Ausschluss« vgl. Malte Kleinwort: Der späte Kafka. Spätstil als Suspension, München: Fink 2013, 218-224, hier: 222. 31 In Anspielung auf die verschachtelte Erzählsituation bezeichnet Kleinwort den Text als »K.-Kolportage« und als »Gesprächsberichtsgesprächsbericht« (ebd., 219). 32 Zum Wechsel der Erzählperspektive im Roman siehe Dorrit Cohns immer noch grundlegenden Aufsatz: »K. enters The Castle. On the Change of Person in Kafka’s Manuscript«, in: Euphorion 62 (1968), 28-45.
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Im sechsten Schloss-Heft geht Kafka allerdings mehrere Schritte weiter, denn hier kündigt der namenlose Ich-Erzähler seinen Zuhörern die Wiedergabe eines Gesprächs an, in welchem K. ihm seine Begegnung und Unterhaltung mit Bürgel schilderte. Diese Erzählung K.’s will der namenlose Erzähler »im Wortlaut« wiedergeben, ein Versprechen, das aus verschiedenen Gründen problematisch ist. Zum einen ist die hier angedachte Erzählsituation dermaßen verschachtelt, dass sie der Wiedergabe eines ursprünglichen Wortlauts zuwiderläuft; zum anderen ist es bemerkenswert und geradezu paradox, dass K. gerade in der Episode als (indirekter) Erzähler agieren soll, in der er sich permanent auf der Schwelle zum Schlaf befindet. Im Haupttext des Romans scheint Kafka dieses Problem antizipiert zu haben, denn dort heißt es: K. schlief, es war zwar kein eigentlicher Schlaf, er hörte Bürgels Worte vielleicht besser als während des frühern, totmüden Wachens, Wort für Wort schlug an sein Ohr, aber das lästige Bewusstsein war geschwunden, er fühlte sich frei[.] (S 415)
(Halb-)Schlaf und Aufmerksamkeit sind in der Bürgel-Szene nicht inkompatibel, ja ein schlafender K. wäre einem todmüden als Zuhörer und Erzähler vielleicht sogar überlegen. Auf den ersten Blick sind die Ausführungen des Ich-Erzählers natürlich müßig, denn in der existierenden Fassung des Romans kommen weder K. noch Bürgel als Erzähler zum Einsatz. Und dennoch verweist der im sechsten Schloss-Heft verzeichnete Einschub und der dort angedachte Wechsel in die (mehrfach vermittelte) Ich-Perspektive auf eine Frage, die für den Roman und für Kafkas Spätwerk insgesamt von zentraler Bedeutung ist: Ist die in Das Schloss thematisierte Müdigkeit lediglich ein literarisches Motiv, oder können auch Stil, Erzählgestus und Struktur des Romans unter dem Begriff einer Poetik der Schlaflosigkeit beziehungsweise der Müdigkeit gefasst werden? Für eine solche Lesart sprechen verschiedene den Roman als Ganzen kennzeichnende Charakteristika, wie zum Beispiel die ausufernden Exkurse, die minutiösen, zwischen Pedanterie und Komik balancierenden, dabei aber eigenartig entwicklungslosen Schilderungen und nicht zuletzt eine dem Roman zugrundeliegende entstrukturierende Tendenz, das Aufweichen und Verschwimmen fester Grenzen, Identitäten und Kategorien. So hat die Topographie von Schloss
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und Dorf keine klaren Koordinaten, sondern widersetzt sich von Anfang an K.’s Versuchen der Vermessung und Konturierung,33 und auch verschiedene Romanfiguren – Klamm, die Gehilfen, die Sekretäre Sordini und Sortini und die zwei Wirtsehepaare des Brücken- und des Herrenhofs – haben keine klar definierte, stabile Identität beziehungsweise können nur mit Mühe voneinander unterscheiden werden.34 Wie im sechsten Schloss-Heft klar wird, schließt diese Tendenz auch K. selbst mit ein. Denn selbst wenn der namenlose Ich-Erzähler K.’s minutiösen 33 Am Morgen nach seiner Ankunft erscheint K. das Schloss zunächst »deut-
lich umrissen in der klaren Luft«, bei näherer Betrachtung verliert das Schloss aber zunehmend an Kontur. Dieses ist »weder eine alte Ritterburg, noch ein neuer Prunkbau«, sondern lediglich »ein recht elendes altes Städtchen, aus Dorfhäusern zusammengetragen«, das K. an sein Heimatstädtchen erinnert (S 17). Das Schloss kann weder begrifflich noch topographisch scharf gestellt werden; der Vergleich mit anderen Bauwerken dient nicht der genaueren Bestimmung, sondern hat einen zerstreuenden, fragmentierenden Effekt. So erscheint K. rückblickend der Kirchturm seiner Heimat »bestimmt, ohne Zögern, geradenwegs nach oben sich verjüngend«, während die Mauerzinnen des Schlossturmes »unsicher, unregelmässig, brüchig wie von ängstlicher oder nachlässiger Kinderhand gezeichnet sich in den blauen Himmel zackten« (S 18). Dieses Bild tentativer Konturen wird durch einen neuen Vergleich abermals überschrieben: »Es war wie wenn irgendein trübseliger Hausbewohner, der gerechter Weise im entlegensten Zimmer des Hauses sich hätte eingesperrt halten sollen, das Dach durchbrochen und sich erhoben hätte, um sich der Welt zu zeigen«. Mit diesem Bild des Wahnsinns und der Zerstörung fester Strukturen endet K.’s Assoziationskette, und auch K. steht still, »als hätte er im Stillstehn mehr Kraft des Urteils. Aber er wurde gestört« (ebd.). Diese Wendung ist typisch für den Roman; kaum hat sich K. eines Anblicks oder Gedankens versichert, so wird er erneut abgelenkt. 34 Die unzureichende Differenzierung der Figuren ist ein Effekt des Romans, kann aber auch als Wahrnehmungsdezifit K.’s und anderer kafkascher Protagonisten wie Josef K. und Blumfeld gelesen werden. Vgl. hierzu Martin Walser: Beschreibung einer Form. Versuch über Franz Kafka, München: Hanser 1961, 53-55; Peter Höfle: Von der Unfähigkeit, historisch zu werden. Die Form der Erzählung und Kafkas Erzählform, München: Fink 1998, 224; Jörgen Kobs: Kafka. Untersuchungen zu Bewusstsein und Spra-
