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German Pages 194 Year 2019
Ina Henning, Sven Sauter, Katharina Witte (Hg.) Kreativität grenzenlos!?
Pädagogik
Ina Henning (Dr.) ist akademische Mitarbeiterin im Fach Inklusive Musikdidaktik an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. Sie hat an der University of Toronto promoviert und publiziert zu musikwissenschaftlichen, musikpädagogischen und musiktherapeutischen Themen. Sven Sauter (PD Dr. phil.) ist Akademischer Rat in der Fakultät für Sonderpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. Katharina Witte (Dr. paed.) ist Akademische Rätin in der Fakultät für Sonderpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg.
Ina Henning, Sven Sauter, Katharina Witte (Hg.)
Kreativität grenzenlos!? Inner- und außerschulische Expertisen zu inklusiver Kultureller Bildung
Das diesem Sammelband zugrundeliegende Vorhaben »Lehrerbildung PLUS« wurde im Rahmen der gemeinsamen »Qualitätsoffensive Lehrerbildung« von Bund und Ländern mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter dem Förderkennzeichen 01JA1607B gefördert. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei den Herausgeberinnen und beim Herausgeber.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4350-3 PDF-ISBN 978-3-8394-4350-7 https://doi.org/10.14361/9783839443507 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Vorwort
Ina Henning, Sven Sauter & Katharina Witte | 7
ZUGÄNGE, WEGE UND DIDAKTISCHE FRAGEN Vom Anfangen Wege finden zu individuellen, künstlerischen Fragestellungen im inklusiven Kunstunterricht
Teresa Sansour & Susanne Bauernschmitt | 17 Rahmenbedingungen gelingender inklusiver Kultureller Bildung im außerschulischen und innerschulischen Bereich
Elisabeth Braun | 33 Bewegte Zugänge zu musikalischem Erleben Ein Impuls aus der interdisziplinären künstlerischen Forschung für die inklusive Praxis
Ina Henning | 45 Die Kultur-Kiste Experimentelle Inszenierungen des Eigenen
Markus Christ | 65 Wenn die Kreativität an ihre Grenze kommt Von Einschränkungen und Grenzen der Möglichkeiten im künstlerischen Prozess am Beispiel der Theaterarbeit mit Menschen mit Menschen mit unterschiedlichen Voraussetzungen
Katharina Witte | 79
STRUKTUREN Studium und Lehrtätigkeit von Künstler*innen mit geistiger Beeinträchtigung Eine Initiative für inklusive Bildung des Atelier Goldstein
Sophia Edschmid & Helene Deutsch | 89
Inklusives Theater Erfahrungen aus der inner- und außerschulischen Praxis
Susanne Henneberger & Jürgen Sihler | 103
REFLEXIONEN Ritual und Shared Intentionality in der musikalischen Praxis Ritualtheoretische Annäherung an inklusive Entwicklungen
Juliane Gerland | 121 Versuch über eine Musikdidaktik der Differenz Musikunterricht durch die Brille der Inklusion betrachtet
Jürgen Oberschmidt | 135 Musik: Unterricht – Förderung – Therapie Versuch einer freundlichen Grenzziehung
Irmgard Merkt | 151 Von Road Maps und notwendigen Umleitungen Wege und Umwege zur inklusiven Kulturellen Bildung
Sven Sauter | 165
ZUSATZINFORMATIONEN Inklusive kulturelle Bildungsangebote in Baden-Württemberg
Johannes Schult & Ina Henning | 179 Autorinnen und Autoren | 189
Vorwort Ina Henning, Sven Sauter & Katharina Witte Phantasie ist wichtiger als Wissen, denn Wissen ist begrenzt. Phantasie aber umfasst die ganze Welt – Albert Einstein
Wenn das Albert Einstein zugeschriebene Zitat auf das Feld der Kulturellen Bildung bezogen wird, dann stellen wir damit die weit reichende Frage, wie viel Phantasie es wohl benötigt, um sich einen blinden Musiker, eine gehörlose Musikerin, eine Tänzerin mit Down-Syndrom oder einen Schauspieler mit Glasknochenkrankheit vorzustellen? Anscheinend ist in dieser Hinsicht auch die Phantasie begrenzt, denn dass behinderte Menschen als Kunstschaffende tätig sind, dies auf einem absolut professionellen Niveau hinsichtlich ihres Könnens und dabei Anerkennung für ihre Kunst (und nur dafür!) finden, fällt aus dem Rahmen der allgemeinen Erwartungen. Behinderte Menschen beschreibt in diesem Zusammenhang einen eingeschränkten Zugang zu Kunst und Kultur, trotz vorhandener Fähigkeiten, handwerklicher Fertigkeiten und einem erkennbaren Talent. Mit dieser durchaus ambivalenten Bezeichnung behindert verweisen wir auf einen zeitgemäßen Behinderungsbegriff, der im Sinne der Disability Studies sowie den aktuellen Diskursen um Bildung, Teilhabe, Menschenrechte keinen Zustand körperlicher oder kognitiver Abweichung bezeichnet. Er reflektiert vielmehr erfahrene Barrieren auf dem Weg zu gesellschaftlicher Teilhabe (vgl. dazu Weisser 2005; Graf/Renggli/Weisser 2006; Waldschmidt/Schneider 2007; Powell/Pfahl 2014; Goodley/Liddiard/ Runswick-Cole 2018; Degener/Diehl 2015; Koch 2017; Neuhoff 2015).
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In dieser Hinsicht kommt der Kulturellen Bildung eine große Bedeutung zu. So heißt es im Nationalen Aktionsplan der Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention zu den Aufgaben der Kulturarbeit: „Auch in der Kulturproduktion […] ist in den vergangenen Jahren ein wachsendes Interesse am Thema Behinderung zu beobachten. Dabei lässt die künstlerische Gestaltung eine deutlich komplexere und individuellere Gestaltung von Stoffen und Charakteren zu, als dies in Massenmedien wie Fernsehen oder Zeitschriften möglich ist. Durch den unmittelbareren, emotionaleren und dramaturgisch gesteigerten Erlebnischarakter von Film, Theater, bildender Kunst oder Literatur ist deren aufklärerische Wirkung meist nachhaltiger. Darüber hinaus bieten Kunst und Kultur einen wichtigen experimentellen Raum für die Veränderung von Perspektiven.“ (BMAS 2011, 103)
Was hier angesprochen wird, das sind die Potenziale einer Arbeit an der und mit der Repräsentation. Konkret also die Arbeit an der Vorstellungskraft, den inneren Bildern sowie der Einlassungsbereitschaft im Sinne vielschichtiger und vielseitiger ästhetischer Erfahrungen. Dass sich diese ästhetischen Erfahrungen geradlinig lenken und didaktischpädagogisch einsetzten lässt, ist nicht unumstritten. Wie Christian Rittelmeyer zutreffend schreibt, gibt es einen mittlerweile sehr reichhaltigen Fundus von Forschungen und politischen Aktivitäten [der Förderung zur Forschung zu Kultureller Bildung], die sich mit der Frage nach Qualitäten, Verbreitung und Wirkungen kultureller/ästhetischer Aktivitäten sowohl in Schule als auch im außerschulischen Bereich befassen. Allerdings fehlt bislang eine zusammenfassende kritische Würdigung dieser Forschungsarbeiten (vgl. Rittelmeyer 2016, 11). In dieser Hinsicht kommen den pädagogischen Fachkräften weit reichende Aufgaben zu: „Qualitativ hochwertige kulturelle Bildung benötigt sowohl hochqualifizierte KunsterzieherInnen als auch LehrerInnen allgemein bildender Fächer und wird auch durch erfolgreiche Partnerschaften zwischen ihnen und hochtalentierten Künstlerinnen und Künstlern verstärkt.“ (Deutsche UNESCO Kommission 2008, 25)
Denn es sind die Fachkräfte, die Zugangswege in das Feld ästhetischer und kultureller Aktivitäten ermöglichen. Sie müssen nicht zwingend die Forschungsarbeiten überblicken, weil sie einem inneren Kompass folgen. Dieser Kompass orientiert sich, das zeigen die Beiträge in diesem Band eindrücklich auf, an der unerschöpflichen Vielzahl der Möglichkeiten innerhalb des vielgestaltigen Feldes der Kulturellen Bildung, Barrieren abzubauen und die ästhetischen und
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schöpferischen Ausdruckfähigkeiten zu ermöglichen, über die Menschen grundsätzlich verfügen – unabhängig von zugeschriebenen oder faktischen Abilities. Es liegt auf der Hand, dass diese Zugangswege jeweils sehr unterschiedlich ausfallen: Eine Verbesserung von Zugängen zur Kulturellen Bildung kann von daher auf sehr verschiedenen Ebenen liegen. Zum einen in organisatorischer Hinsicht, aber auch personell oder inhaltlich spielen die Orientierungen an einem schöpferischen Potenzial eine Rolle. Es zeigt sich, dass in den verschiedenen Sparten künstlerischer Praxis mit sehr unterschiedlichen Formaten experimentiert wird, um Zugänge zu eröffnen und Impulse zu geben. Ziel dieses Sammelbandes ist es, den Blick dafür zu schärfen, dass diese Wege die Barrieren reflektieren und dass diese Wege dennoch begangen werden, auch wenn das endgültige Ziel noch nicht in Sicht ist. Insofern liegt immer auch ein Wagnis vor, sich auf ungewissen Pfaden zu bewegen. Auch hierbei hilft der Kompass. Dabei wird ein grundlegender Perspektivenwechsel angestrebt, denn die hier versammelten inner- und außerschulischen Expertisen aus dem weiten Feld der inklusiven Kulturellen Bildung zeigen, dass die Barrieren auf dem Weg zu einer diskriminierungsfreien Teilhabe an Kunst und Kultur durchaus abgebaut werden können, wenn die Perspektiven sich weiten. Mithin besteht der Zusammenhang von Kunst, Teilhabe und Kultureller Bildung in ihrem gegenseitigen Verweisungszusammenhang, wie Max Fuchs ausführt: „Durch Teilhabe an Kunst entsteht kulturelle Bildung. Diese Formulierung ist die Grundlage zumindest eines Teilbereichs dessen, was man ‚kulturelle Bildung‘ nennen kann. Die Künste bilden, so die Überzeugung. Sie helfen bei der Entwicklung notwendiger Lebenskompetenzen. Man muss nur die Gelegenheit haben, an künstlerischen Prozessen rezeptiv oder aktiv zu partizipieren. Eine zweite Formulierung ist: Kulturelle Bildung ist die Voraussetzung für eine Teilhabe an Kunst.“ (Fuchs 2009, 19) Mit dem Fokus auf Musik, Tanz/Bewegung, Theater und bildende Kunst besteht der Erkenntnisgewinn darin aufzuzeigen, dass sich das Thema Inklusion nicht auf den meist eng gesteckten Bezugsrahmen Schule und Bildung begrenzen lässt. Dennoch lassen sich konkrete Anforderungen an die Fachkräfte formulieren, um die Arbeit an den eigenen Wahrnehmungsfiguren sowie die Kritik an den gängigen Repräsentationsweisen im Sinne einer Perspektivenerweiterung zu ermöglichen. Durch das Bekenntnis zu einer diskriminierungsfreien Teilhabe für alle erweitert sich der kreative Möglichkeitsraum im Medium von Kunst und Kultur, ästhetische und bildende Erfahrungen zu machen, die – im Sinne des eingangs erwähnten Diktums von Albert Einstein – die ganze Welt abbilden und umfassen. Möglich wird dies durch eine AUSWEITUNG DER KUNSTZONE
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(vgl. Theater Thikwa/Lohrenscheit 2018) und genau darüber berichten die unterschiedlichen Beiträge in diesem Sammelband.
ZU DEN EINZELNEN BEITRÄGEN „Künstler sind Anfänger. Es geht um die Haltung des Anfangens, eine offene, neugierige, bewegliche Haltung des Anfangens.“ (Lorenz 2016, 59) Aber wie muss ein Anfang gestaltet sein, damit jeder etwas anfangen kann? Im Beitrag von Teresa Sansour & Susanne Bauernschmitt werden ausgehend von einem inklusiven Praxisprojekt an der Hochschule verschiedene künstlerische Impulssetzungen und methodische Einstiegsszenarien der bildenden Kunst vorgestellt, die Ausgangspunkte und Anstöße für selbstbestimmte künstlerische Gestaltungswege sein können. Daran anknüpfend wird an exemplarischen Projektverläufen aufgezeigt, wie diese gemeinsamen, künstlerischen Anfangsszenarien – im Sinne einer Subjektorientierung und Differenzierung – in individuelle Gestaltungsprozesse überführt werden können. Anhand struktureller Aspekte wie Örtlichkeiten, Zeitstrukturen und inhaltlich-methodischer Aspekte markanter Beispiele werden im Beitrag von Elisabeth Braun die grundlegenden Rahmenbedingungen gelingender inklusiver kulturell-künstlerischer Praxis entwickelt. Dabei zeigen die Beispiele mögliche unmittelbare Stolpersteine, aber auch Synergieeffekte im Spannungsfeld zwischen schulischen und außerschulischen Gegebenheiten im kulturellen Bereich auf. In dieser Hinsicht zeigt sich auch die wichtige Rolle, die der persönliche Einsatz einzelner Personen für eine gelingende Kulturarbeit spielt. Der Auseinandersetzung mit Körperlichkeit in der Musik wird in wissenschaftlichen Diskursen jüngst mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Der Beitrag von Ina Henning will aufzeigen, dass der niederschwellige Zugang zu Bewegung in inklusiven Kontexten zu einer neuen Form der verkörperten Teilhabe führen kann. Es wird verdeutlicht, dass es auf der Subjektebene gewinnbringend ist, sich mit elementaren Bewegungsformen zu beschäftigen, um einen wertneutralen Zugang jenseits von Stereotypen anzuregen. Unter diesem Blickwinkel werden Ergebnisse der künstlerischen Forschung für die Interaktion von Bewegung und Musik im Musikunterricht pädagogisch nutzbar gemacht. Der Beitrag von Katharina Witte zeigt anhand von exemplarischen Beispielepisoden auf, dass kreative Prozesse in der künstlerischen Arbeit mit Menschen mit unterschiedlichen Voraussetzungen auf mehreren Ebenen stattfinden. Auf diese Weise können auch vielfältige ästhetische Ausdrucksformen entste-
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hen, an denen alle Mitwirkenden auf die ihnen angemessene Weise beteiligt sind. Markus Christ wählt einen handlungstheoretischen Ansatz, um anhand der vielfältigen Eigenschaften von Kisten einen niederschwelligen und sehr vielschichtigen Zugang zur performativen künstlerischen Tätigkeit aufzuzeigen. Die Reflexion der Inszenierung von Persönlichem im sozialen Raum spielt hier ebenso eine Rolle wie das grundsätzlichere Thema der Teilhabe an gesellschaftlichen Vorgängen. Sophia Edschmid & Helene Deutsch machen in ihrem Beitrag deutlich, dass innovative Entwicklungen und außergewöhnliche Wege in eine künstlerische Ausbildung und eine Lehrtätigkeit von besonders talentierten künstlerisch tätigen Menschen allen offen stehen sollte. In diesem Zusammenhang bleibt es freilich nicht bei Absichten, sondern anhand der Bildungswege von drei Künstler*innen aus dem Atelier Goldstein werden die konkreten Zugangswege zu einer künstlerischen Ausbildung und Lehrtätigkeit systematisch und teilhabeorientiert erweitert. Was in dieser Hinsicht besonders klar zum Vorschein kommt, ist das „Goldstein-Prinzip“ (Cuticchio 2018, 70), welches mit großer Kompetenz und künstlerischem Sachverstand passgenaue Assistenzleistungen für außerordentlich begabte Künstler*innen bietet. Susanne Henneberger & Jürgen Sihler führen anhand der Entwicklung des gemeinnützigen Vereins WERKRAUM: Karlsruhe aus, wie sich über die Jahre immer stärker eine inklusive Orientierung der theaterpädagogischen Praxis herausbildete. Anhand konkreter Episoden aus der Probenarbeit lassen die Autorin und der Autor die unmittelbaren biographischen Auswirkungen sichtbar werden, die kulturell-künstlerische Praxis auf Menschen in besonderen Lebenslagen haben kann. Ausgangspunkt des Beitrags von Juliane Gerland ist die Feststellung, dass der Begriff Inklusion mit einer hohen normativen Aufladung versehen ist. Neben den notwendigen gesetzlichen, strukturellen und systematischen Veränderungen ist aber letztlich entscheidend, ob das individuelle Erleben von zwischenmenschlicher Interaktion als gelungen beziehungsweise gelingend betrachtet wird, um die Ziele des inklusiven Gedankens erreichen zu können. Der Beitrag legt den Fokus auf die Mikroebene des gesamtgesellschaftlichen Inklusionsprozesses. Es wird ein theoretischer Rahmen entwickelt, innerhalb dessen beschreibbar ist, wie sich Inklusion im künstlerischen Handeln vollziehen kann. Geredet wird von Inklusion oft als eine gesellschaftliche Utopie, der ihr utopischer Charakter geraubt wird, weil sie der Wirklichkeit verordnet wird. Im Rahmen des Beitrags von Jürgen Oberschmidt wird der Frage nachgegangen, ob Schule und gerade auch der Musikunterricht so gestaltet ist, dass man der
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Einladung zur Teilhabe gerne folgt. Dabei werden Momente einer homodoxen Pädagogik unter Bezugnahme auf Hans Wocken (2010) herausgearbeitet, die gerade auch für Musikunterricht und musikdidaktische Konzepte gelten. Aufgrund dieser wenig lockenden Ausgangslage werden Perspektiven aufgezeigt, wie Musikunterricht gestaltet werden müsste, damit Inklusion gelingen kann. Irmgard Merkt strebt in ihrem Beitrag eine „freundliche Grenzziehung“ zwischen Unterricht, Förderung und Therapie in der Sonderpädagogik an. Sie kontrastiert die Zielsetzung von Unterricht und Therapie, wobei der Gleichzeitigkeit von Emotion, Kognition und Motorik besondere Bedeutung im musikalischen Kontext zukommt. Zugleich werden Gemeinsamkeiten wie beispielsweise der Bedarf nach Rollenklarheit herausgestellt. Obwohl Wechselwirkungen der spezifischen Bereiche wünschenswert wären, bleibt jedoch besonders das System Schule meist reserviert gegenüber therapeutisch gefassten Ansätzen. Merkt zeigt anhand von Beispielen, dass Transfereffekte jedoch allen Beteiligten helfen können, die Herausforderungen der schulischen Inklusion besser zu meistern. In seinem Beitrag über die Ausgangspunkte und Ziele der Wege zu einer inklusiven Kulturellen Bildung diskutiert Sven Sauter die normativen Grundlagen der UNESCO für dieses Feld und zeigt anhand einer bestehenden Kooperation mit einer Kunstsammlung auf, wie die Road Map for Arts Education mit Leben gefüllt werden kann. Zugleich werden die auf Effizienz, Effektivität und Evaluation gewendeten Einflussnahmen auf das Feld der Kulturellen Bildung kritisiert. Sie zielen vorrangig auf ökonomische Verwertungsabsichten, denen sich eine widerständige Kunst und vor allem widerspenstige Künstler*innen entziehen, will Kunst und die Kulturelle Bildung transformativ im Sinne der Vision einer humanen Gesellschaft wirken, die eine Kultur der Menschenrechte zur Voraussetzung hat – sie aber zugleich auch ermöglichen kann. Abschließend berichten Johannes Schult & Ina Henning die (in der Bildungsberichterstattung 20181 bereits zusammengefasst vorgestellten) Befunde einer detaillierten Erhebung zum Umfang und Inhalt von inklusiven kulturellen Bildungsangeboten an Schulen in Baden-Württemberg. Am häufigsten sind Aktivitäten im Bereich Musik vertreten, gefolgt von Bewegungsangeboten und künstlerischen Partizipationsmöglichkeiten. Die meisten Angebote finden sich an Gemeinschaftsschulen, einer Schulart, die als Ort des gemeinsamen Lernens für heterogene Lerngruppen und auch Inklusion konzipiert wurde. Allerdings fehlen an zehn Prozent der Schulen jegliche inklusiven kulturellen Bildungsangebote. Insgesamt zeigte sich in den Rückmeldungen, dass die kulturelle Bil-
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Landesinstitut für Schulentwicklung/Statistisches Landesamt Baden-Württemberg (2018)
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dungslandschaft vielfältig ist, nicht zuletzt dank engagierter Lehrkräfte und Helfer*innen, ohne die diese Angebote oft nicht (mehr) möglich sind.
DANKSAGUNG Der Sammelband „Kreativität grenzenlos!?“ verdankt seine Entstehung der gleichnamigen Tagung, die am 22. Februar 2018 an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg im Rahmen des Verbundprojektes Lehrerbildung PLUS stattfand. Wir danken herzlich allen Referent*innen und Teilnehmer*innen sowie ganz besonders den künstlerischen Akteur*innen, die den Tag mit vielfältiger Ausdrucksfähigkeit und der gemeinsam geteilten Begeisterung für ihre Kunst so unendlich bereichert haben.2 Außerdem bedanken wir uns für die finanzielle Unterstützung bei der Professional School of Education Stuttgart-Ludwigsburg, bei unseren fleißigen Hilfskräften Tabea Kammerer, Theresa Mutz und Vanessa Rapp sowie bei Johannes Schult für die Hilfe mit dem Layout der endgültigen Fassung.
LITERATUR Bundesministerium für Arbeit und Soziales (=BMAS) (Hg.) (2011): Unser Weg in eine inklusive Gesellschaft: Der Nationale Aktionsplan der Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. Berlin: BMAS. Cuticchio, Christiane (2018): Das Goldstein-Prinzip. In: Deutscher Kulturrat: Politik & Kultur Dossier ‚Inklusion in Kultur und Medien‘. Berlin: Deutscher Kulturrat e.V. Degener, Theresia/Diehl, Elke (Hg.) (2015): Handbuch Behindertenrechtskonvention: Teilhabe als Menschenrecht – Inklusion als gesellschaftliche Aufgabe. Bonn: bpb. Deutsche UNESCO-Kommission (Hg.) (2008): Kulturelle Bildung für Alle: Von Lissabon 2006 nach Seoul 2010. Bonn: Deutsche UNESCO-Kommission. Fuchs, Max (2009): Kunst, Teilhabe und kulturelle Bildung: Die konstitutive Rolle von Kunst bei der Ausbildung von Welt-Anschauung. In: Deutscher Kulturrat (Hg.): Kulturelle Bildung: Aufgaben im Wandel, Berlin, 19–24.
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Das komplette Programm ist einsehbar unter: www.pse-stuttgart-ludwigsburg.de/ veranstaltungen/kreativitaet-grenzenlos/
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Fuchs, Max (2013): Kulturelle Bildung als Menschenrecht? In: Kulturelle Bildung Online. www.kubi-online.de/artikel/kulturelle-bildung-menschenrecht (Zugriff am: 31.10.2018) Goodley, Dan/Liddiard, Kristy/Runswick-Cole, Katherine (2018): Feeling disability: Theories of affect and critical disability studies. Disability & Society, 33, H. 2, 197–217. www.doi.org/10.1080/09687599.2017.1402752 (Zugriff am: 31.10.2018) Graf, Erich Otto/Renggli, Cornelia/Weisser, Jan (Hg.) (2006): Die Welt als Barriere: Deutschsprachige Beiträge zu den Disability Studies. Bern: Edition Soziothek. Koch, Jakob Johannes (Hg.) (2017): Inklusive Kulturpolitik: Menschen mit Behinderungen in Kunst und Kultur. Analysen – Kriterien – Perspektiven. Kevelaer: Butzon & Bercker. Landesinstitut für Schulentwicklung/Statistisches Landesamt Baden-Württemberg (Hrsg.) (2018). Bildungsberichterstattung 2018: Bildung in BadenWürttemberg. Landesinstitut für Schulentwicklung: Stuttgart. Lorenz, Susanne (2016): Warum treibt es mich um – das Anfangen. In: Lorenz, Susanne/Düllo, Thomas (Hg.): Vom Anfangen. Hamburg: Textem-Verlag, 56–61. Neuhoff, Katja (2015): Bildung als Menschenrecht: Systematische Anfragen an die Umsetzung in Deutschland. Bielefeld: Bertelsmann. Pfahl, Lisa/Powell, Justin J.W. (2014): Subversive Status: Disability Studies in Germany, Austria, and Switzerland. In: Disability Studies Quarterly, 34, H. 2. www.dsq-sds.org/article/view/4256/3596 (Zugriff am: 31.10.2018) Rittelmeyer, Christian (2016): Bildende Wirkungen ästhetischer Erfahrungen: Wie kann man sie erforschen? Eine Rahmentheorie. Weinheim: Beltz. Theater Thikwa/Lohrenscheit, Claudia (Hg.) (2018): Theater.Rebellion: Die Ausweitung der Kunstzone. Oberhausen: Athena. Waldschmidt, Anne/Schneider, Werner (Hg.) (2007): Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung: Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld. Bielefeld: transcript. Weisser, Jan (2005): Behinderung, Ungleichheit, Bildung: Eine Theorie der Behinderung. Bielefeld: transcript. Wocken, Hans (2010): Über Widersacher der Inklusion und ihre Gegenreden. In: Politik und Zeitgeschichte, H. 23, 25–31.
Zugänge, Wege und didaktische Fragen
Vom Anfangen Wege finden zu individuellen, künstlerischen Fragestellungen im inklusiven Kunstunterricht Teresa Sansour & Susanne Bauernschmitt
RELEVANZ DES ANFANGENS IN INKLUSIVER, KÜNSTLERISCHER PROJEKTARBEIT Inklusive, künstlerische Projektarbeit im Sinne einer künstlerischen Bildung ist per se unabsehbar, denn das Unvorhersehbare ist grundsätzlich jedem künstlerischen Handeln immanent. Das ist aber nicht nur einem Mangel an Planbarkeit geschuldet (vgl. Pazzini 2008, 45). Vielmehr sind die Offenheit für unerwartet Neues und der Zuspruch, Schüler*innen tatsächlich selbst gestalten zu lassen, eine Chance, sowohl für den Unterricht als auch für die Menschen und deswegen auch Ausgangspunkt für eine natürliche Differenzierung (vgl. Breuning 2000, 41). Aber wie müssen Anfänge inklusiver, künstlerischer Projektarbeit gestaltet werden, um die Chance der Unvorhersehbarkeit zu nutzen, ohne ins Beliebige abzugleiten? Kommt man dem von Buschkühle formulierten Bildungsziel, „die Fähigkeiten zu üben, aufmerksam und interessiert sowie mit kritischer Distanz und der Bereitschaft, eigene Vorstellungen zu bilden, der Wirklichkeit zu begegnen“ (Buschkühle 2007, 20) ernsthaft nach, bedarf es Räume für selbstbestimmte, ergebnisoffene und interessengeleitete Handlungen in der Auseinandersetzung mit dem Selbst, der Welt und der Kunst. Dazu müssen abgesteckte Lernwege und Vorentscheidungen zurückgenommen werden und stattdessen Offenheit und Unvorhersagbarkeit als Bildungschance einer partizipativen (Kunst-)Pädagogik mutig und erwartungsvoll anerkannt werden (vgl. Urlaß 2014, 1). Sowohl der Verlauf als auch das Ende solcher Bildungsprozesse sind imponderabel. Geht man von solch einer partizipativen, künstlerischen Kunstpädagogik aus, die das Sub-
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jekt in den Mittelpunkt stellt und eigene Bildungsprozesse an und mit der Kunst fördert, so sind inklusive Überlegungen implizit. Jeder und jede entwickelt und verfolgt nach seinen und ihren Fähigkeiten, Neigungen und Potentialen ergebnisoffen eigene Ideen, Deutungen und Gestaltungsprozesse. Urlaß beschreibt die Projektarbeit wie folgt: Zu einem gemeinsamen Thema schafft „die Lehrperson Ausgangszenarien […], die zunächst auf arrangierte Erfahrungen zielen“ (Urlaß 2014, 3), um verschiedene inhaltliche und formale Dimensionen des gemeinsamen Themas zu eröffnen, um zum sensiblen Wahrnehmen und Wundern, zum Experimentieren und Imaginieren, zum Fragen und Forschen einzuladen. Es gilt in induktiven Einstiegen also gleichermaßen gezielte Impulse zu setzen, um gängige Sehgewohnheiten zu irritieren und den Blick auf unbekannte Zusammenhänge zu lenken sowie darum, Freiräume für spielerisches Experimentieren und abgehobenes Fantasieren, für Zufälle und Unvorhersehbares, für individuelle Anknüpfungspunkte offen zu halten (vgl. Buschkühle 2007, 123). Es braucht vielfältige Impulse, von leichten Anstößen bis zu provokativen Reizen, die nicht nur kognitive, sondern auch körperliche, soziale, kulturelle und mentale Prozesse initiieren (vgl. Wulf/Zirfas 2007, 29 f.). Alle Sinne ansprechende, spielerische, zum Handeln auffordernde, berührende Impulse sind für alle ergiebig und eignen sich daher insbesondere für inklusive Settings. Wie aber fängt man gemeinsam an, wenn letztlich das Ziel ist, dass jeder und jede das findet, womit er bzw. sie etwas anfangen kann? Wie müssen Ausgangspunkte und Anfangsszenarien gestaltet sein, um ein „Auf der Stelle treten“, Orientierungslosigkeit und Überforderung zu verhindern und stattdessen der Unvorhersehbarkeit der Prozesse und den individuellen, eigenständigen Ideen Rechnung zu tragen? Im Folgenden werden ausgehend von konkreten Fallbeispielen Möglichkeiten vorgestellt, wie kollektive und individuelle Anfänge gestaltet werden können und auf ihre Potentiale hin reflektiert. Dabei liegt der Fokus auf der künstlerischen Projektarbeit mit heterogenen Lerngruppen im Kontext inklusiver Hochschulseminare.
KOLLEKTIVE ANFÄNGE Gemeinsame Anfänge sind nicht dazu da, dass Schüler*innen in einer Plenumsphase die Zielrichtung der sich anschließenden Arbeitsphase aufgezeigt wird. Kollektive Anfänge können vielmehr dazu dienen, das Interesse am Gegenüber zu wecken, sich innerhalb der heterogenen Gruppe zu begegnen und miteinander ins Gespräch zu kommen über individuelle Sinn- und Wahrnehmungswelten. Darüber hinaus eröffnen die hier vorgestellten kollektiven Anfangsszenarien
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künstlerische Strategien, auf die im späteren Verlauf der Projektarbeit zurückgegriffen werden kann. Nachdem das Notieren, Aufzeichnen und Skizzieren zu den basalen Gesten des Anfangens gehören, wurden die praktischen Arbeitsphasen der inklusiven Projektseminare häufig mit verschiedenen Zeichenübungen eröffnet. Eine Übung lautete: „Zeichnen Sie ein Selbstporträt, indem Sie ein Blatt Papier auf Ihr Gesicht legen und Ihr Gesicht mit dem Grafit in der Hand durchpausen!“ (vgl. Abb. 1) Durch diese ungewohnte Herangehensweise wurde der kontrollierende Blick, der so schnell jede Linie beim Zeichnen in Frage stellt, ausgeschlossen, es wurde zum Umdenken, zum unkonventionellen „Anders-machen“ aufgefordert. Neben den im Kunstunterricht oft dominierenden Sehsinn trat das Abtasten, das Be-Greifen im Wahrnehmungs- und Gestaltungsprozess. Abbildung 1: Gesichtsfrottagen
Quelle: Susanne Bauernschmitt & Teresa Sansour
Eine weitere Übung lautete: „Stellen Sie sich alle um die großen Werktische in der Druckgrafik, schauen Sie grade aus und zeichnen Sie mit dem Pinsel und der bereitgestellten schwarzen Acrylfarbe, was Sie sehen. Wenn Sie nach ca. drei Minuten ein Klatschen hören, rücken Sie einen Platz weiter und führen die Zeichnung an der neuen Position fort.“ Im fortschreitenden Zeichenprozess war jeder und jede gefordert, aufmerksam zu beobachten, und mit jedem Platzwechsel einen Perspektivwechsel zu vollziehen: Zum einen galt es, sich auf die neue
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Perspektive vor sich einzulassen, zum anderen sich auch in die Blicke und Bilder der Vorzeichner*innen einzufinden. Anders als bei der Porträtfrottage entstand ein Gemeinschaftswerk, bei dem das individuelle Zeichenvermögen in eine Gemeinschaftsleistung einfloss und nicht Gegenstand eines Leistungsvergleichs werden konnte. Bei den Droodle-Übungen (vgl. Price 1970) ging es hingegen gerade um die individuelle Vorstellungskraft, um originelle Ideen, um persönliche Sichtweisen. Die Teilnehmer*innen waren aufgefordert, ein Droodle – ein Bilderrätsel, bei dem das Dargestellte aus der Zeichnung erst noch herausgelesen werden muss – zeichnerisch auszuformulieren. Kollektive Anfänge aus kunstpädagogischer Sicht Die Künstlerin Susanne Lorenz und der Kulturwissenschaftler Thomas Düllo erläutern etymologisch: „‚Anfangen‘ steht seiner Bedeutungsherkunft nach ganz nah beim ‚Beginnen‘, hat aber zugleich eine handfeste, sinnliche Ursprungsbedeutung in der Nachbarschaft zu ‚fangen‘, nämlich ‚anfassen, anpacken, in die Hand nehmen‘.“ (Lorenz/Düllo 2016, 7) Diese zupackende, handelnde Komponente – mit den Händen machen, empfinden, explorieren, mit den Händen „denken“ – ist zugleich eine spezifische Qualität der Kunst. Damit ist das Machen eine Form der sinnlichen Erkenntnis, bei der jenseits von Sprache implizites, verkörpertes Handlungswissen zum Tragen kommt und neu generiert werden kann. Gerade bei Einstiegsszenarien in inklusive Bildungsprojekte, wenn erstmals noch in Differenzen gedacht wird, wenn Unsicherheiten ein lockeres Begegnen und selbstbewusstes künstlerisches Handeln hemmen, ist das gemeinsame, sinnliche Machen ein verbindendes Moment, an dem alle gleichberechtigt partizipieren können. Die spielerischen, niederschwelligen Zeichenübungen jenseits gängiger Sachzeichnungen und naturalistischen Abbildern fordern ein Umdenken, ein Neu-Denken, ein Neu-Handeln im Zeichenprozess. So heterogen die Gruppen auch sein mögen, jeder und jede ist Anfänger*in und übt sich darin, sich auf Ungewohntes und Unabsehbares einzulassen, Standpunkte zu wechseln, Sichtweisen zu ändern und ‚einfach‘ anzufangen. Die Zeichnungen können dabei als Spuren, als Dokumentationen unmittelbarer physischer und geistiger Bewegungen gesehen werden. Sie spiegeln „den individuellen Blickwinkel des Gestalters auf sich und die Welt“ (Marr 2014, 18). Bereits diese kurzen Zeichenübungen sind als Ausdruck einer Haltung zu sehen, die in die Gruppen hineingetragen wurde: Die Anerkennung von Verschiedenheit wird zur reichen Vielfalt künstlerischer Ausdrucksformen.
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Kollektive Anfänge aus inklusionspädagogischer Sicht Mit der Abwendung von einer so genannten Zwei-Gruppen-Theorie wird von einer dichotomen Sichtweise (z.B. behindert – nicht behindert) Abstand genommen. Stattdessen gewinnt in der Inklusionspädagogik und in den Disability Studies zunehmend ein sogenanntes kulturelles Modell von Behinderung an Bedeutung. Dieses lässt sich in Abgrenzung zu einer individuumszentrierten Perspektive auf Behinderung verstehen. Behinderung wird nicht gleichgesetzt mit einer Beeinträchtigung der Körperstrukturen und -funktionen, die ein Mensch aufweist. Auch eine Sichtweise, die Behinderung als ein soziales Problem begreift, wird als unterkomplex verstanden, da sie nach Waldschmidt und Schneider (2007) zu stark auf Problemlösung durch z.B. Nachteilsausgleiche setze (vgl. ebd., 9 f.). Behinderung als ein Diskursprodukt zu verstehen bedeutet aber, die kulturellen Praktiken und tradierten Denkmuster, die sich an Normalisierungsund Normativitätsvorstellungen orientieren, zu hinterfragen. Denn durch diese wird Behinderung erst hervorgebracht (vgl. ebd.). Menschen erscheinen aufgrund bestimmter Abweichungen von einer Norm als behindert. Die Normabweichung wird fokussiert, was es dem Menschen erschwert, sich anders als unter dem Merkmal Behinderung zu positionieren (vgl. Hetzel 2007, 51). Dieses Verständnis wird auch von den Disability Studies geteilt und drückt sich im Konzept des Ableism aus, mit dem gesellschaftliche Fähigkeitserwartungen zugeschrieben werden (vgl. Hoffmann 2018, 70). „Ableism ist die Beurteilung von Körper und Geist danach, was jemand ‚kann‘ oder ‚nicht kann‘ – ein biologistischer, essentialisierender Bewertungsmaßstab, der anhand einer erwünschten körperlichen oder geistigen Norm Menschen be-, auf- und abwertet […]. Die Person wird auf ihre körperlich und geistige Verfassung reduziert und steht als Stellvertreter*in für eine ganze Gruppe so Beurteilter […].“ (Maskos 2015, o.S.)
Daraus lassen sich folgende Fragestellungen ableiten, die auch für die künstlerische Projektarbeit und die Gestaltung der Ausgangsszenarien wegleitend waren: Durch welche sozialen Faktoren wird ein negativ geprägtes Bild von Behinderung aufrechterhalten? Durch welche Erfahrungen können – anders gewendet – Veränderungen angestoßen werden? Mit den beschriebenen kollektiven Anfangsszenarien wie der Porträtfrottage, dem Weiterzeichnen eines Droodles oder dem Zeichnen mit Platzwechseln stand die Anerkennung von verschiedenen Sichtweisen und Gestaltungsideen im Vordergrund. Der Fokus lag nicht auf der Vergleichbarkeit von Leistung, sondern auf der Verschiedenartigkeit der Lösungswege. Durch die Offenheit der Aufgabenstellungen wurden Fähigkeitser-
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wartungen und Zuschreibungen irritiert oder gar über Bord geworfen. So äußerte sich ein Teilnehmer: „Ja, das mit dem ‚Mischen‘ [Projektname, A.d.V.] hat mir da echt Spaß gemacht, weil das da irgendwie gar nicht mehr Lebenshilfe irgendwie war, also Behinderte/NichtBehinderte. Das ist gar nicht mehr so aufgefallen. Die Studenten waren in dem Moment auch keine Studenten mehr, weil die einfach so viel Spaß miteinander hatten und alle ganz lustig drauf waren und das war jetzt nicht groß irgendwas lernen oder so, sondern einfach nur so ein Miteinander, ein Rumspielen und Rumblödeln und Phantasieren. Auch so für die Leute aus der Werkstatt, dass die in dem Moment halt so sind wie jeder andere Mensch halt auch ist. Dass es nicht immer heißt: Behindert ist gleich Blödmann oder Krüppel, wie manche sagen.“
Das Zitat deutet darauf hin, dass Zuschreibungen, wie z.B. Studierende seien ernst und hätten wenig Spaß oder Vorurteile gegenüber Menschen mit Behinderung durch das gemeinsame spielerische Tun aufgebrochen werden konnten. Die Teilnehmer*innen sahen sich aus einem neuen Blickwinkel und erhielten die Möglichkeit, sich anders darzustellen als unter der Perspektive eines Merkmals. Menschen mit Behinderung wurden somit auch nicht als solche wahrgenommen, welchen bei der Bewältigung ihrer vermeintlich schwierigen Lebenssituation geholfen werden muss (vgl. Waldschmidt/Schneider 2007, 15).
IMPULSE FÜR INDIVIDUELLES ANFANGEN Anhand verschiedener Beispiele von Teilnehmer*innen aus einem inklusiven künstlerischen Projekt, das an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg mit Studierenden und Beschäftigten der Lebenshilfe Heidelberg e.V. stattfand, soll nach den kollektiven Anfängen aufgezeigt werden, wie durch unterschiedliche Impulse individuelles Anfangen möglich wurde. Die Kooperation mit der Lebenshilfe existiert seit 2013 und entstand ursprünglich auf eine studentische Initiative hin. Einige Studierende hatten die Idee, ein Kunstseminar gemeinsam mit Beschäftigten der Heidelberger Werkstatt für behinderte Menschen zu veranstalten und stellten den Kontakt zwischen dem Fach Kunst, der Sonderpädagogik und der Lebenshilfe her. Seitdem finden regelmäßig Seminare statt, an denen Menschen mit Behinderung teilnehmen, die gerne künstlerisch arbeiten und/oder sich für das Thema des jeweiligen künstlerischen Projekts interessieren. Diese inklusiven Seminare sind Teil des Lehrangebots im Fach Kunst und enden in der Regel mit einer gemeinsamen Ausstellung zum Semesterende.
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Material zum Begreifen Ein naheliegender, sinnlicher Impuls im Kunstunterricht ist Material. Eine große Auswahl an Materialien und Materialitäten – Acrylfarben, Aquarellfarben, Holzstifte, Buntstifte, Kohle, Kreide, Eddings, Scheren, Kleber, Tape, Zangen, Cutter, Schneideunterlagen, Draht, Gummibänder, Kabel, Kabelbinder, Stoffreste, verschiedenste Papiere, Pappen, Leinwände, Kerzen, Knetmasse, Watte, Kork, etc. – stand in jeder Seminarsitzung für alle Teilnehmer*innen sichtbar bereit. Um den Aufforderungscharakter des Materials zu verstärken und die Fülle zugänglich zu machen, fingen wir in einer Sitzung mit einer „Aufwärmübung“ an: „Bauen Sie sich selbst!“ Jeder suchte für sich passende Materialien und es entstand eine bunte Figuren-Seminar-Gruppe (vgl. Abb. 2). Ein Teilnehmer, Herr K., hatte sichtlich Freude und schrieb „Ich mach mich alls Kunstwerk. macht Spass!“ Zur folgenden Sitzung brachte er alte Kleidung mit, baute erst sich annähernd in Lebensgröße und dann ein ganzes Figurenkabinett. Er griff den konkreten Anfangsimpuls auf, integrierte seine bestehende Vorliebe für Comicfiguren und machte das Bauen von Figuren zu seinem Projekt (vgl. Abb. 3). Abbildung 2: Einstiegsimpuls: Bauen Sie sich!
Quelle: Susanne Bauernschmitt & Teresa Sansour
Ganz im Sinne Merschs forderte „[D]as ‚Entgegenkommende‘ des Materials, eine in ihm verankerte potentia“ Herrn K. heraus und brachte ihn „in eine unmittelbare körperliche Beziehung zur Welt“ (Mersch 2013, 28). Die Vielfalt der
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Stoffe und Materialitäten regte Herrn K. im Prozess zu immer neuen „Typen“ und Konstruktionen an. Gerade in inklusiven Settings ist der Umgang mit Material als basaler Reiz eine Form der ästhetischen Erkenntnispraxis, die zum begreifenden Handeln, zum Spielen mit den Dingen inspiriert, nicht nur für Menschen mit Behinderung. Die Reichhaltigkeit des sinnlichen Angebots ist dabei keine Überforderung, sondern eröffnet im Sinne einer natürlichen Differenzierung vielfältige Ansatzpunkte für künstlerische Bildungsprozesse. Laut Kathke „ist Material substanzielle Voraussetzung des noch Ungemachten und damit dinghafter Ausgangsstoff künstlerischen Gestaltens“ (Kathke 2017, 254). Abbildung 3: Figurenkabinett von Herrn K.
