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German Pages 255 [256] Year 1966
STUDIEN ZUR D E U T S C H E N LITERATUR
Herausgegeben von Richard Brinkmann, Friedrich Sengle und Klaus Ziegler
Band $
KLAUS-PETER PHILIPPI
Reflexion und Wirklichkeit. Untersuchungen zu Kafkas Roman ,Das Schloß'
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1966
Gedruckt mit Unterstützung des Kultusministeriums Baden-Württemberg © Max Niemeyer Verlag Tübingen 1966 Satz und Druck Poppe & Neumann Graph. Betrieb Konstanz Einband von Heinr. Kodi Tübingen
INHALT
Einleitung
ι
Überlegungen zur Methode
3
Die Erkenntnisfunktion der Dichtung Die Form des Erzählens und ihre immanente Problematik
3 . . .
Das Präteritum als Erzähltempus und die Einheit des Erzählens Die Rolle des Erzählers im Roman ,Das Schloß' Die Erzählform und das Problem des reflektierenden Verhaltens Die totale Situation: K. in der Welt des Romans Ankunft und Aufnahme Exkurs: Sartres Begriff der Existenz und Κ Der Ansatz der Reflexion in der Rahmenordnung der konkreten Existenzbedingungen K.s Strebenscharakter Ein neuer ,Faust'? Paradigma der Möglidikeitsexistenz: ,Auf der G a l e r i e ' . . . . K.s Fremdheit Unwissenheit Vorstellungen und Pläne Die Entstehung des Fremdseins. Das Beispiel der Barnabasschen Familie Amalia Exkurs: Fichtes Idi, das sich selbst setzt, und Amalia . . . Olga Barnabas
13 16 20 28 33 33 41 44 48 48 52 58 J9 60
62 63 68 71 72 V
Die Bewußtseinslage der Familie und das Problem der Schuld .
.
Die Situation Das Problem der Sdiuld K.S Schuld
74 79 8j
Exkurs: Zum Begriff der Schuld bei Jaspers
88
K.s Verhältnis zu Amalia und die beiden Seiten der Entfremdung K . und Amalia: Selbst- und Weltentfremdung Selbstentfremdung. Das Paradigma: ,Der große Schwimmer'.
74
92 93
.
Exkurs: Selbstentfremdung im Blick auf Marx Ding- oder Weltentfremdung Das Paradigma: ,Die Sorge des Hausvaters'
95 100 103 103
Dingentfremdung als notwendiges Korrelat der Selbstentfremdung 107 Freiheit als mögliche Umwertung der Fremdheit
112
K.s Freiheitsverständnis 112 Das Paradigma reflektierter Freiheit: ,Ein Bericht für eine Akademie' 116 Die Beziehung des Reflektierenden auf sich selbst Ansätze der Verwandlung des Affen Die Durchbrechung der ichbezogenen Reflexion durch die Umweltsituation Situationen der Wandlung Die fragwürdige Existenz des Künstlers und das Kunstwerk Die Komik des Affen als Künstler Exkurs: Zur Wertung der Freiheit und ihren Voraussetzungen. Kierkegaard und Sartre Ansätze zur Aufhebung der Entfremdung
124 127 132 133 138 143 147 1 $2
Die Verformung der Wirklichkeit durch das Erlebnis der Zeit und K.s Junggesellentum 152 Die Frauen 159
VI
Frieda, von K . aus gesehen Frieda, von sich aus gesehen Die Wirtin Gardena Die Herrenhofwirtin Pepi
159 163 167 170 171
Exkurs: ,Gemeinschaft'
175
Die Erfahrung der Schloß-Welt
178
Der Bereich der Ämter
178
Durch Gegenstände vermittelte Beziehungen. Telefon, Protokoll, Akten 178 Die Behandlung eines amtlichen Vorgangs 182 Die Kanzleien im Sdiloß 185 Die Vertauschung von Herren und Dienern 187 Die Vermittlung der Erfahrung 188 Vermittelnde Zugangsmöglichkeiten
189
Klamm: Das unerreichbare Mittel Hans: Die Emanzipation des Mittels Bürgel: Das .Versagen' K.s
189 192 195
Die Bedeutung des Schlosses
200
K.s erinnerte Vergangenheit
200
Vorherbestimmung Rückkehr in die Vergangenheit? Das Paradigma: ,Heimkehr'
200 205 20j
Der Zeichencharakter des Sdilosses als Chiffre einer leeren Metaphysik 207 Exkurs: Kafkas chiffrierte negative Gotteserfahrung (,Geschidite von den Kurieren') 220 K.s Grenzen: Zusammenfassung und Ansätze einer Kritik
.
.
K.s Denkform Der innere Mangel von K.s Denken
. 223 223 227
Die Begrenzung des Handelns 227 Das Gespräch als gescheiterte Vermittlung 227 Das Problem der Gemeinschaft. Paradigma: Die Auflösung der alten Gemeinschaft (,Er') 231 K.s Leben im Dorf 232 Die verfehlte Möglichkeit: ,Die zwei Frauen' .
.
.
.
.
. 234
Die Wirklichkeit im Roman und der Roman als Fragment
.
.237
VII
Einleitung
D i e Literatur über K a f k a ist heute kaum mehr übersehbar. Eine Arbeit, die z u m Verständnis seines Werkes nodi beitragen will, hat sich zu legitimieren. Das kann letztlich nur durdi die Überzeugungskraft ihrer Ergebnisse geschehen. Die Methode, mit deren H i l f e sie zu gewinnen sind, in etwa vorauszubestimmen, sollte das erste dieser Ergebnisse sein, z u denen die Arbeit kommen will. Denn worum es n i â t gehen kann, läßt sich sagen, hat man nur einen Teil der K a f k a - L i t e r a t u r durchgesehen. Weder pure Identifikation von Texten mit außerhalb seiner Werke bereits hinreichend fixierten .Weltanschauungen* im weitesten Sinne ist sinnvoll noch ein Sichbescheiden mit dem achtbaren Bemühen, das System der Kafkaschen Erzähltechnik an seinen Werken zu entwickeln. Beides bringt unserer Meinung nach keine f ü r den Interpreten wirklich relevante Erkenntnis - weil nichts erkannt wird, was nidit schon bekannt wäre, oder weil nicht verständlich gemacht werden kann, welche innere Beziehung die Literatur zur geistigen Welt des Interpreten hat. Einen solchen verborgenen Erkenntnisgehalt des Kunstwerkes sollte der Interpret formulieren. 1 A u f g a b e des Umgangs mit Kunst w ä r e es, zumindest den Erkenntnisbereich des Interpreten so z u erweitern, daß dieser nicht hinter seinem Gegenstand zurückbleibt. „Eine Technik, die sich der geistigen Beherrschung, eine Kunst, die sich dem geistigen Gebrauch entziehen, verweisen zumeist nur allzu deutlich auf die Mißstände eines Intellekts, dessen Sprache hinter jenen zurückgeblieben ist." 2 Wenn die Literatur über die Texte diese als den eigentlichen Gegenstand der Literaturwissenschaft zuzudecken droht, ist es umso notwendiger,
Wir stellen uns damit innerhalb der Literaturwissenschaft auf einen Standpunkt, den Horkheimer/Adorno in seiner allgemeinen gesellschaftlichen Bedeutung formulierten: „Solange Kunst darauf verzichtet, als Erkenntnis zu gelten, und sich dadurch von der Praxis abschließt, wird sie von der gesellschaftlichen Praxis toleriert wie die Lust" (Odysseus oder Mythos und Aufklärung. - Sinn und Form 1,1949. H. 4, S. 143). Beschäftigung mit Kunst wäre beliebig, der Gegenstand austauschbar. 2 Max Bense, Ästhetische Information, aesthetica II. 1956. S. 10. 1
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durch strikte Besinnung auf die Dichtung aus dieser ein K o o r d i n a t e n system fester begrifflicher Bezugspunkte z u erschließen, das durch seine im einzelnen a m T e x t belegte Struktur als in sich stimmiges G a n z e s eher z u m Verständnis des Dichters beizutragen v e r m a g als eine die innere O r d n u n g des einzelnen Textes aufhebende Interpretation, deren K a t e gorien mehr der wissenschaftlichen T r a d i t i o n entnommen als an dem W e r k g e p r ü f t sind, das doch erst unvoreingenommen z u r Sprache gebracht w e r d e n soll. 8 Es bleibt die A u f g a b e , die Methode aus der Sache selbst z u entwickeln, w o b e i die ,Sache' zugleich das W e r k und die Beziehung des Interpreten z u ihm ist. Eine Interpretation k a n n v o n dieser Sache her immer wieder überholt werden, w e i l die kritische Reflexion auf die Voraussetzungen des Verständnisses als methodisches Bewußtsein in die Bestimmung der Sache selbst eingegangen ist. D i e Interpretation h a t damit teil an einem dynamischen und zugleich historischen P r o z e ß der Aneignung, der sie als begrenzte Fixierung a m E n d e hinter sich zurückgelassen hat.
' Von solchem prinzipiellen Mangel ist audi das aufsdilußreidie Buch von Wilhelm Emrich, ,Franz K a f k a ' (Zitate mit bloßer Seitenzahl nach der 3. Aufläge 1964), nicht frei. Bezeichnend genug ist Emrichs Ausgangspunkt von den Normen der klassischen Ästhetik, die er in einem „wahren Allgemeinen" (13) auf eine Formel bringt. Im 2 0 . Jahrhundert habe es sidi „in das Innere unverstehbarer Kunstwerke" ( 1 2 ) zurückgezogen, und „nur in Form einer absoluten Verrätselung gegen das Allgemeine dieses Jahrhunderts" ( 1 2 ) sei es heute nodi erfahrbar, in dieser Form Kunst allein nodi ermöglichend, denn - dieses Glaubensbekenntnis Emrichs bestimmt seinen Gesichtspunkt - „unter der Voraussetzung, daß es das wahre Allgemeine nidit gibt" ( 1 2 ) , „wäre das Ende aller Kunst erreicht" ( 1 2 ) . Anstatt unvoreingenommen die Texte auszulegen oder seine Kategorien an ihnen zu entwickeln, befragt Emrich sie mit einem methodisch unbegründeten Vorverständnis in Hinsicht auf das, was er in ihnen finden möchte: „Wäre in ihm [dem Werk Kafkas] ein wahrhaft Allgemeines mitenthalten?" (13). So gerät das ganze Werk in eine schiefe Perspektive. K a f k a wird indirekt zum Zeugen gegen seine Zeit für das „wahre Allgemeine", nachdem seine Zeit über den Zusammenhang von Kunst und Schönheit rücksichtslos hinwegschritt und das „Allgemeine in universeller Bedeutung" ( 1 5 ) , wie Emrich es in der Klassik verkörpert sah, nicht mehr repräsentiert. Treffende Beobachtungen werden einem das Ganze verfälschenden Prinzip untergeordnet und verlieren damit ihre Aussagekraft. Dabei beklagte Emrich selbst einmal, daß die Literaturwissenschaft dazu neige, „die moderne Dichtung mit Maßstäben zu beurteilen, die noch weitgehend aus der klassischen Ästhetik stammen" (Die Struktur der modernen Dichtung. - Wirkendes Wort 3 , 1 9 J 2 / 5 3 . S.213). 2
Überlegungen zur Methode Die Erkenntnisfunktion der Dichtung Die grundsätzlichen Vorbemerkungen zu den Voraussetzungen dieser Arbeit und zu ihrer Methode sollen zeigen, welcher Weg zur Dichtung hier eingeschlagen wurde, ohne andere mögliche damit abzuwehren oder auszuschließen. Bevor der Interpret sich seinem literarischen Gegenstand zuwendet, muß er sich über die Art und Weise seines reflektierenden Verhaltens gegenüber den Text klarwerden, umso mehr, als bei unserem Thema einmal die inneren Denkvorgänge der Hauptgestalt nachvollzogen und begriffen werden müssen - wie sich aus unserem Verständnis der Erzählhaltung ergeben wird - , zum anderen, als die ganz subjektgebundene Erzählhaltung das Problem der Reflexion selbst in einem bestimmten Zusammenhang thematisiert. Es geht nicht um den einfachen hermeneutischen Zirkel allein, daß man, um nadi Einsichten sinnvoll fragen zu können und um zu sinnvollen Antworten zu gelangen, immer schon in gewisser Weise kennen muß, wonadi man fragt. Der Interpret muß sich weiter im klaren darüber sein, daß er immer auf einer höheren Reflexionsstufe steht als das, was er zu begreifen sucht. ,Verstehen' heißt dabei soviel wie: Vermittlung durch den Begriff. Zwischen Interpreten und Text besteht ein dialektisches Verhältnis: Im Erkenntnisvorgang sind beide aufeinander bezogen, und indem der Interpret dabei auf seine Methode reflektiert, vermittelt er den Text seiner geistigen Welt. Wenn man also nach den Bedingungen dieser Erkenntnis fragt und nach ihren Möglichkeiten, muß man sowohl vom erkennenden Subjekt wie vom Gegenstand den Weg der Interpretation als die Vermittlung beider herzuleiten versuchen. Dabei wird „die Sprache der Tatsachen weder überhört, nodi in ihrer Verdinglichung mißverstanden, sondern als subjektiv bedingte und in ihrer Erkenntnis subjektiv vermittelte vernommen, also allererst in ihrer wahren Objektivität." 1 1
Peter Szondi. Zur Erkenntnisproblematik in der Literaturwissenschaft. In: Wissenschaft und Verantwortung. Universitätstage 1962. Veröffentlichungen der Freien Universität Berlin. 1962. S. 86. 3
Der T e x t bleibt ein toter Gegenstand, wenn er uns nicht durch unser Verständnis gegeben ist. Das Verstehen als Vermittlung durch den Begriff legitimiert sich in jedem Schritt am T e x t , indem es seine Begriffsbildung aus den Phänomenen des Textes herleitet, geht jedoch notwendig über ihn hinaus. Was schon einmal gesagt worden ist, soll nicht mit schlechteren Worten wiederholt werden; das formulierte Ergebnis zeigt aber jeweils erst das Verständnis an. Dessen Formulierung in Begriffen und ihre Verbindung zu einem systematischen G a n z e n liegt auf einer Ebene v o n Reflexion über den T e x t , ohne daß dieser seinen poetischen Wert durch möglichst präzise Feststellungen über ihn einbüßen könnte. Dieses Verstehen ist zugleich Textkritik in dem Sinne, daß man versucht, die aus den Phänomenen abgeleiteten Begriffe im Rahmen des Textes z u Ende zu denken. In diesem Prozeß, als der die Interpretation erst sinnvoll wird, kann man nicht an die Grenzen einer Wissenschaftsdisziplin gebunden bleiben
-
oder an das, was augenblicklich als solche Grenze gelten mag. D a s ist von größter methodischer Bedeutung, da sich die Grenzüberschreitung v o n den Bedingungen der Interpretation herleitet. „ D i e moderne Dichtung ist niemals nur Poesie, sondern immer zugleich Wissenschaft und Philosophie." 2 So radikal diese Formulierung anmuten mag - in ihr ist etwas wiederentdeckt und auch ins Bewußtsein der K r i tik gedrungen, was lange Zeit im Selbstverständnis der Dichtung mitenthalten war. Ernst Robert Curtius weist darauf hin, daß „im Mittelalter die Poesie um so eher mit sapientia
und philosophia
gleichgesetzt
Walter Jens. Statt einer Literaturgeschichte. 3. Auflage 1958. S. 14. Beispiele könnte man seit der Romantik, ja seit Plato beibringen, sei es dafür, daß sich Dichtung inhaltlich zur Philosophie ausweitet, sei es, daß sie nidit ohne Einfluß und Begleitung von Dichtungstheorie ersdieint, die selbst Teil philosophisch begründeter Besinnung über ,Sprache und Dichtung' ist. Mit Bewußtsein wird das Problem der Trennung von Kunst und Wissenschaft, von Dichtung und Philosophie von Novalis und Friedrich Schlegel zu lösen versucht. Schlegel meint fordernd: „So wie es das Ziel der Wissenschaft ist, Kunst zu werden; so muß audi Kunst endlich Wissenschaft werden" (Literary Notebooks. Ed. with introduction and commentary by Hans Eichner. 1957. Nr. 92, S. 27). Poesie und Philosophie potenzieren sich gegenseitig (Literary Notebooks. Nr. 1018, S. 110). Für den, der durdi ihre Vereinigung die Welt und ihre transzendentalen Geheimnisse aufzusdiließen bestrebt ist, werden „der philosophische Poet" (Novalis. Werke, Briefe, Dokumente. Hg. von Ewald Wasmuth. Bd. II. 19J7. Fragmente I. Nr. 129, S. 41) und der „poetische Philosoph" (Novalis II. Nr. 130, S.41) austauschbar, sind letztlich „Denken und Dichten also einerlei" (Novalis II. Nr. 1339, S.360). 8
4
werden [konnte], als beide Wörter einfach .Gelehrsamkeit' bedeuteten." 3 Ähnlich enthielt die weite Bedeutung des Wortes .Philosophie' in der Spätantike viel von unserem Begriff .Dichtung'. Im Hinblick auf ihr Verhältnis zum Denken im allgemeinen und zur Philosophie im besonderen gilt dabei für den Roman besonders, was die Dichtung im Ganzen betrifft. 4 Der Roman versucht - im Prinzip nidit anders als die Philosophie Welt zu ordnen, eine Welt aber, die er selbst erst schafft und durch A r t und Weise ihrer Gestaltung begründet und gliedert. 5 Das Verständnis des Lesers besteht darin, die Prinzipien und Formen der Weltgestaltung im Roman aufzufinden. Damit vollzieht er im Bereich des Romans wie für sich selbst einen philosophischen A k t , in dem er sich als denkendes Subjekt bewußt mit einsetzen muß. Er selbst gehört mit zu den Erkenntnisbedingungen. 8 Als Entwurf einer ganzheitlichen Vorstellung, wenn audi deren Ganzheit nur intendiert sein mag, ist der Roman Fiktion. „Alle große Epik der N e u z e i t . . . ist mit Notwendigkeit völlige Fiktion", wie Erich Kahler in einem Uberblick über die Entwicklung der modernen Epik festgestellt hat, 7 weil sie sich nidit mehr auf eine verbindliche Weltvorstellung beziehen und sich als abgeschlossene Form von ihr her geistig legitimieren Ernst R o b e r t Curtius, Poesie u n d Philosophie. § 2: Dichtung und Philosophie. In: Europäische Literatur u n d lateinisches Mittelalter. 5.Auflage 196$. S.214.
3
Bezeichnend ist, d a ß die zitierten Belege sidi seit der R o m a n t i k mit V o r l i e b e auf deren b e v o r z u g t e n Gattungsbegriff - den R o m a n - konzentrieren. 5 V g l . d a z u Wellek/Warren, Theorie der Literatur. 19J9. S. 241: „ D e r R o m a n schriftsteller g i b t . . . weniger einen F a l l . . . als eine W e l t . " D a s w i r d sidi f ü r K a f k a a u d i daran erweisen, d a ß es weniger u m f o r t l a u f e n d e Ereignisse u n d deren Schilderung geht als u m einen v o n einem K e r n p r o b l e m bestimmten systematischen Zusammenhang. 4
• Schon G o e t h e hat das gesehen und in seiner unmittelbaren menschlichen R e l e v a n z formuliert, w o b e i er w e i t über das Formale reiner Erkenntnisbedingung im Sinne K a n t s hinausging: „ D i e Erscheinung ist v o m Beobachter nicht losgelöst, vielmehr in die I n d i v i d u a l i t ä t desselben verschlungen und v e r w i c k e l t " ( M a x i m e n und Reflexionen. H a m b u r g e r A u s g a b e X I I . 3. A u f l . 1958. N r . J12, S.435). D a s entspricht im methodischen P r i n z i p einer Erkenntnis der modernen N a t u r w i s s e n schaft. Heisenberg weist d a f ü r auf die A t o m p h y s i k h i n : „ W e n n w i r uns ein Bild v o n der A r t der Elementarteilchen machen w o l l e n , können w i r . . . nicht mehr v o n den physikalischen Prozessen absehen, durch die w i r v o n ihnen K u n d e erlangen. . . . m a n k a n n gar nicht mehr v o m V e r h a l t e n des Teilchens losgelöst v o m Beobachtungsvorgang sprechen" (Das N a t u r b i l d der heutigen P h y s i k . 8. A u f l a g e 1960. (rowohlts deutsche e n z y k l o p ä d i e 8) S. 12. Erich K a h l e r . D i e V e r i n n e r u n g des Erzählens. - D i e N e u e Rundschau 68, I 9 J 7 . S. 541.
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5
kann, indem sie ihre eigene Ganzheit symbolisch aus ihr ableitet. Die fiktive Welt des Romans aber ist in keiner anderen Weise .fiktiv', erfunden, als es die im philosophischen Entwurf erfaßte Welt ist. Als ein geordnetes, abgeschlossenes Ganzes, als erfaßter Verstehenszusammenhang existiert eine jede Welt nur in der Philosophie - oder in der Didhtung, beidemal auf ein verstehendes Subjekt angewiesen. Das gilt in besonderer Weise für die Prosa, die als Sprachform zugleich das Medium des philosophischen Denkens ist. Hegel spricht davon, daß „die Vorstellung, in deren Elemente die Poesie sidi vornehmlich bewegt, geistiger Natur ist, und ihr deshalb die Allgemeinheit des Denkens zu Gute k o m m t . . .**8 Die Prosa befindet sich dabei „in einer Art mittlerer Stellung zwischen Anschauung und Erkenntnis, Subjektivität und Objektivität, Beobachtung und Deutung . . ."· Ihr steht die „Allgemeinheit des Denkens", von der Hegel sprach, umso eher zu Gebote, als man bei ihr noch weniger als bei der Lyrik Sprachform und Sprach(=Denk-)inhalt oder Bedeutung voneinander trennen kann. 10 Der entscheidende Untersdiied, der bei der Methode der Interpretation bedacht sein will, liegt darin, daß in der Dichtung die Sprachform einen eigenen Wert zuerkannt erhält und sie den Geist des Textes im Idealfall wesentlich mitbestimmt. Eine Deutung des Textes muß in der Offenheit der Möglichkeiten verharren, die sich aus dem Versuch ergeben, die Form der Dichtung selbst als Bedingung und Teil ihres Gehalts zu begreifen. Der Gehalt bestimmt nicht ohne weiteres die Form, die Form aber modifiziert jede Aussage. 11 Auch wenn man unterstellt, daß ein Kunstwerk
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Ästhetik III. Jubiläumsausgabe Bd. 14. Hg. von Hermann Glockner. 3. Auflage 1954. S.22}. • Fritz Martini, Wandlungen und Formen des gegenwärtigen Romans. Deutschunterricht 3, 1951. H. 3, S. j . Was bei Hegel für die Poesie als den Gipfel der Künste allgemein gilt (Er verstand „die Poesie als diejenige besondere Kunst, an welcher zugleich die Kunst selbst sich aufzulösen beginnt, und für das philosophische Erkennen ihren Uebergangspunkt zur religiösen Vorstellung als solcher, sowie zur Prosa des wissenschaftlichen Denkens erhält"; Ästhetik III. S. 232), bezieht Martini, ohne den metaphysischen Hintergrund zu übernehmen, allein auf den Roman. Seine Formulierung bietet wenigstens den Ansatz zu einem Versuch, das Element des Denkens in der Sprachform der Prosa herauszustellen, ohne darum ein philosophisches System aufzubauen. 10 Bei einem Phänomen wie ζ. B. Nietzsche sind nicht einmal die Texte immer mit Sicherheit als ,poetische* oder ,philosophisdie* zu klassifizieren. 11 In einem philosophischen Text hätte demgegenüber nur eine Akzentverschiebung stattgefunden, derart, daß die Form der Aussage zumeist dem Gehalt eindeutig untergeordnet ist. 8
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.einmalig' sei, heißt das nidit, es sei eben darum auch eindeutig. 12 Daß es dies nicht ist und häufig nicht sein will, verschleiert die „Allgemeinheit des Denkens" wieder, läßt sie jedenfalls nidit auf einer von eindeutigen Begriffen bestimmten Ebene im poetischen Text erscheinen. Die Methoden und Formen jedodi, unter denen Dichtung und Philosophie ihre Welt gestalten, sind besdireibbar. Aus ihnen geht der Sinn des Gemeinten hervor. Damit haben beide eine ontologisdie Funktion: das durch sie gestaltete Sein gleichzeitig aufzuschlüsseln und auszulegen. 13 Der Eigenwert der Sprache erlebt, das haben die Romantiker überzeugend gezeigt, nicht nur in der besonderen Form der Dichtung seine volle Ausprägung, vielmehr bestimmt audi der allgemeine Charakter
der
Sprache 14 wesentliche Möglichkeiten der Dichtung. Sie ist nicht nur ein Medium, in dem außerhalb der Sprache Vorhandenes abgebildet wird. Die Sprache wirkt selbst schöpferisch. In ihr begegnen sich aktiv Bilden und Erkennen. Die Ambivalenz der Sprache von verstehbarer Bedeutung und freier eigengesetzlicher Formung erscheint als inneres Gesetz. Sie selbst verbindet diese Pole miteinander, schlägt zwischen Sinnlosigkeit und Bedeutsamkeit eine Brücke. Darum kann die Welt, die wir in der 11 Vgl. Hermann Brodi, Die Schuldlosen. 19J4. S. 69. Die Kunsttheorie ist ins Kunstwerk eingedrungen. " Damit kommen wir zu einem ähnlichen Ergebnis wie Max Bense bei seinem Versuch, „Literaturmetaphysik" als Einheit von literarischer und philosophischer Textanalyse von der Identität der „SeinsVerhältnisse" als Gegenstand der Texte zu entwickeln: „So spielt der Roman in der Literatur die gleiche Rolle wie das System in der Philosophie: sie sind in ihren entwickelten Formen Ergebnisse epischer Montage, sofern Seinsweisen, Modalitäten in ihnen montiert werden" (Literaturmetaphysik. 1950. S . 9 1 ; vgl. dazu audi S.66: „ . . . e s kommt nur darauf an, zu sagen, daß, wenn unter Ontologie eine Lehre von Seinsverhältnissen zu verstehen ist, identische Seinsverhältnisse ebenso eine epische Darstellung wie eine philosophische Analysis finden können und auf diese Weise Literaturmetaphysik ein ebenso philosophischer wie literarischer Akt sein könnte. Die Elemente der Metaphysik lassen sich in ihr nicht mehr durchgängig von den Elementen der Literatur trennen.").
Das mag umso mehr für Texte gelten, die selbst metaphysischem Denken nidit fernstehen. 14 Bereits Jean Paul hat gesehen, daß die Sprache Selbstbildung und Welterkenntnis zugleich geschehen läßt, indem sie die Bindung an das bloß Kreatürliche des Naturwesens aufhebt: „Erst später, wenn in den fünf Akten der fünf Sinne die Erkennung der Welt geschehen ist und allmählich ein Wort um das andere den Geist freispricht, hebt die größere Freiheit des Selbstspiels an. Es regt sich die Phantasie, deren Flügelknochen erst die Sprache befiedert. Nur mit Worten erobert das Kind gegen die Außenwelt eine innere Welt, auf der es die äußere in Bewegung setzen k a n n . . ( L e v a n a oder Erziehlehre. Werke V. Hg. von Norbert Miller. 1963. § 50, S.604).
7
Spradie begreifen, unklar und vernünftig zugleich scheinen. Als Sprache verlangt sie, durdi Spradie erläutert zu werden. In der deutschen Literatur hat als erster wohl Novalis aus der Einsicht in das „Eigentümliche der Sprache, daß sie sich bloß um sich selbst bekümmert", 18 den Gedanken entwickelt, daß der latente, verborgene Weltgehalt der Sprache durch ihre Eigenbewegung ans Licht kommen kann, daß sie ihre Aussagefähigkeit gerade im anscheinend sinnlosen eigengesetzlichen Spiel gewinnt. „Wenn man den Leuten nur begreiflich madien könnte, daß es mit der Spradie wie mit den mathematischen Formeln sei - Sie machen eine Welt für sich aus - sie spielen nur mit sich selbst, drücken nichts als ihre wunderbare Natur aus, u n d . . . eben darum spiegelt sich in ihnen das seltsame Verhältnisspiel der Dinge. Nur durch ihre Freiheit sind sie Glieder der Natur, und nur in ihren freien Bewegungen äußert sich die Weltseele und madit sie zu einem zarten Maßstab und Grundriß der Dinge." 16 Daß die Spradie die Welt nach ihren eigenen Gesetzen wie im Spiel ordnet, setzt sie mit der Mathematik gleich. Sie wird das Gefüge, die Form - Novalis spricht von „Maßstab" und „Grundriß" - in der die Welt als sinnvolle Ganzheit - „Weltseele" und „Natur" heißt es bei Novalis - aufgefangen und ausgedrückt wird. 17 Die Besinnung der Romantiker über die Möglichkeiten der Sprache und der Dichtung wurde wegweisend.18 Novalis, Monolog. Werke III. S. 203. Novalis, Monolog. Werke III. S.203. 17 Ordnung des Kunstwerks und Ganzheit der Welt sind aber, auch wenn die eine die andere auszudrücken versucht, grundsätzlich verschieden, wie Herman Meyer treffend gezeigt hat: „Die spezifisch ästhetische Ordnung wird dadurch ermöglicht, daß das Kunstwerk, in unserem Falle das Erzählwerk, eine endliche Ganzheit ist, während hingegen in der außerkünstlerischen Wirklichkeit das Endliche teilhaft und die Ganzheit unendlich ist" (Von der Freiheit des Erzählers. In: Zarte Empirie. Studien zur Literaturgesdiidite. 1963. S.6). Sofern sich demnach das Kunstwerk auf eine Ganzheit der Welt außerhalb seiner beziehen will, muß es sie entweder voraussetzen oder selbst als Problem aus sich heraus entwickeln. Einheit des Werks und Ganzheit der Welt stehen jedenfalls in keiner fraglosen Beziehung zueinander. 18 A. W. Schlegel hat das für den uns interessierenden Zusammenhang von Dichtung und Erkenntnis in der Spradie besonders deutlich formuliert: „Das Medium der Poesie aber ist eben dasselbe, wodurch der menschliche Geist überhaupt zur Besinnung gelangt, und seine Vorstellungen zu willkürlicher Verknüpfung und Äußerung in die Gewalt bekömmt: die Sprache. Daher ist sie auch nicht an Gegenstände gebunden, sondern sie schafft sich die ihrigen selbst; sie ist die umfassendste aller Künste, und gleichsam der in ihnen überall gegenwärtige Universal-Geist. . . . Jeder äußern materiellen Darstellung geht eine innre in dem Geiste des Künstlers voran, bey welcher die Sprache 15
16
8
Der Wirklichkeitsbegriff solcher Dichtung braucht sich nicht an irgendwelche Vorstellungen von A d a p t i o n oder Widerspiegelung einer vorgegebenen
unabhängigen
Wirklichkeit
anzulehnen.
Wenn
sidi
diese
Wirklichkeit allein in der sprachlichen Besinnung vollzieht, ist sie in der poetischen Form, durch die Spradie gebildet; oder, wie Schelling formulierte: „ W a s poetisch möglich ist, ist eben deswegen schlechthin w i r k lich . . . « « Diese Diditung geht nie auf in dem, was man an ihr verstehen und v o n diesem Verständnis aussprechen kann. A b e r in ihr als sprachlicher Form w i r d W e l t erkannt und dargestellt, und insofern bleibt sie audi dort dem Erkennen zugänglich, w o sie sich ihm nicht von selbst öffnet oder gar bewußt verschließt. 20 Die W e l t in der Dichtung hat so nur „in der Weise intentionalen S e i n s . . . Wirklichkeit", 2 1 aber durch den Interpreten, der durch die Sprache die Dichtung als Wirklichkeit auslegt, um Erkenntnis zu gewinnen, wird sie auf den Menschen und dessen konkrete
immer als Vermittlerin des Bewußtseins eintritt, und folglidi kann man sagen, daß jene jederzeit aus dem Sdiooße der Poesie hervorgeht. Die Spradie ist kein Produkt der Natur, sondern ein Abdruck des menschlichen G e i s t e s . . ( V o r lesungen über schöne Literatur und Kunst. I.Teil: Die Kunstlehre. Hg. von Josef Minor. 1884. (Deutsche Literaturdenkmale 17) S.261). " Friedrich Wilhelm von Sdielling. Philosophie der Kunst. Zitiert nadi: Die Kunstansdiauung der Frühromantik. Hg. von Andreas Müller. 1931. (Deutsche Literatur in Entwicklungsreihen. Reihe Romantik, Bd. 3) S. 256. Den metaphysischen Gehalt dieser Formulierung - die Bestimmung dessen, was möglich sei, als „Darstellung des Absoluten oder des Universums in einem Besonderen" - muß man hier ausklammern. Daß sie sich verschließt, darin will sie immer noch begriffen werden. Gottfried Benn, der in einem öffentlichen Vortrag über .Probleme der Lyrik' diese als eine „anachor e tische Kunst" (Werke I. Essays, Reden, Vorträge. Hg. von Dieter Wellershoff. 1959. S. 502) bezeichnete, bietet dafür ein anschauliches Beispiel. 21 Es lohnt sich, unser Zitat im Zusammenhang anzuführen, weil es zeigt, daß die Gedanken der Kunsttheorie audi in der Literaturwissenschaft fruchtbar werden können und man nadi der Analyse der einzelnen Texte wieder auf sie zurückkommen muß, will man für weitere Zusammenhänge gültige Bestimmungen treffen: „Die Dichtung hat ihre eigene Glaubwürdigkeit und autonome ,Objektivität'. Diese Glaubwürdigkeit und .Objektivität' beruht auf der Einheit, der inneren Geschlossenheit, der ,Stimmigkeit' ihrer Struktur. Die Diditung bedarf nicht der Legitimation durch die empirische Wirklichkeit, sondern ihre Glaubwürdigkeit legitimiert die Wirklichkeit, die sie gibt und die sie selbst ist. Das ist kein ästhetizistischer Relativismus; denn was wir dürftig und unzulänglich .Struktur' der Dichtung nennen, das ist ja nicht nur ein wohlgeordnetes, genußreidies Spiel von Formen, sondern immer audi eine geistige Realität, die zur Auseinandersetzung herausfordert. Diese .Struktur' meint etwas, stellt in der 20
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,Wirklichkeit' bezogen. D i e Dichtung kann dabei - als Bild einer W e l t den Blick auf die W e l t selbst schärfen helfen. D e r Interpret ist nicht mehr außerhalb der Dichtung, sondern jeweils mit ihr mitgegeben. 82 Diese als sprachliche Formung v o n Welt ist auf ihn angelegt, das heißt: darauf, erkannt zu werden. Die A r t dieses Erkennens ist bestimmt durch die A r t und Weise der V e r k n ü p f u n g v o n Subjekt und Objekt, v o n Denkendem und Bedachtem - durch die Hineinnahme des erkennenden Subjekts in die Reflexion auf den Erkenntnisvorgang, mehr noch: in den Gegenstand der Erkenntnis. 23 D a ß sich die moderne Dichtung als Form häufig nicht abschließen w i l l und Fragment bleibt, hängt mit dem künstlerischen Selbstverständnis der Schriftsteller zusammen, die selbst die Bewußtseinsstufe des Interpreten erreicht und eingenommen haben und die die Interpretation als zu integrierenden Teil des Werkes herausfordern, weil ihnen selbst die Erfahrung der W e l t - als unendliches Kontinuum v o n Erfahrungen, als nie beendete Formung durch das Verstehen - erst aus dem Kunstwerk zuteil wird. M a x Frisch nennt das „Scheu v o r einer förmlichen Ganzheit, die der geistigen vorauseilt und nur Entlehnung sein kann." 2 4 Weise intentionalen Seins eine Wirklichkeit vor, die elementar den Menschen b e t r i f f t . . . " (Richard Brinkmann, Wirklichkeit und Illusion. Studien über Gehalt und Grenzen des Begriffs Realismus für die erzählende Dichtung des 19. Jahrhunderts. 1957. S. 321). Der Interpret hätte demnach den Vermittlungsprozeß freizulegen, der die ,Struktur' der Dichtung für ihn bedeutsam machen kann. M Diese Ansicht wird in der modernen Kunsttheorie besonders von Paul Valéry vertreten. Für ihn gilt bei allen Künsten: sie „leben von Worten. Jedes Kunstwerk verlangt, daß man ihm antworte; und zu dem, was den Menschen treibt, Werke zu schaffen, gehört ebenso wie zu den Geschöpfen dieses absonderlichen Instinkts untrennbar eine ,Literatur', sei diese nun zu Papier gebracht oder nicht, entspringe sie der Unmittelbarkeit des Erlebens oder denkerisch bewältigter Verinnerlichung" (Ober Kunst. Essays. 1959. S. 72). M Was dabei empirisch am Kunstwerk ist, bloßer ,Stoff*, verwandelbare Materie, wird gänzlich funktionalisiert und in die formale Ganzheit des Werkes einbezogen. Erst so, wenn kein unverwandelter empirischer Rest bleibt, wird es als Ganzes eigener Art bedeutsam und bleibt nicht bloß ein Ausschnitt aus der nicht wiedergebbaren unendlichen Ganzheit der äußeren Welt, von der Herman Meyer sprach (vgl. oben S. 8, Anm. 17). 24 Max Frisch, Tagebuch 1946- 1949. 1950. S. 119. Mit ähnlicher Blickrichtung sagt Valéry: „Das Werk verändert den Autor. Bei jeder Bewegung, die es aus ihm herausholt, erfährt er eine Veränderung. Ist es vollendet, wirkt es nochmals auf ihn. Er wird dann, zum Beispiel, derjenige, der fähig war, es zu erzeugen. Hinterher wird er irgendwie zum Erbauer des verwirklichten Ganzen - das ein Mythus ist" (Windstridie, S.90; zitiert nach Theodor W.Adorno, Noten zur Literatur II. 1961. S. 76). 10
Als intendierte Ganzheit verhält sich das Kunstwerk zur Wirklidikeit in einer ganz bestimmten Weise: Es ist, um einen Ausdruck von Georg Lukács zu gebrauchen, eine „erschaffene Totalität", 2 5 die gerade im autonomen Schöpfungscharakter des Werks auf die fehlende Totalität außerhalb der Sprache verweist. Machbarkeit des Kunstwerks und die Grundsätze, nach denen es ,gemacht' ist, sind aber erkennbar, und so ist ein Mehr an Erkenntnis ihm gegenüber möglich, als in bezug auf die ,äußere' Welt, die immer weiter reidit als unsere Erfahrung von ihr. Thomas Mann hat auf eine Möglidikeit des Kunstwerks hingewiesen, die das von M a x Frisch Angedeutete noch schärfer akzentuiert. E r setzt das kritisdie Bewußtsein des Diditers von seiner Zeit schon voraus und erwartet nicht erst von der Interpretation, das Werk im ganzen zu deuten: „Werk, Zeit und Schein, sie sind eins, zusammen verfallen sie der K r i tik. " a e Das Kunstwerk selbst begreift hier seine kritisdie Funktion gegenüber der Wirklichkeit, mit der es über diese hinausreicht. Indem es diese kritische Funktion formuliert, deutet es zugleich sich selbst. Und es übt seine Kritik gegenüber sich selbst, an seinem Scheindiarakter. Der Schein des Natürlichen, quasi organisch von sich aus Vollendeten des Kunstwerks wird verworfen. Kunst „will Erkenntnis werden" (24z), wozu sie sich erst als „Kunstarbeit" (241) zum „Zweck des Scheins" (241) durchschauen muß. Positiv kann sie dann in dieser ihrer Reflektiertheit, diesem Naivitätsverlust, eine „legitime Relation" (241) zur Wirklichkeit ihrer Welt erreichen. „Kunst wird K r i t i k " (319) - an ihrer Zeit und an ihrem eigenen Scheincharakter zugleich, ohne dodi ihn aufheben zu können. In dieser Funktion, selbst kritisches Bewußtsein zu reproduzieren und zu provozieren, bezieht sich die Kunst positiv, sidi öffnend, auf das Verständnis des Lesers. Ihre Intention geht über den esoterisdien Charakter
Damit ist ein entscheidender Schritt über die Kunstauffassung hinaus getan, der sidi nodi im Kunstwerk die „Offenbarung der Idee" (K. W. F. Solger, Vorlesungen über Ästhetik. Hg. von K.W.L. Heyse. Fotomedianisdier Nadidruck der I.Auflage 1829. 2.Auflage 1962. S. 118) vollzog, wenn audi gerade Solger sie schon mit der „Individualität des einzelnen Mensdien" (118) Zusammenschloß, für den sich das Wesen der Kunst erst aus dem Werk selbst nachträglich erschließt: „Die Thatsache der Ausführung ist nothwendig; sie vollendet den Künstler selbst, indem sie ihm die Idee in der Wirklichkeit zum Bewußtsein bringt. Erst durdi das Kunstwerk erfährt er, was er mit seiner Thätigkeit gewollt hat" ( I I J ) . Hier soll nodi das Werk einen absoluten Wert bezeugen. Für Frisch gibt es diese innere Vollkommenheit nicht mehr. 25 Georg Lukács, Die Theorie des Romans. 2. Auflage 1962. S. 31. 26 Thomas Mann, Doktor Faustus. Gesammelte Werke VI. i960. S. 321 (die folgenden Zitate mit bloßer Seitenzahl). II
des abgeschlossenen Gebildes hinaus. Das methodische Prinzip der Vermittlung, das den Charakter der Begriffsbildung bei der Interpretation von Literatur bestimmt und uns in den Möglichkeiten der Sprache selbst vorgebildet zu sein scheint, liegt auch der Kritik, als die sich die Kunst hier versteht, zu Grunde. Das bindet den Interpreten. Erst im Akt bewußter Aufnahme entfaltet sich das Kunstwerk als geformtes Gebilde. Nur dieser Akt der Aufnahme kann dem Werk eine unendliche Bedeutung geben, denn er hat kein Ende. 27 Sein Recht findet er in der lebendigen Auseinandersetzung, „denn nur dann nehmen wir ein Kunstwerk würdig wahr, wenn wir es als Element unseres Bewußtseins selbst betrachten." 28 Die Überschaubarkeit seiner Form steht zunächst in umgekehrtem Verhältnis zu ihrer inneren Geschlossenheit und zur Vielzahl der Deutungsmöglichkeiten. Was Hugo Friedrich für die .Struktur der modernen Lyrik' festgestellt hat, gilt schließlich audi hier: „Das Erkennen f o l g t . . . der Vieldeutigkeit dieser Texte, indem es sich selbst in den Prozeß eingliedert, den sie beim Leser in Gang bringen wollen: den Prozeß der weiterdichtenden, unabsdiließbaren, ins Offene hinausführenden Deutungsversuche",29 die unternommen werden müssen, um den scheinbar unendlichen Bedeutungsraum der Texte durch begriffliche Koordinaten einzugrenzen und auf ein überschaubares Erkenntnisfeld festzulegen. So variabel die Orientierungspunkte sein mögen, die wir feststellen können, es fordert jeder Text, ihn durch sie festzuhalten. Die Interdependenz von Kunstwerk und -betrachter, von Dichten und Erkennen wird nur fruchtbar in solcher Auseinandersetzung. 27
Erst der kritisch reflektierte Verstehensprozeß, bei dem man aus dem Bewußtsein seiner Grenzen heraus theoretisch gezwungen ist, ihn unendlich fortzusetzen, läßt das Kunstwerk unausschöpfbar erscheinen; oder, wie es Max Bense ausdrückt: „Der Kritiker stellt den metaphysischen Zustand des Kunstwerks wieder her, der durch seine ästhetische Erzeugung und seinen ästhetischen Genuß destruiert worden w a r " (Literaturmetaphysik, S. 95). 28 Solger, S. 109. 29 Hugo Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik. 3. Auflage 1959. (rowohlts deutsche enzyklopädie 25) S. 1 3 . Wichtige Ansätze zu einer modernen Ästhetik, die die Dialektik von Werk und Interpretation berücksichtigt und ihre Begriffe aus dem Gegenstand zu entwickeln bestrebt ist, findet man bei Theodor W.Adorno, u.a. in seinen ,Noten zur Literatur': „Die Fähigkeit, Kunstwerke von innen, in der Logik ihres Produziertseins zu sehen - eine Einheit von Vollzug und Reflexion, die sich weder hinter Naivetät verschanzt, nodi ihre konkreten Bestimmungen eilfertig in den allgemeinen Begriff verflüchtigt, ist wohl die allein mögliche Gestalt von Ästhetik heute" (Noten zur Literatur II. 1961. S. 43).
