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German Pages 355 [356] Year 2000
L I N G U I S T I K UND DEUTSCH ALS F R E M D S P R A C H E
FESTSCHRIFT FÜR GERHARD HELBIG ZUM 70. GEBURTSTAG
LINGUISTIK UND DEUTSCH ALS FREMDSPRACHE H E R A U S G E G E B E N VON BERND SKIBITZKI BARBARA WOTJAK
MAX N I E M E Y E R VERLAG T Ü B I N G E N 1999
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Linguistik und Deutsch als Fremdsprache : Festschrift für Gerhard Heibig zum 70. Geburtstag / hrsg. von Bernd Skibitzki und Barbara Wotjak. - Tübingen: Niemeyer, 1999 ISBN 3-484-73052-8
© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 1999 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Druck: AZ Druck und Datentechnik, Kempten Einband: Großbuchbinderei Heinrich Koch, Tübjngen
Inhaltsverzeichnis
Wotjak, Barbara / Skibitzki, Bernd Wie doch die Zeit vergeht
IX
Borrissewitsch, Pavel Gerhard Heibig zum 70. Geburtstag
XI
Greciano, Gertrud Verehrter, lieber Herr Heibig
XIII
Studierende Eine kurze Untersuchung zur personellen Wirkkraft von Gerhard Heibig auf die Studierenden des Herder-Instituts
XV
Askedal, John Öle Zur Frage der Auxiliarisierung einiger deutscher Verben mit Infinitiv im Lichte der Grammatikalisierungstheorie
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Barz, Irmhild Kompositionsstrukturen
15
Bergerova, Hana Das Elend der Phraseographie und kein Ende. Diesmal am Beispiel deutsch-tschechischer Wörterbücher
29
Blei, Dagmar Aspekte historiographischer Forschung zum Deutschen als Fremdsprache
41
Dalmas, Martine Fakten und Effekte. Wozu gebraucht man eigentlich tatsächlich und Co?
53
Gärtner, Eberhard Zur Beschreibung komplexer Sätze in brasilianischen Gebrauchsgrammatiken
67
VI Götze, Lutz Eine funktionale Grammatik für Deutsch als Fremdsprache
81
Hennig, Mathilde Werden die doppelten Perfektbildungen als Tempusformen des Deutschen akzeptiert?
95
Hirschfeld, Ursula Phonetische Merkmale des Sächsischen und das Fach Deutsch als Fremdsprache
109
Kempcke, Günter Ein neues Wörterbuch „Deutsch als Fremdsprache"
121
Kubczak, Jacqueline Nachdenken über verletzen und die Folgen oder: Eine Valenzgruppe „in Not"
133
Maisch, Wolfgang Zur semantischen Grundlage deverbaler Nomen
149
Reinecke, Werner Logogenmodell und Faktorenmatrix des Spracherwerbs. Anmerkungen zu ihren komplementären Potenzen
159
Schröder, Jochen Alles gut bedacht - Präfixverben im gegenwärtigen Deutsch
169
Schumacher, Helmut Von verletzen zu verletzbar und Verletzung. Zu einigen Aspekten des Zusammenhangs der Valenz von Verben,Adjektiven und Substantiven
177
Sommerfeldt, Karl-Ernst Textsortenwandel und Valenz
189
Starke, Günter Partizipialgruppen mit Textbezug
201
Suchsland, Peter Soll man Kopf stehend und freudestrahlend Eis laufen? Linguistische Fußangeln der neuen deutschen Rechtschreibung
209
Tschirner, Erwin Lernergrammatiken und Grammatikprogression
227
VII
Wellmann, Hans Die Wortarten im Aufbau der Grammatik - damals und heute
241
Wiegand, Herbert Ernst Artikel einsprachiger Lernerwörterbücher, Textgestaltwahrnehmung und Suchbereichsstrukturen. Plädoyer für übersichtliche Printwörterbücher im Zeitalter der Neuen Medien
259
Schriftenverzeichnis von Gerhard Heibig
283
Verzeichnis der von Gerhard Heibig betreuten, mitbetreuten und/oder begutachteten Dissertationen und Habilitationsschriften
333
Wie doch die Zeit vergeht Die Zeit geht mit der Zeit, sie fliegt. Besieht man es im rechten Lichte, sind wie im Flug die Jahr' vorbei und seh'n sich als Geschichte. (frei nach Erich Kästner)
Unter diesem Motto hatten wir zur vorliegenden Festschrift eingeladen. Dabei ist es fast so, als habe sich das letzte Jubiläum von Gerhard Heibig erst gestern „gerundet". Aber wieder sind fünf Jahre vergangen - Anlass zur „besonderen" Gratulation durch Schüler, Weggefährten und Freunde. Die Herausgeber dieses Bandes schließen sich den nachfolgenden Glückwünschen und der studentischen „Untersuchung zur personellen Wirkkraft von Gerhard Heibig" aus der Sicht von Schülern und Kollegen des Jubilars in vollem Umfang an. Auch nach allmählich vollzogenem Wechsel unserer Perspektive bleibt Bewunderung: Bewunderung für schlichte Menschlichkeit ohne Drang nach Glanz und Aufsehen, für die heitere, ausstrahlende Grundstimmung seines Wesens und - natürlich - für die Fähigkeit zu scharfsinnigem Formulieren und knappem Zusammenfassen wesentlicher Zusammenhänge, für schnörkelloses Auf-den-Punkt-Kommen und Respektieren anderer Denkrichtungen als der eigenen, für verständnisvolles Entfaltenlassen zwischen behutsamem Lenken und Loslassen, für Vorleben und Vermitteln der Grundhaltung, das Überkommene mit Verantwortung zu ehren und immer zuzulassen, bei aller Kontinuität von Zeit zu Zeit auch neu zu gründen. Der vorliegende Sammelband, der wiederum erinnert an die Quellen des Faches Deutsch als Fremdsprache und an den, der diese maßgeblich gespeist hat und weiterhin speist, vereint - stellvertretend für viele andere Fachkollegen, die hier nicht zu Worte kommen konnten und die wir hiermit um Nachsicht bitten einen Strauß von Beiträgen in unterschiedlichen Richtungen, die in dieser oder jener Weise den von Gerhard Heibig selbst formulierten Leitlinien seines Schaffens zuzuordnen sind: -
Grammatik der deutschen Gegenwartssprache; Valenz- und Kasustheorie; Entwicklung der neueren (auch konfrontativen) Linguistik; Sprachwissenschaft und Fremdsprachenunterricht.
Alle Arbeiten spiegeln die Fähigkeit des Jubilars das Einzelne und das Ganze in ihrem Wechselspiel zu erhellen - analog zu Goethes Maxime „Um mich zu retten betrachte ich alle Erscheinungen als unabhängig von einander und suche sie gewaltsam zu isolieren; dann betrachte ich sie als Korrelate, und sie verbinden sich zu einem entschiedenen Leben." Die Beiträger stellen Neues aus ihrer „Werkstatt" vor, das in dieser oder jener Weise vom Jubilar und seinen Schriften angeregt oder beeinflusst worden
ist. Die Vielfalt und die Anteile der Gegenstandsbereiche ließen eine thematische Bündelung der Studien in diesem Band nicht zu, sondern führten uns zur alphabetischen Anordnung nach Verfassernamen. Geschuldet dem Charakter der Übergangsphase, stehen alte und neue Rechtschreibung je nach Entscheidung der Autoren in bewusster Gelassenheit nebeneinander. Diese Vielfalt in dem Strauß von Beiträgen macht erfahrbar, wie breit und wie tief das Schaffen von Gerhard Heibig in der Arbeit von Fachkollegen des Gebietes Deutsch als Fremdsprache weiterwirkt - an der Schwelle zum Jahr 2000 und damit in das neue Jahrhundert hinein. Allen, die an der Entstehung und Fertigstellung dieser Festschrift mitgewirkt haben, danken wir herzlich. Dazu gehören in Sonderheit der Verlag, der den Titel in sein Programm aufgenommen hat, sowie Stefan Mummert und Andreas Opitz, die mit Umsicht und Sachverstand die Beiträge technisch bearbeitet und druckfertig hergestellt haben. Barbara Wotjak und Bernd Skibitzki
Gerhard Heibig zum 70. Geburtstag „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut!"
Dass Prof. Dr. Dr. b.c. Gerhard Heibig einer der hervorragendsten deutschen Linguisten ist, steht außer Zweifel. Ein Blick in das Verzeichnis seiner Werke überwältigt allein schon durch dessen Quantität. Die vertiefte Lektüre eines beliebigen Werkes aus diesem Verzeichnis beeindruckt den Leser um so mehr durch dessen Präzision, dessen erklärende und überzeugende Kraft. Als Inhaber verschiedener leitender Stellen an der Leipziger Universität, am Herder-Institut dieser Universität oder in der Redaktion der Zeitschrift „Deutsch als Fremdsprache" war und ist Gerhard Heibig ein Beispiel von unermüdlicher Arbeit und von Offenheit, ohne eine Spur von Überheblichkeit und Bürokratismus. Was den Jubilar besonders kennzeichnet, ist, dass er dem von Goethe (siehe das Motto) geäußerten Ideal des Klassizismus und der christlichen Zivilisation völlig entspricht. Dafür soll das folgende Beispiel stehen. Vor etwa 35 Jahren (ich war damals an der Technischen Universität in Russe tätig) bekam ich die ersten Hefte der Zeitschrift „Deutsch als Fremdsprache" über Herrn Dr. Hans Eisenreich, seinerzeit Lektor der deutschen Sprache in Sofia und unermüdlicher Popularisator des Deutschen in Bulgarien. Aus den Artikeln in dieser Zeitschrift, vor allem denen von Gerhard Heibig, spürte ich, dass sich die Grammatik in Bewegung befindet. Heibig hatte in mehreren Beiträgen über moderne westliche Grammatiktheorien referiert. Mit diesen Beiträgen wehte durch den damaligen eisernen Vorhang ein frischer Wind. (Jetzt ist es für die Südosteuropäer mit der Wort- und Gedankenfreiheit freilich besser, doch nicht sehr viel besser mit der Reisefreiheit - es gibt Schengen und finanzielle Barrieren.) Den vorangegangenen Satz werden die Kollegen verstehen, die sich damals in manchen Konferenzen vor Vorwürfen orthodoxer Marxisten zu verteidigen hatten, durch den Einfluss moderner „westlicher", „bürgerlicher" linguistischer Theorien würden die ideologischen Grundlagen des omnipotenten Marxismus untergraben. Es waren insbesondere die Arbeiten Helbigs, die uns, Germanisten und Deutschlehrer aus den „sozialistischen" Staaten, sachlich und sachkundig mit neuen linguistischen Richtungen aus Amerika und Westeuropa bekannt machten. Diese Beiträge von Gerhard Heibig haben mich damals dazu bewogen, über Anwendungsmöglichkeiten der strukturellen und der generativen Grammatik im Unterricht Deutsch als Fremdsprache zu dessen Effektivierung nachzudenken. Bald darauf schickte ich ein Manuskript mit meinen Überlegungen an die Re-
XII
daktion der Zeitschrift „Deutsch als Fremdsprache". Ich war überrascht, als ich kurz danach ein ausführliches Gutachten dazu von Gerhard Heibig selbst bekam - mit konkreten Vorschlägen zu Verbesserungen und Kürzungen. Nach einer entsprechenden Bearbeitung erschien der Beitrag in DaF 6/1969. Etwas später kamen die Bücher von Gerhard Heibig über die Valenzgrammatik, die Kasustheorie, die Beziehungen zwischen Sprachwissenschaft und Fremdsprachenunterricht und anderes heraus. Darin fand ich vieles, was mir zur Begründung meiner folgenden Arbeiten diente. Ich begann an einer Dissertation zu schreiben und wurde hierbei von Gerhard Heibig erneut überrascht. Als Betreuer meiner Doktorarbeit sandte er mir ein ausführliches Gutachten zu meiner ziemlich umfangreichen Schrift lange vor der endgültigen Fassung und vor dem offiziellen Gutachten zu. Die Hilfsbereitschaft von Prof. Dr. Gerhard Heibig allen Menschen gegenüber - wir waren damals miteinander so gut wie unbekannt - hat mich besonders beeindruckt. Ich konnte nicht begreifen, wie ein angesehener Mann, dem so viele Aufgaben aufgebürdet sind, der so viele Bücher und Artikel von höchster Qualität veröffentlicht, sich noch so eingehend mit den Arbeiten eines Anfängers befassen kann. Mein Beispiel möchte ich als Illustration zu der Würdigung von Horst Sitta und Barbara Wotjak in DaF 4/1994 verstehen. Dort heißt es: „In seiner für ihn charakteristischen Verknüpfung von hohen Anforderungen an sich selbst und Güte im Umgang mit anderen, in seiner Verbindung von persönlichem Fleiß, hoher Leistungsbereitschaft und hohem Einsatz auf der einen Seite mit Geduld anderen Menschen gegenüber und der Fähigkeit, andere zu ermuntern, verkörpert er das Ideal des Universitätsprofessors." (S. 199f.) Im Namen der Kollegen des Germanistischen Instituts der Philologischen Fakultät der Hll.-Kyrill-und-Method-Universität Veliko Tirnovo und stellvertretend für viele andere Kollegen unseres Fachs sowie ganz persönlich wünsche ich dem Jubilar Gesundheit und frohe Tage und auch, dass er uns weiterhin mit neuen Büchern und Aufsätzen beschenkt. Veliko Timovo, Dezember 1999
Prof. Dr. Pavel Borissewitsch
Saverne, Dezember 1999 Verehrter, lieber Herr Heibig, Sie gehören zu jenen wenigen deutschen Linguisten und Germanisten, die auch in der französischen Linguistik beheimatet sind und in die deutsche und allgemeine Sprachwissenschaft dieses Landes seit einer Generation aufgenommen und mitverwoben sind. So kam es, daß ich, im Jahre 1969 an der Sorbonne auf Ihre Arbeiten aufmerksam gemacht, Sie ein Jahr später in Leipzig ein erstes Mal besuchte. Dies geschah in dem Kreis um Jean Fourquet, und es ging um Valenz und deren Erklärungsfähigkeit für Syntax. Den Konkurrenzkampf zwischen Valenz und Konstituenz führten damals auf französischem Boden die Fremdsprachen Deutsch und Englisch, und so wurden Sie gerne der „Vergleichsgegenstand" zu Noam Chomsky. Die französische Tradition wurde und blieb hellhörig zum einen für Ihren (Post-)Strukturalismus, Ihren frühen Weg von der Struktur zum Inhalt, Ihren Blick in die Tiefe(nstruktur); zum anderen schätzte man hierzulande Ihr frühes Verständnis einer differenzierten Funktion, das die germanistische Grammatikographie - siehe französische Standardgrammatiken - bis heute begleitet und kürzlich, bei der Agrogation 1998, in der Kasusfunktion ihr nachhaltiges Echo fand. Aber die allseits geschätzte Zeitschrift „Deutsch als Fremdsprache" ließ damals monate-, wenn nicht jahrelang auf sich warten, ebenso die angekündigten Publikationen (Ihr Brief vom 24.6.1974: „drei Jahre zwischen Manuskriptabgabe und Erscheinen muß man jetzt rechnen"), so daß sich mein Forschungsaufenthalt am Herder-Institut im Jahre 1970 besonders ergiebig gestaltete: Sie hatten unsere ersten Begegnungen Ihres eigenen Terminkalenders wegen jeweils auf 7.30 Uhr festgesetzt... Danke. Ihr Entgegenkommen und das der Sie umgebenden Verlagsleute war groß und großzügig: Freiexemplare Ihrer Grammatiken, Wörterbücher und Zeitschriften, soviel ich tragen konnte (sie stehen heute in den Universitätsbibliotheken in Lothringen und im Elsaß); Bücherspenden auch dann in der Folgezeit als Ersatz für die gewünschten Fotokopien bzw. Ablichtungen: „Leider kann ich Ihnen da nur sehr geringfügig helfen, da es bei uns völlig unüblich ist, daß Bibliotheken solche Ablichtungen machen (es sei denn auf besondere Bestellung - und die sind dann unwahrscheinlich teuer) - wahrscheinlich deshalb, weil das Verfahren bei uns noch zu aufwendig ist. So habe ich einen anderen Weg gewählt" (Ihr Brief vom 24.4.1974). Ende 1982: Ihre erste Vortragsreise durch Frankreich nach mehr als zwölfmonatiger Vorbereitung, Terminverschiebung und Stornierung wegen langwieriger Beschaffung des Visums („Ich bekam im Institut die offizielle Nachricht, daß die Reise verschoben werden müsse, weil die Zeit für die Beschaffung des Visums zu kurz gewesen sei" - Ihr Brief vom 21.4.1982). Wir hatten Ihren Frankreichaufenthalt von Metz aus beantragt, vorbereitet und durchgeführt. Ihr damaliges Themenangebot - Valenz- und Kasustheorie, Sprachwissenschaft und Fremdsprachenunterricht, freier Dativ, Passiv, Modalwörter, Textlinguistik, konfrontativer Sprachvergleich - entfaltete sich, aus heutiger
XIV Perspektive gesehen, zum Forschungs- und Prüfungsprogramm der französischen Germanolinguistik. Ihr Aufenthalt dann brachte uns schöne Stunden, auch privat, heiter und besinnlich, bei Kollegen und Freunden, auch in winterlicher Stille vor dem Isenheimer Altar. Trotz der Wende wurden Ihre Kontakte zur französischen Linguistik nicht zur Routine, und es waren immer gezielte und persönliche Einladungen, die weiter an Sie ergingen. So zählten Sie zu den Gratulanten um Lucien Tesniere anläßlich der beiden Jubiläumskolloquien, die in den Jahren 1992 und 1993 im Rahmen der allgemeinen und vergleichenden Sprachwissenschaft an französischen Universitäten anläßlich der 100. Wiederkehr seines Geburtstages in dessen Geburtsstadt Mont-Saint-Aignan bei Rouen und in Straßburg gefeiert wurden. Sie gehörten dann auch zu den Ehrengästen der germanistischen Linguistik anläßlich des Agrogations-Kolloquiums im Jahre 1997 an der Universität Nizza. Rezensenten und Studenten haben Ihre Beiträge jeweils sehr treffend gewürdigt. So wurde Ihre Bindung nach hier eine enge - wissenschaftlich und menschlich. Wenn Ihre Anwesenheit zu den großen Anlässen am Rhein heute als selbstverständlich betrachtet wird, so wollte ich - besonders für unsere Jugend - in Erinnerung rufen, daß diese Nähe nicht selbständig gekommen ist. Verzeihen Sie mir, wenn ich dafür aus unserer Korrespondenz zitierte. Seit einer Generation weiß die Fachwelt hier Ihren linguistischen Tief- und Weitblick zu schätzen und alle geopolitischen Hindernisse zu überwinden, so daß in der Sprachwissenschaft der Weg zur globalisierten Kooperations- und Wissenschaftsgemeinschaft vorbereitet ist. Die Vielfalt und Güte Ihres Werkes hat einen ganz wesentlichen Beitrag geleistet zum hohen Stellenwert, den die Linguistik im Rahmen der französischen Germanistik erreicht hat - und dafür danke ich im Namen von uns allen. Auf daß Ihre Schaffenskraft noch lange währe! In Verbundenheit Ihre Gertrud Gröciano Universität Marc Bloch, Strasbourg
Eine kurze Untersuchung zur personellen Wirkkraft von Gerhard Heibig auf die Studierenden des Herder-Instituts
Die Studierenden des Herder-Instituts sind gespalten. Sie zerfallen in zwei grundlegend divergierende Subklassen, deren Genese ausschließlich semantische Kriterien zugrunde liegen. Unsere Betrachtung schließt hiermit explizit alle syntaktischen und morphologischen Kriterien (i. e. S.) aus. Die Subklasse A umfasst solche Studierende, die ihr Studium erst ab dem Wintersemester 1998/99 aufgenommen haben, folglich also Herrn Heibig nicht in einer seiner Vorlesungen erleben durften, und die Subklasse B umfasst Studierende, die im Gegensatz dazu das Privileg eines Erlebens in persona genießen durften. Die Fragestellung, die sich daraus für uns ergibt, ist folgende: Inwieweit werden durch die eben aufgezeigte Polarität Verhalten und attitudinale Muster der Subklassen beeinflusst? Um dieser Frage nachzugehen, wollen wir zuerst den Faktor „Heibig" analysieren und danach die Unterschiede zwischen den beiden Subklassen darlegen. Nach der Befragung einer repräsentativen Gruppe von Vertretern der Subklasse B kamen wir zu folgendem Ergebnis: Herr Heibig und seine Lehrveranstaltungen (Grammatik, Geschichte der Sprachwissenschaft) sind gekennzeichnet durch: überwältigende Kompetenz (Ich versteh' das alles nicht!1); verschmitzten Humor (Die Beispielsätze, die Beispielsätze! z. B. bezüglich der Problematik Reziprozität - Reflexivität; Herr Heibig: Hans und Anna lieben sich. Das heißt - im Idealfalle [1,8 Sekunden Pause und hintersinniges Lächeln] - Hans liebt Anna und Anna liebt Hans.); - starken Realitätsbezug (Herr Heibig: Wenn ein junges Mädchen ihren Freund fragt: „Möchtest du noch auf eine Tasse Tee mit raufkommen?" ist das ein illokutiver Akt.); - hohen Beliebtheitsgrad (Er hat mich gegrüßt! [Seufzen]); - inspirierende Wirkung auf die Entwicklung eigenen Erkenntnisinteresses bei den Studierenden (Wie ist das nun eigentlich mit der Negation der Modalverben im Mittelhochdeutschen? Hat das schon jemand untersucht?). -
Nach dieser kurzen Beschreibung des Faktors „Heibig" werden wir nun die Unterschiede der beiden Subklassen herausarbeiten. 1
Alle Beispiele entstammen einem bisher noch unveröffentlichten Korpus, das von verschiedenen Studierenden zusammengetragen wurde und für eine Verwendung in der - zurzeit noch im Entstehen begriffenen - Studentenzeitung des Herder-Instituts bestimmt ist.
XVI Wir konnten beobachten, dass Vertreter der Subklasse A auf die Frage nach Herrn Heibig zunächst einen nahezu ehrfürchtigen Gesichtsausdruck annehmen und mit einer Antwort einen Moment lang zögern. Weiterhin fiel uns eine phonetische Besonderheit im suprasegmentalen Bereich auf. Man könnte sie als einen raunenden Unterton - besonders bei der Nennung des Namens - charakterisieren. In diesen Merkmalen zeigt sich eine signifikante Übereinstimmung der Vertreter von Subklasse A mit Studierenden auswärtiger Institute, die noch immer nach Leipzig pilgern, um wenigstens einen Nachhall vom Wirken des „Gründungsvaters" des Faches Deutsch als Fremdsprache zu erheischen. Hier sehen wir deutlich Ansätze zu einer Mythenbildung. Im Gegensatz dazu zeichnet sich Subklasse B durch einen unbefangenen Umgang mit der Person Gerhard Helbigs bei mindestens gleicher Wertschätzung seiner fachlichen Leistung aus. Diese Unbefangenheit scheint sich auch direkt auf den Umgang mit den durch ihn vermittelten beziehungsweise inspirierten (s. o.) linguistischen Inhalten und Fragestellungen zu übertragen. So konnten wir bei etlichen Vertretern der Subklasse B ein gewisses Funkeln in den Augen bei der Diskussion grammatischer Phänomene feststellen. Folgendes, in dieser oder ähnlicher Form häufig belegtes Zitat mag das darüber hinaus verdeutlichen: „Grammatik ist irgendwie richtig spannend." Anhand dieser Ergebnisse schlussfolgern wir, dass Subklasse B von Herrn Heibig in doppelter Hinsicht profitierte. Zum einen natürlich durch seine fachliche Kompetenz und deren souveräne und sympathische Vermittlung. Zum anderen aber auch durch die plastische Erfahrung, dass der linguistische Olymp zuweilen von Menschen bewohnt wird. In dem Bewusstsein, dass das Werk Gerhard Helbigs noch vielen Studentengenerationen als schwer antastbares Monument gegenüberstehen wird, ist es uns Anliegen, bei aller gerechtfertigten Mythenbildung an deren menschlichen Ausgangspunkt zu erinnern, der uns in der beschriebenen Weise in Gerhard Helbigs Lehrveranstaltungen am Herder-Institut deutlich werden durfte. Dezember 1999 Susanne Günther und Andreas Opitz Für die Studierenden des Herder-Instituts Leipzig
John Öle Askedal
Zur Frage der Auxiliarisierung einiger deutscher Verben anstehen, belieben, bleiben, brauchen, drohen, gedenken, machen, pflegen, scheinen, suchen, versprechen, verstehen, wissen mit Infinitiv im Lichte der Grammatikalisierungstheorie
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Einleitung
1.1 Vorüberlegungen zur Auxiliarisierung als Grammatikalisierungsprozeß In seinem Buch „Probleme der deutschen Grammatik für Ausländer" (1972) diskutiert Gerhard Heibig die Problematik der sog. „Hilfsverben" im Deutschen. Er präsentiert und veranschaulicht zunächst die fünf in (1) zusammengefaßten Kriterien für die Identifikation eines übergeordneten Verbs in Verbfügungen (mit untergeordneter infiniter Verbalform) als Voll- oder Hilfsverb. Diese Kriterien sind als hinreichende Bedingungen für den Vollverbstatus des übergeordneten Verbs formuliert. Vgl. (nach Heibig 1972: 96f, aber mit etwas anderer Terminologie und abgeänderten Beispielen): (1)
a. unterschiedlicher Subjektbezug des übergeordneten und des untergeordneten Verbs (z. B. ich\ erlaube^ ihm, zu kommen;)', b. Valenzaktivität des übergeordneten Verbs (z. B. er verspricht mir zu kommen); c. Transformierbarkeit eines untergeordneten Infinitivs in einen Nebensatz (z. B. ich freue mich, dich zu sehen ->· daß ich dich sehe); d. Zurückführbarkeit der Verbfilgung auf „zwei Kernsätze (im Sinne der Transformationsgrammatik)", d. h. semantische Bipropositionalität der Fügung (z. B. ich erlaube ihm zu kommen = ich erlaube etwas + er kommt); e. Ersetzbarkeit eines auf einen abhängigen Infinitiv kataphorisch bezogenen Korrelats (z. B. ich gebe es auf, ihn zu ermahnen).
Die fünf in (1) zusammengefaßten hinreichenden Bedingungen für Vollverbstatus des übergeordneten Verbs haben als logische Entsprechungen die notwendigen Bedingungen für Hilfsverbstatus in (2): (2)
a. gleicher Subjektbezug der beiden Verben (z. B. ich\ werde[ kommen^), b. Valenzinaktivität des übergeordneten Verbs (z. B. ich werde 0 kommen); c. Intransformierbarkeit des untergeordneten Infinitivs in einen Nebensatz (z. B. ich werde dich sehen -> *daß ich dich sehe); d. keine (oder keine natürliche) Zurückführbarkeit der Verbfügung auf „zwei Kemsätze (im Sinne der Transformationsgrammatik)", d. h. semantische Monopropositionalität der Fügung (z. B. ich werde dich sehen ich werde etwas + ich sehe dich); e. keine Ersetzbarkeit eines auf einen abhängigen Infinitiv kataphorisch bezogenen Korrelats (z. B. ich werde *es dich sehen).
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John Öle Askedal
Die Bedingungen bzw. Kriterien in (1) und (2) beziehen sich in der Darstellung von Heibig vorrangig auf Fügungen mit untergeordnetem Infinitiv. Dem entspricht auch Helbigs Zusammenfassung des extensionalen Aspekts der Hilfsverbdiskussion, wo drei Gruppen von überwiegend infinitivregierenden Verben angesetzt werden (Heibig 1972: 97f.). Vgl. (3): (3)
a) die Hilfsverben 'haben', 'sein' und 'werden', die sowohl in der Umgebung des Infinitivs als auch des Partizips II vorkommen und vorwiegend als 'temporale' Hilfsverben fungieren, b) die Hilfsverben 'dürfen', 'können', 'mögen', 'müssen', 'sollen' und 'wollen', die nur in der Umgebung des Infinitivs [ohne zu] vorkommen und vorwiegend als 'modale' Hilfsverben fungieren. [c)] Allerdings bleibt eine kleine Zwischengruppe von etwa 12 Verben (anstehen, belieben, brauchen, gedenken, pflegen, scheinen, wissen, bleiben, drohen, machen, suchen, verstehen), die den Hilfsverben nahestehen [...] und zumeist auch Bedeutungen haben, die den Modalverben sehr ähnlich sind.
Im vorliegenden Beitrag wird allgemein vorausgesetzt, daß der Erwerb von Hilfsverbstatus bzw. Auxiliarisierung ein Grammatikalisierungsprozeß ist. Ausgehend von Helbigs Kriterien und einschlägigen Annahmen der aktuellen Grammatikalisierungstheorie soll im folgenden versucht werden, Helbigs Beschreibung der in (3[c]) erwähnten Verben unter Hinzunahme des zu drohen antonymen versprechen weiterzuführen. Dabei wären zunächst die Helbigschen Kriterien z. T. neu zu formulieren. Zum einen ist Extraposition (Ausklammerung, Ausrahmung, Inkohärenz; der Gegensatz dazu: Intraposition, Einklammerung, Einrahmung, Kohärenz; zur „(In-)Kohärenz" vgl. Bech 1955: Kap. 7) eine notwendige Bedingung für den Korrelatgebrauch in (l/2e); deswegen handelt es sich bei diesem Kriterium genauer besehen eher um eine generelle topologisch-syntaktische als um eine speziellere lexikalische Bedingung. Daß die Extraponierbarkeit in diesem Zusammenhang die generellere und der Korrelatgebrauch die speziellere Erscheinung sind, ergibt sich insbesondere daraus, daß gewisse Verben mit extraponierbarem Infinitiv kein auf den Infinitiv bezogenes Korrelat erlauben. Vgl. z. B. (4): (4)
Er wird (*es) befürchten, gemaßregelt zu werden.
Zum anderen kommt unterschiedlicher Subjektbezug normalerweise erst durch Valenzaktivität des übergeordneten Verbs zustande. Die beiden Kriterien (l/2ab) können deswegen zu einem Kriterium der Valenz(in)aktivität vereint werden. Zum dritten setzt Kriterium (l/2c) offensichtlich (l/2d) voraus, so daß wir uns hier mit einem Kriterium der Mono-/Bipropositionalität begnügen können. Daraus ergibt sich eine quantitative Reduktion der fünf Helbigschen Kriterien in (1/2) auf die drei in (5), die eigentlich das gleiche besagen: (5)
a. (Nicht-)Extraponierbarkeit des untergeordneten Verbs (vgl. z. B. Blosen et al. 1980: 46); b. Valenz(in)aktivität des übergeordneten Verbs (vgl. z. B. Neugebom 1976: 71); c. Mono-/Bipropositionalität der Fügung aus übergeordnetem und untergeordnetem Verb.
Zur Frage der Auxiliarisierung einiger deutscher Verben
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Die bisher diskutierten Hilfsverbkriterien sind in Zusammenhang mit den in (6) genannten Grammatikalisierungskriterien zu sehen: (6)
a. erhöhte Textfrequenz (Hagege 1993: 196, 198; Hopper/Traugott 1993: 103); b. semantischer Funktionswechsel (Re-/Desemantisierung; Hagege 1993: 196, 223-229; Heine et al. 1991: 15; Hopper/Traugott 1993: 103-120); c. Übergang zu einer geschlossenen Kategoriengruppe (Heine et al. 1991: 15); d. Einschränkung der Distributionsmöglichkeiten im Verhältnis zu anderen Elementen (Hagege 1993: 196; Heine et al. 1991: 15; Hopper/Traugott 1993: 103-120); e. morphosyntaktischer Funktionswechsel bzw. syntaktische Reanalyse (Hagege 1993: 193f, 196, 205; Heine et al. 1991: 15, 213, 215-220; Hopper/Traugott 1993: 40-50, 103-120); f. Übergang von syntagmatischer Fakultativität zu syntagmatischer Obligativität (Hagege 1993: 196; Heine et al. 1991: 15); g. Verlust syntagmatischer Selbständigkeit durch obligatorische Kontiguität mit einem anderen Element (Hagege 1993: 195f; Heine et al. 1991: 16; Hopper/Traugott 1993: 103-120, 130-150); h. Verlust grammatischer Morpheme (Hagege 1993: 195; Heine et al. 1991: 213; Hopper/Traugott 1993: 103-120).
Die allgemeinen Grammatikalisierungskriterien in (6) sind im Hinblick auf die vorliegende Auxiliarisierungsproblematik nicht alle gleich einschlägig. Deutsche Hilfsverben sind unter syntagmatischem Aspekt im Prinzip nie obligatorisch, sie treten als syntagmatisch selbständige finite oder in nicht wenigen Fällen auch infinite Formen auf, und sie zeigen keinen Flexionsverlust (sondern lediglich in gewissen Fällen etwas andere Personalendungen als prototypische Vollverben). Demzufolge kann ohne weiteres von den Kriterien (6f-h) abgesehen werden. Die Kriterien (6b-e) beziehen sich auf die Korrelation von Auxiliarfunktion (6b-c) und spezifischer Auxiliarsyntax (6d-e). Dabei können die spezifischen Kriterien der (Nicht-)Extraponierbarkeit des untergeordneten Verbs und der Valenz(in)aktivität des übergeordneten Verbs in (5a-b) als Beispiele für die generellen syntaktischen Kriterien in (6d-e) angesehen werden, die für unsere Zwecke nicht darüber hinaus spezifiziert zu werden brauchen. Auch die beiden Kriterien (6b-c) gehören insofern zusammen, als bei der Auxiliarisierung eines Verbs die Frage nach Veränderung oder Neutralisierung der Ausgangsbedeutung und die nach der semantisch-funktionalen Integration in eine Auxiliarkategorie untrennbar miteinander verbunden sind. Von diesen Fragestellungen theoretisch und empirisch unabhängig ist die Frage nach der erhöhten Textfrequenz (6a); vor dem Hintergrund der allgemein größeren Geläufigkeit grammatischer gegenüber lexikalischen Ausdrucksmitteln ist aber infolge der Auxiliarisierung vielfach mit Frequenzerhöhung zu rechnen.
/. 2 Zusammenfassung der Problematik Im vorliegenden Beitrag soll versucht werden, die von Heibig (1972) angedeutete Mittelstellung der in (3[c]) genannten Verben zwischen Hilfsverben und Vollverben mit (zw-)Infinitiv unter Hinzunahme des zu drohen antonymen ver-
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John Öle Askedal
sprechen weiter zu problematisieren. Die Beschreibung erfolgt im Rahmen der theoretischen Überlegungen in 1.1, welche uns erlauben, die auf den Helbigschen Kriterien in (1/2) bzw. ihrer Zusammenfassung in (5) und den generellen Grammatikalisierungskriterien in (6) basierende Liste einschlägiger Auxiliarisierungskriterien in (7) aufzustellen. Wir nehmen dabei auch Rücksicht auf die weitere Fragestellung, ob eine „Divergenz"-Situation vorliegt in dem Sinne, daß neben der grammatikalisierten Verbalfügung auch ein nichtgrammatikalisiertes Pendant (weiter) besteht (Pkt. (iv); vgl. Hopper 1990: 159; 1991: 22: „Principle II: Divergence"). (7)
i. Nichtextraponierbarkeit des untergeordneten Verbs; ii. Valenzinaktivität des übergeordneten Verbs; iii. von der Vollverbsemantik abweichende Bedeutung bei funktionaler Integration in einen Auxiliarbereich; iv. Vorhandensein einer in lexikalischer Hinsicht parallelen nichtgrammatikalisierten Verbfügung; v. erhöhte Textfrequenz.
Wir verzichten auf das Kriterium Mono-/Bipropositionalität, da seine Anwendung in hohem Maße theorieabhängig ist; es hat insbesondere nicht an Versuchen gefehlt, temporale Hilfsverben und Modalverben als höhere Prädikate zu analysieren. Ansonsten ist anzumerken, daß das Vorhandensein bestimmter semantischer Kategorien wie etwa Modalität oder Intentionalität nicht an sich ein hinreichendes Kriterium für Hilfsverbstatus ist. So sind auf semantischer Ebene vermögen, in der Lage sein Beispiele für deontische Modalität, glauben, meinen, vermuten Beispiele für epistemische Modalität und vorhaben, beabsichtigen Beispiele für Intentionalität, ohne daß man diesen Verben syntaktischen Hilfsverbstatus zuschreiben könnte.
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Zur Grammatikalisierung bzw. Auxiliarisierung der Verben anstehen, belieben, bleiben, brauchen, drohen, gedenken, machen, pflegen, scheinen, suchen, versprechen, verstehen, wissen mit Infinitiv
2. / „ anstehen " (i) Der von anstehen abhängige Infinitiv mit zu ist extraponierbar: (8)
Ich stehe nicht an zu sagen, daß ich [...] entschlossen war, mich in das Abenteuer zu werfen. (Nach Thomas Mann.)
(ii) Anstehen ist insofern valenzaktiv, als es in der in (8) vorliegenden Bedeutung ein menschliches Subjekt und darüber hinaus obligatorisch ein Negationselement fordert, (iii) Die spezielle Bedeutung von (nicht) anstehen ist mit den für deutsche Hilfsverben kennzeichnenden abstrakten Bedeutungs- und Funktionskategorien (Tempus, Modus, Modalität, passivisches Genus verbi) nicht in Verbindung zu bringen. Darüber hinaus gilt (nicht) anstehen als 'gehoben', was
Zur Frage der Auxiliarisierung einiger deutscher Verben
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der ansonsten charakteristischen Stilneutralität grammatikalisierter Hilfsverben widerspricht, (iv) Der (nicht)-anstehen-Fügung steht keine zweite Infinitivfügung mit anderen syntaktisch-semantischen Eigenschaften zur Seite, (v) weswegen die Frage nach erhöhter Textfrequenz sich erübrigt. - Wegen (i)-(iii) ist anstehen nicht als Hilfsverb einzustufen.
2.2 „gedenken" (i) Der von gedenken abhängige Infinitiv mit zu ist extraponierbar: (9)
weil sie zehn Tage dort zu bleiben gedachte / weil sie gedachte, zehn Tage dort zu bleiben
(ii) Gedenken ist wegen der Forderung nach einem menschlichen Subjekt auf semantischer Ebene valenzaktiv, (iii) Die interzonale Bedeutung von gedenken ist der des Vollverbs vorhaben ähnlich, (iv) Dem Gebrauch von gedenken mit Infinitiv in (9) steht keine zweite Infinitivfügung mit anderen syntaktischsemantischen Eigenschaften zur Seite, (v) weswegen die Frage nach erhöhter Textfrequenz entfällt. - Aufgrund von (i)-(»0 ist gedenken insgesamt nicht als Hilfsverb anzusehen.
2.3 „verstehen" (i) Der von verstehen abhängige Infinitiv mit zu ist extraponierbar. Bei Extraposition steht häufig es als kataphorisches Korrelat („vorläufiges Objekt"; J0rgensen 1964: 9): (10)
weil er schon immer andere zu überzeugen verstand / weil er es schon immer [meisterhaft] verstand, andere zu überzeugen
(ii) Verstehen ist wegen der Forderung nach einem menschlichen Subjekt semantisch valenzaktiv, (iii) Die Fähigkeitsbedeutung von verstehen entspricht etwa einer der Bedeutungsvarianten von können, aber verstehen hat keine der übrigen Bedeutungen von können (deontische oder epistemische Möglichkeit), (iv) Dem Gebrauch von verstehen mit Infinitiv in (10) steht keine zweite Infinitivfügung mit anderen syntaktisch-semantischen Eigenschaften zur Seite, (v) weshalb die Frage nach erhöhter Textfrequenz sich erübrigt. - Aufgrund von (i)-(iii) ist verstehen insgesamt nicht als Hilfsverb einzustufen.
2.4 „belieben" (i) Der von belieben abhängige Infinitiv mit zu ist im Prinzip extraponierbar, jedoch scheint Intraposition (Kohärenz) gleich häufig oder möglicherweise noch häufiger vorzukommen (genaue empirische Untersuchungen sind mir nicht bekannt):
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John Öle Askedal (11)
weil das Fräulein lange zu schlafen beliebte / weil das Fräulein beliebte, lange zu schlafen
(ii) Belieben ist semantisch valenzaktiv, da es ein menschliches Subjekt verlangt, (iii) Die volitive Bedeutung von belieben ist wie bei anderen Vollverben (wünschen usw.) spezifischer als die von wollen. Der mit belieben häufig verbundene Stileffekt 'ironisch' widerspricht der ansonsten charakteristischen Stilneutralität von Hilfsverben, (iv) Zusätzlich zu der in Frage stehenden belieben-Fügung gibt es eine zweite, „unpersönliche" Infinitivfügung mit extraponierbarem Infinitiv und grundsätzlich gleicher Bedeutung. Vgl. (12): (12)
Wir warteten, bis es ihr beliebte aufzustehen.
(v) Es ist anzunehmen, daß die Konstruktion in (12) insgesamt seltener vorkommt als die in (11). - Wegen (i)-(iii) ist belieben insgesamt nicht als Hilfsverb einzuordnen, auch wenn - ähnlich wie bei Hilfsverben - Intraposition des Infinitivs vermutlich tendenziell bevorzugt wird; dadurch hebt sich belieben in (11) insbesondere von der weniger üblichen „unpersönlichen" Konstruktion mit dem gleichen Verb in (12) ab.
2.5 „machen" (i) Der von machen abhängige Infinitiv ohne ZM ist nicht extraponierbar: (13)
weil uns seine Äußerung lachen machte / *weil uns seine Äußerung machte, (zu) lachen
Dabei ist die in (13) veranschaulichte Nichtextraponierbarkeit des Infinitivs ein gemeinsames Merkmal aller Verbfügungen mit Infinitiv ohne zw (vgl. die „Kohärenzregel" von Bech 1955: 68). (ii) Machen ist morphosyntaktisch und lexikalisch valenzaktiv, da es neben dem Infinitiv ohne zu ein Akkusativobjekt regiert und nur mit dem Infinitiv einer beschränkten Zahl von Verben verbunden wird (vgl. die Listen bei Folsom 1966: 53 und Blosen et al. 1980: 16-18). (iii) Machen mit Infinitiv hat die gleiche kausative Bedeutung wie in der Konstruktion mit adjektivischem Objektsprädikativ (z. B. sie macht ihn glücklich; vgl. Blosen et al. 1980: 15-18). (iv) Der machen-Fügung mit kausativer Bedeutung in (13) steht keine zweite Infmitivfügung mit anderen syntaktischsemantischen Eigenschaften zur Seite, (v) weswegen die Frage nach erhöhter Textfrequenz entfällt. - Wegen der allgemeineren Bedingtheit der Nichtextraponierkeit in (i) und der in (ii)-(iii) vorgestellten Eigenschaften ist machen insgesamt nicht als Hilfsverb anzusehen.
Zur Frage der Auxiliarisierung einiger deutscher Verben 2.6 „bleiben" (i) Der von bleiben abhängige Infinitiv ohne zu ist nicht extraponierbar: (14)
weil sie jeden Morgen lange im Bett liegen bleibt / *weil sie jeden Morgen bleibt, lange im Bett (zu) liegen
(ii) Bleiben ist insofern lexikalisch valenzaktiv, als es nur mit dem Infinitiv einer geringen Zahl statischer intransitiver Verben verbunden wird (vgl. Folsom 1966: 43). (iii) Bleiben mit Infinitiv hat die gleiche kontinuativ-aktionale Bedeutung wie bleiben mit Situativergänzung (vgl. sie blieb im Bett), (iv) Der kontinuativ-aktionalen bleiben-Fügung in (14) steht keine zweite Fügung mit anderen syntaktisch-semantischen Eigenschaften zur Seite (sondern es gibt lediglich eine lexikalisierte inchoativ-aktionale semantische Variante, vgl. sie blieb plötzlich stehen), (v) Deswegen erübrigt sich auch die Frage nach erhöhter Textfrequenz. - Wegen der allgemeineren Bedingtheit der Nichtextraponierbarkeit in (i) (vgl. 2.5) und der in (ii)-{iii) vorgestellten Eigenschaften ist bleiben insgesamt nicht als Hilfsverb anzusehen.
2.7 „suchen" (i) Bei suchen scheint der abhängige zw-Infinitiv praktisch kaum extraponiert zu werden. In den folgenden Fällen ist die als zweite Alternative veranschaulichte Extraposition kaum akzeptabel (oder jedenfalls sehr wenig geläufig): (15)
a. weil er die ganze Affäre zu vergessen suchte / weil er suchte, die ganze Affäre zu vergessen b. als ich in ihr die Liebe zur Kirche zu wecken suchte / ?als ich suchte, in ihr die Liebe zur Kirche zu wecken c. als die Witwe die eine Tochter zu verheiraten suchte / ?als die Witwe suchte, die eine Tochter zu verheiraten
(ii) Suchen scheint insofern semantisch valenzaktiv zu sein, als normalerweise ein menschliches Subjekt erforderlich ist. (iii) Die Bedeutung von suchen ist deutlicher intentional als die des Vollverbs versuchen, (iv) Dem Gebrauch von suchen mit Infinitiv in (15) steht keine zweite Infinitivfügung mit anderen syntaktisch-semantischen Eigenschaften zur Seite, (v) weswegen die Frage nach erhöhter Textfrequenz entfällt. - Die tendenzielle Nichtextraponierbarkeit in (i) läßt Ansätze zur Auxiliarisierung als intentionales Hilfsverb erkennen. Im Rahmen dieser funktionalen Analyse erscheint es dann möglich, die in (ii) angedeutete semantische Festlegung als von der intentionalen Verbbedeutung bedingt zu deuten.
John Öle Askedal 2.8 ,,wissen" (i) Der von wissen abhängige Infinitiv mit zu ist nicht extraponierbar: (16)
weil sie sich immer zu helfen weiß / *weil sie immer weiß, sich zu helfen
(ii) Wissen kann wegen der Forderung nach einem menschlichen Subjekt als semantisch valenzaktiv angesehen werden, (iii) Die Fähigkeitsbedeutung von •wissen ist mit einer Bedeutungsvariante von können vergleichbar, aber -wissen besitzt keine der übrigen Bedeutungen dieses Modalverbs (deontische oder epistemische Möglichkeit) und ist somit im Vergleich zu können semantisch spezialisierter, (iv) Dem Gebrauch von wissen mit Infinitiv steht die syntaktisch etwas andersartige Infinitivfügung mit Akkusativobjekt (am häufigsten Indefinitpronomen) und darauf bezogenem quasiattributivem Infinitiv mit etwa der gleichen modalen können-Bedeutung zur Seite. Man vgl. die Sätze ohne bzw. mit Infinitiv mit zu in (17): (17)
a. Er wußte immer manches Interessante. b. Er wußte immer manches Interessante zu berichten.
Es liegt nahe anzunehmen, daß Konstruktionen des zunächst in (16) veranschaulichten Typs sich aus dem in (17b) exemplifizierten Typ entwickelt haben nach dem allgemeinen Muster in (18): (18)
Er wußte immer manches Interessante. -> Er wußte immer manches Interessante zu berichten. -» Er wußte immer meisterhaft zu berichten.
(v) Einschlägige Untersuchungen zur relativen Textfrequenz der drei Möglichkeiten in (18) sind uns nicht bekannt. - Aufgrund von (i) und der weitergehenden Valenzänderung bzw. syntaktischen Reanalyse in (iv) ist wissen als weitgehend auxiliarisiert anzusehen. Unter diesem Aspekt ist die semantische Restriktion in (ii) in Zusammenhang mit der für die Fügung kennzeichnenden spezialisierten Fähigkeitsbedeutung in (iii) zu sehen.
2.9
„pflegen"
(i) Der von pflegen abhängige Infinitiv mit zu ist nicht extraponierbar (Bech 1955: 127): (19)
weil er zum Essen Wein zu trinken pflegt / *weil er pflegt, zum Essen Wein zu trinken
(ii) Pflegen ist morphosyntaktisch und semantisch valenzinaktiv. Vgl. zusätzlich zu (19) die Beispiele in (20): (20)
a. Solche Meinungsverschiedenheiten pflegen von Zeit zu Zeit zwischen ihnen aufzutreten. b. Im Alter pflegen sich die Gipfel abzurunden. c. Nun pflegt gesagt zu werden, daß ...
Zur Frage der Auxiliarisierung einiger deutscher Verben
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(in) Pflegen mit Infinitiv hat iterativ-aktionale Bedeutung. Diese aktionale Bedeutung stellt gewissermaßen den abstrakten Endpunkt einer Skala dar, die (wenigstens) die drei Stufen in (21) umfaßt: (2l)
Sie pflegt ihre kranke Mutter, 'kursiv, Betreuung im menschlichen Bereich' -> Die Mafia pflegte Kontakte zu gewissen Politikern, 'kursiv-iterativ, Aufrechterhaltung' -» Wie man zu sagen pflegt,... 'iterative Aktionalität'
(iv) Pflegen mit Infinitiv in (19)-(20) steht keine weitere Infmitivfügung mit anderen syntaktisch-semantischen Eigenschaften zur Seite, (v) weswegen die Frage nach erhöhter Textfrequenz entfällt. - Aufgrund von (i)-{iu) ist PfleSen mit Infinitiv als aktionales Auxiliarverb einzuordnen.
2.10 „brauchen" (i) Der von brauchen abhängige Infinitiv (mit oder ohne zu) ist nicht extraponierbar (Askedal 1998b: 55): (22)
weil er jetzt nicht mehr (zu) arbeiten braucht / *weil er jetzt nicht mehr braucht, (zu) arbeiten
(ii) Brauchen ist morphosyntaktisch und semantisch valenzinaktiv. Vgl. z. B. auch (23): (23)
a. Solche Meinungsverschiedenheiten brauchen nicht mehr aufzutreten, b. Es braucht nicht besonders gesagt zu werden, daß ...
Daß die Forderung nach Negation eine im Grunde semantische Forderung, keine lexikalische Valenzforderung ist, erhellt u. a. aus der Möglichkeit einer „impliziten", präsupponierten oder inferierbaren Negation (vgl. Askedal 1998b: 61 f.). Vgl. (24): (24)
a. ohne daß es den Ausfuhrenden überhaupt zu Bewußtsein zu kommen braucht (ohne daß-Satz; L. Weisgerber) b. vielleicht weil ihre Keuschheit für ihn zu selbstverständlich war, als daß er sie hätte erwähnen brauchen (negativer Konsekutivsatz; J. Bodamer) c. Braucht man noch sprechen? (rhetorische Frage; E. Dwinger)
(iii) Als negatives Pendant zu müssen hat brauchen mit Infinitiv modale Nezessitätsbedeutung. Anzumerken ist hier, daß brauchen mit Infinitiv vorrangig deontisch-modal gebraucht wird, daß aber auch die epistemische Lesart sich gelegentlich belegen läßt (Askedal 1998b: 62f): (25)
Es braucht nicht unbedingt ein Irrtum des Computers gewesen zu sein. (Fernsehen)
(iv) Es gibt keine zweite Fügung aus brauchen mit Infinitiv mit anderen syntaktischen und semantischen Eigenschaften, dafür aber eine Art funktionaler Partnerschaft mit müssen mit Infinitiv (Askedal 1998b: 60-62). Müssen-fügungsn können im Unterschied zu brauchen mit Infinitiv sowohl negiert als auch nichtnegiert sein:
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John Öle Askedal
(26)
a. Das muß er (nicht) tun. b. *Das braucht er zu tun. Das braucht er nicht zu tun.
(v) Was die Frage nach erhöhter Textfrequenz betrifft, weisen einschlägige empirische Untersuchungen negiertes brauchen mit Infinitiv als im Durchschnitt bedeutend frequenter aus als negiertes müssen mit Infinitiv (Askedal 1998b: 64f. mit Hinweisen). - Aufgrund der in (i)-(v) genannten Fakten ist brauchen mit Infinitiv eindeutig als modales Auxiliarverb zu bestimmen.
2.77 „scheinen" (i) Der von scheinen abhängige Infinitiv mit zu ist nicht extraponierbar (Been 1955: 127): (27)
weil er heute besonders fleißig zu arbeiten scheint / *weil er heute scheint, besonders fleißig zu arbeiten
(ii) Scheinen ist morphosyntaktisch und semantisch valenzaktiv insofern, als es einen menschlichen Dativus iudicantis als fakultative Dativergänzung regiert (vgl. Bech 1955: 127): (28)
Er schien (allen) krank zu sein.
In bezug auf andere Satzglieder ist scheinen mit Infinitiv semantisch valenzinaktiv. Vgl. neben (27H28) z. B. auch (29): (29)
a. Solche Meinungsverschiedenheiten scheinen jetzt nicht mehr aufzutreten, b. Heute scheint besonders eifrig gearbeitet zu werden.
(iii) Scheinen mit Infinitiv hat allgemeine epistemisch-modale Bedeutung. Dies erhellt u. a. aus der Geläufigkeit der bei epistemischen Modalverben üblichen Konstruktion mit Infinitiv Perfekt (Askedal 1998a: 57f.) in (30): (30)
Es scheint kein Irrtum des Computers gewesen zu sein.
(iv) Es gibt keine zweite Fügung aus scheinen mit Infinitiv mit anderen syntaktischen und semantischen Eigenschaften, dafür aber eine ganze Reihe anderer Satzmuster, wo scheinen grundsätzlich die gleiche Bedeutung hat (vgl. die ausführliche Exemplifizierung bei Askedal 1998a: 52f). Von besonderem Interesse ist die Konstruktion mit Ergänzungssatz, wo die semantische Propositionsbezogenheit von scheinen in der Oberflächensyntax deutlich zutage tritt: (31)
Es scheint (allen), daß er krank ist.
(v) Im Hinblick auf die Frequenzfrage ist es bemerkenswert, daß scheinen mit Infinitiv im Durchschnitt die am häufigsten zu belegende Konstruktion ist (Askedal 1998a: 54f.). - Aufgrund der in (i)-(iii) und (v) genannten Gegebenheiten ist scheinen mit Infinitiv insgesamt als epistemisch-modales Auxiliarverb bestimmbar.
Zur Frage der Auxiliarisierung einiger deutscher Verben
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2.12 ,, drohen ", „ versprechen " (i) Bei dem hier in Frage stehenden „modalen" Gebrauch ist der von drohen bzw. versprechen abhängige Infinitiv mit zu nicht extraponierbar (Bech 1955: 126f.): (32)
a. obwohl das Haus einzustürzen drohte / *obwohl das Haus drohte einzustürzen b. weil es ein schöner Tag zu werden versprach / *weil es versprach, ein schöner Tag zu werden
(ii) In der Verwendung in (32) sind drohen und versprechen morphosyntaktisch und semantisch valenzinaktiv. Insbesondere ist ein etwa vorkommender Dativ nicht Ergänzung von drohen bzw. versprechen, sondern er ist entweder von dem von drohen bzw. versprechen regierten Infinitiv abhängig oder als ein sog. „freier" Dativ (Dativus iudicantis) aufzufassen. Vgl. jeweils (33 a) und (33 b): (33)
a. Die Vase drohte ihren Händen zu entgleiten. b. weil es ihm ein schöner Tag zu werden versprach
(iii) In den Konstruktionen in (32)-(33) haben drohen negativ und versprechen positiv konnotierte, nachzeitigkeitsorientierte epistemisch-modale Bedeutung. Wegen der Nachzeitigkeitsorientierung tritt die ansonsten bei epistemischen Verben geläufige Konstruktion mit Infinitiv Perfekt nicht auf. (iv) Zusätzlich zu den bisher besprochenen epistemischen Konstruktionen gibt es natürlich auch die mit drohen als referierendem und versprechen als entweder referierendem oder performativem Sprechaktverb in (34): (34)
a. Die Frau hatte ihm gedroht, ihn zu verlassen. b. Sie hatte ihm nie versprochen, zu ihm zurückzukehren. c. Ich verspreche dir hoch und heilig, zu dir zurückzukehren.
Die Konstruktionen in (34) unterscheiden sich von denen in (32)-{33) auf mehrfache Weise: semantische und morphosyntaktische Valenzaktivität, Extraponierbarkeit des Infinitivs, Möglichkeit periphrastischer Tempusformen. Das Verhalten von drohen und versprechen in (34) ist das gewöhnlicher Vollverben mit Infinitiv, während die für (32)-(33) usw. geltenden Restriktionen den Auxiliarcharakter der beiden Verben in dieser Verwendung bezeugen. (Vgl. insgesamt Askedal 1997: 13 f.) (v) Was die Frequenzverhältnisse betrifft, kann auf die Untersuchung von Askedal (1997) hingewiesen werden: Im Corpus von Askedal war der epistemisch-modale Gebrauch von drohen mit Infinitiv mit mehr als einem Drittel aller Belege die bei weitem häufigste Einzelkonstruktion bei diesem Verb, während der entsprechende Gebrauch von versprechen vergleichsweise wenig geläufig war. Der Vergleich der epistemisch-modalen und der nichtmodalen Verwendung mit Infinitiv ergab, daß der epistemisch-modale Gebrauch von drohen viermal häufiger vorkam als der nichtmodale Gebrauch. Bei versprechen verhielt es sich wiederum anders: Nichtmodales versprechen mit Infinitiv kam etwa 13mal häufiger vor als epistemisch-modales versprechen. (Vgl. insgesamt Askedal 1997: insbesondere 17f.) Für den sehr deutlichen Unterschied zwischen drohen und versprechen in bezug auf epistemisch-
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John Öle Askedal
modale Verwendung lassen sich sowohl syntaktische als auch pragmatische Gründe anführen (Askedal 1997: 18f.). - Aufgrund der in (i)-{v) genannten Gegebenheiten sind drohen und versprechen mit Infinitiv in Fällen wie (32)(33) eindeutig als epistemisch-modale Auxiliarverben zu bestimmen.