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Ton genau zu treffen verstünde, so ermöglichte eine Nacherzählung doch keine komplette Trennung der Stimmen und Perspektiven, denn sie enthielte »den ganzen K. von Bürgel freilich kaum eine Spur« (S App. 424; Herv. d. Verf.). In dem im sechsten Schloss-Heft verzeichneten Einschub entpuppt sich also der minutiöse, zugleich aber seltsam unkonturierte, entstrukturierte Stil des Romans als Symptom der Müdigkeit, und tatsächlich unterzieht hier der namenlose Erzähler K.’s Müdigkeit einer genaueren Analyse. Diese habe nicht nur äußere Gründe, sondern sei letztlich selbstverschuldet. In seinem Kampf um Anerkennung durch das Schloss verfolge K. viele verschiedene Spuren: »Dabei strengt er sich an, sehr aufmerksam zu sein und hinter seinen Dingen ist er her wie ein Jagdhund, aber es ist ihm nicht gegeben, sich hier einzuleben« (S App. 421). Stattdessen führe K. lange Unterhaltungen über ganz abseitsliegende Dinge […], dies aber nur deshalb, weil kein Ding abseits genug liegt, dass es nicht seiner Meinung nach mit seiner Angelegenheit zusammenhinge, So arbeitet er immer, es ist mir eigentlich niemals eingefallen, dass er auch schläft. Es ist aber doch der Fall, der Schlaf spielt in der Geschichte mit Bürgel sogar die Hauptrolle. Als er nämlich zu Erlanger in den Herrenhof lief, war er schon grenzenlos müde, er war ja auf die Vorladung nicht vorbereitet gewesen und hatte leichtsinnig mit sich gewirtschaftet, die Nacht vorher hatte er gar nicht geschlafen und die zwei Nächte vorher immer nur zwei drei Stunden. (S App. 423)
In Versunken in die Nacht erscheint Wachsamkeit als Ideal und Berufung, als Dienst an der Gemeinschaft. Mit K. setzt Kafka die Linie seiner wachsamen Protagonisten fort, veranschaulicht aber zugleich den Preis einer solchen Geisteshaltung. K.’s Aufmerksamkeit hat keine che seiner Gestalten, hg. v. Ursula Brecht, Bad Homburg: Athenäum 1970, 383f. Gerhard Neumann liest dagegen Kafkas Strategie der »Spiegelspiele[] und Verdopplungen« im Kontext einer dem Roman zugrundeliegenden Medienkritik, vgl. »Franz Kafkas ›Schloss‹-Roman. Das parasitäre Spiel der Zeichen«, in: ders. und Wolf Kittler (Hg.): Franz Kafka. Schriftverkehr, Freiburg i. Br.: Rombach 1990, 199-221, hier: 216.
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Grenze und kein Ziel; sie konzentriert sich auf »abseitsliegende Dinge« und zerreibt sich an der unendlichen Vielfalt der Erscheinungswelt. Dabei wird K. seine schier grenzenlose Aufnahmefähigkeit zum Verhängnis, denn er vergisst gar nichts, aber es ist ihm zuviel, die Fülle der Beamtenschaft verwirrt ihn, er hat nichts vergessen von allem, was er je gehört hat und er hat viel gehört, den er benützt jede Gelegenheit um sein Wissen zu vermehren und er kennt sich teoretisch in der Beamtenschaft vielleicht besser aus als wir, darin ist er bewunderungswürdig, aber wenn er das Wissen anwenden soll, kommt es irgendwie in falsche Bewegung, es dreht sich wie im Kaleidoskop, er kann es nicht anwenden es äfft ihn […]. (S App. 421)
Wie Malte Kleinwort argumentiert, ist das im sechsten Schloss-Heft verzeichnete Fragment »Symptom eines Kontrollverlustes«, denn hier schafft es Kafka nicht mehr, »die narrativen Enden des Schlosses zusammenzubinden, sondern wechselt die Perspektive in einer Weise, die der narrativen Grundstruktur nicht entspricht«. 35 Und dennoch enthält dieser Abschnitt zugleich auch ein selbstreflexiv-kontrollierendes Element, wenn der Erzähler am Beispiel K.’s eben jene narrative Dynamik – das Überhandnehmen von minutiös festgehaltenen Informationen gekoppelt mit der Unmöglichkeit der Selektion – vorführt, die Kafka an seinem letzten Roman scheitern lässt. Aus dieser Sackgasse heraus antizipiert Das Schloss Kafkas späteste Texte und verweist zugleich auf einen wenn auch tentativen Ausweg. Auch die Erzähler von Forschungen eines Hundes, Der Bau, Eine kleine Frau und Josefine, die Sängerin legen eine minutiöse, zugleich aber seltsam zerstreute und ineffiziente Aufmerksamkeit an den Tag. In Kafkas Spätwerk ist Wachsamkeit nicht mehr Berufung, Dienst an der Gemeinschaft, sondern wird zur solipsistischen Obsession, die sich an realen und imaginären Feinden immer weiter hochschaukelt, indem sie die eigene paranoide Wachsamkeit auf andere projiziert. Diese pathologische Spirale der Aufmerksamkeit wird im Schloss zuerst angedacht, zugleich verweisen Kafkas späte Texte aber auf einen möglichen Ausweg. In Eine kleine Frau und Josefine, die Sängerin ist dies das Vergessen, 35 Kleinwort, Der späte Kafka, s. Anm. 30, 224.
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das Löschen der in endloser Wachsamkeit angesammelten Informationen.36 Das Tier im Bau findet dagegen einen anderen Ausweg aus der Aufmerksamkeitsfalle. Während seines Ausflugs in die Außenwelt ist es von Paranoia wie gelähmt, und erst als es von der Müdigkeit übermannt wird, gelingt die Rückkehr in den Bau: Und nun, schon denkunfähig von Müdigkeit, mit hängendem Kopf, unsicheren Beinen, halb schlafend, mehr tastend als gehend nähere ich mich dem Eingang, hebe langsam das Moos, steige langsam hinab, lasse aus Zerstreutheit den Eingang überflüssig lange unbedeckt, erinnere mich dann an das Versäumte, steige wieder hinauf um es nachzuholen, aber warum denn hinaufsteigen? nur die Moosdecke soll ich zuziehn, gut, so steige ich wieder hinunter und nun endlich ziehe ich die Moosdecke zu. Nur in diesem Zustand, ausschliesslich in diesem Zustand kann ich diese Sache ausführen. (NSF II 602)37
Auch in Das Schloss erwächst die Müdigkeit aus einer extremen, pathologischen Aufmerksamkeit, fungiert zugleich aber als deren essentielles Gegengewicht. Wie Bürgel K. tröstend erklärt: »Die Leibeskräfte reichen nur bis zu einer gewissen Grenze, wer kann dafür, dass gerade diese Grenze auch sonst bedeutungsvoll ist« (S 425). Die Unerreichbarkeit des Schlosses beruht letztlich nicht auf äußerlichen Hindernissen, sondern auf einer anthropologischen Konstante: Der müde Leib unterläuft die Intention.