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Die Form des Erzählens und ihre immanente Problematik Jedes Werk Kafkas ist zunächst als „eine einheitlich strukturierte Welt"1 zu verstehen, deren die Einheitlichkeit konstituierendes Prinzip aufzufinden ist. Die Fragen nadi dem Wie des Erzählens und dem Was des Erzählten sind dabei nicht voneinander zu trennen. Die Antwort auf die eine Frage bestimmt die auf die andere •weitgehend mit. Hier haben Friedrich Beißner und Martin Walser,2 indem sie die Frage nach der Erzählform der Werke Kafkas stellten und den Weg zu ihrer Beantwortung zu weisen versuchten, dem Verständnis der Texte die Grundlage geschaffen. „Beißner vor allen hat mit seinen grundlegenden Überlegungen über die Einsinnigkeit der Darstellung und die Einheit der Perspektive der Kritik legitime Wege gewiesen . . ."3 Von ihren Ergebnissen ausgehend, muß man zunächst kritisch einige Grundformen von Kafkas Erzähltedinik prüfen, um einerseits zu sehen, wie sich die Ergebnisse der Forschung am konkreten einzelnen Text bewähren, und um andererseits zu klären, wie die Gestalt der Dichtung die Problematik ihres .Gehalts' ausdrückt. „ . . . mit dem ersten Wort, das der Romanautor setzt, schafft er eine Welt und schafft sie sich durch ihn."4 Um den Charakter der fiktiven Welt des Romans genauer zu entdecken, wie sie durch die Erzählform bestimmt wird, sehen wir zunächst auf die Eingangsszene. Es war spät abends, als K. ankam. Das Dorf lag in tiefem Schnee. Vom Sdiloßberg war nichts zu sehen, Nebel und Finsternis umgaben ihn, audi nicht der schwächste Lichtschein deutete das große Schloß an. Lange stand Friedrich Beißner, Der Erzähler Franz Kafka. 4. Auflage 1961. S. 10. Friedrich Beißner, Der Erzähler Franz Kafka. 19J2, und ders., Kafka der Dichter. 1958. Martin Walser, Beschreibung einer Form. Versuch über die epischen Dichtungen Franz Kafkas. 1 9 6 1 (zunächst als Diss. Tübingen 19J2). 3 Lothar Fietz, Möglichkeiten und Grenzen einer Deutung von Kafkas SdiloßRoman.-DVjs 37, 1963. S.71. 4 Wolfgang Kayser, Wer erzählt den Roman? In: Die Vortragsreise. Studien zur Literatur. 1958. S. 101. 1
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Κ. auf der Holzbrücke, die von der Landstraße zum Dorf führte, und blickte in die scheinbare Leere empor. (9)
Hier erzählt, wie es scheint, jemand, der in einem Augenblick genau übersieht, was er im einzelnen erwähnt, und der diese Dinge (Dorf, Schloßberg, Schloß) aufgrund seines Überblicks einander räumlich fest zuordnen kann. Die einzelnen Substantive erscheinen als Begriffe für - innerhalb des Fiktionsganzen-unbezweifelbar Existierendes. K. ist zunächst belanglos für diese Ordnung des Raumes, die der Erzähler durch die Nomina aufbaut; in die Welt, die aus Dorf, Schnee, Schloßberg, Nebel und Finsternis besteht, begibt er sich nur hinein. Diese Beschreibung eines quasi objektiv Vorhandenen - wobei audi das nicht Sichtbare anscheinend existiert - nimmt bei seiner Ankunft K. in sich als einen Bestandteil dieser Welt auf. Durch seine Ankunft ist er von Anfang an nur ein Teil dieser beschriebenen Welt. Er seinerseits orientiert sich an ihr - er blickt in die „scheinbare Leere empor" - und beglaubigt sie damit als auch für ihn zweifellos existierend. Dennoch wird hier kein eindeutiger Realitätshintergrund aufgebaut, vor dem eine Person agiert. Winfried Kudszus hat auf die „echte Ambiguität" 5 dieses Anfangs hingewiesen, was die Frage nach dem hinter diesem Romanausschnitt stehenden Erzähler betrifft. Schon die Kennzeichnung „scheinbar" ist nicht eindeutig zuzuordnen: Geht sie auf den Erzähler oder geht sie auf K. zurück? Heißt es „scheinbar", weil K. weiß, daß dahinter etwas liegt, oder nimmt K. das nur an, oder weiß das nur der Erzähler? Die ganze Situation ist Bestandteil der Ankunft K.s; ihre einzelnen Realitätsbestandteile liegen wie von seinem Blick registriert da. Jede Einzelheit könnte so verstanden werden, als ob sie allein durch die Tatsache, daß K. sie erblickt, Realität oder wenigstens Anschaulichkeit gewonnen habe. Besonders auffallend ist dabei die Kennzeichnung des unsichtbaren Schlosses als „groß". Hier kann man nicht mehr so eindeutig feststellen, was Scherer gegen Spielhagen als Kennzeichen des hervortretenden Erzählers erkannt haben wollte: „Wo ein Urtheil ausgesprochen wird, da erscheint er: zu dem Wissen tritt die Meinung. Wo er irgend ein Epitheton b e i f ü g t : . . . , tritt der Dichter hervor." 6 Hier ist das Epitheton nur noch die Kennzeichnung einer Ansicht; aus ihm selbst geht nicht hervor, wessen Ansicht es ist. Das aber ist die entscheidende 5
Winfried Kudszus, Erzählhaltung und Zeitversdiiebung in Kafkas ,Prozeß' und .Schloß'. - DVjs 38,1964. S. 193. » Wilhelm Scherer, Poetik. 1888. S. 246.
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Frage. Ebenso wie von K. kann die Kennzeichnung der Situation von einem auktorialen Erzähler ausgehen. Damit kann man schon eine Feststellung f ü r die Erzählperspektive festhalten. Es gibt zunächst zwei Ebenen, 7 die man zugleich sehen muß: eine äußere, der Erzähler wie Leser als einer Realität innerhalb des Fiktionscharakters der Dichtung gegenüberstehen, und eine innere, die durch den auf sie ausgerichteten, sie bestimmenden K. geschaffen wird. Beide kann man nicht voneinander trennen; die eine ist mit der anderen gegeben. Die „totale Kongruenz von Autor und Medium" 8 wird schon hier zumindest fraglich, und es erscheint angebracht, zu sehen, inwiefern man den Begriff der „Einsinnigkeit" 9 unter Umständen neu zu definieren hat. Vorausschicken muß man deshalb einige Erwägungen über die Funktion des Erzählers in bezug auf den ganzen Roman und den Grad von Integration in die Erzählung, der ihm gegeben ist. Die ständige und völlige Kongruenz von Autor und Held hat erkennbare Bruchstellen, wie in unserem Zitat, 10 von denen her sich der Charakter dieser vermeintlichen Deckungsgleichheit näher und genauer bezeichnen läßt. Das Geschehen des Romans vollzieht sich als ein Vorgang, in dem die Person K.s nur einen, wenn auch den erkennbar entscheidenden Teil ausmacht. K. ist nur ein Geschöpf des Romanautors. Er steht in einer bestimmten Funktion in das Romanganze eingeordnet; darin gleicht er dem Erzähler. Als Figur aber ist er zunächst immer etwas anderes als ein neben und über dem Erzählten stehender Erzähler. Wenn Walser aus der Tatsache, daß K a f k a als Erzähler nicht in Erscheinung tritt, den Schluß zieht: „Das Erzählen selbst als ästhetisches Faktum wird hier nicht in den phänomenalen Bereich des Werkes einbezogen", 11 so scheint er uns eine zu weit gehende Konsequenz aus der weitgehenden Deckung von Erzähler und Hauptgestalt zu ziehen - ganz abgesehen davon, daß diese gar nicht mit soldier Eindeutigkeit behauptet werden kann. „Ein Erzähler ist in allen Werken der Erzählkunst da", 1 8 und zwar als ein 7
„So bedeutet zum Beispiel das distanzierte Dabeisein des Erzählers am Anfang der Romane, daß nodi eine andere Realitätsebene als die der K.s da ist. Somit vermag der Leser dort nidit nur die Realität der K.s wahrzunehmen, sondern auch mit den Augen des Erzählers zu sehen" (Kudszus, S. 20$). 8 Walser, S. 27. 9 Der Begriff wurde von Beißner geprägt (Kafka der Diditer, S. 1 j). 10 An weiteren Beispielen werden wir das später verdeutlichen. Eines genügt jedoch, um von ihm aus das Problem zu formulieren. 11 Walser, S. 21. 18 Kayser, S. 90.
„mit der Dichtung selbst verwachsenes M e d i u m . " 1 8 D i e Frage ist immer nur, wie er mit ihr verwachsen ist und durch sie erscheint. D a s könnte durch eine erkennbare E r z ä h l h a l t u n g oder durch die W i r k u n g des Erzähltempus geschehen.
D a s Präteritum als Erzähltempus und die Einheit des Erzählens D a s Gegenüber des Erzählers z u seinem Geschehen, das ihm so z u m ,, G e gen-stand" w i r d , sieht Staiger 1 4 als wesentliches Kennzeichen des epischen Stils an. D a ß dies als Aussage über die E r z ä h l h a l t u n g in K a f k a s R o m a n nur mehr eingeschränkt zutreffen könnte, legten unsere bisherigen Ü b e r -
Käte Friedemann, Die Rolle des Erzählers in der Epik. 1910. (Untersuchungen zur neueren Sprach- und Literaturgeschichte. Hg. von Oskar Walzel. Neue Folge 7). S. 32. Damit ist hier aber mehr gemeint als was schon Spielhagen forderte: daß der Roman nur handelnde Personen kennen solle, „hinter denen der Dichter völlig und ausnahmslos verschwindet" (Die epische Poesie und Goethe. Goethe-Jahrbudi X V I , 1895. Anhang, S. 5). Für Spielhagen war der Autor vom Erzähler als einem Bestandteil der Dichtung, als die Art und Weise der Darbietung des Erzählten bestimmendem fiktivem Subjekt, nodi keineswegs unterschieden. Diese Unterscheidung aber müssen wir festhalten, wenn wir nach der Erzählweise und nach der Funktion des Erzählens selbst im Roman fragen. 18
Für Spielhagen ist „der Held . . . gewissermaßen das Auge, durch welches der Autor die Welt sieht, in diesem Roman wenigstens, in diesem Stadium seiner Entwicklung wenigstens, und wenn das zu viel gesagt ist, - meistens wird es nidit zu viel sein - so ist der Held doch ganz sicher der Gesichtswinkel, unter welchen uns der Autor das Stück Menschentreiben, das er aus dem Ganzen ausschneidet, gerückt hat, unter dem er wünscht, daß wir es betrachten möchten" (Beiträge zur Theorie und Technik des Romans. 1883. S. 72). Dahinter steht schon eine Auffassung von Dichtung als Wirklichkeit, vue par un tempérament. Spielhagen macht aber mit der Subjektivität nur oberflächlich ernst; er postuliert sie als .objektiv', ohne sie dabei dialektisch zu begründen (vgl. Winfried Hellmann, Objektivität, Subjektivität und Erzählkunst. Zur Romantheorie Friedrich Spielhagens. In: Wesen und Wirklichkeit des Menschen. Festschrift für Helmuth Plessner. Hg. von Klaus Ziegler. 1957. S. 340-397). Spielhagen fußt auf Hegel, ohne ihn recht begriffen zu haben („Um der Objektivität des Ganzen willen, muß nun aber der Dichter als S u b j e k t gegen seinen G e g e n s t a n d zurücktreten, und in demselben verschwinden"; Ästhetik III, S. 337). Noch für Hegel bestand der „große epische Styl darin, daß sich das Werk für sich fortzusingen scheint, und selbstständig ohne einen Autor an der Spitze zu haben auftritt" (Ästhetik III, S. 338). 14
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Emil Staiger, Grundbegriffe der Poetik. 3. Auflage 1956. S. 87.
legungen nahe. Aber „gegenüber bleibt das Geschehen audi insofern, als es vergangen ist. Der Epiker nämlich vertieft sich nicht erinnernd in das Vergangene . . . , sondern er gedenkt. Und im Gedenken bleibt der zeitliche wie der räumliche Abstand erhalten." 15 Bleibt zu fragen, ob das auch in unserem Fall richtig sein kann. 16 Die Perspektive des Erzählers gibt bei Kafka keine eindeutige Distanz zum Erzählten mehr zu erkennen. Aber dort, wo der Erzähler selbst nicht mehr greifbar ist, scheint das epische Präteritum allein schon diese Distanz zu setzen und somit indirekt auf den (gegenwärtigen) Erzähler zu verweisen. Erzähler und Werk scheinen auf zwei getrennten Zeitebenen, in der unmittelbaren fingierten Gegenwart des Erzählens und dem abgeschlossenen Vorausgegangenen des Erzählten zu stehen. Dieser Zeitgebraudi ist jedoch für die Distanz des Erzählers, der „mit zu der Ganzheit der ,Erzählung' " 17 gehört, zum Erzählten nicht entscheidend. Wenn der Erzähler nur ein fingiertes Subjekt ist, eine Bezeichnung für die Funktion, wie das Erzählte sich selbst darbietet, und nur mit diesem zusammen jeweils gegeben ist, dann kann er ihm auch nicht auf einer anderen Zeitebene als der des Werkes selbst vorausgegeben sein. Die Frage ist, welchen Stilwert, welche Funktion für die Stellung des Erzählers das Präteritum dann noch besitzt. Käte Hamburger hat am entschiedensten diese Frage aufgeworfen und sie zu beantworten versucht. Für sie hat das Präteritum (im Er-Roman) nicht so sehr eine reale Zeit- als eine fiktionsbegründende Funktion. In dem Augenblick, wo der Erzähler als integrierter Bestandteil der Erzählung aufgefaßt wird und gar, wie bei Kafka, als solcher gar nicht mehr oder nur noch sehr indirekt, evtl. durch das Medium einer Person, faßbar wird, ist durch den Fiktionscharakter des Romans zunädist für den Leser beides auf eine Erlebnisebene gestellt worden. Der Erzähler ist ebenso ein fingiertes Subjekt wie alle anderen Personen des Romans, denn „die Zeit, in der sich die E r z ä h l u n g . . . zuträgt, ist nicht mehr die Zeit des Erzählers, sondern die Zeit der Gestalten, d. h. sie ist fiktiv wie wie diese selbst."18 Das gilt gerade für Kafka, wo kein erscheinender Erzähler mehr eine immanent distanzierte Zeitebene gegenüber dem Geschehen des Romans 15
Staiger, S. 87. ie Mögliche Gattungsuntersdiiede zwischen Epos und Roman klammern wir hier aus. Das Problem des Erzählens stellt sich erst beim Roman mit aller Schärfe (vgl. dazu Lukács' .Theorie des Romans'). 17 Robert Petsdi, Wesen und Formen der Erzählkunst. 2. Auflage 1942. S. i n . Käte Hamburger, Das epische Präteritum. - D V j s 27, 1953. S. 33 j . 17
begründet, so daß innerhalb der Fiktionseinheit das Erzählte dem Erzählen nicht voraus ist. 19 Das Präteritum ist damit zunächst nur die gemeinsame Zeitebene, auf der sich K . mit der ihn umgebenden Welt begegnet. Es ist, wie Hamburger meint, das Mittel, das die rein faktische Existenz der Gestalten als fiktiver begründet. Das „Eingehn in die Fülle des V e r gangenen" 20 kann es also nicht geben, weil das Präteritum nidits über reale zeitliche Verhältnisse aussagt. Es schafft so auch keine Distanz zwischen Erzähler und Erzähltem, sondern eher zwischen Erzähltem und Leser (oder Hörer). 2 1 Das Präteritum hat - nach Hamburger - die Funktion, „Faktizität, aber nicht Vergangenes auszudrücken." 22 Die Vergangenheitsform ist insofern irrelevant, als sie gerade die abgeschlossene und abgetrennte Ganzheit des Romans dem Leser gegenüberstellt. Eine wichtige weiterführende Korrektur hat H a r a l d Weinrich 23 zu diesem Problem der Zeitaussage des Präteritums in der Dichtung angemeldet. Aus seinen linguistischen Überlegungen ergibt sich, daß das Verbsystem der Sprache gar nicht als ein Tempussystem erklärbar ist, wie es die Schulgrammatiken meinen, und daß man deshalb auch nicht vorläufig das Präteritum als eine Vergangenheitsaussage bestimmen kann, um dies dann für einen begrenzten Bereich (den Er-Roman) zu widerlegen, wie es Käte Hamburger versuchte. Indem Weinrich im Verbsystem zwei verschiedene Grundhaltungen des Menschen im Gebrauch der Sprache, 18
Wir greifen hier den Begriff der Fiktion aus dem vorigen Kapitel wieder auf, diesmal unter dem Gesichtspunkt, wie sie von innen her ,gemacht' erscheint. 20 Herbert Seidler, Zum Stilwert des deutschen Präteritums. - Wirkendes Wort 3, 1952/53. S. 279. Seidler opponiert den Thesen Käte Hamburgers. Ohne die ganze Diskussion wiederzugeben, seien dodi nodi weitere vier kritische Beiträge angeführt, von Herbert Seidler (Dichterische Welt und epische Zeitgestaltung. DVjs 29, 1955. S. 3 9 0 - 4 1 3 ) , Franz K . Stanzel (Episches Praeteritum, erlebte Rede, historisches Präsens. - D V j s 33, 1959. S. 1 - 12), Wolfdietrich Rasch (Zur Frage des epischen Präteritums.-Wirkendes Wort. Sonderheft 3, 1961. S . 6 8 - 8 1 ) und Ulrich Busch (Erzählen, behaupten, dichten. - Wirkendes Wort 12, 1962. S. 2 1 7 - 2 2 3 ) . 21 In diesem Zusammenhang ist eine Bemerkung interessant, die Solger in seiner ,Ästhetik' macht: „Sofern der Stoff ein Gegebenes ist, wird der Gegenstand als v e r g a n g e n aufgefaßt, und zwar nicht bloß als vergangen in der Zeit, sondern als absolut vergangen und somit schlechthin gegeben" (S. 275). Solger leitet das zwar daher ab, daß sich im Kunstwerk das objektive Sein der ,Idee* realisiert, das keinen Zeitkategorien unterliegen kann, aber gewinnt doch so schon die Einsicht, daß die Zeitform der Vergangenheit das Kunstwerk nicht in den Bereich menschlicher konkreter Zeitordnungen mediatisiert, sondern gerade davon ablöst und ihm als „schlechthin gegeben" vorstellt. 22 Hamburger, Das epische Präteritum. S. 350. 23 Harald Weinrich, Tempus. Besprochene und erzählte Welt. 1964. 18
die des Erzählens und die des Besprediens, als zwei voneinander getrennte sprachliche Möglichkeiten aufdeckt, kommt er weit grundsätzlicher als Hamburger zu dem Ergebnis, daß das Präteritum keine Vergangenheitsaussage ist. Es erhält nicht nur für seine Stellung im Er-Roman eine Sonderstellung, sondern wird als „Null-Tempus"24 der erzählten Welt zu dem, was Erzählen als Haltung sprachlich überhaupt erst realisiert. Es hat damit keinen Aussagewert in bezug auf zeitliche Verhältnisse, sondern nur in bezug auf eine existentielle Haltung: ob man nämlich nur von sich als Person abgesetzt - erzählt oder das Gesagte auf sich bezieht und sich konkret als leibliche Person darin engagiert. Das Präteritum sagt auch nichts über die Wahrheit des Erzählten aus. „ . . . die Tempora der erzählten Welt sagen dem Hörer oder Leser von sich aus nichts über Wahrheit und Fiktion der Erzählung. Das muß man aus zusätzlicher Information entnehmen. Wenn die Erzählung allerdings Wahrheit und nicht Fiktion ist, dann bezieht sie sich auf Vergangenes."25 Es begründet nicht die Fiktion, sondern das Erzählen gibt sich selbst durch andere Indizien als fiktionales Erzählen zu erkennen - beispielsweise indem es sich ausdrücklich als ,Roman' ausgibt und auf einen nachprüfbaren Kontext verzichtet, dem es sidi unterordnen würde und von dem her man seine ,Wahrheit' einsehen könnte. Das konkrete hic et nunc bestimmt also das fiktionale Erzählen nicht durch die Sprechsituation als abhängig. Es bleibt unabhängig von der Situation des Sprechenden wie des Hörenden. Auf den Erzähler kann sich das Erzählte dann audi nicht mehr im Abstand beziehen, weil er ganz in die einheitliche innere Zeitebene der Erzählung eingegangen ist, in der als Fiktionseinheit es nur mehr auf den Modus der Zuordnung des Erzählers zum fiktiven Geschehen ankommt. Auch der Erzähler wird erzählt, indem überhaupt erzählt wird. Jedes zeitliche Verhältnis ist hier nur ein Modus engerer oder weiterer immanenter Zuordnung. „Ist die Zeit nicht begrifflich oder bildlich angegeben, so ist sie nicht in der Erzählung . . . Nur dann gibt es erzählte Zeit, wenn sie explizite erzählt i s t . . ." 2e Die phänomenologische Einheit des Erzählens bedeutet auch, daß der Erzähler, der als solcher nicht mehr auftritt, keinen eigenen Wirklichkeitsbereich innerhalb des fiktionalen Ganzen haben kann. Dadurch, daß er nur durch die Fiktionalität der erzählten Welt hindurch erschließbar ist, die K. als quasi faktische gegenübersteht, besitzt er keine Distanz 24 26
25 Weinridi, S . 7 2 . Weinrich, S. 77. Käte Hamburger, Die Zeitlosigkeit der Dichtung. - D V j s 29, 1 9 5 j . S . 4 1 8 .
i?
gegenüber der Wirklichkeitsebene des Erzählten, ist er selbst kein eigenwertiges Faktum mehr - auch nicht aus der präteritalen Erzählform erschließbar. Insofern kann man sagen: „Das Geschehen erzählt sich selber im Augenblick.. ." 27 . Der Erzähler ist nie mehr als das, was erzählt wird. Dennoch läßt sich aus dem Erzählten, auch noch bei Kafka, annähernd bestimmen, was der Erzähler ist und in welcher Funktion er erscheint.
Die Rolle des Erzählers im Roman ,Das Schloß' „Kafka . . . tritt als Erzähler nicht selbst auf", 28 aber Autor und Erzähler sind ja keineswegs miteinander identisch. Vielmehr ist der „Erzähler in aller E r z ä h l k u n s t . . . eine Rolle, die der Autor erfindet und einnimmt", 29 und in der er sich auch dann noch im Phänomen der Erzählung bemerkbar macht, wenn er als fiktive Person nicht erscheint. Walser hat festgestellt, daß Kafka „den Gesichtspunkt der Perspektive seines Erzählens in den Helden legt." 30 Damit ist er in seinem „Medium" 31 doch nicht ganz verschwunden. Wir müssen vielmehr untersuchen, worin die Beziehung K.s auf die Weise des Erzählens besteht und wie er perspektivenbildend wirkt. Der Romananfang hat gezeigt, daß die Erzählhaltung nicht allein und eindeutig auf die innere Perspektive K.s zurückgeführt werden kann. Grundlegend dafür ist die Beobachtung, daß die Welt, in der K. sich von Anfang an bewegt, in gleicher Weise glaubwürdig erscheint, eine ,reale' Welt wäre ohne seine Existenz. Dadurch, daß er sich in den durch die begriffliche Bezeichnung von Fakten abgezirkelten Bereich einer Welt hineinfügt und sein Verhalten auf sie hin ausrichtet, erkennt er für sich eine von ihm unabhängige Welt an, die zunächst außerhalb seines Bewußtseinsraumes existiert, deren faktisches Dasein sein Verhalten mit prägt. Dafür, daß er sie in sein Bewußtsein erlebend hineinnehmen kann, muß sie erst einmal als Gegenüber vorhanden sein. Hier, bei allen Bereichen rein faktischer' Angaben und Beschreibungen, behält der auktoriale Erzähler sein Recht, weil für K. die bloße Existenz von Dingen wie ihre Relation zueinander und damit auch die Reihung des sich Ereig-
27 28 29 30
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Beißner, Der Erzähler Franz Kafka. S. 32. Walser, S. 2 1 . Kayser, S . 9 1 . 31 Walser, S. 23. Walser, S. 22.
nenden nicht seiner regulierenden Macht unterliegt, sondern sich ihm zunächst immer als ein Anderes gegenüberstellt.32 An zwei weiteren Beobachtungen wird mehr deutlich. Was geschieht, was sich an Handlungen vollzieht, geht entweder von K . oder von einer anderen Person aus. „Der Vorsteher sah auf die Uhr, goß Medizin auf einen Löffel und schluckte sie hastig" (93). „Da öffnete sich die Tür" (410). „ K . erhob sich" (103). Diese Beispiele zeigen eines: Es sind Erzählungen von Handlungen, die perspektivisch völlig neutral sind. Ähnliche Stellen ließen sich in Fülle beibringen. Offensichtlich kann bei Verben der Aktion, die nicht durch erlebte Rede oder übergeordnete Verben innerer Vorgänge vermittelt sind, die Form des auktorialen Erzählens, das Gegenüber zum Erzählten wie zu einem Faktum, gar nicht eliminiert werden. Solche Angaben, mehr sind es nicht, bilden aber das Gerüst der erzählten Welt. Ihre .faktische' Realität - immer innerhalb der Fiktionalität des Romans überhaupt - ist eindeutig und gänzlich unabhängig von der Existenz K.s. Selbst wenn K . dabei anwesend ist, wenn etwas geschieht oder als vorhanden erzählt wird, berechtigt das nicht dazu, es von seiner Erfahrung herzuleiten. Man kann es höchstens in einem zweiten Schritt auf ihn beziehen. Die Grundform des Erzählens, daß jemand, der erzählt, zwar nicht als erkennbare Person faßbar ist, aber doch, durch das Faktum des Erzählten bedingt, vorhanden sein muß, ist auch hier nicht aufgehoben. Deshalb kann man audi nicht den als ,tatsächlich' berichteten Ereignissen keine von K . unabhängige Realität zugestehen. Weiteres zeigt der weite Teile des Romans beherrschende Dialog. In ihm begegnet K . eine unabhängig von ihm konstituierte ,Wirklichkeit' zunächst erzähltechnisch rein formaler, inhaltlich aber personaler, mit ganz anderen Intentionen angefüllter Bezüge. 33 Daß sich das formale Gleich32
Stellenweise läßt sich am Obergang einer subjektiven Perspektive zur anderen durch den Bruch hindurch der vermittelnde auktoriale Erzähler geradezu fordern: „ , W a r u m dies alles? W a r u m dies alles?' fragte er sich und betrachtete . . . Bürgel . . . Bürgel aber, ganz seinem Gedankengang hingegeben, lächelte . . ( 3 4 6 ) . Ein weiteres Beispiel: „ U n d so w a r er, wie er gleich hatte ins Wirtshaus laufen wollen, auf den geänderten Befehl hin audi gleich wieder bereit, zuerst das Zimmer in Ordnung zu bringen, damit die Lehrerin mit ihrer Klasse wieder herüberkommen könne" (204). H i e r kann man einen hinter K . stehenden E r z ä h ler annehmen, der dessen widersprechende Reaktionen übergreift und in ihrem Gegensatz ausbreitet. 33
Walter H . Sokel hat das gesehen: „ D i a l o g und H a n d l u n g enthüllen das v o m Helden unabhängige Innenleben anderer Gestalten" (Franz K a f k a . T r a g i k und Ironie. 1 9 6 4 . S. 396).
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gewicht miteinander sprechender Partner eindeutig zugunsten K.s verschiebt, liegt daran, daß er ihnen gegenüber durch die Zuordnung eines erzähltechnischen Mittels privilegiert ist, das ihm weit größeren R a u m und größere Bedeutung gibt als seinem jeweiligen Gegenüber. Die »Verben der inneren Vorgänge" 3 4 bezeichnen nur bei K . diese Vorgänge unmittelbar. N u r er erscheint „in der Subjektivität seiner inneren V o r gänge, seiner ,Existenz'." 3 5 Bei allen anderen Personen werden diese V o r gänge v o n ihnen selbst berichtet, ausgesprochen, oder v o n K . vermutet, und sind so nur nodi Äußerungsinhalte, die nicht mehr die seelische U n mittelbarkeit direkt darstellen, sondern sie K . gegenüber vorstellen w o l len, sie ihm vermitteln. Diese Anderen, die Dialogpartner, werden v o n ihm nie als solche, als Andere, sondern nur in Beziehung auf ihn selbst erfaßt. Er versteht sie in der Weise, daß das, was zunächst ihm gegenüber als reale Ä u ß e r u n g erscheint, in ihm Reaktionen auslöst, mit denen seine innere W e l t diese äußere in einen subjektiven Verständniszusammenhang einbezieht. ,Sie verfehlen ihn auf jeden Fall, ob Sie warten oder gehen', sagte der Herr, zwar schroff in seiner Meinung, aber auffallend nachgiebig für K.s Gedankengang. (143) A l s formale gegenüberstehende Wirklichkeit(en) werden sie implicite v o n K . gerade dadurch anerkannt und fixiert. Im D i a l o g steht Ansicht gegen Ansicht, beides als Meinung mit dem Anspruch auf Geltung. Die Einheitlichkeit der subjektiv erlebten W e l t K.s w i r d zerbrochen, wenn seiner in seinen Reflexionen enthaltenen Deutung v o n Geschehen und M o t i v e n die einer anderen Person gegenübertritt. ,Wenn man mir einmal aus aufrichtigem Herzen davon abraten konnte, überhaupt zu Klamm zu streben, wie ist es möglich, daß man midi jetzt scheinbar ebenso aufrichtig auf dem Weg zu Klamm, mag er zugegebenerweise audi gar nidit bis hin führen, geradezu vorwärts treibt?' .Treibe idi Sie denn vorwärts?' sagte die Wirtin. ,Heißt es vorwärts treiben, wenn idi sage, daß Ihre Versuche hoffnungslos sind?' (153) Erst durch seine Auslegung, die diese unabhängige W e l t Anderer umformt und, indem er sie auslegt, allein auf sich und seine Intentionen bezieht, erhält sie den Anschein, als gäbe es diese Welt nur durch K . Das Erzählgerüst der faktischen Darstellungen ist also durchaus stabil auch ohne K . Als bloße
Fakten sind sie, auch wenn sie erzählt werden,
f ü r ein Kunstwerk völlig bedeutungslos und zufällig. Ihre bloße A b f o l g e
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Käte Hamburger, Das epische Präteritum. - DVjs 27, 1953. S. 344. Hamburger, Das epische Präteritum. S. 345.
aber wird durch K. zu einem Sinnganzen zusammengefügt: nicht dadurdi, daß die Form des Erzählens nur durch ihn so sein könnte, sondern dadurch, daß er ständig das ihm Begegnende inhaltlich interpretiert. Erst das, was K. aus den ihm widerfahrenden Dingen macht, konstituiert die „Einsinnigkeit". Wir greifen dazu eine beliebige Stelle heraus. Oben auf der kleinen Vortreppe des Hauses stand, ihm sehr willkommen, der Wirt und leuchtete mit erhobener Laterne ihm entgegen. (29)
Daran lassen sich wieder die zwei eng miteinander verbundenen Realitätsschichten, die den Roman bestimmen, erkennen: die reine Faktizität dessen, was K. begegnet, und die Art und Weise, wie er diesen Fakten begegnet und sie in bezug auf sich versteht. Er reflektiert intentional auf „seine Außenwelt, welche nur in Beziehung auf das Innere des Bewußtseyns einen wesentlichen Werth hat, nicht aber auf die Würde Anspruch machen darf, für sich selbst der ausschließliche Gegenstand der Poesie zu werden. " s e Das Haus mit seiner kleinen Vortreppe, der Wirt, der auf ihr steht, und die Laterne in seiner Hand existieren als Bestandteile der Erzählung unabhängig von K. Sie sind im selben Maße wie er selber, der ihnen begegnet, real, denn sie existieren in keiner erkennbaren Weise allein durch ihn, sondern durdi den verborgenen Erzähler des Romans. Durch ihn, K., aber werden sie wichtig. Da ist einmal die Richtung des Laternenscheins, die der ankommende K. als „ihm entgegen" leuchtend bemerkt, zum andren gewinnt eine dieser Realien für ihn eine seelische Bedeutung. Der Wirt mit der Laterne ist ihm „sehr willkommen." Dabei ist unerheblich (und wird auch nicht zum Ausdruck gebracht), ob er wirklich für ihn leuchtet oder aus einem ganz anderen Grund; entscheidend ist die seelische Wirklichkeit, in die er sich für K. verwandelt. Dazu stimmt die ganze Atmosphäre der Szene: Der Wirt begrüßt ihn „demütig" und K. nimmt ihm ohne weiteres die Laterne aus der Hand, als er sie gebrauchen kann. Die Dinge sind schon deshalb durch K. bestimmt, weil er sie seelisch oder praktisch aufnimmt und dadurch aus ihrer reinen Faktizität befreit und ihnen einen Sinn gibt. Erich Auerbach hat an Virginia Woolf's Roman ,To the Lighthouse' ein erzählerisches Phänomen festgestellt, von dem sich im Vergleich die erzählerische Grundtechnik Kafkas sowie die in ihr enthaltene Problematik abheben läßt. Bei Virginia Woolf tritt „der Schriftsteller als Erzähler von objektiven Tatbeständen . . . fast ganz zurück; fast alles, was gesagt wird, erscheint als Spiegelung im Bewußtsein der Personen des Romans", so daß se
Hegel, Ästhetik III. Jubiläumsausgabe Bd. 14. S. 238. Diese Würdigung des Bewußtseins als Gegenstand der Dichtung mutet erstaunlich modern an. 2
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„ein Standpunkt außerhalb des Romans, von dem aus die Menschen und Ereignisse innerhalb desselben beobachtet werden, gar nicht zu existieren scheint, ebensowenig wie eine objektive, von dem Bewußtseinsinhalt der Personen des Romans verschiedene Wirklichkeit." 37 Sehen wir davon ab, daß Auerbach terminologisch nicht genau genug zwischen Autor und Erzähler unterscheidet, und beziehen wir seine Feststellungen auf den Erzähler als Rolle innerhalb der poetischen Fiktion, so sehen wir, daß bei Kafka die zugrundeliegende Wirklichkeit nicht allein im Bewußtseinsinhalt K.s enthalten ist, sondern als eine Funktion ihm gegenübersteht und in ihm verwandelt wiederkehrt. Es geht Kafka nicht um „das Schweifen und Spielen des Bewußtseins..., weldies sich von dem Wechsel der Eindrücke treiben l ä ß t . . ," 38 Erst in dieser streamof-consciousness-Technik wäre die Kongruenz von Erzähler und Medium wirklich erreicht, wo aus dem dargestellten Bewußtsein der Person eine nun beliebige „Zufälligkeit des Wirklichen" 39 zu erschließen wäre. An einem Beispiel läßt sich ablesen, daß für K. die ihm begegnende Wirklichkeit schlechthin gegeben ist, er sie aber nur erfährt, indem er sie - auslegend, reflektierend und sein Verhalten von dieser Reflexion her bestimmend - auf sich bezieht. In der nun plötzlich eingetretenen Stille aber hörte K . Schritte v o m Flur. U m sich irgendwie zu sichern, sprang er hinter das Aussdiankpult, unter w e l chem die einzige Möglichkeit sich zu verstecken w a r . Z w a r w a r ihm der A u f enthalt im Aussdiank nidit verboten, aber da er hier übernachten wollte, mußte er vermeiden, jetzt noch gesehen zu werden. Deshalb glitt er, als die T ü r wirklich geöffnet wurde, unter den Tisch. D o r t entdeckt zu werden w a r freilich audi nicht ungefährlich, immerhin w a r dann die Ausrede nicht unglaubwürdig, daß er sich v o r den w i l d gewordenen Bauern versteckt habe. (58)
Das bloße Geschehen - Stille, Schritte, eine Tür geht auf - wird von K. mit seinen Erwägungen und Folgerungen überformt und erscheint so nicht anders als in Beziehung auf ihn, wobei aber erkennbar wird, daß er diese Beziehung des sich Ereignenden auf ihn selber herstellt, indem er bewußt darauf reagiert. Eine Motivation zu handeln wird durch eine zurückgreifende Reflexionskette immer mehr erweitert, gleichzeitig aber in die Zukunft auf mögliche Handlungen hin vorgreifend entworfen. Diese Reflexionen nehmen schließlich einen größeren Raum ein als die Schilderung des bloßen Vorgangs. Κ.,bespricht' seine Welt gewissermaßen 87 Erich Auerbach, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. 2. A u f l . 1 9 5 9 . S - 4 9 6 f . 38 39 Auerbach, S . 498. Auerbach, S. $00.