3
Schlußwort
Anhand der Helbigschen Hilfsverbkriterien von 1972 im Verein mit Gesichtspunkten aus der neueren Grammatikalisierungsdiskussion läßt sich nachweisen, daß die in (3[c]) genannten, von Heibig erstmals in einem theoretischen Zusammenhang problematisierten Verben eine von Nichtauxiliarität bis zu Auxiliarität reichende Skala bilden. Daran besonders hervorzuheben sind suchen und wissen als neue Auxiliarverben für Intentionalität bzw. persönliche Fähigkeit und scheinen, drohen, versprechen als epistemisch-modale Auxiliaria. Von ihrer Bedeutung her sind diese Verben im eigentlichen Sinne „Modalitätsverben". Suchen, wissen, drohen und versprechen haben gegenüber den herkömmlichen Modalverben eine präzisere Bedeutung, wahrend scheinen im Verhältnis zu epistemisch verwendeten Modalverben als ein in sonstiger modaler Hinsicht neutrales epistemisches Auxiliarverb erscheint. Insgesamt bezeugt der im vorliegenden Beitrag angesprochene Bereich der deutschen Grammatik die in anderem Zusammenhang von Eroms (1987: 75) herausgestellte Produktivität der Auxiliarisierung im Deutschen.
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Zur Frage der Auxiliarisierung einiger deutscher Verben
13
Hagege, Claude (1993): The Language Builder. An essay on the human signature in linguistic morphogenesis. Amsterdam/Philadelphia (Amsterdam Studies in the Theory and History of Linguistic Science. Series IV: Current Issues in Linguistic Theory, 94). Heine, Bernd / Claudi, Ulrike / Hünnemeyer, Frederike (1991): Grammaticalization. A Conceptual Framework. Chicago/London. Helbig, Gerhard (1972): Probleme der deutschen Grammatik für Ausländer. Leipzig (Zur Theorie und Praxis des Deutschunterrichts für Ausländer). Hopper, Paul J. (1990): Principles of Grammaticization: Towards a Diachronie Typology. In: W. P. Lehmann (Hg.), Language Typology 1987. Systematic Balance in Language. Papers from the Linguistic Typology Symposium. Berkeley, 1-3 December 1987. Amsterdam/Philadelphia, 157-170 (Amsterdam Studies in the Theory and History of Linguistic Science, 67). Hopper, Paul J. (1991): On Some Principles of Grammaticization. In: E. C. Traugott / B. Heine (Hg.), Approaches to Grammaticalization. Volume I: Focus on Theoretical and Methodological Issues. Amsterdam/Philadelphia, 17-35 (Typological Studies in Language, 19.1). Hopper, Paul J. / Traugott, Elizabeth Closs (1993): Grammaticalization. Cambridge, Engl. (Cambridge Textbooks in Linguistics). J0rgensen, Peter (1964): Tysk Grammatik. Band III. In Zusammenarbeit mit Ove K. Clausen. K0benhavn. Neugeborn, Wolfgang (1976): Zur Analyse von Sätzen mit fmiter Verbform + Infinitiv. In: H. Schumacher (Hg.), Untersuchungen zur Verbvalenz. Eine Dokumentation über die Arbeit an einem deutschen Valenzlexikon Tübingen, 66-74 (Forschungsberichte des Instituts für deutsche Sprache, 30).
Irmhild Barz
Kompositionsstrukturen
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Zum Gegenstand
Gerhard Helbigs Überlegungen zu „Grenzgängern" in der Grammatik regen dazu an, ähnlichen Phänomenen im Benennungsinventar nachzugehen. Unter „Grenzgängern" versteht Heibig (grammatische) Einheiten, die sich einer „vorgenommenen Systematisierung nicht fügen" (1997: 325), die gewissermaßen jeweils zwischen etablierten Klassen von Einheiten anzusiedeln sind. Solchen Übergangserscheinungen linguistisch gerecht zu werden erfordere, daß „entweder spezifische Klassen ausgegliedert und/oder die Klassen subklassifiziert werden" (1997: 333). Was hier für die Grammatik festgestellt wird, trifft auch auf strukturellmorphologisch begründete Klassenbildungen im lexikalischen Bereich zu, und zwar bei substantivischen Benennungen, die aus mehreren getrennt geschriebenen Wörtern bestehen, d. h., die mindestens ein Spatium in ihrer schriftlichen Form aufweisen. Solche Fügungen sind ihrer internen Struktur nach Komposita (Original Teile, Allianz Fachmann, Opel Händler, E-Plus Service Kartenvertrag) oder Phrasen (Opel Omega, Renault Twingo Enjoy); es gibt aber auch zahlreiche Beispiele, die sowohl das eine wie auch das andere sein können (der/das Golf Cabriolet) oder in denen beide Strukturtypen eine Verbindung eingehen (AEG Öko Favorit 4030 Geschirrspüler). Zwar gelten im Deutschen bei komplexen Benennungen die Zusammenschreibung als Indikator des Wortstatus und die Getrenntschreibung als Signal für den Phrasencharakter; auf immer mehr Komposita in bestimmten Vorkommensbereichen und besonders auf solche mit onymischen und entlehnten Segmenten trifft diese graphische Unterscheidung jedoch nicht mehr zu. Sie werden wie Phrasen getrennt geschrieben.1 Diese Abweichung bietet dem Produzenten u. a. mehr Entscheidungsspielraum bei den Kombinationsmöglichkeiten, die Gelegenheit zu aufmerksamkeitsheischender Textgestaltung und demonstrativem Innovationsanspruch, was besonders in Texten der Produktwerbung angestrebt wird. Insofern kann eine gewisse Funktionalisierung der Getrenntschreibung komplexer Wörter angenommen werden. Bislang sind die heterogen strukturierten, getrennt geschriebenen komplexen Benennungen nur punktuell und nicht im Bezug zueinander untersucht, so daß 1
Vgl. hierzu die Diskussion zu den „zentrifugalen Kräften" der Komposita bei Maas (1992: 192ff.)·
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IrmhildBarz
es nur wenige systematische Kenntnisse über mögliche Strukturen, Überlappungen und bevorzugte Verwendungsweisen gibt. Oft werden sie alle, unabhängig von ihrer Struktur, der Wortbildungsart Komposition zugeordnet (und damit dem Bereich Wortbildung), ohne daß sie das Kompositionsmuster tatsächlich immer in seinen typischen Merkmalen repräsentieren. So bezeichnet etwa Platen (1997: 14) in einer Wortbildungsanalyse der Marken- oder Produktnamen (der „Ökonyme") Benennungen wie Palmolive Dusch & Creme, Zewa wisch und weg als „Kompaktkomposita". Koß (1992: 146) ermittelt bei den Medikamentennamen u. a. solche mit „Kompositcharakter" (ben-u-ron Saft), Aus syntaktischer Perspektive kommt Lawrenz (1993: 175) zu dem Schluß, daß onymische Strukturen des Typs Schloß Burg, Kap Skagen eher komplexe Wörter und nicht Nominalphrasen seien. Mohn (1986: 128) trennt zwar in der empirischen Analyse deutlich zwischen synthetischen und analytischen Benennungen, betrachtet fachsprachliche polylexikalische Benennungen wie abgesetzter Linsensenkknopf, Scheibe mit Vierkantloch zusammenfassend aber doch als Exemplare eines „komplexen Wortbildungstyps". Auf eine Differenzierung zwischen Kompositum und Phrase verzichtet auch Äugst (1992: 50), wenn er Benennungen „aus einem flektierten Adjektiv + Substantiv" wie schneller Brüter, heißer Draht als „zusammengesetzte Wörter" bezeichnet. Ursache für den undifferenzierten Umgang mit Kompositum (univerbiert) einerseits und Phrase (polylexikalisch) andererseits, in dessen Folge auch nichtkompositive Einheiten als Komposita betrachtet werden, ist vor allem die Vernachlässigung strukturell-semantischer Unterschiede zwischen den komplexen Benennungen zugunsten der Hervorhebung ihrer funktionalen (nominativen) Gemeinsamkeit. Das Ziel dieses Beitrags besteht darin zu zeigen, welche Arten von Komposita diskontinuierlich auftreten, wie sich Phrasenbenennungen davon unterscheiden und welche Funktionen die Spatium-Schreibung erfüllen kann. Plädiert wird für einen engen (tradierten) Kompositionsbegriff, wonach Getrenntschreibung zwar nicht grundsätzlich gegen den Kompositionsstatus der entsprechenden Einheiten verstößt (Duden 1996: 877), nicht jede Benennung aus mehreren Wörtern jedoch unbesehen zu den Komposita zu zählen ist. Das Illustrationsmaterial wird aus Texten der Produktwerbung zitiert. Die Frequenz diskontinuierlicher Komposita ist in solchen Texten besonders hoch, was sich aus dem starken Anteil von Abweichungen aller Art und der besonderen Häufung von Firmen-, Waren- und Produktnamen, einschließlich der Namen für Dienstleistungen, erklärt.2 Die Analyse erfolgt in zwei Schritten. Zunächst werden Komposita und Phrasenbenennungen strukturell-semantisch voneinander abgehoben. Im Anschluß daran geht es um die möglichen Funktionen der regelverletzenden Schreibung diskontinuierlicher Komposita. Aus der Analyse ergeben sich Schlußfolgerungen für die Nominationsforschung.
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Alle Beispielzitate sind belegt, vgl. Quellenverzeichnis. Auf detaillierte Einzelnachweise wird verzichtet.
Kompositionsstrukturen 2
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Diskontinuierliche Komposita vs. Phrasenbenennungen
2.1 Der Kompositionsstatus getrennt geschriebener Wörter wie Funktions Check, Dankeschön Angebot, Unfall Schnelldienst, Hydro Intensiv Gel, V6 TDI Motor, 3 Wege Prinzip, Ford Escort Nachfolger ist trotz der abweichenden Schreibung eindeutig zu belegen. Sie verfügen über sämtliche strukturellsemantischen Merkmale idealtypischer Determinativkomposita, wenn diese wie folgt bestimmt werden. Es sind binäre rechtsköpfige komplexe Wörter mit einer Determinans-Determinatum-Struktur. Sie bestehen aus zwei positionsfesten unmittelbaren Konstituenten, von denen ausschließlich die zweite im Satz referenzfähig ist, die morphologische Markierung trägt und nicht getilgt werden kann. Komposita sind ebenso wie nichtkomplexe Wörter nicht expandierbar, weder durch attributive Einschübe noch durch strukturinterne Flexion (zu Abweichungen bei Phrasenkomposita vgl. Lawrenz 1996: 9). Daher können auch Phrasen, wortartenindifferente Einheiten oder (selten) unselbständige Kürzungen als Erstkonstituenten auftreten. Sie repräsentieren einen in bezug auf das Merkmal „Wortfähigkeit" untypischen Fall (Meineke 1996: 321).
2.2 Komposita sind nach der „amtlichen Regelung der deutschen Rechtschreibung" (Duden 1996, 861-910) zusammenzuschreiben. Das Regelwerk bezieht ausdrücklich auch Komposita mit onymischen Erstkonstituenten (Goethegedicht), zusammengesetzte Onyme (Bahnhofstraße) und Konversionen (Autofahren) in diese Festlegung ein. Die alternative Schreibung zusammen/getrennt wird lediglich für Anglizismen aus Adjektiv + Substantiv zugelassen. Diese Substantive können ihre Originalschreibung beibehalten, mit Unterschieden bei der Klein- und Großschreibung des zweiten Wortes,3 vgl. Black Box, Hot Line, Soft Drink, sie können aber auch schon zusammengeschrieben werden. Bei bestimmten Komposita ist anstelle der Zusammenschreibung die Schreibung mit dem Erläuterungs- oder Durchkopplungsbindestrich obligatorisch, oder sie ist eine Alternative zur Zusammenschreibung. Das amtliche Regelwerk trennt hierbei zwischen zwei Arten von Komposita: zwischen (1) solchen, „die keine Eigennamen als Bestandteile enthalten" (Duden 1996: 879), einerseits und (2) solchen mit mindestens einer onymischen Konstituente andererseits. (1) Obligatorisch mit Bindestrich zu schreiben sind Komposita der ersten Gruppe aufgrund formaler Besonderheiten ihrer Erstkonstituenten. Diese treten auf in Form von Buchstaben (A-Dur), Kurzwörtern (Bafög-Antrag), Ziffern (3Tonner), Ziffern mit Suffixen (61er-Bildröhre), Phrasen (Ad-hoc-Bildung, Kopf-an-Kopf-Rennen) und Komposita mit Bindestrich (D-Zug-Wagen). Meist
Fragen der Groß- und Kleinschreibung, die für die Zweitkonstituente von Komposita aus dem Englischen relevant werden, bleiben hier außer Betracht. Äugst (1992: 49) arbeitet heraus, daß die Großschreibung des Zweitgliedes u. a. davon abhängt, ob das entsprechende Wort im Deutschen schon außerhalb dieser Verbindung selbständig als Wort vorkommt.
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haben die Komposita appellativische Funktion.4 Diese Regel gilt natürlich auch für die Fälle, in denen die Erstkonstituente in einer dieser möglichen Strukturen ein Onym ist, was besonders oft auf Kurzwörter zutrifft, z. B. BMWNiederlassung. Der Duden nennt das Beispiel UNO-Sicherheitsrat in der Reihe der „Zusammensetzungen mit Abkürzungen und Initialwörtern", ohne gesondert auf den onymischen Status des Kurzwortes bzw. die Dominanz des formalen Kriteriums „Kurzwort" gegenüber dem Status Onym aufmerksam zu machen (Duden 1996: 879). Fakultativ kann ein Bindestrich zwischen allen anderen Arten von Konstituenten der appellativischen Komposita stehen, auch wenn für sie „normalerweise" Zusammenschreibung vorgesehen ist. Der Bindestrich bietet „die Möglichkeit, [...] die einzelnen Bestandteile als solche zu kennzeichnen, sie gegeneinander abzusetzen und sie dadurch für den Leser hervorzuheben" (Duden 1996: 879). Gegebenenfalls lassen sich durch Bindestrichschreibungen auch Mißverständnisse vermeiden und unübersichtliche, längere Komposita klarer strukturieren. (2) Für Komposita mit einer oder zwei onymischen unmittelbaren Konstituenten lassen sich die Regeln zur Bindestrichschreibung - von Einzelfestlegungen abgesehen - so zusammenfassen: Zwischen den unmittelbaren Konstituenten wird ein Bindestrich gesetzt, wenn die zweite Konstituente ein (Personen-)Name ist (Blumen-Richter) oder beide Konstituenten onymischen Charakter haben (Eva-Maria, Sachsen-Anhalf). Auch bei Komposita mit einer mehrgliedrigen onymischen Erstkonstituente steht der Bindestrich obligatorisch (AlbertEinstein-Gedenkstätte). Fakultativ schließlich kann der Bindestrich bei Komposita mit eingliedrigen onymischen Erstkonstituenten anstelle der unmarkierten Zusammenschreibung zur Hervorhebung oder Verdeutlichung gewählt werden (Goethe-Büste). Daß die Schreibung von Eigennamen, also auch von onymischen Komposita, allerdings grundsätzlich von diesen Vorschriften abweichen kann, wird im Regelwerk ausdrücklich toleriert. Das betrifft bekanntermaßen nicht nur die Bindestrichschreibung, sondern auch die Prinzipien der Phonem-GraphemZuordnung und die Groß- und Kleinschreibung. Aus diesem Zusammenhang erklärt sich die Häufigkeit des Spatiums innerhalb komplexer Namen.
2.3 Die Regeln zur Komposita-Schreibung lassen eine Getrenntschreibung expressis verbis nur für zwei Vorkommensfälle zu, für komplexe Anglizismen, die als Komposita auch im Englischen getrennt geschrieben werden, und für einzelne onymische Komposita. Bei den Anglizismen gilt diese Schreibung als Mit den Attributen „appellativisch" und „onymisch" werden die Komposita hier nach ihrer Benennungsfunktion gegliedert, nicht nach dem Charakter ihrer Konstituenten. So ergibt sich, daß Komposita aus appellativischen Konstituenten onymische Funktion haben können (Direkt Anlage Bank). Komposita aus einer onymischen Erstkonstituente und einer appellativischen Zweitkonstituente können sowohl Namen (Goethestraße) als auch Appellativa (Goethebüste) sein.
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Zeichen fur einen geringen Integrationsgrad ins Deutsche, wie man ihn besonders an fachsprachlichem Wortgut bei der Produktcharakteristik (Time Zone Corrector / Teil einer Uhr für Piloten, Advanced Photo System l Fototechnik, Active Bass Extension l Hifi-Mini-Anlage) oder bei anderen okkasionellen Entlehnungen oder Lehnbildungen (Hard Rock Hotel, Hard Rock Cafe) beobachten kann. Die Einzelfestlegungen betreffen Namen, insbesondere Verlagsnamen, aber auch einige geographische Namen, vgl. z. B. Max Niemeyer Verlag, Stam Verlag, Königs Wusterhausen. Alle anderen diskontinuierlichen substantivischen Komposita stellen demzufolge Abweichungen von den Regeln der Getrennt- und Zusammenschreibung dar. Mit Spatium kommen sowohl Komposita aus zwei appellativischen unmittelbaren Konstituenten als auch aus einer onymischen und einer appellativischen Konstituente vor, viele davon mit entlehnten Konstituenten. Ihre Getrenntschreibung widerspricht der Regel, daß „nur Wortformen, nicht aber Wortteile mit dem Wortzwischenraum segmentiert werden" (Gallmann 1989: 100). Regelwidrige Zusammenschreibungen polylexikalischer Einheiten mit Determinans-Determinatum-Struktur dagegen scheint es nicht zu geben. Belege von Komposita aus zwei appellativischen Konstituenten, bei denen anstelle des obligatorischen Bindestrichs, vgl. 2.2 (1), ein Spatium auftritt, finden sich für die folgenden o. g. Typen: 3 Jahresgarantie (Erstkonstituente ist eine Ziffer; die Zusammenschreibung des Zweitgliedes ist hier irreführend, da die semantisch angemessene Paraphrasierung .Garantie für 3 Jahre' lautet), 3er Limousine (Erstkonstituente ist eine Ziffer mit Suffix), 6,4 GB Festplane, 3 Wege Prinzip, Hol und Bring Service (Erstkonstituente ist eine Phrase), AboService Hotline, Mega-Power Quarz Direktantrieb (Erstkonstituente ist ein Kompositum mit Bindestrich). Das zusätzliche Spatium in der Zweitkonstituente des letztgenannten Beispiels Quarz Direktantrieb steht anstelle eines Bindestrichs oder auch anstelle der Zusammenschreibung. Nicht belegt sind diskontinuierliche Komposita aus nichtonymischen Konstituenten mit einem einzelnen Buchstaben als Erstglied. Mit Spatium treten auch Komposita aus appellativischen unmittelbaren Konstituenten auf, für die entweder die Bindestrich-, die Zusammenschreibung oder - bei Vielgliedrigkeit - eine Koppelung beider Schreibweisen korrekt wäre: Dankeschön Angebot, Fahrzeug Check, Service Telefon, Sound Spaß, Direkt Anlage Bank, Büro Software Paket. Die beiden zuletzt aufgeführten Belege mit jeweils zwei Spatien erlauben eine zweifache Segmentierung: Direktanlage-Bank oder Direkt-Anlagebank, ebenso Bürosoftware-Paket oder Büro-Softwarepaket. Solche Interpretationsvarianten sind von der Graphic unabhängig. „Wo die Binnengrenze liegt, ist bei usuellen dreigliedrigen Zusammensetzungen vielfach [...] semantisch nicht eindeutig zu entscheiden", es ist von einer „schwebenden Struktur" auszugehen (Wellmann 1991: 15), vgl. Autoreifenwechsel (»Wechsel der Autoreifen' oder ,Reifenwechsel beim Auto'). Der Grund liegt darin, daß zwei usuelle Komposita aktiviert werden können, hier Autoreifen und Reifenwechsel, die eine identische Konstituente haben.
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Entsprechend ungenau in ihrer Semantik bleiben auch die genannten diskontinuierlichen Komposita aus drei Substantiven. Sachkenntnisse, z. B. hier über die Arten von Computersoftware, führen zu Vorzugsinterpretationen. Für Werbezwecke wird eine Präzisierung in diesem Sinn offenbar für nicht erforderlich gehalten oder bei den Adressaten als bekannt unterstellt. Häufiger als in früheren Untersuchungen (Barz 1993: 168) lassen sich inzwischen auch Spatien nach Konstituenten mit Fugenelement -s- belegen: Wahnsinns Preis, Funktions Check. Bei Komposita aus Adjektiv und Substantiv findet man ebenfalls Getrenntschreibungen: Edel Gehäuse, Privat Vorsorge, Aktiv Warnsystem. Mit seiner unflektierten Form zeigt das Adjektiv den Wortstatus an. Die Anfangsgroßschreibung entfällt als Indiz für die Univerbierung, weil Adjektive als Namenbestandteile auch in Phrasenbenennungen mit Großbuchstaben geschrieben werden. Da bei diesem Typ sonst die Zusammenschreibung dominiert und ein Bindestrich kaum gesetzt wird - am ehesten noch bei Adjektiven mit fremden Suffixen (Aktivposten, Aktiv-Formel) -, wird hier besonders deutlich, daß das Spatium Bindestrich- und Zusammenschreibung gleichermaßen ersetzen kann. Schließlich lassen sich auch Fälle von Doppelmotivationen belegen, bei denen sowohl die simultane Tilgung von Ergänzungsbindestrich und Erläuterungsbindestrich als auch nur die Tilgung des Ergänzungsbindestrichs vermutet werden kann. Das Kompositum der Karosserie und Lack Service kann gelesen werden als Karosserie-und-Lack-Service oder Karosserie- und Lack-Service / Karosserie- und Lackservice. Genuszuweisung und Distribution im Satz sichern auch in diesen Fällen die Identifizierung der Einheit als Wort. Komposita aus onymischer Erst- und appellativischer Zweitkonstituente machen die Masse der komplexen Wörter mit Spatium aus. Es sind solche Komposita, die wegen des Namens in Determinans-Position üblicherweise mit Bindestrich zu schreiben wären. In diese Gruppe gehören Komposita der verschiedensten Komplexitätsgrade, Komposita mit heimischen und entlehnten Konstituenten sowie Mischungen aus Ziffern, Buchstaben, Kurz- und Kunstwörtern, aus Konstituenten mit internem Bindestrich, aus Phrasenkonstituenten u. ä. Interessanterweise treten Spatien sowohl in der Hauptfuge auf, d. h. zwischen onymischer und appellativischer Konstituente, als auch jeweils innerhalb komplexer Erst- bzw. Zweitkonstituenten. Exemplarisch seien die folgenden Typen genannt. (1) Die Erstkonstituente ist ein eingliedriger Firmen- oder Markenname,5 die Zweitkonstituente ein simplizisches oder komplexes Appellativum. Bei Komplexität der Zweitkonstituente können wiederum Spatien auftreten. Die onymische Konstituente ist ein Kurz- oder Kunstwort (BMW Motorsport, Audi Partner, Deka Gruppe, Meridol Zahnpaste), ein entlehntes Wort (Windows Tastatur) oder ein polyfunktionales Wort, das neben der Namenfunktion noch appellativische Funktion hat (Renaissance Hotel, Renaissance Gast, Allianz Fach5
Der onymische Charakter der Markennamen wird gegenwartig kaum noch in Zweifel gezogen, vgl. Platens Terminus „nom propre de type" (1997: 32).
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mann). Der Name selbst kann auch ein Kompositum sein (Lufthansa Ticket Counter). (2) Die Erstkonstituente ist ein mehrgliedriger Firmen- oder Markenname, die Zweitkonstituente wie bei (1) ein simplizisches oder komplexes Appellativum. Beide Konstituenten können ihrerseits Spatien aufweisen. Durch die Getrenntschreibung wird am Schriftbild nicht deutlich, daß die Strukturen der Erstkonstituenten unterschiedlich sein können. Es sind beispielsweise: -
Substantiv mit enger Apposition: Renault Twingo Fahrspaß, Nivea Visage Augen Make-up Entferner, Citroen Xsara Vertrauens-Paket, Ford Escort Nachfolger. Die Kombination der appositiven Nominalphrase als Erstkonstituente mit einer substantivischen Zweitkonstituente gilt als besonders „produktives Bildungsmuster" (Lawrenz 1996: 3). Der Komplexitätsgrad der Nominalphrase beschränkt sich bei diesem Typ - anders als im Gebrauch als selbständige Benennung (vgl. 2.4) - in der Regel auf zwei Glieder: Twingo Liberty Leasing, nicht Renault Twingo Liberty Leasing; - attributives Adjektiv mit substantivischem Bezugswort: American Express Reisebüro; - Kompositum aus zwei Substantiven: Schleswig-Holstein Musik Festival, Star Alliance Partner.
2.4 Phrasenbenennungen werden hier nur in Abgrenzung von den Komposita, gewissermaßen als „Nichtkomposita" bestimmt. Eine differenzierte Typologie, die allgemeinsprachliche, fachsprachliche und onymische Einheiten umfassen müßte, kann in diesem Rahmen nicht geboten werden. Phrasenbenennungen lassen sich von den diskontinuierlichen Komposita durch ihre Strukturmerkmale unterscheiden. Phrasen als Benennungen bestehen aus zwei oder mehr Konstituenten, deren interne Struktur auf dreifache Weise ausgeprägt sein kann: als Links- oder Rechtsköpfigkeit oder als Adordination bei Nomen mit enger Apposition (Schindler 1990: 50). Ihr Benennungsstatus zeigt sich an ihrer Festigkeit, d. h. daran, daß sie, wenn sie mit attributiven Einschüben versehen werden, primär als freie Syntagmen interpretiert werden: freier ungeplanter Fall, Salto ausschließlich rückwärts. Linksköpfigkeit besteht bei appellativischen und onymischen Phrasenbenennungen aus Substantiven mit nachgestellten Attributen, wie in Salto rückwärts, Gleichung höherer Ordnung, Atommodell nach Ratherford (Mohn 1986: 127f), Karpfen blau, Häkle feucht, Häkle dreilagig, Warsteiner Light (Platen 1997: 21 Off.). Die Subordination nachgestellter Substantive ist durch den Genitiv oder durch den präpositionalen Anschluß angezeigt. Nachgestellte Adjektive und Partizipien bleiben unflektiert. Benennungen mit diesen Strukturen werden gelegentlich als Inversionskomposita bezeichnet, und zwar dann, wenn die nachgestellten subordinierten Einheiten mit Bindestrich an das links stehende Determinatum angeschlossen sind (Mokka-double). Diese Zuordnung müßte im Zusammenhang mit den diskonti-
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innerlichen Komposita neu bedacht werden. Komplexe Benennungen mit dieser Determinationsrichtung zwischen ihren Konstituenten sollten zugunsten begrifflicher Klarheit besser als polylexikalische Einheiten und nicht als Wortbildungsprodukte gelten. Das wäre insofern konsequent, als die Schreibung mit oder ohne Bindestrich bei Rechtsköpfigkeit der komplexen Fügung eben gerade nicht über den Wortbildungsstatus entscheidet. Für die onymische Wortbildung (Leipzig-Gohlis) wäre möglicherweise gesondert zu verfahren. Rechtsköpfigkeit liegt vor bei Phrasenbenennungen aus vorangestelltem attributivem Adjektiv bzw. Partizip und Substantiv: freier Fall, Braunsche Röhre, destilliertes Wasser. Im Unterschied zu den ebenfalls rechtsköpfigen Komposita werden in der rechtsköpfigen Phrase alle flektierbaren Konjunkte flektiert (Mohn 1986: 126f), so daß flektierte Adjektive vor substantivischen Bezugswörtern die entsprechenden Gefüge deutlich als Phrase ausweisen. Ein vor allem für Produktnamen typisches Muster ist die Nominalphrase mit appositiver Struktur, die Adordination nominaler Einheiten, bei der an die links stehende Benennung einer „Dachmarke" weitere Einheiten - simplizische und komplexe Wörter, Kunst- und Kurzwörter, Ziffern- oder Buchstabenfolgen „zur Differenzierung im Produktsortiment" (Platen 1997: 43) angefügt werden: Opel Astra, Suzuki Baleno, Renault Twingo, Renault Twingo Enjoy, Renault Triebwerk VW RS9, Audi A4 V6 TDI, Opel Vectra Caravan Sport TDI 16V, Postbank Giro Plus, Michelin Pilot Sport. Formen und Anzahl der nach der „Dachmarke" folgenden differenzierenden Angaben hängen vom Adressatenkreis der jeweiligen Texte und von der Beschaffenheit des benannten Objekts ab. Das betrifft die Unterschiede zwischen einem laienhaften und einem fachlichen Interesse und die sachliche und begriffliche Differenziertheit der Referenzobjekte. Extrem stark differenziert sind Benennungen für technische Erzeugnisse wie die Benennung einer Autoreifensorte der Dunlop Sp Winter Sport M2, mit einer für den Laien unklaren Binnenstruktur. Die Besonderheit dieser onymischen Benennungen gegenüber denen mit Determinans-DeterminatumStruktur besteht darin, daß in der Regel jede substantivische Konstituente den Namen repräsentieren kann und referenzfähig ist (vgl. in ein und demselben Text: Der Peugeot 406 bietet wegweisende Sicherheit. Es gibt ja den 406. Der Spiegel 46/1998: 82). Bei appositiv angeschlossenen Zahlen- und Buchstabenkombinationen läßt sich daher oft eine variable Reihenfolge feststellen. Schippan (1989: 52) verweist zwar auf eine standardisierte Abfolge der Konstituenten (Serie/Hersteller - Warensorte - Typ: Florena Schaumfestiger ALON de luxe). Das trifft aber wohl nicht auf alle Arten von Warennamen gleichermaßen zu. Aber auch wenn sich diese Abfolge bei Namen für ganz verschiedene Produkte als dominant herausstellen sollte, ist distinktive Positionsfestigkeit sämtlicher Konstituenten (wie beim Kompositum) kaum anzunehmen. Insbesondere die Benennung der Warensorte kann unterschiedlich positioniert werden; je nach Semantik der Glieder ergibt sich dadurch mitunter Rechtsköpfigkeit als Interpretationsmöglichkeit: Schöller Mövenpick Eiskrem - Schöller Eiskrem Mövenpick. Der Name für die „Dachmarke" steht, wenn die ganze Fügung Namencharakter hat, bevorzugt links. Auf den Doppelcharakter von sehr geläufigen Pro-
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duktnamen wie Opel und Esso verweist Eisenberg (1989: 181). Als Gattungsoder Stoffsubstantive in der Bedeutung ,Auto' bzw. »Treibstoff können diese Wörter dann auch andere Positionen in komplexen Wörtern einnehmen.6
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Funktionen des Spatiums
Versucht man eine Korrektur der Schreibung graphisch abweichender Komposita entsprechend den Regeln vorzunehmen, ergeben sich zusammengeschriebene Komposita und Bindestrichkomposita, in der Mehrzahl letztgenannte: 3-WegePrinzip, Dankeschönangebot/Dankeschön-Angebot, Edelgehäuse, Allianzfachmann/Allianz-Fachmann, Renault-Twingo-Fahrspaß usw. Die korrigierten Varianten verdeutlichen mögliche Gründe für die Schreibung mit Spatium. Aus pragmatischer Sicht, so will es zunächst scheinen, leistet das Spatium nicht mehr als der Bindestrich, nämlich die deutliche Signalisierung der jeweiligen Wortgrenzen. Akzeptiert man jedoch einen Intensitätsunterschied zwischen den Grenzsignalen, besteht doch keine völlige Freiheit der Wahl zwischen den Varianten. Das gilt schon deshalb, weil das Spatium eine Regelwidrigkeit darstellt. Daß sie bewußt in Kauf genommen wird, muß durch einen andersartigen „Gewinn" begründbar sein, einen Gewinn an Übersichtlichkeit und Wirkung. Der Ansatz dafür liegt im Charakter der jeweiligen Konstituenten, die durch Spatien von ihrem zugehörigen Wortteil abgesetzt sind, und in der Benennungsfunktion des ganzen GefÜges. Wie oben zu erkennen war, bestimmen vor allem der onymische Charakter des Kompositums oder einer seiner Konstituenten die graphischen Besonderheiten. Die englische Herkunft der Komposita oder einzelner Konstituenten kommt als weiterer „Verursacher" hinzu. Diskontinuierliche Komposita aus Konstituenten, die nicht diese Merkmale tragen, lassen sich möglicherweise als analogische Übertragungen erklären und als tendenzielle Ausbreitung der Spatien-Schreibung werten. Für das unverbundene Nebeneinanderstellen der Wörter spricht, daß auf diese Weise leichter ganz beliebige Elemente zu „lexikalischen Kettenverbindungen" (Wellmann 1991: 29) gekoppelt werden können. Für Okkasionalismen ergibt sich mit der Übersichtlichkeit die erwünschte Rezeptionserleichterung. Außerdem suggeriert die auffällige Schreibung, besonders bei Namen, Exklusivität des beworbenen Produkts, eine für den Werbeerfolg wichtige Assoziation.
3.1 Bei Komposita mit Firmen- oder Produktnamen als Erstkonstituente vor appellativischer Zweitkonstituente wird die onymische Konstituente im Wort durch die separate Schreibung deutlich als etwas Besonderes ausgewiesen, und zwar in ihrer Abgrenzung zum folgenden Wortteil, und auch als Name. Das Zum Verhältnis zwischen appositiven Phrasen und den durch Umstellung der Glieder bildbaren Komposita vgl. Hackel (1995: 87).
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Spatium ist nicht nur das stärkere Grenzsignal als die Bindestrichschreibung, es genügt zudem dem Prinzip der Schemakonstanz, wie es Gallmann (1989: 89) bestimmt: „Das Prinzip der Schemakonstanz bezieht sich [...] nicht nur auf die Auswahl der Buchstabenkette, sondern auch auf graphische Merkmale, denen das Segmentierungs- oder Klassifikationsprinzip zugrunde liegen, zum Beispiel auf die Groß- und Kleinschreibung oder die Abgrenzung von Wortformen durch den Wortzwischenraum." Bei deutlicher interner Strukturierung, d. h. vor allem bei Identifizierbarkeit eines Heads, ist die Verständlichkeit und Akzeptanz der Gefüge als Komposita offenbar nicht eingeschränkt. So bestimmt z. B. Sowinski (1989: 67) den Firmennamen MDM Markt- Daten- und Medien Service GmbH (in dieser Schreibung) als „siebengliedriges Determinativkompositum", ohne die besondere Schreibung zu kommentieren. Ein besonderer formaler Status der onymischen Konstituente als Kunstwort oder auch die Herkunft aus einer Fremdsprache mögen die exponierte Schreibung mit stützen; entscheidend ist aber wohl doch ihr onymischer Charakter, wie weitere Beispiele zeigen: Velux Zubehör, Tchibo Bäcker, Elmex Forschung, DWS Investmentrente, Fiat Kredit Bank, BMW Niederlassung, Renault Serienfahrzeuge. Die Struktur der Zweitkonstituente beeinflußt die Hervorhebung des Namens nicht, sie kann jedoch unter dem Einfluß des vorangehenden Spatiums gleichfalls regelabweichend getrennt geschrieben werden, so daß die Hauptfuge graphisch unmarkiert bleibt: Schleswig-Holstein Musik Festival, Maggi Nudel Gratin, Fiat Kredit Bank. Bindestrichschreibungen begegnen bei diesem Typ sehr selten, z. B. WüstenrotBerater, Porsche-Händler. Auch bei Namen treten Fälle der simultanen Tilgung von Erläuterungs- und Ergänzungsbindestrich auf wie in Clio Paradise Fahrerinnen und Fahrer.
3.2 Der zweite wichtige Vorkommensbereich fur das Spatium sind aus dem Englischen entlehnte Komposita. In Beispielen wie Security Code, Secret Service liegen wörtliche Übernahmen vor. Die Integration der komplexen englischen Substantive beschränkt sich hier, wie gegenwärtig oft bei Substantiven, auf die Genuszuweisung und die Großschreibung der einzelnen Konstituenten; die originalsprachliche Getrenntschreibung bleibt dagegen unangetastet, vgl. auch Young Professionals, Automatic Call Distribution, On-Screen Call Routing, Voice Mail.7 Die getrennt geschriebenen Belege bestätigen die allgemeine Tendenz „zur unveränderten Übernahme" der Entlehnungen ins Deutsche (Langner 1995: 173). Nach einer Analyse der Eintragungen im Mannheimer Duden von 1986 zählt Äugst ein Drittel der im Englischen getrennt geschriebenen Komposita im Deutschen in derselben Schreibweise. Besonders bemerkenswert hinsichtlich der Entwicklung des Umgangs mit Entlehnungen ist Augsts diesbezüg7
Immerhin verzeichnet eine Trendwörter-Sammlung (Loskant 1998) bei ca. 1000 Einträgen insgesamt 56 getrennt geschriebene Mehrwort-Anglizismen wie Home Music, Managed Care, New Public Management.
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licher Nachtrag zum 96er Duden. Von den 17 neu in die 21. Auflage des Dudens aufgenommenen entlehnten englischen Komposita, die im Englischen getrennt geschrieben werden, übernimmt das Wörterbuch bereits 11 in der Getrenntschreibung, das sind mit über 60 % etwa 30 % mehr als in der Untersuchung des Dudens von 1986, z. B. Grand Slam, Heavy metal, New Age, Running Gag, Industrial design. Hier zeichnet sich eine steigende Tendenz ab. Werden nun solche diskontinuierlichen Entlehnungen zu Konstituenten neuer komplexer Wörter, müßten sie der Kompositionsregel nach wie jedes andere Wort mit der zweiten Konstituente zusammengeschrieben oder mit Bindestrichen verbunden werden. Für die Kopplung von englischen Entlehnungen mit deutschen Wörtern oder mit im Deutschen bereits üblichen Entlehnungen wird diese Schreibung auch empfohlen (Duden 1996: 31), dennoch begegnen mehrgliedrige Komposita aus englischen und deutschen Konstituenten zunehmend in Getrenntschreibung, vgl. Sun Protect Windschutzscheibe, 3 Gang Kinder City Bike, Wahnsinns Service Lieferpreis. Es kann wohl kaum mehr gelten, daß Komposita mit Anglizismen „abgesehen von ganz wenigen Ausnahmen [über eine] dem Deutschen gemäße Schreibung" verfügen (Langner 1995: 167). Zumindest für Komposita in Texten der Produktwerbung ist Langners Feststellung zu relativieren. Daß die Empfehlungen des Dudens so häufig nicht befolgt und statt dessen Komposita mit mehreren Spatien bevorzugt werden, scheint sich in erster Linie aus der übernommenen Getrenntschreibung der englischen Konstituente zu ergeben. Sie strahlt auf die Kompositionsfuge aus. Bindestriche als Zeichen der Univerbierung würden die Originalschreibweise des englischen Wortes verändern, was offenbar - wieder im Sinne der Schemakonstanz - nicht für wünschenswert gehalten wird. Würde nur eine Konstituente des englischen Kompositums graphisch an die Zweitkonstituente gebunden (Hard Rock-Hotel), ergäbe sich mit der Verletzung des „Schemas" (Gallmann 1989: 89) eine nicht intendierte semantische Interpretation, denn das verbleibende Spatium markierte optisch die Hauptfuge an der falschen Stelle und legte so die Interpretation des Adjektivs als Attribut zur entstandenen komplexen Zweitkonstituente nahe, einschließlich einer engeren Verbindung zwischen dem zweiten Teil der Erstkonstituente und der Zweitkonstituente. Diese Schreibweise ist demnach keine brauchbare Alternative.
3.3 Die Getrenntschreibung von Komposita, die weder Anglizismen noch Namen sind noch Anglizismen oder Namen enthalten, vgl. Stauraum Wunder (Werbung für einen Schrank), (digitale) Aufnahme Effekte (Tontechnik), findet sich bei Substantiven, die in Werbetexten besonders auffallen sollen, weil sie Vorzüge des beworbenen Produkts benennen. Durch ihre auffällige Graphie wird ihre „Fokussierung" in der Werbeanzeige erreicht, durch die sich der Werbende vermutlich einen besonders starken Kaufanreiz verspricht. Hier scheint es keine Beschränkungen zu geben, wie Belege aus einer Werbebroschüre des Autoherstellers Volkswagen zeigen. Geworben wird mit Angaben zu Service-
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leistungen, vgl. Service Telefon, Service Qualitätsgarantie, Service Berater, Unfall Schnelldienst, Plaketten Service, Komplettpreis Angebote, Fahrzeug Check, Original Teile, (Mobilfunk mit) Füll Service. Da sich auf jeder Seite der Broschüre das Golf-Logo findet, könnte die Schreibung darauf zurückzuführen sein, daß die Wörter als Produktnamen-Teile aufgefaßt werden sollen: Golf Service Telefon, Golf Service Qualitätsgarantie. Das würde die Verwendungsdomäne „onymische Benennungen" für die Spatium-Komposita bekräftigen. Es zeigt aber auch recht anschaulich die „Einfallstore" der Spatium-Schreibung bei nichtonymischen Wörtern.
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Fazit
Als Komposita zu bestimmen sind nur rechtsköpfige komplexe Wörter. Linksköpfige Gefüge, Nominalphrasen mit enger Apposition sowie Phrasen aus flektiertem Adjektiv und Substantiv sind keine Komposita. Das Spatium als Grenzsignal wird vor allem in Komposita verwendet, die einen Firmen- oder Produktnamen oder eine englische Entlehnung, vorzugsweise eine getrennt geschriebene komplexe Entlehnung, als Konstituente aufweisen. Diese Wörter können Appellativa oder Onyme sein. Besonders häufig findet man die Schreibung mit Spatium in solchen Komposita, deren Erstkonstituente eine Nominalphrase mit enger Apposition darstellt und demzufolge im „freien Gebrauch" getrennt zu schreiben ist. Die Spatiumschreibung der Phrasen - meist sind das onymische Konstituenten - ebenso wie die der komplexen englischen Entlehnungen im freien Gebrauch verursacht die Spatium-Schreibung im Kompositum. Es gilt das Prinzip, von diesem freien Gebrauch möglichst nicht abzuweichen, sondern das Schema wiedererkennbar zu machen. Die strukturellen und funktionalen Besonderheiten der Finnen- und Produktnamen, ihre „Artifizialität" (Platen 1997: 17), und auch ihre weitgehende Textbereichsgebundenheit sind wohl Gründe dafür, daß sie bisher in der Wortbildungsforschung wie auch bei der Analyse fachsprachlicher Benennungen so wenig Beachtung gefunden haben. Weder sind sie in den Wortbildungshandbüchern als besondere Gruppe von Benennungen noch als Konstituenten nichtonymischer Komposita gründlich untersucht. Platens Arbeit von 1997 ist ein erster wichtiger Beitrag zur Schließung dieser Lücke. Man kann, wie hier an den diskontinuierlichen Komposita gezeigt werden sollte, mit Sowinski (1998: 65) die Bildung von Warennamen und neue Wortbildungen mit Warennamen als „Basis" als ein „Sonderkapitel der deutschen Wortbildung" bestimmen. Platen (1997: 41) bestätigt, daß bei der Bildung der Ökonyme „herkömmliche Regeln der Wortbildung oft gezielt außer Kraft gesetzt werden". Neben der Spatium-Schreibung sind die Majuskel im Wortinnem und wortgebundene Kürzungen weitere besonders häufig angewendete Verfahren, von spezifischen Wortbildungsmitteln ganz abgesehen.
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Wortbildung ist nur eine der produktiven Möglichkeiten der Bildung von Firmen- und Produktnamen, mindestens ebenso wichtig ist die Phrasenbildung. Für die aktuelle Nominationsforschung bleibt es eine wichtige Aufgabe, vorhandene Typologien der Benennungsbildungsarten zu verfeinem, insbesondere deren Reichweite für spezifische Wortschätze (Waren- und Produktnamen, Fachwortschatz und Allgemeinwortschatz) genauer zu bestimmen. Die Variantentoleranz bei der Getrennt- und Zusammenschreibung im Deutschen sollte sich in linguistischen Begriffsbildungen und Typologien niederschlagen.
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Hana Bergerova
Das Elend der Phraseographie und kein Ende Diesmal am Beispiel deutsch-tschechischer Wörterbücher
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Einführung
Die Erfassung und Beschreibung phraseologischer Einheiten in ein- und zweisprachigen Wörterbüchern wird seit längerem wiederholt zum Diskussionsgegenstand linguistischer Arbeiten (s. z. B. Burger 1983; 1989; Kühn 1984; Korhonen 1992; 1995; 1995a; Pilz 1995; Wotjak/Dobrovorskij 1996; Földes 1996). Fleischer (1982: 31) stellte seinerzeit fest, daß die lexikographische Kodifizierung der Phraseologismen einer Verbesserung bedarf, und zwar sowohl in allgemeinen ein- und zweisprachigen Wörterbüchern als auch in speziellen phraseologischen Wörterbüchern. Fünfzehn Jahre später, in der zweiten, durchgesehenen und ergänzten Auflage seiner „Phraseologie der deutschen Gegenwartssprache", änderte er an dieser Formulierung nichts (vgl. 1997: 26), was einiges aussagt. Angesichts der anhaltenden Kritik an der Phraseographie bringt der vorliegende Beitrag nichts Erstaunliches zutage. Sein Mehrwert soll darin bestehen, daß er ein Sprachenpaar unter die phraseographische Lupe nimmt, dem bis jetzt wenig Beachtung geschenkt wurde - das Deutsche und das Tschechische. Sein Ziel ist es, auf einige grundlegende Probleme, Unzulänglichkeiten und Inkonsequenzen hinzuweisen, die sich aus der kritischen Durchsicht einiger allgemeiner deutsch-tschechischer Wörterbücher ergeben haben, die - mit einer Ausnahme - in den letzten drei Jahren erschienen sind (s. Bibliographie). Den Terminus „Phraseologismus" verstehe ich als einen Oberbegriff für verschiedene Typen sprachlicher Einheiten, die sich durch relative Stabilität, Reproduzierbarkeit und Polylexikalität auszeichnen. In Anlehnung an Wotjak (1998: 75) unterscheide ich zwei große Gruppen: Phraseologismen unterhalb der Satzebene und satzwertige Phraseologismen. Zu der ersten Gruppe rechnet Wotjak Phraseolexeme/Wortidiome, Funktionsverbgefüge (FVG) und Nominationsstereotype sowie Kollokationen i. w. S., zu der zweiten dann hauptsächlich Routineformeln / kommunikative Formeln und Sprichwörter.
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Hana Berger ova Kriterienkatalog zur Phraseologieerfassung und -beschreibung in deutsch-tschechischen allgemeinen Wörterbüchern
Die analysierten deutsch-tschechischen Wörterbücher sind für Tschechischmuttersprachler bestimmt. Angesichts dessen, daß man in der Phraseologie von einem erheblichen Prozentsatz an phraseologischer Nulläquivalenz (Worbs spricht von ca. einem Drittel, 1994: 47) ausgehen muß, kann es sich in bezug auf phraseologische Wendungen um kein reines Übersetzungswörterbuch handeln, sondern nur um ein gemischtes Erklärungs-Äquivalent-Wörterbuch. Da die untersuchten Lexika die Sprachrichtung FS - MS repräsentieren, sind sie außerdem sog. passive oder auch Her-Übersetzungswörterbücher (zur Wörterbuchtypologie vgl. Kromann 1995: 502f.), wobei Worbs zuzustimmen ist, daß man bei der Behandlung phraseologischer Einheiten auch aktive Elemente (d. h. explizite Informationen zu kommunikativen Bedingungen für den Gebrauch eines FS-Phrasems) in ein solches Wörterbuch einbeziehen sollte, weil „die Kenntnis der Gebrauchspräferenzen und -restriktionen auch für eine adäquate Textrezeption und Textproduktion (MS) von Belang ist. Sie dienen dem Verständnis dessen, welche kommunikative Situation durch das AS-Phrasem signalisiert wird." (1994: 51). Bei der Analyse der ausgewählten Wörterbücher wurden vor allem folgende Fragen beachtet: 1. Erscheinen unter den Lemmata auch phraseologische Wendungen? Wenn ja, sind sie als solche gekennzeichnet? Weisen die Autoren im Vorwort darauf hin, daß sie neben Einwortlexemen auch Mehrwortlexeme, also Phraseologismen, einbezogen haben? Erklären sie dem Benutzer, worin die Besonderheiten dieser sprachlichen Einheiten bestehen? Es wurden vor allem solche Lemmata durchgesehen, die als phraseologisch aktiv gelten, z. B. Somatismen (Auge, Bein, Fuß, Hals, Hand, Herz, Kopf, Mund und Ohr), Tierbezeichnungen (Hund, Katze und Pferd) sowie Farbbezeichnugen (blau, rot und schwarz). Die Auswahl der substantivischen Komponenten wurde beeinflußt durch statistische Erhebungen Rajchsteins, die bei Dobrovol'skij (1988: 126) zitiert werden. Alle oben angeführten Substantive - mit Ausnahme von Katze - gehören nach Rajchstein zu den 50 aktivsten phraseologischen Nominalkonstituenten im Deutschen. Die neun Somatismen sind sogar unter den ersten elf plaziert. 2. Nach welchen Kriterien werden Phraseologismen den jeweiligen Stichwörtern zugeordnet? Wird im Vorwort von den Wörterbuchautoren festgeschrieben, welche Schritte der Benutzer beim Aufsuchen eines Phraseologismus gehen muß? Worbs (1994: 82) bezeichnet die Stichwortermittlung und Phrasemanordnung als einen Gradmesser für die Benutzerfreundlichkeit eines Wörterbuchs, deshalb sollte dieser Problematik große Aufmerksamkeit gewidmet werden. Auf S. 83ff. finden wir eine Übersicht über die verschiedenen Anordnungsprinzipien. Die Autorin stellt dort abschließend fest, daß sich das grammatischalphabetische Prinzip und das kombinierte Verfahren als zugleich benutzerfreundlich und ökonomisch vertretbar abzeichnen (87). Das grammatisch-
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alphabetische Ordnungsprinzip bestimmt die Rangfolge der Komponenten nach ihrer Wortklassenzugehörigkeit. Als primär für die alphabetische Einordnung wird das Substantiv angesehen. Fehlt dies, muß die Rangfolge der anderen Wortarten vom Wörterbuchautor festgelegt werden, z. B. Substantiv - Verb Adjektiv - Adverb - sonstige (s. Schemann 1993). Erscheint die jeweilige Wortklasse im Phrasem mehrmals, entscheidet meistens die erste Komponente, wenn es nicht anders festgelegt wurde. Bei Schemann wird z. B. zusätzlich noch beachtet, ob zwischen Konstituenten gleicher Kategorie eine hierarchische Beziehung besteht oder ob sie gleichrangig sind. Im ersten Fall ist für die Einordnung das Kernwort entscheidend, im zweiten die Wortfolge (1993: XVIII). Dies ist allerdings ein Kriterium, das für einen nichtmuttersprachigen Benutzer ziemlich problematisch ist, weil es ihm äußerst schwer fallen dürfte, richtig zu entscheiden, ob zwischen den Konstituenten eine hierarchische oder gleichrangige Beziehung besteht (zur Problematisierung semantischer Prinzipien s. auch Burger 1989: 594). Das kombinierte Verfahren verbindet das oben erklärte grammatisch-alphabetische Prinzip mit dem Verweisprinzip, bei dem das Phrasem unter allen seinen (autosemantischen) Komponenten (einschließlich Varianten) angeführt wird, wobei es nur unter dem Hauptstichwort mit vollem Wörterbuchartikel abgehandelt wird (vgl. z. B. Duden II). Wie werden die Phraseologismen innerhalb des Artikels angeordnet? Burger (1989: 595) macht die Schwierigkeit einer solchen Entscheidung deutlich, indem er betont, daß es offensichtlich keine Patentlösung für dieses Problem gebe, weil eine schematische Abtrennung a l l e r (Hervorhebung durch den Autor) Phraseologismen vom Rest des Artikels ebenso abzulehnen sei wie ein willkürliches Einordnen unter einem Bedeutungspunkt ä tout prix. Er plädiert für eine Zuordnung deutlich motivierter oder teilmotivierter Phraseologismen zu den entsprechenden Bedeutungspunkten ihres Lemmas, bei vollidiomatischen für eine Abtrennung vom übrigen Artikel. Korhonen (1995: 51) bevorzugt eine grundsätzliche Abtrennung der Idiome vom übrigen Wortartikel, weil die Bedeutungsverschmelzung der Komponenten von Idiomen „eine Zuordnung zu den jeweiligen Bedeutungspunkten des Stichwortes in vielen Fällen nur schlecht rechtfertigen läßt." 3. In welcher Form werden die Phraseologismen zitiert? Das Problem der Nennform ist besonders relevant bei verbalen Phraseolexemen/Wortidiomen, bei denen man beachten muß, daß es neben infinitivfähigen verbalen Phraseolexemen auch sog. festgeprägte prädikative Konstruktionen gibt wie z. B. bei jmdm. ist endlich der Groschen gefallen, die eine infinitivische Nennform gar nicht zulassen (zur Problematik der Nennform s. z. B. Burger 1983; 1989, Dobrovol'skij 1993; Korhonen 1992; 1995; 1995a). Wie kommen die Autoren mit der Bestimmung des Komponentenbestandes zurecht? Werden alle wendungsexternen Aktanten des Phraseologismus genannt? Gibt es Angaben zu deren Obligatheit und Fakultativität? Wird die Phrasemgrenze nicht überschritten durch die Angabe von Elementen, die kein Bestandteil des Phraseologismus sind? Stimmen bei Mehrfachnennung die einzelnen Einträge überein? Zur Pro-
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blematik der Valenz bei verbalen Phraseolexemen s. z. B. Wotjak (1992: 54f.). Sie unterscheidet zwischen innerer/konstruktionsinterner und äußerer/konstruktionsexterner Valenz. Den Unterschied zwischen beiden Valenzarten möchte ich am Beispiel jmdm. den Hof machen erklären. Zur inneren Valenz gehört nach Wotjak der feste wendungsinterne Teil der Wendung, also den Hof machen. Die äußere Valenz schließt auch noch den variablen wendungsexternen Teil mit ein, d. h. das Aktantenpotential des Phraseologismus. In unserem Falle handelt es sich um ein Substantiv im Nominativ (Sn) jmd. und ein Substantiv im Dativ (Sa) jmdm. Die in einem Wörterbuch zitierte Nennform sollte sowohl den wendungsinternen Teil als auch die Aktanten (mit Ausnahme des Sn, das in der nicht aktualisierten Nennform entfällt, wenn das Subjekt lexikalisch variabel ist) beinhalten. 4. Durch welche tschechischen Entsprechungen werden die Phraseme erklärt? Wird zu phraseologischen Äquivalenten gegriffen, oder werden nichtphraseologische Ersatzäquivalente angeführt, obwohl gebräuchliche phraseologische Entsprechungen existieren? Können die Übersetzungen bzw. Bedeutungserklärungen als zuverlässig und benutzerfreundlich bezeichnet werden? Stimmen sie bei Mehrfachnennung überein? Erhebliche Mängel in Wörterbuchangaben zur Bedeutung und zum Gebrauch phraseologischer Einheiten werden oft angeprangert (s. z. B. Ettinger 1989: 96; Wotjak 1992: 9ff.; Korhonen 1992: 12f, 1995: 56ff.; Henschel 1993: 144). 5. Welche Subgruppen der Phraseologismen sind besonders stark vertreten? Werden neben der zentralen Gruppe der Phraseolexeme/Wortidiome auch Sprichwörter, Funktionsverbgefüge (FVG) und kommunikative Formeln beachtet? Bei der Suche nach Antworten auf diese Fragen wurde wie folgt vorgegangen: Aus der Liste bekannter deutscher Sprichwörter von Baur, Chlosta und Grzybek, zitiert in Baur/Chlosta (1996: 22), wurden 10 Sprichwörter ausgewählt, die z. T. auch im Tschechischen sehr gebräuchlich sind, im Komponentenbestand jedoch solche Abweichungen vorweisen bzw. unterschiedlichen pragmatischen Restriktionen unterliegen, daß sie einem Tschechischmuttersprachler beim Rezipieren eines deutschen Textes erhebliche Schwierigkeiten bereiten müssen. Ein Teil der ausgewählten Phraseologismen hat kein entsprechendes Äquivalent im Tschechischen und müßte deshalb sowieso erklärt werden. Dabei wurde unter allen autosemantischen Komponenten der Parömien gesucht. Es handelt sich um folgende Sprichwörter: Morgenstunde hat Gold im Munde. Ohne Fleiß kein Preis. Eine Hand wäscht die andere. In der Kürze liegt die Würze. Unkraut vergeht nicht. Ein Unglück kommt selten allein. Kommt Zeit, kommt Rat. Wer wagt, gewinnt. Wer rastet, der rostet. Wer nicht hören will, muß fühlen. Bei der Suche nach FVG habe ich die Eintragungen zu den Verben bringen, kommen, machen, nehmen, setzen und stellen analysiert, die häufige Komponenten von FVG sind (vgl. z. B. Helbig/Buscha 1988: 8Iff.). Was die kommunikativen Formeln anbelangt, so habe ich in Ermangelung einer Liste der häufigsten kommunikativen Formeln unter den Lemmata Gott und Himmel nachge-
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sehen, die häufig in solchen Formeln erscheinen, sowie unter anderen - unter l. genannten - Stichwörtern gesucht. 6. Welche Rolle spielen in den Wörterbucheintragungen pragmatische Informationen? Unter pragmatischen Informationen verstehe ich Angaben zur stilistischen Markierung, zur Sprecherhaltung, zur Situation, zu alters- und geschlechtsspezifischen Restriktionen, zum Bezugsbereich, zur begleitenden Gestik usw. Sie sollten vor allem dann angegeben werden, wenn es Abweichungen gegenüber der MS der Wörterbuchbenutzer gibt. Es ist zu erwarten, daß sich diese Angaben vor allem auf stilistische Markierungen beschränken werden. Gerade diese Markierungen sind aber ein heikles Thema, denn wie Burger (1996: 29) feststellt, vollzieht sich in unserer Zeit eine „Umschichtung des phraseologischen Materials" als Folge der „massenhaften Verbreitung der .klassischen' Phraseologie" einerseits und der „bislang als umgangssprachlich, nicht für öffentliche Texte geeignet" erachteten Phraseologismen andererseits durch den Massenmedien. Der Prozeß der „konnotativen Umwertung" macht natürlich nicht nur den Deutschlernenden, sondern auch den Lexikographen das Leben schwer. Da in unserem Fall passive Wörterbücher analysiert werden, ist das Auftreten veraltender bzw. veralteter und regionaler Phraseme berechtigt, weil ihnen der Benutzer in deutschen Texten begegnen kann; sie müßten aber, wie bereits oben hervorgehoben wurde, eine entsprechende Markierung bekommen.