Quelle: Susanne Bauernschmitt & Teresa Sansour
Neben künstlerischen Materialien standen auch viele Bücher als impulsgebendes Informations-, Anschauungs- und Recherchematerial bereit. Je nach inhaltlicher Ausrichtung der künstlerischen Projekte lagen entsprechende Fachliteratur und
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Bildbände, aber vor allem Ausstellungskataloge, Künstlermonographien und Kunstbücher aus. Für einen sehr zurückhaltenden, schweigsamen Teilnehmer wurde dieses Material zum Ausgangspunkt seiner künstlerischen Arbeit. Herr W. brauchte viel Zeit, um seine Gedanken zu äußern. Die Dozierenden gingen anfangs davon aus, dass er Schwierigkeiten hatte, sich zu artikulieren und zu entscheiden, und unterbreiteten ihm viel zu schnell Vorschläge, was er tun könnte. Doch Herr W. war sehr viel eigenständiger im Denken und Handeln als angenommen. Inspiriert durch den großen Büchertisch formulierte Herr W. schriftlich einen klaren Plan: „Ich Bin der C. [Name abgekürzt] und ich möchte Nächste Woche Aus einem Buch was machen“. So nahm sich Herr W. in der folgenden Veranstaltung den Katalog von Hermann de Vries, studierte ausführlich und konzentriert die systematischen und zufälligen Arrangements von Naturartefakten des Künstlers und fing eigenständig an mit Tusche und Feder organische Formen zu zeichnen. Dabei schien es, dass Herr W., ähnlich wie Herman de Vries, Formvariationen sammelte, sie kategorisierte und rhythmisch auf weißen Blättern anordnete, nur eben zeichnerisch. Mit seiner Botschaft irritierte Herr W. auch die Denkmuster der Dozierenden und machte deutlich, dass eine vorschnelle Reduktion von Auswahlmöglichkeiten aufgrund von Behinderung keineswegs angemessen war. Ort und Raum für Erscheinungen und Entscheidungen „Könnte man nicht der Meinung sein, das Leben sei ein ständiges nachträgliches Abfragen von Kenntnissen über den Raum, von dem alles ausgeht?“ (Sloterdijk 1998, 12) Räume, Orte und Felder bieten durch ihre Zugänglichkeit immer impulsträchtige Anknüpfungspunkte, um sich zu verorten (Hornäk et al. 2015, 188). Unterwegs fällt einem schnell etwas ein, auf oder zu, man platziert sich fast automatisch zu den Dingen. Viele Fragen stellen sich erst im Kontext der Gegebenheiten. Wahrnehmungseindrücke in der Bewegung eröffnen Gedanken-, Spiel-, Handlungs- und Freiräume für individuelle künstlerische Werkprozesse. So wurden die Teilnehmer*innen in Gruppen und mit einem kleinen Forscherequipment (Digitalkameras, Sammeltütchen, Post-its, Lageplan und Zeichenmaterialien) auf künstlerische Hochschulerkundung geschickt. Die vermeintlich ortskundigen Studierenden sollten ihrer täglichen Wirklichkeit neu begegnen, die ortsfremden Teilnehmer*innen der Lebenshilfe Orientierung gewinnen, die Gegebenheiten kennenlernen und alle sollten – mittels künstlerischer Strategien wie Skizzieren, Fotografieren, Sammeln, Spurensuche, Mapping etc. – zum sensiblen Wahrnehmen, Erkunden und Experimentieren animiert werden.
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Die Aufgaben lauteten unter anderem: • Sammeln Sie etwas Rätselhaftes, etwas Wunderschönes, etwas, das Sie min-
destens 10x finden. • Finden Sie gemeinsam eine rätselhafte Spur. Überlegen Sie, wo diese her-
kommt. Fotografieren Sie die Spur. Hinterlassen Sie eine Spur. • Finden Sie einen Ort, an dem ein Tier lebt. Zeichnen Sie das Tier vergrößert in
den Lageplan ein. • Finden Sie ein kleines flaches Ding, das in das Diarähmchen passt.
Eine Teilnehmerin hatte sich „unvorhersehbar“ in den Finger geschnitten. Statt ein kleines Ding in das Diarähmchen zu stecken, fing sie einen Blutstropfen auf und projizierte das Dia anschließend. Fasziniert von den malerischen Strukturen entwickelte sich aus dem zufälligen „Fang“ eine intensive, biografische, serielle Arbeit (vgl. Abb. 4). Im spielerischen, ungezielten Experimentieren trat „ihr Ding“ im Licht des Projektors in Erscheinung. Abbildung 4: Bloody Story von Frau K.
Quelle: Susanne Bauernschmitt & Teresa Sansour
Beim allgemeinen Zusammentragen der Erkundungsfunde wurde ein großes Interesse für Natur offensichtlich. Dies griffen die Dozierenden spontan auf und richteten – nach dem weiten Rundumblick durch die Hochschulräume – nun gezielt den Fokus auf den nahegelegenen Öko-Garten. Eine Professorin der Biolo-
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gie gab eine kurze Einführung, bevor sich die Teilnehmer*innen selbstständig umschauten, zu experimentieren und zu gestalten begannen. Die Faszination am Kreuchen und Fleuchen war für Frau E. Anlass, nochmals an vergangenen Arbeiten anzuknüpfen und sich mit Insekten zu beschäftigen. (Im Jahr zuvor hatte sie auf Studienreise Miniatursärge aus Papier für tote Insekten entwickelt, die in ihren Formen den Tierleichen angepasst waren.) Doch dann geschah wenig. Frau E. spielte in den darauffolgenden Sitzungen ein wenig mit kleinen Eisenteilen, unterstützte Kommiliton*innen, aber eine konkrete künstlerische Idee zeichnete sich nicht ab. Mit einem kleinen Brief versuchten die Dozierenden, sie in ihrem Vorhaben zu bestärken, ohne Entscheidungen vorwegzunehmen: „Liebe Frau E., knüpfen Sie an vergangenen Arbeiten, Materialien, Ideen an! Wie wär’s mit den Metallkleinteilen oder mit Zahnstocherminiaturen oder Ameisenmutanten oder Insektengewimmel? Ich bin gespannt! Frohes Schaffen!“ Eine Geduldsprobe – die es für die Lehrenden und für die Studierenden galt auszuhalten. Zeit und Zutrauen zu geben, auch das gehört zum Anfangen. Abbildung 5: Bienenflügelblüte von Frau E.
Quelle: Susanne Bauernschmitt & Teresa Sansour
Letztlich kam Frau E. mit einer klaren Konzeption und einer stinkenden Kiste an Bienenflügeln. Mit viel Fingerspitzengefühl klebte sie Bienenflügel für Bienenflügel an einen Pusteblumenstängel und gestaltete eine „Bienenblüte“ (vgl. Abb. 5). Auf den Reflexionszettel schrieb sie:
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„Manchmal denke ich, ich bin so klein wie meine Basteleien. So klein, dass ich 1 Million mal auf diesen Zettel passen würde. Klein mit Hut, aber ohne Hut, also noch viel kleiner. Aber eigentlich bin ich viel GRÖSSER als all das.“
Prinzipien des Anstoßes und der Resonanz: Sammeln, Austauschen und Reflektieren Jenseits der vorgestellten, konkreten Impulssetzungen kamen bei der Planung offener Anfangsszenarien und individueller Prozessbegleitungen drei Prinzipien in unterschiedlichen Kontexten immer wieder zum Tragen: Das Sammeln, das Austauschen und das Reflektieren. Sammeln zählt zu den grundlegenden Kulturtechniken. Ohne das Sammeln gäbe es keine Wörterbücher, keine Suchmaschinen, keine Museen, keine Herbarien, keine Antiquariate, keine Festplatten, keine Sachbücher... selbst dieser Text ist eine Gedankensammlung. Das Anhäufen von Dingen und Informationen fokussiert die Wahrnehmung und das Denken, ermöglicht ein Vergleichen, ein Ordnen, ein Gruppieren, ein Strukturieren, ein Ein- und Aussortieren, ein Austauschen, ein Präsentieren, ein Archivieren. Sammeln ist damit eine grundlegende Methode der Weltaneignung und „eine kulturelle Praxis, mit der Kommunikation von Wissen einhergeht“ (Wilde 2015, 14). Viele dieser Praktiken sind gängige künstlerische Strategien. Somit ist naheliegend, dass das Sammeln auch in inklusiven künstlerischen Projekten, gerade zum Anfang, beim Finden von Anknüpfungspunkten, Ideen und Zugängen wegführend ist: Allem voran betraf die Strategie des Sammelns die Lehrenden, wenn sie reichhaltige Material- und Büchersammlungen als anregende Impulse bereitstellten, wenn zeichnerische Methoden zusammengetragen und künstlerisch anregende Aufgabenstellungen im Vorfeld ausgedacht, gefunden und gebündelt wurden. Diese Sammlungen sind ein didaktischer und methodischer Fundus, auf den – neben den gespeicherten Erfahrungen und angehäuftem Wissen – im unvorhersehbaren Projektverlauf zurückgegriffen werden kann. Auch die Teilnehmer*innen wurden bei der Hochschulerkundung aufgefordert, Material zu sammeln: Sammeln Sie etwas Rätselhaftes, etwas Wunderschönes, etwas, das Sie mindestens 10x finden. Sich eines Teils der Welt zu bemächtigen, setzt eine Fokussierung der Wahrnehmung voraus, lässt Dinge „be-greifen“, bringt Besitzerstolz mit sich und lässt vielleicht den unvorhersehbaren Funken für eine künstlerische Idee aufscheinen. Zudem ermöglicht das Sammeln, (schwierige) Entscheidungen zu vertagen. Erstmal kann die Aufmerksamkeit ganz auf das Suchen und Finden gerichtet werden, ehe mit Ruhe, Zeit, gegebenenfalls im Austausch mit anderen das Sammelsurium gesichtet und durch Ordnen und Aussor-
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tieren eine Idee herausgegriffen und geformt wird. Zuweilen ist gesammelten und aufbewahrten Dingen ein Aufforderungscharakter immanent, der zu „eigensinniger“ Auseinandersetzung animiert. „[…] eigene Wirklichkeiten zu erzeugen, die sich vom Alltagskontext weit entfernen. Hier kommt Magie und Mythos mit ins Spiel. Das Alltägliche wird individuell verzaubert, Lebloses wird lebendig“ (Duderstadt 2004, 3) − so wie ein Tropfen Blut bei Frau K. zu einer ganzen „Bloody Story“ wurde. Auch Herr W. sammelte, zeichnerisch: Durch die Auseinandersetzung mit den Naturobjektsammlungen von de Vries wurde bei ihm ein serieller Zeichenprozess angestoßen, wobei die Form(er)findungen auf dem Papier als ästhetische Forschung zu Blatt- und Samenformen gesehen werden können. Dem Prozess des Sammelns folgt oft das Archivieren. Auf der Suche nach einer geeigneten Form der Prozessdokumentation, die von allen Teilnehmer*innen selbstständig schriftlich oder bildnerisch ausgeführt werden und stets allen zugänglich sein sollte, stießen die Dozierenden auf einen Zettelkasten, der anfänglich nur als Archiv und Ideenspeicher gedacht war. Ein Kunstgriff, wie sich herausstellen sollte, der zum Katalysator vieler individueller Gestaltungsprozesse wurde (vgl. Sansour/Bauernschmitt 2014, 28–35). Anfänge sind manchmal bestimmt von Zufälligkeiten, von Unvorhersehbarem. Anfänge haben auch oft etwas Rituelles. Der Zettelkasten wurde zum wiederkehrenden Ritual. Jede Sitzung füllte jeder und jede Teilnehmer*in mindestens einen DIN A6-Zettel aus. Anfangs gaben die Dozierenden konkrete Impulse zum Projektverlauf wie „Notieren Sie einen Gedanken, den Sie nicht verlieren möchten“ oder „Welches Material könnten Sie für Ihre Projektidee brauchen?“. Keine Idee, kein Gedanke ging verloren, alles wanderte in den Zettelkasten, alles war beim nächsten Mal wieder griffbereit. Das entspannte die Suche und das Finden der individuellen Projektidee sehr. Im weiteren Verlauf des Projekts reduzierten sich die Reflexionsimpulse auf einzelne Schlagworte, „Ich“ und „Wir“, dehnten sich inhaltlich jedoch vom Werk auf die Gestalter*innen aus und irgendwann verselbstständigte sich die Nutzung des Zettelkastens. Warum wurde dieser Aufbewahrungsort der Zettel nun so wichtig für die individuelle Prozessbegleitung? Die ruhende Ideensammlung, der stille Gedankenspeicher wandelte sich zur Austausch- und Reflexionsplattform, womit die zwei letzten Prinzipien in den Fokus rücken: Die Reflexion zeigt sich am Beispiel von Frau E. sehr stark als Selbstreflexion: ein Besinnen des eigenen Ichs, der eigenen Empfindungen, der eigenen Entwicklung. Darüber hinaus fanden sich auch Prozessreflexionen unter den Zetteln, prüfende und erwägende Betrachtungen der verwendeten Materialien, Rückblicke auf bisher Erarbeitetes sowie ein Nachdenken über das Seminar und über In-
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klusion. Aus dem bewahrenden Prozess wurde ein kommunikativer. Das Postkartenformat der Zettel lud nicht nur zum Schreiben, sondern auch zum Antworten oder auch zum Schmökern und Rückfragen ein. So entstanden mündliche und schriftliche Dialoge zwischen den Teilnehmer*innen und den Dozierenden und es wurde Neugierde am Tun des anderen geweckt. Von einer Studentin wurde der Zettelkasten sogar als „kollektives Gehirn“ bezeichnet. Durch diesen Austausch erfuhren die Teilnehmer*innen Wertschätzung und Selbstvertrauen. Darüber hinaus konnten individuelle Prozesse begleitet werden, da die Zettel Aufschluss darüber gaben, was die Einzelnen bewegte (vgl. Sansour/Bauernschmitt 2014, 33 f.). Schließlich taten in der Vorbereitung und Durchführung vor allem die zwei unterschiedlichen Sichtweisen aus der Kunstpädagogik und aus der Sonderpädagogik der beiden Dozierenden gut und bereicherten die gemeinsame Arbeit.
FAZIT Auch wenn die hier ausgeführten Beispiele und Prinzipien grundsätzlich auf Schule übertragbar sind, so muss trotzdem berücksichtigt werden, dass je nach Lerngruppe und den individuellen Möglichkeiten und Unterstützungsbedarfen andere Vorgehensweisen notwendig sind. Letztlich gilt, dass ein offensives Vorwegplanen weniger gefragt ist. Vielmehr geht es um ein flexibles Mitgehen. Je mehr und je vielfältiger Impulse bereitgestellt werden, desto wahrscheinlicher ist es, dass jeder und jede den Anstoß findet, der ihn oder sie in Bewegung versetzt, selbst die Welt sinnstiftend zu entdecken und zu gestalten. Somit sind vielfältige Impulse auch immer eine natürliche Differenzierung und manchmal ein Kunstgriff.
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Rahmenbedingungen gelingender inklusiver Kultureller Bildung im außerschulischen und innerschulischen Bereich Elisabeth Braun
VORÜBERLEGUNGEN Kulturelle Bildung und in ihrer Konsequenz die Kulturarbeit haben, wenn es um die Einbeziehung aller Menschen geht, ein gut definiertes Ziel: Kulturelle Bildung soll lebenslange Teilhabe am kulturellen Geschehen in der Gesellschaft vermitteln. Allerdings sind die Voraussetzungen für die Realisierung dieses Ziels sehr unterschiedlich. Für Kinder, Jugendliche und Erwachsene aus benachteiligten Lebenslagen oder behindernden Lebenssituationen sind Realisierungsmöglichkeiten oft sehr eingeschränkt. Die Ausgangsbasis für Erfahrungen und Bildungsprozesse im künstlerisch-kulturellen Bereich ist also sehr uneinheitlich. „Es bedeutet [...], dass es keine Ausgrenzungen geben darf. Und dies wiederum bedeutet, dass wir uns mit Ungleichheiten in unserer Gesellschaft auseinandersetzen müssen. Früher diskutierte man Ungleichheiten sehr stark nur als sozial-ökonomische Ungleichheit. Heute ist es üblich geworden, dass neben dieser sozial-ökonomischen Ungleichheit auch andere Ungleichheiten wie etwa Stadt/Land-Gefälle, Ungleichheiten zwischen ethnischen Gruppen etc. diskutiert werden. Für eine kulturelle Bildungsarbeit, die sich diesem Konzept der Allgemeinbildung verpflichtet sieht, ist daher der Umgang mit diesen verschiedenen Ungleichheiten in unserer Gesellschaft eine Aufgabe. Diese Berücksichtigung von Gruppen, die in irgendeiner Hinsicht unterprivilegiert sind, bedeutet allerdings gerade nicht, dass nur noch ‚Randgruppen‘, also durch Gewalt oder anderen Verhaltensweisen auffällig gewordene Gruppen von Kindern und Jugendlichen in das Blickfeld von Kinder- und Jugendkulturarbeit geraten dürfen.“ (Fuchs 1994, 305–306)
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Kulturelle Bildung als Auseinandersetzung mit künstlerisch-aktiven Angeboten soll also für alle gelten. Sie findet in Feldern in und außerhalb von Schule statt und hat daher die Chance, sich auf unterschiedlichste Gegebenheiten und Anforderungen einzulassen. Im Folgenden geht es darum, diese Chancen aufzuzeigen und Gelingensbedingungen zu benennen. Dazu ist zunächst festzuhalten, dass generell in der Kulturellen Bildung in und außerhalb von Schule große Entwicklungsschritte stattgefunden haben. In den letzten Jahren haben sich Unterschiede und Grenzen positiv verschoben, so dass man aktuell überall von einer großen Akzeptanz von ästhetisch-künstlerischen, praxisbetonten und interaktiven Arbeitsformen ausgehen kann. Kulturelle Bildung wird als zentraler Ausgangspunkt für die eigene Persönlichkeitsentwicklung angesehen. „Kulturarbeit gibt Chancen, eigene Entscheidungen zu realisieren und Sinn zu schaffen [...]. Kulturarbeit hilft, künstlerische Äußerungen als sinnvoll zu interpretieren, einen eigenen Sinn zu ‚entwickeln‘.“ (Braun 1999, 24) Allerdings werden zu oft die tatsächlichen Rahmenbedingungen der Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen aus kulturellen und gesellschaftlichen „Randbereichen“ nicht hinreichend berücksichtigt. Schon die Frage nach dem Zugang und der Zugänglichkeit, d.h. der Offenheit, von Projekten und Aktionen für alle ist sehr bedeutsam und nicht nur, wenn es darum geht, Angebote für heterogene Gruppen zu machen. Schulische Bedingungen sind für die Durchführung von Aktionen, die den Klassen- und Unterrichtsrahmen sprengen, nur sehr langsam veränderbar. Dazu gibt es die Tradition der künstlerischen Sparten (= Schulfächer), die eine gewisse Eigendynamik entwickelt haben. Erfreulicherweise hat diese in den letzten Jahren oft einer übergreifenden Sichtweise Platz gemacht. Dadurch wird auch Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, die durch ihre Sozialisation wenig mit einzelnen künstlerischen Techniken in Berührung kamen und sprachlich nicht besonders geschult wurden, ein Zugang zu aktiver Auseinandersetzung mit ästhetischen Erfahrungen eröffnet. Es gibt allerdings erhebliche Unterschiede, wenn es um die praktische Umsetzung geht. In und außerhalb der Schule gelten oft unterschiedliche Spielregeln. Sie haben Einfluss auf die Umsetzung des Ziels der Kulturellen Bildung. Das Ziel, eine lebenslange Teilhabe am kulturellen Leben zu ermöglichen, ist höchst anspruchsvoll, weil es Lernprozesse vom frühkindlichen Alter bis zur Erwachsenenbildung der Senioren umfasst, weil es sämtliche Kunstsparten berücksichtigen will, weil es die unterschiedlichsten Ausdrucks- und Gestaltungsformen beinhaltet und praktisch alle Veranstaltungsformate enthalten soll.
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Daher kann auch in diesem Beitrag eine inklusive Kulturelle Bildung nur ansatzweise und in Modellen vorgestellt werden. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei im Folgenden auf Voraussetzungen bzw. den Rahmenbedingungen. Es geht dabei darum, soweit sichtbar, Unterschiede und Ausgangslagen Kultureller Bildung in der Schule und im außerunterrichtlichen bzw. außerschulischen Bereich zu kennzeichnen. Beispiele sollen dann einzelne Rahmenbedingungen illustrieren.
RAHMENBEDINGUNGEN DER ORGANISATION Erreichbarkeit und Zugänglichkeit Schule als Ort einer Pflichtinstitution für alle Kinder und Jugendliche hat einen klaren Vorteil in der Präsenzpflicht und der in den Klassengruppen möglichen Interaktion. Damit erhalten auch benachteiligte Kinder und Jugendliche „automatisch“ Kontakt zu Angeboten Kultureller Bildung und zur peer-group. Das Angebot Kultureller Bildung in der Schule kann (oder könnte?) also alle ohne Ausnahme erreichen. Demgegenüber hat die Kulturelle Bildung im außerschulischen Bereich zum großen Teil andere Voraussetzungen. Sie baut auf Freiwilligkeit der Teilnahme, auf eine starke Profilierung eigener Interessen. Damit verbunden sind vorhandene bzw. anzubietende Entscheidungsmöglichkeiten, Hoffnungen auf eine gemeinsame Arbeitsgruppe und Beteiligungsangebote unabhängig von den eigenen Vorerfahrungen. Doch ist oft schon der Weg die Entfernung, der bauliche Zugang zum Ort der Angebote, schlecht zu überwinden. Oft sind auch nicht die richtigen Informationswege für Angebote vorhanden (ganz abgesehen von den spezifischen Kommunikationsmitteln wie Gebärdensprache oder Braille-Schrift). Es fehlen die persönlich abgestimmten Informationen und Menschen mit „Willkommenskultur“. Das heißt, dass zusätzlich zu Zugängen im engeren Sinn das Vorhandensein von Ansprechpartner*innen und einer akzeptierenden Gruppe sehr notwendig ist, um die Gefahr der Diskriminierung auf Grund von „Andersartigkeit“, Behinderung oder Herkunft zu vermeiden. Kulturbegleitung von einzelnen Personen, Kulturagenten an Schulen, Mentorennetzwerke und verfügbare Kontaktpersonen sind die eigentlichen Vermittler. Sie schaffen Zugänge zu Orten und verhelfen zur Zugänglichkeit bzw. Erschließung von Inhalten und Angeboten.
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Personal Die Forderung nach Kontaktpersonen betrifft auch diejenigen, die sich als „Offizielle“ im Feld von Inklusion und Kultur bewegen. In der Kulturellen Bildung sind in der Zwischenzeit die unterschiedlichsten Berufsgruppen am Werk. Die ästhetisch-motivierte Schulsozialarbeit ist genauso anzutreffen wie die engagierten künstlerischen Fachkräfte (z.B. eines Theaters). Professionelle Musiker*innen erarbeiten genauso „Musicals“ und große „musikalische Themenabende“, bei denen Teilnehmende mit unterschiedlichsten Vorerfahrungen mitwirken, wie sie das Repertoire von Bläserklassen in der Schule entwickeln. Bildende Künstler*innen bieten sich in Projekten als kommunikative Partner an oder öffnen ihre Ateliers. Ehrenamtlich Mitwirkende aus Interessenverbänden der Menschen mit Behinderung und aus sehr verschiedenem persönlichem Umfeld treten als Assistenz und Fachkräfte in Erscheinung. Nicht zuletzt wirken Lehrkräfte von Schulen und Personen aus verschiedensten Fördervereinen mit. Unterschiede in der Anzahl Mitarbeitender, in Ausdauer und Nachhaltigkeit bei den Angeboten haben weniger mit dem außer- oder innerschulischen Rahmen zu tun, sondern mit den jeweiligen Förderbedingungen. Hier spielen finanzielle Mittel und der Einfluss von entsprechenden künstlerischen Fachkräften eine große Rolle. Zusätzliche Deputate und Lehraufträge könnten die Arbeit im schulischen Rahmen erleichtern. Besonders wirkungsvoll sind diese zusätzlichen Kapazitäten, wenn sich Verantwortliche durch Kooperation und Netzwerke gegenseitig unterstützen und Lehrkräfte ohne Benotungsdruck arbeiten können. Der Vorteil von Projekten im außerschulischen Bereich liegt in der möglichen Ausweitung und Nichtbeachtung von „Lehrplanvorgaben“. In der Zusammenarbeit mit selbstständigen Künstlern und Kulturorganisationen mit deren Struktur lassen sich nicht nur künstlerische Fähigkeiten bei Kindern und Jugendlichen entdecken und entwickeln, sondern auch direkte Wege ins Kulturleben finden. Zeitstruktur Was bei der Zeitstruktur in der Schule von Vorteil ist, sind die klaren Begrenzungen. Der Beginn und der Verlauf von Schultagen geben einen Rahmen vor, der einforderbar und einteilbar ist. Im außerschulischen Bereich gilt im Wesentlichen eine freiere Zeitstruktur (z.B. auch Arbeiten ohne Unterbrechung, an Wochenenden, am Abend und in der Nacht) und ganz besonders die Freiwilligkeit der Teilnahme. Hier werden deshalb leichter auch ungewöhnliche Formen arrangierbar wie z.B. Einzelunterricht, Kleingruppenarbeit, spontane Präsentationen und Aufführungen und kurz-
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fristige Teilnahme. In dieser Hinsicht kann die Konzentration auf Projekte von Vorteil sein. Oft erreicht man bei Präsentationen und Aufführungen im außerschulischen Raum eine „andere“ Aufmerksamkeit des Publikums und erweitert damit die (positiven) Selbsterfahrungen. Ein Publikum, das sich nicht nur aus dem familiären Umfeld, sondern z.B. aus dem Stadtteil, aus Parallelprojekten, aus Fachkräften, aus Personen des öffentlichen Lebens zusammensetzt, hat meist einen „höheren Stellenwert“. Dieses ist aber vermutlich nicht besonders gut während Unterrichtszeiten zu aktivieren. Ort In der Wahl der Orte zeigen sich oft große Unterschiede. Heute suchen Schulprojekte der Kulturellen Bildung nach unkonventionellen Arbeitsorten außerhalb der Schulgebäude. Dagegen fordern im außerschulischen Bereich künstlerische Tätigkeiten oft (ähnlich der Schule) einen festen „Arbeitsort“ (Instrumentalunterricht, AtelierErfahrungen, Tanzwerkstätten, Zirkusaktivitäten etc.). Bemerkenswert ist auch, dass sich die Orte nicht nur auf naturbezogene Rückzugsorte beschränken, sondern die „normale“ Umwelt einbeziehen. Schon 1987 betonte Dieter Baacke: „Gerade die Metropolen können zunehmend Stätten lebensweltbezogener kultureller Chancen sein: Nicht durch Verbreiterung der Kultusadministration oder der fremdenverkehrsbezogenen Repräsentativkultur, sondern durch Bereitstellung von Sozialräumen und die tolerante Bereitschaft, schon definierte Raumzonen veränderten und/oder verändernden kulturellen Nutzungsphasen zu überlassen.“ (Baacke 1987, 53) So gilt es, für die Kulturelle Bildung insgesamt, unterschiedlichste Orte und Begegnungsmöglichkeiten vorzuhalten. Orte der alltäglichen Umwelt (für freie Gestaltungsmöglichkeiten zu nutzen) spielen in zunehmendem Maße unter inklusiven und aufsuchenden Strategien eine bedeutende Rolle. Straßenaktionen, schul- und fächerübergreifende Aufführungen, kooperative Kunstprojekte, Bandprojekte, Museumsaktionen, Spektakel mit Medien und Tanzensembles sind am leichtesten durchzuführen, wenn die Wahl des Ortes den jeweiligen Zielen, „Gepflogenheiten“ und kulturellen Gewohnheiten entgegenkommt. Als ein besonderes Beispiel sei das „Schaffwerk“ (Pfullingen) angeführt, in dem zurzeit auch Menschen mit und ohne Behinderung „recherchieren“.1
1
www.youtube.com/watch?v=yQdez4nY9Qw (Videobericht zum „Schaffwerk“ Pfullingen als inklusivem Arbeitsort)
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Zudem werden viele Orte wegen ihrer Erreichbarkeit und vorhandener baulicher Barrierefreiheit oft gegenüber Schulgebäuden vorgezogen.
INHALTLICHE RAHMENBEDINGUNGEN Didaktische Konzepte Im schulischen Lernen spielt die Bereitstellung von Lernsituationen eine wichtige Rolle. Im Unterricht erfolgen nach einigermaßen genauer Erhebung und Beschreibung der Ausgangssituation der einzelnen Lernenden spezifische (auch künstlerische) Anregungen. Es wird Material, oft als „vorbereitete Lernumgebung“, bereitgestellt, was mehr oder weniger gezielt eine bestimmte Förder-/ Lernwirkung haben soll. Kulturelle Bildung in der Schule nimmt diese Art zu arbeiten auf und führt sie weiter. Themen im Bereich von Unterricht und Schule bleiben durch den Lehr- oder Bildungsplanbezug in der Regel begrenzter als im außerunterrichtlichen bzw. außerschulischen Bereich. Immer wieder werden individuelle Perspektiven einzelner Schüler*innen hier auch als wenig hilfreich oder anregend erlebt, während sich im außerschulischen Bereich die Betonung von Individualität und Diversität gerade als anregender Gestaltungsanreiz herauskristallisiert. „Kulturelle Diversität innerhalb ästhetischer, künstlerischer, sinnlich wahrnehmbarer Dimensionen zu thematisieren, hilft dem Einzelnen, diese zu erkennen, mit ihr umzugehen und eigene Wege zu beschreiten [...]. Eine diversitätsbewusste Kulturelle Bildung kann so dazu beitragen, auf der einen Seite den Zusammenhalt und Dialog innerhalb einer diversitären kulturellen Gesellschaft zu stärken, zugleich aber auch dem Individuum Entscheidungshilfen und Gestaltungsmöglichkeiten für die eigene kulturelle Biographie an die Hand zu geben.“ (Keuchel 2015, 53 f.) Erfreulicherweise hat sich didaktisches Denken in den letzten Jahren sehr stark weiterentwickelt. Die Offenheit von Situationen im künstlerischen Bereich hat sich enorm erweitert. Eigentätigkeit, Entscheidungsfindung, eigene Lösungssuche und forschendes Lernen sind auf allen Altersstufen und mit jeder Art Gruppierung von Kindern und Jugendlichen heutzutage üblich. Ein gutes Beispiel für eine solche Erweiterung ist heute die verstärkte Auseinandersetzung mit der eigenen (kulturellen) Biografie. Mit Themen des „eigenen Lebens“ eröffnet sich für alle – unabhängig von Benachteiligung oder Herkunft – die Möglichkeit, eigene Erfahrung und Gestaltung zu verbinden. Daraus ergeben sich oft neue Formen wie z.B. mediale biografische Präsentationen, getanzte
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Fluchtgeschichten, Theaterperformances zu Geschichten der Herkunftsfamilie, generationenübergreifendes Musizieren auch mit unbekannten Instrumenten. Methodische Konzepte Methodische Fragen in der Theatergruppe, Lernvorgänge beim Instrumentalspiel und in der Kunst-AG bzw. in einer Kunstwerkstatt der Jugendkunstschule erhalten in den letzten Jahren ein besonderes Augenmerk. In der Arbeit hat sich durch eine inklusive Orientierung einiges verändert. Besondere individuelle Voraussetzungen von Teilnehmenden, aber auch die Heterogenität von Gruppen verlangen eine größere Beweglichkeit und Phantasie in den Methoden. Ein interessanter Ansatz aus der Kinderchor-Arbeit könnte ein Beispiel sein. In dieser setzen sich zurzeit Begleitgesten oder Gebärden durch, nicht nur als Spielelement, sondern als Ausdrucks- und Gestaltungshilfe. Alle Kinder verstärken dadurch das Erlebnis und Verstehen der Musik bei sich und den Zuhörenden. Ziele mit Kindern und Jugendlichen in Projekten im gemeinsamen Tun erst entwickeln zu können, ist nach wie vor ein gewisser „Vorteil“ der außerschulischen Kulturellen Bildung. Methoden können spontan wechseln und sind oft nicht von vornherein festgelegt. Oft kommt noch ein sehr freies Überschreiten der Spartengrenzen dazu. Unkonventionelle Arbeitswege wie Improvisation und Zufallsexperimente eröffnen allen Kindern und Jugendlichen eine Chance, Ideen einzubringen, eigene Erfahrungen anderen zu übermitteln und Teile der Regie zu übernehmen. Die Frage nach Vorerfahrungen ist dabei oft weniger wichtig. Projektmethoden und multifunktionale Formen künstlerischer Gestaltung stellen alle Beteiligten in gleicher Weise vor neue Lösungsmöglichkeiten.
BEISPIELE ZU BEDINGUNGEN GELINGENDER PRAXIS Im Folgenden werden Praxisbeispiele dargestellt, die durch ihre Machart vorgegebene Strukturen erweitern, neue Formate finden oder bekannte Angebote anders interpretieren. Damit soll gezeigt werden, wie Menschen mit unterschiedlichsten Voraussetzungen der Zugang zu künstlerischen Inhalten ermöglicht werden kann. Die Beispiele verdeutlichen, wie die oben genannten allgemeinen Bedingungen aufgenommen werden könnten, damit eine breite Zugänglichkeit (Zeit und
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Ort etc.) erreicht wird und die Beachtung von Diversität (durch didaktische und methodische Veränderungen) in die Praxis umgesetzt werden kann. Die Modelle sollen Beispiele für Gelingensbedingungen sein. Zu beachten ist, dass es sich tatsächlich nur um Beispiele handelt, deren jeweilige Voraussetzungen sehr verschieden sind. Es lassen sich sicher viele ähnliche finden. Die Betonung der Standorte vor allem in Baden-Württemberg ist beabsichtigt. Bedingung Öffnung der Zeitstruktur Kulturfreitag Schule Schwetzingen: Ein Beispiel für den freien Umgang mit der Zeit in der Kulturellen Bildung ist die Einrichtung eines „Kulturfreitages“ 2. In Zusammenarbeit mit einem Kulturagenten entschließt sich eine Schule, einen ganzen Schulvormittag für alle Schüler*innen mit kulturellen Aktivitäten zu füllen, die dann z.B. auch den Besuch von Kulturinstitutionen in der Stadt erlauben. Mit dem „Kulturfreitag“ öffnet sich die Schule nicht nur für künstlerische Aktivitäten, sondern auch für die „Verzahnung“ ihres Betriebs mit dem kulturellen Leben außerhalb. Bedingung Kooperation DaCapo Titisee-Neustadt: In Titisee Neustadt gibt es den Versuch, inklusive Bedingungen durch musikalisches Zusammenspiel von über 100 Kindern und Jugendlichen in einer Großgruppe herzustellen3. Die Kooperation der Grundschule mit Musikschule, Musikverein, Sinfonischem Orchester etc. ist allein schon eine sehr gute Voraussetzung für ein musikalisches Angebot an unterschiedlichste Schüler*innen. Aber auch die Stück- und Instrumentenauswahl ist so angelegt, dass jede beteiligte Gruppe einen gleichwertigen musikalischen Beitrag leisten kann (Stellmach 2016). Bedingung Variation der Veranstaltungsorte Theaterwanderung Reutlingen: Als Ergebnis eines Ferienworkshops zum Theaterspiel (Sprache spielend lernen) ergeben sich Szenen zum Thema „Freundschaft“. Kinder des deutsch-russischen Vereins Dialog e.V. treffen sich, um unter Anleitung der LAG Theaterpädagogik Szenen zum Thema „Freundschaft“ zu
2 www.comeniusschule-schwetzingen.de/ags-projekte/kulturfreitag/ und www.youtube. com/watch?v=f2ZHibYENGM (Medienwerkstatt Kulturfreitag) 3
www.hansjakobschule-neustadt.de/dacapo-musikalische-bildung-von-anfang-an/
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finden. Die Präsentation der Ergebnisse hat einen eigenen Reiz. Das Publikum wandert zu unterschiedlichen Werkstatt- und Schulungsräumen und erlebt jeweils eine andere Theatertechnik (Schattenspiel, Sprachcollage und pantomimisches Tanzen). Das Aufsuchen der verschiedenen Spielorte, d.h. die „Wanderung“ macht aus den kleinen Produktionen ein großes Ganzes (Rupprecht 2018). Kinderkonzert im Schwarzwald: Der kleine Verein „Kinderkonzerte Treffpunkt Lohmühle Bernau“ bringt unterschiedliche Kinder im ländlichen Raum zu Konzerterlebnissen wie sie sonst nur Musikschulen und große Orchester ermöglichen. Klassische Musikstücke, selbst gespielte Klänge, Lieder und Sprachrhythmen werden nach einer Idee der Leiterin an unterschiedlichen Stellen im „Zauberwald“ (einem tatsächlichen Waldstück in der Nähe von Bernau) so aufgeführt, dass alle Mitspielenden, aber auch die besuchenden Familien mitwirken. So wird das Spiel mit Naturmaterial und der märchenhaften Umgebung zu einem mit allen Sinnen erlebten Konzert, z.B. mit dem „Sommernachtstraum“ 4. Durch die Wahl unterschiedlicher Ausgangspunkte und Veranstaltungsorte eröffnet sich für die Kulturelle Bildung eine große Chance. Es lassen sich Alltagserfahrungen und künstlerische Bearbeitungen ganz nah zusammenbringen. Zum Beispiel kann man sich kreatives Gestalten mit Percussion auf dem Schrottplatz oder LandArt-Projekte im Schulgelände sehr gut in der gemeinsamen Aktion von Jugendlichen mit und ohne Beeinträchtigung vorstellen. Bedingung Öffnung der Sparten, „multimediales“ Musizieren Klangorchester der Musikschule Ostfildern (bis 2017): Eine Gruppe von ca. 20 Instrumentalschüler*innen unterschiedlichen Alters improvisiert nach vorherigen Absprachen und Proben zu Videoproduktionen und Computeranimationen. Diese lassen sich im weitesten Sinne mit Sternen und Weltall verbinden. Das musikalische Spiel ist charakterisiert durch geräuschhafte Einlagen, liegende Klänge und Musikzitate, die in einem vierstimmigen Satz von „Der Mond ist aufgegangen“ der Hornklasse enden. Bemerkenswert ist dabei das Zusammenwirken der Menschen mit sogenannter Behinderung und der Hornklasse. Es sind in diesem Klangorchester Anwärter auf den Wettbewerb „Jugend musiziert“ genauso vertreten, wie Personen, die erst elementare Erfahrungen mit ihrem Instrument gemacht haben. Durch die Abstimmung der Improvisation auf die projizierte Computeranimation erhält das gesamte Werk eine Intensität, die die einzelnen Schülergruppierungen nie hätten erreichen können. Fächergrenzen werden damit aufgehoben.
4
www.lohmuehle-bernau.de/treff.html#kiko (z.B. 14. und 15. Konzert)
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„Inszenierte Tafel“: Bei der inszenierten Tafel im Atelier Farbklang in Berlin geht es um die Inszenierung einiger gedeckter Tische und das damit verbundene Tischgespräch5. Zu verschiedenen Themen gestalten die Schüler*innen Tische und kreieren ein dazu passendes Essen. Der Erfolg der Aktion ergibt sich aus der aktiven Inszenierung. Interessant ist dabei, dass ein alltäglicher Anlass, der allen vertraut ist, zum gemeinsam gestalteten Kunstwerk wird. Gleichzeitig können kulturelle Bildungsprozesse auf sehr unterschiedlichen Ebenen wirksam werden. Bedingung Erweiterung von Methoden Methoden der Vermittlung und Ausbildung werden oft nicht kritisch genug betrachtet, wenn es um die Zugänge von Kindern und Jugendlichen mit unterschiedlichen Voraussetzungen geht. Als Beispiel sei hier die Vermittlung von instrumentaltechnischen Kenntnissen angeführt. Beim Instrumentalspiel ist folgendes wichtig: Anleitungen akzeptieren, eigene Vorschläge einbringen, kontinuierliches Üben, sich selbst Aufführungssituationen aussetzen, sich mit anderen nonverbal verständigen und gleichzeitig die vorgelegten Musikstücke möglichst exakt interpretieren. Das sind alles sehr erwünschte Verhaltensweisen. Oft wird aber nicht erkannt, wie sie praktisch-methodisch vermittelt werden sollen. Mit der Absicht der Inklusion werden immer wieder neue methodische „Spielregeln“ notwendig. Zum Beispiel ist die Arbeit ohne Notenschrift für viele Lehrkräfte kaum vorstellbar. Methodische Phantasie sollte hier ins Spiel kommen, für die es zahlreiche Beispiele gibt (graphische Notation, gestisches Zeigen, Experimente mit Klangerzeugern, Spiel nach Gehör etc.). Ein sehr aufwändiges Beispiel für neue und andere Methoden gibt das Digital Diary6, das Klangaktionen des Blauschimmel Ateliers und Institut für Musik der Uni Oldenburg bei wöchentlichen Experimenten zeigt (Digitales Tagebuch erzählt „spannende Geschichte“ 2016; Massari n.d.).
FAZIT Ein Überblick über Rahmenbedingungen Kultureller Bildung innerschulischer, außerschulischer und nachschulischer Art ist eigentlich an dieser Stelle hinfällig.
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www.junge-kunst-mitte.de/tag/projektwoche
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www.blauschimmel-digitaldiary.de (mit 29 anklickbaren Sequenzen)
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Einige wichtige Gelingensbedingungen sind oben formuliert und Ideen und Mittel stehen denjenigen, die sich darum bemühen, in der Regel zur Verfügung. Die Ergebnisse, die bei Projektabschlüssen, Festivals, in Theatern und Kunstausstellungen und als mediale Produktionen mit benachteiligten Menschen gezeigt werden, sind vielfältig und beeindruckend. Auch in Schulen gelingen viele Projekte mit Gruppen mit sehr heterogener Teilnehmerschaft. Der bestehende Rahmen der schulischen Vermittlung erlaubt den „Zugriff“ auf teilnehmende Kinder und Jugendliche in einem garantierten zeitlichen Rahmen. Allerdings erfordern die Anstrengungen fächer- und altersübergreifender inklusiver Planungen einiges an Ideen, Organisation und Logistik. Oft ist auch die Realisierung von zufälligem Budget abhängig. Der freiere Rahmen außerschulischer Angebote bis hin zur professionellen beruflichen Bildung hat meistens wesentlich größere Spielräume in der Mittelakquisition und in der Verwirklichung „individueller Kreativität“. Allerdings ist hier die Erreichbarkeit von Teilnehmenden, die Kontinuität der Projektarbeit und die Nachhaltigkeit der erreichten künstlerischen Ergebnisse oft ein noch nicht gelöstes Problem. Möglicherweise sind solche Fragen und Schwierigkeiten nur am konkreten Beispiel zu beantworten und hier – das zeigt die Erfahrung – bedarf es der unterschiedlichsten Menschen mit vielfältigen Professionen, Assistent*innen, künstlerische Mitarbeiter*innen, Erfahrener in den Kommunikationswegen (z.B. auch Gebärdensprachdolmetscher*innen) und freiwillig Engagierter, damit eine inklusiv orientierte kulturelle Teilhabe ermöglicht wird. Es ergibt sich also für die Lösung der vielen vorhandenen kleineren und großen Schwierigkeiten eine große Herausforderung: Kulturelle Bildung auf dem Weg zu Inklusion braucht interessierte und engagierte Menschen, je höher der Anspruch an die tatsächliche aktive Teilhabe ist, desto mehr. Hier gilt es anzusetzen. Sie sind die Schlüsselfiguren zu den Zugängen der Teilhabe. Wenn diese gelingt, entfalten sich kulturelle Kompetenzen gewissermaßen wie von selbst. So beschrieb Wolfgang Zacharias schon 2002 diese Wirkung: „Im eigenaktiven Umgang mit Kunst und Kultur, mit sinnlich-körperlich gestaltetem Ausdruck, im Spiel und zusammen mit anderen lässt sich die Gegenwart positiv erfahren, eben als Stärkung, als Bereicherung, als auch individueller Selbstwert. Das ist idealerweise das Prinzip einer Kulturarbeit für alle – und gibt subjektiv Kraft, macht Mut, ohne dass dies gleich das zentrale, offizielle Lernziel ist bzw. sein muss.“ (Zacharias 2002)
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LITERATUR Baacke, Dieter (1987): Beruf und Berufsfeld Kulturpädagogik, Kulturpolitische Gesellschaft, S. 53, zitiert in: Zacharias, Wolfgang (2001): Kulturpädagogik: Kulturelle Jugendbildung. Eine Einführung. Opladen: Leske und Budrich, 82. Braun, Elisabeth (1999): Eigensinnige und eigenartige Kulturarbeit. In: BKJ Bundesvereinigung Kulturelle Jugendbildung (Hg.): EigenSinn & EigenArt. Kulturarbeit von und mit Menschen mit Behinderung. Remscheid: BKJ, 23– 28. Digitales Tagebuch erzählt „spannende Geschichte“ (2016). In: Nordwest Zeitung vom 05.11.2016 (online verfügbar: www.nwzonline.de/oldenburg/kul tur/digitales-tagebuch-erzaehlt-spannende-geschichte_a_31,1,2983915079. html (Zugriff am: 10.07.2018)). Fuchs, Max (1994): Zehn Leitlinien für die zukünftige Kinder- und Jugendkulturarbeit. In: Bundesvereinigung Kulturelle Jugendbildung (Hg.): Kultur Jugend Bildung Kulturpädagogische Schlüsseltexte 1970–2000. Remscheid: BKJ, 303–310. Keuchel, Susanne (2015): Diversität, Globalisierung und Individualisierung: Zur möglichen Notwendigkeit einer Neuorientierung in der Kulturpädagogik. In: Keuchel, Susanne/Kelb, Viola (Hg.): Diversität in der kulturellen Bildung. Bielefeld: transcript Verlag, 37–57. Massari, Ilaria (n.d.): Digital Diary – Blauschimmel Atelier – Oldenburg. Hannover: Landesarbeitsgemeinschaft Soziokultur in Niedersachsen e.V. www. soziokultur-niedersachsen.de/foerderung/beispiele/projektdetails.html?id=201 (Zugriff am: 10.07.2018) Rupprecht, Evelyn (2018): Freundschaft in Szene gesetzt. In: Südwest Presse vom 31.05.2018 (online verfügbar: www.swp.de/suedwesten/staedte/reutling en/freundschaft-in-szene-gesetzt-26867984.html (Zugriff am: 23.09.2018)). Stellmach, Peter (2016): Da capo für 225 Kinder. In: Badische Zeitung vom 16. 11.2016 (online verfügbar: www.badische-zeitung.de/titisee-neustadt/dacapofuer-225-kinder--129884875.html (Zugriff am: 10.07.2018)). Zacharias, Wolfgang (2002): Kunst und Kultur machen stark – Prinzipien einer Mut machenden Kulturarbeit (überarbeitetes Referat anlässlich der Fachtagung „Empowerment durch Kunst“ im Juni 2002 in Reutlingen), unveröffentlichtes Vortragsmanuskript.
