Kafkas Gabel: Überlegungen zum Ausstellen von Literatur [1. Aufl.] 9783839422588

Wie kann man Literatur ausstellen? Welchen wissenschaftlichen, pädagogischen oder ästhetischen Anspruch erhebt eine Lite

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German Pages 328 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
I. Textualität und Materialität
Die dritte Dimension. Ausgestellte Textualität bei Ernst Jünger und W.G. Sebald
Vom Nachdenken über das Ausstellen im Zeichen der Literatur. Theorien und Praktiken im Institut »Moderne im Rheinland«
Literaturvermittlung, Literaturausstellung, »ästhetische Erziehung«. Das Literaturmuseum der Moderne
Wie stellt man einen starken Autor aus?. Zur Ausstellungsstrategie der Lübecker Literaturmuseen
Gasförmig, flüssig und fest. Visualisierungsstrategien der Aggregatzustände der Literatur am Beispiel Robert Musil
Werk und Wunderkammer. Das Jünger-Haus als fortgesetzte Autorschaft und musealer Sonderfall
Stückwerk oder Werkstück?. Sammeln und Zeigen gegenständlicher Nachlassobjekte als Praktiken der Werkkonstituierung am Beispiel Ernst Jünger
II. Performanz und Interaktion
Exhibiting Literature. Austen Exhibited
Literatur zum Greifen nah. Strategien und Praktiken des gegenwärtigen Literatur- und Kulturtourismus
Literaturfestivals. Überlegungen zur Eventisierung von Literatur
Der präsentierte Schriftsteller. Zur notwendigen Langeweile von Autorenlesungen
Sich selbst ausstellen. Literaturvermittlung und Autoreninterview bei Wolf Haas
Autorinnen und Autoren
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Kafkas Gabel: Überlegungen zum Ausstellen von Literatur [1. Aufl.]
 9783839422588

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Katerina Kroucheva, Barbara Schaff (Hg.) Kafkas Gabel

Edition Museum | Band 1

Katerina Kroucheva, Barbara Schaff (Hg.)

Kafkas Gabel Überlegungen zum Ausstellen von Literatur

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildungen: »1911. Silbergabel von Franz Kafka (?)«, Deutsches Literaturarchiv Marbach Lektorat & Satz: Katerina Kroucheva u. Barbara Schaff Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2258-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung

K ATERINA K ROUCHEVA UND B ARBARA S CHAFF Ň7

I. TEXTUALITÄT UND MATERIALITÄT Die dritte Dimension. Ausgestellte Textualität bei Ernst Jünger und W.G. Sebald

H EIKE G FREREIS

UND

E LLEN S TRITTMATTER Ň25

Vom Nachdenken über das Ausstellen im Zeichen der Literatur. Theorien und Praktiken im Institut »Moderne im Rheinland«

G ERTRUDE C EPL -K AUFMANN

UND J ASMIN

G RANDE Ň54

Literaturvermittlung, Literaturausstellung, »ästhetische Erziehung«. Das Literaturmuseum der Moderne

O LIVER R UF Ň95 Wie stellt man einen starken Autor aus? Zur Ausstellungsstrategie der Lübecker Literaturmuseen

H ANS W ISSKIRCHEN Ň143 Gasförmig, flüssig und fest. Visualisierungsstrategien der Aggregatzustände der Literatur am Beispiel Robert Musil

S TEFAN K UTZENBERGER Ň165 Werk und Wunderkammer. Das Jünger-Haus als fortgesetzte Autorschaft und musealer Sonderfall

N IELS P ENKE Ň185

Stückwerk oder Werkstück? Sammeln und Zeigen gegenständlicher Nachlassobjekte als Praktiken der Werkkonstituierung am Beispiel Ernst Jünger

F ELICITAS H ARTMANN Ň197

II. Performanz und Interaktion Exhibiting Literature. Austen Exhibited

N ICOLA J. W ATSON Ň227 Literatur zum Greifen nah. Strategien und Praktiken des gegenwärtigen Literatur- und Kulturtourismus

U RTE S TOBBE Ň251 Literaturfestivals. Überlegungen zur Eventisierung von Literatur

B ARBARA S CHAFF Ň271 Der präsentierte Schriftsteller. Zur notwendigen Langeweile von Autorenlesungen

R AINER M ORITZ Ň289 Sich selbst ausstellen. Literaturvermittlung und Autoreninterview bei Wolf Haas

D AVID -C HRISTOPHER A SSMANN Ň297 Autorinnen und Autoren Ň323

Einleitung K ATERINA K ROUCHEVA UND B ARBARA S CHAFF

DIE BESTE ALLER MÖGLICHEN KAFKA-GABELN Es kommt zweifellos einer Herausforderung an den wohlwollenden und für vielgestaltige Erfahrungen geistiger Art offenen Literaturliebhaber gleich, wenn ausgerechnet Franz Kafka eine Gabel hinterlässt, die Eingang ins Literaturarchiv findet – ausgerechnet der Autor, der, dessen Selbstdarstellungen zufolge, aus nichts anderem bestand als aus »Litteratur«,1 der sich selbst als »der magerste Mensch«2 galt und vom Hungern als Kunst schrieb. Zudem ist Kafka ein Schriftsteller, dessen längst kanonisch gewordene ästhetische Radikalität, dessen scheinbar hermetische Texte und dessen anekdotische lebensweltliche Hilflosigkeit maßgeblich dazu beigetragen haben, dass er als einzigartig entkörperlicht wahrgenommen wird. Im Zwischenreich von unwiederbringlichem (Selbst)Verlust und nicht stattgefundener Materialität schwebt, wie alle anderen Sebald-Figuren, »am Rande der Auflösung«,3 auch die Romanfigur Franz Kafka in der ihm gewidmeten Erzählung in Schwindel. Gefühle. Wegen der Erinnerung an Fe-

1

»Da ich nichts anderes bin als Litteratur und nichts anderes sein kann und will«, so der berühmte Briefentwurf an Felices Vater vom 21.8.1913, s. Franz Kafka: Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe, hg. von Gerhard Neumann et al., Frankfurt/Main: Fischer, 1982ff., Bd.: Tagebücher, Textband, 1991, S. 579.

2

Brief an Felice Bauer vom 1.11.1912, in: Franz Kafka, Schriften, Tagebücher, Briefe, Bd.: Briefe 1900-1912, 1999, S. 202.

3

W.G. Sebald: Schwindel. Gefühle, Frankfurt/Main: Eichborn 1990, S. 169.

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lice ist er beim Aufwachen und während der Mahlzeiten in der Wasserheilanstalt in Riva so bedrückt, dass er glaubt, »gelähmt zu sein und das Eßbesteck nicht mehr handhaben zu können«.4 Die Darstellung des Mannes, dem sein eigenes Essbesteck zum Feind wird, entspricht so sehr dem gängigen Kafka-Bild, dass wir, wenn wir im Museum mit einer Gabel konfrontiert werden, die zudem nur hypothetisch dem Schriftsteller gehört hat,5 die Situation als verwirrend, enttäuschend oder absurd empfinden mögen. Zudem handelt es sich um eine besonders uncharismatische Gabel, die jeden in poetisierender Absicht abgefassten Kommentar Lügen straft. Sollte sie authentisch sein, ist sie ein gutes Beispiel dafür, wie wenig auratisch Authentizität unter Umständen sein kann. Denn im Grunde hätten wir uns von Kafka, wenn überhaupt eine Gabel, eine andere Gabel gewünscht. Eine weniger schlichte womöglich, eine, die den erdrückenden Mief der k.u.k. Monarchie oder die todgeweihte Schönheit des Fin de siècle zum Ausdruck zu bringen vermochte. Die einzige bildliche Darstellung, welche die Gabel zu bieten hat, der Kentaur auf der Rückseite, ist kaum sichtbar und nicht dazu angetan, einen Gabelkanon zu begründen. Der Hinweis im Museumskommentar, es handle sich um den »weise[n] Kentauer Chiron, der in der antiken Sage die Söhne des Gottes Apoll in Heilkunst und Jagd ausbildet«, täuscht nicht über den Befund hinweg, dass dieser Gabel-Kentaur literaturhistorisch absolut irrelevant ist. Selbst Kafkas – immerhin in den Briefen vierfach erwähntes6 – Ohropax gibt in unserem Kontext mehr her, lässt es sich doch mühelos in den Kult um den sensiblen Dichter einbinden.7

4

Ebd., S. 171.

5

Der Kommentartext erläutert: »1911. Silbergabel von Franz Kafka (?): Kafka, der oft für seine Arbeit als Jurist bei einer Unfallversicherungsanstalt die Fabriken Nordböhmens besucht und mit eigenem Besteck reist, soll diese Gabel 1911 beim Kartenspiel in Friedland an einen Kutscher verloren haben. Auf der Unterseite ist die Gabel mit einem Motiv gestempelt: Eine Figur, halb Mann, halb Pferd, mit gespanntem Bogen – der weise Kentauer Chiron, der in der antiken Sage die Söhne des Gottes Apoll in Heilkunst und Jagd ausbildet.« Wir danken Heike Gfrereis, die uns die Daten im Zusammenhang mit der Gabel zur Verfügung stellte.

6

Briefe an Felice Bauer vom 5.4.1915, an Max Brod vom 30.6.1922 und an Robert Klopstock vom 26.06.1922 und 24.07.1922, in: Franz Kafka: Briefe an Fe-

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Gerade wegen ihrer hartnäckigen Weigerung, in eine irgendwie geartete Instrumentalisierung einbezogen zu werden, ist diese Gabel, wie wir fanden, ein besonders gutes Titelmotiv für ein Buch wie dieses, das eine Vorstellung von der Fülle an Möglichkeiten zur Präsentation von Literatur geben und den Methodenpluralismus auf diesem vergleichsweise noch jungen Forschungsgebiet dokumentieren will. Die Herausforderung an den Besucher gehört nicht weniger zur Praxis der heutigen Ausstellungsmacher als die Erfahrung, dass die Ausstellbarkeit von Literatur oft nicht mehr ausführlich diskutiert, sondern mit apodiktischer Geste verworfen oder eben verteidigt wird, um das eigene Ausstellungskonzept zu begründen.8 Im Zeichen des Material Turn setzt sich die Erkenntnis durch, dass Wissen wie auch ästhetische Produktion an Materialität gebunden ist und den Dingen in kommunikativen Prozessen eine entscheidende Wirkungsmacht zukommt. Ihre Aufgabe in diesem Band sahen die Beiträger darin, unterschiedliche Aspekte des faktischen Ausgestelltseins von Literatur zu beschreiben und uns Einblicke in ihre Arbeit und in den Alltag des Literaturbetriebs zu ge-

lice und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit, hg. von Erich Heller und Jürgen Born Frankfurt/Main: Fischer 1967, S. 632; Franz Kafka: Gesammelte Werke, hg. von Max Brod, Frankfurt/Main 1946ff., Bd.: Briefe 1902-1924, 1954, S. 379, 376, 398. 7

»Unentbehrlich gegen den Lärm der Welt: Ohropax«, kommentiert metaphorisierend etwa der Kafka-Bildarchiv-Verleger Klaus Wagenbach den sprichwörtlich gewordenen Fund in Kafkas Nachlass, der mittlerweile auch in der Ohropax-Werbung Erwähnung findet, s. Klaus Wagenbach (Hg.), Franz Kafka. Bilder aus seinem Leben, Überarbeitete und erweiterte Ausgabe, Berlin: Wagenbach 2008, S. 193.

8

Bezeichnenderweise vertreten in diesem Band Heike Gfrereis und Gertrude Cepl-Kaufmann/Jasmin Grande gegensätzliche Positionen zum Thema »Ausstellbarkeit«, ohne dass sich dadurch ihre Ansichten zu ihrer Arbeit als Ausstellungsmacherinnen grundsätzlich widersprächen. S. etwa Gfrereis: »Natürlich kann man Literatur nicht ausstellen.«, in: Heike Gfrereis: »Nichts als schmutzige Finger. Soll man Literatur ausstellen?«, in: Heike Gfrereis/Marcel Lepper (Hg.), Deixis. Vom Denken mit dem Zeigefinger, Göttingen: Wallstein 2007, S. 81-89, hier S. 81; vgl. dazu Grande/Cepl-Kaufmann in diesem Band: »Literatur ist ausstellbar!«. Einen Überblick über die Forschungspositionen zum Thema liefert der Beitrag von Oliver Ruf.

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währen. Uns ging es dabei ausdrücklich nicht darum, ob ein konkretes Ausstellungskonzept realisiert wurde oder nicht, sondern um die Einzigartigkeit und zugleich Repräsentativität der darin zum Einsatz kommenden Gestaltungsmittel. Diese Gegenüberstellung unterschiedlicher Sichtweisen auf Formen der Literaturvermittlung, die von Vertretern literaturvermittelnder Institutionen – Museumskuratoren, Ausstellungsmachern, Leitern von Literaturhäusern und Literaturwissenschaftlern – vorgetragen werden, war für uns willkommener Anlass, uns mit dem komplexen Spannungsfeld von Materialität, Visualisierungsstrategien, Performanz und Aura auseinanderzusetzen. Die kritische Diskussion einiger der hierzu vertretenen Positionen war Ziel der vom Zentrum für komparatistische Studien der Universität Göttingen im September 2011 veranstalteten Tagung Literatur ausstellen. Interdisziplinäre und intermediale Aspekte von Literaturvermittlung. Diese Tagung bot Raum für eine Reflexion der Widersprüche, die Beschaffenheit und Gebrauch dessen kennzeichnen, was vom biografischen Autor, von der Materialität seines Umfelds und seiner Produktionsstätte übrig bleibt. In diesem Rahmen kam die Problematik der aktuell wieder stärkeren Konjunktur von Lesereisen, des Booms von Literaturfestivals und der gesteigerten medialen Aufmerksamkeit an der Person des Autors, aber auch des Alltags eines Archivs, das sich weniger medienwirksamer Mittel bedient, zur Sprache. Als wichtige Schnittstelle zwischen Autor, Text und Leser nehmen die Institutionen, die unsere Beiträger vertreten, die Herausforderung der Ausstellung von Literatur auf dynamische Weise an und realisieren biografische, materielle, wirkungsorientierte oder literaturhistorische Vermittlungsformen. Sie kontextualisieren Autoren und Werke in den größeren Zusammenhängen kultureller Erinnerung und regionaler wie nationaler Identität und beeinflussen damit nicht zuletzt auch Kanonisierungsprozesse. Denn Dichterhäuser, Literaturmuseen, literarische Ausstellungen, Zentren und Archive sind als Institutionen gefordert, sich der Pflege des literarischen Erbes in publikumsadäquater Weise anzunehmen. Sie müssen ihre Präsentationsformen immer wieder aufs Neue erproben und beeinflussen letztlich durch ihre Arbeit das gesamte literarische Feld. Die im Sammelband vereinten Beiträge sind unterschiedlichen pädagogischen und ästhetischen Vermittlungsformen von Literatur gewidmet, die uns im Literaturbetrieb begegnen: in Literaturhäusern als lebendigen Austauschorten von Gegenwartsliteratur; in Museen und Archiven, die ihren

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Fokus auf auktoriale Artefakte und Manuskripte legen; in Selbstinszenierungspraktiken, die zum festen Bestandteil des Literaturbetriebs geworden sind und die etwa im Autoreninterview zum Einsatz kommen; und letztlich auch in Stadträumen und Landschaften, in die Autoren beispielsweise durch Hinweistafeln und Literaturdenkmäler eingeschrieben werden. Auch die Praktiken der Rezipienten als Besucher von Literaturmuseen, Autorenlesungen, Literaturfestivals und als Literaturtouristen werden in diesem Band berücksichtigt. Der berechtigte Ernst, der aus dem pädagogischen Auftrag, der Verwaltung des literarischen Erbes, den aufgeworfenen philologischen Fragestellungen oder dem eigenen künstlerischen Anspruch unserer Autoren hervorgeht, konnte in den fruchtbaren Diskussionen um inspirierende, zuweilen aber auch scheinbar alles in Frage stellende Fallbeispiele – und als solches musste mehr als einmal Kafkas Gabel herhalten9 – immer wieder zurückgenommen und mit gesunder Skepsis angereichert werden. Und insofern ist Kafkas Gabel, ob nun erfunden oder nicht,10 für den Forscher auf dem Gebiet der Literaturvermittlung »eine Perle, effektiv eine Perle!«, wie der erste Besucher des Buddenbrookhauses, Hermann Hagenström, in Heinrich Breloers Spielfilm siegessicher verkündet, bevor er sich das Haus aneignet, das schon vor dem Verfall der Senatorenfamilie eigentlich bereits ein Museum ist.11

AURA – TECHNIK – AUTHENTIZITÄT Werden Inhalte und Identitäten oder schlicht Artefakte – auf der Seite des Ausstellenden betont entauratisierend als »Flachware« (Gfrereis/Strittmatter), »arme Materialien« (Kutzenberger) oder »leblose Materialien« (Wiß9

In diesem Sinne wurde auf unserer Tagung Kafkas Gabel zuerst im Vortrag von Matthias Beilein thematisiert, der in diesem Band leider nicht veröffentlich wird.

10 Über das Verhältnis zwischen Gabelerfindung und Kanonrevision belehrt uns eingängig auch das Gedicht Die Fabel von Schnabels Gabel in Doktor Erich Kästners lyrischer Hausapotheke (1936), s. dazu Stefan Neuhaus: Revision des literarischen Kanons, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002, S. 75f. 11 Heinrich Breloer: Buddenbrooks, Deutschland 2008.

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kirchen) tituliert – aufbewahrt und ausgestellt? Diese Frage ist bekanntlich nicht eindeutig zu beantworten. Eines der interessantesten Ergebnisse unserer Tagung besteht darin, dass in Zeiten, in denen literarwissenschaftliche Konzepte auf dem Vormarsch sind, die sich den Material Turn und die Verräumlichung literarischer Strukturen auf die Fahnen schreiben, die »Aura« ein wichtiger Terminus technicus, ein zentrales Motiv, ja, ein zentrales Anliegen für viele der auf dem Gebiet der Literaturvermittlung Schaffenden ist. Dabei wird der Begriff mit unterschiedlichen, nicht immer explizierten Bedeutungen versehen, die folgende Fragen generieren: Welche Orte, Gegenstände, Persönlichkeiten kommen als Aura-Träger in Frage? Wie wird die Entstehung der Aura erklärt? Welcher Zusammenhang wird zwischen Aura und Authentizität angenommen? Wird die Technik als ein Faktor verstanden, der »Andacht« (Aby Warburg) und »Aura« (Walter Benjamin) unmöglich macht? Fördert der »Mythos« die Erkenntnis (Ernst Cassirer) oder stellt er gar ein kunstverhinderndes Element dar? Kann die Aura nach dem jeweiligen Konzept im Nachhinein auf ursprünglich nichtauratische Objekte übertragen werden? Zu welchem Zweck und mit welchen Folgen wird »auratisiert«? Welchen wissenschaftlichen, pädagogischen oder künstlerischen Anspruch erhebt eine Literaturausstellung? Welche Rolle wird dabei dem Besucher zugewiesen? Wie wird im Rahmen der einzelnen Konzepte mit der Geschichte des Aurabegriffs umgegangen? Welche historischen Konzepte zur Kunsttheorie werden bei der Formulierung der einzelnen Ausstellungskonzepte eingesetzt? Ein Verständnis von Aura, nach dem diese eine sinnlich fassbare, jedoch nicht rational erklärbare Eigenschaft darstellt, die in erster Linie dem Künstler und den mit ihm unmittelbar verbundenen historischen Dokumenten – darunter natürlich der von ihm selbst geschaffenen Kunstwerke – innewohnt, wird im Kontext des Ausstellens von Literatur vom frühen Ausstellungstheoretiker Wolfgang Barthel 1990 folgendermaßen formuliert: Wer ein literarisches Memorial ›gestaltet‹, weiß um die auratische Kraft und Wirkung einer derartigen Einrichtung und ihrer Objekte. Haus und Ausgestaltung, so wünscht er sich, sollten original sein, das heißt, sie sollten im Besitzstand, Farbigkeit, Aufstellung und Arrangement, ja selbst hinsichtlich der Lichtverhältnisse u.ä.

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genau oder doch annähernd genau den Wohn- und Schaffensraum eines Autors in einer bestimmten Phase seines Lebens widerspiegeln.12

Die zitierte Vorstellung folgt Walter Benjamins diskursbegründenden Überlegungen13 insofern, als die Autorität des ausgestellten Objekts, die zunächst mit seiner Authentizität einhergeht, sinnstiftend ist. Der technische Fortschritt kann die Aura beeinflussen, einerseits indem er sie im Vorgang der Reproduktion abschwächt, andererseits indem mit seiner Hilfe Aura nachträglich erzeugt und damit eine immense gesellschaftliche Wirkung entfaltet werden kann. In unserem Band wird eine in dieser Tradition stehende Position in etwa von HANS WISSKIRCHEN vertreten. Die Merkmale der Größe und Einzigartigkeit, der Komplexität und Repräsentativität, welche die Auswahl motivieren, gehen für Wißkirchen auf die Axiologie eines klassikorientierten Kanons zurück. Entsprechend ist auch die Inszenierung des ausgestellten Autors als eines »starken Autors«, d.h. als herausragende, auratische Persönlichkeit, die eine »starke Rolle im literarischen Feld« einnimmt. Der »starke Autor« übt eine starke gesellschaftliche Wirkung, indem er als Sprachrohr seiner Gesellschaft auftritt, institutionelle Anerkennung etwa in der Form von Literaturauszeichnungen, der Aufnahme in einen überzeitlich gültigen Kanon (seine Werke haben »ihren Platz in der Literaturgeschichte«) und der Einbindung in den Wissenschaftsbetrieb genießt und zuweilen, wie im Falle von Günter Grass, an der eigenen Musealisierung aktiv mitarbeitet. Dabei verfügt der Ausstellungsmacher, wie bereits in Barthels Aussage klar wird, über die technischen Mittel, mit denen die Aura der Authentizität über die Faktizität hinaus im Nachhinein erzeugt, nachgestellt werden kann. So wird für das Buddenbrookhaus der Status eines Ortes vorausgesetzt, der die literarische Aura beheimatet und ihr zur Entfaltung im Rahmen der »literarischen Rekonstruktion« in Form eines »begehbaren

12 Wolfgang Barthel: »Literaturausstellungen im Visier«, in: Neue Museumskunde 33, Heft 3 (1990), S. 181-192, hier S. 187. 13 Wahrgenommen werden zumeist Benjamins vieldeutige Ausführungen in »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (Zweite Fassung, 1938)«, in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1980ff., Bd. I.2, 1980, S. 471508.

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Romans« verhilft, in der zwei zentrale Handlungsorte des Romans nachgebaut werden. Die Aura kann schließlich im Rahmen dieser Konzeption auf einen völlig neuen Standort übertragen werden, der nicht gleichermaßen biografisch und literarisch mit dem Werk und der Persönlichkeit des Autors zusammenhängt, was Wißkirchen anhand der Neudetermination der Stadt Lübeck als Reflex des nunmehr unzugänglich gewordenen Danzigs beschreibt. Den im Literaturbetrieb dominanten Umgang mit der Aura- und Authentizitätsbegrifflichkeit, seine vielfältigen Auswirkungen und die Spielarten ihrer Reflexion in der Literatur anhand von Fallbeispielen historisch-deskriptiv zu erfassen und zu analysieren, ist die Aufgabe der Beiträge von Urte Stobbe, Nicola J. Watson und David-Christopher Assmann, Rainer Moritz, Barbara Schaff, Niels Penke und Felicitas Hartmann. So zeigt URTE STOBBE, in ihrem Beitrag über die »touristische Inszenierung« von Literatur, dass Literaturausstellungen an einer Entwicklung partizipieren, die als Medialisierung von Literatur bezeichnet werden kann. Stobbe schildert die Authentizitätsvorstellungen, mit denen in der Kulturindustrie seit den 1990er Jahren gearbeitet wird, und beschreibt einen Vorgang, in dem »authentisch« nicht mehr im Sinne von »historisch wahrhaft«, sondern von »glaubwürdig« verwendet wird. Zudem ist diese Bedeutungszuschreibung, wie Stobbe betont, nicht statisch, sondern wandelbar, denn der Status der »auratischen Schätze« ändert sich im Zusammenhang mit der fingierten »Exklusivität« – eine weitere Zuschreibung, die sich ihrerseits nach der touristischen Erschließung eines Objekts im Laufe der Zeit nach und nach abnutzen und verloren gehen kann. Im Wechselspiel zwischen der Suche nach der unkritischen »Wiedererkennung« bekannter literarischer Motive und der Lust an der »Entzifferung« im Rahmen eines weniger unprätentiösen Kunstgenusses bewegt sich, so Stobbe, der Literaturtourist und sein Interesse oszilliert zwischen der quasi romantischen Begeisterung und dem bewussten Sich-darauf-Einlassen auf das Angebot der Tourismusindustrie. Mit der Medialisierung von Literatur und den damit verbundenen Änderungen in der Praxis ihres Ausstellens befasst sich auch NICOLA J. WATSON in ihrem Beitrag zur ausstellerischen Präsentation von Jane Austens Werk und Biografie und den ihnen gewidmeten touristischen Praktiken. Watson beschreibt den Wechsel zwischen zwei gegensätzlichen Kanones in der Ge-

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schichte der Austen-Verehrung: vom Ideal der strengen, emotionsfreien, wissenschaftsgesteuerten Rezeption hin zu einem Literaturverständnis, bei dem die Besucher das Bedürfnis mitteilen, Literatur »mittels ihres eigenen Körper« (»within their own body«) zu repräsentieren. Dabei geht es, wie in den von Stobbe untersuchten Fällen, nicht unbedingt um die faktische Authentizität der von den Touristen aufgesuchten literarischen und biografischen Schauplätze. Vielmehr wird die medienorientierte Wahrnehmung der Möglichkeit zur Präsentation eines Materials beobachtet, das dem authentischen ähnlich ist, es theoretisch hätte sein können und das entsprechende Gefühl vermittelt, weil es in die Nähe der Fiktion gebracht, »romanisiert« (»novelised«) werden kann. Die aufgrund dieser Konstruktion auf weitaus mehr und effektvollere Gegenstände übertragene »Aura« ermöglicht ein Erleben, das letztlich in ein Gefühl »nationaler Geborgenheit« (»national homeliness«) mündet. Mit der Konstruktion von Authentizität durch den Autor im Rahmen der Gattung des Interviews und mit der Tatsache, dass der Literaturkritik häufig die Instrumente fehlen, um damit adäquat umzugehen, befasst sich DAVIDCHRISTOPHER ASSMANN in seiner Analyse von Wolf Haas’ Roman Das Wetter vor 15 Jahren, für den der Autor die Form eines fingierten Autoreninterviews gewählt hat. Wie im Rahmen der Forschung zu Autorinszenierungen in den vergangenen Jahren nachgewiesen wird, arbeitet jedes Interview mit dem Merkmal der Authentizität; es handelt sich dabei jedoch stets um eine fingierte, manipulierte Authentizität, mit welcher der Autor dem öffentlichen Bedürfnis nach Information und der damit verbundenen Gefahr der »Beschädigung« der Literatur begegnet. Er zeichnet zudem das »Versteckspiel« nach, das der Autor im Rahmen weiterer Interviews fortführt, in denen intradiegetische Elemente weiterhin in den Paratext mit seiner als dokumentarisch ausgegebenen Faktenwiedergabe einfließen. Der Beitrag von BARBARA SCHAFF widmet sich britischen und deutschen Literaturfestivals als einem zunehmend sichtbaren und kommerziell erfolgreichen Zweig der Literaturindustrie, der von einer Vielzahl von Akteuren gestaltet wird. Sie zeigt die diskursiven wie performativen Inszenierungs- und Vermarktungsprozesse von Literatur und Autoren auf und weist vor allem auch dem Publikum in der Interaktion mit Autoren eine aktive Gestaltungsmacht des öffentlichen literarischen Raums zu. Als Phänomene

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einer populären Eventkultur sind Festivals soziale Kommunikationsräume, in denen sich literarische Interessensgruppen aus unterschiedlichen Gründen zusammen finden: Sie ermöglichen den intellektuellen Distinktionsgewinn genauso wie die Identifizierung mit einer Fangemeinde. Leser sind hier nicht passive Konsumenten, sondern als »kritische Masse« maßgeblich an der Gestaltung der Literaturevents beteiligt. Das Schweigen als Zeichen einer vertieften Einsichtnahme in den literarischen Text jenseits der Möglichkeiten der zeitgenössischen Medien, die an die Sinne des Besuchers appellieren, ist ein wichtiges Moment des Konzepts von RAINER MORITZ, der sich für die »klassische« Form der Autorenlesung einsetzt und dabei die »Langeweile« als ästhetischen Wert zelebriert. Die Aura wird in diesem Kontext als eines der Elemente des nie gänzlich ausbleibenden Event-Charakters einer Autorenlesung und damit der dabei stets mit hineinwirkenden außerliterarischen Faktoren verstanden. In diesem Sinne wird die Herausforderung einer Autorenlesung gesucht. Die Lesung soll, so Moritz, der sich vehement für das Durchsetzen eines bestimmten literarischen Qualitätsverständnisses und damit klar für eine verantwortungsvoll ausgefüllte gesellschaftliche Funktion der Lesung eintritt, »gleichsam ein Bollwerk gegen den Unterhaltungs- und Verdummungswahn« und gegen die »Häppchenkultur« sein. Als werterhaltend präsentiert sich dieses Konzept im Sinne eines Plädoyers für die Literatur und gegen den politischen oder marktbestimmten Druck, unter dem sie und ihre Akteure stehen, nicht aber im Sinne der angestrebten Aufrechterhaltung eines konservativen, klassikorientierten Literaturkanons. NIELS PENKE beschreibt die enge Beziehung zwischen Autor, Autorbehausung und schriftstellerischem Werk, wie sie in der Selbstinszenierung Ernst Jüngers durch die Gestaltung seiner letzten Wohnstätte in Wilfingen und in den diesem Haus gewidmeten Texten verfolgt werden kann. Penke betont, dass bei der Beschäftigung mit den Wohnräumen eines Autors wie Jünger, der bereits zu Lebzeiten seine eigene Musealisierung betrieb nicht von Authentizität im Sinne einer authentischen Behausung, sondern im Sinne eines Werkoriginals gesprochen werden könne. Selbst wenn davon ausgegangen wird, dass durch die unsanfte Einmischung der Kustoden der Eindruck der Authentizität der Wohnstätte und die damit verbundene Aura verloren gehen können, existiere die Einheit zwischen Haus und Werk weiter.

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Mit dem Bezug zwischen Haus und Werk im Falle des Wilfinger Domizils Jüngers befasst sich FELICITAS HARTMANN anhand des Beispiels der Sanduhrsammlung des Schriftstellers. Indem sie davon ausgeht, dass die Gegenstände im Haus eine Art »dreidimensionale[n] Werkbestandteil[...]« darstellen, untersucht Hartmann die konzeptionellen Aushandlungsprozesse, die bei der Musealisierung von Gegenständen eines Autors in Gang gesetzt werden, und widmet sich sodann dem jeweiligen Werkbezug. Gegenstände, die einen biografischen Bezug zum Autor aufweisen, besitzen den Status »auratischer Lebenszeugnisse« und sprechen allein die Emotionalität des Betrachters an, ohne einen Bezug zum Werk aufzuweisen. Die museale Präsentation betrachtet Hartmann im Falle Jüngers als eine dreidimensionale Art der Edition. Anders als Penke, der das Haus in seiner Gesamtheit als Kunstwerk in der Tradition der Wunderkammer betrachtet, untersucht Hartmann in ihrer Analyse, die sie als eine ethnografische Feldstudie unter Benutzung eines erweiterten Werkbegriffs betreibt, die unterschiedlichen Stationen der Verwandlung eines konkreten Objekts, der Sanduhr, vom Sammel- und Wohnobjekt zum philosophischen Symbol im Rahmen des schriftstellerischen Werks und schließlich, so die Autorin, zum Werkbestandteil. Aus einer anderen Perspektive nähern sich der Problematik der Literaturpräsentation die restlichen Beiträge des Bandes. Während Wißkirchen zwischen biografischer und literarischer Aura unterscheidet und die anderen der referierten Beiträger sich darüber einig sind, dass, wenn überhaupt ernsthaft von Aura gesprochen wird und nicht nur im Sinne einer »sprachlichen Übereinkunft« (Penke), dieser Begriff lediglich auf das Biografische bezogen werden könne, entwerfen Gertrude Cepl-Kaufmann/Jasmin Grande, Stefan Kutzenberger, Oliver Ruf und Heike Gfrereis/Ellen Strittmatter Modelle, bei denen die Ausstellung selbst den Platz des Bedeutungen generierenden und schöpferische Energie freisetzenden Gegenstands einnimmt. Dabei werden unterschiedliche Möglichkeiten reflektiert, Kunstkonzepte der Romantik, Moderne und Postmoderne in die Theorie und Praxis der Literaturausstellung einzubinden. Im Text von GERTRUDE CEPL-KAUFMANN und JASMIN GRANDE wird die Aura als eine wahrnehmbare Größe beschrieben, die einerseits als ontologische Eigenschaft angesehen wird, andererseits aber beeinflusst und erzeugt

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werden kann. Allerdings findet in Cepl-Kaufmanns/Grandes Konzept eine völlige Umwertung der Rolle der Aura im Ausstellungs- und Rezeptionsprozess statt. Nicht die Verneigung des Besuchers vor der auratischen »Berührungsreliquie« (Benjamin) ist der Endpunkt des Ausstellungsprozesses. Eine Literaturausstellung bedient sich im Idealfall nicht der Aura als eines Mittels zur Manipulation des Rezipienten, sie führt nicht zu seiner emotionalen und intellektuellen Entmündigung. Wo die Aura zu ausstellerischen Zwecken konstruiert, wo »auratisiert« wird, muss dies, so die Autorinnen, vielmehr im vollen Bewusstsein der eigenen Verantwortung gegenüber dem Besucher kenntlich gemacht werden. Dafür werden die Eigenschaften, die laut Benjamin für die Aura charakteristisch sind, wie »Unnahbarkeit«, »Echtheit« und »Einmaligkeit«, auf die Ausstellung selbst übertragen, die nun als Kunstwerk aufgefasst wird. Anstelle der »abschließende[n] Deutung«, mit der die »belehrende, auratisierende Umsetzung« im Rahmen eines traditionell dimensionierten pädagogischen Auftrags einhergeht, tritt die Offenheit des dialogischen Diskurses. Diese Offenheit macht die »erkenntnislastige[n] Urerlebnisse für Emanzipation und Bildung« (im Sinne Cassirers) möglich. Dass Literatur ihren eigenen Gesetzen unterliegt, dass sie »keiner einfachen chronologisch-teleologischen Linie« folgt, ist auch im Beitrag von HEIKE GFREREIS und ELLEN STRITTMATTER keine Besonderheit, deren Existenz ironisierend bestritten wird. Im Gegenteil: Ohne allerdings den Begriff der Aura zu benutzen, widmen sich die Autorinnen gerade der Visualisierung der Tatsache, dass das »Herausbilden eines eigenen poetischen Raums« ein komplexer Vorgang ist, bei dem mit Traditionen gebrochen wird, sei es, indem auf klare Grenzziehungen zwischen den Gattungen und zwischen Realem und Fiktionalem verzichtet wird, sei es, indem die »Linearität des Textflusses«, die »Logik der Schrift« oder die »Zweidimensionalität des Blatts«14 durchbrochen werden. Wenn es im Konzept von Gfrereis/Strittmatter um einen »erhöhten Handlungs- und Denkdruck« geht, der auf die Besucher durch die »Bedeutsamkeit« der Exponate ausgeübt wird, so wird sein Ergebnis als eine »stimulierte kreative Energie« beschrieben, ähnlich der, die bei der Betrachtung bedeutender Kunstwerke erzeugt wird. Die

14 Die Autorinnen zitieren an dieser Stelle Steffen Martus: Ernst Jünger, Stuttgart/ Weimar: Metzler 2001, S. 237f.

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Symbiose zwischen Ausstellung und Wissenschaft im Rahmen dieses Konzepts zeigt sich in dem Maße, in dem der Zauber der Literatur sich in der (postmodernen) literaturwissenschaftlichen Terminologie mitteilt und in dem deren Metaphorik in der Literaturausstellung an wortwörtlichem Sinn gewinnt: Das »Verschwinden des Autors im Nachlass seiner Figuren« im Falle von W.G. Sebald und das lebenslange Schreiben an »nur einem einzigen Text« bei Ernst Jünger werden in der Ausstellung in ihrer materiellen Dimension expliziert, sie werden darin zur Wirklichkeit. Im Konzept von STEFAN KUTZENBERGER treffen der künstlerische Anspruch, die Abwendung von der vereinfachenden, instruktiven Darstellung unter Berufung auf den konservativen Kanon (und seine Aurabegrifflichkeit) und der spielerische Umgang mit der modernen Intermedialität zusammen. Im Bewusstsein der Begrenztheit der Mittel zur Ausstellung von Literatur wird ein Vorschlag zur Visualisierung der Ideenwelt, der Struktur und des Schaffensprozesses im Falle von Robert Musils Mann ohne Eigenschaften formuliert, ein Vorschlag, der auf die emanzipatorische Vielfalt, auf die Ironie und die Unterhaltung im Sinne der Zerstörung von Autoritäten setzt. Das künstlerische Vorhaben, das programmatisch »artistic research« genannt und bewusst offen als die Präsentation »strukturelle[r] Möglichkeiten« angekündigt wird, orientiert sich am modernen und postmodernen Zweifel an ontologischen Ganzheiten und letzten Gewissheiten. In menippeisch anmutender Lust an den Gegensätzen lässt Kutzenberger Konzepte aufeinanderprallen, die ein schematisches Vorgehen und seine kreative Alternative repräsentieren und beschwört für die Literaturausstellung ein Modell, bei dem Künstler, Wissenschaftler und Kuratoren eng und kreativ zusammenarbeiten. OLIVER RUF argumentiert kultursemiotisch, wenn er das Marbacher Literaturmuseum der Moderne beispielhaft als einen Ort des Codierens und Decodierens darstellt, der seinen ästhetisch-erzieherischen Auftrag wahrnimmt, indem vordergründig unscheinbare Exponate ohne sichtbaren Bezug zum Werk den Betrachter zur Entdeckung einer Vielzahl von Bedeutungen zu motivieren vermögen. In der kreativitätsfördernden und wissensunterstützenden Funktion dieses Museums, das Ruf als eine dritte Möglichkeit der Präsentation von Literatur neben dem Dichterhaus und dem Literaturarchiv versteht, sieht der Autor eine Praxis, welche die Erfahrung der

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mediensensiblen Kunsttheorien der Romantik, Moderne und Postmoderne fruchtbar verarbeitet. Durch den Hinweis auf den künstlerischen und kunstfördernden Anspruch und Charakter, die eine Literaturausstellung in besten Fall entwickelt, schafft dieser Beitrag eine Brücke zu den Konzeptionen derjenigen unter unseren Autoren, die auch als Literaturaussteller tätig sind, wie Kutzenberger und Cepl-Kaufmann/Grande.

FAZIT Gibt es den Gegensatz zwischen traditions- und emotionsorientierten Museumsmachern und -besuchern und einer kulturhistorisch orientierten Literaturforschung, die kulturelle Repräsentationen und Konstruktionen aufspürt und die Dichterverehrung als ein Relikt der Genieästhetik begreift, die Dichterhäuser mit ihrem Kult um die Begriffe »Authentizität«, »Originalität« kühl in ihrer parareligiösen Bedeutung erfasst? Unsere Tagung zeigte, dass dies nur bedingt der Fall ist; wie bei allen Fragen im Zusammenhang mit dem literarischen Kanon ist diese Trennung nicht absolut zu ziehen. »Doch wir können die Welt nicht ordnen. Wir können nur an die Unordnung der Welt erinnern«:15 Diese Aussage lässt sich nicht nur auf die Arbeit der Museen und Archive beziehen, sondern auch auf den Versuch, ein Gebiet wie das in diesem Sammelband vertretene wissenschaftshistorisch zu umreißen. So gesehen ist das Thema prädestiniert für eine Forschung, die an der postmodernen Lust am Nichtkanonischen, am Kontingenten, an der Ausnahme, am Unerwarteten partizipiert. Im Spagat zwischen der Sinnsuche bei der Betrachtung von Kafkas Gabel, von Lessings Spazierstock oder des Glasauges eines Dichters einerseits und der Auffassung der Inventare und Ausstellungsmethoden als prozesshaft und veränderbar andererseits ist dieser Band angesiedelt. Diese Uneinheit kann zu Gefühlen des Unwohlseins führen, kann aber auch fruchtbar verarbeitet werden. Wir hoffen, mit diesem Buch einen Beitrag zu Letzterem geleistet zu haben.

15 Felicitas Heimann-Jelinek: »Gedächtnis-Kategorisierung«, in: Moritz Csáky/Peter Stachel (Hg.), Speicher des Gedächtnisses. Bibliotheken, Museen, Archive, Teil 2: Die Erfindung des Ursprungs. Die Systematisierung der Zeit, Wien: Passagen 2001, S. 91-102, hier S. 101.

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Die Herausgeberinnen danken herzlich Alena Diedrich, Mareike Dietzel und Raphael Mühlhölzer, die mit ihrer inhaltlichen und organisatorischen Unterstützung entscheidend zum Gelingen der Tagung beigetragen haben, sowie Hannah Kleber und Anna-Lena Markus für deren engagierten Einsatz bei der Erstellung der Druckvorlage.

L ITERATUR Barthel, Wolfgang: »Literaturausstellungen im Visier«, in: Neue Museumskunde 33, Heft 3 (1990), S. 181-192. Benjamin, Walter: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (Zweite Fassung, 1938)«, in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1980ff., Bd. I.2, 1980, S. 471-508. Gfrereis, Heike: »Nichts als schmutzige Finger. Soll man Literatur ausstellen?«, in: Heike Gfrereis/Marcel Lepper (Hg.), Deixis. Vom Denken mit dem Zeigefinger, Göttingen: Wallstein 2007, S. 81-89. Heimann-Jelinek, Felicitas: »Gedächtnis-Kategorisierung«, in: Moritz Csáky/Peter Stachel (Hg.), Speicher des Gedächtnisses. Bibliotheken, Museen, Archive, Teil 2: Die Erfindung des Ursprungs. Die Systematisierung der Zeit, Wien: Passagen 2001, S. 91-102. Kafka, Franz: Gesammelte Werke, hg. von Max Brod, Frankfurt/Main 1946ff. Kafka, Franz: Briefe an Felice und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit, hg. von Erich Heller und Jürgen Born Frankfurt/Main: Fischer 1967. Kafka, Franz: Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe, hg. von Gerhard Neumann et al., Frankfurt/Main: Fischer, 1982ff. Martus, Steffen: Ernst Jünger, Stuttgart/Weimar: Metzler Verlag 2001, S. 237f. Sebald, W.G.: Schwindel. Gefühle, Frankfurt/Main: Eichborn 1990. Wagenbach, Klaus (Hg.), Franz Kafka. Bilder aus seinem Leben, Überarbeitete und erweiterte Ausgabe, Berlin: Wagenbach 2008.

I. Textualität und Materialität

Die dritte Dimension Ausgestellte Textualität bei Ernst Jünger und W.G. Sebald H EIKE G FREREIS

UND

E LLEN S TRITTMATTER

Literaturausstellungen galten lange Zeit nicht nur wegen des Gros ihrer Exponate – Manuskripte, Briefe, Fotos, Bücher – als ›Flachwarenausstellungen‹. Das Papier, das sie zeigten, war so zweidimensional wie ikonisch: eine Oberfläche, auf der etwas erscheinen sollte, was man den Geist eines Autors oder einer Zeit nennen könnte, ein »Semiophor« im Sinne Krzysztof Pomians,1 das hinüberführt in die unsichtbare, andere Welt der Literatur. »Ich mag die Geister der Entfernten und Abgeschiedenen gern auf jede Weise hervorbringen und um mich versammeln«, schrieb Goethe am 17. Dezember 1811 über seine Autographensammlung an Sulpiz Boisserée.2 Wilhelm Dilthey hat 1889 in einem berühmten Aufsatz die Literaturarchive mit Kirchen verglichen: »Sie wären eine andere Westminsterabtei, in welcher wir nicht die sterblichen Körper, sondern den unsterblichen idealen Gehalt unsrer großen Schriftsteller versammeln würden«.3 Die aus dem Freundschafts- und Geniekult des 18. Jahrhunderts hervorgegangene Ver1

Vgl. Krzysztof Pomian: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln, Berlin: Wagenbach 1988.

2

Johann Wolfgang Goethe: Goethes Werke, Weimarer Ausgabe, Repr. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1987, Abt. IV, Bd. 22, S. 221.

3

Wilhelm Dilthey: »Archive für Literatur«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1960ff., Bd. 15, S. 1-16.

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ehrung der Handschrift (einschließlich der von einer berühmten Hand berührten Dinge) hat unsere Vorstellung von einer Literaturausstellung bis an die Wende zum 21. Jahrhundert geprägt. Erst seit der Jahrtausendwende sind Literaturausstellungen nicht mehr gleichzusetzen mit Archivausstellungen. Sie haben sich vom Papier gelöst, den Raum der Architektur4 und vor allem auch der neuen Medien entdeckt, um Literatur in eine andere Oberflächen- und manchmal auch Strukturerfahrung zu übersetzen.5 Zugleich sind Archivausstellungen immer mehr zu Kunstausstellungen geworden, in denen die Archivalien nicht mehr nur dünne Folien zu einer unsichtbaren Welt sind, sondern Boxen, Kisten, Kästen, Warhol’sche »Zeitkapseln«, in denen die Erinnerung an diese Welt ebenso bewahrt wird wie an den Schmutz und den Alltag ihrer Entstehung.6 Wir wollen eine dritte Möglichkeit vorstellen, mit denen Literaturausstellungen etwas anderes sind als Ausstellungen von Flachware: Literaturausstellungen können eine Textualität exponieren, die spezifisch räumlich ist und die in ihrer Dynamik, ihrer realen Präsenz und ihren ungeheuren Ausmaßen nur im Medium der Ausstellung rekonstruiert und damit auch dekonstruiert und vermittelt werden kann. Sie können das tun, indem sie den reproduzierbaren Text zum Exponat machen7 oder ihn mit den Kontexten

4

Ein extremes Beispiel dafür ist Peter Zumthors Schweizer Pavillon zur Expo 2000, in dem literarische Zitate auf als ›Klangkörper‹ genutzte Holzstapel projiziert wurden. Das Buch zum Raum wurde dann analog zu diesem aufgebaut: »Die Stichworte sind wie seine Balken übereinandergestapelt. Querverweise eröffnen immer neue Verzweigungen«, in: Peter Zumthor: Klangkörperbuch: Lexikon zum Pavillon der Schweizerischen Eidgenossenschaft an der Expo 2000 in Hannover, Basel: Birkhäuser 2000, S. 5.

5

Am entschiedensten sichtbar und reflektiert wird dieser Wandel in: Anne Bohnenkamp/Sonja Vandenrath (Hg.), Wort-Räume, Zeichen-Wechsel, Augen-Poesie. Zur Theorie und Praxis von Literaturausstellungen, Göttingen: Wallstein 2011.

6

Vgl. Heike Gfrereis: »Ausstellung«, in: Marcel Lepper/Ulrich Raulff (Hg.), Handbuch Archiv, Stuttgart: Metzler (erscheint 2013).

7

So z.B. die Marbacher Textinstallation zu Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre im Frankfurter Goethe-Haus 2010, dokumentiert in Bohnenkamp/Vandenrath, Wort-Räume, Zeichen-Wechsel, Augen-Poesie sowie einem kleinen Film: http:// www.youtube.com/watch?v=AflrsE53jp8 (letzter Aufruf am 7.10.2012).

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seiner Konstruktion, seinen Entstehungsstufen zum Beispiel oder dem Horizont seiner spezifischen Bibliothek, zusammenbringen und Archivalien zeigen. In beiden Fällen sind Literaturausstellungen extreme Verfremdungen, die den Blick auf genuin literarische Verfahren lenken.8 Terry Eagleton definiert in seiner Einführung in die Literaturtheorie einen literarischen Text als etwas, in dem jedes Wort überdeterminiert ist, indem es »durch eine ganze Reihe formaler Strukturen mit mehreren anderen Wörtern« verbunden ist: Der poetische Text verdichte »auf kleinstem Raum mehrere Systeme, deren jedes seine eigenen Spannungen, Parallelismen, Wiederholungen und Oppositionen beinhaltet, und von denen jedes ständig alle anderen modifiziert.«9 Jurij Lotman bestimmt literarische Texte als »umgrenzte Räume«: Wie der mathematische Raum sei der literarische Raum »die Gesamtheit homogener Objekte (Erscheinungen, Zustände, Funktionen, Figuren, Werte von Variablen u. dgl.), zwischen denen Relationen bestehen, die den gewöhnlichen räumlichen Relationen gleichen (Ununterbrochenheit, Abstand u. dgl.)«.10 Roman Jakobson spricht von der »Spürbarkeit der Zeichen«11, wenn er die Eigenheit der poetischen Sprache beschreibt, die das Äquivalenzprinzip auf die syntagmatischen Relationen überträgt und mit der Wiederkehr sprachlicher Einheiten klanglicher, metrischer, rhythmischer, rhetorischer oder syntaktischer Art diese zu ihren eigenen Bildern macht: »Jede Sequenz ist ein Simile.«12 Bei Ernst Jünger und W.G. Sebald zeigt sich diese Sequenzialisierung und Similarisierung, dieses Herausbilden eines eigenen poetischen Raums nicht nur innerhalb ihrer Texte, sondern auch in deren kreativer Umgebung, in den Kontexten, in denen ihre

8

Vgl. Sonja Lehmann: »Verfremdet, wiederbelebt. Anmerkungen zu Ästhetik und Darstellungsverfahren in der Dauerausstellung des Literaturmuseums der Moderne«, in: textpraxis. Digitales Journal für Philologie 3 (2011), http:// www.uni-muenster.de/Textpraxis/sonja-lehmann-verfremdet-wiederbelebt (letzter Aufruf am 7.10.2012).

9

Terry Eagleton: Einführung in die Literaturtheorie, Stuttgart: Metzler 1988, S. 81.

10 Jurij Lotman: Die Struktur literarischer Texte, München: UTB 1972, S. 312f. 11 Roman Jakobson: »Linguistik und Poetik«, in: ders.: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921-1971, hg. von Elmar Holenstein und Tarcisius Schelbert, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1979, S. 83-121, hier S. 93. 12 Ebd., S. 110.

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Texte entstehen und dann auch nachleben. Wir haben diesen ›literarischen Haushalt‹ jeweils zum Gegenstand einer monografischen Ausstellung gemacht: Wandernde Schatten. In W.G. Sebalds Unterwelt (2008/ 09) und Ernst Jünger. Arbeiter am Abgrund (2010/11), beide waren zu sehen im Literaturmuseum der Moderne des Deutschen Literaturarchivs Marbach.13

1. D IE L INIE DES S CHREIBENS UND M ETAPHERN : E RNST J ÜNGER

DER

R AUM

DER

Bei Ernst Jünger, dessen deutsche Rezeption durch eine Lektüre bestimmt war und ist, die vor allem der Selbstversicherung des Lesers dient – die moralische Beurteilung des Autors –, haben wir uns auf das konzentriert, was sich von Jüngers Leben als Schriftsteller in seinem Nachlass erhalten hat und was einen großen Teil seines langen Lebens bestimmt hat: die Arbeit am Text. Die Ausstellung dieser Arbeit am Text hat sich auf zwei Zeigetechniken konzentriert und diese auch als heuristische Methoden genutzt: serielle Reihung und metonymisch-metaphorische Kombination. Ein großes Vitrinenband exponierte den immensen, nahezu neunzig Jahre umfassenden Zeitraum von Jüngers Schreibarbeit und legte seine Verfahren der Literarisierung, Systematisierung, Umcodierung, Neufassung und buchstäblichen Umformatierung seiner Tagebücher frei: Den oben ausgestellten kleinen, meist in Heften und Büchern im Format DIN A5 oder auch A6 entstandenen Tagebüchern standen in den Vitrinen unten die daraus hervorgegangenen, nahezu alle auf DIN A4-Blätter geschriebenen Werke gegenüber. Insgesamt rund 300 Tagebücher, Manuskripte, Typoskripte und ›Typogramme‹, der ganze erhaltene literarische Nachlass, vom ersten Tagebuch des Schülers bis zum letzten Notizkalender, vom Gedicht in der Schülerzeitung zu Siebzig verweht. Augenblick und Ausbreitung, Ereignis und Niederschlag, Einfall und Weiterverarbeitung, Initial und Übersetzung – die

13 Beide Ausstellungen, zu denen gleichnamige, umfangreiche Marbacher Kataloge erschienen sind (Marbach/Neckar: Deutsche Schillergesellschaft), wurden kuratiert von Heike Gfrereis und Ellen Strittmatter, gestaltet von den Grafikern Diethard Keppler und Markus Wichmann bzw. Sebald Stefan Schmid (Sebald) sowie den Architekten Space4.

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für Jünger konstante Schwelle zwischen Tagebuch und Werk durchschnitt als Horizont die 19 zwei Meter hohen, insgesamt sechzehneinhalb Meter langen Vitrinen (Abb. 1).

Abb. 1: Ausstellung »Ernst Jünger. Arbeiter am Abgrund« (2010/11). Die chronologische Anordnung.

Überlieferungslücken wie bei den Tagebüchern und Manuskripten aus den 20er Jahren, die Jünger nach einer Hausdurchsuchung durch die Gestapo nahezu alle vernichtet hat, oder auch im Mai und Juni 1944, wo die entsprechenden Seiten aus den Kalendern ausgerissen sind, wurden als Fehlstellen auf den ersten Blick deutlich. Ebenso die allmählich wuchernde Ausdifferenzierung und Umnutzung der parallel verwendeten Tagebuchformate und -gattungen: Taschen- und Tischkalender, Schul- und Notizhefte, gebundene Kladden, Haushaltsführungsbücher, »Briefkonzepte«, Reise-, Garten- und Käfertagebücher (»Coleopteren«), wobei sich Aphorismen, Reisenotizen, Merklisten, Rechnungen, erzählende und essayistische Einträge, Traumberichte und zoologische Notate in jedem Heft, sogar in den Adressbüchern finden. Vor allem aber wurde durch die Art des Ausstellens die autopoietische und auch autor-poetische Struktur dieses Schreibens sichtbar, indem es der Gattung Tagebuch entgegengesetzt nur eine Logik und Wirklichkeit der Texte

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und ihres Subjekts, aber nicht des Lebens und des Menschen gibt. Die Übertragung von einem Tagebuch ins Manuskript des Werks folgt gerade keiner einfachen chronologisch-teleologischen Linie. Wörter, Sätze und Bilder breiten sich aus, verschieben sich, wandern durchaus auch aus dem Werk zurück in die Tagebücher, münden in kein endgültiges Ziel. Jüngers Texte sind keine festen Entitäten mit Anfang, Mitte und Ende, sein Werk ist in Bewegung. Schreiben heißt bei ihm nicht Abschließen, sondern Öffnen, wiederholtes Neu-Schreiben, anders Fassen, Verflüssigen, momentanes Kristallisieren wie in einem Kaleidoskop. Die Besucher konnten entlang der Grenzlinie zwischen Tagebüchern und Manuskripten diese Arbeitstechnik überblicken und verfolgen, wie sich Daten, Wörter und Bilder aus den Tagebüchern nach unten in die größerformatigen Werke verschieben und verzweigen und zu neuen Zusammenhängen arrangiert werden: Muss man heute noch antreten, wenn Ernst Jünger zur Werkbesichtigung ruft? Unbedingt. Wer moderne Autorschaft begreifen will, sollte die exzellente Ausstellung in Marbach sehen. […] Man muss das gesehen haben: Wie Jünger Heftchen und Kalender füllt mit Schrift, aber auch Skizzen, Verzierungen, Tabellen. Eine ganze Illustrationskultur ist hier zu bestaunen, die in die Texte hineinwuchert, ein Synkretismus der Formate und Stile und eben erst einmal nicht die metallische Verhärtung des .14

Materials, wie die literarische Coolness sie fordert.

Jünger arbeitet im Grunde an den Fassungen eines einzigen Textes. Er überträgt Sätze und Gedanken in andere Formate und Gattungen, wiederholt, nimmt Fäden auf, verschlingt sie neu, deutet um, verdoppelt und verschiebt Ereignisse. Die ›Gibraltarbinde‹ (Abb. 2), mit der er am 1. Juli 1916 sein »Kriegstagebuch« schmückt, nimmt er sogar auf den Umschlag der ersten, im Selbstverlag erschienenen Ausgabe seines »Tagebuchs eines Stoßtruppführers« In Stahlgewittern.

14 Daniel Haas: »In Zeichenschauern«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.11.2010

(http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/autoren/ausstellung-

ernst-juenger-in-zeichenschauern-11068899.html, letzter Aufruf am 7.10.2012).

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Abb. 2: Ausstellung »Ernst Jünger. Arbeiter am Abgrund« (2010/11). Die Gibraltarbinde.

Ein Blatt ist die Referenz eines anderen und ein Manuskript nur ein Aggregatzustand, der in andere Formen überführt wird (von der Handschrift zum Typoskript hin zum ›Typogramm‹ und den Vorstufen des Drucks), nicht aber ein statisches, in einen linear-chronologischen Entstehungsprozess eingebundenes Dokument. Jünger dreht zum Teil seine Tagebücher um und beginnt von hinten oder er lässt sie nur halb gefüllt liegen und führt sie nach Jahren erst wieder fort. In ein Notizbuch mit Kalender von 1936, in dem er Nachträge aus dem Sommer 1940 abgearbeitet hat, schreibt er oben links das Programm: »Nota: Das Tagebuch ist noch zu überholen, unter anderem zu metallisieren!« Am 3. Januar 1943 (drei Tage, nachdem er am letzten Tag des Jahres das Büchlein umgedreht und von der anderen Seite begonnen hat) bestimmt er dieselbe Technik mit einer Metapher, die Kälte und Härte durch Hitze verflüssigt: »Tagebuch: kurze kleine Notizen wie Tee in Krümeln; ich gieße später bei der Abschrift das heiße Wasser auf, das ihnen das Aroma erschließen soll.«15

15 Alle Zitate nach dem Nachlass im Deutschen Literaturarchiv Marbach.

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Die kleinen Kalender sind anders als die größeren Formate noch roh: »3.30 Picasso« steht samt Wegskizze unter dem 22. Juli 1942. In den Strahlungen wird daraus: An seine schmale Tür war ein Blatt Papier geheftet, auf das mit Blaustift das Wörtchen: ›Ici‹ geschrieben stand. Nachdem ich geklingelt hatte, öffnete mir ein kleiner Mann in einfachen Arbeitskittel, Picasso selbst. Ich war ihm schon einmal flüchtig begegnet, und wieder hatte ich den Eindruck, einen Magier zu sehen – einen Eindruck, der damals noch durch ein spitzes grünes Hütchen gesteigert worden war […].

Mit »Dies einfügen auf S. 81« wandert ein Tagebucheintrag vom 6. Dezember 1941, in dem Jünger kaum verhüllt seine Affäre mit der verheirateten Pariser Kinderärztin Sophie Ravoux schildert, in den Strahlungen um einen Tag nach hinten und verschiebt den ursprünglich dort stehenden Eintrag in den Januar 1942: Statt Sophie trifft Jünger nun am 7. Dezember 1941 den französischen Schriftsteller Céline, groß, stark, ein wenig plump, doch lebhaft in der Diskussion oder vielmehr im Monolog. […] Diese Menschen hören nur eine Melodie, doch diese ungemein eindringlich. Sie gleichen eisernen Maschinen, die ihren Weg verfolgen, bis man sie zerbricht […].

Vom ersten bis zum letzten Tagebuch breitet sich bei Jünger eine Welt immer wiederkehrender einfacher Symbole aus: Augen, Sterne, Linien, Schlangen sowie die Unendlichkeits- und Unbestimmtheitszeichen ’ und x. Hinzu kommen in immer größer werdender Dichte Einklebungen: Blumen und Blätter, aber auch Eintrittskarten, Fotos, Zeitungsausschnitte, Postkarten, Schmetterlinge, Larven und sogar kleine Schlangen. Jünger hält immer wieder Ähnliches fest, den Ort und den Tag, an dem er zu schreiben anfängt und aufhört, den Ort und Tag, an dem er die Einklebungen fand – Zahlen und Plätze, Ziffern und Namen werden durch ihre Ritualisierung austauschbar. Für den Roman Besuch auf Godenholm verwendet Jünger wie bei Heliopolis ein in Holzfurnier gebundenes Buch und fängt mehrfach an: Zu dem am 11. April 1950 begonnen Text klebt er – über sechs Jahre später – eine Blüte vom 3. November 1956, dazu sucht er mit unterschiedlichen Tinten den richtigen Titel (»Ein Abend auf Godenholm / Das Gast-

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mahl auf Godenholm / Besuch auf Godenholm«, »Hoch im Norden / Nordlichter / Am Nordwege«) und schreibt den zweiten Satz gleich doppelt auf: Sie fuhren über die schmale Enge von Preston nach Godenholm. Das Meer war grau und von so unbewegter Glätte, daß selbst am Saum der Klippen keine Bewegung zu spüren war. Schwärme von Wasservögeln ruhten reglos, als ob sie schliefen, auf der Flut. Das Meer war grau und von so unbewegter Glätte, daß selbst am Saum der Klippen keine Bewegung zu spüren war […].

Das am 28. Oktober 1991 aufgezeichnete Ende von Jüngers kleinem Essay Der Exponent könnte ein ideales letztes Wort sein, wenn er es nicht immer wieder in unterschiedlichen Fassungen wiederholen würde: »Im Augenblick des Todes exponiert ein jeder sich absolut. Seine Potenz wird imaginär. Wenn wir für den sich selber Unbekannten die Grundzahl ›x‹ einsetzen, so gilt für diesen Augenblick die Formel: ›x‹ ’ «. Jüngers eigenes letztes Wort ist nicht überliefert, es gibt nur potenzielle letzte Worte, fehldatiert bzw. falsch abgelegt. Quer und mit anderer Farbe steht in einem Kalender von 1990: »Habe abgelehnt, Gott um Hilfe zu bitten. Das rechnete Er hoch an! 12.7.98«. Anders als in den Ablagen zu den Diarien, wo diese Sentenz ohne Datum aufgeschrieben wurde, ist sie im Kalender mit einem Anagramm seines Todestags (»12.7.98« statt 17.2.98) datiert und die 0 von »1990« schon einmal zur aufrechten Unendlichkeitsschleife verzogen: 8. Die letzte, ganz hinten im »DIAR Ablage 9« zu Siebzig verweht abgeheftete Seite ist so doppeldeutig und doppelzeitlich wie das letzte Wort im Kalender. Sie wurde am 24. November 1991 für eine Aufzeichnung benutzt (»Ihm ist eine Laus über die Leber gekrochen. Hier bringt das ›r‹ die Stabilität herein. Das ›kr‹ setzt einem unbestimmten Mißbehagen den Akzent«) und ist der zerschnittene Teil eines anderen Stücks aus Siebzig verweht: Von Schopenhauer wird die Welt als Spielfeld des blinden Willens betrachtet; sie ist titanisch – zwar ewigem Wechsel unterworfen, doch vergänglicher Natur: ›Denn alles, was entsteht, / Ist wert, dass es zugrunde geht‹.

In den Strahlungen schildert Jünger einen Traum, der am 2. Februar 1940 auch im echten Tagebuch auftaucht, einem Heft, auf dessen Deckel ein ›T‹ (wie Traum, Tod oder Tagebuch) grob eingeritzt ist:

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Traum. Halb in einem fließenden Wasser stehend, hielt ich mit zwei dünnen Stützen ein Wesen von mir ab, in dem sich der Körper einer Ratte mit einem Schlangenkopf u. Schlangenschwanz verband. Ich konnte es in der Schwebe halten, so daß die Strömung es nicht an mich trieb, doch lösten sich hin und wieder kleine, schwarze Parasiten von ihm ab und glitten, mit den Beinen tastend, dicht an mir vorbei. Endlich befreite mich aus dieser Lage ein Knüppelhieb, der über meine Schulter hinweg ins Wasser klatschte, und dem Wesen den Garaus machte, das nun bäuchlings stromabwärts trieb. Er rührte von einem Bauern her, der hinter mir hemdärmlig im Ufergras saß und mir gutmütig zunickte. Statt ihm zu danken, wandte ich mich von ihm, nachdem ich ihm zugerufen hatte: ›Don’t disturb me!‹

Zwei Wochen später zeichnet Jünger in den hinteren Heftdeckel einen Schlangenkopf, der oberhalb des Kiefers in einen Menschenschädel übergeht. Schon am 3. Januar 1940 erschien die Schlange in einem Tischkalender, zur Schnecke und zum Unendlichkeitszeichen, einer liegenden 8, geschlungen. Die Schlange mit dem Menschenschädel zeichnet er nach dem Tagebuch noch einmal in das Manuskript, auf eine Blattrückseite, während er im Text noch einen anderen, dritten Ort für die Zeichnung vorgibt: Da ich Derartiges noch nie so sah, so deutlich und so wach gesehen habe, zeichne ich es sogleich mit kurzen Strichen auf einen Meldeblock, der mir zu Händen liegt, und stoße dabei auf feine, sinnvolle Einzelheiten in der Anatomie, die sich dem ungeübten Stift entziehen. Auch fallen mir Züge des Leidens auf – mechanisch, stumpf und tief in sich verloren, wie sie solchen Wesen eigen sind.

Auf einem Meldeblock gezeichnet wurde die Schlange zumindest im Nachlass nie. Die allerwahrscheinlichste und sachlichste Dokumentationsweise ist die, die am wenigsten stimmt. Die Zeichnungen und Einträge gehen ineinander über, sind Variationen eines einzigen privaten Symbols, Teil einer eigenen quasi mythischen Welt. Für die Schlange gibt es sogar einen eigenen Ordner in Jüngers Ablagesystem. In der Wilflinger Wohnung hängt und liegt sie zudem in Teilen (Schlangenhaut und Klapperschlangenschwanz) und Abbildern.

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Wie die Schlange ist auch der Stern ein Wandermotiv. Jünger verwendet das Pentagramm das erste Mal 1915 im dritten Teil des Kriegstagebuchs.16 Von da an taucht es immer wieder und vor allem immer dichter auf, in Siebzig verweht dann auf jeder Seite, als trennendes und verbindendes, gliederndes und wiederkehrendes Element, als Asteriskus, aber auch als Stern, Komet, Blume und Blatt, als Satzzeichen, Formel, Index, Ikon, Symbol und Überrest: Der Stern von Bethlehem, die Sonne von Austerlitz. Die kosmischen Zeichen sind harmonisch mit Geburt und Tod verbunden, nicht aber kausal. Wenn im Augenblick, da uns ein Glück beschert wird oder ein guter Gedanke uns heimsucht, die Sonne durch die Wolken bricht, so ist das nicht konsequent, sondern gleichzeitig. Die Ansicht, daß die Sterne etwas bewirken, ist irrig – sie bestätigen.17

So gibt es den Halley’schen Kometen von 1986 in verschiedenen Varianten. Im Typogramm zu Zwei Mal Halley leuchten diese Fixpunkte als Pentagramm gelb auf, bewusst ohne Schweif: Diesmal schien er mir etwas größer, doch ebenso wenig imponierend wie damals – schweiflos, diffus, etwa wie ein Garnknäuel. Er stand auch höher – unter dem südlichen Sternbild des Triangulums, mit dem er ein gestrecktes Trapez bildete. Kometen stellen wir uns vor, wie die alten Maler sie über den Stall von Bethlehem setzten und wie sie in der Tat nach glaubwürdigen Überlieferungen in erschreckender Größe erschienen sind. Die meisten Photos, die ich gesehen habe, wenigstens die von der Erde aus aufgenommenen, trügen, denn wer lange genug belichtet, kann jedem Gestirn einen Schweif von beliebiger Länge anhängen.

Im Tagebuch der Reise nach Malaysia findet sich der Komet im Kalendarium nicht unter dem 15. April 1986, sondern am 5. Januar, dem Vorabend zu Epiphanias, dem Festtag der Heiligen drei Könige, die zur Krippe nach Bethlehem kommen, als Zeichnung mit Schweif. Auch in der winzigen Lageskizze, die seine Konstellation mit dem Triangulum zeigt, ist er ge-

16 Vgl. den Eintrag vom 3. November 1915 in: Ernst Jünger: Kriegstagebuch 1914-1918, hg. von Helmuth Kiesel, Stuttgart: Klett-Cotta 2010, S. 57. Weitere: S. 188 und 213. 17 Ernst Jünger: Autor und Autorschaft, Stuttgart: Klett-Cotta 1984, S. 198.

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schweift. Der dem konkreten, wirklichen Augenblick der Erscheinung naheliegendste Eintrag ist zugleich auch der, der am meisten fingiert, konstruiert und mit Zeichen und Zahlen spielt: Das Numinose, das heißt: das Erglühen der göttlichen Substanz, löscht mit Zeit und Raum auch die Attribute aus. So die Töne und Farben, die Zahlen, die Individualität. Die Wissenschaft hingegen lebt von den Einzelheiten, der Messung und der Bezifferung in Zeit und Raum. Mit ihnen löscht sie ihrerseits das Numinose aus. Für den Autor gibt es hier keine Wahl. 18

Steffen Martus hat das Jünger’sche Verfahren der Fassungen als Erster beschrieben und es als »Sehnsucht nach einer weitest möglichen Verschlingung von Papier, Schrift und Welt« gedeutet, die jede Vorstellung einer linearen Textgenese und -rezeption sprengt: [S]elbst wenn der Stoff in gleichmäßig fortlaufenden Zeilen gebändigt ist, durchbricht Jünger nicht nur die Linearität des Textflusses, sondern auch die Zweidimensionalität des Blatts durch scheinbar willkürlich mit Klebestreifen eingefügte Naturobjekte, durch gepresste Blüten und Blätter, Vogelfedern oder Insekten – im Manuskript der Schere schmückt er jedes Blatt auf diese Weise. Jünger stört auf vielfältige Art die Logik der Schrift, um eine in der Poesie verborgene Energie freizusetzen. […] In einem Brief an einen seiner Interpreten fasst Jünger den damit verbundenen radikalen Anspruch zusammen: ›Das Wort kann das schweigende Sein, dem es entstammt, nie wirklich erfassen. Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis, und zum Vergänglichen gehören auch Sprache und Wort. Daher auch die Sorge, daß es nicht genüge – Fassungen umkreisen das Unfaßbare und können es nur aussparen.‹19

Anders als der Text, der immer auf Linearität angewiesen ist, kann eine Ausstellung den Raum sichtbar machen, den diese ›Umkreisungen‹ erzeugen. Sie breitet aus und schichtet, die räumliche Anordnung ist ihr genuines Verfahren. Verschiebungen und Verdichtungen, Umformatierungen und Überarbeitungen sind in ihr simultan präsent, sie ist eine Art herausdestillierter Schreib- und Denkraum. Mit Aby Warburgs Mnemosyne-Tafeln haben sie gemeinsam, dass sie auch das – und zwar auf einen Blick – sicht-

18 Jünger: Autor und Autorschaft, S. 201. 19 Steffen Martus: Ernst Jünger, Stuttgart/Weimar: Metzler Verlag 2001, S. 237f.

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bar machen können, was sich noch nicht in Worte fassen lässt, was aber notwendig dazu gehört, als Provokation und Überschuss des Denkens und nicht als dessen Sinn und Ziel. Sie zeigen auch die nicht in einen Sinn und einen Satz übersetzbaren Dimensionen der Phantasie. Neben dem chronologischen, sich durch zwei Ausstellungsräume erstreckenden ›Rückgrat‹ gab es zehn thematische Kapitel, die an den zentralen Konstanten dieses Schreibens ansetzen: an ihren auffälligen Oberflächenphänomenen, die hin zu Jüngers zentralen Metaphern, seinen Denk-, Schreib- und auch Lebenshaltungen führen, seiner ästhetisch-philosophischen Disposition ebenso wie seiner politischen. In diesen Kapiteln haben wir in zweibödigen Tischvitrinen verschiedene Objektarten zu Sammelkästen kombiniert, die manchen Besucher an die Installationen von Marcel Broodthaers erinnerten. Diese Sammelkästen haben Sätze aus Jüngers literarischem Nachlass mit Dokumenten und Erinnerungsstücken kombiniert und dabei auf dem Boden jeweils »Wand- und Tischstücke«, hängende, stehende oder liegende Teile der Sammlungen aus Jüngers Wilflinger Wohnhaus integriert. Manche dieser Sammlerstücke sind legendär (wie die berühmten Stahlhelme, der Orden ›Pour le mérite‹, die »optischen Waffen« auf dem Schreibtisch oder die »subtil« gejagten Käfer). Wichtig war uns allerdings nicht ihre Vereinzelung zu Ikonen, sondern ihre Nachbarschaften, die den literarischen Verfahren des Umwertens, Verschiebens, Verdichtens und Schneidens analoge Besonderheit ihrer Art und Anordnung. So haben wir zum Beispiel zum Stahlhelm des Engländers, den Jünger neben seinen eigenen auf ein Bücherregal legte, die Reihe der Lexika aus dem Brett darunter dazugestellt und zum Korb mit den Muscheln die Ausgabe von Gottfried Benns Gesammelten Werken, aufgeschlagen auf den von Jünger markierten Seiten bzw. Stellen in Altern als Problem des Künstlers und Doppelleben: »Der Mensch muß neu zusammengesetzt werden aus Redensarten, Sprichwörtern, sinnlosen Bezügen, Spitzfindigkeiten, breit basiert –: Ein Mensch in Anführungsstrichen«. Zu Jüngers Karten- und Fotosammlung aus dem Ersten Weltkrieg mit Bildern von ihm und seinen Kameraden, Schützengräben und unterschiedlichen Aufnahmen von der Front, darunter eine Reihe von Aufklärungsfotos mit Koordinaten, kam der ›Pour le mérite‹ und die erhaltenen ›Gibraltarbinden‹, eine Schule im Sehen von Erkennungszeichen, im Deuten von latenten und liminalen Veränderungen. Auf dem Vitrinenboden lagen dazu eine Karteikarte aus den Vorarbeiten zum

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zweiten Band des Arbeiters (um 1955, »Tabu. Mekka. Foto. Die optischen Instrumente sind Angriffswaffen«) und letzte Dinge von Jüngers Schreibtisch – Lupe, Mikroskop, Notizblock, Stempel, Tesa, Löschpapierroller, Kiste mit vorpräparierten Käfern und Schere. Während bei dem Ausstellungsrückgrat, der unermüdlichen Textarbeit Jüngers, die Auswahlkriterien methodisch sehr klar waren (alle Tagebücher und alle mit diesen in Zusammenhang stehenden größeren Manuskripte bzw., wo diese wie bei den Stahlgewittern nicht erhalten sind, Bücher aus Jüngers Nachlass), so sind die Kriterien bei der Exponatauswahl für die Themen subjektiv gesetzt gewesen: Wir haben Exponate ausgesucht, die an die Schaulust appellieren, die bekannte Dinge mit unbekannten verbinden und vor allem für uns einen in Jüngers Texten ästhetisch wirksamen Zusammenhang erschließen, die bestimmte Verfahren wie die stereoskopische Perspektive seines Erzählens, den »magischen Realismus« seiner Beschreibungen oder Sachverhalte wie seine zahlreichen rechtsnationalen Publikationen in den 20er Jahren aus der Logik seiner Literatur heraus verstehen lassen, ohne diesen Exponaten ihre gefährliche und brisante Kehrseite zu nehmen. Jüngers Texte sind wie diese Exponate doppelbödig. Die Metaphern seiner oft blumigen Sätze sind so militärisch wie biblisch, erinnern an Schöpfung wie Zerstörung, wobei er beides positiv besetzt. Jünger ist kein Autor der Klage und der Betroffenheit. Was diese Exponate nicht tun, ist: illustrieren, belehren, belegen, erzählen, dokumentieren oder Geheimnisse offenbaren. Sie führen in der Ausstellung etwas vor Augen, was Jüngers Leser immer wieder finden und was nicht zuletzt die Faszination seiner Texte ausmacht: das Aufladen von historisch verorteten Dingen und Gedanken mit einer nicht näher definierten, freien, weil zu nichts gebrauchten und auch nicht missbrauchten Bedeutung. Die Originale gewinnen durch ihre Exposition im Museum eine Bedeutsamkeit, die eine Art erhöhten Handlungs- und Denkdruck auf die Besucher ausübt und, wie Warhols Serien-Bilder, eine durch ihre Kombination stimulierte kreative Energie auf ihn übertragen. Der Weg des Schreibens konnte bei Ernst Jünger sichtbar gemacht werden, die Elemente seines Ursprungs wurden aber im besten Fall virulent gemacht. Selbst wer die Ausstellung nicht genauer angeschaut hat, konnte verstehen, dass Textarbeit im Fall von Jünger heißt: sich selbst gegen die Zeit zu setzen und über die Zeit hinweg immer wieder dasselbe zu tun und so ein Netz an Beziehungen auszulegen, das weit über die einzelnen Texte hinausgeht – eine Art idealer Raum des

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Assoziierens, eine Werkstatt der Arbeit an einem eigenen mythischen System.

2. B ILDFELDER UND W.G. S EBALD

HYPERTEXTUELLE

E NTFALTUNG :

Bei W.G. Sebald haben wir aus dem Nachlass nicht die Welt des Autors entfaltet, sondern die seiner Werke. Wir sind also genau anders als bei Jünger vorgegangen, wobei wir uns auch in dieser Ausstellung auf die Fülle des Nachlasses – Textfassungen, mit Lesespuren versehene Bücher, Bilderund Dokumentensammlungen – und das darin sichtbare spezifische Textverfahren konzentriert haben. Jünger konstruiert ein Textsubjekt, auf das alle seine Texte verweisen, das aber flüchtig ist; er gibt sich als eine Form des mythischen Tricksters, als ein Träumer. Sebald konstruiert nahezu ununterbrochen intertextuelle Tiefenräumlichkeit; er ist ein Schriftsteller, bei dem es immer um Literatur geht. Wer sein Werk liest, der kann schon erahnen, dass es aus einem riesigen Materialkosmos schöpft – der Nachlass bestätigt dies. Seine Geschichten sind von vorneherein an materielle Erinnerungen gebunden. Ob eigene, historische, literarische, literaturwissenschaftliche, kunstgeschichtliche und damit private, persönlich übermittelte, gefundene, gelesene oder geschaute Erinnerungen – sie speisen sich auf die eine oder andere Weise immer aus realen Fundstücken, die zusammengetragen, miteinander verflochten und so lange ineinander und gegeneinander verschoben werden, bis sie zu neuem Leben erweckt sind.20 Die Ausstellung hat das Verfahren dieser Verknüpfungen durch eine jeweils eigene Weise der Anordnung dieser Materialien gezeigt: als Zusammenschau spe-

20 In einem Gespräch mit Sigrid Löffler hat Sebald dieses Verfahren selbst als das aus Lévi-Strauss’ Theorie vom »wilden Denken« hervorgehende »System der Bricolage« bezeichnet: »Ich arbeite nach dem System der Bricolage – im Sinne von Lévi-Strauss. Das ist eine Form von wildem Arbeiten, von vorrationalem Denken, wo man in zufällig akkumulierten Fundstücken so lange herumwühlt, bis sie sich irgendwie zusammenreimen«. Vgl. Sigrid Löffler: »›Wildes Denken‹ – ein Gespräch mit W.G. Sebald«, in: Franz Loquai (Hg.), W.G. Sebald. Porträt, Eggingen: Edition Isele 1997, S. 135-137, hier S. 136.

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zifischer Bildfelder aus Sebalds Nachlass und als hypertextuelle Entfaltung seiner Romane. Eine der grundlegenden Ideen für beide Zeigetechniken ergab sich aus einer Beobachtung, die wir bei der Sichtung des Nachlasses machten: Sebald hatte seine Dinge selbst schon zu einem Archiv mit eigenem Ordnungssystem zusammengestellt. In 68 grauen, mit den Titeln seiner Romane und Essays gekennzeichneten Sammelboxen lagen bunte Mappen, die ihrerseits mit den Namen der zum jeweiligen Roman gehörenden literarischen Figuren beschriftet waren. So fanden sich beispielsweise in der Mappe zu »Ambros Adelwarth«, einer Figur aus den Ausgewanderten, sämtliche Textstufen mit den jeweiligen Recherchematerialien – also Manuskript und Typoskript, Notizen, Fotos, Zeitungsausschnitte, Landkarten, Reiseprospekte, Briefe, Kopien und Dokumente zur Figur des an einer »gründlichen und unwiderruflichen Auslöschung seines Denk- und Erinnerungsvermögens«21 leidenden Großonkels des Ich-Erzählers. Bilder und Dokumente aus Sebalds Leben, wie man sie in all seinen Romanen in großer Fülle zu finden meint, waren der jeweiligen literarischen Figur zugeordnet. Private Materialien, Dinge, die nichts mit Sebalds Schreiben zu tun hatten, gab es in diesen Mappen und Sammelboxen nicht. Selbst ein eigens verwahrtes Bilder-Register, ein von Sebald als »Index-Mappe« bezeichnetes Aufbewahrungssystem, versammelte Familien- und Flohmarktfotos nach einem werkspezifischen Alphabet: Unter A befand sich das Bildmaterial für Austerlitz, unter B die Bilder für Bereyter, I stand für Istanbul, K für Kloster Neuburg, W für William – alles Namen und Orte seiner Figuren. Was also hatte es mit Sebalds Ordnung auf sich? Ein wohlsortierter Nachlass ohne private Dokumente, ohne dass man den Menschen Sebald oder sein Leben darin erahnen konnte? Stattdessen kleine und große Ablagesysteme mit den Namen seiner Figuren? Uns wurde schnell deutlich, dass es sich bei Sebalds Nachlass um den Nachlass seiner Figuren handelt. Dieses Verschwinden des Autors im Nachlass seiner Figuren sowie die Gegenbewegung, die Allgegenwart des Autors in deren Geschichten, beschäftigte uns sowohl im Einführungsraum als auch im Hauptraum der Ausstellung (Abb. 3). Der Einführungsraum, eine Art Propädeutikum oder Sehschule, verstand sich als Einladung, sich von Sebalds Blick auf die Dinge, die Bilder und die

21 W.G. Sebald: Die Ausgewanderten. Vier lange Erzählungen, Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch 122008, S. 167.

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Literatur anstecken zu lassen und die Verwandlungen von Figuren und Bildmotiven assoziativ mit zu verfolgen. Er sollte auf die Reise in Sebalds Unterwelt – den materiellen Kosmos seiner Texte – vorbereiten und zeigen, wie man sich in ihr schauend und lesend zurechtfinden kann. Neben Fotografien, Postkarten, Erinnerungsstücken und poetologischen Notizen haben wir auf einem großen Tisch auch die zu Sebalds Marbacher Nachlass gehörenden und mit allerlei Lesespuren versehenen Bücher aus seiner Bibliothek ausgestellt, und alles zu großen, Sebalds Sehen, Lesen und Schreiben prägenden Bildfeldern angeordnet: zum Motiv des Namens, der Augen und des Sehens, des Klangs, des Hörens und der Farben.

Abb. 3: Ausstellung »Wandernde Schatten. In W.G. Sebalds Unterwelt« (2008/09). Das Verschwinden des Autors im Nachlass seiner Figuren

Das erste der im Propädeutikum gezeigten Bild- und Motivfelder Sebalds war das seines Namens, oder besser gesagt: seiner diversen Namen. Im gleichen Moment, in dem der Mensch Sebald in seinem Werk verschwindet, taucht er mit seinen Namen in diesem wieder auf – und durchdringt es gleichsam. Er geht nicht nur in die Rolle des Ich-Erzählers ein und liefert das Bildmaterial für die Romane und die Daten, an denen sich historische Ereignisse zu Erinnerung bündeln – Sebald ist ein Meister im Beschwören von zeitlichen und räumlichen Übereinstimmungen und setzt das Leben des

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Ich-Erzählers gerne in direkte Verbindung mit historischen Daten –, sondern spielt auch auf unterschiedlichste Weise mit den Variationen seines eigenen Namens. Ein wandlungsfähiger ›Sebald‹ findet sich in den Materialien immer wieder, aber auch seine beiden Vornamen ›Winfried Georg‹, offiziell zur Formel ›W.G.‹ gekürzt und im Leben durch ›Max‹ ersetzt, sind in seinen Texten und Gegenständen allgegenwärtig. In seinem Nachlass bewahrt er beispielsweise zwei Kugelschreiber mit der Aufschrift »ElektroSebald« sowie begonnene Recherchen zu einer Familie ›Siebold‹ auf. Das in der Sebalduskirche in Nürnberg befindliche Grabmal des Heiligen Sebaldus aus Die Ringe des Saturn ist ebenso Reminiszenz an seinen Namen wie die literarische Figur des sich in unterschiedlichste Fabelwesen, Tiere und Dinge verwandelnden Baldanders, wie er als Frontispiz in Grimmelshausens Simplicissimus Gestalt annimmt und bei Jorge Luis Borges (Einhorn, Sphinx und Salamander, 1993) beschrieben wird. Baldanders, eine Figur, die buchstäblich ›bald anders‹ erscheint, ist nicht zufällig eine Art Anagramm von Sebald, spiegelt sich doch in ihrem Wesen all jene Verwandlungsfähigkeit wieder, die Sebald seinen literarischen Motiven zugesteht: »Baldanders [verwandelt] sich vor den Augen des Simplicius der Reihe nach in einen Schreiber, […] und dann in einen großen Eichenbaum, in eine Sau, in eine Bratwurst, in einen Bauerndreck, in einen Kleewasen, in eine weiße Blume, in einen Maulbeerbaum und einen seidenen Teppich.«22 Inmitten seiner Bibliothek, auf einer der Seiten von Boris Vians Conte de fées (1997), hat Sebald das Anagrammieren mit dem eigenen Namen regelrecht geübt und »Sebald« in »Besdal« verwandelt. Im Kontext der Beschreibung des Sebaldus-Grabes verschmelzen sein Nachnahme und sein Vorname Winfried miteinander und werden zum Zwillingspaar ›Willibald und Wunnibald‹. Der von Sebald für die Abbildung und Beschreibung des Bildwerkes in den Ringen des Saturn benutzte Prospekt charakterisiert den Heiligen Sebaldus nämlich folgendermaßen: Wir wissen nicht viel von ihm. Die Legende sieht Sebald als dänischen Königssohn, der in Franken – zusammen mit den Heiligen Willibald und Wunnibald – missionierte […] Muschel, Wandelbeutel und Pilgerstab sind seine Attribute […] Sebaldus

22 W.G. Sebald: Die Ringe des Saturn, Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch 9

2007, S. 34f.

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war ein ungewöhnlicher Heiliger […] eines der Wunder, die man mit ihm erlebte, trägt Lokalkolorit: [er] schlägt aus Eiszapfen Feuer.23

Der Namenspatron und seine Namensbrüder versammeln hier gleich noch eine ganze Reihe von Motiven und Metaphern um sich, die in Sebalds Texten und Materialien ihrerseits Metamorphosen ausgesetzt sind: der »Wandelbeutel« durchquert Sebalds Werk in Form des Rucksacks, und Eis und Feuer gehören zu Sebalds Leitmotiven.24 Sebalds Landkarten von Norwich stammen – was nunmehr wenig verwunderlich ist – von einem Zeichner namens ›Wilfried George‹. Als ›Heiliger Georg‹ durchwandert sein Vorname buchstäblich die Schwindel.Gefühle und ›Max‹ geht entweder als ›Max Aurach‹ in die Ausgewanderten ein oder wird, wo er Sebald bei der Lektüre begegnet, angestrichen – so zum Beispiel als »Maxenpfusch« in Nestroys Nagerl und Handschuh von 1832 (Ernst Fischer, Von Grillparzer zu Kafka, 1975). Auch ein fremdes, vermutlich auf dem Flohmarkt gefundenes und aufbewahrtes Fotoalbum, versammelt Fotos von einem unbekannten Jungen namens Max aus dem Jahr 1919. Hinter Sebalds Umgang mit den eigenen Namen steht eine ganze Theorie des Namens, wie die mit verschiedenen Farben angestrichenen Bücher in seiner Bibliothek zeigen: in Elias Canettis Alle vergeudete Verehrung (1970) markiert Sebald die Passage Alle rechnerischen Zusammenhänge, Proportionen, elliptischen Schicksale und Bahnen sind mir gleichgültig, alle Zusammenhänge durch Namen sind mir erregend und wahr. Mein Gott ist der Name, der Atem meines Lebens ist das Wort. Gleichgültig sind mir die Orte, wenn ihre Namen erblassen. Nirgends bin ich gewesen, wohin nicht der Name mich zog […].