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Auswertung der analysierten Wörterbücher
l. In allen analysierten Wörterbüchern erscheinen unter vielen Lemmata Phraseologismen, die jedoch meist als solche nicht gekennzeichnet sind. Die einzige Subgruppe der Phraseologismen, die mehr oder weniger konsequent metasprachlich identifiziert ist, sind die Sprichwörter. Das einzige Wörterbuch, das im Rahmen der Informationen zu seiner Struktur auf besondere graphische Markierung phraseologischer Wendungen aufmerksam macht, ist das 1998 von einem Autorenkollektiv erarbeitete Wörterbuch, das ich im folgenden in Ermangelung von Autorennamen als „Autorenkollektiv 1998" bezeichnen möchte. Auf der inneren Umschlagseite erfahren wir u. a., daß weitere von dem jeweiligen Stichwort abgeleitete Wörter und phraseologische Wendungen fett und kursiv geschrieben seien. Wenn wir uns einige Artikel detaillierter ansehen, stellen wir fest, daß fett und kursiv nicht nur phraseologische Wortverbindungen (z. B. etw. schwarz auf weiß haben, Lemma schwarz) gedruckt sind, sondern auch freie Wortverbindungen (z. B. der Kopf tut mir weh, Lemma Kopf) und sogar Kombinationen von Einwortlexemen mit ihren valenzgebundenen Umgebungen (z. B. jmdn. um etw. bringen, Lemma bringen), was den Sinn einer solchen Markierung in Frage stellt. Die Auswahl der Phraseologismen in den zur Diskussion stehenden Wörterbüchern macht im allgemeinen einen
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unsystematischen und willkürlichen Eindruck, denn mit Ausnahme von Siebenschein kommt es in allen anderen Wörterbüchern vor, daß unter einigen phraseologisch aktiven Lemmata überraschenderweise keine Phraseologismen angeführt werden. Siebenschein ist in quantitativer Hinsicht auf jeden Fall das überragende Wörterbuch (unter Auge z. B. habe ich 66 Phraseologismen gezählt, unter Kopf 54), das sich mit einem zweisprachigen phraseologischen Wörterbuch messen könnte. Schließlich ersetzt es seit Jahren ein deutsch-tschechisches Phraseolexikon. Siebenschein ist außerden das einzige Wörterbuch, das im Vorwort explizit darauf hinweist, daß es Phraseologismen einbezogen hat, jedoch ohne die Besonderheiten dieses sprachlichen Phänomens herauszuarbeiten. Die anderen Wörterbücher halten es nicht für notwendig zu betonen, daß sie phraseologische Wendungen anführen, womit sie deren besonderen Charakter gänzlich ignorieren. 2. Bei der Suche nach einem Phraseologismus muß der Benutzer oft ohne Hilfestellungen seitens der Autoren auskommen. Die Suche wird außerdem dadurch erschwert, daß konsequent eingehaltene Zuordnungskriterien wahrscheinlich gar nicht existieren, denn z. B. in Autorenkollektiv 1998 erscheint es ist ihm ein Stein vom Herzen gefallen (alle von mir zitierten Beispiele erscheinen in der im jeweiligen Wörterbuch angeführten Form) unter dem zweitgenannten Substantiv, mit dem Kopf durch die Wand rennen aber unter dem erstgenannten, bei jmdm. einen Stein im Brett haben dagegen unter beiden substantivischen Komponenten, ich habe es für bare Münze genommen aber merkwürdigerweise nur unter der verbalen. Die einzige Ausnahme unter den analysierten Wörterbüchern im Hinblick auf Ratschläge zum Suchen eines Phraseologismus bildet das Siebenschein-Wörterbuch. Im Kapitel „Hinweise zur Benutzung" unterstreichen die Autoren auf S. 7, daß zu den einzelnen Sememen der Lemmata „typische phraseologische Wendungen" hinzugefügt werden, „a to pfedevSim takovo, jejichz vyznam se nedä urCit ptekladem jednotlivych slozek" (und zwar vor allem solche, deren Bedeutung sich nicht aus der Übersetzung der einzelnen Komponenten bestimmen läßt). Mit anderen Worten: Bei der Auswahl wurden vollidiomatische Wendungen bevorzugt. Damit stellt sich die Frage, nach welchen Kriterien die Phraseologismen den einzelnen Bedeutungspunkten zugeordnet wurden, wenn sich doch ihre Bedeutung aus der Bedeutung der einzelnen Komponenten nicht erschließen läßt. Trotz einiger festgeschriebener Regeln ist auch in diesem Wörterbuch das Finden eines Phraseologismus eine komplizierte Angelegenheit, denn diese Regeln werden ähnlich wie in dem oben genannten Wörterbuch nicht konsequent eingehalten. Die Anordnung der Phraseologismen innerhalb der Artikel bietet in den analysierten Wörterbüchern ebenfalls ein chaotisches Bild. Sie erscheinen ohne besondere Hervorhebung inmitten freier Wortverbindungen bzw. auch Einwortlexeme mit ihren valenzgebundenen Gliedern. 3. Im Hinblick auf Eintragungen zu verbalen PL ergibt sich ebenfalls ein uneinheitliches Bild. Bei Kumprecht/Ostmeyer und Vidimsky kann ein Bemühen der Autoren um eine (weitgehend) einheitliche Zitierweise der verbalen PL in
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ihrer neutralen, nichtaktualisierten Form festgestellt werden. Die anderen drei Wörterbücher wechseln willkürlich zwischen der (meist) infinitivischen Grundform und einer aktualisierten Nennform. Bei Siebenschein z. B. erscheint der Phraseologismus sich aufs Ohr legen unter sich legen in der nichtaktualisierten infinitivischen Grundform, unter Ohr aber in der Form er legte sich aufs Ohr. Neben er sah sich nach ihr die Augen aus dem Kopf (Lemma. Auge) finden wir diesen Phraseologismus unter Kopf in einer anderen aktualisierten Form, nämlich wir haben uns fast die Augen aus dem Kopf gesehen. Zum Thema Valenz ist im Überblick folgendes zu sagen. Bei Siebenschein und Vidimsky wird sie im allgemeinen richtig angegeben, bei Reäetka sind Uneinheitlichkeiten festzustellen (einerseits wird das folgende PL korrekt mit allen wendungsexternen Aktanten, außer Subjekt, angeführt - jmdm. etw. ans Herz legen, andererseits erscheint das PL sich zu Herzen nehmen ohne den obligatorischen Aktanten etw.). Ähnliches gilt für Autorenkollektiv 1998. Hier finden wir z. B. unter Herz neben ans Herz legen (jmdm. etw.) auch sich zu Herzen nehmen, wo der obligatorische Aktant etw. fehlt. Die Schreibweise der Aktanten in Klammern könnte außerdem suggerieren, daß es sich um fakultative Ergänzungen handelt, was bei der oben genannten Wendung nicht richtig wäre. Erhebliche Mängel weist in dieser Hinsicht auch Kumprecht/Ostmeyer auf. Angaben zur Obligatheit/Fakultativität der Aktanten spielen in keinem der Wörterbücher eine Rolle. Es wäre zu empfehlen, daß für die Beschreibung verbaler PL ein einheitliches Raster entwickelt wird, so wie es Heibig (1992: 152ff.) in seinem Sechs-Stufen-Modell für einfache Verben und Wotjak (1992: 80ff.) in ihrem modular-integrativen Beschreibungsmodell für verbale PL vorgestellt haben. 4. In allen Wörterbüchern ist das Bemühen der Autoren um ein tschechisches phraseologisches Äquivalent deutlich zu sehen, wenn auch immer mal mehr oder weniger überraschende Entsprechungen geboten werden. Die Übersetzungen bzw. Bedeutungserklärungen sind meistens korrekt. Die reichhaltigste Fundgrube für problematische, diskussions- bzw. kritikwürdige Fälle ist erwartungsgemäß das Siebenschein-Wörterbuch. Bei den anderen Wörterbüchern ist die Zahl der analysierten Beispiele jedoch zu klein, um aussagekräftig zu sein; deshalb soll im Hinblick auf die Zuverlässigkeit und Benutzerfreundlichkeit der Bedeutungsangaben vor allem das Siebenschein-Wörterbuch betrachtet werden. Folgende Beispiele sollen zeigen, daß in diesem Wörterbuch unter dem genannten Gesichtspunkt einiges überdacht werden müßte. Zum Beispiel bei dem Phraseologismus er legte sich aufs Ohr (Lemma Ohr) ist die Akzeptanz der tschechischen Übersetzung lenosil, zalenosil si (er faulenzte) zweifelhaft. In Duden 11 wird diese Wendung mit sich schlafen legen erklärt. Noch merkwürdiger ist, daß dieselbe Wendung auch unter sich legen erscheint, wo sie aber richtig wiedergegeben wird: usnout, zchrupnout si. Unter dem Lemma Zahn erscheint der Phraseologismus du machst mir lange Zähne, der durch delas mi chut' (du machst mir Appetit) übersetzt wird. In Duden 11 dagegen finden wir folgenden Eintrag: lange Zähne machen, mit langen Zähnen essen (ugs.): auffällig langsam kauen und damit zeigen, daß es einem nicht schmeckt. Diese
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Erklärung ist von der oben angeführten tschechischen Übersetzung allerdings weit entfernt. Der Phraseologismus passen wie die Faust aufs Auge weist im Deutschen zwei antonymische Bedeutungsvarianten auf. Die tschechische Entsprechung hodit se jako pe'st na oko, die in der lexikalischen Besetzung identisch mit dem deutschen Phrasem ist, bedeutet jedoch nur gar nicht zusammenpassen, so daß eine zusätzliche metasprachliche Erklärung zu dem zweiten Semem notwendig wäre, sie fehlt jedoch. 5. Es nimmt nicht wunder, daß die zentrale phraseologische Gruppe, die PL/Wortidiome, in allen Wörterbüchern eindeutig bevorzugt wird. FVG sind ein Bestandteil zahlreicher Einträge, auch kommunikative Formeln erscheinen verhältnismäßig oft. Bei Vidimsky und ReSetka habe ich unter den analysierten und auch anderen Lemmata keine Sprichwörter gefunden, was zwar ein Zufall sein könnte, der aber überraschend wäre, wenn man bedenkt, wie häufig die von mir gesuchten Sprichwörter vorkommen. 6. Pragmatische Informationen beschränken sich wie erwartet auf stilistische Markierungen, wenn auch hier eine ziemliche Willkürlichkeit zu beobachten ist. Einige von mir analysierte Phraseologismen, die eindeutig regionalen Beschränkungen unterliegen, sind - falls sie aufgenommen wurden -jedoch nicht entsprechend markiert worden. Das betrifft z. B. seine sieben Zwetschgen einpacken, Grüß Gott!, zum Handkuß kommen, einen Knödel im Hals haben.
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Vorschläge für die Darstellung von Phraseologismen in deutsch-tschechischen Wörterbüchern
1. Im Rahmen einer ausgelagerten Wörterbuchgrammatik oder im Anschluß daran sollte das Phraseologieverständnis der Autoren kurz, übersichtlich und für einen Laien gut durchschaubar dargestellt werden, wobei zu empfehlen wäre, daß der Begriff Phraseologismus im Einklang mit dem in der Phraseologie inzwischen verbreiteten Usus als ein generischer Oberbegriff für eine Vielzahl von unterschiedlichen Gruppen dieser Erscheinung eingeführt wird (vgl. Wotjak/Dobrovol'skij 1996: 249). Die Kennzeichnung der Phraseologismen im jeweiligen Artikel kann durch eine graphische Markierung mit Hilfe von Symbolen wie * oder durch einen Rhombus (s. Handwörterbuch der deutschen Gegenwartssprache) bzw. durch metasprachliche Formulierungen wie Phr. für Phraseologismus oder ID für Idiom (s. Langenscheidts Großwörterbuch) erfolgen. 2. In den Hinweisen für den Benutzer müßte die Regelung der alphabetischen Einordnung der Phraseologismen unter dem jeweiligen Lemma und ihrer Anordnung in dem betreffenden Artikel klar formuliert werden, damit dem Benutzer der Suchvorgang erleichtert wird. Da aus Raumgründen die Methode mit Querverweisen vom Nebenstichwort zum Hauptstichwort, wie sie in Phraseolexika zu finden ist (vgl. Duden 11), in allgemeinen Wörterbüchern wohl nicht
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durchführbar ist, sollte das festgelegte Einordnungsprinzip strikt durchgehalten werden. Zu überlegen ist ebenfalls, ob man versuchen soll, Phraseologismen einer bestimmten Bedeutung eines mehrdeutigen Lemmas zuzuordnen. Diese Entscheidung ist in vielen Fällen aufgrund der Voll- bzw. Teilidiomatizität des jeweiligen Phraseologismus zweifelhaft, so daß es praktischer und unproblematischer wäre, alle Phraseologismen gebündelt am Ende des Artikels unter einem eigenen Gliederungspunkt aufzuführen, der graphisch markiert sein sollte (s. oben), um dem Benutzer die Unsicherheit darüber zu nehmen, ob er eine Verbindung als phraseologisch oder frei aufzufassen hat. 3. Die Autoren sollten beim Zitieren der Phraseologismen ganz exakt und einheitlich vorgehen, was vor allem zweierlei bedeutet: a) Es müssen konsequent alle variablen wendungsexternen Aktanten in der Nennform genannt werden, z. B. etw. aufs Spiel setzen statt nur aufs Spiel setzen. Es wäre zu empfehlen, daß diese Aktanten graphisch besonders markiert, z. B. kursiv geschrieben werden, damit man sie vom wendungsinternen Bestand abheben kann. Um die obligatorischen Aktanten von den fakultativen unterscheiden zu können, sollten die letzteren in Klammem gesetzt werden. Es sollten in der Nennform aber keine weiteren, nicht zum Phraseologismus gehörenden Komponenten erscheinen (s. jmdm. mit Geld unter die Arme greifen bei Siebenschein statt nur jmdm. unter die Arme greifen). b) Die PL/Wortidiome sollten durchgehend in ihrer Grundform angegeben werden, was nicht notwendigerweise der Infinitiv sein muß (jmdm. in den Rückenfallen vs. bei jmdm. ist der Groschen gefallen). Das setzt voraus, daß die Wörterbuchautoren präzise Vereinbarungen über die Aussagekraft der Nennform treffen (z. B., daß der Infinitiv Präsens grundsätzlich als merkmallos aufzufassen ist, was bedeutet, daß das Verb keinen morphosyntaktischen Restriktionen unterliegt) und diese dem Benutzer z. B. im Vorwort bekanntgeben. Weist der Phraseologismus morphosyntaktische Restriktionen auf, z. B. fehlende Passivfähigkeit, obwohl die verbale Konstituente in freier Verbindung passivierbar ist, oder Ausgeschlossenheit aktiver Verbalformen (s. Möhring 1996: 43ff), sollten diese metasprachlich formuliert werden. Die Nennform ist von den eventuellen Beispielen sauber zu trennen. Wird der Phraseologismus unter mehreren Lemmata aufgeführt, dürfen die Nennformen nicht voneinander abweichen. 4. Größte Vorsicht ist bei den tschechischen Äquivalenten geboten. Phraseologische Entsprechungen müssen in ihrer Bedeutung und ihren pragmatischen Eigenschaften sehr exakt mit den deutschen Phraseologismen verglichen werden. In Zweifelsfallen sollte auch noch eine zusätzliche, nichtphraseologische Bedeutungserläuterung hinzugefügt werden. Die Übersetzungen/Bedeutungserläuterungen müssen bei Mehrfachnennung übereinstimmen. 5. Pragmatischen Informationen sollte generell mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden, als es bis jetzt der Fall war. Ausgespart werden dürften sie nur
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dann, wenn es in bezug auf Gebrauchspräferenzen und -restriktionen tatsächlich keine Unterschiede zur MS der Wörterbuchbenutzer gibt.
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Schlußwort
Die hier vorgelegten kritischen Äußerungen sollen als konstruktive Kritik verstanden werden, denn eine nicht angreifbare Lösung konnte bis jetzt keiner bieten, was in dem komplizierten und vielfältigen Wesen des zu bearbeitenden Phänomens - der Phraseologismen - liegt. Gerechterweise sei hier erwähnt, daß auch renommierte einsprachige Wörterbücher und Phraseolexika des Deutschen, die in den letzten Jahren in Deutschland herausgegeben wurden, die phraseographische Hürde nicht fehlerfrei genommen haben (vgl. Pilz 1995: 305ff.; Wotjak/Dobrovol'skij 1996; Földes 1996: 64ff.) und auch andere zweisprachige Wörterbücher mit gleichen oder ähnlichen Problemen zu kämpfen haben (vgl. z. B. Korhonen 1995a: 241ff.).
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Hana Bergerova
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Dagmar Blei
Aspekte historiographischer Forschung zum Deutschen als Fremdsprache
Wenngleich die Beschäftigung mit der Geschichte des Deutschen als Fremdsprache (im weiteren: DaF) nicht direkter Gegenstand des Forschungsinteresses von Gerhard Heibig war, so hat sein wissenschaftliches Werk sehr wohl die Geschichte dieses relativ jungen Faches mitgeprägt. Als einer der wenigen germanistischen Linguisten seiner Generation hat Heibig permanent und explizit über die Darstellung sprachwissenschaftlicher Forschungsergebnisse für Anwendungszwecke im DaF reflektiert und eigenständige Beiträge zur inhaltlichen Ausdifferenzierung dessen, was unter einer lernerbezogenen Sprachbeschreibung zu verstehen sei, geliefert (vgl. dazu Helbigs Veröffentlichungen in H. Popp 1995: XXXIIIff). Maßgeblich und profilbestimmend griff Heibig in die Diskussion um das Verhältnis der Sprachwissenschaft zu den Bezugs- bzw. Referenzwissenschaften des DaF ein und leistete damit ein Stück Wissenschaftsfachkritik in einer Zeit, in der sich das akademische Fach DaF in Lehre, Forschung und Institutionalisierung gerade erst zu etablieren begann, und zwar sowohl in der DDR als auch in der BRD. Für das historiographische Aufarbeiten von fachinternen Entwicklungsfaktoren - speziell des DaF in der DDR - ist vor allem sein über Jahrzehnte konstantes Engagement für eine an praktischen Erfordernissen orientierte Beschreibung des DaF von weitreichender Wirkung gewesen (vgl. Helbig/Buscha 1998). Helbigs Verdienst ist es auch, daß er einerseits aus der Beurteilung fachwissenschaftlicher Trends in der Linguistik programmatische Leitlinien zum Stellenwert von Sprachwissen und Sprachkönnen im Erwerbsprozeß des DaF ableitete und andererseits überzeugende Argumente für die Verankerung der Sprachwissenschaft innerhalb der Teildisziplinen des DaF - wie Sprachpraxis, Methodik und Landeskunde - lieferte. Obgleich sich seine diesbezüglichen Beiträge alle mehr oder weniger auf das Verhältnis zwischen dem Sprachsystem (Rolle der Grammatik/Regeln) und der Sprachkommunikation (Grammatik im FU) konzentrierten, bleibt nicht zu übersehen, wie fruchtbar sich eben diese fachkonstituierend-begleitenden Publikationen auf die Klärung dessen, was eine Grundlagenwissenschaft innerhalb eines sich interdisziplinär zu etablierenden Faches wie des DaF zu leisten hat, auswirkten. Es wird fachhistorischen Einzeluntersuchungen vorbehalten sein, diese persönlichen Leistungen Gerhard Helbigs bei der Konstituierung und Konsolidierung des Deutschen als einer Fremdsprachenphilologie aufzuarbeiten, um sie schließlich in eine internationale Fachwissenschaftsgeschichte zu integrieren.
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Anliegen des nachfolgenden Beitrages ist es, konzeptionelle Ansätze für historiographische Forschungen zum DaF zur Diskussion zu stellen, die in ihrer Gänze eine objektive und intersubjektive Erfassung und Bewertung der Geschichte einer Einzelwissenschaft möglich machen. Ausgehend vom Stand fachgeschichtlicher Aufarbeitung fremdsprachenphilologischer Fächer werden in Anlehnung an die Historiographie (u. a. Lozek 1998; Simon 1996) verschiedene Zugänge zur Erfassung, Beschreibung und Bewertung fachgeschichtlich relevanter Informationsträger bzw. -bereiche des DaF skizziert, um zu verdeutlichen, daß die Wahl des forschungsmethodischen Ansatzes vom jeweiligen Erkenntnisinteresse abhängt, dessen Resultat eine Kombination mehrerer konzeptioneller Forschungsansätze nahelegt. Anstelle einer Zusammenfassung wird abschließend versucht, einige Anforderungen an eine DaF-Fachgeschichte zu konturieren.
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Zum Stand fachgeschichtlicher Forschungen
Es nimmt nicht wunder, wenn ein so junges akademisches Fach wie das DaF kaum historiographische Forschungsergebnisse aufzuweisen hat, ringt es doch derzeit immer noch um seine Legitimation, um als Einzelwissenschaft im tradierten Kanon der geistes- bzw. kulturwissenschaftlichen Fächer gleichberechtigt zu sein. Im Unterschied dazu kann die Historiographie anderer Fremdsprachenphilologien auf zahlreiche Untersuchungen verweisen (vgl. die Bibliographie zur Geschichtsschreibung im Bereich des Fremdsprachenunterrichts und der fremdsprachlichen Philologien von Schröder/Weller 1980: 221 ff.). Sie bieten sowohl inhaltlich-thematisch als auch methodisch ein breites Spektrum von konzeptionellen Ansätzen, um unter diachronischer Sicht „nachweisliche Quellen der vergangenen Wirklichkeit" (Lozek 1998: 19) erfassen, systematisieren und bewerten zu können. Die Facetten historiographischer Ausdifferenzierung reichen von Gesellschafts- und Bildungsgeschichten über Instituts-, Personen-, Verbandsgeschichten bis hin zu fachgeschichtlichen Beiträgen, die einzelne vermittlungsrelevante Aspekte des Fremdsprachenerwerbs über einen längeren historischen Zeitabschnitt verfolgen. In ihnen werden Entwicklungslinien des neusprachlichen FU (insbesondere des Englischen und des Französischen) aufgezeigt, die einerseits eine Rekonstruktion einzelwissenschaftlicher Fachkonstituierung nachvollziehbar machen und andererseits verschiedene Funktionen fachgeschichtlichen Arbeitens erkennen lassen. Dazu gehören u. a.: -
Bildungsgeschichten, in denen der Zusammenhang zwischen Gesellschaftsund Bildungspolitik für die Schulsprachenpolitik, für Curriculumentwicklungen, Lehrwerkproduktionen u. a. m. dokumentiert ist (z. B. Führ 1997 zum deutschen Bildungswesen seit 1945);
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Fachgeschichten, die zu einer bestimmten Fremdsprachenphilologie in einer konkret-historischen Situation/Region die Lehre, Forschung und Institutionalisierung eines Faches aufarbeiten (z. B. Lehberger 1986 zum Englischunterricht im Nationalsozialismus); - Chroniken und andere fachgeschichtlich relevante Textsorten, deren Faktenmaterial Einblick in die Etablierung eines Faches gibt (z. B. Christ 1983 zu Berufsgruppenporträts; Zapp 1980 zur Fachverbandsgeschichte); - Gesamtüberblicke zu den Unterrichtsfächern (vgl. Mannzmann 1983), die eine Einordung von Leistungen einer Einzelwissenschaft innerhalb der Wissenschaftsgeschichte erleichtern; - Aspektdarstellungen zu ausgewählten Inhaltsfeldern einer Fremdsprachenphilologie, die aus historischer Sicht das Lehren und Lernen fremder Sprachen nachzeichnen (vgl. z. B. Apelt 1991 zu den Vermittlungsmethoden). Freilich gibt es auch zum DaF verschiedene fachhistorische Beiträge, die sich am forschungsmethodischen Vorgehen anderer Fremdsprachenphilologien bei der Analyse des konkreten Quellenmaterials zum DaF orientiert haben (vgl. u. a. die verschiedenen Beiträge in: Ehnert/Schröder 1994; Sturm 1987). Eine Gesamtdarstellung der Geschichte des DaF in den deutschsprachigen Ländern und im Ausland steht jedoch noch aus. In Arbeit ist gegenwärtig ein Handbuch DaF, in dem nach vorstrukturierten inhaltlichen Aspekten der erreichte Stand in Lehre, Forschung und Institutionalisierung des Faches am Ende dieses Jahrhunderts bilanziert werden soll (erscheint 1999 bei de Gruyter). Es bleibt allerdings abzuwarten, inwieweit überhaupt innerhalb der Fachtextsorte Handbuchartikel unterschiedliche forschungsmethodische Ansätze thematisiert werden bzw. über die Präsentation von Fachgeschichtswissen rekonstruierbar sind. Die bisherigen Bestandsaufnahmen zur Fachgeschichte des DaF in der DDR lassen erkennen (vgl. Blei 1991: 27ff; 1992: 252ff; 1994: 287ff; 1996: 260ff; 1997: 780ff), -
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daß die leitlinienartigen Überblicksdarstellungen zwar Resultate der Fachetablierung festhalten, z. B. Fach- und Forschungsprofile, Studiengänge, Personalia, Institutionen, und daß dabei wissenschaftshistorisch relevante Zäsuren markiert werden können, z. B. Gründungen von Lehr- und Forschungsstätten, Berufungen etc., daß aber dabei kaum die dynamisierenden fachinternen und -externen Faktoren in ihren Wechselbeziehungen auf die Folie einer Wissenschaftsfachentwicklung projiziert wurden.
Eine notwendige Voraussetzung dafür wäre die gezielte Einbeziehung verschiedener Ansätze historiographischen Arbeitens in eine komplexe Fachgeschichte, weil erst das Zusammenwirken unterschiedlicher Analyseaspekte eine inhaltliche Ausdifferenzierung objektiver und subjektiver Wirkungen auf fachgeschichtlich bedeutsame Sachbestände transparent macht. Ihre Übertragung auf den Anwendungsbereich DDR-DaF-Fachgeschichte steht im weiteren exempla-
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risch für die Produktivität historiographischer Forschungsmethoden in der Geschichte der Fremdsprachenphilologien.
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Ansätze zur historiographischen Erforschung des DaF
2, l Ideengeschichtlicher Ansatz Die Geschichte einer Einzelwissenschaft versteht sich als Bestandteil einer Ideengeschichte („intellectual history"), die zwar über eigenständige Grundbegriffe, ideenleitende Konzeptionen und ideentragende Persönlichkeiten, Bedingungen und Objektivationen verfügt, aber ihre eigentliche Bedeutung erst innerhalb einer Geschichte der menschlichen Tätigkeit erfährt und von daher ihren Stellenwert im Kontinuum fachübergreifender Wissenschaftsgeschichte erfaßt. Für diesen forschungsmethodischen Ansatz spricht die Tatsache, daß sich DaF als Einzelwissenschaft aus Wissensbeständen, Methoden und empirischen Befunden verschiedener tradierter Einzelwissenschaften konstituiert hat. Entscheidend dafür waren konkret-historische Bedingungen und bildungspolitische Erfordernisse des „Zeitgeistes", denen etablierte Kanonfächer, wie germanistische Linguistik/Literaturwissenschaft oder Psychologie/Pädagogik, nicht entsprechen wollten und/oder konnten. Die Rekonstruktion der Adaption bzw. Partizipation von Ideen, Grundannahmen, Konzepten, Modellen etc. dieser Bezugs- und Referenzwissenschaften in das DaF ermöglicht einerseits Aufschlüsse über das wissenschaftsstrategische Auswahlverhalten einer Fachelite gegenüber traditionellen und epochetypischen gemeinsamen Merkmalen der gesamten kulturellen Produktion einer Zeit. Andererseits kann im Konkreten einer Einzelwissenschaft verdeutlicht werden, daß die Konstituierung eines Faches stets „durch zeittypische Grundannahmen geprägt war, durch Wahrnehmungsformen, Grundbegriffe, Denkstile, Werte und [...] durch Probleme in Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Staat" (Simon 1996: 254). Die rückwärts gerichtete „Einflußforschung" (ebenda: 248) vermag Zusammenhänge aufzudecken, die zwischen den Fachvertretern und den sie beeinflussenden Ideen bestanden: z. B. die Rekonstruktion antizipierter Ideen, ihre Rolle innerhalb der Korrespondenznetze, ihr Einfluß auf die Herausbildung wissenschaftlicher Schulen oder ihre Wirkung auf Innovations- bzw. Stagnationsprozesse. Das individuelle Entwickeln und Anwenden von Ideen zugunsten der Konstituierung und Konsolidierung einer Fachwissenschaft vor dem Hintergrund ihrer Bedingtheit im konkret-historischen Gesellschaftsgefüge bildet hier das Zentrum des ideengeschichtlichen Forschungsansatzes. Für die Aufarbeitung der DDR-DaF-Fachgeschichte bedeutet dieser konzeptionelle Zugang, daß beispielsweise der Frage nachzugehen wäre, welche Auswirkungen Ideologie und Staat auf die Entfaltung des „Zeitgeistes" hatten, wie die Fachvertreter darauf reagierten und welche Spuren epochetypischer Ideen,
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die sich in Meinungen, Werten, Vorstellungen, Idealen und Handlungen, aber auch in Vorurteilen, Klischees, Irrtümern usw. verfestigt haben, im Fach widergespiegelt werden.
2.2 Wissenschaftssoziologischer Ansatz Die Wissenschaftssoziologie, die Wissenschaft als soziales System begreift und die Beziehungen zwischen der (Einzel-)Wissenschaft und der Gesellschaft untersucht, schließt in ihr Forschungsfeld sowohl die Rolle der Adepten eines Faches ein als auch die Frage, „wie kognitive Prozesse, Erkenntnisfortschritte in diesem System Wissenschaft ablaufen" (Simon 1996: 267). Damit ist der forschungsmethodische Ansatz gegeben, eine nationale Fachgeschichte systemfunktional als Subsystem einer Gesellschaftsgeschichte zu verstehen, „das innerhalb eines und für ein bestimmtes gesellschaftlich-politisches System Sinn produziert" (ebenda; Hervorhebung - D. B.). Bei der Beschreibung des Substantiellen und seiner Organisation wird in der Wissenschaftssoziologie gern auf den „Paradigma"-Begriff und/oder die „disziplinäre Matrix" zurückgegriffen. Unter historio-methodologischer Sicht hat das Paradigma bereits seine Produktivität in der Fremdsprachenunterrichtstheorie bewiesen, wenn man z. B. an die Ablösung der Lehrer- zugunsten der Lernerperspektive denkt, die zu gravierenden Veränderungen bei der Planung und Gestaltung pädagogischen Handelns im FU führte, oder an den Paradigmawechsel favorisierter Vermittlungsmethoden fremder Sprachen, der Spiegelbild veränderter gesellschaftlicher Vorstellungen von einem effizienten FU ist. Doch handelt es sich bei der Erfassung jeweiliger Paradigmen eher um die Fixierung des Status quo, der zwar mit anderen Mustern/Modellen/Regeln/Merkmalen etc. verglichen werden kann, aber kaum die Dynamik fachinterner und -externer Faktoren reflektiert. Eine disziplinäre Matrix hingegen bietet den Vorzug, „Sozialisationseffekte oder Auswirkungen von Herrschaft innerhalb der Disziplin" ertragreich untersuchen zu können (ebenda: 269). Fachübergreifend werden dafür folgende Ebenen und Inhalte vorgeschlagen: ,,[d]ie Rolle - von Kommunikationsstrukturen (Tagungen, Fachpublikationen und Periodika, Organisationen), - von curricularen Effekten (Ausbildungsgänge, die an bestimmten Orten vorbeiführen, Qualifikationen durch Studium bei einer bestimmten Autorität), - von Herrschaftsstrukturen innerhalb der Gemeinschaft der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (Lehrer-Schüler-Beziehungen, Klientelismus, Aufbau einer Cluster-Struktur) und - von Taktik und Strategie der Durchsetzung (Instrumentalisierung von Beziehungen zu Politik und Geldgebern u. a.)" (ebenda; Gliederung - D. B.). Die bereits erwähnten Darstellungen zur DDR-DaF-Fachgeschichte konzentrieren sich zumeist auf äußere „Sozialisations- und Herrschaftseffekte", indem die
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Leistungen des Faches und seiner Vertreter für die Gesellschaft und deren Mitglieder in der Lehre, Forschung, Institutionalisierung erfaßt, beschrieben und teilweise systematisiert werden. Dabei bleiben innere Beziehungsverhältnisse der Fachvertreter untereinander (beispielsweise der Hochschullehrer unterschiedlicher Ausbildungsstätten) und gegenüber den bestehenden Herrschaftsstrukturen, z. B. den übergeordneten Ministerien, Universitätsverwaltungen oder staatlichen Vorgesetzten, völlig ausgeblendet. So gut wie nichts ist über die sozialen Kontakte zwischen den wissenschaftlichen Mitarbeitern zu erfahren, über Kommunikationsinhalte und -formen der Wissenschaftlersozietät, über Kämpfe, Siege und Niederlagen bei der Etablierung des DaF bzw. seiner Herauslösung aus der Vormundschaft der Germanistik. Ungenannt bleibt die Schar derer, die im breiten wissenschaftlichen Mittelbau dem Fach DaF seine solide personelle Substanz gaben, ebenso derjenigen, die restriktive, doktrinäre Reglements den Leistungsträgern des Faches auferlegten. Deren Wirkungsmechanismen nach innen und außen aufzudecken könnte Sozialisationseffekte innerhalb der Fachkonstituierung des DaF in der jeweiligen nationalen Fachgeschichte transparent machen. Die soziale Ausdifferenzierung der Leistungsträger des Faches und die Präzisierung von Anteilen unterschiedlicher Statusgruppen (inkl. Klientel) an der Konstituierung des DaF in den DDR-Institutionen ist noch weitgehend unerforscht (vgl. dazu Thomas 1999). Lediglich einige Institute, wie das Herder-Institut Leipzig (vgl. Hexelschneider 1981: 193ff.; 1986: 4ff.; 1989: 193ff.) und das Institut für Ausländer an der Humboldt-Universität Berlin (vgl. Günther 1985), fanden im Rahmen von Gründungsjubiläen bzw. Dissertationen eine zumindest partielle fach- und personalgeschichtliche Aufarbeitung. Vereinzelte historiographische Vorarbeiten leisteten Chroniken zu bestimmten Ausbildungsgängen (z. B. zum studienbegleitenden Deutschunterricht an pädagogischen Hochschulen; vgl. Weichelt 1989). Doch im großen und ganzen bleibt zumindest für den Geltungsbereich der DDR festzustellen, daß wissenschaftssoziologische Fragestellungen bisher kaum ausgelotet wurden. Das mag teils an den für fachgeschichtliche Exkurse bevorzugten Textsorten gelegen haben, die weder Raum für die Darstellung sozialer Reflexionen auf das Datenmaterial zuließen noch subjektive Perspektiven auf die Kommunikationsund Herrschaftsstrukturen einschlössen. Teils bewirkte die nach 1989 auch das Fach DaF betreffende Umstrukturierung (Näheres dazu bei Wenzel 1995: 733ff.) eine Verlagerung des Forschungsinteresses auf andere Gebiete.
2.3 Wissenssoziologischer A nsatz Aus der Wissenssoziologie, die sich mit den Relationen zwischen Wissen und Gesellschaft beschäftigt und der Frage nachgeht, welche Bedeutung historisches Wissen für bestimmte Gruppen bzw. Mitglieder einer Gesellschaft besitzt, kann die Historiographie einer Einzelwissenschaft die methodische Anregung gewinnen zu untersuchen, „wann bestimmte Inhalte für wahr genommen und als
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solche verteidigt werden" (Simon 1996: 262). Die temporäre Sichtung und Schichtung gibt Aufschlüsse darüber, zu welchem Zeitpunkt was für welche Wissenschaftlersozietät im Mittelpunkt professionellen Schaffens stand. Doch allein die zeitliche und faktologische (kumulative) Auflistung von Wissen, dessen Strukturierung sowie Institutionalisierung in Forschung und Lehre genügt nicht, um sich im nachhinein ein Bild von der Konstituierung und Konsolidierung eines Wissenschaftsfaches zu machen (vgl. deren kritische Bewertung bei Blei 1994: 312ff.). Vielmehr bedarf es einer Ausleuchtung des sozialen Stellenwertes einer Einzelwissenschaft im Wissenschaftsbetrieb einer konkret-historischen Gesellschaftsordnung. Von daher erhält das Handeln der Fachwissenschaftler seinen Sinn, erfährt das Fach seine gesellschaftlich-soziale Legitimation und schließlich wohl auch seine Akzeptanz im Gefuge der „scientific community", seinen Platz in der Wissenschaftsgeschichte. Eine so verstandene DaF-Fachgeschichte ginge konform mit der Wissensund Wissenschaftssoziologie, die ihre Erkenntnisse aus folgendem Credo ableitet: „Sie verstehen Wissenschaft als ein Kulturprodukt, und als solches ist es Ergebnis sozialen Handelns. Dazu kommt die Voraussetzung, daß Handlungen von Wissenschaftlern in der scientific community nicht (oder nicht nur) von universell geltenden Wissenschaftsnormen geleitet werden; Diskurse über Wissenschaftlichkeit legitimieren bestimmte Ansprüche auf Durchsetzung, Status und Geltung in der sozialen Welt der Wissenschaft. Wissenschaftliche Forschung besteht nicht einfach im Registrieren objektiv gegebener Phänomene. Sie steht immer auch vor der Aufgabe, komplexen Reihen von gewonnenen Daten einen Sinn zu geben. Diese Sinngebung geschieht nicht in einem sozialen Vakuum" (Simon 1996: 263; Hervorhebung-D. B.).
2.4 Prosopographischer Ansatz Es wäre durchaus nicht nur reizvoll, sondern mit Sicherheit auch ergiebig zu erforschen, welche Einflüsse, Impulse, gegebenenfalls Sanktionen oder gar Behinderungen von Personen ausgegangen sind, die am Aus- und Aufbau des akademischen Faches DaF aktiv beteiligt waren. Die Rekonstruktion von Korrespon-denzfeldern, die Zusammensetzung der Lehr- und Forscherkollegien, die Analyse von Referenzen/Gutachten der Hochschullehrer, die Gremienarbeit gewählter oder bestimmter Funktionsträger, die Kenntnis parteipolitischer Bindung einzelner Fachvertreter und vieles mehr könnten aufschlußreiche Einblicke in den Stellenwert von Persönlichkeiten innerhalb der Geschichte einer Einzelwissenschaft geben. Die Prosopographie vermag solche Zugänge zu eröffnen, die den Zusammenhang zwischen Gesellschaft, Einzelwissenschaft und Individuum verdeutlichen, denn die Durchsetzung, Bewertung und Verwertung von gesellschaftlich relevanten Theorien, Programmen (Inhalten), Methoden etc. ist an Persönlichkeiten gebunden. Über Selbst- und Fremddarstellungen sorgen sie für die
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Verbreitung ihrer Ideen, Konzepte, programmatischen Vorstellungen, berichten über den Stand der Umsetzung, verweisen auf Erfolge, Hemmnisse und zukünftige Aufgaben. Die fachwissenschaftliche Fundierung des fremdsprachigen Deutschunterricht in der DDR ist eng mit dem Lebens- und Berufswerk einzelner Persönlichkeiten der DDR-DaF-Fachforschung verbunden. Diese Biographien ähneln sich in ihrem äußeren Verlauf, der etwa so skizziert werden könnte: Abitur (mit/ohne Beruf), Hochschulstudium (Germanistik / Deutsch- oder Fremdsprachenlehrer), Lehrtätigkeiten im studienvorbereitendenAbegleitenden DaFUnterricht (auf verschiedenen Niveaustufen / in verschiedenen Lernergruppen im In- und/oder Ausland), akademische Graduierungen (Promotion/Habilitation), verschiedene staatliche Leitungstätigkeiten, Veröffentlichungen/Würdigungen/Berufungen usw. Doch die inneren Triebkräfte, die Kämpfe und Niederlagen, die Höhen und Tiefen gelebten Lebens in fachkonstituierender Mission liegen weitgehend im dunkeln. Sie würden u. a. erklären helfen, unter welchen inneren und äußeren Bedingungen akademische Lehrer „Schulen" gründeten bzw. profilierten, wie sie akademischen Nachwuchs förderten, auf welche Erkenntnisse der Bezugs- und Referenzwissenschaften sie sich in ihrer Forschungstätigkeit beriefen und warum.
2.5 Weitere Ansätze Des weiteren lassen sich historiographische Aspekte zum DaF auch anhand von Fachgeschichtstextsorten mit (kommunikations)linguistischen Methoden und Verfahren untersuchen, wobei u. a. zu fragen wäre, wie diese Textsorten, z. B. der behördliche Schriftverkehr, Protokolle, Berichte, Vorlesungsnachschriften, Fachreferate, Jubiläumsschriften bzw. -ansprachen, Laudationes, Nekrologe, Lexikonartikel, Lehrbuchtexte u. a. m., aufgebaut sind und über welche (in)varianten sprachlichen Mittel/Strukturen sie verfügen, um Aufschlüsse über (in)adäquate sprachkommunikative Darstellungen von „Vergangenem" zu ermöglichen. Schließlich lenkt die Feminisierung des Lehrerberufs in den Fremdsprachenphilologien das Forschungsinteresse der Fachgeschichtler zunehmend auf Fragestellungen, die sich aus der Geschlechtergeschichte herleiten. Darin könnten sowohl Untersuchungen über die Rolle professioneller Sprachlehrerinnen innerhalb der DaF-Fachgeschichte (sozialgeschichtliche Ebene) als auch über das Wechselverhältnis der Geschlechter in der Sprache (diskursgeschichtliche Ebene) eingeschlossen sein.
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Anstelle einer Zusammenfassung: einige Ansprüche an eine DaFFachgeschichte
Eine Wissenschaftsgeschichte DaF versteht sich als Teil einer Gesellschaftsbzw. Kulturgeschichte, die von bestimmten Trägern (Interessengruppen) initiiert und realisiert wird. Sie versucht, Fragen zu stellen und zu beantworten, die Phänomene der Konstituierung und Konsolidierung eines akademischen Faches innerhalb des traditionellen Wissenschaftsbetriebs ebenso betreffen wie die Rekonstruktion von Entwicklung, Stagnation, Abbruchen, Wandel und das Bewußtmachen progressiver und/oder tradierter Machtkonstellationen als Verursacher derselben. Es gibt nicht nur eine Methode zur Erfassung fachhistorischer Daten/Informationsträger, sondern verschiedene Ansätze/Aspekte ihrer Betrachtung sowie Methoden der Beschreibung und Systematisierung des historiographisch relevanten Materials, um mehrdimensionale Interpretationen möglich zu machen. Die Quellen historiographischen Arbeitens für eine DaF-Fachgeschichte sind: die Institutionen (Institute, Lehrstühle, Lehrbereiche); die Personen (Lehrende/Forschende im Fach, Lernende des Faches); die Lehre (Ziele, Inhalte und Arbeitsformen in der Aus-, Fort- und Weiterbildung im DaF); die Forschung (Gegenstände, Theorien, Konzepte/Programme, Methoden) sowie die Öffentlichkeits-, Verbands- und Gremienarbeit auf regionaler, nationaler und internationaler Ebene. Ihre Auswertung ist in den Dienst (fach)historischer Wahrheitsfindung zu stellen, die drei Erkenntnisstufen einschließt (vgl. Lozek 1998: 20): 1. die Tatsachenselektion, 2. die fachgeschichtliche Wertung der ausgewählten Fakten und 3. die Einordnung derselben in die Wissenschafts- bzw. Gesellschaftsgeschichte. Für die Einschätzung der Qualität historiographischen Arbeitens gelten als Bewertungskriterien: -
Objektivität bei der Faktenauswahl und -beurteilung und Intersubjektivität als Hauptkriterium wissenschaftlicher Verifikation.
Für die Beurteilung der Quantitäten ist die Berücksichtigung äußerer Faktoren und die Einbeziehung innerer Faktoren der Fachkonstituierung und -konsolidierung entscheidend. Im Ergebnis ihrer Aufarbeitung sind Zusammenhänge transparent zu machen, die einerseits zwischen den Zielen, Inhalten und Methoden eines Faches in Lehre, Forschung und Institutionalisierung bestehen und die andererseits als gesellschaftsabhängig in ihrer Ausprägung und interessengeleitet in ihrer Bewertung sind.
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Dagmar Blei
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Martine Dalmas
Fakten und Effekte Wozu gebraucht man eigentlich tatsächlich und Co?
Nicht nur Politiker und Journalisten wissen es: Das Spiel mit den Tatsachen, die mal so, mal so wahrgenommen und dann auch sprachlich erfaßt werden, ist meistens faszinierend, wenn auch oft gefährlich. Auch in der Philosophie ist die von jeher geführte Diskussion um die Erfassung der Wirklichkeit und die Schilderung der Tat-Sachen noch lange nicht abgeschlossen. Es darf also nicht wundernehmen, daß das System der Sprache konkrete Spuren jenes Bedürfnisses enthält, die Wirklichkeit so zu beschreiben, wie sie ist bzw. wie sie wahrgenommen wird. Lexeme wie eigentlich, tatsächlich oder wirklich, feste Syntagmen wie in der Tat oder in Wirklichkeit zeugen von den Bemühungen des Sprechers um eine (ihm) gerechte oder passende Erfassung der Wirklichkeit bzw. der Welt der Tatsachen - sei es, um bestimmte Aspekte des Realen aufzudecken und „bekanntzugeben" oder um auf zum Teil erwartete oder gar erwünschte Sachverhalte hinzuweisen und die eigenen Vorwegnahmen, Vermutungen und Hypothesen zu bestätigen. Im argumentativen Diskurs dient bekanntlich ein solcher Rückgriff oft zur Stützung von Schlußfolgerungen. Anknüpfen möchte ich hier mit diesem kurzen Beitrag an die Beschreibung von eigentlich, die ich vor fünf Jahren, also zu Gerhard Helbigs 65. Geburtstag, vorgeschlagen habe. Die kostbare Zeit, die inzwischen verflossen ist und erfahrungsgemäß einen gesunden Abstand verschafft, hat den Blick erweitert. Ausgehend von einem Vergleich mit eigentlich möchte ich hier die Gebrauchsbedingungen und die Funktion von tatsächlich untersuchen, und zwar unter Berücksichtigung seiner nahen Verwandten: -wirklich, in der Tat einerseits und in Wirklichkeit andererseits.'
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Doppelbödigkeit der Wirklichkeit
In meiner Untersuchung von eigentlich hatte ich auf das „merkwürdige Wechselspiel" hingewiesen, das - so Tucholsky alias Peter Panter2 - ein Sprecher Elemente, die sich eher auf die Wahrheit beziehen, wie etwa -wahrhaftig, lassen wir hier aus Platzgründen beiseite. Unter den hier untersuchten werden oft tatsächlich, -wirklich und in der Tat als Synonyme betrachtet, so zum Beispiel im Lexikon von G. und A. Heibig (1990), wohl weil es sich an „breitere Leserkreise" wendet; eine erste - unvermeidliche Differenzierung findet allerdings in Form von Anmerkungen statt. In seiner Sprachglosse mit dem Titel „eigentlich". Siehe Bibliographie.
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Martine Dalmas
treibt, wenn er eigentlich benutzt und sich also zwischen „Oberfläche" und „Grund" so geschickt bewegt, daß sein Partner nicht mehr weiß, wo er die Wahrheit zu suchen hat. Der feine Sprachkritiker Tucholsky spricht sogar von „Fassadenarchitektur", wenn der Sprecher sich und seinem Adressaten Tatsachen vorspiegelt, die vielleicht nur gedacht sind und die es in der Wirklichkeit nicht gibt, bzw. Sachverhalte, die nicht stimmen. Tucholsky geht sogar noch weiter und schreibt dem Wort eigentlich eine so wichtige Funktion zu, daß er es am Ende seiner Glosse als „Lebensauffassung" bezeichnet.
/. l Real Existierendes Dieses Hervorholen von Tatsachen und Sachverhalten, die zum Teil keine sind oder zumindest bislang nicht als solche erkannt wurden, steht in krassem Gegensatz zu dem Rückgriff auf Tatsachen, die gleich als solche markiert werden, d. h. evident, real, so gut wie unangreifbar sind. Ich verweise an dieser Stelle noch einmal auf folgenden Dialog3, in dem beide Lexeme, eigentlich und tatsächlich, gegenübergestellt werden: (1)
X: Wie lange dauert die Reparatur? Y: Eigentlich zwei Tage, Herr Oberst. X: Und uneigentlich, ich meine tatsächlich?
Hier wird deutlich, daß sich zwei Welten gegenüberstehen: Die eine betrifft das, was sein sollte (etwa, weil es vorgeschrieben ist oder „sich gehört"), und die andere besteht aus dem, was (tatsächlich ...) ist. Auch unerwünschte, negative Aspekte des Realen werden durch tatsächlich hervorgehoben: (2)
Und natürlich kann man die Gewalt in der Gesellschaft nicht allein dadurch niederkämpfen, daß man sie verschweigt, die existiert tatsächlich. (Der Spiegel 1992)
1.2 Erwartetes Die meisten Beispiele zeigen, daß tatsächlich dann gebraucht wird, wenn es dem Sprecher darum geht, das Eintreffen von Ereignissen zu unterstreichen, die bis dahin schon geahnt oder erwartet wurden: (3)
Zehntausend, hunderttausend spezifische Eigengerüche hatte er gesammelt und hielt sie zu seiner Verfügung, so deutlich, so beliebig, daß er sich nicht nur ihrer erinnerte, wenn er sie wiederroch, sondern daß er sie tatsächlich roch, wenn er sich ihrer wiedererinnerte. (Süskind: 29)
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Der Name Doherty deutet auf eine Affinität zum Englischen, und tatsächlich ist es hauptsächlich diese Sprache, aus der die Beispiele im Buche stammen, aus Lewis
Vgl. Perennec (1990: 62).
Fakten und Effekte
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Carroll und Hemingway vor allem, was eher praktische Gründe hat, zum Beispiel die kurzen Sätze des einen. (Frankfurter Allgemeine Zeitung 1995)
Oder der Sprecher betont das Eintreffen von Ereignissen, die er sich gar erhofft hatte: (5)
Auf dem Platz vor dem Tor hielt er an und schnupperte. Und im reinen, von den Stadtgerüchen unberührten Westwind fand er tatsächlich seinen goldenen Faden wieder, dünn und schwach zwar, aber doch unverkennbar. (Süskind: 221-222)
(6)
Ich erkläre also meinem Gönner mit gespielter Gleichgültigkeit [...], gewiß, es würde mir ein Vergnügen sein, die Bekanntschaft der Familie Kekesfalva zu machen. Tatsächlich ~ siehe da, der wackere Apotheker hat nicht geflunkert! - schon zwei Tage später bringt er mir [...] eine gedruckte Karte ins Kaffeehaus, in die mein Name kalligraphisch eingefügt ist, und diese Einladungskarte besagt [...] (Zweig: 23)
Das Eintreffen des Erwarteten oder Erhofften wird in folgenden Auszügen sogar thematisiert; die logische Relation wird jeweils durch und markiert: (7)
Sie zeigte sich in dem stillen, andächtigen Konsum jener narkotisierenden Droge, die in der erfüllten Erwartung liegt. Günter Grass las in Berlin aus dem vierten und sechsunddreißigsten Kapitel; und tatsächlich begann das Erwartetete auch sofort wie ein feines Gas auszuströmen. Die Gesichter entspannten sich. (Frankfurter Allgemeine Zeitung 1995)
(8)
Grund genug für den Quotenjäger ZDF, kurz vor dem Hubertustag den Film „Halali - oder der Schuß ins Brötchen" auszustrahlen. Wir erhofften uns Provokation; und tatsächlich wurde nach nur einer Minute ein Hund erschossen, was in diesem Land ein Sakrileg ist. (Frankfurter Allgemeine Zeitung 1995)
Ist ein Sachverhalt vorgesehen oder gar geplant, dann wird sein Eintreffen erst recht erwartet, und der Sprecher markiert diese quasi logische Folge außerdem durch die Partikel auch, die hier als Hinweis auf die implizite4 Prämisse „Was geplant ist, wird meistens verwirklicht" fungiert, vgl.: (9)
Das Problem ist jahrelang hin- und hergewendet worden und hat schließlich zu jenem Asylkompromiß der Parteien von 1993 geführt, der den Zustrom der Asylbewerber begrenzen sollte und tatsächlich auch begrenzt hat. (Mannheimer Morgen 1995)
l. 3 Strenge Bindung Diese starke Bindung an das Vorhergehende, welche durch tatsächlich unterstrichen wird, ist auch ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal im Vergleich zu den Kontexten, in denen eigentlich gebraucht wird; in Dalmas (1995) hatte ich gezeigt, daß eigentlich thematische Streifzüge oder gar Exkurse erlaubt, die Zu dieser Funktion der Partikel auch vgl. Porennec (1992).
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sonst in diskursiver Hinsicht nicht oder kaum annehmbar wären, da sie als nichtrelevant gelten und die Kohärenz des Textes gefährden können. Mit tatsächlich sind solche thematischen Um- und Fluchtwege von vornherein gesperrt, da die Tatsachen nicht zur Flucht, sondern zum Da(bei)bleiben führen sollen.