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erzählungsimmanent vor sich, in sich selbst. Das Wirkliche, was vor K. erscheint, ist bei Kafka nicht zufällig, sondern in seinem Wirklichkeitscharakter der Hauptgestalt gegenüber gesetzt, so daß für diese und ihr Denken es keine unbeschränkte und „durch keinen bestimmten Gegenstand des Denkens" dirigierte „Freiheit" 40 gibt. Kafkas K. denkt und handelt nur in bezug auf die ihn umgebende Wirklichkeit, aber er schafft sie nicht erst in ihrer Wirklichkeit, als Faktum, durdi sein Denken. Hier geht es nicht nur um die „Seelenwirklichkeit" 41 des Helden, sondern um sein Verhalten einer sich ihm gegenüber aufbauenden Wirklichkeit, mit der er sich auseinandersetzen muß. Der Begriff der „Einsinnigkeit" bekommt Bedeutung nicht als Modus einer Erzähltechnik, sondern als eine vom Helden vorgezeichnete Verstehensrichtung. Festhalten muß man dabei die bloße Anwesenheit K.s in jeder größeren Erzähleinheit. „Es geschieht nichts ohne K., nichts ohne Beziehung auf ihn und nichts in seiner Abwesenheit. Alles geschieht, indem es ihm widerfährt." 42 Damit ist nach unseren Feststellungen nicht mehr gesagt, als daß K. die Hauptperson ist, um derentwillen der Roman geschrieben wurde, und daß sich an ihm in allererster Linie sein Sinn erweist. „Einsinnigkeit" ist so eine Erlebniseinheit, die durch die jeweilige Interpretation des Geschehens durch K. geschaffen wird. In ihr ist alles erkennbar auf K. bezogen. Die konkurrenzlose Darstellung der innerseelischen Verarbeitung des Begegnenden, einer inneren Welt überhaupt, macht K. zum integrierenden Zentrum des Romans, womit er eine Funktion des auktorialen Erzählers übernimmt und auf eine verstecktere Weise ausübt. Alle anderen Gestalten können nur in direkter Rede, im Dialog, also als Gegenüber K.s erfaßt werden. Sie erscheinen K. gegenüber zunächst immer als unmittelbar und ungebrochen Existierende, während K. diese Unmittelbarkeit für sich durch seine Erwägungen bricht. Sie werden durch sein Erfassen ihm erkennbar vermittelt. Die Möglichkeit der erlebten Rede ist allein ihm vorbehalten. 43 40
Auerbach, S. joo. Beißner, Der Erzähler Franz Kafka. S. 42. 42 Beißner, Kafka der Dichter. 1958. S. 24f. 43 „Eine Erzählweise, welche die Darstellung eines gegenwärtig vorzustellenden Bewußtseinsinhaltes einer Romangestalt mit dem Verbum in der dritten Person und im Praeteritum ohne vernehmbare persönliche Vermittlung des Erzählers gestattet, bezeichnet man wenig zutreffend als erlebte Rede, deren Begriffsumfang allerdings audi eine Form der Redewiedergabe einschließt" (Franz K. Stanzel, Episches Praeteritum, erlebte Rede, historisches Präsens. - DVjs 33, 19J9. S.7). Wir verwenden den Begriff der .erlebten Rede' ebenfalls in diesem weiten Sinn. 41
An einem Beispiel läßt sidi die Bedeutung dieses erzählerischen Mittels für K. darstellen. Es w a r , wie sie mit Frieda öfter besprachen, ihr Ehrgeiz, den H e r r n L a n d vermesser nidit zu stören und möglichst wenig R a u m zu braudien, sie machten in dieser Hinsicht, immer freilidi unter Lispeln und Kichern, verschiedene Versuche, verschränkten A r m e und Beine, kauerten sich gemeinsam zusammen, in der Dämmerung sah man in ihrer Ecke nur ein großes Knäuel. Trotzdem aber wußte man leider aus den Erfahrungen bei Tageslicht, daß es sehr a u f merksame Beobachter waren, immer zu K . herüberstarrten, sei es auch, daß sie in scheinbar kindlichem Spiel e t w a ihre H ä n d e als Fernrohre verwendeten und ähnlichen Unsinn trieben oder auch nur herüberblinzelten und hauptsächlich mit der Pflege ihrer Bärte beschäftigt schienen, an denen ihnen sehr viel gelegen w a r und die sie unzähligemal der L ä n g e und Fülle nach miteinander verglichen und von Frieda beurteilen ließen. (64)
Zunächst scheint es, als würde von den Gehilfen bloß neutral erzählt. Aber schon das „wie sie mit Frieda öfter besprachen" durchbricht die Distanz des Erzählten zu K. und bezieht es auf ihn. Das wird erst dann ganz deutlich, wenn die erzählende Haltung eindeutig durch die reflektierende ersetzt wird, die vom „man" ( = K.) ausgeht und in dessen Innerem das Erzählte und Erlebte sofort als „Erfahrungen" weiterverarbeitet wird. Damit wird auch ein ganz anderer Akzent gesetzt: Entgegen den erzählten Fakten vom Verhalten der Gehilfen erhalten sie einen feindlichen Charakter. Ihre Zurückhaltung und Rücksichtnahme erscheint K. als das genaue Gegenteil, als Belästigung und Aufsicht. Mit Hilfe der erlebten Rede »tritt der Dichter hinter die Reflektiertheit des Geschehens in den Personen." 44 Diese Reflektiertheit des Geschehens erscheint im Vorgang des Reflektiertwerdens nur in K. So erhält seine zunächst nur faktische Anwesenheit in allen Szenen eine die bloßen Tatsachen integrierende Wirkung. Die Gegenüberstellung von äußerem Ereignis und innerer Wirkung ist immer schon eine Verbindung von Faktum und Auslegung. Das Erzählte wird erst unter dem Aspekt seiner Bedeutsamkeit für K. wirklich verständlich. „Das Ganze i s t . . . eine Frage der Einstellung des Schriftstellers zur Wirklichkeit der Welt, die er darstellt."4« Durch die geistige Bewältigung der faktischen Realität der Wirklichkeit durch K. wird erst die Art von Wahrheit bestimmt, die der Text aus44
N o r b e r t Miller, Erlebte und verschleierte Rede. - Akzente j , 1 9 5 8 . S. 2 2 5 . Auerbach, S . 4 9 7 . D a es uns wesentlich darauf ankommt, den Charakter der Wirklichkeit zu erschließen, w i e er sidi für K . darstellt, müssen w i r unseren Begriff von Wirklichkeit über die bloße Faktizität hinaus erweitern und ihn als Modus der Begegnung dynamisch verstehen, wenn w i r seinen Sinn nidit v e r kürzen wollen. 45
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sprechen kann. Es gibt sie nur in der Form, daß K . sie im Moment des Denkens als solche begreift und die einzelnen Momente im Hinblick auf sich selbst miteinander verknüpft. Hier gilt in ausgezeichneter Weise Goethes Einsicht: „ M i t den Ansichten, wenn sie aus der Welt verschwinden, gehen o f t die Gegenstände selbst verloren. K a n n man dodi im höheren Sinne sagen, daß die Ansicht der Gegenstand sei." 48 D a m i t haben w i r den reflektierend-vermittelnden Modus des Interpretierens, wie w i r ihn in den methodischen Vorbemerkungen abzustecken versuchten, als die A r t und Weise gezeigt, wie sich K . selbst zu seiner W e l t verhält. K . hat sie nur, indem er sich interpretierend mit ihr und auf sie einzurichten versucht. D e r Interpret vollzieht dem R o m a n als G a n z e m gegenüber, was K . seiner U m w e l t gegenüber tut. Dieser konstituiert die oberste Verständnisebene im Roman, weil allein seine Gedanken deutlich und subjektiv beglaubigt werden. Diese eindeutige Zuordnung des Verständnisses auf K . legt zugleich die innere O r d n u n g des Werkes in seine Existenz - was nicht heißt, daß er sich dieser Ordnung b e w u ß t sein muß. M i t der Feststellung, daß es z w e i miteinander nicht harmonierende, aber in der D i f f e r e n z doch aufeinander bezogene Wirklichkeitsbereiche im R o m a n gibt, gelangen w i r aus den erzähltechnischen Überlegungen bereits zu den Ansätzen der Interpretation. Das liegt in der Struktur der H a u p t gestalt. „Es ist hier so, daß die Formen selbst etwas meinen, darin liegt ihr Gehalt." 4 7 W i r müssen also einer Interpretation des Textes das Verständnis K . s v o n seiner Welt, das komplexe Miteinander v o n einzelnen quasi-objektiven Wirklichkeitsbruchstücken und seiner sie ordnenden und verbindenden Auslegung zugrunde legen. D a es um K . als konstitutives Prinzip der Romaneinheit geht, werden alle Teilanalysen v o n Bereichen, die zunächst ohne ihn existieren, schließlich zum Material, die Hauptgestalt selbst zu verstehen.
Johann Wolfgang von Goethe, Maximen und Reflexionen. Hamburger Ausgabe XII. Nr. 517, S.436. 47 Clemens Lugowski, Die Form der Individualität im Roman. Studien zur inneren Struktur der frühen deutschen Prosaerzählung. 1932. S. 3. Diese Versdiränkung von Form und Gehalt setzt sich, wie wir sehen werden, bis in die innerste Problematik des Romans fort. 46
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Die Erzählform und das Problem des reflektierenden
Verhaltens
Die „rigorose Beschränkung der Perspektive auf die Optik des Helden" 48 impliziert für den Leser nicht nur „das Gefühl der Unausweichlichkeit, der magischen Fesselung an das alles ausfüllende, scheinbar absurde Geschehen",49 sondern zugleich damit die gegensätzliche Erkenntnis: „allein dadurch [durch die einsinnige Perspektive] wird das Geschehen niemals ,als solches', mit dem Anspruch der Objektivität, sondern immer nur als ,jeweiliges' in den Reflexionen des betroffenen Subjekts erkennbar." 50 Das „lückenlos strukturierte Kunstgebilde der Sprache" 51 verweist, indem es beides zugleich in sich enthält, sowohl das Vorverständnis des „Gefühls" wie die Erkenntnis ermöglicht, in der sich der Leser aus der gefangennehmenden Unmittelbarkeit des Textes zurückzieht, in diesem scheinbaren Gegensatz auf seine eigentümliche Problematik. Der psychologische Befund über den Leser, der geneigt ist, den Text als einliniges Erleben einer Quasi-Wirklichkeit von ungebrochenem Realitätscharakter unreflektiert auf sich wirken zu lassen, genügt nicht. Gerade der distanzierte Leser ist der neutrale Punkt, von dem her die scheinbar „heile, einheitliche" Welt 52 zuerst durchschaut werden muß, sofern man sie verstehen will. In der Diskrepanz zwischen der Perspektive K.s, die das strukturbildende Element der epischen Welt ist, und der darüberliegenden des Lesers, die von ihrer höheren Ebene aus die K.s zu einer möglichen, ganz subjektgebundenen relativiert, auch wenn allein sie dargestellt erscheint, wird die festgestellte Einsinnigkeit zum Problem, weil der Anspruch auf absolute Realität des perspektivisch Erzählten unter dem Gesichtspunkt möglicher Erkenntnis sofort wieder fraglich erscheint. Beißner hat dies wohl bemerkt, allein für ihn erledigt sich diese Schwierigkeit von selbst, weil er in Kafkas Werk den vollendeten Rückzug aus einer „äußeren Wirklichkeit" 53 sieht, von der her allein die dargestellte Wirklichkeit der Dichtung als eine besondere .Wirklichkeit' zu beschreiben und zu kritisieren wäre. Auch damit würde die grundsätzliche Distanz des Lesers zur dichtungsimmanenten ,Realität' nie aufgehoben; vielmehr bleibt diese auch als objektivierte Darstellung einer „Seelen-
48 49 50 51 52 53
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Jens, Statt einer Literaturgeschichte. S. 76. Beißner, Der Erzähler Franz Kafka. S. 35Í. Jens, S . 7 6 f . Beißner, Der Erzähler Franz Kafka. S. 42. Beißner, Der Erzähler Franz Kafka. S. 40. Beißner, Der Erzähler Franz Kafka. S. 27.
Wirklichkeit"54 im Sprachkunstwerk auf die Struktur ihrer Wirklichkeit als einer subjektiv konstituierten hin befragbar. Das Problem der Einsinnigkeit, die bereits ein gehaltliches Verständnis der Texte einschließt oder mindestens zu ihm hinführt, stellt sich ebenso auf der Ebene der erzählungsimmanenten Perspektive. „Die Einheit der Perspektive impliziert, strukturell im einzelnen gesehen, daß der Darstellungsgegenstand allein der subjektive Bewußtseinsraum und der sich darin deutende und unter Umständen verzerrende Außenraum der Wahrnehmung K.s ist." 55 Damit ist schon angedeutet, wie wenig die Bewußtseinswirklichkeit des Helden und seiner Welt eine einheitlich und bruchlos erlebte Realität enthält. Die dargestellte subjektive Erlebniswirklichkeit schließt sowohl das erlebende I c h ( = K.) wie die als,draußen' erfahrene Umwelt ein, und zwar notwendig in der Form, daß alles Erfassen und Begreifen durch dieses Ich bedeutet, den Bewußtseinsraum mit ursprünglich außersubjektiv vorgegebenen, aber erlebend anverwandelten Inhalten zu füllen. Das bedeutet zugleich: Erfassen, Deuten und Verzerren. Sofern jede Deutung des Helden in einem allein der Erzählfiktion nach ,realen' Wirklichkeitsraum geschieht, ist sie innerhalb dessen absolut gültig für ihn; da aber die Erlebnisrealität auch darin besteht, daß K. vor aller Deutung in irgendeiner Form auf eine noch unverstandene Außenwelt stößt, wird diese Deutung sofort als begrenzt und relativ durchsichtig. Sofern dieses Ich ( = K.) sidi in einer erlebten, durch sein Begreifen zusammengefaßten Welt befindet, hat er sie durch seine Deutung immer erst für sich konstituiert. „Erst durch mein eigenes gliederndes Denken ist Welt für midi wirklidi W e l t . . ." 5e In der Einsinnigkeit des Erzählens wird dabei nicht nur die Außenwelt im Medium des erlebend reflektierenden Ich gebrochen widergespiegelt, sondern dieses Ich setzt sich zu 54 Beißner, D e r Erzähler F r a n z K a f k a . S. 4 2 . Beißner hat die angebliche A b wendung v o n der „ W e l t und ihrer Wirklichkeit" (42) weiter interpretiert als Entdeckung des „inneren Mensdien als Gegenstand epischer Kunst, eine W e l t von nicht geringerer Ausdehnung und voller Möglichkeiten, und dazu eine Welt, deren Einheit und Einheitlichkeit unzerstörbar ist" (28). Die durchklingende Wertung schließt sidi deutlich an ähnliche Ganzheitsvorstellungen w i e die Emrichs an. Sie führt aber zu schnell v o n der gehaltlichen Problematik der ,Einsinnigkeit' ab und zum Verständnis der erzählten W e l t K a f k a s als subjektiver, aber objektiv im Kunstwerk realisierter Ganzheit, die noch symbolhaft auf die Idee der .heilen' W e l t verweist. 55
Fietz, S. 7 3 . W a l t e r Schulz, D a s Problem der absoluten Reflexion. 1 9 6 3 . und G e g e n w a r t H . 2 4 ) S. 2 3 . 56
(Wissenschaft
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sich selbst reflektierend in Beziehung. Beides ist eine Bewegung, die im denkenden Erfassen die Welt und das eigene Idi umschließt. Die „Verabsolutierung des einsamen subjektiven Erlebnisses als Darstellungsgegenstand" 57 schafft keine quasi objektive einheitliche Welt. Die einheitliche Struktur der erzählten Ganzheit ist etwas ganz anderes; sie ermöglicht gerade den Ausdruck der absoluten Inkongruenz von Idi und Welt, die in einem dauernden Prozeß des In-Beziehung-Setzens zueinander stehen. Die scheinbare Einheitlichkeit einer heilen Welt wird in der Reflexion auf sich selbst wie in der reflektierten Aneignung einer äußeren Welt aufgehoben. Der Einsinnigkeit des Erzählens entspricht als notwendige innere Begründung des Stilmittels der alles auf sidi reflektierend beziehende K. Gerade das Verhältnis von Ich und Welt wird so zum Problem. Indem sich die erzählte Welt von einem zentralen Idi her aufbaut, bleibt sie dodi in sich vieldeutig, da sie nur so verstehbar ist, wie sie in den jeweils durch die verschiedenen Situationen bestimmten Reflexionen erscheint. Das Vieldeutige als solches aber ist eindeutig besdireibbar nach der Struktur seines Entstehens. Als eine in bestimmter Weise gebaute, gemadite Ordnung ist sie auch in ihrer ,ambiguity' im Begriff faßbar. Das Verstehen ist damit an eine im Text implizierte Systematik gebunden. Man vermißt zwar zunächst ein eindeutiges Wert- und objektives Beziehungssystem,58 aber es wird ersetzt durdi eine bestimmte Struktur des Verhaltens in der jeweiligen Situation, dem allein erfaßbaren und als sinnvoll deutbaren Bruchstück einer nicht mehr fraglos gegebenen ganzen Wirklichkeit. Es gibt auch kein „im moralischen Sinne wertfreies System" 59 der individuellen Verhaltensnormen. Vielmehr hinterläßt der Verlust der objektiv fixierbaren ganzheitlidien Lebensordnung eine durch das Individuum im deutenden Erfassen nur mehr bruchstückhaft reproduzierte Welt, der es selbst auf einen begreifbaren Zusammenhang hin reflektierend gegenübersteht. Dieser erst gäbe dem jeweiligen total bestimmend gewordenen Ausschnitt der Welt einen Sinn. Eine Vielzahl von subjektiven Wertungen ersetzt so eine echte Wertordnung. Innerhalb des Bereiches subjektiver Denkformen aber stellt die nie aufgehobene Be57
Fietz, S. 75. Fietz, S. 75. Beißner beschreibt dies als „Verlegenheit des Erzählers um seinen Standort in einer auseinandergebrodienen und gottverlassenen Welt ohne Ordnung und gültiges Gesetz" (Der Erzähler Franz K a f k a . S. 27), meint aber, K a f k a habe diesen Zustand der Welt durdi die ausschließliche Beschreibung einer einheitlichen innerseelischen Welt überwunden - also im Ausweichen vor dem 59 Problem einer editen Beziehung zur Außenwelt. Das meint Fietz, S. 75. 58
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Ziehung des Idi in der Reflexion auf eine Welt, in der es sich befindet und die es zu begreifen gilt, zugleich den Versuch dar, eine ,objektive' Welt durch das Subjekt hindurch zu fixieren und darzustellen. Von der Art der Perspektive, ihrer implizierten Aussagefunktion her und im Hinblick auf ihre Bedeutung für das sidi in ihr darstellende Subjekt muß der Text beim Wort genommen werden, denn „man ist stets in' Gefahr, vor Kafka zu versagen, wenn man ihn nicht wörtlich nimmt." 80 Die einsinnige Selbstdarstellung des reflektierenden Subjekts, als das die Erzählform „auch in der dritten Person" 61 erscheint, enthält alle wesentliche Problematik des Welt- und Selbstverständnisses. Indem Kafka die Hauptgestalt des Romans in einer solchen dialektischen Position fixiert, provoziert er eine angemessene Methode der Interpretation. Die Phänomene der subjektiven Erlebniswelt K.s und ihre Beziehung aufeinander sind Probleme, die insgesamt die geistige Ordnung der im Roman ausgebreiteten Existenz bilden. Aus der Gesamtheit dieser Beziehungen, vermittelt durch die Reflexion des Interpreten über die Reflexionen K.s, stellt sich so erst her, was schließlich ,Wirklichkeit' im Roman genannt werden kann. Die nicht mehr vorauszusetzende Einheit und Totalität dieser ,Wirklichkeit' versucht also die Interpretation zu gewinnen. Ein „System abgezogener Begriffe" 62 ist in diesem Fall Träger und Sinn der ästhetischen Gestalt. Im Zentrum einer Interpretation unter diesen Gesichtspunkten soll der Roman ,Das Schloß' stehen. Dabei werden zu charakteristischen Einzelanalysen von Phänomenen immer wieder geschlossene Textstücke Kafkas herangezogen, an denen sidi in idealtypischer Form konzentriert zeigen läßt, was beim großen Roman nur einen Teilaspekt aufschließt. So verweist die Auslegung von Erzählungen und Erzählungsbrudistüdcen im Ganzen immer wieder auf den Roman zurück, seine Einheit stufenweise erhellend. Bei diesen einzelnen aus dem Roman entwickelten Schritten, in denen sich der Weg des Verständnisses vollzieht, wird sich aus der begrifflichen Formulierung der Einzelphänomene ergeben, wann und inwiefern man - über den Roman hinaus verweisend - Texte anderer Autoren heranziehen kann, um durdi sie Kafkas Dichtung vergleichend - distanzierend und spiegelnd zugleich - zu verdeutlichen und in historische Zusammenhänge einzuordnen. 63 60
Hans Mayer, K a f k a und kein Ende? In: Ansichten. Zur Literatur der Zeit. 61 1962. S. 66. Beißner, Der Erzähler Franz Kafka. S. 28. 62 Lukács, Theorie des Romans. S. 68. 63 Richard Brinkmann weist für das Phänomen der aussdiließlidi gestalteten Subjektivität des Bewußtseins, in die alle .Wirklichkeit' zurückgenommen ist,
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Die A r t unserer Interpretation leitet so von der Sache her zugleich den Versuch ab, zu der in den methodischen Überlegungen angesprochenen „Konvergenz einer neuen Kunst und einer neuen Wissenschaft" 64 einen konkreten Beitrag zu leisten, in dem Wissen um den Text sich als „perpetuierte Erkenntnis" 8 5 darstellt.
die zunächst überraschende - Herkunft aus der realistischen' Prosa des 19. Jahrhunderts nach: „Denn erst nachdem die Formen, in denen jene ,Gegenstands'Welt erfahren werden konnte, bis zu subtilster Differenziertheit ausgeschöpft waren, vermochte jener ermüdete Uberdruß an dieser Welt der Tatsachen und der Sinneserfahrungen aufkommen; und erst diese Ermüdung konnte das Faktum und das Problem der entschiedenen Subjektivität aller Erfahrung ins helle Bewußtsein heben und das Subjekt selbst und seine Beziehung zur Wirklichkeit . . . zum eigentlich interessanten Gegenstand der Dichtung werden lassen" (Wirklichkeit und Illusion, S. 332^). Diese Dialektik der Formen und der Bedeutung stellt damit audi für unseren Versuch eine literarhistorische Kontinuität her, die sich aus der Problementwicklung ergibt. 64 Erich Kahler, Untergang und Übergang der epischen Kunstform. - Die Neue Rundschau 64, 1953. S.42. 65 Szondi, S - 7 J .
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Die totale Situation: Κ . in der Welt des Romans
A n k u n f t und A u f n a h m e „Es w a r spät abends, als K . a n k a m " (9). So beginnt der Roman. D a m i t beginnt K . für den Leser zu existieren: als Ankommender. Diese erste Situation ist mehr als ein bloßer A n f a n g . A u s ihr entwickelt sich, was K . ist - und ihm gegenüber seine Welt. Sie ist modellhaft für alle weiteren, denn ihr Grundschema w i r d nidit mehr verändert. Deshalb können w i r sie grundsätzlicher interpretieren, als es in einem anderen R o m a n der Fall sein dürfte. K . kommt in einem D o r f an. A u f der Holzbrücke stehend, die v o n der Landstraße zu ihm hinführt, sieht er es v o r sich. „ D a s D o r f lag in tiefem Schnee" (9). Was ist das für ein D o r f ? Es ist unbezweifelbar in seiner Realität, wie es v o r K . liegt. A b e r trotz seiner unbezweifelten Vorhandenheit, die sich in der Begegnung mit K . erweist, ist es unwirklich. Im ganzen R o m a n w i r d es nidit in den weiteren Umkreis einer konkreten, bekannten Welt eingeordnet. Selbst die D o r f b e w o h n e r denken nidit über die Grenzen dieses Dorfes hinaus. Es steht so in keinem Zusammenhang mit einer es umgebenden Welt. 1 Es bleibt in einem unkonkreten, unfixierten Raum. A u ß e r ihm ist kein fester, greifbarer P u n k t da. Weder jetzt noch später w i r d deutlidi, daß die Landstraße K . eigentlich v o n einem ,Woher' zu einem ,Wohin' führen müßte. Es kommt auf gar nichts anderes an als auf die Existenz des Dorfes f ü r K . , und solange er sich in ihm befindet, gibt es keinen W e g aus ihm heraus. 2 Es ist und bleibt ein D o r f ohne Namen,
Einmal redet Frieda von „Südfrankreich", von „Spanien" (183), aber im Verhältnis zu diesen festen geographischen örtern liegt das Dorf umso unbestimmter im Irgendwo. 2 Adorno (Aufzeidinungen zu Kafka. - Die Neue Rundschau 66, 1955. S. 337) spridit von einem „raumlosen Raum", in dem alle Geschichten Kafkas spielen. Daß die Straße K. von irgendwo herführt, wird nidit sofort wichtig. Man könnte es aus dem Faktum der Ankunft K.s erschließen. Dieser Aspekt wird erst später von K. her bedeutsam. 1
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ohne Selbstgewißheit - eine bloß um ihrer Funktion für K . willen wichtige Größe. Es ist aber nicht ganz aus der Welt. Zumindest ist es gerade in seiner Isoliertheit der Ort des Romangeschehens. Es wird wichtig in dem Augenblick, als K . auf es trifft. Durch ihn tritt ein zweiter Punkt hinzu, der nicht vom Dorf her seine Existenz ableiten kann - wie die anderen Personen des Romans. Zu der einen unfesten Koordinate im Beziehungssystem des Romans, dem Dorf, tritt eine zweite, ebenfalls bisher unfixierte. Von diesem Moment an stellt sich zwischen beiden eine Beziehung her, die sie aufeinander festlegt, so, daß sich die Position des einen von der des anderen her bestimmen läßt. Vom Bewußtsein K.s aber, der das Dorf erblickt, geht diese Bestimmung der Beziehung aus. Es geht nicht um das Dorf selbst oder um K . allein, sondern um die Situation von K.s Ankunft in diesem Dorf. Wie das Dorf eine Funktion ist im Verhältnis zu K., durch den es fixiert wird, so steht es noch in einer anderen, ähnlichen Beziehung. Neben dem Dorf gibt es anscheinend irgendwo, im unbestimmten Raum des Nebels, ein Schloß. Das Dorf ist ihm in einer bestimmten Funktion fest zugeordnet. Es „ist Besitz des Schlosses" (9). Und dieses Schloß gehört dem „Herrn Grafen Westwest" (10), wie K . von einem Dorfbewohner erfährt. Damit scheint das Dorf doch festgelegt und definiert, als Eigentum mit einem Etikett versehen. Eine innere, sachliche Beziehung als Zugehörigkeit verspricht mehr zu leisten als die unbestimmte räumliche. Aber das Schloß bleibt wie sein Herr im ganzen Roman in der unbestimmten Nähe oder Ferne zum Dorf, in der es für K . zu Anfang existiert zu haben scheint.3 Von ihm wird nur geredet. Das, was so die Funktion des Dorfes eindeutig bestimmen könnte, bleibt im Dunkel von Vermutungen und Ansichten. Die scheinbar exaktere Bestimmung des Schlosses als dem Grafen Westwest gehörend erweist sich bei genauerem Zusehen als Verstärkung der Unbestimmtheit. Der Name des Grafen als Himmelsrichtung ist in einem Raum, der in keiner Weise anhand realer Punkte außerhalb des Dorfes ausmeßbar ist, wie eine Verhöhnung der Sicherheit, die er geben soll. Die Verdoppelung als Bekräftigungsformel potenziert die Unbestimmtheit. Die Kette der Beziehung, in die K . zu dem Dorf getreten ist, wird nur ins Unbestimmte verlängert. Das Schloß und der Graf am Ende dieses Zuordnungsversuchs sind letzte Instanz für das Dorf, wie aus der unbezweifelten Ansicht seiner Bewoh3
Wir werden später sehen, daß dies auch dort gilt, wo das Schloß selbst K. in den Blick kommt. Dabei entgleitet es ihm gerade wieder als Schloß (vgl. S. ιγ{. des Romans). 34
ner hervorgeht. Mit ihnen hört der Horizont der Dorfbewohner auf. 4 Solcher scheinbare Verweis über das Dorf hinaus bringt für K . keine zusätzliche Information, die auch sein Verständnis erweitern könnte. K . brachte ein Wissen um die Existenz des Schlosses schon mit. Noch bevor es ihm gegenüber erwähnt wird, deutet seine innere Erfahrung dessen Existenz an: „ . . . . auch nicht der schwächste Lichtschein deutete das große Schloß an" (9). Die eigene unbestimmte Gewißheit wird dadurch deutlich, daß bemerkt wird, wie wenig sie im Augenblick praktisch bestätigt werden kann. Für K., so muß man folgern, der von weit her kommt, ist der so weitgehend unbestimmte Raum, in den er von der Landstraße her eintritt, als unbestimmt durchschaubar. K . muß von der Welt her, aus der er kommt, bereits mehr wissen als er jetzt sehen kann; damit sind aber für ihn selbst beide Welten aufeinander bezogen. Der Interpret kann daraus den Schluß ziehen, daß es auf alles nicht Dargestellte gar nicht ankommt, auch wenn die ,konkrete' Welt, in der sich K . im Roman bewegt, noch so seltsam und unvollständig anmutet. Denn gerade das drüdtt eines mit größter Konsequenz aus: Nur das ist von dieser Welt wichtig, was K . erfährt, und zwar in eben der Unbestimmtheit, in der K . es erfährt. Daran wird mehr deutlich, als was als bloßes Faktum in der gegenwärtig erlebten Welt begegnet. Der Charakter dieser erlebten Welt als Ganzes stellt sich erst her, indem sich K . mit ihr auseinandersetzen muß. Es gibt keine Prädetermination dieser Welt für K., die von ihr selbst ausgehen würde. Nur K . hat so etwas wie eine vorgeprägte Natur aus der Zeit vor der Ankunft in dieser Welt, mit der er jetzt auf sie zutritt. 5 Das Dorf und alles, was mit ihm zusammenhängt, bestimmt deshalb die Situation K.s uneingeschränkt, weil es ihm als unbekanntes, ungeklärtes Stück Welt entgegentritt, das er erst zu erkennen und zu bewältigen hat. Auch daß da ein Schloß ist, ist zunächst nichts weiter als ein Gedanke K.s. K . muß die Unbestimmtheiten dieser Welt durch Bestimmungen ersetzen: Gerade in ihrer leeren Beliebigkeit stellt sie einen totalen Anspruch, erkannt zu werden, an den, der sich einmal in ihr befindet. Die um das Dorf zentrierte Welt und K . stehen so zueinander in einem Verhältnis gegenseitiger Herausforderung. K . als erkennendes Subjekt ist dabei das bewegende Moment in diesem Gegen- und Miteinander, die 4
Einmal wird von „Nachbardörfern" ( 2 5 1 ) gesprochen; sie bleiben aber ein totes Motiv. Durdi sie wird die Unbestimmtheit des Raumes nicht aufgehoben, sondern eher verstärkt. 5 Auf welche Art er vorgeprägt ist und welche Bedeutung seine Vergangenheit für ihn und den Roman hat, werden wir in einem anderen Zusammenhang erörtern.
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Koordinate, der die andere zugeordnet ist. Als Leerform, die erkannt und inhaltlich definiert werden muß, ist die Welt des Dorfes ausschließlich auf dieses erkennende Subjekt bezogen. Da es keinen offen auftretenden auktorialen Erzähler mehr gibt, der von außen über seine Personen verfügt, sondern er nur mehr die aufeinandertreffenden Wirklichkeitsbereidie arrangiert, indem er sie aus der Sicht K.s erfaßt und durch dessen Reflexionen vermittelt, kann auch der Charakter der Hauptgestalt, ihr äußerer Habitus und das, was sie als Person insgesamt kennzeichnet, nur so dargestellt werden, daß von der Wirklichkeit aus, die K . erfaßt, auf ihn zurückgeblendet wird und er so in indirekter Spiegelung die Konturen erhält, die ihn als eigenwertige Person ausweisen. Hier wird erneut die enge Verzahnung der beiden Wirklichkeitsbereiche deutlich, die einander, in K . und seiner Umwelt, gegenübertreten, denn auch K . wird erst durch die Kenntnisnahme dieser Welt von ihm, durch die Art und Weise, wie sie ihn begreift, konkret zur Gestalt — und das nur für diese Welt. Die erste Begegnung mit Menschen erweitert die abstrakte Situation im Verhältnis zum Dorf. Die Menschen im Dorf und K . stehen sich als Nichtwissende gegenüber, und so dient die erste Begegnung dem Abtasten des Gegenüber, wobei jeder sich selbst zugleich dem anderen darzustellen sucht. Dabei geht es zunächst um die Person K.s. D e r junge Mann, der sich als Schwarzer vorstellte, erzählte, wie er K . gefunden, einen M a n n in den Dreißigern, recht zerlumpt, auf einem Strohsack ruhig schlafend, mit einem winzigen Rucksack als Kopfkissen, einen Knotenstode in Reichweite. ( 1 2 )
Wenig später wird er als „gemeiner, lügnerischer Landstreicher" (13) gekennzeichnet; nach der Art seiner indirekten Beschreibung ist wirklich etwas Landstreicherhaftes an ihm. Er scheint zerlumpt, mit nur geringem Besitz, einem winzigen Rucksack, und dauernd auf der Hut vor drohenden Gefahren, selbst im Wirtshaus beim Schlafen mit einem „Knotenstock in Reichweite." K.s Äußere weist zurück in die Vergangenheit, auf den Weg, den er hat hinter sich bringen müssen. Aber nach dieser Vergangenheit wird nicht gefragt: Es geht den Leuten im Dorf, der ihn befragenden unteren Instanz, nur um das, was er im Verhältnis zum Dorf ist. Er ist ein unerwünschter Eindringling, der die bestehenden Ordnungen der Welt des Dorfes verletzt, indem er es betritt. Dieses D o r f ist Besitz des Schlosses, w e r hier wohnt oder übernaditet, wohnt oder übernachtet gewissermaßen im Schloß. N i e m a n d darf das ohne g r ä f -
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lidie Erlaubnis. Sie aber haben eine solche Erlaubnis nicht oder haben sie wenigstens nicht vorgezeigt. (9Í.) Dadurch, daß das Dorf als das des Grafen definiert ist, richtet sich seine Ordnung von ihm her aus. Selbst um ein Dörfler zu sein, um im Dorf zu leben, braucht man eine gräfliche Erlaubnis. K. als nicht zum Dorf gehörend verletzt also durch seine bloße Gegenwart die vertikale Beziehung des Dorfes zum Schloß, durch die es seinem Selbstverständnis nach bestimmt erscheint. Indem er ohne Erlaubnis zu übernachten versucht, setzt er die Macht des imaginären Grafen, zu entscheiden, wer ins Dorf gehört, außer Kraft. Damit wird aber die Selbstgewißheit des Dorfes, das des Grafen zu sein, fragwürdig, denn K. setzt durch sein Eindringen sich selbst in gewisser Weise an die Stelle dieser Autorität, die zuläßt oder abweist. Indem er sich im Wirtshaus für die Nacht einrichtet, entscheidet er frei über sich selbst und macht sich zum Zugehörigen, was schon durch die bloße Übernachtung erreicht wird. Diese Freiheit stände in bezug auf das Dorf nur dem Grafen zu. K. veränderte so den Charakter des Dorfes, entwertete seine Zugehörigkeit zur Instanz des Schlosses, ließe man ihn gewähren. Doch man wehrt sich gegen den Eindringling. Indem man ihn an den bestehenden Normen mißt - was K. nicht tut, denn es ist nicht klar, ob er sie überhaupt kennen kann - , kann man ihn als Landstreicher, als Rechtlosen entlarven; nach dem Recht des Dorfes besitzt er gar keines, weil er nicht zum Dorf gehört. K. reagiert eigenartig, auf zwei verschiedenen Ebenen. Die ersten Worte, die er ausspricht, sind: „In welches Dorf habe ich mich verirrt? Ist denn hier ein Schloß?" (io). K. scheint sich unwissend zu stellen. Das Dorf hat er vorher von der Brücke aus gesehen; das Schloß konnte er zwar nicht sehen, hatte aber dessen Existenz seinen Gedanken schon vorausgesetzt. Demnach muß er davon gewußt haben, bevor er auf seine Frage die erneute Bestätigung erhält: „ . . . das Schloß des Herrn Grafen Westwest" (io). Κ. ist nicht unwissend; seine Frage enthüllt bei genauem Zusehen eben den Grad von Informiertheit, den er selbst am Anfang schon zeigte. Sie gilt nicht der Existenz, sondern der Art des Dorfes; vom Schloß schien er zwar zu wissen, aber er konnte es selbst nicht sehen. Er sucht sich seiner durch die Frage zu vergewissern, und das erreicht er damit. Aber den Dörflern gegenüber verstellt er sich. Und er vergrößert den Eindruck der Unwissenheit und damit des Zufälligen seiner Anwesenheit im Dorf, indem er gegen alle Wahrscheinlichkeit naiv auf sein vermeintliches Ziel zueilt, sich die Erlaubnis zum Übernachten zu verschaffen. 37
Damit provoziert er nur seine sofortige Ausweisung. Aus seinem Verlangen, sich sofort die Genehmigung zu beschaffen, kann der Verhörende mit Recht schließen, er habe keine, und die Konsequenzen ziehen. In diesem Moment springt die Argumentation K.s um, als ihm der unmittelbare Zugang zum Schloß verwehrt wird. Damit desavouiert er zugleich nachträglich seine zur Schau gestellte Naivität, denn nun gibt er sich selbst die Legitimation, die man ihm zu verschaffen verweigert hat. Da man ihn nicht fraglos aufnimmt, gar nicht aufnehmen kann, ohne durch den Bruch der eigenen Gesetze die Existenz des Dorfes zu gefährden, sucht er sidi die Aufnahme zu erschleichen. Dazu greift K. zugleich zurück und voraus. Sonst aber lassen Sie es sich gesagt sein, daß idi der Landvermesser bin, den der Graf hat kommen lassen. Meine Gehilfen mit den Apparaten kommen morgen im Wagen nach. Ich wollte mir den Marsdi durch den Schnee nicht entgehen lassen, bin aber leider einigemal vom Weg abgeirrt und deshalb erst so spät angekommen. Daß es jetzt zu spät war, im Schloß mich zu melden, wußte ich sdion aus Eigenem, nodi vor Ihrer Belehrung, (ι i)
Damit unterstellt er sich selbst ein Wissen um Dorf, Schloß, Grafen und die Zusammenhänge und Regeln dieser Welt, das er vorher durch sein Verhalten geradezu geleugnet hatte. „Im einzelnen überraschte es K., im ganzen hatte er es freilich erwartet" ( n ) . K. hat nur grob umrissene Vorstellungen von dieser Welt mitgebracht, ein Bild im ganzen, nach dem er sich ausrichtet; die Einzelheiten aber sind ihm neu. Umso erstaunlicher ist es, wie präzise er nun von sich aus die Legitimation des Hierseins entwirft. Er leitet sie von etwas ab, was er gar nicht kennen kann: vom Grafen, der höchsten Instanz für das Dorf. Dessen Bewohnern schneidet er damit das Recht ab, über ihn zu befinden, wenn ihr eigener Herr ihn nicht nur nachträglich akzeptiert, sondern ihn selbst berufen hat. Mit den Dörflern stellt er sich auf eine Stufe der Unterordnung und baut zugleidi damit für sich eine bestimmte Existenz auf. Er nennt sich einen „Landvermesser" (11). Durch diesen Beruf weist er sich selbst für seine Vergangenheit einen festen Platz in der verlassenen Welt an. Er versucht die offene Stelle in der Vergangenheit auszufüllen. Für das Dorf ist seine Vergangenheit belanglos. Er ist für es nur insofern Landvermesser, als der Graf ihn als solchen berufen hat. Damit steht und fällt sein Landvermesserdasein und darin die positive Existenzform, die K. sich zu geben versucht, mit der Anerkennung durch das Dorf. Einem aber, der sich mit „Landstreichermanieren" (10) einführt und der sich nur durch die eigenen Worte legitimieren kann, glaubt man nicht. Was das Dorf glauben kann, muß ihm von oben gesagt werden. Nur die oberste 38
Instanz dieser festen Ordnungsbeziehung zwischen Dorf und Schloß das Schloß allgemein dem Dorf gegenüber wie der Graf K . gegenüber, der denn auch direkt auf jenen zusteuert - kann die offensichtliche Durchbrechung aller Regeln zulassen und damit auch K . unter seine Gewalt nehmen. Deshalb die Anfrage im Schloß. Offensichtlich jedoch stimmt etwas nicht mit K.s Landvermesserschaft und seiner Berufung. Die Gehilfen mit den Geräten, von denen er sprach, kommen nie an. Dafür erhält er zwei andere „Gehilfen" (29), die aus der Richtung „vom Schlosse her" kommen (25). Er kennt sie nicht, als sie an ihm vorbeilaufen. Audi wenn er sie nachträglich als seine alten Gehilfen akzeptiert, so doch nicht deshalb, weil sie es auch wirklich sind. ,Wie?' fragte K . ,Ihr seid meine alten Gehilfen, die ich nachkommen ließ, die ich erwarte?' Sie bejahten es. ,Das ist gut', sagte K . nadi einem Weilchen, ,es ist gut, daß ihr gekommen seid'. (29)
Aber sie haben keine Geräte, sie verstehen nichts von Landvermessung, und sie kamen, wie K . jetzt merkt, aus der Richtung des Schlosses (30). Damit fällt das erste Charakteristikum seines Landvermesserdaseins in sidi zusammen. Er kommt auch nie dazu, seinen vorgeblichen Beruf auszuüben. Als er als Schuldiener eingestellt wird, erwähnt der Lehrer nur noch einmal höhnisch, er könne die Beete dann ja besonders gut ziehen. Entscheidend für seine Anerkennung als Landvermesser ist nicht die Wirklichkeit dieses Berufes, sondern seine Beglaubigung von oben. „Das Schloß hatte ihn also zum Landvermesser ernannt" (13). Durch den „Bürochef selbst" (13) wird es dem anfragenden Schwarzer mitgeteilt. Damit ist K . für das Dorf zum Landvermesser geworden. Der „Herr Landvermesser" (13) erscheint nun nidit mehr als gemeiner Landstreicher. Frieda sagt später: „Was Sie betrifft, so weiß ich dodi alles, Sie sind der Landvermesser" (55). Es kommt ihr auf gar nichts weiter an, als daß K . allgemein jetzt im Dorf als der Landvermesser gilt.· So ist er zwar etwas, aber nur etwas für ihn höchst Zweifelhaftes. Zumindest er selbst durchschaut die Fragwürdigkeit nicht nur seiner Existenz als Landvermesser, sondern die seiner Aufnahme überhaupt. Erst beim zweiten Anruf wird er akzeptiert, beim ersten noch wird er als Betrüger zurückgewiesen (13). Das entsprach auch dem Eindruck der Dorfbewohner. Etwas kommt dazu. Die Verstellung beim ersten Versuch, sich die Legitimation für seinen Aufenthalt zu verschaffen, macht auch seinen zweiten Versuch unter diesen Umständen nicht glaubwürdiger. Das • „ N u r daß Sie als Landvermesser aufgenommen werden, lasse ich nicht z u " (96). D e r Vorsteher nimmt - für sich - diese A u f n a h m e nicht als vollzogen hin.