Und in Hartmut Scheibles Theodor W. Adorno. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten (1993) streicht er den Satz an: »[D]er Name hält die ursprüngliche Erfahrung fest, überführt sie nicht in einen allgemeinen Begriff«. Diese Dialektik aus Erscheinung und Entzug, Vereinnahmung und

23 Zitat nach dem Nachlass im Deutschen Literaturarchiv. 24 Zur generellen dichten Struktur der Sebaldus-Grab-Beschreibung vgl. Thomas Kastura: »Geheimnisvolle Fähigkeit zur Transmigration. W.G. Sebalds interkulturelle Wallfahrten in die Leere«, in: Arcadia 31 (1996), S. 197-216.

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Auflösung reicht über die Namensthematik in Sebalds Vorstellungen von Autorschaft hinein, wie er sie beispielsweise in den Psychopathographien des Alltags (1972) von Alexander Mitscherlich findet und markiert (»er weiß zum Beispiel, daß er alles, was er seinen Büchern gibt, seinem Leben entzieht«) oder in Eine Insel in der Nähe von Magora (1973) von Lars Gustafsson anstreicht (»Weil sich aber überhaupt nichts aussagen läßt, sondern immer nur etwas anderes, das an die Stelle dessen tritt, was man sagen will, hat man am Ende die größte Lust, sich selber unsichtbar zu machen, damit wie durch einen Zauber die Welt in ihrer erschreckenden Einfachheit hervortrete«). Seine eigenen poetologischen Notizen zum Verhältnis von Werk und Leben sprechen eine ähnliche Sprache: »Prosa Erzählung […] daß sie sich scheinbar mit Leichtigkeit über das schwere Leben erhebt. Wie sie sich konstruiert ist eher ein Rätsel. Sie entstammt vielleicht einer gewissen Privatheit oder Entbehrung. Phantasie kommt nicht daher, daß man ein interessantes Leben führt«. Ein weiteres Bildfeld, welches das gesamte Werk beherrscht, ist das Motiv des Sehens. Sebald hat Augen in jeder Form gesammelt und in einem Gespräch von 1992 mit Piet de Moor reflektiert: Ja, die Augen sind der empfindlichste Teil eines Menschen oder eines Tiers. Ich habe schreckliche Angst vor jeder Art von Chirurgie. Ich darf gar nicht daran denken, daß ich mich am Star operieren lassen müßte. Dieses Gefühl der Blendung, die Furcht, nicht mehr sehen zu können, hängt wahrscheinlich auch mit Kastrationsangst zusammen. Es gibt eine sehr schöne Geschichte von E.T.A. Hoffmann, Der Sandmann, in der Kindern erzählt wird, daß, wenn sie nicht einschlafen wollen, der Sandmann kommt, ihnen die Augen wegnimmt und in einen großen Sack steckt, um sie der Eule im Mond zu verfüttern. Das sind Alpträume, von denen viele Kinder geplagt werden. Wer Angst hat, versucht sich so klein wie möglich zu machen, weil das Kleine der Aufmerksamkeit entgeht. Auch in den Märchen ist die Verwandlung in unscheinbare Wesen, die Miniaturisierung ins Winzige, eine Perspektive, die eine Chance auf Rettung bietet. Umgekehrt ist alles, was groß, riesig und siegessicher ist, wie die faschistische Architektur, mit Machtausdruck verbunden. Je größer, desto paranoider.25

25 W.G. Sebald: »Echos aus der Vergangenheit. Gespräch mit Piet de Moor (1992)«, in: ders.: ›Auf ungeheuer dünnem Eis‹. Gespräche 1971 bis 2001, hg.

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Sebalds Texte sind eine Schule des beredten und oft unheimlichen Sehens. Er hat eine Vorliebe für alles, was dem menschlichen Auge ähnlich ist und einen dennoch aus dem Gleichgewicht bringen kann. Schaut man sich den Nachlass an, blicken einen plötzlich aus den alten Fotos, die er sammelt, eine ganze Reihe von unbekannten Augenpaaren an oder ein Einzelner schaut unverwandt aus einer Menschenmasse heraus.26 Neben Augenmotiven aller Art sammelt Sebald auch Farben: Farbklänge, -harmonien und kadenzen. Neben einer Vorliebe für die unbunten Farben Weiß und Schwarz und vor allem ihre Mischung Grau, die Farbe des Nebels, in die Sebald auch seine Manuskripte verpackt, unterstreicht er in seinen Büchern häufig die schillernden Farben des Prismas: Blau und Grün mit ihren changierenden Anteilen von Rot und Gelb. In Jean Pauls Leben Fibels (Werke in zwölf Bänden, 1975) markiert er beispielsweise alle Stellen, in denen die Farbe Blau vorkommt. Auch die irisierenden Zwischentöne lassen sich bei Sebald finden und sollten nicht übersehen werden – er wird sonst zu leicht ausschließlich zum Autor der Melancholie und des Leids. Neben dem Farbklang spielt für Sebald und sein Werk auch der echte Klang, der Sound seiner Bücher, eine wesentliche Rolle. Dieser kann bei ihm schon von einem einzigen Wort abhängig sein, wie die verschiedenen Überarbeitungsstufen seiner Texte – im Propädeutikum anhand von Textbeispielen aus den Ausgewanderten gezeigt – beweisen: dem jeweils ersten Wort nämlich, das sich auf einem weißen oder linierten Blatt Papier befindet. Der Fortgang einer Erzählung, ihr Satzbau und die Konstruktion eines ganzen Abschnittes richten sich an ihm aus, werden an ihm geprüft und vermessen. Für jedes Verändern und Umstellen von Sätzen benutzt er daher ein neues Blatt, einen neuen Anfang mit dem alten Wort. Der Prozess des Streichens, Löschens und Schärfens von sprachlichem Material ist bei Sebald auf jeder Ebene der Textbearbeitung zu finden: Nicht nur die hand-

von Torsten Hoffmann, Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch 2011, S. 71-78, hier S. 73f. 26 Kürzlich erst hat Christoph Pflaumenbaum die unterschiedlichen Blickrichtungen, mit denen Sebald spielt, untersucht und auch für die Texte festgestellt: »Es gibt keinen Text Sebalds, der nicht die Augen und den aus ihnen hervorgehenden Blick thematisiert«. Christoph Pflaumenbaum: »Die Ausrichtung der Blicke. Aspekte des Schauens und Angeschaut-Werdens im Werke W.G. Sebalds«, in: Weimarer Beiträge 56 (2010), Heft 1, S. 47-68.

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schriftlichen Entwürfe, die schon den genauen Platz für die Bilder frei halten, entwickeln in vielen kleinen Schritten den Text der Romane und Erzählungen, auch ein Typoskript besitzt eine Vielzahl von Entstehungsstufen. Im Detail gibt Sebald den Seitenumbruch vor, bearbeitet Druckfahnen und korrigiert Übersetzungen, bis alles an dem Platz sitzt, der ihm zugedacht ist. Die mit jeder neuen Seite angekündigten und verzögerten Satzenden und die mit dem Seitenumbruch und den eingesetzten Fotos, Kapiteln und Mottos, sonderbaren Formulierungen und Wörtern erzeugten Schnittstellen und Fugen lassen den Leser stolpern. Wie die mehrfach perspektivierte direkte oder indirekte Rede erinnern sie an den besonderen, historischen wie künstlichen, authentischen wie fingierten Charakter des Textes. Die Thematik des Sehens und Hörens wurde in einem nächsten Bildfeld auf die Thematik des Lesens erweitert. Die Bücher, die Sebald besaß und von denen sich über 1.200 in Marbach befinden, gehören zu einem unfesten Bibliothekskorpus,27 das sich Zeit seines Lebens nicht ausschließlich vergrößerte, sondern aus dem Sebald auch nachweislich immer wieder Bücher verkaufte oder verschenkte. Seine Marbacher Bibliothek ist deshalb vor allem Arbeitsbibliothek.28 Was Sebald liest, liest er mit vollen Händen, navigiert in seinen Büchern mit Wegweisern aller Art: mit Eselsohren, dicken oder dünnen Unterstreichungen, Anstreichungen, Anmerkungen, Kreuzchen und Fragezeichen, mit Filzschreiber, Kugelschreiber, Bleistift und Leuchtmarker oder mit Büroklammern. Auch einen halben Garten hat er in seinen Büchern konserviert: Ahorn, Buche, Eiche, Ginkgo, Olive, Ulme, Buchs und Stechpalme, Lorbeer und Farne, zwei Rosen, Ackerwinden, Wicken, Mohnblätter, Storchenschnabel. Nicht alle Blüten- und Blättersorten finden sich zwischen den Seiten, die Klassiker fehlen: Enzian und Edelweiß, Vergissmeinnicht und Veilchen. Dafür werden Reisezeugnisse aller Art bewahrt und markieren, bis wann ein Buch gelesen, wann es wieder in die Hand genommen oder welche Stelle als einzige gelesen wurde. Einige

27 Ein exaktes Verzeichnis der Nachlassbibliothek Sebalds findet sich bei Jo Catling: »A Catalogue of W.G. Sebald’s Library«, in: Jo Catling/Richard Hibbitt (Hg.), Saturn’s Moons. W.G. Sebald. A Handbook, London: Legenda 2011, S. 376-441. 28 Vgl. Jo Catling: »Bibliotheca abscondita. On W.G. Sebald’s Library«, in: Catling/Hibbitt (Hg.), Saturn’s Moons., S. 264-297.

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der am stärksten bearbeiteten und als Abbildungsvorlagen für seine Romane verwendeten Bücher sind die zahlreichen rororo-Monographien, die von einem Spektrum aufeinander abgestimmter Farbtöne zusammengehalten werden. Sie geben den Bücherreihen seiner Bibliothek ein unverwechselbares Aussehen. In den schmalen Bänden, die jeweils das Leben eines berühmten Menschen in Schrift und Bild erfassen, findet Sebald eine selbstverständliche Vorlage für den eigenen literarischen Umgang mit der Literatur, ihrer Geschichte, ihren Erzählungen, bildlichen Belegstücken und Stimmen. Im Unterschied zu den Vorbildern, die er selbst nennt, wenn von seinen Text-Bild-Collagen die Rede ist – Rolf Dieter Brinkmann und Alexander Kluge29 –, verweist das rororo-Monographien-Prinzip auf die historische Dimension und weniger auf die Künstlichkeit eines Textes. Die Ästhetik des farbig eingetönten Schwarz-Weiß-Fotos, das unterschiedslose Vermischen von Biografie und Literatur, Kunst und Schnappschuss, privaten und öffentlichen Ansichten, verkleinerten und vergrößerten, scharfen und unscharfen Hintergründen – dies alles lässt sich auch in Sebalds Werk finden. Sebalds Umgang mit den Büchern, dem Papier, den Fotos und Erinnerungsstücken, den Farben, Klängen und Namen wollten wir die Arbeit an den konkreten Texten gegenüberstellen. Aus diesem Grund haben wir in den Hauptausstellungsräumen seine vier Romane – Schwindel.Gefühle, Die Ausgewanderten, Austerlitz und Die Ringe des Saturn – buchstäblich aufgeblättert. Auf dem obersten Glasboden unserer Hoch- und Tischvitrinen (dieselben wie in der Ausstellung zu Ernst Jünger) haben wir die Taschenbuchvariante von Sebalds Romanen an besonders verdichteten Stellen aufgeschlagenen und darunter, auf mehreren Schichten weiterer Glasböden, die zur aufgeschlagenen Textpassage gehörigen Materialien aus dem Nachlass versammelt: Von den direkten Abbildungs- und Textvorlagen konnte der

29 Vgl. das im Nachlass befindliche Rundfunkmanuskript: Christian Scholz: »›Die Photographie ist das wahre Dokument.‹ Ein Gespräch über Photographie und Literatur mit Winfried Georg Sebald«, Zürich 1997, Südwestfunk: SWF-Literatur, Redaktion Dr. G. Schäble. In gekürzter Form ist dieses Gespräch auch als Zeitungsartikel erschienen: Christian Scholz: »›Aber das Geschriebene ist ja kein wahres Dokument.‹ Ein Gespräch mit dem Schriftsteller W.G. Sebald über Literatur und Photographie«, in: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 48 (26./27.2.2000), S. 52.

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Blick langsam abwärts schweifen zu den Verweisen, Verzweigungen und Assoziationsfeldern. Auf diese Weise entstand ein sichtbarer Hypertext. In der Horizontalen konnte man die Romane lesen, in der Vertikalen die intertextuellen Bezüge und Verzweigungen entdecken. Historische Namen, reale Orte und prägnante Zeitpunkte der Geschichte verbanden sich im Vitrinenraum mit den fiktiven Reichen der Literatur, mit erinnerten und erinnernden Figuren. Der Besucher konnte gleichsam dabei zusehen, wie sich die Figuren ineinander verwandelten, ohne dass er zwischen ihnen, dem Ich-Erzähler und dem Ich des Autors exakt trennen konnte. Auf diese Weise ließen sich verschiedene Imaginationsräume evozieren, in denen man als Betrachter den eigenen Blickpunkt erst finden und immer wieder neu bestimmen musste. Im Mittelpunkt standen die Assoziationsfelder, die der Nachlass hinter den Werken ausbreitet, die Welt, aus der sie heraus und in die hinein sie gedacht werden können. Der Sebald’sche Intertextualitäts- und Assoziationskosmos, der in den Vitrinen in seinen Schichten zu sehen war, lässt sich kaum in eine linear beschreibbare Bildabfolge bringen, waren die Exponate doch alle gleichzeitig neben-, unter- und hintereinander – also in ihrer ganzen Vernetzung – sichtbar: als reales Archiv und gedanklicher Raum, aus dem Sebald geschöpft hatte. Bei den Vitrinen zu Austerlitz konnte man das Wandern des Motivs der Augen durch den Roman und die zugehörigen Nachlass-Materialien hinweg verfolgen: von den als Abbildungsvorlagen vorhandenen Augenausschnitten der Nachtvögel des Romananfangs, dem Prospekt des Antwerpener Nocturamas mit all jenen Tieren, von denen die ausgeschnittenen Augenpaare stammten, hin zum Ausschneideverfahren selbst, das Sebalds Schulfreund Jan Peter Tripp in einem Brief von 1995 verwendet hatte.30 Von den Augenpaaren der Nocturama-Tiere gelangte man nicht nur zu Tripps Radierungen und dem Austerlitz-Manuskript, in dem Sebald Platz gelassen hatte für die beim Druck einzusetzenden Augenpaare von »Wittg.« (Wittgenstein) und »Jan« (Jan Peter Tripp), sondern auch zu einem Augen-

30 Dieses Ausschneidesystem nehmen Sebald und Tripp in ihrem gemeinsamen erst nach Sebalds Tod veröffentlichten Buch auf und konfrontieren 33 kurze Texte von Sebald mit 33 von Tripps Radierungen, vgl. W.G.Sebald/Jan Peter Tripp: ›Unerzählt‹: 33 Miniaturen und 33 Radierungen. Mit e. Gedicht von Hans Magnus Enzensberger und e. Nachw. von Andrea Köhler, München u.a.: Hanser 2003.

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paar aus Sebalds Bibliothek, das in gleicher Weise wie das der Tiere ausgeschnitten war: den Augen von Wittgensteins Schwester Helene (Wittgenstein – Familienbriefe, 1996). Diverse Bücher aus Sebalds Bibliothek waren an Stellen aufgeschlagen, an denen ganze Passagen über das Sehen und die Augen angestrichen waren: Elias Canettis Masse und Macht (1960), John Bergers About Looking (1980), Gert Mattenklotts Der übersinnliche Leib. Beiträge zur Metaphysik des Körpers (1983), Ludwig Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus (1963). Einerseits blickte man von hier aus zu Sebalds 1989 in der Frankfurter Rundschau veröffentlichten Filmentwurf LEBEN Ws über Wittgenstein sowie zu Wittgensteins respektive Austerlitz’ Rucksack, der im Roman zum Erkennungszeichen des Protagonisten wird. Andererseits ließ sich die Verwandlung des Augenmotivs über das Vitrinenband hinweg verfolgen: von den von Sebald studierten Pfauenaugen (Konrad Lorenz, Die Rückseite des Spiegels, 1979, und Otto Koenig, Kultur und Verhaltensforschung, 1970) über Goethes nur im Augeninneren vorhandenen Entoptischen Farben (Geschichte der Farbenlehre, 1972), Sebalds Aufsatz über Jean Améry mit dem Titel »Mit den Augen des Nachtvogels« (Frankfurter Rundschau, 1987), Prospekte zur Kuppel des Antwerpener Bahnhofs, Amérys Aufenthalt im Bahnhof von Antwerpen (Jenseits von Schuld und Sühne, 1980), historische Einäugige (Beiträge zur Geschichte der Augenheilkunde, 1991) zum Verlust der Sehkraft des IchErzählers und zu den Erkennungszeichen von Austerlitz, seiner Spiegelreflexkamera und seinem Rucksack. Von den Augenfaltern und dem Billardspielen gelangte man schließlich über das Messen der Zeit zum Lauf des Mondes (Abb. 4). Klarinette, Chateaubriands Reiserouten, Stendhals Todesformel, Napoleons Hut, Ernst Herbecks blaue Farbe, Brownes Quincunx, Schiffe, Vulkane, Berge, Bäume, Horizonte, Sterne, Motten, Flecken, geometrische Figuren. Weil Sebald als Autor, der sich mit seinen Lektüren erfunden hat, beim Schreiben auch analytisch-interpretatorische Methoden in poetische Verfahren verwandelte und dabei sein ganzes über die Jahre hinweg angelegtes Archiv zum Einsatz brachte, konnte unsere Ausstellung den Blick über seine Romane hinaus auf andere Literatur und vor allem immer wieder auch auf die großen kulturtheoretischen und literaturwissenschaftlichen Diskurse seiner Zeit richten. Sebald zu lesen heißt und hieß besonders in unserer Ausstellung: Zitate finden, Dichter erraten, Schreibstile suchen, Leitmotive, Schlüsselbegriffe, Gebärden, Formeln, mit denen Literatur funktioniert.

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Weil sie den Nachlass zum ersten Mal der Öffentlichkeit zeigte und dabei dem poetischen Verfahren Sebalds jenen Raum gab, der sich jeder linearen Beschreibung entzieht – den Raum der Phantasie, die mehr als nur einen Weg in eine Richtung gehen kann –, legte die Ausstellung eine Reihe ungeahnter Verknüpfungen frei, ohne dabei Sebalds Werk zu entzaubern. Die Ausstellung war Rekonstruktion, Konstruktion und Dekonstruktion in einem. Nicht umsonst ist der Sebald-Nachlass seither einer der von den Forschern am häufigsten benutzten Nachlässe des Archivs.

Abb. 4: Ausstellung »Wandernde Schatten. In W.G. Sebalds Unterwelt« (2008/09). Das Motiv des Sehens

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L ITERATUR Bohnenkamp, Anne/Vandenrath, Sonja (Hg.), Wort-Räume, ZeichenWechsel, Augen-Poesie. Zur Theorie und Praxis von Literaturausstellungen, Göttingen: Wallstein 2011. Catling, Jo: »A Catalogue of W.G. Sebald’s Library«, in: Jo Catling/ Richard Hibbitt (Hg.), Saturn’s Moons. W.G. Sebald. A Handbook, London: Legenda 2011, S. 376-441. Catling, Jo: »Bibliotheca abscondita. On W.G. Sebald’s Library«, in: Jo Catling/Richard Hibbitt (Hg.), Saturn’s Moons. W.G. Sebald. A Handbook, London: Legenda 2011, S. 264-297. Dilthey, Wilhelm: »Archive für Literatur«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1960ff., Bd. 15, S. 1-16. Gfrereis, Heike: »Ausstellung«, in: Marcel Lepper/Ulrich Raulff (Hg.), Handbuch Archiv, Stuttgart: Metzler [erscheint 2013]. Goethe, Johan Wolfgang: Goethes Werke. Weimarer Ausgabe, Repr. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1987 Jakobson, Roman: »Linguistik und Poetik«, in: ders.: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921-1971, hg. von Elmar Holenstein und Tarcisius Schelbert, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1979, S, 83-121. Kastura, Thomas: »Geheimnisvolle Fähigkeit zur Transmigration. W.G. Sebalds interkulturelle Wallfahrten in die Leere«, in: Arcadia 31 (1996), S. 197-216. Löffler, Sigrid: »›Wildes Denken‹ – ein Gespräch mit W.G. Sebald«, in: Franz Loquai (Hg.), W.G. Sebald. Porträt, Eggingen: Edition Isele 1997, S. 135-137. Lotman, Jurij: Die Struktur literarischer Texte, München: UTB 1972. Martus, Steffen: Ernst Jünger, Stuttgart/Weimar: Metzler 2001. Pflaumenbaum, Christoph: »Die Ausrichtung der Blicke. Aspekte des Schauens und Angeschaut-Werdens im Werke W.G. Sebalds«, in: wiemarer Beiträge 56 (2010), Heft 1, S. 47-68. Pomian, Krzysztof: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln, Berlin: Wagenbach 1988. Scholz, Christian: »›Die Photographie ist das wahre Dokument.‹ Ein Gespräch über Photographie und Literatur mit Winfried Georg Sebald«, Zürich 1997, Südwestfunk: SWF-Literatur, Redaktion Dr. G. Schäble.

52 | HEIKE GFREREIS, ELLEN STRITTMATTER

Sebald, W.G.: Die Ausgewanderten. Vier lange Erzählungen, Frankfurt/ Main: Fischer Taschenbuch 122008. Sebald, W.G.: Die Ringe des Saturn, Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch 9 2007. Sebald, W.G.: »Echos aus der Vergangenheit. Gespräch mit Piet de Moor (1992)«, in: W.G. Sebald, ›Auf ungeheuer dünnem Eis‹. Gespräche 1971 bis 2001, hg. von Torsten Hoffmann, Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch, S. 71-78. Sebald, W.G./Tripp Jan Peter: Unerzählt: 33 Miniaturen und 33 Radierungen. Mit e. Gedicht von Hans Magnus Enzensberger und e. Nachw. von Andrea Köhler, München: Hanser 2003. Zumthor, Peter: »Klang-körperbuch: Lexikon zum Pavillon der Schweizerischen Eidgenossenschaft an der Expo 2000 in Hannover«, Basel: Birkhäuser 2000.

Vorweg: Schlagwortwolke

Ereignisse Verhältnis zum Theatralen Inhalte

Themen

Denkbild

Rekonstruktion

Rundgang

Moderne

Kosmos

Geschichtsbegriff

Ausstellung

Literaturtheorie

und

Geschichte

und

Literatur

Literaturbegriff Ästhetik

Architektur

Wahrnehmungsaspekte

Wirkungsästhetik Rezeptionsästhetik

Neugier

Aura

Götter Ereignis, Event, Veranstaltung Weiterdenken Wundern

Weiterschreiben

Repräsentationskultur Wunderkammern

Kuriositätenkabin ett

das Fremde, das Andere, das Eigene

das Vertraute

das Exotische, das Andere,

Verseltsamung

Literaturausstellung, Literaturmuseum

Vom Nachdenken über das Ausstellen im Zeichen der Literatur Theorien und Praktiken im Institut »Moderne im Rheinland« G ERTRUDE C EPL -K AUFMANN

1. H INFÜHRUNG : Z UR B EDEUTUNG

UND J ASMIN

DES

G RANDE

AUSSTELLENS

HEUTE

Literatur auszustellen ist eine Herausforderung. Als visualisierte Transferform findet sie bestenfalls statt in reduzierten Schlagworten, im Theater oder in einer – doch irgendwie aus der Mode(rne) gekommenen – Lesung.1 Als reine Sichtform ist Literatur eine Provokation. Als »Flachware« werden

1

Man könnte das Prinzip der Lesung in einen Diskurs um die Vermittlung von Erkenntnis einbringen und sie mit der Vorlesung vergleichen: Obwohl es immer wieder überzeugende Beispiele einer gelungenen, ja faszinierenden Darstellung von Wissenschaft gibt, auch Lesungen, die nachhaltig wirken, wird man doch das Format selber in ein sehr viel differenzierteres Feld alternativer Möglichkeiten stellen müssen. Vorlesungen und Lesungen wirken nicht nur über die reine Materialität der Wörter und indem sie einen Sinnzusammenhang realisieren, wie sie über Jahrhunderte als Vermittlungsinstrument sinnvoll waren, sondern als ein akustisches und optisches Ereignis, in das weitere Wirkfaktoren eingebracht worden sind, ohne dass sich die minimierende und antiquierte Begrifflichkeit Lesung/Vorlesung angepasst hätte.

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Bücher, Briefe, Handschriften – also all das, was gerade noch zeigbar ist, will man nicht eine Romanszenerie nachbauen oder die Besucher mit purem Text konfrontieren – desavouiert. Kein Wunder, dass das Thema Literatur selbst für Aussteller ein Alptraum zu sein scheint! Erhöht sich die Frustration ausstellender Literaturexperten, wenn die Ausstellung als Kulturereignis in den letzten Jahrzehnten eine Erfolgsgeschichte erlebt, die sie das Baden in öffentlicher Anerkennung – nur leider anderenorts – lehrt? Hier gilt es, selbstbewusst den angemessenen Platz in einem Gesamtereignis »Ausstellung« einzunehmen und das Phänomen von einer Metaebene her anzugehen, die mehr und höhere Einsicht zulässt als zaghafte Versuche, es selbst als Anwalt der Literatur einmal mit dem Ausstellen zu versuchen. Zum Ausstellen gehört weniger Mut als eine ins Öffentliche drängende Einsicht von eben diesem öffentlichkeitswerten Kulturkomplex. Ein solches Bewusstsein spiegelt sich etwa in den Ausstellungstiteln, wenn z.B. das Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud eine Ausstellung zum Kölner Sonderbund überschreibt: »1912 – Mission Moderne. Die Jahrhundertschau des Sonderbundes« und gleich darunter »Das Ausstellungsereignis im Sommer«. Die Besucherzahlen der »Mission Moderne« reichten an die 200.000.2 Das Rheinland hatte tatsächlich ein Großereignis, auch angesichts dessen, dass nur wenige Wochen zuvor die Düsseldorfer »Goya und die Moderne«, die Wuppertaler eine »Sturm«-Ausstellung präsentiert hatten und, kaum lange zurückliegend, die Essener im »schönsten Museum der Welt« ebenfalls nicht an hochkarätiger »Moderne« sparten. Parallel zum Sonderbund zeigte das Museum Ludwig, wenige Meter vom Wallraf entfernt, eine Ausstellung zu David Hockneys Landschaften »A bigger picture«. Auch dies ein Großereignis: Im Vorraum des Museums hört man Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch, Niederländisch und andere Sprachen. Die Besucherdichte der einzelnen Ausstellungsräume fiel am Wochenende nicht unter 25 Personen.

2

Auskunft der Kuratorin der Ausstellung »1912 – Mission Moderne« Barbara Schaefer.

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Und das, obwohl die Feuilletons lesbar unsicher und skeptisch dem öffentlichen Kulturbegriff gegenüberstehen, obwohl der »Kulturinfarkt«3 ein intellektuelles Überangebot bei zu wenig interessierten Rezipienten kritisiert und für Abschaffung plädiert, und obwohl dieser Vorschlag sehr ernsthaft in den Feuilletons diskutiert wurde. Kunst und Kultur [...] gewinnen an Bedeutung, weil das Verlangen nach historischer Vergewisserung groß ist, nach Identifikationsmustern, nach Identitätserprobung inmitten eines so großen sozialen, ökonomischen und politischen Umbruchs und auch inmitten von so viel Entwertungserfahrungen von Menschen.

Mit diesen Worten Wolfgang Thierses führt die Vorsitzende des Ausschusses für Kultur und Medien, Monika Griefahn, in der Zeitschrift »museumskunde« in ihren Beitrag über Bedeutung und Funktion von Ausstellungen und Museen im 21. Jahrhundert ein.4 Museen und Ausstellungen, so fährt Griefahn fort, können hier einen eigenen Beitrag als Kommunikations-, Identifikations- und Erinnerungsangebote zur Verfügung stellen. In ihrer Festschrift für Gottfried Korff, einem der wichtigsten Museumstheoretiker seit den 1950er Jahren, stellen die Herausgeber fest: Museen und Ausstellungen gehören zu den Sinnagenturen der Moderne. Als Orte der Repräsentation und damit der Konstruktion von Kultur(en) nehmen sie eine einmalige Rolle ein: Durch das Deponieren und das Exponieren kommen die überlieferten Dinge zu ihrem Sinn. Die Attraktivität des Musealen, Begleitphänomen des 19. und 20. Jahrhunderts, gründet in der Ansprache aller Sinne – und hat ungeachtet der Bedeutung der neuen Medien die Wende zum dritten Jahrtausend überdauert.5

3

Dieter Haselbach et al.: Der Kulturinfarkt. Von allem zu viel und überall das Gleiche. Eine Polemik über Kulturpolitik, Kulturstaat, Kultursubvention, München: Albrecht Knaus 2012.

4

Monika

Griefahn:

»Anmerkungen

zur

Szenographie.

Zur

Rolle

von

Ausstellungen und Museen im 21. Jahrhundert«, in: museumskunde, Band 66 1/01, hg. v. Deutschen Museumsbund, S. 9-12, hier S. 12. 5

Gottfried Korff/Martina Eberspächer (Hg.), Museumsdinge. deponieren – exponieren, Köln: Böhlau 2002, hier S. IX.

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Unter diesem Aspekt erhält die Ausstellung »1912 – Mission Moderne« ein besonderes argumentatives Gewicht. Sie greift das Konzept der legendären Sonderbundausstellung in Köln 1912 auf, die Gestaltung der Räume gleicht in weiten Teilen der von 1912 – die Ausstellung als Zeitmaschine, die uns hundert Jahre zurück bringen kann. Schon zum fünfzigsten Jahrestag hatte Köln an die legendäre 1912er Ausstellung erinnert, freilich eine kulturhistorische Weiterschreibung betrieben. Nun gewann das Rekonstruktive die Qualität eines Verfremdungseffektes: Nur so erklärt sich die neue Faszination, obwohl von den damals gezeigten mehr als 120 van Gogh-Gemälden nicht mehr als 20 Prozent gezeigt werden konnten. Die Idee wirkte stärker und ließ die Frage nach dem Erfüllungsgrad des Retrospektiven gar nicht aufkommen! Die Ausstellung zeigte nicht weniger als das »Moderne« als »Mission«, und in dieser Emblematik versprach sie, konkrete Utopie zu sein! Warum? Obwohl die Kuratorin Barbara Schaefer alles daran gesetzt hatte, nach Köln zurückzubringen, was 1912 schon einmal im damaligen Coeln a. Rh. war, und bis auf die kunstgewerbliche goldfarbene EhmkeSchrift die Gestaltung der historischen Vorlage folgte, ging sie nicht in der Vorlage auf. Im Gegenteil: Die scheinbare Übertragungsoriginalität, Titel und Kontextualisierung machten aus ihr etwas ganz Eigenes. Kaum je war »Moderne« so bei sich angekommen! Ziehen wir einen vorsichtigen Schluss: Die Ausstellung hat das Potential zu einer Identitätsutopie des 21. Jahrhunderts. Sie repräsentiert das Moderne von Ausstellung schlechthin, und das, obwohl die gegenwärtige Forschung zur Ausstellungstheorie mit dem Wilden Westen vergleichbar ist: unüberschaubar weit, z.T. gänzlich unerschlossen und von einer Vielzahl unbekannter Perspektiven bewohnt. Parallel zum umfangreichen Forschungsfeld der Kunstausstellung verläuft ein sich zunehmend manifester gestaltender kleinerer Forschungszweig zum Thema Literaturausstellung.6 Das Literaturmuseum der Moderne – das LiMo – in Marbach hat die Provokation der Literaturausstellung unabdingbar in sein Konzept integriert. Andere Literaturhäuser, deren Zeigeauftrag

6

Vgl. hierzu zuletzt: Anne Bohnenkamp/Sonja Vandenrath (Hg.), Wort-Räume, Zeichen-Wechsel, Augen-Poesie. Zur Theorie und Praxis von Literaturausstellungen. Mit einer Dokumentation der Ausstellung »Wie stellt man Literatur aus? Sieben Positionen zu Goethes ›Wilhelm Meister‹« (Frankfurter Goethe-Haus 2010), Göttingen: Wallstein 2011.

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sich eher als gewachsen versteht und in deren Konzept sich äußere Umstände wie Geschichte, Förderer, Sammlung, Kontext etc. spiegeln, verfolgen einen breiteren, meist stärker auf das szenische Element ausgerichteten Ausstellungsbegriff für ihr Inneres. Vor dieser Vielfalt an Umsetzungen stehen die Fragen, mit denen sich der vorliegende Beitrag auseinandersetzt: Was ist das Besondere an ausgestellter Literatur? Was ist das besondere Potential von Literatur in der Ausstellung und wie lässt es sich zeigen?

2. »S PATIAL T URN «: EIN T HEMA DER AUSSTELLUNGSTHEORIE UND - PRAXIS – AUCH FÜR L ITERATUR ? Was gilt: Exponat oder Thema, Ort oder Raum, Umfeld oder Personen, Gestaltung oder Aura, Abstraktionen oder Fakten oder vielleicht Besucher? Die verschiedenen Teile, aus denen eine Ausstellung, auch eine Literaturausstellung besteht, sind die Grundlage für die Vielfalt an Ansätzen in der Ausstellungstheorie. In der Analyse vorhandener Ausstellungen gilt es aber allem voran, zu reflektieren, an welchem Ort die Schau gezeigt wird. So denken die großen neuen Museen in ihren Ausstellungen und ihrem Ausstellungsbegriff auch die augenfälligen Räume ihres Tuns mit und stellen die Architektur der Gebäude heraus: Hier wird das Innen in besonderer Weise mit dem Außen verbunden. Die glatte Wand an der Außenseite von Kolumba in Köln signalisiert ebenso wie die schmalen, langen Fenster und Säulen des LiMo an Passanten wie Besucher: Diesen Ort ›bewohnt‹ ein besonderer Aspekt der Gesellschaft. Wie ein solcher Hauptaspekt ins Bewusstsein der letzten Jahrzehnte, in denen über Ausstellungen nachgedacht wird, nach vorne drängen konnte, zeigt ein Blick auf die Geschichte der Entstehung des Jüdischen Museums in Berlin. Das Jüdische Museum in Berlin ist das größte seiner Art in Europa. 2001 gab das Haus einen Band heraus, der mit dem Titel »Geschichten einer Ausstellung« aufmerken lässt.7 Beziehen sich die »Geschichten« auf unterschiedliche, aufeinander folgende Realisierungen einer Ausstellung, so, wie sie in einem Verbundkonzept bei Kooperationspartnern verabredet 7

Stiftung Jüdisches Museum Berlin (Hg.), Geschichten einer Ausstellung. Zwei Jahrtausende deutsch-jüdische Geschichte, Berlin: Oldenburg 2001.

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werden? Sind sie Teil der Ausstellung selbst? Ein Blick in die vor allem aus der Sicht der Beteiligten und der Museumsmitarbeiter zusammengestellten Grußworte, Einleitungen und Textteile zeigt die »Geschichten« als virtuelle Realisierungen im Vorfeld der nachfolgenden Darstellung des Berliner Museumshauses. So können die im Laufe von Jahrzehnten immer wieder veränderten Konzeptionen wie in einem Archiv gesichert werden. Während der Band die letztlich durchgesetzte Fassung vermittelt, bleibt doch das Vorfeld mit alternativen, die Genese der Bundesrepublik spiegelnden Herangehensweisen an ein heikles und belastetes Thema der eigenen Geschichte erkennbar. Die emblematische Architektursprache Daniel Libeskinds, die letztlich auch das ›Innere‹, das Narrativ des Museums bestimmte, erhält ihren ›Raum‹, freilich nicht ohne sie integrativ einzubinden: »Dies ist einer jener seltenen Orte, an denen Architektur und Inhalte zusammenwirken, indem eins das andere unterstützt und hervorhebt. Wir haben keine herkömmliche Aneinanderreihung neutraler und gefügiger Ausstellungsräume, das Gebäude bietet vielmehr ein einzigartiges Potential für ein Museum, da eine architektonische Philosophie und eine Ausstellungskonzeption aus derselben Herangehensweise an das Thema erwachsen.«8 Narrative Sequenzen, die die Besucher in ein historisches Ambiente locken, wechseln mit Elementen, die als »besondere Gabe« anbieten, die Besucher »persönlich« einzubinden, indem sie »magische Momente« schaffen, etwa durch ein entsprechend freigestelltes Exponat. So werden »Tempi, Stimmungen und Verweildauer« variiert. »Ruhe, Kontemplation und Reflexion« spielen ineinander.9 Die Erfolgsgeschichte des Museums zeigt zum einen, dass sich Erwartung und Aufnahmebereitschaft wandeln, zum anderen, dass Karl Schlögels These »Im Raume lesen wir die Zeit« auch (oder erst recht) für eine solche Abstraktionsform der Geschichte gilt und dass die Beteiligten mit ihrem zögernd-nachdenklichen Arbeiten (suchend also nach etwas Veränderlichem, ja, geradezu auf eine Erneuerung des Blicks und dem, was sie der Neugier neu bieten werden, ausgerichtet) an der »endgültigen« Version Recht hatten, einschließlich der Öffnung des leeren Architekturexponates, das zu eben der Wahrnehmung von Raum und Sinn erheblich beigetragen hat.

8

Stiftung Jüdisches Museum Berlin: Geschichten einer Ausstellung, S. 22.

9

Ebd., S. 23

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Nicht minder als das Jüdische Museum in Berlin wirkt das LiMo als Einheit von Innen und Außen: Das gesamte Haus ist Exponat, vergleichbar mit dem Libeskind-Bau. Insbesondere der zentrale Raum nexus in Marbach kündet, wie die Titelmatrix selbst, von der Kombination von innerer und äußerer Architektur, ja, einer Tektonik der Idee. Es ergibt sich ein Ausstellungsraum, der mehr umfasst als eines der Gebäude auf der Schillerhöhe. Hier begegnet ein Raumkonstrukt, für das sich leicht die Assoziation »Musentempel« aufdrängt: David Chipperfields architektonische Vorgaben kommen einer solchen Wirkung in jeder Hinsicht entgegen: Die monumentale Fassade im antikisierenden Stil wirkt auf manche Besucher eher imperialabstoßend, ja, fordert ihn heraus. Sie erhält allerdings ihren Sinn im Spannungsfeld der geradezu minimalistischen Exponate, die die Besucher im Ausstellungsinnern erwarten. Der Besucher steigt, mental nachvollziehbar, vom tempelhaften Eingangsbereich »ad fontes« abwärts. Zusätzlich zu den ihre Bescheidenheit betonenden Beispielen von »Flachware«, persönlichen Erinnerungen und einer Fülle von »Berlocken« bezieht der Museumsparcours die Besucher in einen Mikrokosmos kultureller Erinnerung ein. Das spezifische, die Kostbarkeiten schützende Licht tut ein Übriges, um die Besucher zu locken. Nichts lenkt ihn ab, nichts lässt ihn entkommen! Im Zwischenstock hat er sich mit Hans Magnus Enzensbergers Poesiemaschine für den Eintritt in dieses Labyrinth mit hoher Präzision legitimiert. Nur innehaltend und der Generierung endloser poetischer Zeichen an der Wand ausgesetzt, kann er der Endlichkeit übriggebliebener prosaischer Materialität ein halbes Stockwerk tiefer begegnen. Unter den Literatur ausstellenden Häusern ist das LiMo sicherlich ein Extremfall: Irritierend pur und selbstbewusst konfrontiert es die Besucher in der ständigen Ausstellung mit Literatur auf ihrem Ursprungsträger – Papier, Papier, Papier. Wo normalerweise Biographien, Schreibwerkzeuge und Schreibmaschinen, Bücher mit auffälligen Covergestaltungen oder Erstausgaben mit ›Aura‹ und Fotografien die metareale Existenz des Literarischen aufzufangen suchen, reiht sich hier Seite an Seite: »In diesem Raum liegt fast nichts als Papier, einige wenige Dinge aus anderen Materialien [...].«10

10 Heike Gfrereis: »Didaktik des Schweigens. Das Literaturmuseum der Moderne des Deutschen Literaturarchivs Marbach«, in: Der Unterricht. Beiträge zu seiner

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So souverän wie im LiMo wird Literatur selten ausgestellt, denn Literatur auszustellen ist – s.o. – eine kleine Provokation. Und sie ist es in mehrfacher Hinsicht: einmal als Ausstellungsgegenstand, in ihrer mangelnden Zeigequalität, sie wirbt nicht dafür, angesehen zu werden. Ihr geht zudem das kapitale Begleitfeuerwerk ab, das eine Ausstellung von David Hockney z.B. zum Besucherevent werden lässt – im Vergleich zur bildenden Kunst ist der Geldwert von Literatur nicht gesetzt, die Feuilletons kennen keine Seite »Literaturmarkt«. Literatur bietet also wenig Brücken für Mitglieder einer kapitalfokussierten und bildlich überladenen Gesellschaft an. Dennoch wird, wie Verena Auffermann feststellt, heute mehr denn je gelesen11 – sms, twitter, facebook, Werbeanzeigen –, und dennoch ist der öffentliche Literaturbegriff ein verunsicherter, stärker noch als der Kulturbegriff, über den ja zumindest diskutiert wird. Im Bereich der Literatur befinden wir uns jedoch auf einem sehr nebligen Feld. Als Indiz hierfür gibt die Diskussion um Günter Grass’ Gedicht Was gesagt werden musste Aufschluss: Neben der Auseinandersetzung um den Inhalt wurde wiederholt festgestellt, dass es sich hierbei eigentlich ja gar nicht um ein Gedicht handele und wenn, dann überhaupt um ein schlechtes (Marcel Reich-Ranicki), somit also eigentlich nicht um Literatur. Während vor hundert Jahren, zu Zeiten der legendären Sonderbund-Ausstellung, Gedichte zu politischen und gesellschaftlichen Ereignissen wie selbstverständlich die Titelseiten von Tageszeitungen schmückten, einer Zeit, in der Émile Zola mit seinem J’Accuse auf der ersten Seite des Figaro einen gewaltigen Politskandal antreten konnte, haben wir uns das Literarische als gesellschaftsrelevanten Zugang zur Wirklichkeit abgewöhnt, sei es in der Form politischer Lyrik oder poetischer Abstraktion. Hoffnung kommt gerade von Literaturausstellungen. Die Tatsache, dass es Heike Gfrereis gelungen ist, 2011 ihre Marbacher Ausstellung »Ich liebe Dich« in die Tagesschau zu bringen, ist ein schöner Beweis.

Praxis und wissenschaftlichen Grundlegung. Jg. LXI, Heft 2/2009 »Literatur und Museum. Sammeln und Ausstellen«, S. 20-29, hier S. 20f. 11 Vgl. Verena Auffermann: »Wilder Ausstellen. Clara oder Erwartungen an neue Formen der Literaturausstellung«, in: das magazin der kulturstiftung des Bundes 19 (2012), abrufbar unter: http://www.kulturstiftung-des-bundes.de/cms/de/me diathek/magazin/magazin12/wilder_ausstellen/ (letzter Aufruf am 16.01.2013).

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Es steht also zu fragen, welche Bedeutung der Literatur zukünftig im Ausstellungswesen zukommt und wie sich diese umsetzen lässt. Wir nähern uns im Folgenden der Fragestellung über eine Reflektion vorhandener Theorieansätze und Beispielausstellungen, um daran anknüpfend ein eigenes Konzept und dessen Umsetzung im Institut »Moderne im Rheinland« an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf vorzustellen.

3. Ü BER DIE BESONDERE Q UALIFIKATION VON L ITERATUR ALS AUSSTELLUNGSGEGENSTAND Literatur ausstellen – darin vermittelt sich zweierlei, sowohl das Exponat ›Literatur‹ als auch ein Übertrag von Erkenntnis- und Gestaltungsprinzipien aus der Literatur. Mit der Fruchtbarkeit dieser Prinzipien ist auch die Ausstellungstheorie vertraut: »Dramaturgischer Aufbau der Themenabfolge wie in einem Roman«, so hat Uwe Brückner 1999 in einem Vortrag im Bremer Übersee-Museum auf dem Symposium »Artefakt und Öffentlichkeit – Museum, Movie, Multimedia« die Idee der in der Hamburger Speicherstadt gezeigten »Titanic«-Ausstellung fixiert.12 Die Literaturwissenschaftler freut es, ihren Gegenstand so gewürdigt zu wissen, doch schon die Positionierung lässt Zustimmung nur bedingt zu: Gattungspoetisch geraten da Epos und Drama gewaltig aneinander, was angesichts eines über Jahrhunderte bewegten Theoriediskurses nur leichtfertig hinweggefegt werden könnte. Historisch würde die Positionierung das Nachdenken über die strukturellen Muster, deren Deutungen bis in die Ontologie in Zeiten der Werkimmanenz reichen, alles jenseits von Brecht einfach abkappen. Allzu leichtfertig, denn auch der Barockroman mit seiner enzyklopädischen Weltsicht und der Fülle kleindimensionierter Erzählmosaike hat seinen Reiz für Ausstellungen, das beweist eine Petersburger Hängung als Ablösung einer Phase der allzu puristischen Bespielung von Flächen und karger Raumausstattung. Hier kann ein solch alternatives Konzept wieder an Boden gewinnen.

12 Uwe Brückner: »Titanic-Ausstellung, Hamburg«, in: Ulrich Schwarz/Philipp Teufel (Hg.), Handbuch Museografie und Ausstellungsgestaltung, Ludwigsburg: avedition 2001, S. 223.

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Was heißt das: wie ein Roman? Allzu sehr drängt sich hier ein planes Erzählkonzept mit psychologisierender Figurengestaltung, nachvollziehbaren Handlungsstrukturen und einem überschaubaren Problemdiskurs, einschließlich der Geschlossenheit des gesamten »Roman-Konstruktes« auf. Hier steuert die Museumsszene selbst dagegen. Das Deutsche Hygiene-Museum in Dresden hat denn auch dieser prosaischen Anbindung eine deutliche Absage erteilt, als es auf der Suche nach einer angemessenen Ausstellungskonzeption für die Schau »Der Neue Mensch« die Angebote auf dem Markt der Museologie abarbeitete: So galt es, »ein Gliederungsprinzip zu finden, das nicht der vordergründigen Evidenz einer historisch-chronologischen Nacherzählung erliegt und so die Realien zu bloßer Zeugenschaft oder illustrativem Beiwerk degradiert«.13 Was wäre mit einem symbolischen Erzählen, was mit den Möglichkeiten der erzählergesteuerten Selektion, was mit den klassischen Möglichkeiten von durativer und iterativer Zeitökonomie, was mit Vorausdeutung und Rückschau, was mit Rahmenhandlung und Binnenerzählung? Wenn in einer solchen Motivation zudem noch »Grafik und Texte (Didaktik) als eigenständige erzählerische Ebene«14 genannt werden, kommt geradezu Widerspruchsgeist auf: Wo bleibt die »kühne Metapher«? Wo bleibt das Allegorische, wo der absolute Roman, wo der autorlose noveau roman? Kurz: Die Literatur hat tatsächlich mehr zu bieten als das, was sich hinter der vorschnellen Reduktion auf die »Roman«-Ausstellungsidee zu verbergen scheint. Die Literaturwissenschaft wiederum hat mehr zu bieten an textanalytischer Differenzierung. Es ist kein Zufall, wenn sich das LiMo in seinem Angebot zur »Lesbarkeit der Welt«15 der Literatur und ihren Lese- und Interpretationshorizonten zuwendet. Wohl kein Mittlermedium bietet eine ähnliche Vielfalt an Lesarten und -theorien an: von der Rhetorik und Hermeneutik, über Formalismus und Strukturalismus sozialistische oder marxistische Literaturtheorie bis hin zu New Historicism und feministischen Ansätzen, etc. Und wohl kein

13 Nicola Lepp: Der Neue Mensch. Obsessionen des 20. Jahrhunderts, OstfildernRuit: Cantz 1999, zit. in Schwarz/Teufel, Handbuch Museografie und Ausstellungsgestaltung, S. 209. 14 Ebd. 15 Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt: Suhrkamp 81986. Der Nachlass des Philosophen befindet sich im Deutschen Literaturarchiv Marbach.

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anderes Mittlermedium ist so vertraut mit der Vielfalt an Lesarten wie die Literatur. Vor allem die abendländischen Textproduktions- und Analysesysteme wie Poetik und Rhetorik bieten einen unerschöpflichen Reichtum, der sich sehr viel effektiver für das Nachdenken über Ausstellungen nutzen lässt, als dies bisher geschehen ist. Ja, von der Frage nach Möglichkeiten, Literatur ausstellbar zu machen, lässt sich ein durchaus produktiver Diskurs eröffnen, mit dem die Ausstellungsthematik insgesamt befruchtet werden kann. Das hat den Nebeneffekt, ja Vorteil, dass sich mit einer optimalen Nutzung ihrer Qualitäten die allenthalben existente Bescheidenheit der Literaturwissenschaftler, die im Begriff »Flachware« scheinbar für ewig ihren Makel zugeordnet gewiesen bekam, wunderbar wandeln kann. Dabei schließt Literatur in der Parallelexistenz der Deutungsansätze eine »einfache Teleologie«16 aus. Als Konstrukteur von Wirklichkeit im Lesen zielt sie aber ins Zentrum der Ausstellungsutopie des 21. Jahrhunderts und ist somit besonders qualifiziert als Ausstellungsgegenstand. Allein problematisch – und auch darin liegt die Provokation von Literaturausstellungen – ist die Komplexität von Literatur. Oder, frei nach Verena Auffermanns Feststellung von der heutigen Bedeutungsdiskrepanz von Text: Jeder kann lesen, aber nur wenige können lesen. D.h. der gegenwärtige Literaturbegriff ist von der Annahme geprägt, er sei durch vordergründige Lektüre zu erfassen, das Ende der Aufmerksamkeit markiert das Ende des Literaturbegriffs. Jenseits von faktischem Erkenntniswert (»Goethe lebte von X bis Y«) oder pekuniärem Mehrwert (»Bildungswissen«, Bourdieu) erlahmt das Interesse an Literatur und mündet schnell in die Sinnfrage. Die Provokation der Literatur in der Ausstellung liegt also auch in der Überforderung, in der Komplexität, ja, in ihrer Exklusivität.17 Dass das LiMo dieser Provokation so souverän begegnen kann, liegt u.a. an seinem Ort, seine Besucher sind sich der besonderen Herausforderung bewusst. Gleichwohl bietet nexus auch eine Lesart für Liebhaber des faktischen oder bildungselitären Literaturbegriffs: Manuskripte von Franz Kafka und das Taufkleid von Thomas Mann sind Sensationen. Sie sind – und hier begegnet der Benjaminsche Aurabegriff: Berührungsreliquien.

16 Vgl. Gfrereis, Didaktik des Schweigens, S. 23. 17 Siehe hierzu auch den Beitrag von Rainer Moritz in diesem Band, der für die notwendige »Langeweile« von Autorenlesungen plädiert.

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4. Z UR G ESCHICHTE AUSSTELLENS

UND

T HEORIE

DES

Erstes Schlaglicht: Literatur ist ausstellbar! Warum wir darüber nachdenken »Die Ausstellbarkeit von Literatur ist grundsätzlich umstritten.«18 Mit diesem Satz leiten Anne Bohnenkamp-Renke und Sonja Vandenrath ihren umfangreichen Band zu Wort-Räume, Zeichen-Wechsel, Augen-Poesie ein, das jüngste und umfangreichste Werk zu den Fragen nach der Ausstellbarkeit von Literatur. Zitiert wird aus dem Metzler’schen Literaturlexikon, das erstmals den Begriff »Literaturausstellung« aufgenommen hat.19 Es ist der meistzitierte Satz im Band und auch der vergangene Horizont, den die Autoren zu widerlegen angetreten sind. Erfolgreich! Nach dem Erscheinen 2011 muss über die Frage, ob Literatur ausgestellt werden kann, nicht mehr diskutiert werden. Die Forschung ist ein ganzes Stück weitergekommen. Nun gilt es, sich den Anschlussfragen zu widmen, vielleicht durch einen Wechsel der Perspektive zur Reflexion des eigenen Standpunkts: Warum wird so ausführlich über die Ausstellbarkeit von Literatur nachgedacht? Zunehmend gerät die geschichtliche Instrumentalisierung von Dichterstätten in den Blick. Hier gilt es, noch einmal grundsätzlich nachzufragen: Wie sollte und kann man ein literarisches Werk ausstellen? Weg von der belehrenden, auratisierenden Umsetzung, steht nun der Diskurs im Vordergrund. Die Ausstellung denkt sich mit: Wo auratisiert wird, sollen die Besucher in der Lage sein, sich dies bewusst zu machen.20 Interpretierende

18 Anne Bohnenkamp/Sonja Vandenrath, »Zur Einleitung«, in: Bohnenkamp/Vandenrath, Wort-Räume, Zeichen-Wechsel, Augen-Poesie, S. 9-12, hier S. 9. 19 Vgl.: Michael Grisko: »Literaturausstellung«, in: Dieter Burdorf/Christoph Fasbender/Burkhard Moenninghoff (Hg.), Metzler Lexikon Literatur. 3. völlig neu bearbeitete Auflage, Stuttgart et al.: Metzler 2007, S. 446. 20 Zur Metaisierung in Ausstellungen und Museen, allerdings nicht auf Literaturmuseen bezogen, vgl. Martin R. Schärer: Die Ausstellung. Theorie und Exempel, München: Dr. C. Müller-Straten 2003, ab S. 141. Insbesondere zu Literaturausstellungen vgl. Uwe Wirth: »Was zeigt sich, wenn man Literatur zeigt?«, in: Bohnenkamp/Vandenrath, Wort-Räume, Zeichen-Wechsel, AugenPoesie, S. 53-64.

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Eindeutigkeit ist einem Diskursangebot gewichen, indem z.B. Motive eines Werkes sensorisch in der Szenographie verknüpft werden. Ausstellungsinhalte werden so nicht mehr als Fakten gezeigt, als sinnliches Element ist die Präsentation subtiler und zeigt die Inhalte als Denk- und Fragestellungen. Weiterhin knüpft die Literaturausstellung an den Ansatz der Ausstellungsutopie an: Das Denken in Metamöglichkeiten kann hier, wo sich Materialität, Ästhetik, Realität und Fiktion in einem rein geistigen Raum, der Literatur, begegnen, besonders ausprobiert werden. Das Nachdenken über die Ausstellbarkeit von Literatur entspricht einer beständigen Hin-und-her-Bewegung, Annäherung und Entfernung bis hin zum ›offenen Ende‹, ohne abschließende Deutung. Zugleich geht es um die Erforschung der Grenzen der Kommunikation: Wie weit lassen sich literarische Inhalte in Kommunikation (sehen und lesen) transferieren – in der Theorie – und wo liegen die realen Grenzen – der Besucher?

Zweites Schlaglicht: Literatur ist ausstellbar! Welche und wieviel davon? Roman, Lyrik, Werk, Epoche – zurecht weist Bernhard J. Dotzler auf Figurengedichte Filip von Zesens, Christian Morgensterns oder Herta Müllers hin, zu recht auf »schtzngrmm«-Klanggedichte.21 Im Zentrum des Nachdenkens über Literaturausstellungen steht, inkognito, der Literaturbegriff. Hier paart sich die Textsorte mit der Position des Kurators bzw. der Kuratoren und ihrer Geschichtlichkeit. In ihrer Herausforderung an den Transfer sind Literaturausstellungen viel stärker von ihren Texten bestimmt als Kunstausstellungen. Entsprechend eng ist die Theorie der (Literatur)Ausstellung an ihre Praxis geknüpft und dort am stärksten, wo sie ihren Ansatz mit einem realen Beispiel verbindet. Oder andersherum gefragt: Welche Erkenntnisse lassen sich aus dem Nachdenken über Literaturausstellungen auf andere Ausstellungsformen übertragen, z.B. das kulturhistorische Museum? Dem vorliegenden Text liegen zwei Herangehensweisen ans Ausstellen zugrunde: Es geht sowohl um die Ausstellbarkeit von Literatur in Verbindung

21 Bernhard J. Dotzler: »Die Wörter und die Augen. Zur Un-Möglichkeit der Visualisierung von Literatur«, in: Bohnenkamp/Vandenrath, Wort-Räume, Zeichen-Wechsel, Augen-Poesie, S. 39-52, hier S. 40ff.

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mit einer kulturhistorischen Perspektivierung als auch um den Erkenntnisgewinn, der aus der Literaturtheorie für die Ausstellungstheorie – über die Semiotik hinaus (vgl. dazu Schärer, aber auch Pomians Begriff der Semiophoren) – gewonnen werden kann.

Drittes Schlaglicht: Ästhetik- und Sprachtheorien der Moderne Aby Warburg hat in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts die technischen Errungenschaften der Moderne kulturskeptisch gesehen: »Telegramm und Telephon zerstören den Kosmos. Das mythische und symbolische Denken schaffen im Kampf um die vergeistigte Anknüpfung zwischen Mensch und Umwelt den Raum als Andachtsraum oder Denkraum, den die elektrische Augenblicksverknüpfung mordet.«22 Warburg positioniert sich 1923 nicht nur gegen einen möglichen Feind, sondern bekennt sich damit auch zur »Philosophie der symbolischen Formen« Ernst Cassirers, dessen Hauptwerk ab eben diesem Jahr sukzessive veröffentlicht wurde und der damals als Hochschullehrer in Hamburg auch in Warburgs Bibliotheksprojekt aktiv geworden war. Wenn Warburg die Spannbreite der Erlebnisqualitäten der Rezeption zwischen »Andachtsraum und Denkraum« umgreift, mag das unserem heutigen Sprachgebrauch entgegenstehen, weil uns Kirchenräume als Repräsentanzräume und Andacht als Vollzugsform für Frömmigkeit eher suspekt sind, aber wenn wir sie, im Sinne Cassirers, als konträre Möglichkeiten einer »symbolischen Prägnanz« zu sehen bereit sind, in denen sich eigene »Wahrnehmungserlebnisse« aus der nicht-anschaulichen Ebene in eine »unmittelbar konkrete Darstellung«23 vermitteln, wird die ansozialisierte Skepsis und eine nachvollziehbare Abneigung gegen eine scheinbare Selbstaufgabe zugunsten eines unkontrollierbar diffusen Gefühls kaum mehr als Interpretament gelten. Im Gegenteil: Cassirer fasst Kultur als emanzipatives Gesamtgeschehen auf, das den Mythos als Ursprungserlebnis dank der »Dialektik des mythischen Be-

22 Aby Warburg: Schlangenritual. Ein Reisebericht, Berlin: Wagenbach 1988, S. 59. 23 Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1982, S. 235.

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wusstseins« verwandelt und zur »Objektivierung« beiträgt.24 Mythos wird damit zum Funktionsbegriff. Er leistet den Transfer, mit dem aus der Ebene des Angemutetseins Erkenntnis vollzogen werden kann. Wahrnehmungsaspekte, die das Ausstellungsgeschehen und die daraus folgende kulturelle Praxis prägen, kommen aber in dieser Zeit nicht nur aus dem Umfeld des Neukantianismus, aus dem heraus Cassirer seine Theorie entwickelt hat. Brechts Verfremdungseffekt rekurriert ebenfalls auf bekannten, in derselben Zeit verbreiteten wahrnehmungspsychologischen Erkenntnissen – die des Russischen Formalismus. Auch ihm geht es, wie Cassirer, um emanzipative Prozesse. Nicht von ungefähr hat bezieht sich Brecht aber auch auf Aristoteles, dessen wirkungsästhetisch motivierte Dramentheorie die überaus differenzierte Rhetoriklehre der Antike zur Verfügung stand. Ein drittes zeittypisches Theorem können wir hinzunehmen: Walter Benjamins »Aura«-Begriff. Sein Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit erschien zwar erst 1935, doch das Nachdenken über den Verlust von Aura angesichts der sich stürmisch verbreitenden Photographie lässt viel Skepsis erkennen, die wir bereits bei Warburg sahen. Doch wie Warburg geht es auch Benjamin um die Sicherung von Vorstellungen, wie Vorstellungen – also Ausstellungen, die ja immer etwas vor-stellen – Kulturqualität erhalten. Die von ihm entwickelten Kennzeichen für Aura: »Unnahbarkeit«, »Echtheit«, »Einmaligkeit« erhalten, überträgt man sie vom allgemeinen Kulturgeschäft auf die Konstruktion von Ausstellung als ein Kunstwerk, einen Sinn. Welche Konsequenzen ergeben sich damit aus einem solchen Rekurs auf kulturtheoretische Götter der frühen Moderne? Wir können uns gestatten, ihren Denkwegen zu folgen, weil Ausstellungen selbst als Erlebnisebene unsere Kultur heute wie selbstverständlich mitprägen und auch als Kunstwerk definiert werden können. Ausstellungen sind Ereignis! Sie sind es nicht in dem Sinne, wie wir heute Eventkultur definieren, als Kollektivprozess, sondern sind, und da kommen wir Warburg, Cassirer, Brecht und Benjamin in puncto Motivierung nahe, erkenntnislastige Urerlebnisse für Emanzipation und Bildung, auch wenn

24 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Bd. II., S. 281.

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sich die Stimmen wieder einmal mehren, die ebendies im Untergang begriffen sehen.25

Viertes Schlaglicht: Das Erkenntnisnetzwerk Archiv – Museum – Ausstellung An die Tradition des Museums als »Wunderkammer« gilt es zu erinnern. Entstanden in Renaissance und Barock und konzipiert als eine Art »Kuriositätenkabinett«, sollten sie nicht Repräsentanz des Wunders als metaphysisches Ereignis sein. Wunderlich war der Gegenstand und entsprechend ver-wundert war der Betrachter. Nicht von ungefähr bauten sich diese Kammern in Zeiten der Neugier auf. Natur und Fremde standen hoch im Kurs. Man besuchte quasi die fremde Welt im Kleinen, wenn man eine solche Wunderkammer betrat. Solche unstrukturierten Angriffe auf die Besucher wird man heute kaum mehr in einem Heimatmuseum, das die Tradition des wilden Sammelns und Zeigens fortgesetzt hatte, antreffen. Dennoch: Neugier nach Fremdem, Entdeckerfreude und die Bereitschaft, sich unbekannten Seherlebnissen und Emotionen hinzugeben, zählen auch heute noch zu den Voraussetzungen für Ausstellungen, sei es eine ständige Schau im Museum, sei es eine zeitlich gebundene Inszenierung. Das »Fremde« ist allerdings nicht identisch mit dem »Exotischen«. Hier haben wir es mit einer Entwicklung zu tun, in die a) erinnerungs- und gedächtnistheoretische Erkenntnisse ebenso hineinspielen wie b) eine differenzierte Wertungs- und Interessenskala, die auch das Alltägliche einzubeziehen vermag, nicht zuletzt eine c) elaborierte Begrifflichkeit und Praxis, die dem Archiv den Geschmack von totem Lagerraum nimmt und ihn als neue »Wunderkammer« ernst nimmt. •

Aleida und Jan Assmann bieten mit ihrer Erinnerungs- und Gedächtnistheorie die Metaebene, auf der sich ein Strukturwandel in der Kulturpraxisebene vollziehen konnte.

25 Vgl. Dieter Daniels: »Das Verschwinden der Ereignisse. Ausnahme und Regel ästhetischen Verhaltens angesichts der Neuen Medien«, in: Heinz Herbert Mann/Peter Gerlach (Hg.), Regel und Ausnahme. Festschrift für Hans Holländer, Aachen: Thouet 1995, S. 331-333.

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Ein Vergleich zwischen Kunst und Literatur bringt Erstaunliches zu Tage, wenn man beide einbindet in die Ausstellungs- und Archivgeschichte. Kunst gehörte ins Museum, weil ihr ein hoher Wert beigemessen wurde. Künstlerarchive aber, in denen das Dokumentarische und der Privatnachlass der Künstler, Künstlergruppen oder des Kunsthandels gesichert worden wären, entwickeln sich erst seit wenigen Jahrzehnten. Der Literatur erging es ganz anders: Sie wurde seit Mitte des 19. Jh. in Form von Dichternachlässen in Archiven, Bibliotheken und Literatur/ Dichtergesellschaften gesichert, aber kaum ausgestellt. Gerade hier ändert sich einiges. Der Grund: Archiv – Museum – Ausstellung bewegen sich aufeinander zu. Ein Blick auf die Geschichte des Werkbundmuseums im Berliner MartinGropius-Bau lässt diesen Weg nachvollziehen: Aus einer historischen Sammlung zu einer Ästhetikbewegung, in der sich die Interessen von Kunst und Industrie aufs Schönste gegenseitig befruchten sollten, um eine ganzheitlich gedachte Lebensreform durchzusetzen, wurde die Sammlungsidee »Alltagkultur«. Da das gesamte Projekt weitaus mehr auf die Sicherung der bei einer sich rasant verändernden Kultur latent gefährdeten Gegenstände eines solchen Alltags als auf die permanente Museums-Schau aus war und damit der archivarischen Kompetenz erheblich, ja grundsätzlich mehr Raum gegeben werden musste um kontraproduktive Kassationen zu vermeiden, wandelte man die Benennung um und firmiert nun als »Museum der Dinge – Werkbundarchiv«.

Archive bergen und verbergen, und so kommt ihrer Nutzung viel neugewonnener Raum zu, freilich vermittels einer nicht ganz so neuen Methodik. Die Entdeckung hatte schon immer ihren Platz in der Wissenschaft: als »Trouvaille«, als glücklicher Fund war sie geeignet, einer zunächst spekulativ vorgetragenen Argumentation die sichere Basis nachzuliefern oder sie gar erst anzuregen. Aber wo kam sie her? Das wurde zwar im Anmerkungsteil zünftig notiert, doch die Entdeckung der Tragkraft der Institution, die solche Trouvaillen in der Regel erst möglich machte, stand noch aus: das Archiv. Wie winzig der Schritt vom Archiv in die Ausstellung ist, hat das DLA mit seinen »Fundstücken aus der Handschriftensammlung« 1997 un-

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ter dem Titel »Wir vom Archiv« (in Anspielung auf Grass zeitgleich erschienener Roman Ein weites Feld) gezeigt.26 Archiv – Museum – Ausstellung sollte als Trias gelesen, verstanden und kulturpraktisch realisiert werden als Konkretisierung eines Erkenntnisweges, der das Entdeckte zur Innovation in ein bekanntes Feld einbringt und ihm ein Form/Inhalt-Äquivalent zuweist, unter dem es wirken kann.

Fünftes Schlaglicht: Das Erkenntnisnetzwerk Gesellschaft – Theater – Wissenschaft Weiterzudenken ist die Theatermetapher. Ein umfangreicher Tagungsband zeigt mit Blick auf die frühe Neuzeit Dimensionen der Theatrum-Metapher.27 Interessant sind hier die Beobachtungen am Inszenatorischen, das in der Lebenskultur des damaligen Adels, im Sammeln und Enzyklopädieren und der Inszenierung des Wissens, der theatralen Strukturen des Krieges und natürlich der Theaterwelt im eigentlichen Sinne ablesbar ist. Die Absichten waren durchaus politisch, suchten symbolische Formen und zielten auf nichts so sehr wie auf das wirkmächtige Anschauungserlebnis ab. Ein Blick auf Epochen, die ein eigenwilliges Öffentlichkeitskonzept besaßen, scheint zur Etablierung neuerer Ausstellungstheorien durchaus brauchbar. So wie die erfasste Welt des Theatrum Mundi auf die Repräsentationskultur der Zeit setzt und sie kulturhistorisch aufarbeitet, lässt sich auch aus weiteren Lebensbereichen und historisch varianten Zeiten ersehen, wie sie vom Makrokosmos in die Ebene des Mikrokosmos transformiert wird: sei es im »konsequenten Naturalismus« als eins zu eins – Übertragung der Realität auf das Theater, oder in der Symbolstruktur des Weihefestspiels – beides Produkte des späten 19. Jahrhunderts, die die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in der Interpretation von Welt mit mikroskopischer Schärfe erkennen lassen. Modelle, wie sie das Theater liefert, können ge-

26 Deutsches Literaturarchiv Marbach: Wir vom Archiv. Fundstücke aus der Handschriftensammlung des Deutschen Literaturarchivs in Marbach. Mit Vorbemerkungen von Lorenz Jäger und Urich Ott, Marbach: Dt. Schillergesellschaft 1997. 27 Flemming Schock et al.: Dimensionen der Theatrum-Metapher in der Frühen Neuzeit. Ordnung und Repräsentation von Wissen, Hannover: Wehrhahn 2008.

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nauer sein, die Modellhaftigkeit des Theaters kann Impulse für Ausstellungen anbieten. Ingrid Severin hat untersucht, welchen Zwängen naturwissenschaftliche Denker ausgesetzt waren, die ihrem Gegenstand Anschauungen verpassen mussten, um sie – weil unsichtbar wie Moleküle oder unzeigbar wie Galaxien – zu vermitteln. Das verlangte ihnen Modellhaftigkeit, Abstraktionsentwürfe ab, um Transparenz zu erreichen. Auch von hierher kommen Impulse. Aus der praktischen Funktion und über sie hinaus wurde die »Kunstkammer« ein eigenwilliges Museum.28 Ihm immanent sind methodische und theoretische Entwürfe, die den Zuschnitt der damaligen Gesellschaft erkennen lassen, die aber auch für eine aktuelle Standortbestimmung erweitert werden können. Hier lässt sich ein besonderes Feld aufmachen. Kommen wir deshalb noch einmal zurück auf Leistungen der Sprachtheorie und ihrer Systeme, könnte man, ausgehend von der klassischen Rhetorik, zunächst eine Phase der Sammlung, ganz im Sinne der »Lehre vom Stoff«, ansetzen. Ihr voraus geht die Frage nach der situativen Motivation. Welche genera kennen wir, welche bestimmen unser Ausstellungsvorhaben? Die klassischen Gattungen – judiziale, deliberative und epideiktische – sind auch hier durchaus noch gewinnbringend einzusetzen: Die Wehrmachtsausstellung z.B. folgte der judizialen Kategorie, legte ein Plädoyer für eine kritische Sichtung der Kriegsverbrechen vor. Zeigt eine Ausstellung die öffentliche Beschäftigung mit einem aktuellen Streitdiskurs, wäre sie also deliberativ bestimmt? Denkbar wäre dies z.B. im Kontext der Migrationsproblematik, bei der sich konträre Diskurse ausmachen lassen. Als epideiktisch ließe sich z.B. die Jahrhundertschau »Mission Moderne« lesen. Eine Ausdifferenzierung der genera ist eine reizvolle Aufgabe. Wie ließe sich z.B. eine Schau wie die jahresweise wechselnde Ausstellung im Kölner Kolumba zuordnen? Hier werden Zeugnisse mittelalterlicher Sakralkunst mit modernsten Künstlerinterpretation der Welt in eine neue Spiritualität hinein verknüpft, aktuell deutlich erkennbar schon in der Titelmatrix »Kunst ist Liturgie«. Trüge ein genus demonstrativum? Wesentlich wäre es, überhaupt den Zusammenhang von Darstellungsabsicht und Form zu reflektieren. Bezogen auf die Wunderkammern und Ku-

28 Vgl. Ingrid Severin: »Kugeln und Sphären in der Kunst des 20sten Jahrhunderts. Die ausgestellte Welt«, in: Heinz Herbert Mann/Peter Gerlach (Hg.), Ausnahme & Regel, Festschrift für Hans Holländer, Aachen: Thouet 1995, S. 317-330.

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riositätenkabinette und ihr implizites genus ließe sich fragen: Was sammelt eine Gesellschaft? Walter Benjamins Metapher des Lumpensammlers, als der sich der Historiker verstehen muss, gerät ins Bild. Zu fragen ist erst dann, wie sie mit diesen Dingen umgeht, in welchem Theater, als das sich ein Ausstellungsraum im Sinne eines Makrokosmos-Mikrokosmos-Modells verstehen kann, sie eine Probebühne auslotet, was sie letztlich erkennen und vermitteln will – wie sie sich im Kontext eines sich verändernden Erkenntnisfeldes legitimiert. Die Trias Gesellschaft – Theater – Wissenschaft deutet dieses Beziehungsgefüge an.

Sechstes Schlaglicht: Deixis statt Didaktik. Gegen die »Verkinderzimmerung« der »Bildungsstätte« Ausstellung In seiner nachdenklichen, nicht unpolemischen Fundierung der Ausstellung »Sieben Hügel. Bilder und Zeichen des 21. Jahrhunderts« und des Dauerund Wechselausstellungskonzepts des Martin-Gropius-Baus in Berlin hat Bodo-Michael Baumunk ein Dilemma von heute vorgetragen, das sich nach der (notwenigen) paradigmatischen Wende hin zur altersübergreifenden Schau und zu einem zuschaueraktiven Kulturbegriff für den »zunehmend ratloser« gemachten Ausstellungsmacher leicht (und offensichtlich) ergibt: »die Verpflichtung auf die Verkinderzimmerung ihrer Bildungsstätten«29. Baumunk betont dagegen die »dem Zugriff entrückte Unantastbarkeit des Kunstwerks«30.

29 Bodo-Michael Baumunk: »Dauerausstellung und Wechselausstellung. Sieben Hügel. Bilder und Zeichen des 21. Jahrhunderts«, in: Schwarz/Teufel, Handbuch Museografie und Ausstellungsgestaltung, S. 183. 30 Ebd. Es erstaunt den Literaturwissenschaftler, der sich mit dem Thema »Ausstellungen« befasst, dass Baumunks Lösungsansatz von wissenschaftstheoretischen und -methodischen Prämissen her angelegt ist (vgl. S. 184ff). Übrigens führt das insgesamt überzeugende Handbuch von Schwarz/Teufel, in dem auch Baumunks Aufsatz zu finden ist, mit den Überlegungen von Jörn Borchert unter dem Titel »Das familienfreundliche Museum. Gedanken auf dem Weg zu einer neuen Präsentationskultur« (S. 114-129) alle Aspekte einer Pädagogisierung des Museums in Zeiten der »Eventkultur« vor. Borchert sieht sie »in steter Konkurrenz zu anderen Freizeiteinrichtungen« – es wäre interessant, seine Definition

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Wie können wir solchen Zwängen gegensteuern? Ein Begriffspaar, das eigentlich keines ist, lässt sich entwickeln, um Kriterien zu sichern, die eine solche Reduktion ersetzen: Deixis statt Didaktik. Sucht die Didaktik mit den Kategorien der Kindgemäßheit nach einer alters- und entwicklungspsychologisch begründeten Auswahl oder Bearbeitung des Gegenstandes, lässt die Deixis ihn unbeschädigt, sichert seine Würde. Deixis meint nichts als die Akzeptanz, dass Ausstellen eine Zeigekultur ist, bei der die sprachwissenschaftliche Theorie der Deixis in die Kulturwissenschaften weitergedacht worden ist. Das ist nicht neu: Schon der Russische Formalismus am Anfang des 20. Jahrhunderts kam von der Sprachwissenschaft her und hatte schon bald auch die Literaturwissenschaft im Griff. Brechts Begriff der Verfremdung ist bekanntlich bereits im vorrevolutionären St. Petersburg entstanden. Die Prager Strukturalisten um Jan MukaĜovský waren dem Literarischen und Sprachlichen gleichermaßen verpflichtet. Und auch die topographisch nächste Station, die Genfer Strukturalistenszene, hatte beides im Blick. Nicht von ungefähr kamen wesentliche Erkenntnisse aus der Ethnologie, die von ihrem Gegenstand her die Spartentrennung von Sprache und Literatur nie betrieben hat. Deixis im Sinne von Karl Bühlers Theorieansatz31 meint »die Lokation und Identifikation von Gegenständen und Ereignissen, über die gesprochen wird, in Bezug zum raum-zeitlichen Kontext einer Satzäußerung«32. Um der »Verkinderzimmerung« zu entkommen, bedarf es also zunächst einer Absage an Modelle der Didaktik zugunsten einer Theorie des Verstehens, die den Gegenstand optimal vermittelt, indem sie ihn in seinem Beziehungsgefüge erkennbar macht.

von Schule zu erfahren. Seine Ausführungen legen nahe, dass er sein Bild vom Schulalltag – als Gegenstück zur Freizeit – von einem finsteren Erziehungszeitalter ableitet; dazu ebenfalls, eher pragmatisch: Annette Noschka-Roos: Bausteine eines besucherorientierten Informationskonzepts, Schwarz/Teufel: Handbuch Museografie und Ausstellungsgestaltung, S. 88-113. 31 Vgl. dazu Karl Bühler: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion von Sprache, Stuttgart: Fischer 1965. 32 John Lyons: Semantik, München: Beck 1983, Bd. II, S. 249, zit. in: Axel Bühler: »Karl Bühlers Theorie der Deixis«, in: Achim Eschbach (Hg.), Karl Bühler’s Theory of Language, Amsterdam: Benjamins 1987, S. 287-299.

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Definieren wir Deixis von dieser Wissenschaftsebene als Verstehenslehre und ziehen sie für Überlegungen zu Rate, definieren wir Didaktik in der Nachfolge eines Amos Comenius als »Lehrkunst«. Hier ist das Interesse vom Gegenstand weg auf ein nicht mit ihm identisch zu setzendes Lernereignis verlagert. Im besten Falle geschieht dem Gegenstand nichts, doch er ist beständig und latent gefährdet, sich dem Interesse dieses Lernereignisses unterordnen zu müssen. In einem deiktischen Verfahren gewinnt man als Erstes eine angemessene Distanz zu einem Gegenstand, um ihn dann umso nachdrücklicher zu zeigen. Der Gestus hat einen hohen Stellenwert. Mit dem gestischen Verfahren hat der Gegenstand jeder Ausstellung geradezu eine unantastbare Identität gewonnen, die sich als ein Darüber-Hinaus, als Zugewinn definiert, mit dem diese Distanz, ebenso sinnlich wie erkenntnisspezifisch gefüllt, wahrnehmbar wird. Der Transfer in die Ebene der Kultur und ihrer »Sprache« hat letztlich auch Auswirkungen auf den Gegenstand, gerade weil er tabu bleibt. Tabu – genau so wie sich die Ebene der Langue von der Ebene der Parole unterscheiden lässt.

Siebtes Schlaglicht: Im Werden. Das Hermeneutische, sprich: das Prozessuale, nicht aus dem Blick verlieren Ausstellungen sind Elemente einer tradierten Kulturpraxis. Sie verändern sich, so wie sich Gesellschaften und Interessen ändern. Ein paradigmatischer Wechsel vollzieht sich erst dann, wenn sie einen definitorischen Wandel erfahren. Das ist der Fall beim Wechsel grammatikalisch wirkender neuer Perspektivierungen und Festschreibungen. In einem Projekt des kunsthistorischen Instituts der Heinrich-HeineUniversität hatten Studierende eine kleine Schau vorbereitet, in der sie aus dem Kreis der Studierenden der Kunstakademie junge Künstlerinnen und Künstler auswählten und daraus unter dem Titel »Ausgestellt« ein eigenes Präsentationsformat entwickelten. In diesem Fall war das Besondere, das sie ihrer »Ausstellung« zuwiesen, im Untertitel festgehalten: »Junge Dialoge zur Gegenwartskunst«. Die Studierenden hatten das Nachdenken, die kontroversen Ansätze zur Beschreibung und Bewertung von Kunst selbst zum Ausstellungsthema gemacht, die Exponate waren »nur« Objekte eines Diskurses, nicht mehr Subjekte einer Ausstellung. Kriterien für ihr Interesse waren Aktualität und die Auswahl für den Fundus: Ausschließlich Bei-

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spiele aus der aktuellen Düsseldorfer Akademie-Szene sollten vorgestellt und in den Diskurs hinein genommen werden. Teil des Konzeptes war es, durch eine professionelle Kommentierung die Textsorte Exponatlegende weiter zu entwickeln und sich selbst zum Sachwalter der jeweiligen Kunstwerke zu machen. Sie stellten so auch ihre eigene Kompetenz als Kunsthistoriker/Kunstsachverständige/Kunstkritiker/Kunstverkäufer aus. Es ist interessant, als Rezipient dieser Selbstrepräsentation das Spektrum an Ansätzen, mit denen die Nachwuchskunstverwerter an ihre Aufgabe herangegangen sind, auszuloten: von der klassischen formalästhetischen Analyse, die geistvolle Umschreibung, die biographische und kultursoziologische Spurensuche, bis hin zu einer ganz aus der Tradition hermeneutischer Verfahren entwickelten Vorstellung von Bedeutungsschichten. Es ließ sich aber auch zeigen, dass es gerade das Defizit an einer solchen Kompetenz sein konnte, das einen angemessenen Umgang mit einem Exponat verhinderte. Die Künstlerin Isabelle Keßels, die aus der Tradition des Schreibens zur Kunst kam, arbeitet mit Bedeutungskonstrukten, die immer einen mehrfachen Sinn suchen, sie gab die Idee für einen raumübergreifenden Schriftzug, mit dem die Besucher beim traditionellen »Rundgang« 2011 durch die Düsseldorfer Kunstakademie angelockt wurden: »Die Vorstellung beginnt / Die Vorstellung endet.« Gegenüber dieser ebenso im Ästhetikdiskurs der Gegenwart wie in der Erkenntnistheorie zu verortenden »ausgestellten« Aphoristik erweist sich die Hilflosigkeit eines formalästhetischen Rezipierens, wenn die Rezeption in Bewunderung vor der »Wirkung der Schrift« bestimmt wird.33 Prozessuales Denken impliziert, hermeneutisch, immer auch Zukünftiges. Es spielt mit Vorstellungen von Zukunft, nimmt sie vorweg, entwirft sie, oder widmet sich einem magischen Neuschreiben. Eine hermeneutische Theorie wie die des vierfachen Schriftsinns lässt jeden Besucher auf der Ebene, wo er ansprechbar ist, will ihn aber die Vielfalt der Sinnebenen finden lassen: Im sensus litteralis begegnet er einem realen Gegenstand, im sensus allegoricus vermittelt sich sinnlich, was er abstrakt meint, im sensus moralis lassen sich seine gesellschaftlichen Deutungsmöglichkeiten ausmachen und im sensus anagogicus wird er zu Sinnentwürfen herausgefordert.

33 »Ausgestellt! Junge Dialoge zur Gegenwartskunst«. Eine Ausstellung im Rahmen eines Teamprojektes am Institut für Kunstgeschichte der Heinrich-HeineUniversität Düsseldorf. Ausstellungsbegleitheft, Düsseldorf 2011, o. P.

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5. Z UR P RAXIS Im »Düsseldorfer Konzept« haben die Autorinnen dieses Beitrags einige der vorgetragenen Gedanken umzusetzen versucht. Eine Ausstellung im Museum für Kunst- und Kulturgeschichte der Stadt Dortmund, über die im Weiteren zu sprechen sein wird, baute z.B. wesentlich auf den Möglichkeiten einer Moderne-Version des mehrfachen Schriftsinns auf. Unseren Ansatz, das sei vermerkt, möchten wir unserer eigenen Disziplin, der Literaturwissenschaft, zuschreiben (so sehr wir uns mit Themen der Ausstellungen scheinbar von ihr lösen). Transfer- und Lesetechniken liefern einen unübertreffbaren Bonus frei Haus: Abstraktion der Abstraktion der Abstraktion. Weiterlesen, Weiterschreiben sind nicht nur historische Bekenntnisse, mit denen wir es zu tun haben.34 Bleiben wir an der Heinrich-Heine-Universität und bleiben wir bei einer weiteren Facette der Hermeneutik und des »Weiterdenkens«. Nicht zuletzt sind es die Düsseldorfer Kunsthistoriker, die schon in den 1990er Jahren mit Seminaren über Ausstellungstheorien und einem Projekt zur Tradition Düsseldorfer Großausstellungen, nämlich der GeSoLei von 1926, das Rheinland als Ausstellungslandschaft erkundet haben.35 Wir sind als Litera-

34 Meinen wir dabei Literatur oder Literaturwissenschaft? Diktiert die Literatur, gilt es, sie in dem Rahmen, wie das Thema angelegt ist, materialiter zusammenzutragen und mit einem Ausstellungskonzept zu unterfüttern: die Werke eines Autors, eine Gattung, eine Literaturepoche. Diktiert die Wissenschaft, gilt, dass sie »von einem Diskurs und nicht von einem Bestand auszustellender Werke ausgehen. Ihr Hauptgegenstand sind Begriffe, die aus der Forschungsarbeit hervorgehen und die übereinstimmend von der wissenschaftlichen Gemeinschaft einer bestimmten Epoche, eines Landes oder Kontinente akzeptiert werden. Es sind abstrakte Darstellungen der Wirklichkeit, die der Besucher nicht unmittelbar erfassen kann.« Vgl. dazu Martine Scrive: »Zur Konzeption wissenschaftlicher Ausstellungen« (aus dem Französischen von Christian Rauer), in: Schwarz/ Teufel, Handbuch Museografie und Ausstellungsgestaltung, S. 146-165, hier S. 147. 35 In gemeinsamen Seminaren konnte das Institut »Moderne im Rheinland«, entstanden aus einer Forschungsinitiative als »Arbeitskreis zur interdisziplinären Erforschung der Moderne im Rheinland« hier den interdisziplinären Aspekt

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turwissenschaftler schon lange in einer fruchtbaren Zusammenarbeit mit den Fachkollegen. Der Horizont hat sich in diesem Feld der ›Moderne‹, hermeneutisch gedacht, um einiges bewegt und erweitert: •





Der Gegenstand selbst, die Kulturgeschichte einer der aktivsten Kulturlandschaften Westeuropas, einschließlich der interkulturellen Begegnungs- und Austauschprozesse, ließen Formen der »Moderne« erkennen, mit denen auch immer eine Ästhetisierung verbunden war. Begonnen mit den Aktivitäten der Kunstgewerbebewegung, waren sie schon früh Sensibilisierungen für das Erleb- und Sehbare als theatrales Element – Peter Behrens Programm der »Feste des Lebens«, Louise Dumonts Schauspielhaus Düsseldorf – bis hin zur Moderne des frühen 21. Jahrhunderts. Theorie und Methode der Interdisziplinarität bringt Erkenntnisse auch für die Literaturwissenschaften. Der Gegenstand Literatur kommt nie autonom vor, sondern ist Teil eines komplexen kulturellen Lebens. In Ausstellungen kann dieser Gegenstand zwar autonomisiert werden, doch sinnvoll nur auf dem Hintergrund des Wissens um seine Komplexität. Die Kulturpraxis der ›Moderne‹ baut auf ein hohes Maß an Freiheit, die ihm mit der Konstruktion eines An-Institutes auch möglich ist. Daraus resultiert die Austauschebene zwischen Wissenschaft und öffentlicher Kulturebene, in die Forschung und Lehre integriert sind – z.B. im Projekt Archiv-Museum-Ausstellung, in dem mit Studierenden aus regionalen Archiven Ausstellungen erarbeitet werden. Hier begann auch vor über zehn Jahren das Nachdenken über Ausstellen und eine eigene Ausstellungspraxis.

Universitäten sind keine Museen. Diese Herausforderung nicht als Nachteil zu sehen, sind die »Macher«, die Autorinnen dieses Beitrags nicht müde geworden. In den Diskurs über Ausstellungen einbezogen, gewinnen sie ihm in diesem frei schwebenden Zustand ein eigenes Profil ab.

einbringen. Die Forschungen, die die »Moderne« in zwanzig Jahren betrieben hat, nicht zuletzt auch die Lehrinitiative »Archiv – Museum – Ausstellung« haben die Erfahrungen akkumuliert.

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Aus der Praxis heraus haben wir ein Arsenal an Begrifflichkeiten für die kreative Phase der Ausstellungsvorbereitung entwickelt, in denen der theoretische Rahmen mitklingt. Insgesamt unterliegen dem Konzept vier zentrale Begriffe: »Erfahren«, »Entdecken«, »Zeigen« (bzw. schaffen) als Annäherungsformen an den Gegenstand und schließlich »Wundern« als Oberbegriff, unter den die anderen drei einzuordnen sind.