2
Tatsächliches und Wirkliches
2. / Begründen Es kann allgemein festgestellt werden, daß die Inhalte (seien sie durch ganze Propositionen oder nur durch Syntagmen ausgedrückt), die durch tatsächlich markiert sind, oft zur Stützung der vorhergehenden Assertion bzw. zur Stützung des vorher Behaupteten dienen. Die Integration dieser Inhalte in das argumentative Netz steht außer Frage, sie fungieren in solchen Fällen als Begründung, als Erklärung des eben Gesagten: (10)
Der Befehlshaber zielt, bevor er ihn abschießt. Er wird jemand ganz Bestimmten mit seinem Befehl treffen, immer hat der Pfeil eine gewählte Richtung. Er bleibt im Getroffenen stecken; dieser muß ihn herausziehen und weitergeben, um sich von seiner Drohung zu befreien. Tatsächlich spielt sich der Vorgang der Befehlsweitergabe so ab, als ob der Empfänger ihn herauszöge, seinen eigenen Bogen spannte und nun denselben Pfeil wieder abschösse. (Canetti: 340)
Oder sogar als konkretes Beweisstück: (11)
Jakob Filter hatte über die „Mutter" von Gorki geschrieben, und dieser hatte, wie in Jakobs Aufsatz nachzulesen war, die fünf Punkte nicht nur ebenfalls allseitig erfüllt, sondern sogar erfunden. Jakob hatte tatsächlich geschrieben: „Und so hat Maxim Gorki den sozialistischen Realismus erfunden", und aus Doktor Fuchsens Randbemerkung ging hervor, daß statt „erfunden" besser „praktisch-poetisch herausgearbeitet" gesagt werden sollte, erfinden könne man wohl das Telefon oder den Blitzableiter, nicht aber den sozialistischen Realismus. (Kant: 246)
(12)
Ich war vor dem Gasthof „Zur Linde" angekommen. An einem gußeisernen Zaun, hinter dem tatsächlich eine große Linde wuchs, lehnten Fahrräder. (Martin: 37)
Während in (l 1) der Beweis gebracht wird, daß der Erzähler den Sachverhalt so darstellt, wie er in der Welt der Tatsachen ist, geht es in (10) um die Erläuterung des gewählten Bildes (Befehlshaber als Schütze / Befehl als Pfeil) und in (12) um eine Bezeichnung, die durch die konkrete Tatsache (die Existenz des entsprechenden Gegenstandes) ihre Begründung findet. Durch solche Verweise auf die Wirklichkeit rückt tatsächlich in die Nähe von wirklich, so daß in diesen Fällen beide Elemente meistens austauschbar sind - auch wenn sie sich auf
Fakten und Effekte
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zwei verschiedene Ebenen beziehen: tatsächlich ermöglicht einen direkten Verweis auf die Welt der jedem zugänglichen Tatsachen, während wirklich eher auf das als vom Sprecher real Wahrgenommene und als solches Wiedergegebene verweist: (13)
Heftig applaudierte das gelehrte Publikum dem Referenten und defilierte dann am Podest vorbei, auf dem Grenouille stand. In seiner konservierten Verwahrlosung und mit seinen alten Narben und Verkrüppelungen sah er tatsächlich so beeindruckend fürchterlich aus, daß ihn jedermann für halb verwest und unrettbar verloren hielt, obwohl er sich selbst durchaus gesund und kräftig fühlte. (Süskind: 150)
2.2 Verstärken Gerade diese Vermittlung durch die Wahrnehmung erklärt zugleich, warum wirklich auch eine verstärkende bzw. graduierende Funktion haben kann - und sie oft hat. So in: (14)
Er wollte den Alten ja nicht verprellen. Er wollte ja wirklich von ihm lernen. (Süskind: 100)
Oder in Äußerungen, in denen ein Satzglied bzw. eine ganze Verbalgruppe wiederaufgenommen wird: (15)
COSMO: Der Zustand Ihrer Augen beunruhigt mich. Wirklich, er beunruhigt mich. (Brecht 1963: 103)
(16)
Und auf alles, aber -wirklich alles, selbst auf die neuartigen Duftbänder, die Baldinis kuriose Laune eines Tages hervorbrachte, sprang das Publikum los wie behext, und Preise spielten keine Rolle. (Süskind: 96)
Aber auch in Fällen wie: (17)
Was für eine Tat! Welch epochale Leistung! Vergleichbar -wirklich nur den größten Errungenschaften des Menschengeschlechts wie der Erfindung der Schrift durch die Assyrer, der euklidischen Geometrie, den Ideen des Plato und der Verwandlung von Trauben in Wein durch die Griechen. (Süskind: 59)
(18)
„Ich verstehe nicht, was du willst. Ich verstehe -wirklich nicht, worauf du hinauswillst. [...]" (Süskind: 11)
Hier markiert wirklich den Inhalt des darauffolgenden Satzteils - sei es ein Satzglied oder eine Konstituente zweiten Grades oder gar der Negator - als für den Sprecher real, so daß er uneingeschränkt akzeptiert und dadurch als verstärkt empfunden wird. Dies gilt auch bei Fällen, wo wirklich extraponiert ist und sich also auf die ganze darauffolgende Äußerung bezieht, um deren Triftigkeit zu unterstreichen:
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Wie kann ein kluger, studierter Mann so viel Unsinn von sich geben. Schweigen! Wir haben zu reden. Wir haben die Wahrheit zu sagen. Wenn Sie nur schweigen wollen, hätten Sie Deutschland nicht verlassen müssen. Schweigen kann man immer in Deutschland. Also -wirklich, Herr Doktor, manchmal reden Sie wie ein Waschweib. (Mein: 10)
Diese Funktion der Unterstreichung eines wichtigen Inhalts erklärt auch, daß sich wirklich viel öfter auf ein einziges Satzglied oder gar auf eine einzige Konstituente bezieht: (20)
Ja, früher, in seiner Jugend, vor dreißig, vierzig Jahren, da hatte er „Rose des Südens" erfunden und „Baldinis galantes Bouquet", zwei -wirklich große Düfte, denen er sein Vermögen verdankte. (Süskind: 54)
Dagegen ist eine solche Stellung bei tatsächlich seltener anzutreffen; so zum Beispiel in (21), wo es sich innerhalb der Nominalgruppe auf das attributive Adjektiv bezieht: (21)
Er selbst aber war entzückt von den sinnlosen Perfektionen, und es gab in seinem Leben weder früher noch später Momente eines tatsächlich unschuldigen Glücks wie zu jener Zeit, da er mit spielerischem Eifer duftende Landschaften, Stilleben und Bilder einzelner Gegenstände erschuf. (Süskind: 194)
Hier hat tatsächlich keine graduierende Funktion, sondern bezieht sich „nur" auf die zugrundeliegende, implizite Prädikation, d. h. auf die Faktizität ihres Inhalts.
2.3 Vor vollendeten Tatsachen Im Gegensatz zu wirklich steht tatsächlich häufiger außerhalb des Satzrahmens, an der vor-ersten Stelle - eine Stellung, die dann oft durch die Interpunktion unterstrichen wird: (22)
Seit hundert Jahren wird an dem Gebäude herumkritisiert: Es sei zu groß, zu plump, zu verschnörkelt. Tatsächlich, der Reichstag ist nicht schön. Was ihn kennzeichnet, könnte man eine erträgliche Häßlichkeit nennen. (Frankfurter Allgemeine Zeitung 1995)
Eine Erklärung für diesen Unterschied zwischen beiden Elementen scheint mir in dem kognitiven Status des betreffenden Inhalts zu liegen: Bei wirklich erfolgt die sprachliche Umsetzung nach mentaler Verarbeitung, während tatsächlich den unmittelbaren Zugriff auf die Tatsachen markiert, die dann meistens als Ganzes, d. h. als gesamter - noch unverarbeiteter - Sachverhalt, gegeben werden. Dies erklärt auch, warum tatsächlich vornehmlich in Fällen gebraucht wird, wo der Sprecher unerwartet vor der vollendeten Tatsache steht; das Plötzliche an der Erkenntnis eines Sachverhalts zeigt, daß sie weder Ergebnis eines logischen Denkprozesses ist noch irgendwie verarbeitet wurde, um dann etwa als zur Wirklichkeit gehörend gegeben zu werden:
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(23)
Herr Tietz fragt Nelly nach ihren Zensuren und vergleicht sie mit denen seiner Tochter Lori. Er seufzt vorwurfsvoll und kann sich den Unterschied nicht erklären, obwohl die Erklärung kinderleicht ist und Nelly auf der Zunge liegt: Lori ist dumm und faul. Die Erkenntnis schlägt ein wie ein Blitz. Tatsächlich: Lori ist einfach dumm, und Herr Warsinski, der es längst gemerkt hat, kann es nur hin und wieder durch einen Blick zu verstehen geben [... ] (Wolf: 175)
(24)
LISA (legt ein Päckchen auf den Tisch): Zwei Pfund Schweinefleisch. Der Metzger gab es mir. Ohne Marken. KURT: Laß mich mal daran riechen. Tatsächlich, richtiges Fleisch. Mir wird ganz schlecht. (Hein: 39)
2.4 Feststellen, staunen und nachhaken Auch allein als Ein-Wort-Äußerung kann tatsächlich fungieren, wie übrigens auch wirklich. Die jeweiligen Äußerungen sind entweder Assertionen: (25)
Nachher sah ich im Inseratenteil der Zeitung: an fast 20 Stellen wird Theater gespielt. Tatsächlich. Überall. (Frankfurter Allgemeine Zeitung 1993)
(26)
INSPEKTOR: Kriminalinspektor Richard Voß. (Er bleibt sitzen.) NEWTON: Erfreut. Sehr erfreut. Wirklich. Ich hörte Gepolter, Stöhnen, Röcheln, dann Menschen kommen und gehen. Darf ich fragen, was sich hier abspielt? (Dürrenmatt: 293)
oder Ausrufe: (27)
Und als der Troß längst weitergezogen war, fragte die Frau nochmal nach: „War das nicht der Decken? Was, tatsächlich^. Wenn ich das gewußt hätte, dem hätte ich noch was ganz anderes erzählt." (Die Tageszeitung 1995)
(28)
Es sind drei der Hauptgötter! Wirklich^. Ihre Standbilder in den Tempeln sind sehr gut getroffen. Wenn Sie schnell hingehen und sie einladen, werden sie vielleicht zusagen. (Brecht 1969: 12)
oder auch Bestätigungsfragen - was sowohl wirklich als auch tatsächlich von den anderen Modalwörtern unterscheidet: (29)
Schmidt: Nein, Pessimist bin ich nicht. Spiegel: Tatsächlich"! Von Ihnen stammt der Satz, daß die Demokratie im vereinten Deutschland nur eine begrenzte Lebenszeit haben könnte, wenn alles so weitergehe wie bisher. (Der Spiegel 4/1993)
(30)
Chenier: Es riecht äußerst gewöhnlich, dieses „Amor und Psyche". Baldini: Vulgär? Chonier: Durchaus vulgär, wie alles von Poussier. Ich glaube, es ist Limonettenöl darin.
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Martine Dalmas Baldini: Wirklich! Was noch? Chonier. Orangenblütenessenz vielleicht. (Süskind: 53)
In (31) kommen beide hintereinander vor: (31)
ANDREA (auf Cosmos Modell zeigend). So meint man, daß es ist, und so (auf seines deutend) ist es. Die Erde dreht sich um die Sonne, verstehen Sie? COSMO: Meinst du wirklich! ANDREA: Allerdings. Das ist bewiesen. COSMO: Tatsächlich! Ich möchte wissen, warum sie mich zum Alten überhaupt nicht mehr hineinließen. Gestern war er noch bei der Abendtafel. (Brecht 1963: 42)
Die Reihenfolge zeigt es hier genau: wirklich bezieht sich eher auf die Ebene dessen, was vom Sprecher für wahr gehalten wird, als solches behauptet wird, aber nicht bewiesen werden kann, d. h. von seinem Gesprächspartner einfach so hingenommen werden muß; hingegen weist tatsächlich direkt auf reale Beweise hin, die ja glaubhafter sind, weil sie jedem zugänglich sind, d. h. auch dem Gesprächspartner - zumindest theoretisch.5 Trotz dieser Unterscheidung überlappen sich in manchen Fällen beide Lexeme, so daß sie in bestimmten Kontexten austauschbar (aber nicht äquivalent!) zu sein scheinen. Der Verweis auf das Reale kann aber auch durch andere Elemente markiert werden, die mit den bisher untersuchten Lexemen semantisch eng verwandt sind und nun von den bis jetzt untersuchten abgegrenzt werden müssen.
3 Taten, Tatsachen und Wirklichkeit 3. l
Von der Kraft der Tat...
Ein wichtiger Konkurrent von tatsächlich, der bis jetzt unerwähnt geblieben ist, ist die präpositionale Wendung in der Tat, die oft als Äquivalent gilt, jedoch nicht in allen Fällen mit tatsächlich austauschbar ist. Genau wie tatsächlich verweist auch in der Tat direkt auf die Welt des Realen, diese wird aber im Gegensatz zu tatsächlich nicht immer zur Stützung eines vorhergehenden Text- oder Satzsegments verwendet wie etwa - mit unterschiedlicher Stellung im Satz- in (32), (33) und (34): (32)
Aus iranischer Sicht ist die UNO-Resolution schlicht Irak-freundlich. Daß in der Tat irakische Positionen unterstützt werden, zeigt sich im Vergleich mit einer Entschließung vom September 1980. (Die Tageszeitung 1987)
(33)
„Nein, ich muß wirklich nach Hause", sagt sie hastig, „dort drüben wartet schon
Vgl. zu diesem Aspekt Porennec (1994).
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das Auto." Und in der Tat, vom Rathausplatz her grüßt bereits respektvoll der Chauffeur. (Zweig: 87) (34)
Von der „Energie der Zukunft", nicht mehr von „Alternativenergie" ist die Rede. Und in der Tat: Sonnenenergie kann (fast) alles. (Die Tageszeitung 1987)
Genau wie mit tatsächlich wird hier die Bestätigung des Vorhergehenden, die durch den Zugriff auf die Fakten erfolgt, unterstrichen. Die logische Abfolge der beiden Inhalte (Behauptetes und Beweisstück) kann hier ebenfalls durch und markiert werden. Darüber hinaus wird in der Tat auch direkt in Begründungen durch denn verwendet, um das Faktische an dem begründenden Umstand zu unterstreichen: (35)
Da machte sich Baldini natürlich Sorgen. Es wäre ihm sehr unangenehm gewesen, seinen kostbaren Lehrling ausgerechnet in einem Augenblick zu verlieren, wo er sich anschickte, seinen Handel über die Grenzen der Hauptstadt, ja sogar des ganzen Landes auszudehnen. Denn in der Tat geschah es immer häufiger, daß nicht nur aus der Provinz, sondern auch von ausländischen Höfen Bestellungen eingingen ftlr jene neuartigen Düfte, nach denen Paris verrückt war. (Süskind: 108)
Andererseits wird aber der erwähnte Sachverhalt in manchen Fällen einfach wegen seiner unbestrittenen Realität dargeboten und unterstrichen: (36)
Es ist eine Revolution ohne revolutionäre Strategie und revolutionäre Partei. Es ist in der Tat, was es bisher nur als Mythos gegeben hat: die Selbstbewegung des Volkes. Statt Anführerinnen hat die demokratische Bewegung in der DDR nur Sprecherinnen - noch dazu sehr gute. (Die Tageszeitung 1989)
Dies passiert auch in Dialogen, in denen der Sprecher das von seinem Partner Gemeinte bestätigen will, wie in folgendem Gespräch: (37)
SPIEGEL: An der Front, heißt es in Ihrem Buch, ist „wirklich nur der enge Raum, den der eigene Körper ausfüllt mit seinen Schmelzpunkten". Man ist „in eine Art von Nichtsein getaucht". Das klingt existentialistisch. WELLERSHOFF: Existentialismus, die Reduktion auf die nackte Existenz, war in der Tat unsere Philosophie nach dem Krieg. Das war ja die Erfahrung, die wir gemacht hatten. (Der Spiegel 1995)
Dann kann in der Tat zwischen Kommas stehen, gleich einem Einschub mit kommentierender Funktion; der Sprecher betont die Faktizität6 des Gesagten: (38)
Die Bowery, ein ehemals niederländischer Name, ist ein Viertel, wo auch die Polizei nicht mehr hingeht, Gefilde der Verlorenen, dabei inmitten von Manhattan; man geht um die marmorne Ecke eines Gerichtspalastes, in der Tat, und nach hundert Schritten ist man im Gefilde der Verlorenen, der Besoffenen, der Gescheiterten, der Verkommenen jeder Art, der Menschen, die das Leben selbst gerichtet hat. (Frisch: 6)
Dabei kann der dargestellte Fakt evtl. nur „gedacht" sein, etwa in Äußerungen, die im Konjunktiv II stehen und Hypothetisches enthalten.
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Auch hier, mitten im Satz, schaltet sich der Sprecher ein, um das Faktische hervorzuheben (,es gibt dort einen Gerichtspalast, der zum Teil aus Marmor ist') und dadurch den Sachverhalt zu unterstreichen. Diese Funktion findet sich ebenfalls in dem Gebrauch der Wendung als EinWort-Äußerung, sei es als Antwort auf eine Frage oder einfach als Ausruf: (39)
„Sie wollen diese Ziegenleder riechen machen, Maitre Baldini? Diese Leder, die ich Ihnen gebracht habe, die wollen Sie doch riechen machen?" zischelte Grenouille, als habe er Baldinis Antwort gar nicht zur Kenntnis genommen. Jn der Tat", sagte Baldini. (Süskind: 77)
(40)
Das, und nicht möglichst viele Planstellen im öffentlichen Dienst, steht auf der Tagesordnung. Fast nichts davon findet sich aber in den Vereinbarungen, kein Funken Lafontaine und ganz wenig von der Phantasie, die die AL so gem für sich reklamiert, dafür viele Pageis und GEW. Wie sagte Walter Momper so schön: „Liebe Genossinnen und Genossen, das euch vorliegende Programm knüpft an den Reformschwung der frühen siebziger Jahre an." In der Tat, in der Tat\ Und schließlich: In der Frage der Verwaltung schleicht man in den Vereinbarungen wie die Katze um den heißen Brei. (Die Tageszeitung 1989)
Es kann aber auch passieren, daß der erwähnte Sachverhalt dem entgegensteht, was vorher behauptet oder nur impliziert wurde: (41)
Der Kleine ist Stefano delle Chiaie, erfreut sich ungezwungener Freiheit - und war, in der Tat, dennoch fast zwei Jahrzehnte lang als so etwas wie der Oberteufel der Nation verschrieen: „Oberbombenleger", „meistgesuchter Terrorist Europas", „Massakerspezialist" hieß er- bis er 1987 in Bolivien [...] (Die Tageszeitung 1989)
Auf diese Weise erfolgt eine argumentative Reorientierung der Rede, die durch aber, doch oder dennoch deutlich markiert wird; allerdings kommen solche Fälle relativ selten vor: (42)
SPIEGEL: Das heißt, die Langzeitstudenten belasten die Unis gar nicht so, wie von Politikern gern behauptet? LAERMANN: Das bringt mir zwar nicht große Begeisterung ein, wenn ich das öffentlich sage, aber es ist in der Tat so, daß wir die meisten gar nicht merken. Sie sind eine statistische Größe, weil sie die Lehrbelastungen ja nicht mehr vergrößern. (Der Spiegel 1994)
3.2 ... zur Widerlegung durch die Wirklichkeit Daß Fakten zur Widerlegung des bisher Behaupteten dienen, ist aber keine Ausnahme! Es wurde anfangs an die Rolle von eigentlich erinnert; eine ähnliche Rolle spielt das feste präpositionale Syntagma in Wirklichkeit, das in den meisten Fällen auf Gegebenheiten hinweist, die das Vorhergehende ins rechte Licht rücken bzw. neu beleuchten: (43)
Was hier der Verständlichkeit halber in ordentlicher indirekter Rede wiedergegeben, war in Wirklichkeit ein halbstündiger, von vielen Hustern und Keuchern und
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Atemnöten unterbrochener blubbernder Wortausbruch, den Grenouille mit Gezittre und Gefuchtle und Augenrollen untermalte. (Süskind: 155)
Dies führt häufig zur Einschränkung oder gar Widerlegung des vorher Behaupteten: (44)
SCHULZ: Jetzt tritt der Retter der Parteikasse und Mitgliederkartei als Retter der Menschheit auf. In Wirklichkeit spaltet ihr Ost und West, wenn ihr den berechtigten Ärger verstärkt. (Der Spiegel 1994)
Daß die Wirklichkeit in vielen Fällen anders ist, als man sie sich vorgestellt hatte, ist eine Binsenwahrheit. Und so enthält die vorhergehende Behauptung oft Indizien einer Diskrepanz zwischen Behauptetem und Wirklichkeit: (45)
Heutzutage sind die Großen - weil regelmäßig ärztlich untersucht - weniger gefährdet als die Kleinen. Für die kommt der Himinfarkt meist aus scheinbar heiterem Himmel. In Wirklichkeit warnt der Kopf seinen Besitzer, doch sind die Signale oft sehr diskret und mehrdeutig. (Der Spiegel 1994)
Die argumentative Reorientierung, die dadurch erfolgt, wird meistens zusätzlich durch aber o. ä. markiert: (46)
Grenouille stand und lächelte. Vielmehr erschien es den Menschen, die ihn sahen, als lächle er mit dem unschuldigsten, liebevollsten, bezauberndsten und zugleich verführerischsten Lächeln der Welt. Aber es war in Wirklichkeit kein Lächeln, sondern ein häßliches, zynisches Grinsen, das auf seinen Lippen lag und das seinen ganzen Triumph und seine ganze Verachtung widerspiegelte. (Süskind: 250)
Die Verwandtschaft mit eigentlich ist unleugbar; beide Elemente sind in Fällen wie (46) austauschbar. Diese Ähnlichkeit in der syntaktischen Stellung und in der diskursiven Funktion darf jedoch Über einen wichtigen Unterschied nicht hinwegtäuschen: Während eigentlich die - subjektive - Sichtweise des Sprechers markiert, der sich den Blickwinkel aussucht, aus dem er einen Sachverhalt betrachtet, verweist in Wirklichkeit auf eine objektive Sicht, die sich gleichsam von selbst durchsetzen kann. So erklärt sich, daß in Fällen, wo der Sprecher auf Aspekte der Wirklichkeit hinweist, die von ihm nur gedacht oder beabsichtigt wurden und nie Wirklichkeit geworden sind, vornehmlich eigentlich verwendet wird. Auch der Gebrauch von im Grunde, den ich hier aus Platzgründen beiseite gelassen habe, beruht auf einer subjektiven Betrachtung der Sachverhalte durch den Sprecher, was die enge funktionale Verwandtschaft dieses Syntagmas mit eigentlich erklärt. In beiden Fällen wird - im Unterschied zu in Wirklichkeit mit Gedanken gespielt, die nicht unbedingt die Wirklichkeit widerspiegeln. In beiden Fällen ist man von den Tat-Sachen ein ganz schönes Stück abgedriftet allerdings in eine Scheinwelt, mit der sich selten etwas anfangen läßt...
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4 Schlußbemerkungen und Aussicht Am Ende dieser kurzen Übersicht nun zusammenfassend einige Bemerkungen: 1. Die relativ große Anzahl an Elementen, mit denen ein Sprecher seine Behauptungen durch Hinweise auf die Welt der Tat-Sachen stützt, zeugt von dem anfangs erwähnten Bedürfnis nach faktischen Daten, die als unumgängliche und unumstößliche Beweise gelten können. 2. Im Gegensatz zu eigentlich und im Grunde verweisen die anderen hier untersuchten Elemente auf das Reale der erwähnten Sachverhalte. 3. Während tatsächlich und in der Tat direkt eine Faktizität unterstreichen, die jedem zugänglich ist, markieren wirklich und in Wirklichkeit Inhalte, deren Realität vom Sprecher festgestellt worden ist und dann als solche weitergegeben wird. 4. Sowohl tatsächlich als auch in der Tat verweisen auf das Gegebene, das oft - aber nicht immer - argumentativ erwähnt wird. Sie können beide das Eintreffen von Sachverhalten markieren, die erwartet werden. Aber im Gegensatz zu tatsächlich kann in der Tat zur Reorientierung der Rede beitragen. 5. Im Gegensatz zu wirklich, das verstärkend bzw. graduierend wirkt, wird in Wirklichkeit ausschließlich zur Einschränkung oder gar Widerlegung gebraucht. Dieser grobe Vergleich bedarf natürlich einer genaueren Untersuchung, vor allem in bezug auf die Funktion der markierten Inhalte und Segmente in der Textdynamik und -Struktur. So kann man zum Beispiel feststellen, daß tatsächlich oft Inhalte markiert, die eine Sequenz schließen, während in der Tat im Gegenteil vor allem die Faktizität thematisieren helfen kann und in solchen Fällen eher sequenzeröffhend wirkt. Die hier beschriebenen Elemente haben nämlich auch eine textuelle Signalrolle, die auf der Ebene der Makrostruktur des Textes zu untersuchen ist, wobei die Textsorte wohl auch berücksichtigt werden sollte. Eine Aufgabe für das Jahr 2000 oder - zum 75. Geburtstag unseres Jubilars.
Literatur Dalmas, Martine (1995): Tanz auf dem doppelten Boden der Tatsachen. Zu den diskursiven Funktionen von eigentlich. In: H. Popp (Hg.), Deutsch als Fremdsprache. An den Quellen eines Faches. Festschrift für Gerhard Heibig zum 65. Geburtstag. München, 217-227. Heibig, Gerhard / Heibig, Agnes (1990): Lexikon deutscher Modalwörter. Leipzig. Porennec, Marcel (1992): A propos de auch: quelques roflexions et propositions concemant les mothodes d'analyse des Operateurs de discours. In: G. Grociano / G. Kleiber (Hg.), Systemes interactifs. Molanges en I'honneur de Jean David. Paris, 335-347. Porennec, Marcel (1994): Präsentation des mots du discours en allemand. In: L. Basset / M. Porennec (Hg.), Les classes de mots. Traditions et perspectives. Lyon, 285-311. Tucholsky, Kurt (1928): „eigentlich". In: Sprache ist eine Waffe. Sprachglossen. Hg. von Wolfgang Hering. Reinbek bei Hamburg (1989), 56-57.
Fakten und Effekte Quellen7 Brecht, Bertolt: Das Leben des Galileo Galilei. Frankfurt a. M. 1963. Brecht, Bertolt: Der gute Mensch von Sezuan. Frankfurt a. M. 1969. Canetti, Elias: Masse und Macht. Frankfurt a. M. 1981. Dürrenmatt, Friedrich: Die Physiker. In: Komödien H und frühe Stücke. Zürich 1963. Frisch, Max: Stiller. Frankfurt a. M. 1994. Mein, Christoph: Passage. Berlin 1988. Kant, Hermann: Die Aula. Berlin 1965. Martin, Hansjörg. Blut ist dunkler als rote Tinte. Reinbek bei Hamburg 1990. Süskind, Patrick: Das Parfüm. Die Geschichte eines Mörders. Berlin 1987. Wolf, Christa: Kindheitsmuster. 12. Auflage. Berlin/Weimar 1990. Zweig, Stefan: Ungeduld des Herzens. Frankfurt a. M. 1992.
7
Es wird hier jeweils die benutzte und zitierte Edition angegeben.
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Zur Beschreibung komplexer Sätze in brasilianischen Gebrauchsgrammatiken
0 Vorbemerkungen Gegenstand dieses Beitrags ist die Entwicklung der Darstellung komplexer Sätze, insbesondere der Klassifikation der subordinierten Sätze, in der Grammatikschreibung Brasiliens des 19. und 20. Jahrhunderts. Es handelt sich dabei um einen Gegenstand, dem auch der Jubilar in seiner langen Forschungs- und Publikationszeit mehrfach Aufmerksamkeit gewidmet hat.1 Wenn auch auf ihn nicht immer explizit Bezug genommen wurde, so war die germanistische und im besonderen die DaF-zentrierte Helbigsche Grammatikographie stets im Hintergrund als Vergleichsmatrix präsent. Dabei soll es nicht um eine lückenlose Behandlung aller in diesem Zeitraum erschienenen Grammatiken gehen, vielmehr soll anhand der Entwicklung der Terminologie der fortschreitende Erkenntnisprozeß über dieses Teilsystem des Portugiesischen demonstriert werden. Eine Diskussion der Sprachdaten wird dabei nur gelegentlich vorkommen, da diese eine kritische Analyse der Exemplifizierung der einzelnen Grammatiken und somit mehr Raum erfordern würde, als hier zur Verfügung steht. Die Wahl der Grammatikographie Brasiliens und nicht der Portugals resultiert vor allem daraus, daß in dem anvisierten Zeitraum in Brasilien wesentlich mehr Grammatiken entstanden sind als in Portugal. Das hängt, wie Woll (1994: 666) zu Recht feststellt, einerseits mit der Tatsache zusammen, daß die Hochschulphilologie in Portugal sich bis in die 60er Jahre unseres Jahrhunderts vor allem mit philologischen und dialektologischen Fragen beschäftigte, die Entwicklung der strukturellen Linguistik kaum rezipierte und das Verfassen von Grammatiken den Elementar- und Sekundarschullehrern überließ (Woll 1994: 665). Andererseits war der Bedarf an grammatischen Informationen in Brasilien bedeutend größer, hatte doch die gesprochene Sprache seit dem Beginn der Besiedelung des Landes im 16. Jahrhundert grundlegende Veränderungen nicht nur in der Lexik und der phonetischen Realisierung des Phonemsystems, sondern vor allem auch auf der Ebene der Morphologie und Syntax erfahren, die zu einer tiefen Kluft zwischen der gesprochenen Sprache und der bis in das 20. Jahrhundert den muttersprachlichen Unterricht bestimmenden europäischportugiesischen schriftsprachlichen Norm geführt hatten (Woll 1994: 666). 1
Vgl. Heibig (1970); Helbig/Kempter (1974); Helbig/Kempter (1974a); Heibig (1980); Heibig (1980a); Heibig (1982).
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Die Mehrzahl der hier zu behandelnden Arbeiten stammt aus der sogenannten philologischen Phase2 der brasilianischen Sprachwissenschaft und bis um die Mitte unseres Jahrhunderts von Autodidakten.3 Das hatte eine Vielzahl individueller terminologischer Systeme zur Folge, deren Vereinheitlichung 1959 mit der Einführung der von einer Kommission aus namhaften Philologen erarbeiteten „Brasilianischen grammatischen Nomenklatur" („Nomenclatura gramatical brasileira", im folgenden: NGB) versucht wurde. Die Etablierung der Linguistik als Hochschuldisziplin in den 60er Jahren hat die Darstellung der praktischen Grammatik zwar in einzelnen Aspekten beeinflußt, jedoch nicht grundsätzlich umgestaltet. Die Darstellung wird sich auf folgende Fragenkomplexe konzentrieren: -
die Beschreibung des Verhältnisses von einfachen und komplexen Sätzen; die Bestimmung der syntaktischen Funktionen von subordinierten Sätzen; die ursprüngliche Wortartbasiertheit der Klassifikation subordinierter Sätze; die Entwicklung der syntaktischen und semantischen Subklassifikation subordinierter Sätze; - die Ablösung der wortartbasierten Klassifikation durch eine satzgliedbasierte; - die Beschreibung formalgrammatischer Ausdrucksvarianten.
l Voraussetzungen Die Vorleistungen der portugiesischen Grammatikographie auf dem Gebiet der komplexen Sätze waren im 19. Jahrhundert denkbar gering. Sofern die Grammatiken überhaupt Syntaxdarstellungen enthielten, beschränkten sich diese auf die Darstellung der Kongruenz, Rektion und Reihenfolge in einfachen Sätzen. Dabei wurde meist mit Wortartbezeichnungen4, nur selten mit syntaktischen Die Entwicklung der brasilianischen Sprachwissenschaft wird gewöhnlich in eine philologische Phase und eine linguistische Phase im engeren Sinne eingeteilt (vgl. Altaian 1997:43). Die Zäsur liegt in den 60er Jahren, als die Linguistik in Form des französischen bzw. amerikanischen Strukturalismus an den brasilianischen Universitäten, insbesondere in Postgraduiertenstudiengängen, etabliert wurde. Das Ende des Autodidaktentums auf dem Gebiet der Sprachbetrachtung wird gewöhnlich mit den Neugründungen der Universitäten von Säo Paulo (1934) und Rio de Janeiro (1935) angesetzt, die erstmals auch Fakultäten für Philosophie und Sprach- und Literaturwissenschaften („Letras") enthielten, an denen Romanische Philologie studiert werden konnte (vgl. Altaian 1997: 43). Vgl. z. B. „Syntaxe, ou Construccäo he o modo de dispör, e ordenar as palavras, e frases segundo äs regras da Grammatica." [Syntax oder Konstruktion ist die Art der Anordnung und Reihenfolge der Wörter und Sätze nach den Regeln der Grammatik] (Fonseca 1799:209) oder Syntaxe quer dizer Coordenafäo; e chama-se assim esta parte da Grammatica, que das palavras separadas ensina a formar e compor huma orafäo [...]" [Syntax bedeutet Koordination; und so heißt dieser Teil der Grammatik, der lehrt, aus einzelnen Wörtern einen Satz zu bilden und zusammenzusetzen] (Barbosa 1830: 362).
Zur Beschreibung komplexer Sätze in brasilianischen Gebrauchsgrammatiken
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Begriffen wie „Subjekt", „Prädikat", „Ergänzung" („sujeito", „predicado", „complemento") usw. gearbeitet. Jeronimo Scares Barbosa, der bedeutendste portugiesische Vertreter der logisch-philosophischen Grammatik, hatte einige Grundbegriffe der Beschreibung komplexer Sätze eingeführt, ohne jedoch eine erschöpfende Beschreibung anzustreben. Er unterschied „Ganzsätze" („ora9öes totais") und „Teilsätze" („oraföes parciais") und gliederte letztere in „incidentes", worunter er Attribut-, genauer: Relativsätze verstand, und „integrantes", die er als „notwendige Ergänzungen der Verben" („complementos necessaries dos verbos", S. 367) bezeichnete. An anderer Stelle führte er den Begriff der „periodo" (Periode, Satzgefüge) und seine Bestandteile „ora9äo principal" (Hauptsatz) und „ora9§o subordinada" (subordinierter Satz) ein.
2 Das Verhältnis von einfachen und komplexen Sätzen Julio Ribeiro (1881), der die Bezeichnungen „senten9a, ora9äo" und „proposi9äo" synonym für „Satz" verwendete, führte die Einteilung in „senten9a simples" (einfacher Satz) und „sentenfa composta" (zusammengesetzter Satz) ein. Der Begriff des einfachen Satzes ist unstrittig; wechselvoll war lediglich seine Bezeichnung: „proposi9äo simples" bei Carneiro Ribeiro (1890), „periodo simples" bei Pereira (1907), Chaves de Melo (1952), in der NGB (1959) und allen ihr folgenden Grammatiken, „ora9äo simples" bei Ali (1923), schlicht „ora9äo" bei Rocha Lima (1957). Komplexe Sätze werden seit Julio Ribeiro (1881) von den meisten Autoren als „senten9a composta" (Julio Ribeiro), „ora9äo composta" (Ali), „periodo composto" (Melo 1952; NGB 1959; Bechara 1963; Cunha 1972; Luft 1976; Cunha/Cintra 1984) bezeichnet. Die Teilsätze komplexer Sätze gelten als durch Koordination oder durch Subordination verbunden. In letzterem Fall ist dann zwischen „ora9äo principal" und „ora9öes subordinadas", bei Carneiro Ribeiro und Pereira auch als „cläusulas" (vgl. englisch „clause") bezeichnet, zu unterscheiden. Carneiro Ribeiro und Pereira hatten zwischen zusammengesetzten und komplexen Sätzen („proposi9öes" bzw. „periodos compostos" und „complexes") unterschieden und wollten unter zusammengesetzten nur durch Koordination, unter komplexen nur durch Subordination konstituierte Äußerungen verstehen - eine Unterscheidung, die sich in der Beschreibung des Portugiesischen nicht durchgesetzt hat, auf die im spanischen Strukturalismus/Funktionalismus aber vor allem Alarcos Llorach in letzter Zeit großen Wert gelegt hat. Carneiro Ribeiro (1890) hatte die „subordinadas integrantes" (etwa: Kompletivsätze) in einfache („simples") und korrelativ verknüpfte („correlatas") bzw. Vergleichssätze („comparativas") gegliedert und dabei die Korrelation als einen Sonderfall der Subordination herausgestellt. Rocha Lima und Chaves de Melo behielten die Korrelation auch nach der Einführung der NGB als dritte NGB als dritte periodenkonstituierende Relation bei. Rocha
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NGB als dritte periodenkonstituierende Relation bei. Rocha Lima sieht sie in additiven Sätzen (nao so ... mas tambem 'nicht nur... sondern auch'), in Konsekutivsätzen (täo/tal/tanto ... que 'so / solch / so sehr ... daß') und in Vergleichssätzen (täo/ tal/tanto ... como 'so / solch / so sehr ... wie', mais/menos ... (do) que 'mehr/ weniger ... als'). Er verwendete außerdem eine vierte Relation, die Juxtaposition, hat sie jedoch später wieder zurückgenommen. Unter dem Einfluß des amerikanischen Strukturalismus und Generativismus hat Macambira (1970) schließlich die Unterscheidung von einfachen und komplexen Sätzen völlig aufgegeben. Er bestimmt verschiedene syntaktische Funktionen (Satzgliedfunktionen) und zählt die in diesen Funktionen möglichen Wortklassen und Konstruktionen auf- ein Verfahren, das stark an ältere funktionale Ansätze der deutschen Schulgrammatik (Jung 1965) sowie an das Standardmodell der generativen Transformationsgrammatik erinnert.
3 Hierarchie der syntaktischen Funktionen subordinierter Sätze Carneiro Ribeiro (1890) hatte eine Hierarchisierung der subordinierten Sätze in untergeordnete erster Ordnung („subordinadas de la ordern"), die nur in logischer, nicht aber grammatischer Abhängigkeit zum Hauptsatz stehen, und untergeordnete zweiter Ordnung („subordinadas de 2" ordern"), die auch grammatisch abhängig sind, vorgenommen. Die erste Gruppe bilden die Umstandssätze („subordinadas circunstanciais"); zur zweiten Gruppe rechnete er die bereits von Soares Barbosa eingeführten „incidentes" (Relativsätze) sowie die „integrantes", die Carneiro Ribeiro erstmalig auch als „completivas" (Kompletivsätze, Ergänzungssätze) bezeichnet. Man mag darin eine frühe Vorwegnähme der in der generativen Transformationsgrammatik und der Valenztheorie üblichen Trennung von subkategorisierenden/valenzabhängigen Verbergänzungen und freien Angaben sehen. Leider hat sich diese differenzierte Sichtweise nicht durchgesetzt und ist, Ansätzen von Pereira (1907) und Ali (1923) folgend, in der NGB durch die weniger präzise Einteilung in „termos essenciais",5 „integrantes"6 und „acessorios da ora9äo"7 ersetzt worden.
Die „teimos essenciais" sind Subjekt und Prädikat, also der „Satzkern" der traditionellen deutschen Grammatik. Zu den „termos integrantes" werden Verbergänzungen wie das direkte Objekt, das (dativische) indirekte Objekt (bei manchen Autoren auch ein präpositionales Objekt), der Handlungsträger in Passivsätzen sowie (valenzabhängige) Substantiv- und Adjektivergänzungen gezählt Zu den „termos acessorios" gehören das Attribut („adjunto adnominal"), Modalbestimmungen („adjunto adverbial"), die Apposition und der Vokativ.
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4 Die Wortartbasiertheit der Klassifikation der subordinierten Sätze Julio Ribeiro (1881: 203) führte eine Einteilung der subordinierten Sätze nach der Wortart, „der sie entsprechen",8 ein. Die von ihm gewählten Bezeichnungen enthalten die maskulinen Wortartbezeichnungen als Apposition („cläusulas substantivos", „cläusulas adjectivos", „cläusulas adverbios" (Substantivsätze, Adjektivsätze, Adverbsätze)). Das war sicher nicht zufällig, sondern sollte wohl die Funktion des subordinierten Satzes als Substantiv, Adjektiv oder Adverb auch in seiner Bezeichnung verdeutlichen. Carneiro Ribeiro (1890) hat dann die adjektivische Bezeichnung mit Genuskongruenz („ora9öes substantives, adjetivas, adverbiais") eingeführt, die sich in der gesamten vorstrukturalistischen Grammatikographie Brasiliens gehalten hat. Die Klassifikation subordinierter Sätze nach der Wortart ist ein auch in den Grammatiktraditionen anderer romanischsprachiger Länder übliches Verfahren. So kennt die französische Grammatikographie die Einteilung in „propositions nominales", „adjectives" und „circonstancielles" (Larousse 1936: 90) bzw. in „subordonnoes substantives", „adjectives ou relatives" und „adverbiales ou circonstancielles" (Grevisse 81964: 1007); und in der traditionellen spanischen Grammatik ist die Klassifikation in „oraciones subordinadas adjetivas", „sustantivas" und „adverbiales" (GRAE 1931: 311) bis heute üblich. Diese Klassifikation der untergeordneten Sätze steht in einem prinzipiellen Gegensatz zur Tradition der deutschen Grammatikographie, in der subordinierte Sätze meist nach ihrer syntaktischen Funktion eingeteilt werden. Bereits Paul sprach von der „Herabdrückung eines Satzes zum Satzgliede", durch die „der Satz direkt zum Subjekt oder Objekt gemacht wird" (1898: 130, 132). In der deutschen Grammatikographie der Gegenwart ist die syntaktische Klassifikation der subordinierten Sätze in Subjekt-, Objekt-, Adverbial-, Attribut- und Prädikativsätze üblich (so etwa Erben 1958; 71964: 250-251; Schmidt 1965: 304), wenn nicht, wie bei Sitta (1984: 668), eine Mischung aus Satzglied und Kasusbezeichnung gewählt wird (Subjekt, Gleichsetzungsnominativ, Akkusativobjekt, adverbiale Bestimmung usw.). Unter dem Einfluß der generativen Transformationsgrammatik, die Prädikativsätze als Transforme von Subjektsätzen beschrieb, verzichten manche Autoren auf die Annahme von Prädikativsätzen (z.B. Heibig 1974: 572-574; Heidolph u.a. 1981: 780; Heibig 1984: 648). Termini wie „Adjektivsatz" oder „Substantivsatz" bezeichnen, sofern sie überhaupt vorkommen (z. B. bei Brinkmann 1962), niemals subordinierte Sätze, sondern Typen von (unabhängigen) Sätzen nach der Form ihres Prädikats.
„Clausula substantive aquella que, em sua relacäo com o resto da sentenpa, equivale a um substantive." (S.203) [Substantivsatz ist jener, der in seiner Beziehung zum übrigen Satz einem Substantiv gleichwertig ist.] „Clausula adjectrvo aquella que em sua relacäo com o resto da sentenca equivale a um adjective." (S. 204) [Adjektivsatz ist jener, der in seiner Beziehung zum übrigen Satz einem Adjektiv gleichwertig ist.] und „Clausula adverbio aquela que, em sua re!a9äo da senter^a, equivale a um adverbio." (S. 204) [Adverbsatz ist jener, der in seiner Beziehung zum übrigen Satz einem Adverb gleichwertig ist.]
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Auf der wortartbasierten Inbezugsetzung von Substantiven, Adjektiven und Adverbien einerseits und anderen sprachlichen Einheiten, darunter auch subordinierten Sätzen, andererseits basiert beispielsweise auch das von Charles Bally (1944) eingeführte Verfahren der „transposition", das in Tesnieres Abhängigkeitsgrammatik unter der Bezeichnung „translation" eine umfassende Ausarbeitung erfahren hat und im spanischen Funktionalismus von Alarcos Llorach als „transposicion" in ähnlicher Weise als Grundprinzip der Beschreibung komplexer Äußerungen verwendet wird. Die Leistung dieses Konzepts für das Dependenzmodell ist dem der Transformationen in der generativen Transformationsgrammatik vergleichbar, mit dem Unterschied, daß es mit Wortklassen und nicht auf syntaktischen Funktionen operiert. Diese Verabsolutierung des Prinzips ist in Brasilien nie eingetreten. Vielmehr werden wortartbasierte und satzgliedbasierte Klassifikation nebeneinander gehandhabt, was unliebsame Überschneidungen, etwa im Bereich der Adverbialsätze, einschließt.9 Bei einigen Autoren trat allerdings im Laufe der Zeit die wortartbasierte Klassifikation allmählich hinter die satzgliedbasierte zurück.
5 Die Entwicklung der syntaktischen und semantischen Subklassifikation subordinierter Sätze Für die „cläusulas adjectivos" (Adjektivsätze) war mit der von Soares Barbosa für die „incidentes" eingeführten Differenzierung in restriktive („restritivas") und explikative („explicativas") und mit Julio Ribeiros Verweis auf ihre attributive Funktion und den relativischen Anschluß alles für unser Thema Wesentliche gesagt, so daß auf ihre Beschreibung im weiteren nicht mehr eingegangen zu werden braucht. Den „cläusulas substantives" (Substantivsätzen) hatte Julio Ribeiro (1881) verschiedene syntaktische Funktionen und den „cläusulas adverbios" (Ad-
Auf dieses Problem hat in der spanischen Grammatikographie wohl zuerst Gili y Gaya hingewiesen: „Subordination sustantiva: 224. IV. Oraciones complementarias circunstanciales. [...] En cuanto denotan circunstancias del verbo principal, el sentido de estas oraciones [sustantivas] se acerca al de las subordinadas adverbiales hasta el punto de hacer a veces dificil la separation rigurosa entre unas y otras. En la präctica puede adoptarse el criterio formalista de llamar completarias substantivas a las que se enlacen con el verbo principal como tormino de una preposicion (se habla de que) [...] En cambio las modificaciones que expresan las adverbiales no son torminos de preposition (ya que, porque)." (S. 205) [Substantivische Subordination: 224. IV. Umstandsergänzungssätze. [...] Insofern als sie Umstände des Hauptverbs bezeichnen, nähert sich der Sinn dieser [Substantiv-JSätze dem der Adverbialsätze so weit an, daß manchmal eine strenge Scheidung zwischen beiden schwierig ist. In der Praxis kann man das formale Kriterium benutzen, diejenigen, die mit dem Hauptverb als Term einer Präposition verbunden sind (se habla de que ,man spricht davon, daß'), als substantivische Ergänzungssätze zu bezeichnen [...] Demgegenüber sind die Modifikationen, die von den Adverbialsätzen bezeichnet werden, nicht Term einer Präposition (ya que 'da ja', porque 'weil').]
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verbsätzen) verschiedene semantische Funktionen zugewiesen, die von den nachfolgenden Grammatikern weiter differenziert wurden.
5. / Syntaktische Funktionen der Substantivsätze Für die „cläusulas substantivas" verzeichnet Ribeiro (1881) die Funktionen Subjekt, Prädikativ („predicado"), (direktes) Objekt („objeto"), präpositionales Objekt („complemento de uma preposi9§o", eigentlich Objekt einer Präposition) und Attribut („adjuncto atributivo"). Pereira (1907) führte die z.T. bis heute üblichen Bezeichnungen „cläusula" bzw. „ora9äo substantiva subjetiva" (Substantivsatz als Subjekt), „oracäo substantiva predicativa" (Substantivsatz als Prädikativ), „ora9äo substantiva objetiva" (Substantivsatz als Objekt) und „ora9äo substantiva atributiva" (Substantivsatz als Attribut) ein. Prepositional eingeleitete Sätze nannte er „substantivas terminativas" (Substantivsatz als Term einer Präposition), verstand darunter aber, wie die Beispiele zeigen, sowohl verbabhängige (depende de que 'hängt davon ab, daß') als auch adjektivabhängige ([estar] inclinado a que 'dazu geneigt [sein], daß') und substantivabhängige (ofato de que 'die Tatsache, daß'). Hier bestand noch Klärungsbedarf. Ali interpretierte „terminativo" als „dativisch" und führte als Funktionsbezeichnung für präpositional eingeleitete nichtdativische Sätze die Bezeichnung „complemento preposicionado" (71966: 135) ein. Die NGB (1959), die nicht mehr zwischen dativischem indirektem Objekt und nichtdativischem präpositionalem Objekt unterscheidet, bezeichnet die verbabhängigen präpositionalen Objektsätze als „substantivas indiretas" (Substantivsätze des indirekten Objekts) und führt für die Substantiv- und adjektivabhängigen die Bezeichnung „substantivas completivas nominais" (Substantivsätze als Ergänzung zu Nomina) ein. Auch dieser Entscheidung liegt das problematische Wortklassenkonzept zugrunde. Geht man von einem differenzierten syntaktischen Prädikatsbegriff aus, der ein verbales Prädikat („predicado verbal": duvidar '(be)zweifeln'), ein nominales Prädikat („predicado nominal": ser duvidoso 'zweifelhaft sein'), ein verbo-nominales Prädikat („predicado verbonominal": achar duvidoso 'zweifelhaft finden') und ein Funktionsverbprädikat (estar na duvida 'im Zweifel sein', ter duvidas 'Zweifel hegen') unterscheidet, dann gehören ein prädikatives Adjektiv (duvidoso) und manches Substantiv (duvida) zum Prädikat. Der angeschlossene Satz ist in jedem Fall ein präpositionaler Objektsatz. Dieser ist aber vorn konjunktionalen Attributsatz, der eigentlichen „completiva nominal" (a afirmaqäo de que 'die Behauptung, daß'), zu trennen. Und genau dieser Unterschied wird durch die einseitige Wortartbasiertheit verwischt. Außerdem führt die NGB die appositiven Substantivsätze („substantivas apositivas": peqo-te um favor: que me guardes estas cartas 'ich bitte dich um einen Gefallen: daß du mir diese Briefe aufbewahrst') ein (Kury 9 1964: 106). Alle folgenden Grammatiker übernehmen diese Einteilung der NGB, nur Chaves de Melo und Rocha Lima halten an ihren eigenen Bezeichnungen des
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verbabhängigen präpositionalen Objekts und des entsprechenden präpositionalen Objektsatzes („completiva do verbo", Kompletivsatz zum Verb) (Melo 1952; 31967: 110) und „completivas relativas"'" (Lima71962: 254-255) fest. Luft (1976; "1991: 57) nimmt noch eine Präzisierung vor, indem er valenzunabhängige Attributsätze („ora9Öes com fun9§o de adjunto adnominal", z. B.: o fato de que 'die Tatsache, daß') von den valenzabhängigen „completivas nominais" (Kompletivsatz zum Nomen) unterscheidet, die Adjektive sowie deadjektivische oder deverbative Substantive ergänzen (favoravel a que 'günstig dafür, daß'; necessidade de que 'Notwendigkeit, daß'; esperde que 'Hoffnung, daß'). Macambira (1970; 61990), Luft (1976; "1991) und Cunha/Cintra (1984) nehmen einen personenbezeichnenden Substantivsatz als Agens des Passivs („substantiva agente da voz passiva") an, der immer von einem Relativsatz ohne Bezugswort (por quem 'von dem, welcher') gebildet wird.
5.2 Semantische Klassifikation der Adverbialsätze Ein erster Versuch der semantischen Klassifikation von Adverbialsätzen stammt von Julio Ribeiro (1881), der ihnen die Funktionen Zeit („tempo") bzw. Reihenfolge („ordern"), Ort („lugar"), Art und Weise („modo") und Zweifel („duvida") zuweist und damit Temporal-, Lokal-, Modal- und Konditionalsätze angesprochen hat. Wesentlich ausführlicher und nahezu schon das gesamte bis heute anerkannte Inventar umfassend ist die Auflistung bei Pereira (1907), der Kausal-, Final-, Konzessiv-, Konsekutiv- und Vergleichssätze hinzufügt. Ephemer bleiben seine korrelativen Adverbialsätze („adverbiais correlativas")11, die spätere Autoren teils zu den Modalsätzen, teils zu den Vergleichssätzen stellen oder den bei Ali (1923) hinzukommenden Proportionalsätzen zuschlagen. Mit Ali hat sich für einige Zeit stillschweigend die Auffassung eingeschlichen, Adverbialsätze müßten Konjunktionalsätze sein, und so werden Lokal- und Modalsätze wegen ihrer im Grunde relativischen Einleitungswörter längere Zeit nicht mehr berücksichtigt. Ali (1923) führt die Proportionalsätze („adverbiais proporcionais": ä medida que 'in dem Maße, wie') ein, die NGB (1959) die Konformativsätze („adverbiais conformativas": conforme 'wie'), Macambira (1970) die quantitativen Adverbialsätze („adverbial quantitativa")12 und Luft (1976) die Adverbialsätze der Gemeinsamkeit („adverbiais de companhia")13, 10
Die Bezeichnung „completiva relative" ist nur in ihrer Bezogenheit auf das präpositionale Objekt, das Rocha Lima „complemento relativo" nennt, zu verstehen. 1 ' Quanta mats se sobe (tanto) maior queda se da. [Je höher man steigt desto tiefer fallt man.] Quäle Maria, talesua cria. [wörtl.: Wie Maria, so ihre Kinder, frei: Wie die Alten, so die Jungen.] - Portau-se tal quäl näo convinha. [Er hat sich (so) benommen, wie es sich nicht gehortej (Pereira "°1958:289) 12 Suportei, quanta me foi posstvel. a tortura da saudade. [Ich ertrug, so sehr es mir möglich war. die Qual der Sehnsucht.] (Macambira 61990: 340) 13 Sai com quantos a convidam. [Sie geht mit allen aus, die sie einladen.] (Luft "1991:63) (Anm.: Im Deutschen ist die Konstruktion nicht ohne Bezugswort wiederzugeben.)
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die einen zweiten Handlungsträger (Koagens) in Form eines Relativsatzes ohne Bezugswort bezeichnen. Macambira und Luft greifen auch die Lokal- und Modalsätze wieder auf. Die vollständigste Auflistung der semantischen Funktionen portugiesischer Adverbialsätze findet sich in Bechara (1963; 341992: 229-234). Ein Mangel dieser Klassifikation ist die Uneinheitlichkeit ihrer Kriterien. Da es sich um eine semantische Klassifikation handelt, sollte das Fügewort keine Rolle bei der Klassifikation spielen, so daß Lokal- und Modalsätze durchaus zulässig sind. Eine übergreifende Inadäquatheit der Klassifikation sowohl von Substantivais auch von Adverbialsätzen ist die rein ausdrucksseitige Behandlung der Äußerungen und damit die Vermischung von sachverhaltsbezeichnenden Konjunktionalsätzen und individuenbezeichnenden Relativsätzen ohne Bezugswort (quem, o que, onde, quando, conto usw.), die zu so außergewöhnlichen Typen wie „Adverbialsätzen der Gemeinsamkeit" oder „Substantivsätzen des Handlungsträgers beim Passiv" und zu der langen Diskussion um die Existenz von indirekten Objektsätzen geführt hat.14 Dieses Problem kann jedoch nur durch die getrennte Beschreibung der propositionalsemantischen Inhaltsstruktur und der formalgrammatischen Ausdrucksstruktur und ihre Inbezugsetzung im Rahmen eines Mehrebenenmodells adäquat erfaßt werden, weil dann auf der propositionalsemantischen Ebene Individuenbezeichnungen und Sachverhaltsbeschreibungen gesondert und in Abhängigkeit von den logisch-semantischen Valenzfestlegungen der Prädikatslexeme (Verb, Adjektiv, Substantiv) eingeführt werden. Die Zuordnung der jeweils möglichen formalgrammatischen Ausdruckstrukturen bezieht dann Relativsätze ohne Bezugswort auf Individuenbezeichnungen, Konjunktionalsätze hingegen auf Sachverhaltsbeschreibungen (vgl. Gärtner 1998a: 233, 266, 337-338).
6 Die Ablösung der wortartbasierten Klassifikation durch eine satzgliedbasierte Erste Anzeichen des Übergangs von der wortartbasierten Klassifikation zu einer satzgliedbasierten lassen sich bereits in Ali (1923) ausmachen. Ali faßt die subordinierten Sätze als „Entfaltung des Subjekts, der Ergänzung oder der attri14
Seit Said Ali (1923), der den Substantivsätzen die gleichen Objektfunktionen wie den Substantiven zuweist (direktes, (dativisches) indirektes und präpositionales Objekt), werden in der brasilianischen Grammatikographie indirekte Objektsätze angenommen und durch Relativsätze ohne Bezugswort (Conferir-se- opremio a quem o merecer. [Man wird den Preis demjenigen verleihen, der ihn verdient.]) exemplifiziert. Rocha Lima (71962: 254) hat Zweifel an der Existenz indirekter Objektsatze geäußert, wohl hauptsächlich wegen des Widerspruchs zwischen der Definition des indirekten Objekts als Benefizient der Verbalhandlung und somit Personenbezeichnung und der Charakterisierung der Kompletivsätze als Sachverhaltsbeschreibungen. Für das Spanische hat allerdings Alarcos Llorach (1994: 328) mit Hilfe des Substitutionstests durch Personalpronomen die Existenz von verb- und funktionsverbgefügeabhängigen (dativischen) indirekten Objektsätzen nachgewiesen.