Bewegte Zugänge zu musikalischem Erleben Ein Impuls aus der interdisziplinären künstlerischen Forschung für die inklusive Praxis Ina Henning Ästhetische Erfahrung bemüht das Sinnenbewusstsein. Sie verlangt nicht nach einer Anstrengung des Begriffs, sondern einer „Anstrengung des Gemüts“ – Hanne Seitz (2015/2013)
EINLEITUNG Musik und Bewegung werden von jeher als untrennbare, sich bedingende, wechselseitig durchdrungene Komponenten beschrieben (Weise 2013). Musikalische Bildung durch Bewegung hat ihre Wurzeln in der wechselseitigen Verkettung von Wahrnehmen, Handeln und Begreifen; diese Verkettung wird in der Rhythmik als Basisphänomen in Lernprozessen gesehen und bildet die Grundlage pädagogischen und künstlerischen Wirkens (ebd.). Der Auseinandersetzung mit Körperlichkeit in der Musik in wissenschaftlichen Diskursen wird aber erst in jüngster Zeit durch den sogenannten body turn mehr Aufmerksamkeit geschenkt (vgl. Oberhaus/Stange 2017). Ausgangspunkt dieses Beitrags ist die Feststellung, dass der niederschwellige Zugang zu Bewegung in inklusiven Kontexten zu einer neuen Form der verkörperten Teilhabe führen kann (siehe Quinten 2017). Im schulischen Bereich werden die notwendigen strukturellen und systematischen Veränderungen zur Vergrößerung von echter Teilhabe auf übergeordneter Ebene besonders deutlich, es ist aber auf der Ebene des Individuums viel bedeutsamer, ob in der zwischenmenschlichen Interaktion inklusives Miteinander als wirklich bereichernd be-
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trachtet werden kann, um die Ziele des inklusiven Gedankens umsetzen zu können (Gerland 2018 und Gerland 2019 – in diesem Band). Unter diesem Blickwinkel wird die Interaktion von Bewegung und Musik neu beleuchtet, indem ein Konzept aus der Tanztheorie des 20. Jahrhunderts (Antrieb-Form-Lehre von Rudolf von Laban) exemplarisch für den bewegten inklusiven Musikunterricht vorgestellt wird. Ziel des Artikels ist es, Impulse zu geben, wie eine für die künstlerische Forschung nutzbar gemachte bewegungstheoretische Rahmung auch in der pädagogischen Praxis zu differenzierterem Körpererleben und intensivierter Auseinandersetzung mit den Parametern der Musik führen kann.
INKLUSIVER MUSIKUNTERRICHT – VON VORNEHEREIN INKLUSIV? Gemeinhin wird der großen Bandbreite musikalischer Betätigungsfelder in der Musikpädagogik ein hohes Maß an Inklusionsfähigkeit zugeschrieben. Es wird vermutet, dass gerade der Bereich der Musizierpraxis zur Umsetzung von inklusiver Bildung besonders geeignet sei (Dreßler 2017, 203). Diese Aussage kann bisher qualitativ nicht wissenschaftlich ausreichend gestützt werden (vgl. Gerland 2019 – in diesem Band), obwohl neuere quantitative Erhebungen zeigen, dass die meisten innerschulischen kulturellen Bildungsangebote beispielsweise in Baden-Württemberg einen Musikbezug aufweisen (siehe Schult/ Henning 2019 – in diesem Band). Sowohl in der Theoriebildung sowie der Praxiserforschung inklusiver Prozesse offenbaren sich empirische Forschungsdesiderata, die besonders im Bereich des inklusiven Musikunterrichts an der Grundschule eklatant erscheinen (Hirte 2017, 48). Es mehren sich die Stimmen derer, die kritisch anmerken, dass ein gelingender inklusiver Musikunterricht sowohl methodisch durchdacht als auch die erforderlichen Rahmenbedingungen aufweisen muss (vgl. Grest 2014, 20 und Friedrich 2014, 2). Hervorgehoben wird die Notwendigkeit der angemessenen Beteiligung aller Schüler*innen ohne a priori Zuweisung von Aufgaben, die sich entweder vermeintlich simpel im Nachhinein als hochkomplex enttarnen, oder sich mit einer Scheinteilhabe zufrieden geben, in der die Schüler*innen mit Anspruch auf ein sonderpädagogisches Bildungsangebot keine echte Chance zur Partizipation erhalten (Oberschmidt 2015, 3). Susanne Dreßler spricht unter Bezugnahme auf Wallbaum von ganzheitlicher Erarbeitung der Musizierelemente aus der eigenen Aktivität entspringend im Spannungsfeld des individuellen und gemeinsamen Lernens (Dreßler 2017, 206). Jürgen Oberschmidt meint zu Recht,
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dass inklusiver Musikunterricht sich von seinen einseitig sprachbasierten Zugängen verabschieden und ästhetische Transformationen von Musik in Bild und Bewegung zulassen müsse, mit denen verschiedene Zugänge im beziehungsstiftenden Miteinander gleichberechtigt nebeneinander stehen können (Oberschmidt 2015, 10). Ziel solcher ästhetischer Transformationen bspw. von Musik in Bewegung ist die sinnliche Erlebbarkeit von Musik für das Individuum und/oder gleichzeitig für eine Gruppe von Involvierten. Oberschmidt betont, dass es dazu keine maßgeschneiderten Unterrichtsarrangements, sondern nur individuelle Begegnungen geben kann, die sich weder in das Konzept eines aufbauenden Musikunterrichts noch in das Bild des immer noch traditionell imitatorisch vermittelten Lernens der Instrumentalpädagogik einfügen lassen (vgl. Oberschmidt 2019 – in diesem Band).
MUSIK UND BEWEGUNG IM SCHULISCHEN MUSIKUNTERRICHT – WARUM EIGENTLICH? , In Marcus G. Schönwitz Abhandlung über die „Musik und Bewegung in Didaktischen Kontexten“ (2018) findet sich eine Analyse der Geschichte der Musik und Bewegung in der Musikerziehung von der Antike bis zur Neuzeit (Kapitel I.2). Darin merkt der Autor an, dass sich das Denken über den Zusammenhang von Musik und Bewegung in didaktischen Zusammenhängen jeher als problematisch erwies, da (a) die Auseinandersetzung mit der Wirkung von Musik auf den Körper nicht angemessen erklärt werden konnte und (b) dem Missbrauch (z.B. in der Zeit des Nationalsozialismus) anheimfiel (Schönwitz 2018, 101). Damals wurde auch ohne empirische Belege aufgrund von einzelnen Beobachtungen erschlossen, dass die Einbeziehung des Körpers sowie Bewegungsvorgänge dem schulischen Musikunterricht in mehrfachen Dimensionen erwartbar dienlich sind, sei es ästhetisch, strukturanalytisch, kulturerschließend, kommunikationsfördernd, ausdrucksfördernd oder wahrnehmungsfördernd (ebd.). Diese Erwartungsdimensionen (Schönwitz erwähnt insgesamt elf) lassen eine zunehmende Ausdifferenzierung erkennen, die letzten vier sind nach Ansicht des Autors die bis heute überdauernden Erwartungen an das Zusammendenken von Musik und Bewegung im schulischen Kontext (ebd., 102). Der Autor kommt zu dem Schluss, dass sich durch Erkenntnisse der Hirn- und Lernforschung aus der Kognitions- und der Kommunikationstheorie genügend Legitimationen herleiten lassen, die die Notwendigkeit des Umgangs mit dem Körper im schulischen Musikunterricht belegen. Doch auch wenn scheinbar naheliegende Erkenntnisse der
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Transformation von Musik in Bewegung heute als selbstverständlich angesehen werden, ist noch lange nicht geklärt, welcher spezifischen Fähigkeiten es bedarf, um verschiedene Ausdrucksqualitäten der Musik angemessen darzustellen. Christoph Richter hat sich mehrfach auf den Weg gemacht, dem Phänomen der Verkörperung von Musik als Erfahrungsspielraum aus musikpädagogischer Sicht nachzugehen (vgl. u.a. Richter 1995). Verkörperung für ihn zeigt sich als Bewegung und Bewegtheit, indem der Mensch (eine) Musik verkörpert, sich aber ebenso in oder durch Musik verkörpert (Richter 1995, 5f.). Richter fasst die Aspekte einer Musik, die durch Bewegung und Verkörperung dargestellt, erfahren und verstanden werden können, nach ihren strukturellen Merkmalen auf: „die Zeitgestaltung (das Verhältnis von Metrum, Takt und Rhythmus), die Formen und Gestalten, die melodischen und harmonischen Spannungsverläufe, Kompositions- und Satzweisen; ferner die Stimmungen und Gefühle, die eine Musik auslöst und darstellt; auch die mit musikalischen Mitteln dargestellten Inhalte; und schließlich musikalische Archetypen wie Tanz, Rede, Bild, Szene, Dramatik, Gespräch o.a. Oft bietet die Musik eine Mischung aus diesen Aspekten an.“ (Richter 1995, 9)
Richter schlägt konkret folgende methodische Vorgehensweise für den „bewegten“ Musikunterricht vor: • Hören der Musik und verbalisieren/verschriftlichen der Stimmung, Haltung,
Bewegungsweise • Pantomimische Darstellung der Eigenschaften und Möglichkeiten der Musik: Beschreibung, Beurteilung, Vergleich, Veränderung • Vollzug der Bewegungen zur Musik, Einpassung in formale und rhythmische Anlage, neue Anpassungen an größere Struktur/mögl. Veränderungen • Reflektion der Übungseinheit, gründlichere (schriftliche/lesende) Partituranalyse (vgl. ebd., 12) (In der vorgeschlagenen Abfolge lässt sich fast ein zirkuläres Vorgehen entdecken, denn nun könnte ein Kreislauf des verfeinerten Hörens mit den Folgeschritten zu einer noch differenzierteren/mehrdimensionaleren Bewegungsstudie führen.) Die Übungseinheit dient nicht allein der körperlichen Darstellung der Musik, sondern der genaueren Durchdringung der Kompositionen, um der Komplexität von Musik auch analytisch lesend zu begegnen, aber eben nicht allein. Fokus bildet vielmehr die Handlung, das Verhältnis zwischen Klang und dem eigenen Körper, auch die Freiheit, eigenen Vorstellungen Raum zu geben (vgl. ebd.).
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Hierbei vereinen sich einige der von Schönwitz herausgearbeiteten Erwartungsdimensionen (s.o.), von deren Mehrdimensionalität und Prioritätensetzung in der Richterschen Vorgehensweise auch über 20 Jahre später ein allein auf das papierlastige Analysieren von Werken der Musikgeschichte konzentrierter Musikunterricht profitieren würde.
„BEWEGTER“ INKLUSIVER MUSIKUNTERRICHT: GENIALER TRICK ODER ÜBERFORDERUNG ALLER BETEILIGTEN? Christoph Stange kritisiert die oft vereinfachte, irreführende Darstellung der Effekte des interkulturell-inklusiven Tanzprojektes „Rhythm is it“ der Berliner Philharmoniker (2003)1 dergestalt, dass es wie ein Griff in die Trickkiste erscheint, wenn sich Schüler*innen der hochkomplexen Struktur eines StravinskyWerkes scheinbar mühelos widmen, sich soziale Probleme in Luft auflösen und sich denjenigen eine bessere Welt offenbart, die sie sich auf diese Weise ertanzen (Stange 2015, 81). Stange bemängelt, dass es im Unklaren bleibt, in welchem Ausmaß Bewegung solche Beziehungsqualitäten zwischen den Tänzern und der Musik hervorbringt (ebd.). Diese Beziehungsqualitäten könnten sich auf ästhetische, soziale oder selbstreferentielle Lernerfahrungen beziehen (Stange 2017, 81). Am Ende erscheint Musik jedoch lediglich als genialer Trick, der den Tanz als Medium benutzt, um von der angesagten Jugendkultur zu profitieren und so die Klientel für einen schulischen Musikunterricht zu motivieren ohne tieferen Sinn und Ziel (Stange 2013, 81). Für Stange ist entscheidend, dass die anthropologische Komponente von Bewegung die Beziehung zum Selbst, zur Musik und zum anderen fördert; für ihn kann Inklusion als Aufgabe demnach nur gelingen, wenn förderliche Bedingungen geschaffen werden, sodass Schüler*innen das eigene kreative Potential in sich spüren sowie das der anderen wertschätzen (ebd., 82). Frauke Heß ist ähnlich wie Richter davon überzeugt, dass ästhetische Transformationsprozesse eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Musikwerk begünstigen, da sie ein mehrmaliges differenziertes Hören einfordern (Heß 2017, 68). Sie macht jedoch auf eine entscheidende Fragestellung aufmerksam, die erst recht für den inklusiven Musikunterricht geltend gemacht werden dürfte:
1
Filmdokumentation unter www.youtube.com/watch?v=_e-cwOn5w3A
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„Vollkommen zu Recht fragte mich […] eine Tänzerin, wieso die Musikpädagogik davon ausgehe, dass Schülerinnen und Schüler über ein derart ausdifferenziertes Bewegungsrepertoire verfügen, dass Bewegung oder Tanz quasi automatisch in den Dienst präsentischen Musikerlebens gestellt werden könne.“ (Heß 2017, 68)
Diese Frage ist in meinen Augen sehr berechtigt, da die Gefahr besteht, Schüler*innen – egal ob mit oder ohne Förderbedarf – durch den gebotenen Freiraum ohne Zugang zu „wertfreiem Ausdruckserleben“ zu überfordern und durch typisierende Bewegungsformen im musikalischen Ausdruck einzuschränken. Heß zieht als musikdidaktisches Fazit ihrer Studie FEIN 2, die videobasiert performative Verhaltensweisen im Musikunterricht der Sekundarstufe I untersucht, hinsichtlich der gewählten Aufgabenstellung den Schluss, dass Transformation von Musik in Bewegung (a) eine non-verbale Beschäftigung der Schüler*innen mit Musik fordert und (b) eine „pathische Auseinandersetzung mit Musik“ begünstigt (Heß 2017, 67). In letzterer Aussage bezieht sie sich auf Erwin Straus (1960/2013), der Hören und Tanz als präsentisches Erleben bezeichnet, das ein pathischen Miterlebens bedarf (Straus in Heß 2017, 65). Um dieses pathische Erleben zu fördern, erhielten die Studiengruppen den Freiraum, ihrem Erleben gemäße Darstellungen zu entwickeln, sowohl abstrakt-tänzerische Bewegungsarten also auch Alltagsroutinebewegungen fanden ihren Platz (vgl. Heß ebd., 67). Auch Heß merkt an, dass genau an diesem Punkt problematisch ist, dass Schüler*innen auf prototypische Bewegungen zurückgriffen, die ihnen aus der Alltagswelt bekannt seien, somit den gebotenen Freiraum in eher stereotypisierender Art und Weise nutzten (ebd., 68). Kritisch hinterfragt werden muss also, inwiefern die Transformation von Musik in Bewegung im Unterricht Bewegungen semantisiert und instrumentalisiert, statt das individuelle Bewegungsrepertoire zu erweitern (ebd.). Heß wünscht sich demzufolge verfeinerte Bewegungserfahrungen und schlägt vor, in Zusammenarbeit mit Tänzer*innen und Schüler*innen mit basalen Bewegungsstudien den Weg für ein differenzierteres Ausdrucksrepertoire zu bereiten. „Dass tänzerische Professionalität dabei nicht den Zielhorizont bilden soll und dass es auch nicht um die Vermittlung neuer „Bewegungsvokabeln“ geht, die pathisches Miteinander wiederum hemmten, steht außer Frage. Dennoch dürfte eine Ausdifferenzierung
2
Musikunterricht im Spannungsfeld von femininem Fachimage und instrumentellem Geschlechtsrollen-Selbstbild.
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des Bewegungsrepertoires die transformative Auseinandersetzung mit musikalischen Widerfahrnissen begünstigen und so Handlungsspielräume eröffnen.“ (Heß 2017, 69)
Zwei Aspekte erscheinen mir an diesen Ausführungen wesentlich: Zum einen betont Heß, dass es ihr um eine Erweiterung des basalen Bewegungsrepertoires geht, also ein elementarer Zugang zu Bewegungsformen geschaffen wird, der die Grundlage für weitere ausdifferenziertere Bewegungsarten schaffen kann. Zum anderen geht es dabei nicht darum, den Schüler*innen neue Vorgaben zu unterbreiten, die wiederum wie ein Vokabular erlernt werden müssen und Freiräume eher unterbinden statt begünstigen, sondern um die Eröffnung neuer Handlungsspielräume, die experimentelles Erfahren gutheißen, ohne die Zielvorstellung zu weit in die Richtung des professionellen Tanzes zu rücken.
ELEMENTARISIERUNG VON BEWEGUNGSFORMEN: EINSCHRÄNKUNG ODER BASALE GRUNDLAGE? Mit der Charakterisierung der Grundformen des Fundamentalen und Elementaren zielte Klafki darauf ab, die verschiedenen Formen des Verhältnisses von Allgemeinen und Besonderem zu erläutern, auf denen jeder Bildungsprozess beruht – Frauke und Heinz Stübig (2018)
Neben der fundamentalen Einsicht als Bestandteil des exemplarischen Prinzips hat der Bildungstheoretiker Wolfgang Klafki (1927–2016) die didaktische Elementarisierung beschrieben. Dieser Vorgang beinhaltet die Frage nach den Grundbausteinen aus fachwissenschaftlicher Perspektive, die den Bildungsgehalt eines Unterrichtsgegenstandes ausmachen. Elementare Erfahrungen können zu persönlich bedeutsamen Erfahrungen werden, durch welche „ein qualitativ neues Erleben möglich wird, wodurch das Individuum wieder zu neuen Mitgestaltungsmöglichkeiten angeregt und befähigt wird“ (Lamers/Heinen 2006, 162). Auch das Gelingen von Inklusion hänge zu einem großen Teil von einem lebensbedeutsamen, gemeinsamen Thema und sozialen Kontakten ab (Tischler 2018, 15). Die Lehrkraft soll sich abhängig von den entwicklungspsychologischen Voraussetzungen und der Lebenswirklichkeit der Schüler*innen die Frage nach elementaren Zugängen sowie nach elementaren Vermittlungswegen stellen, um eine bestmögliche Passung zwischen Lerngegenstand und Schülervoraussetzung herzustellen (vgl. Rihm 2015, 197).
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Innerhalb der Musikdidaktik hat sich Christoph Richter mit den Klafkischen Theoremen des Elementaren und Fundamentalen ausführlich auseinandergesetzt. In seinem Artikel „Das Elementare ist das Letzte“ (Richter 1996) hat er Klafkis Verständnis des Elementaren in drei Schichten auf die Musikpraxis übertragen. Er benennt zuerst die unterste Schicht des Fundamentalen, die die Erfahrung von Zeit, Raum, Ordnung und weiteren „existentiellen Prinzipien des Lebens“ beinhaltet (Richter 1996, 37). Das Elementare „im engeren Sinne“ drückt sich in der zweiten Schicht in der Musik durch das Spannungsverhältnis zwischen Metrum und Rhythmus, der Hervorbringung und Gestaltung von Klang aus, die zur Grunderfahrung von Raum, Farbigkeit oder individuellem Ausdruck beiträgt (ebd., 38). In der dritten Schicht befinden sich die Bildungsinhalte, in denen sich die erstgenannten Schichten konkretisieren. In Bezug auf Musik nennt Richter exemplarisch die Funktion von Musik in der Werbung oder die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zwischen Musizieren und Raum (ebd.). Bezogen auf den ästhetischen Transformationsprozess der Musik in Bewegung lassen sich folgende Fragestellungen entwickeln: • Wie lassen sich Erfahrungen von Zeit, Raum, Kraft und Form bzw. Fluss so
gestalten, dass keine fixen Übertragungsmechanismen (z.B. laut = viel Krafteinsatz) die Wahrnehmung blockieren (vgl. Weise 2013, 2)? • Können elementare Zugänge zu Bewegung in der Überlagerung von Metrum und Rhythmus geschaffen werden, die die Mehrdimensionalität der Musik nicht beeinträchtigen? • Können basale Bewegungsformen einen natürlicheren Umgang, d.h. einen von Bewegungsstereotypen losgelösten Umgang mit Transformationsprozessen von Bewegung in Musik initiieren?
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LABAN SCHE EUKINETIK – EIN VERSUCH DER NUTZBARMACHUNG KÜNSTLERISCHER FORSCHUNG FÜR DIE INKLUSIVE MUSIKDIDAKTIK Ein Element der Inklusion ist Interdisziplinarität […]. Die Übereinstimmungen von Schwingungsbildern, Naturformen und vom Menschen gestaltete symbolisch künstlerische Ausdrucksformen fordern geradezu interdisziplinäres Denken und künstlerisch- interdisziplinäres Handeln – Irmgard Merkt (2017)
Ein interdisziplinäres künstlerisches Dissertationsprojekt an der Universität Toronto, das es sich zum Ziel gesetzt hatte, mit Methoden der Tanztheorie musiktheoretische Erkenntnisse zu komplettieren und so neue Zugänge zu einer performativen Praxis im Sinne der Vertiefung von Embodiment in der Instrumentalpraxis zu schaffen, steht am Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen (Henning 2013). Die dazu benutzte Analysemethode, die Antrieb-Form-Lehre aus der Tanztheorie, die sich mit der Qualität einer Bewegung befasst (vgl. Bartenieff in Johnson 2012, 260) verbindet den Wunsch nach Sichtbarmachung von räumlichen Strukturen einer Partitur und des erforderlichen Gestus in der Interpretation von Stücken, in denen ein besondere Fokus auf der Körperlichkeit in der Klanggeneration liegt. Diese Analyseform des ungarischen Tänzers, Choreographen und Tanztheoretikers Rudolf von Laban (1879–1958) wird charakterisiert durch ein System der Wahrnehmung von Bewegung unter den zentralen Aspekten Raum, Kraft, Zeit und Fluss, das die Tanztheorie und -praxis des 19. und 20. Jahrhunderts wesentlich beeinflusst hat. Ursprünglich wurde die Antrieb-FormLehre von Laban mitentwickelt, um industrielle Abläufe, z.B. Fließbandarbeit, ökonomischer zu gestalten. Sabine Koch weist in ihrer Habilitation über Embodiment darauf hin, dass die qualitativen Aspekte von Bewegung, die im Übrigen auch in der Instrumentalpraxis eine zentrale Rolle spielen, bisher von der Embodimentforschung vernachlässigt wurden und Forschungsdesiderata bestehen, den Körper hinsichtlich seiner Dynamik zu berücksichtigen (Koch 2011, 40). Von Laban wurden die ersten Versuche, dynamische Bewegungsqualitäten zu spezifizieren, entwickelt (ebd., 74). , Die Laban sche Eukinetik beschreibt die wechselseitige Beziehung zwischen Energie und Raum in der Form des Antriebes („Effort“) (vgl. Bartenieff in Johnson 2012, 260).
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Der Antrieb einer Bewegung wird im dreidimensionalen Raum mit den vier Faktoren Raum, Kraft, Zeit und Fluss beschrieben und zwei gegensätzlichen Polen zugeordnet: Der Raum kann direkt oder indirekt, d.h. flexibel gestaltet sein. Die aufzuwendende Kraft kann stark oder leicht sein. Die dabei vergehende Zeit kann abrupt oder kontinuierlich verlaufen. Der Fluss der Bewegung kann gebunden oder frei sein (vgl. Abb. 1). Abbildung 1: Die vier Dimensionen des Antriebs Raum indirekt Kraft leicht
direkt
Fluss frei
gebunden
Zeit kontinuierlich
abrupt
stark
Quelle: eigene Darstellung (nach Raphaël Cottin3)
In unseren Alltagsbewegungen sind diese basalen Aspekte der Bewegung miteinander gekoppelt, ohne dass wir uns einzelne Komponenten davon ins Bewusstsein rufen. Erst wenn der natürliche Bewegungsablauf durch besondere Umstände (beispielsweise Behinderung, Schwangerschaft oder den natürlichen Alterungsprozess des Bewegungsapparates) beeinträchtigt oder verändert wird, verlagert sich der Fokus eventuell auf die Schnelligkeit/Langsamkeit einer Bewegung, den Krafteinsatz oder ihre Zielgerichtetheit im Raum. Auch der Krafteinsatz für bestimmte Bewegungen kann sich verändern, beispielsweise wenn angehende Musiker und Musikerinnen sich im Laufe des Studiums verfeinerte Bewegungsformen am Instrument erarbeiten, sodass aufgrund der größeren Differen-
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commons.wikimedia.org/wiki/File:Laban-effort-graph.jpg
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zierung eine Vergrößerung der Klangvielfalt eintritt und ein (hoffentlich) gesundes Spielverhalten durch mehr Ökonomie zu einer lebenslangen Musizierfähigkeit beiträgt. Spielverletzungen durch kontinuierliche Überbeanspruchung des Bewegungsapparates können zu ernsthaften Einschränkungen führen, die eine Musizierkarriere langfristig verhindern können (vgl. Téllez Vargas 2018, 11). Aus den drei Dimensionen Zeit, Kraft und Raum (Fluss wird als separate Dimension gesehen) lassen sich die acht Grundelemente des Antriebs generieren: drücken (press), schnippen (flick), wringen (wring), tupfen (dab), schlagen (slash), stoßen (thrust), schweben (float) und gleiten (glide) (vgl. Dalby/Newlove 2004, 129 f.). Die Antrieb-Form-Lehre ist im Fachbereich Musik verschiedentlich entweder im Kontext der Analyse expressiver Bewegungsformen von Instrumentalisten (vgl. Broughton/Davidson 2014) oder verschiedentlich zur Analyse und Interpretation von neuer Musik verwendet worden (vgl. Trubert/Beller 2016). Allerdings wurde sie noch nicht in der Übertragung der Zeichen auf die Sichtbarmachung der räumlichen Struktur (Shape) einer Partitur unter Verwendung der Zeichen von Laban bei der gleichzeitigen Interpretation der Partitur herangezogen (vgl. Henning 2013). , Die Laban sche Herangehensweise trägt aus meiner Sicht in der Klarheit ihrer Kategorisierung sowohl den Prinzipien der Elementarisierung als auch den künstlerisch-ästhetischen Anspruch, den Eindruck mit dem Ausdruck zu verbinden, Rechnung, da sie Grunderfahrungen mit den Parametern Kraft, Zeit und Raum ermöglicht, die auch auf ganz basale Weise erfolgen können. Insofern halte ich diese künstlerische Ausdrucksform für geeignet, auch gerade im inklusiven Rahmen Anwendung zu finden, da sie quasi zu künstlerischinterdisziplinärem Denken und Handeln im Sinne Merkts auffordert.
, ANWENDUNGSBEISPIELE FÜR LABAN SCHE EUKINETIK IM INKLUSIVEN MUSIKUNTERRICHT: EIN AUSBLICK Die Verwendung der Antrieb-Form-Lehre hat bisher verständlicherweise eher in der Tanzpädagogik oder der Sportpädagogik Eingang gefunden (vgl. Langton 2007). Im Fokus stand die Verbesserung der Effizienz von Bewegungsabläufen bezogen auf Wettspiele, Gymnastik und Tanz. Bezogen auf ein Wettspiel kann es gelingen, Schüler*innen durch die Bewusstmachung elementarer Bewegungsformen ihren Körper effizienter einzusetzen. Langton schreibt dazu:
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„Combining space with effort can allow students to make spatial adjustments in order to create and deny space in an invasion game, for example. Students also need to be able to vary the amount of force they use (from strong to light), the amount of speed they use (from fast to slow), and the amount of space they use (from small to large) […].“ (Langton 2007, 22)
Um im inklusiven Musikunterricht von den Aspekten der basalen Bewegungsformen der Antrieb-Form zu profitieren, sollten zuerst einzelne Aspekte der Bewegung eine Rolle spielen. So können beispielsweise Bewegungsübergänge von schnell nach langsam und umgekehrt als zeitliche Abläufe parallel zu entsprechender Musik geübt werden. Auch der Parameter Kraft (von schwer nach leicht) kann Ausdruck im Körper finden und lässt sich gut mit dem Parameter Zeit koppeln (bspw. In der Halle des Bergkönigs, Peer-Gynt Suite). Dem Parameter Raum kann entsprechend Aufmerksamkeit verschafft werden, wenn die Bewegungsformen sowohl auf engstem Raum sowie in weiter, unbegrenzter Form (bspw. im Freien) ausgeführt werden können. Die drei Dimensionen Zeit, Kraft und Raum finden bildlich Ausdruck in den aus Abbildung 1 generierbaren Zeichen. Die drei abgebildeten Zeichen führen drei der Grundelemente des Antriebs, nämlich gleiten, schweben und schnippen in ihren Dimensionen vor Augen (siehe Abb. 2–4). Wenn die Schüler*innen schon praktische Erfahrung mit basalen Bewegungsformen unter Bewusstmachung eines Parameters oder kombinierter Parameter gesammelt haben, können sie auch konkret zur „Verkörperung“ von Musik im Richterschen Sinne und der Sichtbarmachung von formalen Strukturen eingesetzt werden. Als Impuls für den schulischen Musikunterricht möchte ich den Abschnitt „Mondschein-Nymphenreigen“ (T. 185 ff.) aus der symphonischen Dichtung „Die Moldau/ma vlast“ von Bedřich Smetana mit der Antrieb-Form-Lehre von Laban in Verbindung bringen. Nach der Vorgehensweise von Richter (s.o.) wäre nach einem ersten Höreindruck der spontane erste Eindruck der Stimmung in einen verbalen, schriftlichen Ausdruck (im inklusiven Rahmen erweiternd malend, in Bewegung) umzuwandeln. In der pantomimischen Darstellung könnten erste , Eigenschaften und Möglichkeiten mit den Laban schen Mitteln dargestellt werden: z.B. das Kontinuierliche im Zeitablauf der Phrasierungen der Streicher, die Leichtigkeit der Bewegungsformen des „sprudelnden Wassers“ / der Sechszehntelketten der Holzbläser.
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Abbildung 2: gleiten (Zeit: kontinuierlich, Kraft: leicht, Raum: direkt)
Kraft leicht Raum direkt
Zeit kontinuierlich
Quelle: eigene Darstellung (nach Raphaël Cottin)
Abbildung 3: schweben (Zeit: kontinuierlich, Kraft: leicht, Raum: flexibel) Raum indirekt Kraft leicht
Zeit kontinuierlich
Quelle: eigene Darstellung (nach Raphaël Cottin)
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Abbildung 4: schnippen (Zeit: abrupt, Kraft: leicht, Raum: flexibel) Raum indirekt Kraft leicht
Zeit abrupt
Quelle: eigene Darstellung (nach Raphaël Cottin)
Im Sinne der Verknüpfung der Dimensionen Zeit, Kraft und Raum wäre eine genauere Beschreibung der Mehrschichtigkeit der musikalischen Abläufe wichtig: • Die Streichergruppen bewegen sich in halben Notenwerten (vgl. Abb. 5), die
Phrasierung gibt einen „direkten“ Raum vor, der Krafteinsatz/die Dynamik ist zu Beginn des Abschnittes im piano. Der Zeitverlauf ist kontinuierlich, die Musik „gleitet“ von Phrasierung zu Phrasierung (vgl. Abb. 2). • Die Sechzehntelbewegungen der Holzbläser (vgl. Abb. 5) wirken zwar rhythmisch monoton, verändern sich aber harmonisch. Daher ließe sich ein Abweichen in der räumlichen Struktur vom direkten auf einen flexiblen Raum begründen und darstellen, indem die Beteiligten den Raum sowohl in kleineren Einheiten („kleine Strudel“) als auch in größeren Einheiten („größere Strudel“ bei harmonischen Veränderungen) nutzen (vgl. Abb. 3). • Die Blechbläser setzen ihr rhythmisch akzentuiertes akkordisches Motiv zunächst dezent im Hintergrund und ab Takt 219 prominenter, da zeitlich verkürzt in der Abfolge, um (vgl. Abb. 5). Des pianissimo wegen ist ein leichter Krafteinsatz weiter zu begründen, der Raum kann weiter flexibel genutzt werden (harmonische Veränderung), der Zeitaspekt trägt durch die rhythmische Pointierung zu einer deutlich spürbaren Veränderung/Einleitung einer Verän-
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derung bei. Das Abrupte in der Bewegungsform „schnippen“ kann die Veränderung in der Bewegungsform durch Brüche in der Kontinuität deutlich machen (vgl. Abb. 4). Diese drei „Schichten“ des simultanen Ablaufs der Bewegungsformen analog zur Musik können zunächst als Vollzug der Bewegungen zur Musik nacheinander erfolgen. Später können die Grundelemente gleiten, schweben und schnippen nach einer Reflexion und einer erneuten Höranalyse von unterschiedlichen Gruppen simultan als Performance durchgeführt werden, um die Gleichzeitigkeit der Bewegungsformen mit der Musik zum Ausdruck zu bringen. Abbildung 5: Partiturausschnitt „Die Moldau“: Nymphenreigen T. 217–219
Quelle: eigene Darstellung (Partitur: Smetana 1874/n.d.; public domain)
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FAZIT Elementare Zugänge sind für einen inklusiven Unterricht von Wichtigkeit, da das Prinzip eines Bildungsgegenstandes erkannt werden soll. Eine Binnendifferenzierung ergibt sich erst nach gründlicher Sachanalyse eines Gegenstandes, manchmal sogar erst im „Tun“ gemeinsam mit allen Beteiligten. Die Grundelemente der Antrieb-Form-Lehre von Rudolf von Laban können als ein Grundrepertoire von Bewegungsformen eingesetzt werden, die einen offenen Zugang zu Bewegung eröffnen. Schüler*innen können durch den Fokus der Bewegungsparameter Zeit, Kraft und Raum „befreit“ von stereotypen Zugangsweisen dem Gehalt der Musik und ihrer Formalstruktur nahekommen. Sie können, indem sie sich auch nur einem Parameter widmen, wertvolle Charakteristika der Musik erfahren. Auch wenn motorische Einschränkungen nicht alle Kombinationen von Parametern zulassen, eine basale Komponente kann als Möglichkeit dienen, eine Bewegungsform zu erfahren. Koch bemerkt unter Berufung auf Gibbs dazu, „dass selbst bei schwerstbehinderten Kindern eine einzige intakte motorische Funktion wie z.B. das Schauen oder das Kauen eine ausreichende Grundlage zur Entwicklung motorische Schemata sein kann“ (Koch 2011, 29). In welcher Komplexität sich Schüler*innen an die Antrieb-Form-Lehre heranführen lassen, muss der jeweiligen inklusiven schulischen Situation überlassen bleiben. Wünschenswert wäre sicherlich, dass der Bewegungsausdruck jeder Schülerin und jedes Schülers in seiner Verschiedenheit gefördert und wertgeschätzt wird und idealerweise individuell bleibt.
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Die Kultur-Kiste Experimentelle Inszenierungen des Eigenen Markus Christ
VORWORT Der vorliegende Text ist ein Versuch zur Deutung eines Beispiels aus der Praxis inklusiver Kultureller Bildung. Der Dreh und Angelpunkt hierbei ist eine hölzerne Konstruktion, die als Kultur-Kiste bezeichnet wird. Diese wird von einem Team aus Menschen mit und ohne Behinderung betreut und zum Einsatz gebracht. Bisher kam die Kultur-Kiste hauptsächlich bei kulturellen Veranstaltungen und Festen im öffentlichen Raum zum Einsatz. In dieser Verwendung wird sie als eine Art mobile Bühne verstanden. Zufällig vorbeikommende Personen werden durch das Team angesprochen und motiviert in die Kultur-Kiste zu gehen. Diese besteht aus einem Boden, drei Wänden und einer Tür. Vor der fehlenden vierten Wand ist eine Kamera aufgebaut, die das filmt, was die Personen in der Kultur-Kiste tun. Daraus entstehen kurze Videos (www.kultur-ohneausnahme.de). Das soll an Information genügen, denn dem Beitrag geht es weder um eine Reflektion erlebter Praxis, noch um das Hinterfragen künstlerischeroder pädagogischer Wirkungen. Vielmehr beschäftigt sich der Text mit der Frage, die sich unweigerlich stellen wird, wenn man das Doppelwort Kultur-Kiste liest: Was ist eine Kultur-Kiste?
KISTEN – EINE ANNÄHERUNG Kisten gehören vermutlich zu den denkbar trivialsten Gegenständen, die man sich vorstellen kann. Im Alltag begegnen uns Kisten ständig. Beim Einkaufen, im Büro, oder in den eigenen vier Wänden. Auch die Alltagssprache kennt den
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Begriff „Kiste“ und nutzt ihn in ganz unterschiedlichen Kontexten. Immer ein wenig ordinär daherkommend findet der Begriff der Kiste Übertragungen auf andere Objekte, meist in Verbindung mit dazu gedachten Handlungen. Exemplarisch genannt seien: Auto, Sarg, Bett, Gesäß. Zunächst scheinen die genannten Objekte ziemlich verschieden zu sein. Der semantische Gehalt dazu passender Aussagen lässt jedoch eine Gemeinsamkeit erkennen. Man nehme die Beispielsätze: „Fahr mal deine Kiste weg“ oder „Er ist mit ihr in die Kiste gestiegen“. „Kiste“ ist hier nicht die Bezeichnung für ein bestimmtes Objekt, sondern rückt vielmehr unterschiedliche Objekte in die Nähe des Objekts Kiste, genauer: bestimmte, zugeschriebene Eigenschaften des Objekts Kiste und überträgt diese auf die genannten Objekte. Welche Eigenschaften sind das? Zunächst fällt ein eher despektierlicher Gestus auf – eine Abwertung des Bezeichneten. Eigentlich integre Objekte, die mit dem Wort „Kiste“ bezeichnet werden erscheinen als träge, schwerfällig, unbelebt, bekommen etwas Block- oder Klotzartiges. Die dabei gebrauchten Aussagen verstärken diesen Eindruck, indem sie Bewegungsverben verwenden und ein handelndes Subjekt ansprechen. Die Kiste verbleibt als Patiens, das potentiell fehlplatzierte, „nichts tuende Ding“, das dem Tun des Agens in vollständig asymmetrischem Verhältnis gegenübersteht. „Tun“ Kisten denn wirklich nichts? Kisten und Kästen Ungleich dem suggerierten Bild alltäglicher Kisten als Patiens führen echte Kisten ein ganz anderes Leben. Stellen wir uns eine Kiste vor: Sie hat meist eine viereckige Form, dabei eine dreidimensionale Ausdehnung. Kisten sind aus einem festen Material – meist aus Holz, Metall oder Plastik. Soweit gedacht zeichnet sich noch nicht ab, worin der angedeutete Unterschied zum schwerfälligen Klotz oder Block bestehen soll. Folgt man gedanklich weiter dem Bild einer Kiste, denkt man jetzt vielleicht an Obstkisten, Gemüsekisten, Bürokisten oder Getränkekisten. Möglicherweise fallen einem dazu auch gleich die manchmal synonym verwendeten Begriffe Box und Kasten ein. Die englische Bezeichnung Box außenvorgelassen, lässt sich am Beispiel des Bierkastens oder eben der Bierkiste der synonyme Gebrauch der beiden Begriffe „Kiste“ und „Kasten“ aus der Alltagserfahrung heraus gut belegen. Beide Bezeichnungen sind gebräuchlich und bezeichnen den gleichen Gegenstand, zumindest in diesem Fall. Dass Kiste und Kasten aber nicht immer als Synonyme gebraucht werden können, zeigen andere Gegenstände, wie beispielsweise einer der bekanntesten Kästen, der Briefkasten. Nicht nur kann hier der Kasten nicht einfach durch Kiste ersetzt werden, bei einer solchen
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Substitution würde man sogar Gefahr laufen, einen völlig anderen Gegenstand zu bezeichnen. Eine „Briefkiste“ würde eher einer offenen Ablage gleichkommen. Das Kastenartige im Vergleich zum Kistenartigen zeigt sich im höhlenartigen Charakter der Abgeschlossenheit und des Verbergens. Schließlich soll der Briefkasten unautorisierte Personen vom Inhalt abhalten. Das Verbergen und Abhalten scheint, bei aller grundsätzlichen Verwandtschaft der beiden Phänomene Kiste und Kasten, ein Merkmal zu sein, das für das Wesen des Kastens von wesentlicher Bedeutung ist. Dass dies bei der Kiste anders gelagert ist, will ich im Folgenden zeigen. Das „Tun“ von Kisten Was die Kiste zur Kiste macht, ist ihre Öffnung zur Welt. Darin unterscheidet sie sich vom Klotz, der gar keine Öffnung hat, und vom Kasten, der sich nur öffnet, um zu verbergen. In ihrer Offenheit öffnet sich die Kiste dem, was aus der Welt in sie, im wahrsten Sinne, hineingelegt oder hineingegeben wird. Für das Hineingeben bietet sie Raum. Ähnliches formuliert Heidegger in seinem Aufsatz Das Ding über den Krug, wenn er schreibt: „Das Dinghafte des Kruges beruht darin, daß er als Gefäß ist.“ (Heidegger 1959, 167) Das Gefäßhafte der Kiste zeigt sich im leeren Raum, den die Wände der Kiste umgeben. Der leere Raum ist da, für das Hineingeben und das Hineinzugebende. Das Hineingeben ist das, was die Kiste als solche, durch die Gabe, erfahrbar macht. Die Gabe nimmt sie in sich auf. Aufgenommenes trägt sie in sich und verwahrt es. Erst im Akt des Hineingebens also zeigt sich die Leere der Kiste als das Wesenhafte. Oder mit Heidegger gesagt: „Wir gewahren das Fassende des Gefäßes, wenn wir den Krug füllen.“ (Ebd.) Die Leere ist gefasst durch Boden und Wände, die gewissermaßen um die Leere herum gestaltet sind und gleichzeitig die Leere gestalten. Wände und Boden fungieren als eine Art Rahmen, um das herzustellen, was die Kiste als Kiste auszeichnet: Die Leere, die die Gabe aufnehmen kann. Oder anders ausgedrückt: „Das Dinghafte des Gefäßes beruht keineswegs im Stoff, daraus es besteht, sondern in der Leere, die faßt.“ (Ebd.) Das Aufnehmen ist aber nur der erste Schritt. Die Leere der Kiste nimmt die Gabe nicht nur auf, sie verwahrt und verbirgt sie, geht in gewisser Weise eine Verbindung mit dem Verwahrten ein. Das Aufnehmen und das Verbergen, als zweiter Schritt, gehören zusammen. Die Leere der Kiste ist darauf ausgerichtet aufzunehmen, während im Aufnehmen das Verbergen schon vorweggenommen ist. Das Aufgenommene birgt die Kiste in sich und verbirgt es vor dem Außerhalb. Das so Verborgene bestimmt eine Kiste näher, zwingt sie in engere Grenzen, legt sie fest und macht sie zu dem, was man eine Bindestrich-Kiste nennen
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könnte. Gedacht sei beispielsweise an Obst jeglicher Art. Man wird sofort dazu bereit sein, eine Kiste, die Äpfel, Birnen, Bananen, usw. verwahrt, als Obst-Kiste anzuerkennen. Dem „Dinghaften“ der Kiste, um mit Heidegger zu sprechen, scheint dadurch kein Abbruch getan. Die Kiste „kistet“ weiterhin, nur mit spezifiziertem Inhalt. Und doch ist die Kiste nicht mehr nur Kiste, sondern eben eine Obst-Kiste. Aufgenommene Gabe und Kiste bilden eine neue Einheit. Wie für die Kiste hat das auch Bedeutung für das Verborgene, den Inhalt: Hier das Obst. Die Kiste eröffnet einen neuen Raum, der vom übrigen abgetrennt ist, und somit trennt sie im Verbergen auch ihren Inhalt vom jeweiligen Außen ab. In dieser Weise wird der Inhalt definiert, zusammengefasst, und zwar im jeweiligen Kontext dieser Kiste. Die Kiste ist jetzt die Obst-Kiste und die Bananen, Äpfel und Birnen sind jetzt das Obst. Dieses vierschrittige Verfahren des Aufnehmens, Verbergens und dadurch Trennens und als etwas Definierens könnte man im ersten Moment schon als das Wesen, als den Zweck oder das „Tun“ einer Kiste bezeichnen. Das wäre aber nur die halbe Wahrheit. Vielleicht die Wahrheit von Verpacker*innen, oder von Lagerist*innen, aber wahrscheinlich nicht die Wahrheit von Verkäufer*innen und Kund*innen. Für diese hat die Kiste einen anderen Sinn. Die Marktbesucher*innen, die ihren wöchentlichen Einkauf unternehmen, halten Ausschau nach den feilgebotenen Waren, nicht nach den Gegenständen, in denen diese aufbewahrt werden. Ihre Wahrnehmung richtet sich auf das Obst, die Äpfel, Bananen oder anderes. Die Verkäufer*innen intendieren genau dieses, indem sie ihre Waren möglichst so präsentieren, dass sie gewissermaßen dem Blick der Wahrnehmenden entgegen treten. Die Kiste verschwindet dann förmlich hinter dem Obst, das sie als Obst-Kiste in sich trägt. Hierin liegt der Akt des Zeigens. Wie die Leere der Kiste beim Aufnehmen das Verbergen schon antizipiert, ist es beim Zeigen das Hergeben, das im Akt des Zeigens schon vorweggenommen wird. Der Zweck des Zeigens liegt im Hergeben. Gezeigt und hergegeben wird das Aufgenommene und Verborgene, also die Gabe. Die Gabe, die herausgegeben wird, ist aber nicht dieselbe, die aufgenommen wurde. Sie ist die durch die Kiste getrennte und als etwas definierte Gabe. Das Definieren ist der Akt der Gleichzeitigkeit des Trennens und des Verbindens des Getrennten durch Pluralisierung und Kategorisierung. Der aufgelesene Apfel wird in der Apfel-Kiste Teil der Äpfel. Die gepflückte Tomate wird in der Gemüse-Kiste Teil des Gemüses. So beschrieben lässt sich das „Tun“ einer Kiste in sechs Schritten fassen: Aufnehmen – Verbergen – Trennen – Definieren – Zeigen – Hergeben.