5.1 Ü BER

DAS

W UNDERN

ALS

AUSSTELLUNGSZIEL

Wundern umfasst den Prozess des Erkenntnisgewinns. Von der Literatur her argumentierend heißt das: Lesen lernen, heißt wundern lernen. In der höchst intimen Auseinandersetzung mit einem Roman ist es der Moment der Irritation, über den sich der Leser dem Text nähert. Wo etwas seltsam erscheint, ungewöhnlich, wo ein Bild plötzlich verzerrt wirkt oder auch nur auf ganz privater Ebene etwas als anders empfunden wird, da treten Bildbetrachter und Leser aus der Spiegelsituation heraus, die nur das Vertraute betrifft, und eröffnen den Austausch, z.B. mit einem Abgleich der Wahrnehmungen. Hier beginnt die Veränderung, vom Abbruch der Lektüre bis hin zum Umbruch. Dabei sei angemerkt, dass »Wundern« in dieser Anwendung ganz bewusst keinen reflexiven Gebrauch findet, sondern als Überführung in den allgemeinen Moment der Irritation verstanden wird. Es kommt dem »Staunen« sehr nahe und übernimmt somit dessen Unabhängigkeit, ist aber zugleich sehr viel mehr als Staunen, weil an das Wundern schon ein Prozess der geistigen Be- und Verarbeitung anknüpft und weil Wundern der Unmittelbarkeit des Staunens entbehrt. Wundern erfordert allerdings ein hohes Maß an Sensibilisierung, an Bewusstsein. So erscheint es für die Museumsbesucher oft schwer, ohne Hilfestellung die Angebote zum Wundern z.B. in der Barocklyrik von Andreas Gryphius wahrzunehmen und ohne Einführung mag ein Beuysscher Hase nicht seltsam, sondern sinnlos erscheinen. Wundern ist eine besondere Fähigkeit in der Lesbarkeit von Welt, die sich erwerben lässt und die weniger mit der Kenntnis des Gegenübers als mit der Kenntnis des Eigenen verbunden ist. Mit dem Begriff des Wunderns reflektieren wir also die Ausstellungspraxis in drei Aspekten: a) der Vermittlungsauftrag, wozu ist die Ausstellung da,

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was will sie hinterlassen, b) der Idee, was die Ausstellung ist. Sie ist eine Vermittlungsinstanz und schließlich c) wie sie gemacht ist und, das ist die Provokation, die Auslösung des Wunderns, z.B. indem man die offensichtlichen Hürden der Präsentation des Themas in die Ausstellung mit hinein nimmt, wie auch in der von Anne Bohnenkamp-Renken vorgestellten Ausstellung des Freien Deutschen Hochstifts zum Brief, in der der eigentliche Makel des Auszustellenden, die optische Wiederholung der geschriebenen Briefe, als Leseaufforderung zum zentralen Moment der Ausstellung wird. Auf die Dortmunder Ausstellung »Schreibwelten – Erschriebene Welten« zurückgreifend, war der dem Thema inhärente Makel die Profanität, die uns als Ausstellungsmachern an jeder Ecke begegnete, sei es in der Rezeption der Gruppe oder auch in der Materialität der kontextualisierenden Exponate – wie z.B. den matritzenabgezogenen Flugblättern der Kommune 1 – sei es das Thema der Gruppe selbst. Diese Profanität galt es aufzugreifen und damit zu transferieren.

5.2 G EGENÜBER : Z UWENDUNG Wie begegnet die Ausstellung ihren Besuchern, wer besucht sie und mit welchen Erwartungen? Mit einem Vorschuss an Vertrauen in die Fähigkeit der Besucher zum Wundern arbeiten viele der zur Zeit sehr präsenten Dauerausstellungen wie z. B. das – hier mit Bedacht mehrfach genannte Literaturmuseum der Moderne, das Kolumba in Köln oder auch die Museumsinsel Hombroich, z.B. durch die Entfernung der Beschriftung aus dem Ausstellungsraum. Sie gehen so eine stillschweigende Übereinkunft mit den Besuchern ein, in der davon ausgegangen wird, dass sie fähig sind, die Irritation zu bemerken, im Wundern geschult sind. Die fehlende Kontextualisierung ist also nicht Teil einer exklusiven Kommunikation, die den Unwissenden ausschließt. Sie ist ein Augenzwinkern, eine Vertrauensgeste gegenüber dem Betrachter. Den Besuchern wird zugetraut, dass sie sich wundern können und dass der Gegenstand selbst Anreiz genug dazu schafft, ob es nun ein Kunstwerk, ein Manuskript oder ein Alltagsgegenstand ist. Anders sind die Dinge in Sonderausstellungen gelagert. Hier gilt es, die Besucher über das explizite Versprechen des Wunderns zu locken. Ein Moment der Irritation muss schon im Titel, im Plakatentwurf sichtbar werden und den Betrachter informieren und reizen. So z.B. in der Ausstellung zur

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Dortmunder Gruppe 61, in der der erste Teil des Titel nicht auf die Schriftstellergruppe oder deren Verortung in der Arbeiterliteratur verwies, sondern die Gruppe als literarisches, also mit mehrfachen Sinnebenen daherkommendes Gefüge sichtbar machte: »Schreibwelten – Erschriebene Welten«. Der Anfangsgedanke der Ausstellung war die Wiederentdeckung der Dortmunder Gruppe 61 und das konnte nur außerhalb der eingefahrenen Wege – Industrieliteratur, Arbeiterliteratur – geschehen, in der Entdeckung der eigenen Poetizität der Gruppe, die wir schon im Titel vorangestellt haben.

5.3 I N DIESEM R AUM : D ER O RT ALS T EIL DES K ONZEPTS Die Ausstellungen des An-Instituts finden mit wechselnden Kooperationspartnern statt, dies stellt jedes Projekt vor neue Möglichkeiten. In dem festen, wenn auch sehr überschaubaren Standort in der Düsseldorfer Universität wird das administrative Tagesgeschäft des An-Instituts bewältigt. Für unsere Kooperationsprojekte tendieren wir zu Raumwechseln, so findet Ausstellungsplanung z.B. meist in den Räumen des Ausstellungshauses selbst statt. Das An-Institut wird als Schlüsselpunkt in einem Netzwerk verstanden, dessen Mobilität Teil seiner Selbstauffassung ist. In der Verbindung mit Museen, Archiven, Kulturinstitutionen verlassen wir den reinen Wissenschaftsraum. Entsprechend vielfältig ist die Landkarte der Ausstellungsorte, an denen wir bisher waren, darunter so divergente Häuser wie das August Macke Haus Bonn, das Siebengebirgsmuseum der Stadt Königswinter, das Museum für Kunst und Kulturgeschichte in Dortmund, das Westfälische Literaturmuseum Nottbeck, das Historial de la Grande Guerre in Péronne, aber auch der »Kunstort Bunkerkirche e.V.« in Düsseldorf. Die besonderen Herausforderungen der Orts- und Raumwechsel fließen in die Ausstellungen mit hinein, sie sind Dialoge in drei Richtungen: 1. Das Haus, 2. Das Konzept des Hauses und 3. Die Ausstellungsthematik. Dialog 1: Ein wichtiger Ausgangspunkt sind die jeweiligen Ausstellungsräumlichkeiten: überdimensionierte Maße, ein Bürgerhaus, ein Atrium mitten im Raum – all dies sind Gegebenheiten, denen sich die Ausstellung stellen muss, die in das Konzept mit einfließen und die es zu reflektieren

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gilt. Parallel zur inhaltlichen Gestaltung des Themas werden bei der Planung die Räume berücksichtigt. Wie lassen sich die Gegebenheiten vor Ort sinnvoll mit dem Thema verbinden? So forderte z.B. die Bunkerkirche in Düsseldorf durch einen langen Rundgang heraus, an dem sich über 20 zwischen 6 und 10 m2 große Räume entfalteten. Gezeigt wurde das Thema »Krieg und Utopie. Kunst, Literatur und Politik im Rheinland nach dem Ersten Weltkrieg«.36 Aus diesen Einzelräumen entwickelte sich schließlich die besondere Qualität der Ausstellung, die zum einen die Möglichkeit ließ, einzelne Exponate besonders hervorzuheben, es zum andern aber auch möglich machte, verschiedene Umsetzungen des Zeigens – Kunst und Literatur, Vitrine und Wand, Wissen und Ästhetik – in harmonischer Form nebeneinander zu präsentieren. Dialog 2: Mit einem neuen Haus kommt man auch immer in ein neues Museumskonzept hinein. Jedes Museum, also alle, in denen wir zu Gast waren, hat sein eigenes Konzept und Selbstverständnis. Für eine Wechselausstellung lohnt es sich, dies wahrzunehmen und aufzugreifen, so dass Querverbindungen zwischen dem dauernden und dem temporären entstehen. Die Besucher werden nicht mit einem völlig anderen Ort konfrontiert, sondern finden, wie in der Architektur, eine Weiterführung, einen Dialog. Die ganzheitliche Ebene, so ließe sich ein Leitgedanke fassen, bleibt dabei Teil der Ausstellungskonzeption. Spannungsreichtum kann es auf unterschiedliche Art und Weise geben, in der Bunkerkirche gelang es z.B. den Hauskünstler für eine Arbeit zum Thema Krieg zu gewinnen, die die Ausstellung »Krieg und Utopie« abschloss, indem sie die Perspektive ins Heute weiter führte. Kongenial verbanden sich im Westfälischen Literaturmuseum die Ausstellungen: Die Dortmunder Gruppe 61, die Thema der Wechselausstellung war, ist natürlich Teil der westfälischen Literaturgeschichte und somit in der ständigen Ausstellung präsent. Oft liegt die Verbindung von ständiger und Wechselausstellung fast nahe und lässt sich leicht knüpfen, wie auch im Historial de la Grande Guerre, dem ersten Weltkriegsmuseum in Frankreich, das die

36 Ausstellung im Kunstort Bunkerkirche e.V. vom 8. Juni bis zum 23. Juli 2006 in Düsseldorf Heerdt, ein Kooperationsprojekt mit dem Kunstort Bunkerkirche e.V. und dem Institut für Neuere Geschichte, Prof. Dr. Gerd Krumeich.

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französische Rezeption zeigt, dem aber die deutsche doch recht fremd war. Unsere Ausstellung »L’autre Allemagne: rêver la paix« warf 2008 in Péronne eine ganz neue Perspektive auf den Ersten Weltkrieg und ergänzte die Exponate, die das Museum in seiner Dauerausstellung zeigt, um den literarischen und künstlerischen Zusammenhang. Um zu dieser Ergänzung zu gelangen, bedurfte es vieler Gespräche im Haus und des Abgleichs der Erinnerungen, da natürlich die Perspektiven auf den Ersten Weltkrieg von deutscher und französischer Seite nicht unterschiedlicher hätten sein können. Im vorbereitenden Dialog zeigte sich dann auch das besondere Potential der Literatur, indem die starken expressionistischen Texte z.B. von Kurt Heynicke und Carl Einstein die Wahrnehmung des Ersten Weltkriegs seitens der Künstler in Deutschland besonders gut vermitteln konnten und somit in der Gegenüberstellung von deutschem Text und französischer Übersetzung der Ausstellung die Struktur gaben und in der farblichen Inszenierung die Raumwirkung motivierten. Dialog 3: Der dritte Punkt im Dialog mit den Konzepten und Räumen der Häuser ist der der Variabilität. Auf der Basis dieses Konzepts wird jede Ausstellung ihrer Umgebung entsprechend neu gedacht und neu sortiert. Die Provokation der Moderne wird also in jedem Haus neu reflektiert und inszeniert. Ein besonders interessantes Beispiel hierfür ist die Ausstellung »Christus an Rhein und Ruhr«, die 2011 im Niederrheinischen Museum in Kevelaer gezeigt wurde und 2009 schon einmal im August Macke Haus in Bonn ausgestellt worden war. Während in den kleinen Räumlichkeiten des Bürgerhauses, in dem August Macke Wohnung und Atelier hatte, die Texte sehr schnell hinter den Kunstwerken zurücktraten und allein in der Bibliothek eine eigene Position und »Aura« entfalten konnten, stand in Kevelaer ein großer, kirchenschiffartiger Raum zur Verfügung. Hier waren es vor allem die Texte, die durch die Ausstellung führten und die den nach Kevelaer pilgernden Gläubigen, die sich z.T. erschrocken und abgestoßen von den modernen Christusbildern zeigten, einen Zugang zum Thema schafften.

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5.4 D IE AUSSTELLUNG »S CHREIBWELTEN – ERSCHRIEBENE W ELTEN . Z UM 50. G EBURTSTAG DER D ORTMUNDER G RUPPE 61« Wie macht man eine Schriftstellergruppe sichtbar, die heute noch nicht einmal die Germanistikstudierenden kennen, das war die große Fragestellung zu Beginn der Arbeit an der Ausstellung »Schreibwelten – erschriebene Welten«. Eine zweite Hürde lag schließlich in der Rezeption der Gruppe, die, geprägt von den politischen Auseinandersetzungen Ende der 1960er Jahre, zwar ein schönes Miniaturbild der Veränderung des Literaturbegriffs darstellt – im Übergang von der Gruppe zum Werkkreis –, der aber zugleich der Anhauch der Politiklosigkeit, des mangelnden Engagements als Manko weiterhin anhaftete. Es galt eine Neubewertung vorzunehmen, eine neue Verortung der Gruppe im Gesamtbild der Literaturgeschichte. Dabei war relativ schnell klar, dass eine auratische Aufladung der Belegexponate nicht geeignet und nicht angemessen wäre. Die Dortmunder Gruppe 61 hatte sich selbst der Beschreibung der Arbeitswelt verpflichtet, das Fritz-Hüser-Institut stellte zwar Brillen, Bergmannsausweise, Manuskripte und unveröffentlichte Gedichthandschriften in Hülle und Fülle zur Verfügung – es stand der auratischen Aufladung also im Grunde nichts im Wege, hätte sich die Gruppe dafür geeignet, denn diese Gegenstände gehörten zu so vergessenen und kaum jemals außerhalb der Gruppe bekannten Autoren wie Josef Büscher, Artur Granitzki, Hildegard Wohlgemuth oder Ewald Rolf. Auch die Handschriften von Max von der Grün und Günter Wallraff, den beiden prominentesten Mitgliedern der Gruppe, eigneten sich nicht als Beleg von Präsenz. Die Profanität der Schreibthemen – Alltag und Arbeit – und die Unbekanntheit der einzelnen Autoren ließen diese selbst zu ausgesprochen präsenten Elementen in der Ausstellung werden, der Reiz des Besonderen musste erst entdeckt und hinzugefügt werden. Gezeigt wurde die Gruppe in ihrer Rolle als Träger einer neuverstandenen Kreativität, wie sie zeitgleich durch Joseph Beuys in der Kunst durchgesetzt wurde. Die Archive gaben ein unerwartetes »Bild« her: Wir entdeckten die Autoren vor allem in ihrer Qualität der Selbstkonstruktion, die gerade zu Beginn immer wieder zwischen Anspruch, Legitimation und vor allem Unsicherheit pendelte. Für die Ausstellung galt es jedoch, in der Wiederentdeckung eben dieser Momente auch das neu zu Vermittelnde zu finden.

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Die drei vorhandenen Ausstellungsräume gaben die Struktur vor: Im ersten großen Raum wurde der Kontext – die 1960er Jahre und 1961 im Besonderen – erarbeitet. Mit Triptychon, Exponaten aus dem Designfundus des Museums für Kunst und Kulturgeschichte in Dortmund, Kunst- und Veranstaltungsplakaten sowie Theaterentwürfen, Belegen der politischen und gesellschaftlichen Strömungen wurde der Zeitgeist rekonstruiert. In der Mitte des ersten Ausstellungsraumes ›thronte‹ der Arbeitstisch der Treffen der Dortmunder Gruppe 61 und belegte die museale Manifestation, die Ankunft der Industriedichter im Musenhain. Umrahmt wurde dieser Tisch der Industriedichtung von Säulen der literarischen Gruppenbildung, einer ›Ahnengalerie‹ aus vier Jahrhunderten: von der Fruchtbringenden Gesellschaft, dem Göttinger Hain, über die Münchner Krokodile bis zur Gruppe 47. Im zweiten Raum stand die Gruppe selbst im Vordergrund, vielmehr das, was ja eigentlich Gegenstand der 50-Jahrfeier war: ihre Texte. Anhand von Situationen der Arbeitswelt wie der Waschkaue, die zur Textkaue wurde, oder auch dem überdimensionierten Karteikasten für die Bürowelt lud der zweite Raum zum Lesen ein. Haptische Präsenz erlangte die Gruppe ebendort in fünf schmalen Spindvitrinen, in denen die Geschichte der Gruppe anhand einzelner Exponate in fünf Schritten nachvollzogen wurde • • •





von der ersten Publikation, dem frühen Briefaustausch, über die ersten Zeitungsmeldungen zur Gruppe bis hin zum großen Erfolg Max von der Grüns mit Irrlicht und Feuer im Jahr 1962, dem Prozess, über den Almanach aus der Welt der Arbeit, erschienen im Luchterhand Verlag, der den Zenit der Gruppe kennzeichnet, neue Impulse der Gruppe durch neue Mitglieder wie Wolfgang Körner und dann natürlich Günter Wallraff und Erika Runge mit ihrem vielbeachteten Reportagekonzept, bis hin zur Gründung des Werkkreises Literatur der Arbeitswelt u.a. durch Erasmus Schöfer – und das Ende der Dortmunder Gruppe 61.

Mit dieser Leseerfahrung wurden die Besucher schließlich im dritten Raum eingeladen, selbst tätig zu werden. So, wie sich die damaligen „Arbeiterdichter“ aus den vorgefundenen literarischen Mustern befreiten, sollte auch die heutige Kreativität sichtbar werden, nicht nur im passiven Zuschauen, sondern auch im aktiven Schreiben. Begleitet von Poetry Slam und Poet-

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ron,37 forderten den Besucher entsprechende Szenerien und Aufgabenstellungen auf, einen Krimi, ein Liebesgedicht oder eine Reportage zu verfassen und sein Werk als Tischbild oder mittels Wäscheklammer und -leine in die Ausstellung zu integrieren. Über Ausstellungskonzept und Wirkung haben die Autorinnen an anderer Stelle berichtet.38 Abschließend möchten wir hier mit drei Beispielen andeuten, wie ihre Überlegungen zum Problem von Literaturausstellungen in diese Schau eingegangen sind:

B EISPIEL 1: AHNENGALERIE Die bereits erwähnte »Ahnengalerie« kam nicht von ungefähr zustande. Vier Stützsäulen im Raum wurden dafür umgedeutet zu einem Dichtertempel. Die einmontierten Holzelemente waren zugleich Zeichen der Hermetisierung des Dichtermythos, aber auch Sitz-, Muße- und Lesebank. Eine umlaufende Schrift variierte die sakralen Umschreibungen, die sich im Laufe der Jahrhunderte an Dichtung und Dichtergruppen geheftet hatte: »der Musentempel, der Dichterhain, der Literatenhimmel, der Poetenolymp«. Dass

37 Poetron ist eine Poetry-Maschine, erarbeitet von Günter Gehl, der für die Ausstellung eine eigene Version konzipierte. Den Poetron gibt es auch online unter www.poetron-zone.de. 38 Vgl. hierzu: Gertrude Cepl-Kaufmann/Jasmin Grande: »Vorwort«, in: Gertrude Cepl-Kaufmann/Jasmin Grande (Hg.), Schreibwelten – Erschriebene Welten. Zum 50. Geburtstag der Dortmunder Gruppe 61, Essen: Klartext 2011, S. 13-16; dies.: »Im Musentempel! Eine Ausstellung zum 50. Geburtstag der Dortmunder Gruppe 61«, in: Heimat Dortmund. Stadtgeschichte in Bildern und Berichten. Zeitschrift des Historischen Vereins für Dortmund und die Grafschaft Mark e.V. unter Mitwirkung des Stadtarchivs, Nr. 2 (2011), S. 3-4; dies.: »Was die Gruppe von sich hält und andere von ihr. Selbstbild, Außenwahrnehmung und Wirkung«, in: Ute Gerhard/Hanneliese Palm (Hg.), Schreibarbeiten an den Rändern der Literatur. Zum 50. Jahrestag der Gründung der Dortmunder Gruppe 61, Essen: Klartext 2012; dies.: »Die Dortmunder Gruppe 61 heute – eine Rückschau und eine Stellungnahme«, in: Walter Gödden (Hg.), Literatur in Westfalen. Beiträge zur Forschung. Im Auftrag der Literaturkommission für Westfalen, Münster, Paderborn: 2012.

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die hehre Ahnengalerie im Innern das prosaische Werkstattambiente der Gruppe 61 mit einem (fast) Originaltisch, wie er dereinst in der Dortmunder Stadtbibliothek für die Gruppensitzungen bereitstand, verknüpfte provokativ Aktualität und Geschichte, Wallhall und Schreibwerkstatt.

B EISPIEL 2: P ORTRAITGALERIE Bei der Durchsicht der Nachlässe hatte sich eine überraschende Vielfalt von Selbstinszenierungen der Gruppenmitglieder am Schreibtisch gefunden. Ein frühes Bild Max von der Grüns, ein Selbstportrait des Arbeiterschriftstellers und Hobbyfotografen Ewald Rolfs mit Scheitel, Weltkugel und eingespanntem Blatt, zwei Aufnahmen aus einem Fotoprojekt von Adolf Clemens, Professor für Bildjournalismus in Dortmund von Bruno Gluchowski und Wolfgang Körner, ein aktuelles Bild von Günter Wallraf mit Telefon am Ohr. Eben an diesen Selbstinszenierungen bricht sich das ehemalige Bild der Gruppe von der profanen, vergessenen Sammlung von Arbeiterschriftstellern und der in der Ausstellung gezeigten Poetizität der Texte. In diesen bildlichen Selbstkonstruktionen belegen die Mitglieder ihre Existenz als Autoren und zwar mit erstaunlichen, charakteristischen Merkmalen. Am Schreibtisch kumuliert das Bild des Arbeiters mit dem schreibenden und schaffenden Menschen. Mit der Portraitgalerie wird auch der Musentempel erneut aufgegriffen, die Frage, ob sich die Autoren als Teil des Musentempels sahen, kann im Gesamt der Gruppe mit Ja beantwortet werden. Die geradezu abendländische Traditionslinie des Dichters als Mythenschreiber ließ sich, Arbeiterdichter hin oder her, auch in diesem Fall noch erkennen und in der Ausstellung fortsetzen.

B EISPIEL 3: T RYPTICHON Nicht minder von ungefähr gerät uns als Ausstellungsmacherinnen immer wieder das Tryptichon als Urform, ja, geradezu bildadäquates Konstrukt mehrfacher Sinne, die ja doch immer auch einer Ganzheitlichkeit folgen, in den Blick. Es begleitet uns, seit unserer Ausstellung in der Düsseldorfer

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Bunkerkirche, wo wir es zunächst aus der begrenzten Raumsituation heraus genutzt hatten. Zur Ausstellung zum 50. Geburtstag der Dortmunder Gruppe 61 haben wir dem Gründungsjahr 1961 Referenz erweisen wollen und dies in einem Tryptichon angelegt. Eine Sammlung von Ereignissen, die das Jahr bestimmten, ließ Evidentes erkennen. So zeigte unser Tryptichon •

• •



auf der Ebene des sensus litteralis drei Ereignisse: Mauerbau, Zulassung der Pille, der Blick auf die Weltkugel aus der Perspektive der ersten Mondreise. auf der Ebene des sensus allegoricus das Spannungsgefüge von Begrenzung und Entgrenzung, das dieses Jahr bestimmte. auf der Ebene des sensus moralis die Einbindung der Gruppe nicht als Reduktion auf ein Dortmunder Ereignis, sondern als Focus einer paradigmatischen Neubestimmung, die Deutschland und die Welt damals erlebten. auf der Ebene des sensus anagogicus: Als Korrespondenz unseres Tryptichon mit einem parallel im Raum gehängten Großfoto der Gruppe, das sie in ihrer literarischen Werkstatt zeigte, und ihren poetischen Aneignungen der Zeitläufte, die als Bildelemente den Raum füllten.

Das Spannungsgefüge signalisierte das kreative Element, das es zu entdecken galt. Unser Tryptichon spielte mit der Abstraktion, die wir mit der Titelgebung der Ausstellung »Schreibwelten – Erschriebene Welten« vorgegeben hatten. Hinführen wollten wir die Besucher zu etwas ganz Neuem: der Gruppe als Modell einer ästhetischen Befreiung. Befreiung verstanden wir damit wieder in einem mehrfachen Sinn: Wir wollten die Mitglieder der Gruppe aus dem irreführenden Meinungsgefängnis befreien, sie seien nichts als »Arbeiterschriftsteller« gewesen; des weiteren aus einem kulturhistorischen Gefängnis, das implizierte, die Mitglieder seien nur eine handvoll poetae minores gewesen, und schließlich aus einem Ausstellungskorsett, das ihre individuelle und kollektive Besonderheit auf sie selbst reduziert hätte.

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Abb. 1: Alphons Wächters [d.i. Alfons Custodis]: Düsseldorfer Gewerbe- und Kunstausstellung. Humoristische Rundschau, den Besuchern der Ausstellung zur freundlichen Erinnerung von Alphons Wächters. I. Auflage. Verlag von A.W. Schulgen, Düsseldorf 1880, S. 6.

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L ITERATUR Auffermann, Verena: »Wilder Ausstellen. Clara oder Erwartungen an neue Formen der Literaturausstellung«, in: das magazin der kulturstiftung des Bundes #19 (2012), abrufbar unter: http://www.kulturstiftung-desbundes.de/cms/de/mediathek/magazin/magazin12/wilder_ausstellen/ (letzter Aufruf am 16.01.2013). »Ausgestellt! Junge Dialoge zur Gegenwartskunst«. Eine Ausstellung im Rahmen eines Teamprojektes am Institut für Kunstgeschichte der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Ausstellungsbegleitheft, Düsseldorf 2011. Baumunk, Bodo-Michael: »Dauerausstellung und Wechselausstellung. Sieben Hügel. Bilder und Zeichen des 21. Jahrhunderts«, in: Ulrich Schwarz/Philipp Teufel (Hg.), Handbuch Museografie und Ausstellungsgestaltung, Ludwigsburg: Avedition 2001, S. 180-193. Blumenberg, Hans: Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt/Main: Suhrkamp 8 1986. Bohnenkamp, Anne/Vandenrath, Sonja (Hg.), Wort-Räume, ZeichenWechsel, Augen-Poesie. Zur Theorie und Praxis von Literaturausstellungen. Mit einer Dokumentation der Ausstellung ›Wie stellt man Literatur aus? Sieben Positionen zu Goethes ›Wilhelm Meister‹‹ (Frankfurter Goethe-Haus 2010), Göttingen: Wallstein 2011. Borchert, Jörn: »Das familienfreundliche Museum. Gedanken auf dem Weg zu einer neuen Präsentationskultur«, in: Ulrich Schwarz/Philipp Teufel (Hg.), Handbuch Museografie und Ausstellungsgestaltung, Ludwigsburg: Avedition 2001, S. 114-129. Bühler, Axel: »Karl Bühlers Theorie der Deixis«, in: Achim Eschbach (Hg.), Karl Bühler's Theory of Language, Amsterdam u.a.: Benjamins 1987, S. 287-299. Bühler, Karl: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion von Sprache, Stuttgart: Fischer 1965. Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1982. Cepl-Kaufmann, Gertrude/Grande, Jasmin: »Vorwort«, in: dies. (Hg.), Schreibwelten – Erschriebene Welten. Zum 50. Geburtstag der Dortmunder Gruppe 61, Essen: Klartext 2011, S. 13-16.

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Cepl-Kaufmann, Gertrude/Grande, Jasmin: »Im Musentempel! Eine Ausstellung zum 50. Geburtstag der Dortmunder Gruppe 61«, in: Heimat Dortmund. Stadtgeschichte in Bildern und Berichten. Zeitschrift des Historischen Vereins für Dortmund und die Grafschaft Mark e.V. unter Mitwirkung des Stadtarchivs, Nr. 2 (2011), S. 3-4. Cepl-Kaufmann, Gertrude/Grande, Jasmin: »Was die Gruppe von sich hält und andere von ihr. Selbstbild, Außenwahrnehmung und Wirkung«, in: Ute Gerhard, Hanneliese Palm (Hg.), Schreibarbeiten an den Rändern der Literatur. Zum 50. Jahrestag der Gründung der Dortmunder Gruppe 61, Essen: Klartext 2012. Cepl-Kaufmann, Gertrude/Grande, Jasmin: »Die Dortmunder Gruppe 61 heute – eine Rückschau und eine Stellungnahme«, in: Walter Gödden (Hg.), Literatur in Westfalen. Beiträge zur Forschung 12 (Redaktion: Arnold Maxwill und Steffen Stadthaus). Im Auftrag der Literaturkommission für Westfalen, Münster, Paderborn: Aisthesis 2012. Daniels, Dieter: »Das Verschwinden der Ereignisse. Ausnahme und Regel ästhetischen Verhaltens angesichts der Neuen Medien«, in: Heinz Herbert Mann (Hg.), Regel und Ausnahme. Festschrift für hans Holländer, Achen u.a.: Thouet 1995, S. 331-333. Deutsches Literaturarchiv Marbach: ›Wir vom Archiv‹. Fundstücke aus der Handschriftensammlung des Deutschen Literaturarchivs in Marbach. Vorgestellt von Mitarbeitern. Mit Vorworten von Lorenz Jäger und Urich Ott, Marbach: Dt. Schillergesellschaft 1997. Dotzler, Bernhard J.: »Die Wörter und die Augen. Zur Un-Möglichkeit der Visualisierung von Literatur«, in: Anne Bohnenkamp, Sonja Vandenrath (Hg.), Wort-Räume, Zeichen-Wechsel, Augen-Poesie. Zur Theorie und Praxis von Literaturausstellungen. Mit einer Dokumentation der Ausstellung »Wie stellt man Literatur aus? Sieben Positionen zu Goethes ›Wilhelm Meister‹« (Frankfurter Goethe-Haus 2010), Göttingen: Wallstein Verlag 2011, S. 39-52. Gerlach, Peter (Hg.), Regel und Ausnahme. Festschrift für Hans Holländer, Aachen u.a.: Thouet 1995, S. 331-333. Gfrereis, Heike: »Didaktik des Schweigens. Das Literaturmuseum der Moderne des Deutschen Literaturarchivs Marbach«, in: Der Unterricht. Beiträge zu seiner Praxis und wissenschaftlichen Grundlegung, Jg. LXI, Heft 2 (2009) »Literatur und Museum. Sammeln und Ausstellen«, S. 20-29.

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Griefahn, Monika: »Anmerkungen zur Szenographie. Zur Rolle von Ausstellungen und Museen im 21. Jahrhundert«, in: museumskunde, Bd. 66, 1 (2001), S. 9-12. Grisko, Michael: »Literaturausstellung«, in: Günther Schweikle (Begr.), Dieter Burdorf, Christoph Fasbender, Burkhard Moeinninghoff (Hg.), Metzler-Lexikon Literatur, 3. völlig neu bearbeitete Auflage, Stuttgart u.a.: Metzler 2007. Haselbach, Dieter et al.: Der Kulturinfarkt. Von allem zu viel und überall das Gleiche. Eine Polemik über Kulturpolitik, Kulturstaat, Kultursubvention, München: Albrecht Knaus 2012. Jüdisches Museum Berlin (Hg.), Geschichten einer Ausstellung. Zwei Jahrtausende deutsch-jüdische Geschichte, Berlin: Stiftung Jüdisches Museum Berlin 2001. Korff, Gottfried/Eberspächer, Martina (Hg.), Museumsdinge. deponieren – exponieren, Köln u.a.: Böhlau 2002. Lepp, Nicola/Roth, Martin/Vogel, Klaus (Hg.), Der Neue Mensch. Obsessionen des 20. Jahrhunderts, Ostfildern-Ruit: Cantz 1999. Lyons, John: Semantik, München: Beck 1983. Mann, Heinz Herbert/Gerlach, Peter (Hg.), Regel und Ausnahme. Festschrift für Hans Holländer, Aachen u.a.: Thouet 1995. Noschka-Roos, Annette: »Bausteine eines besucherorientierten Informationskonzepts«, in: Ulrich Schwarz/Philipp Teufel (Hg.), Handbuch Museografie und Ausstellungsgestaltung, Ludwigsburg: Avedition 2001, S. 88-113. Schärer, Martin R.: Die Ausstellung. Theorie und Exempel, München: Dr. C. Müller-Straten 2003. Schock, Flemming et al. (Hg.), Dimensionen der Theatrum-Metapher in der Frühen Neuzeit. Ordnung und Repräsentation von Wissen, Hannover: Wehrhahn 2008. Schwarz, Ulrich/Teufel, Philipp (Hg.), Handbuch Museografie und Ausstellungsgestaltung, Ludwigsburg: avedition 2001. Scrive, Martine: »Zur Konzeption wissenschaftlicher Ausstellungen«, (aus dem Französischen von Christian Rauer), in: Ulrich Schwarz/Philipp Teufel (Hg.), Handbuch Museografie und Ausstellungsgestaltung, Ludwigsburg: Avedition 2001, S. 146-165. Severin, Ingrid: »Kugeln und Sphären in der Kunst des 20sten Jahrhunderts. Die ausgestellte Welt«, in: Heinz Herbert Mann/Peter Gerlach

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(Hg.), Regel und Ausnahme. Festschrift für Hans Holländer, Aachen u.a.: Thouet 1995, S. 317-330. Wächters, Alphons [d.i. Alfons Custodis]: Düsseldorfer Gewerbe- und Kunstausstellung. Humoristische Rundschau, den Besuchern der Ausstellung zur freundlichen Erinnerung von Alph. Wächters. I. Auflage, Düsseldorf: A.W. Schulgen 1880. Warburg, Aby: Schlangenritual. Ein Reisebericht, Berlin: Wagenbach 1988. Wirth, Uwe: »Was zeigt sich, wenn man Literatur zeigt?«, in: Anne Bohnenkamp/Sonja Vandenrath (Hg.), Wort-Räume, Zeichen-Wechsel, Augen-Poesie. Zur Theorie und Praxis von Literaturausstellungen. Mit einer Dokumentation der Ausstellung ›Wie stellt man Literatur aus? Sieben Positionen zu Goethes ›Wilhelm Meister‹‹ (Frankfurter GoetheHaus 2010), Göttingen: Wallstein 2011, S. 53-64.

Literaturvermittlung, Literaturausstellung, »ästhetische Erziehung« Das Literaturmuseum der Moderne O LIVER R UF

Durch die Schönheit wird der sinnliche Mensch zur Form und zum Denken geleitet; durch die Schönheit wird der geistige Mensch zur Materie zurückgeführt und der Sinnenwelt wiedergegeben. Friedrich Schiller: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen [Achtzehnter Brief]

1. Neue Forschungen zu zwei noch jungen Gegenständen angewandter Literaturwissenschaft, die einerseits den Bereich der ›Literaturvermittlung‹, andererseits denjenigen der ›Literaturausstellung‹ betreffen, lassen bislang, gerade wenn sie unter sowohl mediensystematischen wie medienmethodischen Gesichtspunkten rekonstruiert und schematisiert werden, noch nicht zur Gänze erkennen, welche realen Schnittmengen und dann auch epistemologisch operationalisierbaren Perspektiven sich zwischen ihnen durch

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die insbesondere komparatistische Beschäftigung ergeben.1 Gleichwohl haben sich in jüngeren Arbeiten zu beiden Bereichen Forschungsrichtungen ergeben, die Erwartungen wecken, deren Diskussion zukünftig klassifikatorisch zusammen zu führen.2 Auch meine folgenden Überlegungen zu einer solchen Möglichkeit, ›Literaturvermittlung‹ und ›Literaturausstellung‹ in einem institutionellen Konzept zu integrieren, werden von ihnen angestoßen. In ihrem Mittelpunkt steht das Literaturmuseum der Moderne, das durch seine Angliederung an das Deutsche Literaturarchiv in Marbach auf einen in seiner Diversität und Komplexität einzigartigen Materialbestand an Zeugnissen, Dokumenten, mithin Exponaten literarischer ›Objekte‹ zurück-

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Zur noch immer gestellten Frage, ob Literatur überhaupt ausstellbar ist, siehe etwa Bernhard J. Dotzler: »Die Wörter und die Augen. Zur Un-Möglichkeit der Visualisierung von Literatur«, in: Anne Bohnenkamp/ Sonja Vandenrath (Hg.), Wort-Räume, Zeichen-Wechsel, Augen-Poesie. Zur Theorie und Praxis von Literaturausstellungen. Mit einer Dokumentation der Ausstellung ›Wie stellt man Literatur aus? Sieben Positionen zu Goethes ›Wilhelm Meister‹‹ (Frankfurter Goethe-Haus 2010), Göttingen: Wallstein 2011, S. 39-51, bes. S. 39. Dazu außerdem u.a. Michael Grisko: »Literaturausstellung«, in: Dieter Burdorf/Christoph Fasbender/Burkhard Moennighof (Hg.), Metzler Lexikon Literatur, 3. völlig neu bearbeitete Aufl., Stuttgart u. Weimar: Metzler 2007, S. 446, sowie Oliver Heilwagen: »Über die Unmöglichkeit, Literatur angemessen auszustellen«, in: Arbeitsgemeinschaft literarischer Gesellschaften und Gedenkstätten und Christiane Kussin (Hg.), Zwischen Reliquienkult und Reizüberflutung. Möglichkeiten der Konzeption und Gestaltung von Literaturausstellungen, Berlin: ALG 2002, S. 119-143; Hans-Otto Hügel: »Literarische- oder Literatur-Ausstellungen – oder?«, in: Wolfgang Barthel (Hg.), Literaturmuseum – Facetten. Visionen, Frankfurt/Oder: Kleist-Gedenk- und Forschungsstätte 1996, S. 32-45; Bernhard Zeller: »Literaturausstellungen. Möglichkeiten und Grenzen«, in: Jahresring 78/79 (1978), S. 294-300.

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So etwa die Habilitationsschrift von Sabiene Autsch an der Kunsthochschule/Universität Kassel m.d.T. Ausstellungs-Szenarien und Ausstellungs-Gesten. Zur Dialektik der Ausstellung und des Ausstellens (2008). Siehe außerdem auch Jennifer John/Dorothe Richter/Sigrid Schade (Hg.), Re-Visionen des Displays. Ausstellungs-Szenarien, ihre Lektüren und ihr Publikum, Zürich: JRP Ringier 2008.

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greifen kann, die, wie ich zeigen möchte, dazu beitragen, Literatur gleichsam ›lebendig‹ zu vermitteln und dann auch derart auszustellen.3 Der vorliegende Beitrag will beispielhaft demonstrieren, wie hier ›Literaturvermittlung‹ und ›Literaturausstellung‹ in ihrer Zusammenschau funktionieren, d.h. auf welche literaturvermittelnden und dann auch naturgemäß intermedialen4 Strategien die entsprechenden ›Ausstellungsmacher‹ zurück

3

Dazu einführend Heike Gfrereis: »Didaktik des Schweigens. Das Literaturmuseum der Moderne des Deutschen Literaturarchivs Marbach«, in: Der Deutschunterricht 2 (2009), S. 20-29.

4

Zum Intermedialitäts-Begriff siehe etwa Karl Prümm: »Intermedialität und Multimedialität«, in: Rainer Bohn/Eggo Müller/Rainer Ruppert (Hg.), Ansichten einer künftigen Medienwissenschaft, Berlin: Sigma 1988, S. 195-200; Thomas Eicher/Ulf Bleckmann (Hg.), Intermedialität. Vom Bild zum Text, Bielefeld: Aisthesis 1994; Jürgen E. Müller: »Intermedialität und Medienwissenschaft. Thesen zum State of the Art«, in: montage/av 2 (1994), S. 119-138; Peter Zima (Hg.), Literatur intermedial. Musik, Malerei, Photographie, Film, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995; Yvonne Spielmann: »Intermedialität als symbolische Form«, in: Ästhetik und Kommunikation 88 (1995), S. 112117; Jürgen E. Müller: Intermedialität. Formen moderner kultureller Kommunikation, Münster: Nodus 1996; Werner Wolf: »Intermedialität als neues Paradigma der Literaturwissenschaft? Plädoyer für eine literaturzentrierte Erforschung von Grenzüberschreitungen zwischen Wortkunst und anderen Medien am Beispiel von Virginia Woolfs The String Quartet«, in: Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik 21 (1996), S. 85-116; Joachim Paech: »Paradoxien der Auflösung und Intermedialität«, in: Martin Warnke/Wolfgang Coy/Georg Christoph Tholen (Hg.), Hyperkult. Geschichte, Theorie und Kontext digitaler Medien, Basel, Frankfurt/Main: Stroemfeld 1997, S. 331-367; ders.: »Intermedialität«, in: Medienwissenschaft 1 (1997), S. 12-30; Jens Schröter: »Intermedialität. Facetten und Probleme eines aktuellen medienwissenschaftlichen Begriffs«, in: montage/av 2 (1998), S. 129-154; Werner Wolf: »Intermedialität«, in: Ansgar Nünning (Hg.), Metzler-Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, Stuttgart/Weimar: Metzler 1998, S. 238f.; Jörg Helbig (Hg.), Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiets, Berlin: Erich Schmidt 1998; Yvonne Spielmann: Intermedialität. Das System Peter Greenaway, München: Wilhelm Fink 1998; Mathias Mertens (Hg.), Forschungsüberblick ›Intermedialität‹. Kommentierungen und Bibliographie, Han-

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greifen.5 Allerdings sollen diese nicht allein in der Praxis analysiert, sondern zugleich auch in der Theorie fundiert werden. Einen wichtigen Anhaltspunkt, der für den ›Ort‹ des Literaturmuseums der Moderne nicht zufällig eine besondere Rolle spielt, bieten dabei medientheoretische Positionen (insbesondere der Romantik, aber auch der allgemeinen Ästhetik), die mit den konkreten Realien des Museums nicht allein abgeglichen werden müssen, sondern, so die These, für diese auch eine spezielle Funktion leisten – sie stellen die theoretische Rahmung dessen bereit, was dann im Museum dem Rezipienten materiell, (inter-)medial, visuell, etc. ästhetisch ›erziehend‹ vermittelt wird.6

nover: Revonnah 2000; Beate Ochsner/Charles Grivel (Hg.), Intermediale. Kommunikative Konstellationen zwischen den Medien, Tübingen: Stauffenburg 2001; Irina O. Rajewski: Intermedialität, Tübingen: A. Francke 2002; Uwe Wirth: »Hypertextualität als Gegenstand einer ›intermedialen Literaturwissenschaft‹«, in: Walter Erhart (Hg.), Grenzen der Germanistik, Stuttgart/Weimar: Metzler 2004, S. 410-430; ders.: »Intermedialität«, in: Alexander Roesler/Bernd Stiegler (Hg.), Grundbegriffe der Medientheorie, Paderborn: Wilhelm Fink 2005, S. 114-121; ders.: »Intermedialität«, in: Thomas Anz (Hg.), Handbuch Literaturwissenschaft, Bd. 1, Stuttgart/Weimar: Metzler 2007, S. 255-264; Joachim Paech/Jens Schröter (Hg.), Intermedialität analog/digital. Theorien – Methoden – Analysen, München: Wilhelm Fink 2008. Zur Anwendbarkeit des Intermedialitäts-Begriff im Rahmen literaturwissenschaftlicher Lektüren siehe u.a. Oliver Ruf: »›auf gezackten (zackigen) / photographien ... grobkörnige Mnemosyne.‹ Polaroid-Effekte und Medien-Reflexionen in der Lyrik der Gegenwart (Durs Grünbein – Thomas Kling)«, in: literatur für leser 4 (2011), S. 203-218. Zur kritischen Diskussion wie begrifflich-theoretischen Erweiterung siehe Roberto Simanowski: »Transmedialität als Kennzeichen moderner Kunst«, in: Urs Meyer/Roberto Simanowski/Christoph Zeller (Hg.), Transmedialität. Zur Ästhetik paraliterarischer Verfahren, Göttingen: Wallstein 2006, S. 39-81. 5

Dazu auch Susanne Lange-Greve: Die kulturelle Bedeutung von Literaturausstellungen. Konzepte, Analysen und Wirkungen literaturmusealer Präsentation. Mit einem Anhang zum wirtschaftlichen Wert von Literaturmuseen, Hildesheim/New York: Olms-Weidmann 1995.

6

Dazu auch die Beiträge in Sabine Brenner-Wilczek/Sikander Singh (Hg.), ›... das hohe Geistergespräch‹. Über Literatur im musealen und digitalen Raum, Bielefeld: Aisthesis 2008.

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Dazu demonstriere ich zunächst, welche Eckpunkte für die kultur- und literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Literaturmuseum der Moderne aus dem gewählten Blickwinkel am wichtigsten erscheinen (2.), um anschließend zu überlegen, inwiefern vor dieser Folie das Literaturmuseum der Moderne analysiert werden kann; punktuell lese ich ein Exemplar der Marbacher Kataloge,7 die, so eine weitere These, die Literatur-Vermittlungs-Arbeit des Literaturmuseums der Moderne komplettieren (3.). In diesem Zusammenhang orientiere ich mich an einer kultursemiotisch geprägten Museumsanalyse8 vor der allgemeinen Folie von Roland Barthes’ Reflexionen von Alltagsmythen.9 Insgesamt ausgegangen wird von heterogenen, bisher kaum bzw. gar nicht weder ausgewerteten noch untersuchten Zeugnissen von ›Literaturvermittlung‹, ›Literaturausstellung‹ und dann auch »ästhetischer Erziehung«10 im Sinne Schillers, die demonstrieren, wie sich eine angewandte Literaturwissenschaft aus der Sicht einer Museums-

7

Eine Auflistung der bislang erschienen Bände findet sich auf der Internetseite des Deutschen Literaturarchivs Marbach am Neckar unter http://www.dla-mar bach.de/shop/publikationen/marbacher_kataloge/index.html (letzter Aufruf am 04.07.2012).

8

Dazu Jana Scholze: »Kultursemiotik: Zeichenlesen in Ausstellungen«, in: Joachim Baur (Hg.), Museumsanalyse. Methoden und Konturen eines neuen Forschungsfeldes, Bielefeld: transcript 2010, S. 121-148. Siehe allgemein u.a. auch Ivan Bystrina: Semiotik der Kultur. Zeichen – Texte – Codes. Mit einer Einleitung von Günter Bentele, Tübingen: Stauffenburg 1989; Walter A. Koch (Hg.), Aspekte einer Kultursemiotik, Bochum: Brockmeyer 1990; Peter Grzynek (Hg.), Cultural Semiotics. Facts and Facets/Fakten und Facetten der Kultursemiotik, Bochum: Brockmeyer 1991; Hugh J. Silverman (Hg.), Cultural Semiotics. Tracing the Signifier, New York/London: Routledge 1998.

9

Roland Barthes: Mythen des Alltags (1957). Erste vollständige deutsche Ausgabe, aus dem Französischen von Horst Brühmann, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2010. Zu einer entsprechend poststrukturalistisch motivierten Perspektive auf das Phänomen der ›Literaturausstellung‹ siehe Christian Metz: »Lustvolle Lektüre. Zur Semiologie und Narratologie der Literaturausstellung«, in: Bohnenkamp/Vandenrath, Wort-Räume, S. 87-99.

10 Friedrich Schiller: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1795). Mit den Augustenburger Briefen hg. von Klaus L. Berghahn, Stuttgart: Reclam 2006.

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wissenschaft explizit zukünftig auch als neue Medienkulturwissenschaft mit starken (literatur-, medien-, kunst- und kultur- wie auch schreibdidaktischen) Anteilen erweisen kann (4.).11

2. Die Erscheinungsform der ›Ausstellung‹ (und dabei speziell die Kunst- und dann auch die Literaturausstellung12) gilt spätestens seit Benjamins Kunstwerk-Aufsatz13 als »Inbegriff von Medialität« und »Spezifikum von Modernität«;14 Simmel spricht von ihr ebenfalls als ein Exemplum »modernen Lebens«15 wie auch als »notwendige Ergänzung und Folge des modernen Spezialistentums in der Kunst«;16 Adorno zählt sie in ähnlicher Weise zu

11 Dazu u.a. Peter Seibert: »›Lust und Klage einer alten Zeit werden wieder lebendig.‹ Literaturausstellungen als germanistischer Forschungsgegenstand«, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 137 (2005), S. 25-40. Siehe außerdem auch – mit anderer disziplinärer Stoßrichtung – Sharon Macdonald: Companion to Museum Studies, New York/Oxford: Blackwell 2006. 12 Dazu etwa auch Friedhelm Scharf: »Literatur als Themenfeld und Exponat der documenta-Geschichte«, in: Sabiene Autsch/Michael Grisko/Peter Seibert (Hg.), Atelier und Dichterzimmer in neuen Medienwelten. Zur aktuellen Situation von Künstler- und Literaturhäusern, Bielefeld: transcript 2005, S. 101-120, sowie die Beiträge in Kunstforum International 140 (1998), Themenheft: Kunst und Literatur. 13 Walter Benjamin: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (Zweite Fassung, 1938)«, in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1980ff., Bd. I.2, 1980, S. 471-508. 14 Andreas Käuser: »Sammeln – Zeigen – Darstellen. Zur Modernität und Medialität von Ausstellungen«, in: Autsch/Grisko/Seibert, Atelier und Dichterzimmer in neuen Medienwelten, S. 12-26, hier S. 13. 15 Georg Simmel: »Berliner Gewerbe-Ausstellung« (1896), in: ders.: Soziologische Ästhetik, hg. von Klaus Lichtblau, Wiesbaden: VS 2009, S. 61-66, hier S. 62. 16 Georg Simmel: »Über Kunstausstellungen« (1890), in: ders.: Soziologische Ästhetik, S. 39-46, hier S. 40.

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den Symptomen von Modernität.17 Entsprechend hat sie im Zuge verschiedener Forschungsbemühungen Beachtung in kultur- und literaturhistorischer Hinsicht,18 aber auch im Hinblick auf ein relativ neues bzw. neu ent-

17 Vgl. Käuser: Sammeln – Zeigen – Darstellen, S. 19, sowie etwa auch Theodor W. Adorno: »Valéry Proust Museum« (1923), in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997, Bd. 10.1, S. 181194. 18 Die Geschichte der Literaturausstellung beschreibt in aller Kürze etwa Ulrich Raulff: »Wie Wolken über einem Wasser. Der Zauber der Handschrift und die Schaulust am Text«, in: Deutsches Literaturarchiv Marbach (Hg.), Denkbilder und Schaustücke. Das Literaturmuseum der Moderne, Marbach am Neckar: Deutsche Schillergesellschaft 22008, S. 41-50, bes. S. 47-49. Siehe außerdem auch Bernhard Zeller: Marbacher Memorabilien. Vom Schiller-Nationalmuseum zum Deutschen Literaturarchiv 1953-1973, Marbach: Deutsche Schillergesellschaft 1995. Siehe außerdem insbes. Peter Seibert: »Literaturausstellungen und ihre Geschichte«, in: Bohnenkamp/Vandenrath, Wort-Räume, S. 15-37. Eine Übersicht zur Sekundärliteratur zum Thema ›Literaturausstellung‹ findet sich ebd., S. 347-349. Eine Übersicht zur Sekundärliteratur zum Thema ›Literatur und Museen‹ findet sich zudem in: Der Deutschunterricht 2 (2009), Themenheft: Literatur und Museum. Sammeln und Ausstellen, S. 80f. Davon hervorgehoben seien u.a. Arbeitsgemeinschaft Literarischer Gesellschaften und Gedenkstätten (Hg.), Literarische Gesellschaften, Literaturmuseen und literarische Gedenkstätten. Namen, Zahlen, Hinweise zu 350 Einrichtungen, Berlin: ALG 2007; dies./ Christiane Kussin (Hg.), Dichterhäuser im Wandel – Wie sehen Literaturmuseen und Literaturausstellungen der Zukunft aus?, Berlin: ALG 2001; Hartmut John/ Anja Dauschek (Hg.), Museen neu denken. Perspektiven der Kulturvermittlung und Zielgruppenarbeit, Bielefeld: transcript 2003. Siehe außerdem auch Hubert Locher et al. (Hg.), Museen als Medien. Medien in Museen. Perspektiven der Museologie, München: Dr. Müller-Straten 2004; Hans Dieter Huber/Hubert Locher/Karin Schulte (Hg.), Die Kunst des Ausstellens. Beiträge, Statements, Diskussionen, Stuttgart/Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 2001; Susanne Lange-Greve: »Literarisches in Szene setzen: Literatur ausstellen, darstellen, erproben«, in: Autsch/Grisko/Seibert, Atelier und Dichterzimmer in neuen Medienwelten, S. 121-129; Martin R. Schärer: »Theorie der Ausstellung«, in: Hildegard K. Vieregg (Hg.), Studienbuch Museumswissenschaften. Impulse zu einer internationalen Betrachtung, Baltmannsweiler: Schneider 2007, S. 48-55; Sabiene Autsch/

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decktes und konturiertes Forschungsfeld gefunden, durch das der Begriff der ›Museumsanalyse‹ geprägt und in jüngster Zeit bereits auch methodologisch ausdifferenziert worden ist.19 Von diesen Methoden werden insbesondere semiotische Zugänge unterstrichen, die »vor allem die Transformation der Zeichen beim Musealisierungsprozess von außermusealen Gegenständen, Texten [...] usw. thematisieren«.20 Zu Recht stark gemacht wird dabei21 eine ›Museumssemiotik‹,22 die sich paradigmatisch mit der bereits einleitend erwähnten Kultursemiotik Barthes’scher Provenienz kurzschließen lässt, wenn einem Zeichen »in einem sekundären semiotischen System eine symbolische Bedeutung zugesprochen« werden kann und es auf diese

Sara Hornäk (Hg.), Räume in der Kunst. Künstlerische, kunst- und medienwissenschaftliche Entwürfe, Bielefeld: transcript 2010. Im genannten Der Deutschunterricht-Heft 2 (2009) wird ferner eine Übersicht über literarische Museen Deutschland gegeben (S. 78f.). 19 Dazu insgesamt Baur (Hg.), Museumsanalyse. Darin ausgeführt sind beispielswiese Methoden von Geschichtswissenschaft, Ethnographie, Erzähltheorie und Evaluationssoziologie, wobei insgesamt Museumsanalyse hier »in erster Linie Fallanalyse von Museen« meint (und deshalb dem Vorhaben dieses Beitrags zuträglich ist): »Das Erkenntnisinteresse der Museumsanalyse richtet sich zum einen auf einzelne Museen als untersuchenswerte kulturelle Phänomene aus eigenem Recht, deren unterschiedlichen Dimensionen, Implikationen und Bedeutungen sie in hoher Detailschärfe nahezukommen sucht. Zugleich verspricht sie sich durch die Beleuchtung von Einzelfällen bzw. einer Anzahl von Einzelfällen wissenschaftliche Erkenntnisse über – allgemein gesprochen – übergreifende gesellschaftliche, politische und kulturelle Verhältnisse.«, in: Baur: »Museumsanalyse: Zur Einführung«, in: ebd., S. 7-14, hier S. 8. Eine Typologie von Museum stellt zudem vor dems.: »Was ist ein Museum? Vier Umkreisungen eines widerspenstigen Gegenstands«, in: ebd., S. 15-48. Siehe darüber hinaus die Beiträge in Vieregg (Hg.), Studienbuch Museumswissenschaften. 20 Peter Seibert: »Literatur und Museum. Einführung in das Themenheft«, in: Der Deutschunterricht 2 (2009), S. 2-10, hier S. 9. 21 Vgl. Jana Scholze: Medium Ausstellung. Lektüren musealer Gestaltung in Oxford, Leipzig, Amsterdam und Berlin, Bielefeld: transcript 2004. 22 Vgl. Maria de Lourdes Parreiras Horta: Museum Semiotics. A New Approach to Museum Communication, Leicester: University of Leicester 1992, sowie Scholze: Kultursemiotik: Zeichenlesen in Ausstellungen, S. 121.

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Weise zu einem »kulturellen Konstrukt« avanciert.23 Finden nun Zeichenprozesse im Museum explizit in Ausstellungen statt, werden »mittels konkreter Objekte, Texte und anderer Elemente Inhalte vermittelt«, wodurch Ausstellungen »als Orte« beschreibbar sind, »wo Signifikations- und Kommunikationsprozesse stattfinden«, und zwar, verkürzt gesagt, wie folgt: Ausstellungskuratoren formulieren Inhalte, Absichten und Erwartungen, welche sie mit ausgewählten Objekten ihrer oder fremder Sammlungen verbinden; von Gestaltern werden diese Ideen in räumliche Arrangements übertragen, wo Ausstellungsbesucher Erfahrungen machen und Erkenntnisse sammeln, die idealerweise mit den zu vermittelnden Inhalten übereinstimmen. Dieser Vorgang des Verschlüsselns und Entschlüsselns von Informationen – des Codierens und Decodierens – ist ein Zeichenprozess. Denn der Raum, die Ausstellungsobjekte und die Gestaltungsmittel werden zu Zeichen, die auf konkrete Inhalte und auch weniger bestimmte Bedeutungen verweisen.24

Mit der kultursemiotisch perspektivierten Betonung des Codierens und Decodierens25 von Zeichen auf der Basis kuratorischer26 Ausstellungstätigkeit (wobei hier die theoretischen wie praktischen Parameter von ›Vermittlung‹ und ›Ausstellung‹ ausdrücklich angesprochen sind27) ist ein Bereich betroffen, der im betroffenen Diskurs zwar oft völlig übersehen wurde,28 der

23 Ebd., S. 123. 24 Ebd., S. 129. 25 Vgl. erneut de Lourdes Parreiras Horta.: Medium Ausstellung, S. 22-25. 26 Dazu einführend u.a. Heike Kirchhoff/Martin Schmidt (Hg.), Das magische Dreieck. Die Museumsausstellung als Zusammenspiel von Kuratoren, Museumspädagogen und Gestaltern, Bielefeld: transcript 2007. Siehe dazu außerdem auch Beatrice von Bismarck: »Curating«, in: Hubertus Butin (Hg.), DuMonts Begriffslexikon zur zeitgenössischen Kunst, Köln: DuMont 2002, S. 56-58; Christoph Tannert/Ute Tischler/Künstlerhaus Bethanien (Hg.), Men in Black. Handbuch der kuratorischen Praxis, Frankfurt/Main: Revolver 2004. 27 Dazu aus semiotischer Sicht näher wiederum Scholze: Medium Ausstellung, bes. S. 192. 28 Friedrich W. Block: »Ausstellung als literarische Lebensform. Das Dichterhaus Brückner-Kühner in Kassel und sein Kontext«, in: Der Deutschunterricht 2 (2009), S. 67-76, hier S. 75.

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jedoch in der Geschichte des Ausstellens immer bekannt gewesen zu sein scheint:29 Es geht auch hier vor dem Hintergrund einer »historische[n] Grammatik des Ausstellens« um die Signifikanz einer »Rhetorik des musealen Zeigens«.30 Die Rede von einer solchen ist Teil eines Inventars der Ausstellungsgeschichtsschreibung und hat ihr Paradebeispiel im Bau und in den Ideen jenes Objekts, dem auch der vorliegende Beitrag im Speziellen gewidmet ist; das Literaturmuseum der Moderne lässt im »gebauten Zusammenhang und ideellen Zusammenspiel« mit dem Deutschen Literaturarchiv und dem Schiller-Nationalmuseum, um noch einmal die Bedeu-

29 Vgl. Hubert Locher: »Worte und Bilder. Visuelle und verbale Deixis im Museum und seinen Vorläufern«, in: Heike Gfrereis/Marcel Lepper (Hg.), Deixis. Vom Denken mit dem Zeigefinger, Göttingen: Wallstein 2007, S. 9-36, hier S. 12. 30 Ebd. Dazu zudem Sabiene Autsch: »Einleitung«, in: dies./Grisko/Seibert (Hg.), Atelier und Dichterzimmer in neuen Medienwelten, S. 9-11, bes. S. 9: »Was zeigbar ist und gezeigt wird, muss vorhanden sein. [...] Das Gezeigte muss den Anschein von Authentizität und Präsenz erzeugen, andernfalls ist es nicht ausstellbar. [...] Der Ort der Ausstellung ist zugleich der Ort des Zeigens, was gleichzusetzen ist damit, dass der Ort der Ausstellung ohne die Gesten des Ausstellens inexistent ist«; Heike Gfrereis/Marcel Lepper: »Vorwort«, in: dies., Deixis, S. 7f., hier S. 7: »Zeigen heißt: den Blick lenken auf etwas Drittes. Der Zeiger ist Mittel, er muss als solches erkannt und beim Wahrnehmungsvorgang ›herausgefiltert‹ werden. Er kann und muss als solches aber auch in seiner Technizität reflektiert werden. ›Index‹ heißt der Zeigefinger. Ein ›Index‹ ist ein Referenzsystem, eine Verweisstruktur – eine Leseliste, Verbot und Lockung. ›Index‹ heißt auch der Zeichentypus, der als ›Anzeichen‹, als ›Folgezeichen‹ zu interpretieren ist.« Zum Kontext aus philosophischer Sicht siehe ferner Dieter Mersch: Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis, München: Wilhelm Fink 2002; Günter Figal: »Zeigen und Sichzeigen«, in: Gfrereis/Lepper, Deixis, S. 196-207; und aus sprachphilosophischer Sicht bekanntlich Karl Bühler: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache (1934). Mit einem Geleitwort von Friedrich Kainz, Stuttgart: G. Fischer

3

1999. Dazu etwa Zeitschrift für

Literaturwissenschaft und Linguistik 125 (2002), Themenheft: Deixis; sowie auch Horst Wenzel: »Deixis und Initialisierung. Zeighände in alten und neuen Medien«, in: Gfrereis/Lepper, Deixis, S. 110-143, bes. S. 113-115; Marcel Lepper: »Bühlers Phantasma«, in: ebd., S. 170-195.

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tung der Erscheinung der ›Ausstellung‹ nach Benjamin zu erwähnen, jene Traditionszusammenhänge erkennen, »in denen die im Zeichen des Traditionsbruchs begründete literarische Moderne steht.«31 Wird auf der einen Seite für das Literaturmuseum der Moderne veranschlagt, wie unverbunden sich darin die Ebene des Zeigens und des Vermittelns partiell erweist,32 ist auf der anderen Seite festgestellt worden, wie sehr der »Zeigegestus oder die Zeigefunktion des Sagens eine Sichtbarkeit – oder Ausstellbarkeit – der Bedeutung«33 behauptet: Im Literaturmuseum der Moderne wird, gerade indem in diesem offensiv vermittelnde, d.h. die Exponate beispielsweise mit Hilfe von Beschriftungen erklärende Mittel teilweise fehlen, durch das Ausstellen die Vermittlung von eigentlich Unsichtbarem freigelegt,34 etwa von »Sprachdimensionen des literarischen Textes«, die »nicht mehr vom fertigen und ganzheitlichen Text ausgehen, sondern das Fragmentarische und Prozesshafte literarischer Texte hervorheben.«35 Die Literatur erlebt so als Medium und Objekt der Vermittlung im Modus der Ausstellung eine Art ›Zeige-Auftritt‹, eine deiktische Performance,36

31 Ernst Osterkamp: »Die Literatur und das Leben. Das Literaturmuseum der Moderne in Marbach«, in: Deutsches Literaturarchiv Marbach, Denkbilder und Schaustücke, S. 15-28, hier S. 27. Zu den Entstehungsgründen des Literaturmuseums der Moderne siehe etwa ebd., bes. S. 18-21, sowie auch Beat Wyss: »Des Sängers Lohn. Ein Mausoleum für die Literatur«, in: ebd., S. 71-80. 32 Vgl. Gfrereis: Didaktik des Schweigens, S. 25f. 33 Andreas Käuser: »Ist Literatur ausstellbar? Das Literaturmuseum der Moderne. Anmerkungen zur Konzeption und Diskussion«, in: Der Deutschunterricht 2 (2009), S. 30-37, hier S. 35. 34 Dazu auch Heike Gfrereis/Roland Kamzelak: »Das Eigentliche ist ohnehin unsichtbar. Wider das Altern von Literaturausstellungen«, in: Deutsches Jahrbuch für Kulturmanagement 6 (2002), S. 37-61. Siehe daneben auch Klaus Beyrer: »Literaturmuseum und Publikum. Zu einigen Problem der Vermittlung«, in: Mitteilungen des deutschen Germanistenverbandes 2 (1986), S. 37-42. 35 Käuser: Ist Literatur ausstellbar?, S. 36. 36 »Der performative Akt des Ausstellens und Zuschauens lässt sich [...] genauer bestimmen durch eine semantische Differenzierung von Herstellen, Ausstellen, Darstellen und Einstellen. Ausstellungen überführen die anthropologischen Dispositionen des Sammelns, Zeigens und Einstellens in Handlungen, in denen diese Dispositionen eine ästhetische Form erhalten, dadurch aber auch eine ent-

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ähnlich wie eine ihrer ästhetischen ›Substanzen‹, die Sprache, in der Sprechakttheorie bei Peirce auftritt, handelt,37 oder bei Wittgenstein als Sichtbarkeit des Sprachspiels erscheint:38

sinnlichende Sublimierung und Substitution erfahren. Diese Form errichtet zugleich eine Differenzierung dieser anthropologischen Dispositionen und ihrer ausstellungsmedialen Form, um beide der Reflexion anheimzustellen. Wegen dieser medialen Reflexion tritt die medienanthropologische Disposition des Darstellens und Sagens zum Gestus des Sammelns und Zeigens hinzu.« (Käuser: Sammeln – Zeigen – Darstellen, S. 21.) Dazu außerdem auch Mieke Bal: Double Exposures. The Subject of Cultural Analysis, London, New York: Routledge 1996, S. 2: »Exposition is always also an argument. Therefore, in publicizing these views the subject objectifies, exposes himself as much as the object; this makes the exposition an exposure of the self. Such exposure is an act of producing meaning, a performance.« 37 Etwa Charles S. Peirce: Phänomen und Logik der Zeichen (1903), hg. und übersetzt von Helmut Pape, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1983. 38 Etwa Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen (1953). Kritischgenetische Edition, hg. von Joachim Schulte in Zusammenarbeit mit Heikki Nyman/Eike von Savigny/Georg Henrik von Wright, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2001. Zu diesem Gedanken auch Andreas Käuser: Ist Literatur ausstellbar?, S. 36. Siehe dazu außerdem auch Sibylle Krämer: »Sagen und Zeigen. Sechs Perspektiven, in denen das Diskursive und das Ikonische in der Sprache konvergieren«, in: Zeitschrift für Germanistik N.F. 3 (2003), S. 509-519. Siehe dazu auch Gottfried Boehm: »Die Hintergründe des Zeigens. Deiktische Wurzeln des Bildes«, in: Gfrereis/Lepper, Deixis, S. 144-155, hier S. 144: »Wir nennen das Zeigen einen Logos sui generis, um ihn aus der konventionalisierten und gut gemeinten Vereinnahmung durch Wort, Zeichen und Symbol, durch Syntax und Grammatik zu lösen. Dem widerspricht nicht, dass die Sprache selbst deiktische Ressourcen aufweist. Wir geben dazu aber nur ein Stichwort weiter, das sich schon bei Ernst Cassirer findet, als er auf die denkwürdige Anwesenheit des Wortstammes Deixis im griechischen Begriff für den Satz, der Apódeixis hinwies und damit die Sprache mit deiktischen Wurzeln ausstattete [vgl. Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen (1923-1929), bearbeitet von Hermann Noack, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1964, Bd. 1, S. 129]. Terminologisch meint Apodeixis alles, was aus Prämissen gefolgert wer-

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Ausstellen heißt ein Objekt vorzeigen und in Szene setzen. Das Vorzeigen impliziert unterschiedliche Formen von Indexikalität: deiktische, hinweisende Gesten, mit denen die Aufmerksamkeit der Betrachter auf die Exponate gelenkt wird: Gesten, mit denen teils verbal, teils nonverbal gesagt wird: »Sieh hin!«, aber auch »So ist es«. Nonverbal sagen heißt ›zeigen‹, aber auch ›in Szene setzen‹. Wie setzt man ein Exponat in Szene? Wie schafft man, mit anderen Worten, einen Rahmen, in dem ein Ausstellungsding exponiert und präsentiert werden kann? Beide Fragen betreffen die performative Dimension des Ausstellens: Performativität zum einen im Sinne eines direktiven Sprechaktes, der »Sieh hin!« bedeutet, oder eines assertiven Sprechaktes, der »So ist es« behauptet und die deiktischen Gesten begleitet, mit denen die Exponate vorgezeigt werden; Performativität zum anderen aber auch im Sinne einer Aufführung von »Museumsdingen«: einer Aufführung, die das Museum zur Bühne werden lässt, in deren Rahmen Dinge, die aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang herausgerissen wurden, zu Museumsdingen gemacht werden.39 Ganz in dieser Spur der ausgestellten sicht- und zugleich unsichtbaren Zeige-Performance40 bewegen sich die Ereignisse, Zuschreibungen und diskursiven Kontexte des Literaturmuseums der Moderne, das nicht zufällig eine starke Resonanz sowohl populärer wie hochkultureller Massenmedien hervorgerufen hat,41 das auch deshalb als »auffälligste[s] Indiz für eine ver-

den kann. Umgangssprachlich bezeichnete sie Schilderung, Schaustellung, Auseinandersetzung oder Aufführung in Wort und Tat.« 39 Uwe Wirth: »Was zeigt sich, wenn man Literatur zeigt?«, in: Bohnenkamp/Vandenrath, Wort-Räume, S. 53-64, hier S. 54. 40 Vgl. auch Lange-Greve: »Literarisches in Szene setzen: Literatur ausstellen, darstellen, erproben«, S. 124: »Literaturausstellungen sind eine Form der Vergegenwärtigung von Literarischem anhand von Exponaten. Exponate werden in Literaturausstellungen auf ganz unterschiedliche Weise eingesetzt. Die Objekte werden ohne Verweisfunktion in ihrer Materialität und ästhetischen Anmutung gezeigt; sie werden als dokumentierende Sachzeugen eingesetzt oder repräsentieren als Substitute Literarisches. Im ersten Fall funktionieren die Exponate wie Reliquien, im zweiten Fall wirken sie als Dokumente, die bestimmte literarische Sachverhalte veranschaulichen sollen, im dritten Fall wird meist illustriert oder inszeniert.« 41 Vgl. u.a. Bild vom 01.06.2006; Der Spiegel 22 (2006).

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änderte (literatur)gesellschaftliche Position jener Institute« gilt, die »Literatur sammeln, aufbewahren und ausstellen, sich also den literarischen Deposita und Exposita widmen«, und das die »Neuverortung von literarischen Expositionen in den (digitalen) Medienumbrüchen« vorführt.42 Dessen Analyse ruft somit auch einen »eigenen Status medienkultureller Reflexion«43 auf, der nicht unproblematisch ist: Exemplarisch deutlich wird, dass »Literatur und Museum bzw. Ausstellung zunächst fremde Medien sind, die in einer neuartigen Konstellation zusammengeführt werden«, wodurch »ein anderer Blick auf die Literatur eröffnet wird, der das Mediale und Materiale der Literatur hervorhebt«: »Was zurücktritt, ist die Semantik des Textes«; »mit der autographen Gestalt treten die Formate oder die äußerliche Gestalt von Literatur hervor«.44 Das Literaturmuseum der Moderne steht dabei konzeptionell gleichsam in der Mitte zwischen den beiden oben genannten Literaturinstitutionen in Marbach. Was es vom Deutschen Literaturarchiv unterscheidet, ist der zeigende (und daher auch selektierende) Schritt in eine Öffentlichkeit; was sie verbindet ist eine Bewegung der Zu-Arbeit: Die Literatur (vor dem Verfall) bisweilen bewahrende, sie zumindest aber sammelnde, ordnende wie selektierende Funktion des Archivs schlechthin,45 gelangt in der Ausstellung und

42 Seibert: Literatur und Museum, S. 2f. 43 Käuser: Ist Literatur ausstellbar?, S. 31. 44 Ebd., S. 32. 45 Dazu auch Heike Gfrereis: »Der Raum der Wiederkehr oder Wie die Literatur im Archiv verfällt«, in: Deutsches Literaturarchiv Marbach, Denkbilder und Schaustücke, S. 29-39, hier S. 38. Zur Theorie des Archivs siehe nicht zuletzt auch Jacques Derrida: Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression (1995), aus dem Französischen von Hans-Dieter Gondek und Hans Naumann, Berlin: Brinkmann & Bose 1997, sowie Michel Foucault: Die Archäologie des Wissens (1969), Aus dem Französischen von Ulrich Köppen, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1973, bes. S. 183-190. Dazu u.a. näher Oliver Ruf: »Archiv und System. Zur Philosophie des literarischen Feldes (Foucault, Derrida, Freud, Bourdieu)«, in: Neuhaus/Ruf (Hg.), Perspektiven der Literaturvermittlung, S. 261275, sowie auch die Beiträge in Knut Ebeling/Stephan Günzel (Hg.), Archivologie. Theorien des Archivs in Philosophie. Medien und Künsten, Berlin: Kadmos 2009. Siehe dazu zudem etwa auch Christoph König/Siegfried Seifert (Hg.), Literaturarchiv und Literaturforschung. Aspekte neuer Zusammenarbeit, München

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(kuratorischen) Anordnung zu medialer, die Literatur rahmender ›Lebendigkeit‹. Und dies bildet mitunter auch seine Differenz zum Schiller-Nationalmuseum46: Die auf die jeweils konzeptionell gezeigten Exponate rekurrierende Möglichkeit, räumlich »literarisches Leben«47 ausstellend zu vermitteln, ist dort aufgrund der vorgegebenen Architektur nur eingeschränkt möglich. So hat auch Heike Gfrereis erklärt, dass im Schiller Nationalmuseum die Bestände des Deutschen Literaturarchivs nie auf eine auf »ein Raumbild zielende, mit der Architektur arbeitende, pure und reduzierte, abstrakte Weise« zeigbar seien wie im Literaturmuseum der Moderne.48 Zuvorderst wegen dieses Moments bildet jenes ein Problem im Diskurs, Literatur vermittelnd auszustellen. Mit ihr wird eine Frage thematisch, mit der ästhetische Faszinosa aufs Engste an Züge von Vorstellbarkeit gekoppelt

u.a.: Saur 1996; sowie Claude D. Conter: »Literaturvermittlung in Literaturarchiven. Herausforderungen und Probleme«, in: Neuhaus/Ruf., Perspektiven der Literaturvermittlung, S. 276-291. 46 Dazu ausführlich Heike Gfrereis/Ulrich Raulff (Hg.), Unterm Parnass. Das Schiller-Nationalmuseum, Marbach am Neckar: Deutsche Schillergesellschaft 2009. 47 Siegfried J. Schmidt: Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur im 18. Jahrhundert, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1989, S. 9. 48 Heike Gfereis im Interview mit Michael Grisko: »Über Tradition und Moderne in der Marbacher Museums- und Ausstellungskonzeption, über neue Medien, Architektur und Besuchererwartungen«, in: Autsch/Grisko/Seibert, Atelier und Dichterzimmer in neuen Medienwelten, S. 229-238, hier S. 238. Zur Vorgeschichte des Literaturmuseums der Moderne siehe auch ebd., S. 229f.; zu dessen Architektur von David Chipperfield Architects siehe etwa Heike Gfrereis: »Von der Apotheose des Dichters hin zur Ausstellung des Sichtbaren. Das SchillerNationalmuseum und das Literaturmuseum der Moderne in Marbach«, in: Autsch/Grisko/Seibert, Atelier und Dichterzimmer in neuen Medienwelten, S. 221-226, hier S. 225; Wyss: Des Sängers Lohn, S. 77-80; Peter Conradi, Norbert Miller. Werner Oechslin im Gespräch: »Schein oder Sein? Architektur für Literatur«, auf: http://www.dla-marbach.de/dla/museum/ausstellungen/daueraus stellungen_museumsgebaeude/literaturmuseum_der_moderne_limo/architektur_ und_gestaltung/index.html (letzter Aufruf am 04.07.2012). Zu diesem Thema insgesamt siehe auch Victoria Newhouse: Wege zu einem neuen Museum. Museumsarchitektur im 20. Jahrhundert, Ostfildern-Ruit: Hatje 1998.

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sind. Denn wenn man die jeweiligen Exponate zu Projektionen eines betrachtenden Bewusstseins erklärt, so verlängert man das entsprechende ästhetische Phänomen im Sinne einer allgemeinen Vorstellungskraft. Selbstverständlich bleibt ihre eigentliche Erscheinung in der Schwebe und ihre auf Präsenz heischende Darstellung lässt vermuten, dass hier Spielarten ästhetischer Wahrnehmung relevant sind. Was deutlich wird, ist die phänomenologische Seite des Ausstellens, die danach fragt, was es heißt, wenn von medialer ›Lebendigkeit‹ bzw. von den »Aggregatzuständen der Literatur und des Lebens«49 unter den Bedingungen medialer wie räumlicher Materialitäten in diesem Zusammenhang die Rede ist, die »mit medienhistorischem Blick gelesen werden müssen«.50

3. Mit dieser Frage bin ich bei einer Analyseperspektive angelangt, die im Folgenden mit einer Reihe von Anmerkungen skizziert werden soll. Dabei möchte ich zunächst daran erinnern, dass das Literaturmuseum der Moderne »bewusst für die Präsentation der Marbacher Ausstellungen und also für die Ausstellung von empfindlichen und meist unscheinbaren, ›flachen‹ Exponaten entworfen worden ist«,51 dass somit das Sehen-Lernen von Lite-

49 Gfereis: Didaktik des Schweigens?, S. 25. 50 Käuser: Ist Literatur ausstellbar?, S. 34. Siehe auch ebd., S. 37: »Auch wenn die Ausstellung mit der Aura der Originale des Literaturarchivs wirbt, sind diese Dokumente doch oft reproduziert, erhalten aber auf einem Umweg die Aura des Originals zurück, indem sie als Abbild des Lebens fungieren und gelten. So erscheint die Welt erneut als Buch und erreicht diese Lesbarkeit durch die Sichtbarkeit des Ausstellens. Hans Blumenberg hat diesen Übersetzungs- und Medialisierungsvorgang von Buch und Leben, Sicht- und Sagbarem, Äußerem und Innerem metaphorisch und die Untersuchungsmethode dieses Verhältnisses metaphorologisch genannt [vgl. Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt (1979), Frankfurt/Main: Suhrkamp 1986]«. 51 Gfrereis: Von der Apotheose des Dichters hin zur Ausstellung des Sichtbaren, S. 221. Das bedeutet, dass das Museum den »vorrangigen, speziellen Auftrag hat, die Bestände des Deutschen Literaturarchivs zum 20. und 21. Jahrhundert – immerhin beinahe 1.200 Autorennachlässe, 20 Millionen Einzelblatt, 800.000 Bü-

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ratur als Zugang zu derselben über ›Archivbestände‹, mithin über solche Materialien wie »Entstehungs- und Verbreitungsstufen sowie ›Paratexte‹, Begleitexte aller Art wie Manuskripte, Typoskripte, Tonbandaufzeichnungen, Buchausgaben, Verlagsprospekte, Verfilmungen, aber auch Lebenszeugnisse von Schriftstellern, Fotoalben, Möbel usw.«,52 funktionieren soll. Im Mittelpunkt stehen ›Dinge‹ und jene Bedeutungen, die sie erhalten, wenn ein Literaturarchiv sie sammelt, besitzt; es sind ›Dinge‹, die »semantisch ›dicht‹ und ›offen‹« zugleich sind, wodurch »die in der öffentlichen Rede über Literatur so fest etablierten, selbstverständlichen und bei den Besuchern anschlussfähigen, sicheren, ein System, einen Sinn versprechenden teleologischen Kategorien wie ›Autor‹, ›Epoche‹, ›Strömung‹, ›Thema‹ auf der Ausstellungsebene im Literaturmuseum der Moderne zunächst aufgegeben und in Frage gestellt« werden.53 Der Wert der ausgestellten ›Dinge‹ wird auf ihre Zeichenhaftigkeit gelegt; die sichtbaren wie auch ideellen und immateriellen Spuren an ihnen werden als Codierungen lesbar, die zu Phänomenen führen, die einen neuen Blick auf Literatur und dann auch auf literarisches Schreiben, literarisches Leben, literarisches Da-Sein suchen, aufdecken, vergleichbar machen und zur Disposition stellen – Scholze hat in einem anderen museumsanalytischen Kontext auf den Begriff der »Doppelzeichen«54 solcher Spuren hingewiesen,55 die semiotisch, obwohl ur-

cher, 200.000 Kunstgegenstände, Fotos und Erinnerungsstücke – in ihrer Fülle der Öffentlichkeit zugänglich zu machen und ihr deren Wert zu vermitteln.«, in: dies.: Didaktik des Schweigens, S. 21. Siehe auch dies./Grisko: Über Tradition und Moderne in der Marbacher Museums- und Ausstellungskonzeption,, S. 237: »Das Literaturmuseum der Moderne ist ein Ausstellungsgebäude, ein für die Exposition von vor allem ›flachen‹ und kleinen, kunstlichtbedürftigen Archivalien entworfenes Museum mit sechs verschiedenen Ausstellungsräumen und drei Tageslichthöfen, kein Gedenkort mit Festsaal und Kuppel und Seitenflügeln mit ehemaligen Büroräumen und ringsum großen Fenstern wie das Schiller-Nationalmuseum.« 52 Gfrereis: Von der Apotheose des Dichters hin zur Ausstellung des Sichtbaren, S. 222. 53 Ebd., S. 226f. 54 Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München: C.H. Beck 1999, S. 209. 55 Vgl. Scholze: Medium Ausstellung, S. 218.

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sprünglich »nicht als Zeichen gemeint«, als »indexikalische Zeichen« lesbar bleiben und für die an die Stelle des repräsentierenden Zeichens die »Unmittelbarkeit eines Abdrucks oder Eindrucks« rückt.56 Diese unterstützt die Dauerausstellung im Literaturmuseum der Moderne,57 indem Manuskripte, Bücher, Briefe und ›Reste‹ gezeigt werden, mithin ›Dinge‹, »die nicht so sehr in die Literatur hineinführen«, sondern die vielmehr mit dem Archiv »atmen«, indem sie fortlaufend ergänzt, umsortiert, vitalisiert werden,58 genau so, wie die Bestände des Deutschen Literaturarchivs, das die Exponate liefert, fortlaufend ergänzt, umsortiert, vitalisiert werden;59 man kann dies gut »ein historisches Sortenlager des Schreibens auf Papier« nennen: »augenfällige, passende und unpassende Nachbarschaften des Gleichzeitigen, Papiere voller Bildkraft, bei denen für ihren Benutzer die Farbe so wenig zufällig ist wie ihre Rückseite, ihr Format, ihr Volumen und die Handschrift darauf«, zumal zahlreiche Autorinnen und Autoren die Bücher ihrer eigenen Bibliothek buchstäblich benutzt haben, sie »markiert, Zettel und [...] Blätter eingelegt, Seiten geknickt« haben.60 Um nun ein geeignetes Instrumentarium vorzuschlagen, wie sich dieser Strategie im Hinblick auf einzelne Wechselausstellungen (naturgemäß auch nach deren Realisierung im Ausstellungsraum) zu nähern wäre, schlage ich vor, dies explizit und in naheliegender Weise mit Hilfe jener schriftlichen

56 Assmann: Erinnerungsräume, S. 209, 211, 209. 57 Dazu beschreibend Heike Gfrereis: »Arbeit am unscheinbaren Exponat. Deutsches Literaturarchiv Marbach 2006-2009«, in: Bohnenkamp/Vandenrath, Wort-Räume, S. 264-282, hier S. 270-276; Heike Gfrereis: »Das Gesicht der Poesie. Die neue Dauerausstellung im Schiller-Nationalmuseum«, in: Hellmut Th. Seemann/Thorsten Valk (Hg.), Literatur ausstellen. Museale Inszenierungen der Weimarer Klassik [= Jahrbuch der Klassik Stiftung Weimar], Göttingen: Wallstein 2012, S. 269-282. 58 Gfrereis: Didaktik des Schweigens, S. 21. 59 Zur Analyse der Dauerausstellung des Literaturmuseums ausführlich Sonja Lehmann: »Verfremdet, wiederbelebt. Anmerkungen zu Ästhetik und Darstellungsverfahren in der Dauerausstellung des Literaturmuseums der Moderne«, in: Textpraxis 3 (2.2011). Auf: http://www.uni-muenster.de/textpraxis/sonja-lehmann-verfremdet-wiederbelebt, URN: urn:nbn:de:hbz:6-13439431258 (letzte Aufruf am 1.07.2013). 60 Gfrereis: Didaktik des Schweigens, S. 21f.

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Reflexionen zu tun, die gleichsam übrig bleiben, zumal es »sicher so ist, dass der Ausstellungsrundgang mit einem flüchtigen Blick« die medienbewusste Aufnahme des Ausgestellten »keineswegs oder nur unbewusst bewerkstelligen kann«, weswegen im Besonderen dem Ausstellungskatalog »hervorragender Wert« zukommt.61 Im Katalog – als Paratext der Literaturausstellung wie als »Platzhalter der Literatur«62 – gehen Text und Bild schließlich ein »emblematisches Verhältnis von pictura und subscriptio ein;«63 derartige Katalogformen verweisen auf die darin abgebildete Materialität.64 Für das Literaturmuseum der Moderne sind es die Marbacher Kataloge, die es möglich machen, das Deutsche Literaturarchiv weiter vermittelnd nach außen zu öffnen,65 und die in ihrer Erscheinungsform als ›Katalog‹ das »performative Übertragen und Überschreiten« von ausgestellten Materialitäten wiederum aufs Engste »an Medien« binden.66 Ein Marbacher Katalog soll hier wie angekündigt im Vordergrund stehen, und zwar derjenige mit dem Titel Wandernde Schatten. W.G. Sebalds Unterwelt zur gleichnamigen Ausstellung, die vom 26. September 2008 bis 1. Februar 2009 im Literaturmuseum der Moderne stattgefunden hat.67 Dieser Katalog ist deshalb im vorliegenden Zusammenhang signifikant, da sich Sebalds Nachlass im Deutschen Literaturarchiv »von vielen anderen unterscheidet«, da es nichts gebe »in seiner Bibliothek und seinen Erinnerungs-

61 Käuser: Ist Literatur ausstellbar?, S. 34. 62 Erhard Schütz: »Literatur. Ausstellung. Betrieb«, in: Bohnenkamp/Vandenrath, Wort-Räume, S. 65-75, hier S. 70. 63 Käuser: Ist Literatur ausstellbar?, S. 35. 64 Vgl. Moritz Baßler: Die Entdeckung der Textur. Unverständlichkeit in der Kurzprosa der emphatischen Moderne (1910-1916), Tübingen: Niemeyer 1994, S. 141. 65 Vgl. Gfrereis: Didaktik des Schweigens, S. 28. 66 Sabiene Autsch: »›Expositionen‹ – Künstlerhaus und Atelier im Medienumbruch«, in: dies./Grisko/Seibert, Atelier und Dichterzimmer in neuen Medienwelten, S. 27-54, hier S. 52. Siehe außerdem auch Heike Gfrereis/Ulrich Raulff: »Literaturausstellungen als Erkenntnisform«, in: Bohnenkamp/Vandenrath, Wort-Räume, S. 101-109, hier S. 109. 67 Vgl. Ulrich von Bülow/Heike Gfrereis/Ellen Strittmacher (Hg.), Wandernde Schatten. W.G. Sebalds Unterwelt, Marbach: Deutsche Schillergesellschaft 2008.