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vollständige Konzept, das er parat hat, nachdem er, sich naiv stellend, nicht weiterkommt, wird durch seinen Gebrauch als ein weiteres Täuschungsmittel entlarvt. Das Wichtigste geht aus K.s eigener Reaktion auf die Anerkennung durch das Schloß hervor. K . horchte auf. D a s Schloß hatte ihn also zum Landvermesser ernannt. D a s w a r einerseits ungünstig f ü r ihn, denn es zeigte, daß man im Schloß alles N ö t i g e über ihn wußte, die Kräfteverhältnisse abgewogen hatte und den K a m p f lächelnd aufnahm. Es w a r aber andererseits audi günstig, denn es bewies, seiner Meinung nadi, daß man ihn unterschätzte und daß er mehr Freiheit haben würde, als er hätte v o n vornherein hoffen dürfen. U n d wenn man glaubte, durch diese geistig gewiß überlegene Anerkennung seiner L a n d v e r messerschaft ihn dauernd in Schrecken halten zu können, so täuschte man sich; es überschauerte ihn leicht, das w a r aber alles, ( i 3 f . )
K. wird in eine sinnlose Funktion aufgenommen, denn alles Land ist bereits vermessen.7 Die Ordnung dieser Welt ist total durchorganisiert; K. paßt als Landvermesser gar nicht in sie hinein, weil er sie nur umstürzen könnte. 8 Die Bürokratie nimmt ihn so nur zum Schein als sinnvolles Glied in diese Ordnung auf, 9 wobei sich der Schein gegen K. selbst wendet und ihm seine Existenz als eine scheinhafte dauernd vor Augen führt. Das Schloß zeigt K. seine Überlegenheit, indem es ihn anerkennt. Er hat damit eigentlich nichts erreicht. Es überschauert ihn, weil er selbst die Kräfteverhältnisse durchschaut, und nur durdi einen Umkehrschluß von bloß logischer Qualität kann er aus der geringen Einschätzung, die er aus seiner Anerkennung herausliest, als Positivum für sich die Möglichkeit umso größerer Freiheit herausinterpretieren. Das Schloß erscheint ihm „geistig überlegen" und nimmt „den Kampf lächelnd" auf. Weshalb? K. weiß, daß diese Anerkennung nur eine scheinbare sein kann, weil er nur scheinbar ein Landvermesser ist. Das Schloß weiß „alles Nötige" über ihn: Man hat ihn durchschaut und macht ihm dies gerade dadurch klar, daß man ihm scheinbar recht gibt. Damit wird 7
D e r Vorsteher weist K . darauf hin (82). Im Zusammenhang mit der Berufung eines Landvermessers entsteht im D o r f schon Unruhe (93). 8
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D a ß er im D o r f , entgegen auch der Meinung des Vorstehers, als L a n d v e r messer gilt und als solcher angeredet w i r d (vom H e r r e n h o f w i r t S. 49, im G e spräch zwischen W i r t und Frieda S . $9, ja selbst von Unbekannten w i r d er so genannt (S. 22)), bleibt bloßes Meinen und zugleich Ersatz für seinen N a m e n K . , den er nidit genannt und den er mit dieser Selbstdefinition ersetzt hat. D a m i t bestimmt er sich selbst als ein Gebilde aus Meinung und Vorstellung.
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er auf seinem scheinbaren Redit festgenagelt und gerade in der Anerkennung auf Distanz gehalten. Indem man ihm die selbstgewählte Kennzeichnung „Landvermesser" überläßt, läßt man ihn sich vor seiner neuen Umwelt gerade bestimmen als das, was er nicht ist. Damit bleibt er selbst ein höchst zweifelhaftes Subjekt. Gerade indem er überall der „Landvermesser" ist, verharrt er in einer total sinnlosen Stellung. Nur zum Schein kann man etwas als das anerkennen, was es nicht ist. So spielt das Schloß mit ihm (wie es von K . aus scheinen muß): Es gewährt ihm diese Existenz in ironisch-wissender Überlegenheit. Nicht einmal „K." ist er so für seine Umwelt, nur der Träger dieser sinnlosen Funktion des Landvermessens. Als Person verliert er zwar nichts, aber er gewinnt auch nichts. Die Anerkennung gibt ihm nichts zu der Tatsache hinzu, daß er nur vor sich selber etwas ist: K., eine Abbreviatur für Unausgeführtes. Das Attribut ,Landvermesser' macht ihn bloß fungibel innerhalb der Welt von Dorf und Schloß; wenn er somit auch keinen festen Platz in ihr erreicht hat, so steht er doch wenigstens in einer unsicheren Beziehung zu ihr. Er ist gewissermaßen ,ins Spiel' gekommen, in ein Spiel, in dem es, wie wir gesehen haben, keine festen Größen gibt, sondern nur relative Zuordnungen. K . gibt sich erst als Landvermesser aus, als das Stichwort „Landstreichermanieren" (10) ihm gegenüber gefallen ist. Darauf erfolgt die Umstellung K.s, die sich eben diesen Eindruck von ihm zunutze macht, ihn bloß ins Positive kehrt. Er braucht nur das Wort etwas anders auszulegen. Auch als Landstreicher ist er „Landvermesser" - mit seinen Füßen mißt er den Weg, den er zurücklegt. Es ist nur ein Messen ohne System, ohne Sinn und Ziel und grundsätzlich auch ohne Ende, im Ganzen so sinnlos wie seine Existenz als Landvermesser. Von K . bleibt nur sein Wille übrig, ins Schloß zu gelangen. Knüpft er sich zuerst auch an sein Landvermesserdasein, bleibt er doch den ganzen Roman hindurch erhalten. Das Schloß, in weiter Ferne für K., bleibt sein Ziel. Der Grund dessen ist vorläufig verborgen.
Exkurs: Sartres Begriff der Existenz und K. Mit unseren Überlegungen zur Situation K.s haben wir den Text Kafkas in einem Zusammenhang interpretiert, der von der Sache her mit Sartres Analyse der menschlichen Existenz und ihrer Beziehung zum menschlichen Bewußtsein weitgehend konvergiert. 41
Für Sartre befindet sich der Mensch immer in „Situation" (51), 1 0 und diese konkrete Bedingtheit ist die Grundlage aller Erfahrungen, die er mit sich und seiner W e l t machen kann. D a s heißt: D e r Mensdi ist nicht etwas , ν ο η N a t u r ' aus, bevor er in der W e l t erscheint, sondern nur durch die Begegnung mit ihr w i r d er zu dem, was er ist. „ . . . der Mensch ist nichts anderes als w o z u er sich macht" (4). K . muß sidi selbst nodi zu etwas machen. A l s falscher Landvermesser ist er nur die negative Form einer Existenz. Für ihn, dessen Selbstbewußtsein sich positiv vorläufig nur als den erfaßt haben kann, der ins Schloß will, gilt, daß er vorerst nur als Fiktion, als Entwurf bestimmt ist -
vom
Widerstand der Welt bedingt, die sich seinen Ansprüchen widersetzt. Diesem Entwurf hinkt er mit seiner Wirklichkeit als negativer Existenzform hinterher; er muß sie erst noch auf sein Ziel hin, um dieses z u erreichen, aufgeben. „ D e r Mensch ist nichts anderes als sein E n t w u r f , er existiert nur in dem Maße, in welchem er sich verwirklicht, er ist also nichts anderes als die Gesamtheit seiner Handlungen, nichts anderes als sein Leben" (38). 11 K . ist -
zumindest in diesem Stadium des Romans
-
eigentlich noch nicht; er existiert vorerst nur als erschließbarer unvollendeter E n t w u r f , als Möglichkeit. Sartre versteht den Menschen als Selbstbewußtsein v o m cartesianischen C o g i t o her. Sein „Ausgangspunkt i s t . . . die Subjektivität des Individuums" (44), aber nicht eine, die sich allein in sich, in einer abstrakten V e r n u n f t bewegt, sondern die sich in der Welt durch das erfährt, was sich ihr als ein Anderes entgegenstellt. Durdi das ,Ich denke* kommen wir - im Gegensatz zu der Philosophie von Descartes, im Gegensatz zu der Philosophie Kants - zu uns selber im Angesicht des andern, und der andere ist für uns ebenso sicher wie wir selbst. Somit entdeckt der Mensdi, der sich durch das Cogito unmittelbar erfaßt, auch alle andern, und er entdeckt sie als die Bedingung seiner Existenz. (46)12 Jean-Paul Sartre, Ist der Existentialismus ein Humanismus? 1947 (Seitenzahlen audi der folgenden Zitate im Text). 11 Das ist die Folgerung aus dem, was Sartre vorher ausführlich entwickelt hat. Der Existentialismus „erklärt, daß, wenn Gott nidit existiert, es mindestens ein Wesen gibt, bei dem die Existenz der Essenz vorausgeht, ein Wesen, das existiert, bevor es durch irgendeinen Begriff definiert werden kann, und daß dieses Wesen der Mensch . . . ist. . . . Es bedeutet, daß der Mensdi zuerst existiert, sich begegnet, in der Welt auftaucht und sich danach definiert" (i}f.). Die Lage K.s als Fremder, der in die Situation seiner Begegnung völlig eingebunden ist und sidi erst aus ihr heraus verstehen kann, wird von Sartres Sdiluß auf die Situation des Mensdien genau getroffen. 12 „Er gibt sich Rechenschaft, daß er nichts sein kann (im Sinne, wie man sagt, einer ist geistreich, einer ist bösartig, einer ist eifersüchtig [man könnte hinzu10
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Die Bedingung der eigenen Existenz durch die Wirklichkeit des Gegenüber ist K. nicht statisch und unveränderbar gegeben, sondern nur in der subjektiven Reflexion, durch die persönliche Erfahrung vermittelt, wirksam. Die Erfahrung der Bedingtheit hat Sartre präzise beschrieben; im Unterschied zur Situation K.s aber wird diese Bedingtheit zuerst durch den Mitmenschen gesetzt und nicht so sehr durch die Verfassung des ganzen Weltzusammenhanges, in dem K. sich erfährt. Schließlich bezieht Sartre die Bedingung der Erfahrbarkeit überhaupt, die Reflexion als Vermittlung des Anderen, in sein Denken nicht mit ein. Er verharrt auf der Selbstgewißheit des Ich, daß sich nicht auf einen dialektischen Bezug zu seinem Gegenüber einläßt und dessen „absolute Wahrheit" (4j) gerade darin besteht, „sich selbst ohne Vermittlung zu erfassen" (45). Diese partielle Identifikation im Phänomen der Bedingtheit durch das Gegenüber trifft K. nur in diesem anfänglichen Stadium der Aufhellung seiner ganzen Existenz - so, wie er im Moment beschrieben worden ist. Aus dem Entwurfcharakter seiner ersten positiven Definition, daß er ins Schloß will, geht schon hervor, daß er bei dieser Festlegung auf die negative Existenzform des Landvermessers nicht stehenbleiben kann, weil sie seinem Entwurf entgegensteht. Was für K. als ein notwendiger Schritt nach vorn erscheint, beschreibt Sartre als permanente Lebensform, in deren Wiederholung ihre grundsätzliche Überwindung weder wünschbar noch möglich erscheint: „Der Mensch ist dauernd außerhalb seiner selbst; indem er sich entwirft und indem er sich außerhalb seiner verliert, macht er, daß der Mensch existiert, und auf der andern Seite, indem er transzendente Ziele verfolgt, kann er existieren; der Mensch ist diese Überschreitung . . . " ( 6 j ) l s
fügen: einer ist fremd!]), außer wenn die andern ihn als solchen anerkennen" (4¿f.). Sartre verbindet dies mit der gleichzeitigen Feststellung der Freiheit des Anderen durch den Menschen, der sich selbst erfährt. Auf das Problem der Freiheit werden wir in einem anderen Zusammenhang noch einzugehen haben, wenn es von K. her aufgerollt werden muß. 13 Dieser vergleichende Exkurs in die Philosophie gewann zum ersten Mal aus einer engen sachlichen Affinität in bezug auf ein bestimmtes Problem die Möglichkeit, zum Verständnis des dichterischen Textes Gesichtspunkte zu gewinnen, die in ihm angelegt, aber nicht auf den ersten Blick sichtbar sind.
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Der Ansatz der Reflexion in der Rahmenordnung der konkreten Existenzbedingungen K.s reflektierendes Verhalten hängt aufs engste mit seinem grundsätzlichen Verhältnis zur Welt zusammen. Nur von ihm aus ist es in seiner Notwendigkeit, seiner Form und in seiner Problematik zu erfassen. Für ihn, der sich selbst erst in der Auseinandersetzung mit seiner Umwelt, total in die jeweilige Situation hineingestellt und offen allem, was ihm widerfährt, als Ich bestimmen kann, ist das Mittel der Reflexion der Modus der Selbsterhaltung, der begreifenden Anpassung. Als Fremder, der nichts Genaues von seiner Welt weiß, muß er Wissen zu erwerben versuchen, um die Konturen der unbekannten Welt für sich zu schärfen und sich in ihr einrichten zu können, nachdem er ihre innere Ordnung, ihr System begriffen hat. Als ,Unbehauster' muß K. sich durch diesen Versuch der Orientierung einen festen Platz zu verschaffen suchen, um das Fremdsein zu überwinden. Damit richtet er sich in erster Linie gegen das Dorf als falsches Ziel, das ihn von seiner eigentlichen Aufgabe nur abzuhalten scheint. In Wahrheit liegt sein Ziel jenseits der direkten Erfahrbarkeit dieser Dorfwelt, mit der er sich herumzuschlagen hat. Seine Erkenntnis zielt auf etwas - im Verhältnis zum erkennbaren Dorfbereidi - Absolutes: auf das Schloß als letzte Instanz, die man wenigstens denkend im Griff haben kann, als unbezweifelten Bürgen dieser kleineren Welt, die ganz auf das Schloß ausgerichtet ist. Dieses Ziel hat, als totaler, logisdi fixierter Gegenpunkt zu seiner erfahrenen konkreten Situation, utopischen Charakter. Seine Ausrichtung darauf verhindert, daß er jemals im Dorf sein Ziel erblicken und so endgültig ankommen kann. Er steht immer in der Spannung einer unüberbrückten Differenz zu der Welt, wie er sie begreift, und damit auch zu sich selbst, der er nur als ein Teil in dieser Welt erscheint. Er ist nidit zuletzt deshalb fremd, unwissend, strebend, weil er es sein will, weil er an seinem utopischen Ziel festhält. Er kann sich nie einordnen, weil seine anfängliche Intention über diese Welt, wie sie ihm begegnet, hinausreicht und sein Streben deshalb Unendlichkeitscharakter erhält. Für K. hat diese Welt einen Hindernischarakter. Sie steht zwischen ihm und seinem Ziel; er muß durdi sie hindurch, aber nur über den Weg durch sie kann er zu seinem Ziel kommen, denn es ist das Schloß dieses Dorfes, und nur in dieser Beziehung weiß er von ihm. Deshalb geht der Reflexion auf das edite Ziel die voraus, die versucht, die entgegenstehenden Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Damit wird K. notwendig jeweils auf Zwischenziele verwiesen. Der ganze Weg zerfällt in einzelne Etap-
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pen, an denen sich konkret das reflektierende Verhalten K.s aufweisen läßt. Indem die Welt sich K . als eine Kette von Hindernissen gegenüberstellt, zwingt sie ihn zu einer Existenz permanenter dynamischer Auseinandersetzung, ohne ihm dabei aber eine absolute Ich-Gewißheit zu verschaffen. Audi hier bleibt er in Relation zu seinen jeweiligen Hindernissen, ein Subjekt, das sich nur in der Entäußerung hat. 14 Diese Relation wird vom Verhalten K.s, durch sein Bewußtsein im einzelnen in ganz bestimmten Formen gesteuert. Durch die vorgegebene subjektiv bestimmte Beziehung zu seiner Welt wird die geistige Auseinandersetzung provoziert. Sie geht aus von den mitgebrachten Vorstellungen und Resten der vorausgegangenen Existenz in der Vergangenheit. Wenige Einzelheiten geben einige Hinweise auf die Art der Vergangenheit, die hinter K . liegt. Sein Äußeres, seine Ausrüstung, mit der er im Dorf ankommt, ließen auf einen langen Weg schließen. K . spricht einmal von „Frau und Kind" (14), die er verlassen hat. Aber die Wahrheit dieser Angabe bleibt zweifelhaft, gerade weil sie K . seinem Gesprächspartner begreiflich machen möchte. Ebenso kann er sich damit nur vom Verdacht der Landstreicherei, den der Sohn des Unterkastellans am Telefon aussprach, reinigen wollen. Weil diese Worte nicht nur das Innenleben K.s widerspiegeln, sondern für einen anderen bestimmt sind und seine Meinung von K . bestimmen sollen, muß man an ihnen als objektiver Aussage zweifeln. Als ,objektiv' kann aufgrund der Erzählhaltung nur gelten, was allein die Unmittelbarkeit des inneren Erlebens der Personen, vor allem K.s, ausspricht, aber nicht als Mittel gegen die Umwelt eingesetzt werden kann. „Flüchtig erinnerte sich K . an sein Heimatstädtchen" (18), heißt es. Dadurch setzt K . sich vom Dorfe ab, das nidit seine Heimat ist. Den Dorfbewohnern aber kann er als Bürger eben dieses Heimatstädtchens auftreten, als einer, der aus einer ebensolchen geordneten Welt kommt wie der ihren. „Die lange Wanderschaft" (18), die „Tage" (20) gedauert hat, bezeichnet
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Sartre hat diese Situation präzise analysiert: „ E s gibt kein absolutes H i n dernis, sondern das Hindernis enthüllt seinen Feindseligkeitskoeffizienten durch die frei erfundenen und frei übernommenen Verfahren, es zu überwinden, hindurch . . . - S o enthüllt mir die W e l t durch Feindseligkeitskoeffizienten das A u s maß, in dem ich auf die Ziele, die idi mir setze, W e r t lege, dergestalt, daß ich niemals wissen kann, ob sie mir einen Aufschluß über mich oder über sich gibt" (Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie. 1 9 6 2 . S. 6 1 9 ) .
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den Abstand zum früheren Dasein, aus dem er nur einen kleinen „ W ä schevorrat " (121) mitgebracht hat. 1 5 A l s wichtigstes bringt er seine Vorstellung von der Existenz des Schlosses mit, die, wie w i r gesehen haben, z w a r nicht genau bestimmbar ist, aber als grundsätzliche Zielausrichtung ihn gänzlich bestimmt. Dieses Vorauswissen, daß da ein Schloß sei - er sieht später auch etwas, was das äußere Bild dieser Vorstellung nachliefert (17f.)
- , ist das entscheidende Binde-
glied zwischen Vergangenheit und Gegenwart. O b j e k t i v ist es in seinem Sinn oder seinem Inhalt nicht feststellbar, aber als subjektiv ergriffene intentionale Ausrichtung determiniert es K . s Denken in allen Bereichen. In dem M a ß e , wie seine Vergangenheit konkret nur K . s Absprung von ihr zeigt, verweist sie auf seine Z u k u n f t , die vorerst nur als E n t w u r f , als vorgestelltes Ziel von seinem Bewußtsein vorausgesetzt wird. K . s Denken spielt sich zwischen diesen beiden Horizonten in dem ständigen Versuch ab, dieser Z u k u n f t , die mit dem Wunsch, ins Schloß z u gelangen, umschrieben wird, näher z u kommen. A l l e Gegenwart erhält damit den Charakter des Übergangs, des z u Überwindenden, und in dem Maße, wie sie sich der Verwirklichung des Zieles entgegenstellt, erscheint sie K . als feindlich. So w i r d unausgesprochen durch die Erinnerung an seine Militärzeit, „diese glücklichen Zeiten" (29), die Gegenwart im gleichen A t e m z u g als .unglücklich' abgestempelt. Diese Erinnerungen wie die Vorausprojektion eines Zieles sind nichts als gedachte Wirklichkeit, eine Wirklichkeit, die zugleich die seines eigenen Lebens ausmacht. D e m Interpreten bleibt so z u zeigen, wie in Einzelheiten die hier zusammenfassend vorausgenommenen Kennzeichnungen K.s Zustandekommen, wie diese der gedachten Wirklichkeit ganz verhaftete Gestalt innerhalb eines durch Vergangenheit und Z u k u n f t umgrenzten Bereiches sich mit der ihr als .objektiv' wirklich begegnenden U m w e l t auseinandersetzt. N u r darin w i r d K.s reflektierendes Verhalten faßbar, d a ß es sich konkret in der Auseinandersetzung mit der U m w e l t vollzieht. 1 8 15 Das wird an dem Vergleich der Bilder des Schlosses mit denen seiner Heimat in der Erinnerung deutlich. Auf dieses zentrale Problem werden wir in einem anderen Zusammenhang ausführlicher eingehen. Hier kommt es zunächst nur auf das Phänomen an, daß K. von seiner Vergangenheit her mit einem Entwurf - der Vorstellung vom Schloß und dem Willen, zu ihm zu gelangen - lebt und als Fremder durdi sie mit den Attributen einer eigenwertigen Person ausgestattet ist, wenn audi nur für sidi und wie er sidi den Anderen zu erkennen gibt. 16 Es gibt nur einen Ansatz zu einer .absoluten' Reflexion, der aber nicht von K. verwirklicht wird und ihm gerade als extremste Möglichkeit des Scheiterns erscheint. Es ist der Versuch Amalias, auf den wir später eingehen werden. K. ist
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Das Phänomen der Reflexion ist von allem Anfang an formal - von der Erzählperspektive bedingt - und inhaltlich - jeweils auf begrifflich fixierbare Problembereiche bezogen - eines der Wechselwirkung von Subjekt und Objekt, Individuum und Welt.
nur scheinbar ein ,absolutes' Idi, wie er in unserer Darstellung zu Anfang erscheinen konnte, -wo wir ihn zunächst aus hermeneutischen Gründen isolieren mußten, um die Art seiner Verbindung mit seiner Welt von ihm her bezeichnen zu können. Beides läßt sich nicht wirklich voneinander trennen, sondern nur im Miteinander begreifen.
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K.S Strebenschar akter Ein neuer Faust? K., der ins Schloß will, ist immerfort auf dem Wege dahin, ohne es doch zu erreichen. Er strebt nach ihm. Max Brod hat den in diesem Zusammenhang interessanten Versuch unternommen, K . mit Faust in Beziehung zu setzen. Brod sieht die wesentliche Parallele im Strebenscharakter der beiden Gestalten. 1 An der Art und Weise, wie sich bei beiden dieses Streben als Verhaltensweise äußert und auf welchem Hintergrund es erfolgt, können wir im Vergleich Kriterien gewinnen, die bei der Erkenntnis K.s weiterhelfen. K.s Ziel liegt ihm fern hinter der Welt des Dorfes, die ihn aufhält. D a s alles w a r nicht allzu sdimerzlidi, es gehörte in die Reihe der fortwährenden kleinen Leiden des Lebens, es w a r nichts im Vergleich zu dem, w a s K . erstrebte, und er w a r nidit hergekommen, um ein Leben in Ehren und Frieden zu führen. ( 2 0 3 )
K . versucht sich damit über die Widerstände hinwegzutrösten, die sich ihm immer wieder entgegenstellen. Er will nicht an den Leiden dei Augenblicks hängenbleiben, um sein Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Diesem unbedingten Streben ordnet er auch die (als Möglichkeiten erwogenen) positiven Seiten des Lebens wie „Ehre" und „Frieden" unter. Suchte er Frieden, so wäre sein Streben erledigt und sein Ziel wäre keines mehr für ihn. Und Faust? 1 „ M i t diesem (allerdings sehr entfernten und ironisch gleichsam auf ein M i n i mum reduzierten) A n k l a n g an Goethes ,Wer immer strebend sich bemüht, den dürfen [sie!] w i r erlösen' - sollte also das W e r k enden, das man w o h l als F r a n z K a f k a s Faust-Dichtung bezeichnen kann. Freilich ist es ein Faust in absichtlich bescheidenem, ja dürftigem G e w ä n d e und mit der wesentlichen Modifikation, daß diesem neuen Faust nicht die Sehnsucht nach den letzten Zielen und äußersten Erkenntnissen der Menschheit treibt, sondern das Bedürfnis nach den primitivsten Lebensvoraussetzungen, nach Einwurzelung in Beruf und Heim, nach Eingliederung in die Gemeinschaft" ( N a c h w o r t zu ,Das Schloß', S . 4 8 2 ) . Wie wenig B r o d mit seinem letzten S a t z das Richtige trifft, w i r d sich zeigen.
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Werd' ich beruhigt je midi auf ein Faulbett legen, So sei es gleidi um midi getan! Kannst du midi sdimeidielnd je belügen, Daß idi mir selbst gefallen mag, Kannst du midi mit Genuß betrügen, Das sei für midi der letzte Tag! Die Wette biet' ich! Werd' ich zum Augenblicke sagen: Verweile dodi! du bist so schön! Dann magst du mich in Fesseln schlagen, Dann will idi gern zugrunde gehn! 8
Faust geht mit Mephisto die Wette ein, sich nie im Genuß des Augenblicks zu verlieren und damit seine Suche nach dem, „was die Welt / Im Innersten zusammenhält", 3 aufzugeben und sich selbst, seine innerste Natur zu verleugnen. Beider, Fausts und K.s Ziel liegt jenseits der unbedingten Hingabe an die Welt, wie sie ihr im Augenblick begegnen können. Beide sind ihrem eigenen Streben unaufhebbar verpflichtet. Es bestimmt sie ganz. Audi K.s Ziel führt ihn über die Beruhigung im jeweils Erreichten der unmittelbaren Gegenwart hinaus auf ein für ihn quasi absolutes Ziel. . . . denn nidit Klamms Nähe an sich war ihm das Erstrebenswerte, sondern daß er, K., nur er, kein anderer mit seinen, mit keines anderen Wünsdien an Klamm herankam und an ihn herankam, nidit um bei ihm zu ruhen, sondern um an ihm vorbeizukommen, weiter, ins Sdiloß. ( 1 5 1 )
Damit aber ist die Gemeinsamkeit Fausts mit K . auch schon erschöpft; umso stärker drängen sich die Gegensätze hervor. 4 Faustens „Wo fass' ich dich, unendliche Natur" 6 stellt ihn und sein Streben in den sinnvoll geordneten Zusammenhang eines Kosmos, den er fraglos als gegeben voraussetzen kann. Ihm selbst als „Übermenschen"6 ist sein Weg darin vorgezeichnet, dodi beschreitet er ihn aus eigener Verantwortung und in geistiger Freiheit. Für K . dagegen ergibt sich sein durchgehaltenes Streben, ins Schloß zu kommen, wider alle menschlichpraktische Vernunft als apriorischer Zwang, dem er unterliegt, weil er an seine Situation als Fremder, Unwissender total gebunden ist und sie nidit selbst schaffen oder auswählen kann: „Das Gespräch mit Hans hatte ihm neue, zugegebenermaßen unwahrscheinliche, völlig grundlose, aber nicht mehr zu vergessende Hoffnungen gemacht" (203). 2
J . W. v. Goethe, Faust. Hamburger Ausgabe Bd. III. S. J7. Vers 1692fr. Vers 382f. 4 Wir reduzieren hier den Komplex ,Faust' auf wenige Grundzüge, die uns für einen kurzen vergleichenden Blick genügen müssen. 5 6 Vers 45 j . Vers 490. 3
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Κ. ist als Fremdkörper in der Welt, in der er zum Streben verurteilt ist, dem Ziel seines Strebens nicht schon fraglos zugeordnet - wie Faust zum Kosmos seiner Welt, der eben durch seine Geschöpflichkeit immer schon der seine und als von ihm zu erkennender geschaffen ist. , . . . zu den Bauern gehöre idi nidit und ins Schloß wohl audi nicht.' . Z w i schen den Bauern und dem Schloß ist kein großer Unterschied', sagte der Lehrer. ,Mag sein', sagte K . , ,das ändert an meiner L a g e nichts.' (20)
Die bestimmenden Faktoren seiner Welt sind ihm absolut fremd, wie er ihnen, und so strebt er nicht, weil er es aufgrund seiner Natur positiv muß, weil er mehr werden und erkennen kann, sondern weil er überhaupt erst etwas werden kann, wenn er seine negative Existenzform verloren hat. Das wiederum scheint erst geschehen zu können, wenn er sein Ziel erreicht hat. Nicht nur durch die weit größere Distanz des Zieles und seinen anderen Charakter hebt sich K. von Faust ab, sondern auch durch sein Verhältnis zu den Mitteln, mit denen er es zu erreichen sucht. K. braucht ein Vehikel nach dem anderen, und in dem Maße, wie er sie nach seinen Vorstellungen einsetzen will, erweisen sie sich als untauglich. Ein Mißverständnis w a r es also gewesen, ein gemeines, niedriges M i ß v e r ständnis, und K . hatte sich ihm ganz hingegeben. . . . Jetzt in der N a d i t , unbeachtet, hätte er ins Schloß dringen wollen, v o n Barnabas geführt, aber von jenem Barnabas, wie er ihm bisher erschienen w a r . . . (46f.)
K.s Glauben wird jeweils von der Wirklichkeit widerlegt, aber er formiert sie nicht nach seinem Willen. Auf ein entferntes Ziel konzentriert, scheitert er schon im Vordergründigen, an seinen Mitteln, nidit an seinem eigenen Erfolg oder seinem inneren Unbefriedigtsein auf dem Höhepunkt des jeweils zu Erreichenden wie Faust. K. strebt nicht über jedes Ziel hinaus, sondern strebt, weil er nie sein Ziel erreicht. K. existiert in einer beschränkten, nur von seinen subjektiven Voraussetzungen her erfahrbaren und deutbaren Welt; er findet in ihr kein sinnvolles, von sidi hei erfülltes, »objektives' Gegenüber. N u r in seiner Erfahrung ist es ihm gegeben. Es ist nie die Welt als Ganzes, wie sie Faust wenigstens in Gedanken mühelos umgreift, die er dabei in seiner Erfahrung hat; es sind immer nur Bruchstücke, die er selbst - wie Barnabas - als Mittel, als Zwischenglieder benutzt, die ihn an das Ende der Kette seiner Erwartungen bringen sollen. Zunächst versucht er, über Frieda zu Klamm, über diesen ins Schloß zu gelangen. Als dieser Weg nicht weiterführt, verzettelt er sich und verliert die Richtung. Er springt von einer Person zur anderen, von Frieda zu Barnabas und seiner Familie, zu Hans, Bürgel, 50
Pepi, der Wirtin. Diese reihen sich nicht als Stufen hintereinander, sondern stehen unverbunden einer nadi dem anderen. Ein Ansatz bleibt so erfolglos wie der nächste. K . gerät immer wieder in Gefahr, sich am erfüllten Augenblick genügen zu lassen. K . w a r , wenn er manchmal nur an diese Dinge dachte, nicht weit davon entfernt, seine L a g e zufriedenstellend zu finden, obwohl er sich immer nach solchen A n f ä l l e n des Behagens schnell sagte, daß gerade darin die G e f a h r lag. (80)
Sein Verhalten als Streben gewinnt dadurch einen zwiespältigen Zug, der der Eindeutigkeit des Zwanges, mit der K . darauf festgelegt ist, zuwiderläuft. U n d nun überlegte er in langen Gesprächen mit K . , welche Schwierigkeiten zu überwinden wären. E s waren, beim besten Willen Hansens, fast unüberwindliche Schwierigkeiten. ( 1 9 7 )
Genau das gilt für K . Es ist eine Einsicht in die konkreten Möglichkeiten seines Strebens. Was er nur als Mittel gebrauchte, um ins Schloß zu kommen, Frieda, wendet sich schließlich sogar gegen ihn. Sie belastet ihn mit „Schuld" (328). Das Verhältnis zu Frieda sieht er später als verpaßte Bewährungsmöglichkeit an. 7 Der Grad der inneren Auseinandersetzung mit dieser Einsicht zeigt an, wie sehr er von seiner Beziehung zu einem Zwischenziel, das nicht einmal mehr etwas verspricht, immer noch bestimmt ist. Woran er gescheitert ist, beherrscht ihn mehr, als was er positiv erwartet. Die Zwischenziele werden so zu selbständigen Instanzen, die ihn überwältigen, indem sie sein Bewußtsein determinieren. Sie fixieren ihn auf angeblich verpaßte Gelegenheiten. Schon sein grundsätzliches Verhalten seinem Ziel gegenüber war von Anbeginn an zwiespältig. Nicht erst durch sein Scheitern entzieht es sich ihm. . . . eine Glocke" hört er, „die wenigstens einen Augenblick lang das H e r z erbeben ließ, so als drohe ihm - denn auch schmerzlich w a r der K l a n g - die E r f ü l l u n g dessen, wonach er sich unsicher sehnte. (ζγ{.)
Die Wirklichkeit, die sein Ziel in seinem Innern hat, ist also nicht eindeutig, sondern zusammengesetzt aus Widersprüchen, aus auseinanderstrebenden Empfindungen. Damit steht er ihm zugleich zu- und abgewandt gegenüber. Das Streben nach ihm ist deshalb problematisch in dem Maße, wie er selbst als innerlich Gespaltener auf es ausgerichtet ist. In7
S. 4 0 3 Í . des Romans. Í1
dem Κ. ununterbrochen sein Streben durdizuhalten versucht, bleibt er in einem innerlich gebrochenen Zustand, der sowohl .objektiv', durch die Vagheit der Vorstellungen von dem, was ist, wie subjektiv, durch seine paradoxe Bewußtseinshaltung, begründet ist. Das Streben in Permanenz verharrt zugleich immer im Status der Unentschiedenheit, der Möglichkeit. Sofern K. sich als Strebenden begreift, kann er über diese Möglidikeitsexistenz nicht hinauskommen. Der seinen Intentionen entsprechende Hindernischarakter der Welt zerlegt sein Streben in einzelne Abschnitte, hinter deren jedem sich ihm eine neue Möglichkeit zu bieten scheint. Jeder neue Schritt der Reflexion erweitert, wie wir sehen werden, nur diesen Bereich des Möglidben. K.s Existenz erscheint im Ganzen als eine Leerform von Möglichkeit, von seinem Ziel her gesehen. Der Begriff des Möglichen begleitet alle von der Reflexion erfaßten Einzelbereidie von K.s Leben. An einem paradigmatischen Text, wo die Möglichkeit selbst ins Zentrum gerüdkt wird, können wir grundsätzlicher zeigen, wie diese Möglichkeitsexistenz vom Erleben des Subjekts bestimmt wird und als Form der Welt einen scheinbar objektiven Charakter bekommt.