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DIE KULTUR-KISTE Im Folgenden soll nun versucht werden, die Ausführungen zur Kiste im Allgemeinen auf das zu übertragen, was hier Kultur-Kiste genannt wird. Das bisher Ausgeführte wird dabei nicht axiomatisch verwendet, sondern dient als Folie, auf der sich Unterschiede, aber auch Verwandtschaften zeigen können. Ist der Begriff der Kiste passend? Ist die Kultur-Kiste als Bindestrich-Kiste zu verstehen? Ist die Kultur-Kiste also auch eine Kiste? Diese Fragen stehen im Hintergrund der folgenden Ausführungen. Wie schon zu Beginn des Textes angedeutet ist die Kultur-Kiste bisher ein weitgehend undefiniertes und somit bedeutungsoffenes „Ding“. Dies zum einen für das reflexive Nachdenken über sie, zum anderen für die unmittelbar mit ihr konfrontierten Personen. Wenn von der Kultur-Kiste die Rede ist, wird die soziale Situation, die sie gewissermaßen schafft, immer gleich mitgedacht. Der semantische Gehalt verweist also sowohl auf das Ding, als auch auf die damit einhergehenden Interaktionen und sozialen Handlungen. Mit Goffman ist davon auszugehen, „daß Menschen, die sich gerade in einer Situation befinden, vor der Frage stehen: Was geht hier eigentlich vor?“ (Goffman 1996, 16) In der Regel wird diese Frage nicht aktiv gestellt, sondern ist vielmehr Ausdruck der Suche nach einer Deutung oder Definition von Personen, die sich in einer sozialen Situation befinden. Die Antwort auf die Frage ist entscheidend für das weitere Handeln der Personen. Goffman nennt diese Situationsdefinitionen „Rahmen“. Für die meisten Situationen, in denen wir uns befinden, gilt, dass wir auf bekannte Interpretationsschemata, also schon vorhandene Situationsdefinitionen, zurückgreifen können (vgl. Goffman 1996, 16–31). Wie die Erfahrungen mit der Kultur-Kiste zeigen, erlaubt diese einen solchen Rückgriff zunächst nur sehr eingeschränkt. Vielmehr wird die Goffmansche Frage von den beteiligten Personen in vielen Fällen sogar offen ausgesprochen. Der Versuch des Habhaftwerdens unter Rückgriff auf die Ausführungen zur alltäglichen Kiste wird hier also ergänzt durch Aspekte der „Rahmen-Analyse“ Goffmanscher Prägung. An dem Foto in Abbildung 1 kann man die angesprochene Gleichzeitigkeit von Verbergen und Zeigen, Zeigen im Kontext der Kiste, gut sehen. Außen, also die Kultur-Kiste einfassend, der wenig beleuchtete öffentliche Raum einer Stadt. In diesem Raum dann die Kultur-Kiste. Durch ihre Beleuchtung deutlich und scharf getrennt von der Umgebung. Ein Raum im Raum. Die Trennung ist aber nur insofern Trennung, als dass sie die Möglichkeit der Verbindung beinhaltet. Trennen und Verbinden zeigen sich als zwei Seiten desselben Aktes (vgl. Simmel 2001, 57). Übergänge sind möglich. Der weite, nicht sehr spezifische, öffentliche Raum ragt in den Raum der Kultur-Kiste hinein, trägt ihn in sich.
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Gleichzeitig strahlt die Leere der Kultur-Kiste förmlich aus sich heraus. Die Trennung bedeutet also nicht Geschlossenheit, sondern sucht die Verbindung. Dafür ist die Tür Symbol und materielle Realisation. Durch sie verlässt man die Weite des öffentlichen Raums und tritt ein in die modellierte Leere der KulturKiste. Abbildung 1: Die Kultur-Kiste
Quelle: Alexander K. Müller, MEDIA&MORE
Im Rückgriff auf die Kiste im Allgemeinen könnte man sagen, das Eintreten einer Person kommt dem Akt des Aufnehmens der Kultur-Kiste gleich. Die Eingetretenen sind die Gabe, die sich gewissermaßen selbst gegeben hat. Hier zeigt sich natürlich, dass der Vorgang des Gebens bei der Kultur-Kiste etwas anders verläuft als bei der alltäglichen Kiste. Abweichung und Verwandtschaft Die vierte Wand Die Anatomie der Kultur-Kiste weicht etwas vom allgemeinen Modell einer Kiste ab. Oben ist die Kultur Kiste zwar auch offen, aber von oben kommt nichts hinein. Dafür ist eine komplette Seite der Kultur-Kiste offen. Für Obstkisten oder Gemüsekisten wäre das der Verlust ihrer materiellen und somit funktionalen Integrität. Ihre Gabe könnten sie nicht mehr vom Außen trennen, sie würden sie unfreiwillig hergeben. Bei der Kultur-Kiste ist dies nicht der Fall. Vielmehr
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hat die offene Seite als konstitutives Merkmal zu gelten (vgl. Abb. 2). Die offene Seite ist allerdings nur vermeintlich offen. Sie ist das, was man im Theater die vierte Wand nennt, also die imaginierte, quasi gläserne Mauer oder Wand, die das Publikum von den Aufführenden trennt (vgl. Fischer-Lichte/Kolesch/Warstat 2014, 282). Doch was genau wird getrennt? Zunächst einmal wird der Innenraum, die Leere der Kiste vom unspezifischen Raum außerhalb getrennt. Weiter werden Personen innerhalb von Personen außerhalb getrennt, indem die Personen außerhalb entweder in ihrer für die Kultur-Kiste neutralen Rolle der Passanten verbleiben oder zu Zuschauern werden, während die Personen innerhalb dann die Aufführenden sind. Diese Art der Trennung und Zuschreibung ist sozial produziert. Man könnte sagen, die Kultur-Kiste provoziert diese zuallererst durch ihre Machart und wird dadurch mehr als ein bloßer Gegenstand, der den Zwecken unseres Handelns dient, sondern ist vielmehr als die geronnene Form unserer Handlungen zu sehen (vgl. Simmel 2001, 60). Die vierte Wand wiederum, in ihrer materiellen Nichtigkeit selbst Teil der geronnen Form, gibt den handelnden Personen offensichtlich einen wichtigen Hinweis zur Beantwortung der Frage, was hier vorgeht. Abbildung 2: Blick in die Kultur-Kiste am Tagungstag „Kreativität grenzenlos?!“ (22. Februar 2018) an der PH Ludwigsburg
Quelle: Alexander K. Müller, MEDIA&MORE
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Die Tür Wenn weder die offene Decke, noch die offene Seite als Öffnung der KulturKiste gelten soll, dann bleibt nur noch die Tür. Diese ist die eigentliche Öffnung der Kultur Kiste. Eine Tür in dieser Ausschließlichkeit als Öffnung zu bezeichnen erscheint zunächst unvollständig. Eine Tür kann man auf- und zumachen. Das beinhaltet das Doppelwesen der Tür. Ist sie offen, dann ist sie eine Öffnung. Ist sie zu, dann ist sie eben das nicht. Und trotzdem ist sie keine Wand, weil sie eben das Potential der Öffnung immer in sich trägt. Die Tür ist also durchlässig, aber eben nicht immer, oder nicht ganz. Das verleiht ihr den Charakter der Semipermeabilität, der Halbdurchlässigkeit (vgl. Bollnow 2000, 154). Der für Bollnow wichtige Aspekt der begrenzten Durchlässigkeit, v.a. auf bestimmte Personen-, bzw. Personengruppen bezogen (z.B. Familienmitglieder), erscheint für die Kultur-Kiste wenig relevant. Gleichwohl sind die dabei ebenso angesprochenen Aspekte des Trennens und Verbindens ein zentraler Teil des Wirkens oder „Tuns“ von Kisten. Die Tür ist für die Kultur-Kiste in hohem Maße das Symbol für die Dialektik von Trennen und Verbinden, von Aufnehmen und Hergeben. In Anlehnung an Simmels Ausführungen zum Henkel wird hier die Tür der Kultur-Kiste auch als das verstanden, was nach Simmel der Henkel für die Vase ist (vgl. Simmel 1908, 117 f.). Sie ist der Vermittler des KünstlerischPerformativen zur Welt des Alltäglichen und umgekehrt. Wenn Simmel formuliert: „Mit dem Henkel reicht die Welt an das Gefäss heran, mit dem Ausguss reicht das Gefäss in die Welt hinaus.“ (Simmel 1908, 121), dann heißt das für die Kultur-Kiste, dass die Tür für die Welt draußen den Bezugspunkt darstellt, der in sich den Übergang trägt. Ähnlich wie im Theater die Bühne gehört der Innenraum der Kultur-Kiste gewissermaßen einer anderen Seins Ebene an (vgl. Goffman 1996, 159). Sie verkörpert dadurch etwas Schwellenartiges, was Assoziationen etwa zum Durchschreiten von Türen im Sinne eines Übertretens der Türschwelle weckt. Das lässt Magisches anklingen und erinnert an Handlungsmuster, die als Übergangsriten beschrieben werden (vgl. van Gennep 2005, 32 f.). Hinausreichend, dem Ausguss gleichkommend, ist die vierte Wand. Durch sie ergießt sich das, was hergegeben wird – das Gezeigte. Die Gabe Hier ist man schon mitten in einer weiteren Unterscheidung, die es zu treffen gilt, wenn der Vorgang des Aufnehmens, bzw. des Gebens im Lichte der KulturKiste betrachtet werden soll. Aufgenommen werden nicht Gegenstände, sondern, wie bereits beschrieben, Menschen. Dadurch verändert sich etwas, und zwar in der Art, wie wir die Kiste, die Kultur-Kiste in ihrer Gegenständlichkeit wahrnehmen. Die Kiste, in die Gegenstände (Äpfel, Kartoffeln, Bücher, etc.) hinein-
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gegeben werden, erscheint als ausgesprochen „gefäßhaft“. Dient die KulturKiste also auch als Gefäß? Das scheint nicht dem Eindruck derer zu entsprechen, die vor der Frage stehen, was hier vor sich geht. Die Kultur-Kiste unterscheidet sich von Kisten im Sinne eines Gefäßes dadurch, dass sie einen Raum im sozialen Sinn darstellt. Ich gehe davon aus, dass Personen, die mit der Kultur-Kiste konfrontiert sind, ihrer zunächst gewahr werden als hölzerne Konstruktion, als kistenartiges Objekt, wie auch als Raum im Raum. Eingebettet ist dieses erste Gewahr-werden in einen Komplex sozialer Handlungen, in die alle anwesenden Personen schon mehr oder weniger verstrickt sind. Bevor nun die handelnden Personen in den Blick genommen werden, erscheint es als notwendig, die Kultur-Kiste in ihrer Räumlichkeit als sozialen Raum etwas näher zu betrachten. Die Kultur-Kiste als sozialer Raum Sozialer Raum ist nicht der physische Naturraum, sondern der von sich Raum aneignenden und Raum produzierenden Mitgliedern einer Gesellschaft produzierte Raum. Lefebvre spricht, was den sozialen Raum angeht, von einer Dreiheit Raum konstituierender Mechanismen oder Merkmale, die er „räumliche Praxis“, „Raumrepräsentationen“ und „Repräsentationsräume“ nennt. Damit soll gesagt sein, dass sozialer Raum ein Produkt komplexer Handlungen ist, die in der dialektischen Beziehung von Wahrgenommenem, Konzipiertem und Gelebtem, den Raum produzieren und gleichzeitig immer schon voraussetzen (vgl. Lefebvre 2006, 330 ff.). Auf der einen Seite haben wir ein kulturell erworbenes Wissen davon, was der jeweilige Raum ist, welchen Zwecken er primär dient, welche Verhaltensmöglichkeiten er erlaubt oder voraussetzt, usw. Auf der anderen Seite wird der jeweilige Raum durch unsere sozialen Handlungen und Praktiken erst produziert und zwar immer wieder aufs Neue. Das gilt für den Garten wie für den Gehweg, den Raum einer ganzen Stadt, oder das Badezimmer in der eigenen Wohnung. Wir wissen, was man im Badezimmer tut, wie man das tut und welchen Zweck dieser Raum hat. Dieses Wissen müssen wir aber auch immer wieder aufs Neue anwenden und in Handlungen umsetzen. Man könnte sagen, der jeweilige Raum provoziert bestimmte Handlungen und entsteht dadurch als dieser Raum erst und immer wieder durch die vollzogenen Handlungen. Die Kultur-Kiste ist sicher weniger eindeutig zuordenbar als das Badezimmer. Es gibt aber auch hier bestimmte Anzeichen, die eine erste Einordnung zulassen. Als wichtig erscheint hier die vor der Kultur-Kiste aufgebaute Kamera. Die Kamera fungiert als Symbol und Repräsentant des Blicks. Die Kamera ist die Zuspitzung des auf etwas gerichteten Blicks des Einzelnen und die Repräsentation des gerichteten Blicks der Vielen. Die Kamera blickt in dieser Weise direkt auf die Kultur-Kiste, und zwar durch die quasi gläserne, für eben diese Blicke und
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nur für Blicke geöffnete Seite der Kultur-Kiste hindurch auf das sich in ihr befindliche, das Aufgenommene. Der Vorgang des Zeigens und Hergebens fällt dabei in eigentümlicher Weise zusammen. Hergegeben wird das Gezeigte, ohne dass sich die Gabe tatsächlich selbst hergibt. Ungleich des Apfels der Obst-Kiste sind nicht die Personen selbst die Gabe, die herausgegeben wird, sondern ihre Handlungen, die sie zeigen. Die Gabe ist das Sich-Zeigen der handelnden Personen, welche von den Blicken der Zuschauenden aufgenommen wird. So löst die Kultur-Kiste die sich in ihr befindlichen Personen heraus aus ihren alltäglichen Bezügen und schält sie heraus aus der Fülle der Vielen. Die räumliche Struktur der Kiste in Kombination mit der aufgebauten Kamera liefert die Hinweise auf das, was sie sein könnte. Die nicht vorhandene Wand wird zur vierten Wand, wird zur Trennlinie, die die Blickenden, die Zuschauer von den Zeigenden, den Aufführenden trennt, den Zuschauerraum von der Bühne. Hier bekommt die Kultur-Kiste ihren bühnenartigen Charakter. In Kombination mit der Kamera kann sie als räumliche „Klammer“ verstanden werden, die ähnlich wie ein Bilderrahmen bestimmte Tätigkeiten einrahmt und so zur Deutung der jeweiligen Situation beiträgt (vgl. Goffman 1996, 278 f.). Mit Lefebvre sind es dann diejenigen Passanten, die sich darauf einlassen, die Kultur-Kiste zu betreten, die unter Beachtung der Klammern als symbolische Zeichen den Raum der Kultur-Kiste als bühnenartig wahrnehmen und diesen durch ihre entsprechenden Handlungen als solchen wiederum erst produzieren. Unweigerlich produzieren also die, die sich in die Kultur-Kiste, also sozusagen in den Bühnenraum begeben, den Raum als Bühne. Gleichzeitig werden sie dadurch dem Außerhalb entrückt und von ihm verborgen. Als Teil des Bühnenraums sind die Personen in der Kultur-Kiste in ihm verortet und damit als Aufführende definiert und vom Außerhalb der Zuschauenden getrennt. Damit werden die vollzogenen Handlungen zu Handlungen auf der Bühne, zur Aufführung oder Performance. Verstärker Die Kultur-Kiste würde ihr „Tun“ schwerlich entfalten können ohne die Anwesenheit verantwortlicher Personen, hier die Crew genannt. Ohne auf die Zusammensetzung, die Aufgaben, Rollen oder Handlungen der Crewmitglieder hier eingehen zu können (das bedarf einer eigenen Analyse), kann das Wirken der Crew als verstärkend verstanden werden. Ganz im Sinne von technischen Verstärkern akustischer oder visueller Signale verstärken die Mitglieder der Crew gewissermaßen die Signale der Kultur-Kiste. Anders ausgedrückt, unterstützen (oder verunsichern) sie die Personen, die vor der Frage stehen, was hier vor sich geht, in ihrem Prozess der Deutung. Dazu gehört das aktive Bedienen der Kame-
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ra, verbale Erklärungen, motivierende Gespräche, das Anbieten von Requisiten und die Bereitschaft selbst mit in die Kultur-Kiste hineinzugehen. Die Kultur-Kiste als Bühne Das „Tun“ der Kultur-Kiste, ihre Räumlichkeit, der Blick der Kamera, die Verstärkung durch die Crew führt dazu, dass sich die beteiligten Personen die Frage: „Was geht hier eigentlich vor?“ nun wohl noch immer nicht ganz eindeutig zu beantworten wissen, jedoch sich die Antworten auf ein Feld sich ähnlicher Situationen einschränken können. Die Stichworte sind: Etwas vormachen, vorspielen, vorführen, Theater spielen oder etwas aufführen. Das, was gemeinhin unter „Aufführung“ verstanden wird, könnte man hier also als grundlegenden oder primären Rahmen, als allgemein geteilte Situationsdefinition ansehen (vgl. Goffman 1996, 34 ff.). Indem sich anwesende Personen in mindestens zwei Gruppen teilen lassen, während die einen die Zuschauenden und die anderen die Aufführenden sind, ist ein konstitutives Merkmal einer Aufführung gegeben (vgl. Goffman 1996, 144 oder Fischer-Lichte/Kolesch/Warstat 2014, 15 f.). Und doch erscheint der Rahmen der Aufführung fragil, unter steter Gefahr zusammenzubrechen. Das könnte darin liegen, dass ein weiteres Merkmal von Aufführungen hier nicht gegeben ist: Etwas, das aufgeführt wird, wurde in der Regel vorher geprobt. Entweder mit dem Bewusstsein, das Geprobte an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit aufzuführen, wie das z.B. im Theater der Fall ist. Oder in Form einer Probe auf Vorrat, wie bei HobbyGitarristen, die zu Hause üben, um beim nächsten Lagerfeuer glänzen zu können. Letzteres kann zwar auch in der Kultur-Kiste vorkommen, etwa durch das Rezitieren eines Gedichts, oder das Singen eines Liedes, stellt aber die Ausnahme dar. Die meisten Aufführenden müssen daher auf andere Handlungsformen zurückgreifen. Das „So-Tun-Als-Ob“ im Sinne der offensichtlichen Nachahmung einer Handlung, ohne dass es zu den dazugehörigen praktischen Folgen kommt (vgl. Goffman 1996, 60), ist die hier am meisten gebrauchte Form des Handelns. Dazu zählen Nachahmungen von Alltagshandlungen, wie essen, trinken oder seinen Hund küssen, Nachahmungen sportlicher Wettkämpfe, wie Boxen, Badminton spielen oder Seilziehen. Gelegentlich sind diese Handlungen Anstoß für spontane Reaktionshandlungen von Zuschauenden, die ihre Rolle dann ad hoc ändern und zu Aufführenden in der Kultur-Kiste werden, die plötzlich auch am Seil ziehen, mitessen oder neue Elemente hereinbringen, die dann sogar kleine, dramaturgische Szenen entstehen lassen. Goffman subsumiert unter dem So-Tun-Als-Ob auch das Spiel „in dem Sinne, daß die Interaktion zwischen einem Individuum und anderen (oder einem Partnerersatz) von verhältnismäßig kurzzeitiger Verstellung unterbrochen wird“ (Goffman 1996, 61). Auch diese
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Art des Verhaltens ist in der Kultur-Kiste zu beobachten, wenngleich das Spiel mit einem Spielzeug die häufigere Form darstellt. Bereitgestellte Gegenstände, wie Regenschirme, Bälle, Stoffe oder Stühle (im Theater würde man von Requisiten sprechen) können bekanntermaßen eine handlungsstiftende Funktion ausüben. Wie schon angedeutet, weist die Situation der Aufführung hier zumindest eine weitere Besonderheit auf: Ein Wechsel zwischen der Rolle der Zuschauenden und der der Aufführenden ist für die Beteiligten jederzeit möglich. Dadurch droht das konstituierende Element der voneinander getrennten Gruppen mindestens zu verwischen, möglicherweise sogar zu zerbrechen. Die Ausführungen zum Rahmen der Aufführung könnte man jetzt so verstehen, als wäre die ganze Kultur-Kiste als Situation eine beständige und kontinuierliche Aufführung. In Wahrheit muss der Rahmen Aufführung bei jeder neu dazukommenden Person immer wieder aufs Neue hergestellt werden. Das bedeutet auch, dass jede Situation immer wieder aufs Neue als Aufführung entstehen muss, also die Antwort auf die Frage der beteiligten Personen, was hier vor sich geht, immer wieder lautet: Aufführung. Doch die Situation rund um die Kultur-Kiste ist, wie schon mehrfach angesprochen, mehrdeutig. Das verunsichert die beteiligten Personen insofern, dass die fehlende Eindeutigkeit Misstrauen erzeugt, ob man nicht einer Täuschung (vgl. Goffman 1996, 98) oder eines Irrtums (ebd., 331 f.) unterliegt, was die Deutung der Situation angeht. Trotz dieser Mehrdeutigkeit lässt sich in der Regel eine überraschend große Anzahl an Personen auf die Kultur-Kiste ein und trotz der Anfälligkeiten entsteht der Rahmen Aufführung in modulierter Weise (vgl. Goffman 1996, 57) immer wieder neu.
FAZIT In ihrer Bühnenartigkeit zeigt sich die Kultur-Kiste als besondere Form einer Kiste, die ihrem Wesen nach inszenierend wirkt, indem sie das Sich-Zeigen in seiner jeweiligen Eigenheit in den Blick rückt. Die Crewmitglieder (verstanden als Kulturarbeiter*innen) nehmen hierbei die Funktion eines Verstärkers ein. Vermittelt durch die Kultur-Kiste setzen sie die Klammern, die einen starken Einfluss auf die Art der Situationsdefinition der beteiligten Personen haben, wobei die grundsätzliche Mehrdeutigkeit der Kultur-Kiste hier bewusst genutzt wird. Die beteiligten Personen müssen sich gewissermaßen neu sortieren. Gängige Rollenmuster werden in Frage gestellt. Wer sind die Zuschauenden, wer die Aufführenden? Was gilt in diesem Kontext als Behinderung, was nicht? Die
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inszenierte Dialektik von Trennen und Verbinden zeigt den einzelnen, herausgegebenen Menschen als besonderen und fügt ihn wiederum zeigend in die Gemeinschaft der Vielen ein. Die ästhetisierte Form sind die entstehenden Videos. In diesen wird immer wieder sichtbar, dass man sich in der Kultur-Kiste nicht nicht zeigen, sich nicht nicht verhalten kann. Schon die bloße Anwesenheit wird zur Performance. Um Teil-sein zu können ist nur das nötig, was jeder Mensch immer schon mit sich bringt: Den eigenen Körper. Dieser ist notwendige, aber zunächst auch die einzige Voraussetzung, die die Kultur-Kiste an eine Teilnahme knüpft. Dem Aspekt des Körperlichen als unhintergehbare Tatsache und immer schon vorhandenem Ausgangspunkt wird in Zusammenhang mit Fragen der Raum- und Interaktionsgestaltung bezogen auf die Kultur-Kiste weiter nachzudenken sein. Durch die bewusste Inszenierung des Körpers als grundlegende und stets präsente Voraussetzung, gekoppelt an das je Eigene des Individuums, versucht die Kultur-Kiste ein Beispiel zu geben für ein Verständnis von Kultureller Bildung unter der Perspektive von Inklusion und Teilhabe.
SCHLUSSBETRACHTUNG Warum eine solche Analyse? Wenn Inklusion als Ziel oder Leitidee Kultureller Bildung verstanden wird, kann das dazu führen, dass die sich entfaltenden kulturellen Praxen zu großen Teilen durch die Brille der Inklusion betrachtet werden. Mitunter scheint das den vorhandenen Rechtfertigungsdruck zu verstärken, dem das Feld der Kulturellen Bildung ohnehin ausgesetzt ist. Fragen nach (messbaren) Wirkungen, nach der Neuartigkeit (von Projekten), nach dem ob etwas inklusiv ist, stehen im Vordergrund. Das kann den Blick auf das verschleiern, was tatsächlich vor sich geht bzw. welche Deutung die handelnden Personen der Situation, in der sie sich gerade befinden, geben. Es sind also die „Sachen“ selbst, ob Inhalte, Gegenstände, Situationen oder Praktiken, die Gefahr laufen in den Hintergrund zu treten. (siehe dazu auch: Rat für Kulturelle Bildung 2015). Der Artikel versteht sich daher auch als Plädoyer dafür, stärker danach zu fragen, was passiert.
LITERATUR Bollnow, Otto Friedrich (2000): Mensch und Raum (9. Aufl.). Stuttgart: Kohlhammer.
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Fischer-Lichte, Erika/Kolesch, Doris/Warstat, Matthias (Hg.) (2014): Metzler Lexikon Theatertheorie (2. Aufl.). Stuttgart und Weimar: J.B. Metzler. Gennep, Arnold van (2005): Übergangsriten (Les rites de passage) (3., erweiterte Aufl.). Frankfurt a.M.: Campus Verlag. Goffman, Erving (1996): Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen (4. Aufl.). Frankfurt a.M.: Suhrkamp Taschenbuch Verlag. Heidegger, Martin (1959): Vorträge und Aufsätze (2. Aufl.). Pfullingen: Verlag Günther Neske. Lefebvre, Henri (2006): Die Produktion des Raums. In: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Taschenbuch Verlag, 330–342. Rat für Kulturelle Bildung (2015): Zur Sache. Kulturelle Bildung: Gegenstände, Praktiken und Felder. www.rat-kulturelle-bildung.de/fileadmin/user_upload/ pdf/RFKB_ZurSache_ES_final.pdf (Zugriff am 05.09.2018) Simmel, Georg (1908): Philosophische Kultur (2. Aufl.). Leipzig: Alfred Kröner Verlag. www.socio.ch/sim/phil_kultur (Zugriff am 25.07.2018) Simmel, Georg (2001): Brücke und Tür. In: Kramme, Rüdiger/Rammstedt, Angela (Hg.): Aufsätze und Abhandlungen 1909–1918, Band 1 (Georg Simmel Gesamtausgabe, Band 12). Frankfurt a.M.: Suhrkamp Taschenbuch Verlag, 55–61.
Wenn die Kreativität an ihre Grenze kommt Von Einschränkungen und Grenzen der Möglichkeiten im künstlerischen Prozess am Beispiel der Theaterarbeit mit Menschen mit unterschiedlichen Voraussetzungen Katharina Witte
KREATIVITÄT UND IMPROVISATION IM KÜNSTLERISCHEN PROZESS Kreativität – ein Begriff, der auf das Schöpferische, das Erschaffen von Neuem, hinweist. Ein Begriff, der diesem sehr nahe steht, ist der Begriff der Improvisation (vgl. Göttlich/Kurt 2012). Ähnlich wie die Kreativität wird auch die Improvisation vor allem mit der künstlerischen Praxis in Verbindung gebracht. Beide Begriffe lassen sich jedoch als menschliche Fähigkeiten verstehen, die sehr vielfältige Voraussetzungen haben und die in den unterschiedlichsten Zusammenhängen zum Tragen kommen können. So eignen sie sich gut, um die komplexen Prozesse theoretisch zu untermauern, die im künstlerischen Arbeiten mit Menschen mit sehr unterschiedlichen Voraussetzungen ablaufen. Dies soll in diesem Artikel am Beispiel der Theaterarbeit mit einer heterogenen Gruppe geschehen. Wenn von Improvisation die Rede ist, geht es um Verhaltensweisen, die spontan und „im Moment“ entstehen – mit dem Ziel, auf bestimmte Situationen oder andere Verhaltensweisen angemessen, aber auch konstruktiv und gestaltend einzugehen. Dabei können neue Ideen entstehen, kann das Repertoire erweitert werden. Hier kommt die Grenze ins Spiel: Improvisation hat nach Silberberger auch damit zu tun, dass ein bekanntes Regelwerk bzw. eine Struktur, die Grenzen setzt, vorhanden ist, und dann ganz bewusst mit ihr umgegangen wird, bis hin dazu, dass sie erweitert oder auch gebrochen wird. So können die Grenzen zwischen Bekanntem und Unbekanntem verschoben werden zugunsten einer
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Erweiterung dessen, was bekannt ist (Silberberger 2005). Silberberger nennt als Grundlage für solche Vorgehensweisen den kairos, den richtigen Moment, die „günstige Gelegenheit“ (ebd., 4), und metis, die Fähigkeit, Situationen optimal zu nutzen bzw. zu spüren, was „dran“ ist, und dann im richtigen Moment das Richtige zu tun (ebd., 5). Hintergrund für kairos und metis sind die eigene Erfahrung, die Fähigkeiten, das Wissen, die Kompetenzen, die Handlungsfähigkeit ermöglichen. Dann können Dinge entstehen – im Sinne eines kreativen, improvisatorischen Prozesses mit der Qualität, im „richtigen Moment“ das „Richtige zu tun.“ Dies sind grundlegende Parameter für jeden künstlerischen Vorgang – er ist im Wesentlichen durch die Eingebungen und Ideen derjenigen bestimmt, die am künstlerischen Prozess beteiligt sind – im Falle der Erarbeitung eines Theaterstückes Spielleiter*in oder Regisseur*in und die darstellenden Personen. Handelt es sich bei den darstellenden Personen nicht um professionelle Schauspieler*innen, sondern um Personen, die beispielsweise eine kognitive Beeinträchtigung haben, sind die Voraussetzungen für einen künstlerischen Prozess anders gelagert als bei der Arbeit mit Personen, die ohne kognitive Beeinträchtigung leben – ob mit oder ohne schauspielerische Ausbildung. Diese Voraussetzungen von Seiten der darstellenden Personen sind an verschiedenen Stellen beschrieben worden1. Gisela Höhne spricht von einer „dadaistischen Phantasie“ (Höhne 1999, 76) – eine glänzende Voraussetzung, sich im eigenen Handeln oder auch in der Interaktion mit anderen vom Moment bestimmen zu lassen, der immer wieder neue Rahmen vorgibt oder Bilder entstehen lässt. Und dennoch: Zu einem künstlerischen Prozess gehört mehr als die reine Eingebung im Moment, also die Kreativität der einzelnen Personen in Bezug auf das, was entsteht – und wenn Darsteller mit einer Behinderung leben, dann ist auch ihr Tun und Lassen nicht ausschließlich von ihrer Phantasie bestimmt. Außerdem agieren sie – in jedem künstlerischen Prozess, aber ganz besonders im Theaterspiel – in Beziehungen – zu den Personen, die mit ihnen auf der Bühne stehen, und zu den Personen, die sie – z.B. als Regisseur – anleiten und begleiten. Im Idealfall geschieht dies mit der Haltung eines „Anderen unter Gleichen“ (Epp 2012, 1999) mit einem Hintergrund von künstlerischer Erfahrung, Professionalität in der künstlerischen Praxis und auch in der Vermittlung, aber auf Augenhöhe und mit einer Haltung des gemeinsamen Suchens nach Ausdrucksformen und Ideen. Auch in diesem gemeinsamen Suchprozess ist Kreativität erfor-
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Vgl. z.B. die theoretischen Arbeiten von Autoren wie G. Wartemann oder E. Möcking, außerdem verschiedene Publikationen im Kontext bestehender Theatergruppen (z.B. Elber/Bugiel 2014).
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derlich und zwar besonders dann, wenn das, was auf der Bühne Realität werden soll, Fähigkeiten erfordert, die zunächst bei den Darstellern nicht vorhanden sind – und auch nicht „trainiert“ oder „erübt“ werden können – weil dort einfach Grenzen gegeben sind, die akzeptiert werden müssen. Christoph Grothaus und Natascha Plankermann beschreiben es so: „Ich glaube, der entscheidende Unterschied ist die eigene Haltung. Man muss sehr offen sein und ständig seine eigene Arbeitsweise überprüfen, indem man z.B. unterschiedliche Kommunikationsund Erinnerungswege findet. Wenn man […] Besonderheiten beachtet, kann man das künstlerische Potenzial entdecken und weiterentwickeln.“ (Plankermann/Grothaus 2012) Der in pädagogischen Zusammenhängen so häufig verwendete Gedanke, jemanden „dort abzuholen, wo er steht“, kommt hier auf andere Weise zum Tragen – weniger als ein Ansetzen an den gegebenen Lernvoraussetzungen oder Interessen, um von hier aus neue Lerninhalte anzubieten, sondern im Sinne eines genauen Hinschauens, welche Ausdrucksmittel einer Person zur Verfügung stehen und wieweit sie diese eigenständig zur Verfügung stellen kann – oder an welchen Stellen das, was sie zum Ausdruck bringen kann, durch andere künstlerische Mittel ergänzt werden muss, um erstens tragfähig zu sein und zweitens die eventuell gegebenen Grenzen in der Ausdrucksfähigkeit nicht im negativen Sinne „vorzuführen“ (vgl. dazu Ditschek 2014). Dies würde nämlich zu einer weiteren Stigmatisierung von Menschen beitragen, die davon sowieso in anderen gesellschaftlichen Zusammenhängen ständig bedroht sind (vgl. Langner 2009). Was genau mit dem „Abholen“ bzw. dem Prozess des gemeinsamen Suchens unter Einschränkungen gemeint sein kann, die besondere Kreativität herausfordern, soll nun in einem kleinen, aber recht komplexen Fallbeispiel aufgezeigt werden. Dieses Beispiel enthält eine Situation, in der es um die Entstehung von Musik geht. Sie wird im Folgenden so genau wie möglich, auch mit den Rahmenbedingungen, geschildert und anschließend im Hinblick auf die Anforderungen für alle Beteiligten im Hinblick auf den Schaffensprozess analysiert. Fallbeispiel: „Begrenzte“ und „erweiterte“ Kreativität in der Musik Beispiel I: Die Situation ist zeitlich einzuordnen in eine Wiederaufnahmeprobe eines Stückes, das zwar bereits fertig ist und auch schon oft gespielt wurde; bestimmte Einheiten – und dazu gehört auch die musikalische Einlage, um die es geht – werden aber in jeder Vorstellung eigentlich – in einem bestimmten festgelegten Rahmen – neu erschaffen. Daher ist auch die jetzige Probe eine Mischung aus Wiederholungs- und Entwicklungsprobe. Beteiligte Personen sind zunächst
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eine Darstellerin im E-Rollstuhl mit starker Zerebralparese, die ihr das Einsetzen der rechten Hand fast unmöglich macht – die Hand kann mit Mühe zum Halten größerer Gegenstände – zwischen Hand und Körper – verwendet werden. Auch die andere Hand ist in den Bewegungsmöglichkeiten beeinträchtigt. Des Weiteren ein Musiker, der das Stück musikalisch begleitet, für dieses Stück zusammen mit einem anderen Musiker für und mit den Darstellern die Musik entwickelt hat und insgesamt schon bei sehr vielen Produktionen der Gruppe mitgewirkt hat. Schließlich der Regisseur des Stückes, der in der zu beschreibenden Situation als „kritischer Zuhörer“ präsent war. Das Setting der Szene, die geprobt wurde, war ein Konzert innerhalb des Theaterstücks, bei dem einige Mitglieder der Gruppe – unter anderem jene Darstellerin im E-Rollstuhl – jeder einen eigenen kleinen Auftritt hatten. Sie hat für ihren Auftritt ein kleines Marίmbula von der Größe etwa einer kleinen Kokosnussschale, das sie mit der stärker beeinträchtigten Hand in ihrem Schoss festhält und mit der anderen Hand die einzelnen Metallzungen zupft. Das kleine Instrument wird elektronisch verstärkt und zu ihren Tönen setzt nach und nach eine immer vielschichtigere Begleitung durch die Musiker ein, die sich an dem Muster der Töne aufzubauen scheint – bis schließlich die jedes Mal auf andere Weise aneinandergereihten Töne Teil einer klar strukturierten Harmoniefolge mit Klängen und Melodieelementen werden, die den Charakter der einzelnen Marίmbulatöne aufnehmen. Ein sehr eindrucksvolles Beispiel für einen künstlerisch anspruchsvollen, sehr sensiblen Umgang mit höchst unterschiedlichen musikalischen Voraussetzungen, die miteinander in Verbindung gebracht werden sollen. In der konkreten Probensituation beginnt der Auftritt der genannten Darstellerin. Sie spielt ihre ersten Töne, die anderen beiden Musiker setzen ein, das „Stück“ wird einmal durchgespielt. Anschließend gibt einer der Musiker die Rückmeldung: „Je gleichmäßiger Du die Töne spielst, desto besser ist es für mich.“ Es geht also nicht um bestimmte Töne an sich oder um den Rhythmus im engeren Sinne – hier ist die Darstellerin im Rahmen dessen, was das Instrument vorgibt, frei. Es geht um eine Grundstruktur, die angestrebt werden soll und dann durch die Musik der anderen Spieler ergänzt wird. Die Darstellerin stößt aber hier beim Musizieren an eine ganz einfache Grenze und sie antwortet: „Ja, ich versuch‘s, aber ich komm an die hinteren Zungen (des Marίmbula) nicht ran.“ Sie möchte gern alle zur Verfügung stehenden Töne des Instrumentes mit einbeziehen, wird aber durch die Halteposition, also letztlich durch die Bewegungseinschränkung ihrer Hände, daran gehindert. Diese Schwierigkeit steht für
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sie im Vordergrund gegenüber der Auflage, eine gleichmäßige Reihe aus – gleich wie vielen – Tönen zu erzeugen. Im weiteren Dialog zwischen den beiden werden diese beiden unterschiedlichen Prioritäten nochmals deutlich – der Musiker reagiert mit einer knappen Entgegnung: „Trotzdem.“ Die Darstellerin wiederholt bzw. betont: „Ja, aber mich nervt es, dass ich die hinteren nicht erwische.“ Das Zusammenspiel wird dadurch nicht in Frage gestellt, denn die Darstellerin lernt, das Tempo zu verändern und der Musiker nimmt jede Veränderung in das entstehende Musikstück auf – nach dem Prinzip von kairos und metis; es gibt eine Vorlage, und diese wird improvisatorisch ergänzt. In der ganzen Machart des Musikstückes wird schon die Umgangsweise mit Grenzen der – in diesem Falle musikalischen – Kreativität deutlich – und in diesem kurzen Wortwechsel werden unterschiedliche Horizonte bzw. Prioritäten und Fähigkeiten explizit zur Sprache gebracht. Denn die Darstellerin sieht sich nach eigener Aussage dann als aktiv musizierend, also auch mitgestaltend, an, wenn sie alle Töne spielen kann, die zur Verfügung stehen. Für die Musiker, die sie in ihrem Auftritt begleiten, ist es wichtig, dass sie die Töne, die sie spielt, auf eine bestimmte Art spielt, damit die Gesamtstruktur des Stückes entstehen kann. Aber alle Beteiligten stellen sich den Herausforderungen, die dieses Musikstück für sie bedeutet und dadurch entsteht – jedes Mal wieder neu – ein besonderes musikalisches Erlebnis – für die Musizierenden und auch für die Zuhörer. Weitere Beispiele aus der künstlerischen Praxis An einigen weiteren Beispielen, die sich eher auf den szenischen, als den musikalischen Bereich beziehen, soll ebenfalls gezeigt werden, dass der durch Kreativität geprägte künstlerische Schaffensprozess in der Theaterarbeit mit Menschen mit unterschiedlichen Voraussetzungen zum Teil eine Auseinandersetzung und einen erfinderischen Umgang mit „Grenzen“ bedeutet. Diese Grenzen beziehen sich auf Bereiche wie die Kommunikation, die Vorstellungskraft bezüglich dessen, was von außen vorgegeben wird, manchmal vielleicht auch auf die Flexibilität im Denken oder auf das Einfühlungsvermögen in bestimmte Situationen – allesmögliche Bestandteile von Kreativität. Die Grenzen sind gesetzt, aber sie eröffnen Freiheiten an anderen Stellen, die sich vielleicht auf die Ausdrucksfähigkeit, auf die Phantasie, auf das Einfühlungsvermögen in andere Personen beziehen. Und hierin steckt ebenfalls ein breites schöpferisches Potential, das dann zur Verfügung steht, wenn es gelingt, dass metis und kairos sich tref-
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fen. Die Rahmenbedingungen auf mehreren Ebenen lassen sich dadurch so gestalten, dass das Potenzial zum Tragen kommen kann. Beispiel II: Jürgen2 lebt sehr in seiner eigenen Welt – in der allerdings andere Personen eine große Rolle spielen. Auf bestimmte vorgegebene Situationen passgenau einzugehen, fällt ihm schwer. Aber er hat ein großes Repertoire an eigenen Gedanken und bringt diese entsprechend seinem eigenen Verständnis von der Situation zum Ausdruck. Wenn es gelingt, ihm dabei bestimmte Grenzen in der Freiheit der Auslegung zu vermitteln und auch wiederum die Situation entsprechend anzupassen, dann kann auch er einer Szene neue und ausdrucksstarke Elemente hinzufügen. Beispiel III: Simon kann nicht aus dem Stegreif einen Dialog mit jemand anderem erfinden, aber er bringt ganz bestimmte Eigenarten und Reaktionsweisen immer wieder ein. Zum Beispiel kann er sich sehr gut mit einer bestimmten Art von „Nonsenssprache“ präsentieren, er verbindet damit auch jeweils einen sehr markanten Gefühlsausdruck. Wenn es gelingt, dieses in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen, dann können andere wiederum auf sein Verhalten reagieren und auch dadurch kann eine Szene bereichert werden. Beispiel IV: Angelina hat einen starken Realitätsbezug in allem, was sie tut und sagt, aber auch eine große Freude am Theaterspiel. Was sie wirklich denkt und empfindet, wird nach außen gar nicht ohne Weiteres sichtbar. Aber sie hat einen sehr eigenen Ausdruck und kann diesen souverän in die Szene einbringen, vorausgesetzt es gelingt, sie an den richtigen Stellen einzusetzen. Und dann gibt es Momente – und hier werden die Begriffe kairos und metis auf besonders prägnante Weise nachvollziehbar – in denen sie – unerwartet, unvermittelt, plötzlich – ganz kleine eigene Ideen einbringt, die in ihrer Punktgenauigkeit und Schärfe eine große Bereicherung sind – auch wenn sie so klein sind, dass man sie auch gut übersehen könnte. Beispiel V: Bertram hat eine große Bewegungsbegabung, ist also ein außergewöhnlich erfindungsreicher Darsteller in Körpersprache und Tanz. Aber wenn er direkt auf eine Aufgabenstellung oder einen Impuls reagieren soll, kann es passieren, dass er in ein alltägliches oder sogar „eintöniges“ Bewegungsmuster verfällt, und dieses auch nicht so einfach verlassen kann. Er braucht seinen eigenen „richtigen Moment“ und wie der Impuls aussieht, der ihn dazu anregt, all seine Fähigkeiten zum „Tragen“ bzw. zum Ausdruck zu bringen, das ist nur mit viel Feingespür – also ebenfalls mit „metis“ in Bezug auf die Begleitung Bertrams, herauszufinden – und es gelingt auch nicht immer in der gleichen Weise.