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stücken, was nicht eine Bedeutung für sein Werk besäße«; der Blick auf sein Werk öffne den »Blick auf andere Literatur und vor allem immer wieder auch auf die großen kulturtheoretischen und literaturwissenschaftlichen Diskurse seiner Zeit.«68 Neben den im Katalog versammelten Essays und Aufsätzen,69 die ich hier ausblende, da sie eigene Forschungsleistungen darstellen und daher für meine Stoßrichtung unberücksichtigt bleiben können,70 ist es ein Teil, der Ausstellung wie Katalog eine eindrückliche Schärfe hinsichtlich von Sicht- und Unsichtbarkeit, von ›Doppelzeichen‹ in einem Medienverbund von Materialität, Medialität und Visualität verleiht: Die von Heike Gfrereis und Ellen Strittmacher zusammengestellten BildFelder aus W.G. Sebalds Nachlass,71 eine Exponat-Montage, die wiederum,

68 Heike Gfrereis/Ellen Strittmacher: »Wandernde Schatten. W.G. Sebalds Unterwelt«, in: ebd., S. 7-9, hier S. 7f. Siehe auch ebd., S. 9: »Katalog und Ausstellung sind eine Einladung, sich von Sebalds Blick auf die Dinge und die Literatur anstecken zu lassen und sein Schreiben als Verfahren zu begreifen. In der Ausstellung sind vier seiner Werke – Schindel. Gefühle, Die Ausgewanderten, Die Ringe des Saturn und Austerlitz – buchstäblich aufgeblättert. Wer ein Buch aufschlägt, der wird, wenn er über die Schwelle der ersten Sätze kommt und sich darauf einlässt, hineingezogen in eine andere Welt, einen zweiten Raum, eine vierte Dimension. Die Figuren sehen einen an, Sätze tauchen auf, Worte stehen da und gehen einem nicht mehr aus dem Kopf. Den aufgeblätterten Büchern sind andere Seiten beigegeben, das, was vor und nach und hinter ihnen steht, ihre vielgestaltigen Schatten. Nicht selten geistert einer von ihnen durch mehr als die Blätter eines Werks hindurch.« 69 Das sind Kurt W. Forster: »Bilder geistern durch Sebalds Erzählungen. Geister bewohnen ihre Zeilen«, in: Bülow/Gfrereis/ Strittmacher: Wandernde Schatten, S. 87-99; Michael Niehaus: »Figurieren – Geschichten und Geschichte«, in: ebd., S. 101-113; Ben Hutchinson: »Sprachen«, in: ebd., S. 115-127; Ulrich von Bülow: »Sebalds Korsika-Projekt«, in: ebd., S. 211-224; Heike Gfrereis: »Sebald aus dem Nachlass gelesen«, in: ebd., S. 227-234. 70 Zur Sebald-Forschung siehe jüngst etwa Uwe Schütte: W.G. Sebald. Einführung in Leben und Werk, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011. 71 Vgl. Bülow/Gfrereis/Strittmacher, Wandernde Schatten, S. 11-84. Dazu kurz einführend ebd., S. 11: »Sebald sammelte Ähnlichkeiten. Die analogen Bilder in seinem Nachlass wurden jedoch nie gemeinsam abgebildet, nie in Serie oder als Tableau gezeigt. Weil diese Verfahren der Kombination den Bildern ihre Wir-

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wie zu fragen wäre, jene Geste privilegieren kann, über die Benjamin sagt, sie habe nichts zu sagen, nur zu zeigen.72 Die Bild-Felder beginnen, wie es im Katalog angegeben ist, mit einer Folge von Fotografien aus den 1960-er bis 1980-er Jahren, die den Autor selbst zeigen: Sebald balanciert auf Ästen eines Baumes; Sebald trägt Wollmütze und Pelzmantel vor einem anderen verschneiten Baum, hat die Augen geschlossen und lächelt leicht; Sebald, der mit geöffnetem Kragen ein Auge zukneift; Sebald, der Traktor fährt; der reitet; Sebalds Führerschein von 1967; Sebald mit Schubkarre, Kanister und Spaten.73 Der Autor wird nicht in klaren, nicht in eindeutigen ästhetischen Produktionsprozessen präsentiert, nicht als Schreibender; es muss kein Autor sein, der so dargeboten wird. Diese Fotografien haben nicht viel gemein mit bekannten Autoreninszenierungen oder Autorenposen; sie zeigen – sichtbar – einen Menschen in unterschiedlichen Altersphasen, an divergenten Orten und bei diversen

kung nehmen und zu sehr daran erinnern, dass sie auch einem Urlaubsalbum von jedermann entnommen sein könnten? Der Pinnwand eines Teenagers? Einem trompe l’oeil? Sebald hat die Erinnerung genau daran gesucht, indem er sich für die bevorzugten Motive dieser Andenkenkunst entschied [...] und damit die Pinnwand, das Album und die bildende Kunst herbeizitierte, ohne selbst deren Verfahren der unvermittelten Kombination anwenden zu müssen. Sobald man einander ähnliche gemeinsam abbildet, wird ihre anekdotische Geschichtsträchtigkeit geringer, es haftet ihnen weniger an. Deutlicher wird das, was Sebalds Blick auf sich gezogen haben mag: Erscheinungen, die uns die Welt vertraut machen, dem Menschen ähnlich sind, die Elemente seiner Augen wiederholen [...] und uns dennoch durch ihre extremen Horizontalen, vertikalen oder Diagonalen aus dem Gleichgewicht bringen können. Sie verwickeln uns in eine Bildergeschichte und lassen den ästhetischen Rahmen um sich zurücktreten, der die Bildwelt klar von der Wirklichkeit trennt.« Siehe dazu auch Claudia Öhlschläger: »Medialität und Poetik des trompe-l’oeil: W.G. Sebald und Jan Peter Tripp«, in: Gegenwartsliteratur 6 (2007), S. 21-43. 72 Vgl. Walter Benjamin: »Das Passagen-Werk«, in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. V.1, 1991, S. 574. Nicht eingehen kann ich zudem auf die im genannten Katalog ebenfalls versammelten Aufzeichnungen aus Korsika, die darin Ulrich von Bülow aus dem Nachlass herausgibt (vgl. Bülow/Gfrereis/Strittmacher, Wandernde Schatten, S. 129-209; dazu auch Bülow: Sebalds Korsika-Projekt). 73 Vgl. Bülow/Gfrereis/Strittmacher, Wandernde Schatten, S. 13-16.

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Tätigkeiten: Sie sind in einer Weise alltäglich, ›lebendig‹, dass man die Implikationen von Literatur kaum ausmachen kann, würden sie nicht in einer Literaturausstellung gezeigt. Sie signalisieren Sebald; im Sinne Benjamins sagen sie vordergründig tatsächlich nichts und zeigen nur. Auf diesen Effekt hin konzipiert sind diese Bild-Felder, die gleichwohl hintergründig die Mechanismen von Literatur an-sich anbieten: Ein Augenblick (ein Schnappschuss?) wird regelrecht zum Auslöser einer fiktiven Geschichte; eine Erzählung gerät in der betrachtenden Wahrnehmung in Gang, erzählte Zeit wie erzählte Welt könn(t)en verschoben werden, Motive (wie das Fahrradfahren)74 tauchen in der Bilder-Folge der Ausstellung auf, werden aufgegriffen, fallen gelassen; Figuren werden eingeführt, schauen den Leser gleichsam an – genau so, wie jene Flohmarktfotografien Sebalds, die er bisweilen auch in seinen literarischen Werken bekanntermaßen intermedial verwendet.75 Dabei ist es erwähnenswert, aus welchem Bild-Reservoir Sebald die BildMaterialien schöpft: Es handelt sich auffallend oft um Postkarten, die in ihrer Singularität (vermeintlich) nichts mit seinem literarischen Schreiben zu tun haben; der Literaturwissenschaftler W.G. Sebald weiß aber um die literaturtheoretische Schlagkraft, ja um geradezu die ›Explosivität‹ dieses Mediums, die Jacques Derrida in einer bekannten Schrift erläutert hat:76 Derrida bezieht sich u.a. auf eine Postkarte, die den schreibenden Sokrates und hinter dessen Rücken, diesem soufflierend, Plato abbildet; für ihn eine »apokalyptische Offenbarung«:77

74 Vgl. ebd., S. 14-17. 75 Etwa in Austerlitz oder in Die Ausgewanderten (vgl. dazu ebd., S. 18-21, bes. S. 20f.). Dazu aus der Fülle an Forschungsarbeiten etwa Torsten Hoffmann/Uwe Rose: »›quasi jenseits der Zeit‹ – Zur Poetik der Fotografie bei W. G. Sebald«, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 4 (2006), S. 580-608. 76 Zu einer solchen Traditionslinie siehe u.a. etwa auch Michael Mack: »Between Elias Canetti and Jacques Derrida: Satire and the Role of Fortifications in the Work of W.G. Sebald«, in: Gerhard Fischer (Hg.), W.G. Sebald. Schreiben ex patria / Expatriate Writing, Amsterdam/New York: Rodopi 2009 (Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik; 72), S. 233-256. 77 Jacques Derrida: Die Postkarte von Sokrates bis an Freud und jenseits. 1. Lieferung, autorisierte Übersetzung von Hans-Joachim Metzger, Berlin: Brinkmann & Bose 1982, S. 15.

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Hast Du diese Karte gesehen, das Bild au dos de cette carte? Ich bin darüber gefallen, gestern, in der Bodleian [...], ich werde es Dir erzählen. Ich bin in den Stillstand gefallen, mit dem Gefühl der Halluzination [...], und gleichzeitig einer Offenbarung [...]: Socrate schreibend, schreibend vor Platon, ich hatte es immer gewußt, das war geblieben wie das Negativ einer Photographie, zu entwickeln seit fünfundzwanzig Jahrhunderten – in mir natürlich. Genügte, das in vollem Licht zu schreiben. Der révélateur ist da, es sei denn, daß ich noch nichts von diesem Bild zu entziffern weiß, und das ist in der Tat das Wahrscheinlichste. Socrate, derjenige, der schreibt – sitzend, gebeugt, Skribent oder gelehriger Kopist, der Sekretär Platons, also. Er ist vor Platon, nein Platon ist hinter ihm, kleiner (warum kleiner?), aber aufrecht stehend. Mit dem ausgestreckten Finger sieht er aus als würde er den Weg wiesen, bezeichnen, zeigen oder einen Befehl geben – oder diktieren, autoritär, magistral, gebieterisch. Beinahe tückisch, findest Du nicht, und eigensinnig.

78

Als ein »Ikonotext über die Geburt der Schrift« ist diese Postkarte, auch eine Allegorie der Urszene der Entstehung abendländischer Grammatik. Keine Tautologie kommt zur Sprache, vielmehr gibt die Karte den Blick frei auf eine zweifache Eröffnung des Möglichen. Die eine Möglichkeit wäre eine offenbarende, konstruktive, die andere eine zerstörende, sich dekonstruierende Offenbarung. Konkret dreht sich in dieser ›Schreibszene‹ alles um eines: Wer schreibt? Abstrakt stellt sich die Frage: Was ist die spektrale Kraft dieser Urszene? Ist Sokrates Repräsentation Platons? Präsentiert Platon Sokrates? Oder diktiert Sokrates Platon? Gebietet jener diesem Einhalt? Ist er, Sokrates, eine Schrift-Figur von Platons Händen? Ist Sokrates Platon 78 Ebd. Später heißt es etwa auch: »Du wirst glauben, daß ich diese katastrophische Szene verehre (meine neuen Fetische, der ›Hit‹ des Sommers): Plato, der Lehrer, in Erektion hinter dem Eleven Socrates, beispielsweise, und wenn ich ›katastrophisch‹ sage, denke ich, natürlich, an die Umkehrung und die Inversion der Verhältnisse, aber auch, auf einmal, an das Apotrope und Apostrophische: p., ein Vater, der kleiner ist als sein Sohn oder Schüler, das kommt vor, p., wenn er nicht S. ist, dem er ähnelt, teuflischerweise, p. also zeigt auf ihn, S., er zeigt ihn (anderen) und zugleich zeigt er ihm den Weg, er sendet ihn auf den Weg, und gleichzeitig apostrophiert er ihn, was immer darauf hinauskommt zu sage, ›geh‹ oder ›komm‹, fort, da. Fort / da von S. und p., das ist es, diese ganze Ontologie der Postkarte. Was sie seltsamerweise unerklärt läßt, ist daß er sich, selbst, an S. richtet oder an andere jenseits von S. Aber weiß man je«. (Ebd., S. 30).

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aus der Hand geflossen oder hat er sich ihr entzogen? Ist es Sokrates, der Platon diktiert? Ist es der gebieterische Platon, der Sokrates bedeutet: ›schreib!‹ oder ›schreib nicht!‹, ›Halt ein!‹ Sprich: ›Dorthin, nach oben, zu den Ideen richte deinen Blick und nicht nach unten, auf die Materialität der Schrift!‹ (All dies könnte Platon Sokrates in den Mund legen, indem er ihm diktiert.) Schreibt ›in Wahrheit‹ Sokrates? (Re-)Präsentiert sich überhaupt eine Wahrheit des Modells?79 Derridas Postkarte ist in den Bild-Feldern zu Sebald weder direkt zitiert noch wird auf sie indirekt verwiesen; Derridas bekannte Sichtweise lässt diese vielmehr in medientheoretischem Licht erscheinen: In der Kumulation der Postkartenmotive stellen sich dem Ausstellungs- und/oder Ausstellungskatalog-Leser ganz ähnliche Fragen, wie sie Sebalds Werke auch insgesamt bedingen: Wer erzählt? Wer spricht? Wer schreibt? Lösen die Medien Sebalds Schreiben aus; flüstern sie ihm die Ideen ein, diktieren sie ihm? Oder wandern sie gleichsam motivisch, stofflich, womöglich nur illustrativ in bzw. zwischen den geschriebenen Texten?80 Hierfür symptomatisch umfassen die Bild-Felder Postkarten, die den Grundelementen der ›Welt‹ (Feuer, Wasser, Erde) zugeordnet81 und die von Sebald teilweise wiederum auch in seinen literarischen Werken aufgenommen worden sind; hinzu kommen Bilder des Auslöschens, der Auflösung, des Verschwindens,82 etwa eine »Folge von Vexierbildern aus Sebalds Bilderkiste, seinen

79 Stephan Braun: Topographien der Leere. Friedrich Nietzsche. Schreiben und Schrift, Würzburg: Königshausen & Neumann 2007, S. 38. 80 Dazu programmatisch Forster: Bilder geistern durch Sebalds Erzählungen, Geister bewohnen ihre Zeilen, u.a. S. 87: »Eines zeichnet W.G. Sebalds Erzählungen auf den ersten Blick aus: Ihr Text wird häufig von Bildern begleitet. Locker eingestreut oder absichtsvoll montiert treten sie den Lesern entgegen und beschatten die Worte mit eigentümlich verwischten Figuren. Handelt es sich um illustrierte Bücher, deren Bildvorlagen den Leserinnen und Lesern auf die Sprünge helfen sollen? Oder liefern die Bilder anschauliche Nachweise wie nur Bilder sie erbringen können? Wie kam der Autor zu seinen Vorlagen und warum gibt er sich bei Fotografien mit offensichtlichen Amateuraufnahmen zufrieden?« 81 Vgl. Bülow/Gfrereis/Strittmacher, Wandernde Schatten, S. 29-32, 33-36, 37-40. 82 Eine solche ›Auslöschung‹ kann künstlerisch verschiedene Wege gehen: Als Verschwinden der Schrift im Körper wie in Kafkas In der Strafkolonie (1919); als graphische Desartikulation wie in Robert Walsers Mikrogramme (1924-

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Fotoalben, vom Flohmarkt und aus seiner Bibliothek«:83 Gesichter, ›Objekte‹ verblassen, lösen sich auf; aus poetologischer Perspektive bringen sie so aber auch – hinter der Oberfläche als ausgestellte ›Dinge‹ – etwas hervor: indem sie etwas sowohl materiell, medial und visuell poietisch hervor bringen,84 schaffen sie zugleich poetisch eine strukturelle Wirklichkeit oder besser: Unwirklichkeit.85 Der Werk-Körper erfährt eine Unterwanderung, wenn in ausgestellten Büchern vieldeutige Beilagen Sebalds identifizierbar werden: Vom Ginkgoblatt und einem kindlichen Buchstabenspiel in Benjamins Über Kinder, Jugend und Erziehung (1969) über ein in Goethes Gedichten eingelegtes »graues« Gedicht und einem in den Katalog einer Kafka-Ausstellung (1968) eingeschobenem

1925); als agonales Verhalten in der historischen Avantgarde; als Zerfall der Sprache, wie im Werk von Samuel Beckett; als Negation der Referenzen im Nouveau Roman; als Verschwinden des Selbst in der Sprache wie in Maurice Blanchots L’espace littéraire (1955) oder Le livre à venir (1959); als Zerstörung von Kulturgegenständen im Nouveau Réalisme der 1960er Jahre; als ›autodestructive art‹; als Selbstverstümmelung im Wiener Aktionismus; als »Ruinisierung von Gegenständen« (Jean Baudrillard) in Happenings; als Verschwinden des Autors (Michel Foucault); als »effacement des différances« in der Dekonstruktion Jacques Derridas; als Demontage fremder Werke in der ›Postmoderne‹; als werkimmanentes Schreibprogramm wie in Thomas Bernhards Auslöschung. Ein Zerfall (1986); oder auch als Tipp-Ex-Verfahren wie in Uljana Wolf & Christian Hawkey, Buchobjekt. SONNE FROM ORT. Erasures (2008). Vgl. Alina Voica: auslöschen. Auf: http://www.poeticon.net/verfahren/ausloeschen. html (letzter Aufruf am 04.07.2012). 83 Bülow/Gfrereis/Strittmacher, Wandernde Schatten, S. 29-32, 33-36, 37-40, S. 43. 84 Dazu kunsttheoretisch auch Manfred Sommer: Sammeln. Ein philosophischer Versuch, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2002, bes. S. 232f. 85 Zur Auslöschung als poietisches, poetisches und poietisch-poetisches Verfahren siehe etwa die Verweise bei Voica: auslöschen, darunter insbes. Eva Geulen: Das Ende der Kunst. Lesearten eines Gerüchts nach Hegel, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2002; Hans-Ulrich Treichel: Auslöschungsverfahren. Exemplarische Untersuchungen zur Literatur und Poetik der Moderne, München: Wilhelm Fink 1995.

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Montageplan für Man Rays Lost Object zum Boarding Pass in Goethes Wahlverwandtschaften (1963) und einer gelben Rosenblüte in Thomas Brownes Urne-Burial (1927).86

Als Einheiten bleiben die jeweiligen Materialitäten zwar noch bestehen, sie gehen in ihrer (zufälligen oder bewussten?) Zusammenbringung jedoch eine Verbindung ein, die erst in ihrer Beobachtung, ihrer Wahrnehmung zustande kommen kann (dass in den Bild-Feldern ein Kapitel mit dem Titel Augen, nah gerade auch auf diesen Beobachtungs-Fokus verweist – darunter befinden sich u.a. eine Zettel-Notiz Sebalds zu Luhmanns Systemtheorie, Sebalds eigene Kleinformatkamera und seine Brille87 – unterstützt die These um eine solche ästhetische Wahrnehmungsmöglichkeit).

4. Ich komme zur konkreten Vermittlungs-Dimension des Themas, die ich mit einer Anmerkung zur Literaturwissenschaft als – auch didaktisch orientierte – Medienkulturwissenschaft beginnen möchte,88 zumal das Literaturmuseum der Moderne, wie ich aufzuzeigen versucht habe, Beobachtungspositionen als Zugänge zu dem bereitstellt, was man die ›Welt‹ der Literatur nennen könnte. Denn insbesondere mediendidaktische Ansätze fragen danach,89 »wie einzelne Kunstformen vermittels ihrer spezifischen Trägermaterialität ästhetische Wahrnehmung und ästhetisches Kommunizieren gestalten und inszenieren«,90 wobei hier der Begriff der ›Intermedialität‹ vornehmlich »Grenzüberschreitungen im Medienwechsel«, das »›Dazwischen‹ zwischen den Künsten« bzw. dann auch das »›Dazwischen‹ zwischen Mensch und

86 Bülow/Gfrereis/Strittmacher, Wandernde Schatten, S. 46. 87 Vgl. Bülow/Gfrereis/Strittmacher, Wandernde Schatten, S. 52-54. 88 Dazu grundlegend Claudia Liebrand et al. (Hg.), Einführung in die Medienkulturwissenschaft, Münster: Lit 2005. 89 Dazu grundlegend Volker Frederking/Axel Krommer/Klaus Maiwald: Mediendidaktik Deutsch. Eine Einführung, Berlin: Erich Schmidt 2008, S. 97. 90 Marion Bönnighausen: »An den Schnittstellen der Künste. Vorschläge für einen intermedialen Deutschunterricht«, in: Volker Frederking (Hg.), Filmdidaktik – Filmästhetik, München: kopaed 2006, S. 191-203, hier S. 192.

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Maschine« thematisiere.91 Es geht also ausdrücklich um solche Fragen intermedialer ästhetischer Bildung respektive ›Erziehung‹,92 die das Literaturmuseum der Moderne schon qua Ausstellungskonzept bereitstellt und die

91 Marion Bönnighausen/Heidi Rösch: »Einleitung«, in: dies. (Hg.), Intermedialität im Deutschunterricht, Hohengehren: Schneider 2004, S. 2-6, hier S. 2. Zur Reflexion und Diskussion des Intermedialitätstheorems für die fachspezifische Mediendidaktik siehe u.a. Prümm: »Intermedialität und Multimedialität«; Jutta Wermke: Integrierte Medienerziehung im Fachunterricht. Schwerpunkt: Deutsch, München: kopaed 1997, S. 46. 92 Zur Begriffsunterscheidung siehe etwa Annette Franke: Aktuelle Konzeptionen der Ästhetischen Erziehung, München: Martin Meidenbauer 2007, S. 24f. Rekurriert werden kann damit auf neuere Positionsbeschreibungen des Gegenstands- und Aufgabengebiets der Mediendidaktik, die darauf abzielen, Möglichkeiten und Probleme der Mediennutzung mit der Behandlung von fachspezifischen Inhalten und Unterrichtszielen zu verbinden. Dazu näher Volker Frederking: »Auf neuen Wegen ...? Deutschdidaktik und Deutschunterricht im Zeichen der Medialisierung – eine Bestandsaufnahme«, in: Jutta Wermke (Hg.), Literatur und Medien, München: kopaed 2002, S. 143-159, hier S. 145f. Bestärkt werden kann damit auch jenes Anliegen, das bereits von Jutta Wermke Ende der 1990er Jahre formuliert worden ist (vgl. Wermke: Integrierte Medienerziehung), dass nämlich die Medienerziehung im Fachunterricht erfolgen müsse, da jedes Fach seine Gegenstände, Methoden und Ziele medienbezogen zu reflektieren und zu konzipieren habe (vgl. Frederking/Krommer/Maiwald: Mediendidaktik, S. 75). Siehe allgemein auch Susanne Barth: »Medien im Deutschunterricht«, in: Praxis Deutsch 153 (1999), S. 11-19; Hans Dieter Erlinger/Gudrun Marci-Boehncke (Hg.), Deutschdidaktik und Medienerziehung. Kulturtechnik Medienkompetenz in Unterricht und Studium, München: kopaed 1999; Wolfgang Gast: »Deutschunterricht und mediale Bildung«, in: Ludwig Jäger (Hg.), Germanistik: Disziplinäre Identität und kulturelle Leistung. Vorträge des deutschen Germanistentages 1994, Weinheim: Beltz Athenäum 1994, S. 274-284; Hans-Dieter Kübler: »Medien und Medienpädagogik im Deutschunterricht«, in: Wolfgang Schill et al. (Hg.), Medienpädagogisches Handeln in der Schule, Opladen: Leske + Budrich 1992, S. 151-163; Gerhard Tulodziecki: »Medienerziehung als Aufgabe des Deutschunterrichts«, in: Hans Dieter Erlinger (Hg.), Neue Medien – Edutainment – Medienkompetenz. Deutschunterricht im Wandel, München: kopaed 1997, S. 39-51.

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sich dort zunächst theoretisch mit dem Begriff der ›Poetik‹ kurzschließen lassen. Denn bei dessen Verwendung wird in der Regel auf dessen Wortherkunft aus dem Altgriechischen poietiké vom Stammwort poiein = ›machen, bilden, hervorbringen‹ verwiesen und seine Bedeutung als ›Dichtkunst‹ sowohl normativ aufgefasst, d.h. als Begriff für Anweisungen dichterischen Schaffens verstanden, als auch deskriptiv beschrieben, d.h. als Begriff zur Herausarbeitung des Wesens und/oder der Geschichte der Dichtung.93 Vor dem Hintergrund der Fachbestimmungen einer medienkulturwissenschaftlichen Literaturwissenschaft94 ist hier nicht zuletzt auf Hegels Begriffsentwicklung der Kunst und Kunstgeschichte zurück zu greifen, wie dieser sie in seinen Vorlesungen über die Ästhetik versucht und die auf deren wachsende Entmaterialisierung und Spiritualisierung hinausläuft.95 In der poetischen Literatur sei die Kunst, so Hegel, an den »Punkt des Geistes«96 gelangt, »wo ihren Formelementen keinerlei Materialität mehr anhaftet, sondern wo sie sich in der Illusion mentaler Vorstellungswelten verflüchtigen«.97 So existiere literarische Form nach Hegel nur noch als möglichst durchsichtige sinnliche Imagination des Geistes.98 Hegel schreibt:

93 Vgl. Albert Meier: »Poetik«, in: Heinz Ludwig Arnold/Heinrich Detering (Hg.), Grundzüge der Literaturwissenschaft, München: dtv 62003, S. 205-218, hier S. 205. Dazu auch Werner Jung: Poetik. Eine Einführung, München: Wilhelm Fink 2007. 94 Dazu etwa auch Oliver Jahraus: »Der Gegenstand der Literaturwissenschaft in einer Medienkulturwissenschaft«, in: Wirkendes Wort 3 (1998), S. 408-419; Horst Wenzel: »Kulturwissenschaft als Medienwissenschaft. Vom Anfang und vom Ende der Gutenberg-Galaxis«, in: Johannes Anderegg/Edith Anna Kunz (Hg.), Kulturwissenschaften. Positionen und Perspektiven, Bielefeld: Aisthesis 1999, S. 135-154; sowie wiederum Liebrand et al.: Einführung in die Medienkulturwissenschaft. 95 Vgl. Detlef Kremer: Literaturwissenschaft als Medientheorie, Münster: Aschendorff 2004, S. 7. 96 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik (1817-1829), hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1970, Bd. I, S. 122. 97 Kremer: Literaturwissenschaft als Medientheorie, S. 7. 98 Vgl. ebd.

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Ihre [der Poesie] charakteristische Eigentümlichkeit liegt in der Macht, mit welcher sie das sinnliche Element, von dem schon Musik und Malerei die Kunst zu befreien begannen, dem Geiste und seinen Vorstellungen unterwirft. Denn der Ton, das letzte äußere Material der Poesie, ist in ihr nicht mehr die tönende Empfindung selber, sondern ein für sich bedeutungsloses Zeichen, und zwar der in sich konkret gewordenen Vorstellung.99

Mit Detlef Kremer lassen sich aus Hegels Vorlesungen kritische Anhaltspunkte eines medial zugespitzten Begriffs der ›Poetik‹ entwickeln, die für die vorliegenden Erläuterungen von Bedeutung sind. Schlussfolgert Hegel, die Dichtkunst sei eine »allgemeine Kunst des in sich freigewordenen, nicht an das äußerlich-sinnliche Material zur Realisation gebundenen Geistes, der nur im inneren Raume und der inneren Zeit der Vorstellungen und Empfindungen sich ergeht«,100 so hält Kremer entgegen, dass damit allerdings auch die Poesie an einen Punkt geführt werde, wo nachhaltig der Materialcharakter des literarischen Textes und damit seine Medialität geleugnet sei: Denn wo der Geist unmittelbar kommuniziere, bedürfe es keines Mediums der Kommunikation; und: die Fehleinschätzung der Materialität von Schrift sei hier umso folgenschwerer, je stärker sich moderne Literatur seit der Romantik gerade über eine Selbstreflexion ihrer ästhetischen Form und ichrer zugrunde liegenden Technik, der Schrift, bestimme.101 Schließlich stärke ausgerechnet die romantische Literatur wieder den Blick für das Material und die Technik, die ihre Basis sei; das Wissen um die Selbstreflexivität der romantischen Literatur sei Bewusstsein von ihrer Materialität – ein Wissen um die »mediale Vermittlung der Literatur«,102 dem nicht nur Friedrich Schlegels Programm der Romantik als »Transzendentalpoesie«, die »zugleich Poesie und Poesie der Poesie« darstellt,103 verpflichtet sei, sondern auf das auch Brentano in seinem Roman Godwi oder Das steinerne Bild der Mutter verweise, genauer: im ›allgemeinen Gespräch über das Romantische‹, »in dem der Titelheld die reflexive Brechung der Wahrneh-

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Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik, S. 7.

100 Ebd., S. 123. 101 Vgl. Kremer: Literaturwissenschaft als Medientheorie, S. 8. 102 Ebd. 103 Friedrich Schlegel: Kritische Ausgabe. Charakteristiken und Kritiken I (17961801), hg. von Hans Eichner, Paderborn u.a.: Schöningh 1967, Bd. II, S. 204.

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mung und die mediale Brechung der Darstellung«104 ausführe.105 Zitat Brentano: »Das Romantische ist also ein Perspectiv oder vielmehr die Farbe des Glases und die Bestimmung des Gegenstands durch die Form des Glases.«106 Romantische Poesie bezeichne nicht allein einen ›Gegenstand‹, sondern »auch die formale Bedingung und die subjektive Art und Weise der Bezeichnung«.107 So kann Kremer Brentano weiter zitieren, der schreibt: [D]enn nach meiner Meinung ist jedes eine, schöne Kunstwerk, das seinen Gegenstand bloß darstellt, leichter zu übersetzen als ein romantisches, welches seinen Gegenstand nicht allein bezeichnet, sondern seiner Bezeichnung selbst noch ein Kolorit giebt, denn dem Übersetzer des Romantischen wird die Gestalt der Darstellung selbst ein Kunstwerk, das er übersetzen soll.108

Nach Kremer vermag gerade der Vergleich mit einer Übersetzung das mediale Bewusstsein der Romantik, das Brentano thematisiert, sehr genau zum Ausdruck zu bringen, da man die Funktion eines Mediums vorläufig als eine Art Transformation begreifen könne, dies jedoch als eine punktgenaue Übertragung beim materiellen Übergang zwischen zwei immateriellen Sphären: Jedes Medium verändere, d.h. übersetze eine vorausgehende kommunikative Intention, die allerdings ohne eine mediale Vermittlung gar nicht zu haben sei.109 Mithin formuliert, so auch Kremer, Niklas Luhmann, »[m]it der Romantik schon« beginne »die Erkenntnis, daß jede Form Formin-einem-Medium« sei.110 Ist so der Begriff der ›Poetik‹ mit Blick auf romantische ›Theorie‹ notwendig medial konnotiert und zieht man diese begriffliche Ausgangslage dazu heran, eine Bestimmung des hier vorgestellten Beschreibungsmodells des Literaturmuseums der Moderne zu ver-

104 Kremer: Literaturwissenschaft als Medientheorie, S. 8. 105 Vgl. ebd. 106 Clemens Brentano: Werke, hg. von Wolfgang Frühwald und Friedhelm Kemp, München: Hanser 31980, Bd. 2, S. 258f. 107 Kremer: Literaturwissenschaft als Medientheorie, S. 9. 108 Brentano: Werke, S. 260. 109 Vgl. Kremer: Literaturwissenschaft als Medientheorie, S. 9. 110 Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1995, S. 206. Vgl. auch Kremer: Literaturwissenschaft als Medientheorie, S. 9.

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suchen, lässt sich erneut formulieren: Literaturvermittlung als Literaturausstellung rekurriert notwendiger Weise auf die Hervorbringung wie Herausarbeitung des ›Wesens‹ von Literatur als materielles Medium; sie meint die Vermittlungs-Funktion, bei deren Realisation stets eine Veränderung des Vermittelten stattfindet, und zwar unter den Vorzeichen der Integration medialer Optionen, von Text, Bild, Ton, Film etc. – erinnert sei schließlich auch an die Bedeutung des Begriffs Medium = ›Mittler‹.111 Als »Lernort« und »Literaturmedium«112 zugleich bietet das Literaturmuseum der Moderne mithin eine Vielzahl an museumspädagogischen Angeboten,113 auch im Bereich der ›Neuen Medien‹,114 nicht zuletzt auch, um durch

111 Dazu exemplarisch Uwe Wirth: »Die Frage nach dem Medium als Frage nach der Vermittlung«, in: Stefan Münker/Alexander Roesler (Hg.), Was ist ein Medium? Frankfurt/Main: Suhrkamp 2008, S. 222-234, hier S. 222. 112 Seibert: Literatur und Museum, S. 5, 9. Dazu außerdem Ellen Spickernagel/ Brigitte Walbe (Hg.), Das Museum. Lernort contra Musentempel, Gießen: Anabas 1967. Außerdem aus sozialhistorischer Sicht Walter Hochreiter: Vom Musentempel zum Lernort. Zur Sozialgeschichte deutscher Museen 18001914, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1994. 113 Dazu näher Gfrereis: Didaktik des Schweigens, S. 28f., sowie mit zahlreichen Informationen

http://www.dla-marbach.de/dla/museum/literaturvermittlung/

index.html (letzter Aufruf am 04.07.2012). Hervorzuheben ist insbesondere das seit September 2008 bestehende Projekt »LINA. Die Literaturschule im LiMo«: »Ziel des von der PwC-Stiftung und dem Land Baden Württemberg geförderten, vom Marbacher Museum initiierten und betreuten Angebots ist es, im Rahmen der Nachmittagsbetreuung die Verbindung zu den Schulen auszubauen und Schüler aktiv in die Vermittlungs- und Forschungsarbeit der Marbacher Museen einzubinden. Zum ersten Mal können so Schüler aller Altersgruppen und Schularten über einen längeren Zeitraum regelmäßig auf die Schillerhöhe kommen: Sie recherchieren in den unterirdischen Magazinen des Deutschen Literaturarchivs Marbach, arbeiten in den Werkstätten, dem Tonstudio, der Restaurierwerkstatt und der Fotostelle, überlegen sich, wie man Archivalien verstehen und anderen Menschen vermitteln kann. Am Ende eines jeden auf ein Schulhalbjahr angelegten Projekts steht die öffentliche Präsentation der Ergebnisse im Rahmen eines Aktionstags im Museum.« http:// www.dla-marbach.de/dla/museum/literaturvermittlung/junges_museum/index. html (letzter Aufruf am 04.07.2012). Didaktisch geeignet ist auch Dieter Zimmer-

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die Verbindung eines »extrem[en] didaktisch[en] Besucherkonzept[es]« mit einem »literaturwissenschaftlichen Erkenntnisinteresse«115 im Ergebnis die hier stark gemachte ›lebendige‹ ästhetische Wahrnehmung von Literatur in ihrer Sicht- wie Unsichtbarkeit zeigend zu fördern,116 mithin in ihrem »schöpferischen Schreibprozess«117 respektive im »Performance-Akt der

mann: vomdunkelanslicht. Wege zur Literatur. Ein Film über das Literaturmuseum der Moderne. In Zusammenarbeit mit Heike Gfrereis und Roland Kamzelak, Marbach am Neckar: Deutsche Schillergesellschaft 2006. 114 Dazu allgemein auch Stefanie Wehnert: Literaturmuseen im Zeitalter der neuen Medien. Leseumfeld – Aufgaben – Didaktische Konzepte, Kiel: Ludwig 2002. 115 Gfrereis: Didaktik des Schweigens, S. 24. Zur Variierung von AusstellungsKonzepten zwischen Didaktik und »offener Lektüre« siehe Sonja Vandenrath: »Doppel-Blicke. Wort und Bild in Literaturausstellungen«, in: Bohnenkamp/ Vandenrath, Wort-Räume, S. 77-86, hier S. 79. 116 Dazu auch Heike Gfrereis: »Nichts als schmutzige Finger. Soll man Literatur ausstellen?«, in: dies./Lepper, Deixis, S. 81-88, bes. S. 85: »Die literaturwissenschaftliche, literaturdidaktische Analyse eines literarischen Textes verleiht ihm nur eine Scheinsichtbarkeit, auch wenn sie sich nicht nur auf diesen Text konzentriert und dieser Text nicht mehr Platz benötigt als eine ausstellbare, in der Ausstellung lesbare DIN A4-Seite. Wer seine privaten Erinnerungen an einen Text an diesen zurückbinden, an ihm kontrollieren, relativieren, intensivieren, präzise benennen und mit Argumenten motivieren möchte, der fängt unwillkürlich zu weben, gegen die zeitliche Abfolge des Lesens in einem imaginären Raum zu denken an: Er liest wiederholt, liest von hinten, vom Ende, nach vorne, zum Anfang hin und denkt von diesem aus wieder ans Ende, sammelt Wiederholungen und merkwürdige blinde Motive ein, stiftet Beziehungen, beginnt jedes Wort, jeden Buchstaben, jedes Zeichen und auch Nicht-Zeichen, jede Fehlstelle als Fingerzeig zu verstehen, begründet den Text in seiner Struktur und seinem Verlauf, ersetzt das ihm in Erinnerung gebliebene Imaginäre und auch das meist jeder Literatur unterstellte unsichtbare ›Höhere‹ durch die Textur.« 117 Wirth: Was zeigt sich, wenn man Literatur zeigt?, S. 57.

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Textwerdung«.118 Dies komplettiert das Bestreben des Literaturmuseums der Moderne, Ausstellungsbesuch, Objektbetrachtung und insbesondere etwa auch Kreatives Schreiben zu kombinieren: »An den Manuskripten und Büchern, den Schreib- und Lesespuren bekannter Autoren lässt sich die Kunst des literarischen Lesens und Schreibens auf sehr handfeste, nicht beliebige, sondern am konkreten Gegenstand überprüfbare Weise neu lernen.«119 Die Methode, die hier greift und die ich kurz benennen möchte, wird oft als Kreatives Schreiben zu und nach literarischen Texten bezeichnet;120 in ihrer Realisierbarkeit im Literaturmuseum der Moderne geht die Didaktik121 über diese hinaus. Gearbeitet wird zwar mit literarischen Texten als Anregung zum Selber-Schreiben, wobei man dem Prinzip des imitativen Schreibens folgt: Einerseits gibt der Text Regeln und ein Muster vor, mit dem in besonderer Art etwas aussprechbar wird; andererseits fordert der ästhetisch-literarische Charakter und die poetische Sprache der Texte dazu heraus, sich probehandelnd in andere Perspektiven hineinzubegeben,122 hier: in diejenige des Literatur-Produzenten wie des Literatur-Rezipienten anhand realer

118 Almuth Grésillon: »›Critique génétique‹. Gedanken zu ihrer Entstehung, Methode und Theorie, in: Quarto 7 (1996), S. 14-24, hier S. 23. 119 Gfrereis: Didaktik des Schweigens, S. 29. 120 Dazu Kaspar H. Spinner: »Kreatives Schreiben zu literarischen Texten«, in: Ulf Abraham et al. (Hg.), Schreibförderung und Schreiberziehung. Eine Einführung für Schule und Hochschule, Donauwörth: Auer 2005, S. 109-119. 121 Dazu allgemein auch die Beiträge in Margarete Erber-Groiß (Hg.), Kult und Kultur des Ausstellens. Beiträge zur Praxis, Theorie und Didaktik des Museums, Wien: WUV 1992; sowie Hans-Otto Hügel: »Die Literaturausstellung zwischen Zimelienschau und didaktischer Dokumentation«, in: Susanne Ebeling/Hans-Otto Hügel/Ralf Lubnow (Hg.), Literarische Ausstellungen von 1949 bis 1985. Bundesrepublik Deutschland, Deutsche Demokratische Republik. Diskussion, Dokumentation, Bibliographie, München et al.: Saur 1991, S. 7-38. 122 Zur Methode Ingrid Böttcher: Kreatives Schreiben. Grundlagen und Methoden, Beispiele für Fächer und Projekte, Schreibecke und Dokumentation, Berlin: Cornelson Scriptor 1999, S. 24f.

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bzw. authentischer Schreib-Mittel.123 Darin erschließt sich insgesamt der Vorzug, Literaturvermittlung, Literaturausstellung und ›ästhetische Erziehung‹ aus der Motivation der angewandten Literaturwissenschaft zusammen zu denken. Bedacht wird ein Prozess mit der spezifischen Qualität, die Bedeutung von Literatur rezeptiv wie produktiv, ästhetisch wahrnehmend zu zeigen und doch nicht zu zeigen, d.h. als »Bedeutungsoffenheit«, die deutlicher hervor tritt, »wenn etwas als bedeutsam gegenübersteht und darzustellen ist«: Dann kommt es darauf an, »seine Bedeutung im Zeigen zu realisieren.«124 Dieser semiotische Prozess prägt das Literaturmuseum der Moderne in einem traditionellen literaturwissenschaftlichem Moment: Indem seine Ausstellungen Bedeutungen von Literatur zeigen, stellen sie jene nicht nur dar, sondern erzeugen Bahnen, diese in der eigenen Anwendung auszulegen – letztendlich in der Gestalt von nichts anderem als der eigenen Interpretation.

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123 Siehe dazu auch Oliver Ruf: »›Erlebte Poetik.‹ Kreative Schreib-Szenen in ästhetischer Theorie, literarischem Leben und Literatur vermittelnder Praxis«, in: Germanistische Mitteilungen 2 (2011), S. 5-22. 124 Figal: »Zeigen und Sichzeigen«, S. 205.

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Gfrereis und Roland Kamzelak, Marbach am Neckar: Deutsche Schillergesellschaft 2006.

Wie stellt man einen starken Autor aus? Zur Ausstellungsstrategie der Lübecker Literaturmuseen H ANS W ISSKIRCHEN

1. In der Hansestadt Lübeck sind gleich zwei Literaturmuseen und Forschungsstätten starken Autoren, und zwar den beiden Literaturnobelpreisträgern Thomas Mann (1875-1955) und Günter Grass (geboren 1927), gewidmet: Das Buddenbrookhaus und das Günter Grass-Haus. Beide seien zunächst kurz vorgestellt:

D AS B UDDENBROOKHAUS Das Buddenbrookhaus hat keine primär biografisch begründete Aura, sondern eine literarische. Gleichwohl sind durchaus biografische Bezüge vorhanden. 1758 von Johann Michael Croll gebaut, ging das Haus 1842 in den Besitz der Manns über. Thomas und Heinrich Mann gingen als kleine Jungen in dem Haus in der Mengstraße 4 ein und aus, weil die Großeltern hier lebten und es der Familienstammsitz in Lübeck war. Doch 1891 – nach dem Tod des Vaters – wurde das Haus verkauft und schon 1894 folgte Thomas Mann der Mutter nach München. Er war damals 18 Jahre alt, ein gescheiterter Schüler, der nach mehrmaligem Anlauf gerade die mittlere Reife geschafft hatte. Der Vater war ein wohlhabender Geschäftsmann und

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Finanzsenator gewesen, aber alles, was zur Firma gehörte, die Häuser, die Speicher, die Schiffe, war verkauft worden. Nach mehrmaligem Eigentümerwechsel ging das Gebäude im Jahr 1894 in den Besitz des Lübecker Staates über. Eine Phase der Umbauten am Haus begann: 1895 wurden die Hintergebäude (Speicher und Gartenhaus) abgerissen, um Platz für den Bau einer städtischen Markthalle zu schaffen. 1898 zog eine Volkslesehalle in das Hauptgebäude. 1904 wurde für die Lübeckische Staatslotterie eine Wand eingerissen, um einen Ziehungssaal einzurichten. Von 1922 bis 1929 beherbergte das Haus die Buddenbrook-Buchhandlung, bei deren Eröffnung Thomas Mann anwesend war. Zuvor hatte jedoch eine völlige Umgestaltung der Innenräume stattgefunden, die schließlich nur noch wenig mit der Welt der Manns zu tun hatten. Durch den Brandbombenangriff der britischen Luftwaffe auf Lübeck in der Nacht des Palmsonntags 1942 wurde auch das Haus in der Mengstraße fast vollständig zerstört. Einzig erhalten blieben die Fassade und der barocke Gewölbekeller. 1957 errichtete die Volksbank Lübeck hinter der Fassade einen »Neubau« für eine ihrer Filialen. 1991 erwarb schließlich die Hansestadt Lübeck das Haus und eröffnete dort zwei Jahre später das »Heinrich-und-ThomasMann-Zentrum«. Zur Weltausstellung im Jahr 2000 in Hannover wurde das gesamte Haus auf über 1000 m² aus- und umgebaut. Seitdem sind in dem Haus zwei ständige Ausstellungen zu sehen: Eine Dauerausstellung zur Familie Mann im Erdgeschoss sowie eine Ausstellung zum Roman Buddenbrooks im ersten Obergeschoss. Im Zwischengeschoss befindet sich der Veranstaltungsraum, der auch für die zwei bis drei Sonderausstellungen im Jahr genutzt wird. Insbesondere die Dauerausstellung zu den Buddenbrooks weist eine Besonderheit auf, die viel Beachtung gefunden hat. In zwei Räumen der Beletage wurde eine literarische Rekonstruktion realisiert: Das »Landschaftszimmer« und das »Götterzimmer«, zwei zentrale Handlungsorte des Romans, wurden nach literarischen Vorgaben nachgebaut und der Roman auf diese Weise »begehbar«. Dabei haben die Räume nur wenig mit den tatsächlichen historischen Vorbildern gemein, in denen der junge Thomas Mann sich bei seinen Großeltern bewegt hat. Obwohl es in diesen Ausführungen um die Ausstellungsarbeit von Literaturmuseen geht, soll nicht unerwähnt bleiben, dass diese Arbeit auch im Buddenbrookhaus – wie in vielen anderen Museen – nur eine von vielen

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weiteren Aufgaben ist. Das Haus ist zugleich eine Forschungsstätte und beherbergt als solche auch ein Archiv und eine Bibliothek. Ebenso sei noch erwähnt, dass sich die literarische Bedeutung des Buddenbrookhauses nicht auf den Literaturnobelpreisträger und auch nicht – wie der Name vermuten lassen können – auf die Brüder Thomas und Heinrich reduziert. Vielmehr widmet es sich, insbesondere in seinen Sonderausstellungen, der gesamten Familie Mann, vor allem den Kindern Thomas Manns. Es haben daher auch nicht nur die Thomas- und die Heinrich Mann-Gesellschaft ihren Sitz im Buddenbrookhaus, sondern auch die noch junge, im Jahr 2011 gegründete Golo Mann-Gesellschaft.

D AS G ÜNTER G RASS H AUS Auf die Frage, warum er sein Büro von Berlin nach Lübeck verlegt habe, gab Günter Grass 1995 eine kurze, prägnante Antwort: »Wegen Danzig, Thomas Mann und Willy Brandt.« Diese Aufzählung war kein Zufall. Mit ihr brachte Grass drei zentrale Motive auf den Punkt: Das Biografische, das Literarische und das Politische. Mit seiner Geschichte und seiner Architektur, mit seiner Lage an der Ostsee steht Lübeck für Danzig, den Geburtsort von Günter Grass. Gerade weil er 1945 im Alter von siebzehn Jahren seine Heimatstadt verlassen musste und aus Danzig dann das polnische GdaĔsk wurde, die große Geschichte mithin auch in der Namensgeschichte einer Stadt ihren Eingang gefunden hat, kann Grass sagen: Die meisten meiner Bücher beschwören die untergegangene Stadt Danzig, deren gehügelte wie flache Umgebung, die matt anschlagende Ostsee; und auch GdaĔsk wurde im Verlauf der Jahre zu einem Thema, das fortgeschrieben werden wollte. Verlust machte mich beredt.1

1

Günter Grass: »Rede vom Verlust. Über den Niedergang der politischen Kultur im geeinten Deutschland« (1992), in: ders.: Werkausgabe in 16 Bänden und 23 CDs, Göttingen: Steidl 1997ff., Bd. 16: Essays und Reden 3 (1980-1987), 1997, S. 360-379, hier S. 373.

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Dass Lübeck für Danzig einstehen kann, hat demnach einen doppelten Grund. Auf der einen Seite ist es die Architektur und die Atmosphäre der Stadt an der Trave, die an das Danzig vor dem Zweiten Weltkrieg erinnert. Wer einmal beide Städte mit offenen Augen durchwandert hat, wird diese Ähnlichkeit, die besonders in der gewaltigen Backsteingotik der Kirchen Gestalt annimmt, unmittelbar spüren. Auf der anderen Seite sind es die literarischen Reflexe, die von Stadt, Umgebung und Ostsee hervorgerufen werden. Es ist ein stilles Einverständnis von Landschaft und Literatur, das Lübeck und Danzig zusammenbringt. Und daher gehört der Name Thomas Manns wie selbstverständlich in die Aufzählung der Beweggründe für den Umzug nach Lübeck. Der Lübecker Willy Brandt schließlich steht für das Politische bei Günter Grass und, was beinahe noch wichtiger ist, für den Weg zur Politik. Im Loblied auf Willy (1965) heißt es: »Mich bewegt Willy Brandts lange Reise von Lübeck über die Stationen der Emigration nach Berlin, weil sich in ihr ein Teil jener Geschichte Deutschlands widerspiegelt, auf den ich, ohne Anteil gehabt zu haben, stolz bin.«2 Das Günter Grass-Haus ist nicht zufällig in der Glockengießerstraße 21 angesiedelt. Das Haus ist der Ort, den sich Günter Grass in Lübeck als Arbeitsplatz gewählt hat. Hier ist er beinahe jede Woche bei der Arbeit anzutreffen. Die Idee des Hauses ist es, das gesamte Werk von Günter Grass auszustellen und zu erforschen – also nicht nur das literarische, sondern auch das bildkünstlerische, grafische und skulpturale. Der Eingang zu den Ausstellungen erfolgt über den Buch- und Kunstladen, von dem der Weg in die Diele des Altstadthauses führt. Hier findet sich seit dem 14. Oktober 2012 eine anlässlich des zehnjährigen Bestehens des Hauses und des 85. Geburtstages von Günter Grass eingerichtete Installation, die einen ersten Zugang zu Werk und Wirkung von Günter Grass verschafft. Von der Decke hängen Bücher herab, Ausgaben der Werke von Grass aus vielen Ländern der Welt, und an der etwa zehn Meter langen Dielenwand finden sich Zitate über Grass – positive ebenso wie negative. Von der Diele gelangt man in den Hofgarten des Günter Grass-Hauses, an dessen Ende sich wiederum der Zugang zu den Ausstellungsräumen befindet. In der ehemaligen Remise des Gebäudes, die die gesamte hintere

2

Günter Grass: »Loblied auf Willy« (1965), in: ders.: Werkausgabe, Bd. 14: Essays und Reden 1 (1955-1969), 1997, S. 99-110, hier S. 103.

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Fläche der Grundstücke Glockengießerstraße 19 und 21 einnimmt, wurden rund 250 m² Ausstellungsfläche geschaffen. Hier befinden sich im Erdgeschoss die Räume für die ständige Ausstellung und im Obergeschoss die Räume für die Sonderausstellungen. Durch einen weiteren Garten hinter der Remise ist das Günter Grass-Haus mit dem von der Bundesregierung betriebenen Willy-Brandt-Haus verbunden. Hier befinden sich in einem direkt an den Garten grenzenden Anbau ein Seminarraum und der Archivarbeitsraum des Günter Grass-Haus. Dieser zweite große Garten wird auch für Veranstaltungen genutzt. Soweit die Vorstellung der beiden Lübecker Literaturmuseen. Was meint nun der Begriff »starker Autor« im Kontext der Fragestellung?

2. Nicht von Interesse ist hier die Frage des starken oder schwachen Autors bezogen auf den literarischen Text. Vielmehr gilt es in dieser Hinsicht, das Paradoxon zur Kenntnis zu nehmen, dass die jeweiligen Texte, die den Ruhm der beiden starken Autoren Thomas Mann und Günter Grass begründet haben, was die binnenliterarische Erzählstruktur betrifft, wenig Spuren von deren starker Rolle im literarischen Feld aufweisen. Buddenbrooks, 1901 erschienen, ist der einzige Roman Thomas Manns, der von einer personalen Erzählsituation geprägt ist. Jenen raunenden Beschwörer der Vergangenheit, den auktorialen Erzähler, der später den Zauberberg und den Joseph-Roman prägt, der dem Leser ganz eigene Welten nach seinen Regeln vor Augen stellt – ihn gibt es hier noch nicht. Und die Blechtrommel, 1959 der ruhmbegründende Erstling von Günter Grass, kennt in ausgeprägtester Weise jene Erzählerfigur, die die Forschung als die bestimmende bei ihm ausgemacht hat: den unzuverlässigen Erzähler. Ihm darf man als Leser keinen Glauben schenken, weil die erzählte Geschichte ihn immer wieder desavouiert. Das sind philologische Fragen, die für das literarische Ausstellen nicht unwichtig sind, die aber nicht ins Zentrum der Ausstellungsarbeit führen. Für das Ausstellen ist vor allem die Rolle der starken Autoren im literarischen Feld von zentraler Bedeutung. Beide, Thomas Mann und Günter Grass, haben dieses Feld zeitlebens sehr wichtig genommen. Sie haben, und im Fall von Günter Grass tun sie das noch heute, ihre Rolle in diesem Feld

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immer wieder zu definieren, zu verteidigen und – das gilt besonders für Thomas Mann – den Zeitläuften anzupassen versucht. Sehr früh schon strebt Thomas Mann danach, Nationalautor der Deutschen zu werden. Das ist seine Haupt-Rolle im literarischen Feld, die er immer wieder verteidigen muss. Er hat dies durch eine Revolution, zwei Weltkriege, vier verschiedene Staatsformen (das Wilhelminische Reich, die Weimarer Republik, das Dritte Reich und die sich formierende Bundesrepublik) und gegenüber drei verschiedenen Generationen von Schriftstellern, die seine Rolle im literarischen Feld immer wieder in Frage stellten, kontinuierlich tun müssen. Zu konstatieren ist: Thomas Mann hat dies mit großem Erfolg bewältigt. Er hat es bewältigt, nicht zuletzt, weil es ihm gelungen ist, an den zentralen Fundamenten seiner literarischen Produktivität – er selbst nennt als Fundament: Schopenhauer, Nietzsche und Wagner, man sollte noch Freud und Goethe hinzufügen – festzuhalten und sie den unterschiedlichen historischen und sozialen Anforderungen anzupassen. In diesem Agieren im literarischen Feld war Thomas Mann durchaus nicht primär konservativ. Ohne zu ausführlich zu werden, sollen zwei seiner Strategien als Exempel angeführt werden. Thomas Mann war einer der ersten Autoren, die die literarische Lesung als zentrales Element der Selbstvermarktung erkannt haben. Schon mit Beginn des Jahrhunderts, als er mit Buddenbrooks zum Erfolgsautor avancierte, ist er auf Lesereisen gegangen und hat an dieser Gewohnheit bis an sein Lebensende mithilfe eines weit gesponnenen Netzes von Agenten festgehalten. Aus deutlich strategischen Gründen hat er immer wieder den Schreibtisch verlassen, um diese Reisen zu unternehmen, die stets von klugen Pressekampagnen begleitet wurden. Zudem war Thomas Mann einer der ersten Autoren, der schon vor dem Ersten Weltkrieg in literaturwissenschaftliche Seminare ging und mit Studenten diskutierte. Das war damals in der Literaturwissenschaft die absolute Ausnahme. Die Tatsache, dass Thomas Mann schon früh Gegenstand literaturwissenschaftlicher Untersuchungen wurde, dass mithin seine Kanonisierung einsetzte, seine Rezeption als ein Autor, der nicht nur feuilletonwürdig, sondern sogar wissenschaftstauglich war, war durchaus von ihm mitgesteuert.3

3

Vgl.: Michael Ansel/Hans-Erwin Friedrich/Gerhard Lauer (Hg.), Die Erfindung des Schriftstellers Thomas Mann. Berlin, New York: de Gruyter 2009, passim.

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Natürlich hat diese Modernität Grenzen. So hängt auch ein Thomas Mann noch der in der Klassik und Romantik gründenden Sicht des Dichters als Weltdeuter an; jener fast priesterlichen Rolle des Schriftstellers als »Statthalter des gesellschaftlichen Gesamtsubjektes«4, um mit Adorno zu sprechen und damit gleichzeitig die Virulenz dieses Topos aufzuzeigen. Aber diese Sichtweise wird bei Thomas Mann von Skepsis begleitet. Seine Formel lautet: Der Dichter (und auch der Philosoph) als Melde-Instrument, Seismograph, Medium der Empfindlichkeit, ohne klares Wissen von dieser seiner organischen Funktion und darum verkehrter Urteile nebenher durchaus fähig, – es scheint mir die einzig richtige Perspektive.5

Dieses Bild des Seismographen ist mehr als eine Selbstdeutung, die man gerade bei starken Autoren immer mit großer Reserve betrachten muss. Die Forschung hat gezeigt, dass es trägt. Thomas Mann hat seine politischen Fehleinschätzungen, etwa das zu lange Festhalten am Wilhelminischen Obrigkeitsstaat, seine Verteidigung der deutschen Position im Ersten Weltkrieg bis zur Kapitulation und seine Ablehnung der Weimarer Republik als einer undeutschen Staatsform – um nur drei zentrale Irrtümer zu benennen – immer erkannt und überwunden. Für das Ausstellen dieses starken Autors und seiner Familie heißt dies: Die Literatur, die Biografie und die Zeitgeschichte sind hier nicht zu trennen; sie gehen ein hochinteressantes Amalgam ein, das es zu zeigen und zu entschlüsseln gilt. Literaturausstellungen zur Familie Mann sind daher nie auf das rein Literarische zu reduzieren, sie sind nur als kontextualisierte Projekte machbar. Das ist ein Unterschied zu schwachen Autoren, deren gesellschaftliche Bedeutung geringer ist. Und es birgt zugleich eine Chance und eine Gefahr: Eine Chance, weil es vielfältige Anknüpfungsmöglichkeiten für ein sich immer stärker ausdifferenzierendes Publikum bietet; eine Gefahr, weil man verhindern muss, dass das Außerliterarische das Literarische

4

Theodor W. Adorno: »Der Artist als Statthalter«, in: ders.: Noten zur Literatur, GS 11, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1974, S. 114-126, hier S. 126.

5

Thomas Mann: »Die Entstehung des Doktor Faustus. Roman eines Romans«, in: ders.: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Frankfurt/Main: Fischer 1974, Bd. 11: Reden und Aufsätze 3, S. 145-301, hier S. 240.

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vollständig überlagert. Von dieser Spannung sind alle Ausstellungen im Buddenbrookhaus geprägt. Wie liegt der Fall bei Günter Grass? Auch er hat sich, durchaus in Berufung auf Thomas Mann, immer als eine öffentliche Person gesehen. Seine Rolle als Schriftsteller hat er nie auf das engere literarische Feld beschränkt. Vielmehr hat er sich seit seinem Engagement in der Gruppe 47 immer wieder in gesellschaftliche und politische Debatten eingemischt. Seine Unterstützung der SPD und sein enger Kontakt zu Willy Brandt sind dafür die repräsentativsten Beispiele. Bis heute sieht Grass die Rolle des Schriftstellers dadurch geprägt, dass er seine (politische) Meinung zu sagen habe. Was bei Grass, der sich noch immer einmischt, natürlich fehlt, ist die historische Distanz, die bei Thomas Mann schon zur »Beruhigung« der Rezeptionshaltung beigetragen hat. Dabei erging es Thomas Mann zu seinen Lebzeiten nicht viel anders als Günter Grass heute. Schaut man sich die Debatten nach dem Erscheinen des Doktor Faustus an, die 1948 im Nachkriegsdeutschland um die Deutung der nationalsozialistischen Jahre stattfanden, dann ist man an die Debatte um Ein weites Feld und die Frage der Wiedervereinigung bei Günter Grass in den Jahren seit 1991 erinnert. Das Günter Grass-Haus, das kann und sollte man unumwunden sagen, profitiert davon, aber leidet zugleich auch darunter, dass es sich mit einem lebenden Autor beschäftigt, wenngleich – auch das soll deutlich gesagt sein – die Vorteile deutlich überwiegen. Es profitiert, weil es den Autor in die Konzeption von Projekten einbinden kann, wozu Günter Grass auch stets bereit ist. Dabei gilt: Auch aus kontroversen Diskussionen mit dem Autor über seine Werke kann man viel lernen. Es profitiert, weil Gäste aus dem literarischen und dem politischen Feld in das Haus kommen, die ohne ihn den Weg nach Lübeck nicht finden würden. Es leidet auf der anderen Seite, weil alle Debatten um die Person Günter Grass von der Öffentlichkeit auch auf das Günter Grass-Haus bezogen werden. So war es 2006, als er in seinem Buch Vom Häuten der Zwiebel seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS erstmals öffentlich machte. Doch es ist müßig, darüber zu lamentieren. Das Sichern von Vorlässen, wie sie das Günter Grass-Haus besitzt, ist inzwischen die Regel geworden. Wer auf den Nachlass wartet, der kommt mit seinem Museum und seinem Archiv häufig zu spät. Das kann man beklagen, aber wohl nicht ändern.

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3. 2004 führte das Buddenbrookhaus – 50 Jahre nach der Veröffentlichung des Romans – eine Felix Krull-Ausstellung durch. Die Ausstellung reihte sich ein in eine Kette von Jubiläumsausstellungen. Den Anfang machte Heinrich Mann 1996: Anlässlich seines 125. Geburtstages wurde nicht nur die Heinrich Mann-Gesellschaft in Lübeck begründet, sondern auch eine Ausstellung zum Professor Unrat und zum Blauen Engel realisiert. 1997 waren 50 Jahre Doktor Faustus zu begehen, im Jahr 2000 konnte auf 100 Jahre Buddenbrooks zurückgeblickt werden und 2003 auf 100 Jahre Tonio Kröger. Die Felix Krull-Ausstellung hatte ihre Besonderheit. Thomas Mann hat im Rahmen seiner Vorarbeiten für all seine Romane Zeitungsartikel, Reportagen, Fotos und Reiseführer gesammelt und sie in Dossiers zusammengestellt; er hat Bücher gelesen und ausgewertet; er hat, mit einem Wort, nach den Quellen gearbeitet. Die Forschung hat dies in den vergangenen Jahrzehnten bis in die letzten Verästelungen nachgewiesen. Sie hat deutlich gemacht, dass die Kunstleistung Thomas Manns darauf beruht, aus einem großen Berg an Material, dem nichts Besonderes eignet, seine Romane herauszuarbeiten, von Buddenbrooks über den Zauberberg, die Joseph-Romane, den Doktor Faustus bis hin zum Felix Krull. Die Ausstellung spitzte hier zu. Sie stellte unter anderem die These aus, dass der besondere Rang seiner Werke in der ästhetischen Differenz begründet liege, die zwischen den genutzten Materialien und dem fertigen Werk bestehe. Diese Differenz ist wissenschaftlich nicht auszuloten. Man kann sie aber im stärker performativen Rahmen einer Ausstellung auf ganz eigene Art zum Ausdruck bringen. Dafür bot sich die Krull-Ausstellung an, da alle Materialien, die Thomas Mann als Quellen nutzte, vollständig erhalten sind. Das ist bei keinem anderen Roman Thomas Manns der Fall. Und noch in einer anderen Hinsicht ist der Roman etwas Besonderes: Immer gab es beim Autor eine auffällige Diskrepanz zwischen der persönlichen Wertschätzung des gerade vollendeten Werkes und der Reaktion von Publikum und Kritik. Nirgendwo ist sie jedoch so groß wie bei der Hochstaplergeschichte. Thomas Mann fürchtete, dass er ein belangloses, ausuferndes Alterswerk geschrieben habe, das niemanden interessiere. Aber er wurde eines Besseren belehrt. Die Kritik feierte den Roman geradezu hymnisch. In wenigen Monaten wurden fast 50.000

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Exemplare verkauft – eine für die damalige Zeit gewaltige Anzahl. Der 1957 mit Horst Buchholz in der Hauptrolle gedrehte Film wurde zu einem Kassenschlager des deutschen Nachkriegskinos. Thomas Mann reagiert mit stolzem Staunen: »Der ›Krull‹ ist ja ein lächerlicher Erfolg, bei Groß und Klein, Alt und Jung, Vornehm und Gering, Schlicht und High-brow«6, schreibt er an den Schweizer Bekannten Otto Basler und liefert damit zugleich die versteckte Analyse des Erfolges. Wie schon sein Erstling Buddenbrooks ist auch der Krull ein Buch, das die unterschiedlichsten Lesergruppen anspricht, das die »Vielen«, die vor allem aus Vergnügen lesen, und die »Wenigen«, die an den literarischen Raffinessen interessiert sind, gleichermaßen erreicht. Die »doppelte Optik«, wie Nietzsche in Bezug auf Wagner dieses Prinzip genannt hatte, war für Thomas Manns Schreiben prägend und prägt auch die Ausstellungsarbeit des Buddenbrookhauses. Dabei war ihm klar: Das Buch musste Fragment bleiben, eben weil es so eng mit seinem Leben, seinen Erfahrungen verknüpft war. So heißt es kurz vor dem Erscheinen: Es ist gar nicht auf ein Je-damit-Fertigwerden angelegt, man kann daran immer weiterschreiben, weiterfabulieren, es ist ein Gerüst, woran man alles mögliche aufhängen kann, ein epischer Raum zur Unterbringung von allem, was einem einfällt und was das Leben einem zuträgt. Das ist wohl das Charakteristischste, was ich darüber sagen kann: Daß es wohl einmal abbrechen und aufhören, ab nie fertig werden wird.7

An diesem Charakteristischen, an diesem epischen Raum, der zentralen Lebensproblemen einen Ort gibt, hat sich die Gestaltung der Ausstellung orientiert. Schon der Titel der Ausstellung »Felix Krull – Szenen einer schönen Welt« hat Signalcharakter. Der Roman spielt größtenteils in der Welt der Schönen

6

Hans Wysling (Hg), Thomas Mann, Selbstkommentare Königliche Hoheit, Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull, Frankfurt/Main: S. Fischer Verlag 1989, S. 150.

7

Thomas Mann: »Rückkehr«, in: ders.: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Bd. 11: Reden und Aufsätze 3, Frankfurt/Main: Fischer 1974, S. 527-531, hier S. 530.

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und Reichen, im Rheingau, in Wiesbaden und Frankfurt, vor allem in Paris, dann im 1. Klasse-Abteil des Zuges von Paris nach Lissabon, und in Portugal endet das Fragment nicht nur in einer rauschenden Liebesnacht, sondern in einer Audienz beim König. Diese schöne Oberfläche ist ein Teil des Werkes – das Dekadente, das Schauspielerhafte, die Hochstaplergeschichte in den höchsten Kreisen – das ist sicher das Aktuelle des Buches, der Zugang für die »Vielen«. Wer würde nicht an manches erinnert, was sich heute in den entsprechenden Kreisen so zuträgt? Nicht zufällig fällt bei aktuellen Berichten über inzwischen beinahe alltägliche Hochstaplergeschichten immer der Name des »Musters«, der Name Felix Krulls. Aber es gibt, natürlich, noch die zweite Ebene, für die Wenigen, die Kenner des Werkes. Die schöne Welt ruht nämlich auf einem ganz ausgeklügelten philosophischen, naturwissenschaftlichen und künstlerischen Fundament. Beiden Aspekten wurde in der Ausstellung Raum gegeben. Autobiografie, Narzissmus, Hochstapelei, Sexualität, Mythologie, Kriminalität, Naturwissenschaft, Philosophie (Schopenhauer) und Reisen sind daher Themen und Motive, die in einem ersten Bereich der Ausstellung auf Textstelen erläutert wurden. Die von Thomas Mann genutzten Materialien wurden auf dreifache Art hinzugefügt: Grossdrucke zeigten die Vorbilder für die Hauptfiguren des Romans, daneben fanden sich ausgewählte Materialien zu den einzelnen Themen als Faksimile und in Vitrinen waren einige Originalmaterialien Thomas Manns aus dem Archiv in Zürich ausgestellt. Sessel und Sofas luden zum Lesen ein, über Hörstationen konnte man Thomas Mann Szenen aus Felix Krull lesen hören. In einem zweiten Bereich der Ausstellung wurde das Arbeitszimmer Thomas Manns nachgebildet, seine Leuchter und sein Bücherschrank aus Lübeck fanden sich dort. Hier konnten die Besucher an einem Schreibtisch und in einer Sitzecke in den Materialien blättern, die Thomas Mann für die nicht gedruckten späteren Teile des Romans gesammelt hatte, und auf diese Weise vielleicht eine Vorstellung davon entwickeln, wie die Geschichte hätte weitergehen können. Die drei Romane, die den Krull tatsächlich in die Gegenwart fortgeführt haben, mochten dabei eine Hilfe sein. Schließlich wurde anhand von zwei ausgewählten Romanstellen ein Blick in Thomas Manns »Werkstatt« ermöglicht: Von den Materialien und seinen Notizen über das Manuskript bis hin zur fertigen Romanseite konnte dem Autor beim Verfertigen seiner Kunst über die Schulter geschaut werden.

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Abb. 1: Ausstellung »Felix Krull – Szenen einer schönen Welt« (2004).

In einem dritten Bereich schließlich, einem Kino, waren Ausschnitte aus den beiden Verfilmungen zu sehen. Dass dieses Prinzip, die Gestaltung stets konsequent aus dem Thema der Ausstellung zu entwickeln, zu ganz unterschiedlichen gestalterischen Annäherungen und Umsetzungen führt, zeigt wiederum die 2011 realisierte Ausstellung »Liebe ohne Glauben. Thomas Mann und Richard Wagner«, die hier als weiteres Beispiel dienen soll. Zwei hauptsächliche Rezeptionsweisen lassen sich im Zusammenhang mit Wagner unterscheiden: Zum einen die »Kerndeutsche«, um einen Begriff Thomas Manns aus dem Doktor Faustus zu gebrauchen, die Wagner als einen Vertreter des »deutschen Wesens« darstellt, der die Tiefe, das Unpolitische, das Echte, das Anti-Westliche, das Klare und Ehrliche des Deutschen in seiner Kunst zum Ausdruck bringt. Zum anderen die Europäische, die das Gebrochene, das Artistische, das Dekadente, das Widersprüchliche in seiner Person und seiner Kunst er-

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kennt. Es waren Franzosen wie der Lyriker Charles Baudelaire, die diese Lesart begründet und dann verbreitet haben. Spannend und repräsentativ für die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts wird das Verhältnis Thomas Manns zu Richard Wagner nun dadurch, dass wir es bei Thomas Mann mit einem Künstler par excellence zu tun haben, dem – wie Wagner – auch das Zweideutige zum Prinzip geworden ist. Natürlich schätzt Thomas Mann vor allem den »europäischen« Wagner, was aber nicht heißt, dass er nicht auch die »deutschen« Züge seiner Kunst mit großem Gewinn studiert und ernst nimmt. Thomas Manns Wagner-Rezeption hat, bedingt durch die Zeitläufe, stets geschwankt. Auch das muss deutlich gesagt werden: Wirkungsgeschichte findet nie im luftleeren, nur mit ästhetischen Kriterien gefüllten Raum statt, sondern stets in einer realen Welt mit einem konkreten historischen Umfeld. Schaut man sich die Wirkung Wagners auf Thomas Mann an, so wird deutlich: In diesem Fall war dieses Umfeld sehr komplex. Es wurde daher in der Ausstellung des Buddenbrookhauses nicht nur am Rande als Kontext thematisiert, vielmehr wurde anhand der Darstellung des Verhältnisses Thomas Manns zu Richard Wagner auch die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts auf eine ganz eigene Art und Weise mit erzählt. Da ist am Anfang der junge Thomas Mann, der als kleiner Junge in den 80er und 90er Jahren des 19. Jahrhunderts mit der Mutter erstmals im Lübecker Theater Wagner, den Lohengrin, erleben darf, und daraufhin diesem Künstler verfällt; der davon träumt, einmal im Festspielhaus in Bayreuth eine Wagner-Aufführung erleben zu dürfen. Und da ist am Ende der ältere Thomas Mann, der nach 1945 sogar gefragt wird, ob er Präsident eines neuen Bayreuths auf dem Grünen Hügel werden will. Dazwischen liegt eine wechselvolle, ereignisreiche Geschichte. Im Sinne des Ausstellungstitels kann man für Thomas Manns Verhältnis zu Wagner in dieser Zeit festhalten, dass die Liebe zu Wagner all die Jahre erhalten bleibt, der Glaube aber zeitweise gänzlich verloren geht. Dafür hat nicht zuletzt ein Dritter gesorgt, den man eigentlich nicht unmittelbar mit den beiden anderen in Verbindung bringt und mit dem auch Thomas Mann zu Beginn seiner Wagner-Begeisterung nicht gerechnet hat. Es ist Adolf Hitler, der ebenfalls ein glühender Anhänger Richard Wagners war und zentrale Repräsentationsmechanismen seines Führerstaates – und diese Behauptung stellt keine Übertreibung dar – nach Wagner herausgebildet hat. Thomas Mann war sich dessen bewusst. Und er hat auch eine Ant-

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wort auf dieses Skandalon gegeben. »Wenn zweien dasselbe gefällt und einer davon ist minderwertig – ist es dann auch der Gegenstand?«8, so fragte er sich und kam zu dem Schluss: Er ist es nicht. Doch damit ist das Problem nicht gelöst. Der Fall ist zu kompliziert, als dass er sich so leicht erklären und beiseite schieben ließe. Die Ausstellung berichtete auch darüber und versuchte deutlich zu machen, dass es hier um mehr geht als um das Zusammensehen von zwei großen Künstlerfiguren. Sie hatte den Anspruch, im Medium einer Literaturausstellung eine ganz spezifische Innensicht der deutschen Geschichte zwischen 1890 und 1955 zu geben. Dafür wurde eine sehr strenge und eher wissenschaftliche Gestaltung gewählt. In Vitrinen wurden die einschlägigen Dokumente und Manuskripte von Thomas Mann und Richard Wagner gezeigt. Besonders wichtig waren hier die Dokumente, Bücher, Partituren und Originalexponate aus dem Richard Wagner Museum in Bayreuth, das als Kooperationspartner der Ausstellung diese Exponate erstmals außerhalb von Bayreuth zeigte. Diese Originale waren für die strenge, auf die Aura der großen Einzelstücke setzende Gestaltung unverzichtbar – insbesondere auch vor dem Hintergrund des hochkomplexen Themas, bei dem eine falsche und einseitige Beleuchtung schnell zu einer die Problematik verfehlenden Einseitigkeit führt. Auch für das Günter Grass-Haus seien einige Beispiele für das Ausstellen eines »starken« Autors gegeben. Im Sommer 2008 zeigte das Haus die Ausstellung »Ein Bürger für Brandt. Der politische Grass«. Die Eröffnung des Willy-Brandt-Hauses in Lübeck im Dezember 2007, das über einen gemeinsamen Museumsgarten unmittelbar mit dem Günter Grass-Haus verbunden ist, bildete den Anlass, eine Ausstellung über die Beziehung der beiden herausragenden Persönlichkeiten zu präsentieren. Günter Grass engagiert sich wie kein zweiter deutscher Schriftsteller für die Belange und Rechte von Minderheiten, für soziale Gerechtigkeit und Demokratie. Seine Einwürfe und Mahnungen finden weit über die deutschen Grenzen hinweg Beachtung. Fragt man nach der Wurzel seines intensiven bürgerschaftlichen Engagements, fällt unwillkürlich der Name des großen Lübeckers Willy Brandt. Kurz nach dem Mauerbau 1961 lernte Grass seinen späteren politischen Mentor in Berlin kennen. Der bis zu diesem Zeitpunkt auf politischem Gebiet eher zurückhaltende Künstler Grass ent-

8

Thomas Mann: »Zu Wagners Verteidigung«, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 13: Nachträge, Frankfurt/Main: Fischer 1990, S. 351-359, hier S. 352.

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wickelte in der Folgezeit einen für deutsche Schriftsteller ungewöhnlich hohen persönlichen Einsatz für Willy Brandt und dessen Partei. Er reiste in einem VW-Bus quer durch die Bundesrepublik und hielt in vielen Regionen Wahlkampfreden. Seinem Engagement sind zahlreiche prominent besetzte sozialdemokratische Wählerinitiativen zu verdanken. Darüber hinaus entwarf Grass Reden für Willy Brandt und gestaltete eigene Plakate. Neben Grass’ unmittelbarem politischen Engagement widmete sich die Sonderausstellung der politischen Sozialisation von Günter Grass und dessen politischer Weltsicht, die von Willy Brandt maßgeblich beeinflusst wurde. Das Engagement der beiden für die Entwicklungsländer fand ebenso Berücksichtigung wie die kontroverse Debatte um die Deutsche Wiedervereinigung. Es waren ferner Zeitzeugeninterviews etwa mit Klaus Staeck, Arnulf Baring, und Hartmut von Hentig zu sehen.

Abb. 2: Ausstellung »Ein Bürger für Brandt. Der politische Grass« (2008).

Die Ausstellungseröffnung und das Begleitprogramm waren Beispiele für die bereits erwähnten Möglichkeiten, die eine Einbeziehung von Günter Grass in die Ausstellungsarbeit bietet. So gab es ein Podiumsgespräch zwischen Siegfried Lenz und Günter Grass über ihr politisches Engagement sowie eine Diskussion mit Joschka Fischer und Günter Grass, moderiert von Ulrich Wickert.

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Die Ausstellung selbst nahm die Idee des politischen Engagements dergestalt auf, dass sie mit Plakaten und anderen Medien das Thema eines gleichsam ewigen Wahlkampfes, eines ewigen Einmischens in die öffentlichen Angelegenheiten zum Ausdruck brachte. Auch hier wieder das Credo: Die Gestaltung ist die sinnlich erfahrbare Umsetzung zentraler Inhalte. Ein zweites Beispiel ist die Ausstellung »Ein Buch schreibt Geschichte. 50 Jahre Die Blechtrommel«. Die Blechtrommel hat 1959 bei ihrem Erscheinen für Furore gesorgt. Dieses Erzählen, das sich das Recht nahm, vor jeder Festlegung einen ästhetischen Ausweg zu nehmen, verstörte auch die Literaturkritik, weil es innerhalb der festen ideologischen Standorte der fünfziger und sechziger Jahre eine irritierende Unruhe schaffte. Hans Magnus Enzensberger hat sehr treffend den erzählerischen Grundgestus der Blechtrommel beschrieben, der zu dieser Verstörung geführt hat: Dieser Autor greift nichts an, beweist nichts, demonstriert nichts, er hat keine andere Absicht, als seine Geschichte mit der größten Genauigkeit zu erzählen. Diese Absicht setzt er freilich um jeden Preis und ohne die geringste Rücksicht durch. Der Skandal, der darin liegt, ist letzten Endes an keinen Stoff gebunden: er ist der Skandal der realistischen Erzählweise überhaupt.9

Fünfzig Jahre später war dieses Buch kein Skandal mehr, sondern hat seinen Platz in der Literaturgeschichte gefunden. Eine Ausstellung über die Blechtrommel musste daher historisierend vorgehen. So zeigte das Günter Grass-Haus dann auch die Entstehung des Werkes, wies hin auf die wesentlichen Figuren und auch die Wirkung, nicht zuletzt mit dem oscarprämierten Film von Volker Schlöndorff. Dabei wurde sehr stark auf zahlreiche und teilweise noch nicht gezeigte Dokumente aus eigenen Beständen, aus denen der Akademie der Künste, des Literaturarchivs Sulzbach Rosenberg und des Filmmuseums Düsseldorf gesetzt. Damit entstand aber eine Gefahr. Der literaturwissenschaftliche Rückblick durfte nicht dazu führen, dass das Buch als eine Art literarisches Stillleben gezeigt wurde. Das Anarchistische seiner anfänglichen Wirkungsgeschichte durfte nicht zugedeckt werden. Das Verstörende, Maßlose und auch heute

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Hans Magnus Enzensberger: »Wilhelm Meister, auf Blech getrommelt«, in: Volker Neuhaus/Daniela Hermes (Hg.), Die ›Danziger Trilogie‹ von Günter Grass: Texte, Daten, Bilder, Frankfurt/Main: Luchterhand 1991, S. 117.

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noch nicht restlos Erklärbare dieses frühen Geniestreiches musste in einer Gesamtschau 50 Jahre nach dem Erscheinen ebenfalls deutlich werden. Dies versuchte die Ausstellung auch durch ihre spezifische Gestaltungsform zu vermitteln, die aus der Sicht des Romans heraus entwickelt worden war. Die Schauplätze und Inspirationsorte des Romans – Danzig mit dem Kolonialwarenladen, in dem der kleine Oskar Matzerath aufwächst und dann das Wachsen einstellt, Düsseldorf und Paris – bildeten die wichtigsten Schwerpunkte der Ausstellung.

4. Wie sieht nun die Zukunft dieser beiden Ausstellungsorte aus? Das Günter Grass-Haus hat 2012 anlässlich seines zehnjährigen Bestehens und Grass’ 85. Geburtstag seine Dauerausstellung komplett neu konzipiert und gestaltet und am 14. Oktober 2012 mit einer großen Veranstaltung eröffnet. Das Buddenbrookhaus hat seit Mitte 2011 eine neue Perspektive gewonnen: Das Nachbarhaus in der Mengstraße 6 konnte mithilfe von Fördermitteln der Bundesregierung für die Hansestadt Lübeck angekauft werden und ermöglicht die notwendige Erweiterung und Neukonzeption des Literaturmuseums in den kommenden Jahren. Beide Häuser stehen somit, gemeinsam mit ihren starken Autoren, vor entscheidenden Weichenstellungen für ihre Zukunft, die in einer Zeit getroffen, finanziert und umgesetzt werden müssen, in der der Wandel des literarischen Lebens eine ungeahnte Geschwindigkeit erreicht hat. Diese Herausforderung muss angenommen, analysiert und schließlich produktiv gemacht werden. Einige Bemerkungen hierzu sollen diese Ausführungen abschließen: Wer heute eine neue Literaturausstellung konzipiert, insbesondere eine Dauerausstellung, der sieht sich vor eine gewaltige Aufgabe gestellt. Alle Indikatoren des Buchmarktes deuten darauf hin, dass wir vor einem ähnlich großen und einschneidenden Umbruch stehen wie zu Gutenbergs Zeiten, als die Handschrift durch den Buchdruck abgelöst wurde. Das digitale Lesen, das Konsumieren von Texten auch und gerade aus dem literarischen Bereich auf dem Computer und auf Lesegeräten, nimmt immer mehr zu. Man braucht kein Prophet zu sein, um die Prognose zu wagen, dass unser Le-

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severhalten in fünf Jahren ein grundsätzlich anderes sein wird. Wir werden weiterhin lesen, aber das Buch wird beileibe nicht mehr das einzige, wahrscheinlich auch nicht mehr das wichtigste Textmedium sein. Wir leben, mit einem Wort, in einer Zeit des Umbruchs. Für die Macher von Literaturausstellungen ist dies Segen und Fluch zugleich. Zum einen gilt, dass sie den Umbruch aktiv mitgestalten, an einer entscheidenden Wegmarke der Veränderung der Lesekultur aktiv beteiligt sein können. Zum anderen ist es in Umbruchszeiten extrem schwierig, einen festen Kurs zu halten, sich auf Orientierung gebende Konventionen berufen zu können, die das Publikum und die Ausstellungsmacher in einen festen und nachvollziehbaren Kontakt bringen. Das Buddenbrookhaus und das Günter Grass-Haus müssen sich dieser Aufgabe mit Mut und mit strategischer Konsequenz stellen. Die zentrale Frage für beide Häuser lautet aktuell: Wie schafft man es auf eine intelligente Art und Weise, das digitale Lesen, das prinzipiell auf Ortsunabhängigkeit angelegt ist, das von dem Ideal lebt, alle Texte überall auf der Welt mittels eines einzigen Gerätes zur Verfügung zu stellen, mit dem auratischen Ort, dem Dichterhaus, das so nur einmal in der Welt existiert, in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen? Um es konkret zu formulieren: Wie geht etwa im Buddenbrookhaus der »begehbare Roman«, jener singuläre Ort, der durch die Literatur von der »Mengstrasse 4« zum »Buddenbrookhaus« transformiert worden ist, ohne dass die Realität damit ihre Bedeutung gänzlich verloren hätte, wie gehen urbaner Ort und digitale Ortlosigkeit eine sinnvolle, produktive und für den Besucher interessante Beziehung ein? Eine simple Rekonstruktion des im 19. Jahrhundert Vorhandenen – auf der Grundlage der erhaltenen Planungsunterlagen und der literarischen Beschreibungen Thomas Manns durchaus machbar – ist keine Lösung. Hier würden nicht nur die Geschichte des Ortes, die Brüche, Veränderungen und Zerstörungen vollständig ausgeblendet, sondern zugleich die Möglichkeiten des digitalen Zeitalters im literarischen Museum vorschnell vergeben. Das Buddenbrookhaus als altehrwürdige Hülle für eine mit modernsten Medien arbeitende Ausstellungswelt ist auch keine Alternative. Der Einsatz von Technik ist an vielen Stellen sinnvoll – nicht nur bei Verfilmungen und digitalisierten Quellenbeständen –, doch besteht hier die Gefahr, dass dies nicht notwendigerweise an den Ort gebunden respektive mit ihm verbunden

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ist und die Besucher vieles als ein zufälliges Nebeneinander erfahren, das genauso gut am heimischen Computer recherchiert werden könnte. Diese Problemlage muss in den kommenden Jahren im wissenschaftlichen Diskurs analysiert werden und dann in ein neues Ausstellungskonzept münden – ganz im Sinne jenes wunderbaren Satzes von Raymond Chandler: »So you have to go where they can’t follow you«. 10 Man muss dorthin gehen, wohin sie einem nicht folgen können; man muss mithin etwas ganz Neues wagen, muss mutig sein, ohne die Besucher zu verlieren.

L ITERATUR Werkausgaben der Autoren Grass, Günter: Werkausgabe in 16 Bänden und 23 CDs mit einer Lesung von Günter Grass: Die Blechtrommel, hg. von Volker Neuhaus und Daniela Hermes, Göttingen, Steidl 1997ff. Mann, Thomas: Essays, Bd. 1-6, hg. von Hermann Kurzke und Stephan Stachorski, Frankfurt/Main: S. Fischer 1993-1997. Mann, Thomas: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Frankfurt/Main: S. Fischer 21974. Mann, Thomas: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher, hg. von Heinirch Detering et al. in Zusammenarbeit mit dem Thomas-Mann-Archiv der ETH Zürich, Frankfurt/Main: S. Fischer 2002 ff. Wysling, Hans (Hg), Thomas Mann, Selbstkommentare Königliche Hoheit, Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull, Frankfurt/Main: S. Fischer Verlag 1989.

10 Brief von Raymond Chandler an Bernice Baumgarten vom 14. Mai 1952, in: Tom Hiney/Frank MacShane (Hg.), The Raymond Chandler Papers: Selected letters and Nonfiction 1909-1959, New York: Grove Press 2002, S. 181.

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Literatur zum Buddenbrookhaus und zum Günter Grass-Haus Artinger, Kai/Wißkirchen, Hans (Hg.), Wortbilder und Wechselspiele. Das Günter Grass-Haus. Forum für Literatur und bildende Kunst, Göttingen: Steidl 2002. Dittmann, Britta/Wißkirchen, Hans (Hg.), Das Buddenbrookhaus, Lübeck: Schmidt Römhild 2008. Eickhölter, Manfred: Fünf Jahre Heinrich-und-Thomas-Mann-Zentrum im Buddenbrookhaus: 1993-1998. Stationen – Ereignisse – Dokumente. Katalog zur Sonderausstellung vom 6.5.-28.6.1998, Lübeck 1998. Eickhölter, Manfred: Senator Heinrich Mann und Thomas Buddenbrook als Lübecker Kaufleute. Heftrich, Eckhard/Schneider, Peter Paul/Wißkirchen, Hans (Hg.), Heinrich und Thomas Mann. Ihr Leben in Text und Bild. Katalog zur ständigen Ausstellung im Buddenbrookhaus der Hansestadt Lübeck, Lübeck: Dräger 1994. Historische Quellen und literarische Gestaltung, in: Buddenbrooks. Neue Blicke in ein altes Buch, hg. von Manfred Eickhölter und Hans Wißkirchen, Lübeck: Dräger 2000. Kommer, Björn, R.: Das Buddenbrookhaus in Lübeck. Geschichte, Bewohner, Bedeutung (=Hefte zu Kultur und Kulturgeschichte der Hansestadt Lübeck; Bd. 6), Lübeck: Coleman 1993. Wißkirchen, Hans: Das Buddenbrookhaus. Perspektiven für einen symbolischen Ort, in: Der Wagen, Lübeck 1992, S. 38-43. Wißkirchen, Hans: Fünf Jahre Buddenbrookhaus oder: Was taugt ein Literaturmuseum am Ende des Jahrtausends?, in: Manfred Eickhölter (Hg.), Fünf Jahre Heinrich-und-Thomas-Mann-Zentrum im Buddenbrookhaus (= Das Buddenbrookhaus – Ausstellungen – Archivalien – Vorträge, Bd. 1), Lübeck 1998, S. 18-28. Wißkirchen, Hans: Die Welt der Buddenbrooks, Frankfurt/Main: Fischer 2008. Wißkirchen, Hans (Hg.), Das Buddenbrookhaus, mit Fotos von Thomas Radbruch und Texten von Hans Wißkirchen, Hamburg: Die Hanse 2001.

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Wißkirchen, Hans (Hg.), Die Vorträge des 1. Internationalen Günter GrassKolloquiumsim Rathaus zu Lübeck, Lübeck: Kulturstiftung Hansestadt Lübeck 2002.