Paradigma der Möglidikeitsexistenz: ,Auf der Galerie' Der Titel der Geschichte gibt zugleich die Perspektive an, unter der sie gesehen wird. Es ist die des entfernten Zuschauers,8 der einen guten Überblick über die zu seinen Füßen liegende Menge besitzt. Er ist ein distanzierter, aus dem Geschehen anscheinend herausgehobener Betrachter, aber sein Ort, die Galerie, ist als konzentrischer Kreis auf das ZenDie Kunstgeschichte bietet einen wichtigen optischen Anhaltspunkt für die Interpretation. Günther Anders (Kafka. Pro und contra. Die Prozeß-Unterlagen. 2. Auflage 1963. S. 16) ist er unseres Wissens als erstem aufgefallen. Es ist das Gemälde Der Zirkus von Georges Seurat, das 1890/91 entstand und sich im Besitz des Louvre befindet (abgedruckt bei Heinz Ladendorf, Kafka und die Kunstgeschichte I. Wallraf-Richartz-Jahrbuch 23, 1961. S. 303®.) Kafka war 1910 mit Max und Otto Brod für etwa eine Woche in Paris, ebenso mit Max Brod allein 1911. Während der „sechs" Tage (Klaus Wagenbach, Franz Kafka. Eine Biographie seiner Jugend 1 8 8 3 - 1 9 1 2 . I9$8. S. 170) war Kafka „an zwei Tagen" (Wagenbach, S. 170) im Louvre. Manche seiner Eindrücke registriert er im Tagebuch, S. 617fr. Das Bild zeigt eine Kunstreiterin in Ballerinenpose auf einem Pferd in der Manege; rechts hinter ihr, ihr zugewandt, steht der Chef, mit der Peitsche unter den erhobenen Hinterhufen des Pferdes knallend. Im Hintergrund sieht man
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trum des Geschehens in der Manege zugeordnet. Der Zuschauer gehört innerhalb des festen Ortes und Raumes des Gesdiehnisablaufs zum Ganzen dessen, was sich ereignet: Das Wichtigste ereignet sich ,auf der Galerie'. Die Geschichte wirkt durch die äußerste Geschlossenheit ihrer Form packend und mitreißend. Sie besteht aus zwei einander auf den ersten Blick in Form und Aussage völlig entgegengesetzten Satzgebilden. Der erste Satzkomplex ist ein irrationaler Bedingungssatz; seine zwei Teile - ein Nebensatz mit drei Partizipialkonstruktionen und ein Hauptsatz - entsprechen sich darin. Durch die Vielzahl aneinandergereihter partizipialer Konstruktionen, die bis zur Klimax des Subjektwechsels ausdrucksteigernd aufeinander folgen, wird der Leser in eine gleichförmige, nicht-enden-wollende Bewegung hineingezogen, aus der ihn erst das Satzende wieder entläßt. „Wenn" - „dann": 9 in diese Klammer einer Kausalverbindung oder einer zumindest im Zeitablauf deutlich werdenden Folgerichtigkeit ist der erste Satz fest eingeschlossen. Die Gewalt des formalen Eindrucks wird um ein Vielfaches durch den inhaltlichen Vorgang verstärkt. Die erbarmungslos im Kreis umhergejagte Kunstreiterin, die sich unter der Peitsche des „Chefs" ewig darin drehen zu müssen scheint, wird in der sprachlichen Form durch die vielen gereihten Adjektive und vor allem durdi das Gleichmaß der meist mit zwei Hebungen versehenen sinntragenden Wörter realisiert. Vorgangs- und Satzrhythmus stützen sich gegenseitig. Der erste Satz ist in zwei Teile gegliedert, wobei der zweite auf den ersten notwendig folgt: im höchsten Punkt des inneren Spannungsbogens bricht der Gedankengang des imaginierten Beobachters auf der Galerie aus der als reine Möglichkeit im Konjunktiv geschilderten, aber mit größter Intensität dargestellten Beobachtung um in die - im gleichen Modus des Irrealen - angeschlossene Reaktion ,eines jungen Galeriebesuchers*. Das handelnde Eingreifen des unpersönlich, überindividuell allgemein angesprochenen jungen Menschen erfolgt direkt aus der vorher einen Teil des Einganges, links daneben die ansteigenden Sitzreihen. Diese sind durdi zwei Zwischenwände konzentrisch zur Manege in zwei Platzkategorien unterteilt. Oberhalb der zweiten Trennwand sitzen die Galeriebesucher, einer mit den Armen auf der Brüstung. „Seurats Zirkusbild . . . wirkt wie eine Illustration zu Kafkas Erzählung", und „Kafkas Aussage kann beinahe für eine Beschreibung von Seurats Bild genommen werden" (Ladendorf, S. 304) : Ladendorf setzt die beiden Werke als nahezu auswechselbar an. Es fragt sich, ob die Sprache sidi mit der vordergründigen Bildbeschreibung begnügt. 9 E 132. Alle weiteren Zitate dieses Kapitels sind dieser Seite entnommen. 53
verdeutlichten Einsicht in die Vorgänge in der Manege. Als „ein junger Galeriebesucher" bezieht er sich - bei aller formalen Irrealität des vorausgehenden Geschehens - zurück auf die Überschrift. Durch sie wurde die Position des Trägers dieser irrealen Gedankenfolge festgelegt; von der Galerie aus ist ein solcher Blick in die Manege möglich, wie er hier in die Sprache umgeformt und zum in sich geschlossenen Bild objektiviert erscheint. Der junge Mann wird so gesehen, als ob seine Handlung auf die Beobachtung mit innerer Notwendigkeit folgt, aber in der zugrundeliegenden Sicht des Geschehens als einer puren Möglichkeit - als welche sie jedenfalls formal durch den Konjunktiv erscheint - ist sie als Teil des (Satz-)Ganzen selbst nicht mehr als eine mögliche Reaktion. Inhaltlich drückt dieser Kreislauf eine negative Sicht des Vorganges in der Manege mit erbarmungsloser Konsequenz aus. Ein Mensch steht, festgehalten von der mitleidlosen Instanz eines „Chef", der auf eine den Beherrschten übergreifende, aber ihn vergewaltigende Ordnung hinzuweisen scheint, inmitten eines sinnlosen, weil „in die immerfort weiter sich öffnende graue Zukunft" sich fortsetzenden Kreislaufs, der sein Leben damit ganz ausfüllt. Mit der „Kunstreiterin" steht ein Mensch als Künstler in diesem „Spiel" - seine Kunst ist, daß er sein Leben ganz auf diesem Spiel aufbaut. Wie es damit für ihn ausgeht, so ist sein Leben bestimmt. Dieser Mensch inmitten des sinnlos-ewigen Kreislaufs seines Lebens ist wie zum Teil eines maschinellen Vorgangs geworden, in dem die Freiheit des Spiels zu mechanistisch-ausweglosem Determinismus geworden ist, „unter dem Brausen des Orchesters und der Ventilatoren", beklatscht von Händen, „die eigentlich Dampfhämmer sind." Die imaginäre, nicht einmal in der Möglichkeitsperspektive des inneren Blickes verwirklichte Erlösung durch das „Halt!" des jungen Mannes geht „durch die Fanfaren des sich immer anpassenden Orchesters" ; der Ruf würde sich nicht durchsetzen können. Die Kunstreiterin, die der Peitsche des Chefs gehorcht, paßt sich an wie das Orchester. Es besteht keine Hoffnung, je von diesem Elend, diesem Grauen erlöst zu werden. Die Reaktion des jungen Mannes geschieht - formal im Konjunktiv dem ersten Vorgang entsprechend - als verzweifeltes persönliches Handeln aus dieser Einsicht. Er selbst steht innerhalb der erlebten Realität dieses Bildes und handelte aus ihm, riefe er sein „Halt!". Er als Galeriebesucher würde dieses Bild dann als subjektiv wahr erleben und aus seiner Wahrnehmung reagieren, indem er in das Bild eingreift. Für den, der Galeriebesucher und Manege gleichzeitig überblickt, ist damit durch das irrationale Bild und das mögliche Verhalten des Gale54
riebesudiers ein in sich geschlossenes Ereignis umrissen, in dem Eindruck und Aktion zueinander passen. Die mögliche Aktion bleibt zwar eine bloße Möglichkeit, aber der schwere Akzent, der schon hier auf der Reaktion des Galeriebesuchers liegt, macht deutlich, daß es weder um die Kunstreiterin geht noch um das, was im Indikativ passiert, audi wenn die formal irreale Situation des ersten Satzes durch die formal reale des zweiten anscheinend widerlegt wird. Die ganze Erzählung ist auf den Beobachter „auf der Galerie" angelegt, auf seine Innerlichkeit, auf die in ihm angelegten Perspektiven. Die erste wie audi die zweite Sicht des Geschehens gehen von ihm aus. Dazu ist der zweite Teil der Erzählung zu betrachten. Wie der erste, so steht auch der zweite Satz in einer festen Klammer: „da es aber nicht so ist" - „da dies so ist"; darin werden Beobachtung und Folge zusammengeschlossen, wie im ersten Satz auf dem Höhepunkt des Erlebens der Umschlag in die persönlidie Reaktion erfolgte. Dieser zweite Satz ist formal im Indikativ gehalten, erscheint so inhaltlich real. Wenn die dauernde Kreisbewegung, von der der erste Satz sprach, durch wenige Kommata eher unterstrichen als gehemmt wurde, so wird nun dieser Eindruck durch häufigen Gebrauch des Semikolons auch sprachlich im zweiten Satz in sein Gegenteil verkehrt. Das eine lange Satzgebilde, das auch hier noch nicht aufgegeben ist, wird in viele kürzere, inhaltlich auch allein verständliche Sätze zerlegt, die dem Ganzen den Eindruck einer aus vielen eigenrhythmisdien Teilen bestehenden maßvollen Ordnung geben. Die nicht endenwollende kreisförmige Bewegung ohne Ziel und Sinn ist in der real erscheinenden Perspektive zu einem harmonischen Wachstum innerhalb eines sinnvoll begrenzten, in Erfüllung mündenden Vorgangs verwandelt. Sämtlidie Adjektive des ersten Satzes wie „hinfällig", „erbarmungslos", „lungensüchtig" sind nahezu in ihr Gegenteil verkehrt, in „schön", „geliebt", „stolz", „hingebungsvoll" etc. Entscheidend ist die Wandlung im Verhältnis der Kunstreiterin zum Chef. Er ist vom „erbarmungslosen" zum „hingebungsvoll ihre Augen" suchenden geworden, zum Diener an ihr und ihrer Kunst, die er nicht einmal mehr ganz zu begreifen scheint, so sehr steht er jetzt in ihrem Bann wie sie vorher in seiner Gewalt. Der Chef ist zugleich zum Kern des beobachteten Vorgangs geworden. An ihm, an seinen Handlungen und Gesten, zeigt sich der Wandel. Mit dem Wechsel der vorgangsimmanenten Perspektive der Schilderung hat sich der Gesamteindruck vom Negativen zum ebenso stark Positiven verwandelt. Neben dem im ersten Teil ausgedrückten furchtbaren Kreislauf nimmt sich das „Glück", in dem der zweite Satz gipfelt - als Vollendung des Vorgangs in der Manege - , fast $5
unwirklich aus. Dieser Wandel erweist sich, auf die Figur des Erlebenden auf der Galerie als das integrierende Zentrum der beiden gegensätzlichen Eindrücke bezogen, als grundlegender Wandel im Menschen auf der Galerie, in seinem subjektiven Erlebnishorizont. Umso erstaunlicher ist, daß er auf die positive innere Aussage des zweiten Satzes von einer sinnerfüllten Harmonie der Existenz der Kunstreiterin in der Manege nicht entsprechend und angemessen reagiert - nämlich ebenso positiv. Das erlebende Subjekt „weint", „im Schlußmarsch wie in einem schweren Traum versinkend." Die Beziehung dieses Schlußmarsdies zum Orchester, das mit seiner Musik im ersten Teil wesentlich zur Form der sinnentleerten maschinenartigen menschlichen Existenz beitrug, 10 ist deutlich: Den verschiedenen Sehweisen des Vorganges in der Manege liegt nur ein Ereignis zugrunde, so daß das Phänomen gleich bleibt, nur die Erlebnisqualität sich ändert. Im zweiten Teil heißt der Chef das Orchester vor dem entscheidenden Moment schweigen: das assoziiert den Schlußteil des zweiten Satzes an das im ersten Teil Geschilderte. Trotz der sprachlich ausschließlich realisierten Irrealität des ersten Bildes steht der Galeriebesucher ausschließlich unter dessen Eindruck. Die Sdiwere seines Traums widerlegt die Grazie, die beschwingt-erfüllte Glückhaftigkeit des zweiten Bildes. Der Schlußmarsch lenkt die Gefühle des Menschen auf der Galerie - und sein Weinen macht deutlich, wie sehr er von Gefühlen bestimmt wird - auf den ersten, irrationalen Vorgang. Sein irrational bestimmtes Innere schließt sich fugenlos an die irrationale Aussage des ersten Satzes an. So wird durch die Reaktion des Galeriebesuchers, die formal wirklich erfolgt, aber inhaltlich das erste Gesdiehen aufnimmt, durch das jenseits aller Ratio liegende Gefühl die formale Einheit des Erzählungsganzen hergestellt, wie sie schon in der Perspektivensetzung des Titels angelegt war. Beide so uneinheitlich nebeneinander stehenden Teile werden zu einem Erlebnisganzen zusammengefügt. Erlebte Möglichkeit und das wirkungslose Bild des realen Vorganges sind in der Gleichzeitigkeit des menschlichen Inneren aufgehoben. Für den Galeriebesucher aber schlägt das eine Bild als Erlebnisrealität das andere aus dem Felde. Sein Dasein ist vor allem von dem düsteren 10
Die Musik „scheint sich vom medianischen Drehen eines Ventilators nidit viel zu unterscheiden" (42). „Ventilator und Dampfhammer und die daran sich knüpfenden Assoziationen unterstreichen den Gesamteindrudi des Motorischen und Leblosen" (Hermann Glaser, Franz K a f k a ,Auf der Galerie'. In: Interpretationen moderner Prosa. Hg. von der Fachgruppe Deutsdi-Gesdiidite im Bayerischen Philologenverband. 3. Auflage 1957. S. 43).
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ersten, dem als irreal dargestellten Bild des Geschehens bestimmt. Er weint um dessentwillen, was er im Bild der Möglichkeit eröffnet sieht, was er für sich als bestimmend erfährt. „Da es aber nicht so ist", wird durdi das Erlebnis das Sein, wie es ist, durdi die in ihm enthaltene, vom Beobachter erlebte Möglichkeit des Gegenbildes ersetzt, die den Charakter der Wirklichkeit bildet, wie sie für den Beobachter gilt. Das Bild selbst erhält seinen Aussagewert erst durch die Perspektive des Beobachters, der es als seine innere Erfahrung zur ihn bestimmenden Wirklichkeit erhebt. Sein Weinen ist nicht Mitleid, sondern Identifikation. „Wie in einem schweren Traum versinkend" reagiert er nidit in Beziehung auf die Kunstreiterin, sondern auf sich selbst: nicht aus dem Traum heraus, sondern indem er in ihn, in seine unbewußten eigenen Tiefen zurücksinkt. Was er erlebt, ist als Seinsmöglichkeit in ihm angelegt, wie er durch seine Reaktion bezeugt. In den Bildern des ersten Satzes, die er als Möglichkeit gesehen hat und die er erlebend in sich aufnimmt, lebt er sie zugleich schon vorausschauend, identifizierend und verwirklichend. Sein Dasein, wie es in seinem Erleben realisiert wird, ist eine Möglichkeitsexistenz, ohne Halt und Sinn in einer objektiven, unabhängig von ihm bestehenden Wirklichkeit, an der er sich festhalten könnte. Er lebt als das, was er aus sich macht, rein aus seiner Subjektivität und der durdi sie anverwandelten Wirklichkeit. Er lebt aus seiner Seinsmöglidikeit, „ohne es zu wissen." Unbewußt, lebt er auf der Grenze von rationaler und irrationaler Welt. Was er klar sehen kann, erfaßt er nicht als Wahrheit, weil das Geschehene im Erleben umgeprägt und von der miterlebten Möglichkeit des Gegenbildes her entwertet wird. Durch die Intensität seines gegenüber der gesehenen Welt engagierten Gefühls wird das subjektive Erleben als bloße Möglichkeit, als umgewerteter Modus des Wirklichen zum Lebensinhalt. Hier wird die Möglichkeit, ganz aus der eigenen Subjektivität zu leben, auf die Spitze getrieben, weil sie den Charakter der Wirklichkeit im ganzen umformt. Die Möglichkeit bleibt nidit mehr aufhebbar, weil sie unmittelbar ins gelebte Leben der Gestalt eingeht und von ihr nicht mehr in der Reflexion auf sie als bloße Möglichkeit begriffen, kritisiert und überwunden werden kann. K. selbst ist von Anfang an durdi sein Streben in der Möglichkeitsexistenz, die sich von der Welt und im Miteinander erst bestimmen muß. Sein permanentes Streben geht jedoch gerade über die einzelne Möglichkeit hinaus, indem er sie als nichtig durchschaut.
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K.S Fremdheit
Die Anerkennung als Landvermesser hatte K . im Grunde nur eines bestätigt: daß er fremd ist. Wie sein Streben die Fremdheit seinem Ziel, dem Schloß, gegenüber zeigt, so wird er im Dorf direkt als Fremder verstanden und verhält sich dort entsprechend. Seine Fremdheit ist zunächst die, daß er als unbestimmtes Wesen, als Leerform im Dorf erscheint. Obwohl er als Landvermesser angeredet wird, ist er den Dorfbewohnern gerade in dieser scheinbaren Bestimmung fremd, denn er ist damit nichts, was zu ihrem schon vermessenen Lebensbereich gehören könnte. Der Lehrer rechnet ihn unter die Fremden (19); der Herrenhofwirt charakterisiert ihn als einen, der „nach Art eines Fremden" (49) fragt. Die Wirtin umreißt seine Situation als Fremder so scharf wie eben möglich: Sie sind nidit aus dem Sdiloß, Sie sind nidit aus dem Dorfe, Sie sind nidits. Leider aber sind Sie dodi etwas, ein Fremder, einer, der überzählig und überall im Weg ist, einer, wegen dessen man immerfort Scherereien h a t . . . (6,f.)
Für das Dorf ist das im wörtlichsten Sinne „nichts", was nicht aus dem engen Kreis der Beziehung Dorf-Sdiloß stammt. Über diesen Horizont hinaus gibt es nichts, was an sich einen Wert hätte; man begreift K. nicht als Person, um seiner selbst willen, sondern nur als Störung, als einen Fremdkörper im eigenen eng umgrenzten Lebensbereich. Insofern hat er auch im Verhältnis zu den Dorfbewohnern (zunächst insgesamt) nur einen funktionalen Wert als etwas, womit man, da es nun einmal da ist, ohne größere Schwierigkeiten fertigwerden muß. Um K.s Fremdheit genauer zu charakterisieren, müssen wir zum Teil wieder zurückgreifen. Seine Beziehung zu seiner Welt wird nicht nur durch den allgemeinen Grundzug des Fremdseins bestimmt, sondern im einzelnen durch die Art und Weise, wie sich das Bewußtsein der Fremdheit in Formen des Verhaltens seiner Umwelt gegenüber umsetzt, wie sich aus seinem eigenen Selbstbewußtsein die Beziehung zu seiner Welt gestaltet.
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Unwissenheit Für die W e l t des Dorfes, die ihn als Fremden begreift, verschiebt sich der A k z e n t dieser Fremdheit gerade in dem M a ß e , wie K . sich darum bemüht, weniger ,fremd* zu wirken und zu sein. Was er auch anstellt, auf welchen Wegen auch immer er mit dem Schloß in Verbindung zu kommen sucht, immer wieder w i r d ihm vorgehalten, wie unwissend er sei. Diese seine Unwissenheit formuliert seine Fremdheit um als Problem des Bewußtseins, das sidi als unangemessen dem gegenüber erkennen muß, was es erkennen will. A u s dieser Welt schallt es ihm als Edio seines Bemühens entgegen. Nur deshalb sage idi es Ihnen, daß Sie hinsichtlidi der hiesigen Verhältnisse entsetzlidi unwissend sind, der Kopf schwirrt einem, wenn man Ihnen zuhört, und wenn man das, was Sie sagen und meinen, in Gedanken mit der wirklichen Lage vergleicht. (78) Diese Worte der Wirtin zu K . , nachdem er versucht hat, die Barnabassche Familie als Druckmittel gegen Frieda auszuspielen, treffen K . nidit nur f ü r den Moment. Sie sprechen seine Unwissenheit auf der richtigen Ebene an. Entsdieidend f ü r den Eindruck der Unwissenheit ist, was K . ,sagt und meint' - darauf reflektiert wieder die Wirtin und durchschaut es als Zeichen seiner Unwissenheit. Nicht allein also durch seine bloße Existenz, sondern durch die A r t , wie sein Verhalten als bewußtseinsgesteuert erkennbar ist, erscheint er als unwissend: Sein Sagen und Meinen zielt an den wahren Verhältnissen - zumindest wie sie dem jeweiligen Gegenüber erscheinen - vorbei. Wohin Sie auch kommen, bleiben Sie sidi dessen bewußt, daß Sie hier der Unwissendste sind, und seien Sie vorsichtig. (78) Die Wirtin versucht damit K . in einem M a ß e auf seine Fremdheit und Unwissenheit festzulegen, wie K . sie umgekehrt f ü r sich gerade überwinden muß. K . als Fall f ü r die Behörden stellt sidi ebenso dar. D e r Dorfvorsteher demonstriert es K . an dessen eigenem Fall, wie er unter den amtlichen Umständen seiner eigenen Sache unwissend gegenübersteht. Alle diese Berührungen sind nur scheinbar, Sie aber halten sie infolge Ihrer Unkenntnis der Verhältnisse für wirklich. (99) D a m i t w i r d K . bestätigt, daß er den Medianismus der behördlichen V e r fahren nicht durchschaut und schon gar nicht z u seinen Gunsten lenken kann. Schließlich versucht er diesem zentralen Problem auszuweichen und es durch den verstärkten Einsatz privater Beziehungen zu umgehen. 59
Κ. wird sich der Tatsache bewußt, über sich selbst in seiner Lage, als Fall für die Behörde, nichts wirklich zu wissen. Irgendwie im Zusammenhang damit fiel ihm ein, w i e sidi die Wirtin bemüht hatte, ihn dem Protokoll gefügig zu machen, wie er aber standgehalten hatte. Es w a r freilich keine offene Bemühung, im geheimen hatte sie ihn gleichzeitig v o m Protokoll fortgezerrt; sdiließlidi wußte man nidit, ob man standgehalten oder nachgegeben hatte. ( 1 5 9 )
K. wird, wenn er sich rückschauend in der Auseinandersetzung betrachtet, seiner selbst nicht mehr sicher. In der Weise, wie er die ihm begegnende Wirklichkeit nicht eindeutig erfassen kann, verliert er auch die Fähigkeit, sich selbst in der Auseinandersetzung mit ihr zu begreifen. Er beginnt sich fremd zu werden. Damit hat er aber keinen festen Standpunkt mehr für seinen nächsten Schritt, denn er kann den vorangegangenen nicht mehr als Schritt auf einem bestimmten Weg einkalkulieren. K.s Unwissenheit ist nicht so sehr eine in bezug auf Fakten, sondern eine Differenz im Meinen und Glauben: Sogar der Vorsteher gibt nur Erwägungen und Vermutungen von Dingen, die er nicht genau kennt. 1 Die seiner Unwissenheit entgegengesetzte Gewißheit ist selbst vorgebliches Wissen und beruht nur in der Kraft der Behauptung, die beim Dorfvorsteher, der wegen seiner Stellung als sachverständig gelten könnte, naturgemäß größer ist als beim Fremden. Wissen besteht hier nicht in der Handhabung und dem Gebrauch von Dingen mit konkreter Gegenständlichkeit, sondern im richtigen Umgang mit Menschen, ihren Ansichten und Lebensformen. Unwissenheit bedeutet, verschiedene Meinungen und Ansichten, ein anderes Bewußtsein haben.
Vorstellungen und Pläne K.s Unwissenheit ist von Anfang an in der Art seiner Intentionen, seiner Zielgerichtetheit eingeschlossen. Abgesehen von der Vorstellung vom Schloß scheint K. noch mit anderen Vorstellungen und Plänen im Dorf anzukommen. ,Ich kenne den G r a f e n nodi nicht*, sagte K . , ,er soll gute Arbeit gut bezahlen, ist das w a h r ? Wenn man, w i e idi, so weit von F r a u und K i n d reist, dann will man auch etwas heimbringen.' ( 1 4 )
Woraufhin K. sich orientieren will, ist ihm anscheinend klar. Jedenfalls gibt er deutlich Entschlossenheit und Zielstrebigkeit zu erkennen. Beides 1
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V g l . S. 82 - 1 0 3 des Romans.
aber ist auch taktisch bedingt, denn er will den Wirt beeindrucken und zum Reden bringen. Er versucht mit seinen unzureichenden Informationen genauere über das Schloß hervorzulocken. ,Das ist nodi nicht sicher* sagte K., ,erst muß idi erfahren, was für eine Arbeit man für mich hat. Sollte idi zum Beispiel hier unten arbeiten, dann wird es auch vernünftiger sein, hier unten zu wohnen. Audi fürchte ich, daß mir das Leben oben im Schlosse nicht zusagen würde.' (15)
Hier zeigt sich in aller Zielstrebigkeit K.s Schwäche. Sicher ist nur die Beteuerung, er wolle Erfolg haben. Alles übrige sind Überlegungen, die durch ihre Konkretheit den Eindruck von Wissen und Sicherheit machen sollen - obwohl doch K. bemerkt hat, daß seine angebliche Landvermesserschaft durchschaut wurde. Seine Pläne verdecken nur seine Unwissenheit; auch sie umspielen nur variable Möglichkeiten. Der feste Wille, in das geahnte oder gewußte Schloß zu gelangen, ist allein sicher, weil K. bis zum Schluß des Romans immer noch danach strebt. Die Methode, seine Unwissenheit zu überwinden und sich von der Fremdheit zu befreien, ist das Streben. Obwohl es sich letztlich auf den Zugang zum Schloß richtet, kann es für den Unwissenden zunächst nur Streben nach Wissen über seine Umgebung, vor allem über den genaueren Zustand des Schlosses sein. Mit seiner Definition durch die anderen verändert sich dabei auch seine eigene Position ihnen gegenüber. Die Vorstellungen und Pläne, die K. hat, um ins Schloß zu gelangen und sich dies überhaupt als Ziel zu setzen, bewirken, daß er intentional ausgerichtet und festgelegt ist, bevor er mit seiner neuen Umwelt wirklich in Berührung kommt - wie seine Vorstellungen ihn anscheinend erst bewogen haben, nach dem Schloß zu wandern. Damit kann er seine Umwelt audi nicht mehr unvoreingenommen kennenlernen; er erfährt sie nur noch unter dem bestimmenden Blickpunkt seines Zieles.2 Von seinen Plänen und Vorstellungen her will er seine Fremdheit, seine Unwissenheit überwinden, ohne zu sehen, daß er sie erst durch seine Festgelegtheit heraufbeschworen hat und immer wieder fixiert. In dieser Diskrepanz von Absicht und Möglichkeit steht K. Ob sie schließlich zur Deckung zu bringen sind, hängt davon ab, ob er das Schloß erreichen kann oder als was er es erfährt.
2 Bei der Analyse dessen, was das Schloß für ihn darstellt, wird dies erst in seiner ganzen Tragweite klarwerden.
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Die Entstehung des Fremdseins Das Beispiel der Barnabasschen Familie
Weil die Vergangenheit K.s zum größten Teil im Dunkeln bleibt, läßt sich für ihn audi - hier - nidit genau feststellen, wieso er zum Fremden werden mußte. Die Logik von Ursache und Folge sdieint auf seine eigene Geschichte nicht anwendbar. Aber der Hinweis auf die im systematischen Zusammenhang seiner Existenz vorhergehende Phase liegt versteckt; er folgt im Verlauf des Romans der zweiten Phase, der des Fremdseins, erst nach. Damit wird das bisher Unerklärbare auf eine kompliziert vermittelte, indirekte Weise aufgehellt. Diese nachträgliche Begründung ist nicht nur zeitlich von der Situation K.s abgehoben; dadurch, daß sie an einem anderen Fall, dem der Familie Barnabas, demonstriert wird, erhält sie Bedeutung über K. hinaus. Sie trifft aber K. besonders, denn ihm wird der Fall unter ganz bestimmten Aspekten erzählt. K.s Existenz wird damit durch die Konstruktion des Romans zu einem abstrakten geistigen System, das er unmittelbar in seinem Leben nicht verwirklicht, sondern das erklärend und aufklärend an ihn herangetragen wird. Was er ist, wird ihm, ohne daß er es selbst ganz begreift, kunstvoll von den anderen her zurückgespiegelt, so daß er eine Dimension hinzugewinnt, die an ihm selbst nicht so deutlich erfahrbar ist. Der ganze Vorgang der Entfremdung wird von den direkt Betroffenen selbst erinnert; daß K. dies nicht für sich tun kann, ist bereits ein Zeichen seiner Ablösung von der eigenen Geschidite. Deren Gründe werden noch hervortreten. Für K. liegt in der Erfahrung, die die Barnabas-Familie an sich gemacht hat, zugleich der Aufruf zur Selbsterkenntnis, die er sich bisher verweigert hat, weil er seine Vergangenheit nur noch indirekt mit sich trägt, sie bewußt eher ausgeklammert hat aus seinem Leben. Wie weit dieser Aufruf ihm bewußt wird und auf ihn wirkt, wird entscheidend sein für den Grad der bewußten Bewältigung seines Schicksals, den er erreichen kann. Olga erzählt K. die Geschichte ihrer Familie, die wesentlich die ihrer Schwester Amalia ist. Amalia ist jünger als ich, jünger auch als Barnabas, aber sie ist es, die in der Familie entscheidet, im Guten und im Bösen. (228)
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Wir untersuchen zuerst die A r t und Weise, wie das Fremdsein durch die Person Amalias entsteht und diese zugleich damit den Status ihrer Familie bestimmend verändert, um dann die Folgen des Zustandes der Entfremdung an den Versuchen zu zeigen, die Olga und Barnabas unternehmen, um diesen Zustand wieder aufzuheben.
Amalia Olgas jüngere Schwester w a r auf dem Feuerwehrfest einem Beamten aufgefallen, der sie darauf mit einem unzüchtigen Brief aufforderte, zu ihm zu kommen. Amalia zerriß den Brief und warf die Fetzen dem Boten ins Gesicht. Soweit der Kern der Ereignisse, die von Olga als Ausgangspunkt der Entwicklung angesehen werden, in deren Verlauf ihre Familie aus dem Dorf ausgeschlossen wurde. Mit dieser kurzen Beschreibung aber verfehlt man die bestimmte innere Folgerichtigkeit der Ereignisse und ihre eigentliche Ursache. Wir, Amalia und idi, hatten uns sdion seit Wochen darauf gefreut, die Sonntagskleider waren zum Teil neu zurechtgemacht, besonders das Kleid Amalias war schön, die weiße Bluse vorn hoch aufgebauscht, eine Spitzenreihe über der anderen, die Mutter hatte alle ihre Spitzen dazu geborgt, idi war damals neidisch und weinte vor dem Fest die halbe Nadit durch... die Briikkenhofwirtin . . kam also, mußte zugeben, daß Amalia im Vorteil war und borgte mir deshalb, um mich zu beruhigen, ihr eigenes Halsband aus böhmischen Granaten. Als wir dann aber ausgehfertig waren, Amalia vor mir stand, wir sie alle bewunderten und der Vater sagte: ,Heu te, denkt an midi, bekommt Amalia einen Bräutigam', da, ich weiß nicht warum, nahm idi mir das Halsband, meinen Stolz, ab und hing es Amalia um, gar nicht neidisdi mehr. Idi beugte mich eben vor ihrem Sieg, und ich glaubte, jeder müsse sich vor ihr beugen, vielleicht überraschte uns damals, daß sie anders aussah als sonst, denn eigentlich schön war sie ja nidit, aber ihr düsterer Blick, den sie in dieser Art seitdem behalten hat, ging hoch über uns hinweg, und man beugte sich fast tatsädilich und unwillkürlich vor ihr. Alle bemerkten e s , . . .
(M9Í-)
Nur Amalia kümmerte sich um die Spritze nicht, stand aufrecht dabei in ihrem schönen Kleid und niemand wagte, ihr etwas zu sagen, idi lief manchmal zu ihr und faßte ihren Arm unter, aber sie schwieg. (251) Aus dieser Beschreibung Amalias und ihrem Verhalten läßt sich alles N o t wendige erkennen. Die anfängliche Gleichheit der Schwestern bei diesem Fest („wir, Amalia und ich") verändert sich bald zu einem solchen Unterschied, daß beide nicht mehr in einem Atemzug genannt werden können. Das läßt sich zunächst an der äußeren Erscheinung Amalias ablesen.
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„Besonders das Kleid Amalias war sehr schön"; dadurch beginnt sie sich von ihrer Umgebung abzuheben. Ihre Gestalt verändert sidi in dem Maße, wie sie mehr auf sich vereinigt, als selbst der festliche Anlaß erforderte. „Die weiße Bluse war vorn hoch aufgebauscht, eine Spitzenreihe über der anderen, die Mutter hatte alle ihre Spitzen dazu geborgt" : Amalia wird als Erscheinung mehr als sie sonst war, indem sie die Attribute anderer von diesen abzieht und sich damit sdimückt. Nicht nur ihre Kleidung wird aufgewertet; mit ihr vermehrt sidi die Madit ihrer Person, die so stark wird, daß sich ihr die anderen Familienmitglieder beugen. Olga opfert ihr sogar zusätzlich nodi das, was als Gegengewicht gegen ihre Überlegenheit gelten sollte, und erhöht Amalia um soviel, wie sie sich selbst ihr beugt. Amalia erringt damit einen „Sieg" über die anderen. Ihr Schmuck ist so mehr als nur äußerliches Attribut. In seiner Wirkung auf die anderen wird er eingeschmolzen in die Macht von Amalias Persönlichkeit, denn diese Wirkung wird Amalia und nicht ihrer Ausstaffierung zugutegehalten. Diese bot nur den Anlaß. Die Macht der Ausstrahlung läßt die schmückenden Anhängsel zurücktreten. Amalia wird durch die Gewalt, die sie ausübt, selbst verändert. Sie bleibt nicht mehr das unbedeutende, nicht „eigentlich" schöne Dorfmädchen, sondern erhebt sich über die Familie und „alle", die es bemerken. Sie sieht jetzt „anders" aus, und sie ist auch innerlich eine andere geworden. Sie bekommt einen „düsteren Blick", den sie vorher nidit hatte. Dieser Blick erfaßt die anderen nicht mehr; er geht „hoch" über sie „hinweg". Ihr Sieg über die anderen verändert ihre Stellung zur Umwelt. War sie vorher nur eine der Töchter des dritten Übungsleiters der dörflichen Feuerwehr, so wird sie nun, als die Wirkung der ihr zunädist fremden Attribute auf sie zurückschlägt, zu einer Größe, die von der Umwelt her nicht mehr verstanden und nicht in sie eingeordnet werden kann. Sie wird zu einer unbegreifbaren Individualität in dem Maße, wie sie .anders' wird und mit den üblichen Vorstellungen der Dorfbewohner so wenig mehr zu messen ist, daß sich diese von ihr besiegt fühlen können. Ihr Blick erscheint als Ausdruck dieses Geistes: Er geht über die anderen hinweg und faßt sie nicht mehr, die nun unter ihr stehen. Ihre neue Perspektive überschreitet den festen, geordneten Bereich der dörflichen Welt, in der sich alle dem Schloß unterordnen und ihre Aufmerksamkeit auf die von ihm geschenkte Spritze konzentrieren. Amalias Fremdheit wird dadurdi bewirkt, daß sie sich selbst und ihrer eigenen Individualität als einer dieser Welt fremden Größe bewußt wird. Die Entfremdung ist zunächst im subjektiven Bewußtsein geschaffen, das das ,Ich' von sidi hat: ein ,Ich selbst' im Gegen64
satz zu anderen zu sein. Amalia reagiert nämlich bewußt anders, als man es von ihr erwartet und als es die anderen Dorfbewohner tun. Sie verharrt in einer unnahbaren Haltung, aus der sie auch ihre Schwester nicht herausreißen kann. Ihr Schweigen sagt, daß sie den anderen nichts mehr zu sagen hat. Sie selbst ordnet sich dem allgemeinen Verhalten nicht mehr ein; der Sieg über die anderen, durch den sie zum Selbstbewußtsein kam, verhärtet sich als Haltung, weil das Selbstbewußtsein, das man einmal errungen hat, nicht mehr aufgegeben werden kann. Das ist eine Erkenntnis, die für Amalia die Struktur der Welt, in der sie lebt, als einer von der Ausrichtung und Unterordnung unter das Schloß bestimmten, verändert hat. Amalia hat sich selbst als „Ausnahme" (262) erfahren. Damit ist für sie die Welt nicht mehr konzentrisch um einen vorgegebenen Mittelpunkt geordnet; sie tritt als exzentrisch im wörtlichen Sinne im Verhältnis zu dieser Welt auf. Sie macht sich selbst zu einem neuen Mittelpunkt, auf den zu sie die Umwelt versteht. Damit erhält sie „eine Art Hoheit" (226), die sie von der Gemeinschaft mit den anderen fernhält. Als K. sie sieht, erscheint sie ihm entrückt, ihr Blick trifft die Dinge nicht, „sondern ging . . . daran vorbei" (223). Gerade aufgrund dieser Uninteressiertheit an der Welt, ihrer Unnahbarkeit, mit der sie sich den allgemeinen Verhaltensweisen entzieht, und ihres Schweigens, mit dem sie sich geistig fernhält, gleicht sie dem Beamten Sortini, der sich ihr nähert. Audi Sortini „ist sehr zurückgezogen" (248), „ganz im Hintergrunde" (249), und „jeden... vertrieb er durch sein Schweigen" (253). Amalia allein reißt ihn aus seiner Uninteressiertheit. Zu ihr muß er „aufschauen" (253). Olga macht dafür ihre körperliche Größe verantwortlich; aber die wird begleitet von dem Anschein der inneren Gewalt. Audi die Dorfbewohner schauen zu ihr auf, „man beugte sich fast tatsächlich und unwillkürlich vor ihr" (250). Der Zwang, den sie ausübt, beraubt die anderen gar der Möglichkeit, sie nicht anzuerkennen. Sortini gegenüber verhalten sich die Dorfbewohner wie zu Amalia: Beide stehen für sie auf einer Stufe. In ihrer Unnahbarkeit und ihrem Schweigen entsprechen sie einander. Sortini findet in Amalia das, was ihm gleicht, indem es über das gewöhnliche Maß des Dorfes hinausreicht. Amalia aber kann, weil sie ihm ähnlich ist, sich ihm nicht auf seine Aufforderung hin unterwerfen. Durch ihr Selbstbewußtsein wird ihr Verhalten ganz anders gesteuert als beispielsweise das Olgas, die Sortini gefolgt wäre. 1 1
„ W a s midi betrifft, ich gestehe es dir offen, wenn idi einen solchen Brief
bekommen hätte, ich w ä r e gegangen" ( 2 5 7 ) .
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Amalia zerriß den Brief, w a r f die Fetzen dem Mann draußen ins Gesicht und sdiloß das Fenster. Das w a r jener entscheidende Morgen. Ich nenne ihn entscheidend, aber jeder Augenblick des vorhergehenden Nachmittags ist ebenso entscheidend gewesen. (2J4)
Diese zweite Entscheidung liegt darin, daß Amalia das eigene Selbstbewußtsein und die innere Unabhängigkeit, die sie nur gegen ihre Welt errungen hat, auch gegen diese bewährt, und nun sogar gegen eine Verkörperung der amtlichen Autorität des Schlosses. Würde sie sich Sortini ausliefern, so aus der Furcht des Unterlegenen, der dabei sein eigenes Idi dem Anspruch des anderen opfern muß - wie Olga ihr das Halsband geopfert hat. Durch die amtliche Aura Sortinis ist es nicht nur eine Auseinandersetzung mit einem anderen Individuum, eine private Angelegenheit, sondern eine, die das A m t selbst tangiert. Der Vertreter des Schlosses vertritt zugleich dessen Grundprinzip der Macht über das Dorf. Indem sie sich seinem Anspruch verweigert, bestreitet sie dem Vertreter des Schlosses die Macht, sie zu beherrschen und in der Anerkennung dieser Herrschaft ihr Bewußtsein zu bestimmen. Schon indem sie ihre Aufmerksamkeit nicht der Feuerspritze zuwandte, entzog sie sich dem Anspruch des Schlosses. Alle anderen wollten ihm ihre Aufmerksamkeit bezeugen, nur Amalia kümmerte sich nicht darum. Indem sie auf dem Recht ihrer selbstbewußten Existenz und der eigenen freien Entscheidung beharrt - was sie indirekt durch ihr Verhalten beweist - und sie gegen die Ansprüche des Beamten manifestiert, tritt sie aus der gesamten Schloß-Dorf-Beziehung heraus, die das innere Prinzip dieser von K . erfahrenen Welt ausmacht. Amalia ist eine „Ausnahme" (262), und als solche gefährdet sie genau wie K . als Fremder die Totalität des Herrschaftsbezuges, des am A n f a n g ausgesprochenen Besitzverhältnisses, in dem Schloß und Dorf zueinander stehen. Der Einzelne gefährdet die Ordnung dieser Welt, indem er sich gegen das ihr zugrundeliegende Prinzip stellt und bewußt aus ihm heraustritt. Deshalb wird Amalia vom Sdiloß aus dieser Ordnung ausgeschaltet, nachdem sie sie selbst verlassen hat. Sie wird einfach ignoriert und absorbiert. Auch aus dem geistigen Zusammenhang der Familie hat sie sich gelöst, denn diese steht nach wie vor in der alten Ordnung und empfindet deren Verpflichtungen. . . . idi bin nicht eingeweiht, nidits könnte midi dazu bewegen, midi einweihen z u lassen, nichts könnte mich dazu bewegen, nicht einmal die Rücksicht auf dich, für den ich doch manches täte, denn, wie du sagtest, gutmütig sind wir. A b e r die Angelegenheiten meines Bruders gehören ihm an, ich
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weiß nidits von ihnen als das, w a s idi gegen meinen Willen zufällig hier und da davon höre. ( 2 2 7 )
Amalia beschränkt, wie die ihres Bruders auf ihn, ihre eigentlich persönlichen Angelegenheiten auf sich selbst, obwohl das Streben nach Verzeihung eine Sadie der ganzen Familie ist, die zusammen ausgestoßen wurde. Sie aber hat sich innerlich von ihr getrennt; ihr „Wille" richtet sich gegen die anderen. Dennoch ist dieses Verhältnis zur Familie zwiespältig. A b e r obwohl sie sidi nicht darum kümmert, sind w i r von ihr abhängig, so w i e wenn sie die Älteste wäre, und wenn sie uns in unseren Dingen riete, würden w i r ihr gewiß folgen, aber sie tut es nicht, w i r sind ihr fremd. (229)
Amalia hat sich der Familie entfremdet und hält diesen Zustand bewußt aufrecht, indem sie nichts zu seiner Beseitigung tut. Auf der anderen Seite „kümmert [sie] s i c h . . . um die Eltern, sie pflegt sie bei Tag und Nacht" (228 f.). Die praktische Beziehung zur Familie besteht also weiter, insbesondere die Kindesverpflichtung den Eltern gegenüber. Amalia lebt mit ihnen und den Geschwistern zusammen. Dadurch ist nicht nur über ihr eigenes, sondern audi über das Schicksal der Familie entschieden. In der Weise, wie sie sich dem Schloß entzogen hat, hat dies ja anfänglich auch ihre Familie getan, indem sie sich der neuen Madit Amalias unterwarf. Die weitere rein äußerliche Gemeinsamkeit scheint wenigstens anfänglich ein Einverständnis zu enthalten. Idi weiß nidit, w o r a u f w i r warteten, auf A m a l i a s Entscheidung wohl, sie hatte damals in jenem Morgen die Führung der Familie an sich gerissen und hielt sie fest. Ohne besondere Veranstaltungen, ohne Befehle, ohne Bitten, fast nur durch Schweigen. ( 2 7 7 )
Amalia tut also selbst nichts dazu, daß sich die Familie ihr unterordnet. Diese steht noch ganz im Bann der ersten Überwältigung. Durch Amalias Schweigen aber wird die Aussonderung aus der Dorfgemeinschaft akzeptiert, auch für die Familie, die sich nidit von ihr absetzen kann, weil sie ihrerseits Amalia nicht ausschließen kann, nachdem sie sich ihr unterworfen hat. Durch ihr Schweigen als Mittel der Selbstbestätigung bestätigt Amalia nicht nur für sich, sondern auch für die Familie, was ihnen geschieht - als das ihrer inneren Absonderung korrespondierende Ereignis, das die wahren Verhältnisse nur nach außen verdeutlicht. „ . . . unsere Lage ist derart, daß wir mit aller Welt zerfallen sind" (264), beschreibt Olga die subjektive Lage der Familie. Diese scheint der „Verachtung" (265) der Dorfbewohner anheimgefallen zu sein, so daß sich für den innengeleiteten Blick Olgas außerhalb der Familie eine eigene Gesellschaft zu etablieren scheint, die der Verachtenden (265).
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Amalia sieht, entgegen der Haltung der Familie, nicht mehr nach außen. Sie ist in ihrem Bewußtsein von der Anerkennung durch die Welt nicht mehr abhängig. Sie kennt auch keine „Angst" (255) vor den Folgen ihrer Handlungen, weil sie in absoluter Selbstgewißheit und Selbstsicherheit die Macht des Schlosses und der Beamten, die Angst einflößen könnte, nicht mehr anerkennt. Sie besitzt nun eine „Überlegenheit, die wir an ihr nicht kannten" (267), mit der sie sowohl die Befürchtungen der Familie wie die Macht der Beamten f ü r sich relativiert. Der feste Rahmen der auf die Forderungen und Bestimmungen des Schlosses ausgerichteten Existenz wird f ü r sie aufgelöst, indem sie sich gegen die „allgemeine Meinung" (225) stellt. Amalia durchschaut ihre Lage im Gegensatz zu ihren Familienangehörigen, weil sie diese durch die Entdeckung ihres Selbstbewußtseins und seine Bewährung selbst geschaffen hat. . . . Amalia trug nicht nur das Leid, sondern hatte audi den Verstand, es zu durdisdiauen, wir sahen nur die Folgen, sie sah in den Grund . . . (278)
Das ist der wesentliche Gegensatz zur Familie. Während diese der Folge von Ursache und Wirkung, wie sie sie versteht, hilflos ausgeliefert ist und damit zeigt, wie wenig sie ein eigenes Bewußtsein der Lage über die jeweilige Situation hinaus in bezug auf die Folgen hat, die vom Schloß aus auf sie herabzufallen scheinen, sieht Amalia den wahren Grund der Ereignisse. Was die Familie auch jetzt noch der Macht des Schlosses zuschreibt, geschah gerade durch den Gegensatz zu ihm, durch Amalias schweigende, unabhängige Individualität. „Aug in Aug mit der Wahrheit stand sie und lebte und ertrug dieses Leben damals wie heute" (278). Amalia hat die Wahrheit gefunden, aus der sie lebt und die sie deshalb nicht mehr verleugnen kann: die der eigenen Selbstgewißheit.