36 Der Erzähler in Eine kleine Frau ersehnt sich den erlösenden Zustand des
Vergessens von seiner Feindin: »[S]ie müßte sich nur entschließen, meine Existenz zu vergessen, die ich ihr ja niemals aufgedrängt habe oder aufdrängen würde – und alles Leid wäre offenbar vorüber« (DzL 322f.), und auch Josefine wird bald »in gesteigerter Erlösung vergessen sein wie alle ihre Brüder« (DzL 378). 37 Zur Rolle der Aufmerksamkeit in Der Bau, siehe Carolin Duttlinger: »Kafkas Poetik der Aufmerksamkeit von Betrachtung bis «, in: Kafka und die kleine Prosa der Moderne / Kafka and Short Modernist Prose, hg. von Manfred Engel und Ritchie Robertson, Würzburg: K&N 2010, 7997.
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IV. »Ich bin sehr müde«, erklärt K., nachdem er sich »sofort, grob, ohne Respekt« auf Bürgels Bett gesetzt hat, der aber entgegnet lachend: »Natürlich […], hier ist jeder müde« (S 407). Kafkas letzter Roman hat Anklänge an das Märchen vom Dornröschen. Die Atmosphäre im Dorf ist schlafgesättigt, die Müdigkeit K., den Dorfbewohnern und Schlossbeamten gemeinsam. Und dennoch affiziert diese Müdigkeit K. auf besondere Weise, ja ist seiner Mission auf ambivalente Weise inhärent. Eine frühe Schlüsselszene ist K.’s Begegnung mit einer müden Unbekannten im Haus des Gerbermeisters Lasemann: Aus einer grossen Luke, der einzigen in der Stubenrückwand, kam dort, wohl vom Hof her, bleiches Schneelicht und gab dem Kleid einer Frau, die tief in der Ecke in einem hohen Lehnstuhl müde fast lag, einen Schein wie von Seide. Sie trug einen Säugling an der Brust. Um sie herum spielten paar Kinder, Bauernkinder wie zu sehen war, sie aber schien nicht zu ihnen zu gehören, freilich, Krankheit und Müdigkeit macht auch Bauern fein. (S 23)
Ihre Müdigkeit unterscheidet die stillende Frau – Frau Brunswick, wie sich später herausstellt – in K.’s Augen von den anderen Dorfbewohnern, und tatsächlich bezeichnet diese sich auf K.’s Frage hin als »[e]in Mädchen aus dem Schloss« (S 25). Das Schneelicht verleiht ihrer Kleidung einen auratischen Schein »wie von Seide« (S 23);38 wie so oft in Kafkas Texten bleibt die Authentizität dieser Vision jedoch ungeklärt. Für K. ist Frau Brunswicks Erschöpfung Teil ihrer Anziehungskraft. In einem späteren Kapitel macht er ihrem Sohn Hans ein unerwartetes Angebot: [E]s tue ihm leid, dass Hansens Mutter kränkle und offenbar niemand hier das Leiden verstehe; in einem solchen vernachlässigten Falle kann oft eine schwere Verschlimmerung eines an sich leichten Leidens eintreten. Manches was Ärzten nicht gelungen sei, sei ihm geglückt. Zuhause 38 »Beim Näherkommen entdeckt K. dann ihr »seidenes durchsichtiges Kopf-
tuch« (S 25).
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habe man ihn wegen seiner Heilwirkung immer das bittere Kraut genannt. (S 229)
Das rätselhafte Bild vom bitteren Kraut verweist auf eine mögliche intertextuelle Vorlage: auf den alttestamentarischen Auszug der Israeliten aus Ägypten. Im Buch Exodus weist Gott sein Volk an, ein Lamm zu schlachten und dieses »am Feuer gebraten« und mit »bitteren Kräutern« zu essen (Ex. 12, 8).39 Dieses Mahl, das mit gegürteten Hüften und dem Stab in der Hand zu verzehren ist (Ex. 12, 11), leitet eine Nacht des Wachens ein, denn in derselben Nacht geht Gott von Haus zu Haus und erschlägt die Erstgeborenen der Ägypter: »Eine Nacht des Wachens war es für den Herrn, als er sie aus Ägypten herausführte. Als eine Nacht des Wachens zur Ehre des Herrn gilt sie den Israeliten in allen Generationen« (Ex. 12, 42). Mit dem Bild vom bitteren Kraut knüpft Kafka an das Fragment Versunken in die Nacht an, denn auch dieses beschreibt in biblischen Bildern ein in der Wüste lagerndes Volk. In der oben zitierten Exodus-Passage stiftet die kollektive Nachtwache ein Gefühl der Gemeinschaft. In Versunken in die Nacht wird diese Funktion dagegen von dem Einzelnen übernommen. Die Erzähler-Figur des wachenden, wachsamen Einzelnen hat Anklänge an die biblische Moses-Figur, mit der sich Kafka um diese Zeit wiederholt beschäftigte.40 Wie verhalten sich diese Intertexte zu Kafkas Roman? Auch K. ist ein Wandernder, ein Exilant, der den weiten Weg aus seinem Heimatort auf sich genommen hat, und sein Aufenthalt im Dorf steht unter dem Zeichen des Wachens und der gegenseitigen Wachsamkeit. So erfährt der namenlose Gast, Protagonist des ersten, fragmentarischen Romanentwurfs, dass seine Ankunft von dem gesamten Dorf erwartet wurde (S App. 116), und auch K. erscheint immer wieder als eine – wenn auch verquere – Erlöserfigur, der die Dorfbewohner aus ihrem Zustand somnambuler Resignation aufzurüt-
39 Vgl. Reinhard H. Friederich: »K.’s ›bitteres Kraut‹ and Exodus«, in: The
German Quarterly 48.3 (1975), 355-357. 40 Vgl. bspw. den Tagebuch-Eintrag vom 19. Oktober 1921 über »[d]as We-
sen des Wüstenwegs« (Tb 867) und das undatierte Fragment Wer einmal scheintot gewesen ist (NSF II 142).
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teln versucht.41 Dieses Unterfangen scheitert am Widerstand der Dorfbewohner, vor allem aber an K. selbst, denn dieser scheitert immer wieder an dem selbst gesetzten Ziel der Wachsamkeit. Bereits am Tag nach seiner Ankunft muss er sich eingestehen, dass ihn seine Wanderung ermüdet hat: Zum erstenmal seit seinem Kommen fühlte er wirkliche Müdigkeit. Der weite Weg hierher schien ihn ursprünglich gar nicht angegriffen zu haben – wie war er durch die Tage gewandert, ruhig Schritt für Schritt! – jetzt aber zeigten sich doch die Folgen der übergrossen Anstrengung, zur Unzeit freilich. Es zog ihn unwiderstehlich hin, neue Bekanntschaften zu suchen, aber jede neue Bekanntschaft verstärkte die Müdigkeit. (S 20f.)