Ausstellungskataloge Die Manns – eine Schriftstellerfamilie. Katalogheft zur ständigen Ausstellung im Buddenbrookhaus, Lübeck: Heinrich-und-Thomas-Mann-Zentrum, Buddenbrookhaus 2000. Die Buddenbrooks – ein Jahrhundertroman. Katalogheft zur ständigen Ausstellung im Buddenbrookhaus. Lübeck: Heinrich-und-Thomas-MannZentrum, Buddenbrookhaus 2000. Ermisch, Maren (Hg.), Szenen einer schönen Welt. 50 Jahre Thomas Manns Felix Krull. Dokumentenmappe einer Sommerausstellung, Lübeck: Kulturstiftung Hansestadt Lübeck 2004. Pils, Holger/Ulrich, Christa (Hg.), Liebe ohne Glauben. Thomas Mann und Richard Wagner, Göttingen: Wallstein 2011. Thomsa, Jörg-Philipp (Hg.), Ein Buch schreibt Geschichte. 50 Jahre ›Die Blechtrommel‹, Lübeck: Günter Grass-Haus 2009. Thomsa, Jörg-Philipp/Wiech, Stefanie (Hg.), Ein Bürger für Brandt. Der politische Grass, Lübeck: Günter Grass-Haus 2008. Wißkirchen, Hans (Hg.), »Mein Kopf und die Beine von Marlene Dietrich«. Heinrich Manns ›Professor Unrat‹ und ›Der blaue Engel‹. Zur Ausstellung im Buddenbrookhaus der Hansestadt Lübeck, Lübeck: Dräger 1996. Wißkirchen, Hans/Sprecher, Thomas (Hg.), »Und was werden die Deutschen sagen?«. Thomas Manns Roman ›Doktor Faustus‹, Lübeck: Dräger 1998.

Literatur zu Literaturausstellungen Wißkirchen, Hans: »Auf dem Weg zum ›begehbaren Roman‹. Sieben Thesen über die Möglichkeiten und Probleme einer Literaturausstellung am Beispiel des Buddenbrookhauses in Lübeck«, in: Dichterhäuser im Wandel. Wie sehen Literaturmuseen und Literaturausstellungen der Zu-

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kunft aus?, hg. von Christiane Kussin im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft Literarischer Gesellschaften und Gedenkstätten, Berlin 2001, S. 64-79. Wißkirchen, Hans: »Das Günter Grass Haus in Lübeck 2002-2007, in: Günter Grass. Literatur – Kunst – Politik. Dokumentation der internationalen Konferenz 4.-6.10.2007 in Danzig«, hg. von Marion Brandt, Marek Jaroszewski, Miroslaw Ossowski, Danzig: Universitätsverlag 2008, S. 241-251. Wißkirchen, Hans: »Das Literaturmuseum – Mehr als ein Ort für tote Dichter«, in: Literaturarchive und Literaturmuseen der Zukunft. Bestandsaufnahme und Perspektiven. Loccum 1999 (= Loccumer Protokolle 18/99), S. 97-108. Wißkirchen, Hans: »Der schwierige Anfang. Das ›Drehbuch‹ als wissenschaftliche Grundlage von Literaturaustellungen«, in:,Christiane Kussin (Hg.), Zwischen Reliquienkult und Reizüberflutung. Möglichkeiten der Konzeption und Gestaltung von Literaturausstellungen, Berlin: ALG 2002, S. 46-63. Wißkirchen, Hans (Hg.), Dichter und ihre Häuser. Die Zukunft der Vergangenheit, Lübeck: Schmidt-Römhild 2002. Wißkirchen, Hans: »Ein Buch, eine Debatte und ein Haus – Mehr als eine Einleitung«, in: Von der Arbeit an der Erinnerung. Zu Günter Grass Beim Häuten der Zwiebel, Lübeck: Günter Grass-Haus 2007, S. 3-11. Wißkirchen, Hans: »Lübeck literarisch – einmal anders«, in: Heinrich Meh (Hg.), Typisch Schleswig-Holstein? Merkmale – Meinungen – Missverständnisse, Heide: Boyens & Co. 1997, S. 141-149.

Gasförmig, flüssig und fest Visualisierungsstrategien der Aggregatzustände der Literatur am Beispiel Robert Musil S TEFAN K UTZENBERGER

Die Hof- und Staatsbibliothek München widmete Gottfried Ephraim Lessing 1853, auf die historisch-kritische Ausgabe aus den Jahren 1838-40 verweisend, eine Ausstellung und belegt damit die unmittelbare Verbindung zwischen Editionen, Bibliotheken und Literaturmuseen.1 Während die historisch-kritische Lessing-Ausgabe 57 Jahre nach dessen Tod erschien, musste Robert Musil 10 Jahre länger auf eine kommentierte Gesamtausgabe seines Werks warten: 2009 erschien nach 30jähriger Arbeit in digitaler Form die sogenannte Klagenfurter Ausgabe.2 Zeit also, sich – analog zur Lessing-Ausstellung Mitte des 19. Jahrhunderts – Gedanken zu einer möglichen Ausstellung, oder, zeitgenössischer gesprochen, Visualisierung, dieses unüberblickbaren Datenungetüms zu machen. 1

Vgl.: Julia Danielczyk: »Literatur im Schaufenster. Über die (Un)Möglichkeit Literatur auszustellen«, in: Meri Disoski/Ursula Klingenböck/Stefan Krammer (Hg.), (Ver)Führungen. Räume der Literaturvermittlung, Innsbruck: Studienverlag 2012, S. 31-42.

2

Robert Musil: Klagenfurter Ausgabe. Kommentierte digitale Edition sämtlicher Werke, Briefe und nachgelassener Schriften. Mit Transkriptionen und Faksimiles aller Handschriften. Herausgegeben von Walter Fanta, Klaus Amann und Karl Corino. Klagenfurt: Robert Musil-Institut der Universität Klagenfurt. DVD-Version 2009

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Das Robert Musil Literatur Museum in Klagenfurt präsentierte sich bisher einerseits als memoriales Museum (als Geburtshaus des Autors) und andererseits als Ausstellungsraum mit dem sozialhistorischen Anspruch, Zeit und Leben des Autors anhand zeitgenössischer Dokumente zu visualisieren. Nach der epochalen Leistung der Klagenfurter Ausgabe sollte nun auch die visuelle Vermittlung des literarischen Werks einen Schritt weiter gebracht werden. Einige Gedanken über strukturelle Möglichkeiten dem Werk Robert Musils im Rahmen einer Ausstellung gerecht zu werden, sollen in Folge präsentiert werden.3

D IE K LAGENFURTER A USGABE ALS G RUNDLAGE EINER AUSSTELLUNG Der unbescheidene und sicherlich auch unrealisierbare Anspruch einer Ausstellung, die sich die Sichtbarmachung der Literatur und deren Entstehungsprozesse auf innovative künstlerische Weise zum Ziel gemacht hat, ist Ausgangspunkt der Überlegungen. Durch eine enge und kreative Zusammenarbeit von Künstlern, Wissenschaftlern und Kuratoren soll das Denken Musils selbst visualisiert werden. Das literarische Lebenswerk Robert Musils liegt übersichtlich auf eine DVD-Scheibe gebrannt digital vor. Diese beinhaltet zehntausende eng miteinander verlinkte Seiten und ist wie alle großen Datenbanken in seiner gewaltigen Dimension nur wenigen Experten und Expertinnen zugängig. Eine Visualisierung der darin enthaltenen Informationen könnte Barrieren abzubauen helfen und einen intuitiven und erfrischend neuen Zugang zur Literatur ermöglichen. Da man anhand der verschiedenen Aggregatzustände der Klagenfurter Ausgabe (von Skizzen über Manuskripte bis zum publizierten Buch) Robert Musil nachgerade beim Denken zusehen und seinen literarischen Schaffensprozess nachvollziehen kann, soll dieses faszinierende

3

Die Idee zur Erarbeitung einer radikal neuen Ausstellungsmethode zu Robert Musils Werk stammt von Walter Fanta, der im April 2011 zu einer Klausur ins Robert Musil-Institut nach Klagenfurt einlud, wo neben ihm selbst Andrea Gnam, Alexander Samyi, Joachim Sauter und ich teilnahmen. Bis dato scheiterte eine Umsetzung der seitdem konstant weiterentwickelten Ansätze an der Finanzierung.

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Phänomen zur Kernaufgabe der Visualisierungsversuche werden: Wie entsteht Literatur und wie kann man diesen Schaffensprozess bildlich darstellen?

ARTISTIC R ESEARCH Um das Unterfangen etwas übersichtlicher zu gestalten, soll zunächst der Textkorpus auf das gewaltige Romanfragment Der Mann ohne Eigenschaften4 und dessen Vorstufen reduziert werden, umfasst aber noch immer mehrere tausend Seiten. Das immer aktueller werdende Schlagwort der Artistic Research, der »künstlerischen Forschung«, könnte bei Visualisierungsstrategien eines so komplexen Werks wie den MoE helfen. Unter »Artistic Research« versteht man den Prozess der Entstehung einer künstlerischen Arbeit, wobei man versucht festzuhalten, wie der kreative Prozess eine Fragestellung untersucht und entwickelt. Spätestens seit der Moderne des 20. Jahrhunderts ist ein künstlerisches Werk immer auch Erkenntnismedium. Das Werk materialisiert Wissen. Dieses Faktum kann man deshalb auch aktiv anwenden und gezielt Künstler und Künstlerinnen mit einer wissenschaftlichen Fragestellung konfrontieren, um diese mit Mitteln der Kunst zu klären. In diesem Fall: Wie visualisiert man einen Roman und dessen Genese? Kunst als Ergänzung der Wissenschaft, den Versuch, ein Problem von möglichst vielen Seiten zu betrachten. »Research« also auch im wortwörtlichsten Sinne von re-search: Wieder-Suchen, vielleicht sogar: Wieder-Besuchen. Im konkreten Fall: man lädt Künstler ein, den MoE zu lesen (oder wieder zu lesen) und die darin vorkommenden Ideen nun in ihrem Medium neu aufzuarbeiten, also wieder zu besuchen. Als Bob Dylan den Highway, der durch seinen Heimatort führt, als bereits erfolgreicher, 24jähriger Musiker 1965 nach Jahren in New York wiederaufsucht, sieht er diesen plötzlich mit ganz anderen Augen als in seiner Jugend und nimmt eines der einflussreichsten Musikalben der Pop- und Rockgeschichte auf: Highway 61 Revisited. Genauso sollen durch die »artistic re-search« bislang versteckte und überraschende Erkenntnisse über den von der Literaturwissenschaft bereits gründ-

4

In der Printausgabe: Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Band 1 und Band 2. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1978. In Folge MoE.

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lich untersuchten Roman MoE gewonnen werden. Dies sollte natürlich weit über eine herkömmliche Buchillustration hinausweisen und digitale Medienkunst genauso umfassen, wie bewusst »arme« Materialien verwendende Arbeiten. Werner Hanak-Lettner weist in seinem Buch Die Ausstellung als Drama5 auf ein Projekt Gottfried Wilhelm Leibniz’ hin, dem eine ähnlich vielseitige Herangehensweise an ein Visualisierungsprojekt vorschwebt: Leibniz beschreibt in einem »Drôle de Pensée« aus dem Jahr 1675, wie er sich die Realisierung eines umfassenden »Theaters der Natur und Kunst« vorstellt: Für die Finanzierung sollte ein Fonds gegründet und dann eine inspirierende Mischung aus etablierten und jungen Künstlern gefunden werden. Er möchte höchstens drei permanent angestellte »Erfinder« dabei haben, der Großteil der Mitarbeiter sollte frei und bei Bedarf angestellt werden: Die Personen, die man engagieren würde, sollten Maler, Bildhauer, Zimmerleute, Uhrmacher und andere vergleichbare Berufsvertreter sein. Nach und nach kann man mit der Zeit auch Mathematiker, Ingenieure, Architekten, Trickkünstler, Scharlatane, Musiker, Dichter, Bibliothekare, Schriftsetzer, Stecher und andere hinzunehmen, ohne Hast.6

Leibniz’ ›Gedankenscherz‹ bringt auch das Projekt einer neuen Möglichkeit Robert Musil auszustellen ziemlich genau auf den Punkt. Künstlerinnen und Künstler aus allen Bereichen, national und international, jung und alt, unentdeckt und etabliert, sollen die Grenzen und Möglichkeiten der Visualisierung eines der wichtigsten literarischen Werke des 20. Jahrhunderts kreativ erkunden. Leibniz lud auch »Stecher und Schriftsetzer« ein, um sein groß angelegtes Theaterprojekt dokumentieren zu können, aber auch, um dem kreativen Produktionsprozess beizuwohnen, ihn voranzutreiben und zu ergänzen. Genau diese Funktion sollen in unserem Projekt eingeladene

5

Werner Hanak-Lettner: Die Ausstellung als Drama, Bielefeld: transkript 2011, S. 57-65.

6

Gottfried Wilhelm Leibniz: »Gedankenscherz, eine neue Art von Repräsentationen betreffend«, in: Bredekamp, Horst: Die Fenster der Monade. Gottfried Wilhelm Leibniz’ Theater der Natur und Kunst. Berlin, S. 237. Nach: Werner Hanak-Lettner: Die Ausstellung als Drama, Bielefeld: transcript 2011, S. 62.

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Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen erfüllen. Leibniz zündet ein wahres Feuerwerk an Ideen, was die von ihm zusammengestellte Truppe alles zu leisten im Stande sein wird: Die Darbietungen könnten beispielsweise die Laterna Magica sein (damit könnte man beginnen), sowie Flüge, künstliche Meteoriten, alle Arten optischer Wunder, eine Darstellung des Himmels und der Sterne. Kometen. Ein Globus wie jener in Gottorf oder Jena; Feuerwerke, Wasserspiele, ungewöhnlich geformte Schiffe, Alraunen und andere seltene Pflanzen. Ungewöhnliche und seltene Tiere. Die königliche Manege. Tiergestalten. Der königliche Pferderenn-Automat...7

Genauso bunt, gut aufgelegt und gleichzeitig ernsthaft wie der deutsche Philosoph seine Leistungsschau der Natur und Kunst geplant hat, soll sich die geplante Ausstellung entwickeln.

B EZIEHUNGEN

ZWISCHEN

T EXT

UND

B ILD

Während Literaturwissenschaft und bildende Kunst nur zögerlich beginnen, sich mit der Visualisierung von Literatur zu beschäftigen, steht die Literatur selbst, stehen alle möglichen Formen von Texten seit Beginn des Ausstellungswesens in engem Kontakt mit der bildenden Kunst. Auch wenn Georges Didi-Huberman, wohl nicht ganz unbegründet, bemerkt, dass die Rationalisierung des Bildes durch Sprache das dem Bild Eigentümliche verstellt,8 so ist es doch so, dass die Bildrezeption fast immer über die Sprache läuft, sei sie nun akademisch oder beim privaten Museumsbesuch. »Das Bild sagt mir nichts«, hört man dann. Seitdem es Kunstausstellungen gibt (für das allgemeine Publikum geöffnete Bilderschauen gibt es erst seit dem Ende des 17. Jahrhunderts), antworten Kunstrezipienten mit Worten auf die Aussage eines Bildes. Daraus ist ein fruchtbarer Dialog geworden, der die Kunstproduktion bis in die Gegenwart bestimmt. Die enge Beziehung zwischen Bild und Text erkennt man bei einer Ausstellung auch daran, dass

7

Leibniz: »Gedankenscherz, eine neue Art von Repräsentationen betreffend«, S.

8

Vgl.: Georges Didi-Huberman: Devant l’image. Question posée aux fins d’une

237. histoire de l’art, Paris: Les Éditions de Minuit 1990.

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der Blick des Besuchers, der Besucherin sofort die Bildbeschreibung sucht, genauso wie man in Zeitungen und Magazinen die erläuternde Bildunterschrift einfordert, selbst wenn das abgebildete Foto ohnehin selbsterklärend ist. Da man Ausstellungen normalerweise als räumliche und nicht als zeitliche Konstrukte aufnimmt, möchte man darin die Informationen zur Kunst sofort und nicht erst beispielsweise im Anschluss an den Rundgang geliefert bekommen.9 Eine Ausstellung wäre demnach, laut Lessing, immer Teil der bildenden Kunst: »... die Zeitfolge ist das Gebiete des Dichters, so wie der Raum das Gebiete des Malers.«10 Literatur ist, wir wissen es, Zeitkunst, Gleichzeitiges ist nur hintereinander erzählbar. Eine Ausstellung ist dagegen sowohl Zeit- als auch Raumkunst. Man nimmt einerseits das Präsentierte mit einem Blick auf, sieht gleichzeitig die verschiedenen Informationen, schreitet jedoch andererseits, da jede Ausstellung natürlich immer auch etwas erzählt, durch die Zeit. Während die narrative Struktur literarischer Texte jedoch meist vom Autor vorgegeben wird, ist der Besuch einer Ausstellung eine Co-Produktion von Künstlerinnen, Kuratoren und dem Publikum, denn jeder einzelne Besucher, jede Besucherin kann sich Tempo, Reihenfolge und sogar Plot seiner Erzählung selbst wählen, was in ähnlicher Weise in den literarischen Experimenten der Avantgarde ebenso versucht wurde. Die Ausstellung steht also an der Grenze zwischen Raumund Zeitkunst und kann von beiden Sphären profitieren: Doch, so wie zwei billige freundschaftliche Nachbarn zwar nicht verstatten, daß sich einer in des andern innerstem Reiche ungeziemende Freiheiten herausnehme, wohl aber auf den äußersten Grenzen eine wechselseitige Nachsicht herrschen lassen, welche die kleinen Eingriffe, die der eine in des andern Gerechtsame in der Geschwindigkeit sich durch seine Umstände zu tun genötiget siehet, friedlich von beiden Teilen kompensieret: so auch die Malerei und Poesie.11

Frühe Ausstellungskritiken verweisen oft dezidiert auf Raum und Zeit. Jean Rou beginnt eine Betrachtung beispielsweise bereits vor dem Museum auf der Straße, wobei er mit dem rhetorischen Mittel spielt, dass er sich durch

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Vgl. dazu und im Folgenden: Hanak-Lettner: Die Ausstellung als Drama, S. 28f.

10 Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie, Stuttgart: Philipp Reclam jun. 1990, Kap. XVIII, S. 129. 11 Ebd.

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den chaotischen Verkehr der Stadt kämpfen musste, um schließlich durch das Eintreten in das Ausstellungsgebäude in die verzaubernde Welt des Salons hinüber gleiten zu dürfen: I found myself unexpectedly in the midst of a confusion of traffic involving a number of carriages blocking the entire entrance to the vast rue de Richelieu. [...] Words could not express what an agreeable spectacle this was for me to see all at one time a prodigious quantity of every kind of work in all the diverse aspects of painting...12

Genau diese Bewegung vollführt auch Robert Musil am berühmten Anfang des MoE: Nach einem Menschenauflauf bei einem Autounfall lenkt er uns in die Welt des Salons, in welcher es gleichzeitig alle möglichen Weltanschauungen zu erfahren gibt, so wie auch Jean Rou »all at one time« sehen konnte. Mit dieser Gleichzeitigkeit von Gegensätzen erfüllt Robert Musil einerseits eine der Definitionen der Moderne, verlässt aber andererseits die Zeitenfolge und damit das »Gebiet des Dichters«. Er begibt sich in den Raum des Malers und schreitet durch seinen Roman – wie im Besuch einer Ausstellung – zwischen Gleichzeitigkeit und Narration wechselnd. Diesen Raum betritt er tatsächlich auch visuell denkend, wie die textimmanenten Visualisierungsstrategien Musils zeigen. Diese gilt es für eine geplante Schau zu seinem Werk herauszuarbeiten und schließlich zu realisieren, möchte man die anspruchsvolle und unlösbare Aufgabe annehmen, ein literarisches Werk tatsächlich in einem Museum zu visualisieren und nicht bloß Devotionalien eines Autors auszustellen.

P ARALLELAKTION

UND

P ARALLELAUSSTELLUNG

Im Roman MoE soll das siebzigjährige Thronjubiläum von Kaiser Franz Joseph im Jahr 1918 mit einem großen symbolischen Akt gefeiert werden. Da im gleichen Jahr auch der deutsche Kaiser Wilhelm II. sein dreißigstes Regierungsjahr vollendet, nennt sich der Vorbereitungskreis „Parallelak-

12 Francis Washington (Hg.), Mémoires inédits et opuscules de Jean Rou (1638– 1711), Band II, Paris, La Haye 1857, S. 19. Nach: Hanak-Lettner: Die Ausstellung als Drama, S. 41f.

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tion“. Es erweist sich die Bewältigung der Aufgabe, die sich dieser Kreis gestellt hat, jedoch als unmöglich, denn in einer Zeit, in der sich jeder nur in seinem eigenen Lebensbereich spezialisiert, lässt sich keine umfassende Idee mehr finden, mit der sich alle identifizieren könnten. Dieses Aufsplittern der Welt in verschiedene Wahrheiten findet sich im Konzept des Möglichkeitssinns wieder: »So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebenso gut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist«.13 Diese Kernüberlegungen im Werk Musils bilden den Ausgangspunkt einer »Parallelausstellung«14. Die Visualisierung von Literatur beginnt beim Gedanken, der Skizze und geht über das Manuskript bis zum gedruckten Wort (was in etwa einem gasförmigen, flüssigen und festen Aggregatzustand von Literatur entspricht), wobei der nur angedeutete, mögliche Gedanke einer frühen Notiz genauso ernst genommen wird, wie das fertige, publizierte Werk. Dieser kreative Prozess der Entstehung von Literatur soll künstlerisch bewältigt und visualisiert werden, wobei die künstlerische produktive Rezeption selbst natürlich genauso diese Stadien durchlaufen muss. Thema der Ausstellung ist demnach die Visualisierung von Denken und Schreiben selbst.

D ER

DREISTUFIGE

Z USTAND DER AUSSTELLUNG

Dem gesamten Konzept liegt eine dreiteilige Struktur zu Grunde, nämlich der 1. gasförmige, 2. flüssige und 3. feste Zustand einer Idee: der Literatur. Anhand der digitalen Klagenfurter Ausgabe der Werke Musils sind diese Aggregatzustände bereits erstmals visualisiert worden: (1.) Die Idee in Form von Faksimile (und Transkription) der ersten tastenden Formulierungsversuche Musils in den Skizzen und Notizen; (2.) die erste Version der Werke in Form eines Manuskripts, das jedoch noch nicht fest ist und noch viele Male umgearbeitet werden kann, bis es schließlich zum (3.) publizierten Text wird.

13 MoE, S. 20. 14 Dieser Begriff wurde von Alexander Samyi im Rahmen der Klausur im Robert Musil-Institut in Klagenfurt geprägt.

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Dieses faszinierende Entstehen von Literatur kann man durch genaues Studium der verschiedenen Stadien in der Klagenfurter Ausgabe hautnah nacherleben, was jedoch einer sehr intensiven und zeitaufwändigen wissenschaftlichen Arbeit bedarf. Mit Hilfe verschiedener künstlerischer Visualisierungsmodelle kann dieser Schaffensprozess nun intuitiv nachvollzogen und im Raum verortet werden. Aus dem unendlich vernetzten Fundus von »Musils Gehirn«, der Klagenfurter Ausgabe, sollen sich kreisend die besten Visualisierungsmethoden herauskristallisieren. Die künstlerischen Beiträge selbst werden deshalb ebenfalls, je nach Ausarbeitungsstadium, in verschiedenen Stufen präsentiert: als (1.) Idee, als (2.) Konzept im Sinne von Konzeptkunst bis zum tatsächlich (3.) realisierten Ausstellungsobjekt (inklusive bereits existierender Kunstwerke zum Thema). Dem Projekt »Parallelausstellungen« liegt eine ausstellungsgenerierende Methode zu Grunde. Die eigens für dieses Projekt erarbeiteten Kunstwerke ergeben die verschiedenen Möglichkeiten einer Ausstellung zum Werk Robert Musils. Diese möglichen Parallelausstellungen werden wiederum selbst zu Kunstwerken und im Rahmen der jeweils realisierten Ausstellung in drei Phasen präsentiert: als (1.) Ideen, als (2.) Konzepte und als (3.) die gerade besuchte Ausstellung, wodurch die Ausstellung selbst zum Ausstellungsobjekt und zum Thema der Ausstellung wird (wie eine Mise en abyme in der Erzähltheorie). So wie die verschiedenen Protagonistinnen und Protagonisten im MoE ihre jeweiligen Ideen zu einer Visualisierung der Parallelaktion vorstellen und orthodox an ihre Wahrheit und deren Realisation glauben, sollen in der Ausstellung ebenso zahlreiche Visualisierungsmöglichkeiten des Musilschen Universums in unterschiedlichen Ausstellungsversuchen dargestellt werden. Eigens dafür geschaffene Originalkunstwerke wechseln sich mit Konzepten, historischen Werken, Manuskriptseiten und klassischen Visualisierungen wie Filmen und Buchillustrationen ab. Verschiedene Einheiten der Ausstellung führen in die jeweiligen Ausstellungsmöglichkeiten ein und zeigen, was eins der Hauptcharakteristika der Moderne schlechthin ist: es gibt keine Wahrheit, sondern nur Wahrheiten.

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V ERSCHIEDENE W AHRHEITEN Robert Musil spricht schon in einer Tagebuchnotiz vom 20. Februar 1902 über den Zerfall des einheitlichen Weltbilds des bürgerlichen Liberalismus: »Es giebt Wahrheiten aber keine Wahrheit. Ich kann ganz gut zwei einander völlig entgegengesetzte Dinge behaupten und in beiden Fällen Recht haben.«15 Statt einer gültigen Wahrheit bringt das neue Jahrhundert nun eine Welt, in der sich nach und nach das Weltbild durchsetzt, dass es eben kein allgemein gültiges Weltbild mehr geben kann. Ein Zustand, der auch in der bildenden Kunst beobachtet werden kann, besser gesagt, in ihrer Rezeption. Als Gustav Klimt im Jahr 1900 in der Wiener Secession seine für die Universität Wien geschaffenen »Fakultätsbilder«16 präsentiert, kommt es zu einem Skandal (Abb.1). Wie ein Kritiker der Montags-Zeitung polemisch bemerkt, muss ja der Versuch, verschiedene philosophische Systeme gleichzeitig zu denken, in den Wahnsinn führen: Nur so nebenbei möchten wir noch bemerken [...], daß Derjenige, welcher die verschiedenen Systeme auch nur der deutschen Philosophen gründlich studirt, in einen Zustand gelinden Wahnsinnes gerathen muß, doch nichts Herrn Klimt gezwungen hat, uns nun auch einen gemalten Wahnsinn zu versetzen. 17

15 Robert Musil: Tagebücher. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1983, S. 12. 16 Robert Musil sah Klimts großformatige Bilder der »Philosophie«, »Medizin« und »Jurisprudenz« am 22. Februar 1907 in der Berliner Galerie Keller und Reiner. Die Bilder verbrannten am 8. Mai 1945 auf Schloss Immendorf/NÖ. Vgl.: Stefan Kutzenberger: »Because that’s pathological! Manifestations of Madness in 1900 Vienna in the works of Klimt and Musil«, in: Rebecca Thomas (Hg.), Crime and Madness in Modern Austria: Myth, Metaphor and Cultural Realities, Cambridge: Cambridge Scholars Press 2008, S. 42-76. 17 Montags-Zeitung, Wien, 19.3.1900, zitiert nach: Hermann Bahr: Gegen Klimt. Wien: J. Eisenstein & Co 1903, S. 19.

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Abb. 1: Gustav Klimt: Philosophie (1945 auf Schloss Immendorf, Niederösterreich, verbrannt).

Es wird also auch der bildenden Kunst hier nicht zugestanden, als Raumkunst auf die Zeitenfolge verzichten zu können. Der Verzicht auf eine absolute Wahrheit, gepaart mit dem Versuch, verschiedene, sich widersprechende Wahrheiten gleichzeitig in einem »totalen Bild« zu vereinen, ist demzufolge nichts anderes als die Darstellung von Wahnsinn. Während Nietzsche in Weimar in geistiger Umnachtung im Sterben liegt (er stirbt am 25. August 1900), wird hier auf ganz andere Weise Philosophie und Wahnsinn zusammengedacht. Doch es gibt auch positive Stimmen: Ludwig Hevesi etwa, ein zeitgenössischer Kunstkritiker und Freund Klimts, beschreibt die

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Philosophie »als ewig fließendes, ununterbrochen zu Formen gerinnendes und wieder zerrinnendes Leben.«18 Nichts Geringeres als dies in einer Ausstellung darzustellen, würde eine Visualisierung des MoE verlangen. Der Anspruch der klassischen Moderne, die Welt als Gesamtheit darzustellen, koinzidiert auffällig mit der Theorie der »novela total« des peruanischen Autors Mario Vargas Llosa. Dieser entwickelt den Begriff des »totalen Romans« anhand einer Analyse des katalanischen Ritterromans »Tirant lo Blanc« von Joanot Martorell aus dem Jahr 1490, von dem Vargas Llosa behauptet: Der Wirklichkeitsbegriff der alten Ritterbuchautoren umschließt mit einem einzigen Blick mehrere Kategorien menschlichen Seins, und in diesem Sinne ist ihre Vorstellung vom literarischen Realismus weiter, umfassender als diejenige späterer Autoren.19

Die Qualität des Werkes entsteht also aus der gleichzeitigen und gleichberechtigten Gegenwart der unterschiedlichsten Aspekte des Lebens. Mario Vargas Llosa beschreibt den mittelalterlichen Roman als ein Buch voller phantastischer, historischer, kriegerischer, sozialer, erotischer, psychologischer Komponenten: all dies zugleich darstellend und keines dieser Elemente isoliert oder gar ausschließlich offerierend, nichts mehr und nichts weniger als die Wirklichkeit repräsentierend. Vielfältig wie es ist, lässt dieses Werk verschiedenartige und gegensätzliche Lesarten und Auslegungen zu, und seine Eigenart wandelt sich, je nach dem Blickpunkt, den der Betrachter wählt, um sichtend das Chaos dieser Dichtung zu ordnen.20

Diese Beschreibung des katalanisches Romans voller Rittertaten passt erstaunlich gut auch auf den MoE. Die »überwältigende Mannigfaltigkeit des Lebens«21, bemerkt Robert Musil, hat von nun an keinen Platz mehr im Eindimensionalen. Die Gesellschaft der Zeit Klimts ist, laut Musil, deshalb

18 Ludwig Hevesi: Kritik – Polemik – Chronik, Wien: C. Konegen 1906, S. 233. 19 Mario Vargas Llosa: »Fehdebrief zur Verfechtung der Ehre von Tirant lo Blanc«, in: Neue Rundschau 101/01 (1990), S. 124-143, hier: S. 138. 20 Ebd. 21 MoE, S. 1043.

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dem Wahnsinn nahe, weil sie außerstande ist, gewisse Zustände in ihrer Totalität zu erfassen und die simple Linearität bevorzugt. Das heißt Zeitkunst statt Raumkunst, Narration statt Gleichzeitigkeit. Diese verlangt jedoch Musil von sich, der Kunst und seiner Gesellschaft. Zynisch merkt er an: Wie »…es einem Idioten gewissen Grades nicht mehr gelingt, den Begriff ›Eltern‹ zu bilden, während ihm die Vorstellung ›Vater und Mutter‹ noch ganz geläufig ist«, so ermangelt es auch der Gesellschaft an Abstraktionsvermögen.22 Es beschränkt sich der gesamte Geisteszustand seiner Zeit auf eine Auflistung von Begriffen, die mit »und« verbunden sind, meint Musil. Dieser Geisteszustand der »niedersten Zusammenfügung« verhindert jedoch, dass die Begriffe auch tatsächlich zusammengedacht werden, dass die Welt in ihrer Totalität erfasst, gefühlt und verstanden wird. Das Gemeinsame der Menschheit ist, wie Ulrich im MoE zusammenfassend feststellt, ein Geisteszustand, der durch keine weitspannenden Begriffe zusammengehalten, durch keine Scheidungen und Abstraktionen geläutert wird, ein Geisteszustand der niedersten Zusammenfügung, wie er sich am anschaulichsten eben in der Beschränkung auf das einfachste Binde-Wort, das hilflos aneinanderreihende »Und« ausdrückt, das dem Geistesschwachen verwickeltere Beziehungen ersetzt; und es darf behauptet werden, daß sich auch die Welt, unerachtet alles in ihr enthaltenen Geistes, in einem solchen der Imbezillität verwandten Zustand befindet.23

Gustav Klimt hat in seinen groß angelegten Fakultätsbildern versucht, in einem weitgespannten Bogen verschiedenste Geisteszustände der Menschheit darzustellen. Diese werden nicht in aufzählender Manier mit einem »und« verbunden, sondern sind – wie in Gemälden üblich – gleichzeitig und unkommentiert. Laut Musil ist diejenige Gesellschaft wahnsinnig, die es nicht zustande bringt, Begriffe zusammenzudenken und sie stattdessen nur stupide aneinanderreiht. Eine Ausstellung wäre der ideale Platz dafür, Begriffe zusammenzudenken oder individuell neu, und gleichzeitig erfassbar, aneinanderzureihen. In einem extra geschaffenen Rahmen könnte man Robert Musils Philosophie der Gleichzeitigkeit aufgreifen und die zeitliche Notwendigkeit der Literatur in einem visuellen Nebeneinander auflösen.

22 MoE, S. 650 und S. 1014 23 MoE, S. 1015

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T EXTIMMANENTE V ISUALISIERUNGSKONZEPTE R OBERT M USILS Musil hat im MoE selbst schon textimmanente Visualisierungskonzepte entwickelt24: Im Kapitel 85 – »General Stumms Bemühung, Ordnung in den Zivilverstand zu bringen« – versucht dieser die Gleichzeitigkeit der Denkmodelle, nämlich genau die bei Klimt monierten »verschiedenen Systeme auch nur der deutschen Philosophen«, strategisch zu erfassen. Er bereitet die Ergebnisse seiner Arbeit vor Ulrich aus und erklärt diese stolz: Für die in letzter Zeit entstandenen großen Ideen habe er, als Versuch, um festzulegen, woher der Nachschub an Gedanken kommt, ein Verzeichnis der »Ideenbefehlshaber« und einen »Aufmarschplan« anlegen lassen und alles in einer großformatigen Grafik visualisiert. Diese versucht er Ulrich genau zu erklären: Aber du bemerkst wohl – ich habe es in der Zeichnung auch deutlich hervorheben lassen –, wenn du eine der heute im Gefecht stehenden Gedankengruppen betrachtest, daß sie ihren Nachschub an Kombattanten und Ideenmaterial nicht nur aus ihrem eigenen Depot, sondern auch aus dem ihres Gegners bezieht; du siehst, daß sie ihre Front fortwährend verändert und ganz unbegründet plötzlich mit verkehrter Front, gegen ihre eigene Etappe kämpft; du siehst andersherum, daß die Ideen ununterbrochen überlaufen, hin und zurück, so daß du sie bald in der einen, bald in der anderen Schlachtlinie findest: Mit einem Wort, man kann weder einen ordentlichen Etappenplan, noch eine Demarkationslinie, noch sonst etwas aufstellen, und das Ganze ist, mit Respekt zu sagen – woran ich aber andererseits doch wieder nicht glauben kann! – das, was bei uns jeder Vorgesetzte einen Sauhaufen nennen würde!25

Damit nimmt der General Visualisierungsmodelle kartographischer Art vorweg (wie sie zum Beispiel im »DTV Atlas der deutschen Literatur« in den Achtziger Jahren des Zwanzigsten Jahrhunderts vorgenommen wur-

24 Andrea Gnam hat wertvolle Vorarbeiten zu den textimmanenten Visualisierungskonzepten Robert Musils erstellt und diese großzügig in die Diskussion einfließen lassen. 25 MoE, S. 596

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de26). Die Daten für seine Forschung generierte er mit Hilfe eines »Hauptmanns, zwei Leutnants und fünf Unteroffizieren«, was an die personalintensiven Recherchen der quantitativen Literaturwissenschaft erinnert.27 Mit dem Erkenntniswert seiner Aufzeichnungen bleibt der General indes trotzdem unzufrieden: Zu unklar sind die Strategien der Geistesmenschen in der Zivilgesellschaft, die sich in keiner vernünftigen Weise darstellen lassen. General Stumm von Bordwehr nimmt mit diesen datenintensiven Versuchen, den Fluss von Information und Ideen zu visualisieren, jedoch bereits die dank starker Rechnerleistung erst in den letzten Jahren auch in den Geisteswissenschaften immer wichtiger werdende »Social Network Analysis« voraus.

Abb. 2: Netzwerkdarstellung des Ideentransfers durch Briefe in der europäischen Aufklärung. Beispielsbild aus: Mapping the Republic of Letters: 1700–1749. https://republicofletters.stanford.edu/tools/ (letzter Aufruf am 12. Jänner 2013).

26 Vgl.: Horst Dieter Schlosser: DTV-Atlas der deutschen Literatur, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1983. Danke für diesen Hinweis an Andrea Gnam. 27 Vgl. dazu Franco Moretti: Kurven, Karten, Stammbäume. Abstrakte Modelle für die Literaturgeschichte, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2009.

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Die junge Methode der »Social Network Analysis«, und die noch jüngere Spielart der Erforschung historischer Netzwerke, wäre deshalb wie prädestiniert dafür, eine Visualisierung der Ideen Robert Musils zu generieren. »Vernetzung« ist zwar bereits eines der aufdringlichsten Schlagwörter der Gegenwart und kurz davor, zum Unwort zu werden, doch wenn man den Begriff mehr sein lässt als eine Metapher für Facebook und Co., dann wird das Wissen über persönliche Netzwerke und die richtige Interpretation von Netzwerkdarstellungen zu einem kraftvollem Instrument. Seit dem Beginn der Moderne bis hin zur postmodernen Gegenwart ist die Vorstellung von Netzen von entscheidender Bedeutung. Ein Netzwerk ist zunächst einfach ein Gebilde aus Punkten und Linien. Und obwohl der Begriff »Netzwerk« im sozialen Sinn nur eine Metapher ist, gehen viele wissenschaftliche Ansätze von einem hohen Erkenntniswert durch seinen Gebrauch aus. Dabei setzen sie die Abbildbarkeit des Untersuchungsgegenstandes in Netzwerken voraus und betrachten Sachverhalte so, als ob sie netzwerkartige Zusammenhänge wären (was ja auch der General tut). Die Methoden der Netzwerkanalyse lassen Strukturen herausarbeiten und in Diagrammen sichtbar machen, mit denen die im Roman existierenden Zusammenhänge beschrieben werden können.

V ISUALISIERUNGSMÖGLICHKEITEN VON M USILS V ISUALISIERUNGSKONZEPTEN Der MoE erschien ohne Illustrationen. Mit Ausnahme eines Filmes aus dem Jahr 2007 von Amos Gitai Trennung (Désengagement)28, der Szenen aus dem zweiten Teil des Buches aufgreift und in den Kontext des israelischpalästinensischen Konflikts versetzt, existiert auch keine filmische Adaption des Buches. Das visuell orientierte Denken Musils hatte im 20. Jahrhundert noch kein adäquates Medium, um tatsächlich dargestellt zu werden. Ein wilder Mix aus bereits bestehender und extra durch »Artistic Research« geschaffener Kunst, sei sie nun digital oder analog, intermedial oder konzeptuell, könnte nun zu den Visionen des großen Romanciers auf-

28 Vgl.: Andrea Gnam: »Ein besonderer Dank muss genügen. Amos Gitai hat unbemerkt Robert Musil verfilmt«, in: FAZ Nr. 139 (2009), 10.6.2009.

G ASFÖRMIG , FLÜSSIG

UND FEST

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schließen und die visuelle Kunst an dessen Kunstvorstellungen heranführen.

E PILOG : M USIL VISUELL – D AS P ROJEKT N ACHT DER F ORSCHUNG

FÜR DIE

L ANGE

Das Robert Musil Institut bestritt im Rahmen der Langen Nacht der Forschung im April 2012 im Lakeside Park Klagenfurt eine kleine, feine Ausstellung zu Musil und dem MoE: Vom handgeschriebenen zum gedruckten Wort (so ist natürlich die Schrift und jede Edition selbst schon eine Visualisierung von Literatur), den von den Verlagen gestalteten Einbänden, Illustrationen und Cartoons bis hin zur Visualisierung des Romans durch Theateraufführungen und Filmkonzepte wurde anhand weniger ausgewählter Beispiele gezeigt, wie die historische Visualisierung dieses Meilensteins der Weltliteratur bisher verlaufen ist. Dazu gab es stündlich einführende Vorträge des wissenschaftlichen Teams29, welche dem Publikum die Möglichkeit gaben, sich an der Visualisierung des Romans aktiv zu beteiligen. Folgende interaktive Stationen wurden dabei präsentiert:

R OBERT M USIL , DER P ROPHET Das Musil Roulette zeigt augenzwinkernd die prophetische Kraft der Literatur. Jeder Besucher, jede Besucherin hat die Möglichkeit, zwei Roulettekugeln kreisen zu lassen. Die erste steht für das Kapitel, die zweite für die Zeile. Der damit generierte Satz wird aus der Klagenfurter Ausgabe herauskopiert und ausgedruckt. Das wissenschaftliche Team betätigt sich auf Wunsch als Wahrsager und interpretiert den Satz persönlich. Aus den verschiedenen Sätzen dieser Aktion kann an einer Wand durch Aufkleben und Ändern der Reihenfolge ein kleiner, erzählender Text werden, der wiederum weiteren Anlass zur Interpretation liefert.

29 Walter Fanta und Stefan Kutzenberger.

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F ACEBOOKSEITE

FÜR

U LRICH

Anhand von ausgewählten Zitaten aus dem MoE, kann das Publikum auf einem aufgestellten Computer eine Facebookseite (oder die Seite eines anderen Social Networks) von Ulrich, dem Protagonisten des Romans, erstellen und fortwährend ergänzen und verändern. Der Mann ohne Eigenschaften wird somit zu einem Mann mit ständig verändernden Vorlieben und Freundschaften und damit genauso vielseitig und ungreifbar, wie es Robert Musil intendiert hatte.

W IE

ENTSTEHT

L ITERATUR ?

Dichtung kommt von verdichten. Gemeinsam wird ein ausgewähltes Kapitel des MoE von der ersten Manuskriptfassung bis zur fertigen Druckversion bearbeitet und visuell dargestellt: Aus der Klagenfurter Ausgabe wurden alle benötigten Seiten des Kapitels und seinen Vorstufen auf A4 Seiten ausgedruckt. Die Vorversionen werden nun vom Publikum zusammengeknüllt und in ein Eck geworfen, das Druckkapitel dagegen seitenweise an die Wand darüber geheftet. Es wird so auf einem Blick deutlich, wie viel Vorarbeit und Material nötig war, um ein Kapitel des Romans fertig zu stellen. Die Wissenschaftler nehmen nun die zerknüllten Seiten wieder auf, glätten sie, und versuchen, den Prozess der Genese zu rekonstruieren. Diese Präsentation im Rahmen der Langen Nacht der Forschung war natürlich nur ein erster kleiner Versuch, die hier ausgebreiteten Überlegungen Wirklichkeit werden zu lassen. Es sind dadurch aber kleine Spuren in der analogen Welt hinterlassen worden, die zeigen, dass unter allen Möglichkeiten des Lebens, auch die eines ambitionierten Visualisierungsversuches des MoE enthalten ist. Möge sie eines Tages aus dem Reich des Möglichkeitssinns in den des Wirklichkeitssinns übertreten!

L ITERATUR Bahr, Hermann: Gegen Klimt, Wien: J. Eisenstein & Co, 1903. Danielczyk, Julia: »Literatur im Schaufenster. Über die (Un)Möglichkeit Literatur auszustellen«, in: Meri Disoski/Ursula Klingenböck/Stefan

G ASFÖRMIG , FLÜSSIG

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Krammer(Hg.), (Ver)Führungen. Räume der Literaturvermittlung, Innsbruck: Studienverlag 2012, S. 31-42. Didi-Huberman, Georges: Devant l’image. Question posée aux fin d’une histoire de l’art, Paris 1990. Gnam, Andrea: »Ein besonderer Dank muss genügen. Amos Gitai hat unbemerkt Robert Musil verfilmt«, in: FAZ Nr. 139 (2009), 10.6.2009. Hanak-Lettner, Werner: Die Ausstellung als Drama, Bielefeld: transkript 2011. Hevesi, Ludwig: Kritik – Polemik – Chronik, Wien C. Konegen, 1906. Kutzenberger, Stefan: »Because that’s pathological! Manifestations of Madness in 1900 Vienna in the works of Klimt and Musil«, in: Thomas, Rebecca (Hg.), Crime and Madness in Modern Austria: Myth, Metaphor and Cultural Realities, Cambridge: Cambridge Scholars Press 2008, S. 42-76. Lessing, Gotthold Ephraim: Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie, Stuttgart 1990. Moretti, Franco: Kurven, Karten, Stammbäume. Abstrakte Modelle für die Literaturgeschichte, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2009. Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften. Band 1 und Band 2. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1978. Musil, Robert: Klagenfurter Ausgabe. Kommentierte digitale Edition sämtlicher Werke, Briefe und nachgelassener Schriften. Mit Transkriptionen und Faksimiles aller Handschriften. Herausgegeben von Walter Fanta, Klaus Amann und Karl Corino. Klagenfurt: Robert Musil-Institut der Universität Klagenfurt. DVD-Version 2009. Musil, Robert: Tagebücher, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1983. Schlosser, Horst Dieter: DTV-Atlas der deutschen Literatur, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1983. Vargas Llosa, Mario: »Fehdebrief zur Verfechtung der Ehre von Tirant lo Blanc«, in: Neue Rundschau 101/01 (1990), S. 124-143.

Werk und Wunderkammer Das Jünger-Haus als fortgesetzte Autorschaft und musealer Sonderfall N IELS P ENKE

»Der Oberförster war uns seit Langem als Alter Herr der Mauretania bekannt. […] Sein Reichtum galt als ungeheuer, und auf den Festen, die er in seinem Stadthaus feierte, regierte Überfluß.«1 So erinnert sich der namenlose Ich-Erzähler in Ernst Jüngers wohl bekanntestem Roman Auf den Marmorklippen an seinen ehemaligen Kampfgefährten, den Oberförster, der zugleich eine zentrale Figur in Jüngers Prosa-Universum darstellt. Der Oberförster verkörpert als Gegenspieler der Protagonisten eine überwunden geglaubte Vergangenheit, die sie jedoch wieder eingeholt hat und droht, die idyllische Landschaft zu zerstören und ihr monastisches Leben ein für alle mal zu beenden. Auch in der zweiten Fassung von Jüngers Collagenbuch Das Abenteuerliche Herz ist dem Oberförster ein Kapitel gewidmet, dessen Pointe: »Da leuchtete mir mit entsetzlicher Klarheit ein, daß ich dem Oberförster doch ins Garn gegangen war.«2 aus dem Text in die Welt des empirischen Autors hinübergreift.

1

Ernst Jünger: »Auf den Marmorklippen«, in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 15. Stuttgart: Klett-Cotta, 1978, S. 265.

2

Ernst Jünger: »Das Abenteuerliche Herz«, 2. Fassung, in: ebd., Bd. 9, S. 177330, hier S. 215.

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Mit diesem Garn, in das sich der namenlose Erzähler verstrickt sieht, umspinnt sich auch der reale Ernst Jünger, denn ab dem April 1951 bewohnte er selbst das Haus des »Oberförsters«.3 Mit seiner Familie und seinem Sekretär Armin Mohler hatte Jünger das Stauffenberg’sche Forsthaus im Oberschwäbischen Wilflingen, einen Barockbau aus dem Jahr 1728, bezogen. Der musische Mensch wohnt gern in Häusern, die schon viele kommen und gehen sahen und im Lauf der Zeiten anbrüchig geworden sind. Moos auf dem Dach, alte Hölzer, vernutzte Treppen, halbdunkle Flure, kein Telefon. So suchen auch Götter gern den Körper alter und sehr alter Menschen auf. Die Wohnung ist behaglicher geworden; sie fühlen sich in ihr wohl. Sie rasten dort noch eine Weile, dann geben sie sich zu erkennen und ziehen mit dem Wirt davon.4

Zeitlebens hat Jünger schließlich damit kokettiert, in der »Oberförsterei« zu wohnen und den Rückzug in die Provinz wiederholt unter dem Signet der Programmatik seines gleichnamigen Essays als »Waldgang« bezeichnet.5 Mag auch objektiv der Zufall an dieser Stelle keine geringe Rolle gespielt haben, so ist diese Parallele auf der Nominalebene für Jünger mehr gewesen – eine ›magische‹ Korrespondenz zwischen ›Werk‹ und Welt, eine ›schicksalhafte‹ Bestätigung dessen, was er in seinen fiktionalen Texten an-

3

Als dämonischer Menschenjäger und Herrscher ist der Oberförster die große Bedrohung für die elysische Landschaft der Marina in Auf den Marmorklippen und wurde von verschiedenen Interpreten auf die realhistorischen Vorbilder Hitler, Goebbels oder Göring hin gelesen. Jüngers Bezug der Oberförsterei kann somit auch als ›Pointe‹ gelesen werden, als Sieg des ›Waldgängers‹, der die verlassenen Stätten der einstigen Herrscher bezieht – und sie zugleich überwindet. Vgl. zum »Oberförster« Helmuth Kiesel: Ernst Jünger. Die Biographie, München: Siedler 2007, S. 461-481.

4

Ernst Jünger: »Autor und Autorschaft«, in: ders: Sämtliche Werke, Bd. 19, S. 9-

5

Deutlich wird dieser Rückzug in die Provinz, der Jüngers Stationenwechsel nach

266, hier: S. 131. Jahrzehnten in großen Städten beschließt, in Autor und Autorschaft: »Wohnsitz des Autors. Früher große Städte und Residenzen: Paris, Rom, Leipzig, Genfer See. Nun der leere Betrieb, der Lärm, die Kasernierungen. Schon des Esseintes zieht sich zurück. Die Städte sind heute eher Orte zum Studium als zur Produktion«, ebd., S. 40.

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tizipiert hatte. Text und Welt stehen für Jünger in einem engeren und tieferen Verhältnis als einer bloß oberflächlichen Kontingenz. Eine Wechselbeziehung zwischen dem Haus und Jüngers Schreiben sieht auch der JüngerBiograph Heimo Schwilk, der dem Haus textuelle Eigenschaften zuschreibt. Das »kreative Fluidum« des »genius loci« korrespondiere mit Methodik und Stil der Tagebücher; ihre assoziative Spiritualität, das Labyrinthische der darin eröffneten Denk-Räume haben ihre Entsprechung im Ambiente der Wilflinger Bibliothek, den biedermeierlichen Salons mit ihren Ausblicken auf das Stauffenberg’sche Schloss und die barocke Ornamentik des Gartens: vielfältig ineinander geschachtelte Lebensräume, Gartenlaube und Studio, Schlafgemächer als Traumkabinette, in denen der Stoff gesponnen wurde, aus dem das Werk floss. Jedes Zimmer ein kleiner Kosmos, eine Eigenwelt, die ihr Geheimnis fest umschließt.6

Diese Eigenwelt ist auch nach Jüngers Tod 1998 erhalten geblieben; das Haus wurde bald zum Museum, das es auch heute noch ist. Zur Beschaffenheit des Hauses hat Jünger in seiner umfangreichen poetopoesiologischen Sammlung Autor und Autorschaft eine übertragbare Beschreibung geliefert: Nicht zu unterschätzen ist die Ausstrahlung; Bücher laden das Haus auf. Die beste Tapete liefert die Bücherwand. Unter der Decke die gebräunten Pergamente, dann die Lederbände des 18. Jahrhunderts mit dem verblaßten Gold von Titeln, die längst vergessen sind. Massive Substanz aus abgestorbenen Lettern – ein Korallenriff, zu dem Autoren, Setzer und Drucker beitrugen.7

Bilder8 des Hauses mögen einen Eindruck vermitteln und die beschriebene Ausstrahlung nachvollziehbar machen. Neben einem Teil der Jünger’schen Bibliothek, die vor allem Klassiker und Literatur des 19. Jahrhunderts umfasst, aber kaum belletristische Literatur des 20. Jahrhunderts enthält, neben

6

Heimo Schwilk: Ernst Jünger. Ein Jahrhundertleben, München/Zürich: Piper 2010, S. 568.

7

Jünger: Autor und Autorschaft, S. 43.

8

Es sei an dieser Stelle auf die offiziellen Fotografien verwiesen, die sich auf der Homepage des Jünger-Hauses finden: http://www.juenger-haus.de/das-juengerhaus,8.html (letzter Aufruf am 30.10.2012).

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einem Segelschiffmodell mit Muscheln, Steinen und Tierpräparaten gibt es noch zahlreiche weitere Objekte, die die Rede vom »Korallenriff« zutreffend erscheinen lassen. Es handelt sich um »eine Wohnung mit alten Möbeln, Büchern und Bildern«, die, wie Jünger schreibt, neben ihrem Kunstwert eine Aura [hat], die auch bei geschlossenen Augen zu spüren ist, ja gerade dann. Die Aura haftet besonders an organischen Stoffen: Holz, Leder, Pergament, Wachs, Wolle, Leinen, Seide; sie schaffen die Stimmung, zu der Stein und Metall nur den Akzent setzen.9

An solchen »organischen Stoffen« ist das Haus äußerst reich, neben der Bibliothek beherbergt es auch Jüngers polyhistorische Sammlungen, deren Kernstück die circa 40.000 Exemplare10 umfassende Käfersammlung darstellt, die zu den größten privaten der Welt gehört. Darüber hinaus finden sich Schlangen, Schildkröten, exotische Hölzer, Steine, Pflanzen, Sanduhren, Photographien sowie Reisezeugnisse, bedeutende Geschenk- und Erinnerungsstücke vielfältiger Art – wie etwa die zwei in In Stahlgewittern erwähnten Stahlhelme aus dem Ersten Weltkrieg: der eines englischen Leutnants und Jüngers eigener. Hans Wißkirchen benennt in seinem Buch über Dichter und ihre Häuser als »zentrale Botschaft« und »unschätzbaren Vorteil« den »authentische[n] Ort, die Verknüpfung von Biografie und Literatur in einem Haus«, das die Besucher in einer »speziellen Aura« gefangen nimmt.11 Er verweist an dieser Stelle auf die Goethe-Häuser in Weimar und Frankfurt. Häuser, die auf viele Besucher/innen immer noch so wirken, als wäre der Geheimrat »nur eben kurz weggegangen« – eben weil die Gegenstände des alltäglichen Lebens in ihnen konserviert sind und der Ausstellung die Illusionsbildung von Authentizität gelingt. Ein ähnlicher, aber eigentlich ganz anderer Fall ist das Jünger-Haus. Auch hier ist die Wirkung einer »gespenstischen Anwe-

9

Ernst Jünger: »Siebzig verweht II« in: ders: Sämtliche Werke, Bd. 5, S. 618.

10 Vgl. den Flyer des Jünger-Hauses, online unter www.juenger-haus.de/fileadmin/ 110505_Flyer_JH_3.pdf (letzter Aufruf am 15.01.2013). 11 Vgl. Hans Wißkirchen: »Einleitung«, in: ders. (Hg.), Dichter und ihre Häuser. Die Zukunft der Vergangenheit, Lübeck: Schmidt-Römhild 2002, S. 5-7, hier S. 5.

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senheit«12 des gerade erst Gegangenen zu verspüren, wie in vielen Feuilletons des letzten Jahres anlässlich der aufwendigen Renovierungsarbeiten und der Wiedereröffnung zu lesen war.13 Doch, und das ist der entscheidende Unterschied, war diese postume Musealisierung eine von Jünger bereits zu Lebzeiten selbst beschlossene Umwandlung des Wohnhauses in eine Gedenkstätte. Hier liegt der gravierende Unterschied zu den meisten Dichterhäusern und Literaturmuseen: Der Dichter selbst hat es eingerichtet, hinterlassen und darüber verfügt, dass bis auf die Einrichtung eines Gedenkraumes für seinen Bruder Friedrich Georg im Erdgeschoss nichts verändert werden solle – und damit blieb das Obergeschoss, das die Bibliothek, die Sammlungen und die ›interessanteren‹ Schauräume umfasst, unverändert – zumindest bis zu den umfangreichen Sanierungsarbeiten von 2009 bis 2011. Hubert Spiegel hat in der FAZ somit zu Recht von einem »Wohnhaus letzter Hand«14 gesprochen. Diese Formulierung lässt sich in einem zweifachen Sinn verstehen: nicht nur im Vokabular der Editionsphilologie ›letzter Hand‹ wie ein Text, sondern auch, oder vor allem, als ein Text, der intentional mit ›Sinn‹ ausgestattet und auf vielfältige Weise gelesen werden kann. Vor diesem Hintergrund ist die ›Authentizität‹ des Hauses ein ganz bewusst kalkulierter Effekt, eine »Inszenierung« wie Spiegel festgestellt hat. In dieser Inszenierung kommen Haus und Bewohner zur Deckung:

12 Roman Bucheli: »Gespenstische Anwesenheit. Das Ernst-Jünger-Haus in Wilflingen ist nach sanfter Renovation wiedereröffnet worden«, in: NZZ vom 20. April 2011. Online verfügbar unter: http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/ aktuell/gespenstische_anwesenheit_1.10313711.html (letzter Aufruf am 07.11.2012). 13 Etwa die Schwäbische

Zeitung:

http://www.schwaebische.de/journal/

vermischtes_artikel,-Ernst-Juenger-Haus-Dichterleben-zu-besichtigen_arid, 5052872_regid,1.html, (letzter Aufruf am 29.06.2013) oder die Augsburger Allgemeine:

http://www.augsburger-allgemeine.de/kultur/Ernst-Juenger-Haus-

Dichterleben-zu-besichtigen-id14495531.html (letzter Aufruf am 02.03.2013). 14 Hubert Spiegel: »Wohnhaus letzter Hand«, in: FAZ vom 30.03.2011, Nr. 75, S. 29. Online verfügbar unter http://www.faz.net/artikel/C30437/ernst-juengerwohnhaus-letzter-hand-30332104.html (letzter Aufruf am 02.03.2013).

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Demnach wäre Ernst Jüngers Haus, dieser in der Arbeit eines halben Jahrhunderts entstandene Mikrokosmos, halb Bibliothek, halb Naturalienkabinett, die Schöpfung seines Bewohners und so beschaffen, wie er selbst beschaffen war. Ein Haus, gebildet nach dem Abbild seines Herrn, ein ›Kleid‹, wie es in den Kaukasischen Aufzeichnungen heißt, mit dem wir uns umgeben, als wäre es ein ›erweitertes Wesen‹, aber auch ein Dokument, in dem wir lesen.15

Folglich ist im Falle Jüngers die von Wolfgang Zacharias beschriebene »Selbstmusealisierung« mehr als nur das »Spiel mit autobiographischen Gegenständlichkeiten«16 – sie korrespondieren einerseits mit Romanen und Erzählungen, werden in Tagebüchern benannt oder zum Gegenstand der Reflektion in seinen essayistischen Schriften: z.B. die Sanduhren in Das Sanduhrbuch, die Käfer in Subtile Jagden, anderseits tragen diese Gegenstände zu den Bildern von Jünger bei, die er als nicht zu unterschätzender Rollenspieler von sich entworfen und vertreten hat. Die Echtheit und deren Autorisation spielt dabei eine große Rolle. Nicht nur für Jüngers Autorschaft, für die etwa die Handschrift eine besondere Rolle spiele, da sie, so Steffen Martus, maßgeblich zur »Reauratisierung des Autors im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit«17 beitrage, sondern für seine gesamte Präsenz als Autor. Ebenso wie im Hinblick auf die empirische Person wird dieser Versuch der Reauratisierung überall, auch und besonders deutlich am Haus, unternommen. Damit lässt sich als Zwischenfazit Folgendes festhalten: Zunächst eine intentional gelenkte Selbstmusealisierung eines Autors, der dadurch seinen Anspruch auf ›Autorschaft‹ über seinen physischen Tod hinaus verlängert. Im Falle Jüngers heißt dies, dass die unbedingte Verfügungsgewalt über das Bild oder die Bilder, die wir als Leser oder Besucher von ihm gewinnen, auch nach seinem Ableben aufrechterhalten wird. Damit unterliegt das

15 Spiegel: Wohnhaus letzter Hand. 16 Wolfgang Zacharias: »Selbstmusealisierung. Das Spiel mit autobiographischen Gegenständlichkeiten«, in: ders. (Hg.), Zeitphänomen Musealisierung. Das Verschwinden der Gegenwart und die Konstruktion der Erinnerung, Essen: Klartext 1990, S. 136-150. 17 Steffen Martus: Ernst Jünger, Stuttgart u.a.: Metzler 2001, S. 235.

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Haus den gleichen Prinzipien der Autorschaft18 wie sein literarisches Erbe, die keineswegs zufällig, sondern ebenfalls intentional bestimmt sind, und die darüber entscheiden, was in den Sammlungen und der Bibliothek steht und damit zum Bildinventar der Selbstdarstellung gehört – und was nicht. Damit wird drittens eine Ebene der Inszenierung beschritten, die sich wiederum an andere – textuelle, habituelle, ›mythische‹ – Inszenierungsverfahren Jüngers anlehnt und auch in den Sammlungen das Bild eines Mannes zeigt, der Renaissance und Romantik deutlich näher zu stehen scheint als der Moderne seiner Gegenwart. Somit steht das Haus auch über die prinzipielle Nähe zum literarischen Schaffen mit diesem in Korrespondenz: nämlich über eine Strategie der Verschränkung von Leben und Werk, das wie an den eingangs zitierten Textstellen ersichtlich selten so deutlich wird, wie eben an diesem Haus. Auch wenn Jünger über sein Haus und seine Sammlungen nie als von einer ›Wunderkammer‹ gesprochen hat, stehen sie als universales »Gesamtkunstwerk«19 in dieser Tradition. Der Terminus ›Wunderkammer‹ tauchte erstmals in der Zimmerischen Chronik (1564-1566) zur Bezeichnung zeitgenössischer Sammlungen auf. Durch Julius von Schlosser und seine Arbeit über Die Kunst- und Wunderkammern der Spätrenaissance von 1908 wurde er zum festen Begriff in der Kunstgeschichte. Schlosser versteht darunter Sammlungen, die aus einem wissenschaftlichen Interesse heraus entstanden, gleichwohl aber auch Repräsentationscharakter besaßen. Als Vorläufer heutiger Museen waren diese Kunst- und Wunderkammern nicht auf bestimmte Sammelgebiete oder gar nur Kunst beschränkt, sondern umfassten alles, was einem finanziell wohlausgestatteten Sammler seiner Zeit wesentlich erschien und einen gewissen Schauwert versprach. Prominente Beispiele ihrer Zeit waren Ferrante Imperatos (1550-1625 oder 1631) Kammer in Neapel und Ole Worms (1588-1655) Kammer in Kopenhagen (Abb. 1). Sie umfassten Gemälde, Kupferstiche und Plastiken, ebenso Bücher aller Wissensgebiete, Münzen und Medaillen, astronomische Geräte, Globen und Atlanten, Skelette, Fossilien und Mineralien, Elfenbeinarbeiten, exotische

18 Vgl. zu Jüngers Konzeption von ›Autor und Autorschaft‹: Niels Penke: Ernst Jünger und der Norden. Eine Inszenierungsgeschichte, Heidelberg: Winter 2012, S. 17-21. 19 Spiegel: Wohnhaus letzter Hand.

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Pflanzen und Tierprodukte (etwa Straußeneier, Narwalstoßzähne, kostbar gefasste Kokosnüsse) und noch vieles mehr.

Abb. 1: Ole Worms Wunderkammer (um 1655). Quelle: Museum Wormianum; seu, Historia rerum rariorum, tam naturalium, quam artificialium, tam domesticarum, quam exoticarum… Leiden: ex officina Elseviriorum, 1655. 6 p. l., 389, [3] p. illus.

Ihre Vielfalt spiegelt das Bestreben wider, in der Kunstkammer das Universum ›im Kleinen‹ festzuhalten, die stupende Vielfalt der natürlichen Erscheinungen und kulturellen Artefakte abzubilden, zu studieren und eine systematisierende ›Ordnung der Dinge‹ vorzustellen. Hier, in Jüngers Haus, wird in den strukturell und funktional verwandten20 Sammlungen die Welt seines Bewohners abgebildet – seine Interessen, Stationen seines Lebens, seiner Reisen – Geschichte(n) – aber vor allem auch Stationen seiner Texte, mit denen unzählige Elemente seiner Interieurs korrespondieren, sich aus

20 Vgl. dazu die Photographie Jüngers vor Exponaten seiner Sammlung in: Heimo Schwilk: Ernst Jünger. Leben und Werk in Bildern und Texten, Stuttgart: KlettCotta 1988, S. 177.

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diesen herleiten oder auf diese rückbeziehen. Damit steht Jünger als Sammler Schlossers Grundannahmen äußerst nahe: Dieser definiert das Sammelwesen als eine Art dialektisches Verhältnis zwischen dem »persönlichen Eigentum«21, dem Besitz der Gegenstände und dem »Schmuck«22, als der die Sammlung auf den Sammler zurückwirkt. Genau das drücken Jüngers Sammlungen aus: Alles in ihnen ist ›Eigentum‹, also zu Eigen gewordenes Material und konserviertes Leben. Solche Dinge, wurden, wie es bei Jünger in solchen Zusammenhängen immer wieder heißt, ›erworben‹ oder ›erstanden‹, worin ein Mehrwert gegenüber dem rein materiellen Besitz anklingt, der durch ›profanen‹ Kauf oder Tausch zu Stande kommt. Die Dinge haben dadurch eine Aneignung ›erfahren‹ und werden in eine persönliche Beziehung zum Besitzer gestellt. Jüngers Sammelobjekte sind im Hinblick auf diese autobiographische Beglaubigung, wie Schlosser schreibt, »Symbole von Geltung und Tätigkeit«23, oder wie die Schatzkammer »die Projektion […] des Eigentums als Schmuck nach außen, aus dem Bewegten in das Ruhende«24. Jüngers Haus hingegen bildet die Welt oder, besser, die Welten, seines Bewohners ab – die seines Lebens, aber vor allem auch die seiner Texte –, die sich gegenseitig mit ›Bedeutung‹ versehen: ein wohlkonstruiertes und erfolgreich inszeniertes zirkuläres Verweissystem. Als Verfügung seines letzten Willens unterliegt auch das Haus als unhintergehbarer Teil seiner ›Werkherrschaft‹ und stellt sich, seinen Autor und Teile seiner Literatur bis heute quasi von selbst aus. Pädagogische und didaktische Auf- oder Nachbereitung reduzieren sich dabei auf das Maß des Zeigens und Erklärens, die, so zumindest war es, als die Kustodin Monika Miller noch durchs Haus führte, ganz im Sinne des Hausherren gehalten waren: Die didaktisch ein- oder ausgerichteten Räume im Erdgeschoss liefern nur allgemeine Basisinformationen, die ein-, aber nicht anleiten können, denn das Haus ist zu komplex, die Kontexte sind zu weitreichend, um die Geschichten hinter den Dingen zu verdeutlichen.

21 Julius von Schlosser: Die Kunst- und Wunderkammern der Spätrenaissance. Ein Beitrag zur Geschichte des Sammelwesens, Leipzig: Seemann 1908, S. 2. 22 Ebd. 23 Schlosser: Die Kunst- und Wunderkammern der Spätrenaissance, S. 2. 24 Ebd., S. 3.

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Seit der Sanierung hat sich einiges getan. Monika Miller hat im Streit das Haus verlassen, und auch darüber hinaus ist die ›Aura‹ des ›Authentischen‹ – im handfesten Sinn – angetastet worden: »Es schien, als hätten die Dinge, als sie das Haus verließen, ihr Wesen verändert. Aus den vielen tausend Gegenständen und Kleinigkeiten des täglichen Lebens war erst in jenem Moment ein Nachlass geworden«25, schreibt Spiegel in der FAZ. Ein Akt der Verwandlung, der die ›Aura‹ dadurch stört, dass das Gesamtbild und mit ihm das Authentische ›aufgehoben‹ wird – denn es war ja gerade dieser Schein, Jünger habe jeden Gegenstand eigenhändig dort abgestellt, wo er sich befunden hatte. So waren die Hinterlassenschaften als Ausstellungsgegenstände zugleich Berührungsreliquien, deren Nimbus nun ›angetastet‹ worden und vielleicht ›verflogen‹ ist. Sie wurden auf ihre Materialität reduziert, die Inszenierung des Nach-Lebens wurde dabei offen gelegt, und die Besucher des Hauses daran erinnert, dass Sinn und Bedeutung ebenso wie ›Aura‹ doch lediglich sprachliche Übereinkünfte sind, oder ins Gebiet der Metaphysik gehören. Die Einheit von Schöpfer und Schöpfung aber, von Leben und Werk, die gegenseitige Durchdringung von Sein und Text behauptet Jüngers Haus bis heute. Denn, hier liegt eine vielleicht tröstliche Analogie, auch die publizierten Texte sind nur ein steriler Abdruck dessen, was ursprünglich im Manuskript mit Blumen verziert zu Papier gebracht wurde. Solche ›Verluste‹ bzw. rationalisierenden Momente sind naturnotwendig. Die Zeit bringt sie früher oder später mit sich, und sie machen deutlich, dass wir es eben doch nur mit Material zu tun haben, das nur dann etwas zu sagen hat, wenn man seine Geschichte(n) kennt, die wieder nur über den Umweg der aufmerksamen Lektüre erschlossen werden können. Fragwürdig im Sinne von rätselhaft bleiben allein die Brechungen, auf die es ›aus dem Werk‹ bislang keine Antworten gibt. Die rosafarbenen Vorhänge und Vorleger im Bad etwa, die mehr als nur einen Besucher irritiert haben oder dieses bislang unidentifizierte Bild an der Tür zum Schlafzimmer: eine ländliche Szene mit einem Nilpferd an der Futterkrippe (Abb. 2).

25 Spiegel: Wohnhaus letzter Hand.

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Abb. 2

L ITERATUR Bucheli, Roman: »Gespenstische Anwesenheit. Das Ernst-Jünger-Haus in Wilflingen ist nach sanfter Renovation wiedereröffnet worden«, in: NZZ vom 20. April 2011, http://www.nzz.ch/aktuell/feuilleton/ueber sicht/gespenstische-anwesenheit-1.10313711 (letzter Aufruf 7.11.2012). Jünger, Ernst: Sämtliche Werke, Stuttgart: Klett-Cotta 1978. Kiesel, Helmuth: Ernst Jünger. Die Biographie, München: Siedler 2007. Martus, Steffen: Ernst Jünger, Stuttgart u.a.: Metzler 2001. Penke, Niels: Ernst Jünger und der Norden. Eine Inszenierungsgeschichte, Heidelberg: Winter 2012. Schlosser, Julius von: Die Kunst- und Wunderkammern der Spätrenaissance. Ein Beitrag zur Geschichte des Sammelwesens, Leipzig: Seemann 1908. Schwilk, Heimo: Ernst Jünger. Leben und Werk in Bildern und Texten, Stuttgart: Klett-Cotta 1988.

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Schwilk, Heimo: Ernst Jünger. Ein Jahrhundertleben, München/Zürich: Piper 2010. Spiegel, Hubert: »Wohnhaus letzter Hand«, in: FAZ 30.03.2011, Nr. 75, S. 29, online unter: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/autoren/ ernst-juenger-wohnhaus-letzter-hand-1607927.html (letzter Aufruf am 02.03.2013). Wißkirchen, Hans (Hg.), Dichter und ihre Häuser. Die Zukunft der Vergangenheit, Lübeck: Schmidt-Römhild 2002. Zacharias, Wolfgang: »Selbstmusealisierung. Das Spiel mit autobiographischen Gegenständlichkeiten«, in: ders. (Hg.), Zeitphänomen Musealisierung. Das Verschwinden der Gegenwart und die Konstruktion der Erinnerung, Essen: Klartext 1990, S. 136-150.

Stückwerk oder Werkstück? Sammeln und Zeigen gegenständlicher Nachlassobjekte als Praktiken der Werkkonstituierung am Beispiel Ernst Jünger F ELICITAS H ARTMANN

Über 9.000 Objekte aus dem Besitz und Interieur Ernst Jüngers sind Teil der am 29. März 2011 wieder eröffneten Dichtergedenkstätte, des JüngerHauses in Wilflingen auf der Schwäbischen Alb. In der ehemaligen Oberförsterei des Adelsgeschlechts Stauffenberg hat der Autor seine letzten 50 Lebensjahre verbracht.

Abb. 1: Jünger-Haus Wilflingen 2009, Foto DLA Marbach.

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Abbildung 1 zeigt die Blickachse durch die ehemaligen Wohnräume Jüngers im Jahr 2009, nachdem das Wohnhaus nach Jüngers Tod 1998 bereits knapp 10 Jahre lang so gut wie unverändert als literarische Gedenkstätte betrieben wurde. Allein die obligatorischen Museumskordeln markieren die auf den ersten Blick unverändert erscheinenden ehemaligen Wohnräume als Museumsräume, zusätzlich wurde im Erdgeschoss ein mit Text- und Bildtafeln sowie mit Vitrinen ausgestatteter Einführungs- und Inforaum eingerichtet.

Abb. 2: Jünger-Haus Wilflingen 2009, eigenes Foto.

Abbildung 2 zeigt das Haus im Zustand November 2009, nachdem alle Gegenstände und Interieurteile interimistisch während der notwendig gewordenen Innen- und Außensanierung des Gebäudes im Deutschen Literaturarchiv Marbach zwischengelagert und teilweise auch wieder museal inszeniert wurden. Inzwischen wurde das Interieur des Jünger-Hauses mit einigen konzeptionellen und präsentationstechnischen Veränderungen erneut rekonstruiert und die Innenräume zeigen sich in neuem/alten Gewand.1

1

Zur (Neu)Konzeption des Jünger-Hauses vgl. Thomas Schmidt: »Vom Haus des Dichters zum Dichterhaus. Zum Problem der Authentizität im Wilflinger Jünger-Haus«, Vortrag auf dem XI. Jünger-Symposium am 27.03.2010 [erscheint in der Reihe Jünger-Studien, Bd. 6 (2012) im Tübinger Attempto Verlag].

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Die FAZ berichtete zur Wiedereröffnung des Jünger-Hauses im März 2011 vom »Wohnhaus letzter Hand« mit den Worten: Dieses Domizil ist mehr als eine Gedenkstätte: Es ist ein Gesamtkunstwerk. Im neu eröffneten Ernst-Jünger-Haus wird die literarische Bedeutung des Autors erst wirklich begreiflich.2

Folgt man in der Definition ›Gesamtkunstwerk‹ dem Philosophen Odo Marquard, so besteht die Charakteristik des Gesamtkunstwerks in der Verbindung von Kunst und Wirklichkeit und somit in der »Tendenz zur Tilgung der Grenze zwischen ästhetischem Gebilde und Realität«.3 Die enge Durchdringung von Leben, ja Wohnen und Schreiben steht zunehmend wieder im Fokus der Forschung zu Dichterhäusern und -gedenkstätten.4 Die Verbindung zwischen Leben und Werk und damit Wohnen und Schreiben, der Gestaltung des Wohnumfelds als ein kreativer Denk- und Schaffensraum, wird auch bei Ernst Jünger immer wieder hergestellt: Armin Mohler, Jüngers Sekretär in Wilflingen in den Jahren 1949-53, beschreibt Jüngers Domizil als »Kraftspeicher«, als »gehäufte, gehortete Wirklichkeit, welche die Verbindung zum draußen Erfahrenen nicht abreißen lassen soll«.5 Das

2

Hubert Spiegel: »Ernst Jünger. Wohnhaus letzter Hand«, in: FAZ vom 30.03.2011.

3

Odo Marquard: »Gesamtkunstwerk und Identitätssystem«, in: Harald Szeeman (Hg.), Der Hang zum Gesamtkunstwerk. Europäische Utopien ab 1800. Ausstellungskatalog zur gleichnamigen Ausstellung im Kunsthaus Zürich, Aarau: Sauerländer 1983, S. 40-51, hier S. 40.

4

Exemplarisch dafür ist das Forschungsprojekt der Klassik Stiftung Weimar in Kooperation mit dem Deutschen Forum für Kunstgeschichte in Paris »Sinnlichkeit, Materialität, Anschauung. Ästhetische Dimensionen kultureller Übersetzungsprozesse in der Weimarer Klassik« sowie die daraus resultierende Ausstellung »Weimarer Klassik. Kultur des Sinnlichen« (16. März bis 10. Juni 2012 im Schiller-Museum Weimar) zu nennen, die auf die enge Verknüpfung zwischen den Kulturpraktiken des Wohnens, des Sammelns und des Schreibens fokussieren. Vgl. dazu den gleichnamigen, exquisiten Ausstellungskatalog, hg. von Sebastian Böhmer et al., Berlin/München: Deutscher Kunstverlag 2012.

5

Armin Mohler: Die Schleife. Dokumente zum Weg von Ernst Jünger, Zürich: Arche 1955, S. 119.

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Gesamtbild, das sich aus der Beschreibung der Einzelräume ergibt, weist er als »eine große Apparatur« aus, »welche auf ein einziges Ziel hin ausgerichtet ist: auf jene zwei, drei Stunden, in denen am Manuskript geschrieben wird«.6 Vor allem postum und durch die Transformation des Wohnhauses zur Dichtergedenkstätte rückt die Verbindung von Wohnen und literarischem Schaffen in den Mittelpunkt des Interesses. Der letzte Satz in Heimo Schwilks Jünger-Biografie 2007 lautet: Das kreative Fluidum hat sich dem ›genius loci‹ mitgeteilt. Methodik und Stil der Tagebücher, ihre assoziative Spiritualität, das Labyrinthische der darin eröffneten Denk-Räume haben ihre Entsprechung im Ambiente der Wilflinger Bibliothek, den biedermeierlichen Salons mit ihren Ausblicken auf das Stauffenberg’sche Schloss und die barocke Ornamentik des Gartens: vielfältig ineinander geschachtelte Lebensräume, Gartenlaube und Studio, Schlafgemächer als Traumkabinette, in denen der Stoff gesponnen wurde, aus dem das Werk floss. Jedes Zimmer ein kleiner Kosmos, eine Eigenwelt, die ihr Geheimnis fest umschließt.7

Die Definition des Jünger-Hauses und den darin befindlichen Objekten im Ensemble als »Gesamtkunstwerk« aufgreifend, gestaltet sich die Frage, wo die Grenzen zum literarischen Kunstwerk liegen, bzw. wo sie von wem in welcher Form gezogen werden, schwieriger. Die Zitate zum Jünger-Haus mögen nur exemplarisch dafür stehen, dass dem gesamten Wohnumfeld des Autors werkhermeneutische Qualitäten zugesprochen werden. Ob das gesamte Interieur eines Autors bzw. Teile daraus auch zu seinem Werk gehören, bestimmen Prozesse um die Aushandlung des Werkbegriffs, seiner Bestandteile und damit auch seiner Grenzen.

6

Mohler: Die Schleife., S. 119.

7

Heimo Schwilk: Ernst Jünger. Ein Jahrhundertleben. Die Biografie, München/ Zürich: Piper 2007, S. 568.

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D AS W ERK

ALS

G RENZE – G RENZEN

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Der russische Semiotiker Jurij Lotman geht in seiner Publikation Die Struktur literarischer Texte (1972) von einer räumlichen statt von einer zeitlichen Organisation erzählender Texte aus. Im Kapitel »Zur Komposition des Wortkunstwerks« thematisiert er die Grenze zwischen Werk und NichtWerk und fragt, wo die Linie verläuft, die den künstlerischen Text von allem trennt, was Nicht-Text ist und nur den Rahmen eines Werks oder aber ein eigenständiges Werk bildet. Zur Erläuterung der »materialisierte[n] Grenze des künstlerischen Raums«8 zieht er zwei Beispiele heran: die Theateraufführung im 18. Jahrhundert und das Tafelgemälde. Er fragt dabei, ob der Bühnenvorhang und die in den Bühnenraum integrierten Zuschauerränge bei der Aufführung am Gesamtkunstwerk teil haben, dem Rahmen eines Gemäldes eine eigene kompositionelle Rolle in der Wahrnehmung des Kunstwerks zukommt oder aber die Werkgrenze zwischen Rahmen und Leinwand verläuft. Er kommt dabei zu dem Schluss, dass dies von der Komposition und Organisiertheit der einzelnen Sujet-Elemente untereinander und deren semantischer Verbindung zum Sujet des jeweiligen Rahmens abhängt. Was Lotman aus literaturwissenschaftlicher Perspektive anhand von Strukturmerkmalen eines Texts an grundsätzlichen Überlegungen zur Verschiebung des Werkrahmens formuliert, scheint mir zentral für historische wie aktuelle Definitionen des Werkbegriffs. Nicht nur die Komposition des Wortkunstwerks, sondern der Werkbegriff an sich ist ein »Schlüsselbegriff der Kunstauffassung mit einer langen und reichen Problemgeschichte«9, wie Wolfgang Thierse dies bereits Anfang der 90er Jahre treffend zusammenfasst. Als eine »grundlegende Konzeptualisierung der künstlerischen

8

Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte, München: UTB 1972, S. 300401, hier S. 301.

9

Wolfgang Thierse: »›Das Ganze aber ist das, was Anfang, Mitte und Ende hat.‹ Problemgeschichtliche Beobachtungen zur Geschichte des Werkbegriffs«, in: Weimarer Beiträge 36 (1990), S. 240-261, hier S. 241. Es handelt sich um eine Vorversion für die Ausgabe »Ästhetische Grundbegriffe. Studien zu einem historischen Wörterbuch«, hg. von Karlheinz Barck/Martin Fontius/ders., Berlin: Akademie 1990, S. 378-414.

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Aneignung der Welt«10 stellt er eine hoch vermittelte Kategorie dar, die ständigen Aushandlungsprozessen um eine Grenzziehung unterliegt. Seit der Antike wechseln die Auffassungen, was unter einem Werk in Kunst, Musik und Literatur zu verstehen sei, welche Bestandteile als werkzugehörig erachtet werden, wer überhaupt der Produzent eines Werks ist – das Volkskollektiv, der individuelle Autor als Schöpfer und somit als ökonomisch-juridische Größe im Sinne der Urheberschaft oder der Rezipient, der das Werk im Wahrnehmungsvollzug mitkonstituiert?11 Der Romanist Karlheinz Stierle äußert sich wie folgt: Die Grenze ist dem Werk wesentlich, sei dies eine Begrenzung von Anfang und Ende wie in den Werken im Medium von Sprache und Musik oder in der markierten symbolischen Grenze des Rahmens für das Bild. Dennoch setzt die Grenze als Grenze einen Hof virtueller Fortsetzbarkeiten, eine ihm zugehörige Welt. Jedes Werk evoziert eine Welt, als deren Mittelpunkt es sich setzt.12

Stierle sieht »das Werk als ideale Mitte zwischen der Intention seines Urhebers und der Aneignung durch seinen Rezipienten« verortet. Ich möchte das Augenmerk im Folgenden aus kulturwissenschaftlicher Perspektive auf genau diesen »Hof virtueller Fortsetzbarkeiten« lenken, auf die »dem Werk zugehörigen Welt«.13

10 Thierse: Das Ganze aber ist das, was Anfang, Mitte und Ende hat, S. 241. 11 Vgl. Jan-Peter Pudelek: »Werk«, in: Karlheinz Barck et al. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 6, Stuttgart/ Weimar: Metzler 2005, S. 520-588. 12 Karlheinz Stierle: Ästhetische Rationalität. Kunstwerk und Werkbegriff, München: Fink 1997, S. 15. Vgl. zur Debatte um den Werkbegriff ebenfalls die Monografie von Steffen Martus: Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert. Mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George, Berlin u.a.: de Gruyter 2007. 13 Vgl. ebd.

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W ANDERNDE W OHNOBJEKTE : E INE E THNOGRAFIE DER AUSHANDLUNGSPROZESSE UM W ERKGRENZEN Im Rahmen meiner Mitarbeit im Forschungsprojekt »wissen&museum«14 hatte ich die Gelegenheit, den musealen und archivarischen Umgang mit gegenständlichen Nachlass- und damit auch Sammlungs-, Archiv- und Museumsobjekten aus dem Besitz und dem Wohninterieur des Autors, Philosophen und Entomologen Ernst Jünger zu ethnografieren. In diesem Umfeld ließ sich der Übersetzungsvorgang vom Archivobjekt zum Ausstellungsobjekt genau beobachten und analysieren, welche Rolle die Materialität von Nachlassobjekten für die Praktiken des Sammelns und Zeigens spielt. Mit diesen gegenständlichen Nachlassobjekten wird auf ganz unterschiedliche Art und Weise vom Deutschen Literaturarchiv in Marbach aus Literaturvermittlung betrieben. Seit den verstärkt im Jahr 2009 betriebenen Planungen zur Neukonzeption des seit 1999 als literarisches Memorial eingerichteten Wohnhauses des Autors (das im März 2011 wieder eröffnet wurde), bewegte ich mich als Empirische Kulturwissenschaftlerin und Ethnografin sowohl in den Magazinräumen des Literaturarchivs, den Räumen des Literaturmuseum der Moderne und dem Jünger-Haus in Wilflingen immer »im Feld«.15 Im Rahmen meiner Forschung durfte ich einen Blick »behind the scenes« werfen, um mit den Worten der Sozialanthropologin und Museologin Sharon MacDonald zu sprechen, die seit den letzten zehn Jahren für die Museologie wegweisende, ethnografisch orientierte Museumsstu-

14 Informationen zum BMBF-geförderten Kooperationsprojekt (2009-2012) des Instituts für Wissensmedien der Universität Tübingen mit dem Deutschen Literaturarchiv Marbach unter http://www.wissen-und-museum.de (letzter Aufruf am 20.07.2012). Zur gemeinsam konzipierten Ausstellung »1912. Ein Jahr im Archiv« (4. März bis 29. August 2012 im Literaturmuseum der Moderne) ist der gleichnamige Ausstellungskatalog als Marbacher Magazin Nr. 137.138 erschienen. 15 Die Neukonzeption des von der Ernst-Jünger-Stiftung getragenen Jünger-Hauses in Wilflingen wurde von der Arbeitsstelle für literarische Museen, Archive und Gedenkstätten in Baden-Württemberg (ALIM) unter der Leitung von Thomas Schmidt betreut.

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dien betreibt.16 MacDonald räumt den »front sections« des Museums, dem öffentlich zugänglichen Ausstellungsraum und damit einer Analyse der musealen Inszenierung der Objekte einen ebenso hohen Stellenwert ein wie den »back sections« (und damit meint sie die Magazin- und Depoträume und somit auch die Auswahl-, Sammlungs- und Erschließungsprozesse, denen die Objekte unterliegen). Vorstellen möchte ich im Folgenden einige Beobachtungen aus den »front« und den »back sections« im Umgang mit Objekten aus dem Jünger’schen Wohninterieur. Meine These lautet, dass die Dinge aus Jüngers Wohnwelt durch die mehrfache De- und Rekontextualisierung zwischen Wohnhaus, Museum, Archiv und Dichtergedenkstätte sowie ihre mediale Aufnahme eine solche Präsenz erlangen, dass sie zum dreidimensionalen Werkbestandteil des Œuvres Ernst Jüngers werden. Der Forderung Wolfgang Thierses, den Fokus auf kommunikative Formen der Ganzheitsbildung bei der Werkkonstituierung zu richten, und weiterführend Stierles Überlegungen zu einem auslegenden Werkverständnis als integralem Werkbestandteil folgend, wird die Marbacher Institution mit ihren angeschlossenen musealen Einrichtungen zum rezipierenden und damit interpretierenden Akteur des literarischen Œuvres Ernst Jüngers. Archiv und Museum sind im Zusammenspiel aktiv an einer Auslegung von Werkzugehörigkeit beteiligt. Und dies ist vor allem bei den Objekten der Fall, die vom Autor selbst literarisch nobilitiert worden sind, so zum Beispiel seine Sanduhrsammlung. Am Beispiel der Wanderschaft von Jüngers Sanduhren möchte ich die theoretischen Reflexionen in die Empirie überführen und exemplarisch verdeutlichen. Der Fokus meiner Forschung liegt auf den Aushandlungsprozessen, denen die Dinge eines Wohninterieurs unterliegen, wenn sie zu Nachlass-, Archiv- und Museumsobjekten werden und dem jeweiligen Werkbezug, der mit ihnen hergestellt wird. Der Literaturwissenschaftler Marcel Lepper weist auf diese sich bei Nachlassobjekten aus Dichter- und Gelehrtennachlässen ergebende »Spannung zwischen vermutetem Werk und Gehäuserest« hin und formuliert wie folgt: »Welche Restbestände des ›Gehäuses‹ geraten, weil sie für Werkbestandteile gehalten werden, unabsichtlich oder dul-

16 Sharon MacDonald: Behind the Scenes at the Science Museum, Oxford/New York: Berg Publishers 2002.

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dungsweise ins Archiv?«17 Bereits 1969 stellt Michel Foucault in seinem Vortrag Was ist ein Autor die Frage: »Ist dann alles, was er [der Autor, Anm. d. Verfass.] geschrieben hat, alles, was er hinterlassen hat, Teil seines Werks?« Und weiter: »Wie lässt sich aus den Millionen von Spuren, die jemand nach seinem Tod hinterlässt, ein Werk definieren?«18 Auch wenn diese Überlegungen auf die schriftlichen Hinterlassenschaften abzielen, möchte ich die Fragestellung auf einzelne überlieferte Dinge aus dem Wohnbereich eines Autors ausdehnen und danach fragen, in welcher beobachtbaren Form sich die literarischen Werke Jüngers materialisiert haben. Zentral sind dabei die Handlungsabläufe derjenigen Personen und Institutionen, die durch den Umgang mit diesen Dingen konstitutiv an der Konzeptionalisierung des Gesamt- oder Lebenswerks eines Autors und damit auch an dessen Kanonisierung beteiligt sind. Die unterschiedliche museale Präsentation von Objekten aus dem Nachlass Jüngers in einer Literaturausstellung (hierzu folgen zwei Marbacher Beispiele aus den Jahren 2001 und 2010) und einem zum Dichterhaus umfunktionierten Wohnhaus macht deutlich, dass die Bedeutungszuweisung zwischen den Kategorien »Leben« und »Werk«, der Person des Autors und seinem literarischen Schaffen changiert. Die Grenzen zwischen diesen beiden Kategorien erweisen sich in einem Nachzeichnen der Migrationswege dieser Objekte und damit dem ethnografierten Umgang unterschiedlicher Akteure mit ihnen jedoch nicht als statisch, sondern als verhandlungsfähig. Diese Aushandlungsprozesse möchte ich in Form einer kleinen »photophilosophische[n] Montage«19 à la Bruno Latour skizzieren. Als Vertreter der Actor-Network-Theory geht Latour von einem wissenssoziologischen Ansatz in der Produktion von Wissen und Bedeutung aus, der geprägt ist durch das Zusammenspiel menschlicher wie nicht-menschlicher Beteiligter. Ohne Latour dabei in allem zu

17 Marcel Lepper: »Zettelwelt, Denklabor oder Was Wissenschaftler hinterlassen: eine Sichtung«, in: Quarto. Zeitschrift des Schweizerischen Literaturarchivs Nr. 33/34 (2011), S. 27-34, hier S. 29. 18 Michel Foucault: »Was ist ein Autor?«, in: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Bd. 1 (1954-1969), hg. von Daniel Defert, Frankfurt/Main 2001, S. 1003-1041, hier S. 1009f. 19 Vgl. Bruno Latour: »Der ›Pedologen-Faden‹ von Boa Vista – eine photo-philosophische Montage«, in: ders.: Der Berliner Schlüssel. Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften, Berlin: Akademie 1996, S. 191-248.