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Alle Namen sind verändert.
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Alle Beispiele sollen verdeutlichen, dass in der künstlerischen Arbeit mit Menschen mit unterschiedlichen Voraussetzungen unter Umständen das kreative Potenzial aller Beteiligten eine bedeutende Rolle spielt. Denn die wertvollen Eigenschaften der Direktheit, Offenheit und Präsenz, die starken Ausdrucksmöglichkeiten, die Menschen mit einer Beeinträchtigung zur Verfügung haben, sind häufig unmittelbar vorhanden. Es gibt jedoch andere Eigenschaften und Fähigkeiten, die ohne eine einfühlsame und ebenfalls „schöpferische“ Begleitung nicht zum Zuge kommen können. Hier ist also eine weitere „Ebene“ der Kreativität erforderlich, die sich auf die „künstlerischen Begleiter“ – die anleitenden Personen im Sinne der „Anderen unter Gleichen“ (vgl. oben) – bezieht. Gelingt es, diese Ebene in die Arbeit einzubeziehen, dann können sehr besondere Erfahrungen – in der Zusammenarbeit – und Momente – im künstlerischen Prozess und meist auch in dessen Ergebnis – entstehen.
AUSBLICKE AUF VORAUSSETZUNGEN Einige Voraussetzungen, die das Gelingen eines solchen komplexen Prozesses der schöpferischen Gestaltung ermöglichen können, sollen hier angedeutet werden – ohne ein Garant für das Gelingen zu sein. Sie sind aber durch zahlreiche Beispiele aus der Praxis – auch mit Hilfe empirischer Methoden wie Beobachtungen oder Interviews – belegbar.3 Eine wichtige Voraussetzung ist, dass die Beteiligten sich gut kennen und einander vertraut sind. Die Beziehungen zu den „professionellen Theatermachern“ oder einfach zu Künstlerpersönlichkeiten kann für Menschen mit Behinderung eine zentrale Motivation sein, sich überhaupt auf die Herausforderungen des Theaterspielens einzulassen; dies gilt auch für andere künstlerische Disziplinen. Des Weiteren ist der Prozess für diejenigen „Begleiter*innen“ oder Anleiter*innen der künstlerischen Arbeit, die sonst mit professionellen Künstler*innen zu tun haben, demgegenüber sicherlich „verlangsamt“. Die Entwicklung all der vorhandenen Fähigkeiten, das Schaffen der Voraussetzungen für ihren Einsatz braucht viel Zeit und auch Geduld. Als eine weitere Grundvoraussetzung kann schließlich die – in dem Zitat von Grothaus und Plankermann bereits erwähnte – offene Haltung genannt werden (s.o.): Die Bereitschaft, trotz gegebener Thematik oder auch eigenen inhaltlichen
3
Als Beispiel für eine Evaluationsstudie, in der es sehr praxisnah um das konkrete Vorgehen im künstlerischen Prozess eines inklusiven Projektes geht, sei die Studie von Saerberg (2016) genannt.
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Vorstellungen, sich unter Umständen von bereits entwickelten Ideen wieder zu verabschieden oder sogar von vornherein ganz offen an diese Arbeit heranzugehen, um dann ein Gespür für das zu entwickeln, was mit den vorhandenen Personen in der gegebenen Situation entstehen kann. Dies erfordert von den Anleitenden, aber auch von den Assistent*innen eine umfassende künstlerische, aber auch soziale und pädagogische Kompetenz, ein großes Repertoire an Vorgehensweisen, Ideen und Zielsetzungen, die sich letztlich nicht systematisch formulieren, sondern sich jeweils am konkreten Beispiel aufzeigen lassen.
LITERATUR Ditschek, Eduard J. (2014): Behinderung als Kompetenz: Menschen mit Handicap auf der Bühne. In: Erwachsenenbildung und Behinderung 25, H. 1, 35– 40. Elber, Michael/Bugiel, Marcel (Hg.) (2014): Der einzige Unterschied zwischen uns und Dalí ist, dass wir nicht Dalí sind. Berlin: Theater der Zeit. Epp, André (2012): „…lieber sie haben ‘n Mikro in der Hand anstatt ’n Klappmesser!“ – Praxisevaluation, Wirkungsrekonstruktionen und Nachhaltigkeit kultureller Jugendarbeit. In: Fink, Tobias/Hill, Burkhard/Reinwand, Vanessa-Isabelle/Wenzlik, Alexander (Hg.): Die Kunst, über kulturelle Bildung zu forschen. Theorie- und Forschungsansätze. München: kopaed, 194–207. Göttlich, Udo/Kurt, Ronald (Hg.) (2012): Kreativität und Improvisation: Soziologische Positionen. Wiesbaden: Springer VS. Höhne, Gisela (1999): Spiel und Subversivität: Das Theater RAMBA ZAMBA. In: Ruping, Bernd (Hg.): Theater, Trotz & Therapie. Ein Lies- und Werkbuch des Theaterpädagogischen Zentrums der Emsländischen Landschaft e.V. und des Studiengangs Theaterpädagogik der Fachhochschule Osnabrück, Standort Lingen. Sögel: Verlag der Emsländischen Landschaft für die Landkreise Emsland und Grafschaft Bentheim, 75–96. Langner, Anke (2009): Behindertwerden in der Identitätsarbeit: Jugendliche mit geistiger Behinderung – Fallrekonstruktionen. Wiesbaden: VS Verlag. Plankermann, Natascha/Grothaus, Christoph (2012): Wach sein und neue Wege suchen. In: Praxis fördern, H. 4, 31. Saerberg, Siegfried H.X. (2016): Inklusion ist ein Thema in unserem Leben: Praxisorientierte Evaluationsstudie zu dem inklusiven Kulturprojekt „Inklu:City“. Remscheid: Institut für Bildung und Kultur e.V. Silberberger, Jan (2005): Improvisation als Methode. www.avbstiftung.de/ fileadmin/projekte/Improvisation_als_Methode_050923.pdf (Zugriff am: 17.09.2018)
Strukturen
Studium und Lehrtätigkeit von Künstler*innen mit geistiger Beeinträchtigung Eine Initiative für inklusive Bildung des Atelier Goldstein Sophia Edschmid & Helene Deutsch
EIN POTENTIAL DER KUNST Erfahren hochrangige Kunstwerke von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung eine ernsthafte und werkimmanente Betrachtung, dann gerät der Aspekt der kognitiven Behinderung in den Hintergrund, hervorstechend aber zeigt sich die Qualität der künstlerischen Produktion. Obwohl es die Rezeption abseits voreingenommener Zuschreibungen vollkommen verstellt, ist eine Verknüpfung zwischen geistiger Beeinträchtigung und Werk durchaus gängig. Eine Betrachtung, die ohne eine solche Verknüpfung von Werk und Behinderung geschieht, kann aber erst den eigentlichen Wert der künstlerischen Produktion von geistig beeinträchtigten Künstler*innen im Hinblick auf die Kunsthistorik wie auch das zeitgenössische Kunstgeschehen freilegen (vgl. u.a. Dannecker/Voigtländer 2011, 6; Luz 2012, 351 ff.). Aus der werkimmanenten Rezeption heraus ist es also durchaus möglich, dass geistig beeinträchtigte Künstler*innen aufgrund der Qualität ihres Werks als geschätzte Akteur*innen im Geschehen der bildenden Kunst Anerkennung finden. Damit offenbart sich innerhalb des spezifischen Felds der Kunst ein außerordentliches Potential: Es zeigt sich die Möglichkeit einer Teilhabe, die nicht im Sinne eines Dabei-Seins stagniert, sondern vielmehr eine Inklusion möglich macht, die auf Anerkennung und Respekt beruht. Nach diesem Grundsatz, der künstlerisches Talent und die Qualität von künstlerischen Werken geistig beeinträchtigter Künstler*innen als solche wertschätzt, arbeitet das Atelier Goldstein.
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DAS ATELIER GOLDSTEIN Das Atelier Goldstein der Lebenshilfe Frankfurt am Main e.V. wurde 2001 für außerordentlich begabte Künstler*innen mit geistiger Beeinträchtigung von Christiane Cuticchio gegründet. Heute bietet es fünfzehn Künstler*innen aus den Bereichen Zeichnung, Malerei, Skulptur, Grafik, Fotografie und Film die Möglichkeit, ihre Projekte unter professionellen Arbeitsbedingungen zu realisieren. Das Mitarbeiterteam des Ateliers ist neben der Leiterin Christiane Cuticchio mit vier Hochschulabsolvent*innen der Kunstpädagogik und der Freien Kunst besetzt. Dieses sich fachlich ergänzende Team arbeitet in den Räumen des Ateliers nach einer über viele Jahre entwickelten Assistenzmethode, die Künstler*innen mit völlig unterschiedlichen Behinderungen und Begabungen hilft, sich ihrer eigenen Bildsprache zu versichern und sie weiterzuentwickeln. Durch die intensive Vermittlungsarbeit gelingt es dem Atelier, die so entstandenen Werke in nationalen und internationalen Museen und Sammlungen zu platzieren, sie der interessierten Öffentlichkeit zugänglich zu machen und durch die Qualität der Arbeiten nicht zuletzt mit hartnäckigen Ressentiments aufzuräumen. Die Assistenzmethode des Atelier Goldstein Um den besonderen Begabungen der Künstler*innen zu entsprechen, ist eine besondere Art der Assistenz vonnöten: Die Künstler*innen des Atelier Goldstein arbeiten eng mit Assistierenden zusammen, die im Idealfall ebenso Expert*innen in dem jeweiligen künstlerischen Bereich sind. Grundsätzlich steht damit nicht vorrangig die Behinderung, sondern die Begabung im Mittelpunkt der Betreuung. Die anspruchsvolle Assistenzarbeit mit Menschen mit oft minimalen Kommunikationsmöglichkeiten bedarf eines durch die Betrachtung von bildender Kunst geschulten Auges, das abseits des allgemein üblichen Urteils von „schön“ und „nicht schön“ in der Lage ist, wirklich interessante künstlerische Vorgehensweisen in oft schwierigen Zusammenhängen ausfindig zu machen. Vor allem aber bedarf es der Fähigkeit, die unerwartete künstlerische Produktion beeinträchtigter Künstler*innen zu bewundern und die Bereitschaft von ihrer inhaltlich und handwerklich oft herausragenden Arbeit zu lernen. Die Assistierenden müssen die Arbeiten der nicht akademisch geschulten Künstler*innen vor dem allgemeinen kunsthistorischen Hintergrund vergleichend und bewertend einordnen können. Sie benötigen die Vorstellungskraft, diese Arbeiten in einen visuell und intellektuell angemessenen Hintergrund einzuordnen. Parallel gilt es das Werk im Sinne der betreuten Künstler*innen
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Abbildung 1: Julia Krause-Harder, Protocceratops, verschiedene Materialien, 185 85 50 cm, 2015
Quelle: Atelier Goldstein
Abbildung 2: Julius Bockelt, o.T. Fineliner auf Papier, 21,0 29,7 cm, 2005
Quelle: Atelier Goldstein
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gedanklich weiter zu entwickeln, es zu kuratieren, zu archivieren und zu publizieren. Unter Umständen brauchen die Assistierenden die Fähigkeit, auch nonverbal anhand des Arbeitsprozesses zu kommunizieren, müssen alternative Kommunikationsformen entwickeln sowie, wenn erforderlich, körperliche Hilfen leisten. Über die Dauer der langjährigen Arbeit unter derartigen Bedingungen ließ sich beobachten, dass ein professionelles und anerkennendes Umfeld einen Nährboden schafft, der über die Entfaltung des künstlerischen Werks hinaus auch das persönliche Wachstum der Künstler*innen fördert: So haben sich auch die Goldstein-Künstler*innen Julia Krause-Harder (vgl. Abb. 1), Julius Bockelt (vgl. Abb. 2) und Juewen Zhang (vgl. Abb. 3) über die Jahre der individuellen Förderung nicht nur künstlerisch enorm weiterentwickelt, sondern konnten sich ein Selbstbewusstsein aneignen, das sie heute öffentliche Auftritte, Podiumsdiskussionen und Interviews souverän bestreiten lässt. Diese Beobachtungen lassen vermuten, dass diese ausgewählten Künstler*innen durchaus auch zu Tätigkeiten außerhalb des im Atelier gegebenen, geschützten Rahmens in der Lage sind.
DIE BILDUNGSINITIATIVE Im Oktober 2017 startete das Atelier Goldstein eine Initiative, die über die praktisch-künstlerische Arbeit im Atelier hinausgeht und sich im Feld der inklusiven Bildung lokalisieren lässt. Ein Teilbereich dieser Initiative zielt auf die Möglichkeit einer Lehrtätigkeit von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung im Fach Kunst an Regelschulen ab (a.). Ein weiterer Teilbereich untersucht die Voraussetzungen bezüglich eines Studiums von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung im universitären Rahmen der Kunsthochschule (b.). Einbettung des Projekts Nach der inzwischen immer häufigeren gemeinsamen Beschulung von Kindern mit und ohne geistige Beeinträchtigung erfolgt die berufliche Ausbildung zumeist im Hinblick auf eine spätere Tätigkeit in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung. Ein höherer Schulabschluss oder gar ein Studium an einer universitären Einrichtung aber ist unüblich. Die allermeisten betroffenen Personen werden nach der Ausbildung in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung sozialversicherungspflichtig beschäftigt und sind damit einerseits vor den Härten des allgemeinen Arbeitsmarkts beschützt, erfahren damit aber auch gesellschaftlichen Ausschluss und unter Umständen Einschränkungen bezüglich der Entfal-
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tung ihrer Begabung. Für viele Betroffene ist die Tätigkeit in einer der Werkstätten eine zufriedenstellende und angemessene Beschäftigung, einige jedoch leiden unter den Beschränkungen der beruflichen Laufbahn. Das Deutsche Institut für Menschenrechte schätzt, dass die Zahl der Menschen mit geistiger Beeinträchtigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bei unter einem Prozent liegt. Der Anteil an Hochschulen wird als noch niedriger eingeschätzt (vgl. Palleit 2016, 1). Abbildung 3: Juewen Zhang vor seiner Zeichnung von Clara Zetkin, Kohle auf Papier, 2015
Quelle: Atelier Goldstein
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Dass das persönliche Können sich bei geistig beeinträchtigten Personen oftmals nicht in deren beruflichem Werdegang widerspiegelt, hat ganz unterschiedliche Gründe: Zwar sieht das Sozialgesetzbuch für die individuelle Ausbildung und Teilhabe am Arbeitsleben eine angemessene Unterstützung vor – so fallen unter die Leistungen der Eingliederungshilfe unter anderem die „Hilfe zur schulischen Ausbildung für einen angemessenen Beruf einschließlich des Besuches einer Hochschule“1 sowie die „Hilfe zur Sicherung [...] der Teilhabe der behinderten Menschen am Arbeitsleben“2, jedoch werden diese Rechte häufig nicht in Anspruch genommen. Die Inanspruchnahme kommt nur selten zustande, da sie eines großen Engagements seitens der gesetzlichen Betreuungspersonen bedarf, die oft nicht vollständig über die möglichen Anrechte aufgeklärt sind oder vor der komplexen Beantragung von Geldern zurückschrecken; andererseits fehlt es oftmals an geschulten Assistenzen und auch die Bereitschaft zur Inklusion ist von Betrieben und Institutionen nur selten gegeben – denn es bestehen nach wie vor etliche Vorurteile insbesondere bezüglich des Leistungsvermögens mental beeinträchtigter Personen. Mit der Initiative für inklusive Bildung soll nun entgegen dieser Missstände im spezifischen Feld der bildenden Kunst ein Vorstoß gewagt werden: a. Julia Krause-Harder und Julius Bockelt werden durch ihre Tätigkeit als Dozierende an Regelschulen einer Tätigkeit abseits einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nachgehen. Durch ihr künstlerisches Potenzial sind sie im Feld der Kunst in der Lage, selbstbestimmt zu agieren und fachlich professionell anzuleiten. b. Entgegen des üblichen Abreißens der Bildungskette nach der Regelschule wird es für den Künstler Juewen Zhang um eine Erweiterung seiner Ausbildung durch das Studium an einer Kunsthochschule gehen. Durch seine außergewöhnliche Begabung und seinen Willen nach Erweiterung seines Könnens besteht eine gute Grundlage für ein ernsthaftes Kunststudium. Insofern handelt es sich bei der Initiative für inklusive Bildung um ein Engagement, das der strukturellen Benachteiligung von Menschen mit Beeinträchtigung entgegenwirkt und sich auf Basis ihrer persönlichen Vorstellungen und Eignung für eine weiterführende Förderung und Einbindung ihrer Befähigungen einsetzt – denn es gilt Menschen mit geistiger Beeinträchtigung nicht einfach als Teil eines Kollektivs beeinträchtigter Menschen wahrzunehmen, sondern ihren Interessen und ihrem Vermögen gemäß auch über das gängige System hinaus individuelle Entwicklungen zu ermöglichen.
1
§ 54, Abs. 1, Nr. 2 SGB XII – Leistungen der Eingliederungshilfe
2
§ 54, Abs. 1, Nr. 5 SGB XII – Leistungen der Eingliederungshilfe
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ENTSTEHUNG DES PROJEKTS Es ist das Ergebnis der jahrelangen Assistenzarbeit des Atelier Goldstein, dass wir heute Künstlerpersönlichkeiten sehen, die sich sowohl ihrer künstlerischen, als auch ihrer persönlichen Kompetenzen bewusst sind. An dieses Bewusstsein knüpfen sich dann – wie könnte man es anders erwarten – weiterführende Wünsche und Perspektiven. Die Idee zu einer Initiative im Bereich Bildung entstand auf Grund der Entwicklung der Künstler*innen durch die langjährige gemeinsame Arbeit im Atelier Goldstein. Initialzündung der Initiative waren schließlich einige Beobachtungen, die sich durch das Agieren in bislang unbekannten Sozialräumen ergaben: a. Im Rahmen eines Schul-Kulturprojekts3 2014 übernahmen Julia KrauseHarder und Julius Bockelt die Gestaltung und Leitung für einen mehrwöchigen Workshop in Zusammenarbeit mit einer assistierenden Person sowie einer Künstlerin ohne geistige Beeinträchtigung. In diesem Kontext konnten sich die beiden Künstler*innen des Ateliers selbst als fähige Lehrpersonen erleben, die für ihren Einsatz finanziell entlohnt wurden. Diese positive Erfahrung der eigenen Befähigung und allgemeinen Wertschätzung motivierte die Künstler*innen dazu, auch über dieses Projekt hinaus einer regelmäßigen Dozententätigkeit nachzugehen. Um diesem Wunsch nachzukommen, gilt es der Initiative unter Inanspruchnahme des bestehenden Rechts4 die Voraussetzungen für eine angemessen begleitete Lehrtätigkeit von Künstler*innen mit geistiger Beeinträchtigung zu betrachten und praktisch zu prüfen. b. Die künstlerische Entwicklung des jungen Goldstein-Künstlers Juewen Zhang gab den Assistierenden Anlass über seine weiteren beruflichen Perspektiven nachzudenken: Im Atelier hat er das Eingangsverfahren und den Berufsbildungsbereich nach §40 SGB IX durchlaufen, dessen Bildungsrahmenplan die Qualifizierung zum Bildenden Künstler beinhaltet. Im Rahmen der Ausbildung erwies er sich als äußerst begabt und wissbegierig – so hat er seine technische Präzision enorm weit entfalten können und erfährt mittlerweile durch Ausstellungen und öffentliche Auftritte große Anerkennung für seine Arbeit. Aufgrund seines jungen Alters, seiner persönlichen Interessen und seiner außerordentlichen Begabung entstand bei den Assistierenden schließlich die Idee, dass ein Studium
3
Diese projektbasierte Lehre an einer Frankfurter Regelschule ergab sich über das Kul-
4
Vgl. u.a. § 27 UN-BRK und § 54, Abs. 1, SGB XII
turTagJahr 2014 der Altana Kulturstiftung gGmbH.
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an einer Kunsthochschule seine Entwicklung in künstlerischer aber auch sozialer Hinsicht maßgeblich fördern könnte. Im Rahmen dieses Gedankens besuchte er in Begleitung seiner Assistenz den Rundgang der Hochschule für Gestaltung in Offenbach – dort erklärte ihm die Assistenz die Abläufe und Inhalte eines Kunststudiums, worauf Juewen Zhang begeistert einging und tatsächlich den Wunsch entwickelte, dort zu studieren. Ausgehend von dem Gedanken der bestmöglichen Förderung von Juewen Zhang und dessen eigenem Wunsch möchten wir durch die Initiative unter Inanspruchnahme des bestehenden Rechts5 Möglichkeiten und Voraussetzungen für ein assistiertes Kunsthochschulstudium betrachten und praktisch erproben. Die Intention der Initiative ist es, im Interesse der Künstler*innen in beiden Bereichen die jeweiligen Möglichkeiten und Problematiken zu bestimmen und zu reflektieren, um das Assistenzmodell des Atelier Goldstein in Bezug auf diese Felder zu erweitern. Erste Beobachtungen und die daraus resultierenden Aufgaben der Assistenz Ein erster Schritt der Initiative ist es, mit den Künstler*innen des Atelier Goldstein – Julia Krause-Harder und Julius Bockelt – zunächst projektbasiert künstlerische Workshops mit weiterführenden Regelschulen zu realisieren sowie mit dem Künstler – Juewen Zhang – die Kunsthochschule für Gestaltung in Offenbach im Rahmen einer Gasthörerschaft zu besuchen. Im Folgenden sollen die ersten Schritte skizziert und Beobachtungen in den jeweiligen Sozialräumen geschildert werden. a. Assistierte Lehrtätigkeit Julia Krause-Harder arbeitet seit über zehn Jahren an einem Werk, das thematisch tief durch ihre Faszination von Geografie (Karten, Länder, Reisen) und Paläontologie (urzeitliche Lebewesen, Dinosaurier) geprägt ist. Im Rückgriff auf ihr fundiertes Wissen lässt sie in wilder Materialmixtur aus Entsorgtem und Gefundenem Collagen und Objekte entstehen. Ein großer Teil ihres Werks umfasst eine Serie skulpturaler Dinosaurier, die aus Fundstücken gebaut sind und dennoch alle anatomischen Details der unterschiedlichen Arten aufweisen. Ausgehend von diesem Interesse entwickelte sie in Zusammenarbeit mit einer Künstlerassistentin ein Workshop-Konzept zum Thema „Die zweite Haut“. Im Rahmen des Workshops mit einer achten Klasse referierte sie über ihre Arbeiten, gab
5
Vgl. § 24 UN-BRK und § 54, Abs. 1, SGB XII
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eine Führung durch das Senckenberg Naturkundemuseum Frankfurt, inspirierte die Schüler*innen, sich mit der Anatomie der Tiere auseinanderzusetzen und im Anschluss auf die kreative Suche nach dem möglichen Äußeren der Dinosaurier zu gehen. Es entstanden vielgestaltige Kostüme, die die Schüler*innen für eine fotografische Dokumentation am eigenen Körper präsentierten. Abbildung 4: Julia Krause-Harder als Workshopleitende beim Altana Kulturtagjahr
Quelle: © michael habes fotografie, Frankfurt am Main, 2016
Julius Bockelt arbeitet seit mehr als zehn Jahren an einem Werk, das gleichermaßen um visuelle und akustische Beobachtungen und Verfahren kreist. Unter anderem erforscht er in Material- und Phänomenstudien die Besonderheiten von Luft, Wind, Wolken und Seifenblasen. Ausgehend von seinem Interesse an dem kurzen, nicht festzuhaltenden Moment, in dem zum Beispiel ein Regenbogen sichtbar ist oder eine Seifenblase fliegt, konzipierte er in Zusammenarbeit mit einem Künstlerassistenten einen Workshop mit dem Titel „Das Ephemere“. Im Rahmen des Workshops führte er in sein Vorgehen des Experimentierens ein und unternahm gemeinsam mit den Schülern*innen den Versuch solcherart vergängliche Phänomene festzuhalten. Experimentiert wurde hierbei mit Ventilatoren, Staubsaugern, Föhn, Prisma und Taschenlampe sowie mit allerlei sich nützlich erweisenden Fundstücken. Im Rahmen einer Ausstellung wurden erstaunlichste Versuchsaufbauten präsentiert.
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Abbildung 5: Julius Bockelt als Workshopleitender beim Altana Kulturtagjahr
Quelle: © michael habes fotografie, Frankfurt am Main, 2016
Während der Workshops ließen sich einige Schlüsselmomente beobachten, die das Wirkungsspektrum des Projekts nicht nur auf Seiten der beteiligten Künstler*innen sondern auch auf Seiten der beteiligten Institution und deren Angehörigen verdeutlichen: Sobald die Schüler*innen den Raum betraten, war bei beiden Künstler*innen eine sofortige Veränderung zu beobachten: Im Bewusstsein ihrer Rolle als lehrende Person zeigten beide eine gesteigerte Motivation, die Schüler für die Inhalte zu begeistern und ihnen konzentriert, aufmerksam und zugewandt zu begegnen. Den Künstler*innen wurde stets ein respektvoller Umgang sowohl von den Schüler*innen als auch den Lehrenden entgegengebracht. Diese Haltung ist wohl einerseits vom Auftreten der Künstler*innen in der Rolle der Lehrpersonen sowie von der Präsentation der eigenen, in ihrer Quantität und Qualität beeindruckenden Arbeit abzuleiten. Gleichzeitig prägte aber auch eine gewisse Vorsicht den Umgang, die sicherlich darauf zurückzuführen ist, dass sich Menschen mit und ohne geistige Beeinträchtigung im Alltag selten begegnen. In diesem zunächst ungewohnten Setting konnten die Schüler*innen nun aber Erfahrung sammeln und Vertrauen fassen, um eigene kreative Problemlösungswege mit beziehungsweise für Menschen mit Beeinträchtigung zu finden.
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Besonders interessant fanden wir die Tatsache, dass anfängliche Berührungsängste der Schüler*innen stets in dem Moment verloren gingen, in dem sie mit Julia Krause-Harder oder Julius Bockelt in den Austausch über die eigenen künstlerischen Ideen kamen. Diese Beobachtungen bestärken die Annahme, dass gemeinsames kreatives Arbeiten ein Motor für Inklusion sein kann. So lösten sich während der gemeinsamen Arbeit Vorurteile auf: Schüler*innen, die die Künstler*innen zunächst ausschließlich als geistig beeinträchtigt im Sinne von defizitär wahrnahmen, korrigierten dieses Bild bald – so beschrieb beispielsweise ein Schüler Julia Krause-Harder als ein „Genie mit Spezialwissen“. Des Weiteren ergaben sich durch die Kooperation mit der inklusiv arbeitenden Integrierten Gesamtschule Nord spezifische positive Effekte: Die Schüler*innen mit Inklusionsbedarf konnten in der Begegnung mit den Künstler*innen erleben, dass auch Menschen mit geistiger Beeinträchtigung Spezialisten sein können, die für ihre Arbeit und ihre Ideen Anerkennung in der Gesellschaft erfahren. Die betreffenden Schüler*innen hatten die Möglichkeit, sich mit Julia Krause-Harder und Julius Bockelt zu identifizieren und diese als Vorbild wahrzunehmen. Schüler*innen ohne sonderpädagogischen Förderbedarf wiederum konnten durch das Erleben von erfolgreichen Künstlerpersönlichkeiten mit geistiger Beeinträchtigung einen Perspektivwechsel in Bezug auf ihre Mitschüler mit Inklusionsbedarf vollziehen. Von diesen Effekten profitierten während des Workshops die Künstler*innen, sicherlich aber auch nachhaltig die gesamte Klassengemeinschaft. In der Vorbereitung der Workshops entwickelten die Künstler*innen gemeinsam mit der assistierenden Person das inhaltliche Konzept. Der Assistenz kam es zu, darauf zu achten, dass das Konzept realisierbar blieb und einen Rahmen bildete, der einerseits den Künstler*innen in ihrer Persönlichkeit und Arbeit entspricht, andererseits auch den Fähigkeiten der Schüler*innen der jeweiligen Altersstufe. Darüber hinaus fiel der Assistenz die Organisation im Vorfeld zu: Die assistierende Person verschriftlichte die Workshop-Konzepte, übernahm die Kommunikation mit der jeweiligen Institution, sorgte für die finanzielle Abwicklung und beschaffte die benötigten Workshop-Materialien. Die Assistenz war während des Workshops dabei behilflich, für das Einhalten der inhaltlichen Struktur und des zeitlichen Ablaufs zu sorgen. So war es zeitweise nötig, die Künstler*innen darauf aufmerksam zu machen, zu welchem Zeitpunkt etwa neue Arbeitsphasen, Pausen oder gemeinsame Besprechungen und Betrachtungen einzuleiten waren. Zudem war es eine Aufgabe der Assistenz, die Kommunikation zwischen Künstler*innen und Schüler*innen zu beobachten und bei nicht aufzulösenden Irritationen zu vermitteln.
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b. Assistiertes Studium Juewen Zhang ist mittlerweile Gasthörer an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach. Gemeinsam mit einer Begleitperson erkundete er in den ersten Monaten die Schule, lernte Lehrende und Studierende kennen und erschloss sich die räumlichen Gegebenheiten. Zusammen besuchten sie mehrere Seminare, denen er zunächst ausschließlich passiv, aber durchaus mit Interesse folgte. Nach einer Eingewöhnungsphase begann er sich durch regelmäßiges Präsentieren seiner Zeichnungen zu beteiligen. Schon jetzt stellt er sich der Kritik durch Professor*innen und Kommiliton*innen, auf die er reagiert, indem er erhaltene Anregungen in seinen Arbeiten umsetzt. Das Präsentieren der Arbeiten zeigt zum einen, dass er sich im Kontext des Seminars wohl fühlt, aber auch, dass bei den Professor*innen und Kommiliton*innen ein aufgeschlossenes Verhalten gegenüber etwaigen Besonderheiten vorherrscht. Selbstverständlich ist Juewen Zhang auch auf Unbekanntes gestoßen, das für ihn noch immer nicht einfach zu bewältigen ist – die neuen sinnlichen Eindrücke und die Kommunikation mit Studierenden und Lehrenden führen häufig zu beidseitiger Irritation. Da die Hochschule aber recht klein ist und die Seminare über ein Semester immer von denselben Studierenden besucht werden, ist der Umgang für beide Seiten schon nach kurzer Zeit selbstverständlicher geworden. Auch wenn sicherlich noch viele Ressentiments bestehen, so ist doch ein vielversprechender Anfang gelungen, der Juewen Zhang ein schon recht selbstständiges Agieren an der Institution möglich macht. Insgesamt weisen die bisherigen Erfahrungen darauf hin, dass Juewen Zhang in Begleitung durchaus in der Lage ist, aktiv am Studium teilzunehmen und sich in dem neuen Umfeld zu entfalten. Auf diese Beobachtung hin ergibt sich nun das nächste Etappenziel – das Studium als ordentlicher Student. Während des Semesters zeigte sich, dass die Aufgabe der Assistenz vor allem darin liegt, Momente der Irritation zu beruhigen, die Kommunikation möglichst von Missverständnissen frei zu halten, die administrative Organisation zu bewältigen und unterschwelligen Vorbehalten bestimmt entgegen zu treten. Das Aufgabenspektrum der Assistenz würde im Falle des ordentlichen Studiums darüber hinaus die gemeinsame Vor- und Nachbereitung von Seminaren, das gemeinsame Erarbeiten von künstlerischen Konzepten, bei Schwierigkeiten möglicherweise das Suchen nach kreativen Lösungswegen und anlässlich von Semesterpräsentationen das Kuratieren der angefertigten Arbeiten umfassen. Um Juewen Zhang eine diesen Aufgaben gewachsene Begleitung zukünftig zur Verfügung stellen zu können, ist ein Antrag auf Kostenübernahme von Assistenzleistungen bei dem zuständigen Sozialamt gestellt worden. Während der Bearbeitungszeit des Antrags bereitet Juewen Zhang in Zusammenarbeit mit den Assistierenden seine Bewerbungsmappe für die Eignungsprüfung der Hochschule
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und die Situation des Prüfungsgesprächs vor6. Parallel gilt es diesbezüglich mit dem betreffenden Lehrpersonal und dem Prüfungsamt mögliche Sonderregelungen oder Ersatzleistungen (Nachteilsausgleiche) auszuhandeln.
AUSBLICK Dass die Künstler*innen des Atelier Goldstein in der Lage sind, Kunstwerke von Rang zu schaffen, die durchaus bedeutsam für das zeitgenössische Kunstgeschehen sind, konnten sie in den letzten Jahren bereits beweisen. Kunst beruht nicht auf standardisierten Fähigkeiten, vieles an künstlerischer Produktion ist experimentell und intuitiv. Dies zeigt, dass die Vorstellungen davon, was jemand können muss, um Künstler*in zu sein, brüchig und willkürlich sind. Die Arbeit mit hochgradig begabten Künstler*innen mit Assistenzbedarf versetzt uns nicht nur in Staunen, sie bringt uns auch zu der Annahme, dass Kunst und Beeinträchtigung sich gegenseitig beflügeln können. Was uns zum Staunen bringt, ist die immer wieder überraschende künstlerische Leistung, verknüpft mit einer unerschöpflichen Ausdauer, einer intrinsisch verankerten Motivation, sich an etwas abzuarbeiten – und das über lange Zeit auch unter den widrigsten Umständen und trotz einer häufig biografisch erlebten Verneinung künstlerischer Fähigkeiten. Dieser Strom des künstlerischen Schaffens ist auch in der Beeinträchtigung zu verorten, denn trotz Ablehnung weiterzuarbeiten, zeugt von einem extremen künstlerischen Schaffensdrang. Durch ihre Arbeiten bringen die Künstler*innen uns zum Staunen und zum Nachdenken. Was aber, wenn eben diese Konfrontation von beachtlich begabten Künstler*innen mit Assistenzbedarf ganze Schulen und Hochschulen zum Staunen und zum Nachdenken bringen kann? Und was bedeutet es für eine Gesellschaft, wenn man anhand der Arbeit einer hochgradig befähigten Künstlerpersönlichkeit mit Assistenzbedarf merkt, dass Inklusion nicht bedeutet, dass sie problemlos dabei sein kann, sondern, dass man sie braucht? Im Aufeinandertreffen der Künstler*innen mit Schüler*innen und Studierenden zeigt sich das Hochinteressante dieser inklusiven Formen für die Gesellschaft: Wir brauchen Menschen mit Beeinträchtigung, denn sie sind für uns eine
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Die Aufnahme zum Kunsthochschulstudium ohne Hochschulreife besteht über den Nachweis einer hervorragenden künstlerischen Begabung: „Bei nachgewiesener hervorragender [...] künstlerischer Begabung kann auf eine Hochschulzugangsberechtigung für den betreffenden Studiengang verzichtet werden, sofern er mit einer Hochschulprüfung abgeschlossen wird. § 54 Abs. 4 HHG.
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Art Stolperstein. Wir denken anders über Kunst nach und wir denken anders über uns nach, wenn wir mit ihnen Kunst betrachten. Im Rahmen der dreijährigen Initiative des Atelier Goldstein sollen Erfahrungen dokumentiert und ausgewertet werden, um Strukturen zu schaffen, auf die die Künstler*innen auch über das Ende der Laufzeit hinaus zurückgreifen können. Konkret bedeutet das bezüglich einer Lehrtätigkeit, dass das Atelier Goldstein zukünftig in vermittelnder Funktion fungieren könnte, indem es Künstler*innen mit geistiger Beeinträchtigung mit der Institution Schule zusammenbringt und die Bedingungen ihrer Engagements aushandelt. Hinsichtlich des Hochschulstudiums könnte das Atelier Goldstein Anlaufpunkt für zukünftige Studierende mit geistiger Beeinträchtigung im Fachbereich Kunst werden und diesen in Form von struktureller und künstlerischer Beratung hilfreich sein. Dazu könnte beispielweise eine Mappenberatung zur Vorbereitung des Studiums zählen. Grundsätzlich ist es Ziel der Initiative, ein erweitertes Assistenzmodell herauszuarbeiten, das die Ernsthaftigkeit und Grundhaltung der im Atelier Goldstein praktizierten Methode in die jeweiligen Settings zu übertragen weiß. Denn auch hier wird deutlich, dass eine Sonderbegabung eine spezielle Art der Betreuung braucht: Basis der Vorgehensweise bleibt stets die Zusammenarbeit zwischen Künstler*in und einer Assistenz mit Expertenwissen auf dem jeweiligen Gebiet, die der künstlerischen Leistung mit Respekt begegnet und kreative Lösungsansätze für Herausforderungen der inhaltlichen und handwerklichen Arbeitsweise zu finden weiß – ausschließlich dadurch ist eine Arbeitsweise, die den Begriff inklusiv verdient, möglich und auch in die Institutionen hinein übertragbar.
LITERATUR Dannecker, Karin/Voigtländer, Wolfram (Hg.) (2011): KunstAußenseiterKunst. Berlin: Kunsthochschule Berlin-Weißensee. Luz, Viola (2012): Wenn Kunst behindert wird: Zur Rezeption von Werken geistig behinderter Künstlerinnen und Künstler in der Bundesrepublik Deutschland. Bielefeld: transcript Verlag. Palleit, Leander (2016): Inklusiver Arbeitsmarkt statt Sonderstrukturen: Warum wir über die Zukunft der Werkstätten sprechen müssen. Berlin: Deutsches Institut für Menschenrechte.
Inklusives Theater Erfahrungen aus der inner- und außerschulischen Praxis Susanne Henneberger & Jürgen Sihler
Inklusion ist ein Begriff, der über die Grenzen sozialwissenschaftlicher Fachkreise hinaus an Relevanz gewinnt und zunehmend in öffentlichen gesellschaftlichen Diskursen auftritt. Was bedeutet Inklusion, warum ist Inklusion wichtig und wo stößt sie an ihre Grenzen? Welche Akteur*innen sowie Institutionen sind notwendig, um Inklusion erfolgreich umzusetzen? In wissenschaftlichen Fachkreisen werden solche Fragen theoretisch vielfältig besprochen. WERKRAUM: Karlsruhe e.V. (www.werkraum-karlsruhe.de) engagiert sich für eine praktische Umsetzung von Inklusion. Der Verein gründete sich 2006, im gleichen Jahr als auch die UN-Behindertenrechtskonvention verabschiedet wurde, ein Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Beeinträchtigungen, in welcher das Recht auf Inklusion festgeschrieben ist. Die Konvention ist 2008 in Kraft getreten.
ENTSTEHUNGSGESCHICHTE DER INNER- UND AUSSERSCHULISCHEN INKLUSIVEN THEATERARBEIT WERKRAUM: Karlsruhe ist ein gemeinnütziger Verein, der in Karlsruhe und Umgebung inner- und außerschulisch soziale Projekte im Bereich Theater und Film initiiert und durchführt. Die Arbeit findet unter anderem in Schulen, Jugend- und Kulturzentren, sozialen Einrichtungen und Heimen statt, aber auch in den eigenen Räumlichkeiten. Zielgruppen sind Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit und ohne Beeinträchtigung, Bildungsbenachteiligung, Migrations-, Flucht- und/ oder LGBTTIQ- Hintergrund (Lesbian, Gay, Bisexual, Transsexuell, Transgender, Intersexuell und Queer). Inklusion meint die Teilhabe aller und ist für
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WERKRAUM: Karlsruhe seit der Gründung in der künstlerischen Arbeit ein wichtiges Anliegen. 2007 produzierte der Verein ein Theaterstück, das sich mit dem Thema Beeinträchtigung beschäftigte. „Die große Fahrt” war ein interaktives Mitspieltheaterstück, welches von zwei Schauspieler*innen in Grundschulklassen aufgeführt wurde. Die Kinder wurden mit all ihren Sinnen einbezogen und aktiv beteiligt. Sie erlebten, wie es ist, wenn man beeinträchtigt ist, nichts sehen oder hören kann oder von Geburt an mit einer infantilen Zerebralparese, einer Störung des Nerven- und Muskelsystems, lebt. In Zusammenarbeit mit einer Schule für Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung startete WERKRAUM: Karlsruhe dann 2008 das Theaterprojekt „Die gestohlenen Perlen”, ein integratives Projekt in einem Jugendzentrum. Integration meint das Hineinnehmen eines Menschen (z.B. Kinder und Jugendliche mit einer Beeinträchtigung) in ein bereits existierendes System (z.B. Jugendzentrum). Das System ändert sich nicht substantiell, sondern der integrierte Mensch muss sich anpassen (Sozialverband VdK Bayern 2018). Proben und Aufführungen fanden nicht in der Schule, sondern in einem Jugendzentrum statt, einem öffentlichen Raum, um Begegnung zu ermöglichen und die Akzeptanz für Menschen mit Beeinträchtigungen innerhalb der Gesellschaft zu fördern. Abbildung 1: Theaterprojekt „Die Besserwisser“
Quelle: WERKRAUM: Karlsruhe
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Das erste inklusive Theaterprojekt „Olympexpress” initiierte der Verein 2010 in Zusammenarbeit mit einem sonderpädagogischen Bildungszentrum in Karlsruhe. Inklusion ist eine Weiterführung der Integration und will von Anfang an ein gemeinsames System für alle Menschen, ohne dass jemand ausgegrenzt oder stigmatisiert wird (Sozialverband VdK Bayern 2018). Jugendliche mit Förderbedarf arbeiteten gemeinsam mit professionellen Künstler*innen und präsentierten ihre Performance aus Schauspiel, Musik und Tanz mit Musiker*innen der Kammerphilharmonie Karlsruhe. 2011 gründete WERKRAUM: Karlsruhe dann seinen ersten inklusiven Theaterspielclub, seitdem kamen drei weitere hinzu (vgl. Abb. 1). Die Theaterspielclubs finden wöchentlich in den eigenen Räumlichkeiten statt. In den Clubs spiegelt sich die Vielfalt unserer Gesellschaft. Zum Beispiel setzt sich die Gruppe des „Club 4“, einem Theaterspielclub ab elf Jahren, wie folgt zusammen: Ein Mädchen, das mit fünf Jahren aus Kasachstan adoptiert wurde und aufs Gymnasium geht, ein Junge aus Syrien, der vor zwei Jahren nach Deutschland geflohen ist und die Gemeinschaftsschule besucht, ein Junge aus der Ostukraine, der seit einem Jahr in Deutschland lebt und aufs Gymnasium geht, ein Junge mit atypischem Autismus, der in einer inklusiven Klasse einer Realschule ist, ein Mädchen mit Trisomie 21, die momentan die Gewerbeschule Durlach, eine berufsvorbereitende Einrichtung in Karlsruhe, besucht (vgl. www.bve-karlsruhe.de/home/ueber_die_bve.html) und ein Junge, in Deutschland geboren mit Wurzeln in Bangladesch. Außerdem zwei weitere Jungen aus Deutschland, einer davon besucht das Gymnasium, der andere die Waldorfschule (vgl. Abb. 2). Neben den Theaterspielclubs und insgesamt neun inklusiven Theaterprojekten in den letzten Jahren ermöglichte der Verein zwei berufsvorbereitende Bildungsmaßnahmen im Rahmen des persönlichen Budgets für Menschen mit Beeinträchtigungen. Außerdem ist WERKRAUM: Karlsruhe mit seiner theaterpädagogischen Arbeit auch immer wieder in inklusiven Klassen an Schulen vertreten. Ziel ist es unter anderem, kulturelle Bildungsarbeit zu leisten, um allen Teilhabe an Kultur zu ermöglichen und eine gerechtere Bildungsbeteiligung zu schaffen.