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butiven und adverbialen Determinanten in neuen Sätzen" („desdobramento do sujeito, do complemento ou dos determinantes atributivos ou adverbiais em novas ora9öes", S. 130) auf und geht damit erstmals von ihrer syntaktischen Funktion aus. Noch deutlicher wird dieser satzgliedbasierte Ansatz bei Chaves de Melo (1954; 31967), der formuliert: „Das Subjekt, die Verbalergänzung, die Nominalergänzung, das Attribut oder die adverbiale Angabe können auch durch einen Satz ausgedrückt werden, durch einen grammatischen Satz, das heißt einen formalen Satz, der in Wirklichkeit Teil eines anderen ist und keine Autonomie besitzt. Damit haben wir die Gestalt des untergeordneten Satzes."15 Er fährt wie folgt fort: „Der subordinierte Satz erhält seinen Namen entsprechend der Funktion, die er in dem anderen, von dem er abhängt, erfüllt: Wenn er als Subjekt fungiert, Subjektsatz; wenn er als Objekt fungiert, Objektsatz; wenn er als Nominalergänzung fungiert, nomenbezogener Kompletivsatz [meint: konjunktionaler Attributivsatz - E. G.] usw."16 Erst danach, gleichsam um der Tradition Genüge zu tun, fügt er hinzu: „Die subordinierten Sätze werden nach ihrer Art in Substantiv-, Adjektiv- und Adverbialsätze eingeteilt."17 und nimmt die entsprechenden Zuordnungen vor.18 In seiner „Gramätica fundamental" (1967; 31978) geht Chaves de Melo noch einen kleinen Schritt weiter und verbannt die wortartbasierte Klassifikation in eine Anmerkung.19 Während er auf die Bezeichnung „substantivas" völlig ver-
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„O sujeito, o complemento verbal, o complemento nominal, o adjunto adnominal ou o adverbial podem ser expresses tarnbom por uma ora9äo - uma oracäo gramatical, quer dizer, oracäo formal, que na realidade e" parte de outra, näo possui autonomia. AI temos a figura da oracäo subordinada"(31967: 106;31978: 149) „A orafäo subordinada recebe o nome de acordo com o papel que desempenha na outra da quäl dependente: se serve de sujeito, subjetiva; se serve de objeto, objettva; se serve de complemento nominal completiva-nominal, etc." (31967: 107; 31978: 149) „As oracöes subordinadas, quanta ä sua natureza. classificam-se em substantivas, adjettvas e adverbiais" (31967: 107) „Orafäo subordinada substantiva i a que exerce umafiincäosintätica integrante, normalmente desempenhada por substantive: sujeito, complemento verbal, complemento nominal." [Substantivsatz ist derjenige, der eine kompletive syntaktische Funktion ausübt, die normalerweise von einem Substantiv erfüllt wird: Subjekt, Verbalergänzung, Nominalergänzung} (31967:109) „Ora9äo subordinada adjetiva i a que exerce uma das fun9öes sintaticas proprias do adjetivo, a fun9äo de adjunto adnominal." [Adjektivsatz ist derjenige, der eine der dem Adjektiv eigenen syntaktischen Funktionen, die des adnominalen Adjunkts [= Attributs] erfüllt.] (31967: 110) „Ora9äo subordinada adverbial a que exerce fun9äo sintätica propria de advorbio, isto , de adjunto adverbial." [Adverbialsatz istjener, der eine dem Adverb eigene syntaktische Funktion, d. h. die der Adverbialbestimmung, erfüllt.] (31967: 111) „ [...] quanta ä natureza, äs ora9öes subordinadas subjetivas, objetivas, e, em geral, as completivas säo substantivas, e äs atributivas säo adjetivas (restritivas, quando exprimem qualidade acidental do substantive, e explicativas, quando exprimem qualidade essencial." [[...] nach ihrer Art sind die Subjekt-, Objekt- und die Kompletivsätze im allgemeinen Substantivsätze, und die Attributsätze sind Adjektivsätze (restriktive, wenn sie eine zufällige Eigenschaft des Substantivs ausdrücken, und explikative, wenn sie eine wesentliche Eigenschaft ausdrücken).] (Melo 1967; 3 1978: 151)
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ziehtet, behält er die Bezeichnungen „adjetivas" und natürlich „adverbiais" bei.20 Die konsequenteste Umsetzung der satzgliedbasierten Beschreibung findet sich dann bei Macambira (1970; 61990), der die Trennung von einfachen und komplexen Sätzen völlig aufgibt, den Satz als eine „Folge von unterordnenden und untergeordneten Gliedern" („seqüSncia de termos subordinates e subordinados") (31978: 151) definiert, die bestimmte syntaktische Funktionen erfüllen. Für diese einzelnen Funktionen zählt er dann alle formalgrammatischen Ausdrucksmöglichkeiten auf: von der prototypischen Wortart Substantiv, Adjektiv oder Adverb über die Nominalformen des Verbs und die von ihnen konstituierten Konstruktionen bis hin zu Konjunktionalsätzen und Relativsätzen ohne Bezugswort. In Macambiras Darstellung der portugiesischen Syntax ist deutlich der Einfluß des nordamerikanischen Strukturalismus sowie des Standardmodells der generativen Transformationsgrammatik zu erkennen. Da seine Darstellung der portugiesischen Syntax, von den Satzgliedfunktionen ausgehend, deren formalgrammatische Besetzungen auflistet, kann sie mit Recht als funktional bezeichnet werden. Daß es sich dabei um einen rein ausdrucksseitig zu verstehenden Funktionsbegriff handelt, liegt auf der Hand.
7 Die Frage der äquivalenten Konstruktionen Die angedeutete Auflistung verschiedener formalgrammatischer Ausdrucksmittel für bestimmte syntaktische Funktionen ist nun allerdings keine Neuerung der jüngeren brasilianischen Grammatikographie. Bereits Carneiro Ribeiro (1890) bezog Infinitiv-, Gerundial- und Partizipialkonstruktionen in die Beschreibung des komplexen Satzes („proposi9äo complexa") ein und stellte sie den Sätzen mit finitem Verb absolut gleich, indem er von „mit den Präsenspartizipien [meint allerdings Gerundien - E. G.] gebildeten" („ora9öes constituidas pelos participios do presente", S. 534), von „mit dem Infinitiv gebildeten Sätzen" („senten9as formadas pelo infinitive", S. 536) usw. spricht und diese der gleichen Einteilung in subordinierte Sätze erster bzw. zweiter Ordnung („subordinadas de primeira" bzw. „de segunda ordern") unterwirft wie die mit finitem Verb. Pereira (1907; 1101958: 284) berücksichtigt die Äquivalenz verschiedener formalgrammatischer Mittel durch seine Klassifikation der subordinierten Sätze nach dem Fügewort in „conjuncionais" (konjunktionale), „relativas" (relativische), „infinitivas" (infinitivische) und „participiais" (mit Perfektpartizip oder Gerundium gebildete), eine entsprechende Exemplifizierung und die erstmalige Erwähnung der Möglichkeit der „Reduktion des subordinierten Satzes" zu einer 20
Melo (1967; 31978: 150-151) nimmt an: „subordinada subjetiva" [Subjektsatz], „objetivadireta" [direkter Objektsatz], „completive do verbo" (meint: präpositionaler Objektsatz], „adjetiva" [Adjektivsatz], „completiva-nominal" [meint: konjunktionaler Attributsatz], „adverbial temporal" [Temporalsatz], „adverbial final" [Finalsatz], „adverbial condicional ou hipotetica" [Konditionalsatz], „adverbial concessiva" [Konzessivsatz], „adverbial causal" [Kausalsatz].
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Infinitivkonstruktion (Pereira 1101958: 295). Auch Ali spricht noch vage von impliziten Sätzen („ora9Öes implicitas")21 und bezeichnet die Konstruktion ao + Infinitiv als Äquivalent eines expliziten Temporalsatzes („equivalente de ora9äo temporal explicita"; 1923; 71966: 178). Wohl erst in der NGB wird der bis heute gebräuchliche Terminus „ora9öes reduzidas" („de infinitive", „de gerundio", „de participio") (reduzierte Sätze mit Infinitiv, Gerundium, Partizip) eingeführt. Damit sind nun allerdings nur Reduktionen bzw. Äquivalente von Sätzen mit verbalem Prädikat (quando cheguei = ao chegar, chegando, chegado 'als ich ankam = beim Ankommen, ankommend, angekommen') erfaßt. Es gibt aber bekanntlich auch Reduktionsmöglichkeiten von Sätzen mit nominalem Prädikat, die, ebenfalls durch Pausen (in der Schrift durch Kommata) vom Hauptsatz getrennt, vor allem adverbiale Relationen implizieren können (Apesar de velho, ainda trabalhava. Obwohl alt, arbeitete er noch.'; Velho, ainda trabalhava. 'Alt, arbeitete er noch.'). Solche Konstruktionen sind bisher kaum in Gebrauchsgrammatiken erfaßt worden,22 folglich steht auch kein Begriffsapparat für ihre Beschreibung zur Verfügung. Auch ihre systematische Erfassung ist in einem Mehrebenenmodell, das die Inhalts- und die Ausdrucksseite sprachlicher Äußerungen getrennt beschreibt und danach aufeinander bezieht, nicht nur besser möglich, sondern geradezu zwingend (vgl. Gärtner 1998a: 549-558).
8 Zusammenfassung Abschließend ist zu konstatieren, daß die brasilianische Grammatikographie in einem zwar nicht geradlinig verlaufenen, aber dennoch ständig fortschreitenden Prozeß der Erkenntnis und Präzisierung eine Vielzahl von Details über die Struktur komplexer Äußerungen zusammengetragen und systematisiert hat. Vieles kann als gesichert gelten, anderes bedarf der weiteren Untersuchung. Im Ergebnis dieses bereits ein reichliches Jahrhundert währenden Erkenntnisprozesses ist bisher trotz entsprechender Reglementierungsversuche kein einheitliches Resultat zustande gekommen. Ob und in welchem Grade dies den empirischen Sprachdaten geschuldet und in der Natur der (portugiesischen) Sprache begründet ist oder aber neue theoretische Ansätze die Transparenz der Daten befördern können, wird die weitere linguistische Forschung erweisen. Einen Fortschritt dürfte sicher die systematische Einbeziehung der Inhaltsseite sprach21
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„Esse emprego do infinitive permite o construirem-se com ele oracöes implicitas desdobräveis em oracöes precedidas da conjiui9äo que: [...] Afirmou estar doente [= que estava doente]." [Dieser Gebrauch des Infinitivs erlaubt die Bildung von impliziten Sätzen, die sich zu Sätzen mit der Konjunktion que entfalten können: [...] Er behauptete, krank zu sein [= daß er krank sei].](Ali71966:173) Eine Ausnahme bildet wiederum Chaves de Melo, der solche Reduktionen unter der Bezeichnung „predicative adjunto" (adjungiertes Prädikativ) bzw. „aposto circunstancial" (Umstandsapposition) in die Grammatik aufnimmt und kommentiert: ,„FeIizes, äs mocas cantavam.' Pertence ao predicado, e tem uma conota9äo adverbial." [,Glücklich, sangen die Mädchen..' Gehört zum Prädikat und hat eine adverbiale Konnotation.] (1952; 31967:82)
Zur Beschreibung komplexer Sätze in brasilianischen Gebrauchsgrammatiken
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lieber Äußerungen als selbständige Repräsentationsebene in die grammatische Beschreibung, etwa im Rahmen eines modular-integrativen Mehrebenenkonzepts, bringen, wie sie u. a. in der germanistischen Sprachwissenschaft (Flämig 1972; Heidolph u. a. 1974; Heibig 1983; Wotjak 1983) oder in der „Functional Grammar" von Simon Dik (1978) mit Anwendung auf das Portugiesische u.a. in Peres (1984) sowie in jüngeren Versionen der generativen Grammatik, mit Anwendung auf das Portugiesische in Mateus et al. (1983; 31989) angestrebt worden ist.
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Lutz Götze
Eine funktionale Grammatik für Deutsch als Fremdsprache „Die Grammatik, selbst die trockene Grammatik, wird eine Art beschwörender Zauberkunst; die Worte erstehen von den Toten mit Fleisch und Bein bekleidet, das Substantiv in seiner substantiellen Majestät, das Adjektiv, ein durchscheinendes Gewand, das die Dinge wie eine Glasur umhüllt und färbt, und das Verbum, der Engel der Bewegung, der den Satz vorantreibt." (Charles Baudelaire: Poeme du Haschisch)
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Zum Funktionsbegriff
Der Begriff der Funktion ist in der Wissenschaft, zumal der Sprachwissenschaft, problematisch, ja umstritten. Das darf freilich nicht verwundern, wird doch auch bis heute heftig diskutiert, was Gegenstand, Umfang und Reichweite einer Grammatik sei. Zunehmend setzt sich die Überzeugung durch, dass sie nicht an der Satzgrenze ihr Ende finde, also lediglich Phonologic, Morphologie und Syntax umfasse, sondern auch transphrastische Elemente beschreiben müsse, vor allem also Texte gesprochener und geschriebener Sprache. Sinnvollerweise sollte daher eine Grammatik für Lernende des Mutter- wie Fremdsprachenunterrichts beim Text beginnen und von dort - gewissermaßen in einer Anti-Klimax - zum Satz, zum Wort, zum Morphem und zum Phonem „absteigen". Der Funktionsbegriff also ist umstritten. In der von Henne und Objartel besorgten Neuauflage des „Deutschen Wörterbuches" von Paul (1992: 301) heißt es auszugsweise, Funktion im philosophischen Sinne sei nach Kant „die Einheit der Handlung, verschiedene Vorstellungen unter einer gemeinschaftlichen zu ordnen", nach Bühler seien Aufgabe und Leistung sprachlicher Zeichen „die semantischen Funktionen des (komplexen) Sprachzeichens [...] Symbol [...] Symptom [...] Signal" wiederzugeben, also die Darstellungsfunktion, die Ausdrucksfunktion und die Appellfunktion. In Parenthese: Popper (1994: 75) merkt an, Bühler sei der Meinung gewesen, dass die Darstellungsfunktion die dem Menschen und nur ihm eigene Funktion der menschlichen Sprache sei; Ausdrucks- und Appellfunktion hingegen seien allen Lebewesen gegeben. Weiter erwähnt das „Deutsche Wörterbuch" Kiesels funktionalen Stil der deutschen Gegenwartssprache, und Wunderlichs Definition von kommunikativer Funktion lautet: „Je nach Kontextbedingungen kann die Äußerung eines bestimmten Satzes die verschiedensten kommunikativen Funktionen haben." Man vergleiche das wiederum mit Paul (1992: 301). Interessant ist auch der Verweis im Wörterbuch auf Thomas Manns „Der Zauberberg", wo es naturgemäß um Krankheiten geht, und zwar hier um solche der Lunge; deren Funktion bzw. Aufgabe sei, abstrakter gefasst, das „Bewußtsein seiner selbst [...] also schlechthin eine Funktion der zum Leben geordneten Materie". Der „Zauberer" hat gesprochen!
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Lutz Götze
Steuer unterscheidet in seinem Buch „Schrift und Sprache" (1997: 91) ein Reden gemäß und ein Reden nach Regeln (Knowing-how und Knowingthat, neurowissenschaftlich ausgedrückt: prozedurales und deklaratives Wissen) und betont, dass das Reden gemäß Regeln das Vermögen impliziere, „ad hoc zu beurteilen, ob ein Ausdruck in eine bestimmte Situation, in einen bestimmten Handlungszusammenhang 'paßt'. Nach Kant ist dies eine Funktion der Urteilskraft. Die grammatische Kompetenz ist eingebettet in die kommunikative. Was das Knowing-how des Redens ausmacht, ist die Fähigkeit, eine gemäß Regeln oder wie auch immer erzeugte sprachliche Form auf die Gelingensbedingungen des betreffenden Handlungszusammenhangs zu projizieren. Dieses Knowing-how lässt sich also als Vermögen der Abbildung von sprachlichen Ausdrücken auf Situationen fassen. [...] In diesem extensionalen, nicht im herkömmlichen Sinne der 'funktionalen' Deutung von Konstituenten, wo ja pragmatische Funktionen auf Konstituententypen abgebildet werden, spreche ich im folgenden von einer funktionalen Grammatik." Mit dieser Betonung des formalen Charakters der Sprache - ,,[d]ie Unterscheidung von Formen ist die einzige Möglichkeit, Bedeutungen zu unterscheiden" (Steuer 1997: 97) - verirrt sich Stetter nicht nur wie de Saussure in eine strenge Dichotomie von Form und Inhalt, die es in der Kommunikation nicht gibt, sondern bezieht eine extreme Gegenposition zu Wittgenstein, der bekanntlich feststellte: „Man kann für eine große Klasse von Fällen der Benützung des Wortes 'Bedeutung' - wenn auch nicht für alle Fälle seiner Benützung - dieses Wort so erklären: Die Bedeutung des Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache." (Wittgenstein 1971: 41) Erstaunlich ist deshalb, dass sich Stetter (1997: 97f.) bei seiner Argumentation ausdrücklich auf Wittgenstein beruft, mit dem er sich in Übereinstimmung wähnt. Wittgenstein freilich hatte gerade das Gegenteil dessen behauptet, was Stetter will: ein eklatantes Missverständnis! Heibig (1999) weist auf die Unscharfe und Mehrdeutigkeit des Funktionsbegriffs in der Sprachwissenschaft hin und unterscheidet vier Bereiche: -
syntaktische Funktion (Satzglieder, Endstellung des Finitums im eingeleiteten Nebensatz); - semantische Funktion a) innersprachlich (Bedeutung eines Wortes), b) außersprachlich (Denotation); - kommunikative Funktion (Thema - Rhema, Referenz im Text); - logische Funktion (Darstellung von Äußerungen in Sätzen). Dies scheint eine für eine funktionale Grammatik für Lernende sinnvolle Differenzierung zu sein, doch beweist die Sprachwirklichkeit, dass sich die einzelnen Bereiche häufig nicht exakt voneinander trennen lassen und daher Mischformen entstehen. Aufbauend auf Bühler haben Jakobson (1969) und Hymes (1979) sieben Funktionen natürlicher Sprachen definiert: -
expressive,Funktion: direktive/appellative Funktion:
Ich hasse dich! Mach das so wie ich!
Eine funktionale Grammatik für Deutsch als Fremdsprache
- poetische Funktion: - Kontaktfunktion: - referentielle Funktion: - kontextuelle Funktion: - metasprachliche Funktion:
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Wo aber Gefahr ist, ist das Rettende nah. Kannst du mich hören? Da liegt ein Apfel. Die Bemerkung pass t hier nicht. Setzen Sie ins Passiv!
Der Oberbegriff für alle Funktionen wäre „Kommunikation". Problematisch an dieser Liste sind ihre Offenheit sowie die Tatsache, dass hier die metasprachliche Funktion auf einer Ebene mit der expressiven, appellativen oder referentiellen Funktion naturlicher Sprachen angesiedelt ist. Dennoch sind in diesem Schema die wesentlichen Funktionen natürlicher Sprachen enthalten.
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Funktionale Grammatik
Für unser Verständnis einer funktionalen Grammatik für Lernende des Deutschen als Fremdsprache ist die entscheidende Frage, welche Funktion in der Kommunikation eine bestimmte Struktur bzw. eine Form X hat. Oder anders ausgedrückt: Welche Zielsetzungen/Intentionen des Sprechers/Schreibers werden mit welchen sprachlichen Mitteln verwirklicht? Nicht die sprachliche Struktur, die Ausdrucksseite des sprachlichen Zeichens also, steht im Mittelpunkt, sondern das Ziel bzw. der Zweck der kommunikativen Handlung, also der Äußerung. Dabei wird „Funktion" nicht in einem eher engen pragmatischen Sinn verstanden, als Erfüllung der rein denotativen/instrumentellen Funktion der Sprache, sondern im weiten Verständnis, wie es Jakobson/Hymes beschrieben haben. Bei unserem Ansatz wird der kommunikative Ansatz nicht zulasten der korrekten sprachlichen Form überbewertet, denn eine funktionale Orientierung schließt grammatisches Wissen nicht aus, sondern ein. Genauer: Sie setzt dieses Wissen voraus. Aus der Vielzahl sprachlicher Mittel und Möglichkeiten kann schließlich nur jener Sprecher/Schreiber bewusst die für seine Zielsetzung geeigneten auswählen, der diese auch kennt und beherrscht. Der häufig immer wieder behauptete Widerspruch zwischen Grammatik und Kommunikation ist in Wahrheit eine Scheinalternative. Ein zweiter wichtiger Aspekt ist die strenge Unterscheidung von Sätzen als einer Kategorie der Syntax und Ä u ß e r u n g e n , also sprachlichen Handlungen, als Teil der Pragmatik. Eine l:l-Entsprechung gibt es nicht. Äußerungen werden in höchst unterschiedlicher Art formuliert; z. B. erscheinen Aufforderungen auf der sprachlichen Seite als Imperative (Komm!), Infinitive (Garten nicht betreten!), Partizipialformen (Stillgestanden!), cfass-Sätze (Dass du ja nicht erst um Mitternacht nach Haus kommst!) usw. Von daher muss die traditionelle Gliederung der Satzarten Aussagesatz, Fragesatz, Aufforderungssatz und Wunschsatz überdacht werden: Ein Aufforderungssatz als Terminus ist ein Widerspruch in sich.
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Lutz Götze
Dieser funktionale Denkansatz steht in deutlichem Widerspruch zu traditionellen oder auch, wie Stetter beweist, modernen Grammatikdarstellungen. Im Regelfall beschreiben (oder bewerten) diese sprachliche Elemente der Ausdrucksseite des sprachlichen Zeichens auf der phonologischen, morphologischen und syntaktischen Ebene, manchmal auch auf der des Textes: Vokale, Konsonanten, Wortarten, Satzarten, Satzgliedstellung, Konnektoren, Parataxen und Hypotaxen. Ihrer formalen Beschreibung wird gelegentlich eine Gebrauchsbestimmung im Sinne Wittgensteins angefügt, etwa so: Mit dem Präteritum wird in der geschriebenen Sprache, vor allem in der schönen Literatur, Vergangenes ausgedrückt - man denke an Thomas Manns Wort über den Erzähler als den „raunenden Beschwörer des Imperfekts" -, während in der gesprochenen Sprache an dieser Stelle das Perfekt dominiert! Häufig freilich bleibt es bei der Beschreibung der Form des sprachlichen Mittels, der allenfalls eine Bedeutung beigegeben wird, als handele es sich um ein l: l-Verhältnis von Form und Funktion: Konjunktiv I = Konjunktiv Präsens / der Gegenwart. Oder: Die sechs/fünf Zeitformen (Tempora) im Deutschen - Präsens, Präteritum, Perfekt, Plusquamperfekt, Futur I, (Futur II) - werden mit den drei Zeitstufen Vergangenheit Gegenwart - Zukunft gleichgesetzt. Im muttersprachlichen wie auch fremdsprachlichen Deutschunterricht wird häufig ebenso verfahren und auch zahlreiche Lehrwerke folgen diesem Schema.
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Einschränkungen
Wenn wir im Folgenden entschieden für einen funktionalen Ansatz in einer Grammatik für Lernende des Deutschen als Fremdsprache plädieren, so sind zwei Einschränkungen von Anfang an unabdingbar. Zum einen unterscheiden wir innerhalb der Grammatik zwischen Sprachsystem und Sprachgebrauch: Das Sprachsystem umfasst alle jene geschlossenen Teile der Grammatik wie die Flexion von Verben, Substantiven und Adjektiven, die Rektion der Präpositionen und einige andere Bereiche, die seit Jahrzehnten nahezu unverändert sind. Hier wird man sich schwer tun funktionale Elemente oder Aspekte festzustellen oder zu beschreiben. Der weitaus überwiegende Teil der Grammatik der deutschen Sprache aber gehört zum Sprachgebrauch: Äußerungen, Sprechakte, Aspekte der Temporalität, Kausalität und Modalität, weiterhin die inner- und außersprachlichen Verweissysteme (Referenz und Deixis), Textsortengliederungen und vieles mehr. Hier sind funktionale Beschreibungen für eine Grammatik für Lernende unverzichtbar. Zum anderen ist der Unterschied zwischen einer Grammatik für Lernende im m u t t e r s p r a c h l i c h e n Deutschunterricht und im f r e m d s p r a c h l i c h e n Deutschunterricht wichtig: Im Muttersprachunterricht darf man auf der Fortgeschrittenenstufe davon ausgehen, dass die Schüler die Formalgrammatik beherrschen, also bei der Flexion, Rektion und Valenz, bei der Satzgliedstellung oder
Eine funktionale Grammatik für Deutsch als Fremdsprache
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bei Deklination und Komparation der Adjektive keine Fehler machen. Angemerkt sei freilich, dass diese Gewissheit häufig durch die schulische Realität Lügen gestraft wird und selbst in einem Grammatikseminar an einer deutschen Universität die einfachsten grammatischen Regeln nicht beherrscht werden. Im Unterricht Deutsch als Fremdsprache liegen die Dinge freilich anders: Die Lernenden müssen die grammatischen Formen kennen und korrekt bilden, bevor sie in einer Äußerung aus den gegebenen Möglichkeiten die ihnen am zweckmäßigsten erscheinende auswählen und sich somit kommunikativfunktional der Situation adäquat verhalten. Doch sollte diese Einschränkung nicht dazu verführen, im Unterricht - auch aus Gründen des zeitlichen Mangels - lediglich grammatische Formen zu vermitteln und die kommunikativ-funktionale Adäquatheit auf den Sankt-Nimmerleins-Tag oder auf die reale Kommunikation nach dem Unterricht zu verschieben. Vielmehr sollte die Regel gelten, dass Form und Funktion sprachlicher Mittel stets als Ganzes zu betrachten und zu lehren sind.
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Grammatik für Lernende
Grammatik ist stets Mittel, nicht Zweck oder Ziel des Fremdsprachenunterrichts; sie hat eine „dienende Funktion", nämlich Kommunikation im erwähnten Sinne zu ermöglichen oder zu verbessern. Was nun ist eine Lern- bzw. eine Lernergrammatik? Eine „Lemergrammatik" ist zunächst nichts als eine sprachliche Entgleisung auf Grund einer wörtlichen Entlehnung/Lehnübersetzung aus dem Englischen. Sprachlich besser gelungen und nur unwesentlich länger wäre eine „Grammatik für Lernende" als Teil einer didaktischen Grammatik. Sie soll mehreren Bedingungen genügen: -
-
-
-
Sie soll Sequenzen des ungesteuerten Erwerbs der Fremd-/Zweitsprache berücksichtigen, wo solche erkennbar oder festgestellt sind. Sie soll aus der Gesamtheit der Beschreibung der Gegenwartssprache - die eine linguistische Grammatik bietet-jenen grammatischen Stoff auswählen, der hochfrequent, schwierig und vielseitig verwendbar ist, und diesen in eine didaktische Progression gliedern (Götze 1993: 4—9). Sie soll konkret und anschaulich in der Darstellung und dem sprachlichen Niveau der Lernenden angemessen sein. Im Zweifelsfall gilt: Anschaulichkeit vor Präzision, denn auch die exakteste Darstellung nützt nichts, wenn der Lernende sie nicht versteht. Eine didaktische Grammatik für Lernende ist kein linguistisches Oberseminar. Sie soll lernpsychologische Kategorien wie Verstehbarkeit, Behaltbarkeit und Anwendbarkeit der grammatischen und pragmatischen Regeln berücksichtigen. Sie soll die Ausgangssprache bei der Beschreibung und Erklärung des Deutschen einbeziehen und auf mögliche Interferenzen hinweisen.
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Lutz Götze Sie soll Funktionen von Äußerungen in den Mittelpunkt rücken und ihnen die geeigneten sprachlichen Mittel (Sätze und Wörter) zuordnen. Dabei ist der Text der geeignete Ausgangspunkt, nicht Laut, Wortart und Satzglied.
Einzelfälle einer funktionalen Grammatik
Eine solche funktionale Grammatik für Schülerinnen und Schüler der fünften bis dreizehnten Klasse schreibe ich derzeit zusammen mit Lehrerinnen und Lehrern der Primarstufe, Sekundarstufe I und Sekundarstufe II in Deutschland. Sie beginnt bei Texten gesprochener und geschriebener Sprache, analysiert sprachliche Mittel im Hinblick auf ihre kommunikative Funktion und gibt den Schülern Empfehlungen, welche sprachlichen Mittel für welche Zielsetzung bzw. Funktion im Äußerungsakt zu verwenden sind. Am Beispiel des Passivs, des Verhältnisses Tempus - Zeit, unterschiedlicher modaler Äußerungen sowie der Satzgliedstellung im Deutschen soll das hier verdeutlicht werden.
5. l Passiv Darstellungen in Grammatiken beschreiben das Passiv (traditionell und falsch „Leideform" genannt, wie schon der Satz Sarah Kirsch wurde mit dem Büchner-Preis ausgezeichnet beweist) als Umkehrung des Aktivs (traditionell und falsch „Tätigkeitsform"): Der Mann schlägt die Frau. —»Die Frau wird (von dem Mann) geschlagen.
Auch die Termini „Vorgangspassiv" wie „Zustandspassiv" sind höchst irreführend. Werden- und sein-Passiv in unserer Terminologie aber sind, funktional betrachtet, keine Umkehrung eines - für Lernende im Übrigen weitaus leichter erlernbaren - aktivischen Geschehens, sondern eine vollkommen andere Sichtweise auf das Geschehen: Nicht das Agens steht im Mittelpunkt, sondern das Geschehen, seien es nun Vorgänge oder Handlungen; eine „agensabgewandte Diathese" hat man es einmal genannt, aber welcher Schüler versteht dergleichen Linguisten-Chinesisch schon! Wichtiger ist dies: Passivische Strukturen treten da gehäuft auf, wo es um Äußerungen geht, deren Handelnder - unbekannt ist: Die Bank wurde überfallen. - unwichtig ist, weil allgemein bekannt: Der Brießcasten wird um 10 Uhr geleert. - nicht genannt wird, weil er bereits vorher im Text erwähnt wurde: Der Kühn hat sein Auto verkauft. - Ach, die alte Karre ist noch verkauft worden? - aus Gründen der Diskretion nicht genannt wird: Ja, das ganze Geld ist verjubelt worden! (von dem Liebhaber der Ehefrau)
Eine funktionale Grammatik für Deutsch als Fremdsprache -
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bewusst nicht genannt wird, weil man nichts (mit dem Verbrechen) zu tun haben oder politische Verbündete schützen will: In Ex-Jugoslawien sind Tausende von Moslems umgebracht worden, (von den Serben, mit denen man weiterhin Geschäfte machen will)
Solche Äußerungsakte prägen Textsorten, in denen Passivstrukturen hochfrequent vorkommen: keineswegs nur die Fachsprachen, Kochbücher und historischen Abhandlungen, wie man weiß, sondern - im Zeitalter der Postmoderne immer häufiger Äußerungen von Politikern, Pressesprechem der Bundesregierung und andere öffentliche Verlautbarungen. Das Passiv ist die „ideale" Struktur der Verharmlosung, des Euphemismus und des Verbergens, der Verhinderung von Wahrheit: Niemand ist verantwortlich oder gar schuldig, also bedarf es einer sprachlichen Struktur, die die Angabe des Handelnden ganz bewusst ausblendet. Funktionale Grammatik ist damit ein Beitrag zur „language awareness": Nachdenken, wie Sprache der Wahrheitsfindung oder aber ihrem Gegenteil dient.
5.2 Tempus — Zeit Zeit und Zeitverhältnisse kann man im Deutschen auf höchst unterschiedliche Weise ausdrücken. Die sprachlichen und nichtsprachlichen Mittel werden freilich in Grammatiken oder im Sprachunterricht selten zusammen gelehrt, sondern erscheinen stets dort, wo die grammatische Form jeweils erklärt und geübt wird. Solche sprachlichen Mittel des Ausdrucks von Zeit und Zeitverhältnissen sind: -
Tempusformen des Verbs: wir kamen, waren; Temporalabverbien oder adverbiale Ausdrücke: gestern, eines Morgens; Adjektive und Partizipien: die frühere Ankunftszeit, kommende Woche, der vergangene Monat; - Präpositionen: während, nach, vor; - Konjunktionen: nachdem, als, bevor; - Verben (durativ, inchoativ, egressiv): dauern, erblühen, verblühen (dazu ausführlich Götze/Hess-Lüttich 1999). Erneut plädieren wir für eine vom Text ausgehende, gemeinsame Behandlung solcher temporalen sprachlichen Mittel im Sinne einer konzentrischen Progression. Inhaltlich Zusammengehörendes bliebe so beieinander und würde nicht, weil formal-strukturell unterschiedlich, zerrissen. Ein funktionales Vorgehen in einer Grammatik für Lernende empfiehlt sich natürlich auch bei den Tempora der Verben selbst. Ein Gesamtbild der Funktionen der Zeitformen im Deutschen und damit des Verhältnisses von Zeit und Tempus vermittelt diese Übersicht (Rug/Tomaszewski 1993: 62):
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Lutz Götze
Grammatik im Kasten. 1. Wie man Zeit ausdrucken kann Zeit kann im Deutschen auf vielfache Weise ausgedrückt werden: durch 1. Tempus-Formen des Verbs Es war einmal... 2. Adverbien oder adverbiale Ausdrücke 3. Adjektive oder P l/P II 4. Nomen
Es war einmal... Eines Morgens sollte Rotkäppchen... die frühere Zeit, die kommende Woche, dts vergangene Jahr die Vergangenheit, die Antike, meine Jugendzeit
5. Konjunktionen
Wenn du mich mal wieder besuchst,...
6. Verben
Nachdem der Wolf die Großmutter... Es dauert noch Wochen, bis...
2. Zeit und Tempus Beziehungen zwischen Zeit und Tempus Die einzelnen Tempusformen (rechte Spalte) sind den drei Zeitvorstellungen (linke Spalte) zugeordnet: Hauptverwendungen Hauptverwendungen, die nicht so häufig vorkommen besondere Verwendungen Zeit
Die Beziehungen zwischen Zeit und Tempus (11 Satztypen)
Tempus
Vergangenheit
(l) Die Nilpferde hatten sich den ganzen Tag gelangu'eät.
Plusquamperfekt
(2) Die Nilpferde langweilten sich. (3) Ein Nilpferd berichtete: „Da kommt so ein dummer Tourist daher und will uns fotografieren." (4) Die Nilpferde haben einen sehr interessanten Nachmittag verbracht.
Präteritum Perfekt
Gegenwart
(5) „Wie war doch noch der Name? - Ach ja. Müller, der Tourist." (6) Der Tourist fotografiert Nilpferde. (7) Touristen sind oft etwas naie.
Präsens
(8) Der Tourist schimpft: ...Morgen erwische ich sie aber!
Zukunft
(9) Er wird sie auch morgen nicht eru'ischen. (10) Der Tourist denkt: „Gleich habe ich sie erwischt.1' (11) Der Tourist denkt: rGleich werde ich sie erwischt, haben.'"
Futur Futur II
Es wäre sinnvoll, in einer Grammatik für Lernende mit den Hauptverwendungen zu beginnen und im weiteren Lernprozess die weniger frequenten Gebrauchsweisen an Texten zu erhellen. Die anderen sprachlichen Mittel für Äußerungen, die Zeitliches repräsentieren, sollten parallel dazu gelehrt werden.
Eine funktionale Grammatik für Deutsch als Fremdsprache
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5.3 Modale Ä ußerungen Sprachliche Handlungen, die den Wahrheitswert einer Äußerung differenzieren - etwa entlang der Schiene ,reaP - ,wahrscheinlich' - .möglich' - ,irreal' -, können in außerordentlich unterschiedlicher sprachlicher Form auftreten. Dazu gehören: -
Modus des Verbs: modale Hilfsverben:
-
Modalitätsverben: Modaladverbien: Modalangaben: Modalwörter: Modalpartikeln: Konjunktionen: Präpositionen:
Indikativ, Konjunktiv, Imperativ; wollen, können, müssen, dürfen, sollen, mögen, brauchen zu; scheinen zu, pflegen zu, drohen zu; gern, irgendwie, so; vor Wut, aus Liebe; bedauerlicherweise, sicherlich, vielleicht; doch, schon, ja, vielleicht; indem, dadurch ... dass; kraft, laut, um, gemäß.
Das ist ein Riesenfeld von Möglichkeiten, die dem Sprecher/Schreiber gegeben sind, um seine Äußerung im kommunikativen Akt so genau wie möglich zu formulieren, Bitten oder Wünsche höflich oder eher abrupt zu äußern oder mithilfe der gewählten sprachlichen Form die Wahrheit zu verschleiern. Im Sprachunterricht tauchen alle diese Wörter und Sätze, einer grammatischen Progression folgend, an höchst unterschiedlicher Stelle auf und machen es dem Lernenden unmöglich, das gesamte Spektrum modaler Ausdrucksmittel zu kennen und daraus - seinen Intentionen entsprechend - bewusst auszuwählen. Wir plädieren auch hier für ein ganzheitliches Vorgehen im Sinne des funktionalen Ansatzes auf der Grundlage der gelernten Verbformen, keineswegs also für ein rein formales Auswendiglernen etwa der Formen des Indikativs, Konjunktivs I und Konjunktivs II nacheinander, wie es mancherorts noch geschieht. Übrigens beginnen hier bereits die schwer wiegenden Fehler einer Grammatik für Lernende, wenn von Konjunktiv Präsens/Gegenwart statt von Konjunktiv I oder von Konjunktiv Präteritum/Vergangenheit statt von Konjunktiv II gesprochen wird, als gäbe es ein zum Tempus-Paradigma des Indikativs der Verben analoges Paradigma im Konjunktiv. Dies unterstellt letztlich, dass die Sätze Sie sagt, er sei krank. - Sie sagt, er wäre krank, etwas mit Zeitunterschieden zu tun hätten. Wir wissen aus der Zweitspracherwerbsforschung, dass Modalität wie Temporalität und Kausalität im ungesteuerten Erwerb zuerst im lexikalischen Bereich (Adverbien, Partikeln usw.) und erst dann in der Verbmorphologie erworben werden: heute, gestern, letzte Woche, später usw. v o r ich lernte, ich bin gegangen. Der Lernprozess sollte entsprechend verlaufen: im Bereich der Modalität zunächst Adverbien, Partikeln, dann Modalverben, erst dann Indikativund Konjunktivformen. Das könnte mit Homonymen beginnen: Kommst du? Kommst du? -
Ja, ich komme. - Das ist ja eine Katastrophe! Vielleicht. - Das ist vielleicht ein Idiot!
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Umstellungen auf dem Satzfeld (Stirnstellung) zeigen dem Lernenden, dass hier Ungleiches mit dem gleichen Wort ausgedrückt wird: Einübung in kognitive Lernverfahren („language awareness"). Wichtig bleibt aber daneben die Vermittlung von Realem und Irrealem, von Wünschen sowie von Geäußertem und Wiedergegebenem (sog. indirekte Rede). Dafür sind Konjunktiv I und Konjunktiv II unverzichtbar. Alle Empfehlungen in Grammatiken für Lernende, der Konjunktiv I sei im Grunde obsolet, weil ihn niemand mehr benutze, sind falsch. In Texten der geschriebenen Sprache brauchen wir den Konjunktiv I unbedingt, um deutlich zu machen, was referiert bzw. direkt gesprochen/geschrieben wird. Der Konjunktiv I tritt in der Mehrzahl der Fälle in der 3. Person Singular auf und ist also formal unterschieden von der Form des Indikativs Präsens. Die „Ersetzungsregel" trifft daher auf die Mehrzahl der Fälle überhaupt nicht zu; wird hier also Konjunktiv I durch Konjunktiv II ersetzt, so ist dies häufig nichts als Sprachschlamperei, Unkenntnis der Formen; oder aber, freilich wohl nur im Ausnahmefall, wird der Konjunktiv II bewusst gewählt, um den Wahrheitswert der Aussage zu bestreiten, wie unser Beispiel zeigt: Sie sagt, dass er krank sei. (Referieren) Sie sagt, dass er krank wäre. (Kommentar, Bestreiten des Wahrheitswerts der Aussage)
Der Konjunktiv II dient vor allem dazu, irreale Sachverhalte oder Bedingungen zu formulieren, weiterhin auch dazu, Wünsche zu formulieren.
5.4 Satzgliedstellung Ein letzter Aspekt der funktionalen Grammatik. Die Satzgliedstellung (traditionell: Wortstellung) ist für viele fremdsprachige Lernende ein Buch mit sieben Siegeln und dient, zu Unrecht, den Befürwortern der Großbuchstabenschreibung im Deutschen und Gegnern der gemäßigten Kleinschreibung als Hauptargument für ihre atavistische Position: Weil, zumal im Mittelfeld des Aussagesatzes, nahezu alles verändert und verschoben werden könne, brauche man die großen Anfangsbuchstaben bei den Nomina appellativa (Gattungsnamen), um folgende Äußerungen zu verstehen: der Gefangene floh / gefangene Floh Da kann man weise Reden / Weise reden hören. Ich habe in Moskau liebe Genossen / Liebe genossen.
Die Beispiele überzeugen nicht, weil Ko- und Kontext stets für Eindeutigkeit der Äußerung sorgen. Unter funktionalem Aspekt sollte man von den drei Hauptstellungstypen als Folge der relativ festen Stellung des finiten Verbs im Satz ausgehen: Kernsatz, Stirnsatz und Spannsatz (vgl. Götze/Hess-Lüttich 1999: 478f.):
91
Eine funktionale Grammatik für Deutsch als Fremdsprache
Der Kemsatz Das Verb steht an der zweiten Stelle; im Falle von mehrgliedrigen Prädikaten steht der infinite Prädikatsteil am Satzende und bildet mit dem finiten Teil die Satzklammer / den Satzrahmen. Satze dieses Typs nennen wir Kern s ätze; in manchen Grammatiken wird auch von G r u n d s t e l l u n g gesprochen. Kemsätze kommen vor als Aussagesätze, Ergänzungsfragesätze, Entscheidungsfragesätze in Aussageform, Ausrufesätze, uneingeleitete Nebensätze. Wir vergleichen: 1 2 3 4 Er fährt Aussagesatz nach München. Sie hat mit ihm telefoniert. (Perfekt) Müller morgen (trennbares Verb) ab. fliegt Du musst die Arbeit erledigen. (modales Verb) (Passiv) wird gebaut. Das Haus nächstes Jahr (Modalitätsverb) Die Brücke droht einzustürzen. Ergänzungsfragesatz Wohin fährst du? Entscheidungsfragesatz Ihr kommt doch mit? Ausrufesatz Lutz hat vielleicht geschnarcht! (Er sagt,) uneingeleiteter Nebensatz sie ist im Krankenhaus.
Anmerkung: Uneingeleitete Nebensätze sind solche, bei denen keine Konjunktion (dass, weil) oder kein Relativelement (der, welcher) steht. In allen Fällen also besetzt das finite Verb die zweite Stelle auf dem Satzfeld. Dies gilt auch für die Inversion, also die Umkehrung der Abfolge: Erfährt nach München. -»Nach München./ö/wr er.
Der Stirnsatz Das Verb steht an der ersten Stelle des Satzes, es hat also die Spitzenstellung/Stirnstellung inne. Sätze dieses Typs nennen wir Stirnsätze; sie kommen vor als Entscheidungsfragesätze, Aufforderungssatze (Imperativ), Ausrufesätze, uneingeleitete Nebensätze und uneingeleitete irreale Wunschsätze. Wir vergleichen: Entscheidungsfragesatz
1
2
3
Kommt
ihr
ins Kino
mit?
Aufforderungssatz
Komm! Hören
Ist
Sie das
endlich eine Hitze!
aufl
Ausrufesatz uneingeleiteter Nebensatz uneingeleiteter irrealer Wunschsatz
Ist
sie
auch intelligent,
so.
Wäre
sie
doch hier!
92
Lutz Götze
Der Spannsatz Das finite Verb steht an der letzten Stelle, also am Satzende. Eine Ausnahme besteht bei der Ausklammerung sowie bei zusammengesetzten Verbformen mit modalen Hilfsverben. Satze des Typs mit dem Verb am Satzende nennen wir Spannsätze; sie kommen vor als konjunktional eingeleitete Nebensätze, eingeleitete irreale Wunschsätze, Relativsätze sowie Ausrufesätze mit einem Fragepronomen/Frageadverb. Wir vergleichen:
konjunktional eingeleiteter Nebensatz eingeleiteter irrealer Wunschsatz Relativsatz Ausrufesatz
1
2
3
4
5
..., dass ..., weil
er sie
morgen das Bier
getrunken
kommt. hat.
Wenn Wenn ..., der
sie er
Was
sie
doch Zeit bloß an der Ecke alles
gekommen
hätte! \vare! stand. kann!
Dies klärt einige Probleme, weil die Übersicht Gemeinsames ansonsten unterschiedlicher Satzarten verdeutlicht. Haben die Lernenden das verstanden, gilt als nächste Regel, dass im Vorfeld des Kernsatzes alle Satzglieder - mit Ausnahme des Verbs - stehen können, nicht hingegen die Modalpartikeln: *Ja ist er immer noch krank.
Am interessantesten und schwierigsten zugleich ist die Besetzung des Mittelfeldes im Aussagesatz: Hier treffen morphologisch-syntaktische (Dativ vor Akkusativ bei dreiwertigen Verben im Nominalbereich, umgekehrt im pronominalen Bereich), syntaktische (Kasusergänzungen links von den Angaben, präpositionale Ergänzungen hingegen rechts davon) und kommunikative Funktionen zusammen, die vor allem von der Prager Forschung zur funktionalen Satzperspektive (Daneä 1974) untersucht wurden: Bekanntes (das Thema) steht links auf dem Mittelfeld, Unbekanntes (das Rhema; das, was über das Thema ausgesagt wird) rechts auf dem Mittelfeld, häufig unmittelbar vor dem zweiten Teil der Satzklammer, wo der Satzakzent, also der stärkste Aussagewert, ist. Das Thema ist häufig am bestimmten Artikel / Determinativ, Possessivum oder Personalpronomen erkennbar, das Rhema am unbestimmten Artikel: Er hat gestern seiner Frau die Blumen zum Geburtstag geschenkt. Er hat gestern die Blumen einer Frau zum Geburtstag geschenkt.
Hier lassen sich Übungen und Umstellproben anschließen, die den funktionalen Charakter der Satzgliedstellung verdeutlichen. Offensichtlich ist die Regel der funktionalen Satzperspektive, also der Informationsverdichtung zum Satzende hin, eines der entscheidenden Prinzipien der Satzgliedstellung, wenn nicht das entscheidende schlechthin. Eine „Normalstellung" im Mittelfeld des Satzes, wie manche Schulgrammatiken meinen, gibt es also nicht. Dieses Spielen mit Wörtern und das Nutzen operationaler Satzgliedanalysen (Austausch-, Umstell-, Verschiebe-, Weglassprobe) können enorm zum Spracherwerb im Fremdsprachenunterricht beitragen. Die Übungen werden noch viel
Eine funktionale Grammatik für Deutsch als Fremdsprache
93
zu selten genutzt und könnten doch höchst sinnvolle Lernprozesse einleiten, die kreative Übungspraxis mit kognitiven Verfahren verbinden. Etwa beim Spielen mit Modalpartikeln: Frau Müller hat ' gestern ' ihrer Tochter ' ein Fahrrad ' zum Geburtstag ' geschenkt.
Setzen wir nun die Partikel doch an den angegebenen Stellen von links nach rechts ein und sprechen den Satz laut, so bemerken wir eine ständige Veränderung der Bedeutung wie zugleich eine Verschiebung des Satzakzents: Unmittelbar hinter der Modalpartikel liegen der Hauptakzent und der Aussagekern des Satzes. Anders formuliert: Unmittelbar hinter der Modalpartikel beginnt das Rhema, gibt es die neue, wichtige Information. Sprachspiel als kognitiver Prozess! Die Bedeutungsveränderung kann man auch mit Schülern in der Klasse ausprobieren, indem man das jeweilige Satzglied hinter der Modalpartikel verneint: Frau Müller hat gestern doch ihrer Tochter (und nicht ihrem Sohn) ein Fahrrad zum Geburtstag geschenkt.
Die enge funktionale Verbindung von Modalpartikeln und der Negationspartikel nicht wird deutlich.
6
Fazit
Eine funktionale Grammatik sollte den Kernbereich einer Grammatik für Lernende im fremdsprachlichen Deutschunterricht ausmachen. Sprachenlernen würde so zum spannenden und faszinierenden Ereignis, nähme der Grammatik der deutschen Sprache den Geruch des Unverständlichen und Schwierigen und ließe den Schülern komplexe funktionale Zusammenhänge deutlich werden, statt sie im atomisierten Grammatikbrei zu ersticken. So könnte Baudelaires Erfahrung und Vision im Unterricht Wirklichkeit werden.
Literatur DaneS, Frantiäek (Hg.) (1974): Papers on Functional Sentence Perspective. The Hague (Janua Linguarum. Series minor, 147). Götze, Lutz (1993): Lebendiges Grammatiklernen. In: L. Götze (Hg.), Fremdsprache Deutsch 9: Lebendiges Grammatiklemen. Stuttgart. Götze, Lutz / Hess-Lüttich, Emest W. B. (1993): Grammatik der deutschen Sprache. Sprachsystem und Sprachgebrauch. Gütersloh. Heibig, Gerhard (1999): Was ist und was soll eine Lern(er)-Grammatik? In: Deutsch als Fremdsprache 2, 103-112. Hymes, Dell (1979): Zur Ethnographie der Kommunikation. Eingeleitet und hg. von Florian Coulmas. Frankfurt a. M. Jakobson, Roman (1969): Kindersprache, Aphasie und allgemeine Lautgesetze. Frankfurt a. M.
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Lutz Götze
Paul, Hermann (1992): Deutsches Wörterbuch. 9., vollständig neu bearbeitete Auflage von Helmut Henne und Georg Objartel unter Mitarbeit von Heidrun Kämper-Jensen. Tübingen. Popper, Karl S. (1994): Alles Leben ist Problemlösen. Über Erkenntnis, Geschichte und Politik. München/Zürich. Rüg, Wolfgang / Tomaszewski, Andreas (1993): Grammatik mit Sinn und Verstand. München. Stetter, Christian (1997): Schrift und Sprache. Frankfurt a. M. Wittgenstein, Ludwig (1971): Philosophische Untersuchungen. Frankfurt a. M.
Mathilde Hennig
Werden die doppelten Perfektbildungen als Tempusformen des Deutschen akzeptiert? „Manches, was früher als irreguläre Ausnahme galt, erwies sich später als Regel." (Gerhard Heibig)
0
Vorbemerkungen
Seit den 60-er Jahren hat man sich mehrfach mit den sogenannten „doppelten Perfektbildungen" (DPF)1 auseinander gesetzt.2 Dabei wurde aber nur vereinzelt die Frage aufgegriffen, ob Perfekt II, Plusquamperfekt II, Konjunktiv I (II) und Konjunktiv II (II) dem deutschen Tempussystem zuzuordnen seien. Lediglich zwei Autoren nehmen Perfekt II und Plusquamperfekt II in ihr Tempusparadigma auf (Thieroff 1992; Vater 31994). Das Phänomen wurde in der Tempusforschung und in Grammatiken häufiger totgeschwiegen als diskutiert; es ist an der Zeit, eine solche Diskussion ins Rollen zu bringen. Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit einem Teilaspekt der Problematik, der bisher kaum berücksichtigt wurde - mit der Wirkung der DPF auf die Sprachbenutzer.3 Werden die DPF akzeptiert oder nicht? Welche Gründe könnte die Akzeptanz/Nichtakzeptanz haben? Um auf diese Problemstellungen eingehen zu können, habe ich eine Umfrage durchgeführt. Bevor diese dargestellt und ausgewertet werden kann, sollen jedoch Hypothesen aufgestellt werden, die es zu verifizieren gilt.
Der Terminus „doppelte Perfektbildungen" stammt von Litvinov/Radcenko (1998). Er bietet sich insofern an, als er alle Konjunktiv- und Indikativformen zusammenfasst und somit eine gewisse Ordnung in den terminologischen Dschungel bringt, in dem Perfekt II und Plusquamperfekt II auch „Doppelperfekt" und „Doppelplusquamperfekt", „Superperfekt" und „Superplusquamperfekt", „hyperperiphrastische Tempora" und „Doppelumschreibungen" genannt werden. Das Benennungsproblem kann m. E. noch nicht als gelöst angesehen werden, da vor allem zur Bezeichnung der Konjunktivformen noch keine befriedigende Möglichkeit vorliegt. Die Dopplung der römischen Ziffern in „Konjunktiv I (II)" und „Konjunktiv II (II)" könnte Verwirrung stiften, soll aber als Arbeitsterminus zunächst so verwendet werden. Eine Diskussion der Forschungsliteratur findet sich in Thieroff (l992: 208-214), Vater (31994: 76f), Dorow (1996: 66-78), Litvinov/Radcenko (1998: vor allem 94-96). Litvinov/RadCenko (1998: 47-52) sind m. W. die Einzigen, die einige kleine Tests zur Beurteilung von DPF durchgeführt haben.
96 l
Mathilde Hennig Hypothesen
Die folgenden Hypothesen sind aus der Beschäftigung mit der einschlägigen Literatur sowie aus eigenen Überlegungen zum Perfekt-II-Gebrauch in der gesprochenen Sprache entstanden. Sie sollen eine Grundlage für die Auswertung der Fragebögen bilden; gleichzeitig veranschaulichen sie die Motivation des Tests. 1. Perfekt II und Plusquamperfekt II werden in der Regel als Normverstoß4 angesehen. Litvinov/Radöenko (1998: 48) formulieren diese These folgendermaßen: „Im allgemeinen neigen die Sprachträger dazu, die DPF als mögliche Bildung im Deutschen zurückzuweisen. Sprecher, die selbst das Perfekt II und das Plusquamperfekt II verwenden, wollen es, wenn danach gefragt, in der Sprache meistens nicht anerkennen." 2. Konjunktiv I (II) und Konjunktiv II (II) werden eher akzeptiert als die Indikativformen, da diese eine Lücke im Sprachsystem schließen, die dadurch entsteht, dass es keine anderen Konjunktivformen gibt, die Vorzeitigkeit auszudrücken vermögen.5 3. Ein Grund für die mögliche Negativbewertung liegt darin, dass die Sprachbenutzer durch traditionelle grammatische Normsetzungen geprägt sind; so werden z. B. auch in neueren Grammatiken die DPF kaum erwähnt. Man könnte schlussfolgern: Eine sprachliche Erscheinung, die im Regelwissen des Sprachträgers nicht existiert, hält er deshalb für einen Verstoß gegen (in diesem Fall grammatische) Regeln.
2
Wortlaut und Erklärung des Fragebogens
Der Fragebogen hatte - etwas verkürzt - folgenden Wortlaut: Bitte beantworten Sie die folgenden Fragen spontan und ohne Nachschlagematerial. Verlassen Sie sich auf Ihr Sprachgefühl! I. Wie viele Tempora hat das Deutsche?
Wenn ich hier und im Weiteren von „Normverstoß" spreche, gehe ich von einem Verstoß gegen „präskriptive Normen" aus. Der Beitrag versteht sich aber eher als ein Plädoyer für die Hinwendung zu „deskriptiven Normen" (vgl. Heibig 1996: 103). Da Konjunktiv I („Präsens") und Konjunktiv II („Präteritum") sich in temporaler Hinsicht nicht voneinander unterscheiden, beziehen sich die jeweiligen Bildungen mit Partizip (die häufig irreführenderweise als „Konjunktiv Perfekt" und „Konjunktiv Plusquamperfekt" bezeichnet werden) auf die einfache Vergangenheit. Zu dieser Problematik vgl. Hennig (i. Dr.). Nur das Hinzufügen eines weiteren Partizips kann die Realisierung von Vorvergangenheitsbedeutung bewirken. Mit der besonderen Leistung der Konjunktivformen haben sich verschiedene Autoren auseinandergesetzt (Eroms 1984: 347f; Thieroff 1992: 246-250; Litvinov/RadCenko 1998: 120-126). Generell wird den Konjunktivformen eher eine „Existenzberechtigung" zugesprochen als den Indikativformen.
Werden die doppelten Perfektbildungen akzeptiert?
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II. Lesen Sie die folgenden Beispiele und beantworten Sie die Fragen zu den Sätzen. a) „Mein Mann ist zu mir gekommen und hat zu mir gesagt gehabt, das ist besser, wenn wir uns trennen." b) Er erzählte ihr die ganze Geschichte, -weil er völlig vergessen gehabt hatte, dass sie alles selbst miterlebt hatte. c) Der Regierungssprecher ließ mitteilen, er habe vor dem Debakel nichts von den Anschuldigungen gewusst gehabt. d) Ehe Emil sich hätte bemerkbar machen können, wären die beiden verschwunden gewesen. e) Wären nicht so viele Jahre verflossen gewesen, seit sie sich zuletzt gesehen hatten, hätte sie ihn vielleicht wiedererkannt. 1. Welche der Sätze finden Sie richtig, welche falsch und warum? 2. Wie würden Sie die Sätze, die Sie als falsch bezeichnet haben, umformulieren? 3. Haben Sie die Sätze, die Sie für falsch halten, so oder so ähnlich schon einmal gehört? 4. Welche Tempusformen liegen in den richtigen Sätzen vor? 5. Wie alt sind Sie? Sind Sie Muttersprachler/Nichtmuttersprachler?