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folgen und den nachgelassenen Dingen den aktiven Status von Akteuren einzuräumen, lässt sich die Prämisse »follow the object«20 methodisch für die ethnografische Fallstudie fruchtbar machen.

D IE S ANDUHR : L ITERARISCH W OHNOBJEKT J ÜNGERS

VERWERKTES

Sanduhren begleiten Ernst Jünger in seiner zweiten Lebenshälfte durch wechselnde Wohnstätten, er umgibt sich mit ihnen, sie sind fester Bestandteil seines Wohninterieurs. Literarisch zieht sich die Faszination für Sanduhren durch Jüngers literarisches Gesamtwerk. Als Bildmetapher taucht sie bereits früh in Jüngers Schrift Das Wäldchen 125. Eine Chronik aus den Grabenkämpfen 1918 auf, das der Autor im Jahr 1925 erstmals publiziert. Jünger visualisiert den Schützengraben, in dem die »mürbegebrannten gelben Wände, deren Körnchen kristallisch blitzen und zuweilen in schmalen, an eine Sanduhr erinnernden Bächen auf die Sohle rieseln«.21 Den Impuls für das Sammeln von Sanduhren ab 1944 beschreibt Jünger retrospektiv: Die erste schenkte mir Klaus Valentiner, der leider, wie so mancher liebe Freund, in Rußland verschollen ist. Ich sah sie als eines der Kuriosa an, wie man sie gern auf den Regalen oder zwischen den Büchern hat. Viel später erst, im Laufe nächtlicher Arbeiten, fiel mir auf, daß eine eigentümliche Beruhigung, ein stilles Leben von diesem Stundenglase ausging, das in sein eisernes Spindelwerk wie in einen Grillenkäfig eingezwingert war.22

1954, elf Jahre nachdem Jünger seine erste Sanduhr in Besitz genommen hat, publiziert er das Sanduhrbuch, ein längeres Essay, Betrachtungen über

20 Vgl. hierzu auch George E. Marcus: »Ethnography in/of the World System: The Emergence of Multi-Sited Ethnography«, in: Annual Review of Anthropology (1995), S. 95-117. 21 Ernst Jünger: Sämtliche Werke, Bd. 1 (1978), Stuttgart: Klett-Cotta 1978-2003, S. 392. 22 Ebd., Bd. 12, S. 103.

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die Geschichte der Zeitmessung, die Bedeutung von Zeit für das Leben, verschiedenste Erscheinungsformen der Uhr, darunter auch die Sanduhr: So ist in jedem Studierzimmer, in jeder Bücherstube ein wenig Sanduhrstimmung, ein wenig vom Geiste der Melancholia und des heiligen Hieronymus. Es ist da immer Trauer, aber auch immer Behaglichkeit, weil immer Besinnung ist. Jeder wird Stunden kennen, die er dort schweigend oder im Gespräch verbrachte und in denen die Zeit, wenn nicht stille zu stehen, so doch gemächlicher zu fließen schien.23

Jünger scheint die Stimmung seines Arbeitszimmers in Wilflingen zu reflektieren, das für ihn 50 Jahre lang Schaffens- und Wirkungsstätte ist. Die literarische Verarbeitung der eigenen biografischen Mikrogeschichte in Form von Tagebüchern zeigt, wie Jünger sich bereits einen ästhetischen Nachlass zu Lebzeiten schafft. Abgesehen vom Sanduhrbuch taucht der literarische Reflex der Stundengläser rund 40 Mal in Jüngers edierten Sämtlichen Werken auf, quer durch seine Journale, Romane und Essays, die Briefe einmal außen vor gelassen. Dabei sind die Sanduhren nicht die einzigen gegenständlichen Interieurteile Jüngers, die Werkbezug aufweisen. Die Ding-Arrangements werden zu dekorativen und exponierten Referenten der jeweiligen Facette, die der Autor von seiner Person im wortwörtlichen Sinne einmal literarisch beschreibt und in seinem Domizil gleichzeitig zeigt.

23 Jünger: Sämtliche Werke, Bd. 1,S. 105.

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D IE S ANDUHR : S YMBOL DER MEDIALEN (S ELBST -)I NSZENIERUNG

Abb. 3: Ernst Jünger 1994 in Wilflingen, Foto von François Lagarde.

Abbildung 3 zeigt ein Foto aus dem Jahr 1994, aufgenommen von François Lagarde kurze Zeit vor dem 100. Geburtstag Ernst Jüngers. Es zeigt den Autor in seinem Arbeitszimmer an seinem Schreibtisch in Wilflingen. Die Sanduhren werden Teil der medialen Selbstinszenierung Jüngers. Kein Bildband zu Jüngers 50-jährigem Aufenthalt in Oberschwaben, der die Aufstellung der Sanduhren ausließe (Abb. 4). Die mediale Aufnahme der Sanduhren, ihre virtuelle Reise in Form von Fotos und Bildbänden markiert den Übergang der Uhren von präsentierten Zimmerdenkmälern hin zu Objekten, die mit der Werkrezeption, Jüngers Tagebuchreflexionen und seiner philosophischen Auseinandersetzung mit den Uhren in Verbindung zu bringen sind. Durch Jüngers literarische Nobilitierung werden die Sanduhren bereits zu Lebzeiten des Autors vom persönlichen Sammlungs- und Erinnerungsstück zum medial inszenierten Werksymbol.

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Abb. 4: Jünger-Haus Wilflingen 1998, in: Barbara Figal: Ernst Jünger in Wilflingen. Ein Gang durch das Haus in Photographien und Texten, hg. vom Freundeskreis der Brüder Ernst und Georg Jünger e.V. Riedlingen, Stuttgart: Klett-Cotta 2001, S. 73.

D IE S ANDUHR : T EIL W OHNINTERIEURS

DES TRANSFORMIERTEN

Manifestiert wird diese Bedeutungszuweisung durch die Transformation der Wilflinger Oberförsterei zur literarischen Gedenkstätte nach Jüngers Tod im Jahr 1998. Die Sanduhren werden zu Exponaten und bleiben Bestandteil des musealisierten Interieurs. Hauptsächlich vollzieht sich das Betrachten von Gegenständen, die Teil eines mehr oder weniger authentisch inszenierten Lebens- oder Wirkungsumfelds eines Autors sind, auf einer

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rein »affektiven Ebene gefühlter biographischer Nähe«24 zum Autor. Ihnen kommt der Status auratischer Lebenszeugnisse zu. Sie fungieren als Emotionstrigger und Reliquien und sind weniger Belege für das literarische Werk eines Autors, sondern allemal Zeugnisse literarischen Lebens. Der Werkbezug rückt dabei meist in den Hintergrund. Die Ausnahme bilden Gegenstände, die in einem literaturwissenschaftlichen und literatursoziologischen Ansatz, der das Dispositiv der »Schreibszene« in die Text- und Werkproduktion mit einbezieht, Berücksichtigung finden, beispielsweise Schreibmöbel und -werkzeuge.25

D IE S ANDUHR : E XPONAT IN DER AUSSTELLUNG »E RINNERUNGSSTÜCKE « IM S CHILLER -N ATIONALMUSEUM 2001 Abbildung 5 zeigt die Sanduhren außerhalb Jüngers ehemaligen Wohnumfelds. Sie sind Teil der Schau »Erinnerungsstücke. Von Lessing bis Uwe Johnson«, einer im Jahr 2001 gezeigten Sonderausstellung in den Räumen des Schiller-Nationalmuseums in Marbach. Intention dieser Ausstellung ist es, die Nebenschauplätze der Literatur in den Vordergrund zu rücken, nachgelassene, gegenständliche Sachzeugnisse als »Dokumente einer Erinnerungskultur« zu zeigen mit dem Verweis darauf, dass »Literaturgeschichte nicht ausschließlich Textgeschichte [ist]«.26 So gut wie kein Schriftstück oder Buch ist zu sehen, der Fokus liegt auf einer Präsentation aus dem Fundus der Abteilung »Bilder und Objekte« des Marbacher Literaturarchivs. In einer Wandvitrine sind Sanduhren aus Jüngers Sammlung exponiert. Im

24 Vgl. Christiane Holm: »Ausstellung, Dichterhaus, Literaturmuseum«, in: Natalie Binczek/Till Dembeck/Jörgen Schäfer (Hg.), Metzler-Handbuch Medien der Literatur, erscheint 2013. 25 Stellvertretend für die Schreibszenen-Forschung verweist Holm auf die Studie von Martin Stingelin (Hg.), »Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum«. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte, München: Fink 2004. 26 Ausstellungskatalog »Erinnerungsstücke. Von Lessing bis Uwe Johnson«, Ausstellung und Katalog von Michael Davidis und Gunther Nickel (= Marbacher Katalog Nr. 56), Marbach a.N.: Deutsche Schillergesellschaft 2001, S. 5f.

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Gegensatz zu den meisten anderen Exponaten stammen die Sanduhren nicht aus dem seit über hundert Jahren zusammengetragenen Sammlungsfundus des Archivs. Die Uhren sind Leihgaben der Ernst-Jünger-Stiftung, die seit 1999 Träger der Gedenkstätte in Wilflingen ist und in deren Besitz die Sanduhren sind. Der schriftliche Nachlass Jüngers sowie Teile des gegenständlichen Nachlasses sind 2001 bereits Eigentum des Deutschen Literaturarchivs, eine Übernahme v.a. schriftlicher Nachlassteile erfolgte noch zu Jüngers Lebzeiten sowie nach dem Tod des Autors.

Abb. 5: Sonderausstellung »Erinnerungsstücke. Von Lessing bis Uwe Johnson« (Juli bis November 2001) im Schiller-Nationalmuseum Marbach, Foto DLA Marbach.

Die Sanduhren werden für die Laufzeit der Ausstellung aus Jüngers ehemaligem Wohnhaus nach Marbach transferiert. Exponat- und Katalogtext legen die Sanduhren auf ihre Bedeutung als gegenständliche Werksymbole fest. Es ist die literarische Verwerkung, die sie erfahren haben, die bei den Jünger’schen Erinnerungsstücken im Vordergrund steht: Die Verbindung des Objekts mit der Person des Autors einerseits sowie die Werkverbindung andererseits. Der Katalogtext gibt nicht weniger als neun Auszüge aus Jüngers (z.T. autobiografischen) Werken an, in denen der Autor über den Erwerb von Sanduhren in seinen Tagebüchern schreibt oder sie literarisch zum Anlass für seine Reflexionen über Zeit macht. Diese Doppelbödigkeit der präsentierten Objekte zwischen biografischem Partikel einerseits und literarisch reflektiertem Lebenszeugnis andererseits ist nicht bei allen Exponaten zentral: Die Ausstellungsobjekte werden durch die begleitenden Ex-

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ponat- und Katalogtexte als Zeugnisse einer bürgerlichen Erinnerungskultur und Dichterverehrung präsentiert, oder es werden an und mit den Objekten (kultur)historische und politische Bezüge hergestellt: Gegenstände können Symbole für Leben, Werk oder Epoche sein: Die Brieftasche, die Schiller 1784 als Verehrungsgeschenk erhielt, wurde zum Merkzeichen für eine Lebenswende, Mörikes Turmhahn zum Sinnbild seiner Autorschaft. Ein von Henriette Herz gesticktes Portrait Napoleons lässt sich als Zeichen der Anerkennung seiner Verdienste um die Judenemanzipation, eine von der Kaiserin Augusta gestiftete Schiller-Vase als Parteinahme für die liberale Bewegung deuten. Andere Stücke wie Ernst Jüngers Stahlhelme, H.G. Adlers Judenstern oder das mexikanische Reisealtärchen von Anna Seghers stehen für einschneidende historische Ereignisse wie Krieg, Revolution, Verfolgung und Exil.27

D IE S ANDUHR : ARCHIVALIE L ITERATURARCHIVS 2009

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Nachdem die Sanduhren nach Ablauf der Ausstellung wieder Teil der Dichtergedenkstätte sind, werden sie 2009 erneut von Wilflingen nach Marbach transferiert. Aufgrund der Sanierung wird das gesamte Jünger’sche Interieur in die Marbacher Magazine eingelagert. Dies betrifft nicht nur die Bücher, sondern auch die Gegenstände, Souvenirs und Zimmerdenkmäler des Autors. Stück für Stück werden Bücherregale, Schränke und Schubladen, Tische und Fenstersimse geräumt, und Bilder von den Wänden abgehängt. Der entscheidende Schritt, der die Sanduhren qua institutioneller Wirkmächtigkeit zu möglichen Nachlass- und somit Werkbestandteilen macht, vollzieht sich jetzt: Vor Ort bei der Evakuierung entscheidet ein Mitarbeiter des Marbacher Stabs, was an gegenständlichen Hinterlassenschaften in Marbach verzeichnet, erschlossen und in die Datenbank aufgenommen, was somit als archivwürdig erachtet wird. Und das unabhängig von der dauerhaften Präsentation der ausgewählten Gegenstände in der 2011 wieder zu eröffnenden Dichtergedenkstätte. Dies ist der Schritt, bei dem der Archivar Bestandsbildung betreibt und das Nachlassporträt formt. Die Sanduhr-

27 Ausstellungskatalog »Erinnerungsstücke. Von Lessing bis Uwe Johnson«, S. 10.

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sammlung ist in einer provisorischen Aufstellung, die Aufschluss über die Versicherungswerte und Besitzverhältnisse der Nachlassteile gibt, vorläufig als Besitz der Ernst-Jünger-Stiftung ausgewiesen. Dennoch werden Teile davon verhandelbar. Auf diesen, sich jetzt ergebenden Aushandlungsprozess zielt die bisherige Darstellung der Wanderschaft der Sanduhren ab: Die Sanduhren weisen einen engen Werkbezug auf, der seitens des Autors geschaffen wurde und sich durch die mediale sowie die museale Rezeption der Uhren, die sie weiterhin auf diese Bedeutung festlegen, manifestiert. Es wird vor Ort entschieden, dass ein Teil der Sanduhrsammlung in Marbach zur Verzeichnung und Erschließung frei gegeben wird. Durch einen kleinen Zettel werden die Uhren als Marbach zugehörig gekennzeichnet, die auch in der Ausstellung 2001 in den »Erinnerungsstücken« exponiert und im Katalog abgebildet waren sowie das Uhrenensemble mit rotem Sand, das auf dem Foto kurz vor Jüngers 100. Geburtstag zu sehen ist. Das bedeutet, dass die beiden Sanduhren während der interimistischen Lagerung in den Magazinen des Archivs eine Inventarnummer erhalten und somit in den gegenständlichen Nachlass Ernst Jüngers aufgenommen werden. Als Referenzobjekte unter vielen anderen Gegenständen, die zum Bestand Jünger dem Referat »Bilder und Objekte« angehören, werden unter dem Schlagwort »Gegenstand« neben den beiden Stahlhelmen des Autors und einem weiteren Objekt aus Jüngers Wohninterieur dann auch genau diese drei Sanduhren exemplarisch in den elektronischen Katalog überführt. Sie sind somit zukünftig elektronisch abruf- und beforschbar. Was an Gegenständlichem, den in Marbach allgemein als »Erinnerungsstücke« bezeichneten Objekten aus dem Wohnumfeld von Autoren in den Bestand übernommen wird, unterliegt keinem schriftlich fixierten Reglement. Die oben ausgeführten Auswahl- und somit Aushandlungsprozesse sind idiosynkratisch motiviert. Folgt man den aktuellen, für den deutschsprachigen Raum entwickelten »Regeln zur Erschließung von Nachlässen und Autographen« (RNA),28 deren Vorläufer in den 1970er Jahren u.a. unter der Mitwirkung von Mitarbeitern des Deutschen Literaturarchivs erarbeitet

28 Regeln zur Erschließung von Nachlässen und Autographen (RNA). Betreut von der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz und der Österreichischen Nationalbibliothek Wien, Stand 4.02.2010. URL: http://kalliope.staatsbib liothek-berlin.de/verbund/RNA/rna_r1_richtlinie.html 20.07.2012).

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wurden, fallen die beiden Sanduhren im Glossar allenfalls unter die Kategorie »Sammelstück/Objekt«.29 Darunter wird »eine Vorlage, die nicht einer der Materialhauptgruppen Werke, Korrespondenzen oder (Lebens-)Dokumente zugeordnet werden kann«,30 verstanden. Objekte dieser vierten, untergeordneten Kategorie der »Sammlungen und Objekte« bilden eine entscheidende Grauzone im Aushandlungsprozess. Sie werden von der Hauptkategorie »Werk« im Vorschlag der »Gliederung eines Bestands« getrennt, was nicht zuletzt am Medientyp und der Materialart liegt – die Richtlinien sind das Handwerkszeug zum Umgang mit Literaria und diese »Erschließungsregeln für Nachlässe fragen bemerkenswerterweise nicht nach der Hardware, sondern nach Textgattungen«31, wie Marcel Lepper das in seinen Ausführungen zum Unterschied und den Gemeinsamkeiten von Dichterund Gelehrtennachlässen konstatiert. Ihre Legitimation im Bestand erhalten diese Gegenstände aber dennoch, da sie – so die Vorgabe – »Aufschluss über Werk, Tätigkeit und Biographie des Bestandsbildners bzw. der Bestandsbildnerin«32 geben, auch wenn sie weiterhin immer in Verbindung mit dem Topos »Biographie« verhandelt werden. Der Begriff des »Werks« wird zu Beginn der Richtlinien folgendermaßen definiert: »Alle privat oder beruflich verfassten […] Aufzeichnungen, Skizzen, Entwürfe und Ausarbeitungen, seien sie z. B. künstlerischen, wissenschaftlichen, journalistischen und politischen Inhalts, unab-

29 Marbach orientiert sich an einer institutionsinternen Version des Regelwerks, dessen Vorläufer, das »Marbacher Memorandum«, kurz »Memo« parallel zu den RNA entwickelt, kontinuierlich überarbeitet wurde und teilweise mit in die RNA eingeflossen ist. Vgl. dazu Jochen Meyer: »Erschließungsmodelle und die Bedürfnisse der Forschung. Das ›Marbacher Memorandum‹ des Deutschen Literaturarchivs«, in: Christoph König/Christoph Seifert (Hg.), Literaturarchiv und Literaturforschung. Aspekte neuer Zusammenarbeit (= Literatur und Archiv Bd. 8), München u.a.: Saur 1996, S. 175-188. Im Gegensatz zu den RNAs findet im aktuellen Marbacher Handbuch Gegenständliches aber keine Erwähnung, da solche Objekte an die Sammlungen des Referats „Bilder und Objekte“ abgegeben werden, für die in Bezug auf gegenständliche Nachlassteile kein schriftlich fixiertes Regelwerk existiert. 30 RNA, S. 64. 31 Lepper: Zettelwelt, Denklabor, S. 28. 32 RNA, S. 9.

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hängig von der Form, in der sie überliefert sind und davon, ob sie abgeschlossen oder unvollendet sind«.33 Das Regelwerk operiert mit einem konkreten und auf die Praxis ausgerichteten Werkbegriff, der viel Spielraum in der Gestaltung eines Nachlassprofils als Werkprofil zulässt. Bezogen auf die hinterlassene Skriptomasse eines Autors scheint dieses praxiologische Werkverständnis auf flexible und fluide Werkgrenzen, einen weit gefassten Werkbegriff, abzuzielen. Übertragen auf die dreidimensionalen Objekte wird dies nun auch in der nächsten Station der Sanduhren deutlich.

D IE S ANDUHR : E XPONAT DER M ODERNE 2010/11

IM

L ITERATURMUSEUM

Während ihres Aufenthalts bis zur Wiedereinrichtung Wilflingens werden die Sanduhren nicht nur verzeichnet und erschlossen, sondern auch erneut präsentiert im Rahmen der großen Sonderausstellung »Ernst Jünger. Arbeiter am Abgrund«, die von November 2010 bis März 2011 im Literaturmuseum der Moderne in Marbach zu sehen ist.34 Die Schau thematisiert Jünger als »Schreiber und Artisten der ›Verwerkung‹«35 und zeigt, dass Ernst Jüngers Schreiben entlang einer Linie erfolgt, die zwischen Leben und Literatur verläuft. Diese Linie wird zum konzeptionellen wie gestalterischen Leitmotiv der als »Werkschau« angelegten Ausstellung, in die auch einzelne Objekte und Ensembles aus Jüngers Wohnwelt integriert werden. Die beiden Ausstellungsräume durchzieht eine als chronologische Linie angelegte Reihe Hochvitrinen, die in 10-Jahres-Schritten horizontal durch die beiden Ausstellungsräume führt und Teile aus dem schriftlichen Nachlass Jüngers zeigt. Vertikal in den Vitrinen geschichtet sind die verschiedenen Werkstufen zu sehen, die von Jüngers Tage- und Notizbüchern über verschiedene Manuskript- und Typoskriptfassungen bis zum gedruckten Buch reichen, vom Kriegstagebuch bis zur Erstausgabe der Stahlgewitter. Ge-

33 RNA, S. 7. 34 Vgl. dazu den Ausstellungskatalog »Ernst Jünger. Arbeiter am Abgrund« (= Marbacher Katalog Nr. 64), Marbach/Neckar: Deutsche Schillergesellschaft 2010. 35 Ebd., S. 9.

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zeigt wird der literarische Produktions- und Schaffensprozess, Jüngers Arbeit am Text, am Werk. Flankiert wird diese Vitrinenreihe von Ausstellungskapiteln in einzeln stehenden Tischvitrinen, in denen dann auch die »Wilflinger Sedimente« (O-Ton der Kuratorin), Gegenstände aus dem Wohninterieur mit schriftlichen Nachlassteilen ensembliert werden.

Abb. 6: Sonderausstellung »Ernst Jünger. Arbeiter am Abgrund« (November 2010 bis März 2011) im Literaturmuseum der Moderne Marbach, Foto DLA Marbach.

Dass diese Linie zwischen Leben und Werk bei Ernst Jünger durchlässig ist, verdeutlicht gerade die Exponatauswahl aus dem literarischen Nachlass und aus dem Lebens- und Wohnumfeld Jüngers. Auf Abbildung 6 sind die Sanduhren auf dem unteren Vitrinenboden einer Tischvitrine, die den Titel »In die Bücher eingehen« trägt, zu sehen, die Teil des Ausstellungskapitels »Totale Tinte« ist. Die Wilflinger Sedimente grundieren den schriftlichen Nachlass Ernst Jüngers. Der Bezug zum Werk wird indirekt über den Vitrinentitel hergestellt. Auch der an die Wand geplottete Bereichstext des Ausstellungskapitels, das Jüngers Arbeit am Text, seinen Umgang mit dem Autor-Ich und die verschiedenen Publikationsorgane, derer er sich bedient, verweist auf den Kontext der Verwerkung und somit auf eine literarische Werkzugehörigkeit der Sanduhren. Ensembliert sind die Sanduhren, unter denen sich auch ein inventarisiertes Exemplar befindet, auf dem unteren Glastablar mit einem anderen Glaskörper, Ernst Jüngers Aftershave Balm »Nightflight« in blauem Flakon, sowie einer von Jünger 1928 herausgegebenen Ausgabe von Luftfahrt tut Not in blauem Schutzumschlag. Was entsteht, ist ein Objektensemble, das eher nach ästhetischen und auf Präsenzeffekte abzielenden und weniger nach werkbezogenen Kriterien zusammen-

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gestellt ist, und damit auch auf einen anderen Bedeutungshorizont anspielt. Die darüber liegende Bibel Jüngers, sein Hyperion-Exemplar von Hölderlin und verschiedene Publikationen, Vorworte und Fotos in nationalistischen Publikationsorganen rücken eine Facette von Jüngers Weltsicht und den politischen Jünger in den Vordergrund. Die Sanduhren sind nicht mehr nur auf ihre Aussage als gegenständliches Werksymbol festgelegt, ihr Einbezug in diese große »Werkschau« insgesamt manifestiert ihre Bedeutung als gegenständliche Werkbestandteile jedoch ein weiteres Mal.

D IE S ANDUHR : W ERKSYMBOL

IM

J ÜNGER -H AUS 2011

Nach Abbau der Ausstellung im LiMo werden die Sanduhren in ihre vorerst letzte Station in der »reauthentifizierten« Gedenkstätte (O-Ton des Kurators), dem Jünger-Haus in Wilflingen transportiert. Streng nach Bildvorlage, die sich auf einen Referenzzeitraum ein halbes Jahr nach Jüngers Tod bezieht, platzieren die Marbacher Restauratorinnen die Sanduhren wieder auf dem Regal neben Jüngers Schreibtisch. Die kuratorische Vorgabe ist, einen Zustand des Wohninterieurs herzustellen, der dem zu Jüngers Lebzeiten möglichst nahe kommt, und zwar anhand eines Bildkonvoluts, das den gesamten Wohnbereich fotografisch gut dokumentiert und im August 1998 angefertigt wurde. Die Uhrenexemplare, die in der Ausstellung »Erinnerungsstücke« 2001 präsentiert worden sind, daraufhin inventarisiert wurden und in der großen Ernst-Jünger-Ausstellung 2010/11 erneut zu sehen waren, ziert nun ein kleines Schildchen mit einer Inventarnummer, angebracht mit einem dünnen schwarzen Bindfaden am Messinggehäuse der Uhr, so dass es sich problemlos unter dem Glaskörper verstecken lässt. Es zeichnet die Exemplare als Eigentum des Deutschen Literaturarchivs und als Teil des erschlossenen Nachlasses Ernst Jüngers aus. Den Kommentar zum Haus bildet ein am Boden entlang laufendes, blau gestaltetes Leitsystem mit Zitaten aus Jüngers Werken größtenteils ab 1950, dem Einzug des Autors in die Oberförsterei. Es ist der Versuch, »Jünger durch sein Werk hindurch selbst eine Stimme [zu] geben [...], die das Haus oder seine Objekte kommentieren, lesbar machen« so bezeichnete das Thomas Schmidt, dem

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die kuratorische Leitung des Projekts obliegt, in einem Vortrag zur Wiedereröffnung des Jünger-Hauses.36

Abb. 7: Jünger-Haus Wilflingen 2012, eigenes Foto.

Die Textstellen schaffen Raumbezüge, die Zitate thematisieren die Stimmung des Hauses, sind Beschreibungen täglicher Rituale oder setzen verschiedene Dingarrangements in Bezug zur Reiselust, Naturwahrnehmung oder Weltsicht des Autors. In Jüngers Arbeitszimmer entspricht die Raumtopografie auch einer solchen Objekttopografie. Das Eingangszitat im Arbeitszimmer aus dem Sanduhrbuch37, mit dem der Autor selbst die Verbindung zwischen »Studierzimmer« und »Sanduhrstimmmung« schafft, stellt die Sanduhren als Introobjekte und somit optische Aufmacher des Raumes heraus (Abb. 7). Erneut ist es der literarische Reflex der Stundengläser, der dem Besucher des Jünger-Hauses nicht nur den Raum und die Ordnung der

36 Vgl. Schmidt: Vom Haus des Dichters zum Dichterhaus. 37 Vgl. Jünger: Sämtliche Werke, Bd. 12 (1979), S. 105.

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Dinge darin näher bringen will, zu Jünger privatim führt, sondern ihnen auch das Werk Ernst Jüngers mittels der Sanduhren vor Augen führen soll – nicht als Stückwerke sondern als Werkstücke.

D IE S ANDUHR : W OHNOBJEKT – W ERKSYMBOL – W ERKBESTANDTEIL Ernst Jüngers Sanduhren aus seinem Wohninterieur unterliegen auf ihrer Wanderschaft nicht nur einem räumlichen Ortswechsel. Durch die archivarischen wie musealen Praktiken, in die sie eingebunden sind, ändert sich auch ihre Bedeutungszuweisung hinsichtlich einer Werkzugehörigkeit. Die aufgezeigten Aushandlungsprozesse, die sich an und mit den Objekten vollziehen, zielen auf eine praxeologisch orientierte Werkauslegung ab: Die vom Autor literarisch nobilitierten Uhren werden in der musealen Fokussierung auf Gegenständliches vom literarischen Nebenschauplatz ins Zentrum gerückt und somit zu Werksymbolen. Die Auswahl und Übernahme der exponierten Sanduhren aus der Gesamtheit des gegenständlichen Nachlasses in die Archivbestände manifestiert diese Bedeutungszuweisung. Durch die erneute De- und Rekontextualisierung zwischen Archiv, Literaturausstellung und Dichtergedenkstätte kommt den Sanduhren nicht mehr allein die Bedeutung als musealisierte Zimmerdenkmäler im Jünger-Haus zu. Aus der expositorischen Kombination mit dem schriftlichen Nachlass des Autors in seiner »Werkschau« im Literaturmuseum erhalten sie den Charakter eines dreidimensionalen Werkbestandteils. Diese Auszeichnung wird in der vorerst letzten Station der Sanduhren, im neu konzipierten Dichterhaus durch den Einsatz kommentierender Präsentationsmittel, die dem Besucher den Werkbezug noch einmal vor Augen stellen, gefestigt.

D EPONIERTE UND EXPONIERTE W OHNOBJEKTE : W ERKBESTANDTEILE IN EINER DREIDIMENSIONALEN S CHAU -P HILOLOGIE Der Literatur- und Kulturwissenschaftler Uwe Wirth bezeichnet Literaturausstellungen als »Schau-Philologie, in der Performance-Akte der Textwerdung durch das Präsentieren von Avant-Texten [und] Epitexten […]

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vorgeführt, sprich: vorgezeigt werden«.38 Im Anschluss an die ethnografische Feldstudie möchte ich eine dreifache Erweiterung des von Wirth vorgeschlagenen Begriffs der »Schau-Philologie« vornehmen: Er umfasst dann zum ersten nicht nur die museale Präsentation von schriftlichen Materialien des Schreib- und Entstehungsprozesse, die durch ihre Musealisierung zu »philologischen Dingen« werden, sondern auch die verwerkten, gegenständlichen Objekte aus dem Wohninterieur eines Autors. Zum zweiten ist diese »Schau-Philologie« dann nicht mehr nur im Rahmen einer mit Vitrinen arbeitenden Literaturausstellung zu denken, sondern auch im Konzept des musealisierten Wohnhauses, in Form der Dichtergedenkstätte. Als dritte institutionalisierte Größe sind es neben den musealen Praktiken des präsentierten Werks die archivarischen Praktiken und damit die Akteure des Literaturarchivs, die Überlieferungsbildung im Sinne der Schaffung des literarischen Patrimoniums eines Autors betreiben, die ihrerseits wiederum stark von der medialen wie musealen Inszenierung der Objekte geprägt ist. Der Blick auf das Zusammenspiel der in diesen drei Feldern beteiligten Akteure im Umgang mit den nachgelassenen Objekten Jüngers aus seinem Wohninterieur lässt einen Vergleich mit einem Editionsprojekt zu, das einerseits selektiv entscheidet, was zum überlieferten Werk eines Autors zählt und dasselbe gleichzeitig auch unterschiedlich im dreidimensionalen Raum präsentiert und kommentiert: Was in welcher Form zum Werk eines Dichters und Autors zu rechnen ist, wird auf der Sammlungs- wie auf der Zeigeebene auf je unterschiedliche Art und Weise manifestiert und verhandelt. Die museale Präsentation ist somit als dreidimensionale Art der Edition zu verstehen, die sich einer Material- und Objektkategorie bedienen kann, die einem Editionsprojekt in klassischem Sinne nicht zur Verfügung steht, weil es nicht über diesen Zeigemodus verfügt. Das Besondere ist, dass das Museum es schafft, diese verhandelbare Grauzone der 3D-Objekte mit der Strategie des Zeigens als räumliche 3D-Form der Edition und damit auch verstärkt als 3. Dimension der Literatur (die Dimension der Zeit im Sinne einer Zugehö-

38 Uwe Wirth: »Was zeigt sich, wenn man Literatur zeigt?«, in: Anne Bohnenkamp/Sonja Vandenrath (Hg.), Wort-Räume, Zeichen-Wechsel, Augen-Poesie. Zur Theorie und Praxis von Literaturausstellungen, Göttingen: Wallstein 2011, S. 53-64, hier S. 57.

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rigkeit der Objekte zum Entstehungsprozess eines Werks) auszuzeichnen.39 Diese unterschiedlichen »Editionspraktiken« von gegenständlichen Nachlassobjekten zeigen, dass sich die Grenzen einer Zuweisung vom biografischen Partikel über das reflektierte Lebenszeugnis hin zum Werkbestandteil mit einem Blick »behind the Scenes« als verhandelbar erweisen. So verstanden wird die Arbeit am Nachlassprofil und dessen musealer Präsentation zur Arbeit am Werkprofil eines Autors.

L ITERATUR Ausstellungskatalog »1912. Ein Jahr im Archiv« (= Marbacher Magazin Nr. 137.138), Marbach/Necker 1912. Ausstellungskatalog »Erinnerungsstücke. Von Lessing bis Uwe Johnson«, Ausstellung und Katalog von Michael Davidis und Gunther Nickel (= Marbacher Katalog Nr. 56), Marbach/Necker: Deutsche Schillergesellschaft 2001. Ausstellungskatalog »Ernst Jünger. Arbeiter am Abgrund«, (= Marbacher Katalog Nr. 64), Marbach/Necker: Deutsche Schillergesellschaft 2010. Ausstellungskatalog »Weimarer Klassik. Kultur des Sinnlichen«, hg. von Sebastian Böhmer et al., Berlin/München: Deutscher Kunstverlag 2012. Foucault, Michel: »Was ist ein Autor?«, in: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Bd. 1 (1954-1969), Frankfurt/Main: Suhrkamp 2001, S. 1003-1041. Holm, Christiane: »Ausstellung, Dichterhaus, Literaturmuseum«, in: Natalie Binczek/Till Dembeck/Jörgen Schäfer (Hg.), Metzler-Handbuch Medien der Literatur, Berlin: Metzler 2012 [im Druck]. Jünger, Ernst: Sämtliche Werke, Stuttgart: Klett-Cotta 1978-2003. Latour, Bruno: »Der ›Pedologen-Faden‹ von Boa Vista – eine photo-philosophische Montage«, in: ders.: Der Berliner Schlüssel. Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften. Aus dem Französischen übersetzt von Gustav Roßler, Berlin: Akademie 1996, S. 191-248.

39 Vgl. dazu auch den Aufsatz von Heike Gfrereis und Ellen Strittmatter in diesem Band.

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Lepper, Marcel: »Zettelwelt, Denklabor oder Was Wissenschaftler hinterlassen: eine Sichtung«, in: Quarto. Zeitschrift des Schweizerischen Literaturarchivs Nr. 33/34 (2011), S. 27-34. Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte, München: UTB 1972. MacDonald, Sharon: Behind the Scenes at the Science Museum, Oxford/ New York: Berg Publishers 2002. Marcus, George E.: »Ethnography in/of the World System: The Emergence of Multi-Sited Ethnography«, in: Annual Review of Anthropology (volume publication date October 1995), S. 95-117. Marquard, Odo: »Gesamtkunstwerk und Identitätssystem«, in: Harald Szeeman (Hg.), Der Hang zum Gesamtkunstwerk. Europäische Utopien ab 1800. Ausstellungskatalog zur gleichnamigen Ausstellung im Kunsthaus Zürich, Aarau: Sauerländer 1983, S. 40-51. Martus, Steffen: Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert. Mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George, Berlin u.a.: de Gruyter 2007. Meyer, Jochen: »Erschließungsmodelle und die Bedürfnisse der Forschung. Das ›Marbacher Memorandum‹ des Deutschen Literaturarchivs«, in: Christoph König/Christoph Seifert (Hg.), Literaturarchiv und Literaturforschung. Aspekte neuer Zusammenarbeit (= Literatur und Archiv Bd. 8), München u.a.: Saur 1996, S. 175-188. Mohler, Armin: Die Schleife. Dokumente zum Weg von Ernst Jünger, Zürich: Arche 1955. Pudelek, Jan-Peter: »Werk«, in: Karlheinz Barck u.a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 6, Stuttgart/Weimar: Metzler 2005, S. 520-588. Regeln zur Erschließung von Nachlässen und Autographen (RNA). Betreut von der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz und der Österreichischen Nationalbibliothek Wien, Stand 4.02.2010. URL: http://kalliope.staatsbibliothek-berlin.de/verbund/RNA/rna_r1_richtlinie .html vom 20.07.2012. Schmidt, Thomas: »Vom Haus des Dichters zum Dichterhaus. Zum Problem der Authentizität im Wilflinger Jünger-Haus«, Vortrag auf dem XI. Jünger-Symposium am 27.03.2010 [erscheint in der Reihe JüngerStudien, Bd. 6 (2012) im Tübinger Attempto Verlag]. Schwilk, Heimo: Ernst Jünger. Ein Jahrhundertleben. Die Biografie, München/Zürich: Piper 2007.

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Spiegel, Hubert: »Ernst Jünger. Wohnhaus letzter Hand«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30.03.2011. Stierle, Karlheinz: Ästhetische Rationalität. Kunstwerk und Werkbegriff, München: Fink 1997. Stingelin, Martin (Hg.), »Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum«. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte, München: Fink 2004. Thierse, Wolfgang: »›Das Ganze aber ist das, was Anfang, Mitte und Ende hat.‹ Problemgeschichtliche Beobachtungen zur Geschichte des Werkbegriffs«, in: Weimarer Beiträge 36 (1990), S. 240-261. Wirth, Uwe: »Was zeigt sich, wenn man Literatur zeigt?«, in: Anne Bohnenkamp/Sonja Vandenrath (Hg.), Wort-Räume, Zeichen-Wechsel, Augen-Poesie. Zur Theorie und Praxis von Literaturausstellungen, Göttingen: Wallstein 2011, S. 53-64.

II. Performanz und Interaktion

Exhibiting Literature Austen Exhibited N ICOLA J. W ATSON

So the day had finally come… The epic and long awaited pilgrimage to Jane Austen’s home! […] We were so excited to be there that we literally seemed to revert to girlhood at the mere site [sic] of the house… Lots of giggling, pictures, and intense moments of quiet…(as if we might somehow will Jane herself to walk through the front door) ensued.[…] The close second in »surreal moments« of the day was in finding Jane’s writing desk, where she penned her stories every day like clockwork. All the novels we’ve so loved came to life on that desk, under her diligent hand. […] And as Lizzi described: »I was having trouble breathing… I just kept thinking: She. Was. Here.« :) Yes, that’s right. We are epic Jane Austen nerds. Haha 1

So one Austen enthusiast described her encounter with »Jane« on her visit to Chawton Cottage – »Jane Austen’s house« – in May 2011. Her account suggests that exhibiting literature on sites of literary interest most properly prompts the visitor to exhibit literature within their own body, to exhibit the symptoms of literary enthusiasm as a performance, in this case, as this visitor went on to record, not just to her friend, but to the gratified reaction of the ladies in the gift-shop. Such an account is by no means unusual. Austen tourism to England is today a profitable and thriving business, whether undertaken by individuals or groups, on foot, on customized tours, or with the

1

witheverypassingday.blogspot.co.uk. (last accessed 9 February 2013).

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Jane Austen Society of America. But it does prompt a set of questions to do with the contemporary business of exhibiting literature, questions about what this literature is that is being »exhibited«, how literature can be exhibited to and by the contemporary reader, and to what ends and effects. We might ask in particular how acts of exhibition determine the idea of the writer, or of individual literary texts. Or, equally, ask how the aesthetics of exhibition relates to culturally dominant readings of individual authors and texts and the proper relation of readers to them. What concerns me here, however, is how literary exhibition is changing under the pressure of the rapid and accelerating re-mediatization of literature and associated representations of acts of reading. Austen provides at present a particularly charged case-study through which to explore this last question. Scholars have relatively recently turned their attention to the representation and function of Austen within global culture, considering »Janeitism« and its effects, revisiting the history of Austen criticism and appreciation, and tracing the appropriation of Austen within popular and elite culture. Such attention has been all but forced by what has been termed the »Austenmania« of the last two decades, which has been both evidenced and fed by a spate of sequels, spoofs, film and television adaptations and latterly, by two films centring on Austen’s life. Yet, until very recently, little attention has been paid to the phenomenon of Austen memorialization, musealization and tourism, evidenced at Chawton and, increasingly, elsewhere. As Deirdre Lynch has shown, there has long been a fierce struggle over whether to regard Austen as a popular or an elite classic. The Austen tourist may be seen as a particularly extreme exemplar of the Janeite, defined influentially by Lynch as »the necessary negative exemplar in a cultural order that…has called on us to love literature but not let our feelings get out of hand«.2 She (because for more than a century the tourist has been conventionally and actually overwhelmingly female) remains stubbornly a threatening other to the scholar – especially, it might be said, to the woman scholar. The tourist is typically invested in the authorial body. It may be presented as simultaneously present and absent (as in a ghost, or a corpse),

2

Deirdre Lynch: »Introduction: Sharing with our Neighbors«, in: ead. (ed.): Janeites: Austen’s Disciples and Devotees, Princeton and Oxford: Princeton University Press 2000, pp. 3-24, p. 13.

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or as reincarnated in the body of the modern tourist occupying the same space, looking out of the window that Austen must have looked out of, for example, or playing the same music on the same piano – both experiences related by the blogger above. Tourism of this kind specialises, then, in eliciting »surreal« experience. Scholarship, on the other hand, pretends to itself that it is invested in the text, in a verifiable and authorised object that nevertheless delivers a more virtuously virtual reality. Hence a sort of scholarly shying, very evident in Claudia Johnson’s brilliant essay on Jane Austen’s House where the things on display, mostly not quite authentically Austenesque enough, send her back to meditation on Austen’s suspicion of things in the exquisitely crafted novels.3 Yet it is now evident that looking at Austen tourist sites and the Austen tourist can give the Austen scholar unparalleled access to what Lynch has described as »Austen’s presence in the collective mind« and to »the myriad ways in which involvement with her has given individuals a template for emotional life«.4 Thus, while Brian Southam demoted any consideration of the so-called »pilgrimage essay« to a footnote in his monumental Jane Austen: The Critical Heritage (1987), Felicity James has now ably fleshed out the story of early Austen tourism and expanded it to consider some modern tourist investment in Chawton, both in the Cottage and Chawton House itself, while Mike Crang has explored some of the recent manifestations of film tourism around Austen’s fiction.5 Both are interested in the cultural uses to which Austen is being put, in particular the ways in which the invocation of Austen provides a »home« for the tourist, a home typically coded feminine and English. This essay proposes to intervene in this conversation by setting the history of Austen tourism within a wider setting than that of the study of Austen’s cultural afterlives, within the history of the development and mutations of

3

Claudia Johnson: Jane Austen’s Cults and Cultures, Chicago: Chicago University Press 2012, pp. 153-79.

4

Lynch, Introduction, p. 15.

5

Felicity James: »At Home with Jane: Placing Austen in Contemporary Culture«, in: Gillian Dow/Clare Hanson (eds.), Uses of Austen: Jane’s Afterlives, Houndmills: Palgrave Macmillan 2012, pp.132-153; Mike Crang: »Placing Jane Austen: Displacing England«, in: Suzanne R. Pucci/James Thompson (eds.), Jane Austen and Co., Albany, NY: State University of New York Press 2003, pp. 111-32.

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literary tourism and the exhibition of literary sites more generally.6 It sets out to trace both continuities and changes in Austenian tourist sensibility across the last 150 years, and to consider the implications for the current and future display of Chawton Cottage in particular. The formation and fortunes of the literary terrain popularly known as »Jane Austen Country« can be seen as both atypical and typical of the long history of fashioning and re-fashioning places from the 1780s onwards to exhibit already existent narratives about the relation between writer, text, reader, and locality. Although Austen scholarship tends to deal with the tourist phenomenon surrounding Austen as exceptional, it is in fact exceptional only in being of very late gestation and in its current booming success. Seen in broader context, Jane Austen proved peculiarly resistant to the development of literary tourism. Literary tourism to graves, settings and houses from the outset came into being much more readily around poets such as Gray, Cowper, Burns, Wordsworth, Shelley, and Keats, than around novelists, especially novelists of the contemporary. Narrating a poet’s oeuvre in relation to a physical place occupied by that poet supplied readers with a useful biographical unity to frame the poems; a visit to a poet’s house such as Wordsworth’s Dove Cottage typically amplified and integrated the poetry within a minutely realised world of domestic detail -- it effectively novelized it. Interest in poetic place was further encouraged by other factors: the romantic view of the poet initiated by Kant and others as a privileged conduit to the transcendent, the romantic sense of the poet as embodying a national landscape; romantic anxiety on the part of poets and their readers about the alienation of print culture and the development of mass readership for fiction in particular. By comparison, narrating a novelist in relation to place risks undoing a satisfactory narrative trajectory and disintegrating an already loved and minutely realised world. Individual fictions have on occasion produced tourist interest through a combination of topographical fidelity and romantic pastness, which encourages readers to try to access a lost world through an actual landscape – this is the desire that drove romantic tourists into searching out Rousseau’s Julie on the shores of Lake Geneva, and Victorian tourists into searching out Black-

6

For an extended discussion of the comparative history of literary tourism, see Nicola J. Watson: The Literary Tourist: Readers and Places in Romantic and Victorian Britain, Houndmills: Palgrave Macmillan 2006.

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more’s Lorna Doone in the valleys of Exmoor. Such tourism is marked by an investment in the characters of the novel in question. Branding a place to the novelist rather than to an individual novel has proved much harder to achieve. The novelist has a tendency to disappear behind the screen of their own fiction, crowded out by the rival glamour of his or her own characters. For the fiction-writer’s homes and haunts to become sites of pilgrimage, the author has to be provided with a strong story of his or her own to complement and reiterate the fiction. This may be derived from an autobiographical persona produced within the fiction and its para- and intertexts, a powerful biographical evocation of their life which preferably should be congruent with the fiction, and/or a real place in which the author lived and which coincides nearly and demonstrably with a famous fictional setting. The Brontë sisters’ home, Haworth Parsonage, has from early on been a conspicuous cultural and imaginative success because it conforms to all of these conditions, allowing readers to create in one physical space a composite quasi-biographical super-novel from the interlockings between the biography and first-person fictions of the Brontë siblings. Jane Austen fulfils very few, if any, of these conditions. She does not develop a strongly foregrounded authorial persona in the manner of her contemporary Sir Walter Scott, who, as the anonymous »Author of Waverley« inspired readerly curiosity in places associated with his life. The records of her life reveal that it was, for the most part, anti-novelistic – strikingly and inconveniently, and in marked contrast to her own heroines, Austen never married. Her fiction is for the most part politely vague about place and almost entirely uninterested in landscape, as the Edinburgh Magazine noted approvingly in 1819: »The singular merit of her writings is, that we could conceive, without the slightest strain of imagination, any one of her fictions to be realized in any town or village in England…«7 Her fiction was sharply contemporary and therefore cannot be co-opted very readily to romance the legacy of the national past. Given these conditions, the cultural work of making Austen the author frame and narrate her fictions, of making her fictions frame and narrate her, and of helping her fictions frame and narrate the reader, was slow to achieve. The Austen tourist trail was late in emerging, and when it did appear it was formed largely on typical, even

7

Deirdre Le Faye: Jane Austen: A Family Record, 2nd edn., Cambridge: Cambridge University Press 2004, p. 260.

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generic, biographical models. Nevertheless, for nearly a hundred and fifty years tourists in increasing numbers have sought out, and found, »Jane Austen Country«, an ever-expanding terrain compounded of a mix of sites associated with the author, and sites associated with her fiction. Places associated with Austen attracted very little tourist interest for some forty years after her death. Her gravestone in Winchester Cathedral famously makes no mention of her authorship, and it is not until the 1850s that Austen’s grave emerged as a place of literary interest, when Lady Richardson recorded a visit with her elderly mother Miss Elizabeth Fletcher: ‘we took a day at Winchester and visited the shrine of Jane Austen…we talked over the happy days of reading aloud the delightful novels of Jane Austen.’ 8 In making this visit, however, Lady Richardson was humouring family remembrance; another family connection, »A.M. Waterston« (Mrs Robert Waterston) visited in June 1856. This last visit, however, demonstrated the increasing transatlantic saleability of such a pilgrimage; she sold an account to the Atlantic Monthly of February 1863.9 This invisibility gradually dissipated as Austen acquired a more substantial public biography from the late 1860s onwards. The publication of James Edward Austen-Leigh’s Memoir in 1870 (enlarged 1871), Caroline Austen’s My Aunt Jane Austen (1867) and her Reminiscences (1872), together expanded the information provided by Henry Austen’s original biographical preface to the posthumous publication of Northanger Abbey and Persuasion in 1817 and the »Memoir of Miss Austen« that he had published subsequently in 1832. In turn, these were amplified by Lord Brabourne’s edition of Austen’s Letters in 1884. These family memoirs supplied a biographical skeleton and a topography, and letters supplied the first-person voice, the immediacy of autobiographical experience that had so far been lacking. To put it another way, Austen’s growing reputation as the author of a handful of classic novels was now being supplemented with a sense of »Jane«. Most pertinently, J.E. Austen-Leigh’s Memoir of Jane Austen (1870) contains two short evocations of tourists which would prove prophetic. The first was a story of an ignorant verger bewildered by tourist interest in Austen’s grave which rapidly became a commonplace of the Aus-

8

Le Faye: Jane Austen: A Family Record, p. 275.

9

Brian C. Southam: Jane Austen: The Critical Heritage, vol. 2, 1870-1940, London: Routledge and Kegan Paul 1987, p. 150.

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ten mythos and described a pleasant experience of superiority over the locals reiterated by many subsequent visitors.10 By July 1870 Harper’s New Monthly Magazine was publishing just such an account of a »pilgrimage«, beginning at the grave, and these would appear, based on real visits and often mildly fictionalised, in a variety of forms – periodical articles, but also children’s fiction such as Susan Coolidge’s What Katy Did Next, and a range of guidebooks until the First World War.11 By 1897, however, when the American travel-writer Elbert Hubbard was rewriting the story in Little Journeys to the Homes of Famous Women (1897) he was able to report improvement: Not so long ago a visitor, on asking the verger to see her grave, was conducted thither, and the verger asked, ‘Was she anybody in particular? So many folks ask where she is buried, you know! But this is changed now, for when the verger took me to her grave and we stood by that plain black marble slab, he spoke intelligently of her life and work. And many visitors now go to the cathedral only because it is the last resting-place of Jane Austen…12

One reason for this change was that Austen-Leigh had devoted his profits from the Memoir to amplifying the reticence of the original gravestone, and moderating the ignorance of the verger, by supplying a supplementary narrative via a memorial brass which read »Jane Austen / known to many by her / writings, endeared to her family by the/varied charms of her / Character, and ennobled / by Christian faith /and pietry, was born / at Steventon in the/ county of Hants…« This amplification of the meaning of the gravestone had extended by 1898 to the possibility of raising funds for a memo-

10 James Edward Austen-Leigh: Memoir of Jane Austen, London: Richard Bentley and Son 1870, p. 117. 11 Southam, Jane Austen: The Critical Heritage, p. 150. For a fuller discussion of some of these, see James: At Home with Jane, especially on Oscar Fay Adams and Josephine Tozier, pp. 136-7. 12 Elbert Hubbard: Little Journeys to the Homes of Famous Women, New York, London: G.P.Putman’s Sons, 1897, p. 354.

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rial window in the Cathedral, which was duly installed in 1900.13 It spilled over into Winchester as a matter of convention at around the same time: by 1909, Henry C. Shelley’s Literary Bypaths in Old England was not only providing a photograph of the grave but one of 8 College St, the »House in which Jane Austen died«, which shows the presence of a memorial tablet inscribed »In this house Jane Austen lived her last days and died July 18th, 1817«.14 If Austen-Leigh’s story of the verger preceded and indeed motivated the marking of the grave and associated places for tourists, his second evocation of tourism, this time to Austen’s home in the Hampshire village of Chawton, also precedes its development as a site of literary interest. Although apparently discouraging and dismissive, Austen-Leigh both identifies Chawton Cottage and recognises it as a place with potential for tourist interest if circumstances were altered (at the time of writing it was being used as a labourers’ cottage): The public generally take some interest in the residence of a popular writer… but I cannot recommend any admirer of Jane Austen to undertake a pilgrimage to this spot. The building indeed still stands, but divested of everything which gave it its character…15

Considering how well-established the genre of the writer’s house and the recounted visit to the writer’s house was by the end of the nineteenth century, it is striking how relatively little mention Chawton Cottage gets in the many late nineteenth-century and early twentieth-century publications designed to cater to the real or virtual tourist with literary leanings. The energetic Hubbard, for example, made his way to Steventon, Austen’s birth-

13 Letter to The Times from the earl of Northbrook. For an extended discussion of the memorials and their installation in Winchester Cathedral, see Johnson: Jane Austen’s Cults and Cultures, pp. 38-44. 14 An unidentified cutting in the Chawton scrapbook suggests it had been put up by »a certain Sir Frank Watney«, Henry C. Shelley: Literary Bypaths in Old England, London: Grant Richards 1909, pp. 383, 385; in 1959 this was replaced by a grey slate plaque. 15 Austen-Leigh: Memoir of Jane Austen, p. x.

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place, rather than Chawton.16 The Cottage seems to have come into imaginative visibility only with the publication of the Letters in 1884, which enabled visitors to project the imagined body of Austen within the building and its environs. Reviewing the Letters, the journalist T.E. Kebbel wrote at length about a supplementary visit he paid to Chawton: »the dining-room and drawing-room are still nearly as they were; and we may people the former with the authoress and her little writing-desk, seated at a table by the window, without any effort of the imagination«.17 He wanders in the garden, imagining (just as Lizzi and her friend would more than a century later) Austen walking there too »as the Elliotts and the Musgroves, and the Eltons and the Bertrams grew beneath her hand«.18 These strategies for imagining the apparitional author at work in her home were wellestablished, even hackneyed, by this date, as is the move by which Kebbel then coalesces real and fictional settings, arguing that a visit to Chawton gives access to the fiction as well as to Austen’s life as a woman and as a writer: …the scenes, the houses, and the classes of society which we find in her delightful stories are exactly those with which she was familiar at home; and it is impossible to walk through the village of Chawton without feeling that we are in the presence of old acquaintances to whom we were introduced in the pages of Mansfield Park or

16 This despite his prophetic paean to the idea of Austen as an escape-route from modernity into the rural England of the past. Jane Austen lived a hundred years ago. But when you tramp that five miles from Overton, where the railroad station is, to Steventon, where she was born, it doesn’t seem like it. Rural England doesn’t change much. Great fleecy clouds roll lazily across the blue, overhead, and the hedgerows are full of twittering birds that you hear but seldom see; and the pastures contain mild-eyed cows that look at you with wide-open eyes over the stone walls, and in the towering elm trees that sway their branches in the breeze crows hold a noisy caucus. And it comes to you that the clouds and the blue sky and the hedgerows and the birds and the cows and the crows are all just as Jane Austen knew them… p. 330. 17 T.E. Kebbel: »Jane Austen at Home«, Fortnightly Review (Feb. 1885), vol. 4, pp. 262-270, p. 265. For a more detailed reading of Kebbel, see James: At Home with Jane, pp. 135-6). 18 Ibid., p. 266.

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Emma. The cottage in the village, otherwise called the White House belonging to Sir Thomas Bertram, to which Mrs Norris retired on the death of her husband, the vicar, what can it be but the identical cottage belonging to the owner of the »Great House« to which Miss Austen herself retired?19

Finally, Kebbel tellingly characterises Austen’s fiction as a way into the past as well as an assertion of continuity with the past – both of which are sources of consolation. Although Kebbel notes that »Chawton is untrodden of pilgrims«, he predicts its future appeal as the spiritual home of Regency costume-drama: while English society remains what it still is, with so much to remind us of what it once was, and while the manners of one generation melt so imperceptibly into those of another that the continuity hardly seems broken, so long will the interest in Jane Austen continue to strengthen and expand... 20

Subsequent evocations of places associated with Austen would reassert just this uneasy consciousness of change managed by an assertion of consolatory continuity. F. W. Bockett’s chapter in his little book, Some Literary Landmarks for Pilgrims on Wheels (1901), for example, insists that although the house is not what it was, the view and the village are: »from her window, as she sat writing, she would see these same thatched cottages, the gently rising wood-crowned hill opposite, with its slopes covered with brilliant green grass, the row of fine old lime-trees facing the front door…«21 The piece of travel-writing by far the most important to the invention of Chawton Cottage as the centre-piece of »Austen-land« was Constance Hill’s Jane Austen, Her Homes and Her Friends (1902). It is contemporary with the six-volume Hampshire edition of 1902, which included for each novel, as Kathryn Sutherland puts it, a »reality-to-fiction conversion index in the form of a map of the actual area in which the plot was set plus a plan of the imaginary neighbourhood«, with the »real« country and town on the

19 Kebbel: Jane Austen at Home, p. 264. 20 Ibid., p. 270. 21 Ibid., p. 150.

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front end-papers and the environment of the characters on the back.22 Both this edition and Hill’s volume are thoroughly conventional for their time, though nicely achieved; the edition reiterates editorial and illustrative practices associated with Scott, Blackmore and Hardy, amongst others, and Hill’s book develops an aesthetic of spatialised biography inaugurated by Oliver Howitt’s influential travelogue-cum-biographical enterprise Homes and Haunts of the Most Celebrated English Poets (1848). Hill’s book describes a tour taken in the company of her sister with the object of visiting all the locations they can find that are associated with Austen. It thus locates and records places associated with Austen; but it also models a way of visiting and enjoying them for future tourists. This involves drawing together and interlocking a personal experience of place, such loco-description as can be gleaned from Austen’s letters, biographical information, details from the novels themselves, and information poached from other literary contemporaries. It also, importantly, describes the exchange of enthusiasm for Austen’s life, works, and places as supporting and enhancing a sisterly relationship that echoes that of Jane and Cassandra. One typical chapter opens with an account of Hill’s drive to Austen’s birthplace at Steventon, enlivens it with information about Austen’s parents’ move there derived from Austen-Leigh’s Memoir, tells of identifying the site of the old parsonage through quizzing the locals, and details other pleasures including checking what the locals say against the testimony of the Letters, sketching the site, picturing the now vanished house with the help of »two old pencil views«, noticing the stumps of elms described in Austen’s letters, remembering the description of the shrubbery of Cleveland in Sense and Sensibility and wondering whether this was the original, and engaging in fanciful reanimation of »two girlish forms…Jane Austen and her sister Cassandra«.23 The following chapter uses information about Mary Russell Mitford’s roughly contemporaneous life just down the road and her evocation of it in Our Village, details drawn from Gilbert White’s diaries at neighbouring Selbourne, and quotation from Anna Lefroy’s manuscript memoir to give more substance to an account of Jane Austen’s daily life.

22 Kathryn Sutherland: Jane Austen’s Textual Lives: From Aeschylus to Bollywood, Oxford: Oxford University Press 2005, pp. 9-10. 23 Constance Hill: Jane Austen. Her Homes and Her Friends, London and New York: John Lane 1902, p. 14.

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To peep »in through the window of the parsonage«, Hill plunders both the description of Uppercross in Persuasion and Austen’s favourite poet Cowper’s description of his room at Olney in the 1780s in his lengthy poem, The Task. On reaching Chawton Cottage, Hill engages in similar imaginings to reanimate it as Austen’s home despite its contemporary function as a working-man’s club. Hill’s efforts to imagine Chawton Cottage at the heart of what she called »Austen-land« culminated in a campaign to place a commemorative marker on the building. In 1917, she and her sister were the moving spirits in the funding and design of a plaque on Chawton Cottage to mark the centenary of Austen’s death. The plaque, and the ceremony surrounding it, sealed Austen’s importance as evoking and guaranteeing the continuities of English life in the face of historical change. The speeches given at the unveiling ceremony set up a series of interconnected meanings for the cottage as a site of continuity, a place of refuge and source of consolation in wartime, as the classic literary ground of England connecting Mary Russell Mitford, Jane Austen and Gilbert White, and as a site that connected the Anglophone cultures and allies Australia, North America, and England.24 As one speaker put it: It is perhaps a remarkable thing that., in these days of war, we can turn aside, even for a day, from the sterner demands of the moment to come together to pay this homage to the genius of Jane Austen, and may we not take from this thought a new hope of the civilisation that we are fighting together to save?25

Nor was this impulse to mark Austenian places as immune to the changes being brought about by the War confined to Chawton village; in Southampton, too, where Austen had been schooled for a number of years, a further memorial was erected. It read »Jane Austen/Author of/Pride and Prejudice/Emma, Persuasion etc…../Resided in Southampton/from 1806 to

24 For a path-breaking discussion of Janeism in inter-war England, see Deirdre Lynch: »At Home with Jane Austen« in ead./William B. Warner (eds.), Cultural Institutions of the Novel, Durham and London: Duke University Press 1996, pp. 159-192. More recently on wartime Austen, see Johnson: Jane Austen’s Cults and Cultures, pp. 99-152. 25 Chawton scrapbook, p. 13

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1809/(sometime in Castle Square)/Erected by the/members and Friends/of the/Southampton Literary/and Philosophical Society/21 Dec 1917«. As a celebration of continuity and endurance in the face of war, the house saw greater national visibility, and greater visitor numbers,26 but it would take World War II finally to elevate Chawton to a position where it would exemplify everything that yet another generation of now dead young men had been fighting for. In 1948, T.E. Carpenter, a retired solicitor from London, bought the house from the ruined estate, as the plaque that he subsequently erected states, in memory of his young son killed in action. Thanks to two world wars, seen imaginatively in relation to their Napoleonic precursors, Austen’s home had acquired public value as an emblem of the home front. So far, I have been describing the imaginative acts of travel-writing and subsequent material marking that formed a necessary pre-history to the setting up of the house as a writer’s house museum. Taken together, they had described the house and its Hampshire setting both as private homeliness (a peaceful all-female domestic retirement) and national homeliness (a timeless English rural idyll, far from the stresses of the international). But to realise this poem to enduring homeliness, the house needed to revert to the early 1800s, as in Hill’s evocation. To do this, it needed objects associated with Austen’s life and times to display. Archived at Chawton Cottage, Carpenter’s correspondence in the early years details his vigorous programme of acquisition by purchase, donation, and loan of a miscellany of things: a portrait, letters, manuscripts, editions, furniture, and domestic items Ň »the back of a looking-glass said originally to have been in Jane Austen’s house«, a dinner service that Austen chose and mentioned in her letters, a donkey-cart known as »Jane’s cart«, locks of hair, kitchen flag-stones, Mrs Austen’s patchwork quilt. Then again, the house needed to be made more of Jane Austen’s house through the lengthy and expensive business of evicting the sitting tenants so that the parlour and bedroom could eventually

26 In 1926, the tenant wrote to The Times complaining that »People who come to see over this house never realise the time and inconvenience to always have people seeing over the house…« and noted wearily that on one day she opened the door to »a party of two ladies, another of four gentlemen, and yet another comprising five grown-ups and six children.« Reprinted Hampshire Observer, 16. Jan. 1926.

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be shown. And Chawton village needed to be re-imagined as Jane Austen’s village and the centre of »Austen-land«: thus Carpenter organised the repair of the Austen graves in the churchyard and explored the possibility of erecting a further monument there. Nor did he confine his energies to Chawton, but extended them to developing its hinterland, canvassing the possibility of evicting the font from Steventon Church in favour of an older one contemporary with Austen, and enquiring of Winchester College whether it might be possible to buy the house in which Austen died (it wasn’t). And finally, Chawton had to be made to perform itself to itself and others as »Austen-land«; the opening of the museum was celebrated by speeches at the Village Hall, a ceremonial walk to the cottage; tours around the cottage to see the drawing-room; tours of Chawton House and park; opportunities to view the Austen and Knight tombs in Chawton church, to admire the borders in Chawton Rectory Garden, and to drink tea in the village hall. Variations on this programme were still evident in the 150th local celebrations of 1967, and the bicentenary of 1975. Indeed, this way of celebrating village life under the aegis of Austen is still alive and well; in summer 2011 the Festival held in Alton and Chawton offered »A week of events… including Singing, Drama, Music, Open House Days, Talks, Film, Unusual Plants Fair, Regency Day and Victorian Cricket«.27 Thus, through a combination of acts of writing and acts of collection, Chawton Cottage came to act as a repository of ‘memories and memorials’ – primarily of an almost lost but just retrievable feminine Englishness. The popular post-war Austen embodied in Chawton served as therapeutic and rehabilitative, supplying a peacefully trivial domesticated femininity which shored up sadly-battered masculine self-definition and national identity. The cottage has undergone redisplay and amplification since that first opening in 1948, most recently just last year, but the contours of Constance Hill’s first act of imagination – a peacefully feminine retreat set in the heart of an eternally English ›Jane Austen Country‹ – still remain visible in contemporary souvenir postcards and in modern bloggers’ enthusiasm such as that cited above by Lizzi and her friend. This ›Englishness‹ was from very early on an expression of transatlantic fantasy, and has if anything become

27 www.janeaustenregencyweek.co.uk/jarw_intro/html (last accessed 31 June 2011).

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more so, if the prevalence of blogs by foreign female travellers is anything to go by. So much then, for the imaginative project of locating ›Jane‹ in Hampshire, despite the fact that, as Herbert Moutray Read commented in the early 1900s, »With all her devotion to Hampshire Jane was provokingly silent about it«.28 The pursuit of the author would lead to the mapping of other locations associated with her life – in particular, the houses of family and friends that she visited, and her sojourns in Bath and Lyme Regis. But this pursuit of the author has been amplified by the seeking-out of fictional settings and characters. Until very recently, this has been a rather frustrating endeavour. Early in the twentieth century, for example, Brian Southam cites one writer noting the contemporary (and thoroughly conventional) interest in guessing the identity of the fictional places in the novels, and the fruitlessness of seeking most of Austen’s locations.29 Tourists have largely sought out the locations described in Northanger Abbey and Persuasion and have used them to flesh out what biographical detail is available on Austen’s own visit to Lyme Regis and residence in Bath. These locations have proved possible to construct as literary tourist trails because they allow readers simultaneously to access the fictional and the biographical in the way that Hill’s travel-narrative models. Lyme has been associated with the episode in Austen’s last complete novel Persuasion when a tourist trip ends in accident and disaster, ever since Tennyson insisted at mid-century on seeing the very place on the Cobb where Louisa Musgrove »fell down, and was taken up senseless«. But Lyme is also usefully imbued with the aura of Austen’s two visits there. Hence the modern tourist to Lyme follows a literary trail partly composed on the basis of biography, viewing places in which Austen may have stayed, or in which she probably stayed.30 This biographical trace is memorialised by a bust of Austen put up in the early 1970s and an accompanying plaque which notes that Austen »lodged in the house called / ›Wings‹ /

28 D. Herbert Moutray Read: Highways and Byways in Hampshire, London: Macmillan & Co 1908, p.184. 29 Southam, Jane Austen: The Critical Heritage, p. 98. 30 Pyne House, complete with plaque in which she may have stayed, the hotel in which ditto.

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which stood on this site...«.31 But the trail also encompasses the fictive, including the hotel which may have been the original for the inn in which Anne and her companions stay, the house which may have been the original for Captain Harville’s house; places opposite what may have been the original for Harville’s house;32 the cottages called Benwick and Harville Cottages which are pretty enough and old enough to have been the cottages in which Captain Benwick and Captain Harville lived, but weren’t; and of course the Cobb itself, and the steps Louisa ›probably‹ fell down. The two strands combine in the nicely judged inscription on a plaque on Pyne House: »This is the most likely/Lodging of Jane Austen, whose/Visits to Lyme in 1803 and 1804/Gave birth to her novel Persuasion.« Similarly, in Bath, the Austen tourist has followed in the footsteps of both Austen and two of her heroines, Catherine Morland and Anne Elliott. The historian Thomas Babington Macaulay on his visit »to all the spots made classical by Miss Austen« visited Bath in 1832.33 His tour was almost certainly short and sweet by comparison to what is now on offer; www.janeaustentour.com provides »a map of over 50 places in Bath relating to Jane Austen’s life there and the setting of her Bath novels«.34As for Macaulay, the biographical aspect indicated by the early twentieth-century plaque that marks the Austens’ accommodation at 4 Sydney Place is amplified nowadays by the aid of fiction in the »Jane Austen Walking Tours«, and the MP3 walking tour which comes complete with a tour route map and advertises itself as providing located podcasts to users »chapter by chapter«. A souvenir postcard, »Jane Austen in Bath«, combines biographical information about where the Austens stayed and lived, where the Austen parents were married, and where Mr Austen died and was buried, with illustration of the various buildings mentioned in, and extensive quotation from both Northanger Abbey and Persuasion. The post-card mendaciously and self-interestedly remarks that »In them the city comes alive as the most real of all the settings of her books. The many streets and buildings men-

31 For a photograph of this bust and plaque in 1971, see Johnson: Jane Austen’s Cults and Cultures, p. 58. 32 Marked by the »Wings« plaque and bust. 33 Letter, 13 June 1832, cited Southam, Jane Austen: The Critical Heritage, p. 46. 34 Last accessed 11 February 2013.

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tioned still exist, while the city’s unique character dominates almost every scene.« This interest in the settings of Austen’s novels has, however, been vastly amplified over the last twenty years by the intervention of films shot »on location«. Film’s necessary specificities have transformed Austen’s deliberate generalisation of place, and, through the medium of new genres of travel-writing inspired by seeking out these locations, her fictional places have become available for real to the tourist. There is, for example, the bestselling guidebook, The Jane Austen TV and Film Location Guide, which features the places »where Jane Austen’s books have been brought to life«. The online blurb notes that In taking Jane Austen’s novels from the page to the screen, the settings and locations add to the characterisation of her stories and become stars in their own right. It is intended to act as a guide to a behind the scenes glimpse into some of England’s delightful houses, villages and towns on a journey through the highlights of Jane Austen’s novels and the beautiful English countryside.35

A »literary screen trail« provided on-line enables tourists to »make your future journey across the UK even more enjoyable by being able to recognise and recount the famous scenes along the way« (www.film-locations.co.uk/ pages/film-britain.php), allowing browsers to flick between quotations from the fiction, clips from films, and photographs of the houses in question. A representative tour-guide itinerary promoted by uniquebritishtours: Enjoy visits to Bath, Berry Pomeroy, Saltram House, Lyme Regis, Evershot, Mompesson House, Salisbury, Wilton House, Montacute House, Lacock, Castle Combe, Steventon, Sandling, Canterbury, Godmersham Park, Chilham, Goodnestone, Wingham, Wickhambreaux, Chawton, Winchester, Groombridge plus many more secret locations. We also take a relaxing ›Picnic on Box Hill‹.36

Now where once ›Pemberley‹ was any house that might have been owned by a rich man of taste, it has now been made into Chatsworth House in Derbyshire and may be viewed for a small fee by any latter-day Elizabeth

35 www.janeaustengiftshop.co.uk (last accessed 11 February 2013). 36 www.uniquebritishtours.co.uk (last accessed 31 June 2011).

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Bennet, who may spot the bust of Matthew McFadyen in the sculpture gallery. Or she might stand and wear out the turf to the reputed despair of the head gardener in the exact spot that the screen Elizabeth did when she saw Colin Firth as Darcy rise wet-shirted from the lake at Lyme Park. In this fashion Austen’s locations have not only been realised but multiplied and duplicated, producing a richer, denser, and more delightfully ambiguous tourist experience. The pleasure of measuring the real against the fictive location has been amplified by the pleasure of measuring the real location against it as it appears in different films, and the oddity of this as an experience has been thematised in the dissonance between locations that are ›real‹ in the sense that Austen may have had them in mind, and locations that are ›real‹ in the sense that film directors have specified them to Austen’s scenes.37 Thus the Lyme Regis tourist trail I described above also takes in the cottages that starred as Benwick and Harville’s cottages, and the steps down which the actress playing Louisa Musgrove fell – none of which are places that Austen had in mind. The amplification and multiplication of Austen sites produced by the proliferation of film and television adaptations is undeniable. A glance at www.pemberley.com/janeinfor/ppjalmap.html might make one feel that nowadays there might be rather too many Austen locations for a tourist to get round comfortably. If Hill’s adventure with her sister seems at first blush to have remarkable continuities with the cosily enthusiastic adventure of the two young women in 2011 with whom I began, perhaps most especially in the sense of Austen as part of an affective transaction between women, the entirely representative account of a trip made by a young Swedish woman who calls herself ›Aurora‹ in September 2010 filed on a blog entitled ›The Secret Dream World of a Jane Austen Fan‹, offers a chance to calibrate not continuities but changes. Aurora has travelled to attend the annual Bath Jane Austen Festival, dedicated to staging Bath as Austen-land. She is well-versed in Austen’s Bath novels and in Austen’s own life in Bath, as her comment on arriving at the Assembly Rooms makes clear:

37 For remarks by a blogger, Kaliopi Pappas, which bear witness to the way that film tourism sets up what Mike Crang describes as ‘complexities of presence and absence, in both temporal and spatial terms, of what is standing for what’, see Crang: Placing Jane Austen, p. 125.

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Then the doors were opened to let us in. It was a special feeling to be arriving there for a ball, seeing as it is a place where so many balls have been held before, a place which Jane and her characters would have known.

But her sight-seeing priorities are driven by an investment in the fiction as mediated by the film adaptations rather than by the interest in Austen’s life and times that characterises Hill’s account. To be more specific, she is interested in the experience of living in the fictions through repopulating the film location and narrative with her own body. Aurora records the ball that she attends in the Assembly rooms on camera in terms of similar stills of the same rooms taken from the BBC version of Persuasion.38 In the same way, she records at length her experience of watching Persuasion while sitting in one of the rooms in which it was shot: …Now so many of the places you see in it are familiar to me personally. You have the Pump Room, the Assembly Rooms, various other places round Bath, Lyme Regis etc. And then there came the part with the Eliot’s house in Bath…The house we were in! How excited were we not when we saw the first scene where they are all sitting eating in their dining room! That room was so close by, just one floor beneath us and we had just a short, short while before been shown that very room by the owner of the house (a very nice, gentleman-like man)! The hallway, the stairs; the same we had just walked up ourselves! And then; then there was a scene shot in the drawing room, the very same room we were at that exact moment sitting in!!!! It was surreal! To see that room on the television screen and then turn your head and look around the room we were in, and see that it was the same place!...It was SO cool!!!

This ›surreal‹ physical experience of ›being in the same place‹ as the fictional also informs the two day-trips she took out of Bath. The first was to Lacock, which featured both as Meryton in the BBC’s Pride and Prejudice and Highbury in the BBC Emma. Here Aurora spent her time trying to identify buildings and imagining away the parked cars so as to more readily »picture the Bennet girls walking along the street, looking into shop windows«. The other day-trip was to Lyme where she sampled the Literary Lyme tour. Here she arranged to have herself photographed as Louisa Mus-

38 Compare the very similar statements by Lauryl Lane on her visit to the Bath Assembly Rooms, cited by Crang: Placing Jane Austen, p. 119.

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grove after she has fallen unconscious on the stones of the Cobb. As this flight of fancy suggests, the walk on the Cobb was a powerful experience: she comments that Being something which has such an important part in the story of Persuasion it almost felt like walking on holy ground as we stepped out onto it (ok, ok, I am exaggerating…! We were walking where Jane and her characters have walked!

Despite this interest in walking where ›Jane‹ had walked, in walking on ›holy‹ or classic ground, Aurora does not choose to go to Winchester, Steventon, or Chawton. Her sight-seeing, unlike her nineteenth-century and early twentieth-century precursors, is not primarily biographical. She is part of a generation who can now visit the ›real‹ locations of the novels, stepping into the place of a favourite character, recording themselves doing so in photographs and video, and releasing this new Austen adaptation through the web. By comparison to ›being‹ Austen’s characters, pursuing Austen herself is altogether less interesting, indeed, risks feeling less ›authentic‹. Aurora reports a disappointing end to her trip to Lyme: After we had finished that we had about one hour left….I…chose to go to this small museum they had there (the Museum of Lyme Regis or something like that). They had mostly fossil things, since that is what Lyme is most famous for to ‘normal’ people. But they also had this little section on Jane Austen….It wasn’t that exciting, however, they had some things there that might have belonged to the Austens, and a few things that they knew had. But it wasn’t very much.

Aurora’s blog, taken together with the web-postings of many other less articulate Austenian tourists, suggests that the exhibition of Austen through a life adumbrated by domestic objects is fast being overtaken by a different way of exhibiting Austen, by embodying her characters in the tourist’s own person. Nor is she unusual. Jane Austen Fan Trips, for example, promise, enticingly, a trip to the »timeless world of jane Austen« where »you will celebrate one of the most beloved authors of all time and experience life like the characters in your favourite novels«.39 It is possible to speculate that here a hundred and fifty years of the ideological work of interleaving

39 http://www.fantrips.travel/janeaustenfantrips/ (last accessed 11 February 2013).

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Austen’s life and fiction and mapping them onto Hampshire locations is caught in the very act of vanishing. This has practical consequences, of course, for the curation of Chawton cottage and ›Jane Austen Country‹ more generally. It is also a generalisable problem for many writers’ houses in the face of the erasure of the novelist by their own fictional characters. Is it possible, is it even desirable, in the face of the hyper-realisation of film, to maintain older ways for readers to animate the author’s acts of writing and their transactions both with the author and with other readers around imagining those acts of writing? Can the aesthetic that Constance Hill stated in its most elaborate form in 1902 survive alongside the new tourist aesthetics produced by film? The problem is neatly posed, and perhaps solved by, a publicity still for the 2005 film of Pride and Prejudice. Keira Knightley here poses as Elizabeth Bennett, who is depicted seated reading. Austen’s endorsement of novelreading as a practice that convenes a community of readers is quoted alongside on the poster, seeming thereby to take on the voice of Elizabeth Bennett; the statement is ›signed‹ as it were, by an (entirely inauthentic) silhouette of Austen herself. Thus film and performance here underwrite acts of reading and writing. Chawton Cottage itself has taken up, or been forced to conduct a similar manoeuvre in its recent redisplay. If ›Aurora‹ should come again to the Bath Festival, she might find it worth her while to visit the recently re-displayed Cottage. The display of the Cottage is still heavily invested in the all-female domestic idyll described by Constance Hill and consumed by generations of women visitors ever since – here still, for example, are the famous quilt, the shawl embroidered by Jane, the locks of hair, the topaz crosses, the donkey-cart, the emphasis on family portraits, and the little writing-table. But now, every room is animated in addition not by the imagined figures of Jane or her sister, mother, or friend, but with more familiar and substantial shapes, the costumes worn by Austen’s heroines in various film adaptations. The ‘realness’ of the fiction, in the shape of film costumes, has been co-opted to realise the ›realness‹ of the place of the act of writing. As the curator of Chawton Cottage said to me on my last visit, nowadays visitors – like ›Aurora‹ -- come in search not so much, or not only, of Jane Austen, but to be Elizabeth Bennett. As one blog puts it: »This was where Austen lived and wrote, where she got her ›material‹. The ground was soggy, and I imagined myself as Lizzie Bennett, striding across to Netherfield to visit my ailing sister, Jane, getting mud on my petticoats

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as I went!«40 It suggests that Austen is being made over ever more rapidly in the guise of her own characters. The effect is amplified by two recent filmic exercises in romantic biography, Becoming Jane and Miss Austen Regrets which position Austen in the Cottage, not as author but as heroine.41 It is, however, a temptation probably to be resisted to overstate the change in literary tourist sensibility produced by film. There remain strong continuities. There is the sense of female conspiracy and intensity which so often pervades these accounts from Constance Hill onwards and which is on display at the café over the road from the Cottage, ›Cassandra’s Cup‹. There is an insistence upon what these bloggers often call the ›surreal‹, but which literary critics would be more inclined to identify as the uncanny, an experience of a present physical environment which emphasises the absence of the author’s body, even while it delineates it. There is the effort to install oneself within an Austenian reality, whether as Austen herself, or one of her characters. There remains the sense that in Jane Austen Country, and especially in Chawton, home is shown and can be experienced, home in the specific sense of a lost idyll of feminine housekeeping, and home in the expanded sense of an English national essence, albeit preserved nowadays, it seems, mostly for emphatically foreign consumption.

WORKS CITED Austen-Leigh, James Edward: Memoir of Jane Austen, London: Richard Bentley and Son 1870. Crang, Mike: »Placing Jane Austen: Displacing England«, in: Suzanne R. Pucci/ James Thompson (eds.), Jane Austen and Co., Albany, NY: State University of New York Press 2003. Le Faye, Deidra: Jane Austen: A Family Record, Cambridge: Cambridge University Press ²2004.

40 http://www.benisonanneoreilly.com/blog/item/my-jane-austen-pilgrimage

(last

accessed 11. February 2013). 41 See James: At Home with Jane, p. 142, for a sense of the importance of the Cottage to this formulation of Austen.

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Hill, Constance: Jane Austen. Her Homes and Her Friends, London/New York: John Lane 1902. Hubbard, Elbert: Little Journeys to the Homes of Famous Women, New York, London: G.P.Putman’s Sons, 1897. James, Felicity: »At Home with Jane: Placing Austen in Contemporary Culture«, in: Gillian Dow/Clare Hanson (eds.), Uses of Austen: Jane’s Afterlives, Houndmills: Palgrave Macmillan 2012. Johnson, Claudia: Jane Austen’s Cults and Cultures, Chicago: Chicago University Press 2012. Kebbel, T.E.: »Jane Austen at Home«, in: Fortnightly Review (Feb. 1885), vol. 4, pp. 262-270. Lynch, Deirdre: »At Home with Jane Austen«, in: ead./Warner, William B. (eds.), Cultural Institutions of the Novel, Durham /London: Duke University Press 1996, S. 159-192. Lynch, Deirdre: »Introduction: Sharing with our Neighbors«, in: ead. (ed.): Janeites: Austen’s Disciples and Devotees, Princeton/Oxford: Princeton University Press 2000. Moutray Read, D. Herbert: Highways and Byways in Hampshire, London: Macmillan & Co 1908. Shelley, Henry C.: Literary Bypaths in Old England, London: Grant Richards 1909. Southam, Brian C.: Jane Austen: The Critical Heritage, vol. 2 1870-1940, London: Routledge and Kegan Paul 1987. Sutherland, Kathryn: Jane Austen’s Textual Lives: From Aeschylus to Bollywood, Oxford: Oxford University Press 2005. Watson, Nicola J.: The Literary Tourist: Readers and Places in Romantic and Victorian Britain, Houndmills Palgrave Macmillan 2006. witheverypassingday.blogspot.co.uk. (last accessed 9 February 2013). www.benisonanneoreilly.com/blog/item/my-jane-austen-pilgrimage (last accessed 11. February 2013). www.fantrips.travel/janeaustenfantrips/ (last accessed 11 February 2013). www.janeaustengiftshop.co.uk (last accessed 11 February 2013). www.janeaustenregencyweek.co.uk/jarw_intro/html (last accessed 31 June 2011). www.janeaustentour.com (last accessed 11 February 2013). www.uniquebritishtours.co.uk (last accessed 31 June 2011).

Literatur zum Greifen nah Strategien und Praktiken des gegenwärtigen Literatur- und Kulturtourismus U RTE S TOBBE

Die Art des Lesens scheint sich derzeit rasant zu verändern. So genannte EBooks ermöglichen die Komprimierung einer ganzen Bibliothek auf das Format einzelner Dateien, die im Internet hochgeladen, beliebig oder gegen Bezahlung – je nach Plattform – heruntergeladen und auf einem so genannten Tablet-Reader oder ähnlichem Gerät gelesen werden können. Der Inhalt, das heißt der eigentliche Text, löst sich vom ursprünglichen Medium, dem gedruckten Buch. Mehr noch: Buchanbieter wie Amazon haben damit begonnen, Autoren von vornherein die Möglichkeit einzuräumen, ausschließlich im Internet zu publizieren. Wie sich der Buchmarkt in den nächsten Jahren entwickeln wird und welche Konsequenzen das für das Verhältnis vom Leser zum Buch hat, ist und bleibt ungewiss – auch wenn einige Indizien dafür sprechen, dass der Buchmarkt auch künftig weiterhin bestehen bleibt.1 Was auf den ersten Blick wie eine Art Medienrevolution wirkt, wirft zugleich die Frage auf, welche Konsequenzen diese Veränderungen tatsäch-

1

Seit Jahren wird immer wieder der Tod des Buches heraufbeschworen, doch sprechen die Marktanteile stetig dagegen. In Österreich etwa liegt der Anteil von E-Books noch immer bei nur einem Prozent. »Kulturzeit« auf 3Sat; Sendung vom 21.11.2012.

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lich auf den Akt des Lesens und, damit verbunden, auf die Erwartungen der Leser an das Lektüreerlebnis haben. Die Entwicklungen scheinen dabei auf den ersten Blick gegenläufig zu sein. Auf der einen Seite verändert sich die Haptik im Prozess des Lesens: Nicht mehr ein Buch wird in Händen gehalten, sondern ein »Medienträger«. Auf der anderen Seite soll Literatur durch Events und Installationen etwa im Rahmen von Ausstellungen in Museen »zum Greifen nah« gemacht werden. Wie verhalten sich nun diese Tendenzen rund um das Lesen und »Erleben« von Literatur zu den aktuellen Trends des Kulturtourismus? Entwickelt sich derzeit eine neue Art von Literaturtourismus?2 Oder lassen sich hinsichtlich der darin inhärenten Strategien und Praktiken nicht auch Vorläufer zu Zeiten der Entstehung des Tourismus ausmachen? Diese Fragen sollen anhand von Beobachtungen aktueller Phänomene beantwortet werden. Die Beispiele erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder Repräsentativität. Sie sind relativ subjektiv nach dem Kriterium der vermeintlichen Neuheit ausgewählt worden, die sich etwa daran ablesen lässt, dass sie in Wochenzeitungen wie Die Zeit bekannt gemacht werden. Ziel dieses Beitrags ist der Versuch einer kulturhistorischen Einordnung gegenwärtiger Tendenzen im Literatur- und Kulturtourismus. Die folgenden Überlegungen basieren auf der Hypothese, dass sich letztlich jedes kulturelle Phänomen zwischen Tradition und Innovation verortet. Allein die Spezifik dieses Mischungs- oder gar Amalgamierungsprozesses der jeweiligen Strategien und Praktiken ist ungewiss und Gegenstand des Interesses.