Nicht das zielgerichtete, langsam fortschreitende Wandern ist ermüdend, sondern der Aufenthalt im Dorf, wo jeder Weg, jede Bewegung über kurz oder lang in sich erstarrt. Dabei enthält obiges Zitat einen wichtigen Hinweis. K.’s Müdigkeit verdankt sich nicht nur der Schlaflosigkeit und seiner grenzenlosen, jagdhundartigen Wachsamkeit, sondern erwächst auch aus zwischenmenschlichen Begegnungen. Der IchErzähler in Versunken in die Nacht wacht allein und wird durch nichts und niemanden von seiner Aufgabe abgelenkt; er ist gerade in seiner Einsamkeit Teil der Gemeinschaft. K. dagegen wird immer wieder von anderen aus dem Schlaf gerissen, zugleich aber durch andere ermüdet und eingeschläfert. Der muntere Bürgel redet K. buchstäblich in den Schlaf, und auch der Anblick der müden Frau Brunswick ist sowohl anziehend als auch ansteckend: K. betrachtet »dieses sich nicht verändernde schöne traurige Bild, dann aber musste er eingeschlafen sein« (S 24). So ist es nicht verwunderlich, dass K. nicht als Wachender, sondern nur im Schlaf für kurze Zeit Teil der Dorfgemeinschaft wird, einer Gemeinschaft der Schlafenden. In der Müdigkeit lösen sich die Grenzen des Ich auf, ein Vorgang, der im Anblick der stillenden Frau Brunswick – der Symbiose von Mutter und Kind – verkörpert ist. In der Beziehung 41 Diesem messianischen Modell entspricht auch Hans Brunswicks Überzeu-
gung, »jetzt sei zwar K. noch niedrig und abschreckend, aber in einer allerdings fast unvorstellbar fernen Zukunft werde er doch alle übertreffen« (S 237).
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mit Frieda macht K. eine ähnliche Erfahrung. Die Nähe der ersten Liebesnacht lässt sich zunächst nur schwer wiederherstellen: Dort lagen sie, aber nicht so hingegeben wie damals in der Nacht. Sie suchte etwas und er suchte etwas, wütend, Grimmassen schneidend, sich mit dem Kopf einbohrend in der Brust des andern suchten sie und ihre Umarmungen und ihre sich aufwerfenden Körper machten sie nicht vergessen, sondern erinnerten sie an die Pflicht zu suchen, wie Hunde verzweifelt im Boden scharren so scharrten sie an ihren Körpern und hilflos enttäuscht, um noch letztes Glück zu holen, fuhren manchmal ihre Zungen breit über des andern Gesicht. Erst die Müdigkeit liess sie still und einander dankbar werden. (S 75)
Im Wachzustand interpretiert K. die eigene Müdigkeit als Schwäche und Versagen; erst wenn er (wie hier und in der Bürgel-Szene) vollends von der Müdigkeit übermannt ist, erfährt er ein Gefühl des Friedens und der Zufriedenheit. Im Schloss-Roman erscheint also die Müdigkeit als Gegenpol zu einer solipsistischen Wachsamkeit und gewinnt somit zumindest vorübergehend positive, ja geradezu utopische Züge. Indem sie die Schranken des Bewusstseins herabsetzt, ermöglicht sie eine Begegnung mit dem anderen. Für den zunehmend isolierten K. gewinnt die Müdigkeit allerdings eine andere Bedeutung. Nach dem Ende seiner Beziehung mit Frieda erklärt er Pepi: »Da sie [Frieda] bei mir war, bin ich immerfort auf den von Dir verlachten Wanderungen gewesen, jetzt da sie weg ist, bin ich fast beschäftigungslos, bin müde, habe Verlangen nach immer vollständigerer Beschäftigungslosigkeit« (S 480f.). K.’s Müdigkeit verweist hier auf eine tieferliegende Motivation: auf den Wunsch nach einem Ende des Wanderns und »totmüden Wachens« (S 403), nach Ruhe und vollständigem Stillstand, wie ihn Sigmund Freud in Jenseits des Lustprinzips als Todestrieb theoretisiert.42 Entsprechend kommentiert 42 »Wenn wir es als ausnahmslose Erfahrung annehmen dürfen, daß alles Le-
bende aus inneren Gründen stirbt, ins Anorganische zurückkehrt, so können wir nur sagen: Das Ziel alles Lebens ist der Tod, und zurückgreifend: Das Leblose war früher da als das Lebende«, und: »daß wir als die herrschende Tendenz des Seelenlebens, vielleicht des Nervenlebens überhaupt, das Stre-
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W. G. Sebald: »The yearning for peace which in K.’s world only death itself can provide, and the fear of being unable to die […], the fear of a perpetual habitation in the no-man’s land between man and thing – that yearning, that fear must be reckoned the ultimate motive of K.’s journey to the village whose name we never learn.«43 Als bitteres Kraut möchte K. die alttestamentarische Tugend der Wachsamkeit, des Wartens auf den Kairos verkörpern. Diesem in Kafkas Werk tief verwurzelten Ideal der Wachsamkeit stehen aber in Das Schloss wie auch in Der Bau die Müdigkeit und der Schlaf gegenüber: als Figuren des Abbruchs und des Aussetzens, als einziger Ausweg aus dem sich zur Paranoia steigernden Teufelskreis der Aufmerksamkeit. Wie aber obige Beispiele gezeigt haben, ist die Müdigkeit in Das Schloss mehr als ein verkleideter Todestrieb. Sie ermöglicht Momente der Intimität, der Nähe und Gemeinschaft; mehr noch, wie sich K. gegen Ende des Romans eingesteht, ist die Müdigkeit mit einem tätigen Leben nicht unvereinbar, sondern für ein solches geradezu essentiell. Nach seiner Begegnung mit Bürgel sagt sich K., dass seine Müdigkeit »ihm heute mehr geschadet hatte, als alle Ungunst der Verhältnisse […], warum wurde er gerade hier so unbeherrschbar müde, wo niemand müde war oder wo vielmehr jeder und immerfort müde war, ohne dass dies aber die Arbeit schädigte, ja es schien sie vielmehr zu fördern« (S 429). Die Müdigkeit der Sekretäre erscheint K. dagegen in einem ganz anderen Licht. Diese ist eine Müdigkeit inmitten glücklicher Arbeit, etwas was nach aussenhin wie Müdigkeit aussah und eigentlich unzerstörbare Ruhe, unzerstörbarer Frieden war. Wenn man mittags ein wenig müde ist, so gehört das zum glückben nach Herabsetzung, Konstanterhaltung, Aufhebung der inneren Reizspannung erkannten (das Nirwanaprinzip nach einem Ausdruck von Barbara Low), wie es im Lustprinzip zum Ausdruck kommt, das ist ja eines unserer stärksten Motive, an die Existenz von Todestrieben zu glauben« (Sigmund Freud: »Jenseits des Lustprinzips«, in: Gesammelte Werke, hg. v. Anna Freud, Bd. 13, Frankfurt am Main: Fischer 1999, 1-69, hier: 40 und 60. 43 W. G. Sebald: »The Undiscovered Country: The Death Motif in Kafka’s Castle«, in: Journal of European Studies 2 (1972), 22-34, hier: 34.