Exkurs: Fichtes Ich, das sich seihst setzt, und Amalia Um den philosophischen Horizont zu umreißen, in dem die Bewußtwerdung Amalias als eines Selbst steht, gehen wir kurz auf Fichte ein. In der ersten ,Einleitung in die Wissenschaftslehre' von 1797 entwickelt er Kennzeichnungen f ü r den Moment, wo der Mensch im Selbstbewußtsein zu sich kommt. Der cartesianisdie Zweifel, der - bewußt dirigiert angesetzt - zu der einzigen Gewißheit führt, daß ich, wenn ich denke, daß ich denke, im Denken mich selbst als einzige Gewißheit erfahre, wird von Fichte subjektiv verschärft durch das Pathos der Freiheit, die als „ein Trieb zu absoluter, 68
unabhängiger Selbsttätigkeit" mir „durch das Denken deutlich" 2 wird. Das „unmittelbare Selbstbewußtsein", 3 das das Handeln des menschlichen Geistes begleitet, „kann keinem nachgewiesen werden; jeder muß es durch Freiheit in sich selbst hervorbringen." 4 Das Bewußtsein der Freiheit entsteht so zugleich mit der Erfahrung des Selbstbewußtseins in einem apriorischen A k t , der nicht kausal ableitbar ist, sondern das Idi erst setzt und alle seine Erfahrungen möglich macht. Dies ist mit Amalia in dem Augenblick geschehen, w o sie sich frei von den Bestimmungen ihrer Welt losriß und als eine selbstbewußte
Indivi-
dualität absetzte. Wer aber seiner Selbständigkeit und Unabhängigkeit von allem, was außer ihm ist, sich bewußt wird, - und man wird dies nur dadurch, daß man sich unabhängig von allem durch sich selbst zu etwas macht, - der bedarf der Dinge nicht zur Stütze seines Selbst, und kann sie nicht brauchen, weil sie jene Selbständigkeit aufheben, und in leeren Schein verwandeln. Das Ich, das er besitzt, und welches ihn interessiert, hebt jenen Glauben, an die Dinge, auf; er glaubt an seine Selbständigkeit aus Neigung, er ergreift sie mit A f f e k t . Sein Glaube an sich selbst ist unmittelbar. 5 Hier gelangen wir schon bald an die Grenze der Entsprechung, die sich bei Fidite und in der Situation Amalias abzuzeichnen begann. Was K a f k a an Amalia darstellt, ist zugleich auch die unmittelbare Folge dieses absoluten Selbstbewußtseins: der eo ipso gegebene Bruch mit den Objekten der den Kausalgesetzen unterstehenden Erfahrungswelt, ihre Unterordnung unter die Ich-Handlung, mit der das Selbstbewußtsein sich bestätigt. Indem Amalia sidi als frei erfährt, begreift K . sie zugleich als ihrer Welt entfremdet.® Ihr Leben, das als Leben in Gemeinschaft wesentlich auch 2
Die Bestimmung des Menschen. Werke. Auswahl in sechs Bänden. Hg. und eingeleitet von Fritz Medicus. Bd. III. 1 9 1 1 . S. 345. 3 Johann Gottlieb Fichte, Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre. Hg. von Fritz Medicus. 1961. (Philosophische Bibliothek 239) S. 15. 4 Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre. S. 16. 5 Erste Einleitung in die Wissensdiaftslehre. S. 20. β „Ich entziehe midi dem Anderen, indem idi ihm mein entfremdetes Idi in den Händen lasse. Aber da idi mich als Losreißung vom Anderen erwähle, übernehme und anerkenne ich dieses entfremdete Ich als das meinige. Mein Michlosreißen vom Anderen, das heißt mein Idi-selbst, ist infolge seiner Wesensstruktur Annahme dieses vom Anderen zurückgewiesenen Ich als das meint gees ist sogar nur das. So ist das entfremdete und zurückgewiesene Idi gleichzeitig meine Verbindung mit dem Anderen und Symbol unserer vollständigen Geschiedenheit" (Sartre, Das Sein und das Nichts. S. 377). Das Ich fällt gleichsam in seine konkrete Situation zurück. 69
eine soziale Seite hat, entgleitet ihr in der Weise, daß es nun total außenbestimmt wird. Sie ist immer auch das, als was sie in bezug auf diese Welt besteht, von der sie sich zwar innerlich abgesetzt hat, aus der sie sich aber faktisch nicht lösen kann - die Verstoßene. Das ist ein Umschlag, der ihrer Familie später indirekt deutlich wird, wenn auch nicht in seinem dialektischen Zusammenhang. Fichtes „intellektuelle Anschauung",7 die das Ich sich nur als ein „ideales Sein", 8 aber nicht als konkretes Ich mit den oben zitierten Formulierungen denken ließ, existiert bei Kafka nicht. Hier ist Bewußtsein nicht eine reine Vernunftkategorie, sondern, insofern es immer auch Bewußtsein der Anderen als mit ihm ungleicher ist, das durch die konkrete Unterscheidung von ihnen entstand, ist es .sozial' im weitesten Sinne bestimmt. Das Handeln bezieht sich nicht nur auf die Bestätigung des Selbstbewußtseins, sondern auf die Umwelt - was dann eine reale Gegenwirkung auszulösen scheint. Wenn auch Amalia selbst das nicht mehr begreift, wird es doch über ihre Zugehörigkeit zur Familie, ohne die sie nicht leben könnte, deutlich: Sie alle sind von den Folgen ihres Selbstbewußtseins betroffen. Das zeigt, daß sie weiter mit der Familie und in ihr in den konkreten Bedingungen der Welt lebt. Das Ich, als reines gedachtes Subjekt, ist bei Amalia zugleich reale Individualität, lebendes Wesen9 - anders als bei Fichte. Amalias Verhältnis zur Welt ist real dialektisch, ohne daß sie diese Dialektik selbst kritisch durchschaute. Das kann nur der Interpret, der ihre Position relativiert und von außen her im Zusammenhang übersieht. Je stärker Amalia die Welt als fremd verleugnet, umso mehr wird sie fremd in ihr, an die sie gebunden bleibt. Nur „im Angesicht des anderen" 10 entdeckt sie sich selbst, „und der andre ist für uns ebenso sicher wie wir selbst. Somit entdeckt der Mensch, der sich durch das Cogito unmittelbar erfaßt, auch alle andern, und er entdeckt sie als die Bedingung seiner Existenz." 11
Fidite, Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre. H g . von Fritz Medicus. 1961. (Philosophische Bibliothek 239) S.49. 8 Fichte, Zweite Einleitung in die Wissensdiaftslehre. S. 81. 8 K . bemerkt das, weil er von außen sie in ihrer U m w e l t sieht, und gibt damit den Ansatzpunkt der K r i t i k an Amalias sich selbst genügendem Bewußtsein. 10 Sartre, Existentialismus. S. 46. 11 Sartre, Existentialismus. S. 46. K . bezieht, wie bei seiner eigenen Begegnung mit dem D o r f , auch gegenüber A m a l i a deren reale Existenz in die Reflexion mit ein und hebt insofern den idealistischen Denkansatz Amalias wieder auf. 7
7°
Olga Amalia steht im Zentrum der Unterhaltung K.s mit Olga. Wo es nicht direkt um sie geht, handelt es sidi um die Folgen ihres Handelns für die Familie. Daß Olga sich so ausführlich mit dieser Lage befaßt, zeigt, wie sehr ihr Denken von den darin enthaltenen ungelösten Problemen bestimmt wird. Olgas eigene Stellung zu ihrer Schwester entspricht in ihrer Zwiespältigkeit der Haltung der Familie im Ganzen. Idi kenne niemanden, der so fest im Recht w ä r e wie A m a l i a bei allem, w a s sie tut. W ä r e sie in den Herrenhof gegangen, hätte idi ihr freilich ebenso redit gegeben; daß sie aber nicht gegangen ist, w a r heldenhaft. ( 2 $ 7 )
Olga unterliegt der Madit ihrer Schwester so sehr, daß sie ihr „bei allem" recht gibt, sogar bei völlig gegensätzlichen Möglichkeiten gleichermaßen. Da Olga K . vorher selbst gestanden hat, den „Grund" (278) nicht verstanden zu haben, aus dem Amalia gehandelt hat, zeigt das, daß sie ihr, ohne Möglichkeiten bewußter Unterscheidung, in jedem Fall recht geben würde. Das kann zwei Gründe haben. Einmal ist es der Absolutheitscharakter von Amalias Haltung, der ihr an sich schon recht gibt in jeder Frage, die mit ihrer Existenz aufs engste zusammenhängt. Ihr Verhalten, das sich gegen jede fremde Autorität richtet, die ihrer Individualität Schranken setzte, gibt sich selbst recht. Olga folgt ihr darin bedingungslos, seit sie ihre eigene Person der Schwester mit der Weitergabe der Kette bedingungslos unterordnete. Zum anderen ist Olga der Welt unterworfen, gegen die Amalia sich aufgelehnt hat. Indem sie die Bedingungen der Unterordnung unter das Schloß und die Dorfgemeinschaft weiter anerkennt, 12 kann sie Amalias Verhalten als „heldenhaft" verstehen. Sie sieht nicht nur die subjektive Selbstgenügsamkeit des eigenen „Rechts", sondern auch die objektiven Folgen der Vertreibung aus der Gemeinschaft, die Entfremdung. Und das zweite hat für sie größeres Gewicht, so daß es „heldenhaft" - weil sinnlos und gegenüber der Macht der Umstände wirkungslos - ist, sich gegen das aufzulehnen, was von einem verlangt wird. 1 3 In dem „Recht", das Amalia bei jeder der möglichen Reaktionen hat, sind zwei ganz verschie18 Sie selbst hätte sich dem Anspruch des Beamten geopfert (vgl. A n m . I, S. 65 oben). 13
O l g a kann A m a l i a audi nicht als tragisch verstehen, weil sie den G r u n d ihres Verhaltens nicht einsieht, sondern nur seine Folgen bemerkt, so daß sich für sie nicht zwei gleichberechtigte Prinzipien gegenüberstehen können.
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dene Arten von Redit getroffen, die sich miteinander nicht vereinen lassen. Weil Olga das nicht durchschaut, trennt sie beide nicht begrifflich voneinander. Wo sie nicht mehr erkennen kann, wertet sie doch indirekt durch das, was sie tun würde, Amalias persönliches Recht geringer. Weil sie den Bruch mit der Welt erkennt, selbst aber deren Gesetze anerkennt, handelt für Olga Amalia „heldenhaft" - darin zum Scheitern verurteilt. Olga bringt es sogar fertig, K. die „Handlungsweise Sortinis verständlicher, weniger ungeheuerlich" (260) machen zu wollen. In ihrer Verteidigung der Ansprüche Sortinis an ihre Schwester geht sie so weit, dieser doch eine mögliche Liebe zu unterstellen, denn „unglückliche Beamtenliebe gibt es nicht" (261). N u n ja, sie hat ihn nicht geliebt, aber vielleicht hat sie ihn dodi geliebt, w e r kann das entscheiden? Nicht einmal sie selbst. W i e kann sie glauben, ihn nicht geliebt zu haben, wenn sie ihn so kräftig abgewiesen hat, w i e w a h r scheinlich noch niemals ein Beamter abgewiesen worden ist? ( 2 6 1 )
Ihr unsinniger Kausalschluß von der Heftigkeit der Abweisung auf die Unmöglichkeit, von Liebe nicht gewußt zu haben, beweist nur, daß sie mit aller Gewalt (und unlogischen Argumenten) etwas beweisen will. „Wir aber wissen, daß Frauen nicht anders können, als Beamte lieben, wenn sich diese ihnen einmal zuwenden" (261). Olga widerlegt Amalia, deren „Grund" sie nicht erkennt, aufgrund des allgemeinen Wissens, das aus der intakten Dorfgemeinsthaft stammt. Damit aber wird das Verlangen Sortinis zu einer objektiven Verpflichtung für sie, der man sich zu beugen hat, so daß die Ausnahme, sich ihr zu widersetzen, „schon... fast zuviel" (262) ist. Der Verstoß Amalias gegen diese Forderung erhält den Charakter eines objektiven Vergehens gegen die bestehende Ordnung der Welt und damit den der Schuld, der durch kein individuelles Recht aufgewogen werden kann.
Barnabas An Olgas Bruder Barnabas zeigen sich am besten die Folgen von Amalias Ausschluß aus der Gesellschaft, ihrer Entfremdung. K. selbst stellt fest, daß er hier Menschen fand, denen es, wenigstens äußerlich, sehr ähnlich ging wie ihm s e l b s t , . . . niemals hätte K . gedacht, daß aus dem D o r f selbst ein derart unglückliches Bestreben hervorgehen konnte, wie es das des B a r nabas und seiner Schwester w a r . ( 2 3 5 )
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Die Familie hat, anders als die Nachbarn, einen „Grund, über ihre Wirtschaft hinauszustreben" (240). So wie sie durch die Entfremdung von diesen Nachbarn und von dem Sinnträger aller Beziehungen dieser Welt, dem Sdiloß, abgetrennt worden ist, ist ihr ein Ziel ihres Strebens gesetzt worden: die Aufhebung dieser Entfremdung zu versuchen. Deshalb kann ein eigentlich nichtssagender Brief aus dem Sdiloß an K. Olga als „Bürgschaft unserer Zukunft" (240) erscheinen. Von ihr erwarten sie die Sicherheit, die die Gegenwart nicht mehr bietet. Barnabas treibt es „nur wieder ins Sdiloß" (241), wo sein Botendienst noch als einzige Beziehung zu diesem besteht. , E r befriedigt ihn nicht, und aus verschiedenen Gründen', sagte Olga, ,aber es ist dodi Sdiloßdienst, immerhin eine A r t Schloßdienst, so sollte man wenigstens glauben. ( 2 2 9 )
Genauso klammert sich K . an Frieda, um über sie eine Beziehung zum Schloß zu erreichen. K . und Barnabas - dieser stellvertretend für die Familie - stehen spiegelbildlich zueinander. Für K . ist Barnabas ein Mittel, seine Ziele zu erreichen,14 aber Olga eröffnet ihm, daß er das gleiche für sie bedeutet. Diese zwei Briefe [ v o m Schloß an K . ] , die durch des Barnabas H a n d bisher gegangen sind, sind seit drei Jahren das erste, allerdings nodi genug zweifelhafte Gnadenzeichen, das unsere Familie bekommen hat. Diese Wendung, wenn es eine Wendung ist und keine Täuschung - Täuschungen sind häufiger als Wendungen - , ist mit deiner A n k u n f t hier im Zusammenhang, unser Schicksal ist in eine gewisse Abhängigkeit von dir geraten, vielleicht sind diese zwei Briefe nur ein A n f a n g , . . . vorläufig aber zielt alles nur auf didi ab.
(303) Damit erscheinen die Beziehungen K.s zur Familie des Barnabas umkehrbar. Jeder will mit Hilfe des anderen das erreichen, was auch dieser umgekehrt vom anderen erwartet. Beide knüpfen aneinander an, weil sie von den gleidien Intentionen und derselben Ausrichtung auf ein Ziel, das Sdiloß, geleitet werden. Beide werden zu austauschbaren Größen in ihrer Funktion dem Sdiloß gegenüber, als entfremdete Existenzen. Indem sie aber den anderen zum Mittel machen, um durdi ihn zu erreichen, was dieser selbst nicht erreidien kann, verkehrt sich ihnen ihre Absicht unter den Händen in etwas Sinnloses. Es ist, als ob zwei Blinde sich zusammentun, um zu sehen. Daß beide so aufeinander verwiesen sind, zeigt beider absolute Hilflosigkeit, die dem Grade von Hoffnung entspricht, den sie sich selbst durch den anderen gemacht haben. Indem K . seine Absiditen an Barnabas knüpft, scheitert er wie dieser. 14
V g l . S. 4Ôf. des Romans.
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Die Bewußtseinslage der Familie und das Problem der Schuld Die Situation Obwohl Amalia die Ursache der Entfremdung der Familie von der Dorfgemeinschaft ist, war der „Fluch" über ihre ganze Familie ausgesprochen (2J7) und diese mit ihr zusammen ausgestoßen. „Sie und unsere ganze Familie" (258) wurde damit bestraft, wie Olga meint. Während aber Amalia ihr Schicksal schweigend trägt, versuchen Olga und Barnabas - auch für Amalia, obwohl man sie, „wenn man nicht durch Blut mit ihr verbunden ist, nur verachten" (259) kann - den alten Zustand einer ungestörten Ordnung wiederherzustellen. Dazu muß ihnen diese Vergangenheit als ein Zustand erscheinen, der es lohnt, daß man sich für seine Wiedergewinnung einsetzt. Olga selbst hat die Veränderung, die sich mit ihnen allen vollzog, am eigenen Leib erfahren. Vor drei Jahren waren wir Bürgermädchen und Frieda, die Waise, Magd im Brückenhof, wir gingen an ihr vorüber, ohne sie mit dem Blick zu streifen; wir waren gewiß zu hochmütig, aber wir waren so erzogen worden. A n dem Abend im Herrenhof magst du aber den jetzigen Stand erkannt haben: Frieda mit der Peitsche in der Hand und ich in dem Haufen der Knechte. (26 4 f.)
Deshalb macht Olga Pläne (290, 294, 296), um sich wieder des Wohlwollens des Schlosses zu versichern. Sie entwirft damit nicht nur ein Ziel für sie alle, sondern setzt sich selbst rücksichtslos dafür ein. „ . . . seit mehr als zwei Jahren, zumindest zweimal in der Woche, verbringe ich die Nacht mit den Dienern im Stall" (292), nur um sich Friedas Wohlwollen zu sichern und vielleicht einmal eine Nachricht aus dem Schloß zu erhalten. Und für Barnabas „ist es eine Lebensfrage, ob er wirklich mit Klamm spricht oder nicht" (235). Aber was erreichen sie damit? „Ist es überhaupt Schloßdienst, was Barnabas tut" (232), müssen sie sich fragen. . . . gewiß, er geht in die Kanzleien, aber sind die Kanzleien das eigentliche Schloß? Und selbst wenn Kanzleien zum Sdiloß gehören, sind es die Kanzleien, welche Barnabas betreten darf? (232)
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Die Reflexionen setzen beim obersten Ziel an, dem Schloß. Das aber, was Barnabas erreicht, steht unter diesem Ziel. Schon deshalb wird es zweifelhaft, ob die Kanzleien überhaupt zum Sdiloß gehören, weil sie an sidi gar nicht auf das Schloß hinweisen. Man müßte es wissen, ob sie zu ihm gehören; aber man weiß es nicht, und so stellt die Reflexion gleich die nächste Möglichkeit her, die ein mögliches Verfehlen des Zieles erklären könnte. Schon die Tatsadie, daß Barnabas diese Kanzleien betritt, kann gegen ihn ausgelegt werden. Der Charakter der Verweigerung, den das Schloß als feste Zielvorstellung für Barnabas damit erhält, wird immer absoluter dadurch, daß immer mehr Möglichkeiten entworfen werden, die die subjektive Reflexion, gerade weil sie kein Wissen vom Schloß hat, aus sich als Ersatzvorstellung entwickelt. E r kommt in Kanzleien; aber es ist dodi nur ein Teil aller, dann sind Barrieren und hinter ihnen sind nodi andere Kanzleien. M a n verbietet ihm nicht gerade weiterzugehen, aber er kann doch nidit weitergehen, wenn er seine Vorgesetzten schon gefunden hat, sie ihn abgefertigt haben und w e g schicken. ( 2 3 2 )
Die Möglichkeiten, die er praktisch erprobt, sind nur ein Teil von denen, die er erwägen muß, weil sie sich ihm noch als unausgenutzt anbieten. Die Bindung an seine Vorgesetzten aber, aufgrund deren er erst die Kanzleien betreten hat, hindert ihn nur, weiter zu gehen, obwohl seine Stellung ihm das nicht einbringt, was er sich erhofft. Die Wirklichkeit, die dem Strebenden begegnet, verwandelt sich unter dem Blick, der sie auf das entworfene und zu erreichende Ziel hin durchforscht, verwandelt sich in eine fortlaufende Reihe von Zweifeln an eben dieser Wirklichkeit und ihrem Sinn für ihn. Die Reflexion verändert sie zu einem Nichts, weil sie die vorausgesetzte Intention nicht ankommen läßt und nicht erfüllt. Indem dieses Ziel unerreicht bleibt, schafft es einen leeren Raum von unerfüllten Möglichkeiten um sich. Dieses Bewußtsein entspricht genau der objektiven Lage: dem Verlust der Bindungen, die es von außen her, von den Gesetzen des Schlosses in der Dorfgemeinschaft bestimmten, indem sie ihm eine unbezweifelte Ordnung auferlegten. Jetzt aber, wo das Bewußtsein des Ausgestoßenen allein von seiner Lage aus und mit seinen Absichten die Welt erfassen kann, weicht diese vor dem Bewußtsein als objektive Größe zurück und wirkt nur als ewiger Zweifel an ihr auf den Fragenden zurück. Barnabas muß sogar an der Identität seiner Vorgesetzten zweifeln. Wie und aus welchen Gründen er dies tut ist bezeichnend. Es geht um Klamm, der auch sein Vorgesetzter sein soll. 75
. . . natürlich ist sein Aussehen im Dorf bekannt, einzelne haben ihn gesehen, alle von ihm gehört und es hat sich aus dem Augenschein, aus Gerüchten und audi manchen fälschenden Nebenabsichten ein Bild Klamms ausgebildet, das wohl in den Grundzügen stimmt. Aber nur in den Grundzügen. Sonst ist es veränderlich und vielleicht nicht einmal so veränderlich wie Klamms wirkliches Aussehen. E r soll ganz anders aussehen, wenn er ins Dorf kommt, und anders, wenn er es verläßt, anders, ehe er Bier getrunken hat, anders nachher, anders im Wachen, anders im Schlafen, anders allein, anders im Gespräch und, was hiernach verständlich ist, fast grundverschieden oben im Schloß. Und es sind schon selbst innerhalb des Dorfes ziemlich große Unterschiede, die berichtet werden, Unterschiede der Größe, der Haltung, der Dicke, des Bartes, nur hinsichtlich des Kleides sind die Berichte glücklicherweise einheitlich: er trägt immer das gleiche Kleid, ein schwarzes Jackettkleid mit langen Schößen. Nun gehen natürlich alle diese Unterschiede auf keine Zauberei zurück, sondern sind sehr begreiflich, entstehen durch die augenblickliche Stimmung, den Grad der Aufregung, die unzähligen Abstufungen der Hoffnung oder Verzweiflung, in welcher sich der Zuschauer, der überdies meist nur augenblickweise Klamm sehen darf, befindet. (234^) Es bleibt in diesem Wust von einander widerlegenden Meinungen, Berichten und Vermutungen nichts als sicher übrig als ein schwarzes Jackettkleid: die bloße Hülle für einen nicht mehr identifizierbaren Inhalt. Aus lauter subjektiv begründeten Eindrücken zusammengesetzt, entsteht so kein Bild, sondern nur ein Nebel von Vorstellungen - jedenfalls keine wirkliche Person. Selbst die Erklärungen, die Olga für diese schwankende Vorstellung von Klamm gibt, setzen sich aus bloßen Vermutungen zusammen. Denn ein wahres Bild Klamms kennt auch sie nicht; um die A b weichungen von der Wahrheit feststellen zu können, müßte sie wenigstens einen Anhaltspunkt für diese haben. Wenn man den wirklichen K l a m m nicht kennt, kann ja eine der Ansichten das wirkliche Bild geben - aber für Olga sind alles Ansichten. Alle diese Vorstellungen und Vermutungen werden durch Olgas vermutete Erklärung bloß in ihrer Subjektivität verstärkt. Der wahre Klamm versteckt sich dahinter um so sicherer. „ S o arbeiten die Leute an ihrer eigenen Verwirrung" (242). Daß dies auch für sie selbst gilt, merkt Olga nicht. Der Sicherheit, die sie und ihr Bruder suchen, entspricht die Unsicherheit, mit der sie ihre Lage zu überwinden versuchen. . . . aus Furcht, er könnte durch irgendwelche ungewollte Verletzung unbekannter Vorschriften seine Stelle verlieren, wagt er niemanden anzusprechen, so unsicher fühlt er sich; diese doch eigentlich jämmerliche Unsicherheit beleuchtet mir seine Stellung schärfer als alle Beschreibungen. (242) Barnabas wie Olga leben - nicht anders als K . - aus reiner Möglichkeit, die vor ihrem Selbstbewußtsein nur die eine Wirklichkeit hat, sie beide durch ihren Möglichkeitscharakter am Leben zu erhalten.
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Man müßte sich ja fügen, dürfte nichts dagegen sagen, wäre nur nicht die Frage, ob es wirklich Botendienst ist, was er tut. Dir gegenüber darf er natürlich keinen Zweifel darüber aussprechen; es hieße für ihn, seine eigene Existenz untergraben, wenn er das täte, Gesetze grob verletzen, unter denen er ja noch zu stehen g l a u b t . . . (234) Was hat Olga mit ihrer Selbstaufopferung erreicht, der Amalia genau entgegengesetzten Haltung? Was ich aber dodi im Herrenhof erreicht habe, ist eine gewisse Verbindung mit dem Schloß . . . Nicht nur durch die Diener selbst habe ich eine Verbindung mit dem Schloß, sondern vielleicht und hoffentlich audi noch so, daß jemand, der von oben midi und was ich tue b e o b a c h t e t . . . , daß dann derjenige, . . . vielleidit zu einem milderen Urteil über midi kommt als andere, daß er vielleicht erkennt, daß idi in einer jämmerlidien Art zwar, doch auch für unsere Familie kämpfe . . . (293) A u d i in ihr lebt nur noch eine vage Hoffnung, die gerade aus den bisher unerfüllten Möglichkeiten hervorgeht, die sie sich ausgemalt hat. Aller frühere Zweifel scheint die letzte, immer noch bestehende Erwartung auf Besserung nicht zu zerstören. Beider Lebensinhalt liegt in dieser von Olga und Barnabas durchgehaltenen Hoffnung als der letzten Möglichkeit für sie, ihr Leben auf ein sinnvolles Ziel auszurichten. Solange sie nicht ausdrücklich abgelehnt worden sind, w a r ihr Leben nodi nicht „vergeblich" (295)· Weil sie selbst an kein Ziel kommen, wird auch die Welt der Beamten und damit die ,objektive', vom Schloß beherrschte Außenwelt, auf die sie sich beziehen - zu einer in sich nicht durchschaubaren Ordnung. Die subjektiv bedingte Struktur ihres mißlingenden Strebens übertragen sie auf die objektive der Welt, die sich ihrem Anspruch entzieht. Die Beamten sind sehr gebildet, aber doch nur einseitig, in seinem Fach durchsdiaut ein Beamter auf ein Wort hin gleich ganze Gedankenreihen, aber Dinge aus einer anderen Abteilung kann man ihm stundenlang erklären, er wird vielleicht höflich nicken, aber kein Wort verstehen. Das ist ja alles selbstverständlich; man suche doch nur selbst die kleinen amtlichen Angelegenheiten, die einen selbst betreffen, winziges Zeug, das ein Beamter mit einem Achselzucken erledigt, man suche nur dieses bis auf den Grund zu verstehen und man wird ein ganzes Leben zu tun haben und nicht zu Ende kommen. (285) Das utopische Trotzdem, dem Olga und Barnabas nachjagen, beruht aber zugleich auf bestimmten positiven Ausrichtungen. A m Botendienst, „der ihn gar nicht befriedigt" (229), hält Barnabas fest. Entscheidend dafür ist, daß er noch immer die „Gesetze" respektiert, „unter denen er zu stehen glaubt" (234). So wenig also das subjektive Be77
wußtsein mehr als Möglichkeiten der Erlösung aus dem Zustand der Entfremdung entwerfen kann, so sehr bleibt dieses selbe Bewußtsein doch an etwas gebunden, was es als objektive Macht voraussetzt. Diese „Gesetze" sind die v o n Barnabas akzeptierten Prinzipien der Ordnung der Welt v o n D o r f und Schloß; f ü r das eine gelten sie, v o n dem anderen sollen sie ausgehen. Sie sind das, was den einzelnen Menschen dieser Ordnung objektiv zu verpflichten scheint. Die A r t und Weise aber, w i e er sich dieser Verpflichtung versichern kann, bleibt im Bereich einer ungesicherten Subjektivität. Sein Glaube ist kein positiver eigener Erlebnisbereich, in dem man die Gültigkeit der Gesetze als unmittelbar zwingend empfinden könnte, sondern Surrogat f ü r ein Wissen, das er nicht hat. Sogar ob er überhaupt Schloßdienst tut, ist z w e i f e l h a f t (232). Barnabas zweifelt, weil ihm alles, was er sieht und in den Kanzleien erlebt, „fast unverständlich" (237) vorkommt. Und wären audi ihre Angaben nicht viel verläßlidier als die Angabe jenes, der ungefragt ihm Klamm gezeigt hat, es müßten sich doch zumindest aus ihrer Mannigfaltigkeit irgendwelche Anhaltspunkte, Vergleichspunkte ergeben. (242) So wird Barnabas dazu gezwungen, durch vergleichende Auslegung von Meinungen und Möglichkeiten der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Er selbst w i l l es nicht einmal; O l g a muß es für ihn tun. D a m i t werden nur noch einmal im Bewußtsein des Subjekts die Dinge reflektiert, die selbst schon nicht mehr als P r o d u k t subjektiver Vermutungen und unkontrollierbarer Meinungen waren. Die Unsicherheit w i r d potenziert. Ihnen selbst w i r d das nicht klar, aber es äußert sich darin, daß sie nie zur Gewißheit kommen - zu einer anderen als der, daß sie ihr Ziel noch nicht erreicht haben. U m v o r allen diesen unerfüllten Möglichkeiten und Hoffnungen nicht zu resignieren, kehrt sich ihnen die Unerfülltheit dieser H o f f n u n g um in die Möglichkeit, die Erfüllung doch noch zu erreichen. Hindernisse sind da, Fragwürdigkeiten, Enttäuschungen, aber das bedeutet doch nur, was wir schon vorher gewußt haben, daß dir nichts geschenkt wird, daß du dir vielmehr jede einzelne Kleinigkeit selbst erkämpfen mußt. (240) D a sie keine Wirklichkeit haben als die der vollendeten Entfremdung und die H o f f n u n g auf Befreiung nichts weiter ist als eine nicht widerlegte Möglichkeit ihres Denkens, kann sich ihnen mit der gleichen Verbindlichkeit w i e jede andere Überlegung jedes Hindernis als Versprechen darstellen, daß dahinter das Ziel liegen müsse. Diese Unendlichkeit der M ö g -
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lidikeiten ist an sich leer; ob sie positiv oder negativ bestimmt werden soll, ist dem Einzelnen anheimgestellt. Rückwärtsgewandt aber haften Olga wie Barnabas an einer festen Bestimmung, die sidi aus dem Glauben an die „Gesetze" ergibt, der so stark ist, daß er bei Barnabas sogar als Furdit vor der Verletzung „unbekannter Vorschriften" (242) erscheint. Diese Bestimmung knüpft sich an den Begriff, den Olga fand, um das Verhalten ihrer Schwester Amalia zu kennzeichnen und zu werten. Es ist der Begriff der Schuld.
Das Problem der Schuld Bezeichnend ist, daß Olga die Kategorie .Schuld' in Verbindung mit der Lage ihrer Familie bringt. Amalia wird nur davon betroffen, weil sie diese Lage verursacht hat. Sie wird nidit als Person damit gewertet; Olga gesteht ihr vielmehr zu, daß sie im Gegensatz zu den anderen Familienmitgliedern, „fest im Recht" ist „bei allem, was sie tut" (257). ,Schuld' hängt somit weniger zusammen mit dem Verhalten Amalias an sich, von ihr aus gesehen, als mit dem, was sich aus diesem Verhalten für die Familie ergab. Die Kausalität zwischen Amalias Tun und der Lage der Familie erhält Olga aufrecht. Wir hatten gesehen, daß Amalia aus der in der Verletzung ihrer Individualität gewonnenen Selbstgewißheit des Ich handelte, das sich sein eigenes Recht setzt, und das aus der Ordnung lebt, die sich aus der Verpflichtung dem eigenen Ich gegenüber ergibt. Insofern kann innerhalb dieses Horizontes der Begriff der Schuld auf sie gar nicht angewendet werden. Gehen aber die Folgen, daß audi die Familie ausgestoßen wird, allein auf Amalia zurück, dann muß man fragen, wieso sidi auf die Familie, die dodi eigentlich als unschuldig erscheinen muß, der Begriff der ,Schuld' anwenden läßt. Dazu sehen wir genauer auf den Vorgang, wie die Familie vom Dorf ausgeschlossen wird und wie sidi dieser Vorgang in der Erinnerung Olgas darstellt. Es begann damit, daß sich die Affäre mit dem zerrissenen Brief des Boten im Dorf herumsprach, nadidem „die Sache" in der Familie zunächst schon „in Vergessenheit" (267) geraten war. A b e r kurz darauf wurden w i r sdion von allen Seiten mit Fragen wegen der Briefgesdiichte überschüttet, es kamen Freunde und Feinde, Bekannte und Fremde: man blieb aber nicht lange, die besten Freunde verabschiedeten sich am allereiligsten. (268)
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Zuerst also sagt sich das Dorf von ihnen los; man löst die geschäftlichen und die persönlichen Beziehungen mit ihnen. „ . . . man war zufrieden, wenn es gelang, die Verbindung mit uns schnell und vollständig zu lösen . . . " (268). Es endet damit, daß dem Vater als dem Oberhaupt der Familie sein Diplom vom Feuerwehrverein wieder abgenommen wird. Das bedeutet den „vollständigen Zusammenbruch" (269) für sie. Mit dem Diplom wird ihnen das offizielle Zeichen ihrer Stellung in der Gemeinschaft, die sich als eine feste Ordnung mit Regeln und Satzungen und in einer Hierarchie von Funktionären darstellt, entzogen: Damit ist die Entfernung aus dieser Gemeinschaft besiegelt. Bezeichnend ist, wie der Feuerwehrobmann argumentiert: Vielleicht hätte es ohne die glänzenden Leistungen des Vaters am gestrigen Fest gar nicht so weit kommen müssen, aber eben diese Leistungen hätten die amtliche Aufmerksamkeit besonders erregt; der Verein stand jetzt in v o l lem Licht und müsse auf seine Reinheit noch mehr bedacht sein als früher. U n d nun w a r die Beleidigung des Boten geschehen, da habe der Verein keinen anderen A u s w e g gefunden . . . (270)
Von keiner Anordnung des Schlosses ist die Rede; daß sich das Dorf zurückzieht, geschieht vielmehr allein von diesem aus, und zwar weil es sich von den Erwartungen her bestimmen läßt, die man der Schloßbehörde unterschiebt. Weil man denkt, wie die Behörde denken könnte, handelt man nach dieser bloßen, allein in der Annahme vorhandenen Möglichkeit. Umso stärker tritt die Macht in Erscheinung, die das Schloß indirekt auf diese Menschen ausübt. Die Behörde hat eine solche Wirkung, weil man die Reaktionen, die erfolgen könnten, selbst vorausdenkt und sie dann - das Mögliche in Realität verwandelnd - sofort von sich aus wie einen Befehl in die Tat umsetzt. Allein der Glaube an die Behörde verleiht ihr hier die Macht, die sie nicht ausübt. Ihre Realität im Bewußtsein der Dorfbewohner genügt, um diese in ihren Handlungen zu lenken. Der unbeteiligte K . hat deshalb von seinem Standpunkt aus recht, wenn er meint, vorläufig scheine das Schloß „noch nicht eingegriffen zu haben" (271). Objektiv hat es das auch nicht; aber Olga, die selbst unter dieser das Bewußtsein allmächtig bestimmenden Gewalt der Vorstellung des Schlosses steht, sieht subjektiv ebenso richtig: „ . . . das alles war schon Einfluß des Schlosses" (271). Beide Ansichten zusammen ergeben das wahre Bild. Das Schloß selbst hat nicht eingegriffen, aber was geschah, geschah „unter seinem Einfluß", weil die Dorfbewohner glauben, in seinem „vollen Licht" (270) zu stehen, so daß sie, in ihrem Bewußtsein ganz davon abhängig, auch praktisch so handeln müssen, wie sie es schuldig zu sein glauben. 80
Die „Beleidigung des Boten" (270) ist für das Dorf ausreichend, um in ihm, dem Funktionär der Behörden, diese als Ganzes getroffen zu sehen. D a ß sie „Fragen wegen der Briefgeschichte" (268) stellten, zeigt aber, daß sie selbst über den Vorgang nichts Genaues wissen. Damit können sie auch von einer objektiven Schuld nichts wissen. Der Begriff ,Schuld' erscheint noch gar nicht. Die Familie wird einfach nach einer postulierten, aber nicht objektiv begründeten Notwendigkeit ausgestoßen. „Wir alle wußten, daß keine ausdrückliche Strafe kommen werde. Man zog sich nur von uns zurück" (274). Was geschieht, wird demnach der Familie nicht ausdrücklich als Strafe angetan. Dennodi fürchten sie „nichts Kommendes". „Wir litten schon nur unter dem Gegenwärtigen, wir waren mitten in der Bestrafung darin" (275). Die Strafe ist also eigentlich keine, sondern erscheint nur als solche im Bewußtsein der Familie, die sich mitten in der „Bestrafung" fühlt. Dem entspricht, daß alles „nicht nach einem regelrechten Prozeß" (258) geschieht, und, wie Olga selbst erkennt, „man bestrafte sie auch nidit unmittelbar, wohl aber bestrafte man sie auf andere Weise, sie und unsere ganze Familie" (258). D a keine direkte Strafe erfolgt, stellt sich die Frage, wodurch Olga dann das Bewußtsein der Strafe, das sie hat, gegeben wird. Die Reaktion des Dorfes erfolgte von diesem aus wegen der inneren Bindung an das Schloß als Garanten der Ordnung, innerhalb deren es auf das Schloß und seine Behörden sich zugeordnet weiß. Im Bewußtsein der Dorfbewohner geht das, was sie tun, vom Schloß aus - auch wenn sie nur meinen, daß dem so sei. Und Olga? „ . . . alles geht vom Schloß aus" (266). Wie die Dorfbewohner sieht auch sie die oberste Ursache dessen, was sie als „Strafe" (274) empfindet, im Schloß. Was aber geschieht wirklich? „Es geschah nichts" (274). Gerade darin, daß eigentlich nichts geschieht, sieht Olga die Macht des Schlosses. Während man aber den Rückzug der Leute natürlich merkte, w a r v o m Schloß gar nichts zu merken. Wir hatten ja früher auch keine Fürsorge des Schlosses gemerkt, wie hätten wir jetzt einen Umschwung merken können. Diese Ruhe w a r das Schlimmste. (274)
Zugleich „alles" und „nichts" also geht vom Schloß aus. Aber dieser scheinbare Widerspruch ist nicht echt. Dieses „nichts" ist nur die Art und Weise, wie für Olga „alles" vom Schloß ausgeht. Das Schloß tritt ihnen gegenüber nicht in Erscheinung; um aber dieses Nicht-Geschehen als Geschehen, diese Nicht-Strafe als Strafe auffassen zu können, muß man in der gleichen Weise wie die Dorfbewohner innerlich auf das Schloß ausgerichtet sein. Auch Olga denkt so wie die anderen im Hinblick aufs 81
Schloß, indem sie entgegen allem, was faktisch gesdiieht, dieses dem Schloß als letzter Ursache unterschiebt. Olga ist so im gleichen Maße der Ordnung verpflichtet, aus der die Dorfbewohner handeln, indem sie auch das Nichtgeschehen dem Schloß zuschreibt. Diesem, das sowohl „nichts" wie „alles" f ü r sie bestimmt, ordnet sie sich durch die Art, wie sie ihr Bewußtsein davon bestimmen läßt, bedingungslos unter. So sehr diese Konstellation durch das subjektive Bewußtsein der Personen allein sich ergibt, so sehr erweist sich zugleich darin dieses subjektive Bewußtsein als fremdbestimmt. Alle diese Leute wie Olga denken - anders als Amalia - nicht von ihrem selbstgewissenen Ich aus, sondern wie unter einer objektiven Nötigung. Nicht wir kamen hier als Familie in Betracht, sondern nur die Sache und wir nur der Sache wegen, in die wir uns verfloditen hatten. (276) War auch der Anlaß eine Person, Amalia, so geht es doch nicht um sie, sondern um eine „Sache". Damit wird vom betroffenen Subjekt selbst her das Problem, wie es sich zunächst seinem eigenen Bewußtsein darstellt, als ein außersubjektives reflektiert. So kann Olga den Dorfbewohnern unterstellen, sie hätten „einfach aus Pflicht" (275) gehandelt. Der Pflidit, die diese Leute übten, muß dann auf der Seite der Familie eine vorhergehende Pflichtverletzung entsprechen, die für diese eine Strafe nach sich ziehen kann. Damit wird der Begriff der Strafe, den Olga auf den Ausschluß anwendete, in einen sinnvollen ,objektiven' Zusammenhang gestellt. Strafe korrespondiert dabei negativ dem, was die Dorfbewohner positiv als „Pflicht" ausführen. Beide Begriffe bezeichnen die beiden Seiten eines Verhältnisses. So unterstellt sich Olga, indem sie die Tat der Dorfbewohner als objektiv notwendig anerkennt, dem, was diese objektive Notwendigkeit schuf: der Macht des Schlosses. Genauer: Das Sdiloß wird von beiden Seiten als letzter Bezugspunkt der innerweltlichen Ordnung des Dorfes und seines Verhaltens gedacht. Es bleibt selbst außerhalb dieser Welt, aber jede Handlung empfängt ihre Legitimation von dem bewußten Bezug auf es. In dieser Auseinandersetzung des Dorfes mit der Familie erweist sich die innere Bindung beider an diese Ordnung als formal gleichwertig für die, die sich ihr als einer „Pflidit" entsprechend verhalten, wie f ü r die, die durch „ S t r a f e " an ihre Gesetze gebunden bleiben. Zwischen diesen beiden Möglichkeiten erstreckt sich die Welt des Dorfes als eine in der Ausriditung auf ein gemeinsames Orientierungsmerkmal rein formale Ordnung. So wie das Schloß „nichts" tut, wird das Geschehen durch die Beteiligten im Dorf selbst gesteuert. Die Strafe, die eigentlich keine ist, wird von den 82
Betroffenen selbst herbeigeführt. Wie die anderen ihre Pflicht erfüllen, so übernimmt die Familie ihre Strafe. Wenn wir also nur wieder hervorgekommen wären, das Vergangene ruhen gelassen hätten, durch unser Verhalten gezeigt hätten, daß wir die Sache überwunden hatten, gleichgültig auf welche Weise, und die öffentlidikeit so die Oberzeugung gewonnen hätte, daß die Sache, wie immer sie auch beschaffen gewesen sein mag, nicht mehr zur Besprechung kommen werde, auch so wäre alles gut gewesen; überall hätten wir die alte Hilfsbereitschaft gefunden, selbst wenn wir die Sache nur unvollständig vergessen hätten, man hätte es verstanden und hätte uns geholfen, es völlig zu vergessen. Statt dessen aber saßen wir zu Hause. (ιγ6ί.)