2

Einer ähnlichen Frage geht auch Barbara Schaff nach, die einen theoretischen Zugriff auf aktuelle Phänomene des Literaturtourismus in Großbritannien entwickelt. Barbara Schaff: »›In the Footsteps of ...‹. The Semiotics of Literary Tourism«, in: KulturPoetik 11/2 (2011), S. 166-180. Interessant wäre zudem die Frage, ob und inwiefern nicht auch weiterhin – wie schon im 19. Jahrhundert – Tourismusformen aus England im deutschen Sprachraum adaptiert werden.

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L ITERATUR IM (K ULTUR -)T OURISMUS : E INE T YPOLOGIE Fragt man allgemein nach dem Verhältnis von Literatur und Tourismus, lässt sich eine dreigliedrige Typologie entwerfen, die verschiedene Facetten des gegenwärtigen Kulturtourismus abdeckt. Erstens gibt es eine Art von Tourismus, die auf dem Begehren nach physischer Nähe zu »großen« Schriftstellern und ihren zentralen Werken basiert. Ob der Schriftsteller noch lebt oder schon seit Jahrhunderten verstorben ist, spielt dabei eine untergeordnete Rolle; zentral ist der Wunsch, sich in das Leben des Autors bzw. in die Welt seines literarischen Œuvres hineinversetzen zu können. Dementsprechend wird das Geburtshaus oder Wohnhaus des Autors aufgesucht oder es werden die Stätten besucht, die auch er besucht bzw. besichtigt hat. Dazu gehört auch der Wunsch, die beispielsweise in einem Roman beschriebenen Lokalitäten mit eigenen Augen zu besichtigen. Zweitens gibt es eine Art von Tourismus, bei der Äußerungen von Schriftstellern über einen Ort oder eine bestimmte Region für Tourismuskonzepte instrumentalisiert werden. Der Unterschied zum vorherigen besteht darin, dass dieses Bedürfnis, »auf den Spuren von …« zu wandeln, erst in Form von Reiseführern evoziert und die Umsetzung möglichst umfassend touristisch angeleitet wird.3 Das bedeutet auch, dass sich im Zuge einer Vermarktung von Sehenswürdigkeiten eine touristische Infrastruktur in Form von Hotels, Wegmarken, Dichterhäusern, Aussichtspunkten, Ausflugslokalen und Souvenirs herausbildet. Zudem stehen meist Fremdenführer zur Verfügung, die zusätzlich zu dem entsprechenden gedruckten Reiseführer Informationen vor Ort anbieten. Drittens schließlich werden im so genannten ›story-telling‹ literarische Verfahren der Spannungserzeugung und Emotionalisierung als touristische Inszenierungsstrategie genutzt. Man spricht gerade im anglophonen Bereich

3

Dieses nach wie vor vorhandene Interesse bedient Bodo Plachta: Dichterhäuser in Deutschland, Österreich und der Schweiz, Stuttgart: Reclam 2011. Vgl. dazu auch die kenntnisreiche Rezension von Michael Braun: »Kein Haus ohne Hüter. Bodo Plachta führt in die Aura von Dichtergedenkstätten ein«, in: Rezensionsform Literaturkritik.de 10 (Oktober 2012) http://www.literaturkritik.de/public/ rezension.php?rez_id=17095#biblio (letzter Aufruf am 02.12.2012).

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auch vom ›Interpretieren‹ eines Objekts für die angenommenen Bedürfnisse der Besucher.4 Literatur, d.h. auch ihre Verfasser und der zeitlich-räumliche Entstehungskontext sind hier also nicht mehr Gegenstand des Reisens, sondern Literatur im Sinne der Fiktionalität wird zum dominanten Darstellungsmodus der touristischen Objekte. Was zuvor Schriftsteller im Rahmen ihres Werks, wenn auch meist nicht beabsichtigt, geleistet haben, etwa eine bestimmte Gegend mit Ideen, Wünschen und Hoffnungen aufzuladen, wird nun imitiert bzw. gezielt eigens für den Tourismus erzeugt. In diesem Kontext sind auch Konzepte des so genannten Info- bzw. Edutainments zu verorten, einer Art Wissensvermittlung, die zugleich belehrend und unterhaltsam sein will bzw. präziser: den »Entdecker« in jedem Menschen ansprechen möchte. Dahinter steht die Annahme, dass Besucher nur dann wiederkommen, wenn sie subjektiv-emotional etwas »mitnehmen«, von dem sie den Eindruck haben, dass es mit ihrem eigenen Leben in Verbindung steht.5 Frei nach dem viel zitierten Satz von Sartre »Der Autor erfindet und der Erzähler erzählt, was geschehen ist […]. Der Autor erfindet den Erzähler und den Stil der Erzählung, welcher der des Erzählers ist«6 versteht sich der Touristiker zunehmend ebenfalls als Autor, der eine Instanz erfindet, die einem möglichst breiten Publikum Wissenswertes emotional und unterhaltsam nahebringt.

4

Als der Gründungsvater dieses Konzepts kann der US-Amerikaner Freeman Tilden gelten; sein Buch wurde zu einer Art Touristiker-Bibel für zahlreiche Denkmalsstätten in den USA. Freeman Tilden: Interpreting Our Heritage, hg. v. R. Bruce Craig, 4. erw. u. erg. Aufl., Chapel Hill: University of North Carolina Press 2007 (Erstveröffentlichung 1957). Mit den gegenwärtigen Ausprägungen im britischen Kontext beschäftigt sich: Emma Waterton/Steve Watson (Hg.), Culture, Heritage and Representation. Perspectives on Visuality and the Past, Farnham u.a.: Ashgate 2010.

5

Hartmut John: »Museen und Tourismus – Partner einer (fast) idealen Allianz«, in: ders./Hans-Helmut Schild/Katrin Hieke (Hg.), Museen und Tourismus. Wie man Tourismusmarketing wirkungsvoll in die Museumsarbeit integriert, Bielefeld: transcript 2010, S. 9-50.

6

Vgl. Jean-Paul Sartre: »Notes sur Madame Bovary«, in: ders.: L’idiot de la famille. Gustave Flaubert de 1821 à 1857, 2. verb. Aufl., Bd. 3, Paris: Galimard 1988, S. 661-811, hier S. 774.

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Die einzelnen Typen haben sich historisch nacheinander im Laufe der vergangenen rund 200 bis 250 Jahren entwickelt und bauen gewissermaßen aufeinander auf. Die Übergänge sind fließend, ebenso wie es auch zu intendierten Überblendungen kommen kann. Zudem ist diese Typologie nicht so zu verstehen, dass hinsichtlich der historischen Entwicklung eine Form die vorangegangene ablöst, sondern dass neue Formen hinzutreten und bis heute zeitgleich teils neben-, teils miteinander existieren. Auszugehen ist also nicht nur von einer additiven Erweiterung oder Diversifizierung der verschiedenen Tourismusformen, sondern es kommt auch zu Rück- und Wechselwirkungen untereinander. Fraglich mag erscheinen, ob der dritte hier vorgestellte Typus überhaupt unter der Überschrift »Literatur im Tourismus« subsumiert werden kann. Dagegen sprechen könnte etwa, dass die Objektebene nicht die gleiche ist, d.h. dass es bei den damit operierenden Tourismuskonzepten gar nicht mehr zwangsläufig um literarische Werke und ihre Verfasser gehen muss. Für eine Integration dieses Aspekts in diese Kategorie spricht indes, dass sich das Konzept des ›story-telling‹ nicht hätte entwickeln können, wenn es zuvor nicht die beiden erst genannten Typen gegeben hätte. Dieser dritte Typus steht also in einer Genealogie zu den vorangegangenen Formen. Zudem ähneln sich alle drei Typen in dem Punkt, dass sie den Besuchern einen Gegenstand und/oder einen Zusammenhang im wahrsten Sinne des Wortes begreif-bar machen. Nur die ersten beiden Formen von »Literatur im Tourismus« lassen sich dem so genannten Literaturtourismus als einer Unterart des Kulturtourismus im heutigen Sinn zuordnen. Was genau unter Kulturtourismus zu verstehen ist, bleibt häufig vage. Dies steht vor allem mit den Definitionsschwierigkeiten hinsichtlich des Kulturbegriffs im Zusammenhang. Innerhalb der Geographie wird Kulturtourismus von Christoph Becker deskriptiv-phänomenologisch definiert. Diese Art des Reisens nutze demnach Bauten, Relikte und Bräuche in der Landschaft, in Orten und Gebäuden, um dem Besucher die Kultur-, Sozial- und Wirtschaftsentwicklung des jeweiligen Gebietes durch Pauschalangebote, Führungen, Besichtigungsmöglichkeiten und spezielles In-

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formationsmaterial nahezubringen. Auch kulturelle Veranstaltungen dienen häufig dem Kulturtourismus.7

Während diese Definition vor allem aus der Perspektive der Tourismusanbieter formuliert ist, geht Albert Steinecke von den Interessen der Reisenden aus, wenn er den typischen Kulturtouristen als jemanden definiert, »für den das Interesse an Kultur ein wichtiges Reisemotiv darstellt«.8 Im Bereich Geistes- und Kulturwissenschaften entspräche Steineckes Definition der Rede von der klassischen Bildungsreise als einer spezifischen Form des Reisens seit dem späten 18. Jahrhundert, deren bevorzugte Objekte sich ihrerseits in den letzten rund 250 Jahren zumindest in Teilen verändert haben. Laut Rüdiger Hachtmann war es vor allem das Bürgertum, das als ein »Schrittmacher des modernen Tourismus« zu betrachten ist.9 Der Vorteil dieser allgemein gehaltenen Definitionen besteht darin, dass sich die sich wandelnden Kultur-10 und damit verbunden auch die jeweiligen Authentizitätsvorstellungen flexibel integrieren lassen.

7

Christoph Becker (Hg.), Perspektiven des Tourismus im Zentrum Europas, Trier: Europäisches Tourismus-Institut an der Universität 1992 (= ETI-Studien 1), S. 21.

8

Albrecht Steinecke: Populäre Irrtümer über Reisen und Tourismus, München:

9

Rüdiger Hachtmann: Tourismus-Geschichte, Göttingen: Vandenhoeck & Rup-

Oldenbourg 2010, S. 27. recht 2007, S. 48. 10 Vgl. dazu das Kapitel zum Kulturtourismus in: Steinecke: Populäre Irrtümer. Vergleicht man dies mit den Abschnitten zur Bildungsreise in: Hachtmann, Tourismus-Geschichte, S. 48-65, oder auch mit der Auswahl der Beiträge in den einschlägigen Handbüchern, fällt auf, dass das Reisen in andere Kontinente entweder gar nicht eigens berücksichtigt oder jeweils anders, beispielsweise als Forschungsreisen, kategorisiert wird. Vgl. Peter Brenner (Hg.), Der Reisebericht, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1989 oder Hermann Bausinger/Klaus Beyrer/Gottfried Korff (Hg.), Reisekultur. Von der Pilgerfahrt zum modernen Tourismus, München: Beck 21999. Kurz: Im Bereich der Tourismusgeographie zählen transkontinentale Reisen unhinterfragt zum Kulturtourismus, im Bereich ›Humanities‹ werden Entdecker- oder Forscherreisen von klassischen Bildungsreisen nach Italien, Frankreich und England geschieden. Oder aber die Unterschiede werden hinsichtlich der ähnlichen Erfahrung der Fremde nivelliert und

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Eine gewisse Offenheit des Kulturtourismusbegriffs bei den verschiedenen Definitionsversuchen von Kulturtourismus erweist sich insofern als von Vorteil, als sich die Zielvorstellungen und Ausprägungen gerade in den letzten rund 20 Jahren deutlich verändert haben. Galt die Suche nach einer wie auch immer gearteten Authentizität als eng verbunden mit dem Kulturtourismus, traten seit den 1990er Jahren Elemente der Eventkultur in den Vordergrund, die mit anderen Authentizitätsvorstellungen operierten. Die so genannte Spaßgesellschaft wollte – so die Annahme, die vielen neueren Tourismuskonzepten zugrunde lag – Kultur als Ereignis erleben. Erst seit wenigen Jahren lässt sich wie in einer Art Pendelbewegung die Tendenz zur Entschleunigung im Rahmen von touristischen Angeboten beobachten. Ob damit jedoch auch ein ›Zurück‹ zu vorherigen Authentizitätsvorstellungen eingeleitet worden ist, mag bezweifelt werden: Weniger scheint es dabei um die Authentizität im Sinne von ›Echtheit‹ der Artefakte und des präsentierten Wissens zu gehen als vielmehr um authentische Gefühle, die im Sinne eines Empfindungsversprechens angeboten werden.11 In den meisten Fällen wird ›authentisch‹ im Sinne von ›glaubwürdig‹ verwendet, was die damit operierenden Tourismuskonzepte wiederum in die Nähe von Fiktionalität rückt: Nicht um historische Wahrhaftigkeit geht es dabei, sondern ähnlich wie bei der Rezeption von Literatur um das bewusste Sich-darauf-Einlassen, dass es sich so an diesem Ort hätte abspielen können. Unterschiedliche Bedeutungszuschreibungen von Authentizität,12 etwa die Unberührtheit des Orts, das lange Überdauern eines alten Gemäuers oder

es wird lediglich zwischen Reisenden bestimmter sozialer Gruppen und den jeweils mit der Reise verbundenen Absichten unterschieden. Vgl. Claudius Sittig: »Reiseliteratur«, in: Gert Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 7, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2005, Sp. 1144-1156, hier insbes. Sp. 1147. 11 Vgl. dazu Schaff, die mit Verweis auf Ning Wang die verschiedenen Konnotationen von ›Authentizität‹ beschreibt, Schaff, »In the Footsteps of…«, S. 169. 12 Die Suche in den einschlägigen Lexika des 18. und frühen 19. Jahrhunderts (Grimms Wörterbuch, Zedlers Universallexikon und Krünitz’ Oekonomische

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kultureller Bräuche, die Unverwechselbarkeit eines Naturraums, die Reinheit und Einzigartigkeit der Empfindungen, fungieren mithin seit Beginn des modernen Tourismus vor rund 250 Jahren als eine Art Versprechen – ein Versprechen indes, das aus verschiedenen Gründen kaum eingelöst werden kann. Denn je bekannter etwas ist und dementsprechend häufiger beschrieben wird, desto mehr scheint etwas verloren zu gehen: die Unmittelbarkeit und Besonderheit des individuellen Reiseerlebnisses. Hans Magnus Enzensberger hat dies in seiner klugen Tourismustheorie schon 1958 als Signum des modernen Tourismus bezeichnet. Demnach »pochen die Touristen ohnmächtig auf die Wertzeichen des Abenteuerlichen, Elementaren, Unberührten. Zugleich zugänglich und unzugänglich, zivilisationsfern und komfortabel soll das Ziel sein«.13 Eine immer wieder neu entstehende Wechselwirkung zwischen einerseits der Vereinheitlichung des Erlebens und andererseits der Suche nach immer neuen unberührten, das heißt noch nicht von der breiten Masse entdeckten, Lokalitäten ist die unvermeidliche Folge. Dies gilt umso mehr, als sich gerade Kulturreisende mit dem Anspruch auf die »besondere« Art des Reisens habituell von den Massentouristen und Pauschalurlaubern abzusetzen wünschen. Wenn jedoch ein damit einhergehender drohender Ausverkauf der Kultur durch den Tourismus beklagt wird, spielen Ressentiments eine Rolle, die auch auf eine allgemeine Verlusterfahrung hindeuten können: »Was einem elitären Kreis von Kulturkennern und Kunstexperten ehedem auratische Schätze waren – selten, wenigen bekannt und verständlich und daher kostbar und wertvoll –, verliert nun […] den Nimbus der Exklusivität«.14 Das mag richtig diagnostiziert sein, doch lässt sich dem fragend entgegenhalten, ob nicht Gesellschaft genau über diese »feinen Unterschiede« funktioniert, wie sie Pierre Bourdieu am Beispiel der französischen Gesellschaft untersucht hat. Im fünften Kapitel über den »Sinn für Distinktion« geht er auch auf die verschiedenen »Aneignungsweisen von Kunst« ein. Gerade den Besuchern der Mittelschichten

Enzyklopädie) ergibt, dass ›authentisch‹ zu dieser Zeit noch nicht als Lexem aufgeführt wurde. 13 Hans Magnus Enzensberger: »Eine Theorie des Tourismus (1958)«, in: ders.: Einzelheiten I, Bewußtseinsindustrie, Frankfurt/Main: Suhrkamp 61969, S. 179205, hier S. 193. 14 John: Museen und Tourismus, S. 31.

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und insbesondere den Gymnasial- und Hochschullehrern attestiert er beim Museumsbesuch eine Haltung, »die sich auf das Akkumulieren von Erfahrungen und Kenntnissen oder auf die Freude am Wiederentdecken und Entziffern ebenso orientiert wie auf unprätentiösen Genuß«.15 Daraus wiederum lässt sich ableiten, dass die touristische Inszenierung von Kultur für die Befriedigung dieser Wünsche ebenso durchlässig sein sollte, wie auch für die anderer Besuchergruppen. Der Wunsch nach sozialer Differenz wird mittlerweile auch schon von Pauschalreiseveranstaltern aufgenommen, indem Angebote für Individualreisende offeriert werden – was sie freilich nicht mehr sind, sowie sie eines dieser Angebote in Anspruch nehmen. Systemtheoretisch gewendet ist also mittlerweile auch der Wunsch nach Individualität seitens der Reisenden dem System Tourismus inkludiert worden. Damit sind die grundlegenden Probleme und Widersprüche, die mit der Suche nach Authentizität einhergehen, jedoch nicht aufgehoben. Vielmehr verhält sich beides wie die zwei Seiten einer Medaille: Authentizität und Tourismus scheinen nur selten in Einklang zu bringen sein – und doch ist bemerkenswert, wie erfolgreich Tourismuskonzepte nach wie vor sind, die mit Authentizität werben. Zu erklären ist das nur damit, dass das angesprochene Publikum seit Beginn des modernen Tourismus offenbar eine ungestillte Sehnsucht genau danach hat. Die in diesem Zusammenhang nahezu unvermeidbare Ent-Täuschung hat wiederum zu beißender Tourismuskritik geführt – wie exemplarisch Heinrich Heines Beschreibung der Engländer in Italien veranschaulichen mag: [S]ie sind jetzt in Italien zu zahlreich, um sie übersehen zu können, sie durchziehen dieses Land in ganzen Schwärmen, lagern in allen Wirtshäusern, laufen überall umher, um alles zu sehen, und man kann sich keinen italienischen Zitronenbaum mehr denken, ohne eine Engländerin, die daran riecht [...].16

Ähnliche Situationen sind auch noch gegenwärtig denkbar. Waren es bei Heine »nur« die zahlreichen anderen Touristen, die das individuelle Be-

15 Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1987 (Erstveröffentlichung 1979), S. 424. 16 Heinrich Heine: »Reisebilder III: Italien. Reise von München nach Genua (1828)«, in: ders.: Reisebilder. Mit einem Nachwort v. Hiltrud Häntzschel, Zürich: Diogenes 1993, S. 295.

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trachten eines Zitronenbaums störten, dürfte sich derzeit noch eine weitere Schwierigkeit verstärkt einstellen: Hinsichtlich der gegenwärtigen Strategien und Praktiken im Literatur- und Kulturtourismus stellt sich die Frage, ob und inwiefern Authentizität fingiert wird. Denn: Wird nicht lediglich eine Art virtuelle und damit letztlich physisch unerreichbare Nähe evoziert? Zudem ist zu fragen, welcher Status dem Autor als dem realen Produzenten des Textes zugesprochen wird, das heißt auch: Inwiefern wird in den Konzepten auf aktuelle Autorinszenierungsstrategien reagiert, die den herkömmlichen Authentizitätsbegriff zu unterlaufen scheinen?17

R IBBECKER B IRNEN UND D RESDNER S EMMELN : AUF DER S UCHE NACH DEM WAHREN G ESCHMACK Im Jahr 2009 wurden im Park von Schloss Ribbeck im Havelland verschiedene Birnbaum-Sorten gepflanzt. Wie passend möchte man meinen, kommt einem doch sofort die bekannte Ballade Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland von Theodor Fontane in den Sinn, die Generationen von Schülerinnen und Schülern aus dem Deutsch-Unterricht kennen. Dem kurzen Zeitungsbericht in der Wochenzeitung Die Zeit ist zu entnehmen, dass Landespolitik ebenso wie der Bürgermeister zuversichtlich sind, dass sich daraus in ein paar Jahren ein florierender »biopoetischer« Tourismus entwickeln würde.18 Diese Kombination ist neu und scheint derzeit im aktuellen Trend zu liegen: Angestrebt wird eine Kombination aus klassischem Litera-

17 Diese Fragen sind aus literatur- bzw. kulturwissenschaftlicher Sicht bislang kaum reflektiert worden. Vgl. Lutz Hagestedt: »Autorenpräsentation und –förderung: Lesungen, Ausstellungen, Preise«, in: Thomas Anz (Hg.), Handbuch Literaturwissenschaft, Bd. 1, Stuttgart: Metzler 2007, S. 296-306. Seitdem sind erschienen: Christine Künzel/Jörg Schönert (Hg.), Autorinszenierungen. Autorschaft und literarisches Werk im Kontext der Medien, Würzburg: Königshausen & Neumann 2007 sowie Christoph Jürgensen/Gerhard Kaiser (Hg.), Schriftstellerische Inszenierungspraktiken – Typologie und Geschichte, Heidelberg: Winter 2011. 18 »Der Garten der Woche«, in: Die Zeit Nr. 17 (2009), S. 18. Vgl. Friedrich Christian Delius: Die Birnen von Ribbeck, Reinbek bei Hamburg: rororo 1991.

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turtourismus, gekoppelt mit dem Wunsch nach sinnlich-wahrnehmbaren Geschmackserlebnissen. Zwar gab es auch schon vorher Kochbücher à la Kochen mit Goethe, doch geht es hier um die Kombination des Genießens bestimmter Lebensmittel – direkt vor Ort und damit vor vermeintlich authentischer Kulisse. Sich in entsprechendem Ambiente vorzustellen, wie der alte Ribbeck damals dafür sorgte, dass die Nachkommenden kontinuierlich mit Birnen versorgt sein sollten, genügt nicht mehr. Die Birnen müssen physisch präsent sein, man muss sie anfassen und sich im Idealfall einverleiben können. Erst dann ist das Erlebnis perfekt, wird der Mensch rundum, das heißt geistig, körperlich und emotional angesprochen. Kulinarischer Genuss, verbunden mit einem hohen Bekanntheitsgrad der vor Ort inszenierten ›story‹ sind die Voraussetzung für eine erfolgreiche, so genannte Thematisierungsstrategie19, wie sie von Friedrich Christian Delius vorausdeutend in Die Birnen von Ribbeck (1991) kritisiert worden ist. Wie eingangs erwähnt, liegen derzeit Tourismuskonzepte im Trend, die auf das Erzählen von Geschichte(n), dem so genannten ›story-telling‹, basieren. Dass es sich bei den Birnbäumen keinesfalls um die damals gepflanzten handelt, ja noch nicht einmal die Sorte zu stimmen scheint,20 ist dabei nachrangig. Im Jahr 2009 wurde, begleitet von einem vergleichsweise großen Medieninteresse, das restaurierte Schloss in Ribbeck wiedereröffnet. Der Besuch verspricht ein besonderes Erlebnis: Wenn man die dort gewachsenen Birnen isst oder den lokalen Birnenschnaps zu sich nimmt und sich die Geschichte vom alten Ribbeck in Erinnerung ruft,21 wie aus seinem Grab ein Birnbaum herauswächst, damit sich auch weiterhin die Nachbarskinder daran laben können – »So spendet Segen noch immer die Hand / Des von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland« –, dann steht der Besuch im Havelland zwar weiterhin in der Tradition des »Wandeln[s] auf den Spuren Fontanes«. Doch die vermeintliche Authentizität des Orts wird noch einmal durch das physisch-emotionale Erlebnispotenzial gesteigert: das Gedicht wird nicht nur im Kopf des Kulturreisenden präsent, sondern erfährt eine kaum zu ü-

19 Steinecke: Populäre Irrtümer, S. 145f. 20 Holger Kreitling: »Birnen satt in Ribbeck im Havelland«, in: Die Welt vom 05.07.2009,

http://www.welt.de/kultur/article4060473/Birnen-satt-in-Ribbeck-

im-Havelland.html (letzter Aufruf am 02.12.2012). 21 Familienseite der Familie von Ribbeck. http://www.vonribbeck.de/index.html (letzter Aufruf am 02.12.2012).

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berbietende physische, mit mehreren Sinnen gleichzeitig erlebbare Präsenz. Ähnlich, wenn auch anders gelagert, ist es zu bewerten, dass der Feinbäckerei Hartmut Walther, die in Dresden für ihren Stollen bekannt ist, vor einigen Jahren in Uwe Tellkamps Roman Der Turm ein Denkmal gesetzt worden ist. Der authentische Geschmack spielt für den Protagonisten eine große Rolle. Ausführlich wird der besondere Geschmack verschiedener alter Apfelsorten geschildert,22 wird der Verzehr von Semmeln und Stollen zelebriert. Nostalgie mischt sich mit ausgeprägter Genießerattitüde. Die Literaturkritik hat diese und andere Schilderungen gelobt. In einer Zeit der Vereinheitlichung des Geschmacks durch genveränderte Obst- und Gemüsesorten und große Backketten stehen schon seit einigen Jahren Unverwechselbarkeit und Ursprünglichkeit zumindest für die so genannte bürgerliche Mitte hoch im Kurs. Vor diesem Hintergrund wundert es nicht, wenn neuerdings bei so genannten Literatur-Touren in Dresden auch die Verköstigung der Semmeln aus der von Tellkamp beschriebenen Bäckerei auf dem Tagesprogramm steht.23 Das sinnliche Nacherleben dessen, was der Protagonist wahrnimmt, hier in Form eines »Nach-Schmeckens«, steht im Zentrum des Reiseerlebnisses. Prinzipiell ist das Sich-Hineinversetzen in die damaligen räumlich-zeitlichen Koordinaten im Leben des Autors oder des Protagonisten eine kulturelle Praktik, wie sie spätestens seit Franz Posselts Apodemik von 1795 im Zusammenhang mit Reisen propagiert wurde: Ebenso möchte ich Reisenden rathen, diejenigen Dichter, die wirkliche Gegenden geschildert und beschrieben haben, an Ort und Stelle zu lesen, um ihre Kopien mit dem Originale, d.i. mit der Natur, zu vergleichen, und die Schönheiten solcher Schilderungen desto lebhafter zu fühlen. Thomson und Pope haben in ihren Werken verschiedene schöne Gegenden von England geschildert; Haller hat die Alpen besungen; J. J. Rousseau hat uns in seiner neuen Heloise getreue Schilderungen von manchen schönen Schweizergegenden geliefert; in den alten lateinischen Dichtern kommen viele Schilderungen mancher schönen Gegenden Italiens vor. Wer nun die-

22 Vgl. Uwe Tellkamp: Der Turm, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2008, S. 531-533. 23 Anika Kreller: Literatur-Touren: Durch Dichters Lande; darin: »Dresden – Turmtour nach Tellkamp«, http://www.spiegel.de/reise/deutschland/literaturtouren-durch-dichters-lande-a-712346-2.html (letzter Aufruf am 03.12.2012). Dort auch weitere Hinweise auf Literatur-Touren andernorts.

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se Dichter an Ort und Stelle liest, der wird von der Wahrheit und Schönheit ihrer Schilderungen auf das lebhafteste durchdrungen werden.

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Neu hinzugekommen ist indes die Ausweitung der jeweils vor Ort angesprochenen Sinnesorgane und die angestrebte haptische und innerkörperliche Unmittelbarkeit des Erlebens. Streng genommen findet damit auch eine gewisse Infantilisierung statt. Sich allein visuell vorzustellen, wie es war, genügt nicht mehr; das Kind im Erwachsenen will angesprochen werden: Alles soll ertastet, olfaktorisch genossen und erschmeckt werden.

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RELOADED

Ein ähnliches touristisches Cross-over zeigt sich mittlerweile auch im Umgang mit den eigentlichen Orten des Geschehens, die noch immer von zentraler Bedeutung für zahlreiche Kulturtourismuskonzepte sind. Relativ klassisch geriert sich noch der folgende Kultur-Tipp im »KulturSpiegel«Magazin anlässlich der Frankfurter Buchmesse: Da beim Besuch von Literaturmessen meist eine Sache zu kurz komme – das Lesen selbst – wird den Gästen der Besuch des Lesecafés Sachsenhausen empfohlen. Hier könne man nicht nur Schriftstellern selbst begegnen, sondern begibt sich zugleich an einen Ort, der bereits selbst in die Krimi-Literatur eingegangen sei: In den Krimis von Jan Seghers arbeitet die Freundin des Kommissars Robert Marthaler hier als Kellnerin.25 Laut einem Interview habe er alle Schauplätze seines Krimis zuvor in Frankfurt mit dem Fahrrad erkundet.26 Von großer Bedeutung scheint die Wiedererkennbarkeit der Orte in der Literatur zu sein.

24 Franz Posselt: Apodemik oder die Kunst zu reisen. Ein systematischer Versuch zum Gebrauch junger Reisenden aus den gebildeten Ständen überhaupt und angehender Gelehrten und Künstler insbesondere. 2 Bde., Bd. 1, Leipzig: Breitkopf 1795, S. 360f. 25 Tobias Becker: »Die schönste Nebensache«, in: KulturSpiegel 10 (2011), S. 10. Jan Seghers ist das Pseudonym für Matthias Altenburg. 26 Vgl. Beitrag zu »Jan Seghers (Matthias Altenburg)«, in: Krimi-Couch.de Ausgabe 11 (2012). http://www.krimi-couch.de/krimis/jan-seghers.html (letzter Aufruf am 07.12.2012).

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Ähnlich lässt sich das auch an einem anderen Beispiel beobachten. Seit Oktober 2008 befindet sich in Schloss Muskau an der heutigen deutsch-polnischen Grenze die Dauerausstellung »Pückler! Pückler? Einfach nicht zu fassen!«.27 Sie geht einzelnen Aspekten aus dem Leben Hermann von Pückler-Muskaus und dem von ihm angelegten Park Muskau nach, der seit 2004 unter UNESCO-Weltkulturerbe-Schutz steht. Beleuchtet wird nicht nur die familiäre Situation des Fürsten, seine zahlreichen Liebesaffären sowie umfangreichen Reisen, sondern es werden auch die einzelnen Entwicklungsstufen der berühmten Gartenanlage dargestellt. Zudem befindet sich in einem Raum eine Art Miniaturkutschbahn, mit der die Besucher an einzelnen, in Großformat aufgestellten Seiten der »Andeutungen über Landschaftsgärtnerei« entlang fahren können.28 Pückler hat dieses Werk zu seinem eigenen Park noch während der Entstehungszeit verfasst und 1834 veröffentlicht. Aus kleinen Lautsprechern ertönen an jeder Station die entsprechenden Ausführungen eines galanten Gastgebers über die Anlage, so dass sich der Besucher auf einer imaginierten Rundfahrt durch Buch und Park zugleich wähnen kann – ganz so, wie es Pückler auch in den »Andeutungen« praktiziert hat. Die formelhafte Wendung, dass ein Garten wie ein Buch und umgekehrt gelesen werden könne, bekommt hierdurch im wahrsten Sinne des Wortes eine Er-fahr-barkeit. Dies umso mehr, als sich der Besucher auch einen Eindruck vom realen Park verschaffen kann. Beides greift ineinander und lebt vom Mit- und Gegeneinander. Insgesamt lassen sich hinsichtlich der Inszenierung von Orten drei Faktoren im heutigen Literatur- und Kulturtourismus beobachten, die eine qualitative Veränderung gegenüber Tourismuskonzepten der letzten rund zehn bis fünfzehn Jahre aufweisen. Erstens findet eine Ausweitung der Zielgruppen statt, an die sich die touristischen Konzepte wenden. Waren bislang vor allem Werke der so genannten Hochliteratur Gegenstand des Kulturtourismus, der sich primär an ein bildungsbürgerliches Zielpublikum wandte, werden mittlerweile auch Werke mit weniger hohem literarischem Anspruch mit ähnlichen Strategien vermarktet wie zuvor die »Klassiker«. So

27 Zur Ausstellung »Pückler! Pückler? Einfach nicht zu fassen!« siehe www.mus kauer-park.de (letzter Aufruf am 02.12.2012). 28 Vgl. Hermann von Pückler-Muskau: Andeutungen über Landschaftsgärtnerei verbunden mit der Beschreibung ihrer praktischen Anwendung in Muskau (1834), hg. v. Günter J. Vaupel, Frankfurt/Main: Insel 1988.

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können nun Krimileser in Venedig auch auf den Spuren Donna Leons reisen,29 Harry Potter-Fans können mit Alnwick Castle und Durham Castle im Nordosten Englands an die Drehorte der Romanverfilmungen gelangen.30 Dies wiederum verweist sogleich auf einen weiteren Trend: Der enge Zusammenhang zwischen Bestsellern und einem touristischen Aufschwung der damit assoziierten Orte führt mittlerweile dazu, dass Autoren schon beim Verfassen ihrer Bücher im Hinblick auf die Publikumsbedürfnisse berücksichtigen, wo ihre Werke spielen werden. Stephenie Meyer etwa, Verfasserin der international erfolgreichen »Biss«-Serie31, hatte ursprünglich ihr Werk in einer fiktiven italienischen Stadt angesiedelt, dies jedoch noch kurz vor Drucklegung zugunsten Volterras, einer kleinen Stadt in der Toskana, abgeändert, wie sie selbst bei einem Vortrag in Volterra bekannt haben soll.32 Auch wenn die Filme größtenteils in Montepulciano gedreht wurden, ist seit den internationalen Bestsellern und den Verfilmungen ein enormes Publikumsaufkommen im kleinen Volterra zu verzeichnen. Statt wie zuvor ältere Reisende anzulocken, sind es jetzt vor allem weibliche Teenager bis hin zu Dreißigjährigen, die die Besucherzahlen nach Anlaufen des ersten Films auf rund 40.000 Touristen im Ort haben ansteigen lassen.33 Dies wiederum führt schließlich zu einem gezielten touristischen ›Produktplacement‹ in Fernsehfilmen oder -serien. Wenn Unterhaltungsfilme wie

29 Vgl. »Städtereise Venedig: Mit Commissario Brunetti durch Venedig«, in: Literaturreisen.com,

http://www.literaturreisen.com/staedtereisen/venedig-brunetti.

html (letzter Aufruf am 07.12.2012). 30 Welche Szenen beispielsweise auf Alnwick Castle gedreht wurden, wird detailliert

aufgeführt

unter

http://www.bdyg.homepage.t-online.de/Harry_Potter/

Film_Locations/Alnwick_Castle/alnwick_castle.html

(letzter

Aufruf

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02.12.2012). 31 Eröffnet wurde die Reihe mit Stephenie Meyer: Bis(s) zum Morgengrauen, Hamburg: Carlsen 2006 (Original: Twilight, 2005); es folgten jährlich weitere Titel, die ebenfalls mit »Bis(s) zum/zur« beginnen. 32 »Die Stunde der Vampire. Wie der Film ›New Moon – Biss zur Mittagsstunde‹ das Toskanastädtchen Volterra aufwirbelt«, Interview von Anne Lehmhöfer mit Eva Zettelmayr, einer Stadtführerin in Volterra, in: Die Zeit online, Ressort Reisen: http://www.zeit.de/2009/51/Interview-Vampir/seite-1 (letzter Aufruf am 02.12.2012). 33 Ebd.

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»Annas Geheimnis« von 2008 mit Jutta Speidel in der Hauptrolle im Alten Land bei Hamburg spielen, wird im wahrsten Sinne des Wortes eine emotional bewegende Geschichte erzählt, die sicherlich zur Steigerung der touristischen Nachfrage angetan ist. Neu ist das dem Phänomen nach nicht: Schon in der auflagenstarken zehnbändigen Buchreihe »Das malerische und romantische Deutschland« wurde ganz ähnlich verfahren, indem besonders schöne Gegenden Deutschlands wie beispielsweise das Elbsandsteingebirge der Sächsischen Schweiz mit einer ergreifenden Erzählung verbunden werden.34 Seit Aufkommen des Heimatfilms in den 1950er Jahren wurden auch andere, im touristischen Kontext kanonisierte Gegenden wie das Mittlere Rheintal oder die Lüneburger Heide gewissermaßen petrifiziert. Die Regionen also blieben, nur das Medium änderte sich. Diese Abfolge scheint sich in den letzten Jahren zu verkehren: Bücher und Filme werden mittlerweile dazu genutzt, um Regionen indirekt als touristische Destinationen bekannt(er) zu machen. Insgesamt erwecken Fernsehfilme zunehmend den Eindruck, als seien selbst dunkle Stoffe eigens in Gegenden gedreht worden, die schöne Bilder erzeugen. Bei den Zuschauern vermögen sie erneut das Versprechen zu wecken, dass hier noch Authentizität möglich ist. Wirklich neu scheint daran jedoch nur eines zu sein: Man weiß als reiseerfahrener Rezipient um die bisherigen Praktiken des Literatur- und Kulturtourismus. Dennoch lässt man sich in einer neo-romantischen Haltung des wissenden ›als-ob‹ darauf ein – in der Hoffnung, dass sich das Zauberwort, von dem Eichendorff einst sang,35 doch noch wie von Zauberhand einfindet, um die prosaische Tourismus-Welt zum Klingen zu bringen.

34 Vgl. dazu Urte Stobbe: »Als die Elbe romantisch wurde. Zur Entdeckung der Elblandschaft als touristische Destination«, in: Thorsten Unger (Hg.), Naturund Kulturraum Elbe. Halle: Mitteldeutscher Verlag 2013 [im Druck]. 35 Vgl. Joseph von Eichendorff: »Wünschelrute (1838)«, in: ders., Werke, hg. v. Hartwig Schulz, Bd. 1, Frankfurt/Main: Deutscher Klassiker-Verlag 1987, S. 328.

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L ITERATUR Art. »Alnwick Castle«, http://www.bdyg.homepage.t-online.de/Harry_Pot ter/Film_Locations/Alnwick_Castle/alnwick_castle.html (letzter Aufruf am 02.12.2012). Art. »Der Garten der Woche«, in: Die Zeit Nr. 17 (2009), S. 18. Art. »Jan Seghers (Matthias Altenburg)«, in: Krimi-Couch.de Ausgabe 11 (2012), http://www.krimi-couch.de/krimis/jan-seghers.html (letzter Aufruf am 07.12.2012). Art. »Pückler! Pückler? Einfach nicht zu fassen!«, http://www.muskauerpark.de (letzter Aufruf am 02.12.2012). Art. »Städtereise Venedig: Mit Commissario Brunetti durch Venedig«, in: Literaturreisen.com, http://www.literaturreisen.com/staedtereisen/vene dig-brunetti.html (letzter Aufruf am 7.12.2012). Bausinger, Hermann/Beyrer, Klaus/Korff, Gottfried (Hg.), Reisekultur. Von der Pilgerfahrt zum modernen Tourismus, München: Beck 21999. Becker, Christoph (Hg.), Perspektiven des Tourismus im Zentrum Europas, Trier: Europäisches Tourismus-Institut an der Universität 1992 (= ETIStudien 1). Becker, Tobias: »Die schönste Nebensache«, in: KulturSpiegel 10 (2011), S. 10. Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1987 (Erstveröffentlichung 1979). Braun, Michael: »Kein Haus ohne Hüter. Bodo Plachta führt in die Aura von Dichtergedenkstätten ein«, in: Rezensionsform Literaturkritik.de 10 (Oktober 2012), http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_ id=17095#biblio (letzter Aufruf am 02.12.2012). Brenner, Peter (Hg.), Der Reisebericht, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1989. Delius, Friedrich Christian: Die Birnen von Ribbeck, Reinbek bei Hamburg: rororo 1991. Eichendorff, Joseph von: Werke, hg. v. Hartwig Schulz, Bd. 1, Frankfurt/Main: Deutscher Klassiker-Verlag 1987. Enzensberger, Hans Magnus: »Eine Theorie des Tourismus (1958)«, in: ders., Einzelheiten I, Bewußtseinsindustrie, Frankfurt/Main: Suhrkamp 6 1969. Familienseite der Familie von Ribbeck. http://www.vonribbeck.de/index. html (2.12.2012).

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Hachtmann, Rüdiger: Tourismus-Geschichte, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007. Hagestedt, Lutz: »Autorenpräsentation und -förderung: Lesungen, Ausstellungen, Preise«, in: Thomas Anz (Hg.), Handbuch Literaturwissenschaft, Bd. 1, Stuttgart: Metzler 2007, S. 296-306. Heine, Heinrich: »Reisebilder III: Italien. Reise von München nach Genua (1828)«, in: ders., Reisebilder. Mit einem Nachwort v. Hiltrud Häntzschel, Zürich: Diogenes 1993. John, Hartmut: »Museen und Tourismus – Partner einer (fast) idealen Allianz«, in: ders./Hans-Helmut Schild/Katrin Hieke (Hg.), Museen und Tourismus. Wie man Tourismusmarketing wirkungsvoll in die Museumsarbeit integriert, Bielefeld: transcript 2010, S. 9-50. Jürgensen, Christoph/Kaiser, Gerhard (Hg.), Schriftstellerische Inszenierungspraktiken – Typologie und Geschichte, Heidelberg: Winter 2011. Kreitling, Holger: »Birnen satt in Ribbeck im Havelland«, in: Die Welt, http://www.welt.de/kultur/article4060473/Birnen-satt-in-Ribbeck-imHavelland.html (letzter Aufruf am 2.12.2012). Kreller, Anika: Literatur-Touren: Durch Dichters Lande; darin: »Dresden – Turmtour nach Tellkamp«, http://www.spiegel.de/reise/deutschland/ literatur-touren-durch-dichters-lande-a-712346-2.html (letzter Aufruf am 3.12.2012). Künzel, Christine/Schönert, Jörg (Hg.), Autorinszenierungen. Autorschaft und literarisches Werk im Kontext der Medien, Würzburg: Königshausen & Neumann 2007. Lehmhöfer, Anne: »Die Stunde der Vampire. Wie der Film ›New Moon – Biss zur Mittagsstunde‹ das Toskanastädtchen Volterra aufwirbelt«, in: Zeit online, Ressort Reisen, http://www.zeit.de/2009/51/Interview-Vam pir/seite-1 (letzter Aufruf am 2.12.2012). Posselt, Franz: Apodemik oder die Kunst zu reisen. Ein systematischer Versuch zum Gebrauch junger Reisenden aus den gebildeten Ständen überhaupt und angehender Gelehrten und Künstler insbesondere, 2 Bde., Leipzig: Breitkopf 1795. Plachta, Bodo: Dichterhäuser in Deutschland, Österreich und der Schweiz, Stuttgart: Reclam 2011. Pückler-Muskau, Hermann von: Andeutungen über Landschaftsgärtnerei verbunden mit der Beschreibung ihrer praktischen Anwendung in Muskau (1834), hg. v. Günter J. Vaupel. Frankfurt/Main: Insel 1988.

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Sartre, Jean-Paul: »Notes sur Madame Bovary«, in: ders.: L’idiot de la famille. Gustave Flaubert de 1821 à 1857, 2. verb. Aufl., Bd. 3, Paris: Galimard 1988, S. 661-811. Schaff, Barbara: »›In the Footsteps of …‹. The Semiotics of Literary Tourism«, in: KulturPoetik 11/2 (2011), S. 166-180. Sittig, Claudius: »Reiseliteratur«, in: Gert Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 7, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2005, Sp. 1144-1156. Steinecke, Albrecht: Populäre Irrtümer über Reisen und Tourismus, München: Oldenbourg 2010. Stobbe, Urte: »Als die Elbe romantisch wurde. Zur Entdeckung der Elblandschaft als touristische Destination«, in: Thorsten Unger (Hg.), Natur- und Kulturraum Elbe. Halle: Mitteldeutscher Verlag 2013 [im Druck]. Tellkamp, Uwe: Der Turm, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2008. Tilden, Freeman: Interpreting Our Heritage, hg. v. R. Bruce Craig. 4. erw. u. erg. Aufl., Chapel Hill: University of North Carolina Press 2007 (Erstveröffentlichung 1957). Waterton, Emma/Watson, Steve (Hg.), Culture, Heritage and Representation. Perspectives on Visuality and the Past, Farnham [u.a.]: Ashgate 2010.

Literaturfestivals Überlegungen zur Eventisierung von Literatur B ARBARA S CHAFF

1. I NSZENIERTE AUTOREN In Yasmina Rezas Drama Ihre Version des Spiels reist die publikumsscheue Autorin Nathalie Oppenheim zu einer Lesung ihres neuesten Romans in die französische Provinz. Die Fragen der Moderatorin zielen auf mögliche autobiographische Bezüge des Werks und die Schnittstellen zwischen Leben und Literatur: ROSANNA: Nathalie Oppenheim, Sie haben als Lesepassage ein für Ihren Stil sehr typisches Stück ausgesucht, in dem eine Familienszene mit Ihren inneren Reflexionen … NATHALIE (unterbricht sie): Denen der Figur. ROSANNA: … den Reflexionen der Figur vermengt wird, Pardon … Warum schaffe ich das bloß nicht? Merkwürdig … NATHALIE: Weil die herrschende Mode alles auf den Autor beziehen will … ROSANNA: Ich soll ein Opfer dieser ärgerlichen … NATHALIE: Sie wären nicht die Einzige. Es ist nicht persönlich gemeint, aber ich finde … kurz und gut, ich fühle mich nicht wohl mit diesem Verständnis des Romans, das alles auf Selbstdarstellung reduziert. ROSANNA: Warum eigentlich? Warum? Was ist daran so verkehrt?1

1

Yasmina Reza: Ihre Version des Spiels, Lengwil: Libelle 2011, S. 31.

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Was an einem Literaturverständnis verkehrt ist, das die Gedanken einer Romanfigur mit denen der Romanautorin gleichsetzt, hat die Literaturwissenschaft im Laufe der letzten 70 Jahre ziemlich eindeutig geklärt. Während die akademische Literaturwissenschaft vom 19. Jahrhundert an Texte aus ihrem historischen, biografischen und philologischen Entstehungszusammenhang heraus gedeutet hatte, feierte der New Criticism ab den 1930er Jahren die Autonomie des Textes und verabschiedete damit den Autor als Instanz der Sinnproduktion. 1946 veröffentlichten die amerikanischen New Critics William K. Wimsatt and Monroe Beardsley ihre These vom intentionalen Fehlschluss und erklärten, dass »[…] die Absicht oder die Intention des Autors weder eindeutig erkennbar noch ein wünschenswerter Maßstab ist, um den Erfolg eines literarischen Werkes zu beurteilen«.2 Eine solche »intentionalistische« Interpretation galt den New Critics als Fehlschluss, da sie das literarische Kunstwerk ontologisch als ein in sich geschlossenes, autonomes Textsystem verstanden, das allein aus sich selbst heraus interpretiert werden müsse. Endgültig demontiert wurde der Autor im französischen Poststrukturalismus mit den beiden wegweisenden Aufsätzen »Der Tod des Autors« von Roland Barthes (1968) und »Was ist ein Autor?« von Michel Foucault (1969). Während Barthes den Text prinzipiell als Zitatengewebe und damit per se schon nicht als Werk eines einzelnen Autors verstand und den Leser an die Stelle des Autors als Subjekt der Sinnproduktion eines Textes setzte (»Die Geburt des Lesers ist zu bezahlen mit dem Tod des Autors«3), ging es Foucault vor allem um die historisch unterschiedlichen Bedeutungen des Autors als Diskursfunktion. Ein Autor hat lediglich als Begründer von Diskursen eine Bedeutung, als Urheber von Texten aber ist er völlig unwichtig. Mit dem als Auftakt des Aufsatzes verwendeten Beckett-Zitat »Wen kümmert’s, wer spricht?«4 schien der Autor als Kategorie des Verstehens literarischer Texte durch den Poststrukturalismus verabschiedet worden zu sein. Doch so leicht war der Autor nicht zu vertreiben. In der Literaturwissenschaft setzte um die Jahrtausendwende ein Revisionsprozess ein, im Zuge

2

William K Wimsatt/Monroe Beardsley: »Der intentionale Fehlschluss«, in: Fotis Jannidis et al. (Hg.), Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart: Reclam 2000, S. 84-101, hier S. 84.

3

Roland Barthes: »Der Tod des Autors«, in: ebd., S. 185-193, hier S. 193.

4

Michel Foucault: »Was ist ein Autor?«, in: ebd., S. 198-229, hier S. 198.

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dessen der Status des Autors in der literaturwissenschaftlichen Interpretationspraxis untersucht und dessen Rückkehr eingeläutet wurde. Sean Burke lieferte in The Death and Return of the Author (1992) eine substantielle Kritik der poststrukturalistischen Autorschaftsdebatte und forderte in The Ethics of Writing: Authorship and Legacy in Plato and Nietzsche (2008) die ethische Verantwortlichkeit des Autors für sein Werk ein. Im deutschsprachigen Raum stellten sich die Autoren des Bandes Die Rückkehr des Autors der Aufgabe, den Autorbegriff historisch zu rekonstruieren und systematisch zu rechtfertigen.5 In der nichtwissenschaftlichen literarischen Rezeption war der Autor ohnehin nie richtig verschwunden. Anders als in der Literaturwissenschaft lässt sich in der Interpretationspraxis der populären Medien schon immer ein oft voyeuristisches Interesse am Autor feststellen, an dessen Biographie, sexueller Orientierung, Geschmack, politischer Meinung etc., ganz als ob die Kenntnis der Person des Autors und dessen lebensweltlichen Kontextes die Textlektüre befördern könnte6. Diese Art von Interesse reflektiert die Bedingungen einer modernen populären Celebrity-Industrie, wie sie P. David Marshall skizziert hat: Das Massenpublikum gewinnt über die Signifizierungsprozesse des Starkults eine symbolische Verfügungsgewalt über den öffentlichen Raum, in dem es Figuren zu Stars erhebt und genauso auch wieder fallen lässt.7 Dies gilt für Politiker, Film- und Fernsehstars genauso wie für Autoren. Die literarische Celebrity-Industrie speist sich aus den Spannungen zwischen der medialen Verfügbarkeit des (Star-)Autors und dessen gleichzeitiger Entrücktheit, zwischen seiner Individualität als Person und dem Massenmedium Literatur, den demokratischen Mechanismen der Wahl der Leser und denen einer konsumfixierten Kultur der Verkaufsförderung. Der Autor als Kultfigur ist dabei schon ein betagtes Phänomen – Lord Byron und Oscar Wilde wären als Beispiele für Autoren zu nennen,

5

Vgl. Jannidis, Fotis et al. (Hg.), Die Rückkehr des Autors, Tübingen: Niemeyer

6

Zur Kritik hieran siehe Ulrich Greiner, der die mediale Neugier an der Biogra-

1999, S. 4. phie des Künstlers als versteckte Aggression bezeichnet, »der das Unvergleichliche von Kunst verdächtig ist«, Ulrich Greiner: »Gesellschaft, was fehlt Dir?«, in: Die Zeit, 27.12.2012, S. 44. 7

David P. Marshall: Celebrity and Power: Fame in Contemporary Culture, Minneapolis: University of Minnesota Press 1997, S. 6.

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die sich der kommerziellen und symbolischen Nutzung ihres CelebrityStatus besonders gut zu bedienen wussten. Neu ist jedoch die zunehmende mediale und öffentliche Präsenz von allen Autoren im literarischen Feld, also auch von Autoren, die keinen Kultstatus genießen und nicht nur aufgrund lebensweltlicher Exzesse und Besonderheiten mediale Aufmerksamkeit errungen haben. Es sind nicht immer nur die Starliteraten, die Zulauf haben, sondern es wird, um mit Foucault zu argumentieren, während öffentlicher Lesungen und Medienauftritten erfolgreich die Funktion Autor, die einen Diskurs kennzeichnet und für dessen »Existenz-, Verbreitungsund Funktionsweise«8 charakteristisch ist, inszeniert. In diesen Diskurs ist auch das Publikum involviert: Es investiert sein Interesse am Autor und an dessen Text genauso wie seine Kenntnisse und Meinungen in eine Begegnung, die über das einzelne Werk hinaus auch dessen paratextuelle Erscheinungen wie Rezensionen oder frühere Medienauftritte des Autors miteinschließt. Andrew Wernick bezeichnet diese Erscheinungen als »promotional culture«9, als eine Kultur der kompetitiven Vermarktung und Verkaufsförderung im literarischen Feld nach kommerziellen Mechanismen. Er identifiziert drei Phasen, in der ein Autorname zu einem Instrument der Vermarktung wird: Zunächst wird der Name eines Autors einem Werk zugeschrieben – dies hat schon Foucault als den Angelpunkt für Individualisierungsprozesse beschrieben10 –, dann wird der Autorname im literarischen Feld dazu eingesetzt, um ein Produkt in einem kompetitiven Markt zu verkaufen. Dies kann mit ganz unterschiedlichen Strategien geschehen – etwa der Lancierung einer Skandalgeschichte, Interviews, Preisen, Lesungen oder Anzeigen. Ist der so beworbene Name erfolgreich, wird er schließlich vom literarischen Produkt entkoppelt und kann unabhängig davon in

8

Foucault: Was ist ein Autor?, S. 211.

9

Andrew Wernick: Promotional Culture: Advertising, Ideology and Symbolic Expression, London: Sage 1991.

10 »Der Begriff Autor ist der Angelpunkt für die Individualisierung in der Geistes-, Ideen- und Literaturgeschichte, auch in der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte. Selbst wenn man heute die Geschichte eines Begriffs, einer literarischen Gattung oder eines bestimmten Philosophietyps nachzeichnet, glaube ich, betrachtet man diese Einheiten wohl als relativ schwache, zweitrangige und über lagerte Ordnungsprinzipien, verglichen mit der ersten, soliden und grundlegenden Einheit: Autor.«, in: Foucault, Was ist ein Autor?, S. 202.

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anderen Kontexten und massenmedialen Diskursen zirkulieren.11 Der Name des Autors ist nun zu einem eigenen Zeichen geworden, das in einem markt- und verkaufsorientierten literarischen Feld in Form von beispielsweise Interviews, Kommentaren, Diskussionsveranstaltungen oder Rezensionen die öffentliche Aufmerksamkeit bindet. Der erst kürzlich kontrovers diskutierte und mit einem gewaltigen Medienecho bedachte Kommentar der zweimaligen Booker-Preisträgerin und Autorin historischer Romane Hilary Mantel über die öffentlichen Auftritte der Herzogin von Cambridge, die laut Mantel zur Schaufensterpuppe degradiert werde12, ist nur ein Beispiel dafür, wie der Name eines Autors in von seinem literarischen Wirken völlig losgelösten Kontexten publikumswirksam eingesetzt wird. Als besonders erfolgreiches Format dieser diskursiven wie performativen Inszenierungen und Vermarktungsprozesse gelten seit einigen Jahren Literaturfestivals und andere literarische Veranstaltungen wie Buchmessen und Lesungen, die Autoren und deren Bücher einem literarisch interessierten und versierten Publikum vorstellen. Die rasante Zunahme von Literaturfestivals steht sicherlich in Zusammenhang mit der generell zu beobachtenden zunehmenden alltagskulturellen Eventisierung, die in der Soziologie als Form neuer, »posttraditionaler Vergemeinschaftungsanlässe«13 beschrieben wird, die situative Gemeinschaftserlebnisse ohne Verpflichtungen schaffen und stadtpolitisch im Sinne eines bestimmten identitätsstiftenden Image genutzt werden.14 Literaturfestivals sind aber nicht nur als Teil einer meist urbanen Entwicklungsstrategie zu einem wichtigen Instrument geworden. In den sich ändernden ökonomischen Bedingungen des literarischen Feldes stellen sie eine immer wichtigere Einnahmequelle in der Vermarktung von Literatur dar. Die Bewegung vom Buch zum preisgünstigeren E-Book be-

11 Andrew Wernick: »Authorship and the Supplement of Promotion«, in: Maurice Biriotti/Nicola Miller (Hg.), What is an Author?, Manchester: Manchester University Press 1993, S. 85-103, hier S. 92-96. 12 Zitiert in The Guardian, 8.3.2013, http://www.guardian.co.uk/uk/2013/mar/08/ duchess-of-cambridge-hilary-mantel (letzter Aufruf am 18.6.2013). 13 Gregor Betz et al. (Hg.), Urbane Events, Wiesbaden: VS 2011, S. 10. 14 Ueli Gyr: »Festivalisierung und Eventisierung als urbane Identitätsleistungen«, in: Beate Binder et al. (Hg.), Ort. Arbeit. Körper. Ethnografie Europäischer Modernen, Münster: Waxmann 2005, S. 243-249, hier S. 243.

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deutet nicht nur eine Entmaterialisierung von Literatur, sondern bringt für Verlage und Autoren die Notwendigkeit mit sich, die dadurch entstehenden Verluste durch andere gewinnbringende Formen der Literaturvermittlung zu kompensieren – wie eben beispielsweise Lesungen.15 Ein weiterer Grund sind die zu beobachtenden Transformationen der Struktur der Verlagsindustrie von einer großen diversen Gruppe oft von Familien geführter kleiner und unabhängiger Unternehmen hin zu einer kleinen Anzahl global agierender und kapitalkräftiger Multimedia Holdings und Verlagsgruppen.16 Sie haben die internationale Verlagskultur in den letzten Jahrzehnten signifikant verändert und eine neue kulturelle Ordnung geschaffen, in der der Bereich der Buchvermarktung immer mehr professionalisiert und dabei vor allem die Figur des Autors als effektiver Werbefaktor eingesetzt wird. Laut Joe Moran ging diese Umgestaltung mit einer Erhöhung des Kapitalflusses und gleichzeitig mit einer erhöhten Kompetitivität einher.17 Beides führte zu hoch entwickelten, mit der Unterhaltungsindustrie vernetzten Formen der Literaturvermarktung – zu denen vor allem Literaturfestivals zählen –, in die Autoren immer stärker involviert werden. Autoren zeichnen sich in dieser »promotional culture« als in zweierlei Hinsicht wichtige Akteure aus: Sie sind wenig kapitalintensiv und können dennoch, bei entsprechender performativer Inszenierung als Stars, die oben beschriebenen Mechanismen des Starkults bedienen. Moran zitiert eine Studie, die für den amerikanischen Markt die Kosten für Lesereisen mit denen für Anzeigen vergleicht: Danach ist eine zehntägige Lesereise eines Autors genauso kapitalintensiv wie eine einseitige Anzeige in der New York Times Book Review, erreicht dabei aber ungleich mehr potentielle Käufer.18 Die Geschichte der europäischen Literaturfestivals ist die eines rasanten kulturellen und ökonomischen Erfolgs, der seinen Ursprung in Großbritan-

15 Ralf Haekel verdanke ich die Beobachtung, dass sich im Popmusikgeschäft eine ähnliche Entwicklung feststellen lässt: Auch hier wird mehr Geld über Tourneen als den Verkauf von Tonträgern verdient. 16 Ausführlicher hierzu Joe Moran: »The Reign of Hype. The contemporary star system«, in: David P. Marshall (Hg.), The Celebrity Culture Reader, New York: Routledge 2006, S. 325. 17 Ebd. 18 Moran: The Reign of Hype. The contemporary star system, S. 326.

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nien hat. Das erste Literaturfestival wurde 1949 in Cheltenham gegründet. Erst in den 1980er Jahren fasste die Idee mit der Gründung der beiden heute bedeutendsten britischen Literaturfestivals, des Edinburgh Book Festivals (1983) und des Festivals in Hay-on-Wye (1988) richtig Fuß. Vor allem das Festival in Hay besitzt heute ikonischen Status und kulturelle Bedeutung weit über die nationalen Grenzen hinaus. Das zu Anfang zweitägige, kleine, hauptsächlich auf Lyrik hin ausgerichtete Festival hat sich in den letzten Jahren zu einem gewaltigen Literaturevent von globaler Präsenz entwickelt, dessen Veranstalter mittlerweile 15 andere Literaturfestivals auf fünf Kontinenten betreiben. In Hay-on-Wye selbst wurden 2011 während des elf Tage dauernden Festivals mehr als 210.000 Tickets für über 760 Veranstaltungen verkauft. Auch das Medienecho mit über 7500 Erwähnungen und Artikeln in Druckpresse und Internet war gewaltig: »In terms of media attention, Hay now gets more traction than the other big cultural event of early summer, Cannes, and if you want to make a splash, you do it here, in this small Welsh border town«, so formulierte es Dylan Jones 2011 im Independent.19 Welche Art von Literatur schafft es, solche Massen von Menschen anzuziehen, und wie muss sie präsentiert werden? Zunächst ist festzustellen, dass bei den großen Literaturfestivals auch andere Veranstaltungen wie politische Diskussionsrunden, Comedy Shows, Kindertheater und Konzerte für Vielfalt sorgen. In Hay machen nicht-literarische Events mittlerweile beinahe die Hälfte des Programms aus.20 Während in Hay in den ersten Jahren der Hauptanteil der Lesungen noch von den Gattungen Lyrik und Roman bestritten wurde, sind es heute vor allem nicht-fiktionale Werke, Sachbücher und Biographien, die das Publikum anziehen. An den letzten Programmen des Hay Festivals sind vor allem zwei Dinge bemerkenswert. Zum einen der markante Schwerpunkt auf gesellschaftlich, politisch, religiös und ökologisch relevanten Themen. Als Literaturfestival bedient es zwar immer noch die Lust an Geschichten, an Sprache und imaginären Welten;

19 http://www.independent.co.uk/voices/columnists/dylan-jones/dylan-jones-at-the -hay-festival-most-of-the-audience-know-almost-as-much-as-the-people-onstage-sometimes-more-2297863.html (letzter Aufruf am 30.12.2012). 20 Liana Giorgi: »A celebration of the word and a stage for political debate: Literature festivals in Europe today«, in: European Commission, European Arts Festivals. Strengthening cultural diversity. Luxembourg, 2001, S. 6.

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als »Woodstock of the Mind«, wie Bill Clinton das Festival einmal genannt hat,21 konzentriert es sich jedoch zunehmend auf den kreativen Austausch von Ideen und eine engagierte Diskussionskultur zwischen Podiumsgästen und Publikum. In gewisser Weise lässt sich die Evolution des Hay Festivals analog zum dem von Jürgen Habermas konstatierten Strukturwandel der Öffentlichkeit im modernen England verstehen. Der Impetus der Literatur, den Habermas ab dem späten 17. Jahrhundert in den Kaffeehäusern, Salons und Tischgesellschaften feststellte,22 wirkte sich auf die Ausbildung einer politischen Öffentlichkeit im England der Aufklärung aus. Ähnlich entwickelte sich auch das Hay Festival von einer primär literarisch geprägten Veranstaltung hin zu einem aktiven Kommunikationsraum und -praxis, in dem die gesellschaftliche Verantwortung für politische, ökologische und gesellschaftliche Fragestellungen ernst genommen wird und Experten und Publikum aktuelle Fragen und Entwicklungen diskutieren. Längst ist das Publikum der Rolle der passiven Rezipienten entwachsen und wird als aktiver Partner gefordert, seine Ressourcen an Wissen und Kreativität in die Diskussionsrunden mit einzubringen. Auf einem Videoclip der Homepage des Festivals zitiert der Veranstalter Peter Florence den britischen Schriftsteller Ian McEwan mit den Worten, er würde für seine Romane nicht länger recherchieren sondern einfach das Publikum in Hay fragen.23 Mit dem Motto »Imagine the World« verschreibt sich das Festival zu seinem 25jährigen Jubiläum 2013 der Aufgabe, Autoren und Publikum auch in einen virtuellen und damit globalen Dialog zu bringen. Verschiedene Autoren haben auf der Website des Festivals 25 Fragen zum Thema »The Way We Live Now« gestellt und Internetuser um Antworten gebeten. Mit Aktionen wie dieser, aber auch durch das beeindruckende Medienecho, durch das Veranstaltungen des Festivals in Feuilletons und im Netz kommentiert werden, ist das Hay Festival längst über seinen geografischen Standort und seine tatsächliche Dauer hinaus zu einer virtuellen Plattform für einen en-

21 http://www.hayfestival.com/portal/index.aspx?skinid=1&localesetting=en-GB (letzter Aufruf am 31.12.2012). 22 Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit: Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft (1962), Frankfurt/Main: Suhrkamp 1990. 23 http://www.hayfestival.com/the-way-we-live-now/home.aspx?skinid=9 (letzter Aufruf am 31.12.2012).

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gagierten, global vernetzten, kritischen Austausch zeitrelevanter Themen geworden. Es steht für eine offene Diskussionskultur und den Glauben an die Macht der Literatur, Menschen über nationale Grenzen hinaus zusammenzubringen sowie durch Ideen und Wissen die Welt zu verändern. Als Plattform für eine Vielzahl literarischer Akteure, die kultur- und gesellschaftspolitische Zeichen setzen können, sind große Literaturfestivals wie das von Hay mittlerweile zu bedeutenden Zentren kultureller Sinnproduktion geworden. Neben dieser Tendenz zu einer transnationalen, diversifizierenden, unterschiedliche Rezipientengruppen ansprechenden Ausweitung eines Literaturfestivals, für die das Hay Festival exemplarisch ist, lässt sich jedoch auf der anderen Seite eine Zunahme an kleineren regionalen und zuweilen themengebundenen Festivals verzeichnen, die sich nur einem Autor oder einem bestimmten literarischen Genre verschrieben haben, wie beispielsweise das 2012 gegründete internationale Krimifestival in Stirling, »Bloody Scotland«. Dieses Festival wird mit kleinem Budget und wenig Aufwand betrieben und punktet nicht mit außerliterarischen Events, sondern mit der Konzentration auf Neuerscheinungen, thematischer Vielfalt und Lesungen bekannter Autoren. In der Identifikation eines Genres oder einer Gruppe von Autoren dienen diese Veranstaltungen auch deren besserer Sichtbarkeit. Großbritannientypisch zu sein scheint auch die Verbindung von Heritage und Literatur: Kleinere Literaturfestivals finden oft in historischen Häusern statt (und sichern so auch deren Unterhalt). Weniger regional und genrespezifisch als national orientiert ist das von den Schriftstellern Namita Gokhale und William Dalrymple 2006 gegründete Literaturfestival von Jaipur, dessen Anliegen es ist, die neue literarische Kultur Indiens in einem internationalen Kontext zu propagieren. Das Jaipur-Festival entwickelte sich in kürzester Zeit zum wichtigsten indischen Literaturevent: Standen im ersten Jahr noch 18 Schriftsteller einem Auditorium von ungefähr 100 Personen gegenüber, so zählte das Festival 2011 Orhan Pamuk und J.M. Coetzee unter seine über 200 Autoren. Dass es bei Literaturfestivals eben nicht immer nur um Literatur geht, sondern dass vor allem auch paratextuelle Elemente der literarischen Kommunikation im Mittelpunkt stehen und für Aufmerksamkeit sorgen können, zeigt das Management der turbulenten Diskussionen und Drohungen seitens radikaler Islamisten im Rahmen einer Video-Zuschaltung von Salman Rushdie während des Jaipur-Festivals im Jahre 2012. Rushdie, dessen Roman Die Satanischen Verse (1989) in Indien immer noch verboten ist, sollte ursprünglich

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live auftreten, hatte seine Teilnahme dann jedoch abgesagt. Nach massiven Protesten entschieden sich die Veranstalter, nun auch die Video-Übertragung abzusagen. Dieser Tatbestand wurde in Form einer »Skandalkommunikation«24 vermittelt, die dem Jaipur-Festival den Weg in die Schlagzeilen der internationalen Presse ebnete. In Deutschland ist die Entwicklung literarischer Festivals noch nicht in vergleichbarem Maße angestiegen wie in Großbritannien. Eine Internetrecherche ergab für Großbritannien über 150 Literaturfestivals gegenüber ca. 50 in Deutschland. Es gibt jedoch auch in Deutschland eine anwachsende Festivalkultur, die in Bezug auf Diversität und Vermarktungsstrategien mit der Großbritanniens vergleichbar ist. Das internationale literaturfestival berlin, 2001 gegründet, erhebt den Anspruch, literarische Vielfalt in Zeiten der Globalisierung zu vermitteln und damit Literatur aus einem nationalen Paradigma herauszulösen. Mittlerweile überregional in den deutschen (Groß-)Städten Köln, Wiesbaden, Berlin und Hamburg vertreten ist das Festival »Literatur in den Häusern der Stadt«, das der 2001 gegründete und privat finanzierte Kölner Kunstsalon organisiert. Das Konzept dieses Festivals kapitalisiert Literatur nicht nur in Verbindung mit dem Celebrity-Status von Autoren und Schauspielern, sondern auch mit dem des Schauplatzes: Hier lesen Schauspieler und Autoren aktuelle literarische Texte ausschließlich in Privathäusern. Das intime Ambiente des privaten Raums stellt eine persönliche Nähe zum Autor oder Vortragenden her, die nicht nur ein voyeuristisches Interesse des Publikums bedient, sondern auch dessen Position im literarischen Feld verändert. In diesem nostalgischen Rückgriff auf das Modell des literarischen Salons der Aufklärung wird der Akteur-Status der Zuhörer stark aufgewertet: in der Fiktion des privaten Rahmens sind sie weniger rezipierende Kunden denn aktiv gestaltende Teilhaber einer als Gemeinschaft erlebbaren literarischen Öffentlichkeit.

24 Marc Reichwein: »Diesseits und Jenseits des Skandals. Literaturvermittlung als zunehmende Vermittlung von Paratexten«, in: Stefan Neuhaus/Johann Holzer (Hg.), Literatur als Skandal. Fälle, Funktionen, Folgen, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, S. 89-99, hier S. 90.

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2. B ÜCHER Eine speziell auf den Tourismus zugeschnittene Art der kommerziellen Nutzung von Literatur ist die Designation kleinerer Städte als nationale Buchstadt, die auch den Rahmen für verschiedene literarische Veranstaltungen bieten können. Als erste »Book Town« wurde 1961 von dem Buchhändler Richard Booth das walisische Hay-on-Wye, zugleich Schauplatz des berühmtesten britischen Literaturfestivals, deklariert. Eine Buchstadt zeichnet sich durch eine hohe Anzahl an Buchläden und vor allem Antiquariaten aus, idealerweise auch noch durch andere mit der Buchproduktion verbundene Industrien wie z.B. eine historische Druckerei sowie eine touristisch ansprechende historische Bausubstanz und Infrastruktur. Die Verbindung mit Literaturfestivals und anderen buchnahen Veranstaltungen in den Buchstädten trägt dazu bei, Literatur als eine nachhaltige Ressource im Tourismus zu verankern. Die Internationale Organisation von Book Towns (I.O.B.) besteht aus einem expandierenden weltweiten Netzwerk von mittlerweile über 20 Buchstädten, die sich der Aufgabe verschrieben haben, dem Medium Buch als schützenswertes Kulturgut die öffentliche Aufmerksamkeit zu sichern. Dies ist, ebenso wie die kleinen regionalen Festivals, vor allem eine Marketing-Strategie zur touristischen Entwicklung strukturschwacher Regionen. Das Phänomen Buchstadt dient aber auch dazu, die Materialität von Büchern zu einem Zeitpunkt symbolisch aufzuwerten, an dem sie zunehmende Konkurrenz von digitalen Medien erfährt. Der Fokus in den Bücherstädten liegt nicht, wie bei Literaturfestivals und Literaturhäusern, auf Neuerscheinungen, noch auf dem Werk einzelner Autoren wie in Dichterhäusern und Literaturausstellungen, sondern auf dem Medium Buch an sich und dessen symbolischem Kapital. Sein Ort ist das Antiquariat als Hort überraschender literarischer Fundstücke und vergessener Schätze, die zu heben sind. Der Reiz des antiquarischen Buchs liegt ja zum großen Teil auch in seiner Materialität. Die kulturelle Sinnproduktion von Büchern lässt sich nicht nur auf deren Inhalt reduzieren: als geformte und gestaltete Materialität, als stilbildendes Medium ist das Buch ein einzigartiges kulturgeschichtliches Dokument. Einband, haptische Qualität, Schrift, Satz, Illustrationen und nicht zuletzt der Geruch weisen Literatur als mit allen Sinnen zu erfassende Dokumente ihrer Zeit aus, und Gebrauchsspuren und Marginalia schlagen eine Brücke zu früheren Lesern und Gebrauchsformen. Gerade zu Zeiten der fortschreitenden Digitalisierung von Literatur und der

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Marktverlagerung vom Ladenlokal ins Internet, in der nicht nur die Materialität des Buches, sondern auch der historische Vertriebsort Buchladen zu verschwinden drohen, stellen sich Buchstädte der Aufgabe, diese als besonderes und schützenswertes kulturelles Erbe zu pflegen und für Leser Identifikationsangebote in einer sozialen Gemeinschaft von Lesern zu vermitteln.

3. L ESER Literaturfestivals, Buchstädte und Autorenlesungen fordern Leser in anderer Weise heraus als die Praktik des ›stillen Lesevergnügens‹, die wir im Allgemeinen als kulturell dominante Form der Literaturrezeption ansehen. Diese Praktik des stillen Lesens war der Literatur jedoch nicht von Beginn an eingeschrieben, sondern hat sich im Laufe der wachsenden Alphabetisierung und Lesekompetenz größerer Bevölkerungsschichten aus einer Vorlesepraxis heraus ab dem ausgehenden 17. Jahrhundert entwickelt.25 Vor allem mit der Gattung des Romans und der damit verbundenen Entwicklung von Erzählerfiguren wurden Leser in die Rolle des Zuhörers versetzt, denen imaginäre Textwelten durch zeitlich und räumlich textuell verankerte Erzähler vermittelt wurden. Der Autor ist in dieser Konstellation Teil des außerliterarischen Kontextes; die Auseinandersetzung findet allein mit dem Text statt. Texte mögen Neugier in Bezug auf den Autor erwecken, ein Vorwissen über einen Autor mag auch die Textlektüre steuern, als reale Größe während der Lektüre ist er jedoch nicht präsent. Begegnungen mit Autoren im Rahmen von Literaturveranstaltungen versprechen dagegen andere Literaturerlebnisse. Ein von einem Autor gelesener Text schafft eine Rezeptionsdimension, in der die Erzählerstimme von der physischen Präsenz des Autors, seiner Stimme, Gestik, Akzent, Intonation dominiert wird. Es ist nicht mehr der Leser, in dessen Imagination Figuren zum Leben gebracht werden, sondern der Autor, der seine Figuren sprechen lässt. Typische Leserfragen auf Autorenlesungen sind denn auch meist dementsprechend Autor-zentriert: sie zielen auf die Autor-Intention,

25 Elspeth Jajdelska: Silent Reading and the Birth of the Narrator, Toronto: University of Toronto Press 2007, S. 11.

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den imaginativen Raum der Textentstehung, die Verortung des Textes im Gesamtwerk. Der Autor wird als Deutungsinstanz seines Werks ernst genommen und zu persönlichen Antworten herausgefordert. Wenn, wie in Yasmina Rezas Drama, sich ein Autor diesem unausgesprochenen Vertrag mit dem Publikum, ihm Rede und Antwort zu stehen, verweigert, indem er, wie Nathalie Oppenheim, stets auf die eigene – und für den Leser völlig ausreichende – Wirklichkeit des Textes verweist (NATHALIE: […] »Man gibt sich eine mörderische Mühe, um Sätze zu fabrizieren, die Sinn nur in einem eigenen Universum haben, und das macht man ja nicht, um hinterher zu sagen ›genauso wie in meinem Leben blablabla…‹«26), führt dies unausweichlich zu einem Konflikt zwischen der Erwartungshaltung des Publikums und der Selbstpräsentation des Autors. Neben der Begegnung mit dem Autor ist es auch der Erwerb seines Werks im Rahmen einer Lesung (eine von Verlagen gezielt forcierte Praxis), der für Leser besondere Bedeutung hat. Denn anders als das im Buchladen oder Internet erworbene Buch kann das Werk nach der Lesung vom Autor signiert werden. Das Autogramm oder die persönliche Widmung dokumentiert die persönliche Begegnung zwischen Leser und Autor und kann dem Werk auratische Bedeutung verleihen, indem sich der Autor in den gedruckten Text für den einzelnen Leser noch einmal selbst einschreibt; zumindest aber steigt bei handsignierten Exemplaren berühmter Autoren deren kommerzieller Wert. Leser erleben vorgetragene Texte aber auch in einem sozialen Raum, in der Interaktion nicht nur mit Autoren sondern mit anderen Lesern. Lesungen initiieren Diskussionen über Texte, in denen sich Leser als kenntnisreiche, kritische und reflektierte Akteure im literarischen Feld positionieren können und aktive Teilhaber eines sozialen Netzwerks von Literaturinteressierten sind. Literaturfestivals sind ein sozialer Handlungs- und Kommunikationsraum, in dem Literatur als Begegnung – zwischen Autoren, Moderatoren, Lesern und Medien – erlebt und gestaltet wird. Damit entstehen neue, partizipatorische Lektüreformen, bei denen ein Text nicht mehr lediglich gelesen wird, sondern in einer Gruppe diskutiert und kommentiert wird. Dieses Erlebnis kann nicht nur eine intellektuelle, sondern eventuell auch spirituelle und therapeutische Funktion in der Konstitution einer sich in einem gemeinsamen literarischen Interesse konstituierenden Gemeinschaft

26 Reza: Ihre Version des Spiels, S. 37.

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haben. Die Räume, in denen dies stattfindet sind neben den Literaturhäusern und Festivals zunehmend auch das Internet. Die virtuellen und realen Kommunikationsräume konkurrieren nicht miteinander, sondern scheinen sich produktiv zu ergänzen: Ein Angebot zu Tweets und Blogs, das mittlerweile die meisten Webseiten literarischer Veranstaltungen prominent platzieren, lässt Leser auch über die eigentlichen Veranstaltungen hinaus in einem sozialen Netzwerk miteinander und mit Autoren kommunizieren. Die ehemalige Funktion von Literatur, einen Rückzugsraum ins Private zu bieten, wird im Netz in ihr Gegenteil verkehrt: In einer digitalen Kultur wird Literatur zum sozialen Tool, mithilfe dessen sich Leser global vernetzen und auch Formen literarischer Kommunikation erproben können, die über diejenigen realer Kommunikationsräume hinausgehen, wie beispielsweise das kreative Fortschreiben von Werken im Genre der Fanfiction.

4. F AZIT Als wachsende Zweige in der Kulturindustrie stellen Literaturfestivals und andere literarische Veranstaltungen wichtige strategische Plattformen dar, die von einer Vielzahl von Akteuren bespielt werden. Wie ist diese immer mehr diversifizierte und marktorientierte Kultur der Literaturfestivals zu verstehen? Bedeutet sie eine Regression in die Heteronomie, die resignierte Aufgabe des Anspruchs der Autonomie des literarischen Feldes? Pierre Bourdieu verweist auf die stetige Auseinandersetzung zwischen zwei Hierarchisierungsprinzipien in den Feldern der Kulturproduktion: Einer möglichen relativen Autonomie des literarischen Feldes, das sich gegenüber dem ökonomischen Kapital mit symbolischem und kulturellem Kapital zu behaupten weiß, steht das heteronome Prinzip gegenüber, das die Verflechtung von Literatur, Kapital, und medienwirksamer Vermarktung auszeichnet.27 Sind also Literaturfestivals aufgrund ihres offensichtlichen Vermarktungsinteresses eindeutig dem heteronomen Prinzip zuzurechnen? Der Ansatz, Literaturfestivals lediglich als profitable Veranstaltungen einer gewinnorientierten Medienindustrie zu sehen, greift zu kurz, denn sie generieren ökonomisches Kapital ebenso wie symbolisches, kulturelles oder so-

27 Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1999, S. 344.

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ziales. Literaturfestivals sind Phänomene einer kulturellen Differenzierung, die eine Vielfalt von Stilen, Genres, Autoren und Themenbereichen bedienen und dabei alle Facetten zwischen den Polen einer literarischen Hoch– und einer nivellierten Populärkultur konfliktlos abdecken. Sie sind komplexe Epitexte der Literatur,28 die den biographischen Autor und sein Werk als Dreh- und Angelpunkt für unterschiedliche Sinnstiftungen und Erfahrungen ausstellen. Als Bestandteil einer wachsenden Eventisierungskultur, schaffen sie soziale Räume, in denen sich literarische Interessensgruppen aus unterschiedlichen Gründen zusammen finden: sie ermöglichen den intellektuellen Distinktionsgewinn genauso wie die Identifizierung mit einer Fangemeinde. Auf jeden Fall sind sie exemplarisch für eine gelungene Partizipationskultur: Leser sind hier nicht passive Konsumenten, sondern als ›kritische Masse‹ maßgeblich an der Gestaltung der Literaturevents beteiligt, oder, um in Genettes Terminologie zu bleiben: Als Festivalakteure gestalten Leser diesen literarischen Epitext in entscheidendem Maße mit. Hepp und Vogelsang haben spätmoderne Gesellschaften generell als eventisiert beschrieben: »Gemeinsames Erleben kristallisiert sich immer häufiger an kommerziell produzierten, aber erst in der Interaktion mit den Beteiligten konstituierten Events.« 29 Und doch gehen Literaturevents über die situative Gebundenheit populärer Events hinaus, schaffen sie schließlich über das Medium Buch – das im Vorfeld oder danach gelesen und diskutiert werden kann – Nachhaltigkeit über das aktuelle Erlebnispotential in der Begegnung mit dem Autor hinaus. Autoren ermöglicht der Festivalauftritt, also das performative Interagieren mit einem Publikum, die oben beschriebene Entkoppelung des Autornamens von dessen Werk; das also, was Nathalie Oppenheim in Rezas Stück so vehement einfordert. Der Erfolg eines Literaturevents liegt nicht zuletzt im geschickten Einsatz des Autornamens oder besser des Autor-Images, das

28 Gérard Genettes Definition des Epitextes umfasst das »Irgendwo außerhalb des Buches, […] in dem der Kommentar zum Werk in einem biographischen, kritischen oder irgendeinem anderen Diskurs aufgeht, der eine mitunter indirekte und im äußersten Fall unerkennbare Beziehung zum Werk unterhält«. Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1989, S. 329f. 29 Andreas Hepp/Waldemar Vogelsang (Hg.), Populäre Events. Medienevents, Spielevents, Spaßevents, Opladen: Leske und Budrich 2003, S. 15.

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eben nicht nur aus der Textlektüre gespeist wird sondern eine Projektionsfläche für die Imagination der Leser ist, die von der Medienindustrie meist geschickt vorbereitet und gesteuert wird. Ob J.K. Rowlings Karriere nach dem »rags-to-riches« Modell als der Weg einer Sozialhilfeempfängerin zur Milliardärin propagiert wird, oder ob, wie Mark Reichwein belegt, Literaturvermittlung immer häufiger über das Mittel des Skandals funktioniert.30 entscheidend ist das Moment der Personalisierung und Emotionalisierung, das die Attraktivität des Autor-Image garantiert. Dies sind Popularisierungsstrategien, die zunächst auf den Epitext selbst gerichtet sind, darüber hinaus natürlich auch Textlektüren steuern können. Und schließlich hat auch die Materialität des Mediums Buch auf Literaturfestivals ihren Platz: ob als druckfrische Neuerscheinung auf Bücherständen der Verlage, in Signierstunden oder als antiquarischer Fund verweist sie auf das, was nach den ephemeren Ereignissen Bestand hat.

L ITERATUR Barthes, Roland: »Der Tod des Autors«, in: Fotis Jannidis et al. (Hg.), Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart: Reclam 2000, S. 185-193. Betz, Gregor et al. (Hg.), Urbane Events, Wiesbaden: VS 2011. Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt: Suhrkamp 1999. Burke, Sean: The Death and Return of the Author, Edinburgh: Edinburgh University Press 1992. Burke, Sean: The Ethics of Writing: Authorship and Legacy in Plato and Nietzsche, Edinburgh: Edinburgh University Press 2008. Foucault, Michel: »Was ist ein Autor?«, in: Fotis Jannidis et al. (Hg.), Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart: Reclam 2000, S. 198-229. Genette, Gérard: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1989. Giorgi, Liana: »A celebration of the word and a stage for political debate: Literature festivals in Europe today«, in: European Commission, European Arts Festivals. Strengthening cultural diversity. Luxembourg,

30 Reichwein: Diesseits und Jenseits des Skandals, S. 90f.

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2001, online unter: http://ec.europa.eu/research/social-sciences/pdf/eu ro-festival-report_en.pdf; letzter Aufruf am 20.02.2013 Greiner, Ulrich: »Gesellschaft, was fehlt Dir?«, in: Die Zeit, 27.12.2012, S. 44. Gyr, Ueli: »Festivalisierung und Eventisierung als urbane Identitätsleistungen«, in: Beate Binder et al. (Hg.), Ort. Arbeit. Körper. Ethnografie Europäischer Modernen, Münster: Waxmann 2005, S. 243-249. Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit: Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft (1962), Frankfurt/Main: Suhrkamp 1990. Hepp, Andreas/Vogelsang, Waldemar (Hg.), Populäre Events. Medienevents, Spielevents, Spaßevents, Opladen: Leske und Budrich 2003. Jajdelska, Elspeth: Silent Reading and the Birth of the Narrator, Toronto: University of Toronto Press 2007. Jannidis, Fotis et al. (Hg.), Die Rückkehr des Autors, Tübingen: Niemeyer 1999. Jannidis, Fotis et al. (Hg.), Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart: Reclam 2000. Künzel, Christine/Schönert, Jörg (Hg.), Autorinszenierungen: Autorschaft und literarisches Werk im Kontext der Medien, Würzburg: Königshausen und Neumann 2007. Marshall, David P.: Celebrity and Power: Fame in Contemporary Culture, Minneapolis: University of Minnesota Press 1997. Moran, Joe: »The Reign of Hype. The contemporary star system«, in: David P. Marshall (Hg.), The Celebrity Culture Reader, New York: Routledge 2006. Reichwein, Marc: »Diesseits und Jenseits des Skandals. Literaturvermittlung als zunehmende Vermittlung von Paratexten«, in: Stefan Neuhaus und Johann Holzer (Hg.), Literatur als Skandal. Fälle, Funktionen, Folgen, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, S. 89-99. Reza, Yasmina: Ihre Version des Spiels, Lengwil: Libelle 2011. Wernick, Andrew: »Authorship and the Supplement of Promotion«, in: Maurice Biriotti and Nicola Miller (Hg.), What is an Author?, Manchester: Manchester University Press 1993, S. 85-103. Wernick, Andrew: Promotional Culture: Advertising, Ideology and Symbolic Expression, London: Sage 1991.

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Wimsatt, William K./Beardsley, Monroe: »Der intentionale Fehlschluss«, in: Fotis Jannidis et al. (Hg.), Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart: Reclam 2000, S. 84-101.

Der präsentierte Schriftsteller Zur notwendigen Langeweile von Autorenlesungen R AINER M ORITZ

Wo es seit langem nicht mehr sinnvoll ist, ästhetische Normen heranzuziehen, um die Qualität von Gegenwartsliteratur zu bewerten, und wo es selbst in seriösen Feuilletons Mode geworden ist, kritische Rezensionen zu meiden und stattdessen lieber mit Autoren über ihre neuen Werke einfühlsam bei Kaffee und Croissants zu plaudern, da scheint das nicht mehr ganz taufrische postmoderne Motto des »anything goes« allenthalben zu gelten. Die Literatur darf fast alles: auf der Schwäbischen Alb, im Paris der Aufklärung, in der untergegangenen DDR spielen, aus einer oder gar keiner Perspektive erzählen, von skurrilen Mathematikern, nach Kuba emigrierten Juristen oder masochistisch veranlagten Hausfrauen berichten, dem Feminismus oder Ästhetizismus huldigen oder sich der reinen Unterhaltungskunst verschreiben. Eines freilich – darüber scheint quer durch alle Lager Konsens zu bestehen – darf die Literatur nicht: langweilig sein. Als im deutschsprachigen Raum in den 1990er Jahren die Forderung aufkam, leserfreundlichere Literatur zu schreiben und einer neuen Lust am sinnlichen Erzählen zu frönen,1 da verstanden sich diese Appelle auch als Abwehr einer vermeintlich urdeutschen Tradition, die ihr Heil in ausufernden Theoriedebatten suche und einer reflexionsgesättigten, »unlesbaren«

1

Vgl. als Resümee der damaligen Diskussionen Andrea Köhler/Rainer Moritz (Hg.), Maulhelden und Königskinder. Zur Debatte über die deutschsprachige Gegenwartsliteratur, Leipzig: Reclam 1998.