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lichen natürlichen Verlauf des Tags. Die Herren hier haben immerfort Mittag, sagte sich K. (S 430)
Interpretiert K. die eigene Müdigkeit immer wieder als Schwäche und Versagen, so wird ihm die Müdigkeit der Schlossbewohner – von Frau Brunswick bis zu den Sekretären – zum Vorbild und zur Utopie. Diese ist keine Fluchtbewegung, sondern Ruhe inmitten des tätigen Lebens, eines Lebens in der Gemeinschaft – ein Zustand, der in Das Schloss zwar angedeutet wird, für Kafkas Protagonisten aber letztlich unerreichbar bleibt.
Interpretation’s End The Place of Possibility in The Castle M ICHAEL W OOD
Kafka’s beloved Flaubert aspired to strike the note of what he called “le comique qui ne fait pas rire,”1 the comical that does not make us laugh. Kafka developed his own version of this mode, but we must immediately qualify the connection, because with him both the present comedy and the absent laughter are different. The very idea of bleakness takes on another shade. In Kafka, and particularly in Das Schloss, we meet a topography of despair that is so issueless, so impeccably closed, that we may find ourselves beginning to smile at its elegance—in the sense of the elegance of a mathematical solution to a problem. There is a form of precision that takes us beyond precision: “Genau genommen ist man verzweifelt, noch genauer genommen ist man sehr glücklich” (S 422), the official Bürgel says in Das Schloss. But then our smile itself is troubled by another shift in the ground, the fleeting, failed chance of an opening of the remorseless logical trap. The English philosopher Gillian Rose connected Kafka’s often reported smile with what she called a “passionate good humour […] be-
1
Gustave Flaubert: Correspondance, tome II, Paris: Editions de la Pleiade 1980, 85. The full sentence is “Le comique arrivé à l’extrême, le comique qui ne fait pas rire, le lyrisme dans la blague, est pour moi tout ce qui me fait le plus envie comme écrivain.”
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yond hope or hopelessness.”2 We may question the terms, but the insight they are reaching for is important. There is in Kafka a balance or a patience of the kind we associate with good humour, and this note is especially marked in his late work. Stanley Corngold has spoken of the hermeneutic allure (dem “hermeneutische[n] Reiz[]”)3 of Das Schloss —an ambiguous word certainly, but an interesting one. Critics have returned again and again the idea of the comic in Kafka, and notably in recent years. But how are we to catch this tone and also remember the desolation of Das Schloss; the infinitely echoing uses of words like “trostlos” and “öde.” Desolation and the inconsolable are not beyond hopelessness. They are hopelessness. Rose was thinking of the famous exchange with Max Brod, in which Kafka as you know said he sometimes saw our world as one of God’s bad moods: “‘So there would be hope outside our world?’ Brod said. ‘Plenty of hope,’ Kafka said, smiling, ‘for God—no end of hope— only not for us.’”4 Rose offers this ingenious translation. “God possesses our hope, as it were. We are not only absent to ourselves in hope, but even this hope is absent to us.” However, there is the smile in which she sees “the passionate good humour of the utterer and the utterance, beyond hope or hopelessness”—the good humour, we might say, of the human that stands in such contrast to the God of bad moods.5 There is an implied equation between hope and moodiness, and between good humour and a realm where hope doesn’t even come into question. With one qualification, this is the realm of Kafka’s late work. Hope comes into question there, regularly, as a source of some of the work’s most intricate and baffling ironies; but it doesn’t come up as a realized possibility, its cancellation is always at hand. We might say then that there is plenty of hope as a topic of conversation, only none for those who need to act on it, or need it in order to act. This is the topography of the world of Das Schloss, intuited by K. at the beginning, cruelly laid out in the account of Amalia’s families woes, and subjected to masterly, 2 3 4 5
Gillian Rose: The Broken Middle. Oxford: Blackwell, 1992, 76. Stanley Corngold, in this volume, 70. Max Brod: Franz Kafka: a Biography, trans. by G. Humphreys Roberts and Richard Winston, New York: Da Capo Press 1995, 75. Rose, The Broken Middle, see footnote 2, 75p.
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desperate or sadistic or fantasmatic scholarly exegesis by the official Bürgel as K. dozes at the foot of his bed. It is because of the perfection of this structure that Bürgel can speak of not only of the excellence of such arrangements but of their recurringly unimaginable excellence. “Das ist ja eine vorzügliche, immer wieder unvorstellbar vorzügliche Einrichtung” (S 425). There is a little more to the sentence, of course. “Das ist ja eine vorzügliche, immer wieder unvorstellbar vorzügliche Einrichtung, wenn auch in anderer Hinsicht trostlos” (S 425). Once we have understood that this other respect is both a refutation of the whole system and an integral part of the system’s functioning we may have begun to glimpse what a world actually beyond hope and hopelessness might look like. Is it entertaining or instructive or just horrifying that we hear Bürgel’s language run through K.’s mind right at the start of the novel when he learns there is a telephone in the inn. “Wie, auch ein Telephon war in diesem Dorftwirtshaus? Man war vorzüglich eingerichtet. Im einzelnen überraschte es K., im Ganzen hatte er es freilich erwartet.” (S 10). What does it mean that K. already knows the logic he seems to have come this village to learn? If we have understood the mingling of excellence and desolation, of surprise and expectation, as if logic itself was being turned inside out, and there was no rule of the excluded middle but only a rule of the always included ends, have we exhausted interpretation, have we found some sort of certainty, however bewildering? Have we reached a form of intellectual peace, a stay of our restlessness? Of course not. How could we? But we have, I think, come quite close to these destinations, and the closeness is an aspect of Kafka’s late style. If interpretation never ends in Kafka, the hankering for such an ending is everywhere, and it is the fate of this hankering that seems to change over his career. In Das Schloss the hankering actually finds its own geography: the castle and the village are separated by a huge moral and psychological, even political and metaphysical gulf; and they are close neighbors. “Sie missdeuten alles, auch das Schweigen[,]” the landlady tells K. (S 129). And of course one implied response to such an accusation—it is not K.’s, or not K.’s just yet—would be to stop. If there are no deeds there are no misdeeds. K. himself in a celebrated phrase cries out to Olga, “Lass die Deutungen!” (S 324). This is an illuminating moment
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because Olga is not actually interpreting anything, she is describing an interpretative problem, and that, it seems, is what provokes K.’s cry. The problem has to do with tone, and how to understand what Amalia says. “Es ist nicht leicht sie genau zu verstehen, weil man oft nicht weiss, ob sie ironisch oder ernst spricht, meistens ist es ja ernst, aber es klingt ironisch.” (S 324)—a rather beautiful inversion of what we might take to be the more usual situation, where irony sounds as if it means what it says but doesn’t. Amalia, it seems, may mean literally what she seems to be saying ironically. We glimpse again the structure of understanding that is beyond hope and hopelessness. This tonal problem defeats interpretation entirely, or at least will always provide a ground for yet another interpretation. A desolate arrangement if you’re looking for settled meaning or certainty, but in its way unimaginably excellent. And of course there is a very clear if also rather discreet sign in Das Schloss, that we are not looking for certainty and the end of interpretation anyway, even when we think we are, even when we dream of nothing else. In the early pages of the book a bell rings from the castle as K. is moving away from it, “als sollte ihm aber noch zum vorläufigen Abschied ein Zeichen gegeben werden” (S 29). This is one of those phrases that Stanley Corngold so wittily lists in his chapter, concluding that the hypothetical is probably true.6 This is precisely the case here. The bell rings as if it was a sign, and of course it is a sign. As a matter of fact, there can be no as if with signs, even pretend signs are signs of something. And what is this sign? It’s a mild threat. Or… it’s as if it’s a mild threat, “so als drohe ihm – denn auch schmerzlich war der Klang – die Erfüllung dessen, wonach er sich unsicher sehnte” (S 29). The thought is not too far from Bürgel’s claim that happiness can be suicidal —“Wie selbstmörderisch das Glück sein kann” (S 423). Of course Bürgel is not going to commit suicide, he’s going to go back to sleep; but he understands something about the world he is in. It is possible that to be truly happy in this world would be to be dead. Another excellent arrangement. Unhappiness can be suicidal as well, as we know from Das Urteil. And we know from Der Process that if one is arrested the executioners will finally come and put one’s guilt and striving to rest. This is one 6
Corngold, in this volume, 83.