Entscheidend ist, daß die Betroffenen selbst am Bewußtsein der Strafe festhalten und es nicht überwinden können. Sie hätten sich verhalten müssen, als wäre nichts gewesen. Eigentlich war ja audi „nichts" gewesen, als daß sich das Dorf von ihnen zurückzog - mehr nicht. Wichtiger aber ist das Bewußtsein, das indirekt an der Ordnung der Dorfwelt festhält, indem es sich vor dieser als bestraft empfindet. Gerade das hindert daran, den alten Zustand wiederherzustellen. Dieses Paradox wird nodi genauer hergestellt. So isoliert, wie sie sind, können sie auch nur auf Möglichkeiten reflektieren, durch die sie aus der isolierten Lage herauskommen könnten. Es war ja so natürlich, daß wir immerfort die Briefgeschichte besprachen, kreuz und quer, in allen sicheren Einzelheiten und allen unsicheren Möglichkeiten, und daß wir immerfort im Aussinnen von Mitteln zur guten Lösung uns übertrafen, es war natürlich und unvermeidlich, aber nidit gut, wir kamen ja dadurch immerfort tiefer in das, dem wir entgehen wollten. ( 2 7 7 L )
Die Familie denkt und handelt, wie sie als entfremdete nur denken und handeln kann, indem sie von ihrem subjektiven Bewußtsein als Bestrafte her überlegt. Indem sie aber sich damit ihrer Isolierung umso mehr vergewissert, verspielt sie immer mehr die Möglichkeit, sich daraus zu befreien. Damit wird die „Schuld", von der Olga sprach, erst auf sie fixiert. Sie wird dadurch beschworen, daß sie sich ihrer als unaufhebbar straffällig bewußt werden. Als man bemerkt, daß sich die Familie nicht aus der „Strafe" befreien kann, isoliert man sie „endgültig" (279). Damit bricht für die, die nicht wie Amalia in schweigender Selbstgenügsamkeit ruhen können, der letzte Halt zusammen. . . . wir konnten nicht mehr so weiterleben, ganz ohne Hoffnung konnten wir nicht leben und wir begannen, jeder auf seine Art, das Sdiloß zu bitten oder zu bestürmen, es möge uns verzeihen. (280)
Wie ihr subjektives Schuldbewußtsein eine Schuld voraussetzen müßte, so die Verzeihung irgendeine Strafbarkeit. So wie kein Prozeß stattgefun83
den hat und wie keine „ausdrückliche" Strafe ausgesprochen wurde, so wenig können sie jetzt Verzeihung erreichen. W o f ü r wollte er eine Verzeihung? Wann und v o n wem w a r denn im Sdiloß auch nur ein Finger gegen ihn gerührt worden? (28of.)
Die Beamten als objektive Instanz verweigern sich den subjektiven Ansprüchen, das Streben nach Verzeihung zu beglaubigen, indem sie eine objektiv vorhergehende Strafe anerkennen sollen. Solcher Strafe aber hätte wieder eine Schuld vorherzugehen, damit eine Strafe dafür erfolgen könnte. . . . in Wirklichkeit dachte er gar nicht an das Zurückgewinnen der Ehre, sondern nur an Verzeihung. A b e r um Verzeihung zu bekommen, mußte er erst die Schuld feststellen und die wurde ihm ja in den Ämtern abgeleugnet. (282)
D a ß man so im amtlichen Wege (2 84) nichts erreichen kann, weist zurück auf den persönlich-subjektiven Bereich, in dem die Kategorien von Strafe und Schuld entstanden sind. „Strafe" ist nichts anderes als der Versuch, das Phänomen der Entfremdung, die einem widerfährt, als objektive Kategorie zu erfassen und so noch mit der Welt, die man verloren hat, verbunden zu bleiben, in dem man sich dem unterwirft, was man als ,Geschick' vom Schlosse versteht. D a dies aber nur in der subjektiven Meinung existiert, kann es audi nicht gelingen, „die Schuld nachzuweisen" (284), die das, was man als Strafe empfindet, begründen könnte. Die Schuld bleibt im Bereich der Annahme, der Vermutung, der subjektiv erfahrenen Möglichkeit. Schuld ist somit bloß - Schuldbewußtsein. Als solches ist es eine Projektion der eigenen inneren Verfassung; ein Versuch, sich das eigene Schicksal im Rahmen der Gesetze der Welt, in der man steht, bewußt zu machen. Es hat sich dabei herausgestellt, daß es nicht gelingt, nachträglich den kausalen Charakter der Folge von Schuld, Strafe und Verzeihung herzustellen. Konkret hat sich nämlich der Charakter von Ursache und Wirkung für das subjektiv bestimmte Bewußtsein umgekehrt. 1
Günther Anders, der die Zusammenhänge nicht im einzelnen untersucht, hat ganz richtig als erster dieses Phänomen einer „Inversion von Schuld und Strafe" erkannt ( K a f k a , S. 37). In diesem begrenzten Zusammenhang des Schuldproblems erscheint, was Nietzsche für die A r t unserer subjektiven Erfahrung überhaupt als charakteristisch ansieht: „In dem Phänomenalismus der ,innern Welt' kehren wir die Chronologie von Ursache und Wirkung um. D i e Grundtatsache der ,inneren Erfahrung' ist, daß die Ursache imaginiert wird, nachdem die Wirkung erfolgt ist" (Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre. Werke in drei Bänden. H g . von K a r l Schlechta. 2. A u f l a g e 1962. Bd. III. S. 804). 1
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Die einzelnen Stufen, in denen sich das Schicksal der Familie vollzog, werden von Olga in der Reihenfolge ihrer Erfahrung erzählt. Zuerst zieht sich das Dorf von ihnen zurück, ein Vorgang, der sich zu einem „endgültig" (279) verfestigt. Dies wird als Strafe verstanden, daß die Familie die Rechte eines Teils der Dorfgemeinschaft, die feste Stellung in ihr, verliert und ausgesondert wird. Das Bewußtsein dieser „Strafe" zieht nun das der „Schuld" (290) nach sich, weil die Strafe nur als „Vergebung" aufgehoben werden kann, die ihrerseits die Schuld voraussetzt. Die wiederum wird vom Schloß - mit Redit, wie aus Olgas Erzählung hervorgeht - abgestritten. Um die Entfremdung aufzuheben, verstrickt sich die Familie damit in eine Kette von Reflexionen, die sie erst richtig in die Entfremdung hineinführen. ,Schuld' ist innerhalb dieser Reflexion unaufhebbar. Sie ist als notwendig im Bewußtsein der entfremdeten Existenz angelegt. Was als Schuld erscheint, wird immer noch vom Bewußtsein der rechten Ordnung her entschieden, die in der Isolation umso stärker erfahren wird. K.s Schuld K . selbst wird nur wenige Male zu dem Begriff ,Schuld' in Beziehung gesetzt. Entscheidend ist für ihn die Parallele zur Situation der Familie, die von beiden Seiten begriffen wird. Dennoch kann man aus den wenigen direkten Beziehungen zur Frage der Schuld noch einen spezifischen Unterschied erkennen, vor allem, weil sie Verhaltensweisen gegenüber verschiedenen Bereichen seiner Umwelt betrifft und nicht aus einem einheitlichen Komplex erschließbar ist. Da ist zum ersten der Bereich der persönlichen Beziehung zum anderen Menschen, besonders zur Frau. Frieda ist für K . der Prüfstein, inwiefern er sich diesem Lebensbereich gegenüber bewährt hat. Als ihre Beziehung zu Ende geht, sagt sie zu ihm: „Im Grunde ist alles deine Schuld" (328). Frieda sieht ihn als Ursache dafür an, daß ihr „Glück" (329) zerstört worden sei. Für sie erscheint er schuldig, weil durch sein Verhalten den Gehilfen gegenüber und indirekt - wie sie es sieht - auch gegen sie ihre Gemeinschaft entwertet und aufgehoben worden ist. Dem Menschen gegenüber, zu dem er die intensivste Liebesbeziehung angeknüpft hat, wird K . schuldig in der Weise, daß er diese Beziehung nicht aufrechtzuerhalten vermag. 2 K . ist dem Vorwurf der Schuld nicht gewachsen. Für 2
Die Begründung dafür geben wir in anderem Zusammenhang (vgl. unten die Abschnitte über Frieda, S. i5«)ff., den Exkurs .Gemeinschaft', S. i 7 j f f . , und ,Die verfehlte Möglichkeit: ,Die zwei Frauen", S. 234ÎÎ.).
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ihn selbst ist alles „unschuldig geblieben" (324). Die Schuld, die Frieda ihm v o r w i r f t , wiegt aber die selbstzufriedene Sicherheit K.s so weit auf, daß seine Meinung als objektiv z w e i f e l h a f t erscheint. K . w e i ß nicht, d a ß er schuldig sein kann. Er glaubt es nie z u werden, denn er meint: „alles ist unschuldig geblieben, wie es w a r und wie es nicht anders werden k a n n " (324). D a s zweite M a l erscheint K . sdiuldig nadi seinem Versudi, sidb im Bereich der Schloßbürokratie im Herrenhof aufzuhalten. V o m Wirtsehepaar w i r d ihm „Schuld" (370) zugerechnet, weil er „ z u Unrecht" (370) sich v o r den Zimmern der Beamten aufgehalten hat, w o er nichts zu suchen habe. Ihnen ist die Schuld, die darin liegt, „selbstverständlich" (370), K . gar nidit. E r hält sich seinen „guten G l a u b e n " (370) zugute, der ihn subjektiv v o n jeder Schuld freispricht. A b e r „nur sehr langsam erkannte K . alles" (370). Er muß sich erst die Argumentation der Wirtsleute klarmachen, bevor er sie auf „Schuld" beziehen kann, weil er sich selbst keine Schuld zumißt. Den anderen ist sie fraglos; sie läßt sich als objektives Vergehen gegenüber einem Recht als „Unrecht" (370) des betreffenden Subjekts erkennen. K . selbst w i r d sidi dessen nicht b e w u ß t ; das Phänomen der Sdiuld wird, w i e v o n Frieda, v o n außen an ihn herangetragen, ohne daß er diese Schuld akzeptierte. D a ß er sie nicht anerkennt, ist f ü r ihn bezeichnend. Gerade in der Konfrontation von außen läßt sich zeigen, daß „Schuld" sogar hier letztlich v o n K . selbst begründet ist, auch wenn er es nicht merkt oder nicht wissen will. Das geht aus dem Fragment hervor, in dem der Dorfsekretär Momus seine Eindrücke v o n K . z u Protokoll gibt und das v o n M a x Brod der Ausgabe des Romans angefügt wurde. 8 Dieses Protokoll besitzt einen A b g l a n z der Autorität der Schloßbehörde, die damit eine gewissermaßen authentische Interpretation K.s gibt. Die Beurteilung w i r d besonders auf sein Verhältnis z u Frieda abgestellt, erfolgt jedoch nicht mehr aus dem Blickwinkel der Beteiligten, sondern »objektiver', v o n oben. Des Landvermessers K. Schuld zu beweisen, ist nidit leicht. Man kann nämlich auf seine Schliche nur kommen, wenn man sich, so peinlich es auch ist, ganz in seinen Gedankengang hineinzwingt. . . . Zur Wahrheit gelangt man erst, wenn man genau in seinen Spuren, die wir, von der Ankunft angefangen, hier aufgezeigt haben, bis zur Verbindung mit Frieda geht. (486f.) Kafka hat dieses Fragment offenbar deshalb nicht in ein Kapitel eingebaut, weil seine berichtende Haltung K. zu sehr aus einer außersubjektiven Perspektive beleuchtet und nicht in die Erzählhaltung paßt. Es tritt als direkte Interpretation durch einen Vertreter der letzten Instanz aus dem System der indirekten Spiegelung heraus, das der Roman aufbaut. 3
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K.s Schuld liegt demnach in seinem Innern, genauer: in seinem Denken. Er wird schuldig durch die Art und Weise, wie er denkt. Das ist der notwendige Schluß aus dem Hinweis, daß man seine Schuld nur beweisen kann, indem man seine Gedanken nachvollzieht und so die „Wahrheit" über seine Schuld aus ihm selbst ableitet. Diese Interpretation seines Denkens gibt zugleich die Genese seiner Schuld. Mit seinen Gedanken manipuliert K. seine Welt, besonders in Bereichen, die seine Mitmenschen betreffen, und vergreift sich an deren Eigenrecht,4 gerade weil er seines eigenen Rechts nicht gewiß ist und ständig unterwegs, sich erst seiner selbst durch einen sicheren Halt zu vergewissern.5 K. hat keine Beziehung zu seiner Schuld. Sie wird ihm zugeredinet. Die fraglose, sichere Beziehung zur Umwelt, in die die Schuld ihn auf ihre Weise - wie die Familie des Barnabas - integrieren könnte, gewinnt er damit nicht. Das setzte für ihn auch voraus, diese Ordnung zu kennen und zu akzeptieren, von der her er schuldig gesprochen werden kann. Als Strebender aber hat er sie nicht. Daß K. seine eigene Schuld hier verfehlt, liegt nicht nur an seinem Streben, sondern auch daran, daß er seinen Begriff von ihr entsprechend seiner eigenen Lage in eine ganz andere Richtung entwickelt. Er interpretiert sein Verständnis des Begriffes ,Schuld', als er ihn auf Barnabas anwendet. M i t dem allem w i l l idi sagen, daß irgend etwas da ist, irgend etwas dem Barnabas angeboten wird, wenigstens irgend etwas, und daß es nur die Schuld des Barnabas ist, wenn er damit nichts anderes erreichen kann als Z w e i f e l , A n g s t und Hoffnungslosigkeit. (244f.)
„Schuld" wird hier von K. darin gesehen, daß Barnabas eine letzte, immer weiter hinausgeschobene und inhaltlich völlig belanglose Möglichkeit verfehlt, von der er aufgrund dessen, was Olga ihm erzählt hat, voraussetzt, daß es sie in irgendeiner Weise geben muß. Für ihn selbst ist ja eine ähnlich vage Möglichkeit die Grundlage seines Strebens und schon deshalb etwas, woran er für sich auf jeden Fall festhalten muß, auch wenn sie nur „irgend etwas" ist. Damit kann zwar keine Schuld objektiv fest4
„ N u r aus Berechnung schmutzigster A r t hat K . sidi an Frieda herangemacht und w i r d nicht v o n ihr lassen, solange er noch irgendwelche H o f f n u n g hat, daß seine Rechnung stimmt" (487). 5
„ E r glaubt nämlich in ihr eine Geliebte des H e r r n Vorstandes erobert zu haben und dadurch ein P f a n d zu besitzen, das nur zum höchsten Preise ausgelöst werden kann. Ü b e r diesen Preis mit dem H e r r n Vorstand zu verhandeln ist jetzt sein einziges Streben. D a ihm an Frieda nidits, am Preise alles liegt, ist er hinsichtlich Friedas zu jedem Entgegenkommen bereit, hinsichtlich des Preises aber gewiß hartnäckig" (487).
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gestellt werden, aber sie wird als Verfehlen dessen verstanden, was als ein ,objektiver' Wert, wenn auch als bloße Möglichkeit, dem Menschen angeboten zu werden scheint. Schuld ist für K. nidit wie für die Familie die subjektive Voraussetzung des Strebens, das die Folgen der Schuld aufheben soll, sondern Scheitern im Streben. Solange K. an seinem Ziel festhält, braucht er keine Schuld zu erkennen. Sie ist für ihn eine subjektive Kategorie, die das negative Verhältnis des Menschen zu seinen Möglichkeiten kennzeichnet. Die Schuld führt notwendig in die Angst als das Bewußtsein des möglichen Scheiterns, des Versagens gegenüber den Möglichkeiten - zum Versagen als eigener Möglichkeit.® Amalia ist gegenüber K. der ,Sprung' in die unvermittelte Selbstgewißheit des Ich vor sich selbst gelungen, was sich im Rahmen des Miteinander in der Welt als Entfremdung zeigt. Audi K. ist im Zustand der Entfremdung von der Welt, aber ohne diesen inneren Halt. Er entspricht damit Olga und der Situation der Familie. Ein Unterschied zur Familie ist wichtig für den weiteren Gang des Romans. Für K. sowohl wie für die Familie des Barnabas liegt die Grundlage dafür, daß man sie als „schuldig" bezeichnen kann, in ihrem Verhältnis zur Welt als Bezugspunkt für solche Urteile. Dieses Verhältnis zur Welt lag bei der Familie deren Sdiuldbewußtsein schon als eindeutig fixiert zugrunde. Für K., der seine Sdiuld ablehnt, muß man erst zu ergründen versuchen, ob er nicht auch durch den Charakter der Welt, wie er sie erfährt, schuldig werden muß, u. U. in einem anderen Sinne als die Familie.7 Dazu muß das Bild seiner Welt weiter und genauer gezeichnet werden. Exkurs: Zum Begriff der Schuld bei Jaspers Die Schuld, der die Familie in der Ausschließlidikeit ihres subjektiven Bewußtseins unterliegt, erscheint damit als notwendig und zwingend. Abgeleitet aus der konkreten Form ihrer Existenz, bleibt sie unaufhebbar an • „ D i e A n g s t unterscheidet sich von der Furcht dadurch, daß die Furcht Furcht der Lebewesen v o r der W e l t ist und die A n g s t A n g s t v o r mir selbst. D a s S d i w i n delgefühl ist A n g s t in dem Maße, als ich mich d a v o r fürdite, nidit sowohl in den A b g r u n d zu fallen, als vielmehr midi hinabzustürzen" (Sartre, D a s Sein und das Nichts. S. 7 1 ) . Die Faszination durdi das .objektive' Ziel des Schlosses bewahrt K . v o r der Reflexion auf die Möglichkeit, es nicht erreichen zu können. 7 D a s Protokoll des Momus sieht ihn nur aus dem immanenten Zusammenhang dieser W e l t heraus, ohne K . s ganze Existenz, also audi seine Vergangenheit zu berücksichtigen.
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diese gebunden. Sdiuld ist dem Menschen durdi die A r t seiner Existenz in der Welt selbst mitgegeben. E r kann sich nicht in Freiheit und eigener geistiger Verantwortung vor ihr bewahren, sondern unterliegt ihr, weil er sein Dasein nicht bestimmen kann, bevor er schuldig wird. 8 Schuld ist ein Begriff nachträglicher Einsicht in das, was ist. Insofern gehört sie zur Selbsterkenntnis. Sie bemißt sich aber von der Anerkenntnis einer Instanz her, an der sich das Ich als begrenzt, als scheiternd erfährt. Man erfährt sich als begrenzt durch das, woran man schuldig wird. Damit bestimmt man sich in Beziehung auf ein Anderes. Karl Jaspers hat ähnliche Einsichten im Zusammenhang mit einer Analyse der menschlichen Existenz überhaupt entwickelt. Schuld ist dabei mit der Existenz immer verbunden. Der MensA ist unentrinnbar sduldig. Es gibt kein Leben, das schuldlos fortzusetzen wäre. Schon wenn ich mir bewußt werde, bin idi schuldig geworden, ohne es gewollt zu haben. Durch Handeln wie durch Nidithandeln, durch mein Dasein allein als solches bin ich schuldig.9 Dabei ist diese Schuld zugleich mit dem Menschsein mitgegebenes Erbe und eigenstes Produkt des schuldigen Subjekts. Jaspers beleuchtet das von einer äußeren und einer inneren Seite. Als der Mensch in die Welt trat, muß er durch seine Freiheit sogleich schuldig geworden sein. Und jede folgende Generation nahm an der Schuld teil, sofern sie sich aneignete, was in der Überlieferung des Lebens als selbstverständlich in ihr Leben trat. Jeder Einzelne hat von früh an, noch bevor er sich dessen bewußt wird, schon teilgenommen an der Schuld der Ahnen, weil er sein eigenes auf das alte Leben gründete, nicht nur im Guten, sondern auch im Bösen, Unwahrheit aufnahm und selbst vollzog. Er als Einzelner wird weiter schuldig an dem, was in seiner Zeit an Bösem geschieht, sofern er nicht getan hat, was er konnte, sofern er nicht sein Leben einsetzte, um es zu verhindern, und um das Gute hervorzubringen. Er ist am Leben geblieben nur um den Preis, das Böse in seiner Welt untätig zuzulassen.10 Entscheidend ist die innere Seite, die Weise, wie das Subjekt selbst in seiner Existenz seine Schuld als begründet erfährt. Schuld ist wesentlich nicht 8
Hier wird das Phänomen der Sdiuld nur in der an der Familie entwickelten Art aufgegriffen. Für Amalia gilt das Gesagte natürlich nicht, wie der Schuldbegriff selbst nur von außen her auf sie anwendbar erschien. * Karl Jaspers, Philosophische Logik. Bd. I: Von der Wahrheit. Neuausgabe 1958. S. 873. Dieser extreme Schuldbegriif läßt sich im Roman ansatzweise auch nur mit der Lage der Familie in der Entfremdung in Verbindung bringen. Für ein Bewußtsein, das sich nur in der Entfremdung erfährt, scheinen Jaspers' Formulierungen genau zu treffen. 10 Jaspers, Wahrheit. S. 536.
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nur eine Frage moralisch verpflichteten Verhaltens, sondern zugleidi eine, die sich aus der Problematik der menschlichen Erkenntnis ergibt. Schuld ist es nämlich, die Erkenntnis der Wahrheit, die dem Menschen möglich wäre, zu versäumen. Schuld ist es, niât zu wissen, was ich wissen könnte, sofern für den Bereidi meines Tuns dieses Wissen wesentlich ist. 11
Dabei gibt es aber keine Möglichkeit, dieser Schuld zu entgehen. „Bewußtheit ist die Quelle von Unwahrheit - . . . ° 1 2 Die bezeichnende Parallele des Jaspers'schen Schuldbegriffs zu der Darstellung des Schuld-Phänomens im Roman liegt in der Struktur der menschlichen Existenz als Miteinander, in der sidi Schuld als ein Verhältnis zu den Menschen und zur Welt allgemein zeigt, das immer schon gebrochen und aus sich selbst nicht aufhebbar ist. Indem der Mensch sich als ein Anderes im Unterschied zu Anderen begreift, erfährt er zugleich seine Begrenztheit. 13 Im Gegenüber zu den Anderen erkennt sich der Mensch gleichursprünglich als schuldig ihnen gegenüber. Wenn ich im Dasein mögliche Existenz bin, werde ich wirklidi durch das Eine. Das Eine ergreifen, heißt anderes Mögliche, wenn auch still und im Sinne rationaler Moral schuldlos, zurückweisen. Das Andere aber sind Menschen als mit mir mögliche Existenzen. 14
Als Erkenntnis dessen, der in der Welt ist, ist die Selbsterfahrung des Menschen immer auch auf Handeln bezogen, so daß er seine Schuldhaftigkeit jeweils aktualisieren muß, indem er sich selbst verwirklicht. Jede Handlung hat Folgen in der Welt, von denen der Handelnde nidit
wußte. . . . Dadurch, daß idi mit meinem Dasein meine im Kampf und Leid Anderer zulasse, zu leben. 15
Lebensbedingungen
habe ich die Sdiuld, durch Ausbeutung
Dieser Schuld kann man auch nicht durch Verzicht auf die eigene, im Handeln begründete Existenz ausweichen, denn „Nichthandeln ist selbst ein Handeln, nämlich Unterlassen. . . . Also ob ich handle oder nicht handle, beides hat Folgen, in jedem Falle gerate ich unvermeidlich i a Schuld."1® Jaspers, Wahrheit. S. J32. Jaspers, Wahrheit. S. 5 3 1 . Das trifft sogar auf K. zu, sofern sein Bewußtsein vor allem negativ bestimmt und fern von echter Einsicht ist. 13 „Die Endlichkeit des Menschen ist die Quelle der Unwahrheit" (Jaspers, Wahrheit. S. J30). 14 Jaspers, Philosophie. 2. Auflage 1948. S. $06. 15 16 Jaspers, Philosophie. S. 506. Jaspers, Philosophie. S. $07. 11
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Der wichtige Unterschied zwischen den Positionen des modernen Philosophen und dem von Kafka entwickelten Phänomen der Schuld in der Entfremdung bleibt darin bestehen, daß bei Jaspers in jedem Augenblick die Möglichkeit der Wahrheit für den Menschen, also der Unschuld nach aller welthaften Schuld, im Blick bleibt. Von dieser Möglichkeit der Wahrheit aus wird seine Sdiuld für Jaspers erst ganz deutlich. Die notwendige Begrenztheit des subjektiven Idi, seine Endlichkeit, steht in schuldhaftem Gegensatz zur Möglichkeit der eigenen Grenzüberschreitung, in der der Mensch sich dem Unendlichen als der Möglichkeit von Wahrheit für ihn stellt. Der eigentliche „Plausibilitätspunkt", 17 von dem her erst die Wahrheit der eigenen endlichen Existenz durchsichtig gemacht werden kann, liegt für Jaspers jenseits dieser Existenz, 18 während bei Kafka nur die Möglichkeit der fraglosen Gewißheit in der festen Ordnung der anerkannten Umwelt erscheint, die nicht über das eigene Dasein hinaus ist. Für die Familie gibt es die positive Möglichkeit der Selbstüberschreitung deshalb nicht. Die Schuld bindet unlöslich. Indem Olga und ihr Bruder Vergebung der Schuld suchen, aber sie nicht aus sich überwinden können, bleiben sie an ihre irdische Begrenztheit, an ihre Welt gebunden.
17
Broch, Der Zerfall der Werte. Essays II. S. 20. „Weil der Mensdi Unwahrheit überwinden kann oder doch den Anspruch an sich stellt, sie ins Grenzenlose voranschreitend zu überwinden, ist im Menschen mit aller Unwahrheit seine Schuld verknüpft" (Jaspers, Wahrheit. S. 531). 18
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K.S Verhältnis zu Amalia und die beiden Seiten der Entfremdung
Der SchuldbegrifF berieht sich durch die Art, wie er an der Familie entwickelt wird, auf einen Bereich geordneter Beziehungen und eines intakten Verhältnisses zu einer höheren Ordnung als es die Selbstgewißheit des beschränkten Individuums ist. In dieser Beziehung wird Schuld als Formel für menschlidies Verhalten erst relevant. Sie ist unausweichliches Ergebnis der Erkenntnis von sich selbst, aber nur in dieser Situation der Freiheit als Entfremdung. Diese Entfremdung ist, mit dem Problem der Reflexion verbunden, von K a f k a selbst in versdiiedenen Texten mit größerer Schärfe und grundsätzlicher Bedeutung gezeigt worden. Dabei verbindet sich diese Analyse mit der von der Philosophie geleisteten so, daß für den systematischen Zusammenhang der abstrakt realisierten inneren Einheit des Romans Kriterien gewonnen werden können, die einerseits die Aspekte dieses Zustandes der Entfremdung für die weiterführende Analyse des Romans geben, auf der anderen Seite zentral in den geistigen Zusammenhang der Dichtung K a f k a s mit dem modernen, philosophisch begründeten Bewußtsein führen. 1 Die spezifische Auseinandersetzung mit der überpersönlichen Problematik der von K a f k a dargestellten Phänomene aber findet im Zusammenhang der Dichtung selbst statt. Dabei ist der Unterschied zu den historisch vorhergehenden Analysen paralleler Erscheinungen wesentlich.2
Unsere methodischen Voraussetzungen sollen sich hier also konkret bewähren, indem das Phänomen im Horizont des allgemeinen Begriffs verstanden wird. 2 Für unsere Methode, aus der Analyse des Werkes selbst typische Phänomene als vergleichbare Denkansätze in bezug auf allgemeine Probleme zu formulieren, an denen sich historische Gemeinsamkeiten und Differenzen zeigen lassen, bedarf es im Grunde keiner biographischen Beglaubigung entsprechender Kenntnisse K a f k a s . Lassen sie sich aufweisen, umso besser. Uns scheint aber der indirekte, vermittelte Weg über die Probleme der Dichtung ,objektiver' als der scheinbar direktere über die biographische Person. Nur so kommt man zudem im Reflexionshorizont der Hauptgestalt über diese hinaus. 1
9*
Κ . und Amalia: Selbst- und Weltentfremdung Κ . wie Amalia werden von der Entfremdung betroffen, aber in verschiedener Weise. K . ist für sich selbst - da er seine Existenz erst positiv bestimmen muß - und Amalia für die anderen Menschen,entfremdet'. D a sich bei beiden ihr Verhältnis zur Welt als ein Problem darstellt, wie sich ihr Bewußtsein diese Welt aneignet, können wir zur Verdeutlichung des Problemansatzes nodimals auf Fichte zurückgreifen, der diese A r t von Bewußtsein, wie sie Amalia bestimmt, und sein Verhältnis zur Welt ähnlich formuliert hat. K a f k a fehlt natürlich die eigentliche Dimension der Fichteschen Philosophie, die Untersuchung der Bedingungen und der Begründung der Erfahrung überhaupt. Aber auf der Ebene der Schlußfolgerungen für das von Freiheit bestimmte Leben berühren sich die Einsichten. Wer . . . seiner Selbständigkeit und Unabhängigkeit von allem, was außer ihm ist, sich bewußt wird, - und man wird dies nur dadurch, daß man sich unabhängig von allem durdi sich selbst zu etwas macht, - der bedarf der Dinge nidit zur Stütze seines Selbst, und kann sie nidit brauchen, weil sie jene Selbständigkeit aufheben, und in leeren Schein verwandeln. Das Ich, das er besitzt, und welches ihn interessiert, hebt jenen Glauben, an die Dinge, a u f ; er glaubt an seine Selbständigkeit aus Neigung, er ergreift sie mit A f f e k t . Sein Glaube an sich ist unmittelbar. 3
Damit wird, wie uns scheint, auf den ersten Blick die Position Amalias deutlich beschrieben. Den entscheidenden Unterschied aber muß man ebenso deutlich sehen. Amalia entgeht zwar der Gefahr der Selbstentfremdung, dem Verlust des Idi an die bestimmende Macht der Dinge, aber die absolute Selbstgewißheit blockiert den Drang zur Erkenntnis überhaupt, sofern sie sich auf die außersubjektive Welt und auf die Dinge richtet.4 Diese Selbstgewißheit ist auch Entfremdung, weil sie ein edites commercium mit der Welt aufhebt. Sie ist deshalb nichtig genau in dem Maße, als sie reines Bewußtsein ohne Tun bleibt. Ihr haben sich die Dinge, die Welt außer ihr, entfremdet. Amalia bleibt in sich verschlossen, in unfruchtbarem Wissen von sich selbst, dem sich in durch seine Entstehung bedingter Ausschließlichkeit als Selbstbewußtsein alle konkreten Inhalte entziehen. K . dagegen, der sidi „noch nicht zum vollen Gefühl" seiner „Freiheit, und absoluten Selbständigkeit erhoben" hat, findet „sich selbst nur im Vor3 Fichte, Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre. S. 20. S. 69 oben zitierten wir diesen Absatz bereits in anderem Zusammenhang. 4 Amalia schweigt und kümmert sidi nicht mehr um die Welt.
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stellen der Dinge." Fichte sagt davon: „Ihr Bild wird ihnen nur durch die Dinge, wie durch einen Spiegel, zugeworfen; werden ihnen diese entrissen, so geht ihr Selbst zugleich mit verloren. . . . Alles, was sie sind, sie wirklich durch die Außenwelt geworden." 5 Damit wird der Zustand der Entfremdung des Idi von sidi selbst bezeichnet, den K. erlebt, weil er in der bestimmten Form seines Lebens als Strebender ganz durch seine Umwelt bedingt erscheint. Selbstentfremdung und Dingentfremdung sind aber, jedenfalls für die beiden Gestalten Kafkas, nur die zwei Seiten einer gestörten Beziehung zur Welt. Die totale Bestimmbarkeit der Dinge durch das Subjekt, die eben, als bestimmbar, substanz- und wertlos erscheinen müssen, und ihre totale Unbestimmtheit für den, der mit seinem absoluten Selbstbewußtsein die Fähigkeit zur Synthese seines Denkens mit den Dingen, zum Denken von eindeutigen Beziehungen, verloren hat, sind keine Gegensätze. Beide Positionen gehen vielmehr ineinander über, denkt man sie weiter anhand des Materials, das der Text bietet. Für K. bleibt kennzeichnend, daß er sidi bemüht, den Zustand seiner Entfremdung aufzuheben, der sowohl seine Beziehung zu den Dingen wie seine Selbstgewißheit betrifft. K. will eine nicht bloß subjektiv begründete Existenz erreichen, eine durch feste Bestimmungen gesicherte Welt. Die Metapher, die für ihn dieses Ziel umschreibt, wechselt, aber hinter allen Bezeichnungen verbirgt sich die gleidie erhoffte Funktion der Setzung einer objektiven Ordnung - sei sie als Instanz, als Behörde oder als Schloß vorgestellt. Bei beiden, K. wie Amalia, geht es um die Wechselwirkung der Vergewisserung von Ich und Welt, wobei nur die Gewichte verschieden verteilt sind. Bei K. wie bei Amalia gibt es keine Einheit der als Gegensätze erscheinenden Bereiche: sdion gar nicht im Denken; das begründet erst die Differenz. Neben K., der diesen Gegensatz überwinden will, weil er mit ihm nicht leben kann, ist Amalia ein K. in verfestigtem Zustand, ein nicht zuende gedachtes Problem. K. hat ihr gegenüber nämlich erfahren, wohin der Mensch mit dem bloßen Selbstbewußtsein kommt.® Er sucht von Anfang an aus freien Stücken eine ,neue Welt', weil der Zustand der erfahrenen und bewußten Entfremdung nur ein schizothymes Leben zuläßt. Für Amalia stellt sich dieses Problem nicht, weil sie diesen Schritt nicht mehr weitergedacht hat; K. hat audi den Zustand absoluten Selbstbewußtseins noch als Entfremdung reflektiert. 5
Fidite, Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre. S. 20. • Die Analyse der Vergangenheit K.s wird klären, wodurdi sein Denken konkret über das Amalias hinausgelangt ist.
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D i e Logik der Sache zwingt dazu, Selbstentfremdung und Weltentfremdung zusammenzudenken. A n einem neutralen Text läßt sidi, zunächst unabhängig von K., jeweils eine dieser Seiten aufzeigen, um sie dann im Blick auf Amalia und K. wieder zusammenzuschließen. Durch diese distanzierte Aufschlüsselung des Phänomens, zu dem Kafka die Hinweise gibt, läßt sich der ganze Problemkomplex differenzierter verstehen.