Eine ähnliche Form der Informantenbefragung, in der authentische Belege deutschen Deutschlehrern zur Bewertung vorgelegt wurden, haben Litvinov/Radcenko durchgeführt (1998: 47^9). In der vorliegenden Informantenbefragung dagegen wurde auf authentische Beispiele verzichtet, weil konstruierte Sätze kürzer und somit schneller zu erfassen sind - der Fragebogen sollte leicht durchschaubar sein, damit er in kurzer Zeit von möglichst vielen Probanden beantwortet werden konnte. Die Beispiele b)-e) wurden aber in Anlehnung an die Belegliste bei Lirvinov/RadCenko konstruiert, d. h., sie stellen eine Verkürzung bzw. Vereinfachung authentischer Belege dar. Die stichprobenartige Befragung von Lirvinov/Radöenko beinhaltete im Gegensatz zu obigem Fragebogen nur indikativische Beispiele. Dabei kamen die Autoren zu dem naheliegenden Ergebnis, dass die DPF bei Einbettung in einen größeren Kontext eher akzeptiert werden als bei Ausbleiben einer „kontextuellen Verbindlichkeit" (1998:48). Bei der Konstruktion der Beispiele kam es hier vor allem auf die verschiedenen Verwendungsweisen der DPF an.6 Deshalb sollen die Sätze nun kurz erklärt werden. a) „Mein Mann ist zu mir gekommen und hat zu mir gesagt gehabt, das ist besser, wenn wir uns trennen. " Die Anführungszeichen sollen hier andeuten, dass das Beispiel aus dem Gesprochenen entnommen ist. Mit sagen wurde hier ein Verb verwendet, das ohne Zweifel zu den häufigen Perfekt-II-Verben im Gesprochenen gehört.7 Das BeiLitvinov/RadCenko geben vier Gründe für die Verwendung von DPF an (1998: 144). Diese theoretisch und empirisch überzeugend erarbeiteten Vorkommensweisen beziehen sich aber, wie das ganze Buch der Autoren, nur auf die geschriebene Sprache. Eine Diskussion der Gründe für die gegenwärtig frequente Verwendung vor allem der Indikativformen in der gesprochenen Sprache hat es in der Forschungsliteratur bisher noch nicht gegeben. In Hennig (i. Dr.) bin ich andeutungsweise auf diese Problematik eingegangen. In dem meiner Dissertation zu Grunde liegenden Talkshowkorpus kommt sagen in drei von acht Perfekt-II-Formen vor. In dem umfangreichen Korpus von DPF in der geschrie-
98
Mathilde Hennig
spiel ist eine Verkürzung eines authentischen Belegs aus einer Talkshow. Das Interessante ist hier, dass das Perfekt II als einfaches Vergangenheitstempus gebraucht wird; es ist also nicht „notwendig", da eine Perfektform den zeitlichen Bezug ebenso hätte herstellen können. Deshalb wird dieser Gebrauch des Perfekt II wohl auch am ehesten als Normverstoß empfunden. In der Forschungsliteratur wird darauf so gut wie nicht eingegangen,8 weil man zum einen darum bemüht war, die Verwendungsweisen von DPF zu beschreiben, die sie von den anderen Vergangenheitstempora unterscheiden, und weil man zum anderen die DPF fast ausschließlich anhand von schriftsprachlichen Belegen erklärt hat. Im Bereich der gesprochenen Sprache liegen demnach die größten Forschungsdefizite bezüglich der DPF. Die Verwendungsweise des Perfekt II zur Bezeichnung einfacher Vergangenheit findet sich offenbar nur in der gesprochenen, nicht in der geschriebenen Sprache.9 Leider liegen bisher keine umfangreichen Korpora von DPF-Belegen im Gesprochenen vor, so dass statistisch aussagekräftige Analysen bezüglich der Verwendung von Perfekt II als einfaches Vergangenheitstempus oder als Tempus zur Bezeichnung der Vorvergangenheit noch nicht vorgenommen werden können. Meiner Beobachtung zufolge ist zwar der Gebrauch von Perfekt II oder Plusquamperfekt II zur Realisierung der Vorvergangenheit häufiger, eine Verwendung wie in a) ist aber durchaus üblich und wohl auch nicht auf bestimmte Dialektgruppen zu beschränken.10 b) Er erzählte ihr die ganze Geschichte, -weil er völlig vergessen gehabt hatte, dass sie alles selbst miterlebt hatte. Vergessen gehört zu den wenigen Verben, die auch in der geschriebenen Sprache häufig als DPF belegt sind.11 Hier liegt eine resultative Verwendungsweise des Plusquamperfekt II vor. Das „Erzählen" kann als Resultat des „Vergessene" betrachtet werden - denn hätte er nicht vergessen, dass sie alles selbst miterlebt hatte, dann hätte er es nicht erzählt. Um ein Resultat eines in der Vorvergangenheit geschehenen Ereignisses/Vorgangs auszudrücken, muss eine DPF verwendet wenden, denn das Plusquamperfekt und das Perfekt können diese Bedeutungsvariante nur unzureichend realisieren - das Perfekt kann zwar resulta-
8 9
10
11
benen Sprache (Belletristik vom 18. Jahrhundert bis heute) von Litvinov/RadCenko dagegen gibt es nur einen Beleg mit sagen (von 426). Lediglich bei Dorow findet sich ein Satz dazu (1996: 78f). Zu prinzipiellen Unterschieden des Gebrauchs von DPF im Gesprochenen und Geschriebenen vgl. Hennig (i. Dr.). Auch diese These kann leider nicht statistisch belegt werden. Ich stütze mich auf meine mehrjährige Beobachtung des Phänomens - ich habe DPF bei Sprechern aus verschiedenen Regionen Deutschlands gehört. In der Sammlung von Litvinov/RadCenko findet sich dieses Verb 36-mal. Insgesamt enthält ihre Belegsammlung über 300 Verben. Davon werden vergessen und verschwinden 36-mal gebraucht, erstaunen 28-mal, verreisen 17-mal sowie erschrecken und wachsen 15-mal; die meisten Verben sind nur einmal belegt. Die Autoren sehen darin zu Recht einen Beweis für die Produktivität der Formen. Wenn die häufig als DPF gebildeten Verben zwar alle einen resultativen Zustand bezeichnen, so liegen dennoch keine Restriktionen vor - alle Verben können in einer DPF vorkommen. Vgl. Litvinov/RadCenko (1998: 26).
Werden die doppelten Perfektbildungen akzeptiert?
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tiv verwendet werden, aber nur in Bezug auf die Gegenwart, und das Plusquamperfekt bezeichnet eine nichtresultative Vorvergangenheit. Die Verwendung einer DPF als Resultativ ist deshalb regelmäßig12 und wird von Litvinov/Radßenko (1998: 144) wie folgt beschrieben: „In dem Maße, wie das Perfekt [...] als Resultativ verwendet werden kann, ist dessen Auftreten im (plusquam)perfektischen Kontext ein genügender Grund, ein doppeltes Perfekt zu bilden. Diese Bestimmung passt in den Rahmen jeder traditionellen Deutung der deutschen Tempusverhältnisse". c) Der Regierungssprecher ließ mitteilen, er habe vor dem Debakel nichts von den Anschuldigungen gewusst gehabt. Während a) und b) indikativische DPF sind, handelt es sich bei c), d) und e) um Konjunktivformen. In c) drückt der Konjunktiv I (II) Vorvergangenheit in indirekter Rede aus. Die Vergangenheitsform des Konjunktiv I er habe gewusst kann diese Bedeutung nicht realisieren, sondern bezieht sich auf die einfache Vergangenheit. Insofern ist der DPF-Gebrauch hier regelhaft. Man könnte allerdings argumentieren, dass die zeitliche Einordnung durch das Adverbial vor dem Debakel erfolgt und die DPF somit nicht zwingend notwendig ist. Lässt man dieses Adverbial weg, so wäre zwar durch den Kontext auch ohne eine DPF klar, auf welche Zeitstufe sich die indirekte Rede bezieht; die DPF ist aber ein zusätzliches Signal für die temporale Zuordnung. Deshalb ist hier durchaus denkbar, dass die Probanden diesen Satz nicht als falsch bewerten. d) Ehe Emil sich hätte bemerkbar machen können, -wären die beiden verschwunden gewesen. e) Wären nicht so viele Jahre verflossen gewesen, seit sie sich zuletzt gesehen hatten, hätte sie ihn vielleicht wiedererkannt. Verschwinden gehört ebenso wie vergessen zu den häufig in DPF gebrauchten Verben.13 Ein Grund hierfür könnte sein, dass mit der Perfektform häufig ein gegenwärtiger Zustand bezeichnet wird - er ist verschwunden hieße dann 'er ist nicht da, er ist in dem Zustand, verschwunden zu sein'. Zur Bezeichnung der Vorvergangenheit bedarf es deshalb einer DPF. Zieht man außerdem in Betracht, dass es sich in d) um eine Konjunktivform handelt und dass man die besonderen Zeitverhältnisse im Konjunktiv berücksichtigen muss, so ist die DPF in diesem Beispiel ohne Zweifel berechtigt und müsste auch als richtig empfunden werden. Das gleiche gilt für e): Auch hier bezeichnet die DPF Vorvergangenheit, allerdings in Verbindung mit einem weniger typischen Verb. Ohne das Partizip gewesen könnten beide Sätze unvollständig wirken. Es muss eingeräumt werden, dass die Beispiele, die auf Grund der gegebenen Erklärungen durchaus ihre Berechtigung haben, durch die besondere Situa12
13
Wenn man solche Regeln im Sinne der deskriptiven Linguistik meint, „die Regelmäßigkeiten empirisch beobachteter Sachverhalte ohne normativen Anspruch kategorisieren" (vgl. Heibig 1996: 100). Vgl. Anmerkung 11.
Mathilde Hennig
100
tion des Ausfüllens des Fragebogens negativ gesehen werden könnten, auch wenn diese Formen bei der unbeeinflussten Rezeption den Probanden wahrscheinlich gar nicht auffallen würden. Es handelt sich hierbei um ein allgemeines Problem, das ein solcher Test mit sich bringt: Die Probanden sind gelenkt, sie sind aufmerksamer als im alltäglichen Sprachgebrauch und übersensibilisiert. Da in den Fragen zu den Beispielen eine Bewertung verlangt wird, ist zu erwarten, dass die Informanten davon ausgehen, dass manche der Sätze richtig, manche falsch sein müssen. Dennoch habe ich diese Fragen bewusst in dieser Form gestellt, da offenere Fragen wie „Äußern Sie Ihre Meinung zu den Beispielen!" zu sehr von meinem Schwerpunkt abgelenkt hätten. Abstriche von der Authentizität der Reaktionen müssen also in Kauf genommen werden. Man könnte auch argumentieren, die Form des Tests wäre nicht angemessen; in einem Interview zum Beispiel könnte man Probanden unvoreingenommener befragen. Es sollte eine einfache Form gewählt werden, um möglichst viele Informanten in kurzer Zeit befragen zu können.
3
Auswertung der Fragebögen
Insgesamt wurden 71 Personen befragt. Darunter waren 36 Abiturienten im Alter von 17 oder 18 Jahren (Gruppe I), 25 Studenten des Magister- bzw. Aufbaustudiengangs Deutsch als Fremdsprache am Herder-Institut Leipzig (21 Muttersprachler (Gruppe II a) und 4 Nichtmuttersprachler (Gruppe II b)) im Alter von 18 bis 36 sowie 10 Akademiker (Teilnehmer eines Englischkurses, Nichtlinguisten) im Alter von 29 bis 57 (Gruppe III). Das Durchschnittsalter der Probanden beträgt 23,24 Jahre. Die Zugehörigkeit der Informanten zu den genannten Gruppen wird bei der folgenden Auswertung weiterhin berücksichtigt, da der jeweilige Hintergrund Unterschiede im Wissensstand sowie in der Sensibilität gegenüber sprachlichen Erscheinungen erwarten lässt. Frage I Gruppe I 3 4 5 6 7 8 9 10 -
1 1
Gruppe II a 2
6 12 7 5 1 1 2
Tab. l: Anzahl der Tempusformen
3 8 1 4
3
Gruppe II b Gruppe III 1 1
2
2 6
1
1
gesamt
5 1 11 28 8 9 1 1 7
Werden die doppelten Perfektbildungen akzeptiert?
101
Die Frage nach der Anzahl der Tempusformen wurde von mir gestellt, um das Vorwissen zu überprüfen. Meine Vermutung, die auch in Hypothese 3 (Abschn. l) angedeutet wurde, war, dass sich das Wissen über das deutsche Tempussystem an den traditionellen Darstellungen in den meisten Grammatiken des Gegenwartsdeutschen orientiert und somit „sechs" die häufigste Antwort sein müsste. Die Angaben bestätigen diese Annahme nur teilweise. Zwar haben die meisten Probanden „sechs" angegeben, aber doch weniger als erwartet. Hier muss deshalb im Nachhinein eine Unzulänglichkeit im Fragebogen zugestanden werden - es wäre besser gewesen, auch eine Benennung der Tempusformen zu erbitten. So bleiben nur Mutmaßungen, wie die jeweiligen Zahlen zustande gekommen sein könnten. Die Antwort „drei" könnte auf die Zeitstufen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft Bezug nehmen. Bei „vier" und „fünf lässt sich vermuten, dass bei den Überlegungen vielleicht das Futur II und/oder das Plusquamperfekt vergessen wurde. Bei mehr als „sechs" Tempora ist nicht genau nachvollziehbar, wie sich die jeweilige Zahl zusammensetzt - möglicherweise wurden Konjunktivformen dazu gezählt, oder es wurde einfach geraten. Es ist nicht zu erwarten, dass die Probanden, die eine andere Angabe als „sechs" gemacht haben, damit die Tempusproblematik, die in der Forschungsliteratur zu immer neuen Tempussystemen geführt hat, reflektieren. Die weiteren Antworten auf den Fragebögen zeigen, dass keiner der Befragten die Tempusdiskussion zu kennen scheint. Die unterschiedlichen Aussagen zu der Anzahl der Tempora dürften aus Unwissenheit entstanden sein - und in dieser Hinsicht ist keine der drei Gruppen den anderen überlegen. Es hat sich - das ergibt sich vor allem auch aus den Antworten zu der Frage II.4 - ein nicht beabsichtigtes Nebenergebnis eingestellt: Die Kenntnisse über die Tempora des Deutschen sind im Allgemeinen dürftig. Frage II. l 14
a
)
b) c)
d
)
e)
Gruppe I
Gruppe II a
richtig falsch 36 0
richtig Falsch richtig falsch 1 4 20 0
17 6 31 23
19 30 5 13
1 5 19 15
20 16 2 6
Gruppe II b
2 3 2 3
2 1 2 1
Gruppe III
gesamt
richtig falsch 1 9 1 9 5 5
richtig falsch 2 69
9 8
1 2
21 19 61 49
50 52 10 22
Tab. 2: Bewertung der Beispielsätze
14
Bei den Fragen IM und II.2 wurden häufig auch Erklärungen bzw. Korrekturvorschläge gegeben, die sich nicht auf Tempusformen beziehen. Korrigiert wurde häufig die Wortstellung in a): „das ist besser"; ebenso wurde dieser Teilsatz auch häufig in den Konjunktiv gesetzt. Es gab auch Bemerkungen zur Wortwahl und sogar zur Rechtschreibung. Diese „Nebenergebnisse" bleiben im Weiteren unberücksichtigt.
102
Mathilde Hennig
Die Ergebnisse bestätigen die Hypothesen l und 3 - die Indikativformen werden eher als Normverstoß angesehen als die Konjunktivformen. Dennoch zeigt sich hier, dass eine pauschale Normvorstellung - Indikativformen werden nicht akzeptiert, Konjunktivformen werden positiv bewertet - nicht gegeben ist. Ein so klares Ergebnis war nach der Beschreibung der Beispiele (vgl. Abschn. 2) auch nicht zu erwarten. Interessant sind die Unterschiede zwischen den einzelnen Indikativ- sowie den Konjunktivformen. Wie oben erklärt, wird in b) die DPF als Resultativ verwendet und außerdem mit einem der häufigsten DPF-Verben gebildet. Deshalb leuchtet es ein, dass dieses Beispiel eher als richtig empfunden wird als die umgangssprachliche Verwendung des Perfekt II in a). Im Bereich der Konjunktivformen wird c) weitaus häufiger als falsch betrachtet als d) und e). Dies lässt sich zum einen dadurch erklären, dass das Adverbial vor dem Debakel eine temporale Einordnung in die Vorvergangenheit durch eine Tempusform nicht nötig macht. Ich vermute außerdem, dass der im gesprochenen Deutsch kaum verwendete Konjunktiv I „altmodisch" klingen könnte und somit eine negative Bewertung provoziert. Diese Annahme basiert auf der Tatsache, dass bei Frage II.2 mehrfach vorgeschlagen wurde, den Konjunktiv I zu ersetzen - durch Konjunktiv II oder Plusquamperfekt. Die DPF in d) wurde am häufigsten positiv bewertet (85,92 %). Dies entspricht den Erklärungen des Beispiels in Abschn. 2 - das Zusammentreffen der Umstände, dass zum einen die besonderen Zeitverhältnisse im Konjunktiv und zum anderen das Verb verschwinden vorliegen, bietet zwei Gründe für die mögliche Akzeptanz des Satzes. In e) dagegen kommt ein Verb vor, das nicht besonders häufig als DPF gebildet wird.15 Das erklärt die geringere Positivbewertung gegenüber d) (66,2 %). Um eine Begründung der Einschätzungen haben sich vor allem die Gruppen I und Ha bemüht. Die meisten angegebenen Gründe, vor allem in Gruppe I, sind recht allgemein. Sie reichen von „Sprachgefühl" und „emotional begründet" über „falscher Ausdruck" und „Formulierung" bis hin zu „Grammatik" und „Dialekt". Häufig wird die Zeitform als „falsch" bezeichnet, aber nur wenige konkretisieren diese Bewertung. So gibt aus Gruppe I ein Testteilnehmer zu Satz a) an, hier würde „zweimal Plusquamperfekt" verwendet; ein weiterer Abiturient weist auf die doppelte Verwendung des Hilfsverbs hin. In Gruppe Ha wird zweimal von einem Perfektfehler gesprochen („klingt doppelt gemoppelt"), zweimal von „falscher Bildung des Plusquamperfekts" und einmal lautet die Begründung „unnötiges Partizip". Es bestätigt sich hier wieder, was ich schon in Hennig (1999) bei einer Umfrage zum Unterschied zwischen Perfekt und Präteritum festgestellt habe: Das Sprachgefühl ermöglicht den Sprachträgern zwar eine Einschätzung, die wenigsten können aber erläutern, wie sie zu dieser gelangt sind. 15
Im Korpus von Litvinov/RadCenko kommt es zweimal vor.
Werden die doppelten Perfektbildungen akzeptiert?
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Frage II.2 Wenn auch bei vielen Sprachträgern die grammatischen Grundkenntnisse nicht ausreichen, um eine Erklärung für eine intuitiv getroffene Entscheidung zu geben, so erlaubt das Sprachgefühl doch häufig eine Korrektur. So wurde bei der Frage nach der Urnformulierung häufig das zweite Partizip weggelassen: Gruppe I
a) b) c) d) e)
21 16 25 1 10
Gruppe II a Gruppe II b
12 15 15 2 5
Gruppe III
gesamt
4 2
7 8 5
1
1
44 41 45 3 17
Tab. 3: Weglassen des zweiten Partizips bei der Korrektur
Die Sätze a), b) und c) wurden am häufigsten als falsch bewertet und in der Korrektur zu durchschnittlich 61 % ohne das zweite Partizip formuliert. Teilweise wurde auch vorgeschlagen, die DPF durch Präteritum zu ersetzen - 9-mal bei Satz a) und 5-mal bei Satz b). Bei den Konjunktivformen wurde vereinzelt mit einer Indikativform umformuliert - zweimal bei c) und einmal bei d). Besonders interessant ist, dass bei c) in der Gruppe I einmal ein Ersetzen durch ein Perfekt II vorgeschlagen wurde. Häufig gab es auch Korrekturen, die sich nicht auf die Tempusproblematik beziehen (vgl. Anm. 14) - dadurch ergibt sich auch, dass seltener eine Korrektur der Tempusform erfolgte (Tab. 3) als eine Negativbewertung (Tab. 2). Ebenfalls in der Gruppe I wurde bei einer Umformulierung des Satzes a) zweimal das Perfekt II beibehalten - diesen Abiturienten ist es offenbar selbst beim Schreiben nicht aufgefallen. Frage II.3
ja nein selten teilweise
—
Gruppe I
Gruppe II a
Gruppe II b
Gruppe III
gesamt
10 20
16 4
1 2 1
4 4
2
2
31 30 1 4 4
4
Tab. 4: „Haben Sie diese Formen schon einmal gehört?"
Die DPF sind den Probanden zu ca. gleichen Anteilen bekannt oder nicht. Die Studenten des Herder-Instituts zeigen sich dabei als die aufmerksamsten Sprachbeobachter. Einige der Befragten machten Angaben dazu, wo sie diese Formen gehört hätten - zweimal werden sie mit der Umgangssprache in Verbindung gebracht und einmal mit süddeutschen Dialekten.
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Mathilde Hennig
Frage II.4 Diese Frage wurde gestellt, um herauszufinden, wie die Informanten die für richtig befundenen Formen in das Tempusparadigma einordnen. Wie bereits angedeutet, hat sich hier wieder deutlich gezeigt, dass die Vorkenntnisse bezüglich der Tempusformen, insbesondere im Konjunktiv, dürftig sind. So hat fast die Hälfte der Befragten diese Frage gar nicht beantwortet bzw. zugegeben, die Antwort nicht zu kennen (insgesamt 30: 12 Abiturienten aus Gruppe I, 10 Studenten aus Grupe II a bzw. l Nichtmuttersprachler aus II b sowie 7 Personen aus Gruppe III). Die meisten Erklärungen zu den fünf Beispielen benennen entweder den Konjunktiv oder die Zeitform (häufig auch eine falsche); selten wird die Komplexität der dreigliedrigen Formen durch eine Bezeichnung erfasst. Die folgende Tabelle illustriert die Einordnungsversuche, wobei von mir jeweils nur die Angaben zu den Teilsätzen mit DPF berücksichtigt wurden. Aus Gründen der Übersichtlichkeit wurde auf die Unterteilung in die Gruppen verzichtet. a)
Vergangenheit vollendete V. Vorvorverg. Partizip Präteritum Perfekt Plusquamperf. Konjunktiv Konjunktiv I Konjunktiv II Konj. Perfekt Konj. Plusqu. Konj.IPerf.
b)
c)
d) 1
e) 1
1
1
1 2 3 1 3 3
2
1
7 9
2 1 7 8
4 1 4
4 1 3
1 1 3
1
Tab. 5: Einordnung der DPF in das Tempusparadigma
Die Fehlerhaftigkeit vieler Einordnungen soll hier nicht interessieren. Man kann sich aber des Eindrucks der relativen Beliebigkeit der Tempusbezeichnungen nicht erwehren. Insgesamt sind nur 11 Angaben gemacht worden, die der Komplexität Rechnung tragen - zweimal „Konjunktiv Perfekt", bezogen auf die Sätze d) und e), 7-mal „Konjunktiv Plusquamperfekt" ebenfalls mit Bezug auf d) und e), einmal „Konjunktiv I Perfekt" zur Einordnung von c) sowie einmal die Bezeichnung „Vorvorvergangenheit" für b). Auch wenn in b) nicht tatsächlich Vorvorvergangenheit16 bezeichnet wird (das „Vergessen" liegt vorzeitig
16
Dies ist übrigens eine Bedeutungsvariante von DPF, die die Forscher (z. B. Eroms 1984) häufig interessiert hat, weil diese die Existenzberechtigung von DPF zu begründen schien.
Werden die doppelten Perfektbildungen akzeptiert?
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zum „Erzählen" - es handelt sich also um Vorzeitigkeit), so ist dies doch eine bemerkenswerte Bezeichnung - der Abiturient hat erkannt, dass dieser Teilsatz über die Bereiche des Plusquamperfekts hinausgeht. Mit „Konjunktiv Perfekt" usw. wurden zwar Benennungen gewählt, die auf komplexe verbale Strukturen hinweisen; diese Termini sind allerdings im Tempusparadigma des Konjunktivs schon „besetzt". Es lässt sich schlussfolgern, dass die DPF zwar unter bestimmten Bedingungen als Tempusformen anerkannt werden, es bestehen aber Unsicherheiten bezüglich der Einordnung in das Tempussystem. Das darf man keineswegs den Informanten zum Vorwurf machen, auch wenn die Schwierigkeiten zum Teil auf mangelnde Grammatikkenntnisse zurückzuführen sind. Die Hauptursache für die Probleme bei der Beantwortung dieser Frage ist darin zu sehen, dass offenbar keiner der Probanden schon einmal etwas von der Erscheinung DPF gehört hat. Diese Einschätzung versteht sich als Aufforderung an Grammatikautoren, die DPF nicht länger zu ignorieren bzw. als Randerscheinung nur nebenbei zu erwähnen, sondern sich dem Problem der Beschreibung der DPF im Rahmen der Auseinandersetzung mit Tempus und Temporalität zu stellen.
4
Schlussfolgerungen
Die Auswertung der Fragebögen hat gezeigt, dass die DPF im Deutschen weder grundsätzlich akzeptiert noch prinzipiell abgelehnt werden. Ihre Beurteilung hängt von der Form der DPF, vom verwendeten Verb sowie von der Kontexteinbettung ab. Das Perfekt II wird von den meisten Sprachträgern als falsch bewertet, obwohl es in der Umgangssprache am häufigsten gebraucht wird. Wahrscheinlich verwenden es die Probanden selbst, ohne sich dessen bewusst zu sein. Es soll nun kurz auf die eingangs aufgestellten Hypothesen eingegangen werden. Hypothesen l und 2 Diese Hypothesen wurden weitestgehend verifiziert, müssen aber nach der Auswertung als etwas zu pauschal bewertet werden. Nicht allein der Modus bestimmt die Bewertung von DPF, sondern auch eine Reihe anderer Faktoren spielen eine Rolle. Hypothese 3 Diese Hypothese kann nicht hinreichend bestätigt werden, weil die Angaben auf den Fragebögen dazu nicht ausreichten. Es hat sich als zutreffend erwiesen, dass das grammatische Problem DPF nicht bekannt ist.
Litvinov/RadCenko (1998) weisen in ihrer Monographie mehrfach daraufhin, dass diese Variante aber nur eine neben anderen und keineswegs die wichtigste ist.
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Mathilde Hennig
W a r u m nun einige Sätze negativ bewertet wurden, kann nicht eindeutig gesagt werden. Ich war davon ausgegangen, dass die Antworten auf die Frage nach der Anzahl der Tempora die Prägung durch traditionelle grammatische Normen dokumentieren, dies war aber nur teilweise der Fall. Keinesfalls kann die traditionelle Norm als alleiniger Grund für die Negativbewertung gesehen werden - die Fragebögen haben ja gezeigt, dass viele Probanden nur unzureichend über die Normsetzungen informiert sind. Diese Teilnehmer der Umfrage wurden eventuell durch ein Stilempfinden, welches zwei Partizipien als „doppelt gemoppelt" erscheinen lässt, geleitet. Interessant bleibt nach wie vor die Frage, ob die DPF in das Tempusparadigma einzuordnen sind. Die positive Bewertung bei bestimmten Voraussetzungen (Kontext, Verb, Modus etc.) spricht m. E. für eine solche Schlussfolgerung. Eine Nichtakzeptanz unter anderen Bedingungen (z. B. Perfekt II als einfaches Vergangenheitstempus) wäre dann eine Beurteilung als Normverstoß, so wie er bei den traditionellen Tempora auch vorkommen kann. Die Problematik ist aber viel zu komplex, um hier endgültig beantwortet werden zu können. Besonders im Bereich der gesprochenen Sprache bestehen noch Forschungsdefizite. Wir können die Frage, warum Perfekt II in der Umgangssprache anscheinend immer häufiger verwendet wird, bisher nicht eindeutig beantworten. Eine große Rolle spielen dabei Formulierungsstrategien. Es ist anzunehmen, dass Perfekt II als Vorvergangenheitstempus verwendet wird, wenn der Sprecher gewohnheitsgemäß das Perfekt zur Bezeichnung der Vergangenheit verwendet und dann ein zweites Partizip „anhängt", weil es sich um vorzeitige Relationen handelt. Wie Leiss (1992: 283) in Bezug auf das Problem Perfekt/Präteritum in überzeugender Weise dargelegt hat, sind wir Zeugen eines Umwandlungsprozesses: „Der Umbau des Tempussystems des Deutschen findet gegenwärtig statt". Wir haben die Chance, diesen Prozess zu beobachten und zu dokumentieren.
Literatur Dorow, Ralf (1996): Doppelperfekt und Doppelplusquamperfekt - eine Bereicherung fllr das deutsche Tempussystem? In: Ch. Breuer / R. Dorow: Deutsche Tempora der Vorvergangenheit. Trier, 63-85. Eroms, Hans-Werner (1984): Die doppelten Perfekt- und Plusquamperfektformen im Deutschen. In: Festschrift für Klaus Matzel zum 60. Geburtstag. Heidelberg, 343-351. Heibig, Gerhard (1996): Deskription, Regel und Norm in der Grammatikschreibung. In: A. Peyer / P. R. Portmann (Hg.), Norm, Moral und Didaktik. Die Linguistik und ihre Schmuddelkinder. Eine Aufforderung zur Diskussion. Tübingen, 97-114. Hennig, Mathilde (1999): Testen Sie Ihr Sprachgefühl! Gibt es einen Unterschied zwischen Perfekt und Präteritum? In: Deutsch als Fremdsprache 3, 170-172. Hennig, Mathilde (i. Dr.): Tempus und Temporalitat im Textsortenvergleich. Eine empirische Untersuchung geschriebener und gesprochener Sprache. Leiss, Elisabeth (1992): Die Verbalkategorien im Deutschen. Ein Beitrag zur Theorie der sprachlichen Kategorisierung. Berlin / New York (Studia Linguistica Germanica, 31).
Werden die doppelten Perfektbildungen akzeptiert?
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Litvinov, Victor P. / RadCenko, Vladimir I. (1998): Doppelte Perfektbildungen in der deutschen Literatursprache. Tübingen (Studien zur deutschen Grammatik, 55). Thieroff, Rolf (1992): Das finite Verb im Deutschen. Tempus - Modus - Distanz. Tübingen (Studien zur deutschen Grammatik, 40). Vater, Heinz (1994): Einführung in die Zeit-Linguistik. 3. Auflage. Hürth-Efferen (Kölner linguistische Arbeiten in Germanistik, 25).
Ursula Hirschfeld
Phonetische Merkmale des Sächsischen und das Fach Deutsch als Fremdsprache „Wer ein gutes Deutsch zu lernen wünscht, gehe nach Leipzig, wer ein tüchtiger Jurist werden möchte, studiere in Jena, wer Theologie und Philosophie meistern will, in Wittenberg." (alter Studentenspruch)
Der Jubilar hat ihn in die Welt getragen, den obersächsischen, genauer: den Leipziger Klang der deutschen Sprache. Tausende Teilnehmer an Fortbildungskursen der Leipziger Universität, mehrere Hundert Studenten des Studienganges Deutsch als Fremdsprache am Herder-Institut und unzählige Hörer seiner Vorträge in vielen Ländern hatten und haben das Vergnügen, außerordentlich interessante Vorlesungen und Seminare zu Fragen der Grammatik oder des Fremdsprachenunterrichts in dieser wohltönenden Variante des Deutschen zu hören. Doch das ist nicht die einzige Verbindung zum Fach Deutsch als Fremdsprache. Im Folgenden sollen - ausgehend von einer Betrachtung zur Rolle regionaler Varianten im Unterricht Deutsch als Fremdsprache - zunächst einige Bemerkungen zum Sächsischen im Verbund der deutschen Sprachvarianten gemacht, anschließend die phonetischen Merkmale des Sächsischen umrissen werden, und schließlich soll sich der Kreis mit Überlegungen zum Sächsischen als Variante der Fremdsprache Deutsch wieder schließen.
l
Standard und regionale Varianten im DaF-Unterricht
Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, welche Ausspracheformen im Unterricht Deutsch als Fremdsprache gelehrt und gelernt werden sollten. Vielfach begegnet man der Auffassung, dass die Standardaussprache eine künstlich geschaffene, im Sprachalltag nicht anzutreffende Ausspracheform darstellt. Es gebe demgegenüber vielmehr eine Vielzahl umgangssprachlicher, auf regionalen Merkmalen basierender Ausspracheformen, die auch überregional verständlich sind. Deutschlernende würden vor allem solchen Formen begegnen, so dass diese - produktiv und rezeptiv - Eingang in den Fremdsprachenunterricht Deutsch finden sollten. Es könnte sogar eine neue Norm geschaffen werden, die „möglichst viele Elemente von tatsächlich Gesprochenem enthält" (König 1991:25) und die damit auch „den größtmöglichen Realitätsbezug besitzt" (König 1991: 26). Dieser Gedankengang kann gut nachvollzogen werden - und er hat etwas Verlockendes angesichts der Schwierigkeiten, die die Aneignung einer normgerechten Aussprache oft bereitet.
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Ursula Hirschfeld
Andererseits hat sich in Untersuchungen gezeigt, dass eine dem Standard nahekommende Aussprache wegen der von Sprechenden und Hörenden angestrebten Ungestörtheit und Bequemlichkeit bei der Vermittlung, Aufnahme und Verarbeitung von Informationen nicht nur am besten für die sprechsprachliche Kommunikation in bestimmten - z. B. öffentlichen - Situationen geeignet ist, sondern dass sie auch im Fremdsprachenunterricht nach wie vor eine bevorzugte Rolle spielt. Das lässt sich u. a. mit folgenden, allgemein bekannten Gegebenheiten belegen, die zumindest teilweise durchaus revisionsbedürftig sind: -
-
-
Lehrmaterialien, d. h. die zu Deutschlehrwerken gehörenden Kassetten und Videos, präsentieren fast ausschließlich Sprecherinnen und Sprecher mit Standardaussprache. Lehrerhandbücher orientieren auf das Erreichen aussprachlicher Normen. Aussprachematerialien aller Art - Zusatzmaterialien sowie in Lehrwerke integrierte Übungen - zielen auf die Entwicklung von Hör- und Aussprechfertigkeiten hin, die dem Standard entsprechen. Bewertungsmaßstäbe für Leistungskontrollen und Prüfungen ahnden Verstöße gegen die Aussprachenorm. Zudem ist eine gute Aussprache nicht nur das Anliegen vieler Muttersprachler, sondern auch ein Wunsch von Deutschlehrenden und -lernenden (vgl. Hirschfeld 1996: 188f.).
Zum oben beschriebenen Vorschlag, in den verschiedenen Regionen vorkommende Ausspracheformen im Unterricht Deutsch als Fremdsprache „zuzulassen", den Normbegriff sozusagen zu lockern, ist eine weitere Überlegung erforderlich. Die Aussprachemerkmale einer bestimmten Region bilden ein in sich geschlossenes System, sie sind somit voraussagbar und in den jeweiligen Kontexten verstehbar. Eine Mischung von Formen, die in unterschiedlichen Regionen vorkommen - z. B. die Auflösung der Fortis-Lenis-Distinktion wie im Sächsischen, Vokaldehnungen wie im Norddeutschen, Betonungsverschiebungen wie im Schweizerischen - und die von den Lernenden mit ihrem muttersprachigen Akzent durchsetzt werden, kann dagegen zur Beeinträchtigung der Verständlichkeit führen. Auch die sprachlichen Kontexte, die im regionalen Sprachgebrauch nachvollziehbare Systeme bilden, tragen bei Deutschlernenden durch Abweichungen in der Grammatik und in der Lexik nicht immer ausreichend dazu bei, Aussprachefehler richtigzustellen, sondern können deren kommunikationsstörende Wirkung noch erhöhen. Es ist nun zu fragen, welchen Stellenwert regionale Varianten im Unterricht Deutsch als Fremdsprache einnehmen können oder sollen und an welche konkreten Bedingungen dieser Stellenwert geknüpft ist. Diese Frage wurde bisher nicht ausreichend diskutiert. So stellt z. B. Ammon fest, dass das Thema der nationalen Varietäten in der Ausbildung von Deutschlehrern eine geringe Rolle spielt (1995: 480). Auch im Unterricht wird über Aussprache wenig nachgedacht, weder über die in den Materialien präsentierten noch über die vom Lehrer gebrauchten Formen. Es ist oft so, dass der Lehrende das Deutsche auf (s)eine - beliebige - Weise ausspricht und die Schüler das übernehmen, wie
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111
Bürkle/Rusch (1994: 42) bestätigen: „Österreichische DaF-Lehrende unterrichten wie alle anderen DaF-Lehrenden mehr oder weniger fraglos ihre Sprachvarietät, in diesem Fall österreichisches Deutsch, genauer gesagt ihr jeweiliges österreichisches Deutsch." Es ist an der Zeit, über die Verwendung bestimmter - regionaler - Ausspracheformen im Unterricht Deutsch als Fremdsprache intensiver nachzudenken. Dabei sollten die folgenden Gesichtspunkte berücksichtigt werden (vgl. die ausfuhrlichere Darstellung in Hirschfeld 1997: 181ff). 1. Ziel der Sprachausbildung: Das Lemziel und die zur Verfügung stehende Zeit sind für Teilziele, Inhalte und Methoden auch im Aussprachebereich bestimmend. Bei Germanistikstudenten ist es durchaus angebracht, den regionalen Varianten breiteren Raum zu widmen, wenn auch vor allem im Hinblick auf die Rezeption, also das Verstehen dieser Formen, sowie auf die Vermittlung von Kenntnissen über die Sprachgliederung des Deutschen und wesentliche Merkmale zumindest großräumiger regionaler Umgangssprachen. Übungen zum Hörverstehen sind aber auch in vielen anderen Ausbildungsrichtungen (vom schulischen Deutschunterricht bis hin zur Erwachsenenbildung, z. B. Kurse für Touristen) sinnvoll (vgl. auch Bürkle/ Rusch 1994:8; Flüe-Fleck/Hove 1994: 65). 2. Unterscheidung von produktiven und perzeptiven Fertigkeiten: Im vorangegangenen Abschnitt wurde vor allem die Rezeption regionaler Varianten angesprochen. Im Hinblick auf die Sprachproduktion sollte im allgemeinen wohl nicht verlangt werden, dass der Lernende mehrere Varianten gleichermaßen beherrscht, es sei denn, er möchte sich aus persönlichen Gründen auch regionale Formen aneignen (vgl. unten). Für die meisten gilt: Mit einer überregionalen Form werden sie überall verstanden und akzeptiert. Es kann jedoch von großer Bedeutung für das Verstehen gesprochener Sprache in verschiedenen kommunikativen Situationen sein, wenn Lernende schon in einem relativ frühen Stadium mit verschiedenen, auch regionalen Aussprachevarianten konfrontiert werden und ein Bewusstsein für die Sprachvielfalt im Deutschen sowie entsprechende Perzeptionsstrategien entwickeln können. 3. Landeskundlicher Aspekt: Die vielfältigen Ausspracheformen, die in den deutschsprachigen Regionen zu finden sind, gehören zur Sprachentwicklung und zur Sprachkultur, also auch zum landeskundlichen Hintergrund des Unterrichts Deutsch als Fremdsprache. Sicher ist es nicht möglich und auch gar nicht notwendig, alle Varianten gleichermaßen darzustellen. Unbedingt berücksichtigt werden sollten in Materialien zur Entwicklung des Hörverstehens vor allem die Aussprachestandards der in Österreich und der Schweiz gesprochenen nationalen Varianten des Deutschen. 4. Ausbildung im deutschsprachigen Raum: In Deutschland, in Österreich und in der Schweiz haben die Varianten der Region, in der die Sprachausbildung
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Ursula Hirschfeld
stattfindet, einen großen Einfluss auf die Ausprägung perzeptiver und produktiver Fertigkeiten. Lernende, die für längere Zeit oder für immer in dieser Region bleiben wollen, sind oft sogar bemüht, sich sprachlich an die Umgebung anzupassen, um akzeptiert und integriert zu werden. Anders ist es, wenn jemand im Ausland Deutsch lernt, wenn er vielleicht nicht einmal die Absicht hat, in den deutschsprachigen Raum zu reisen. 5. Wünsche und Ansprüche der Lernenden: Jeder Lernende sollte selbst bestimmen können, welches „Deutsch" er lernen will. So wie er sich zwischen dem britischen und dem amerikanischen Englisch entscheiden kann, sollte er auch zwischen Schweizerdeutsch, Österreichisch, Sächsisch und Fränkisch bzw. zwischen dem süddeutschen und dem norddeutschen Standard wählen können. Der Lehrer mit seiner regionalen Aussprache dürfte/sollte dabei nicht ausschlaggebend sein. Deutschlernende wünschen sich im übrigen Lehrer, die eine gute Aussprache haben, also nicht mit deutlicher regionaler Färbung - oder mit starkem fremdem Akzent - sprechen. 6. Materialangebote: Kassetten- und Videoangebote der deutschen Verlage bieten bisher kaum die Möglichkeit, im Unterricht verschiedene Varianten vorzustellen. Es ist vorwiegend der norddeutsche Standard zu hören, zudem oft in einem verlangsamten Sprechtempo, überdeutlich und im Sprechstil einer Nachrichtenlesung - meist also auch ohne phonostilistische und emotionale Variation. Abschließend zu diesen Betrachtungen zur Rolle regionaler Varianten sei der letztgenannte Aspekt noch einmal aufgegriffen und darauf hingewiesen, dass die Varianz in der Aussprache sich durchaus nicht nur, nicht einmal in erster Linie, auf regionale Aspekte beschränkt. Inwieweit auch phonostilistischsituative, emotionale, gesungene, eventuell auch individuelle Aussprachevarianten in den Unterricht eingeführt und durch Höraufgaben bewusstgemacht oder geübt werden können, hängt wiederum vom Ausbildungsziel sowie vom Zeitvolumen ab.
2
Das Sächsische im Verbund der deutschen Sprachvarianten: Wertung und Ansehen „Wenn man unsere deutsche Sprache mit einem Gebäude vergleichen wollte, [...] so könnte man sagen, in Sachsen habe es durchs Dach geregnet." (Erich Kästner 1934)
Ein Blick in die Publizistik der letzten Jahre zeigt sehr deutlich, dass Kästners Bemerkung durchaus zutrifft. Der Dresdner Schriftsteller Thomas Rosenlöcher, der als Kind von Lehrern und Eltern ermahnt wurde: „Sprich ordentlich, Do-
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mas", bezeichnet in seiner Rede zur Verleihung des Hugo-Ball-Förderpreises das Sächsische als „Verlierersprache" (1991: 162). Viel zu selten ist auch in der Presse etwas Positives über das Sächsische zu lesen, häufig dagegen findet man Titelzeilen wie z. B. -
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-
-
-
Hochdeutsch wird zur Sprache für „Ausnahmefalle". Deutsche bevorzugen Dialekte / Sächsisch ist das unbeliebteste Idiom (Leipziger Volkszeitung vom 5.16. Dezember 1998) Wenn die „Düte" zur „Tüte" wird. Studie verfolgte den Verzicht auf „Säggsch" bei Sachsen im Westen (Leipziger Volkszeitung vom 11. Juni 1996) Arbeit statt Orbeit. Warum manche Sachsen ihren Dialekt ablegen (Psychologie heute, September 1996: 13) Trend? Viele wollen nicht mehr sächseln. Dresdner Volkshochschule bietet methodische Kurse für „richtiges Deutsch" an (Leipziger Volkszeitung vom l I.Juni 1993) Sollte man Sächsisch lernen? (Die Zeit vom 4.10.1996: 53) Geen Bliemchngaffee. Wer will den Menschen zwischen Leipzig und Görlitz zu allem Übel nun auch noch die Muttersprache vermiesen? Die ersten „Deutschkurse für Sachsen" bietet ausgerechnet eine Dresdnerin an (Stern Nr.43(1993),IV/3) Sächsisch ist kein Kündigungsgrund. Düsseldorfer Arbeitsgericht gibt 59-jährigem Handelsvertreter für Geldschränke Recht (Leipziger Volkszeitung vom 20. Mai 1998)
Das (Ober-)Sächsische, das zu den mitteldeutschen, genauer: neben dem Thüringischen und dem Lausitzischen zu den ostmitteldeutschen Dialekten gehört, hat in seiner wechselvollen Geschichte sehr unterschiedliche Bewertungen erfahren. Der von Luther geschätzte und verbreitete Meißnische Kanzleistil, „die Wiege unserer neuhochdeutschen Literatursprache" (Bergmann 1987: 5), galt lange Zeit als vorbildlich. So soll beispielsweise Goethe u. a. deswegen zum Studium nach Leipzig gekommen sein, um von seinem Frankfurter Dialekt wegzukommen und ein „gutes" Deutsch zu lernen. Dass er das nicht ganz geschafft hat, belegt sein zum geflügelten Wort gewordener Ausspruch: „Man soll sich sein Recht nicht nehmen lassen. Der Bär brummt nach der Höhle, in der er geboren ist." (vgl. Dobel 1991: 621). Auch Schiller wurde, als er in Dresden weilte, wegen seines schwäbischen Akzents verspottet und mühte sich redlich, die sächsische Mundart zu lernen (vgl. den Beitrag von J. Hartmann in der Leipziger Volkszeitung vom 7.11.1995). Ganz abgesehen davon, dass Dialekte oder regional gefärbte Umgangssprachen im Allgemeinen nicht in jeder Situation und nicht in jeder anderen Region gleichermaßen akzeptiert werden, schneidet speziell das Sächsische im Vergleich mit anderen regionalen Varianten des Deutschen relativ schlecht ab.
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Ursula Hirschfeld
Dafür können verschiedene Gründe genannt werden: -
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die historische Entwicklung Sachsens nach dem Siebenjährigen Krieg; politische Gegebenheiten aus der jüngeren Geschichte: Walter Ulbricht als mit starkem sächsischem Akzent sprechender Staatsratsvorsitzender der DDR, die immer wieder genannten sächsischen Grenzsoldaten („Gänsefleisch" = „Können Sie vielleicht...") an den innerdeutschen Grenzen u. ä.; sicher aber auch der nicht jedem Ohr angenehme Sprachklang mit seinen typischen Merkmalen wie: Verlangsamung des Sprechtempos, Entrundung gerundeter Vokale, Diphthongierung langer E- und O-Laute, Verdumpfung der -Laute, fehlende Unterscheidung von Fortis- und Leniskonsonanten usw. (s. unten); Vorurteile aufgrund verschiedenster individueller Erfahrungen und Erlebnisse.
Die Einschätzung des Sächsischen ist jedoch nicht nur auf subjektive Empfindungen einzelner Personen beschränkt. Die breit angelegten soziophonetischen Untersuchungen zu einem neuen Aussprachewörterbuch (vgl. Stock/Hollmach 1994; 1997; Graf u. a. 1993) haben gezeigt, dass im gesamten deutschsprachigen Raum bestimmte Dialekte, wie z. B. das Norddeutsche, positiv, andere, vor allem das Sächsische und das Schwäbische, eher negativ bewertet werden. Eine Besonderheit bei der Bewertung regionaler Formen ist, dass die Sachsen selbst ihre Sprache als wenig(er) sympathisch bezeichnen, im Gegensatz etwa zu Norddeutschen oder Bayern, die sich zu ihrem Dialekt bekennen. So erklärten z. B. 75 % der befragten Bayern, aber nur 28 % der Sachsen ihre Umgangssprache zur sympathischsten (vgl. Stock/Hollmach 1997: 114). Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die positive oder negative Beurteilung regionaler Formen bei Nichtmuttersprachlern ganz anders aussieht. Ausländische Deutschlehrer und Studenten bewerten z. B. das Sächsische meist positiv, weil es nicht nur dem Hochdeutschen besonders nahe ist, sondern auch langsamer gesprochen wird und somit besser verständlich ist als z. B. das Bairische oder das Berlinisch-Brandenburgische. Die unterschiedliche Bewertung regionaler Formen durch Muttersprachler sollte nicht unterschätzt werden, denn durch den Erwerb solcher Formen können für den DaF-Lernenden im Hinblick auf die Abwertung der kommunikativen und sozialen Akzeptanz eines (nichtmuttersprachigen) Sprechers zusätzliche Probleme entstehen.
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Phonetische Merkmale des Sächsischen „Das säggs'sche Ah-Beh-Zeh odorr Alfabehd, wie mier ooch noch sahchn, iß das modernsde unn radzschionellsde. Mier gomm midd 18 (achdzn) Buhchschdahm aus. Alle scharfii Sachn, wie K, P, T unn X, bassn nich richdch inn unsorr Schbrahchgefieche. C, Q unn hamm was Fremdländsches ann sich, drumm hammorsch glei weggelassn. Awwor D unn G sinn Buhchschdahm midd lidderarischn Wohlglang. D wie Dornreeßschn unn G wie Gandiene. Unn dann unsor B! Noch gee Mensch hadd sich drann geschdohsn, so weech iß das, wie Budding." (Kurt G. Franke 1988)
Ungeachtet der Vielzahl von Aussprachevarianten im Sächsischen - nach Untersuchungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften in Leipzig lassen sich in Sachsen etwa 20 Dialektgebiete unterscheiden - gibt es eine Reihe von Merkmalen, durch die sich die (ober)sächsische Umgangssprache, das „Gewandhaussächsisch", gegenüber der Standardaussprache generell auszeichnet. Eine genaue Analyse für die „Leipziger Mundart" liefert Albrecht in dem gleichnamigen Buch, allerdings schon 1881. Der folgende Überblick geht auf eigene Beobachtungen zurück, die durch Verweise auf eine gerade abgeschlossene Diplomarbeit (Wallner-Zimmer 1999) und Vergleiche mit ausgewählten anderen Publikationen (besonders Meinhold/Stock 1982: 11 Iff. für die Vokale, 162ff. für die Konsonanten) ergänzt werden. Die Beispiele stammen größtenteils aus Franke (1988) und Reimann (1931). 1. Aussprachemerkmale der sächsischen Umgangssprache im Bereich der Suprasegmentalia: -
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Die Sprechspannung ist niedriger („logger"), das hat große Auswirkungen auf die Artikulation, insbesondere auf die Ausgeprägtheit artikulatorischer Bewegungen, auf Spannungs- und Dauerverhältnisse sowie auf Assimilationserscheinungen . Die Sprechweise ist sehr melodisch, es gibt große Tonhöhenunterschiede, oft auch auffallende melodische Bewegungen innerhalb der Silbe (vgl. Gericke 1956; 1963), teilweise sogar innerhalb eines Vokals (vgl. WallnerZimmer 1999: 26ff., 48f.). Das Sprechtempo wird häufig als langsam charakterisiert, was u. a. dazu beiträgt, die Sachsen als langsame oder „gemütliche" Menschen anzusehen. Wortgruppen werden zu phonetischen Wörtern zusammengezogen, dabei treten zahlreiche phonetische Veränderungen auf, z.B. Wegfall des Neueinsatzes, starke Reduktion unbetonter Silben, Ausfall von Endkonsonanten, z. B.: hammse (haben sie), swarsch (das war es).
2. Aussprachemerkmale im Bereich der Vokale: -
Die langen gespannten Vokale der Standardaussprache werden in der sächsischen Umgangssprache häufig mit geringer Spannung gebildet, es treten
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Ursula Hirschfeld
Entrundungs- und Diphthongierungserscheinungen auf. Das betrifft die Ound U-Laute, die mit schwacher Lippenrundung gebildet werden, das lange O wird zudem häufig diphthongiert. Die Ö- und Ü-Laute tendieren zu den ungerundeten E- und I-Lauten. Bei den Ö-Lauten gibt es eine besonders große Vielfalt an Realisierungsvarianten: Das kurze ungespannte Ö kann immerhin durch acht, das lange gespannte Ö sogar durch 45 verschiedene Vokalrealisationen wiedergegeben werden, wobei es fast immer zu Entrundungen kommt (vgl. Wallner-Zimmer 1999: 26ff.). Gerundete und ungerundete Vokale werden zudem häufig nicht unterschieden, so kann /i/ zu [Y] werden in Wörtern wie Kirsche, Tisch, nichts (nüscht), vor können /i/ und M auch durch ein ungespanntes kurzes E ([ ]) realisiert werden, z. B. in Gärsche (Kirsche), Wärrde (Würde). Das gespannte lange E sowie das gespannte lange O werden diphthongiert, aus dem /o:/ wird [ou], aus dem /e:/ ein [ej], wobei der zweite Vokal der fallenden Diphthonge sehr abgeschwächt werden kann. Der Diphthong [ag] wird in Wörtern, die im Mittelhochdeutschen einen Diphthong hatten, monophthongiert zu [o:] bzw. wieder diphthongiert zu [ou], desgleichen wird [ag] zu [e:] bzw [ej], z. B. in ooch (auch), Ooche (Auge), eenzeln (einzeln), Schdeen (Stein), nee (nein). Der Diphthong [ ] wird entrundet und zu [ag], z. B. in eich (euch), deier (teuer). Helle Vokale werden dunkel gesprochen, am auffälligsten ist das bei den -Lauten, die zu O-Lauten tendieren. Die kurzen U-Laute können vor zu O-Lauten gesenkt werden, z. B. in Dorm (Turm), dorch (durch). Die -Laute werden nicht differenziert, d. h., es gibt hinsichtlich der Qualität einen „Einheitslaut", der sich dem offenen, ungespannten [ ] nähert und oft mit leichter Rundung gesprochen wird. So kann im Sächsischen die Aussprache [le:m] vielfache Bedeutung haben: Lehm, Leben, Leim, Löwen. Dieser Einheitslaut kann je nach Lautkontext in verschiedenen Nuancen auftreten. Wallner-Zimmer (1999: 32f.) hat allein für die Realisation des gespannten /e/ 16 Realisierungen festgestellt, die vor allem Senkungen und Diphthongierungen aufwiesen. Das in der Endung -en fällt in der Regel aus, häufig kommt es zur Totalassimilation, z. B. in sing (singen), gomm (kommen), Farm (Farben), Sillm (Silben). Dagegen wird an auslautende Konsonanten gern ein Murmelvokal angehängt, z. B. in scheene (schön), sähre (sehr).
3. Aussprachemerkmale im Bereich der Konsonanten: -
Die Fortis-Lenis-Distinktion ist weitgehend aufgehoben (binnendeutsche Konsonantenschwächung), mit ihr die Unterscheidung stimmhaft-stimmlos. So wird /p/ häufig als [b] oder als stimmloses [bj, /t/ als [d] oder [dj, /k/ als
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[g] oder [g] realisiert, z.B. in Bottezei (Polizei), Dobb (Topf), Gläggs (Klecks). Umgekehrt kann im Bemühen, „gut" zu sprechen, anstelle der stimmhaften Lenisexplosive durchaus ein stimmloser Lenis- oder auch ein Fortislaut vorkommen, häufig geschieht das vor und , z. B. in Platt (Blatt), Klaas (Glas), Krippe (Grippe). Anlautendes oder intervokalisches /g/ kann zu [j] oder [9] frikatisiert werden, z. B. in jut (gut), Lieche (Liege). Auch auslautendes /g/ ([k]) kann zu [x] oder [9] frikatisiert werden, z. B. in Daach (Tag), Siech (Sieg). Intervokalisches /b/ erscheint durch die geringe Sprechspannung häufig als bilabiales [w], z. B. in Schduwwe (Stube), niwwer (hinüber), Farwe (Farbe). Die Auslautverhärtung ist abgeschwächt, so dass häufig stimmlose Leniskonsonanten auftreten, z. B. in Bährg (Berg), Ginnd (Kind). Der Frikativ /z/ wie in Reißn (Reisen) wird häufig entstimmlicht zu [z] oder fortisiert zu [s]. In manchen Teilen Sachsens werden ch (/9/) und seh (/J/) verwechselt bzw. /9/ generell durch [f] ersetzt, z. B. in deschnich (technisch), nischd (nichts), Leibzsch (Leipzig), geehsch (gehe ich). Das passiert besonders häufig in Dresden (hier sind 52 % aller Ich-Laute betroffen), aber ebenfalls in Chemnitz und Leipzig (mit je 41 bzw. 42 %); einen besonderen Fall stellt dabei die Endung -ig dar, für den Standard als [19] kodifiziert, die zu 50 % als [ik] realisiert wurde (vgl. Wallner-Zimmer 1999: 24f.). Im Personalpronomen wir kann /v/ zu [m] werden: mier. Die Konsonantenverbindung /st/ wird in Verbindung mit zu [Jt] oder [fd], z. B. in Durschd (Durst), bärschden (bürsten); auch das auslautende /s/ in flektierten Formen kann zu [f] werden, z. B. in Gindersch (Kinder), gloob mersch (glaub es mir), bei Wagnersch (bei Wagners). Die Konsonantenverbindung /pf7 wird vereinfacht, im Anlaut bleibt nur der Frikativ erhalten, intervokalisch und im Auslaut der Explosiv, z. B. in Fennich (Pfennig), Feife (Pfeife), Gobb (Kopf), Abbel (Apfel). Auslautkonsonanten werden oft weggelassen, z. B. in is (ist), un (und), ni (nicht).