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Abbildung 2: Aktionstag für Inklusion
Quelle: WERKRAUM: Karlsruhe
ARBEITSWEISE, ERGEBNISSE UND FÖRDERUNG VON KOMPETENZEN Die Arbeitsweise von WERKRAUM: Karlsruhe basiert auf der gemeinsamen Entwicklung dramatischer Stoffe. Hierfür wird meist das Mittel der Theaterimprovisation genutzt. Bei der Erarbeitung der Theaterszenen und Stücke wählen die Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen die Themen selbst. Alle dürfen ihre Vorstellungen, Meinungen und Ideen in den künstlerischen Prozess einbringen. Individuelle, soziale und kulturelle Unterschiede spielen keine Rolle. Ob schulisch oder außerschulisch, es geht bei allen Projekten im Wesentlichen um die aktive künstlerische Mitgestaltung durch die Teilnehmenden. Ihre Interessen, Bedürfnisse und schöpferischen Impulse stehen im Vordergrund. Alles, was entsteht, wird nicht von der theaterpädagogischen Leitung oder Regie vorgegeben, sondern aus der spezifischen Gruppe der Teilnehmenden heraus im künstlerischen Aushandlungsprozess erarbeitet. Das setzt bei allen Beteiligten Offenheit und Neugier für die Beiträge der Anderen und auch Mut zu neuartigen Darstellungsformen voraus. Zu den Möglichkeiten vielfältiger und neuer Darstellungsformen schreibt z.B. Ute Pinkert im Rahmen eines Impulsvortrages: „Meine These ist, dass sich eine soziale Ästhetik jeweils in einer Stimmigkeit, einer gelungenen Wechsel-
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wirkung zwischen künstlerischer Idee und den sozialen Bedingungen der jeweiligen Gruppe herausbildet. Das heißt, dass in einer sozialen Ästhetik die konkreten Bedingungen der jeweiligen Gruppe in den theatralen Gestaltungsprozess einfließen und die Formgebung bestimmen. Damit wären innerhalb einer sozialen Ästhetik keine Formsprachen und Stilmittel prinzipiell auszuschließen. Und wenn verschiedene Gruppenzusammensetzungen immer wieder zu anderen ästhetischen Entscheidungen führen, dann müssten theaterpädagogische Projekte – heterogene Teilnehmer_innen vorausgesetzt – eigentlich die größten ästhetischen Überraschungen zu bieten haben.“ (Pinkert 2015, 10) Den Theatermacher*innen des Vereins ist die Förderung im Bereich der ästhetischen Bildung wichtig: das Kennenlernen, Erschaffen und Entwickeln theatraler Handlungen in Spielsituationen und deren Reflektion. Hat ein Teil der Gruppe einen szenischen Entwurf präsentiert, wird die Szene im Anschluss von den Zuschauenden reflektiert. Das schult sowohl Genauigkeit und Wahrnehmung beim Betrachten von inhaltlichen und ästhetischen Bezügen, als auch die Fähigkeit, produktives Feedback zu geben. „Was habe ich gerade gesehen? Was ist passiert? Was hat mich überrascht? Was habe ich nicht verstanden?” Die Aufgabe der Zuschauenden ist es, eine möglichst konkrete und genaue Beschreibung dessen zu geben, was sie gesehen und gehört haben. Die Schulung der Wahrnehmung zielt auf das im Spiel vorhandene Potenzial und die Möglichkeit, den kreativen Prozess durch wertschätzende Feedbacks zu unterstützen, ab. Eine individuelle Herausforderung beim Theaterspielen besteht in der hochkonzentrierten Hinwendung der einzelnen Spieler*innen auf die Motivation ihrer Figuren, bei gleichzeitiger Aufmerksamkeit auf die Interaktionen mit den anderen Figuren. Ein Stück kann damit auch als eine Art Partitur von mehr oder weniger geglückten Kommunikationsversuchen zwischen Personen verstanden werden. Wenn Handlung, Themen und Bezüge selbst entwickelt werden, fließen ganz automatisch die persönlichen Erfahrungen der Teilnehmer*innen in die szenischen Entwürfe mit ein und können im Schutz des Bühnenspiels bearbeitet werden. Dabei stehen aber nicht Sozialpädagogik oder Sozialtherapie im Vordergrund, sondern das Ringen um ästhetische und erzählerische Möglichkeiten mit allen Mitteln, die das Theater bietet und die den Beteiligten an Fähigkeiten zur Verfügung stehen. Der gesamte Arbeitsprozess fördert Selbstwahrnehmung, Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein. Die Teilnehmer*innen erweitern ihre sprachlichen und körperlichen Ausdrucksmöglichkeiten, ihre Kommunikations- und Teamfähigkeit und entwickeln mehr Flexibilität und Risikobereitschaft. Dabei werden Hemmungen abgebaut, Kreativität und Phantasie geschult und ästhetische Kompetenz gefördert – allesamt dienliche Fähigkeiten für die kunstschaffende Thea-
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terpraxis, aber auch für die sach- und situationsgerechte Bewältigung des Alltags jenseits jeder Kunstausübung (vgl. Abb. 3). Abbildung 3: Theaterstück „Traumraum“
Quelle: WERKRAUM: Karlsruhe
AUSSERSCHULISCHE PRAXISBEISPIELE „Patchwork“ – Ein inklusives Theaterprojekt mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen zwischen elf und neunzehn Jahren Für das Theaterstück „Patchwork“ arbeiteten elf Jugendliche und junge Erwachsene über ein halbes Jahr zu den Themen Familie, Pubertät, Sexualität, Homosexualität und interkulturelle Konventionen, womit unterschiedliche Normen, Einstellungen und Denkweisen verschiedener Kulturen gemeint sind. Am Ende führten sie dreimal vor einem öffentlichen Publikum auf. Weitere acht Jugendliche waren zwischenzeitlich zusätzlich am Projekt beteiligt, sie engagierten sich in den Bereichen Kostüm, Requisite, Technik, Grafik und Werbung. Zu Beginn traf sich die Gruppe einmal pro Woche und setzte sich in Improvisationen mit den sensiblen und zum Teil tabuisierten Themen künstlerisch auseinander. Durch das Einbringen eigener Erlebnisse, Erfahrungen, Haltungen und Ideen entwickelten sie gemeinsam Handlungen, Figuren und Texte. Das entstan-
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dene künstlerische Material wurde später während der Intensivproben in den Ferien und an den Wochenenden präzise erarbeitet und für die Inszenierung fixiert. Die Entwicklung eines Mädchens mit Trisomie 21 war während des halben Jahres gut zu beobachten. Sie war mit ihren neunzehn Jahren die Älteste in der Gruppe und fand von Anfang an durch ihre fröhliche Art, ihren speziellen Humor und ihr angenehmes Wesen Unterstützung und Akzeptanz innerhalb der gesamten Gruppe. Sie hatte viele kreative Ideen, welche sie in den Prozess der Stückentwicklung einbringen konnte. Zu Beginn des Projektes fiel es ihr allerdings schwer, auch die Ideen anderer zu akzeptieren und sich während der Theaterimprovisationen darauf einzulassen. In den Probenpausen blieb sie meistens für sich allein, aber ohne unglücklich darüber zu sein. Sie beobachtete alles um sich herum ganz genau. Mit den Jungen verstand sie sich besser als mit den Mädchen. Wenn sie sich in den Pausen doch einmal unterhielt, dann mit den Jungen; wenn sie Spielangebote akzeptierte, dann von den Jungen. Nachdem die Stückentwicklung abgeschlossen war und der entstandene Text gelernt werden sollte, brauchte sie mehr Zeit als ihre Mitspieler*innen, für das Lernen von Handlungsabläufen galt das gleiche. Kinder, Jugendliche und Erwachsene, die in inklusiven Gruppen zusammenarbeiten, lernen mit Diversität umzugehen. Die Stärken und Schwächen der anderen mitzutragen und mitzudenken, um gemeinsam ein Ziel zu erreichen – in diesem Fall eine gelungene Theateraufführung. Als das Mädchen zu Beginn die Ideen der anderen nur selten akzeptierte und sich während der Improvisationen nicht an zuvor in der Gruppe abgesprochene Verabredungen hielt, akzeptierten die Mitspieler*innen dieses Verhalten für den Moment und schulten damit gleichzeitig ihre Flexibilität, mit überraschenden, nicht geplanten Momenten auf der Bühne umzugehen. Während der Feedbackrunden im Anschluss an die Improvisationen wurde dann offen angesprochen, dass ein solches Verhalten problematisch ist, da ein Nichteinhalten von Verabredungen das Vertrauen in sie als Spielpartnerin mindert. Theaterarbeit ist immer auch Teamarbeit. Durch diese Feedbackrunden, aber auch durch Aufwärmübungen und Theaterspiele zum Thema „Akzeptieren“ konnten über das halbe Jahr Blockaden gelöst und die Teamfähigkeit verbessert werden. Da das Mädchen bis kurz vor der Premiere Schwierigkeiten hatte, textsicher auf der Bühne zu agieren, unterstützten sie ihre Mitspieler*innen, indem sie ihre Texte mitlernten, um gegebenenfalls einspringen zu können, falls während der Aufführungen Text vergessen werden würde. Damit fühlte sie sich sicher und gut aufgehoben in der Gruppe und während des Spiels. Auch die anderen erweiterten ihre Kompetenzen. Die Aufführungen waren ein Erfolg. Alle besuchen
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seit dem Projekt die Theaterspielclubs von WERKRAUM: Karlsruhe und entwickeln ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten weiter. Theaterspielclubs Der Deutsche Bühnenverein brachte 1971 eine „Studie zum Kinder – und Jugendtheater“ heraus, die unter anderem das Ziel verfolgte, die Kinder- und Jugendarbeit an den deutschen Theatern zu fördern, was auch die Idee einschloss, „das aktive Theaterspiel der Jugend zu fördern“ (Schöndienst 1971, 7). Daraufhin entwickelte sich in Westdeutschland die sogenannte Jugendclubbewegung. Als Vorreiter wären hier unter anderen der „Jugendclub Kritisches Theater“, der von dem Theatermacher Hans Günther Heyme am Theater Köln gegründet und später am Staatstheater Stuttgart weitergeführt wurde (Rockoper „H“) und die von Alexander Brill und Ingo Waszerka gegründeten Schülerclubs am Schauspiel Frankfurt (Tankred Dorst: „Grindkopf“, „Parzival“) zu nennen. In der Folge entstanden vielerorts an Stadt- und Staatstheatern Jugendclubs, die jährlich mit eigenständigen Inszenierungen herauskamen oder deren Teilnehmer*innen in Inszenierungen des regulären Abendspielplans eingesetzt wurden. Die Wirkung, vitale Ausstrahlung und Dynamik, die von größeren Gruppen von Jugendlichen auf der Bühne ausging, war schnell erkannt worden. Als WERKRAUM: Karlsruhe 2006 von Theaterschaffenden gegründet wurde, waren diese bereits jahrelang an städtischen Bühnen tätig gewesen, kannten also auch die Jugendclubstruktur der Theaterspielclubs. Sie wussten aber auch, dass Kinder und Jugendliche mit Bildungsbenachteiligung selten bis gar nicht den Weg in die Jugendclubs der etablierten Theaterhäuser fanden. Wer in einem Stadt- oder Staatstheater in einen Jugendclub ging, war schon frühzeitig im familiären und/oder sozialen Umfeld mit Kunst oder Theater in Berührung gekommen und besuchte in der Regel das Gymnasium. WERKRAUM: Karlsruhe rief 2008 integrative Theaterspielclubs aus, um vor allem Schüler*innen der Haupt- und Realschulen, Schüler*innen mit Migrationshintergrund, Kinder und Jugendliche aus finanziell schwächer gestellten Familien und generell Menschen mit erschwertem Zugang zum Kulturbetrieb der etablierten Theater in seinen Verein zu integrieren. Zu Beginn entstanden zunächst homogene Gruppen, die von dem kulturellen Angebot des Vereins angesprochen wurden. Beispielhaft wären die Teilnehmer des ab 2008 stattfindenden Theaterspielclubs „Die Südstadtjungs“ zu nennen, einer Gruppe von männlichen Jugendlichen mit erhöhtem Förderbedarf, Migrationshintergrund und Bildungsbenachteiligung, die, zum Erstaunen einiger Sozialpädagogen, welche die Jugendlichen aus anderen Kontexten kannten, gerne Theater spielten. Weiterhin
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der „Girlsclub“, der ausschließlich aus Mädchen bestand, die alle auf das Gymnasium gingen, und der „Club 3“, besucht von Jugendlichen mit Beeinträchtigungen. Von Inklusion war damals noch keine Rede. Die Entwicklung der inklusiven Theaterspielclubs von W ERKRAUM : Karlsruhe Der erste inklusive Theaterspielclub „Club 3“ wurde 2011 gegründet. Er bestand zu Beginn aus drei Mädchen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen, einem Mädchen mit Trisomie 21, einem mit Epilepsie und Sehschwäche und einem Mädchen mit Epilepsie und Lernschwäche. Der Theaterspielclub war anfangs nicht finanziert, also wurde er ehrenamtlich geleitet, bis der Verein die erste Förderung erhielt. WERKRAUM: Karlsruhe engagierte für das erste Projekt einen professionellen Schauspieler, der mit den Mädchen gemeinsam im Theaterstück spielte. Später kam dann ein weiteres Mädchen aus Ungarn dazu. Sie war erst seit kurzem in Deutschland und sprach kaum Deutsch. Bis 2013 stieg die Teilnehmerzahl auf zehn und gemeinsam wurden Theaterstücke produziert, gefördert von Bund, Land oder Stadt. Der Club war für die Teilnehmer*innen kostenfrei, um ein niederschwelliges Angebot zu ermöglichen. Die Gruppe war nun inklusiv. Die Arbeit des Vereins hatte sich herumgesprochen, weshalb der Aufbau weiterer inklusiver Theaterspielclubs nicht schwerfiel (vgl. Abb. 4). Die Clubs geben den Mitarbeitern von WERKRAUM: Karlsruhe die Möglichkeit, die künstlerische Entwicklung der Kinder und Jugendlichen über Jahre zu begleiten und zu beobachten. Einige entscheiden sich nach ihrem Schulabschluss auch beruflich im Bereich Theater zu arbeiten. Junge Erwachsene mit Beeinträchtigungen stoßen meist an Grenzen, wenn es darum geht, den Schauspielerberuf professionell auszuüben. Natürlich gibt es Schauspieler*innen mit Beeinträchtigungen auf deutschen Bühnen, aber zu wenige. Beispiele hierfür wären zwei Ensemblemitglieder des Staatstheaters Darmstadt, die im Rollstuhl sitzen: Samuel Koch, der seit seinem Unfall bei „Wetten, das...“ gelähmt ist und Jana Zöll, die die Glasknochenkrankheit hat. Um diese Entwicklung zu unterstützen, beteiligt sich der Verein auch an der Durchführung von berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahmen.
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Abbildung 4: Theaterprojekt „Planet B“
Quelle: WERKRAUM: Karlsruhe
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Berufsvorbereitende Bildungsmaßnahmen (BVB) für Menschen mit Beeinträchtigungen WERKRAUM: Karlsruhe hat bisher zwei von der Agentur für Arbeit geförderte berufsvorbereitende Bildungsmaßnahmen über zwei bis drei Jahre ermöglicht (Bundesagentur für Arbeit 2012). Dabei ging es für die jungen Erwachsenen mit Beeinträchtigung darum, praktische berufliche Erfahrungen im Theaterbereich zu sammeln und dadurch eine bessere Berufswahl treffen zu können oder ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten weiterzuentwickeln, um besser auf eine Ausbildung oder den Einstieg in einen künstlerischen Beruf vorbereitet zu sein. Folgendes Fallbeispiel zeigt die künstlerische und berufliche Entwicklung einer jungen Erwachsenen, die WERKRAUM: Karlsruhe seit 2010 besucht. Sie ist heute dreiundzwanzig Jahre alt und hat im Alter von 15 Jahren bei WERKRAUM: Karlsruhe begonnen Theater zu spielen. Die junge Frau hat Epilepsie und bekommt Absencen, was bedeutet, dass sie sekundenweise das Bewusstsein verliert. Dazu kommt eine Lernschwäche. Während ihrer ersten Berührungen mit Theater fiel auf, dass ihr die kreative Arbeit auf der Bühne leichtfiel und ihr Spaß bereitete. Dies machte sich durch eine Verminderung oder das völlige Ausbleiben der Absencen während des Theaterspielens bemerkbar. Sie begann, regelmäßig in einem der inklusiven Theaterclubs zu spielen, konnte dadurch auch außerhalb der Sonderschule Gleichaltrige treffen und fühlte sich mehr in der Gesellschaft „angekommen“. Es wurde klar, dass nur ein kreativer Beruf für sie in Frage kam. Zusammen mit ihr und ihren Eltern begann WERKRAUM: Karlsruhe durch eine berufsvorbereitende Bildungsmaßnahme Perspektiven zu entwickeln, um herauszufinden, welcher Beruf ihr die erfolgversprechendsten Aussichten für die Zukunft bieten könnte. Dozenten aus den Bereichen Schauspiel, Musik, Malerei, Film, Tanz und Schneiderei arbeiteten mit ihr. Sie übernahmen auch die Weiterbildung in den Fächern Englisch, Mathematik und Allgemeinbildung. Im Schneiderhandwerk zeigten sich nach zwei Jahren die größten Chancen. In Karlsruhe gibt es eine berufliche Schule, welche in diesem Bereich ausbildet. Die Schneiderin, die die junge Frau in der BVB-Maßnahme unterrichtete, erklärte sich bereit, sie in ihrem Atelier praktisch auszubilden. An der Berufsschule bekam sie einen Nachteilsausgleich, was in ihrem Fall bedeutete, während der Prüfungen mehr Zeit zur Verfügung zu haben. Prüfungsfragen und Texte wurden ihr vorgelesen. WERKRAUM: Karlsruhe half beim Lernen mit dem Mittel Theater. Der Unterrichtsstoff wurde zum Inhalt von Improvisationen und durch ständige Wiederholungen wie ein Theatertext auswendig gelernt. Die junge Frau hat alle
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Prüfungen bestanden und wird demnächst im Atelier der Dozentin als feste Mitarbeiterin übernommen. Über die Jahre sind alle an der Maßnahme Beteiligten immer wieder an Grenzen gestoßen, die nur mit viel Engagement aller Unterstützer*innen zu überwinden waren. Auch ohne die Unterstützung der Agentur für Arbeit wäre der berufliche Weg so nicht möglich gewesen, aber Inklusion ist auch immer eine Frage der Haltung.
INNERSCHULISCHE PRAXISBEISPIELE In den außerschulischen Theaterspielclubs und Projekten entscheiden sich Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene freiwillig für die gemeinsame künstlerische inklusive Arbeit. WERKRAUM: Karlsruhe ist aber auch immer wieder an Schulen in inklusiven Klassen, um theaterpädagogisch zu arbeiten. Inklusion gelingt nicht in allen Klassen. Die folgenden zwei Beispiele zeigen, wie z.B. Theaterpädagogik Lehrkräfte und Schüler*innen in ihrer Arbeit unterstützen kann und wo sie an ihre Grenzen stößt. Theaterarbeit in einer inklusiven zweiten Klasse an einer Grundschule in Karlsruhe An der Grundschule führte eine Theaterpädagogin an vier Terminen einmal wöchentlich Kurse für jeweils zwei Schulstunden durch. Beim ersten Termin in der Klasse fiel ihr schon zu Beginn auf, dass ein Mädchen nicht sprach. Das Mädchen litt unter Mutismus, einer Kommunikationsstörung, was in ihrem Fall bedeutete, dass sie nicht in der Lage war, vor ihren Mitschüler*innen im Unterricht zu sprechen. Während des ersten theaterpädagogischen Kurses entwickelten die Schüler*innen Szenen, die sie sich gegenseitig vorspielten. Das Interesse des Mädchens an Theater war groß, sie beteiligte sich während der Arbeit in den Gruppen, brachte ihre Ideen ein und war in der Lage zu sprechen, jedoch nicht während der Präsentationen; sie spielte zwar mit, aber ohne zu sprechen. Für ihre Klassenkamerad*innen war das ein großes Problem. Sie konnten einfach nicht verstehen, warum sie während der Proben sprach, aber während der Präsentationen nicht. Beim dritten Termin in der Klasse machte die Theaterpädagogin folgende Übung: Jedes der Kinder sollte eine Figur entwickeln und sich für diese einen Namen, ein Alter und einen Beruf überlegen. Zu dritt kamen die Kinder dann auf die Bühne und stellten sich in ihrer jeweiligen Figur vor. Das Mädchen mit Mu-
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tismus wollte sich unbedingt beteiligen. Sie stand vor ihrer Klasse und versuchte zu sprechen, alle warteten. Nach fünf Minuten der Stille fragte die Theaterpädagogin nach, ob sie es weiter versuchen wolle, das Mädchen nickte mit dem Kopf. Nach sieben Minuten fragte die Lehrerin, ob die Übung abgebrochen werden sollte, sie schüttelte mit dem Kopf. Nach fünfzehn Minuten stellte sie ihre Figur vor, zur Überraschung aller. Nicht nur für das Mädchen stellten diese fünfzehn Minuten eine enorme Anstrengung dar, auch für ihre Mitschüler*innen war das Warten und Ruhigbleiben eine enorme Herausforderung. Dieser Moment stellte sich als Schlüsselmoment für das Mädchen heraus. Sowohl während der weiteren Theaterarbeit, als auch im Regelunterricht war sie nun in der Lage zu sprechen und sich zu beteiligen. Theaterarbeit in einer inklusiven sechsten Klasse an einer Realschule in Karlsruhe In einer inklusiven Klasse der Realschule mit insgesamt achtundzwanzig Schüler*innen, von denen fünf Jungen verhaltensauffällig und sehr aggressiv waren, fanden vier theaterpädagogische Kurse über einen Zeitraum von vier Monaten statt. Alle fünf Schüler hatten eine Lernschwäche. Für ein paar Stunden pro Woche wurden die Lehrer*innen von einer Integrationshilfe unterstützt. Die theaterpädagogischen Kurse wurden gebucht, um das soziale Klima in der Klasse durch die Förderung der Sozialkompetenzen zu verbessern. Unterrichten war zu diesem Zeitpunkt kaum mehr möglich, da zu viele Konflikte unter den Schüler*innen offen ausgetragen wurden. Der Lärmpegel war hoch und das Lernklima schlecht. Als Theaterpädagog*in in einer solchen Klasse zu arbeiten, ist eine große Herausforderung und während nur vier Terminen, die zeitlich auch noch weit auseinander liegen, können kaum Erfolge erzielt werden. In diesen Terminen konzentrierte sich die Theaterpädagogin darauf, die Selbstkompetenz der unauffälligen Schüler*innen zu stärken, die sich zunehmend passiv verhielten. Die Theaterpädagogik kann in einer derartigen Klasse als Teil eines Präventionskonzeptes mit eingebunden werden, wird aber nicht das Wundermittel sein, das alle Probleme löst. In einer solchen inklusiven Klasse werden zusätzlich weitere Ressourcen gebraucht, wie z.B. eine dauerhafte Integrationshilfe, Sozialkompetenztraining etc. Sonst stößt Theaterpädagogik an ihre Grenzen, da die äußeren Bedingungen die Arbeit stark erschweren.
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FREIRÄUME IM SCHULUNTERRICHT FÜR ÄSTHETISCHE BILDUNG „Ein ‚inklusives Angebot‘ mit Kultureller Bildung in der Schule bedeutet ganz einfach: Praxis der ‚Kunst und Kultur für alle‘ realisieren. Kinder, Jugendliche, Lehrkräfte, Assistenten*innen, Eltern und die ganze Schulumgebung sollen einzeln und im Zusammenwirken etwas von der kreativen Chance des künstlerischen Tuns im Alltag mitbekommen. Aber, wie macht man so etwas unter Rahmenbedingungen, wie sie in der Schule heute gegeben sind?“ (Braun 2013, o.S.)
Inklusion ist keine Sache, die, von oben verordnet, einfach funktioniert. Inklusion bedarf der Mitwirkung der gesamten Gesellschaft und es sind in hohem Maße personelle und finanzielle Ressourcen nötig. Auch externes Personal kann notwendig werden. Schulleitungen sollten im Rahmen des Unterrichts Freiräume für Kooperationen mit Kunst- und Theaterschaffenden, außerschulischen Trägern wie Vereinen und Initiativen etablieren, da sie damit ihren Schüler*innen erweiterte Erfahrungen des kreativen Gestaltens ermöglichen. Talente und spezifische Fähigkeiten können besser erkannt und gefördert werden. Zudem können Lehrer*innen in den Theaterarbeiten andere Seiten an ihren Schüler*innen entdecken. Frei von Schulfächern oder Notengebung fällt in einem künstlerischen Projekt der persönlichere Austausch mit den Schüler*innen leichter. Abbildung 5: Theaterprojekt „Stadtteilen“
Quelle: WERKRAUM: Karlsruhe
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KREATIVITÄT GRENZENLOS!? Wenn das Talent und die Kreativität einer Person nicht erkannt und gefördert werden, bleibt die Person weit hinter ihren Möglichkeiten zurück und Talent und Kreativität verkümmern. Dies gilt es zu verhindern. WERKRAUM: Karlsruhe wird sich daher weiterhin mit öffentlichen, sozialen und kulturellen Einrichtungen und Unternehmen vernetzen, um inklusive Theaterprojekte zu initiieren und durchzuführen und sich bei Fachtagungen und Kongressen künstlerisch engagieren, um damit Inklusion zu realisieren und in die Öffentlichkeit zu tragen (vgl. Abb. 5).
LITERATUR Braun, Elisabeth (2013): Kulturelle Bildung – direkte Wege zur Inklusion in der Schule? In: Onlinemagazin „Kooperationen und Bildungslandschaften“. www.bkj.de/om/artikel/id/7886.html (Zugriff am: 20.09.2018) Bundesagentur für Arbeit (2012): Fachkonzept für berufsvorbereitende Bildungsmaßnahmen nach §§ 51 ff. SGB III (BvB 1 bis 3). con.arbeitsagentur. de/prod/apok/ct/dam/download/documents/dok_ba013437.pdf (Zugriff am: 20.09.2018) Pinkert, Ute (2015): Jugendclubs am Theater – Kartierung eines theaterpädagogischen Formates. Impulsvortrag zum Fachtag „10 Jahre Klubszene“ am 01.07.2015 in Podewil. www.was-geht-berlin.de/sites/default/files/ vortrag_ute_pinkert_jugendclubs_am_theater.pdf (Zugriff am: 20.09.2018) Schöndienst, Egon (1971): Studie zum Kinder- und Jugendtheater. Köln: Deutscher Bühnenverein. Sozialverband VdK Bayern (2018): Inklusion und Integration. www.vdk.de/ bayern/pages/26741/inklusion_und_integration (Zugriff am: 17.09.2018)
Reflexionen
Ritual und Shared Intentionality in der musikalischen Praxis Ritualtheoretische Annäherung an inklusive Entwicklungen Juliane Gerland
EINLEITUNG Dieser Beitrag setzt sich mit dem Ritual als Ausgangspunkt einer möglichen Beschreibung gemeinsamen Musizierens von Menschen mit und ohne sichtbarer Behinderung auseinander. Ziel ist die Erarbeitung eines theoriegestützten Erklärungsmodells für die Beobachtung, dass gemeinsames Musizieren als probates Mittel für inklusive Prozesse in Bildung und Gesellschaft gehandelt wird. Diese Annahme wird durch eine theoretische Rückbindung erklärt. Gleichzeitig soll die theoretische Fundierung Ausgangspunkt für mögliche folgende empirische Untersuchungen im Kontext Musik und Inklusion sein. Dazu werden, unter Bezugnahme auf die Arbeiten von Michael Tomasello zum Konzept der Shared Intentionality, die Strukturmerkmale und Funktionskategorien von Ritualen auf die Übertragbarkeit in Situationen des inklusionsorientierten gemeinsamen Musizierens untersucht. Grundlegendes Ziel ist es, die Verbindung der Themen Inklusion und künstlerische Praxis für eine gegenstandsangemessene wissenschaftliche Auseinandersetzung handhabbarer zu gestalten.
KUNST, KULTUR UND INKLUSION: ZUSAMMENHÄNGE UND WIDERSPRÜCHE Betrachtet man die gängigen Definitionen und Lesarten der Terminologie Inklusion unabhängig von Handlungsfeld oder Herkunftsdisziplin, wird deutlich, dass es um die Frage geht, wie unterschiedlichen Individuen Zugang zu und Teilhabe
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an gesellschaftlichen Systemen ermöglicht werden kann. Damit eng verbunden sind Fragen nach Gerechtigkeit sowie Reflexion und Kritik von Machstrukturen. Besonders im Fokus sind, angestoßen durch die UN-Behindertenrechtskonvention, die Lebensbedingungen von Menschen mit Behinderung. In der breiten Öffentlichkeit wird Inklusion häufig vor allem unter bildungspolitischen Aspekten betrachtet, da die Frage nach inklusiver Schulentwicklung dauerhaft große mediale Beachtung erfährt. Anzustreben, so der generelle Konsens, sind Chancengerechtigkeit, die Wertschätzung von Vielfalt sowie das Reflektieren und Hinterfragen von Routinen im Denken, Handeln und Bewerten. Inklusionsorientierte Gesellschaftsentwicklung erfordert auf der Makro- und Meso-Ebene einen strukturellen Rahmen für Veränderungen, der sich für eine Gesellschaft zwar zunächst top-down initiieren lässt – beispielsweise durch die Ratifizierung der UN-BRK, durch landes- bzw. bundesweite Aktionspläne für Inklusion, sowie kommunale Pläne, durch Staatenberichte und Monitoring. Die Frage, ob und wie Menschen in den unterschiedlichen Teilsystemen subjektiv tatsächlich ankommen, stellt sich jedoch eher auf der Mikroebene. Die gelingende Umsetzung inklusionsorientierter Bemühungen muss letztlich auf individueller, bzw. interaktionaler Ebene bottom-up umgesetzt werden, damit jener topdown initiierte strukturelle Rahmen nicht leer bleibt. Bringt man Inklusion mit dem Kontext des Künstlerisch-Ästhetischen zusammen, erfährt der ohnehin komplexe Gegenstand Inklusion eine weitere – wiederum komplexe – Dimension, denn zunächst ist Inklusion eben ein Topos aus einem sozial- oder einem kulturwissenschaftlichen Bezugssystem und nicht aus einem künstlerischen. Trotz dieser verschiedenen und sehr unterschiedlichen Bezugssysteme werden Inklusion und künstlerische Praxis regelmäßig und aus unterschiedlichen Anlässen in einem Atemzug genannt (vgl. Tab. 1). Die Zusammenführung der Themen Inklusion und ästhetisch-künstlerische Praxis ist häufig mit positiven Erwartungen verbunden. Diese positiven Erwartungen variieren abhängig vom Anlass. Bezogen auf den schulischen Kontext lassen sich etwa Erwartungskonstruktionen finden, dass im inklusiven Unterricht zumindest das Gemeinsame Lernen in den künstlerischen Fächern tatsächlich ein Gemeinsames ist, während es in Mathematik möglicherweise als weniger sinnvoll erachtet wird – und Kinder mit Förderbedarf separat unterrichtet werden. Spürbar wird die Annahme, dass künstlerisch-ästhetische Handlungsfelder besonders geeignet sind, um inklusive Strukturen zu etablieren. Hier wird meist etwas indifferent beispielsweise auf die verbindende Qualität von Musik hingewiesen (vgl. Dreßler 2017, 203). Ein entsprechender fachlicher oder sozialer Mehrwert lässt sich aber aus der empirischen Forschung zu inklusivem Musikunterricht bisher nicht ablesen, da diesbezügliche Forschungsarbeiten häufig
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eher problemorientiert, bzw. eher auf strukturell-didaktischer Ebene vorgehen als auf inhaltlicher Ebene (vgl. bspw. Hirte 2017). Tabelle 1: Anlässe zur thematischen und systematischen Verbindung von Inklusion und ästhetisch-künstlerischer Praxis Strukturellinstitutionelle Anlässe • inklusionsorientierte Entwicklung von Bildungsinstitutionen • inklusionsorientierte Entwicklung von Institutionen des Kulturbetriebs
Fachdidaktische Anlässe • Entwicklung einer inklusionssensiblen Methodik und Didaktik in den künstlerischen Schulfächern • Implementierung inklusiver Settings in bisher nicht inklusionsorientierten Strukturen der außerschulischen Kulturellen Bildung
Inhaltlichkünstlerische Anlässe • Entwicklung inklusiver Prozesse in künstlerisch-ästhetischen Praxiszusammenhängen • Veränderung ästhetisch-künstlerischer Prozesse, Praktiken und Produkte in/durch inklusive(n) Struktur(en)
Quelle: eigene Darstellung
Worauf gründen die geschilderten positiven Wirkungserwartungen? Was bieten ästhetisch-künstlerische Praxen, was nicht-künstlerische Praxen nicht bieten – außer dem, dass sie eben künstlerische Praxen sind, mitsamt ihren spezifischen Eigenlogiken, die aber höchstens mittelbar anschlussfähig oder gar übertragbar für nicht-künstlerische Praxen sind? Um einen solchen Anschluss oder eine Übertragbarkeit in nicht-künstlerische sondern soziale Bezugssysteme nachvollziehen zu können, sollen zunächst die sozialen Strukturen in künstlerischen Praktiken in den Blick genommen werden. Hier können zwei Interpretationsarten identifiziert werden: Zum einen lassen sich künstlerisch-ästhetische Praxen differenz- und distinktionslogisch erklären. Betont wird hier die Notwendigkeit spezifischer Kenntnisse und Expertisen – im Sinne des Kulturellen Kapitals nach Bourdieu (vgl. Bourdieu 2001). Es geht um eine Profilierung und Abgrenzung durch künstlerische Praxen, die Produktion von etwas Außerordentlichem, eine Grenzziehung zwischen Nicht-Alltäglichem und Alltäglichem durch die zuvor genannten Kompetenzen und Kenntnisse. Diese Argumentationslinie lässt sich – gerade in künstlerischen Kontexten – bis zur Elitenbildung weiterdenken. Hier wird be-
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wusst und zielgerichtet Distinktion betrieben und folglich ist hier die Wahrscheinlichkeit der (Re-)Produktion von Exklusionsmechanismen besonders hoch. Ein alternatives Erklärungsmuster sind die zuvor als verbindend beschriebenen Qualitäten künstlerischen Handelns, also die noch zu erklärenden besonderen Interaktionsqualitäten im ästhetisch-künstlerischen Handlungsfeld. Diese beiden Sichtweisen wirken zunächst eher unvereinbar: auf der einen Seite die Betonung des elitären, distinktionsbezogenen Kunstverständnisses – auf der anderen Seite die Betonung der verbindenden Wirkung ästhetisch-künstlerischer Praktiken. Beide Positionen sind in schulischen und außerschulischen Settings Kultureller Bildung durchaus präsent. Im Sinne einer gegenstandsangemessenen wissenschaftlichen Auseinandersetzung ergibt sich folglich die Frage nach einem theoretischen Bezugsrahmen, der es ermöglicht, die Position der Interpretation künstlerischer Praxen als „das Besondere“ und gleichermaßen die Position der Interpretation künstlerischer Praxen als etwas Gemeinschaftsstiftendes zu integrieren. Eine analytische Auseinandersetzung mit der Verbindung der Themen Inklusion und künstlerische Praxis scheint angezeigt, da es prinzipiell um zwei unterschiedliche Bezugssysteme geht. Inklusion ist zunächst ein gesellschaftliches, soziales oder in Bildungskontexten auch ein pädagogisches Thema – aber kein genuin künstlerisches. Bislang ist die Forschungslage im Themenfeld Inklusion und künstlerische Praxis noch recht unausgewogen aufgestellt. Bei einer steigenden Anzahl von inklusionsorientierten Projekten im künstlerischen Handlungsfeld hinkt die Zahl entsprechender Forschungsarbeiten hinterher. Gefordert werden an unterschiedlichen Stellen empirisch fundierte Aussagen über inklusive Entwicklungen – auch im Handlungsfeld Kunst und Kultur. Aktuell vorliegende Forschungsarbeiten orientieren sich häufig an der empirischen Bildungsforschung oder haben einen explorativen und deskriptiven Charakter, entsprechend der Situation und der Dynamik des Handlungsfelds (vgl. dazu auch Gerland 2018). Die Ebene des individuellen Erlebens von Inklusion, bzw. der interaktionalen Umsetzung in ästhetisch-künstlerischen Kontexten und der besonderen Interaktionsqualität hingegen ist bislang eher wenig untersucht. Im Folgenden sollen entsprechende Überlegungen am Beispiel des gemeinsamen Musizierens ausgeführt werden.
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SYNCHRONIZITÄT UND SHARED INTENTIONALITY IN DER MUSIKALISCHEN PRAXIS Unterschiedliche empirische Untersuchungen zur Praxis des gemeinsamen Musizierens nehmen die spezifische Erlebensqualität von „Gemeinsamkeit“ während des Musizierens unter verschiedenen Gesichtspunkten in den Blick. Sie tragen dazu bei, das gemeinschaftsbezogene Erfahrungswissen, das in der Praxis des gemeinsamen Musizierens entsteht, erklärbar zu machen. Der Frage nach dem, was beim gemeinsamen Musizieren eigentlich geschieht, wird hier unter musikalischen, psychologischen und emotionalen Aspekten nachgegangen. Durch die Analyse der entsprechenden zu Grunde liegenden Muster und Strukturen kann solches erfahrungsgebundenes und schwer formalisierbares, implizites Wissen empirisch fassbarer und in der Folge kommunizierbarer werden. So belegen Vickhoff et al. (2013) in einer Untersuchung zum Chorgesang, dass das gemeinsame Singen u.a. zur Angleichung der Pulsfrequenz der Sänger*innen führt, und zwar deutlicher, als sich das mit der an die Phrasierung angepasste Atmung erklären lässt. In der Interpretation ihrer Ergebnisse vermuten die Autor*innen eine funktionale Rolle des gemeinsamen Singens hinsichtlich der Entstehung gemeinsamer Sichtweisen. Sie führen aus, dass das gemeinsame Singen dazu führen kann, eine egozentrisch determinierte Position zugunsten einer Wir-Perspektive aufzugeben. Diese Wir-Perspektive sei vermutlich auch auf außermusikalische Zusammenhänge übertragbar. Eine andere Form von Synchronisation während des Musizierens ist Gegenstand der Untersuchungen von Sänger, Müller und Lindenberger (2012). Untersucht werden neurophysiologische Prozesse während des Instrumentalspiels. Die Autor*innen belegen, dass sich während des Musizierens bei den Mitgliedern von Gitarrenduos hirnphysiologische Prozesse synchronisieren. Sänger und Kollegen bestätigen dies, sowohl für unisono-Spiel als auch für zweistimmiges Spiel. Darüber hinaus bestätigen sie diese Synchronisation als konstitutiven Faktor für als gelingend empfundene musikalische Performanz. Weiter finden sich auch Studien, die einen Fokus auf sozial-emotionale Aspekte des gemeinsamen Musizierens richten. So belegen Kirschner und Tomasello (2010), dass sowohl Mädchen als auch Jungen nach einer Intervention des gemeinsamen Musizierens hilfsbereiter waren, mehr Empathie sowie größeren sozialen Einsatz zeigten, als die Kinder in der Kontrollgruppe. Außerdem tendierten die Kinder nach der musikbezogenen Intervention signifikant häufiger zu kooperativen Problemlösungsstrategien. Tomasello setzt sich in anderen Arbeiten intensiv mit dem Phänomen der zwischenmenschlichen Kooperation auseinander und begründet den Evolutions-
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vorteil des Homo Sapiens im Wesentlichen mit der Fähigkeit zur Kooperation (vgl. Tomasello 2007). Unter anderem beschreibt er mit seinem Konzept der shared intentionality, was eigentlich zwischenmenschliche Interaktion von der Kooperation anderer Primaten unterscheidet. Von zentraler Relevanz ist hier die grundsätzliche Disposition des Menschen zur Interaktion von Beginn des Lebens an. Biografisch vollziehen Menschen Interaktionen zunächst in dyadischer Form, später in triadischer Form. Das Entscheidende bei der triadischen Interaktionsform ist der Abgleich zwischen den beteiligten Individuen: die beteiligten Individuen wissen voneinander, dass sie um die Kooperation wissen. Auf der Handlungsebene bedeutet das: Zwei Menschen richten sich in ähnlicher Intentionalität auf etwas Drittes. Um nachhaltig, also auslösend für fortgeführte und intensivierte Interaktion zu sein, ist es erforderlich, dass gleiche oder ähnliche/anschlussfähige Emotionalitäten ausgelöst werden. Die beteiligten Individuen müssen sich also, beispielsweise per Blickkontakt, davon überzeugen, dass der jeweils andere ähnlich empfindet, dies ggf. überprüfen und reflektieren. Nach Tomasello ist sensumotorische Verbundenheit eine weitere entscheidende Voraussetzung für Shared Intentionality. Sinnhaftigkeit entsteht in diesem Kontext lediglich durch die Erfahrung körperlicher Nähe, durch gemeinsame Ausrichtung auf die Sache, das geteilte Affiziertsein von der Sache. Tomasello ordnet diese Prozesse einem vor- bzw. nicht-sprachlichen Bereich zu – und verortet somit Kooperation im Grunde vollständig im Feld der sozial-emotionalen Kompetenzen und nicht etwa im kognitiven Bereich. Das beschriebene Konzept der Shared Intentionality und die durch sensumotorische Verbundenheit der handelnden Individuen bedingte Sinnhaftigkeit weisen wiederum relevante Parallelen zum Gegenstand des gemeinsamen Musizierens sowie zu ritualtheoretischen Ansätzen auf. Collins (2004) spricht beispielsweise von shared mood und bodily co-presence innerhalb von Ritualen.
MUSIZIEREN UND RITUAL Kulturwissenschaftlich betrachtet werden durch Rituale persönliche, soziale und kulturelle Identität, d.h. entsprechende Zugehörigkeiten zu einer Gruppe oder Gesellschaft zugleich ausgedrückt und verwirklicht. Mit unterschiedlichen ritualtheoretischen Ansätzen liegt eine sozial-, bzw. kulturwissenschaftliche Theorie zur Herstellung sozialer Ordnungen vor, deren Relevanz im Folgenden für das gemeinsame Musizieren in inklusiven Kontexten diskutiert werden soll.