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way in which Kafka secures an end to interpretation—and to his texts. He has another, less lethal way, and that is the perfection of his parables and aphorisms, beautiful interlocking structures of impossibility where the parts talk endlessly to each other but the endless talk itself becomes a kind of end, affords a form of logical and moral and artistic closure. In Das Schloss, he opens up that closure again—repeatedly, endlessly. We may think of K.’s first encounter with the church that looks like a chapel, the school that seems both provisionally built and ancient, his odd exchange with the schoolteacher about liking or not liking the castle, and above all his experience of the endless village and the street that enacts a spatial relation to the castle that undoes the very idea of distance: “wenn sie sich auch vom Schloss nicht entfernte, so kam sie ihm doch auch nicht näher” (S 21). These riddles become the map and model of a social system that will not change—not because it can’t or shouldn’t but because… it doesn’t. It happens not to; but it always happens not to. Is that an accident? Philosophically and statistically yes. But how many times does it have to recur in order to feel like destiny or history? Is there, in this remorseless failure of every chance of change, a submerged desire for stasis, a version of Freud’s death-drive? These are among the questions that arise from Amalia’s story and Burgel’s ecstatic theorizing. Amalia says Frieda’s relation to the scorned family is not enmity, not “Feindschaft”, but just convention, “bloß ein Nachbeten der allgemeinen Meinung” (S 267). She is right and wrong about this, rather in the way that we may all be right and wrong about conventions. They can be mere conventions, and they can make the world as unalterable as if they were the laws of physics. This is Olga’s theory of her family’s situation, a piece of social analysis worth quoting at length: [G]erade zu jener Zeit begann die Verachtung für uns […] sich zu entwickeln. Man merkte, dass wir nicht die Kraft hatten, uns aus der Briefgeschichte herauszuarbeiten und man nahm uns das sehr übel, man unterschätzte nicht die Schwere unseres Schicksals, trotzdem man es nicht genau kannte, man hätte, wenn wir es überwunden hätten, uns entsprechend hoch geehrt, da es uns aber nicht gelungen war, tat man das, was man bisher nur vorläufig getan hatte, endgültig, man schloss uns aus jedem Krei-
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se aus, man wusste dass man selbst die Probe wahrscheinlich nicht besser bestanden hätte als wir, aber um so notwendiger war es sich von uns völlig zu trennen. Nun sprach man von uns nicht mehr wie von Menschen[.] (S 332f.)
The beauty of this thought in this context is that it doesn’t have to be all true to be powerful. Olga may be wrong about the possibilities that remained to the family; and about the importance of their failure to overcome the Briefgeschichte. Still, her shifting of the crisis from the Amalia event to the moral resources of the family is a striking move, and she is not wrong about the result. That is, there may or may not have been a chance for them to have been still treated as people, and it may or may not have depended on them; but if there was a chance, that was the chance, and once it was gone it was gone. It was a form of opportunity as Bürgel defines the term, although in this case not too great to be used, but just too slim to be of any help. It was not therefore, as it turned out, an opportunity at all, just the shadow or the ghost of what might have been one. This is how Kafka opens up one of his closed topographies, and allows us to watch it close again, wondering whether the chance that wasn’t a chance makes things worse or better, and which part of this system is excellent and which is desolate. And this is of course the system that Bürgel describes with such loving, self-absorbed care. But before I look more closely at this description I want to pause over K. and what he thinks at a certain moment. This is a moment that raises the possibility that K. has, without knowing it, become a villager, become the hiesiger that everyone says he is not. I’m thinking of K.’s initial response to Bürgel’s questions about his case. He responds not like the seeker or quester we imagine he is but like a weary local. He is literally weary, and he has just fortified himself with a carafe of rum (S 403). But the weariness he articulates in his mind is moral and I would suggest political rather than physical. He talks not like Olga but like the rest of the community. He smiles to himself, as Kafka’s characters often so strangely do. Bürgel has asked him if he is not suffering from his lack of employment:
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‘[L]eiden Sie denn nicht darunter?’ ‘Ich leide darunter’, sagte K. langsam und lächelte für sich, denn gerade jetzt litt er darunter nicht im geringsten. Auch machte das Anerbieten Bürgels wenig Eindruck auf ihn. Es war ja durchaus dilettantisch. (S 409)
Dilettantisch. It’s the expert’s weary word. K. thinks he now knows more about his case than anyone else can, even if that someone is an official. Again, he doesn’t have to be right about this, and he almost certainly isn’t. But the judgment of someone else’s incompetence or inexpertise is another of those delicate Kafka probabilities, there is no as if about it, everyone’s judgement is final when it comes weariness or prejudice or assumed knowledge. So that whether Bürgel is sincere, competent, sadistic or dreaming, his theory remains the best account we have of the logic of a world where everything could (just possibly) change, but nothing does. Do we live in such a world? Does Kafka think we live in such a world? Let me suggest for the moment, perhaps too cryptically, that we do live in such a world, and that Kafka thinks we do—until it turns out that we don’t. Bürgel puts it very well—and anticipates Stanley Corngold’s conclusion—when he says the appearance perhaps corresponds to the reality,7 “vielleicht entspricht der Schein tatsächlich der Wirklichkeit” (S 410). But then again, perhaps it doesn’t; perhaps it rather resembles Amalia’s tone of speech. But could changes and exceptions actually occur in this world? Bürgel explains how they could and why they don’t: “Es kann gar nicht vorkommen. Aber eines Nachts – wer kann für alles bürgen? – kommt es doch vor.” (S 421). Is that the end of it? No, because one could then show that there is no place in the world for what has happened, “für sie sei kein Platz auf der Welt” (S 421), so that although it has happened, it is as if it hadn’t happened, the place the event could have occupied doesn’t exist. This is precisely what topography often means in this novel: a place that erases the very idea of place. And this is what Bürgel means by unused opportunities—opportunities not taken and also opportunities canceled as soon as they are taken.