4. Aussprachemerkmale hinsichtlich der Phonem-Graphem-Beziehungen: Hier gibt es eine unendliche Vielfalt sowie - die in „säggs'scher Ordegrafie" angeführten Beispiele belegen es sehr deutlich - Ungereimtheiten und Zweideutigkeiten, wie das in allen Verschriftungsversuchen regionaler Sprachvarianten zu beobachten ist, die der Richtlinie „Schreibe, wie du sprichst." folgen. Es handelt sich im Grunde um eine sog. volkstümliche Transkription. Interessant ist, dass neben der direkten Umsetzung von Lauten in Buchstaben (wenn [g] anstelle eines hochsprachlichen [k] gesprochen wird, schreibt man eben , wie in Gulldur) bestimmte Aussprachemerkmale genauer und häufiger markiert
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Ursula Hirschfeld
werden als in der hochsprachlichen Orthographie, so z. B. die Länge und Kürze der Vokale. Einen reizvollen Überblick gibt Franke (1988: 8ff.) mit dem „Ah-Beh-Zeh", das hier in Auszügen wiedergegeben wird: A wie Ahrweed B Babbiergriech C wärrd offgedehld - wie Gämmbing (siehe G) - wie Schammbannchorr (siehe S) - wie Ziddrohne (siehe Z) D wie Dolleranz E wie Ehdlschdahl F wie Fellgerfreindschaft G wie Gullduhr H wie Haushalldblan I wie Ihworrfluß K gibbds nich, siehe G wie Garrdoffl L wie Lodderlähm M wie Miggnschdich N wie Nahrgohse O wie Orrdegrahfie P hamm mier weech gegrichd wie Babbah (siehe B) Q wie Gwasslschdribbe (gugge bei G) R wie Rohsngohl S wie Solledahredäd T gibbs bloß bei Schauschbielem (siehe D wie driehm) U wie ullgsch V worrde offgedeeld: - F wie forrgoldn (siehe F), - W wie wähschn (siehe W) W wie Wärrdschafd X und gänn mier nich Z wie Zährguß Als Verständnishilfe für Nichtsachsen sei hier ein Hinweis des Kabarettisten Hans Reimann (1931: 84f.) angefügt: „Alles Sächsische muß laut gelesen werden. Dann erst wird's Sächsisch. [...] Kaum liest man's laut (und melodisch), formen sich die apokalyptischen Buchstaben zu sinngemäßen, unsäglich sinnvollen Gebilden. Den Unterkiefer sanft vorgeschoben, lasse man die mysteriösen Vokabeln aus pseudosächsischer Gusche tropfen."
Phonetische Merkmale des Sächsischen 4
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Sächsisch als Variante der Fremdsprache Deutsch „Man kann sich einen Franzosen vorstellen, der Englisch spricht. [...] Man kann sich zur Not einen Engländer vorstellen, der Französisch spricht. Ja, man kann sich sogar einen Eskimo vorstellen, der italienische Arien singt. Aber einen Neger, der sächselt: das kann man sich nicht vorstellen." (Kurt Tucholsky 1928: 253)
Aber es gibt ihn; mir sind mehrere ehemalige Leipziger und Dresdner Studenten bekannt, die während ihres Studiums das Sächseln gelernt haben. Und das muss auch in früheren Zeiten schon so gewesen sein. Jedenfalls schrieb der preußische Regierungsrat Johann Michael von Loen, der 1718 den Hof Augusts des Starken besuchte: „Das sächsische Blut ist das schönste in Deutschland, es ist feurig, zärtlich und überaus verbuhlt. [...] Das Frauenzimmer, und darunter vorzüglich das meißnische, hat etwas überaus Holdseliges und Liebreizendes. Hier findet man die besten Sprachmeisterinnen der Deutschen, der liebliche Klang ihrer Stimme macht auch selbst unsere rauhen Töne zärtlich und angenehm." (Zitiert nach Reimann 1931: 35f.) Im Fremdsprachenunterricht Deutsch gehört das Erlernen des Sächsischen oder einer anderen regionalen (Aussprache-)Variante nun nicht gerade zu den vordringlichsten Aufgaben. Wie oben begründet, sollten solche Formen vor allem einen Einblick in die Vielfalt der deutschen Sprachlandschaft geben und für die Entwicklung des Hörverstehens hinsichtlich vom Standard abweichender Erscheinungen genutzt werden. Deutschlehrer sowie Germanistik- oder Deutsch-als-Fremdsprache-Studenten sollten durchaus Kenntnisse über die Entwicklung und die gegenwärtige Situation regionaler Umgangssprachen besitzen, ebenso über deren lexikalische Besonderheiten und phonetische Merkmale. Aus diesem Grund sei noch einmal darauf hingewiesen, dass entsprechende Materialien (Video, CD-ROM) zu entwickeln sind, die auf anschauliche Weise in die Thematik einfuhren und Klangbeispiele geben. So etwas bietet der Lehrwerkmarkt gegenwärtig noch nicht an. Es möge uns (nicht nur) deshalb noch lange vergönnt sein, das Sächsische aus dem Munde Gerhard Helbigs zu vernehmen und zu genießen.
Literatur Albrecht, Karl (1881): Die Leipziger Mundart. Grammatik und Wörterbuch der Leipziger Volkssprache. Leipzig. Ammon, Ulrich (1995): Die deutsche Sprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Das Problem der nationalen Varietäten. Berlin / New York. Bergmann, Günther (1987): Kleines sächsisches Wörterbuch. Leipzig. Bergmann, Günther (1992): Sächsisch. Polyglott-Sprachfilhrer. München.
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Ursula Hirschfeld
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Günter Kempcke
Ein neues Wörterbuch „Deutsch als Fremdsprache'
l Auch Wörterbücher haben ihre Schicksale. In dem von Wiegand initiierten Sammelband „Perspektiven der pädagogischen Lexikographie des Deutschen" schildern Götz und Haensch die Entstehungsgeschichte des bei Langenscheidt erschienenen „Großwörterbuchs Deutsch als Fremdsprache": erste Überlegungen, Planungen, Bildung des Mitarbeiter- und Redaktionsteams, Änderung der Konzeption, Kürzungen, Wechsel des Verlags, Umstellungen etc. Am Ende der glückliche Ausgang. Im folgenden ist von einem neuen Wörterbuch „Deutsch als Fremdsprache" die Rede, dessen Wechselfälle denen des Langenscheidt-Wörterbuchs nicht unähnlich sind. Das 1999 bei de Gruyter erscheinende Wörterbuch wurde 1987 noch am Zentralinstitut für Sprachwissenschaft der Akademie der Wissenschaften der DDR aus der Taufe gehoben - von Wissenschaftlern, die bereits in den 50er Jahren den Schritt von der diachronischen zur synchronischen Lexikographie gewagt hatten. Sie hatten zuvor an dem von Klappenbach und Steinitz begründeten sechsbändigen „Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache" mitgearbeitet und auch am zweibändigen Folgeprojekt, dem HDG, dem „Handwörterbuch der deutschen Gegenwartssprache" (1984), mitgewirkt, das gegenüber dem WDG stärker synchronisch angelegt und in der Umsetzung neuer linguistischer Erkenntnisse vorangekommen war (z. B. hinsichtlich der Valenz, Bedeutungsgliederung, Phraseologie). Besonders die lexikographische Bedeutungserklärung war in den Jahren des Strukturalismus und der Theorie der Komponentenanalyse in das Kreuzfeuer der Kritik geraten. Die kommunikativ-pragmatische Wende der 70er Jahre bescherte dem HDG die Auseinandersetzung mit Sprache und Politik, was - zum Schaden des Projekts - zur Ideologisierung der Wörterbucharbeit führte. Nach dem Erscheinen des HDG wurde den Mitarbeitern von der damaligen Institutsleitung aufgegeben, den aktuellen linguistischen Erkenntnisstand aufzuarbeiten, da in Jahren der Wörterbuchproduktion nur wenig Zeit bleibt, sich mit neueren Forschungsergebnissen auseinanderzusetzen. Inzwischen waren in der Semantik neue Strömungen aufgekommen. Die akribische Komponentenanalyse hatte ihre Spitzenposition eingebüßt. Vagheitstheorie und Prototypensemantik und die Kollokationstheorie warfen ein ganz neues Licht auf die Methoden der Bedeutungserklärung. Und zur selben Zeit begannen die Diskussionen über die Benutzerspezifik des allgemeinen Bedeutungswörterbuchs des Deutschen, die Diskussionen über das Lr und L2-Wörterbuch. An diesem Punkt, im Jahre 1986, gab es erste Überle-
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Günter Kempcke
gungen zu einem Lernerwörterbuch für Nichtmuttersprachler, und Longmans „Dictionary of Contemporary English" (LDOCE) sowie das französische Lernerwörterbuch von Dubois (DFC) führten nicht zuletzt 1987 zu dem Beschluß, am Institut ein Lemerwörterbuch, ein Wörterbuch „Deutsch als Fremdsprache", zu erarbeiten. Am Herder-Institut in Leipzig wurde die Konzeption vorgestellt, und kein Geringerer als unser Jubilar Gerhard Heibig half dem Projekt mit seinen Ratschlägen auf den Weg. Mit der Wende geriet das Projekt ins Stocken. Die Akademie wurde abgewickelt. Bei der Evaluierung der Forschungsprojekte wurde entschieden, dieses Projekt im IDS in Mannheim fortzusetzen und abzuschließen. Mehrere Wörterbuchmitarbeiter wechselten nach Mannheim über, doch der Leiter des Projekts entschied sich, in Berlin zu bleiben und mit den verbliebenen Mitarbeitern, durch die WIP-Förderung finanziell abgesichert, das Projekt an der Universität Potsdam fertigzustellen. 1997 war das Wörterbuchmanuskript mitsamt seinen Außentexten abgeschlossen, aber die Orthographiereform, ihr Für und Wider, sorgten für neue Irritationen und Warteschleifen. Rückblickend läßt sich feststellen, daß das Lernerwörterbuchprojekt Ende der 80er Jahre, bei seiner Konzeptionsentwicklung, eine besonders günstige Konstellation des linguistischen Erkenntnisstandes vorfand: Es wäre undenkbar gewesen ohne Vagheitstheorie und ohne Kollokationswissen, ohne Valenztheorie und die Ausländergrammatik von Heibig und Buscha. Wiegands Lexicographica-Bände der Series Maior, insbesondere Band l mit den Beiträgen zu „Lexeter '83 Proceedings", führten zum Überdenken der traditionellen und gewohnten Wörterbuchmethoden und nicht zuletzt zu dem Plan, das Fach Deutsch als Fremdsprache mit einem lexikographischen Projekt zu verbinden.
2 Während der konzeptionellen Entwicklungsphase bestand zunächst Unklarheit über den Umfang des Wörterbuchs und die Gewichtung der Informationsdaten. Sollte das Wörterbuch dem Benutzer bei der Produktion deutscher Texte dienlich sein oder eher bei der Rezeption, oder sollte es beidem dienen? Da dem Verlag an einem einbändigen Wörterbuch gelegen war, war von einer begrenzten Wortschatzauswahl auszugehen, wenn man den ausgewählten Wortschatz gründlich auf allen seinen Wortebenen analysieren wollte. Ein für Rezeptionszwecke konzipiertes Wörterbuch hatte von anderen Größenordnungen auszugehen, von etwa 60.000 bis 100.000 Stichwörtern. Die Mitarbeiter entschieden sich daher für ein Wörterbuch mit etwa 18.000-20.000 Stichwörtern, d. h. für ein Wörterbuch zur Sprachproduktion, das auch für die Sprachrezeption genutzt werden konnte. Entscheidend war hier auch der Hinweis von Zöfgen (1985: 26): „Wichtiger scheint mir im übrigen eine ganz andere Vermutung, nämlich die, wonach man mit etwa 15.000 passiv beherrschten Wörtern ein annähernd muttersprachliches Verständnis authentischer Texte erreicht." Das französische Lernerwörterbuch von Dubois enthielt 25.000 Stichwörter und galt als stark selektives und aktives Wörterbuch. Selbst für die Rezeption kann die Limitiertheit des Wortschatzes dem fremdsprachigen Benutzer eine verläßliche Orientie-
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rungshilfe sein. Bei der Auswahl, die sich auf die corpusorientierten HDG und WDG stützte, war daher nicht die Vorkommenshäufigkeit allein entscheidend, sondern der didaktische Wert eines Stichwortes und seiner Bedeutungen sowie seine Rolle bei der Bewältigung der Alltagskommunikation. Als Orientierung dienten die etymologisch selbständigen Wörter mit ihren wichtigsten Ableitungen und Komposita, wobei letztere vor allem dann berücksichtigt wurden, wenn sie semantisch nicht transparent waren. Ausgehend von der Alltagskommunikation wurde die Auswahl nach verschiedenen Kriterien vorgenommen: 1. 2. 3. 4.
Selektive oder exhaustive Berücksichtigung von Wortarten. Basiswörter und ihre wichtigsten Ableitungen dominieren vor Komposita. Allgemeinsprachlicher Wortschatz rangiert vor Fachwortschatz. Stilistisch neutrale Wörter (Wortbedeutungen) rangieren vor stilistisch markierten Wörtern (Wortbedeutungen). 5. Überregionales rangiert vor Regionalem. 6. Heute Gebräuchliches rangiert vor Veraltendem oder Veraltetem und Historischem. Für die exhaustive Berücksichtigung bestimmter Wortarten selbst in einem stark selektiven Wörterbuch dieser Zielsetzung spricht, daß gerade die Wortarten, die innersprachliche Funktionen erfüllen (wie z. B. Konjunktionen, Partikeln), dem Benutzer besondere Schwierigkeiten bereiten. Diesen Wortarten wird daher im Wörterbuch viel Platz eingeräumt sowohl hinsichtlich der Auswahl als auch hinsichtlich der Darstellung. Die Vertreter dieser Wortarten sind darüber hinaus verlistet und so dem Benutzer übersichtlich im Anhang des Wörterbuchs verfügbar gemacht worden. Bei der Selektion von Wörtern, die Außersprachliches abbilden, mußte man dagegen selektiv verfahren. Zur Frage der Selektion äußert sich auch van der Colff (1998: 197): „Die traditionelle Aufgabe eines Wörterbuchs, alle Wörter, die in der Sprache vorkommen, d. h. den gesamten Wortschatz [...], zu verzeichnen, ist überholt. Vor allem im Deutschen, in dem die Zahl der zusammengesetzten Wörter theoretisch unbegrenzt ist, ist es unmöglich, lexikalische 'Vollständigkeit' anzustreben, geschweige denn in einem Lernerwörterbuch, das durch eine viel geringere Makrostruktur als ein einsprachiges Gebrauchswörterbuch gekennzeichnet ist." Als ausgesprochen schwierig erwies sich bei der Erarbeitung der Stichwortliste die Auswahl der Komposita, vor allem der Substantiv- und Verbkomposita. Die bloße Aufreihung von Komposita, zumal wenn diese über die im Wörterbuch verzeichneten Kompositionsglieder hinausging, schien für ein L2-Wörterbuch ungeeignet, wohl aber die Darstellung produktiver Wortbildungsmittel, wie sie bereits im WDG und HDG praktiziert worden war. Sie konnten für die Rezeption Anwendung finden, aber auch für die Produktion, wenn die Angabe der Kompositionspartner mit der semantischen Komponente im Wortbildungsmodell kombiniert und vom Modell auf die entsprechenden Wörterbuchartikel verwiesen würde: herab- /bildet mit dem zweiten Bestandteil Verben; betont, trennbar; bezeichnet die Richtung von (dort) oben nach (hier) unten/: t z. B. herabfallen
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Günter Kempcke
Diese Produktionsmuster werden dem Benutzer im Anhang des Wörterbuchs in einer Liste überschaubar gemacht. Alle im Wörterbuch als Stichwörter verzeichneten Komposita und Ableitungen werden grundsätzlich mit Bedeutungserklärung, stilistischen Markierungen und Kontextsphäre vorgestellt. Sie können nur dann der Wortschatzerweiterung dienen, wenn sie den Benutzer nicht in seinem syntaktischen, morphologischen, semantischen und kulturellen Wissen überfordern. Auch wenn für dieses Wörterbuch als Benutzerzielgruppe der „advanced learner" anvisiert wurde, bei dem man bestimmte grammatische Grundkenntnisse (z. B. Tempussystem bei Verben, Wortarten, Satzarten) voraussetzen konnte, ist der Schritt von der passiven Kenntnis zur Anwendung, zur Produktion von Texten groß.
3 Das didaktische Ziel dieses Wörterbuchs, dem sich alles unterzuordnen hatte - die Wortschatzauswahl, die Beschreibung des Wortgebrauchs mit allen seinen Regularitäten -, war, ein Nachschlagewerk zu schaffen, das dem Benutzer beim Spracherwerb dienen sollte, das ihn vom Einzelwort zu Ähnlichem und Vergleichbarem führen, ihm das, was gemeinhin als System bezeichnet wird, erschließen sollte und ihm die sprachlichen Normen vermitteln könnte. Das erstere bedeutete die Anwendung und Integrierung aller Möglichkeiten, mit deren Hilfe Bedeutungsbeziehungen im Wörterbuch transparent gemacht werden konnten. In erster Linie waren dies synonymische und antonymische Relationen. Das letztere bedeutete die akribische Ermittlung des Sprachgebrauchs. Synonyme konnten einerseits als Bedeutungsäquivalente, andererseits aber auch als weiterführende Ergänzungen der Bedeutungserklärung dienen. Sie lediglich als paradigmatische Relationen anzulegen, hätte bedeutet, ihre Substitutionsbedingungen im Satz zu vernachlässigen, was bedeutet hätte, dem Nichtmuttersprachler die korrekte Verwendung im Kontext zu verstellen. Durch die genaue Analyse der Substituierbarkeit wurden die syntagmatischen Relationen der Synonyme ermittelt und auf die jeweiligen Kontexte bezogen. Immer dann, wenn Synonyme als Ersatz für die Bedeutungserklärung dienten, mußte gewährleistet sein, daß das Synonym an alphabetischer Stelle definiert ist. So konnten die Synonyme einer Synonymreihe mit der Dominante der Reihe erklärt werden. Als Dominante diente das stilistisch neutrale Synonym mit dem breitesten Distributionsradius. Bedeutungsähnliche (similare) Lexeme, die auf syntagmatischer Ebene kaum substituierbar waren, wurden durch „vgI."-Hinweise aufeinander bezogen oder unter MERKE durch einen distinktiven Vergleich erläutert: erproben [B'pRoibm], erprobte, hat erprobt /jmd./ etw. ~ 'durch Versuche, Prüfen feststellen, wie etw. beschaffen ist, sich bewährt, ob es funktioniert'; SYN testen (1.2): ein Gerät (auf seine Funktionstüchtigkeit) ~, die Wirkung von Medikamenten, die Haltbarkeit eines Werkstoffes ~ * t Probe Erpel feRpl], der; ~s, SYN 'Enterich'; vgl. Ente (1.2); t FELD II.3.1: das prächtige Federkleid des ~s
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In den allgemeinen einsprachigen deutschen Bedeutungswörterbuchern WDG und HDG, im Großen Wörterbuch der deutschen Sprache (Duden) und im Duden-Universalwörterbuch sind Synonyme nicht als Wörterbucheinträge kenntlich gemacht. Für einen nichtmuttersprachlichen Benutzer wären Paraphrasen und damit kombinierte(s) Synonym(e) kaum zu durchschauen und nachzuvollziehen. Daher werden Synonyme in diesem Lernerwörterbuch durch SYN gekennzeichnet. Werden sie als alleiniges Interpretament verwendet, stehen sie zusätzlich in Anführungsstrichen, um sie als Definition und als Synonym zu charakterisieren. Anders als Synonyme sind Antonyme nicht direkt als Definition verwendbar, da der Umweg über den Gegensatz dem nichtmuttersprachlichen Benutzer bei der Identifikation äußerst hinderlich wäre. Antonyme werden im Lernerwörterbuch nur als begleitende Interpretamenta berücksichtigt. Durch die Einführung der Wortfamilie in das neue Lernerwörterbuch werden dem Benutzer Systemzusammenhänge vermittelt, die Morphologisches und Semantisches miteinander verbinden und ihm Wortbildungsregularitäten vermitteln, wobei mitunter alphabetisch weit auseinanderliegende Lexeme in einen Zusammenhang gestellt werden können wie beispielsweise trinken. Trank, Trunk, Trinker, Getränk, Gewohnheitstrinker etc. Jedes im Lernerwörterbuch verzeichnete Lexem wurde seinem Kernwort zugewiesen und unter diesem Kernwort in einer Art Register mit allen anderen zugehörigen Wörtern aufgeführt. So entstand ein geschlossenes System. Da die Wortfamilie von Haus aus diachronisch angelegt war, der diachronische Aspekt aber für den Lerner wenig tauglich schien, wurden die um ein Kernwort gruppierten Lexeme unter synchronischem Aspekt ausgewählt: Lexeme, deren Bindungen für die Wörterbuchmitarbeiter nicht mehr nachvollziehbar schienen, blieben unberücksichtigt. Auf diese Weise wurde das im DFC angewandte Verfahren des „regroupement" wieder aufgenommen - wenn auch nicht wie dort unter Umgehung des alphabetischen Prinzips, d. h., die Glieder der Wortfamilie werden an alphabetischer Stelle abgehandelt, aber trotzdem für den Benutzer überschaubar gemacht. Wortfamilien und Definitionen mit ihren hyponymischen und hyperonymischen Interpretamenta bilden nur zwei der möglichen onomasiologischen Komponenten eines Lernerwörterbuchs. Auf Anregung des Verlags kam es zu einer weiteren Verbindung semasiologischer und onomasiologischer Darstellungen. In einem Anhang werden auf der Basis der im Wörterbuch erscheinenden Stichwörter 85 Wortfelder angeboten. Sie sind in homozentristischer Sicht angelegt und reichen vom Menschen, seiner Tätigkeit, Umwelt (unbelebt, belebt) über Zustandsformen, Lageverhältnisse, Artefakte, Sinneseindrücke, Zeit, Bewegung, Veränderung, Ereignisse, Leben/Tod bis zur Religion. Von den Stichwörtern und Wortbedeutungen wird auf die entsprechenden Felder verwiesen: Ernte ['eRnto], die; ~, ~n 1. 'das Ernten'; t FELD H.4.1: die ~ beginnt im Spätsommer; bei der ~ helfen 2. 'Gesamtheit von (reifen) Früchten, Pflanzen, die von den Feldern, aus den Gärten geerntet werden od. wurden': eine gute, schlechte ~; die ~ einfahren, einbringen I. vt l.(verwunden) jd verletzt jdn [an etw (daf) l in etw (daf) ] qn blesse qn [a qc] 2. [...] II. vr jd verletzt sich qn se blesse; jd verletzt sich an etwas (daf) qn se blesse avec qc; jd verletzt sich an Dornen qn se blesse en touchant des epines; an einem Messer qn se coupe avec qc (Pons 1996, Teil Deutsch - Französisch: 685)
Bei diesem Eintrag fällt Verschiedenes auf. Es werden angegeben: a) eine transitive Verwendungsweise: verletzen mit einer obligatorischen NomE, einer obligatorischen AkkE und einer alternativen fakultativen Ergänzung an etwas bzw. in etwas, mit der auf den verletzten Körperteil Bezug genommen wird. Ein Beispiel mit dem Verb verletzen und mit einer ow-Phrase, mit der man sich auf einen verletzten Körperteil bezieht, ist leicht zu finden: Er verletzte seinen Feind am Arm. Ein Beispiel, in dem mit einer /«-Phrase auf verletzte Körperteile Bezug genommen wird, hingegen schwer: Er verletzte sie im Arm; im Magen; im Herzen; in der linken Seite; im Bauch ... sind nicht üblich. Man könnte sich zwar Kontexte vorstellen, in denen eine andere Präposition als an verwendet wird, aber die Belegsituation ist eindeutig. In allen IDS-Korpora sind nur Sätze mit verletzen an belegt. Die Präpositionalgruppe an + NG im D ist wohl die einzige typische Präpositionalgruppe, mit der auf verletzte Körperteile Bezug genommen wird. Eine /«/'/-Phrase wird hier nicht erwähnt. b) eine reflexive Verwendungsweise mit zwei Strukturen: jemand verletzt sich und jemand verletzt sich (an etwas). Mit dieser a/j-Phrase wird nicht Bezug genommen auf verletzte Körperteile, sondern auf den verletzenden Gegenstand. (Hier ist tatsächlich der verletzende Gegenstand gemeint, da sonst die Übersetzung durch avec und die Hervorhebung von sich an Dornen bzw. an einem Messer verletzen an dieser Stelle unverständlich wären.5) 4 5
Zur Darstellung der Valenzbeziehungen in diesem Wörterbuch s. Kubczak (1998). Ich möchte hier nur nebenbei bemerken, daß die Übersetzung avec für an problematisch ist: Er hat sich an der Ecke des Schranks verletzt wird nicht durch *// s 'est blesse avec le
Nachdenken über „ verletzen " und die Folgen
2.3
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„ Verletzen" in allgemeinen Bedeutungswörterbüchern oder: Es gibt doch noch mehr, als man denkt
Der Vollständigkeit halber soll hier noch der Artikel „verletzen" aus den zwei wichtigsten deutschen Bedeutungswörterbüchern vorgestellt werden. Einbezogen wurden das „Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache" (WDG) und „Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache" (DGWdS) als die beiden großen traditionellen Bedeutungswörterbucher. verletzen [...] 1. jmdn., sich verwunden, jmdm., sich eine Verletzung zufügen: er hat ihn mit dem Fahrrad angefahren und dabei leicht verletzt; sich beim Kartoffelschälen, am Stacheldraht, mit einem Messer v.; ich habe mich an der Hand, mir das Bein verletzt; mehrere Personen wurden schwer verletzt (WDG 1977, Bd. 6:4081) verletzen < sw. V; hat > [...] 1. durch Stoß, Schlag, Fall o. a. so beeinträchtigen, daß eine Stelle nicht mehr intakt, unversehrt ist: einen Menschen, sich v.; ich habe mich mit der Schere, beim Holzhacken verletzt; bei dem Unfall wurde er lebensgefährlich verletzt; ich habe mich am Kopf verletzt; ich habe mir das Bein verletzt; sie war schwer, leicht verletzt; ... er... schien aber tüchtig verletzt zu sein, wenigstens floß Blut aus dem Munde (Hesse, Steppenwolf 218) 2. [...] (DGWdS 1994, Bd. 8: 3686)
Da diese Wörterbücher andere Ziele verfolgen, kann man sie natürlich nicht auf explizite Valenzinformationen hin untersuchen. Interessant sind die Beispiele. Geht man davon aus, daß Lexikographen - platzbedingt - genau überlegen, welche Beispiele sie aufnehmen, kann daraus geschlossen werden, daß nur wichtige und als typisch angesehene Beispiele genannt werden.
2.4
Zusammenstellung des Materials
Die Unterschiede in der Darstellung des Verbs verletzen in den untersuchten Wörterbüchern zeigen, daß der Fall doch problematischer ist, als zuvor von uns angenommen. Stellt man alle Strukturen zusammen, die aufgrund der Informationen und der Beispiele aus den einschlägigen Wörterbüchern gewonnen wurden, bekommt man eine stattliche Liste von Möglichkeiten. Die Liste läßt erkennen, wie weit man sich von dem einfachen Jemand verletzt jemanden" vom Anfang entfernt hat: l. a
jemand verletzt jemanden Peter verletzt seinen Freund.
coin de l'armoire, sondern durch // s'est blesse au coin de l'armoire übersetzt. Und warum an Dornen idiomatisch übersetzt werden soll, ist nicht einsichtig: Elle s 'est blessee aux epines d'une rose ist ein korrekter Satz.
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Jacqueline Kubczak b
2.a b 3. a b 4.a b 5. a b 6.b 7.b
jemand verletzt sich Peter verletzt sich. jemand verletzt jemanden mit etwas [Instrument] Peter verletzt seinen Freund mit einem Messer. jemand verletzt sich mit etwas [Instrument] Peter verletzt sich mit einem Messer. jemand verletzt jemanden an etwas [Körperteil] Peter verletzt seinen Freund am Arm. jemand verletzt sich an etwas [Körperteil] Peter verletzt sich am Arm. jemand verletzt jemanden mit etwas [Instrument] an etwas [Körperteil] Peter verletzt seinen Freund mit einem Messer am Arm. jemand verletzt sich mit etwas [Instrument] an etwas [Körperteil] Peter verletzt sich mit einem Messer am Arm. jemand verletzt jemandem etwas [Körperteil] Peter verletzt seinem Freund den Arm. jemand verletzt sich [D] etwas [Körperteil] Ich habe mir den Arm verletzt. jemand verletzt sich an etwas [konkr. Objekt] Peter verletzt sich an einem spitzen Stein. jemand verletzt sich [Dativ] etwas [Körperteil] an etwas [konkr. Objekt] Peter verletzt sich den Arm an einem spitzen Stein.
a: Verletzender und Verletzter sind verschieden, b: Verletzender und Verletzter sind identisch.
Die Liste ist so zusammengestellt, daß immer zwei Möglichkeiten aufeinander abgebildet sind: zum einen ein Satz, in dem Verletzender und Verletzter verschieden sind (l.a-5.a), zum anderen ein Satz, in dem Verletzender und Verletzter identisch sind (l.b-5.b). Auffällig ist, daß die Punkte 6 und 7, unter denen Sätze aufgeführt werden, in denen mit einer Präpositionalphrase an + D auf einen verletzenden Gegenstand Bezug genommen wird, nicht unterteilt sind. Nur der Typ b (Verletzender und Verletzter identisch) ist vorhanden. „Jemand verletzt jemanden an etwas", z. B. *Peter verletzt seinen Freund an einem spitzen Stein, kommt nicht vor, obwohl der Satz Ich habe mich an einem spitzen Stein verletzt ganz unproblematisch ist. Genausowenig kommt vor Jemand verletzt jemandem etwas [Körperteil] an etwas [konkr. Objekt]", z. B. *Ich habe dir den Arm an der scharfen Kante des Schrankes verletzt, obwohl der Satz Ich habe mir den Arm an der scharfen Kante des Schrankes verletzt unauffällig ist. Nach unserer Untersuchung kommen Sätze dieser Art auch zu Recht nicht in den Wörterbüchern vor, sie wurden von allen Sprechern, die befragt wurden, als ungewöhnlich bis inakzeptabel eingestuft.6 Diese Einstufung wurde trotz ausgedehnter Recherche in unseren Korpora auch nicht falsifiziert. Es wurde kein Satz gefunden, in dem Verletzender und Verletzter verschieden sind und in dem mit einer Präpositionalphrase an + D auf einen verletzenden Gegenstand Bezug genommen wird.
Es wurde keine großangelegte Informantenbefragung durchgeführt, sondern im Institut und anderswo ungezwungen darüber geredet.
Nachdenken über „ verletzen "und die Folgen 3
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Folgen
Wie soll man denn aber nun verletzen darstellen? Soll man Überhaupt von e i n e m verletzen ausgehen? Oder wäre es besser, mehrere verletzen mit unterschiedlichen Satzbauplänen anzusetzen? Die Entscheidung über den Satzbauplan ist hier nicht losgelöst von dem Problem der Reflexivität zu sehen. Gibt es nur ein Verb verletzen mit reflexivem Gebrauch (wie im KVL dargestellt), oder gibt es ein nichtreflexives Verb verletzen und ein reflexives Verb sich [Akk.] verletzen, oder gibt es gar ein Verb verletzen und zwei Reflexiwerben sich [Akk.] verletzen und sich [Dat.] verletzen1!
3. l
Ergänzungen/Angaben?
3.1.1 Allgemeines Trotz aller Schwierigkeiten, die die Unterscheidung zwischen Ergänzungen und Angaben mit sich bringt, scheint es unter den Valenztheoretikern im Augenblick einen Konsens zu geben, der darin besteht, daß neben den Satzgliedern, deren Wegstreichen zu einem ungrammatischen Satz führen würde und die also unbestritten Ergänzungs- oder Komplementstatus haben, auch die Satzglieder als Ergänzung (fakultativ) eingestuft werden, die als Mitspieler des Szenarios, der „Szene" eine Rolle spielen. Satzglieder, mit denen auf den allgemeinen Rahmen der mit dem Verb beschriebenen Handlung Bezug genommen wird, werden als Angaben gewertet. In der „Grammatik der deutschen Sprache" (Zifonun u. a. 1997: 1038f.) wird in diesem Zusammenhang von Sachverhaltsbeteiligung für die möglichen Ergänzungskandidaten und von Sachverhaltskontextualisierung für die Angabenkandidaten gesprochen. Bei einem Szenario mit verletzen müssen lokale und temporale Bestimmungen wie Er verletzte sich auf dem Marktplatz um drei U h r als sachverhaltskontextualisierend angesehen werden und mithin als Ergänzungskandidaten durchfallen. In „Deutsche Syntax dependenziell" (Heringer 1966) steht: „Komplemente sind inhaltlich notwendig. Sie werden von Sprechern und Hörern erwartet, haben sozusagen psychische Realität für den, der die Verbbedeutung kennt". Heringer schreibt weiter: „Komplemente sind V-spezifisch. Sie passen nur zu bestimmten Verben, können nicht in beliebiger Zahl oder beliebiger Form in einem Satz hinzugefügt werden" (Heringer 1996: 159). In „Verben in Feldern" (Schumacher 1986) hatten wir versucht, einen ähnlichen Gedanken ein wenig präziser zu fassen. Die fakultativen Ergänzungen wurden mit Hilfe eines Implikationstests ermittelt: „Es wird untersucht, ob eine Implikationsbeziehung zwischen Sätzen vorliegt, die das betreffende Satzglied nicht enthalten, und solchen, in denen es vorkommt. Aus dem Satz jemand ißt folgt immer der Satz jemand ißt etwas. Wenn der Implikationstest negativ ausfiel, wurde das betreffende Satzglied als Verbangabe gewertet und somit ausgeschieden. Wenn hingegen der Implikationstest positiv ausfiel, war weiter zu fragen, ob das betref-
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fende Satzglied spezifisch für nur bestimmte Subklassen von Verben ist oder nicht. Dies bedeutet [d. h., es ist zu tragen,], ob die Bedeutung des jeweiligen Verbs nur erklärt werden kann, wenn in der Paraphrase auf die Variable Bezug genommen wird, die das fragliche Satzglied vertritt" (Schumacher 1986: 21). Im Grunde ähnlich wird in der „Grammatik der deutschen Sprache" vorgegangen. Hier wird versucht, die Kandidaten für den Ergänzungsstatus drei Tests im Filterverfahren durchlaufen zu lassen: erstens den Reduktionstest (Grammatikalitätstest durch Wegstreichen, s. oben), dann den Folgerungstest (dem Implikationstest von Verben in Feldern sehr ähnlich) und schließlich den Anschlußtest (und zwar- bzw. und cfcw-Test, als weitere Hilfe zum Erkennen von Angaben).7
3.1.2 Die klaren Fälle Im folgenden sollen neben dem Kriterium Reduktionstest die Kriterien Folgerungstest und Verbgruppen- bzw. Verbspezifik, die wir als sehr wichtig erachten, am Fall von verletzen durchgespielt werden. Nach dem Ausscheiden von Orts- und Zeitbestimmungen als Ergänzungskandidaten sind im Falle von verletzen als mögliche Mitspieler in der Szene geblieben: - derjenige, der verletzt; - derjenige, der verletzt wird; - der verletzte Körperteil; - der verletzende Gegenstand oder die verletzende Substanz.8 Diese Mitspieler werden sprachlich ausgedrückt durch: -
NG im Nominativ als Belegung für denjenigen, der verletzt; NG bzw. Reflexivpronomen im Akkusativ als Belegung für denjenigen, der verletzt wird; NG im Akkusativ als Belegung für den verletzten Körperteil; an + D-Phrase als Belegung für den verletzten Körperteil; mit + D-Phrase als Belegung für den verletzenden Gegenstand / die verletzende Substanz; an + D-Phrase als Belegung für den verletzenden Gegenstand.
Im Filter der Grammatikalität sind über den Reduktionstest mehrere Minimalsätze übriggeblieben, die, wenn sie ohne besondere Fokussierung gesprochen und nicht in einen größeren Kontext eingebettet werden, nicht weiter reduziert werden können, ohne ungrammatisch zu wirken:
Zu den syntaktischen Tests zur Unterscheidung von Ergänzung und Angabe und zu diesem Problemkreis im allgemeinen s. besonders [auch kritisch] Heibig (1992: 72-97), Zifonun u. a. (1997: 1043f.). Möglich wäre noch die „verletzende Handlung". Dieser Punkt soll hier aber nicht weiter verfolgt werden.
Nachdenken über „ verletzen " und die Folgen
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jemand verletzt jemanden: Du hast deinen Freund verletzt. jemand verletzt sich [Akk]: Du hast dich verletzt. jemand verletzt etwas [Körperteil]: Du hast die Hand deines Freundes / seine Hand verletzt. Die entsprechenden Satzglieder werden also als obligatorische Ergänzungen angesehen. Durch den Reduktionstest sind die Satzglieder gefallen, mit denen auf den verletzenden Gegenstand Bezug genommen wird - die /f-Phrase und die erste ««-Phrase -, sowie das Satzglied an + D, mit dem auf den verletzten Körperteil Bezug genommen wird. Diese Satzglieder sollten also weiteren Tests unterzogen werden.
3.1.3 Status der Satzglieder, mit denen auf den verletzenden Gegenstand bzw. die verletzende Substanz Bezug genommen wird: die „mit-"/ „ an- "-Phrase Der verletzende Gegenstand, die verletzende Substanz sind wohl sachverhaltsbeteiligt und nicht sachverhaltskontextualisierend. Diese Einschätzung wird dadurch gestützt, daß ein verletzender Gegenstand über ein metonymisches Verfahren durch ein Satzglied in NomE-Position (Subjektstelle) dargestellt werden kann: Das Messer, ungeschickt gehalten, verletzte ihn schwer. Wie steht es mit dem Implikations- bzw. Folgerungstest? Werden ein verletzender Gegenstand oder eine verletzende Substanz immer mitgedacht, wenn ein Satz mit verletzen verwendet wird? Diese Frage ist nicht so einfach zu beantworten. Im Gegensatz zu erkranken, mit dem ein Sachverhalt dargestellt wird, der sich sozusagen von innen, selbständig entwickelt, kann verletzen nur bezogen werden auf einen Sachverhalt, der durch einen Kontakt zwischen Haut, Organ bzw. Knochen und einem Gegenstand (Messer, Stein, Schrankecke) oder einer Substanz (heißes Wasser, Giftgas u. ä.) herbeigeführt wird. Andererseits kann man nicht sagen, daß bei allen Verwendungen von verletzen ein Instrument im engeren Sinne mitgedacht wird, z. B. nicht in einem Satz wie Ich bin gefallen und habe mich dabei verletzt. Auch wenn zur Verletzung ein Kontakt mit einem Gegenstand oder einer Substanz notwendig ist, kann ein harter Boden, auf den jemand aufgeprallt ist, nicht wirklich als Instrument gewertet werden. Allerdings sind Sätze, in denen ausgedrückt wird, daß jemand eine andere Person als sich selbst verletzt, nicht denkbar ohne ein Instrument, und sei es die Hand oder der Fuß; ein Instrument, das freilich nicht ausgedrückt werden muß. Dabei ist es nicht wesentlich, ob die Verletzung beabsichtigt ist oder nicht. Ist kein Instrument beteiligt, z. B., wenn jemand eine Person vom Stuhl herunterschubst und diese sich dann beim Fallen verletzt, wäre es ungewöhnlich, wenn der Täter fragen würde Habe ich dich verletzt? Üblicher wäre die Frage Hast du dich verletzt? Ungewöhnlich wäre auch ein Vorwurf des Verletzten wie Du hast mich verletzt! Der Vorwurf würde eher lauten Du hast mich heruntergeschubst, und jetzt habe ich mich verletzt!
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Die Verwendung einer aw-Phrase, um einen verletzenden Gegenstand darzustellen, unterliegt auch gewissen Restriktionen: Wie oben schon gesagt, wurde der Satz *Ich habe ihn an einem Stein verletzt als ungewöhnlich bis nicht akzeptabel eingestuft. Der Satz Ich habe mich beim Rosenschneiden an den Dornen verletzt ist hingegen ein normaler, unauffälliger Satz. Es kann festgehalten werden, daß der verletzende Gegenstand zwar immer mitgedacht wird, allerdings in zwei unterschiedlichen Funktionen: einerseits in einer echten Instrumentalfunktion, dargestellt in Form einer /«//-Phrase. Diese m//-Phrase kann sowohl in Sätzen vorkommen, in denen ausgedrückt wird, daß jemand eine andere Person verletzt, als auch in Sätzen, in denen ausgedrückt wird, daß eine Person sich selbst verletzt. Sie kommt andererseits in einer allgemeineren Verursacherfunktion vor, dargestellt in Form einer aw-Phrase, die aber in Sätzen, in denen ausgedrückt wird, daß jemand eine andere Person verletzt, nicht vorkommt. Um einen Sachverhalt auszudrücken, kann man oft anstelle eines Satzes mit Vollverb einen Satz mit einem entsprechenden Funktionsverbgefüge verwenden. Anstelle von verletzen kämen eine Verletzung zufügen, sich eine Verletzung zuziehen und eine Verletzung erleiden in Frage. Der Satz Jemand hat sich an etwas verletzt kann paraphrasiert werden mit Jemand hat sich an etwas eine Verletzung zugezogen. Der Satz Jemand verletzt jemanden hingegen kann nicht paraphrasiert werden mit * Jemand zieht jemandem eine Verletzung zu. Das Funktionsverbgefüge eine Verletzung zufügen kann wiederum nicht verwendet werden als Paraphrase von verletzen in dem Satz Jemand verletzt sich an einem Stein'. *Ich habe mir an einem Stein eine Verletzung zugefügt ist nicht üblich. Sätze wie Ich habe mich mit einem Messer verletzt oder Ich habe ihn mit einem Messer verletzt sind aber beide paraphrasierbar mit Ich habe mir eine Verletzung mit einem Messer zugefügt bzw. Ich habe ihm eine Verletzung mit einem Messer zugefügt. Es gibt also gute Gründe, sich verletzen an und sich verletzen mit unterschiedliche Bedeutungen zuzuschreiben. Die beiden Satzglieder - die mitPhrase und die aw-Phrase - sind bedeutungsunterscheidend (anders ausgedrückt: verbverwendungs- bzw. verbgruppenspezifisch). Daraus folgt, daß sie als Ergänzungen eingestuft werden müssen. Die Ergebnisse der Überlegungen können in folgender (noch) vorläufiger Darstellung festgehalten werden: a) sich verletzen an: 'ein Vorgang / ein Ereignis führt dazu, daß durch den Kontakt mit etwas ein Körperteil von einer Person nicht mehr unversehrt ist' - sich eine Verletzung zuziehen Sich verletzen muß hier als echtes Reflexiwerb eingestuft werden, da *Ich verletze mich und ihn an einem Stein kein akzeptabler Satz ist; sich wird also zum Verbalkomplex gerechnet: sich [Akk.] verletzen, mit dem Satzbauplan: obligatorische Nominativergänzung [Pers.] und fakultative Präpositivergänzung (an + D [konkr. Gegenst]). In der Notation von VALBU: sich [A] verletzen: NomE (PräpE).
Nachdenken über „ verletzen " und die Folgen
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b) jemanden/sich verletzen mit: 'jemand bewirkt bewußt oder unbewußt, absichtlich oder nicht, mit Hilfe eines Instruments, daß ein Körperteil von jemandem oder von sich selbst nicht mehr unversehrt ist' = jemandem/sich eine Verletzung zufügen Dieses verletzen ist kein echtes Reflexiwerb, sondern ein reflexiv gebrauchtes Verb, da Er verletzte sich und das Kind mit der Säge ein akzeptabler Satz ist. Es gibt also ein Satzglied im Akkusativ, mit dem auf die verletzte Person Bezug genommen wird. Der Satzbauplan lautet demzufolge: obligatorische Nominativergänzung, obligatorische Akkusativergänzung, fakultative mitPhrase, die in VALBU als Adverbativergänzung (in Schumacher 1986: Adverbialergänzung) eingestuft wird. In der Notation von VALBU: verletzen: NomE AkkE (AdvE).9
3.1.4 Status der Satzglieder, mit denen auf den verletzten Körperteil Bezug genommen wird Die im vorigen Punkt behandelten Beschreibungen sind noch vorläufig, denn sie erlauben nicht, die Sätze Ich verletze mich/dich am Arm und Ich verletze den Arm meiner Schwester oder Ich verletze mir/dir den Arm abzubilden, die nach Mustern, die in der oben angeführten Zusammenstellung der zu behandelnden Strukturen vorkommen, gebildet sind. Die Frage, die sich stellt, ist die nach dem Status des Satzglieds, mit dem auf den verletzten Körperteil Bezug genommen wird. Festgehalten werden kann, daß der verletzte Körperteil gewiß nicht sachverhaltskontextualisierend, sondern deutlich sachverhaltsbeteiligt ist. Um die Verwendungsweisen von verletzen, die in diesem Beitrag behandelt werden, von anderen zu unterscheiden, ist in einer Bedeutungsdefinition ein Rekurs auf „Körper bzw. Körperteil" notwendig, s. z. B. den oben zitierten Artikel aus dem „Großwörterbuch Deutsch als Fremdsprache". Dem Implikations- bzw. Folgerungstest scheint also Genüge getan. Der sprachliche Zugriff auf den Körperteil geschieht entweder in Form einer Nominalgruppe im Akkusativ oder in Form einer Präpositionalgruppe mit an. In der Belegungsform Nominalgruppe im Akkusativ ist das Satzglied, das auf den Körperteil Bezug nimmt, reduktionstestresistent: Ich verletze den Arm meiner Schwester kann nicht reduziert werden auf *Ich verletze. Aus diesem Grund muß dieses Satzglied, wie schon gesehen, als obligatorische Ergänzung eingestuft werden. Die Präpositionalgruppe an + D kommt aber nur in Sätzen vor, in denen auch eine Akkusativergänzung, mit der auf die verletzte Person Bezug genommen wird, enthalten ist, z. B.: Ich verletze mich/ihn am Arm. Wird die Präpositionalphrase gestrichen, bleibt ein akzeptabler Satz übrig: Ich verletze mich/ihn. Der Anschlußtest fallt positiv aus: Ich verletze mich/ihn und das am Die Ergänzungsklassen hier definieren zu wollen ist aus Platzgründen nicht möglich und ist für das, was in diesem Beitrag illustriert werden soll, unerheblich. Zu den Definitionen der Ergänzungsklassen vgl. Schumacher (1986: 22-35).
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Arm ist möglich. Syntaktisch gesehen, könnte die Präpositionalphrase also als Angabe gewertet werden. Andererseits könnte sie inhaltlich als Ergänzung gewertet werden. Darüber hinaus ist, wie wir oben gesehen haben, die Präposition fest und typisch für eine Gruppe von Verben; vgl. z. B. jemandem an etwas weh tun. In solchen Zwitterfällen kann man sich verschieden entscheiden. Im Hinblick auf die Verwendung des Wörterbuchs auf dem Gebiet Deutsch als Fremdsprache haben wir es für zweckmäßig angesehen, Zwitterfälle eher als Ergänzungen einzustufen.
3.2 Eigene Vorschläge Nach den dargestellten Überlegungen ergäben sich für uns folgende Eintragungen für verletzen: a) sich [A] verletzen: NomE [Pers.] (PräpE ) [an + D [konkr. Objekt]]: sich eine Verletzung zufügen, eine Verletzung erleiden ich verletzte mich (an einem spitzen Stein) b) verletzen: NomE [Pers.] AkkE [Pers.] (AdvEl) [mit + D [Instrument]] (AdvE2) [an + D [Körperteil]]: eine Verletzung zufügen ich verletzte mich/dich (mit einem Messer) (an der Hand) c) verletzen: NomE [Pers.] AkkE [Körperteil] (AdvE) [mit + D [Instrument]]: eine Verletzung zufügen ich verletzte den Arm meiner Schwester (mit einem Messer) verletzen (c) kann auch mit einem Pertinenzdativ verwendet werden, der je nach theoretischem Ansatz außerhalb des Verbskopus lokalisiert wird und daher den Satzbauplan nicht berührt oder der innerhalb des Verbskopus lokalisiert wird und zu der Einführung einer fakultativen DatE, also zu einer Änderung des Satzbauplans, führt: NomE AkkE (DatE) (AdvE) ich verletzte (mir/dir) den Arm (mit einem Messer).
Da Sätze wie *Ich verletzte dir den Arm an einem Stein nicht akzeptabel sind, Sätze wie Ich verletze mir den Arm an einem Stein jedoch unauffällig sind, ist noch zu überlegen, ob nicht eine weitere Reflexivform, diesmal mit einem Reflexivum im Dativ, hinzugefügt werden sollte: d) sich [D] verletzen: NomE [Pers.] AkkE [Körperteil] (PräpE) [an + D [konkr. Gegenstand]]): sich eine Verletzung zuziehen, eine Verletzung erleiden ich verletzte mir den Arm (an einem Stein)
4
Schlußwort
Wie verletzen in unserem Wörterbuch letztlich dargestellt wird, steht noch nicht hundertprozentig fest. Es sei noch einmal darauf hingewiesen, daß es hier nicht um die vollständige Beschreibung des Verbs verletzen ging. Vielmehr sollte nur ein Eindruck von den tatsächlichen Schwierigkeiten (aber auch von den interessanten Erkenntnissen) vermittelt werden, auf die der Lexikograph stößt, wenn er sich auf die genaue Analyse eines ganz bestimmten Verbs einläßt.
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Wolfgang Motsch
Zur semantischen Grundlage deverbaler Nomen
Adjektive und Verben können nominalisiert werden, d. h. zu lexikalischen Einheiten (LE) umgeformt werden, die syntaktisch als Nomen kategorisiert sind. Für die Lexikon- und speziell für die Wortbildungsforschung ergibt sich in diesem Zusammenhang die Frage: Was passiert bei der Umformung mit der lexikalischen Beschreibung der Basisadjektive oder -verben, speziell mit deren Argument- oder Valenzstruktur? Zu dieser Problematik gibt es eine umfangreiche Forschung, die besonders im Bereich der germanistischen Linguistik durch den Jubilar gefördert und geprägt wurde. Vgl. den Überblick in Heibig (1992). Die gleiche Fragestellung wurde auch in spezielleren Grammatikrichtungen, besonders in der generativen Grammatik, ausführlich untersucht. Vgl. Grimshaw (1990). In diesem Beitrag werden einige zentrale Fragen des angedeuteten Problemfeldes aufgegriffen und von der Warte der Wortbildung aus untersucht. Ich beschränke mich dabei auf Muster für deverbale Nomen. Zur lexikalischen Beschreibung einer Lexikoneinheit zählen die phonologische Form, die Angabe der syntaktischen Kategorie, der die Einheit angehört, eine Angabe der syntaktischen Argumentstruktur, d. h. des syntaktischen Rahmens, den die Einheit verlangt, sowie eine semantische Repräsentation, die die Wortbedeutung wiedergibt. Die semantische Repräsentation von Verben charakterisiert Sachverhaltstypen, die durch Aktanten und Beziehungen zwischen ihnen oder durch die Zuweisung von Eigenschaften bestimmt sind. Wir schließen uns Richtungen an, die semantische Repräsentationen als Prädikat-Argument-Strukturen verstehen, die sich auf eine begrenzte Anzahl von elementaren Prädikaten zurückführen lassen (semantische Dekomposition). Zur semantischen Repräsentation eines Verbs gehört die Angabe einer semantischen Argumentstruktur (eines Theta-Rasters, der semantischen Valenz). Das ist eine hierarchisch geordnete Folge von Argumentstellen mit zugeordneten semantischen Rollen. Semantische Argumentstellen sind als Leerstellen für Aktanten zu verstehen, die eine durch die Rolle ausgezeichnete Funktion bei der Charakterisierung eines Sachverhaltstyps haben. Im vorliegenden Beitrag werden nur Verben mit Argumentstellen betrachtet, denen die semantischen Rollen Agens und Thema zugeordnet sind. Wir werden von Agens- bzw. Thema-Stelle sprechen. Die Agensrolle spielen Aktanten, die ein Geschehen initiieren oder auslösen, die Themarolle solche, die von dem Geschehen direkt betroffen sind. Man kann annehmen, dass die semantische Argumentstruktur in einem wesentlichen Be-
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Wolfgang Motsch
reich von Verben systematisch auf syntaktische Strukturen abgebildet werden kann, die für die sprachliche Realisierung der semantischen Argumente verfügbar sind. Die Agens- bzw. die Thema-Stelle wird syntaktischen Phrasen zugeordnet, die die syntaktischen Funktionen Subjekt bzw. direktes Objekt ausüben. Die theoretische Darstellung der Argumentstruktur von LE erfasst einen zentralen Aspekt der Beziehung zwischen Syntax und Semantik. Sie muss angeben, welche syntaktischen Strukturen notwendig sind um die semantischen Anforderungen von LE zu erfüllen. Um die Abbildung semantischer Argumentstellen mit semantischen Rollen auf syntaktische Strukturen formulieren zu können, muss deren syntaktische Position genau bestimmt werden. Einen Vorschlag für die Beschreibung deutscher Verben auf der angedeuteten Grundlage unterbreitet Büring(1992). Die eingangs gestellte Frage kann nun so präzisiert werden: Worin unterscheidet sich die lexikalische Beschreibung deverbaler Nomen von der ihrer Basisverben? In jedem Falle durch die Veränderung der syntaktischen Kategorie der LE und - in den meisten Fällen - auch der phonologischen Form, die durch Affixe erweitert oder durch Ablaut variiert wird. Auch die Abbildung semantischer Argumentstellen mit semantischen Rollen auf Konstituenten der syntaktischen Struktur muss sich mit der Umkategorisierung ändern, da die sprachliche Realisierung semantischer Rollen nun im Rahmen einer Nominalphrase erfolgt, deren Kern das derivierte Nomen bildet. Veränderungen dieser Art müssen durch Wortbildungsregeln ausgewiesen werden. Für eine nicht geringe Teilmenge von deverbalen Nomen gilt: Ihre lexikalische Beschreibung unterscheidet sich von der ihrer Basisverben - neben einer Erweiterung oder Veränderung der phonologischen Form - nur durch die syntaktische Kategorie und die Abbildung der semantischen Argumentstruktur auf Konstituenten von Nominalphrasen. Betrachten wir die folgenden Beispiele: 1l) (2) (3) (4)
Napoleon erobert das brennende Moskau. die Eroberung des brennenden Moskau durch Napoleon Napoleons Eroberung des brennenden Moskau seine Eroberung des brennenden Moskau
Im Beispielsatz (1) wird ein partikuläres Geschehen (Ereignis) in verbaler Form beschrieben. Es schließt zwei Aktanten ein, Napoleon und das brennende Moskau^ die die Rolle des Agens bzw. des Themas spielen. Die Agens-Stelle des Verbs erober- wird auf syntaktische Konstituenten abgebildet, denen die syntaktische Funktion Subjekt eines Satzes zukommt, die Thema-Stelle auf die, die als direktes Objekt einer Verbalphrase fungieren. Die Beispiele (2) bis (4) enthalter) Nominalphrasen mit einem vom Verb des ersten Satzes (erober-) derivierten Nomen (Eroberung). Dieses Nomen bildet den Kern der Nominalphrase, zu der in Beispiel (2) neben dem Artikel eine Nominalphrase im Genitiv (NP-gen) und eine Präpositionalphrase (PP) mit der Präposition durch gehört. Beispiel (3) gibt eine NP an mit einer vorangestellten NP-gen und einer dem Nomen folgenden NP-gen. Die in Beispiel (4) aufgeführte NP enthält ein Possessivpronomen und eine nachgestellte NP-gen. Der Ausdruck mit verbalem Kern unterscheidet sich semantisch von den Ausdrücken mit nominalem Kern
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dadurch, dass nur im ersten Fall eine Spezifizierung des Satzmodus und der Auxiliarkategorien des Verbs erfolgt. In beiden Fällen wird auf den gleichen Sachverhalt referiert. Man kann deshalb sagen, dass die semantische Repräsentation mit ihrer semantischen Argumentstruktur vom Nomen Übernommen wird. Man spricht deshalb auch von Ereignisnominalisierung. Das bedeutet: Es gibt Wortbildungsmuster für deverbale Nomen, die die Bedeutung des Basisverbs voll erhalten. Dazu gehören im Deutschen vor allem die produktiven Wortbildungsmuster mit den Suffixen -en (das Erobern, das Verletzen, das Brennen) und -ung (die Eroberung, die Beobachtung, die Verurteilung). Wir werden in diesen Fällen von reiner Nominalisierung sprechen. Die reine Nominalisierung ermöglicht es, Sachverhalte zu Aktanten anderer Sachverhaltsbeschreibungen zu machen, d. h., als Argumente von Prädikaten zu verwenden. Darüber hinaus verfugt das deutsche Lexikon über eine Fülle von vergleichbaren Nominalisierungen, die aber auf Wortbildungsmuster mit inaktiven Mustern zurückgehen. Die meisten Bildungen dieser Art sind stark lexikalisiert und können von den regulären Eigenschaften der reinen Nominalisierung abweichen. Vgl. Motsch (1999: 321 ff). Beobachtungen dieser Art führten zu einer Unterscheidung von reverbalisierbaren und nicht reverbalisierbaren Verbalnomen (Sandberg 1979) oder von solchen, die die Bedeutung der Basisverben erhalten, und solchen, die sie verändern (Heibig 1982: 41ff; 1992: 112ff). Für reverbalisierbare Verbalnomen mit dem Suffix -en nimmt Sandberg die Erhaltung der semantischen Valenzstruktur (der Leerstellen) des Basisverbs an. Als Möglichkeiten der sprachlichen Realisierung zieht er neben Konstituenten der NP auch „Partnerwörter" im gleichen Satz oder im Kontext in Betracht. Damit wird allerdings die schärfere Frage nach dem Verhältnis zwischen semantischen Eigenschaften von LE und den daraus abzuleitenden Bedingungen an syntaktische Strukturen übergangen. Grimshaw unterscheidet, auf der Grundlage eines generativen Paradigmas, zwischen Nominalisierungen, auf die die Prinzipien der Theta-Theorie anzuwenden sind („event-nominalization"), und solchen, für die das nicht gilt (besonders Resultat-Nominalisierungen und Lexikalisierungen). Die Theta-Theorie stellt strenge Bedingungen an die Abbildung der semantischen Struktur von Verben auf deren syntaktische Entsprechungen. In beiden Fällen wird die Fragestellung auf einen speziellen Typ von Nominalisierungen beschränkt. Zudem wird die Frage, ob die semantischen Argumentstellen des Verbs auch beim Nomen obligatorisch in syntaktischen Strukturen realisiert werden müssen, wenig überzeugend beantwortet. Hier sei zunächst vermerkt, dass transitive Verben in Deklarativ- und Interrogativsätzen nur zusammen mit einem Subjekt auftreten können. Das bedeutet: Die Agens-Stelle muss aus innersprachlichen Gründen sprachlich ausgefüllt werden. Dagegen gibt es keine rein syntaktischen Gründe für die sprachliche Realisierung der Agens-Stelle in einer NP. Das Gleiche gilt in allen Fällen für die Thema-Stelle, es sei denn, man nimmt an, dass die Existenz einer Thema-Stelle in der semantischen Repräsentation eines Verbs die notwendige sprachliche Realisierung zur Folge hat. Eben diese Annahme ist in die Theta-Theorie der generativen Gram-
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matik eingeschlossen. Es darf keine transitiven Verben ohne gleichzeitiges Auftreten eines direkten Objektes geben. Für reine Nominalisierungen ist eine solche Aussage zweifelhaft. Hier hängt die Frage, ob die Themarolle sprachlich zu realisieren oder auf semantischem Wege auszufüllen ist, in ganz entscheidendem Maße vom Kontext ab. Vgl.: (5) (6)
Was macht Napoleon mit Moskau? *Napoleon erobert. Napoleon beschloss Moskau zu erobern und zu besetzen. Die Eroberung war ein Kinderspiel.