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Rituale sind zeitlich begrenzte und deutlich bezeichenbare Vorgänge, die nach innen Identität und Solidarität und nach außen Wiedererkennbarkeit schaffen (vgl. Audehm 2014, 259). Sie unterscheiden sich von unspezifischen und alltäglichen Praxen insbesondere durch verschiedene Strukturmerkmale. Rituale sind als Ausführungen sozialer oder psychologischer „Texte“ zu verstehen. Turner (1995) spricht hier vom sozialen Drama, in dem Menschen soziale Ordnungen hervorbringen – während sie es tun und indem sie es tun. Rituale fungieren als Instrumente, mit denen durch das Inszenieren einer gemeinschaftlich konstruierten Ordnung die Nicht-Geordnetheit der realen Welt bewusst gemacht wird. Durch das repetitive Wieder-Inszenieren soll letztlich exemplarisch und sukzessive die reale Nicht-Geordnetheit beleuchtet und verstehbar gemacht werden. Nach Wulf (2015) führen Menschen Rituale aus, um zunächst überhaupt Gemeinschaft erzeugen und konkretisieren zu können und zum anderen, um diese Sozialität aber auch die sie umgebende Welt in Ordnungen zu bringen und besser verstehbar zu machen. Für den Kontext Inklusion und musikalische Praxis ist zunächst zu fragen, inwiefern sich gemeinsames Musizieren ritualtheoretisch beschreiben lässt. Übertragen auf die Kontexte musikalischer Praxen inszenieren wir beispielsweise die sozialen und psychologischen Texte von Chören, Orchestern, Big Bands, Streichquartetten, HipHop-Formationen, Hausmusik usw. Zur weiteren Ausdifferenzierung sollen in der Folge die konstitutiven Strukturmerkmale von Ritualen nach Wulf und Gebauer (1998) auf ihre Relevanz für die Praxis des Musizierens betrachtet werden. Ambiguität Während der Ausführung von Ritualen befinden sich die Akteure in einer Situation, die durch Ambiguität geprägt ist. Diese kann sich beziehen auf das Oszillieren zwischen Realität und Imagination, Erinnerung und Projektion oder zwischen unterschiedlich intensiven Stufen von Interaktion. Diese Ambiguität lässt sich in der Praxis des gemeinsamen Musizierens an verschiedenen Momenten festmachen. Durch die Zeitgebundenheit von Musik liegt im Musiziervorgang immer eine Ambiguität der Gegenwart vor, da diese immer sowohl geprägt ist von der Rezeption des zuvor produzierten Klangs, der Produktion des Klangs selbst, sowie der Imagination des folgenden Klangs – etwa im Sinne von Edwin Gordons Konzept der Audiation (vgl. Gordon 1999). Das zeitliche Dazwischen findet sich auch in der Ambiguität zwischen Erinnerung und Projektion bzw. dem Bewusstsein, dass der Gegenstand u.U. eine
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mehrere hundert Jahre alte Komposition ist, die aber vermutlich auch zukünftig in vergleichbarer Weise gespielt werden wird. Auch eine Ambiguität bzgl. der Intensität von Interaktion ist ein prägendes Strukturmerkmal für gemeinsames Musizieren: Phasen von Abwechslung, parallelem Tun, unterschiedlichem gleichzeitigem Tun, Konsens und Auseinandersetzung sind elementare Strukturmerkmale gemeinsamen Musizierens. Zeitlichkeit Gemeinsames Musizieren unterliegt der Zeitlichkeit gleich in mehreren Dimensionen. Durch die Reproduktion von Werken pflegen wir Traditionen und praktizieren eine besondere Form von Erinnerung. Gemeinsames Musizieren selbst erfolgt immer im Rahmen einer Abfolge zeitlicher Sequenzen. Dass Wiederholung und damit auch eine zeitliche Sequenzierung als ein „Medium der Einübung praktischen Wissens“ (Wulf 2015, 111) zählt, ist die Grundbedingung für individuelles oder gemeinsames Üben, bzw. Proben. Alterität Rituale regeln das Verhältnis zum anderen, in Ritualen handeln die Akteure das Verhältnis zu ihren Mit-Akteuren aus. Der Andere, der sich auf das gleiche rituelle Handeln einlässt, wird kalkulierbarer, wird weniger fremd. So können Sinn und Bedeutung sowie eine gemeinsame Sicht auf die Welt entstehen (vgl. Vickhoff 2013). Die Gestaltung dieser Alterität, der Andersartigkeit des Anderen garantiert die Ordnung innerhalb der im Ritual bestehenden Gemeinschaft (nach Turner Communitas) und stellt gleichzeitig sicher, dass diese bei Bedarf neu ausgehandelt werden kann. Die Reflexion des Anderen anhand der eigenen Person und die Umkehrung, also die Reflexion der eigenen Identität anhand einer anderen, sind im gemeinsamen Musizieren durchaus präsent: Dies kann sich auf ganz unmittelbar Musikalisches beziehen – im Aufeinanderhören und im fortlaufenden Abgleich mit den Mitspielenden. Dies kann sich aber auch auf individuell geprägte, nur mittelbar musikalische Phänomene beziehen, etwa Geschmack oder Meinungsverschiedenheiten bzgl. der Interpretation eines Stücks. Soziale Beziehung In Ritualen gestalten wir soziale Verhältnisse. Wir handeln zwischen Konflikt und Integration. Dadurch entstehen Möglichkeitsräume für eine Bestätigung, ei-
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ne Intensivierung oder auch für eine Veränderung von Beziehungen. Es entstehen besondere Konditionen für den Umgang mit Differenz und damit verbunden können Strategien der Integration des sozialen Subjekts in die Gemeinschaft entwickelt werden – anhand und in Form der inhaltlichen Ausrichtung des Rituals, die aber durch den Vollzug auch darüber hinaus Gültigkeit bewahren können. In der musikalischen Praxis selbst ist die soziale Beziehung der Akteure vorund durchstrukturiert (Dirigent – Orchester, Streichquartett,...) – aber durch die gemeinsam gemachten Erfahrungen und das gemeinsame Erleben können soziale Beziehungen zwischen Menschen entstehen, die über den Vollzug der musikalischen Praxis hinaus Bestand haben, obwohl sie möglicherweise ohne die gemeinsame musikalische Praxis nicht hätten entstehen können. Bedeutsam ist hier, dass im ritualtheoretischen Sinn das gemeinsame Musizieren Anlass und Ursache für eine soziale Beziehung ist, die jedoch über das Musizieren hinaus Bestand haben kann. Zur weiteren Ausdifferenzierung der ritualtheoretischen Überlegungen im Kontext Inklusion und musikalisch-ästhetischer Praxis sollen als Nächstes die Funktionskategorien von Ritualen betrachtet werden. Gebauer und Wulf (1998) sprechen überblicksartig von Ritualen des Übergangs und Ritualen der Institutionalisierung aber auch von zirkadianen, Rebellions-, Interaktions- und Intensivierungsritualen. Für das Handlungsfeld Inklusion und musikalisch-ästhetische Praxis erscheint sowohl die Perspektive der Rituale zur Intensivierung zwischenmenschlicher Beziehung vielversprechend, als auch die Perspektive des Übergangsrituals, da die gesellschaftlichen Bemühungen um Inklusion selbst als Transformationen vielfältiger gesellschaftlicher Prozesse verstanden werden können (vgl. Kastl 2015).
RITUALE UND INKLUSIVE PROZESSE Das Konzept der Übergangsrituale geht auf van Gennep (1986) zurück und erfährt insbesondere durch Turner eine Weiterentwicklung (vgl. Turner 1989). Kennzeichnend sind unter anderem die Verlaufsphasen: • Ablösungsphase • Zwischenphase (Liminalität) • Integrationsphase
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Turner geht insbesondere auf das „betwixt and between“ der liminalen Zwischenphase ein, die sich aus ihrer besonderen Beschaffenheit ergeben (Turner 1989, 107). Der ursprüngliche Zustand ist nicht mehr gültig, der neue noch nicht erreicht. Im Rahmen dieser Liminalität entsteht im Ritual eine besondere Form von Gemeinschaft, die Turner (1998) als Communitas bezeichnet. In dieser spezifischen Sozialform emergiert eine emotional und affektiv besetze Gemeinschaft von Gleichen, in der die üblicherweise für die jeweilige Gesellschaft relevanten Differenzierungs- und Statuskriterien (vorübergehend) nicht wirksam sind. Daraus ergibt sich ein Raum für direkte, unmittelbare und totale Konfrontation menschlicher Identitäten (vgl. Turner 1989, 74). In der liminalen Phase entsteht so ein Gegenentwurf zur sonst üblichen gesellschaftlichen Ordnung und Hierarchisierung. Aus der gesamtgesellschaftlichen Perspektive werden gegenüber den in der Liminalität befindlichen Personen häufig ambivalente Haltungen ausgelöst. Kastl beschreibt die gegenwärtige Inklusionsdebatte als Versuch, Praxen, Deutungsmuster und Rituale zur Normalisierung von Menschen mit Behinderung zu initiieren (vgl. Kastl 2015, 271 f.). Dabei weist Kastl auf das logische Dilemma hin, das sämtlichen Forderungen „voll umfänglicher“ Inklusion „von Anfang“ an immanent ist. Es sei paradox, den Anfang und die Ausweitung von etwas zu fordern, dessen wesentliches Strukturmerkmal und Ziel es zugleich ist, nicht mehr notwendig zu sein. Kastl führt das Dilemma aus der Perspektive der Soziologie der Behinderung auf die Paradoxie des Phänomens Behinderung in der modernen Gesellschaft zurück. So seien die normativen Erwartungen bzgl. der äußeren Erscheinung und der Funktionalität von Menschen sozialisatorisch früh verortet und entsprechend wirkungsvoll in der Prägung der Erwartungshaltungen und Reaktionsbereitschaften (vgl. Kastl 2015, 266). Durch persistierende separierende Strukturen können regulierend wirkende alternative Erfahrungen in unserer Gesellschaft zu selten gemacht werden. Gleichzeitig ist es aber auch Konsens, dass im Sinne der political correctness genau diese normativen Setzungen eigentlich gesellschaftlich nicht vorkommen sollten. Durch diese Paradoxie wird eine sachliche Auseinandersetzung erschwert. Kastl diskutiert die Deutung der diversen Bemühungen um inklusive Gesellschaftsentwicklung als Übergangsrituale (beispielswiese die Art der grafischen Darstellung von Inklusion durch bunte Punkte), innerhalb derer Praktiken und Formen des Umgangs mit den immanenten Paradoxien des Phänomens Behinderung und mit dem daraus resultierenden widersprüchlichen Status behinderter Menschen entwickelt werden. Kastl weist weiter darauf hin, dass das Phänomen der Behinderung letztlich selbst nicht überwunden wird, sondern die entspre-
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chenden sozialen Reaktionen und Verarbeitungen. So können Inklusionsrituale als Übergangsrituale zur Normalisierung von Behinderung beitragen.
IM ÜBERGANG: GEMEINSAMES MUSIZIEREN, LIMINALITÄT, INKLUSION Kastls Ansatz, inklusionsbezogenes Handeln als Übergangritual zu deuten, bietet auch für die Praxis des gemeinsamen Musizierens relevante Anknüpfungspunkte. Gegenwärtig sind auch im Kunst- und Kulturbetrieb exkludierende Strukturen alltäglich. Dies wäre der zu überwindende Status, der in der Ablösungsphase verlassen wird. Ensembles und Gruppen, in denen Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam musizieren, befinden sich in der liminalen Übergangsphase. Sie bilden, bezogen auf die Praxis des Musizierens, eine inklusive Communitas. Betrachtet man die unterschiedlichen Formationen in dieser Phase wird deutlich, dass die Merkmale, die Turner für Communitas anführt, erfüllt sind. So spielt in inklusiven Ensembles häufig die Beziehungsebene eine besondere Rolle. Regelungen, die üblicherweise für musizierende Gruppen gelten, erfahren häufig eine interne Änderung: sei es formal, stilistisch oder bezogen auf die Besetzung. Auch der Punkt der ambivalenten Haltungen der Gesellschaft bzgl. der inklusiven Communitas selbst scheint erfüllt. Publikumsreaktionen auf Auftritte solcher inklusiven Ensembles sind häufig von Unsicherheiten geprägt, wie mit dem Phänomen Behinderung auf der Bühne umzugehen ist. Von besonderer Relevanz ist hier die Deutung von Inklusion als Qualität von Interaktion und Kollaboration innerhalb der statusdifferenzierenden Gesellschaft. Nicht der Einzelne verändert sich innerhalb der liminalen Communitas, sondern die Strukturen der liminalen Communitas selbst. Das im Musizieren geschehene Soziale schreibt sich in die handelnden Individuen ein und verändert so die Beziehungs- und Interaktionsstruktur. Innerhalb der inklusiven musizierenden Communitas bildet sich eine Kultur aus, die sich immer mehr einem angemessenen Umgang mit Verschiedenheit annähert und dies durch wiederholtes Praktizieren des Rituals zur gesellschaftlichen Realität werden lässt. Ritualtheoretisch betrachtet bringen Menschen im gemeinsamen Musizieren soziale Ordnungen hervor, reflektieren die sozialen Beziehungen zu Kooperationspartnern, handeln Differenz aus – Prozesse, die für die bottom-up Umsetzung von Inklusion unerlässlich sind. Eine Perspektive für Forschung ist es demnach, inklusionsorientierte gemeinsame Musizierpraxis – unter Berücksichtigung der Perspektive der Ausführenden – differenziert auf Strukturmerkmale von Ritualen zu überprüfen und die
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Ebene des individuellen Erlebens der Interaktion im inklusionsorientierten Musizieren so differenziert zu erfassen. Hier können episodische Interviews (Flick 2011) in Kombination mit Video-Stimulated-Recall-Interviews einen vielversprechenden empirischen Zugang bieten, da so sowohl subjektives Wissen als auch musizierspezifisches Handlungswissen erhoben werden können (vgl. Messmer 2015). Die so erhobenen Daten lassen sich beispielsweise kodierend und kategorisierend mit dem Ziel einer Theoriebildung im Sinne der Grounded Theory analysieren.
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Versuch über eine Musikdidaktik der Differenz Musikunterricht durch die Brille der Inklusion betrachtet Jürgen Oberschmidt
Im Jahre 1516 veröffentlichte Thomas Morus seinen gesellschaftskritischen Roman „Von der besten Staatsverfassung und von der neuen Insel Utopia“. Rahmenhandlung ist die Erzählung eines Seemanns, der eine Zeit in fernen Welten auf der „wunderbarlichen Insel Utopia“ (zit. n. Münkler 2004, 1060) zugebracht hat und von einer dort erlebten friedlichen Welt mit ihren auf gemeinschaftlichem Besitz fußenden Gleichheitsgrundsätzen berichtet. Beschrieben wird hier eine fiktive Gesellschaftsordnung, eben jener frei erfundene Zukunftsstaat, der sich nicht an irgendwelche faktischen Rahmenbedingungen gebunden fühlen muss. Dieser satirisch-kritische Reflex möchte in erster Linie unseren bestehenden Verhältnissen ihren Spiegel vorhalten. Die Insel Utopia bleibt bis heute eine Vision, die niemals für sich den Anspruch erhob, ins faktisch Reale umgesetzt zu werden.
DENKEN NACH VORN Mit Ernst Bloch können solche Utopien auch als ein visionäres Denken betrachtet werden. In „Prinzip Hoffnung“ entfaltet er eine umfangreiche Philosophie der konkreten Utopie als Kritik an jenem, was ist, und als Darstellung dessen, was eigentlich sein soll. Als „Tagträume“, „Wunschbilder im Spiegel“, „Grundrisse einer besseren Welt“ werden seine Kapitel überschrieben (Bloch 1985) und in genau diesem Sinne wollte auch Thomas Morus seinen Zukunftsstaat verstanden wissen. Die besondere Tragik auch seiner Utopie liegt nun immer in der bevorstehenden Arbeit, diese fernen Vorstellungen umzusetzen und mit den gegenwärtig vorherrschenden gesellschaftlichen Rahmungen in Einklang zu bringen. Ob jedoch eine Utopie als eine solch konkrete Idee überhaupt ausgestaltet wer-
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den sollte, dürfte seit dem von Georg Lukács entfalteten Bilderverbot strittig sein: „Jeder Versuch, das Utopische als seiend zu gestalten, endet nur formzerstörend.“ (Lukács 1981, 137) Ein Experiment, solch eine ferne Vision als „seiend“ zu gestalten, verfällt schnell jenem Schicksal, das auch Karl Marx Vorstellungen von einer klassenlosen Gesellschaft ereilt hat, nachdem eine staatliche Exekutive diese ausgestaltete Phantasie für Wirklichkeit erklärt hatte. Bis heute führten all solche Versuche, eine Utopie mit Gewalt durchzusetzen, eher zu einer Verschlechterung der Situation und das Ergebnis eines verordneten Staats der Zukunft waren stets Hass, Krieg und Unfreiheit. Auch die zur Wirklichkeit erklärte Vision von Inklusion trägt solch utopische Züge, weckt sie doch erst einmal Wünsche und Sehnsüchte nach einer heilen Welt, eben nach einem von Thomas Morus beschriebenen „glücklichen Ort.“ Ihre hohe Moralität immunisiert solch ein Vorhaben gegen jede Kritik, schließlich würde es doch niemand wagen, sich offen gegen Menschenwürde und soziale Gerechtigkeit zu stellen. Nur mit dem Unterschied, dass sich dieser glückliche Ort einer inklusiven Gesellschaft nun nicht im utopischen Gelände befindet, sondern inzwischen gesetzlich ordiniert und zur gesellschaftlichen Realität expliziert worden ist. Wie all dies nun im Unterricht eines dreigliedrigen Schulsystems umgesetzt werden soll, dessen bestehende Exklusionsmechanismen im ganz normalen Schulalltag nicht nur bereits all jene Schüler*innen spüren, die den normierten täglichen Leistungsanforderungen des Systems nicht genügen, bleibt auch nach der Ratifizierung durch den Bundestag offen. Die Kultusministerkonferenz stellt dazu lapidar fest: „Die Behindertenrechtskonvention macht keine Vorgaben darüber, auf welche Weise gemeinsames Lernen zu realisieren ist. Aussagen zur Gliederung des Schulsystems enthält die Konvention nicht.“ (Kultusministerkonferenz 2010, 4) Als ein „Denken nach vorn“ soll dieser Beitrag nun seinen Anteil leisten, der gegenwärtigen Situation im Musikunterricht den Spiegel vorzuhalten und musikdidaktische Positionen vor dem Hintergrund der ihnen auferlegten Insel Utopia kritisch zu hinterfragen. Dabei soll nicht die konkrete Umsetzung dieser verordneten Grundordnung in den Blick genommen werden, um es darauf anzulegen, Inklusion als seiend zu gestalten. Vielmehr geht es zunächst um den Weg dorthin, um ein Nachdenken, wie man aus solch einer utopischen Perspektive den Musikunterricht und Schule insgesamt neu und vielleicht auch grundlegend ganz anders denken müsste und ob man die gerade in den ästhetischen Fächern gebotenen Potentiale, Freiräume und die in der Kunst schon immer gebotenen alternativen Weltzugänge in bereits genügender Weise zu nutzen weiß: „Eigentlich brauchen wir keine eigene Behinderten-Musikpädagogik. Wir brauchen nur eine ‘
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gute Musikpädagogik. Wir brauchen auch keine Sonderpädagogik, sondern eine besonders gute Pädagogik. Das ist mein Motto.“ (Merkt, zit. n. Tischler 2011, 17)
SITUATIONSBESCHREIBUNG: DIE „INKLUSIONSLÜGE“ Uwe Becker spricht in der Debatte um Inklusion von einer „Inklusionslüge“ und beschreibt die massiven Ausgrenzungsdynamiken in unserer ökonomisch gesteuerten Gesellschaft. Beklagt wird hier auch der eingeschränkte finanzielle Aktionsradius aller Bemühungen, kalkulieren doch „viele Kämmerer der öffentlichen Kassen nicht etwa Mehrausgaben ein, sondern spekulieren mit Einsparungen. Die Schließung von Förderschulen ermöglicht die Einsparung von finanziell aufwändigen Schuldienstfahrten und von sonderpädagogischem Fachpersonal. Die Abschaffung von Werkstätten für Menschen mit Behinderung, ihre Integration in Erwerbsarbeit, entlastet die öffentliche Hand, insbesondere die Kommunen. […] Das alles ist schon jetzt in Kostenstellenplanungen der öffentlichen Haushalte als perspektivische Einsparung vermerkt.“ (Becker 2015, 10 f.)
Ökonomische Prinzipien bestimmen längst nicht mehr ausschließlich nur die Kostenstellen der Schulen und ihrer Träger, etwa, wenn sich jede diagnostizierte Mangelmeldung positiv auf den Zuschlagsfaktor für einen Unterrichtsmehrbedarf und damit direkt auf die Begehren jeder einzelnen Schule auswirkt. Dieses Denken hat sich bereits viel tiefer in unsere Erwartungen an Schule und in einseitig verkürzte Vorstellungen von Bildung in einer nach ökonomischen Maximen vermessenen Kompetenzfabrik eingenistet. Paul Liessmann kritisiert, dass auch in diesem System längst ökonomische Prinzipien herrschen und sich Wissensarbeiter einem schulischen Wettbewerb stellen: „Ein Bildungsbegriff, der sich ganz an der Idee des Nützlichen orientiert, vergisst, dass Menschsein mehr bedeutet als beschäftigungsfähig zu sein. Und ein Bildungsbegriff, der das Schöne instrumentalisiert, um den jungen Menschen die Orientierung in einer reizüberfluteten Welt zu erleichtern und ihnen Wettbewerbsvorteile einzuräumen, bringt eben diese Menschen um das Wunderbarste, zu dem Menschen fähig sind: die Hervorbringung und Wahrnehmung des Schönen um seiner selbst willen.“ (Liessmann 2014, 180 f.) Um sich erfolgreich gegen die negative PISA-Durchschnittlichkeit zu stellen, gilt es im Betrieb Schule selbstredend, jeden Störfaktor zu eliminieren: Es reichen diagnostizierte Fehleranzeigen, um ein zukunftsgefährdendes Fehlverhalten
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für die Lerngruppe auszuschließen – von der verordneten Anerkennung von Diversität und Gastfreundschaft ist in der Regelschule hier noch nicht viel zu spüren. Wie sehr wir uns mit unserem Kompetenzgerangel in einer Welt des Normens und Ökonomisierens bewegen, soll hier nicht näher erläutert werden. Es reicht eine flüchtige Erinnerung an die überall implementierte DIN-Norm ECTS, nach der unsere ganzheitliche Ausbildung in den Künsten und Wissenschaften vermessen wird. Auch in den Hochschulen gilt es, auf stromlinienförmige Weise den normierten Wissensarbeiter zu produzieren.
SCHULE IN IHREN EXKLUSIONSMECHANISMEN Manch einer genießt seinen exklusiven Status gerne auch als Privileg, sei es nun in einer ambitionierten Privatschule, in Lehranstalten für Hochbegabte, als Perspektivathlet im Sportinternat oder durch die besondere Begünstigung im Rahmen einer Befreiung von der allgemeinen Schulpflicht, die es etwa der Geigerin Anne Sophie Mutter von Kind an erlaubte, sich jenseits jeder schulgesellschaftlichen Teilhabe ganz ihrem Geigenspiel zu widmen. Hier setzte die professionelle und individuelle Förderung ein separates Lernen außerhalb der Schulgemeinschaft voraus. Dieses gelungene Beispiel von exklusiven Lernsettings soll hier nun dazu benutzt werden, um für die Notwendigkeit individueller Förderungen einzutreten, um sich Menschen mit Beeinträchtigungen zuzuwenden, die genauso wie musikalische Kaderathleten einer ganz speziellen sonderpädagogischen Förderung in ihren jeweiligen Peergroups bedürfen, um überhaupt am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können. In einer verordnet inklusiven Schulgemeinschaft erleben diese Menschen Ausgrenzung, daran ändern auch die eilig herbeigerufenen Schulbegleiter nichts.
ÜBER DIE VERMUTETEN ZAUBERKRÄFTE DER MUSIK Gerade an das Fach Musik werden mit Blick auf Inklusion besondere Erwartungen gerichtet. Schließlich haben uns die Kinder des Monsieur Mathieu gezeigt, wie musikpädagogische Sozialarbeiter mit ihren magischen Kräften aus einer wilden Horde pöbelnder Jungen in Windeseile ein klangschönes Ensemble singender Engel formen können. Mit Musik geht alles leichter und besser, musizieren stärkt uns im sozialen Miteinander, eine These, die sich auch durch den immer noch zu erbringenden empirischen Beweis einer wieder vermuteten überdurchschnittlichen Sozialkompetenz festangestellter Musiker im Orchester- und
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Theaterbetrieb stützen ließe. Endlich können die sonst so zweckfreien Musen hier ihr ganzes Potential entwickeln und im „Sein für ein Anderes“ (Liessmann 2014, 177) ihre nützliche Dienstbarkeit unter Beweis stellen, um dann auch jene zu befrieden, die ihren Bildungsbegriff längst auf die zweckrationalisierten Parameter einer MP3-Datei reduziert haben, die in ihrer Streichmusik alles ausblenden, was man scheinbar für das Leben nicht braucht. Wer sich an die Kinder des Monsieur Mathieu jedoch etwas genauer erinnert, dem fällt sicher ein, dass auch hier nicht jeder an der Klangfülle teilhaben darf: Wer sich nicht singend in das homogene Ensemble einzufügen vermag und nach einem ersten Vorsingen zum Brummer gestempelt wurde, wird zum Notenhalter degradiert und damit ebenso ausgegrenzt wie Kinder, die in einem vermeintlich inklusiven Musikunterricht auf ähnliche Weise an den Rand gestellt werden: Ihr Mitwirken reduziert sich auf ein rhythmisches Stampfen oder Wedeln von bunten Tüchern, ohne dass man ihnen dabei den nötigen Raum für eine selbstgesteuerte Interaktion in einem gemeinsam geteilten musikalischen Handeln zusprechen könnte.
LERNEN IN HOMOGENEN EINHEITEN Schule ist ein Spiegel unserer Gesellschaft und muss sich wie diese fragen, ob ihr Innenleben so gastfreundlich gestaltet ist, dass man einer Einladung zur Inklusion hier gerne folgen möchte. Es reicht ein flüchtiger Blick auf unsere Bildungsstätten, wie sie sich heute als vorbereitende Einrichtungen zur Erwerbsintegration verstehen: „Die Schüler einer Lerngruppe sollten in ihren Lernvoraussetzungen, -möglichkeiten und -bedürfnissen möglichst gleich sein. Allein Homogenität gewährleistet optimale schulische Lernprozesse – das ist der Lehrsatz der homogenitätsgläubigen Philosophie. […] Aus der Gleichheitsbedingung als obersten Grundsatz der homodoxen Pädagogik folgt der Imperativ der Gliederung aller Schüler in Gruppen […] in mindestens vier hierarchische Stufen: Gymnasium, Realschule, Hauptschule, Förderschule.“ (Wocken 2010, 27) Solch ein Glaube an ein Lernen in homogenen Gruppen wird bereits vor der letzten Bildungsplanreform, etwa in der Württembergischen Schulordnung von 1599, hinlänglich beschrieben. Hier geschieht die Separation wie folgt: „So dann der Schulmeister die Schulkinder mit Nutz lehren will, so soll er die in drei Häuflein einteilen. Das eine, darinnen diejenigen gesetzet, so erst anfangen zu buchstabieren. Das andere die, so anfangen, die Syllaben zusammenzuschlagen. Das dritte, welche anfangen zu lesen und zu schreiben. […] Die Schulmeister sollen auch die Kinder nicht übereilen oder mit ihnen fortfahren, ehe sie dasjeni-
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ge, was ihnen der Ordnung nach aufgegeben, wohl und eigentlich gelernt […] haben.“ (Zit. n. Wocken 2010, 27) Altersgemischte Lerngruppen werden in außerschulischen Musiziersituationen bedenkenlos angenommen. Eine solch inhomogene Zusammensetzung findet sich in jedem Laienchor, wenn Jung und Alt, versierte Musiker und eher Leiden schaffende Sänger sich in einem Ensemble zusammenfinden. Die Erfahrung und Bejahung von Ungleichheiten ist hier gar die Voraussetzung für die regelmäßige Aufführung großer Werke, die kaum möglich wären, wenn man sich hier nicht auf alteingesessene Erfahrungsträger verlassen könnte, die solch ein Werk meist schon gesungen haben. In seiner „Übung in pädagogischer Vernunft“ versucht sich Hartmut von Hentig im „Schule neu denken“. Auch er bewegt sich mit seinen Überlegungen auf einer Insel Utopia, die in der Bielefelder Laborschule für ausgewählte Schüler*innen und unter den hier exklusiven Bedingungen Wirklichkeit wurde: „Daß Unterschiede zwischen Menschen etwas Natürliches sind und daß die Bejahung der Unterschiedlichkeit jedem von uns zugute kommt, erfährt man in gemischten Gruppen. Die neue Schule wird, wo immer sie das kann, Kinder verschiedener Alter, Begabungsarten, Kulturen, Interessen und Religionen zusammenbringen – auf der Basis nicht einer Einjahresgruppe, sondern der Drei- bis Vierjahresgruppe.“ (Hentig 2003, 221)
IM GEWAHRSAM UNSERER RANKINGGESELLSCHAFT Einreihendes Bewerten begegnet uns nicht nur im aktuellen PISA-Dax, sondern auch innerhalb der Peergroups hochbegabter Tennisprofis in ihrem wöchentlich aktualisierten Ranking der ATP-Weltrangliste, das ungeachtet der verschiedenen Bodenbeläge, auf der unterschiedliche Fähigkeiten und Qualitäten von Nöten sind, erfolgt. Solch klassifizierendes Beurteilen wird in Deutschlands Schulhäusern als ein hoheitlicher Akt angesehen, mit dem sich nicht zuletzt der Beamtenstatus des Lehrers und seinen Anspruch auf Beihilfe begründen lässt. Überlässt man das Bewerten dem unverbeamteten Laienstand, führt dies zu Bemessungen, wie sie sich im Ranking von „Deutschlands Besten“ aus dem Jahr 2004 zeigten: Konrad Adenauer (1), Martin Luther (2), Karl Marx (3), Johann Sebastian Bach (6), Johann Wolfgang von Goethe (7), Ludwig van Beethoven (12), Helmut Kohl (13), Daniel Küblböck (16), Albert Schweitzer (18), Karlheinz Böhm (19) und Wolfgang Amadeus Mozart (20) zierten hier die Top 20 der Bestenauslese. Diese quantifizierende Musterung, deren heterogene Zusammensetzung wohl eher den Verschiedenartigkeiten einer Schulklasse entsprechen könnte als der
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Setzliste eines Tennisturniers, erweist sich nicht nur wegen ihrer einseitigen Ausrichtung auf den männlichen Phänotyp als recht fragwürdig. Wer in dieser hierarchischen Klassifizierung ein gelungenes Beispiel von Inklusion lesen möchte, der wird feststellen, dass sich der mehrfach preisgekrönte Sänger Daniel Küblböck hier auf Platz 16 zwischen zwei Asperger Autisten namens Mozart und Beethoven einreiht. Ähnlich wie in der PISA-Studie wird hier eine lineare Anordnung von nicht Vergleichbarem nach subjektiven und zweifelhaft eindimensionalen Kriterien vorgenommen. Die manipulativen Erhebungsmethoden im Rahmen der öffentlich-rechtlichen Rankingshow führten zu personellen Konsequenzen in der zuständigen ZDF-Stabstelle. Im Kontext der PISA-Studie werden wenigstens die zu untersuchenden Kriterienkataloge und die bei ihrer Erhebung verordneten methodischen Ansätze inzwischen kritisch hinterfragt.
EXKLUSIONSMECHANISMEN IM MUSIKUNTERRICHT Musikunterricht, wie wir ihn heute in unseren Schulen erleben, ist auch jenseits inklusiver Settings alles andere als barrierefrei: „Die wenigen Schüler, die zu Hause Musik treiben, werden gefördert, die übrigen wohnen dem Unterricht ergebnislos und interesselos bei.“ (Mies 1931, 210 f.) Solche Exklusionsmechanismen, wie sie Paul Mies bereits in den 1930er Jahren beschrieben hat, erleben wir hier bis heute. Sie lassen sich nicht nur in den schulischen Musiziersituationen vorfinden, auf die sich Paul Mies hier wohl bezieht, sondern auch in jenem Unterricht, der sich in seinen papierenen Analysen reflektierend mit Musik auseinandersetzt: „Formale Analysen sind Drahtzäune, die den Laien mit seinen unbequemen Fragen abwehren.“ (Schmidt-Banse 2005, 493) Damit ist ein weiteres Hindernis benannt, mit dem wir uns im Musikunterricht tagtäglich konfrontiert sehen. Denn es bedarf schon einer gewissen Vorbildung, nämlich eines sechs Jahre dauernden Separationsprozesses, um dann endlich in der gymnasialen Oberstufe an jenen beglückenden Momenten teilhaben zu dürfen, in denen nach gründlicher Analyse erkannt, benannt und auch endlich von (fast) allen geschätzt wird, wie Beethoven den unüberbrückbar scheinenden Konflikt zwischen einem ersten und zweiten Thema zu lösen vermag, wie er hier nach den Wirren einer Durchführung in der Reprise nun dem zweiten Thema endlich seinen seligen Frieden in der diagnostizierten Grundtonart finden lässt. Hier kann also endlich der Musiklehrer mit seiner exklusiv verbliebenen Schar seine Metiergeheimnisse feiern: „Meines Wissens sind Musikpädagogen die einzigen Menschen, die aus dem Häuschen geraten, wenn sie einen Krebs diagnostizieren. Warum machen
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Befunde, dass dieses Rondo eine verkappte Sonatenhauptsatzform und jenes scheinbar freie Präludium in Wahrheit eine strenge dreistimmige Invention seien, so rundum zufrieden?“ (Ebd., 492) In Baden-Württemberg gibt es für das Musikabitur, dem „gymnasialen Krönungspunkt“ (Eggebrecht 1980, 97) der Schullaufbahn, noch ein weiteres und durchaus härteres Ausschlusskriterium. Prüfung machen dürfen im Kernfach Musik nur die, die – wohlgemerkt im privaten Instrumentalunterricht außerhalb der Schule – ein Instrument erlernt haben. Gegenstand einer Abiturprüfung (und nicht etwa einer freiwillig zu erbringenden besonderen Lernleistung) sind hier Inhalte, die nie Gegenstand des Fachunterrichts waren. Einbringen dürfen sich auch jene, die eine Musikmentorenausbildung gemacht haben, doch auch diese findet im privaten Rahmen und außerhalb des Unterrichts statt. Für solch eine schulische Weihe wird auch genau definiert, welche Instrumente in den außerschulischen Bildungseinrichtungen zu erlernen sind, mit welchem Handgepäck also der Zutritt in die Prüfungszone für die „Allgemeine [sic!] Hochschulreife“ gestattet werden darf. Alle zulässigen Instrumente entspringen dem Sprengel der abendländischen Hochkultur, was verdeutlicht, welche musikalischen Praxen hier erwünscht sind und welche lediglich geduldet werden: „Weitere hier nicht genannte Instrumente bedürfen der Zustimmung des zuständigen Regierungspräsidiums. Entsprechende Anträge sind rechtzeitig vor der Wahl des Prüfungsfaches Musik durch den Fachlehrer beim Musikreferat des jeweiligen Regierungspräsidiums zu stellen.“ (Ministerium für Kultus, Jugend und Sport BadenWürttemberg o.J., 10) Wer aus anderen Kulturkreisen zu uns stößt, profitiert von einer Willkommenskultur, die hier auf einen zu prüfenden Antrag praktiziert wird und von der wohlwollenden Einzelfallentscheidung abhängig ist. Und auch den Bedrohungen aus popularmusikalischen Praxen hält das monolithische System bis heute stand: „Der E-Bass muss mit einem akustischen Instrument konzertieren, auf Antrag darf er als alleiniges Instrument auftreten“, wenn eine mit anderen Instrumenten „vergleichbare künstlerische Leistung möglich ist“ (ebd., 10). Auch eine Prüfung im „Pop- und Jazz-Gesang“ ist statthaft, hier müssen allerdings fünf Minuten des Programms in den Bereichen „Volkslied, Kunstlied oder Oper“ angesiedelt sein. Ein Keyboarder darf ebenso wählen, ob er seine Prüfung auf dem ihm anzuratenden Klavier, dem Cembalo, der richtigen Kirchenorgel (mit mechanischer oder erlaubter E-Traktur) oder, dem regionalen Brauchtum geschuldet, auf dem auch heute noch um Anerkennung bemühten Instrument Akkordeon ablegt.
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SCHEMATISIEREN UND BANALISIEREN ALS STILMITTEL EINER HOMODOXEN MUSIKPÄDAGOGIK Besonders begabte Schüler*innen erleben ihren Musikunterricht an der allgemeinbildenden Schule als einen Unterricht des Elementarisierens und Vereinfachens, um auf eben diese Weise gemeinsame Erfahrungsgrundlagen für uniformierte Lernprozesse zu schaffen. Hans Günther Bastian, der sich in den 1980er Jahren mit Biographien von Hochbegabten auseinandergesetzt hat, zeigt in seinen Interviews, wie gerade jene Schüler, die Musik für sich selbst (oder kraft einer elterlichen Vorsehung) längst zu ihrem Lebensmittelpunkt erklärt haben, und ihren schulischen Musikunterricht als eine Unterweisung des Banalisierens und Schematisierens erlebt haben: „Schulmusiker ist für mich kein Musiker, das ist ein Lehrer mit Fach Musik. Er muss versuchen, eine Musik zu vereinfachen, so dass es jemand, der von nichts Ahnung hat, kapiert. Dabei geht an der Musik so viel kaputt. Wenn wir in der Schule eine Mahler-Sinfonie durchgenommen haben, die ich kurz zuvor im Orchester gespielt habe, hat mir das fast wehgetan. Musiklehrer [sein] ist eben eine frustrierende Sache, für den Lehrer selbst und für die Schüler.“ (Bastian 1987, 737) Unter dem Mantel einer Wissenschaftspropädeutik, die einen Großteil der jungen Menschen im Unterricht abhängt und zurücklässt, wird hier das betrieben, was Hans Heinrich Eggebrecht mit Blick auf den gymnasialen Oberstufenunterricht abwertend als „Gänsefüßchenwissenschaft“ (Eggebrecht 1980, 96) bezeichnet: Es ist „nicht möglich, das wissenschaftliche Fragen zu kanonisieren (aufzulisten), so wenig wie es in der Wissenschaft möglich ist, die Antworten schon vorher zu wissen“ (ebd., 97). Musiklehrer „reduzieren den Stoff, aber verändern nicht das Prinzip“ (ebd., 98). In solch einem Unterricht besteht Musik aus festgestellter Dreiklangsharmonik und einer Ansammlung von zu benennenden Intervallschritten. Es wird mühsam in der Partitur abgelesen und in die beschwerlich erlernten Begriffe gefasst, was im Schriftbild ohnehin zu sehen ist: Dissonanzen und Konsonanzen wechseln sich ab, eine Melodie verläuft aufsteigend, absteigend oder wellenförmig. Letzteres ließe sich zum Eintritt der Solovioline im Brahmskonzert feststellen, von einem gregorianischen Choral berichten oder über ein Kunstlied von Adele aussagen. Dieses dürfte dann in der fachpraktischen Examinierung sogar mit Mikrofon vorgetragen werden, wenn der Prüfling beim anschließenden Vortrag einer Arie eine abendländische Musiksozialisation einbringt und seine bodenständig sängerische Haltung ohne Mithilfe eines Schallwandlers unter Beweis stellen kann.