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Literatur das Wort rede. So populistisch und marktorientiert manche dieser Beiträge im Nachhinein auch wirken, so notwendig waren sie, um manche allein an Adorno, Beckett und dem Nouveau Roman geschulten Literaturkritiker daran zu erinnern, dass Hermetik und Unverständlichkeit allein keine Qualitätsmerkmale sind. Heute jedoch scheinen sich die Vorzeichen verkehrt zu haben: Experimentelle, ästhetisch avancierte Literatur spielt kaum noch eine Rolle, darf sich allenfalls in einer durch Stipendien und Literaturpreise subventionierten Nische tummeln und wird selbst von am literarischen Geschehen interessierten Leserinnen und Lesern als Zumutung empfunden. Das Unterhaltungsund Zerstreuungsdogma genießt eine fast unangetastete Gültigkeit, und wer sich dagegen zur Wehr setzt, gilt als ewig Gestriger, der unnötige Hindernisse des Verstehens aufstelle. Zugespitzt hat sich dieser Trend Ende der 1990er Jahre, als sich – nicht zuletzt durch medial vorangetriebene Phänomene wie die »Pop-Literatur« oder das »Fräuleinwunder« – die Anschauung breit machte, dass die Zeit der »klassischen« Lesung passé sei und es auch im literarischen Bereich darum gehe, lautstark-schrille »Events« zu schaffen. Wo der Literatur die Aufgabe zugeschrieben wurde zu unterhalten, da durfte die Vermittlung von Literatur nicht hintanstehen. Literatur habe, ablesbar am Boom der Festivals, mit anderen Großereignissen zu konkurrieren und sei am leichtesten zu konsumieren, wenn man berühmte Schauspieler oder Fernsehmoderatoren einbeziehe und die Zumutung eines großen Romans durch Musikbeschallung oder kulinarische Begleitprogramme erträglich mache. Gleichzeitig mühten sich Autoren – unvergessen Rainald Goetz’ blutiger Auftritt beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt – darum, ihre Texte bei Lesungen in den Hintergrund treten zu lassen und sich selbst zur »Marke« zu stilisieren. Abende mit Benjamin Stuckrad-Barre bildeten dafür eine Zeitlang das Maß aller Dinge. In der Literatur selbst und in ihrer Vermittlung musste vor allem Langeweile vermieden werden. Sich auf Voltaires Sentenz »Encore une fois tous les genres sont bons, hors le genre ennuyeux«2 berufend, hielt man es für selbstverständlich, Leser und Zuhörer vor allem zu unterhalten und nicht mit Dingen zu belasten, die deren gängigen Vorstellungshorizont überstiegen. Unter Beschuss geriet dabei die klassische Form der Autorenlesung, die im deutschsprachigen Raum seit jeher einen besonderen Status genießt.

2

Voltaire: L’Enfant Prodigue. Comédie, Paris: Prault 1738, o.P. [Préface].

D ER

PRÄSENTIERTE

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Während sich zuvor nur englische oder französische Schriftsteller, die auf Lesereise nach Deutschland kamen, darüber wunderten, dass ein Publikum mitunter eine Stunde lang geduldig Texten lauscht, die bereits in gedruckter Form vorliegen, schien es mit den veränderten Medienbedingungen des Privatfernsehens und des Internets undenkbar, »langweilige« Präsentationsformen wie eine (moderierte) Lesung anzubieten. Wer als modern und medial auf der Höhe gelten wollte, kam nicht umhin, dem Text selbst eine Nebenrolle zu geben. Und in der Tat bot und bietet die Frontalkonstellation einer traditionellen Lesung – hier der monologisierende Autor, da das geduldig schweigende Publikum – nicht selten Anlass, am Sinn eines solchen Unterfangens zu zweifeln. Man erinnere sich an Loriots Film Pappa ante portas, der eine besonders schöne und schön abschreckende, im Schluckauf-Chaos endende Lesungsszene enthält: Der Frühpensionär Heinrich Lohse besucht – um seine Langeweile zu überbrücken – die Lesung des arrivierten Autors Frohwein, eine Art Peter-Handke-Verschnitt, der sein strammes Programm folgendermaßen ankündigt: Zu Beginn werde ich 22 Gedichte aus dem Zyklus Abschied lesen. Dann – etwas lauter bitte! – acht Balladen aus meiner frühen Schaffensperiode, gefolgt von der Sonetten-Sammlung Die 12 Monate. Hierauf drei Kapitel aus dem Roman Empedokles und zum Schluss ein Trauerspiel in drei Akten mit dem Titel Goethe in Halberstadt. Dann haben wir Gelegenheit, miteinander zu sprechen.3

Aus solchen – durchaus realitätsnah dargestellten – Erfahrungen des Schreckens meinte man folgern zu müssen, Lesungen dieser Art durch »zeitgemäßere« Präsentationen zu ersetzen. So entstanden landauf, landab »Events«, die Literaturveranstaltungen in Konkurrenz zu »Performances«, wie man sie aus Theatern oder aus der Clubszene kennt, treten ließen. Literaturveranstaltungen hätten den veränderten medialen Bedingungen und einem veränderten Leseverhalten Rechnung zu tragen. Im März 2010 brachte der Hildesheimer Kulturwissenschaftler Stephan Porombka diese Anschauung besonders pointiert zum Ausdruck. Er betonte in einem Interview mit der Branchenzeitschrift Buchreport:

3

Loriot: Pappa ante Portas, Deutschland 1991.

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Es wird zunehmend wichtig, Literatur weniger im reinen Sinn zu denken und sich stattdessen stärker gegenüber den anderen Künsten und Medien zu öffnen, um vor allem auch ein jüngeres Publikum zu gewinnen.

Auf die Nachfrage, ob damit Literatur »immer zum Event« werden müssen, fuhr er fort: Nein, man kann natürlich immer noch Wasserglaslesungen machen. Aber man muss sich klar sein, dass hinter der klassischen Autorenlesung doch ein recht alter Literaturbegriff steht, der vorgibt, dass man sich in die einzelnen Werke versenken muss, die Stimme des Autors hören muss, um dicht am Eigentlichen und Wesentlichen des Textes zu sein. Das ist die gute alte protestantische Literaturkirche: Wir gehen rein, hören schweigend die Predigt und gehen dann nach Hause. Das ist ein Literaturbegriff, der aus der Perspektive der Mediengesellschaft überholt ist, weil er nicht den gegenwärtigen Umgängen mit Texten entspricht. Man kann das natürlich ignorieren. Aber dann koppelt man sich von der Gegenwart ab und kann sie nicht einmal mehr kritisch beobachten.4

Ich halte von Porombkas forschen Forderungen wenig. Wo die Literatur heute stärker denn je mit dem Internet, dem Film oder der Musik konkurriert, muss sie vor allem zeigen, dass sie ein Angebot macht, über das Internet, Film oder Musik nicht verfügen. Literarische Texte ernst zu nehmen und an ihre stille ästhetische Wirkung zu glauben heißt eben nicht, sie mit anderen Kunst- und Kommunikationstypen zu vermengen. Sich als Zuhörer bei einer Lesung in einen Text, sagen wir: Tellkamps Der Turm, zu versenken – eine von Porombka mit leisem Spott beschriebene Haltung –, das macht das Besondere aus. »Es wird zunehmend wichtiger, Literatur weniger im reinen Sinn zu denken«, sagt Porombka – ich wüsste nicht, warum man das tun sollte. Man muss keinen Geniekult pflegen, um zu erkennen, dass es ein wachsendes Bedürfnis gibt, spartanisch anmutende Wasserglaslesungen zu besuchen, wo es kein Brimborium, keine Musikbeschallung, keine Powerpoint-Präsentation, keine Weinverkostung gibt, allenfalls ein fundiertes Gespräch mit dem Autor, der zuvor seine Sätze auf die Zuhörer hat wirken lassen.

4

»Hat die Lesung ausgedient, Herr Porombka? Stephan Porombka über zeitgemäßere Formen der Literaturvermittlung«, in: Buchreport. Magazin 3 (2010).

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Die Empirie spricht eine klare Sprache. »Wasserglaslesungen« haben in den letzten Jahren nicht an Zulauf verloren, ja, es scheint so, als sei das literaturaffine Publikum einer Überinstrumentalisierung inzwischen überdrüssig geworden und verspüre eine Sehnsucht nach dem »Eigentlichen«, nach dem Text. Natürlich muss jeder Veranstalter Anstrengungen unternehmen, einen Abend dramaturgisch klug aufzubauen und einen passenden Gesprächspartner zu finden, doch warum um alles in der Welt das starke ästhetische Ereignis eines gelungenen Textes meiden oder diesem sogar aus dem Weg gehen? Sich gegen »Wasserglaslesungen« – der Ausdruck sei hier als Synonym für das klassische, vor allem auch in Buchhandlungen gepflegte Lesungsformat verwendet – zu wenden hat zwei unterschiedliche Antriebe. Zum einen wird Kritik daran gern von Festivalbetreibern formuliert, die nicht nach ästhetischer Qualität fragen, sondern vor allem Autoren wie Henning Mankell, Simon Beckett, Martin Suter oder Jussi Adler Olsen engagieren, die große Kartenverkäufe versprechen. Hier hat merkantiles Denken längst den literarischen Kernbereich infiltriert. Zum anderen hat die »Wasserglaslesung« – Porombkas Schlussfolgerungen sind dafür repräsentativ – ihre Verächter dort, wo man ein avanciertes Literaturverständnis pflegt und aus jeder größeren medialen Veränderung eine grundsätzliche Neuausrichtung der Literatur ableitet. Da gelten Literaturbegriffe schnell als „überholt“, da unterschätzt man die Beharrungskräfte der »alten« Literatur und meint sich auf Gedeih und Verderb modern geben zu müssen, um nicht als rückständig zu gelten. Es lohnt sich, sich ein wenig in der Vergangenheit umzusehen, um zu erkennen, mit welcher Vorhersehbarkeit sich modern gebende Literaturkritiker und -wissenschaftler aus dem Aufkommen neuer Medien – Kino, Radio, Fernsehen, Internet – sofort das Ende der herkömmlichen literarischen Mittel und Kommunikationsformen folgerten. Ein Blick in die 2003 von Johannes Fehr und Walter Grond herausgegebenen Sammelbände Schreiben am Netz. Literatur im digitalen Zeitalter zeigt zum Beispiel, wie kurzlebig viele dieser Prognosen sind und wie lohnend es manchmal ist, einer alten Lebensweisheit zu folgen und ruhig an der Biegung des Flusses zu verharren, bis die Leichen seiner Feinde vorbeitreiben. Vielleicht ist die Wasserglaslesung ja eine der letzten Bastionen gegen allen Twitter- und Facebook-Wahn, der meint, Texte sofort mit Kommentaren versehen zu müssen und in Texten nur Selbstbestätigungs- oder Widerspruchsanlässe sieht.

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Autorenlesungen werden besucht, weil sie die einmalige Gelegenheit bieten, den Künstler live zu erleben, ihn unmittelbar mit seinen Werken in Verbindung zu setzen. Das galt lange Zeit als verpönt, da man darin die Unterstützung einer biografistischen Lesart und eines abgehalfterten Geniekults sah. Und natürlich schwingen bei Lesungen immer außerliterarische Momente mit, Momente, die mit der Aura des Dichters zu tun haben. Das mag man beklagen; ändern wird man das indes nur, wenn man Lesungen abschafft. Sich eine Stunde auf die Lesung eines Romans einzulassen ist eine Herausforderung. Die simple Grundsituation – Autor auf der Bühne, lesend und gelegentlich am Wasserglas nippend, Publikum still zuhörend – ist auch eine Zumutung, zumal wenn es sich um komplexe ästhetische Gebilde handelt, die da zu Gehör gebracht werden. Doch wann war große, bedeutende Literatur jemals leicht zu konsumieren? Wenn man daran festhält, dass Literatur als sprachliches Kunstwerk sich kategoriell von anderen Formen der Rede unterscheidet, dann gehört dieses Fremdartige und Unerhörte zum Wesen von Literatur und zum Wesen von Lesungen. Wo überall in der Gesellschaft eine Tendenz zur Häppchenkultur und zur vorauseilenden Unterforderung der Konsumenten festzustellen ist, ist die Wasserglaslesung ein notwendiges Korrektiv, gleichsam ein Bollwerk gegen den Unterhaltungsund Verdummungswahn selbst derjenigen, die an kulturellen Schaltstellen der Gesellschaft sitzen. Deshalb gehört das Empfinden von Langeweile zum Erleben von Lesungen. Das Wortkompositum »Langeweile« kam im 18. Jahrhundert auf und hat offenkundig damit zu tun, dass der sich von Gott lösende Mensch Langeweile, ein »Offenbarwerden der Leere«5 empfindet Wenn, mit Immanuel Kant zu sprechen, »Unterredungen, die wenig Wechsel von Vorstellungen enthalten«6, langweilig genannt werden, dann liegt in diesem scheinbaren Defizit eine Chance. Denn in einer Gesellschaft, die mit schnellen Schnitten und Dauerberieselungen für einen Wert hält, dass sich »Vorstellungen« ständig ändern, sind »langweilige« Lesungen ein Rettungsanker. Langweilige Literatur kann uns zu größerer Aufmerksamkeit

5

Emile M. Cioran: Lehre vom Zerfall, Stuttgart: Klett-Cotta 2009, S. 20.

6

Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: ders., Werkausgabe, Bd. 12, herausgegeben von Wilhelm Weischedel, Frankfurt/Main: Suhrkamp 21978, S. 555.

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zwingen und dazu auffordern, das zu sehen, was erfreulicherweise nicht dem permanenten »Wechsel von Vorstellungen« unterliegt.

L ITERATUR Cioran, Emile M.: Lehre vom Zerfall, Stuttgart: Klett-Cotta 2009. Kant, Immanuel: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: ders., Werkausgabe, Bd. 12, herausgegeben von Wilhelm Weischedel, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 21978. Köhler, Andrea/Moritz, Rainer (Hg.), Maulhelden und Königskinder. Zur Debatte über die deutschsprachige Gegenwartsliteratur, Leipzig: Reclam 1998. Loriot: Pappa ante Portas, Deutschland 1991. Voltaire: L’Enfant Prodigue. Comédie, Paris: Prault 1738.

Sich selbst ausstellen Literaturvermittlung und Autoreninterview bei Wolf Haas D AVID -C HRISTOPHER A SSMANN

2006 erscheint Wolf Haas’ mit großer Spannung erwarteter Roman Das Wetter vor 15 Jahren. Die ungewöhnlich große öffentliche Erwartungshaltung, die dem Roman entgegengebracht wird, speist sich insbesondere aus dem Umstand, dass der Wetter-Text Haas’ erster Roman nach der sowohl von Leserinnen und Lesern als auch vom Feuilleton viel gelobten BrennerReihe ist. Mit dem Erscheinen von Das ewige Leben 2003 hat der Autor angekündigt, keinen Brenner-Roman mehr schreiben zu wollen. Nach sechs Romanen, inklusive Verfilmungen, Lesereisen und Hörspielen beende er die Reihe, um sich »wieder was Neues ausdenken«1 zu können. Das Wetter vor 15 Jahren macht vor diesem Hintergrund die literarische Probe aufs Exempel: An diesem Text solle sich beweisen, ob und wie es dem »Sti-

1

Bernhard Baumgartner: »Ich schreib’ wie eine Wildsau und schau nachher, was mir gefällt«, in: Die Presse vom 08.02.2003. Gleichwohl erscheint 2009 schließlich ein neuer Krimi: Der Brenner und der liebe Gott. Siehe dazu und speziell zur Frage, »wie viel Moderne in einem avancierten Unterhaltungsroman steckt«, Heinz Drügh: »›Weil im Nachhinein immer einfach‹. Die Marke Haas auf dem Höhenkamm der Moderne«, in: Thomas Wegmann/Norbert Christian Wolf (Hg.), »High« und »low«. Zur Interferenz von Hoch- und Populärkultur in der Gegenwartsliteratur, Berlin/Boston: de Gruyter 2011 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 130), S. 155-169, hier S. 157.

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list[en] und Sprachartist[en] von Gnaden«2 gelinge, sich vom spezifischen ›Brenner-Stil‹3 innovativ zu emanzipieren und gleichzeitig der nicht zuletzt von ihm selbst forcierten nervösen Ungeduld von Lesern und Literaturkritik gerecht zu werden.4 Dass Haas aus den »Kämpfen um eine post-Brennersche Schriftstellerexistenz«5 gestärkt hervorgehe, darin ist sich das Feuilleton schließlich weitestgehend einig. Durchaus in werkgeschichtlicher Kontinuität zu den BrennerTexten schreibt das Das Wetter vor 15 Jahren nämlich das »zwischen distanzierter Metafiktionalität und starker Situiertheit«6 angelegte Programm fort, um gleichzeitig die Aufmerksamkeit des Lesers unvermittelt auf die ungewöhnliche Form des Texts zu lenken. Während der Klappentext eine Liebesgeschichte ankündigt, erwartet die Leser tatsächlich ein Gespräch zwischen einem Autor namens ›Wolf Haas‹ und einer ›Literaturbeilage‹ genannten Journalistin. Auf über zweihundert Seiten entfaltet sich so nicht

2

Uwe Wittstock: Die Büchersäufer. Streifzüge durch den Literaturbetrieb, Springe: zu Klampen 2007, S. 90.

3

Vgl. speziell dazu Eike Muny: »Erzählen ohne Ewigkeit. Strategien der Aussparung bei Wolf Haas«, in: Jan Broch/Markus Rassiller (Hg.), Schrift-Zeiten. Poetologische Konstellationen von der Frühen Neuzeit bis zur Postmoderne, Köln: Universitäts- und Stadtbibliothek Köln 2006 (= Kleine Schriften der Universitäts- und Stadtbibliothek 19), S. 223-237. Siehe darüber hinaus Franz Haas: »Aufklärung in Österreich. Die erhellenden Kriminalromane von Wolf Haas«, in: Sandro M. Moraldo (Hg.), Mord als kreativer Prozess. Zum Kriminalroman der Gegenwart in Deutschland, Österreich und der Schweiz, Heidelberg: Winter 2005 (= Beiträge zur neueren Literaturgeschichte 22), S. 127-134; Sascha Michel: »Digressives Erzählen. Zur Rhetorik des Zeitvertreibs bei Jean Paul, Robert Walser und Wolf Haas«, in: Alexander Karschnia et al. (Hg.), Zum Zeitvertreib. Strategien – Institutionen – Lektüren – Bilder, Bielefeld: Aisthesis 2005, S. 187-197.

4

Vgl. Hilmar Klute/Hubert Filser: »Das letzte Ding«, in: Süddeutsche Zeitung vom 27.02.2003.

5

Hubert Winkels: »Mit silbernem Sternchen«, in: Die Zeit vom 28.09.2006.

6

Gunther Martens: »›Aber wenn du von einem Berg springst, ist es wieder umgekehrt.‹ Zur Erzählerprofilierung in den Meta-Krimis von Wolf Haas«, in: Modern Austrian Literatur. Journal of the Modern Austrian Literature and Culture Association 39 (2006), Nr. 1, S. 65-80, hier S. 78.

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nur ein Roman ausschließlich in Figurenrede, sondern auch ein Erzählen auf der Metaebene, das den im Klappentext versprochenen Roman erst durch den Dialog der beiden Figuren entstehen lässt. Insbesondere deshalb wird die Form des Romans in der Forschung als eines der Paradebeispiele schlechthin für ›Metafiktion‹7 oder ›narrative Selbstreflexion‹8 in der deutschsprachigen Literatur nach 2000 aufgefasst. Der Wetter-Roman ist demzufolge ein Text, in dem das Erzählen nahezu durchgehend über eine selbstreflexive Ebene geradezu ausgestellt wird, »die den Leser zur Reflexion über das Erzählen aufruft«.9 Ich möchte hier durchaus anknüpfen, den Horizont aber etwas weiten. Im Zentrum meiner Überlegungen steht die Frage, in welchem Verhältnis die selbstreflexive Form des Romans zu dessen paratextueller Vermittlung steht. Meine Vermutung ist nämlich, dass sich die Selbstprogrammierung des Textes nicht in der narrativen Irritation der Unterscheidung von Fiktion und Realität erschöpft, um so lediglich auf den (sprachlichen) Konstruktcharakter von Wirklichkeitsentwürfen hinzuweisen. Bedenkt man, dass es sich beim Wetter vor 15 Jahren um die literarische Inszenierung eines Autoreninterviews handelt, erhält die Frage der ausgestellten Reflexionsebene eine auf den literaturvermittelnden Rahmen des Textes erweiterte, zusätzliche Konnotation. Um dieser nachzugehen, skizziere ich im Folgenden in

7

Vgl. Andreas Böhn: »Metafiktionalität, Erinnerung und Medialität in Romanen von Michael Kleeberg, Thomas Lehr und Wolf Haas«, in: J. Alexander Bareis/ Frank Thomas Grub (Hg.), Metafiktion. Analysen zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Berlin: Kadmos 2010 (= Kaleidogramme 57), S. 11-33; Thomas Wegmann: »Metafiktionen oder Über das Erzählen erzählen«, in: Alf Mentzer/Ulrich Sonnenschein (Hg.), 22 Arten, eine Welt zu schaffen. Erzählen als Universalkompetenz, Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch 2008, S. 152165, hier S. 161-165.

8

Vgl. Christof Hamann: »›Wirklich Wetter reden.‹ Selbstreferentielles Erzählen bei Wilhelm Raabe und Wolf Haas«, in: Hubert Winkels (Hg.), Wolf Haas trifft Wilhelm Raabe. Der Wilhelm Raabe-Literaturpreis – das Ereignis und die Folgen, Göttingen: Wallstein 2007, S. 72-99.

9

Michael Jaumann: »›Aber das ist ja genau das Thema der Geschichte!‹ Dialog und Metafiktion in Wolf Haas’ Das Wetter vor 15 Jahren‹, in: Bareis/Grub (Hg.), Metafiktion. Analysen zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, S. 203-225, hier S. 224.

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einem ersten Schritt zunächst, in welcher Hinsicht der Roman Elemente seiner eigenen Vermittlung in sich integriert. In einem zweiten Teil folge ich den literaturkritisch-vermittelnden Epitexten, um zu zeigen, dass diese in spezifischer Weise an die Form des Textes anknüpfen. Der dritte Abschnitt verengt den Blick auf die paratextuelle Inszenierungspraxis des ›realen‹ Autors, um so die These zu entfalten, dass es sich bei Haas’ Wetter vor 15 Jahren um eine spezifische Kopplung von Praxis und Reflexion von Literaturvermittlung als Literaturbetriebs-Szene handelt, die jenseits eines »Scherz[es] über die Usancen des Literaturbetriebs«10 oder einer »Rache am Literaturbetrieb«11 zu verorten ist und letztlich auf eine die veröffentlichte Erwartungshaltung des Publikums kontrollierende Selbstpositionierung des Autors im literarischen Feld abzielt.

1. T EAMARBEIT Dem ›kriminalliterarischen Sprachexperiment‹12 der Brenner-Romane stellt Das Wetter vor 15 Jahren ein nicht minder selbstreflexives Experiment entgegen. Der Text setzt von Beginn an eine Form durch, die zwischen der Dialogebene der beiden Gesprächspartner und der Diegese des besprochenen Romans differenziert. Den ›eigentlichen‹ Roman bekommt der Leser in dem über fünf Tage gestreckten Gespräch mithin nie zu Gesicht, auch wenn durchgehend über ihn diskutiert wird. Stattdessen entsteht ein Text, dessen Erzählen sich die Unterscheidung zwischen dem besprochenen Roman und der Dialog-Szene als Medium zu nutze macht und dabei kontinuierlich die Thematisierung von »Prozesse[n] des literarischen Schreibens und der Rezeption von Literatur«13 profiliert. Insofern der Text dadurch einen Einblick in die Entstehung von Literatur, gleichsam ein literarisches ›Making-Of‹

10 Rainer Moritz: »Was tun mit dem Entjungferungskomplex?«, in: Literaturen vom September 2006. 11 Tessa Müller: »Herr Haas, Herr Haas, die Beilage und der Betrieb«, in: lit07.de, http://www.lit06.de/head/kritik/rez_0702.html (letzter Aufruf am 02.11.2012). 12 Vgl. Sigrid Nindl: Wolf Haas und sein kriminalliterarisches Sprachexperiment, Berlin: Schmidt 2009 (= Philologische Studien und Quellen 219). 13 Jaumann: Aber das ist ja genau das Thema der Geschichte!, S. 211.

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des Romans und damit verbundene Probleme und Störungen etabliert, gerät er in die Nähe dessen, was in der Forschung gemeinhin unter ›SchreibSzene‹ firmiert. Diese bezeichnet ein Verfahren, mit dem literarische Texte ihre kontextuellen Umstände in den »szenischen Rahmen [...] des Schreibens«14 verlegen. Das literarische Schreiben thematisiert also nicht nur sein Geschrieben-Sein, sondern befasst sich mit seinen Rahmenbedingungen, so dass deren Instabilität und Problematik in den Fokus der literarischen Darstellung rücken. Haas’ Roman lässt sich in diesen Zusammenhang zunächst insofern verorten, als die Figur ›Wolf Haas‹ tatsächlich die Arbeit mit »Rohversionen«15 beschreibt und wiederholt seine ›Kämpfe beim Schreiben‹ (vgl. 103) schildert. Fungiert im Produktionsprozess der Schreib-Szene ein »nicht-stabiles Ensemble von Sprache, Instrumentalität und Geste«16 als Quelle der Störung literarischen Schreibens, also Semantiken, Schreibwerkzeuge oder die Körperlichkeit des Autors, weitet der szenische Rahmen des Wetters vor 15 Jahren indes den Blick auf die Praktiken von Akteuren der »Einrichtungen [...], in denen es nicht unwahrscheinlich ist, Kunst anzutreffen«17, aus. Dem Wetter geht es nicht zuletzt um die sozialstrukturelle Einbettung literarischen Schreibens und damit verbundene Irritationen. So kommen ›Haas‹ und die ›Literaturbeilage‹ gleich zu Beginn auf die Bedingungen der Vermittlung von Literatur zu sprechen: LITERATURBEILAGE Ich hab mich beim Lesen auch mal kurz gefragt, ob der vorgezogene Schluss vielleicht eine Art Kampfansage an die Rezensenten ist. WOLF HAAS So weit kammert’s no!

14 Rüdiger Campe: »Die Schreibszene. Schreiben«, in: Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hg.), Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie. Unter Mitarbeit von Irene Chytraeus-Auerbach et al., Frankfurt/Main: Suhrkamp 1991, S. 759-772, hier S. 764. 15 Wolf Haas: Das Wetter vor 15 Jahren. Roman, Hamburg: Hoffmann und Campe 2006. Seitenzahlen daraus im Folgenden in runden Klammern im Text, hier S. 22. 16 Campe: Die Schreibszene, S. 760. 17 Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt/Main: Suhrkamp 42002, S. 249.

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LITERATURBEILAGE Autoren beklagen sich ja oft bitter darüber, dass in der Zeitung schon vorab die ganze Handlung verraten wird. WOLF HAAS Deshalb schreib ich keine Krimis mehr. Da stört es ein bisschen, wenn man schon vorher alles weiß. Aber bei normalen Büchern sehe ich es eher als Hilfe. Als Teamarbeit. Klappentext und Kritiker erzählen vorab die Geschichte, und als Autor kann man sich auf das Kleingedruckte konzentrieren. (5-6)

Versteht man mit Stefan Neuhaus Literaturvermittlung als Interaktion zwischen solchen Akteuren, die »innerhalb der dafür bereit stehenden Strukturen über Literatur kommunizieren, und zwar mit der Absicht, Kenntnis von und Wissen über Literatur an andere Menschen weiterzugeben, die sich für den Kauf oder die Lektüre von literarischen Texten interessieren«18, verlegt Das Wetter vor 15 Jahren eben diesen Vermittlungsprozess in den szenischen Rahmen seiner Darstellung. Das systematische Interagieren von literaturvermittelnden Akteuren und Organisationen (hier konkret ›Autoren‹ und ›Kritiker‹) wird dabei gleichwohl nicht nur thematisiert, sondern gleichzeitig mit dem Problem der literarischen Form verknüpft, konfrontiert der Text doch die Frage des ›vorgezogenen Schlusses‹ mit der – wie sich zeigen wird – nur vermeintlich ironischen Bewertung der Kommunikation zwischen Autor und Literaturkritik als ›Teamarbeit‹. Deren Relevanz für das Schreibverfahren des Romans trifft nämlich in einem spezifischen Sinne auch auf den Wetter-Text selbst zu, insofern dieser mit seiner Form des Autoreninterviews (erstens) ein Literaturvermittlungsformat in sich selbst einbaut, damit (zweitens) in der ›realen‹ Vermittlung des Wetters vor 15 Jahren spezifische Formen anregt und beides (drittens) als eine literarische Inszenierung ausweist. Als epitextuelles Format dient die Gattung des Interviews der Organisation von Prozessen der Literaturvermittlung.19 Macht das Interview in diesem Sinne Texte als Literatur im literarischen Feld anschlussfähig, ist in diesem

18 Stefan Neuhaus: Literaturvermittlung, Konstanz: UVK 2009, S. 8. Die Hervorhebungen sind weggelassen. 19 Vgl. allgemein Georg Stanitzek: »Texte, Paratexte, in Medien: Einleitung«, in: Klaus Kreimeier/Georg Stanitzek (Hg.), Paratexte in Literatur, Film, Fernsehen. Unter Mitarbeit von Natalie Binczek, Berlin: Akademie 2004, S. 3-19, hier S. 11-12.

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Zusammenhang zunächst durchaus interessant, wie Genette das Vermittlungsformat verhandelt. So heißt es in den Paratexten: Meistens wird das Interview [...] auf Betreiben der Zeitung geführt, und der Autor, der sich davon kaum mehr als eine Art kostenlose Werbung erwartet, gibt sich eher passiv und anscheinend ohne große intellektuelle Motivation dazu her.20

Genette bestimmt das Autoreninterview in dieser Passage nicht nur als ein Element, das dem ›eigentlichen‹ literarischen Text nur hinzugefügt wird. Selbst noch in seinem ohnehin als lediglich ›sekundär‹ qualifizierten Status als Paratext wertet er das Autoreninterview ab – und zwar gegenüber anderen, folglich literarisch höher bewerteten Epitexten. Das Interview komme nämlich, so Genette, zumeist schlicht »in Ermangelung eines Besseren«21 zum Einsatz, da es oftmals die »billigere Lösung«22 sei, ja die Funktion des Interviews »entspringt vermutlich eher einem Bedürfnis nach Information als nach wirklichem Kommentar«23, wie ihn Literaturkritik gewöhnlich zu leisten im Stande sei. Folgt man Debatten im deutschsprachigen Feuilleton der Jahrtausendwende, ist die bei Genette angelegte pejorative Konnotation des Interviews im deutschen literarischen Feld seit den 1990er Jahren gleichsam zu sich selbst gekommen. Demnach stehe das Autoreninterview exemplarisch für all jene Vermittlungsformen, die dazu beitrügen, dass der ›Resonanzboden‹ der Literatur gleichsam ›zerstört‹ werde.24 So diagnostiziert etwa Thomas Kraft in seinem Beitrag Das Luder Literaturkritik für die von ihm und Norbert Niemann herausgegebene Streitschrift Gegen eine Trivialisierung der Gesellschaft von 2010, dass die »klassische Literaturkritik vom Literaturjour-

20 Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Mit einem Vorwort von Harald Weinrich. Aus dem Französischen von Dieter Hornig, Frankfurt/Main: Suhrkamp 32008, S. 343. 21 Ebd., S. 344. 22 Ebd. 23 Ebd., S. 345. 24 Siehe Fritz J. Raddatz: »Wie tief wollen wir noch sinken?«, in: Die Welt vom 30.04.2010.

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nalismus bedrängt«25 werde. Während die reflektiert-kritische feuilletonistische Besprechung sich um eine »Auseinandersetzung mit Texten«26 bemühe, setze die gegenwärtige Literaturvermittlung auf mehr oder weniger Service orientierte Formate. Bevorzugt würden solche journalistischen Texte, die sich dem Werk über die »Autoren und ihre Köpfe«27 näherten. Neben Porträt oder Homestory gilt Kraft das Autoreninterview als der zum ›Luder‹ verkommene Vermittlungstyp schlechthin. Tragisch seien diese Entwicklungen der Personalisierung und Boulevardisierung für die Literatur insofern, als mit den veränderten Vermittlungsbedingungen gleichsam der ›innere Kern‹ der Literatur »verletzt«28 werde. Setzt man diese diskursive Hintergrundfolie voraus – freilich ohne sie in ihrem kulturpessimistischem Duktus literaturwissenschaftlich zu übernehmen oder gar weiterzuführen –, könnte man sagen, dass Das Wetter vor 15 Jahren die vermittelnde ›Beschädigung‹ der Literatur durch die Form des Autoreninterviews, wie sie von Teilen der deutschsprachigen Literaturkritik um 2000 unterstellt wird, gleichsam in sich einbaut: Als ›verletzend‹ erweist sich dabei vor allem die für die ›klassische‹ Literaturkritik grundlegende Auseinandersetzung mit Form oder Ästhetik des ›eigentlichen‹ Textes. Denn im Zentrum des Interviews, wie es Haas’ Roman entwirft, steht das mehr oder weniger boulevardesk-biographische Interesse der ›Literaturbeilage‹ an der Differenz zwischen dem, was der Autor ›Wolf Haas‹ an ›Wirklichkeit‹ für seinen Roman recherchiert habe, und dem, was von diesem ›wirklichen Leben‹ wiederum wie im literarischen Text verarbeitet worden sei. Erweisen sich die durchaus vorhandenen ästhetischen Überlegungen der Journalistin dabei im Sinne Krafts als wenig mehr als »Standardformulierungen«29, kommt nicht zuletzt immer wieder das Unverständnis des Autors über die Deutungsangebote der ›Literaturbeilage‹ zum Ausdruck. Wie der Leser ist ›Haas‹ durch Wertungskriterien wie »ziemlich

25 Thomas Kraft: »Das Luder Literaturkritik. Anmerkungen zu einem Bedeutungswandel«, in: Thomas Kraft/Norbert Niemann (Hg.), Keine Lust auf Untergang. Gegen eine Trivialisierung der Gesellschaft, München: LangenMüller 2010, S. 136-147, hier S. 142. 26 Kraft: Das Luder Literaturkritik, S. 142. 27 Ebd. 28 Raddatz: Wie tief wollen wir noch sinken? 29 Kraft: Das Luder Literaturkritik, S. 144.

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tough« (36) oder »too much« (21) merklich irritiert und sieht sich über das gesamte Interview hinweg mit der Frage konfrontiert, ob das, was im Roman stehe, denn nun »würklich« (129) so passiert sei, wie sich nachlesen lasse. Auf der anderen Seite bedient der neue Roman der Figur ›Wolf Haas‹, wie er dem Gespräch zu entnehmen ist, aber gleichwohl auch eben solche Anforderungen der Literaturvermittlung, die Kraft in seinem Artikel kulturkonservativ diagnostiziert. Denn der Roman erzählt die mit Happy End ausgestattete Liebesgeschichte des Zechenabbau-Ingenieurs Vittorio Kowalski, der als Jugendlicher im Österreich-Urlaub mit seinen Eltern die gleichaltrige Anni Bonati kennen- und lieben lernt, diese aus den Augen, nicht aber aus dem Herzen verliert und schließlich nach 15 Jahren wiedertrifft. Ausgerichtet an den Erwartungen der Literaturvermittlung, wie sie die Debatten zum Verhältnis von Literatur und Vermittlung um 2000 qualifizieren, ist diese narrative Anlage insofern, als sie, mit allerhand »Hollywoodkitsch« (123) ausgestattet, durchaus das Leserbedürfnis nach »traditionellen Klischees«30 bedient.

2. V IRTUOSENSTÜCK Und so kann es nicht überraschen, dass sich Das Wetter vor 15 Jahren denn auch aus dieser tatsächlichen oder bloß vermeintlichen, jedenfalls die feuilletonistischen Debatten um 2000 unter anderem bestimmenden ›Vereinnahmung‹ durch seine Vermittlung zu entziehen weiß. Im Zentrum dieser Literaturbetriebs-Szene steht paradoxerweise das mutmaßlich ›verdorbene‹31 Vermittlungsformat des Autoreninterviews selbst. Denn bei Haas’ Roman handelt es sich keineswegs lediglich um einen »Dialogroman«.32 Als journalistische Form des Gesprächs, »die eine Befragung einer Person oder

30 Neuhaus: Literaturvermittlung, S. 264. 31 Vgl. Jens Jessen: »Verdirbt der Literaturbetrieb die Literatur?«, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 51 (2007), S. 11-14. 32 Jaumann: Aber das ist ja genau das Thema der Geschichte!, S. 217.

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Personengruppe impliziert«33 zeichnet sich die Gattung des Interviews im Unterschied zum Dialog oder auch zum Gespräch »durch eine ungleiche Gesprächssituation aus, da es in der Regel von einem oder mehreren Fragenden und einem oder mehreren Befragten durchgeführt wird«.34 Und genau dieses Charakteristikum wird im Wetter vor 15 Jahren in Szene gesetzt: Die ›Literaturbeilage‹ genannte Journalistin befragt in einer vorstrukturierten, asymmetrisch angelegten und auf biographisch-personalisierte Vermittlung und Informationen ausgerichteten Situation den Autor ›Wolf Haas‹. Jenseits der skizzierten paratextuellen Einordnung des Formats ist an dieser Stelle zunächst Holger Heubners Unterscheidung von grundsätzlich zwei Interviewtypen hilfreich: Dem klassischen Autoreninterview, das als »kommentierende Sekundärkommunikation«35 außerhalb des Ästhetischen und Fiktionalen zu verorten sei, stellt er das Autoreninterview als ›Kunstform‹ gegenüber. In diesem zweiten Fall komme es nicht auf Informations- oder Literaturvermittlung an. Das Interview verliere vielmehr den Status des bloß ›Sekundären‹ und setze als künstlerische Form auf die »Generierung eigenständiger und sich selbst tragender Zeichenwelten«.36 Folgt man Torsten Hoffmann, sind die beiden von Heubner unterschiedenen Interviewtypen heuristisch sinnvoll; in der Praxis erwiesen sie sich indes als durchaus problematisch. Hoffmann argumentiert, dass Autoren vielfach die Unterscheidung zwischen ›sekundärer‹ Vermittlung und ›eigentlicher‹ Kunstform unterliefen, so dass sich immer auch die Frage stelle, ob in Interviews die Texte des jeweiligen Autors »statt kommentiert oder ignoriert nicht vielmehr weitergesprochen werden«37, das Autoreninterview sich also als Teil der literarischen Inszenierung erweise.

33 Sascha Seiler: »Interview«, in: Dieter Lamping (Hg.), Handbuch der literarischen Gattungen. In Zusammenarbeit mit Sandra Poppe et al., Stuttgart: Kröner 2009, S. 403-407, hier S. 403. 34 Ebd. 35 Holger Heubner: Das Eckermann-Syndrom. Zur Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte des Autoreninterviews, Berlin: Logos 2002, S. 143. 36 Ebd., S. 210. 37 Torsten Hoffmann: »Das Interview als Kunstwerk. Plädoyer für die Analyse von Schriftstellerinterviews am Beispiel W.G. Sebalds«, in: Weimarer Beiträge.

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Auch mit Blick auf Das Wetter vor 15 Jahren stellt sich die Frage nach dem Status des Interviews, insofern die Irritationen zwischen Literatur und Literaturvermittlung nicht mit der Grenze des ›eigentlichen‹ Textes enden, sondern dezidiert auf »Feedbackeffekte«38 setzen, die der Roman in seiner feuilletonistischen Rezeption auslöst. Der Integration seiner vermittelnden Rahmenbedingungen in Das Wetter korrespondiert die »Ausdehnung«39 der im Roman entworfenen Literaturbetriebs-Szene. So ist ein durchgängiger Themenkomplex in Interviews, Rezensionen und Berichten über Lesungen aus Anlass des Wetter-Romans die wie auch immer ironisch (aus-)gestellte Frage, ob ›der wahre Wolf Haas‹ denn nun ›wirklich‹ so sei, wie es der Roman vermuten lasse. Nicht lediglich anekdotischen Charakters ist in diesem Zusammenhang Haas’ Bemerkung, es habe nach Erscheinen des Wetters vor 15 Jahren journalistische Anfragen bei seinem Verlag gegeben, doch bitte nicht nur das Werbematerial, sondern auch den ›eigentlichen‹ Roman zur Verfügung zu stellen.40 Bemerkenswert ist diese literaturbetriebliche Anekdote deshalb, weil das Missverständnis auf Rezeptionsseite symptomatisch ist für Irritationen, die sich aus der Form des Wetters ergeben. Einerseits inszeniert dieses gerade kein bloß vermeintlich vermittelndes Interview als Literatur, sondern gibt sich selbst als ›eigentlicher‹ Text die Form eines ›sekundären‹ Interviews, das die Vermittlung eines Romans fingiert. Andererseits erweisen sich Besprechungen und Interviews als paratextuelle »Übergangszone[n]«41 zwischen realer und fiktiver Welt, in de-

Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Ästhetik und Kulturwissenschaften 55 (2009), Nr. 2, S. 276-292, hier S. 287. 38 Eckhard Schumacher: Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2003, S. 201. 39 Hoffmann, Das Interview als Kunstwerk, S. 287. 40 »Es gab lustige Missverständnisse. In Österreich haben einige Journalisten beim Verlag angerufen und gesagt: Warum schicken Sie mir nur das Werbematerial, das Interview mit dem Autor? Ich möchte den Roman.«, in: Wolf Haas: »Das Wetter vor 15 Jahren – Buchmesse-Podcast 2006«, in: literaturcafe.de, http:// www.literaturcafe.de/wolf-haas-das-wetter-vor-15-jahren-buchmesse-podcast2006 vom 02.11.2012. Min. 06:48-06:57. Das Transkript hier und im Folgenden stammt vom Verfasser. 41 Uwe Wirth: »Paratext und Text als Übergangszone«, in: Wolfgang Hallet/Birgit Neumann (Hg.), Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissen-

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nen sich mit dem ganz ›real existierenden‹ Autor Wolf Haas und dessen neuem Roman die im Text entfaltete, literaturausstellende ›Teamarbeit‹ fortsetzt. Sind erste Missverständnisse über den Status des Textes ausgeräumt, führt das ›Durchschauen‹ der Roman-Form nämlich zu spezifischen Formen der Kritik. So findet sich etwa in der Süddeutschen Zeitung anlässlich von Das Wetter vor 15 Jahren folgendes Kritikergespräch: LITERATURKRITIKER A: Herr Kollege, kommen wir gleich zur Sache: Der neue Roman von Wolf Haas. Er heißt »Das Wetter vor 15 Jahren« (Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2006, 224 Seiten, 18,95 Euro.). Nach seinen erfolgreichen Brenner-Krimis ... LITERATURKRITIKER B: ... man spricht von Kult-Büchern ... A: ... ich habe mir das Wort extra verkniffen! Also nach seinen so erfolgreichen Brenner-Krimis hat der österreichische Schriftsteller Wolf Haas nun einen Liebesroman vorgelegt. B: Das ist richtig. A: Wobei das Auffallende oder, wenn man so will, Originelle dabei ist, dass dieser Roman die Form eines Interviews hat, eines langen Gesprächs zwischen dem Autor Wolf Haas und einer namenlosen Literaturkritikerin. B: Weshalb der Leser von der eigentlichen Geschichte, dem Buch im Buch, nur insofern erfährt, als die beiden diese Geschichte nacherzählen, interpretieren und ihre poetologischen Kunstgriffe diskutieren. Genau. A: Weshalb sich jetzt lustigerweise die Form von Haas’ Buch in unserem Gespräch spiegelt. B: Naja, lustig ... ich weiß nicht. A: Jetzt seien Sie mal nicht so zugeknöpft. Das ist jedenfalls ein ziemliches Virtuosenstück, was der Haas da macht.42

In Form einer Art von Herausgeberfiktion (der Text wird durch den Zusatz »Abgelauscht von Ijoma Mangold«43 gerahmt) inszeniert Literaturkritiker Ijoma Mangold seine hier natürlich nur als Ausschnitt zitierte Besprechung als ein Kritikergespräch zu Wolf Haas’ neuem Roman. Dazu knüpft er

schaften und der Spatial Turn, Bielefeld: Transcript 2009, S. 167-177, hier S. 167. 42 Ijoma Mangold: »Der Wettkönig«, in: Süddeutsche Zeitung vom 04.10.2006. 43 Ebd.

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sprachlich, formal und typographisch an der Form des Wetter-Romans an und legt dieses Verfahren in der Mitte des fingierten Gesprächs in einer Reflexionsschleife auch selbst wiederum offen dar. So stehen neben der Inszenierung sekundärer Oralität durch die wiederholte direkte Anrede des jeweiligen Gegenübers und Partikel wie ›Naja‹ in Kombination mit elliptischem Satzbau und durch Auslassungspunkte markierte Anakoluthe die dialogisch-wechselseitige Vervollständigung von Gedankengängen und der typographische Fettdruck der Gesprächspartner. Die Besprechung ist dabei durch eine Opposition strukturiert, die gleichsam idealtypisch für zwei Rezeptionspositionen gegenüber Haas’ Roman steht: Während Literaturkritiker B dem Roman kritisch gegenüber eingestellt ist, als ›Fan‹ den BrennerKrimis nachsehnt und die Form des Romans als ›zu konstruiert‹ kritisiert, ist Kritiker A voll des Lobes. Er hält den Roman für ein gelungenes selbstreferentielles Experiment, das nicht zuletzt ein hoch interessantes »Making of eines Romans«44 präsentiere. Auch wenn Mangold mit dem Verfahren durchaus die relative Schlichtheit des Romans vor Augen führen möchte – der kritische Literaturkritiker B hat immerhin das letzte Wort –, gerät seine Besprechung gleichsam in die »Selbstprogrammierung«45 von Haas’ Text. Die Kritik wird peritextuell durch die Rubrik ›Interview‹ markiert, so dass der Leser zwar nicht unbedingt annehmen muss, es handele sich um ein ›reales‹ Gespräch, aber dennoch durch die ungewöhnliche Form zumindest irritiert ist. Gibt sich der Wetter-Roman als Literaturvermittlung aus, stellt sich Mangolds vermittelnde Rezension also als inszenierte Literatur aus. Auch ein Interview, das Klaus Nüchtern für die österreichische Wochenzeitung Falter mit Wolf Haas geführt hat, greift die metafiktional-selbstreflexive Form des Wetter-Textes mehr oder weniger ironisch auf, um sie für sein Vermittlungsinteresse zu nutzen. Nüchtern gibt seinen Fragen den Stil der ›Literaturbeilage‹ aus Haas’ Text und interessiert sich folglich insbesondere für das Verhältnis von Wirklichkeit und Fiktion. So korrespondieren Bemerkungen wie »Das haben Sie ja gar nicht verwendet! Eigentlich schade«.46 Fragen wie »Wie sind sie denn aufs Wetter gekommen?«47 oder »Kowalski fährt mit der Familie immer vom Ruhrgebiet nach Farmach. Wo

44 Mangold: Der Wettkönig. 45 Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 331. 46 Klaus Nüchtern: »Wie es würklich war«, in: Falter vom 06.09.2006. 47 Ebd.

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ist denn das überhaupt?«.48 Mit Elementen wie diesen verorten sich Nüchterns Fragen im Duktus völlig analog zum Interesse der fiktiven ›Literaturbeilage‹ und wollen auch genau so rezipiert werden. Während Das Wetter vor 15 Jahren ›Metafiktion‹ betreibt, profiliert die Literaturkritik mithin Formen von ›Meta-Vermittlung‹. Nicht der zu besprechende Roman scheint ausgestellt zu werden, sondern die Vermittlungsform selbst – und eben damit dann doch wieder Haas’ Text.

3. V ERSTECKSPIEL Die durch solche Feedbackeffekte erzeugten Reflexionsschleifen betreffen selbstredend auch die Frage nach dem Autor Wolf Haas selbst. Das Schreibverfahren des Wetter-Textes beruht zum einen auf dem exzessivprovokanten Einbau von »Realitätsbausteine[n] und -beschwörungen«49, zu denen neben dem Rückgriff auf ›reale‹ Personen wie Thomas Gottschalk und Wetten dass...? und die bereits aus den Brenner-Romanen bekannte überzeichnete Stilisierung von Mündlichkeit insbesondere eine Wirklichkeits-Semantik tritt. So ist neben den satirisch ausgestellten »würklich« (zum Beispiel 129) und »ürgendwie« (etwa 155) wiederholt von »Realität« (beispielsweise 123), »in Wahrheit« (35), »tatsächlich« (zum Beispiel 11), »real« (etwa 189), »wirklich« (zum Beispiel 132), »einem dokumentarischen Wahrheitsanspruch« (127) oder eben immer wieder »Wirklichkeit« (etwa 169) die Rede. Um die Differenz zwischen der fiktiven Welt des Romans und der realen Realität der Dialogsituation, aber auch den Irrungen und Wirrungen der Liebesgeschichte, wie sie sich ›tatsächlich‹ abgespielt habe, im Text zu etablieren, weist die Literaturbeilage darüber hinaus mehrmals darauf hin, dass eine bestimmte Szene im Roman »erfunden« (155) wirke oder etwas im Buch »gar nicht so krass rüber[kommt]« (138), wie es sich ›in Wirklichkeit‹ zugetragen habe. Zum anderen ist der Text systematisch an die Position des ›realen‹ Autors Wolf Haas im österreichischen beziehungsweise deutschen literarischen

48 Nüchtern: Wie es würklich war. 49 Hamann, Wirklich Wetter reden, S. 94.

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Feld gekoppelt.50 Mit der Selbsttransformation in das Literaturvermittlungsformat des Autoreninterviews geht ein autofiktionales Verfahren einher, das die Aussicht auf Referenzialisierung der innerfiktional entworfenen Welt zunächst über den Einbau von ›realen‹ Akteuren des literarischen Feldes wie Friedrich Christian Delius, Peter Handke, Raoul Schrott oder »Kollege Ransmayr« (117) vorbereitet, um so nicht zuletzt in der selbstironischen Distinktion gegenüber pop-literarischen Verfahren und deren literaturwissenschaftlicher Verarbeitung zu münden. So weist ›Haas‹ betont darauf hin, sich beim Schreiben daran erinnert zu haben, zu vermeiden, »dass es so ein modisches Marken-Archäologiebuch wird« (22).51 Neben diesen Realitätseffekten baut der Text darüber hinaus auf die Namensidentität von Autor und Erzähler/Figur, um sich mit solchen biographischen Partikeln zu durchsetzen, die dem literarischen Publikum über den Autor Wolf Haas gewöhnlich bekannt sind: aufgewachsen in Maria Alm, in Swansea als Lektor gearbeitet, Dissertation über Die sprachphilosophischen Grundlagen der konkreten Poesie, als Werbetexter tätig.52 Als Autofiktion lässt sich der Text in diesem Zusammenhang mithin insofern verstehen, als der WetterRoman auf die Namensidentität zwischen ›realem‹ Autor und fiktivem IchErzähler zurückgreift, zugleich aber nicht zuletzt durch die peritextuelle Markierung als ›Roman‹ Fiktionalität für sich beansprucht.53 Interessant ist vor diesem Hintergrund folgende Bemerkung des ›realen‹ Autors in einem Interview mit dem österreichischen Standard:

50 Siehe allgemein zur Einordnung Wolf Haas’ in das österreichische literarische Feld Klaus Zeyringer: Österreichische Literatur seit 1945. Überblicke, Einschnitte, Wegmarken, Innsbruck u.a.: Studien 2008, S. 491f. 51 Moritz Baßler: Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten, München: Beck 22005. In Haas’ Text selbst wird die Liste als Verfahren denn auch explizit reflektiert. Siehe S. 210-212. 52 Siehe die Angaben auf http://www.krimi-couch.de/krimis/wolf-haas.html (letzter Aufruf am 02.11.2012). 53 Vgl. Claudia Gronemann: Postmoderne/Postkoloniale Konzepte der Autobiographie in der französischen und maghrebinischen Literatur. Autofiction – Nouvelle Autobiographie – Double Autobiographie – Aventure du texte, Hildesheim u.a.: Olms 2002, hier insbesondere S. 75.

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[HAAS] Ich habe nie recherchiert! Diesmal dachte ich also: Wenn ich schon keine Krimis mehr schreibe, so möchte ich doch wenigstens einmal wirklich recherchieren. Und ich bin – ehrlich wahr – eine Woche ins Ruhrgebiet gefahren. STANDARD: Hat’s was gebracht? [HAAS] Nein, genau an dem Tag, wo ich rauffuhr, fuhr Kowalski runter nach Tirol, weil die Anni, seine Jugendliebe, ihn in »Wetten dass« gesehen und ihm eine Postkarte geschrieben hatte – im Buch.54

Aufschlussreich ist diese Interview-Passage nicht deshalb, weil sie Einblicke darin verspricht, wie der Autor Haas beim Schreiben am Wetter vor 15 Jahren tatsächlich vorgegangen ist. Bemerkenswert ist vielmehr, dass sich im ›eigentlichen‹ Text eine ganz ähnliche Passage findet, der fiktive ›Haas‹ also ebenfalls ins Ruhrgebiet hinaufgefahren ist, um für seinen Roman zu recherchieren.55 So wie der Roman Realität und Fiktion schließlich mit dem Eintritt des Autors in die von ihm entworfene fiktive Welt ineinander blendet, dies aber gleichzeitig von der ›Literaturbeilage‹ wiederum in Frage gestellt wird (vgl. 197f.), so legt die zitierte Passage die extra- bzw. intradiegetische Ebene im Roman über die paratextuelle Ebene des Autors Haas. Die damit einhergehenden Irritationen bemerkt auch der ›reale‹ Autor wiederum in einem paratextuellen Selbstkommentar. So heißt es in einem Interview einer Ausgabe der Buchwoche: Ich musste mich schon sehr konzentrieren, um den Überblick zu behalten. Da gibt es diesen Wolf Haas, der interviewt wird, und dann gibt es noch mich selber, außerdem gibt es die Interviewerin, die ja auch auf meinem Mist gewachsen ist. Und vor allem gibt es die eigentlichen Romanfiguren: das Liebespaar, die Eltern und meine Lieblingsfigur Frau Bachl.56

54 Claus Philipp: »›Wetten dass‹ und wahre Liebe«, in: Der Standard vom 02.09.2006. 55 Siehe zu den damit angesprochenen deutsch-österreichischen Aspekten Angelika Baier: »Grenz/Beziehungen in Wolf Haas’ Roman Das Wetter vor 15 Jahren«, in: Michael Boehringer/Susanne Hochreiter (Hg.), Zeitenwende. Österreichische Literatur seit dem Millennium: 2000-2010, Wien: Praesens 2011, S. 173-193. 56 »Der Liebeskrimi von Wolf Haas«, in: Buchwoche vom 02.09.2006.

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Dieser Interview-Ausschnitt ist gleichsam die Autopräsentation sowohl des Schreibverfahrens des Wetters vor 15 Jahren als auch der den Roman vermittelnden Interviews mit Wolf Haas, nämlich »Verfremdung durch Realismus« (76). So wie im fiktiven Interview, das der Roman in Szene setzt, zu der verhandelten Wirklichkeit nicht nur der Roman im Roman gehört, »sondern auch die dazugehörigen ›Tatsachen‹«57, so behandelt das um Haas zentrierte Autoreninterview noch die ihm zugrundeliegende Wirklichkeit – und das heißt auch die Interviewäußerungen des Autors selbst – als das Resultat einer Inszenierungspraxis, die die Unterscheidung von ›wirklich wahrem‹ Leben und dem, was daraus in der Literatur, aber auch und gerade in Autoreninterviews gemacht wird, kollabieren lässt.58 Und so finden sich etwa in dem bereits zitierten Interview mit Klaus Nüchtern solche Passagen, in denen Wolf Haas im Interview das Interview als Vermittlungsformat reflektiert und sich damit nicht nur in Distanz zur innerfiktionalen Realität seines Romans bringt, sondern den Status des Interviews selbst hinterfragt. Diese Reflexionen betreffen zum einen das Verhältnis von Fiktion und dahinter liegender Realität, bemerkt Haas doch: »Jedes Interview enthält ja irgendwie diese Grundfrage: ›Okay, du hast einen Roman geschrieben, aber jetzt erzähl mal, wie’s wirklich war!‹«59 Zum anderen bezieht sich die Reflexion des Autors auf den Wirklichkeits-Status des Interviews als Vermittlungsformat. Demnach sei das Autoreninterview »eine fast dummdreiste Form, weil man immer glaubt: Das ist wirklich so – Realität pur, ohne Text dazwischen«.60 Solche und ähnliche Äußerungen lassen sich zum einen als auktoriale Selbstkommentare Das Wetter vor 15 Jahren betreffend lesen, haben darüber hinaus aber auch und gerade Folgen für den Status der außertextuellen Literaturvermittlung. In einem Interview

57 Hamann: Wirklich Wetter reden, S. 92. 58 Zum Begriff der Inszenierungspraxis verstanden als Formen, die einen Autor im literarischen Feld sichtbar machen und positionieren, siehe Christoph Jürgensen/Gerhard Kaier: »Schriftstellerische Inszenierungspraktiken – Heuristische Typologie und Genese«, in: Christoph Jürgensen/Gerhard Kaiser (Hg.), Schriftstellerische Inszenierungspraktiken – Typologie und Geschichte, Heidelberg: Winter 2011 (= Beihefte zum Euphorion 62), S. 9-30. 59 Nüchtern: Wie es würklich war. 60 Ebd.

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mit den heute-Nachrichten kommt Haas denn auch auf eben diesen Effekt selbst zu sprechen: Das ist ein Versteckspiel. Man deckt manche Karten auf und manche nicht, und man weiß nie genau, was stimmt und was nicht. Das Faszinierende für mich ist die Situation, in der ich jetzt bin. Dass ich in einem Interview darüber rede, wie echt der Haas in dem Buch ist. Die stille Voraussetzung dabei ist, dass die Person, die jetzt hier sitzt, echt ist. Ein Interview gibt auch immer eine stilisierte Person, auch wenn man so ehrlich wie möglich antwortet. Natürlich filtert man aus. Nur ein Vollidiot ist vollkommen ehrlich in einem Interview. Ein Interview ist immer Fiktion. Beim Lesen wirkt das aber nicht so. Man hat immer das Gefühl, man kriegt Klartext.61

Wenn Haas hier die Unterscheidung zwischen ›echter‹ und ›stilisierter‹ Person bemüht, indem er auf den unhintergehbaren Inszenierungscharakter von Interviews hinweist, wird der von ihm immer wieder ausgestellte »Bruch mit dem Realen«62 paradoxerweise gerade nicht eingelöst. Einerseits bindet Haas jede Vorstellung eines unverstellten Blicks auf seine private Person an das ›Versteckspiel‹ zurück, andererseits wird dieses ›Spiel‹ in und zwischen Text und Paratext derart forciert, dass sich immer wieder die Frage nach dem ›Spieler‹ stellt. Dermaßen werden in und zwischen Text und Paratext die Differenzen zwischen den diegetischen Ebenen sowie der Unterscheidung zwischen Autor und Figur ins Schwimmen gebracht, dass das Versprechen auf Referenzialisierung zwar dekonstruiert wird, sich aber gleichzeitig ein ganz anderer und doch derselbe Referenzeffekt einstellt: So sehr Haas auf den autofiktionalen Status der im Wetter vor 15 Jahren wie in seinen Interviews entworfenen Autorfigur dringt, so sehr taucht wiederum der vermeintlich ›reale‹ Haas als souveräner Lenker seines öffentlichen Erscheinungsbildes auf.

61 Nike Harrach: »›Nur ein Vollidiot ist vollkommen ehrlich.‹ Autor Wolf Haas wandelt auf neuen Wegen«, in: heute.de Nachrichten, http://www.heute.de/ZDF heute/inhalt/1/0,3672,3985697,00.html (letzter Aufruf am 31.10.2009). Das Transkript stammt vom Sender. Ganz ähnlich äußert sich Haas in einem anderen Interview. Siehe »Wolf Haas«, in: Literaturhaus Wien, http://www.literatur haus.at/index.php?id=5236 (letzter Aufruf am 10.08.2011). 62 Hamann: Wirklich Wetter reden, S. 95.

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4. E INWÄNDE Insofern lässt sich das sowohl den ›eigentlichen‹ Text als auch die vermittelnden Paratexte einbeziehende metaisierende Verfahren keineswegs im Sinne einer defizitären ›bloßen‹ Konstruiertheit der Autorfunktion verstehen, die allein das Ausstellen der Differenz profiliert. Geht es nicht mehr um die Alternative ›Realität‹ oder ›Fiktion‹, kommt die Inszenierungspraxis als Element einer »möglichen Selbstsetzung«63 ins Spiel, die es Haas erlaubt, sich mittels bestimmter Verfahren überhaupt erst im literarischen Feld positionieren, ja ›ausstellen‹ zu können. Als Konsequenz wird nicht nur die Unterscheidung zwischen Literatur und Vermittlung ganz erheblich irritiert, sondern die Vermittlung des Wetter-Romans kontinuierlich auf eine reflexive Ebene umgeleitet, auf der nicht die Vermittlung des Romans, sondern die Form von Literaturvermittlung selbst zur Disposition steht. Dieses Ausstellen des eigenen Selbst gelingt aber nur, und das zeigen die zitierten Interviews, in ›Teamarbeit‹ mit den vermittelnden Instanzen. Das Wetter vor 15 Jahren lässt sich insofern als Literaturbetriebs-Szene verstehen, als es verdeutlicht, dass jede auktoriale Selbstpositionierung im literarischen Feld wiederum auf sozialstrukturellen Rahmenbedingungen beruht. Mit anderen Worten, der Effekt autofiktionaler Verfahren lässt sich wie literarisches Schreiben insgesamt »erst dann richtig verstehen, wenn man ihn nicht auf den Autor allein zurückprojiziert, sondern als strukturelles Ereignis im literarischen Feld interpretiert«.64 Ihren Kristallisationspunkt findet diese Form der literarischen ›Teamarbeit‹ in einem Interview, das Haas mit der Zeitschrift Neon geführt hat. Dort setzt die Vermittlung des WetterRomans wie folgt ein:

63 Martina Wagner-Egelhaaf: »Autofiktion oder: Autobiographie nach der Autobiographie. Goethe – Barthes – Özdamar«, in: Ulrich Breuer/Beatrice Sandberg (Hg.), Autobiographisches Schreiben in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Bd. 1 Grenzen der Identität und der Fiktionalität, München: Iudicium 2006, S. 353-368, hier S. 361. 64 Stephan Porombka: »Literaturbetriebskunde. Zur ›genetischen Kritik‹ kollektiver Kreativität«, in: Stephan Porombka et al. (Hg.), Kollektive Kreativität, Tübingen: Francke 2006 (= Jahrbuch für Kulturwissenschaft und ästhetische Praxis 1), S. 72-87, hier S. 75.

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[INTERVIEWER] Herr Haas, ich würde gerne ein Interview mit Ihnen führen. [HAAS] Ja, klar, gerne. Wann denn? [INTERVIEWER] Wie wäre Ihnen das Interview am liebsten? [HAAS] Am liebsten sind mir Interviews von anderen. Ich liebe es, Interviews zu lesen.65

Was hier in Szene gesetzt wird, ist ein Interview über ein Interview, das heißt ein literaturvermittelndes Verfahren, das aus der Selbstprogrammierung des Wetter-Romans entlehnt ist und die Vermittlung auf eine Metaebene hebt. Geradezu in Analogie zum Einstieg im Wetter vor 15 Jahren – die Literaturbeilage überlegt, wie sie anfangen soll – hebt das Interview von Anfang an auf eine Ebene der Meta-Vermittlung an, die im weiteren Verlauf des Gesprächs nicht mehr verlassen wird. Die kontinuierliche Selbstreflexion des Vermittlungsformats bezieht sich dabei nicht zuletzt konkret auf die im Roman entfaltete, eingangs zitierte Literaturvermittlungs-Szene. [INTERVIEWER] Da kommt der Satz vor: »Autoren beklagen sich ja oft bitter darüber, dass in der Zeitung schon vorab die ganze Handlung verraten wird.« Am besten legen Sie jetzt fest, wie viel wir dann im fertigen Interview verraten. [HAAS] Sie können ja so einen Textkasten dazustellen, und da fassen Sie das so zusammen: [...].66

Während Das Wetter vor 15 Jahren mit der Form des Autoreninterviews seine Vermittlung in den szenischen Rahmen der Darstellung integriert, greift das vermittelnde Interview dieses Verfahren der Integration auf, um es gleichsam in ›Teamarbeit‹ zwischen Autor und Kritik wiederum auf die eigene Vermittlungsfunktion zu applizieren. Doch noch mehr: Das Verfahren der Metaisierung von Literaturvermittlung wird schließlich gegen Ende des Interviews selbst wiederum in seinem selbstreflexiven Charakter ausgestellt, wie die folgende Passage verdeutlichten mag: [INTERVIEWER] Sie werden in vielen Interviews gefragt werden: Wie kommt man auf die Idee, ein ganzes Buch als Interview zu schreiben? [HAAS] Ja, wahrscheinlich.

65 Max Fellmann: »Carving-Ski der Literatur«, in: Neon vom 22.09.2006. 66 Fellmann: Carving-Ski der Literatur.

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[INTERVIEWER] Und? [HAAS] Und was? [INTERVIEWER] Was antworten Sie? [HAAS] Ach, jetzt wollen Sie mich das fragen, aber so tun, als ob Sie gar nicht fragen? [INTERVIEWER] Ähm... ja.67

Reflektiert das Interview in diesem Abschnitt auf andere Interviews, um auf diese Weise die eigene Metaisierung selbst wiederum im und als Interview zu reflektieren, zeigt sich letztlich das Dilemma des Schreibverfahrens nicht nur, aber auch des Wetters vor 15 Jahren: Jeder etablierten Reflexionsschleife kann eine weitere Reflexion folgen, so dass Haas zumindest für die Vermittlungsform des Interviews schließlich beinahe resignierend anmerkt: »Aber ich sag Ihnen gleich: Wir müssen dann weg von diesem Über-das-Interview-Reden. [...] Denn nur weil die Idee im Buch funktioniert, heißt das ja noch lang nicht, dass sie auch als Basis für ein Gespräch taugt«.68 Verschränkungen von Objekt- und Metaebene sollten, so auch das literaturprogrammatisch grundierte Credo des Protagonisten in Haas’ Verteidigung der Missionarsstellung, der Literatur vorbehalten bleiben; in Alltagskontexten bestehe die Gefahr, sich »in einem sich ewig hochschaukelnden Paroxysmus«69 zu verwickeln. Und genau in dieser Hinsicht begnügt sich Haas’ ›post-Brennersche Schriftstellerexistenz‹ nicht mit der Publikation eines Romans, der jenseits der Brenner-Reihe zu verorten ist, sondern reflektiert auch die literaturvermittelnden Rahmenbedingungen, die mit seinem Erscheinen verbunden sind. Entsprechend betrifft das metaisierende Schreibverfahren des Wetters vor 15 Jahren nicht nur die Textebene. Das durch das fingierte Autoreninterview angeleitete Verfahren der Irritation von Realität und Fiktion geht vielmehr mit dem Text über diesen hinaus, indem es auch die Erwartungshaltung nach der Brenner-Reihe mit einbezieht – und das eben gerade nicht lediglich als ›selbstironisches‹ Spiel, sondern als Teil des literarischen Programms. Insofern steht im Zentrum von Haas’ Literaturbetriebs-Szene nicht

67 Fellmann: Carving-Ski der Literatur. 68 Ebd. 69 Wolf Haas: Verteidigung der Missionarsstellung. Roman, Hamburg: Hoffmann u. Campe 22012, S. 33.

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nur die narrative Selbstreflexion, sondern auch die Reflexion von Literaturvermittlung – und dies als deren Praxis. Hubert Winkels bemerkt dazu in seiner Besprechung pointiert: Für den Autor des Romans, jenen Wolf Haas, der auf dem Umschlag steht, hat dieses Verfahren leicht ersichtliche Vorteile: Er kann alle Überlegungen zu einer neuen Form, alle Skrupel, alles Selbstmisstrauen, alle vorweggenommenen Einwände und so weiter zum Teil seines Romans selbst machen und den Leser zum Zeugen seiner Wandlung.70

Haas’ Verfahren in Das Wetter vor 15 Jahren erweist sich vor diesem Hintergrund nicht als bloße Irritation der Differenz von Fiktion und Realität, Text und Paratext. Die Form des Textes ist vielmehr im produktiven Sinne eines ›Sich-selbst-Ausstellens‹ zu verstehen, das es Haas erlaubt, die Erwartungen, die an ihn in der Vermittlung nach Beenden der Brenner-Reihe gestellt werden, in seine literarische Inszenierung einzubauen. Als Haas in einem Interview zur Frankfurter Buchmesse 2006 gefragt wird, ob er – also der ›reale‹ Haas – ›in der Realität‹ einem Gespräch über die Länge eines Romans überhaupt zustimmen würde, antwortet er denn auch bezeichnenderweise: »So ein Gespräch ist mir sehr lieb, so lang ich selbst Frage und Antwort stellen kann«.71 Der Wetter-Text ist eine solche autofiktionale posture, die unter Rückgriff auf das Format des Autoreninterviews versucht, das ›Irritierende‹ seiner Vermittlungsbedingungen mit dem Akt literarischer Kreativität zu koppeln.

L ITERATUR Art. »Wolf Haas: Das Wetter vor 15 Jahren – Buchmesse-Podcast 2006«, in: literaturcafe.de, http://www.literaturcafe.de/wolf-haas-das-wettervor-15-jahren-buchmesse-podcast-2006 (letzter Aufruf am 02.11.2012). Art. »Wolf Haas«, in: Literaturhaus Wien, http://www.literaturhaus.at/ index.php?id=5236 (letzter Aufruf am 10.08.2011).

70 Winkels: Mit silbernem Sternchen. 71 »Wolf Haas: Das Wetter vor 15 Jahren – Buchmesse-Podcast 2006«. Min. 02:10-02:15.

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Baier, Angelika: »Grenz/Beziehungen in Wolf Haas' Roman Das Wetter vor 15 Jahren«, in: Michael Boehringer/Susanne Hochreiter (Hg.), Zeitenwende. Österreichische Literatur seit dem Millennium: 2000-2010, Wien: Praesens 2011, S. 173-193. Baßler, Moritz: Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten, München: Beck 22005. Baumgartner, Bernhard: »Ich schreib’ wie eine Wildsau und schau nachher, was mir gefällt«, in: Die Presse vom 08.02.2003. Böhn, Andreas: »Metafiktionalität, Erinnerung und Medialität in Romanen von Michael Kleeberg, Thomas Lehr und Wolf Haas«, in: J. Alexander Bareis/Frank Thomas Grub (Hg.), Metafiktion. Analysen zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Berlin: Kadmos 2010 (= Kaleidogramme 57), S. 11-33. Campe, Rüdiger: »Die Schreibszene. Schreiben«, in: Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hg.), Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie. Unter Mitarbeit von Irene Chytraeus-Auerbach u.a., Frankfurt/Main: Suhrkamp 1991, S. 759-772. Drügh, Heinz: »›Weil im Nachhinein immer einfach‹. Die Marke Haas auf dem Höhenkamm der Moderne«, in: Thomas Wegmann/Norbert Christian Wolf (Hg.), »High« und »low«. Zur Interferenz von Hoch- und Populärkultur in der Gegenwartsliteratur, Berlin/Boston: de Gruyter 2011 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 130), S. 155169. Fellmann, Max: »Carving-Ski der Literatur«, in: Neon vom 22.09.2006. Genette, Gérard: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Mit einem Vorwort von Harald Weinrich. Aus dem Französischen von Dieter Hornig, Frankfurt/Main: Suhrkamp 32008. Gronemann, Claudia: Postmoderne/Postkoloniale Konzepte der Autobiographie in der französischen und maghrebinischen Literatur. Autofiction – Nouvelle Autobiographie – Double Autobiographie – Aventure du texte, Hildesheim u.a.: Olms 2002. Haas, Franz: »Aufklärung in Österreich. Die erhellenden Kriminalromane von Wolf Haas«, in: Sandro M. Moraldo (Hg.), Mord als kreativer Prozess. Zum Kriminalroman der Gegenwart in Deutschland, Österreich und der Schweiz, Heidelberg: Winter 2005 (= Beiträge zur neueren Literaturgeschichte 22), S. 127-134.

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Haas, Wolf: Das Wetter vor 15 Jahren. Roman, Hamburg: Hoffmann und Campe 2006. Haas, Wolf: Verteidigung der Missionarsstellung. Roman, Hamburg: Hoffmann u. Campe 22012. Hamann, Christof: »›Wirklich Wetter reden‹. Selbstreferentielles Erzählen bei Wilhelm Raabe und Wolf Haas«, in: Hubert Winkels (Hg.), Wolf Haas trifft Wilhelm Raabe. Der Wilhelm Raabe-Literaturpreis – das Ereignis und die Folgen, Göttingen: Wallstein 2007, S. 72-99. Harrach, Nike: »›Nur ein Vollidiot ist vollkommen ehrlich.‹ Autor Wolf Haas wandelt auf neuen Wegen«, in: heute.de Nachrichten, http://www. heute.de/ZDFheute/inhalt/1/0,3672,3985697,00.html (letzter Aufruf am 31.10.2009). Heubner, Holger: Das Eckermann-Syndrom. Zur Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte des Autoreninterviews, Berlin: Logos 2002. Hoffmann, Torsten: »Das Interview als Kunstwerk. Plädoyer für die Analyse von Schriftstellerinterviews am Beispiel W.G. Sebalds«, in: Weimarer Beiträge. Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Ästhetik und Kulturwissenschaften 55 (2009), Nr. 2, S. 276-292. Jaumann, Michael: »›Aber das ist ja genau das Thema der Geschichte!‹ Dialog und Metafiktion in Wolf Haas’ Das Wetter vor 15 Jahren«, in: J. Alexander Bareis/Frank Thomas Grub (Hg.), Metafiktion. Analysen zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Berlin: Kadmos 2010 (= Kaleidogramme 57), S. 203-225. Jessen, Jens: »Verdirbt der Literaturbetrieb die Literatur?«, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 51 (2007), S. 11-14. Jürgensen, Christoph/Kaiser, Gerhard: »Schriftstellerische Inszenierungspraktiken – Heuristische Typologie und Genese«, in: Christoph Jürgensen/Gerhard Kaiser (Hg.), Schriftstellerische Inszenierungspraktiken – Typologie und Geschichte, Heidelberg: Winter 2011 (= Beihefte zum Euphorion 62), S. 9-30. Klute, Hilmar/Filser, Hubert: »Das letzte Ding«, in: Süddeutsche Zeitung vom 27.02.2003. Kraft, Thomas: »Das Luder Literaturkritik. Anmerkungen zu einem Bedeutungswandel«, in: Thomas Kraft/Norbert Niemann (Hg.), Keine Lust auf Untergang. Gegen eine Trivialisierung der Gesellschaft, München: LangenMüller 2010, S. 136-147.

S ICH

SELBST AUSSTELLEN

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Luhmann, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt/Main: Suhrkamp 4 2002. Martens, Gunther: »›Aber wenn du von einem Berg springst, ist es wieder umgekehrt.‹ Zur Erzählerprofilierung in den Meta-Krimis von Wolf Haas«, in: Modern Austrian Literatur. Journal of the Modern Austrian Literature and Culture Association 39 (2006), Nr. 1, S. 65-80. Mangold, Ijoma: »Der Wettkönig«, in: Süddeutsche Zeitung vom 04.10.2006. Michel, Sascha: »Digressives Erzählen. Zur Rhetorik des Zeitvertreibs bei Jean Paul, Robert Walser und Wolf Haas«, in: Alexander Karschnia et al. (Hg.), Zum Zeitvertreib. Strategien – Institutionen – Lektüren – Bilder, Bielefeld: Aisthesis 2005, S. 187-197. Moritz, Rainer: »Was tun mit dem Entjungferungskomplex?«, in: Literaturen vom September 2006. Müller, Tessa: »Herr Haas, Herr Haas, die Beilage und der Betrieb«, in: lit07.de, http://www.lit06.de/head/kritik/rez_0702.html vom 02.11.2012. Muny, Eike: »Erzählen ohne Ewigkeit. Strategien der Aussparung bei Wolf Haas«, in: Jan Broch/Markus Rassiller (Hg.), Schrift-Zeiten. Poetologische Konstellationen von der Frühen Neuzeit bis zur Postmoderne, Köln: Universitäts- und Stadtbibliothek Köln 2006 (= Kleine Schriften der Universitäts- und Stadtbibliothek 19), S. 223-237. Neuhaus, Stefan: Literaturvermittlung, Konstanz: UVK 2009. Nindl, Sigrid: Wolf Haas und sein kriminalliterarisches Sprachexperiment, Berlin: Schmidt 2009 (= Philologische Studien und Quellen 219). Philipp, Claus: »›Wetten dass‹ und wahre Liebe«, in: Der Standard vom 02.09.2006. Porombka, Stephan: »Literaturbetriebskunde. Zur ›genetischen Kritik‹ kollektiver Kreativität«, in: Stephan Porombka et al. (Hg.), Kollektive Kreativität, Tübingen: Francke 2006 (= Jahrbuch für Kulturwissenschaft und ästhetische Praxis 1), S. 72-87. Raddatz, Fritz J.: »Wie tief wollen wir noch sinken?«, in: Die Welt vom 30.04.2010. Seiler, Sascha: »Interview«, in: Lamping, Dieter (Hg.), Handbuch der literarischen Gattungen. In Zusammenarbeit mit Sandra Poppe u.a., Stuttgart: Kröner 2009, S. 403-407. Schumacher, Eckhard: Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2003.

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Stanitzek, Georg: »Texte, Paratexte, in Medien: Einleitung«, in: Klaus Kreimeier/Georg Stanitzek (Hg.), Paratexte in Literatur, Film, Fernsehen. Unter Mitarbeit von Natalie Binczek, Berlin: Akademie 2004, S. 319. Wagner-Egelhaaf, Martina: »Autofiktion oder: Autobiographie nach der Autobiographie. Goethe – Barthes – Özdamar«, in: Ulrich Breuer/Beatrice Sandberg (Hg.), Autobiographisches Schreiben in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Bd. 1 Grenzen der Identität und der Fiktionalität, München: Iudicium 2006, S. 353-368. Wegmann, Thomas: »Metafiktionen oder Über das Erzählen erzählen«, in: Alf Mentzer/Ulrich Sonnenschein (Hg.), 22 Arten, eine Welt zu schaffen. Erzählen als Universalkompetenz, Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch 2008, S. 152-165. Winkels, Hubert: »Mit silbernem Sternchen«, in: Die Zeit vom 28.09.2006. Wirth, Uwe: »Paratext und Text als Übergangszone«, in: Wolfgang Hallet/ Birgit Neumann (Hg.), Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn, Bielefeld: transcript 2009, S. 167-177. Wittstock, Uwe: Die Büchersäufer. Streifzüge durch den Literaturbetrieb, Springe: zu Klampen 2007. www.krimi-couch.de/krimis/wolf-haas.html (letzter Aufruf am 02.11.2012). Zeyringer, Klaus: Österreichische Literatur seit 1945. Überblicke, Einschnitte, Wegmarken, Innsbruck u.a.: Studien 2008.

Autorinnen und Autoren

David-Christopher Assmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistik, Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Promotion zu Literaturbetriebs-Szenen in der deutschsprachigen Literatur um 2000. Forschung: Literaturvermittlung, Literaturtheorie, Literatursoziologie und deutschsprachige Literatur um 2000. Gertrude Cepl-Kaufmann ist Leiterin des Instituts Moderne im Rheinland an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf; Gründungsmitglied und im Kuratorium des Rheinischen Archivs für Künstlernachlässe; Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirates für das LVR-Verbundprojekt 1914 – Mitten in Europa. Das Rheinland am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Forschung: Literatur vom Naturalismus bis zur Gegenwart, Probleme der Literatursoziologie, vor allem der literarischen Gruppenbildung und Aspekte einer regionalhistorischen, interdisziplinären und komparatistischen Kulturwissenschaft. Jasmin Grande ist Literaturwissenschaftlerin und Ausstellungsmacherin, stellv. Leiterin des Instituts Moderne im Rheinland an der Heinrich-HeineUniversität Düsseldorf; freie Mitarbeiterin u.a. am Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin in Aachen. Forschung: Literatur und Kultur der Moderne im Rheinland vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, phantastische Literatur in der Literatur- und Wissenschaftsgeschichte; Promotion über Nussschalen der Wissenschaft. Aspekte des Phantastik-Diskurses.

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Heike Gfrereis ist Leiterin der Abteilung Museum im Deutschen Literaturarchiv Marbach, zuständig fu‫ޠ‬r das Schiller-Nationalmuseum und das Literaturmuseum der Moderne sowie deren Publikationen und Literaturvermittlungsangebote; Kuratorin u.a. der beiden Dauerausstellungen sowie zahlreicher Wechselausstellungen (u.a. zu Ordnung, Kassiber, Randzeichen, Zettelkästen, Robert Gernhardt, Goethes Wilhelm Meister, Franz Kafka, Ernst Jünger, W.G. Sebald und Friedrich Schiller); Honorarprofessorin der Universität Stuttgart. Publikationen zur Literatur um 1800 und 1900 sowie zur Literatur- und Ausstellungstheorie. Felicitas Hartmann ist Leiterin der städtischen Museen Calws (u.a. Hermann-Hesse-Zentrum Calw); Publikationen: Augenlust und Gaumenfreuden. Zum Wert- und Gebrauchswandel von Springerlesmodeln (2007); »Die Kunst aber wäre, Heimweh zu haben ob man gleich zu Hause ist. Souvenirs als erinnerungskulturelles Alltagsphänomen«, in: Ansichten – Einsichten. Tübinger Stadtansichten von 1850 bis heute (2010); 1912. Ein Jahr im Archiv. Katalog zur Ausstellung (mit Heike Gfrereis, Gunilla Eschenbach, Thomas Thiemeyer, Yvonne Schweizer und Sonja Lehmann, 2012); Forschung: Museumsforschung, Archiv- und Sammlungsforschung, Erinnerungs- und Sachkultur; Katerina Kroucheva ist wissenschaftliche Mitarbeiterin, Koordinatorin der Abteilung für komparatistische Studien des Seminars für Deutsche Philologie an der Georg-August-Universität Göttingen. Publikationen: »Goethereif!« Die bulgarischen Faust-Übersetzungen (2009); Comics. Zur Geschichte und Theorie eines populärkulturellen Mediums (Mithg., 2009). Forschung: Wertung und Kanon, Übersetzungsforschung, Wissenschaftsgeschichte, Kulturstereotype. Stefan Kutzenberger ist Kunstvermittler und Bibliothekar im Leopold Museum (Wien); Lektor an der Universität Wien; Mitglied des Arbeitskreises der Österreichischen Forschungsgemeinschaft Wissenschaft und Kunst. Forschung: Visualisierung von Literatur, Intermedialität in Wien um 1900, literarische Wechselbeziehungen zwischen der europäischen und der lateinamerikanischen Literatur. Publikationen: Europa in ›Grande Sertão: Veredas‹ – ›Grande Sertão: Veredas‹ in Europa (2004); Kapitel 4/Zeile 13. Li-

A UTORINNEN

UND

AUTOREN | 325

teratur ausstellen – darf man das? Katalog zur gleichnamigen Ausstellung in der ehemaligen »facultas-Druckerei« (Hg., 2012). Rainer Moritz ist Leiter des Hamburger Literaturhauses; Vorstandssprecher des Netzwerks der Literaturhäuser; Vizepräsident der Marcel Proust Gesellschaft; 2008 Sprecher der Jury des Deutschen Buchpreises; Literaturkritiker (u.a. für Neue Zürcher Zeitung, Literarische Welt, Deutschlandfunk, Deutschlandradio Kultur); Essayist und Autor zahlreicher Publikationen. Darunter zuletzt: Die schönsten Buchhandlungen Europas (mit Reto Guntli, 2010); Marcel Proust für Boshafte (Hg., 2012); Sophie fährt in die Berge (2012); Der fatale Glaube an das Glück. Richard Yates – sein Leben, sein Werk (2012). Niels Penke ist Lehrbeauftragter für Neuere Deutsche Literatur an der Georg-August-Universität Göttingen. Publikationen: Ernst Jünger und der Norden. Eine Inszenierungsgeschichte (2012), Der skandinavische Horrorfilm. Kultur- und ästhetikgeschichtliche Perspektiven (Hg., 2013), Archety-

pen, Artefakte. Komparatistische Beiträge zur kulturellen und literarischen Repräsentation von Tieren (Mithg., 2013). Forschung: Mythen- und Mittelalterrezeption, Horror und Phantastik, Metal Studies, Autorschaftskonzepte. Oliver Ruf ist Professor für Textgestaltung an der Fakultät Digitale Medien der Hochschule Furtwangen. Publikationen: Schreibleben (2012); Zur Ästhetik der Provokation. Kritik und Literatur nach Hugo Ball (2012). Wischen und Schreiben. Essays (2013). Forschung: Kultur- und Medienästhetik, medienkulturwissenschaftliche Schreibforschung, angewandte Literatur- und Textwissenschaft. Barbara Schaff ist Professorin für Englische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Georg-August-Universität Göttingen. Publikationen: »›In the Footsteps of ...‹: The Semiotics of Literary Tourism«, in: KulturPoetik 11/2 (2011); Exiles, Emigrés and Go-Betweens: Anglo-Italian Cultural Transformations (Hg., 2010); »John Murray’s Handbooks to Italy: Making Tourism Literary«, in: Nicola Watson (Hg.), Literary Tourism and NineteenthCentury Culture (2009). Forschung: Autorschaft, Reiseliteratur, Literaturtourismus, Kulturtransfer, Gender Studies, internationale Buchgeschichte.

326 | K AFKAS GABEL . Ü BERLEGUNGEN ZUM A USSTELLEN VON L ITERATUR

Urte Stobbe ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Vechta im Fachbereich Literatur- und Kulturwissenschaft. Promotion mit einer Studie zur historischen Wahrnehmung und kulturellen Umdeutung von Park Kassel-Wilhelmshöhe in der Reise- und Zeitschriftenliteratur des 18. Jahrhunderts (erschienen 2009 im Deutschen Kunstverlag). Forschung: Tourismusgeschichte, Ökologie und Literatur sowie adlige Autorschaft im 19. Jahrhundert. Ellen Strittmatter ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Museum des Deutschen Literaturarchivs Marbach. Kuratorin der Dauerausstellung im Schiller-Nationalmuseum sowie zahlreicher Wechselausstellungen (u.a. Zettelkästen, Kassiber, Schicksal, Randzeichen, Ernst Jünger, W.G. Sebald und Friedrich Schiller); Kuratorin der Marbacher Ausstellung In der Geisterfalle. Ein deutsches Pantheon (2006); Lehrbeauftragte der Universität Stuttgart. Promotion in mediävistischer Literaturwissenschaft. Publikationen zur Literatur des Mittelalters und zur Ausstellungstheorie. Nicola J. Watson ist Professorin für Englische Literatur an der Open University. Publikationen: Revolution and the Form of the British Novel 17901825 (1994); England’s Elizabeth: An Afterlife in Fame and Fantasy (2002); The Literary Tourist: Readers & Places in Romantic and Victorian Britain (2006). Forschung: Literaturtourismus, Reiseliteratur, Britische Literatur der Romantik, literarische Biographien. Hans Wißkirchen ist Direktor der Kulturstiftung Hansestadt Lübeck; geschäftsführender Direktor aller Lübecker Museen; Honorarprofessor für Neuere Deutsche Literatur an der Medizinischen Universität zu Lübeck; Vorstandssprecher der Arbeitsgemeinschaft Literarischer Gesellschaften und Gedenkstätten in Berlin; Präsident der Deutschen Thomas Mann-Gesellschaft und Vizepräsident der Heinrich Mann-Gesellschaft; Sprecher des Zentrums für Kulturwissenschaftliche Forschung Lübeck. Zahlreiche Publikationen zu Heinrich und Thomas Mann, zur Familie Mann, Günter Grass, dem deutschen Vormärz, zu Fragen der Literaturmuseen sowie zur Wechselbeziehung von Wissenschaft und Literatur in den Epochen der Klassik und Romantik.

Edition Museum Felix Ackermann, Anna Boroffka, Gregor H. Lersch (Hg.) Partizipative Erinnerungsräume Dialogische Wissensbildung in Museen und Ausstellungen August 2013, 378 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2361-1

Sophie Elpers, Anna Palm (Hg.) Die Musealisierung der Gegenwart Von Grenzen und Chancen des Sammelns in kulturhistorischen Museen Januar 2014, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2494-6

Monika Kaiser Neubesetzungen des Kunst-Raumes Feministische Kunstausstellungen und ihre Räume, 1972-1987 August 2013, 298 Seiten, kart., zahlr. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2408-3

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de