Aus den bisher angeführten Beispielen ergibt sich: l. Die Argumentstellen der semantischen Repräsentation von Verben mit den zugehörigen semantischen Rollen bleiben bei der reinen Nominalisierung erhalten. 2. Notwendigkeit und Art der sprachlichen Realisierung verändern sich mit der Nominalisierung. Beide Beobachtungen müssen bei der Bestimmung des Begriffs „Argumentstruktur" bzw. „Valenz" berücksichtigt werden. Durch die Unterscheidung zwischen semantischer und syntaktischer Argumentstruktur einer LE ergibt sich die Möglichkeit, identische semantische Strukturen von Verben und deverbalen Nomen anzunehmen und zugleich unterschiedliche syntaktische Realisierungen in Betracht zu ziehen. Wir gehen davon aus, dass Wortbildungsmuster Angaben über die Veränderung der syntaktischen Argumentstruktur des Basisverbs enthalten müssen. So muss das Muster für reine Nominalisierungen angeben, wie die Agens- und die Thema-Stelle transitiver Verben im Rahmen einer NP realisiert werden können. Es scheint uns jedoch angesichts der sprachlichen Fakten sinnvoll zu sein, keine obligatorische sprachliche Realisierung zu verlangen. Notwendig ist dagegen in jedem Fall eine Ausfüllung der Argumentstellen (Leerstellen) der semantischen Argumentstruktur. Es scheint für Nominalisierungen typisch zu sein, dass neben einer explizit sprachlichen Ausfüllung der Argumentstellen auch eine implizit semantische in Frage kommt, d. h. eine Ausfüllung der Argumentstellen durch geeignete semantische Repräsentationen, die im engeren oder weiteren Kontext ermittelbar sind. Das heißt: Es muss die prinzipielle Möglichkeit einer syntaktischen Ausfüllung von semantischen Argumentstellen geben; ob von ihr Gebrauch gemacht wird, hängt von pragmatischen Prinzipien und Strategien ab. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass semantische Argumentstellen ein wesentlicher Bestandteil der Repräsentation eines Verbkonzepts sind. Sie sind an der mit Verbbedeutungen vorgenommenen Identifizierung von Sachverhaltstypen direkt beteiligt. In syntaktischen Strukturen entsprechen den semantischen Argumentstellen Phrasenstrukturen mit herausgehobenen Positionen. Diese Positionen unterscheiden sich von der freier Zugaben. In Grammatiken wird dieser Unterschied durch Begriffe wie Objekt, Ergänzung, Komplement einerseits und Adverbial, Angabe, Adjunkt andererseits erfasst. Begriffe des ersten Typs erfassen syntaktische Einheiten, denen semantische Argumentstellen zugeordnet sind. Begriffe des zweiten Typs beziehen sich auf syntaktische Einheiten, die zusätzliche Prädikationen vornehmen. Semantische Argumentstellen gehören zur grundsätzlichen Charakterisierung eines Konzepts,
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zusätzliche Prädikationen sind dagegen mögliche, aber nicht notwendige Modifikationen. Diese zunächst an Verben genauer untersuchte Differenzierung lässt sich auch auf Nominalisierungen übertragen. Vgl.: (7) (8)
die Verringerung der Arbeitslosigkeit durch eine gezielte Arbeitsmarktpolitik die Verringerung der Arbeitslosigkeit im letzten Quartal
Zur lexikalischen Bedeutung von Verringerung gehören eine Agens- und eine Themastelle, d. h., das Wort kann nur erfolgreich verwendet werden, wenn rekonstruierbar ist, wer der Initiator und was der von dem Geschehen betroffene Gegenstand ist. Anders ausgedrückt: Das von der Nominalisierung bezeichnete Geschehen ist unvollständig, wenn keine Ausfüllung der semantischen Argumentstellen möglich ist. In Beispiel (7) entspricht der Agens-Stelle die Präpositionalphrase durch eine gezielte Arbeitsmarktpolitik und der Thema-Stelle die Nominalphrase im Genitiv der Arbeitslosigkeit. In Beispiel (8) wird die Nominalisierung durch eine Präpositionalphrase temporal modifiziert. Die nähere zeitliche Bestimmung gehört aber nicht zur Identifizierung des Konzepts, das durch Verringerung bezeichnet wird. Es wird also angenommen, dass die Unterscheidung zwischen Komplementen und Adjunkten (oder Ergänzungen und Angaben) auf Unterschiede der semantischen Repräsentation zurückgeht, d. h. auf semantische Argumentstellen von Prädikaten oder auf zusätzliche Prädikate. Notwendigkeit und Art der sprachlichen Realisierung können dann separat dargestellt werden. Eine große Anzahl deverbaler Nomen geht auf Wortbildungsmuster zurück, die semantische Argumentstellen der Basisverben zur Charakterisierung der Referenzstelle eines Nomens umfunktionieren. Zu nennen sind hier besonders Nomina agentis, Nomina acti, Resultativa und Nomina instrument!. Das semantische Muster von Nomina agentis lässt sich wie folgt formulieren: [LEBEWESEN & V (LEBEWESEN^ ,(xthema))] ((Xthema,) r) 'Referenten sind Lebewesen, die Agens eines Geschehens V sind (das einen Gegenstand als Thema hat)' Das semantische Muster charakterisiert Lebewesen - in der großen Mehrzahl der Bildungen handelt es sich um Personen - durch eine typische Tätigkeit oder ein typisches Verhalten. Als Basis können transitive und intransitive Verben auftreten: (9)
Schreiber, Vertreter, Liebhaber, Ausbilder, Verleumder, Lügner, Heuchler, Bettler
Die Agens-Stelle des Basisverbs wird durch das Muster verbraucht. Sie steht nicht mehr für eine semantische oder sprachliche Ausfüllung zur Verfügung. Die Thema-Stelle bleibt dagegen erhalten und muss semantisch oder sprachlich ausgefüllt werden: (10) (11) (12)
der Eroberer Moskaus*durch Napoleon der Schreiber dieses Aufsatzes der Liebhaber der Praktikantin des Weißen Hauses
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Nomina agentis können Verben enthalten, die auf partikuläre Geschehen referieren. Das trifft auf Beispiel (10), (l 1) und (12) zu. In diesen Fällen muss das spezielle Geschehen rekonstruierbar sein. Die sprachliche Ausfüllung der Thema-Stelle ist deshalb in den meisten Verwendungskontexten des Nomens zu erwarten. In anderen Fällen referieren die Nomen auf habituelle Handlungen (Berufe, soziale Rollen) oder Verhaltensweisen: (13)
Vertreter, Ausbilder, Verleumder, Blender
Wir nehmen an, dass die Thema-Stelle in diesen Beispielen durch die Lexikalisierung des Verbalnomens ausgefüllt sein kann: (14) (15)
Er ist Vertreter bei einer Chemiefirma. der Vertreter des Direktors
Vertreter in (14) ist eine Funktionsbezeichnung 'Person, die eine Firma (bei möglichen Kunden) vertritt'. Die Thema-Stelle ist in der lexikalisierten Bedeutung besetzt. Die Präpositionalphrase bei einer Chemiefirma ist als freie Modifikation zu analysieren. Wie das Beispiel (15) zeigt, kann Vertreter aber auch als Nomen verwendet werden, das eine Thema-Stelle zu vergeben hat. Nomina acti setzen semantische Muster voraus, die die Thema-Stelle von Verben verbrauchen: [GEGENSTAND & V (xagens, GEGENSTANDthema)] ((xagens,) r) 'Referenten sind Gegenstände, die Thema eines Geschehens V sind (das durch ein Agens initiiert wird)' Das semantische Muster ist Bestandteil mehrerer Wortbildungsmuster: (16) (17) (18) (19) (20) (21)
die Lieferung, die Abbildung, die Abordnung der Aufkleber, der Senker, der Anstecker die Abgabe, die Ablage, die Spende die Malereien, die Stickereien, die Schnitzereien das Mitbringsel, das Anhängsel, das Einschiebsel das Geschenk, das Gebinde, das Getränk
Die Agens-Stelle bleibt bei regulären, d. h. nicht lexikalisierten Bildungen erhalten. Sie kann nur durch eine Nominalphrase im Genitiv oder ein Possessivpronomen ausgefüllt werden, nicht durch eine Präpositionalphrase mit durch: (22)
Die Lieferung des Versandhauses trifft heute ein. *Die Lieferung durch das Versandhaus trifft heute ein. Peters Lieferung trifft heute ein. Seine Lieferung trifft heute ein. (23) die Abgaben der Gehaltsempfänger die Spenden der Vereinsmitglieder
Viele der angeführten Beispiele sind stark lexikalisiert. In diesen Fällen wird die Agens-Stelle des Verbs z. T. völlig irrelevant, vgl. der Aufkleber, der Senker, der Anstecker, die Ablage, das Einschiebsel, das Gebinde, das Getränk. In vielen Fällen gehört auch die Ausfüllung der Thema-Stelle des Basisverbs zur lexikalisierten Bedeutung einer Bildung, vgl.:
Zur semantischen Grundlage deverbaler Nomen (24)
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Die Polizeistreife meldete drei Aufgriffe.
Aufgriff hat die Bedeutung 'Personen, die wegen illegaler Handlungen von Polizeikräften aufgegriffen werden'. Nomina instrument! wie Drucker, Schaber, Kleber, Säge, Bürste, Reibe, die auf ein semantisches Muster 'Geräte oder Substanzen, mit deren Hilfe man eine Tätigkeit V ausführt' zurückgehen, lassen keine syntaktische Ausfüllung der Thema-Stelle zu: (25) * Drucker der Fahrscheine * Reibe des Käses * Schaber des Fleisches
Als Erklärung bietet sich an: Es handelt sich stets um lexikalisierte Geräte- oder Substanzbezeichnungen. Eine Referenz auf partikuläre Geschehen mit Aktanten, die die Thema-Rolle spielen, scheidet dadurch aus. Es ist jedoch möglich, die Spezialisierung des Geräts oder der Substanz durch ein Kompositumsglied auszudrücken: (26)
Fahrscheindrucker, Käsereibe, Fleischschaber
Beispiele wie die soeben angeführten machen deutlich, dass neben der wortexternen Ausfüllung von Argumentstellen auch eine wortinterne in Betracht zu ziehen ist. In den bisher betrachteten Fällen werden semantische Argumentstellen durch syntaktische Einheiten innerhalb einer Nominalphrase, deren Kern das Verbalnomen bildet, ausgefüllt, wortinterne Ausfüllung von semantischen Argumentstellen findet innerhalb der Wortstruktur statt. Sowohl reine Nominalisierungen als auch Nomina agentis, Nomina acti oder Resultativa sowie Nomina instrument! lassen wortinterne Ausfüllung von Argumentstellen zu: (27)
(28)
(29) (30)
Der Kanzler schilt die Journalisten, die Journalistenschelte des Kanzlers die Kanzlerschelte Er verachtet Politik, der Politikverachter Er schändet Kinder, der Kinderschänder Der Präsident erklärt etwas, die Präsidentenerklärung Das Gerät zündet Zigarren an. der Zigarrenanzünder
Bildungen dieses Typs können als Komposita oder als Zusammenbildungen analysiert werden. Journalistenschelte kann als Kompositum analysiert werden. Ein Typ von Komposita geht auf ein Muster zurück, das die wortinterne Besetzung einer semantischen Argumentstelle eines Nomens erlaubt. Vgl. ausführlicher Motsch (1999: 372ff). Schelte ist ein deverbales Nomen mit einer Agensund einer Thema-Stelle. Die erste NP in Beispiel (27) zeigt, dass die ThemaStelle wortintern und die Agens-Stelle wortextern ausgefüllt werden kann. Die zweite NP enthält ein Beispiel mit wortinterner Besetzung der Agens-Stelle. Die gleichzeitige wortexterne Besetzung der Thema-Stelle scheint ausgeschlossen zu sein.
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Wolfgang Motsch
Bildungen des angeführten Typs können aber auch als Zusammenbildungen analysiert werden, die in der angelsächsischen Wortbildungsforschung synthetische Komposita genannt werden. Ein synthetisches Kompositum entsteht im Rahmen eines Derivationsmusters. Das Basisverb wird zugleich durch eine lexikalische Einheit, die eine semantische Argumentstelle des Verbs ausfüllt, erweitert und nominalisiert. In vielen Fällen ist das Basisverb Kern einer lexikalisierten syntaktischen Fügung: (31)
Zigarrenmacher 'Person, die Zigarren macht' Spielverderber 'Person, die anderen das Spiel verdirbt' Arbeitgeber 'Person, die anderen Arbeit gibt' Hungerleider 'Person, die Hunger leidet'
Von normalen Komposita unterscheiden sich synthetische Komposita dadurch, dass das Zweitglied, d. h. das derivierte Verbalnomen, nicht als selbständige Lexikoneinheit zu betrachten ist. Für normale Komposita sind dagegen Muster anzunehmen, die mindestens zwei lexikalische Einheiten in Bezug setzen. Die Beziehung zwischen Erst- und Zweitglied kann, wie gezeigt, durch die Besetzung einer semantischen Argumentstelle eines der Glieder des Kompositums (Fahrscheindrucker, Käsereibe) hergestellt werden oder sie wird durch Prädikate vorgenommen, die zur semantischen Repräsentation des Musters gehören (Holzhaus 'Haus, das aus Holz hergestellt ist'). Häufig werden synthetische Komposita oder Zusammenbildungen auch als Derivation mit einer syntaktischen Fügung aus Verb und Objekt als Basis betrachtet. Unsere Analyse geht jedoch von wortinternen Prozessen aus, die außerhalb der Syntax verlaufen. Man muss deshalb einen semantisch basierten, rein lexikalischen Prozess annehmen. Einige Wortbildungsmuster schließen die Möglichkeit ein, die als Basis fungierende LE durch ihre semantische Fügungspotenz zu erweitern. Für die semantische Grundlage solcher Möglichkeiten spricht vor allem die Tatsache, dass die wortinterne Argumentstellenbesetzung stets durch lexikalische Einheiten und nicht durch syntaktische Phrasen erfolgt, vgl.: (32)
die Buchbesprechung * die Neues-Buch-von-Grass-Besprechung *die Buch-Besprechung von Grass
Es sei hier nur vermerkt, dass synthetische Komposita ein Spezialfall von Zusammenbildungen sind. Zusammenbildungen können generell als semantisch basierte Erweiterungen der Basiswörter von Derivationsmustern behandelt werden. Um Zusammenbildungen wie dreirädrig, langhaarig, breitschultrig erfassen zu können, muss man annehmen, dass bestimmte Wortbildungsmuster auch modifizierende Erweiterungen zulassen, vgl. Motsch (1999: 8f.). Die Überlegungen zur wortinternen Ausfüllung semantischer Argumentstellen setzen voraus, dass wortintern gesättigte Argumentstellen nicht mehr für syntaktische Argumentstellen zur Verfügung stehen: (33)
die Buchbesprechung *des neuen Buches von Grass
Zur semantischen Grundlage deverbaler Nomen
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Auf der anderen Seite stehen nicht wortintern verbrauchte Argumentstellen jedoch für syntaktische Realisierungen zur Verfügung: (34)
die Buchbesprechung durch einen Kritiker der BZ die Buchbesprechung eines Kritikers der BZ
Mit der Integrierung der Argumentstellenbesetzung in die Wortbedeutung sind semantische Effekte verbunden, die zu einer Unterscheidung von vergleichbaren wortexternen Ausfüllungen der Argumentstelle führen: (35) (36) (37)
die Beamtenbestechung die Bestechung des Beamten die Bestechung von Beamten
Beispiel (35) charakterisiert einen Typ von Handlungen. Beispiel (36) referiert dagegen, vermittelt durch die mit dem bestimmten Artikel versehene NP-gen, auf ein partikuläres Geschehen. Der Unterschied ist darauf zurückzuführen, dass das Nomen in (35) seine Referenzstelle verliert. Wie (37) verdeutlicht, kann die externe Ausfüllung einer Thema-Stelle durch eine Präpositionalphrase mit der Präposition von erfolgen, die ein generelles Geschehen voraussetzt. (35) und (37) haben die gleiche semantische Repräsentation. Der Beitrag versuchte zu zeigen, dass die semantischen Argumentstellen von Verben nicht nur eine entscheidende Rolle bei der Vermittlung zwischen Syntax und Semantik spielen, sondern auch bei der Begründung von Wortbildungsmustern für deverbale Nomen. Neben Wortbildungsmustern, die eine reine Nominalisierung bewirken, gibt es solche, die semantische Argumentstellen in ihr semantisches Muster einbeziehen und damit verbrauchen. Falls die semantischen Argumentstellen nicht durch solche Muster verbraucht oder durch Lexikalisierungsprozesse ausgefüllt sind, müssen sie ausgefüllt werden. Das kann sprachlich explizit durch syntaktische Einheiten innerhalb einer NP geschehen, implizit durch pragmatische Strategien und Prinzipien der Kontextauswertung oder durch wortinterne Besetzung von Argumentstellen. Die nichtverbrauchten Argumentstellen stehen, abgesehen von Nomina instrument!, jeweils weiter zur Verfügung. Ob sie sprachlich ausgefüllt werden oder nicht, hängt von pragmatischen Gesichtspunkten der Textgestaltung ab. Literatur Büring, Daniel (1992): Linking. Dekomposition - Theta-Rollen - Argumentstruktur. HurthEfferen. Grimshaw, Jane (1990): Argument Structure. Cambridge, Mass. Heibig, Gerhard (1982): Valenz - Satzglieder - semantische Kasus - Satzmodelle. Leipzig (Zur Theorie und Praxis des Deutschunterrichts für Ausländer). Heibig, Gerhard (1992): Probleme der Valenz- und Kasustheorie. Tübingen (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft, 51). Motsch, Wolfgang (1999): Deutsche Wortbildung in Grundzügen. Berlin /New York. Sandberg, Bengt (1979): Zur Repräsentation, Besetzung und Funktion einiger zentraler Leerstellen bei Substantiven. Göteborg (Göteborger Germanistische Forschungen, 18).
Werner Reinecke
Logogenmodell und Faktorenmatrix des Spracherwerbs Anmerkungen zu ihren komplementären Potenzen
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Vorbemerkung
Wenn Geburtstagsbände zu Ehren eines Wissenschaftlers zur Serie geraten, dann sind ganz unzweifelhaft wissenschaftliche Verdienste die substantielle Grundlage solchen Rituals. Werden diese Meriten durch solche in Wissenschaftlerbiographien längst nicht selbstverständliche Persönlichkeitsmerkmale wie wohltuende Natürlichkeit in Gestus und Habitus sowie sympathische Liebenswürdigkeit ergänzt, dann kann das für die Disziplin, der alle verpflichtet sind, nur positive Auswirkungen haben.
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Zum Fazit linguodidaktischer Forschung
Der vor ca. zehn Jahren im weiteren regionalen Umfeld eingetretene Abbruch dieser oder jener prospektiven Forschungslinie mußte dort am folgenreichsten sein, wo er nicht allein von forscherischer Einzelleistung, sondern von einem weitergehenden, personell wie finanziell fundierten wissenschaftlichen Umfeld abhing. Ein derartiger komplexer Ansatz, der Vertreter aus Bereichen der angewandten Sprachwissenschaft, Fremdsprachendidaktik, Psychologie und Physik vereinte, war der Forschungskomplex Linguodidaktik an der Universität Leipzig. Seine Vertreter, die sehr schnell durch die Umstände in alle Winde zerstreut wurden, hatten gerade eine der so oft beschworenen Voraussetzungen interdisziplinärer Forschung geschaffen. Im weiteren soll in gedrängter Kürze der damals erreichte Stand linguodidaktischer Forschung resümiert und durch Überlegungen aus neurolinguistischer Sicht ergänzt werden. Wir orientieren uns dabei an Formulierungen, wie sie in einem Beitrag vor der Konferenz „Biopsychosoziale Einheit Mensch" getroffen wurden (vgl. Schmidt et al. 1989). Die Komplexität des Kommunikations- und Denkwerkzeugs Sprache kann nicht wesentlich geringer sein als die Komplexität des sozialen Systems, das diese benötigt und das sich in ihr reflektiert. Zu ihrer Beherrschung ist ein komplexer und langwieriger Prozeß des Lernens notwendig, dessen Erforschung sich die Linguodidaktik zur Aufgabe gemacht hat. Ihr Ziel besteht in der Feststellung der wesentlichen Faktoren, Stadien und Bestandteile von sprachlicher
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Werner Reinecke
Kommunikationsfähigkeit oder Kommunikabilität und in der Anwendung der gewonnenen Daten zur Aufstellung von Modellen, die eine Simulation und damit eine gezielte Optimierung von Strategien zur Effektivierung des (Fremd-)Sprachenlernens ermöglichen. Um mit beobachtbaren Größen operieren zu können, bietet sich als Ausgangspunkt einer linguodidaktischen Modellierung ein handlungszentriertes, d. h. auf den Kommunikationsakt orientiertes Konzept an. Aus diesem Modell lassen sich Aussagen treffen über das System von Faktoren, die den Kommunikationsakt beeinflussen. Es läßt sich als vierdimensionale Matrix darstellen, deren Dimensionen folgende Bedeutung haben: A. B. C. D.
Sprachtätigkeitsniveau; Sprachebenenniveau; wissenschaftsdisziplinäres Niveau; Aufgliederung in eine jeweils (a,b,c)-tupel-spezifische Anzahl von zu ermittelnden Einzelfaktoren.
Die aktuelle Dosierung dieser Faktoren bildet das konkrete Bedingungsgefüge eines Kommunikationsaktes. Dabei ist Lernen beschreibbar als Zuwachs an Kommunikationsfähigkeit/Kommunikabilität (K). Damit K-Zuwachs erzeugt wird, muß ein bestimmter Dosierungsbereich der Faktoren realisiert sein, die sogenannte Idealdosierung. Die Dosierung einiger Faktoren hat entscheidenden Einfluß auf die Eigenschaften des Kommunikabilitätsereignisses (KE); solche Faktoren werden in den Rang von Funktoren erhoben, wobei andere Faktoren als kleine Störgrößen wirken oder in bezug auf den K-Zuwachs vernachlässigt werden können. Danach ergibt sich für die Simulation eines KE eine mehrdimensionale (durch die Unterscheidung Faktor/Funktor vereinfachte) Modellierungsvorschrift: KE = Kommunikationsakt + K-Zuwachs im Feld der K-Funktoren mit Idealdosierung. Somit müssen zur Simulation eines Lernprozesses im Sinne des KE zwei Hauptaufgaben bearbeitet werden: 1. den Lernprozeß (als gerichtete Kette von KE) aufzuspalten in relativ selbständige KE, die sich in Charakter, Art, Umfang und Zahl für jede Entwicklungsphase unterscheiden; 2. zu jedem KE die Dosierung der Faktorenmatrix und somit das Funktorenfeld zu ermitteln. Dabei ist zu beachten, daß die Struktur dieser Prozeßverläufe vom jeweiligen Spracherwerbstyp abhängt (z. B. Typ l - ungesteuerter Mutterspracherwerb unterscheidet sich fundamental von Typ 9 - gesteuerter Fremdsprachenerwerb über die Muttersprache). Differenzierend treten spezifische biopsychosoziale Lerndispositionen und Kompetenzvoraussetzungen hinzu. Als zentrales Objekt der Theorie fungiert, wie dargestellt, das Kommunikabilitätsereignis KE. Seine Beschreibung, Messung und Modellierung ist Dreh- und Angelpunkt des linguodidaktischen Konzepts.
Logogenmodell und Faktorenmatrix des Spracherwerbs
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3 Linguodidaktik - eine „linkshemisphärische" Disziplin? Im letzten mir zugegangenen und als nicht druckreif bezeichneten Manuskript von Schmidt (mit dem Titel „Über die Komplexität sprachlicher Kommunikation. Versuch einer synthetischen linguodidaktisch-humanethologischen Betrachtung") schreibt der mir als interdisziplinär höchst kompetent bekannte Autor im Gefolge seiner Analyse der sprachlichen Kommunikation - den Verhältnissen geschuldet wohl auch ein wenig resignierend: „Höchstens ein Zehntel der im Unterricht übertragenen Information ist kognitive sprachliche Information eine schmale Oberfläche auf einem permanenten, wesentlich breiteren und schnelleren Informationsaustausch unserer nichtkognitiven Kanäle. Was nützt es, diese maximal 10 % des Informationsstroms mit großem didaktischem und methodischem Aufwand zu optimieren [...]?" Im Ergebnis dieser Fragestellung hebt Schmidt den „enormen Einfluß bisher nicht meßbarer Faktoren" auf den Lernerfolg infolge der „hohen Systemkomplexität menschlicher Kommunikation" hervor. Was Schmidt hier anspricht, ähnelt - allerdings auf fundierterem Niveau den Vorwürfen an linguistische Positionen, die von sehen didaktisch-methodischer und anderer Richtungen zuweilen und immer wieder vorgebracht werden und die darin münden, der Linguistik vorzuhalten, sie sei zu einseitig kognitiv und zu wenig kommunikativ ausgerichtet. Diese Kognitivismus-Kommunikativismus-Debatte hat in der Geschichte der Linguistik bekanntlich immer wieder die Kontrahenten auf den Plan gerufen (vgl. dazu auch Heibig 1973; 1986). Vielleicht ist es durchaus so, daß von bedeutenden Teilen der Leipziger Linguistik - fußend z. B. auf der junggrammatischen Schule - tatsächlich eine, salopp gesagt, „linkshemisphärische" Linguistik bevorzugt worden ist, die sich in der DDR-Zeit um so stärker zu behaupten wußte, je unsinniger sie damals offiziell verteufelt worden ist. Vom neurophysiologischen Standpunkt aus ist die Sprache eine sekundäre Hirnfimktion, die sehr spät in die primären Hirnfunktionen integriert worden ist. Insofern ist Sprache bei aller Relativierung hirnphysiologischer Lokalisationstheorien - abgesehen von Sonderfällen der Relation von Lateralisation und Händigkeit - eine vorwiegend in der linken Hemisphäre des Großhirns angesiedelte neuronale funktionelle Erscheinung. Die Verbindungen zur rechten Hemisphäre sind vielgestaltig, aber selbst wenn man die substantiellen komplementären rechtshemisphärischen Bestandteile der Sprach- und vor allem Sprechfunktionen einbezieht, muß die Postulierung der Linguistik im engeren Sinne als einer vorwiegend linkshemisphänsch basierten Disziplin nicht unbedingt absurd erscheinen. Aphasien als Beeinträchtigung der Sprachfähigkeit weisen jedenfalls deutlich genug linkslaterale Determinationen auf. Selbst erhaltene (rechtshemisphärisch basierte) Musikalität, die mit sprachlichen Daten verknüpft ist (Liedtexte etc.), kompensiert die linkshemisphärischen Defizite keineswegs, die betroffenen Sprachdaten und -funktionen können nicht ohne weiteres in das linkshemisphärische neuronale Substrat recodiert und von dort aus neu encodiert werden. Die im Schnittpunkt von Sprache und Musikalität virulent aufkeimende Emotionalität des Aphasikers, die wohl aus
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Werner Reinecke
der phylogenetisch benachbarten Entstehungsgeschichte der sekundären Hirnfunktionen entspringt (Musikalität vor Sprachlichkeit und letztere in die erstere phylogenetisch eingebettet), macht allerdings ein weiteres Mal deutlich, daß nicht nur linkshemispärische Funktionalität im Spiel ist, wenn menschliche Kommunikation stattfindet. Wo - meist mit zahlreichen Ressentiments befrachtet - sogenannte weibliche und männliche Intelligenz verglichen werden, wird nur zu gern auf die geschlechtsspezifisch unterschiedliche Akzentuierung linksund rechtshemisphärischer analytischer versus synthetischer Diskursivität Bezug genommen und je nach Autor und Problemlage das eine oder andere als Vor- bzw. Nachteil herausgestellt. Wie sich das mit dem geistesgeschichtlich eurozentristischen („abendländischen"), aus der griechischen Philosophie tradierten Analytismus und dem eher buddhistisch determinierten östlichen Synthetismus in Zusammenhang bringen läßt, steht dabei wohl eher am Rande neurologischer und auch linguistischer Erklärungsansätze. Was uns neurophysiologische und neurofunktionale Forschung jedenfalls zeigen, ist mindestens so viel, daß die hohe Systemkomplexität menschlicher Kommunikation neuronal multilokal links- wie rechtshemisphärisch basiert ist. Linguodidaktische Forschung kann demnach nicht ausschließlich linkshemisphärisch bezogen sein. Das Studium von Aphasien offenbart uns andererseits, daß Ausfälle im Bereich der linkshemisphärisch gestützten Sprachdatenbasis und ihrer Funktionalität immer den meist entscheidenden Anteil von sprachlichen Defiziten und Sprachverlust bewirken. Es sind in der Regel nicht emotionale, motivationale und kommunikationsstrategische Ausfälle, die das Bild der sogenannten klassischen Aphasiesyndrome prägen. Sie entstehen vielmehr als Folge linkshemisphärischer neuronaler Beeinträchtigungen unterschiedlichster äthiologischer Genesis.1 Dieser Umstand ist fundamental und steht gegen die Relevanz der zitierten „höchstens 10 % der schmalen Oberfläche" kognitiver Basierung von Spracherwerb. Es geht nicht um die Tatsache der quantitativen Anteile, sondern um ihre qualitative Relevanz für die Kommunikabilität. Daher bleibt diese mehr oder weniger „schmale kognitive Nutzeroberfläche" der kognitiven sprachlichen Information eben von so entscheidender Bedeutung, wenn sie defizitär ist - sei es durch Sprachverlust oder durch Wechsel der Datenbasis auf eine andere (fremde) Sprache. Die zehn Prozent dieses schmalen spektralen Bandes sind dort, wo sie fehlen, funktioneil weitaus bedeutsamer als die komplementären neunzig Prozent, die sich vielleicht nur unwesentlich verändern, da sie ontogenetisch universeller auf sprachliche Kommunikationsfähigkeit ausgerichtet sind und weniger spezifisch von konkreten Einzelsprachen abhängen. Sprachfähigkeit ist angeboren, insofern die sekundären Hirnfunktionen sprachlicher Funktionalität längst zu den übereinzelsprachlichen phylogenetischen VoraussetzunEs sei durchaus eingeräumt, daß aphasische Syndrome auch Störungen der StoryGrammar, der Kommunikationsstrategien für die Bewältigung komplexer sprachlicher Aufgaben, zur Ursache haben können, die sich als Defizite in der logischen Abfolge beim Erzählen von Geschichten und Berichten äußern, ohne daß typisch linkshemisphärisch basierte Störungen im Bereich der Wortfindung oder der grammatischen Ausformung der Rede feststellbar sein müssen.
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gen des Menschen gehören. Jedoch die zehn Prozent der spezifischen einzelsprachlichen linkshemisphärischen kognitiven Nutzeroberfläche bilden das eigentliche Substrat der konkreten, tatsächlichen, typisch menschlichen, stark linkshemisphärisch basierten Sprachfähigkeit. Wenn Schmidt, wie zitiert, die Frage nach der schmalen Basis kognitiver sprachlicher Oberfläche stellt, dann geschieht das auch unter dem Blickwinkel des im Endstadium der DDR entstandenen Forschungsprojekts „Biopsychosoziale Einheit Mensch". Die Linguodidaktik hatte begonnen, sich hier einzuordnen. Inzwischen hat sich eine ähnlich akzentuierte Forschung - nunmehr allerdings zu Recht mit starker linguistischer Orientierung - zu dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Schwerpunktprogramm „Kognitive Linguistik" (1987-1995) entwickelt, in der die Zusammenhänge zwischen Sprachfähigkeit und Kognition im Mittelpunkt stehen (vgl. Sucharowski 1996; Heibig 1998). Nicht von ungefähr spielt hier die Betrachtung der Sprache aus neurologischer Sicht einschließlich der Hemisphärenproblematik sowie sprachlicher Defizite eine akzentuierte Rolle. Verweisen möchte ich im gleichen Zusammenhang auf Darlegungen zur horizontalen und vertikalen Modularität von Sprache, die den Prozeßaspekt von Sprachfähigkeit spezifisch heraushebt (vgl. Reinecke 1990).
4 Faktorenmatrix und Logogenmodell. Zwei komplementäre Modelle zur Erforschung von Sprachfähigkeit Der Umfang dieses Beitrages gestattet es nicht, eine umfassende Darstellung des Logogenmodells und seiner Modifikationen in der deutschsprachigen Literatur vorzunehmen. Patterson (1988) hat ein „Logogenmodell für die Verarbeitung monomorphematischer Wörter" vorgelegt, das Stadie, Cholewa, de Bleser und Tabatabaie (1994) als Grundlage nutzen, um in der Klassifikation von Aphasien einen prinzipiellen Paradigmenwechsel anzustreben. Danach sollen keine syndromorientierten Gruppenuntersuchungen mehr vorgenommen werden, die heute noch in der logopädischen Praxis zur Klassifikation der Aphasien entsprechend den klassischen Aphasiesyndromen im Rahmen des Aachener Aphasietests üblich sind (globale Aphasie, Broca-, Wernicke- und amnestische Aphasie usw.). Das Logogenmodell unterscheidet vier Lexika für die Verarbeitung monomorphematischer Wörter. Sie enthalten Wortformen (keine Wortbedeutungen), je ein phonologisches Input- und Output-Lexikon sowie je ein graphematisches Input- und Output-Lexikon. Diese Trennung phonologischer und graphematischer Lexika spiegelt den Umstand wider, daß die von Wernicke (1906) angenommene (und fast über das gesamte Jahrhundert hinweg a priori so akzeptierte) Priorität der gesprochenen über die geschriebene Sprache wegen der dem entgegenstehenden Daten der neueren neurolinguistischen Forschung im Logogenmodell verworfen wird. Entscheidend ist, daß die Funktionsfähigkeit jedes dieser vier Lexika isoliert gestört sein kann. Daraus resultiert, daß z. B. einerseits das mündliche Benen-
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Werner Reinecke
nen beeinträchtigt sein kann, während gleichzeitig das auditive lexikalische Entscheiden funktioniert. Dem Fremdsprachendidaktiker wie dem Spracherwerbsforscher wird sofort auffallen, wie praxisrelevant diese Unterscheidung zuweilen ist. In Zuordnung zu den vier Lexika wird eine einheitliche semantische Komponente angenommen (bezeichnet als „semantisches System"), deren Subklassifizierung zur Zeit diskutiert wird. Dieses semantische System enthält (quasi spiegelbildlich zu den vier Lexika) nur Wortbedeutungen und keine Wortformen, wobei ich auf diese Trennung hier nicht eingehen möchte. Der Vorteil besteht darin, daß Wortformen ohne Aktivierung der zugehörigen Wortbedeutung aktiviert werden können. Das macht Sinn nicht nur für die Aphasietherapie, sondern auch bei Sprach-, insbesondere Sprechübungen für Nichtaphasiker. Durch die jeweiligen Verbindungen zwischen den vier Lexika und dem semantischen System lassen sich Wortformen zu Wortbedeutungen in Beziehung setzen. Zugleich ermöglicht ein nichtlexikalisches System die segmentale Verarbeitung von auditiven und graphematischen Wörtern sowie Neologismen2, die nur segmental verarbeitet werden können und müssen, da sie keine im Lexikon belegte Eintragung haben. Dieser bisher beschriebene zentrale Kern des Logogenmodells für die Erarbeitung monomorphematischer Wörter nach Patterson zeigt - in den Gesamtrahmen der Verarbeitung monomorphematischer Wörter eingebettet - die folgende Gestalt:
Abb. l In Neurolinguistik, Sprachheilpädagogik und Logopädie wird der Terminus „Neologismus" nicht als neu in die jeweilige Einzelsprache aufgenommene lexikalische Einheit verstanden (linguistischer Terminus), sondern als vom Aphasiker vorgenommene, von der Sprachnorm abweichende oder auch ihr völlig wesensfremde, nicht im Lexikon belegte phonologische bzw. graphematische Neubildung.
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Stadie et al. (1994) haben das Demonstrationsmaterial zu Abbildung l für die Nutzung im deutschen Sprachbereich transponiert, was selbstverständlich eine eigenständige schöpferische Leistung erforderte, da eine bloße Übersetzung des zu testenden Wortmaterials den Zweck völlig verfehlt hätte. Wesentlich für die Diagnose der Sprachleistungsfahigkeit ist die Prüfung der mit Ziffern markierten Verbindungslinien, die als Routen bzw. Korrespondenzen bezeichnet werden. Soll z. B. die prälexikalische auditive Analyse (1) überprüft werden, so muß die betreffende Testperson entscheiden, ob zwei auditiv präsentierte einsilbige Neologismen (vgl. Fußnote 2) phonologisch identisch sind. Geht dieser Test negativ aus, so ist bereits die auditive Diskriminierung beeinträchtigt, was noch nicht unbedingt eine weiterreichende aphasische Störung zur Folge haben muß - z. B. wenn dieser Mangel über die Routen (25) und (21) kompensiert werden kann. Die exakte Schreibweise im Diktat (die richtige Entscheidung über die reguläre graphematische Wortform aus dem auditiven Input-Buffer (5) heraus) kann nur durch den lexikalischen Zugriff zum graphematischen Output-Lexikon erfolgen - und zwar über die direkte lexikalische Route (19) einerseits oder aber über die Route (21) durch das semantische System (7) hindurch und über die Route (24) zum graphematischen Output-Lexikon (9) andererseits. Schließlich ist auch eine direkte nichtlexikalische Route (14) mit anschließender Phonem-Graphem-Korrespondenz (Route (16)) zum graphematischen Output-Buffer denkbar. Mit diesem lediglich exemplarischen Einblick in die Funktionsweise des Logogenmodells (die einzelnen Routen und Korrespondenzen werden in der zitierten Literatur detailliert und systematisch aufgeführt) sollte angedeutet werden, daß die den Raum zwischen Input und Output sprachlicher Kommunikationsdaten noch immer regierende Blackbox eines Tages einen Teil ihrer nebulösen Undurchdringlichkeit einbüßen könnte. Wenn wir uns an die Diskussion um die monierte schmale kognitive sprachliche Oberfläche der Kommunikabilität in Abschnitt 2 dieses Beitrags erinnern, so muß man klar sagen, daß auch der hier exemplarisch angedeutete Bereich des Logogenmodells eine (neuro)linguistische Modellierung darstellt, und auch für sie gilt wiederum die Feststellung, daß die kognitive linguistische Basierung den phylogenetisch allerjüngsten und spezifischsten Grundpfeiler sprachlicher Kommunikation mit der höchsten neuronalen Organisationsform repräsentiert. Die höchstentwickelten und kompliziertesten Formen in der Evolution sind aber bekanntlich am ehesten störanfällig; die sekundären Hirnfunktionen werden durch die evolutionär früheren primären Hirnfunktionen immer nur recht unvollständig kompensiert werden können. Das macht - und mit dieser Festellung schließt sich der Kreis der Argumentation - die besondere Stellung dieses kognitiven sprachlichen Teils der Kommunikabilität aus. Stellen wir nun zum Schluß die Frage, inwiefern Logogenmodell und Faktorenmatrix einander zu ergänzen vermögen. Das oft kritisierte Problem der Faktorenmatrix besteht in der schwer überschaubaren Vielzahl der zu untersuchenden interagierenden Faktoren des Spracherwerbs bzw. der Kommunikabilität. Es bietet sich an, das Logogenmodell zu nutzen, um einen stärker gerichteten
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Werner Reinecke
Zugang zur Faktorenmatrix zu ermöglichen. Daraus ergeben sich drei neue Ansätze, mit deren Nennung wir diesen Beitrag abschließen möchten. Erstens werden Faktoren des Spracherwerbs - wie genaugenommen aus den bisherigen linguodidaktischen Untersuchungen eigentlich schon ableitbar - nur in ihrer Eigenschaft als spezifische Sprachfähigkeitsfaktoren zu interpretieren und zu untersuchen sein. Zweitens werden alle nichtlinguistischen Faktoren als Funktoren gesetzt, deren Funktionalität für Spracherwerb und Kommunikabilität bereits erwiesen ist und deren Einbeziehung allein im Ergebnis interdisziplinärer Arbeit ermittelt werden kann. Drittens - und das ist ein entscheidendes Desiderat der Forschung - werden die linguistischen Faktoren i n n e r h a l b von Routen und Korrespondenzen des Logogenmodells für die Verarbeitung des monomorphematischen Wortes zu untersuchen sein. Das ermöglicht eine wesentlich stärkere Selektion, die im jeweiligen modularen Feld endliche Ergebnisse erbringt. Die endliche Beschreibbarkeit modularer Strukturen sprachlicher Verarbeitungskapazität im Logogenmodell entschärft das Problem der unscharfen Multifaktorialität des linguodidaktischen Konzepts der Faktorenmatrix. Was im einzelnen aus diesem Ansatz folgt, soll in einem künftigen Beitrag dargestellt werden. Dabei wird u. a. zu klären sein, inwieweit das Logogenmodell tatsächlich als Sprachverarbeitungsmodell verwendbar ist, wie es um seine Vollständigkeit bestellt bzw. wie diese zu erreichen ist und welchen Stellenwert Daten der kognitiven Linguistik einnehmen können. Neu zu klären ist auch der Begriff der linguistischen Faktoren von Sprachfähigkeit im linguodidaktischen Modell, insbesondere der Bereich, der die Grenzen des linguistischen Systems überschreiten muß, um als Verarbeitungsmodell gelten zu dürfen. Schließlich sind die Schnittstellen der Faktorenmatrix mit den Komponenten des Logogenmodells zu definieren und zu untersuchen.
Literatur Heibig, G. (1973): Geschichte der neueren Sprachwissenschaft. Leipzig. Heibig, G. (1986): Entwicklung der Sprachwissenschaft seit 1970. Leipzig. Heibig, G. (1998): Rezension zu W. Sucharowski: Sprache und Kognition. Neuere Perspektiven in der Sprachwissenschaft. In: Deutsch als Fremdsprache 4,252-253. Patterson, K. E. (1988): Acquired disorders of spelling. In: G. Denes / C. Semenza/ P. Bissiachi (Hg.), Perspectives on Cognitive Neuropsychology. London. Reinecke, W. (1990): Spracherwerb im Spannungsfeld horizontaler und vertikaler Modularität. In: Deutsch als Fremdsprache 5, 257-265. Schmidt, B. / Reinecke, W. / Gloau, H.-J. (o. J.): Interdisziplinäres Forschungsprojekt Linguodidaktik - Sprachliche Kommunikation im Lernprozeß. Beitrag zur Konferenz „Biopsychosoziale Einheit Mensch". Berlin, 2S.-27.1.1989 (unveröff.). Stadie, N. / Cholewa, J. / de Bleser, R. / Tabatabaie, S. (1994): Das neurolinguistische Expertensystem LeMO. I. Theoretischer Rahmen und Konstruktionsmerkmale des Testteils Lexikon. In: Neurolinguistik l, 2-25.
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Sucharowski, W. (1996): Sprache und Kognition. Neuere Perspektiven in der Sprachwissenschaft. Opladen. Wernicke, C. (1906): Der aphasische Symptomencomplex. In: E. von Leyden / F. KJemperer (Hg.), Die deutsche Klinik am Eingange des zwanzigsten Jahrhunderts. Band VI. Berlin/Wien.
Jochen Schröder
Alles gut bedacht - Präfixverben im gegenwärtigen Deutsch
Obiges Zitat findet sich auf gut verpackten Stapeln von Dachziegeln. Es handelt sich bei bedacht also nicht um das Partizip II von bedenken, sondern um das von bedachen, obwohl der Leser sicher auch etwas bedenken muss, wenn er sein Haus neu bedecken lassen will. Uns war dieser Werbespruch Anlass, einmal neueren, größtenteils okkasionellen Präfixverben, ihren Partizipien wie auch ihren substantivischen Ableitungen in Massenmedien und - wenn auch seltener - in der Literatur nachzugehen. Etwas überrascht hat uns, dass wir feststellen mussten, die ver-Verben haben in unserem kleinen Korpus den beVerben den Rang abgelaufen. In einem ersten Teil werden wir versuchen, anhand von Beispielen zu überprüfen, wie die Bildung erfolgt und inwieweit sie korrekt ist. Der zweite Teil soll sich stärker der Frage zuwenden, warum die Bildung von Präfixverben ein nach wie vor ablaufender Prozess ist.
l Überprüft wurde, ob es möglich ist, diese Verben der von uns vorgeschlagenen Gruppierung deutscher Präfixverben in dem gleichnamigen Lexikon zuzuordnen (vgl. Schröder 1992). Es zeigte sich, dass dies in den meisten Fällen möglich ist, also auch die Bildung anscheinend ungewöhnlicher Präfixverben nicht willkürlich geschieht, sondern Regularitäten folgt. Als neu sind dann auch Verben anzusehen, die aus ihrer festzustellenden „normgemäßen" syntaktischen Umgebung herausgelöst und in eine neue eingesetzt werden, was zugleich mit einer Änderung ihrer Bedeutung einhergeht. Dabei wird manchmal auf ein anderes, der gleichen Gruppe zugehörendes Verb Bezug genommen, das das Neuverb stützt: (1)
Dreimal versoff und verliebte er sie (die Ziegelei - J. S.) wieder. Großmutter sagte schmallippig: versoff und verluderte. (Zwerenzl996:26f.)
Mit dem Verlust des Reflexivums tritt verlieben in die Gruppe über, in der ein PATIENS „finanzielle Mittel oder deren Äquivalente" darstellt, die verbraucht werden. Dieses Geschehen wird negativ bewertet (vgl. Schröder 1992: 177): (2)
Herr Bäcker, das Brot ist verbacken! [...] Herr Schneider, der Rock ist verschnitten! (Brecht: Der Gottseibeiuns)
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Schon durch die Besetzung der Subjektstelle mit einem RESULTAT und nicht einem PATIENS, dem Material, das beim Backen verbraucht wird, wird, gestützt durch verschnitten, die „fehlerhafte Ausführung" des im Arbeitsprozess entstandenen Ergebnisses deutlich (vgl. Schröder 1992: 180, 202). Eine andere Möglichkeit besteht darin, das Basisverb prozessgestaltend in die Aktion zu bringen und dann mit dem Präfixverb das ungewollte Ergebnis wiederzugeben: (3)
Er [...] schraubte und schraubte und schraubte, bis zu einem leisen, aber schrecklichen Geräusch. Da war jetzt etwas überdreht. [...] zerschraubt [...] (Schneider 1978: 102)
Ohne eine solche Querbeziehung kommt aus: (4)
Sie hat ihr Spielzeug richtig zerliebt. (MDRF6.2.1998)
Dies lässt sich damit begründen, dass für die Tätigkeitsverben mit zer- ein Grundmodell ausreicht, dessen Variante mit einem nicht zählbaren und mit Worten nicht wiedergebbaren RESULTAT /+defect/ syntaktisch zu zweiwertigen Verben führt. Schwieriger wird das, wenn ein Verb mit anscheinend gleicher Oberflächenvalenz durch eine andere Besetzung des Akkusativobjekts aus seiner Gruppe herausgelöst wird: (5)
Es gibt die Möglichkeit, dass der Planfeststellungsbeschluss beklagt werden kann. (Dewes in MDRF 10.3.1998)
Anstelle des üblichen klagen über/um ersetzt beklagen hier klagen gegen. Deutlich wird das bei relativ häufig anzutreffendem nichtreflexivem bewerben: (6) (7)
Damit darf das Original [...] weder beworben noch verkauft werden. (TLZ 28.2.1998) Wer soll [...] beworben werden, der [...] oder der [...]? (MDRK 5.3.1998)
Bezieht sich dieses Verb auf eine Sache oder eine Leistung, so steht es wie in (6) für werbenßir etw., bei Personenbezug für -werben umjmd, gehört also zu den Präfixverben mit ADRESSAT. Eine weitere Möglichkeit ergibt sich bei über unterschiedliche Präfixe realisierten Kontrastpaaren. Bekannt dürften sein: versorgen - entsorgen, verminen - entminen, s. verloben - s. entloben. Faucher spricht von der Hypothese, „dass die Ergebnisse der Verarbeitung des Verbalsyntagmas entsprachlicht [...] gespeichert werden" (in Vuillaume 1998: 87), zu dem versprachlichen ohne Weiteres zu bilden ist. Daraus ließen sich auch verideologisieren und verbürokratisieren (Alt 9.10.1998) als Gegensatz zu entideologisieren und entbürokralisieren erklären, doch ist zu bedenken, dass die beiden Basisverben eigentlich das schon sagen, was die ver-Verben ausdrücken sollen: Beide Verben sind von sich aus resultativ und negativ bewertet, ver- kann nur verstärkend wirken, also enthalten diese Verben tautologische Komponenten. Auch Hildebrandts (1997:
„Alles gut bedacht" - Präfixverben im gegenwärtigen Deutsch
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238) Wille zur Entzweiflung beruht auf dem Kontrast zu Verzweiflung - verzweifeln ebenso wie Schmidts (1996: 86) Entübelung - entübeln zu verübeln und entdüstern zu verdüstern (MDRK 11.2.1998). Eine besondere Leistung der Präflxverben besteht darin, adjektivische und substantivische Stämme aufnehmen zu können. So sind verspröden (ORF 28.5.1998), verschlanken (Schmidt 1996: 86) dem Modell ver + AdjStamm + Verbendung AdjStamm + machen/werden zuzurechnen. Dennoch stoßen Verbbildungen wie verunmöglichen (Gössner ND 31.1.1998), veralltäglichen (Baring ebd.) und verberuflichen (ND 13.1.1998) auf einen gewissen Widerstand, was daran liegen dürfte, dass im Prozess der Wortbildung eine Überlastung auftritt: Substantiv ? Adjektiv ? Verb, die, wenn wir die Gesamtheit der Präfixverben „beaugenscheinigen", sonst kaum festzustellen sein dürfte. Nebeneinander stehen so auch zwei ver-Verben, in denen diese Wortbildungsproblematik deutlich wird: (8) (9)
Die Opfer wurden vereindeutet. (MDRF4.9.1998) Es ist durchaus denkbar, dass [...] im Falle der nicht eindeutig markierten NG die verschiedenen Ausfüllungen [...] im Bedarfsfall vereindeutigt werden. (Behr/Quintin in Vuillaume 1998: 112)
Während uns (9) den direkten Verweis auf ein selbst abgeleitetes Adjektiv ermöglicht, das dann zu eindeutig gemacht ? vereindeutigt führt, fällt dies bei (8) schwer, zumal gemeint ist: „Die Opfer wurden für eine politische Richtung vereinnahmt", was zugleich zeigt, dass eine solche Bildung nicht nur morphologisch, sondern auch semantisch den Empfänger einer Mitteilung überfordern kann. Die ver-Verben auf der Grundlage von Substantiven gehören zu verschiedenen Gruppen. Zum einen haben wir die versehen-mit-Gmppe, z. B.: (10)
Die Strecke ist voll verdieselt (N3 14.9.1998) (= ?Die Strecke ist mit Dieselloks versehen / wird nur mit Dieselloks befahren.)
Die folgenden Beispiele können als machen zu + Substantiv erklärt werden: (11) (12)
Das DDR-System habe „ein halbes Jahrhundert die Menschen verzwergt". (Baring nach ND 31. l. 1998) Eines Tages werden auch sie verschutzfilmt werden. (Dann 1998: 179f.)
Kaum einer Gruppe zuzuordnen ist: (13)
[...] ein Bevölkerungsteil [...], der aber trotzdem - neudeutsch ausgedrückt schwer zu verorten ist. (Zimmermann inND 12.5.1998)
Zu (10) gibt es noch die größte Nähe, dennoch bleibt Unerklärbares. Als letztes Beispiel zu den Ableitungen aus Substantiven nehmen wir: (14)
Nun sind sie verbeamtet worden. (AA 4.2.1998)
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Es ist zu erklären wie (11) und (12), doch wirft es Probleme anderer Art auf. Gibt nicht eigentlich beamtet schon die Bedeutung 'mit einem öffentlichen Amt betrauen, als Beamten anstellen (15. Jh.)1 (Etymologisches Wörterbuch 1989: 46) wieder? Ein Beamter ist so ein mit einem Amt Versehener - eine Verbgruppe, auf der diese Bildung beruht, lässt sich nachweisen (vgl. Schröder 1992: 33 ff.). In verbeamten ist ver- tautologisch. Zu erklären ist dies daraus, dass die ursprüngliche Bildung Be-amt-er heutigen Juristen nicht vertraut ist. Auch be-Verben kann Ähnliches geschehen. Wenn wir lesen: (15)
Eine Düsenmaschine wird mit einem Sarg beladen. (BWZ18.7.-24.7.1998)
so wird übersehen, dass solche be-Verben eine holistische Komponente enthalten, die hier nicht berücksichtigt worden ist.
2 Bisher Dargestelltes zeigt, dass okkasionelle und z. T. auch darüber hinausgehende Bildungen von Präfixverben nicht willkürlich erfolgen, sondern bestimmten Regularitäten unterliegen, die nur in wenigen Fällen verletzt werden. Es kann so durchaus angenommen werden, dass auch weiterhin neue Präfixverben entstehen. Wenn wir uns den Ursachen dafür zuwenden, so wollen wir von einer Feststellung Schmidts (1996: 73) zu diesen Verben ausgehen, bei der es heißt: „Der Head ist universell gesehen ein Merkmalbündel, das phonologische, morphosyntaktische und semantische Merkmale in sich vereint. Durch sprachspezifische Parametrisierung wird festgelegt, welche Position in der Wortstruktur der Head einnimmt und welche Merkmale weitergegeben werden. Grundsätzlich wird angenommen, dass die Mehrheit der Merkmale eines komplexen Wortes vom Head stammt. Aber auch Merkmale des Nicht-Head spielen eine Rolle." Auch wenn hier zu den Merkmalen des Nicht-Head nichts Näheres ausgeführt wird, fällt doch auf, dass über die Präfixe bei Verben, wenn sie nicht als Vorgangsverben einwertig sind, in den meisten Fällen eine obligatorische syntaktische Bivalenz auftritt, die fast durchgängig - wenn wir von einigen entVerben absehen - neben dem Nominativ den Akkusativ einer Nominalgruppe / eines Nomens bindet, eine vergleichsweise einfache Struktur, die auch trotz möglicher Umstellung in der Rede und im schriftlichen Gebrauch dazu geführt haben dürfte, das Deutsche zu den SVO-Sprachen zu rechnen. Gerade die Möglichkeit, den Objektsakkusativ zu den Präfixverben in Beziehung zu setzen und so andere Kasus zu verdrängen, z. B. sich dessen erinnern ? sich daran erinnern ? etwas erinnern, macht die Spezifik der echten Präfixverben aus. Schon 1973 stellt Heibig fest (1973: 116): „Nach der syntaktischen Bindung zum Verb an zweiter Stelle steht der Objektsakkusativ. Dafür spricht zunächst die Passivtransformation, durch die der Objektsakkusativ affiziert und zum Subjektsnominativ wird, während Dativ und Genitiv von ihr gar nicht betroffen werden", wir möchten ergänzen: die Präpositionalkasus ebenfalls nicht. Er weist des Weiteren auf die bekannten Eliminierungsregeln hin, die besagen: Nominativ