7
Corngold, in this volume, 83.
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But his is not the last word. Kafka gives him the voice of an institution dedicated to its own preservation, and willing only to play, to do nothing more than play, with the possibility of its own demise or alteration—he is wrong to say there are opportunities too great to be used, and that there things that are wrecked only by themselves or on themselves: “Nur gibt es freilich Gelegenheiten, die gewissermassen zu gross sind, um benützt zu werden; es gibt Dinge, die an nichts anderem als an sich selbst scheitern.” (S 426). Or rather, he is not entirely wrong, the occasions and things he describes really exist. But other occasions and things exist too, for better and for worse. Many political monsters have taken opportunities that seemed too great to be used, and many things have been wrecked by forces quite outside themselves. It’s Kafka’s impeccable sense of the truth and of the limitations of what Bürgel is saying that produces the effect of desolate comedy, of comedy and desolation, and that Gillian Rose ascribes to a passionate good humour. If we don’t use this name for the mood or tone in question, what shall we call it? The question begins to feel like a riddle. What kind of arrangement is “immer wieder unvorstellbar vorzüglich” and “in anderer Hinsicht trostlos” (S 425)? First tautological answer: the arrangement of the world of Das Schloss. Second tautological answer: an arrangement that can’t make us laugh because it’s too perfectly comfortless, and that must make us smile because its lack of comfort is too perfect. Third, less tautological answer: an arrangement that has counsel for us, in Walter Benjamin’s sense, because it conjures up an unimaginable space, where we catch a passing but actual glimpse of what can and cannot happen,8 where we experience for a moment a flicker of the hope that isn’t for us.
8
Walter Benjamin: Illuminationen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, 388.
Zu den Autorinnen und Autoren
Stanley Corngold ist Professor (em.) für Deutsche und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Princeton University. Publikationen (Auswahl): Franz Kafka: The Necessity of Form (1988/1990) und Lambent Traces. Franz Kafka (2004/2006). Zuletzt erschienen sind Franz Kafka: The Ghosts in the Machine (gemeinsam mit Benno Wagner, 2011) und Kafka for the Twenty-First Century (Mitherausgeber, 2011). Carolin Duttlinger ist Dozentin für Germanistik (Neuere Deutsche Literaturwissenschaft) an der Oxford University. Publikationen (Auswahl): Kafka and Photography (2007) und Curiosity in German Literature and Culture after 1700 (Sondernummer von Oxford German Studies, Mitherausgeberin, 2009). Zuletzt erschienen sind Walter Benjamins anthropologisches Denken (Mitherausgeberin, 2012) und The Cambridge Introduction to Franz Kafka (2013). Manfred Engel ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken. Publikationen (Auswahl): Franz Kafka und die Weltliteratur (Mitherausgeber, 2006) und Kafka-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung (Mitherausgeber, 2010). Zuletzt erschienen sind Kafka und die kleine Prosa der Moderne / Kafka and Short Modernist Prose (Mitherausgeber, 2010) und Kafka, Prag und der Erste Weltkrieg / Kafka, Prague and the First World War (Mitherausgeber, 2012).
254 | ZU DEN A UTORINNEN UND AUTOREN
Anne Jamison ist Professorin für Englisch an der University of Utah. Publikationen (Auswahl): Poetics en Passant: Revising the Relationship Between Victorian and Modern Poetry (2010). Im Erscheinen: Fic: Why Fanfiction is Taking Over The World (2013) und Kafka’s Other Prague: Late Writings in a New Republic (2014). Malte Kleinwort ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der FernUniversität in Hagen. Publikationen (Auswahl): Kafkas Verfahren. Literatur, Individuum und Gesellschaft im Umkreis von Kafkas Briefen an Milena (2004) und Der späte Kafka. Spätstil als Stilsuspension (2013). Bettine Menke ist Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Erfurt. Publikationen (Auswahl): Sprachfiguren. Name – Allegorie – Bild nach Walter Benjamin (1991/2001) und Prosopopoiia. Stimme und Text bei Brentano, Hoffmann, Kleist und Kafka (2000). Zuletzt erschienen sind Das Trauerspiel-Buch. Der Souverän – das Trauerspiel – Konstellationen – Ruinen (2010) und Das Melodram: ein Medienbastard (Mitherausgeberin, 2013). Gerhard Neumann ist Professor (em.) für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Ludwig-Maximilian-Universität München. Publikationen (Auswahl): Franz Kafka. Schriftverkehr (Mitherausgeber, 1990), Verfehlte Anfänge und offenes Ende. Franz Kafkas poetische Anthropologie (2011). Zuletzt erschienen sind Franz Kafka. Experte der Macht (2012) und Kafka-Lektüren (2012). Joseph Vogl ist Professor für Literatur- und Kulturwissenschaft/Medien an der Humboldt-Universität zu Berlin und Permanent Visiting Professor an der Princeton University. Publikationen (Auswahl): Ort der Gewalt. Kafkas literarische Ethik (1990/2010) und Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen (2002). Zuletzt erschienen sind Über das Zaudern (2007) und Das Gespenst des Kapitals (2010). Benno Wagner ist Professor für deutsche Sprache und Literatur an der Chinese Culture University in Taipei. Publikationen (Auswahl): Franz
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DEN
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Kafka. Amtliche Schriften (Mitherausgeber, 2004) und Für Alle und Keinen – Lektüre, Schrift und Leben bei Nietzsche und Kafka (Mitherausgeber, 2009). Zuletzt erschienen sind Franz Kafka: The Office Writings (Mitherausgeber, 2009) und Franz Kafka: The Ghosts in the Machine (gemeinsam mit Stanley Corngold, 2011). Michael Wood ist Professor für Englisch und für Vergleichende Literaturwissenschaft an der Princeton University. Publikationen (Auswahl): Franz Kafka (2004) und Literature and the Taste of Knowledge (2005). Zuletzt erschienen sind Yeats and Violence (2010) und Film: A Very Short Introduction (2012).