Selbstentfremdung. Das Paradigma: ,Der große Schwimmer' Ein Paradigma dieses Phänomens der Selbstentfremdung, wie sie K. betroffen hat, stellt ein hinterlassener, unvollendeter Text Kafkas dar. Weil er im Grunde nur diese Selbstentfremdung darstellt, kann sie mit aller Schärfe entwickelt werden. Diese Unabgesdilossenheit des Textes hat einen inneren Grund. „Der große Schwimmer" 7 bricht mitten in einer Rede ab; mit dem, was er erzählt, kann er nie zu einem Ende kommen, weil das Phänomen, das er durch seine Rede indirekt mitteilt, unaufhörlich weiterbesteht. ,Der große Schwimmer! Der große Schwimmer!' riefen die Leute. Ich kam von der Olympiade in Antwerpen, wo ich einen Weltrekord im Schwimmen erkämpft hatte. Ich stand auf der Freitreppe des Bahnhofes meiner Heimatstadt - wo ist sie? - und blickte auf die in der Abenddämmerung undeutliche Menge. Ein Mädchen, dem idi flüchtig über die Wange strich, hängte mir flink eine / Schärpe um, auf der in einer fremden Sprache stand: Dem olympischen Sieger. Ein Automobil fuhr vor, einige Herren drängten mich hinein, zwei Herren fuhren audi mit, der Bürgermeister und noch jemand. Gleich waren wir in einem Festsaal, von der Galerie herab sang ein Chor als ich eintrat, alle Gäste, es waren Hunderte, erhoben sich und riefen im Takt einen Spruch, den idi nicht genau verstand. Links von mir saß ein Minister, idi weiß nicht, warum mich das Wort bei der Vorstellung so erschreckte, ich maß ihn wild mit den Blicken, besann midi aber bald, rechts saß die Frau des Bürgermeisters, eine üppige Dame, alles an ihr, besonders in der Höhe der Brüste, erschien mir voll Rosen und Straußfedern. Mir gegenüber saß ein dicker Mann mit auffallend weißem Gesicht, seinen Namen hatte ich bei der Vorstellung überhört, er hatte die Ellbogen auf den Tisch gelegt - es war ihm besonders viel Platz gemacht worden - sah vor sich hin und schwieg, rechts und links von ihm saßen zwei schöne blonde Mädchen, lustig waren sie, immerfort hatten sie etwas zu erzählen und ich sah von einer zur andern. Weiterhin konnte idi trotz der reichen Beleuchtung die Gäste nidit scharf erkennen, vielleicht weil alles in Bewegung war, die Diener umherliefen, die Speisen gereicht, die Gläser gehoben wurden, vielleicht war alles sogar allzusehr beleuchtet. Audi war eine gewisse Unordnung - die einzige übrigens 7
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die darin bestand, daß einige Gäste, besonders Damen, mit dem Rücken zum Tisdi gekehrt saßen, und zwar so, daß nicht etwa die Rückenlehne des Sessels dazwischen war, sondern der Rücken den Tisch fast berührte. Ich madite die Mädchen mir gegenüber darauf aufmerksam, aber während sie sonst so gesprächig waren, sagten sie diesmal nichts, son- / dern lächelten mich nur mit langen Blicken an. Auf ein Glockenzeichen - die Diener erstarrten zwischen den Sitzreihen - erhob sich der Dicke gegenüber und hielt eine Rede. Warum nur der Mann so traurig war! Während der Rede betupfte er mit dem Taschentuch das Gesicht; das wäre ja hingegangen; bei seiner Dicke, der Hitze im Saal, der Anstrengung des Redens wäre das verständlich gewesen, aber ich merkte deutlich, daß das Ganze nur eine List war, die verbergen sollte, daß er sich die Tränen aus den Augen wischte. Dabei bildete er immerfort mich an, aber so als sähe er nicht mich, sondern mein offenes Grab. Nachdem er geendet hatte, stand natürlich idi auf und hielt audi eine Rede. Es drängte mich geradezu zu sprechen, denn manches schien mir hier und wahrscheinlich auch anderswo der öffentlichen und offenen Aufklärung bedürftig, darum begann idi: Geehrte Festgäste! Ich habe zugegebenermaßen einen Weltrekord, wenn Sie mich aber fragen würden, wie ich ihn erreicht habe, könnte ich Ihnen nicht befriedigend antworten. Eigentlich kann ich nämlich gar nicht schwimmen. Seit jeher wollte idi es lernen, aber es hat sich keine Gelegenheit dazu gefunden. Wie kam es nun aber, daß ich von meinem Vaterland zur Olympiade geschickt wurde? Das ist eben auch die Frage, die midi beschäftigt. Zunächst muß ich feststellen, daß ich hier nicht in meinem Vaterland bin und trotz großer Anstrengung kein Wort von dem verstehe, was hier gesprodien wird. Das Naheliegendste wäre nun, an eine Verwechslung zu glauben, es liegt aber keine Verwechslung vor, ich habe den Rekord, bin in meine Heimat gefahren, heiße so wie Sie midi nennen, bis dahin stimmt alles, von da ab aber stimmt nichts mehr, idi bin nicht in meiner Heimat, ich / kenne und verstehe Sie nicht. Nun aber noch etwas, was nicht genau, aber doch irgendwie der Möglichkeit einer Verwechslung widerspricht: es stört midi nidit so sehr, daß idi Sie nicht verstehe, und auch Sie sdieint es nidit sehr zu stören, daß Sie mich nicht verstehen. Von der Rede meines geehrten Herrn Vorredners glaube ich nur zu wissen, daß sie trostlos traurig war, aber dieses Wissen genügt mir nidit nur, es ist mir sogar noch zuviel. Und ähnlich verhält es sich mit allen Gesprächen, die ich seit meiner Ankunft hier geführt habe. Dodi kehren wir zu meinem Weltrekord zurück. Aus dem, was „der große Schwimmer" erzählt, und aus dem Bruchstück seiner Rede spricht ein seltsames Schicksal. Es ist das eines Menschen, der nur noch als eine Funktion existiert. Sein N a m e ist bedeutungslos, denn es gibt keine Verständigungsmöglichkeit mit der Umwelt, damit keinen sinnvollen Kontext, in dem der N a m e verständlich würde. Er wird nur „der große Schwimmer" genannt. Seine Person ist ersetzt worden durch das, was er getan hat; seine Leistung ist an seine Stelle getreten. Er hat sich an sein Tun im wörtlichsten Sinn „entäußert" und ist dabei als Subjekt verlorengegangen. 96
In der Stadt, in der er ankommt, bleibt er ohne persönliche Bindungen, obwohl sie doch seine „Heimat" ist. Sein Verhältnis zu ihr ist zwiespältig. Er sieht sich „auf der Freitreppe des Bahnhofes... [seiner] Heimatstadt", um sich erinnernd gleichzeitig zu fragen: „Wo ist sie?". Damit stellt er nicht nur ihre konkrete Lage im Augenblick, sondern ihre Existenz überhaupt infrage.8 In dieser Stadt lebt er ohne Kommunikation. Er wird nur - ins Auto - „geschoben"; er ist Objekt einer großen Veranstaltung, aber er versteht nicht, was der Festredner sagt und kann deshalb das Ganze nicht auf sich beziehen. Dabei läßt sich ein stufenweises Nachlassen seines Verstehens erkennen. Am Anfang konnte er den Ruf der Menge nodi hören, den Sprechchor der Gäste schon verstand er „nicht genau". Schließlich aber muß er feststellen, daß er „trotz großer Anstrengung" kein Wort von dem versteht, was gesprochen wird. Er hat auch keine rechte Einsicht in die Welt, die ihn umgibt. Er gewinnt keine Erkenntnis von ihrem Zusammenhängen. Er handelt nicht einmal bewußt, sondern reagiert (dem Minister gegenüber) unkontrolliert impulsiv, ohne zu wissen weshalb. Während er keinen Zusammenhang in den Einzelheiten entdecken kann, die er sieht, betrachtet er diese umso schärfer, wie den Schmuck der üppigen Dame. Aber nur in seiner unmittelbaren Umgebung. Sonst scheint gerade die Möglichkeit, gut zu sehen, ihm dies unmöglich zu machen: „vielleicht war alles sogar allzusehr beleuchtet." Er kann in dem Festsaal keine Übersicht gewinnen; „eine gewisse Unordnung" bleibt, die er sich nicht erklären kann. Neben der scharfen Sicht auf die Einzelheiten, die ihm nichts sagen Damen sitzen rittlings auf ihren Stühlen, mit dem Rücken zur Tafel und die er sich mit Anstrengung zu verstehen bemüht, steht die ungegliederte Masse der Menschen, in der er gar nichts unterscheiden kann. Wie er für die „Menge" der „große Schwimmer" ist, so bleibt sie für ihn eine amorphe Masse, die seiner eigenen Unbestimmtheit ebenso genau korrespondiert wie die unverstandene Welt des Festes. Darin, daß er nur noch als Funktion seiner eigenen früheren Tat erscheint, ist er von den anderen bestimmt, denen er als „der große Schwimmer" gilt. Die Allgemeinheit des ,Man' bestimmt über ihn.® Er ist diesem Be8
Er fragt nidit: „Wo ist sie jetzt?" * Wir verwenden damit einen Begriff Heideggers, der sich zur Beschreibung dieser Erscheinung der Entfremdung besonders anbietet. Vgl. dazu .Sein und Zeit' (10.Auflage 1963. S. 126): „ . . . d a s Dasein steht als alltägliches Miteinandersein in der Botmäßigkeit der Anderen. Nidit es selbst ist, die Anderen
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reich allgemeiner Festlegung, der äußerlichen Funktionsbestimmung verfallen, weil er ihm kein eindeutiges Selbstbewußtsein entgegensetzen kann. Dieses Ich, als das er sich von seiner Vergangenheit her bestimmen könnte, ist nidit mehr eindeutig faßbar. Seine Vergangenheit ist nur ein Faktum von fragloser Gültigkeit für ihn, soweit es mit seiner Leistung als Schwimmer zu tun hat. Er bezweifelt nicht, daß er auf der Olympiade war und einen Rekord erzielt hat. Alles andere aber kann ihm nidit mehr seine Identität mit sidi beweisen, sondern macht sie ihm nur fraglich. Erzählte er anfangs nodi von der Ankunft auf dem Bahnhof seiner Heimatstadt, so muß er das in seiner Rede wieder zurücknehmen: Er ist nicht in seiner Heimat. Und dodi ist er in sie „gefahren", es liegt keine „Verwechslung" vor. Der Sdilüssel zu diesem Wandel von fraglosem Dasein bei der Ankunft zur Einsicht in seine gänzliche Fremdheit liegt also nicht bei der Welt, die man „verwechseln" könnte, sondern in ihm selbst. In der Art und Weise, wie er ein Zurückgekommener ist, liegt seine Fremdheit. Er will nidit wissen, was er wissen könnte: Dieses Wissen wäre die Einsicht, daß er nicht mehr er selbst ist, wie seine Heimat nicht mehr seine Heimat ist. Und dieses Wissen könnte er nicht ertragen, deshalb lehnt er es ab. Er hat zugleich mit seiner Ankunft die Identität mit sich verloren. Er ist nicht mehr, was er als Person war, und er ist nicht mehr als das, als was er empfangen wird: „der große Schwimmer". In dem Maße, wie er sein Selbstbewußtsein verloren hat, kann er audi seine Umwelt nicht mehr erkennen, sondern nur noch in unverständlichen Einzelheiten fassen. Zu dieser Funktion, als die er begriffen wird und in der er sidi nicht wiedererkennen kann, hat er sidi selbst gemadit. Es ist der Begriff seiner Leistung, die Folge seines eigenen Tuns, die sich verselbständigt hat und die ihn unterwirft, indem sie ihn definiert. Er hat sich selbst entfremdet, ohne sich in seiner Leistung noch zu erkennen und von ihr her sein Selbstbewußtsein wieder gewinnen zu können.10 haben ihm das Sein abgenommen." Sein philosophischer Zusammenhang bleibt ausgeklammert. 10 Das hier dargestellte Phänomen der Entfremdung stimmt nidit mehr mit dem positiven Begriff davon überein, den Hegel vor allem in der .Phänomenologie des Geistes' entwickelt hat. U m dies klarzumadien, zitieren wir hier eine Zusammenfassung, die Hegel selbst formuliert hat: „Da aber an sich das Ich den Unterschied schon in sidi selber hat, oder - mit anderen Worten - da es an sidi schon die Einheit seiner und seines Anderen ist; so ist es auf den in dem Gegenstande existirenden Unterschied nothwendig bezogen und aus diesem seinem Anderen unmittelbar in sich reflectirt. Das Ich greift also über das wirklich
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Der „große Schwimmer" hat auch kein eindeutiges negatives Bewußtsein, derart, daß er etwas bestimmtes n i â t ist. 1 1 Es ist kein Irrtum: Er hat seinen Rekord, er ist in seine Heimat gefahren - aber er kann auch gar nicht sdiwimmen, kennt weder die Leute noch die Sprache seiner .Heimat'. Gültig sind sowohl die positiven wie die negativen Bestimmungen dessen, was er ist. Aber zwischen ihnen ist kein Platz mehr für ihn selbst; zwischen ihnen wird er aus der Wirklichkeit hinausexpediert, weil er aus ihnen keine Einheit mehr herstellen kann. Das Bewußtsein, kein eindeutiges Idi zu haben, macht rückwirkend sogar die Voraussetzungen dessen fraglich, was er - als Gegenstand der Allgemeinheit des ,Man c - vergegenständlicht geworden ist. Er als der „große Schwimmer" kann nicht schwimmen und weiß nidit, wie er dazu kam, zur Olympiade geschickt zu werden. Dennoch versteht er sich als Sieger und Rekordgewinner. Der objektive Zwang der Bestimmung durch die Meinung der anderen definiert ihn noch dort, w o sich ihm subjektiv die Begründung für dieses Sein bei näherem Zusehen entzieht. Auch wenn er nur noch etwas ist, sofern er sidi als „der große Schwimmer" akzeptiert, wird doch durch ihn die Meinung der anderen von ihm indirekt als nichtig und unsinnig entlarvt, sofern sie nicht sein eigentliches Wesen, sondern nur die Entäußerung trifft. Damit ist sein Verhältnis zur Welt in dem Maße, wie es ihn bestimmt, grundlegend gestört. 12
von ihm Unterschiedene über, ist in diesem seinem Anderen bei sich selber, und bleibt, in aller Ansdiauung, seiner selbst g e w i ß " (System der Philosophie. III. Teil: Die Philosophie des Geistes. Jubiläumsausgabe B d . X . S. 257). „ D e r große Schwimmer" hat Bewußtsein von sich nur noch als Gegenstand, aber nicht mehr v o n sich als entäußertem, das er noch in der Vergegenständlichung als sein Anderes reflektierend mitvollziehen könnte. „ A b e r in der T a t ist das Selbstbewußtsein die Reflexion aus dem Sein der sinnlichen und wahrgenommenen Welt und wesentlich die Rüdekehr aus dem Anderssein" (Hegel, Phänomenologie des Geistes. H g . von Johannes Hoffmeister. 6. A u f l a g e 1 9 j 2 . (Philosophische Bibliothek 114) S. 134). Dieses sich aus der Entäußerung wieder herstellende Selbstbewußtsein geht dem „großen Schwimmer" ab. Er bleibt auf dem Stand der Einsidit in den Auseinanderfall v o n Sein und Bewußtsein. Er kann sich, weil er nicht mehr v o n sich selbst weiß, audi nicht mehr mit seiner eigenen Entäußerung in der Tat, sie aufhebend, erkennend wieder zusammenschließen. Hier liegt ein Unterschied zu K . vor, der gerade aus einem bestimmten negativen Bewußtsein v o n sich den Versuch zur Aufhebung der Entfremdung entwickelt. 12 Die Selbstentfremdung treibt das Bewußtsein v o n ihr notwendig über sie hinaus, über das .Selbst' wie über den Status der Entfremdung zugleich, wie zu zeigen sein wird. 11
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Exkurs: Selbstentfremdung
im Blick auf Marx
Mit dem Verharren im konkreten Zustand der Selbstentfremdung wird eine Situation aufgezeigt, die ihre philosophische Formulierung, entsprechend der Darstellung Kafkas, durch K a r l Marx gefunden hat. 13 Ein kurzer Rückblick kann die Verbindung in der Sadie deutlich machen. Für den, der sein Selbstbewußtsein an die selbstherrlich gewordene Form der Vergegenständlichung seines eigenen Tuns verloren hat, hat sich damit sein eigenes Tun als Sache von ihm abgelöst und in den Zusammenhang seiner Welt als ihm gegenüberstehend eingefügt. Es wird zum Teil der Welt, aus der heraus und in deren Zusammenhang er sich nicht mehr versteht. Dieses Kafkasche Idi besitzt z w a r noch die Einheit des Denkens, die einen Reflexionsvorgang, wie er ihn über seine eigene Lage anstellt, möglich macht, aber darin begreift er sich nicht mehr als Einheit von Tun und Bewußtsein, sondern nur noch als etwas Getanes, als vergangene Leistung, die damit von ihm ,abgetan' worden ist. Dieser Gegenstand, zu dem seine Tat für die Welt und für sein Bewußtsein geworden ist, gewinnt damit ein eigenes Leben, das vom Subjekt, das ihn erzeugt hat, nicht mehr zu steuern ist. Begreift man die Leistung des Schwimmers, die zu seinem Rekord geführt hat, unter dem Begriff der Arbeit, 1 4 so könnte man sagen: Der Gegenstand, den die Arbeit produziert, ihr Produkt, tritt ihr als ein fremdes Wesen, als eine von dem Produzenten unabhängige Macht gegenüber. Das Produkt der Arbeit ist die Arbeit, die sich in einem Gegenstand fixiert, sachlich gemacht hat, es ist die Vergegenständlichung der Arbeit. Die Verwirklichung der Arbeit ist ihre Vergegenständlichung. Diese V e r w i r k lichung der Arbeit erscheint in dem nationalökonomischen Zustand als Entwirklichung des Arbeiters, die Vergegenständlichung als Verlust und Knechtschaft des Gegenstandes, die Aneignung als Entfremdung, als Entäußerung,15
So wie M a r x an Hegel kritisierte: „ D a s mensâilidhe Wesen, der Mensch, gilt für Hegel gleich Selbstbewußtsein. A l l e Entfremdung des menschlichen Wesens ist daher nichts als Entfremdung des Selbstbewußtseins" (Kritik der Hegeischen Dialektik und Philosophie überhaupt. In: Marx/Engels, Die heilige Familie und andere philosophische Frühschriften. 1953. S. 82), so entschieden begreift er selbst das menschliche Selbstbewußtsein im Zusammenhang mit der gegenständlichen Form seiner Entfremdung. 13
14 Irgendwie muß sie seiner Leistung vorausgehen, auch wenn der Schwimmer selbst nicht darauf reflektiert. 15 K a r l Marx, Die entfremdete Arbeit. Zur Kritik der Nationalökonomie, ökonomisch-politische Manuskripte. Erstes Manuskript. In: Marx/Engels, Kleine ökonomische Schriften. 1 9 5 j . S.98.
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Für Marx ist der Vorgang der Entäußerung, in dem der Mensch als „Naturwesen" 16 durch seine Arbeit Gegenstände schafft, „gegenständlich" 17 wirkt, notwendig. Durch die Arbeit, mit der er die vorgegebene Natur sich zum Gegenstande macht, leistet er erst die „Verwirklichung seines Wesens und seines Wesens als eines wirklichen." 18 Mit Hegel sieht er so in der Arbeit den „Selbsterzeugungsakt des Menschen",19 aber nicht nur als Gewinnung des Selbstbewußtseins über den Weg der Entäußerung im Gegenstand wie dieser. Ein Wesen, welches seine Natur nicht außer sich hat, ist kein natürliches Wesen, nimmt nicht teil am Wesen der Natur. Ein Wesen, welches keinen Gegenstand außer sich hat, ist kein gegenständliches Wesen. Ein Wesen, welches nicht selbst Gegenstand für ein drittes Wesen ist, hat kein Wesen zu seinem Gegenstand, d.h. verhält sich nicht gegenständlich, sein Sein ist kein gegenständliches. Ein ungegenständliches Wesen ist ein Unwesen.20
Der Schwimmer bei Kafka aber hat den Zustand, sich gegenständlich, Gegenstände schaffend, zur Natur zu verhalten, übersprungen, indem ihm seine Arbeit, seine Aufgabe, von vornherein schon als eine gesellschaftlich vermittelte und bestimmte gegeben war. Zu ihr verhielt er sich - als Nichtschwimmer! - immer schon uneigentlich, nicht als Selbst, sondern als Mittel, das von anderen eingesetzt werden kann. Er ist zwar Gegenstand, aber hat dabei unmittelbar kein Verhältnis mehr zu sich selbst, zu seinem „Wesen". Als Schwimmer begreift er sich nur durch die allgemeine Meinung hindurch als deren Gegenstand. Er erfüllt durch die Entäußerung nicht sein Wesen, sondern bloß seine Funktion, so daß auch sein Bewußtsein in sich gespalten bleibt. Im „Verhältnis der Arbeit zum Akt der Produktion innerhalb der Arbeit" 21 zeigt sich die Selbstentfremdung des menschlichen Wesens für Marx. Dieses Verhältnis ist das Verhältnis des Arbeiters zu seiner eigenen Tätigkeit als einer fremden, ihm nicht angehörigen, die Tätigkeit als Leiden, die Kraft als Ohnmacht, die Zeugung als Entmannung, die eigene physische und geistige Energie des Arbeiters, sein persönliches Leben - denn was ist Leben (anderes) als Tätigkeit - als eine wider ihn selbst gewendete, von ihm unabhängige, ihm nicht gehörige Tätigkeit. 22 16 17 18 19 20 21 22
Marx, Marx, Marx, Marx, Marx, Marx, Marx,
Kritik der Hegeischen Dialektik. Kritik der Hegelsdien Dialektik. Kritik der Hegelsdien Dialektik. Kritik der Hegelsdien Dialektik. Kritik der Hegelsdien Dialektik. Die entfremdete Arbeit. S. 102. Die entfremdete Arbeit. S. 102.
S. 85. S. 8$. S. 92. S. 92. S. 8 $.
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Für den Schwimmer folgt daraus aber auch die Entfremdung von den Mitmenschen. Er erkennt niemanden; er sieht die anderen wie seltsame Puppen, deren Verhalten und Aussehen er zwar registriert, aber nicht begreift. Die Entfremdung von sich selbst und die von den anderen Menschen sind ein Vorgang, der zugleich aufgrund des Aktes der Tätigkeit Herrschaftsverhältnisse zwischen den Menschen bildet, in denen sich ihre entfremdeten Beziehungen vergegenständlichen. Als der „große Schwimmer" lebt er unter der Herrsdiaft derer, die ihn als Produkt seiner eigenen Tätigkeit manipulieren. „Wie er seine eigene Tätigkeit sich entfremdet, so eignet er dem Fremden die ihm nicht eigene Tätigkeit an." 23 Im Verhältnis zur Philosophie von Marx muß man für Kafka einen wichtigen Unterschied festhalten. Der Begriff der Entäußerung als positiver, produktiver Leistung, die den gegebenen, natürlichen Stoff der Welt verändert und damit dem Menschen die Lebens-Mittel verschafft, die er zu seiner körperlichen und geistigen Erhaltung und Bildung braucht, ist auf die Darstellungen Kafkas nicht anwendbar. Im Ansatz vergleichbar bleibt nur der negative Status des Menschen, dessen Tätigkeit entweder (wie beim Schwimmer) im Voraus in die Entfremdung umgeschlagen ist oder die (wie bei K.) erst aus der Entfremdung als Versuch zu deren Aufhebung hervorgeht. Im Gegensatz zur Marx'schen Ursituation des innerhalb der Naturbedingungen gegenständlich produzierenden Menschen stehen der Schwimmer wie K. immer schon auf einer späteren Bewußtseinsstufe - die als einzig vorhandene erscheint - , auf der das natürliche, wesentliche Sein des Menschen bereits von einem den gesellschaftlichen Bedingungen entsprechenden entfremdeten Bewußtsein deformiert worden ist. Deshalb kann ihnen eine positive Entäußerung gar nicht mehr in den Blidi kommen. Wir können nidit wissen, weshalb Kafka das Fragment vom „großen Schwimmer" unabgeschlossen ließ. Aber es entspricht der „Logik . . . [seines] Produziertseins", 24 dort keine Lösung mehr anzubieten, wo das Subjekt der Erzählung in seinem Bewußtsein sich nur den Zustand der Entfremdung an seinen konkreten Formen vergegenwärtigen kann, ohne seine Ursachen oder gar die Richtung einer möglichen Auflösung zu begreifen.
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Marx, Die entfremdete Arbeit. S. 108. Adorno, Noten zur Literatur II. S. 43.
Ding- oder Weltentfremdung In dem Augenblick, wo man die Selbstentfremdung des Menschen nidit mehr wie Hegel als die notwendige Durchgangsstufe auf dem Wege der Gewinnung des Selbstbewußtseins begreifen kann, sondern der Mensch allein nodi als vergegenständlichtes Wesen ohne ein darüber hinausgreifendes Selbstbewußtsein existiert, ist er zum Ding, zur „Ware" geworden. In dem Maße, wie sein konkretes Tun nidit mehr ihm gehört und ihn selbst bildet, begreift er auch seinen Zusammenhang mit der Welt, in der er lebt, nicht mehr. Er verhält sich zu ihr wie zu einer sinnlosen Ansammlung von einzelnen, ungeordneten, unerklärbaren bloßen „Dingen", deren Äußeres bestenfalls nodi beschreibbar ist, die aber zusammen auf keine einheitliche Welt mehr verweisen. » . . . wie die Gesellschaft selbst den Menschen als Menschen produziert, so ist sie durch ihn produziert."25 Das Abstraktum der bloßen Funktion schlägt zurück in die isolierte Abstraktheit der die Funktion bestimmenden Größe, der determinierenden Madit der begegnenden Welt. Der Mensch und die Bestandteile seiner Welt isolieren sich voneinander, derart, daß die Welt dem Menschen nicht mehr fraglos in seine Macht gegeben ist, sondern vor seinem zugreifenden Verstehen in ihre Teile auseinanderfällt. Die Verwirrung beginnt beim Ich, läßt sich von ihm her begreifen, zeigt sich aber ebenso an der Welt, an deren Bestandteilen man die ergänzende Gegenseite des Phänomens ablesen kann.
Das Paradigma: ,Die Sorge des Hausvaters' In dieser Geschichte hat Kafka die Gegenseite eindeutig thematisiert. D i e einen sagen, das W o r t Odradek stamme aus dem Slawischen und sie suchen auf G r u n d dessen die Bildung des Wortes nachzuweisen. Andere w i e der meinen, es stamme aus dem Deutschen, v o m Slawischen sei es nur beeinflußt. D i e Unsicherheit beider Deutungen aber läßt wohl mit Recht darauf schließen, daß keine zutrifft, zumal man auch mit keiner von ihnen einen Sinn des Wortes finden kann. Natürlich würde sich niemand mit solchen Studien beschäftigen, wenn es nicht wirklich ein Wesen gäbe, das Odradek heißt. E s sieht zunächst aus wie eine flache sternartige Zwirnspule, und tatsächlich scheint es auch mit Z w i r n bezogen; allerdings dürften es nur abgerissene, alte, aneinander geknotete, aber auch ineinander verfitzte Zwirnstücke v o n verschiedenster A r t und 25
M a r x , Nationalökonomie und Philosophie. I n : Die Frühschriften. H g . von
Siegfried Landshut. 1 9 5 3 . (Kröners Taschenausgabe 209) S. 2 3 7 .
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Farbe sein. Es ist aber nicht nur eine Spule, sondern aus der Mitte des Sternes kommt ein kleines Querstäbchen hervor und an dieses Stäbchen fügt sidi dann im rechten Winkel noch eines. Mit Hilfe dieses letzteren Stäbchens auf der einen Seite, und einer der Ausstrahlungen des Sternes auf der anderen Seite, kann das Ganze wie auf zwei Beinen aufrecht stehen. Man wäre versucht zu glauben, dieses Gebilde hätte früher irgendeine zweckmäßige Form gehabt und jetzt sei es nur zerbrochen. Dies scheint aber nicht der Fall zu sein; wenigstens findet sich kein Anzeichen dafür; nirgends sind Ansätze oder Bruchstellen zu sehen, die auf etwas Derartiges hinweisen würden; das Ganze erscheint zwar sinnlos, aber in seiner Art abgeschlossen. Näheres läßt sidi übrigens nicht darüber sagen, da Odradek außerordentlich beweglich und nicht zu fangen ist. Er hält sich abwechselnd auf dem Dachboden, im Treppenhaus, auf den Gängen, im Flur auf. Manchmal ist er monatelang nicht zu sehen; da ist er wohl in andere Häuser übersiedelt; dodi kehrt er dann unweigerlich wieder in unser Haus zurück. Manchmal, wenn man aus der Tür tritt und er lehnt gerade unten am Treppengeländer, hat man Lust, ihn anzusprechen. Natürlich stellt man an ihn keine schwierige Fragen, sondern behandelt ihn schon seine Winzigkeit verführt dazu - wie ein Kind. ,Wie heißt du denn?' fragt man ihn. ,Odradek', sagt er. ,Und wo wohnst du?' .Unbestimmter Wohnsitz', sagt er und ladit; es ist aber nur ein Ladien, wie man es ohne Lungen hervorbringen kann. Es klingt etwa so, wie das Rascheln in gefallenen Blättern. Damit ist die Unterhaltung meist zu Ende. Übrigens sind selbst diese Antworten nicht immer zu erhalten; oft ist er lange stumm, wie das Holz, das er zu sein scheint. Vergeblidi frage ich mich, was mit ihm geschehen wird. Kann er denn sterben? Alles, was stirbt, hat vorher eine Art Ziel, eine Art Tätigkeit gehabt und daran hat es sich zerrieben; das trifft bei Odradek nicht zu. Sollte er also einstmals etwa noch vor den Füßen meiner Kinder und Kindeskinder mit nachschleifendem Zwirnsfaden die Treppe hinunterkollern? Er schadet ja offenbar niemandem; aber die Vorstellung, daß er midi audi noch überleben sollte, ist mir eine fast schmerzliche.28 Dieses seltsame Wesen ist v o n keiner Seite her recht zu erfassen. Sein N a m e ist kein eindeutiger, fixierbarer Begriff, aufgrund dessen es zu identifizieren wäre. Er ist historisch nicht verstehbar und ordnet ihn dem vorhandenen allgemeinen Weltverständnis nicht ein. D a der N a m e verschiedene Deutungen zuläßt, bleibt audi das Verständnis des eigenartigen Dinges in Vermutungen stecken. Es ist nicht auf den Begriff zu bringen. D i e Deutungen des N a m e n s werden nur wieder v o n einem Schluß aus den Deutungen überboten: daß dann keine zutreffen könne. Wie Olga ersetzt hier der Hausvater fehlendes Wissen durch die Deutung v o n D e u tungen. Der Versuch, das Wesen zu interpretieren, folgt damit notwendig aus seiner unklaren, mit keinem bestimmten Gegenstand sicher vergleichbaren Gestalt. D a es nicht als Ganzes im Begriff erfaßt werden kann, 26
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ES.I44Í.
w i r d der Versuch d a z u v o n der Beobachtung ersetzt, die sich nur auf Einzelheiten richten kann. M i t einem bekannten D i n g , einer Zwirnspule, l ä ß t sich seine F o r m nur andeutungsweise vergleichen. Entscheidend ist gerade der Unterschied: D a s D i n g w i r d im physikalischen Sinne ex-zentrisch; indem es noch eine A r t Bein aus sich herausstellt, verlegt es seinen Schwerpunkt. Es k a n n stehen und erhält damit etwas Menschliches. Es ist so aber keine „ z w e c k mäßige F o r m " mehr, auch w e n n man geneigt ist, sie ihm f ü r seine (imaginäre) Vergangenheit z u unterschieben. N u r als solche F o r m w ä r e sie dem Menschen verständlich: w e n n er w e i ß , w o z u sie dient und w a s er mit ihr anfangen kann. Es ist, weil sich d a v o n nichts Sicheres feststellen läßt, damit der bestimmenden Macht, dem Gebrauch durch die Menschen, entzogen, ihm entfremdet. M a x Bense h a t es so z u verstehen gesucht: „ D o c h es ist w o h l ein ,entfremdetes Z e u g ' , denn es ist zusammengesetzt aus Bestandteilen, die als solche v o m C h a r a k t e r des Zeugs sind." 2 7 O d r a d e k ist f ü r den Betrachter ein A g g r e g a t v o n z w a r vergleichsweise identifizierbaren Einzelheiten, die aber auch nur als wahrscheinlich festgestellt w e r den können. D a s D i n g selbst entzieht sich k o n k r e t jedem Z u g r i f f . D i e Summe v o n einzelnen Bestandteilen ergibt keine Einsicht in den C h a r a k ter des Dings, weil sie die analoge Funktion benutzbaren Zeugs, nach der sie beschrieben werden, nicht erfüllen. 2 8 O d r a d e k ist wesentlich eben keine Zwirnspule. Es ist „sinnlos, aber in seiner A r t abgeschlossen." M a n kann es nur annäherungsweise beschreiben, nicht nach allgemeinen K r i t e rien, die aus den unzusammenhängenden Einzelbeobachtungen einen f ü r den Menschen erkennbaren Sinn formulierten - auch w e n n m a n a u f g r u n d seiner formalen abgeschlossenen G a n z h e i t vermuten kann, es habe einen solchen Sinn. O d r a d e k ist auch kein wirklicher Mensch. Z w a r hat er eine Stimme, k a n n auf einfache Fragen antworten und neben seinem N a m e n seine U n f a ß b a r k e i t selbst andeuten („unbestimmter W o h n s i t z " ) , aber er scheint auf der anderen Seite aus H o l z ; sein Lachen ist wie „ohne L u n g e n " hervorgebracht. Selbst als Material, als bloßer Gegenstand der Untersuchung, die sich Max Bense, Die Theorie Kafkas. 1952. S. 65. Bense benutzt dabei den von Heidegger geprägten Begriff des Zeugs als vom Menschen zu vorausentworfenen Zwecken benutztes Material, durch dessen Handhabung sich der Mensch seine Welt erst als eine für ihn erschließt. „Wir nennen das im Besorgen begegnende Seiende das Zeug" (Heidegger, Sein und Zeit. S. 68). 28 In sidi ist das Ding nicht einheitlich organisiert. Seine Zwirnsfäden sind abgerissen, alt, verknotet, ineinander verfilzt, nach Art und Farbe verschieden. 27
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mit einer vergleichenden Betrachtung („wie") begnügen muß, kann O d r a dek so verschieden erscheinen wie H o l z und ein Kind. Beides sind nur Annäherungsformen von Erkenntnis. Materielle Substanz und soziales, begegnendes Wesen können dabei nicht auseinandergehalten, aber auch nicht miteinander verbunden werden, so daß die einzelne Beobachtung nichts besagt, weil sie nicht zu den anderen paßt. Odradek ist nichts weiter als bloßes Ding.2® Damit zerfällt f ü r den Beobachter, den betrachtenden Interpreten dieses bloßen Dinges, der einheitliche Verstehensprozeß. Mit dem Objekt löst sich auch das erkennende Subjekt in Teile auf, die den verschiedenen Verstehensansätzen entsprechen.* 0 Im gleichen Maße aber, wie Odradek sich einem wirklichen Verständnis entzieht, gewinnt er Macht über den, der an ihm scheitert. Das Ding ist frei von der Herrschaft des Menschen; es geht frei in seinem H a u s aus und ein und beraubt ihn so der Verfügungsgewalt über seinen eigenen Lebensbereidi. Das eigene Bewußtsein ist diesem Ding, an dem es herumrätselt, nicht mehr überlegen, sondern wird von ihm beherrscht. Wie der Betrachter Odradek von seiner Vergangenheit zu deuten versucht, über seinen Namen, so reflektiert er auch auf seine Z u k u n f t als eine mögliche Festlegung und Identifizierung. Damit stellt er dieses Ding in ein analoges Verhältnis zum Menschen, zu sich selbst. Indem er nach Odradeks letztem Ziel fragt, sieht er zugleich sein eigenes, den Tod. In Hinsicht darauf aber ist dieses Ding auch nicht zu begreifen. £s hat kein Ziel, wie das menschliche Wesen, wie es kein ihm entsprechendes Leben hatte. Gerade seine Unerklärbarkeit gibt ihm Dauer dem Menschen gegenüber, der sich selbst und sein Leben durchschaut und damit schon sein Ende voraussehen muß. So scheint das Ding vielleicht unsterblich, auf jeden Fall aber überlegen. Allen seinen menschlichen Maßstäben unterliegt es nicht, auch nicht dem letzten, dem Tod. Zumindest versagt ihm gegenüber die menschlidie Erkenntnisfähigkeit. Es gehört nicht mit zur menschlichen Welt, aber indem es nicht in sie eingefügt werden kann, macht es sie als Ganzes fragwürdig. Es behauptet sich als Macht gegen den Menschen, indem es sich seinem Begreifen widersetzt. 20
Hegel hat seinen Charakter beschrieben : Es „ist nichts anderes als das Hier
und Jetzt, wie es sich erwiesen hat, nämlich als ein einfaches Zusammen von vielen" (Phänomenologie, S. 91). 30 Deshalb die „Sorge" des Hausvaters, der sich selbst mitbetroffen weiß und von der Unerklärbarkeit des Dinges zur belanglosen, begrenzten Existenz relativiert wird.
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Dingentfremdung als notwendiges Korrelat der Selbstentfremdung Das, was sich bei Kafka als Entfremdung der Dinge vom Menschen zeigt, verweist noch einmal zurück auf Marx' Beschreibung der Entfremdung. Hier zeigt sich - deutlicher als beim Phänomen der Selbstentfremdung ein ganz charakteristischer Unterschied, der geeignet ist, Kafkas eigene Darstellung dieses Verhältnisses des Menschen zur Welt genauer zu umreißen. Wir zitieren dazu zunächst einen Abschnitt von Marx, an dem sich diese genauere Einsicht gewinnen läßt. Eine Ware scheint auf den ersten Blick ein selbstverständliches, triviales Ding. Ihre Analyse ergibt, daß sie ein sehr vertracktes Ding ist, voll metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken. Soweit sie Gebrauchswert, ist nichts Mysteriöses an ihr, ob ich sie nun unter dem Gesichtspunkt betrachte, daß sie durch ihre Eigenschaften menschliche Bedürfnisse befriedigt oder diese Eigenschaften erst als Produkt menschlicher Arbeit erhält. Es ist sinnenklar, daß der Mensch durch seine Tätigkeit die Formen der Naturstoffe in einer ihm nützlichen Weise verändert. Die Form des Holzes z . B . wird verändert, wenn man aus ihm einen Tisch macht. Nichtsdestoweniger bleibt der Tisch H o l z , ein ordinäres sinnliches Ding. Aber sobald er als Ware auftritt, verwandelt er sich in ein sinnliches übersinnliches Ding. Er steht nicht nur mit seinen Füßen auf dem Boden, sondern er stellt sich allen andren Waren gegenüber auf den K o p f , und entwickelt aus seinem Holzkopf Grillen, viel wunderlicher, als wenn er aus freien Stücken zu tanzen begänne."' 1
Als Ware verselbständigt sich hier der vom Menschen aus dem Holz herausgearbeitete Tisch in ganz ähnlicher Weise wie Odradek seinem Hausherrn unabhängig gegenübersteht. Dennoch besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen der Entfremdung des Produktes von seinem Produzenten und der bestehenden Entfremdung des Menschen zu einem bloßen Ding oder der Welt zu Dingen. Odradek ist keine Ware - selbst sein Produziertsein ist zweifelhaft - , sondern bloßer Gegenstand des Bewußtseins als etwas zu Erkennendes. Mit einer Definition wie ,Tisch', könnte man sie eindeutig geben, wäre er schon zureichend begriffen. Kafka sieht dabei die Entfremdung als ein bestehendes Verhältnis des Menschen zu seiner Welt, das wesentlich im nicht zureichend begreifenden Bewußtsein begründet erscheint, ohne es wie Marx 32 mit einer objektiven Begründung als gesellschaftlich produMarx, Das Kapital. Bd. I. K a p . 1,4: Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis. 9. Auflage i960. (Volksausgabe) S. 76. Günther Anders hat in seinem Buch über K a f k a (S. 13) darauf hingewiesen, allerdings unkritisch identifizierend. 32 Der soziale Zusammenhang der Entfremdung wird jedenfalls an dieser Stelle gezeigt. 81
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ziert zu verstehen. 33 Was bei Marx die Entfremdung zur Ware bewirkt, ist bei Kafka schon ins subjektive Bewußtsein der Gestalten mit hineingenommen. Marx setzt den Vorgang der Produktion des Gegenstandes dem Bewußtsein des Menschen als Faktum voraus - vor aller Entfremdung des Produzierten zur Ware. Bei Kafka ist alles Bewußtsein von der Produziertheit des Dinges durch den Menschen ausgelöscht - gerade damit ist die Entfremdung gegeben. Die Entfremdung ist ein Scheitern möglicher Erkenntnis, die nicht mehr bis zu ihrem Gegenstand vordringen kann, und sie betrifft darin Subjekt wie Objekt gleichermaßen. In der Art, wie das Bewußtsein die Welt allein erfassen kann, sind sowohl das Idi wie zugleich seine Welt nur als entfremdet zu erfahren. Odradek ist Symptom der Entfremdung des sinnvollen Gegenstandes seines „Gebrauchswertes", 84 wie es Marx nennt - , aber nicht der Arbeit zur Ware. 35 Die Entfremdung bleibt ein Problem des Bewußtseins, erscheint nicht primär in der sozialen Welt begründet. Odradek ist allem konkreten Zugriff von vornherein entzogen, weil dieser von keinem Ziel her gelenkt werden kann. Die Entfremdung der Welt führt zur reinen Verdinglichung ihrer Teile, wie das Idi sich in der Selbstentfremdung vergegenständlichte. Was dem Menschen als Ding nun gegenübertritt, ist gerade nicht, an was sich der Mensdi durch die Arbeit entäußert hat. Was Marx als ,Arbeit' versteht, erscheint im Zusammenhang der Entfremdung der Dinge bei Kafka nur als ,Arbeit* des Bewußtseins, das unverstehbare Ding zu begreifen. Damit aber ist die Entfremdung nicht minder radikal. Wird sie vom Subjekt selbst wesentlich als eine des versagenden Denkens erfahren, so kann sie von diesem her nicht aufgehoben werden. Die Entfremdung erscheint deshalb bei Kafka ,real', im konkreten Erleben der Personen, weil deren Bewußtsein nur den Zustand der Entfremdung und sich in ihm erfährt, aber nicht darüber hinausgreifen und sidi selbst aufheben kann. Sofern der Mensch um seine Welt weiß, weiß er nur um sie als entfremdete. Aus dem Vorgang der Selbstentfremdung geht notwendig die Verdinglichung der menschlichen Welt hervor. Wer sidi selbst nicht mehr eindeu33
Beim Schwimmer war auch das nur aus seinem Bewußtsein erschließbar, aber diesem nicht als historisch-genetisdie Begründung, als ein objektives Phänomen vorausgesetzt. 34 Marx, Das Kapital I. S. 9 1 : „Alle Waren sind Nicht-Gebrauchswerte für ihre Besitzer, Gebrauchswerte für ihre Nicht-Besitzer." 35 Diese Beschreibung trifft als .Verdinglidiung' des Subjekts für sich selbst und die anderen nur den „großen Schwimmer". Auch da aber ist, im Gegensatz zu Marx, die subjektive Erfahrung primär. 108
tig von seiner Welt her begreifen kann, kann auch diese nicht mehr als in sich sinnvoll verstehen. Sie bleibt eine Ansammlung von nicht koordinierbaren Bruchstücken, die zwar in sich ,wirklich', aber sinnlos erscheinen. In dieser fehlenden Erkenntnis der Dinge erkennt sich doch das Bewußtsein, auf sich selbst reflektierend, als scheiternd. So i s t . . . das Ding der Wahrnehmung beschaffen; und das Bewußtsein ist als Wahrnehmendes bestimmt, insofern dies Ding sein Gegenstand ist; es hat ihn nur z# nehmen, und sich als reines Auffassen zu verhalten; was sidi ihm dadurch ergibt, ist das Wahre. 36
Dieses „Wahre" aber erfaßt bloß das Wahre des Dinges, denn „das Ding selbst ist das Bestehen der vielen verschiedenen und unabhängigen Eigenschaften.'"37 Es bleibt bei der bloßen Anschauung, anhand derer das Reflektieren auf den Gegenstand diesen - wie der Hausvater seinen Odradek - nur umkreisen und Einzelheiten seines Dingcharakters bemerken kann, ohne daß es ins eigene Bewußtsein in seiner Ganzheit als sinnvoll verstanden aufgenommen würde. So erscheint letztlich die Reflexion des Subjekts näher von Hegel her bestimmbar als von Marx, aber nur auf einer Stufe minderer Bewußtheit für Hegel, wo Ding und Bewußtsein noch unverbunden nebeneinander stehen, das eine nicht in seiner Realität durch das andere vermittelt ist. Kafka rutscht damit, bildlich gesprochen, vom absoluten Ansatz der idealistischen Philosophie immer wieder in die konkrete Auseinandersetzung des Bewußtseins mit der Welt ab. Die Reflexion ergreift sich selbst nicht „frei" (Fichte) von und vor aller welthaften Bestimmtheit - die negativ gezeichnete Ausnahme ist Amalia - , sondern nur zusammen mit der Welt. Bei Kafka gibt es die Trennung von auf sich selbst reflektiertem Ich und Sein (im Roman) nicht als positive Möglichkeit. Das „Sein" ist hier ausschließlich im direkt auf sein Verhältnis zur Welt reflektierenden Bewußtsein faßbar und ermöglicht dieses zugleich erst darin, daß der Mensch im Erfassen der Welt zum Selbstbewußtsein kommt. Deshalb kann man die Reflexion als Problem von den Gedanken des Idealismus her auch für K. im Ansatz begreifen, ihn aber nicht darauf festlegen, sondern muß für ihre .Erscheinung' im Roman gerade den Gegensatz, der sich bald auftut, herausarbeiten. 36
Hegel, Phänomenologie. S.