Personenregister
Adorno, Theodor W. 69 Balke, Friedrich 50 Bauer, Felice 74f., 198 Beckett, Samuel 75 Benjamin, Walter 37, 48, 172, 252 Bentham, Jeremy 141 Ben-Tovim, Puah 105 Bernheimer, Charles 126f. Binder, Hartmut 78 Bismarck, Otto von 136, 174 Blampied, Edmond 132, 134 Blanchot, Maurice 38 Blüher, Hans 146f., 149-158, 162, 165-171, 174 Borges, Jorge Luis 41 Buber, Martin 147, 149, 165f. Brecht, Bertolt 215 Brod, Max 34, 86-88, 91, 95f., 100-102, 105f., 146, 246 Bruegel der Ältere, Pieter 47 Burnett, Jacob 82 Butler, Judith 112
Calasso, Roberto 81 Campe, Rüdiger 49f. Casanova, Pascale 112 Corngold, Stanley 128, 246, 248, 251 Deleuze, Gilles 33, 45, 50, 112 Derrida, Jacques 39, 52 Dickens, Charles 84 Dostojewski, Fjodor 84 Durkheim, Emile 135-137 Eco, Umberto 16, 36, 40-42, 44f., 51 Einstein, Albert 67f. Elias, Norbert 226 Flaubert, Gustave 84, 198, 200, 245 Foucault, Michel 140, 146, 213 Franz Joseph I. 139 Freud, Sigmund 60, 127, 241, 249 Galen 220, 222 Geulen, Eva 57
258 | PERSONENREGISTER
Ginsberg, Asher 147 Goethe, Johann Wolfgang 84, 212 Grimm, Jacob 107 Grimm, Wilhelm 107 Guattari, Félix 33, 45, 50 Haverkamp, Anselm 52 Heidegger, Martin 77 Heidsieck, Arnold 74 Herzl, Theodor 147 Hoffmann, Christoph 44f., 54 Hofman, Vlastislav 128 Hufeland, Christoph Wilhelm 220, 222, 231 Jakobson, Roman 17, 115 Jesenská, Milena 75f., 126, 225 Jünger, Ernst 174 Karcevskij, Sergej 116, 118, 128 Klopstock, Robert 146f. Kölbel, Martin 96, 99 Latour, Bruno 131, 134f., 137, 141f., 144f., 151, 158, 162, 165, 170, 173 Lichtenberg, Georg Christoph 202 Luhmann, Niklas 137, 164, 201 Lukács, Georg 172 Mann, Thomas 67 May, Karl 200 Miller, J. Hillis 39, 76, 77
MukaĜovský, Jan 119 Musil, Robert 14 Nekula, Marek 112f. NČmcová, Božena 126 Nietzsche, Friedrich 150 Nordau, Max 147 Ovid 35, 37 Pasley, Malcolm 65, 88, 96, 103 Petersen, Jürgen H. 175 Pollak, Ernst 126 Reuß, Roland 91f. Rose, Gillian 245f., 252 Ruppin, Arthur 147 Saussure, Ferdinand de 116, 122 Sebald, W. G. 242 Sombart, Werner 148f. Spector, Scott 112f. Staengle, Peter 91 Stifter, Adalbert 84, 200 Tarde, Gabriel 134-136, 145, 169 Verbeeck, Ludo 51f., 56, 62-64 Waldenfels, Bernhard 202 Walser, Robert 82 Weber, Max 18, 138, 180f. Wiener, Norbert 27
Lettre Eva Erdmann Vom Klein-Sein Perspektiven der Kindheit in Literatur und Film Dezember 2013, ca. 200 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-89942-583-3
Carola Gruber Ereignisse in aller Kürze Narratologische Untersuchungen zur Ereignishaftigkeit in Kürzestprosa von Thomas Bernhard, Ror Wolf und Helmut Heißenbüttel Januar 2014, ca. 360 Seiten, kart., ca. 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2433-5
Rudolf Käser, Beate Schappach (Hg.) Krank geschrieben Rhetoriken von Gesundheit und Krankheit im Diskursfeld von Literatur, Geschlecht und Medizin Dezember 2013, ca. 378 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1760-3
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Lettre Madleen Podewski Komplexe Medienordnungen Zur Rolle der Literatur in der deutsch-jüdischen Zeitschrift »Ost und West« (1901-1923) Dezember 2013, ca. 450 Seiten, kart., ca. 42,80 €, ISBN 978-3-8376-2497-7
Tanja Rudtke Kulinarische Lektüren Vom Essen und Trinken in der Literatur Dezember 2013, ca. 300 Seiten, kart., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2374-1
Hans Stauffacher, Marie-Christin Wilm (Hg.) Wahnsinn und Methode Zur Funktion von Geniefiguren in Literatur und Philosophie Dezember 2013, ca. 300 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2339-0
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Lettre Vera Bachmann Stille Wasser – tiefe Texte? Zur Ästhetik der Oberfläche in der Literatur des 19. Jahrhunderts Juni 2013, 312 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1929-4
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Daniel Henseler, Renata Makarska (Hg.) Polnische Literatur in Bewegung Die Exilwelle der 1980er Jahre März 2013, 368 Seiten, kart., zahlr. Abb., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-2032-0
Annette König Welt schreiben Globalisierungstendenzen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur aus der Schweiz Juli 2013, 200 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-2436-6
Tim Mehigan, Alan Corkhill (Hg.) Raumlektüren Der Spatial Turn und die Literatur der Moderne Februar 2013, 324 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2099-3
Johanne Mohs Aufnahmen und Zuschreibungen Literarische Schreibweisen des fotografischen Akts bei Flaubert, Proust, Perec und Roche November 2013, ca. 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., 37,80 €, ISBN 978-3-8376-2491-5
Petra Moser Nah am Tabu Experimentelle Selbsterfahrung und erotischer Eigensinn in Robert Walsers »Jakob von Gunten« September 2013, 182 Seiten, kart., zahlr. Abb., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-2341-3
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Takemitsu Morikawa Japanizität aus dem Geist der europäischen Romantik Der interkulturelle Vermittler Mori Ogai und die Reorganisierung des japanischen ›Selbstbildes‹ in der Weltgesellschaft um 1900 März 2013, 322 Seiten, kart., 38,80 €, ISBN 978-3-8376-1893-8
Jan Wilm, Mark Nixon (Hg.) Samuel Beckett und die deutsche Literatur Juli 2013, 194 Seiten, kart., zahlr. Abb., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-2067-2
Paula Wojcik Das Stereotyp als Metapher Zur Demontage des Antisemitismus in der Gegenwartsliteratur Juni 2013, 310 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-2246-1
Florian Zappe Das Zwischen schreiben Transgression und avantgardistisches Erbe bei Kathy Acker April 2013, 372 Seiten, kart., 38,80 €, ISBN 978-3-8376-2362-8
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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Nacim Ghanbari, Marcus Hahn (Hg.)
Reinigungsarbeit Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2013
Juni 2013, 216 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2353-6 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 13 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]
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