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GLAUBE AN GLEICHHEIT (1): GEMEINSAME ERFAHRUNGSHORIZONTE In seiner Theorie und Praxis der didaktischen Interpretation hat Christoph Richter Perspektiven aufgezeigt, um von den hier bereits beschriebenen Gänsefüßchenanalysen loszulassen, die Herangehensweisen und Blickwinkel der Schüler*innen auszumachen, um ausgehend von einem gemeinsamen Treffpunkt Verstehensprozesse im Sinne einer philosophischen Hermeneutik anzubahnen. Dass hier eine gemeinsame Erfahrungsgrundlage für alle Schüler*innen als Ausgangspunkt der Lernprozesse angenommen wird, kritisiert Werner Jank: „Richter beschwört in vielen Publikationen die Notwendigkeit, die Schüler ‚abzuholen‘ und das Gespräch zwischen Subjekt und Objekt ‚in der Zirkelbewegung zwischen dem, was ich mitbringe (meinem Vorwissen, meinem vor-Urteil, meinem eigenen Erfahrungshorizont …), und dem, was die Sache mitbringt‘ […]. [Er] fordert bloß die ‚Rücksicht auf den Horizont der Gruppen‘, ohne diese zu erläutern und diese systematisch in sein Konzept zur Unterrichtsvorbereitung einzubeziehen.“ (Jank 1996, 241)
GLAUBE AN GLEICHHEIT (2): AUFBAUENDER MUSIKUNTERRICHT Eben jene Zweifel, dass es nicht dem Lehrer obliegen sollte, einen gemeinsamen Horizont der Gruppe zu vermessen, hindern Jank aber nun nicht daran, wenige Jahre später mit verschiedenen Koautoren das Konzept eines aufbauenden Musikunterrichts vorzustellen und einzufordern, dass Unterricht auf gemeinsame Erfahrungsgrundlagen für ein gemeinsames Musizieren aufgebaut werden solle (Jank 2013, 92 ff.). Nun sind es musikpraktische Kompetenzen, die im „Step by Step“ im Gleichschritt entwickelt werden, mehrere Kompetenzstufen durchschreiten und sich auf diese Weise festigen mögen. Das Unterrichtskonzept ist in diesem Punkt nicht weit entfernt von der hier bereits beschworenen Schulordnung von 1599: Das Musizieren entwickelt sich aus dem Buchstabieren, dem folgt das Erlernen der Silben, die dann zu Worten zusammengefügt werden: „Wir schlagen vor, in den Klassen 5 und 6 regelmäßig in (fast) jeder Musikstunde […] rund zehn Minuten für die Erarbeitung musikalischer Fähigkeiten auf der Basis ‚direkter Instruktion‘ zu veranschlagen, um eine gemeinsame Basis für alle Kinder zu ermöglichen.“ (ebd., 127) „Aufbauender Musikunterricht setzt auf die Kontinuität und Beständigkeit des musikalischen Lernens und Lehrens. […] Dies gilt für alle Schularten gleichermaßen. […] Der vorhin erwähnte Zeitrah-
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men […] soll dem Lernen musikalischer Fähigkeiten in allen Dimensionen musikalischer Kompetenz ein von der Klasse geteiltes, gemeinsames Fundament geben.“ (ebd., 128) Wie lässt sich solch ein gemeinsames Fundament für musikalisches Handeln in einer Klasse von 30 Individuen ausmachen, in der ein Jugend-musiziertPreisträger allenfalls die gleichen Markenturnschuhe trägt wie seine Tischnachbarin, die ihre metrischen Fähigkeiten bisher nur beim Stuhlwippen ausgebildet hat? Eine gemeinsame Basis lässt sich hier wohl noch weniger ausmachen, als jener von Christoph Richter beschworene Erfahrungshorizont als Ausgangspunkt einer didaktischen Interpretation. Wie sich auf der Grundlage eines solch aufbauenden Musikunterrichts dann das Musizieren in inklusiven Settings vermessen lassen sollte, bleibt in dieser Konzeption wohl nicht ohne Grund offen. Eine Schulklasse, die eine organische, uniformierte Einheit bildet und sich im Gleichschritt auf einen im Vorfeld vermessenen Weg machen kann, hat es nie gegeben und kann es nie geben: Schüler*innen, „die zu Anfang einer Stunde von einem Punkte ausgehen, sind am Ende einer Stunde nicht mehr beisammen“ (Campe, zit. n. Guski 2007, 145). Und selbst, wenn wir an einem gemeinsamen Punkte losgingen, könnte es nie ein gemeinsames Ziel geben: „Der eine hat Zwerg-, der andere hat Riesenbeine; der eine macht Mücken-, der andere Elefantenschritte.“ (Diesterweg, ebd.) Es sind diese Gedanken zweier pädagogischer Urväter, nämlich Joachim Heinrich Campe (1792) und Adolph Diesterweg (1834), die mit Blick auf so manche konzeptionelle Überlegung in Erinnerung gerufen werden sollten. In Anlehnung an Björn Tischler, der seine Kritik am aufbauenden Musikunterricht eher vorsichtig äußert, soll nicht das Konzept, das seinen kulturerschließenden Zugang an ein gemeinsames Musizieren und musikbezogenes Handeln anbindet, gänzlich in Frage gestellt werden. Doch jenen, die dem metaphorischen Konstrukt verfallen, dass etwas Aufbauendes grundsätzlich positiv zu konnotieren ist, sei hier nun zumindest die begrenzte Reichweite solch eines Programms in Erinnerung gerufen: „Ein aufbauender Musikunterricht darf nie nur die Kompetenzen einer Lerngruppe im Auge haben, sondern muss immer auch individuelles Leistungsvermögen, Lernstand, Lernstil und Lerntempo einbeziehen. Leistungsbeurteilungen müssten dabei neu überdacht werden, etwa in Richtung individueller, prozessorientierter Diagnostik, Förderpläne, Lerntagebücher.“ (Tischler 2011, 17)
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MUSIKUNTERRICHT „VON UNTEN“ Während im Musikunterricht die Musik als zentraler Gegenstand und das Musizieren als gemeinsam zu entwickelnde Tätigkeit immer noch eine für alle gemeinsame Mitte bilden, haben sich in anderen Fächern die Inhalte längst hinter den Nützlichkeitserwartungen der unendlichen Listen von Operatoren, dem Wiedergeben, Definieren, Erläutern, Gliedern oder Anwenden, versteckt. Ein aufbauender Musikunterricht erfordert von den Schüler*innen das Einpassen in ein bestehendes System. Eine ferne, hier nun zu verortende Insel Utopia fügt sich nicht in solch ein musikpädagogisches Denken, nach dem verlässliche Kompetenzen Schritt für Schritt aufgebaut werden. Im Mittelpunkt eines nun neu zu denkenden Musikunterrichts sollten eher die einmaligen Begegnungen jedes einzelnen Schülers mit seinen individuellen Voraussetzungen stehen. Musikunterricht sollte sich von seinen einseitig sprachbasierten Zugängen verabschieden und sich verstärkt ästhetischen Transformationen zuwenden, Übergänge von Musik in das gestaltete Bild, in die Bewegung zulassen und diese verschiedenen Zugänge im beziehungsstiftenden Miteinander gleichberechtigt und selbsterklärend nebeneinanderstellen. Dabei sollte auch genügend Raum und Zeit zur Verfügung stehen, um Musik einfach zu hören, zu erleben und sich auf sie einzulassen. Erst wenn solche individuellen Zugänge zum vorherrschenden Unterrichtsprinzip werden und sich Lernen nicht in maßgeschneiderten Unterrichtsarrangements erschöpft, sind die ersten Grundlagen für eine Willkommenskultur gelegt, die alle Schüler*innen anspricht. Christoph Richter hat genau diesen Faden aufgenommen und setzt sich in seiner „produktiven Utopie“ (Richter 2008, 11) gerade durch die begriffliche Anlehnung an den aufbauenden Musikunterricht ganz pointiert von diesem ab. Sein Gegenmodell beschreibt einen Musikunterricht von „unten“, einen „aufbauenden Unterricht von den Schülern aus“ (ebd.): Die curriculare Arbeit gründet auf jenes, was der einzelne Schüler ganz individuell in seinen Unterricht, in sein Musikverstehen einbringen kann: „Musikunterricht von unten bedeutet also die Beschäftigung mit Musik und der Umgang mit ihr von den Interessen der Schüler aus, von ihren Wünschen aus, von dem immer schon vorhandenen, mitgebrachten und der gemeinsamen Arbeit zur Verfügung gestellten Wissen, Können und Verstehen aus.“ (Ebd.) In seiner Schrift „Musik verstehen“ konkretisiert sich dieses Denken eines Musikunterrichts von unten, indem er sich der Musik phänomenologisch nähert und hier „allgemeine Gestaltungsprinzipien als Schlüssel und Begleiter für das Verstehen von Musik und den Umgang mit ihr“ (Richter 2012, 59) auszumachen
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sucht. Solche Gestaltungsprinzipien sind etwa: „Öffnen – Schließen; Anfang – Schluss; Wiederholung – Veränderung; Reihung; Verbinden – Voneinander Absetzen; Kontrast“ (ebd., 60). Diese Liste ließe sich fortsetzen. Sie leistet einen ersten Beitrag, das utopische Gelände zu konkretisieren: „In dieser offenen Weise Musikunterricht an allgemeinen Gestaltungsprinzipien zu orientieren, erfordert ganz andere Konzepte für Richtlinien, Lehrpläne und Schulbücher als jene, die heute üblich sind: Sie müssten Materialien und Ideen für offene Erfahrungen anbieten.“ (ebd., 63)
ÜBER EINHEIT UND VIELFALT MUSIKALISCHER SPRACHEN „Von Herzen – Möge es wieder – zu Herzen gehen“, diesen Sinnspruch hat Beethoven in das Autograph seiner Missa solemnis eingeschrieben. Musik, so wird gern behauptet, spricht eine Sprache, die jeder versteht. Schließlich vermittelt sie sich jenseits einer zu erlernenden Wortsprache, sie redet eben ganz unmittelbar zu uns, ohne dass wir ihre Grammatik kennen oder verstehen müssen. Melodien seien grenzenlos wird versprochen, als Universalsprache vereinigen sie die Welt. Aber Musik spricht natürlich auch ganz verschiedene Sprachen und oft neigen wir dazu, unterschiedliche musikalische Praxen nach den Ellen unserer eigenen Praxis abzumessen. Akribisch beschäftigen wir uns mit dem Anliegen einer historisch informierten Aufführungspraxis, wenden wir uns aber anderen Kulturen zu, geben wir uns hier weit weniger aufgeklärt: So wird ein Gospel nach erfolgreicher Einsinggymnastik und stimmbildnerischen Übungen in wohlgemeinter und uns vertrauter Choraufstellung einstudiert. Die Töne werden von der Stimmgabel abgenommen, die Notenmappe im 45-Grad-Winkel angelegt und das prinzipale Zeichen eines dirigierenden Meisters abgewartet. Wie fern bewegt sich diese Stilpflege von den authentischen Praxen ihrer afroamerikanischen Wurzeln, wie sie auch heute noch im entsprechenden Umfeld lebendig sind? Unter dem Eindruck der deutschen Wiedervereinigung stehend, hielt HansGeorg Gadamer im Sommersemester 1990 an der Universität Heidelberg einen Vortrag zum Thema „Die Vielfalt der Sprachen und das Verstehen der Welt“ (Gadamer 1999, 339). Mit Blick auf das biblische Gleichnis vom Turmbau zu Babel verdeutlicht Gadamer, dass es eine Einheit der Sprache nie gegeben hat und nie geben wird. Nicht nur damals berührt dieser Text „ein Thema von höchster Aktualität“, bis heute markiert dieser Text „das politische Thema katexochen, für das die Geschichte der Menschheit auf uns wartet“ (ebd., 339): „So
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einen Text kann man mit heutiger Bereitschaft nicht im alttestamentlichen religiösen Zusammenhang allein lesen. Man muß unwillkürlich darüber nachdenken, daß offenbar die Einheit und Solidarität einer gemeinsamen Sprache hier das eigentlich Tragende ist, das unbändige Energien des Willens und grenzenlose Zuversicht in die eigene Berufung zur Herrschaft verkörpert.“ (ebd., 346) Wie ein Turmbau zu Babel, der von der Existenz einer Einheitssprache ausgeht, im Musikunterricht aussehen kann, haben die angestellten Betrachtungen zu zentralen Prüfungsformaten hinlänglich zeigen können: „Wenn wir von dieser Überlegung [einer Einheitssprache] ausgehen, dann ist es wohl klar, was die Sprachen, die wir sprechen, für unser Menschsein bedeuten. Das merkt man schon an dem Beginn, wie die Griechen wie jede lebendige Kultur ihre Sprache als die selbstverständlich ‚richtige‘ Sprache ansehen.“ (ebd., 341) Auch heute wenden wir uns von jenen abschätzig ab, die nicht die Einheitssprache unserer germanozentrierten historischen Musikwissenschaft sprechen, mit orientalischen Instrumenten musizieren, mit Mikrofon singen oder sich einer E-Gitarre bedienen wollen: „Die Griechen hatten ein einziges Wort für alle, die nicht Griechisch sprachen: Das waren die Barbaren, die ‚Barbaoi‘.“ (ebd., 341) Gadamer mahnt, dass wir uns nicht als ein „inmitten der Welt zu einer Art Weltherrschaft aufschwingendes Wesen zu denken haben“ (ebd., 346). Gerade mit Blick auf aktuelle gesellschaftliche Realitäten gilt es, mit Gadamer zu betonen, „was das für eine schwere Sache ist, daß wir lernen müssen, inmitten der Verschiedenheit der Sprachkulturen und der Traditionen zu einer wirklichen Solidarität zu kommen. Das wird nur langsam und mühsam gelingen“ (ebd., 346). Der sprachgewaltige Martin Heidegger hat in einer seiner Jugendvorlesungen im Kriegsnotsemester 1919 die Wortschöpfung „es weltet“ (Heidegger 1987, 94) dafür gefunden. Wenn wir von einer einheitsstiftenden Globalisierung sprechen, kann das nur bedeuten, die Horizonte zu öffnen und den eigenen dabei zu überschreiten, Gegensätze zwischen den Völkern, Kulturkreisen und Religionsgemeinschaften zu überbrücken, einander zu achten und sich gegenseitig ein neues Gehör zu geben. „Die vermeintlich einheitsstiftende weltweite Globalisierung trifft auf eine unaufhörlich wachsende Spezialisierung nicht nur des Wissens, sondern auch der Lebensstile. Sie hat so zugenommen, dass die ‚universitas‘ als Einheit des ‚dem Einen zugewandten‘ Fragens und Suchens kaum noch erkennbar ist.“ (Ehrenforth 2005, 532) Sollte es erst auf der fernen Insel Utopia gelingen, sich der Vielfalt der musikalischen Sprachen anzunehmen, individuelle Lern- und Verstehensprozesse zuzulassen und sich den verschiedenen musikalischen Praxen jenseits der so eingewohnten Herrschaft einer Einheitssprache anzunehmen? Ein künstlerisches
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Schulfach sollte uns auch heute schon diese offenen und bereichernden Erfahrungsräume schenken dürfen. Der mit einer Conterganschädigung geborene Sänger Thomas Quasthoff hat mit seinem manchmal etwas sarkastischen Humor in genau diesem Sinne den Grundgedanken der Inklusion auf den Punkt gebracht: „Es gibt in Deutschland 80 Millionen Behinderte. Ich habe den Vorteil, dass man es mir ansieht.“ (Luehrs-Kaiser 2007, o.S.)
LITERATUR Bastian, Hans Günther (1987): Schulmusiker werden? – nein danke! Ein Berufsbild in der kritischen Bewertung instrumentaler Talente. In: Musik & Bildung, H. 10, 735–741. Becker, Uwe (2015): Die Inklusionslüge. Behinderung im flexiblen Kapitalismus. Bielefeld: transcript Verlag. Bloch, Ernst (1985): Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Eggebrecht, Hans Heinrich (1980): Über die Befreiung der Musik von der Wissenschaft. In: Musik & Bildung, H. 2, 96–101. Ehrenforth, Karl Heinrich (2005): Geschichte der musikalischen Bildung. Eine Kultur-, Sozial- und Ideengeschichte. Mainz: Schott. Gadamer, Hans-Georg (1999): Die Vielfalt der Sprachen und das Verstehen der Welt. In: Gesammelte Werke Bd. 8. Tübingen: Mohr Siebeck, 339–349. Guski, Alexandra (2007): Metaphern der Pädagogik. Metaphorische Konzepte von Schule, schulischem Lernen und Lehren in pädagogischen Texten von Comenius bis zur Gegenwart. Bern: Lang. Heidegger, Martin (1987): Zur Bestimmung der Philosophie. In: Martin Heidegger Gesamtausgabe 56/57, Frankfurt a.M.: Klostermann. Hentig, Hartmut von (2003): Die Schule neu denken. Eine Übung in pädagogischer Vernunft. Weinheim, Basel: Beltz. Jank, Werner (1996): Didaktische Interpretation von Musik oder Didaktik der musikalisch-ästhetischen Erfahrung? In: Ott, Thomas/Loesch, Hans von (Hg.): Musik befragt, Musik vermittelt. Peter Rummenhöller zum 60. Geburtstag. Augsburg: Wißner, 228–261. Jank, Werner (2013) (Hg.): Musikdidaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II. Berlin: Cornelsen. Kultusministerkonferenz (2010): Pädagogische und rechtliche Aspekte der Umsetzung des Überkommens der Vereinten Nationen vom 13. Dezember 06 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (Behindertenrechtskon-
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vention – VN-BRK) in der schulischen Bildung. Beschluss vom 18.11.2010, 1–10. www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/2010/2010_ 11_18-Behindertenrechtkonvention.pdf (Zugriff am: 14.09.2018) Liessmann, Paul (2014): Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung. Eine Streitschrift. Wien: Paul Zsolny Verlag. Luehrs-Kaiser, Kai (2007): „Ich habe gelernt, über mich zu lachen“ [Ein Interview mit Thomas Quasthoff]. In: Welt online. www.welt.de/vermischtes/ article1226597/Ich-habe-gelernt-ueber-mich-zu-lachen.html (Zugriff am: 14. 09.2018) Lukács, Georg (1981): Theorie des Romans. Darmstadt: Luchterhand. Mies, Paul (1931): Die Musikerziehung in der höheren Schule. In: Bücken, Ernst (Hg.): Handbuch der Musikerziehung. Potsdam: Akademische Verlagsanstalt Athenaion, 206–308. Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg (Hg.): Fachpraktische Abiturprüfung. Kernfach Musik. Durchführungsbestimmungen. Gültig ab dem Schuljahr 2015/2016 (erstmals angewandt im Abitur 2017). www.rpkmusik.de/download.php?doc=142 (Zugriff am: 14.09.2018) Münkler, Herfried (2004): Art. Thomas Morus. In: Volpi, Franco (Hg.): Großes Werklexikon der Philosophie, Bd. 2. Stuttgart: Kröner, 1060–1061. Richter, Christoph (2008): Musikunterricht von „unten“. Curriculare Arbeit und aufbauender Unterricht von den Schülern aus. In: Diskussion Musikpädagogik, H. 37, 11–20. Richter, Christoph (2012): Musik verstehen. Vom möglichen Nutzen der philosophischen Hermeneutik für den Umgang mit Musik. Augsburg: Wißner. Schmidt-Banse, Hans Christian (2005): Röntgenbild, Steckbrief, Portrait … oder was? Über das Elend musikalischer Analysen in der Schule. In: Bullerjahn, Claudia/Gembris, Heiner/Lehmann, Andreas C. (Hg.): Musik: gehört, gesehen und erlebt. Festschrift Klaus-Ernst Behne zum 65. Geburtstag. Hannover: Institut für Musikpädagogische Forschung, 489–512. Tischler, Björn (2011): Inklusion – Vision oder Mogelpackung? Konsequenzen der Inklusionsdiskussion für den (Musik-)Unterricht an Regelschulen. In: AfS-Magazin, H. 31, 16–17. Wocken, Hans (2010): Über Widersacher der Inklusion und ihre Gegenreden. In: Politik und Zeitgeschichte, H. 23, 25–31.
Musik: Unterricht – Förderung – Therapie Versuch einer freundlichen Grenzziehung Irmgard Merkt
Sonderpädagogische Musiktherapie, heilpädagogische Musiktherapie, pädagogische Musiktherapie, therapeutischer Musikunterricht, therapeutisches Musizieren, musikalische Heilpädagogik, Musiktherapie als Heilpädagogik, heilpädagogisch-musiktherapeutische Förderung – es gibt kaum eine Kombination der Grundbegriffe Sonder- oder Heilpädagogik, Unterricht, Förderung und Therapie, die in den vergangenen Jahrzehnten in der Fachliteratur nicht zu finden war. Hinter der Suche nach dem angemessenen Begriff steht das Bedürfnis, der Gleichzeitigkeit von Kognition und Emotion einen Namen zu geben, die im Zusammenhang mit Musik stattfindet. Dass die Grenzen zwischen Musikunterricht, Förderung durch Musik und Musiktherapie immer wieder fließend sind, ist unbestritten. Aus mehreren Gründen ist es dennoch hilfereich, die „Sachen zu klären“ oder zumindest Vorschläge für eine freundliche Grenzziehung zu machen. Es geht dabei um die Ziele des Gebrauchs von Musik, es geht um Aufgaben und Rollen der Unterrichtenden und der Therapierenden und es geht nicht zuletzt um die Erwartungen von Eltern oder anderen Erziehungsberechtigten.
UNTERRICHT Jenseits des informellen Alltagslernens und abgesehen von Privatunterricht, z.B. von privatem Musikunterricht oder Unterricht in der Musikschule, findet das Lernen heute in der Institution Schule in staatlichem Erziehungsauftrag statt. Das war nicht immer so: Bis zur Einführung der allgemeinen Schulpflicht als Ausdruck des Gleichheitsversprechens für alle Bürger war es ein jahrhundertelanger Weg (vgl. Tenorth 2014).
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Merkmale von Unterricht, wie sie in vielen Definitionen benannt werden, sind die gezielte und geplante Vermittlung von Wissen, Fähigkeiten und praktischem Können. Unterricht wird durch mehrere voneinander abhängige Faktoren bestimmt: a) die fachlichen und überfachlichen Unterrichtsziele; b) die Unterrichtsplanung, die Didaktik und die Auswahl der Unterrichtsmethoden; c) die Unterrichtsmittel; d) die soziale Situation der Lehrenden und Lernenden; e) die Art der jeweiligen Bildungsinstitution und deren Träger. Eine weniger formale Alltagsdefinition von Unterricht betont die Beziehungsebenen und definiert Unterricht als „die planmäßige Interaktion von Lehrenden und Lernenden zum Aufbau von Sach-, Sozial- und Selbstkompetenz im institutionellen Kontext der Schule“ (Jank/Meyer 2014, 46). Zum Unterricht gehören Regelklarheit und Rollenklarheit, d.h. verlässliche Arbeitsbeziehungen und Klarheit der Rolle von Lernenden und Lehrenden. Regelklarheit und Rollenklarheit in Bezug auf Unterricht heißt für die Lernenden: Sie wissen, dass alle anderen Kinder genauso wie sie lernen und dass die Institution nach bestimmten Regeln funktioniert. Sie wissen, dass die Lehrenden im Auftrag ihrer Eltern und des Staates handeln, sie wissen, dass die Lehrenden mit ihren Eltern bzw. Erziehungsberechtigten in Verbindung stehen, sie wissen, dass ihr Verhalten sowie ihr Lernfortschritt beurteilt wird. Die Lehrenden wiederum wissen, dass sie im Auftrag des Staates handeln und bestimmte Ergebnisse erzielen sollen, dass die Qualität ihrer Arbeit am Lernfortschritt der Lernenden gemessen wird. Zum Prinzip Unterricht gehört nach wie vor das pestalozzische „Lernen mit Kopf, Herz und Hand“, d.h. zum Lernen gehören die kognitiven, affektiven und die motorischen bzw. psychomotorischen Lernziele. Wie erfolgreich das Lernen gerade in der Kombination dieser drei Prinzipien ist, wissen alle, die in pädagogischen Berufsfeldern arbeiten.
MUSIKUNTERRICHT Musikunterricht ist Teil des Bildungskanons; er versteht sich als Erziehung zur Musik. Ziele des Unterrichts sind Wissensvermittlung und Erwerb musikalischer Fertigkeiten, Freude an der Musik und an sich selbst als musikalisch handelndem Menschen. Die Aufmerksamkeit in der Unterrichtssituation richtet sich dabei überwiegend auf den Gegenstand, auf das „Objekt Musik“. Wie in anderen Fächern wechseln Ebenen der Kognition, Emotion und Motorik auch im Musikunterricht. Diesen Wechsel kann man mit dem Bild der Wahrnehmungspsychologie von Vordergrund und Hintergrund beschreiben: Keine der Ebenen verschwindet
Musik: Unterricht – Förderung – Therapie | 153
jeweils ganz, es finden freilich immer wieder Wechsel und „Wanderungen“ zwischen Vordergrund und Hintergrund statt. Das Verständnis dessen, was Musikunterricht ist bzw. sein soll, wird über Lehrpläne der einzelnen Bundesländer beschrieben. Tabelle 1 stellt Aspekte von Unterricht und Therapie gegenüber. Tabelle 1: Gegenüberstellung von Unterricht und Therapie
Betroffen
Unterricht jede/r
Therapie im Krankheitsfall, in Sondersituationen
Bezeichnung
Schülerin/Schüler
Patient*in; Klient*in
Zeitrahmen
gesellschaftliche Regelung Schulpflicht
offen
Regelklarheit
vorgegebene Regeln
in Grenzen aushandelbare Regeln
Rollenklarheit
Lehrer*innen handeln im Auftrag des Staates und der Eltern nach Regeln der Institution. Eltern und Schule arbeiten zusammen.
Therapeut*innen handeln als Repräsentanten des Gesundheitswesens nach dessen Regeln. In der Psychotherapie bieten sie einen „safe place“, sind „Verbündete“ der Patient*innen und haben anderen gegenüber Verschwiegenheitspflicht
Beurteilung
Leistungsüberprüfung; Zensuren
Herstellung der Gesundheit
Ziele
Lernfortschritt; Wachstum; Persönlichkeit
Heilung; Stabilisierung der Persönlichkeit
Focus Persönlichkeit
Entwicklung von Persönlichkeit und Sachkompetenz
Entwicklung der Person
Quelle: eigene Darstellung
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THERAPIE Therapie bleibt – hoffentlich – für viele Menschen eine vorübergehende Ausnahmesituation. Therapie bezeichnet in der Medizin die vielfältigen Maßnahmen zur Behandlung von Krankheiten und Verletzungen. Ziel der Therapie die Heilung, die Beseitigung oder Linderung der Symptome und die Wiederherstellung der körperlichen oder psychischen Gesundheit. Auch die therapeutische Intervention folgt bestimmten Regeln, den Regeln der ärztlichen Kunst und den damit verbundenen finanziellen Implikationen. Im Rahmen eines „besonderen Ortes“ der Praxis oder der Klinik bieten die Therapeutinnen und Therapeuten insbesondere in der Psychotherapie einen „safe place“, d.h. sie sind zur Verschwiegenheit über die Inhalte der Therapiestunden verpflichtet, um eine ungestörte Entwicklung des Therapieprozesses zu ermöglichen. Eine Öffnung der Patient*innen innerhalb eines psychotherapeutischen Prozesses kann nur erfolgen, wenn ein Gefühl der „inneren Sicherheit“ entstehen kann. Regelklarheit und Rollenklarheit, d.h. verlässliche Beziehungen sind Voraussetzung für einen erfolgreichen Therapieprozess. Zu den Regeln gehören Dauer, Häufigkeit und Bezahlung der Therapiestunden. Die Rollenklarheit ist in Therapiekontexten manchmal Teil der therapeutischen Arbeit, wenn die Mechanismen der Übertragung geklärt werden müssen. In der Psychotherapie steht der Bereich des Affektiven im Sinne des SichSelbst-Verstehens im Vordergrund, das Verstehen von Sachverhalten im Sinne der Aneignung von Sachwissen steht im Hintergrund.
MUSIKTHERAPIE Musiktherapie als Teil des Gesundheitswesens findet in klinisch und therapeutisch ausgerichteten Orten statt und meint im weiten Sinne heilende Prozesse durch Musik. Die Aufmerksamkeit richtet sich innerhalb einer therapeutischen Situation auf die Klientin/den Klienten oder die Patientin/den Patienten. Ziel ist es, über die musikalische Aktion oder auch über das Musikhören die Zunahme an Erkenntnis über sich selbst zu gewinnen und eine bessere, subjektiv befriedigendere und „gesündere“ Verortung in der Welt zu erreichen. Das Verständnis von Musiktherapie, ihre Ziele und Anwendungsgebiete wird vom Berufsverband der Musiktherapeutinnen und Musiktherapeuten definiert:
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„Musiktherapie ist der gezielte Einsatz von Musik im Rahmen der therapeutischen Beziehung zur Wiederherstellung, Erhaltung und Förderung seelischer, körperlicher und geistiger Gesundheit. Musiktherapie ist eine praxisorientierte Wissenschaftsdisziplin, die in enger Wechselwirkung zu verschiedenen Wissenschaftsbereichen steht, insbesondere der Medizin, den Gesellschaftswissenschaften, der Psychologie, der Musikwissenschaft und der Pädagogik. Der Begriff ‚Musiktherapie‘ ist eine summarische Bezeichnung für unterschiedliche musiktherapeutische Konzeptionen, die ihrem Wesen nach als psychotherapeutische zu charakterisieren sind, in Abgrenzung zu pharmakologischer und physikalischer Therapie. Musiktherapeutische Methoden folgen gleichberechtigt tiefenpsychologischen, verhaltenstherapeutisch-lerntheoretischen, systemischen, anthroposophischen und ganzheitlichhumanistischen Ansätzen.“ (Deutsche Musiktherapeutische Gesellschaft 2018, o.S.)
Hinter den vier Abschnitten dieser Definition stehen zahlreiche Diskussionen um das Verständnis dessen, was eine therapeutische Beziehung ausmacht sowie um die Wirkungen von Musik (Abs. 1) und deren Erforschung (Abs. 2) sowie um die Zusammenarbeit verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen (Abs. 2). Absatz 3 und 4 machen deutlich, dass Musiktherapie als Teilbereich der Psychotherapie verstanden wird und sich in die zentralen, von der Medizin (mehr oder weniger) anerkannten Modelle der Psychotherapie integriert. Musiktherapie ist nicht als eigenständiges Therapiesystem zu verstehen, sondern als eine Methode, die – orientiert an einem Persönlichkeitsmodell – im Rahmen eines Psychotherapiemodelles agiert. Mit den Jahren erweitern sich freilich die Aufgabenfelder. In der „Kassler Konferenz Musiktherapeutischer Vereinigungen in Deutschland im Jahr 2004“ werden die Berufsfelder neu bzw. zusätzlich beschrieben: „Musiktherapeuten arbeiten institutionell gebunden oder selbständig in den Berufsfeldern Gesundheits- und Sozialwesen, Bildungs- und Beratungswesen (z.B. Wirtschaft). Weiterhin sind sie in Forschung, Evaluation und Öffentlichkeitsarbeit tätig.“ (Deutsche Musiktherapeutische Gesellschaft 2018, o.S.) Die Erweiterung des Aufgabenfelds ist gedeckt durch die Formulierung „Erhaltung und Förderung seelischer, körperlicher und geistiger Gesundheit“ im ersten Satz der oben zitierten Definition von Musiktherapie.
MUSIKUNTERRICHT – MUSIKTHERAPIE Das Verhältnis Musikunterricht – Musiktherapie war lange Jahre eher schwierig. Eine Karikatur von Klaus Finkel, bestehend aus zwei Bildern, gibt die Ausei-
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nandersetzungen der 1980er Jahre treffend wieder: Bild 1 zeigt den Querflöte spielenden Musikpädagogen mit den Kommentaren „straff gescheitelt, sicherer Blick, sichere Hand trifft, spielt nach Vorschrift und Noten, formal-korrekt, immer auf dem Sprung , in totaler Arbeit“ – als Ergebnis liegt die Musik, symbolisiert durch einen Vogel, tot am Boden. Der ebenso Querflöte spielende Therapeut in Bild 2 erscheint als „etwas wirrer Kopf, verträumt-idealisierter Blick, hat mit Nebenwirkungen zu kämpfen, improvisiert gewöhnlich, bleibt lange stehen, es wächst aber“ (Decker-Voigt 1983,26 ff.). Was wächst, ist ein kleines Feld von Blumen, bewässert von Tropfen aus der Querflöte. Fazit: Musikunterricht ist regelhaft, kalt und wirkt abtötend, Musiktherapie ist etwas chaotisch, aber warm und ermöglicht Wachstum. Die Karikatur zeigt die gegenseitigen Vorurteile, die, dies ist nicht von der Hand zu weisen, durchaus auf Beobachtungen der Wirklichkeit beruhen. Zweifellos gab und gibt es Musikunterricht, der die Freude an der Musik eher abtötet, zweifellos gab und gibt es therapeutische Interventionen, die den Eindruck von Beliebigkeit vermitteln. Jenseits der diversen Profilierungen entstanden immer wieder Konzepte, die die Ebene des Unterrichts mit der der therapeutischen Intervention in Verbindung bringen wollten. Eines dieser Konzepte war das der „Pädagogischen Musiktherapie“.
PÄDAGOGISCHE MUSIKTHERAPIE Werner Probst (1925–2007) war von 1969 bis 1989 Dozent und Professor für Musikerziehung bei Behinderten an der damaligen PH Ruhr, der späteren Universität und heutigen TU Dortmund. Sein Weg über die Musikschule in die Hochschullehre dokumentiert sich im lebenslangen Interesse an der Weiterentwicklung der Musikschule in Richtung Integration, der späteren Inklusion. Zentrales Merkmal seines Denkens war, Kindern und Jugendlichen ein normales Musikerleben zuzusprechen. In der Sprache von damals: „Insoweit kann sich der Behinderte der Norm entsprechend verhalten, als er 1. Wie jeder Mensch dispositionell ausgerüstet ist, Musik zu erleben, als 2. Musik zunächst, ohne einen übergeordneten Wertungsmaßstab anzulegen, erlebt wird, die emotionalen Beziehungen zur Musik von der naiven Klangerfahrung ausgehen, als es 3. den allgemeinen Beobachtungen entspricht, dass Musik eine Wirkung ausübt und dass auf diese Wirkung reagiert wird.“ (Probst 1978, 153 ff.) Die Tendenzen der allgemeinen Musikdidaktik waren in den 1970er und 1980er Jahren die Abkehr vom Prinzip des Musischen hin zu einer Intellektuali-
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sierung des Musikunterrichts – Probst aber ging es um die Gleichzeitigkeit von Wissensvermittlung und Beibehalten der emotionalen bzw. affektiven Wirkungen von Musik im Musikunterricht der Sonderschulen: „Die Trennung vom affektiven Anteil der Musik brachte indessen innerhalb der Sonderpädagogik die Erkenntnis, dass man sich eines wirksamen Mittels der positiven Einflußnahme begibt.“ (Probst 1978, 158) Das „wirksame Mittel Musik“ wird zum Medium in einer von Probst entworfenen „Bedingungskette“. Beispiel: Schwäche bei Leseund Schreibleistungen – Problem im Wahrnehmungsbereich – Diagnose Hörbarriere – Auditive Wahrnehmungsförderung durch Musik: „Mit Mitteln, die dem Musikunterricht entnommen sind, etwa einer auditiven Wahrnehmungsschulung, muss versucht werden, diese Hörbarrieren und ihre Begleiterscheinungen anzugreifen.“ Die im Kontext der Bedingungskette skizzierte Situation der Wahrnehmungsförderung nennt Probst „Musiktherapie im pädagogischen Raum“ (Probst 1978,161) oder schließlich umfassend „Pädagogische Musiktherapie“. Die Situation der Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen, hier zwischen den Stühlen Musikpädagogik und Musiktherapie verortet zu sein, sieht Probst sehr wohl: „Der Pädagoge wird sich der Gefahr einer Grenzüberschreitung zur Medizin hin immer bewußt bleiben, solange er die in seinen Zuständigkeitsbereich des pädagogischen Raumes fallende Beeinträchtigung sieht. Er wird über ein breites Angebot von Möglichkeiten, mit Musik umgehen zu können verfügen müssen, die er seinem anderen Aufgabenfeld, dem Unterricht in Musik entlehnt.“ (Probst 1978,162) Zusammengefasst: • Probst betont die Normalität der Kinder in Bezug auf Musikwahrnehmung und
verortet damit deren Umgang mit Musik im Bereich der Normalität. • Musikalische Intervention im schulischen Kontext bei Förderbedarf außerhalb
der Musikvermittlung verortet Probst im Bereich Therapie. • Die Lehrkraft „jongliert auf der Grenze zwischen Medizin und Pädagogik“ • Probst verweist selbst auf mögliche Schwierigkeiten insbesondere innerhalb
des therapeutischen Teils der Aufgabe; er verweist ebenso auf die notwendigen Weiterentwicklungen des Konzeptes der pädagogischen Musiktherapie Dem Musizieren bzw. dem Instrumentalspiel kommt im Gesamtkonzept „Musik und Behinderung“ von Probst der zentrale Stellenwert zu, ein Stellenwert, der schließlich Anlass und Auslöser wird für das „Bochumer Modell“ (Probst 1991). Das Musizieren von Menschen mit Behinderung ist für Probst „unbehindertes“ Musizieren. Aufgabe der Pädagoginnen und Pädagogen ist es, mit methodisch angemessenen Schritten die Entwicklung der Schüler*innen so weit wie möglich
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voran zu bringen. Übergeordnetes Ziel ist schließlich die uneingeschränkte Teilhabe „am Musikangebot der Gegenwart“ (Probst 1991, 162). Was Probst – der Zeit geschuldet – Integration nannte, heißt heute Inklusion. Das Konzept einer pädagogischen Musiktherapie wird heute nicht mehr verfolgt – es hat sich aufgelöst in Konzepte der sonderpädagogischen Förderung. Hochaktuell bleibt allerdings der Ansatz, Menschen mit Behinderung eine musikalische Disposition und damit auch die Entwicklungsfähigkeit musikalischer Kompetenzen zuzuschreiben. Damit ist bereits der Grundgedanke von Artikel 30 Abs. 2 der UN-BRK formuliert, „Menschen mit Behinderungen die Möglichkeit zu geben, ihr kreatives, künstlerisches und intellektuelles Potenzial zu entfalten und zu nutzen“. Lebendig vermittelt werden Probsts Sichtweisen auf Musik und Menschen mit Behinderung bis heute insbesondere im Ausbildungsgang BLIMBAM für Lehrkräfte an Musikschulen, einem Lehrgang, der seit über dreißig Jahren für die inklusive Arbeit an Musikschulen qualifiziert (Verband deutscher Musikschulen 2018).
THERAPEUTISCHES MUSIZIEREN Herbert Bruhn, Professor für Musik und ihre Didaktik an den Universitäten Kiel und Flensburg, seit 2013 im Ruhestand, ist u.a. Begründer einer Weiterbildung Musiktherapie am Nordkolleg in Rendsburg, die von 1991 an angeboten wurde. Seine Veröffentlichungen zu Musikwissenschaft, Musikpsychologie und Musiktherapie gehören in musikalischen und musiktherapeutischen Ausbildungsgängen zur Standardliteratur. Das Grundlagenwerk „Musiktherapie. Geschichte – Theorien – Methoden“ versucht „die Methoden und Anwendungsgebiete der Musiktherapie in einer Art und Weise zu erfassen, die der Vielfalt in Deutschland Rechnung trägt und gleichzeitig die Einbindung in internationale Konzepte ermöglicht“ (Bruhn 2000, V). Bruhn fasst das Methodeninventar der Musiktherapie in drei Kategorien. Die konfliktzentrierte Musiktherapie orientiert sich an psychotherapeutischen Arbeitsweisen: Konfliktzentrierte Musiktherapie richtet sich auf die Bearbeitung von Konflikten im Allgemeinen in der klinischen Arbeit (Bruhn 2000, 5). „Der Musiktherapeut versucht, die Abwehr des Klienten aufzulösen, eine Übertragungsbeziehung aufzubauen und so die unbewussten und meist verdrängten Konflikte einer Bearbeitung zuzuführen.“ (Ebd., 45) Die erlebniszentrierte Musiktherapie arbeitet nicht mit dem Aufbau einer Übertragungsbeziehung, sie zielt auf die Förderung eines Gefühls persönlicher Identität und eines psychischen Reifungsprozesses, der das Ich stützt (ebd., 5).
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„Erlebniszentrierte Arbeit, bei der es lediglich um Verbesserung des momentanen Wohlbefindens geht, bezieht möglicherweise häufig außermusikalische Elemente ein.“ (Ebd., 50) Übungszentrierte Musiktherapie wiederum arbeitet zielgerichtet an der Verbesserung von bestimmten Fertigkeiten und Fähigkeiten (ebd.). Sie „findet ihre Anwendung überwiegend im Bereich der Sonderpädagogik. Mit Liedern und rhythmisierten Texten können Lerninhalte leichter vermittelt und besser eingeprägt werden. Im Rhythmus gespielter oder gehörter Musik können Übungswiederholungen für außermusikalische Aufgaben länger aufrechterhalten werden […]. Selbst bei schwer geistig und bei basal gestörten Kindern lässt sich durch musikalische Mittel Verhalten formen (shaping), das zur Bewältigung des täglichen Lebens hilfreich ist.“ (Ebd., 7) Das „Therapeutische Musizieren“ dient schwerpunktmäßig der Vermittlung außermusikalischer Lerninhalte und der Entwicklung bestimmter Verhaltensweisen. Damit ist es auf die Transferwirkung der Musik gerichtet. Beim Therapeutischen Musizieren geht es „in erster Linie um das Musikmachen mit behinderten, mit problembeladenen aggressiven oder auch zurückgezogenen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen und mit alten Menschen […]. Im Zentrum steht die musikalische Arbeit – als Effekte werden jedoch wie in der erlebnis- und übungszentrierten Musiktherapie emotionales Wachstum, Verbesserung von Kommunikationsfähigkeit, Dialogfähigkeit und Gemeinschaftssinn sowie Erhöhung der Fähigkeit zur Konzentration angestrebt.“ (Ebd., 7) „Man könnte das Therapeutische Musizieren im Sinne der Systematik von Tischler […] als reine Musikpädagogik bezeichnen, wäre da nicht die Zentrierung auf eine bestimmte Klientel. Es hat sich erwiesen, dass Musikpädagogen ohne eine angemessene musiktherapeutische Ausbildung prinzipiell überfordert sind, wenn z.B. Problemkinder unterrichtet werden sollen.“ (Ebd.,7)
Jenseits der Tatsache, dass Musikpädagogen wie auch andere Pädagoginnen und Pädagogen mit dem Unterrichten von „Problemkindern“ immer wieder überfordert sind: Eine musikalische Aktivität nur deshalb therapeutisch zu nennen, weil sie von Menschen mit Behinderung ausgeführt wird, bedeutet die Zuschreibung einer grundsätzlichen Therapiebedürftigkeit. Behinderung = Therapie? Dies ist das traditionelle Bild vom therapiebedürftigen Sorgenkind: ‚Weil du behindert bist, ist das musikalische Angebot für dich nicht Pädagogik, sondern Therapie.‘ Es ist gerade dieser medizinische und defizitorientierte Blick auf Behinderung, gegen den sich Menschen mit Behinderung, gegen den sich die Empowermentbewegung, die Inklusionsbewegung und die UN-BRK wehren.
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Seit der Publikation von Bruhn zur Musiktherapie sind 18 Jahre vergangen. In dem von Bruhn mit herausgegebenen neueren Werk „Musikpsychologie. Das neue Handbuch“ (Bruhn/ Kopiez/Lehmann 2008) findet das Therapeutische Musizieren im Kontext Musiktherapie keine Erwähnung mehr. Der Terminus „Therapeutisches Musizieren“ ist allerdings noch da und dort in einigen Musikschulen im norddeutschen Raum im Gebrauch. „Das therapeutische Musizieren bietet eine Verbindung zwischen musiktherapeutischen Mitteln und Instrumentalunterricht. Lernen Sie ein Instrument und bearbeiten Sie gleichzeitig selbstständig Probleme und Anliegen. Diese Herangehensweise ist insbesondere auch für Kinder als entwicklungsförderndes Angebot geeignet.“ (Schneider 2018, o.S.)
MUSIKTHERAPIE IN DER SCHULE Die „enge Wechselwirkung zur Pädagogik“ wie auch der Aspekt der Prävention – Erhaltung Förderung der Gesundheit – legen aus Sicht des Selbstverständnisses der Deutschen Musiktherapeutischen Gesellschaft und mancher Musiktherapeutinnen und -therapeuten auch den Einsatz in der Schule, insbesondere in der Förderschule nahe. Die Frage, ob und unter welchen Bedingungen Musiktherapie innerhalb des Systems Schule angeboten werden kann und soll, beschäftigt die beiden Bereiche Schule und Musiktherapie ebenfalls seit den 1980er Jahren. Die musiktherapeutische Fachliteratur berichtet immer wieder von gelungenen Beispielen (Mahns 1987), eine Aufsatzsammlung zum Thema Musiktherapie in der Schule von 2005 (Tüpker 2005) umreißt bereits umfassend Pro und Contra. Zentraler Aspekt ist die Frage des Settings und der therapeutischen Beziehung: Jegliche Rollenvermischung führt auch zur Vermischung von Gefühlen auf allen Seiten. Eine Person sollte und kann nicht in verschiedenen Rollen mit einem Kind/Patient/Klient arbeiten, eine alte Therapeuten- und auch Pädagogenregel. Ein neuerliches Plädoyer für eine Verbindung von Musiktherapie, Schule und Förderung liegt mit der Dissertation von Eric Pfeifer vor. Pfeifer ist Professor für „Ästhetik und Kommunikation – Schwerpunkt Musik als Medium“ an der Katholischen Hochschule Freiburg. Die Arbeit signalisiert eine Tendenz zur Therapeutisierung ganz alltäglicher Vorgänge wie singen, ein Instrument spielen, Geschichten vertonen, über sich nachdenken, tanzen, zu Musik zu malen usw.: Das Normale wird das Besondere – und es ist eben nicht mehr normal, dass einem bestimmte Tätigkeiten einfach gut tun, dass sie erfüllend und befriedigend sind, dass sie zum sozialen Leben beitragen bzw. Ausdruck des sozialen und künstlerischen Lebens sind (Pfeifer 2014).
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Das System Schule steht therapeutisch definierten Angeboten bis heute nur in wenigen Kontexten positiv gegenüber. Das Schaffen eines leistungsfreien Erlebnis- und Aktionsraumes, der der Selbsterfahrung und Selbstentwicklung dient, kann Sache der Schule in Form von AGs, der Sozialarbeit, der Kulturarbeit und Kulturförderung sein. Angebote – auch außerschulischer – Kultureller Bildung werden längst immer auch mit der Förderung der Persönlichkeit und der Sozialkompetenz begründet. In allen Kontexten können sich natürlich krisenhafte Sondersituationen und Verhaltensweisen von Menschen zeigen, die der therapeutischen Intervention und der besonderen therapeutischen Beziehung bedürfen – dann soll und muss Therapie stattfinden. Allerdings außerhalb der Schule.
FÖRDERUNG Wahrnehmungsförderung durch Musik, Sprachförderung durch Musik, Sozialkompetenz fördern durch Musik, Musik macht alle Kinder schlau – die Förderung von nicht-musikalischen Kompetenzen mit Hilfe der Musik hat Konjunktur. Die Diskussion um die Transfereffekte des Musikmachens und damit die Förderung nicht-musikalischer Kompetenzen beginnt verstärkt im Jahr 2000 mit der Veröffentlichung der methodisch später stark kritisierten Studie von Bastian zur Wirkung zusätzlichen Musikunterrichts an Grundschulen. Die Studie stellt positive Transferwirkungen in den Bereichen Intelligenz, soziale Kompetenz, Konzentrationsleistungen, Abbau von Angst und emotionaler Labilität u.a. fest (Bastian 2000). Schnell folgt 2001 die Veröffentlichung „Kinder optimal fördern mit Musik: Intelligenz, Sozialverhalten und gute Schulleistungen durch Musikerziehung“ (Bastian 2001), in kurzen Abständen folgen weitere Auflagen, die jüngste 2016. Der Boom um die Transfereffekte der Musik löst in der Musikpädagogik die Befürchtung eines bloßen In-Dienst-Nehmens der Musik aus. Gleichzeitig ist der Nutzen dieses Booms für Kulturpolitik, kulturelle Teilhabe, Kulturelle Bildung und auch inklusive Kulturelle Bildung unübersehbar. Trotz allen Aufschwungs: Nachhaltig kann mit der Nützlichkeit der Transfereffekte für Gesellschaft und Person nur argumentiert werden, wenn die Forschungsergebnisse nicht nur „schwache“, sondern deutliche Effekte nachweisen. Der populäre Mozart-Effekt beispielsweise wird durch die Wissenschaft mangels nachhaltiger Wirksamkeit gerade wieder verabschiedet. Gembris hat aktuell in einer Studie die Forschungen zu Effekten der Produktion und Rezeption von Musik analysiert: „Transfer-Effekte und Wirkungen musikalischer Aktivitäten auf ausgewählte Bereiche der Persönlichkeitsentwick-
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lung“ (Gembris 2015). Im Vordergrund standen dabei die Aspekte Spracherwerb, Kommunikation, Bildungserfolg, Verständigung und Gemeinschaft und die therapeutische Wirkungen von Musik. „Deswegen steht die Darstellung von Forschungsergebnissen zu den Themenfeldern Spracherwerb, soziale Verhaltensweisen, Persönlichkeitsbildung, kognitive Fähigkeiten im Vordergrund. Zusätzlich wird auf das Themenfeld der Förderung von Wohlbefinden, Lebensqualität und Gesundheit durch Musik hingewiesen, das eine ergänzende Argumentationslinie darstellen könnte.“ (Gembris 2015, 2) Die Auswertung der Untersuchungen zu Transfereffekten der Musik verweist auf positive Effekte des aktiven Umgangs mit bzw. der Wirkung von Musikhören in folgenden Bereichen: • • • • • •
Emotionsregulation Gemeinschaftsgefühl Spracherwerb (Muttersprache und Fremdsprache) Lese-Rechtschreib-Kompetenz Positive Beeinflussung des Selbstkonzepts Positive Wirkung auf Wohlbefinden, Lebensqualität und Gesundheit
Im Kontext der Transfereffekte bzw. der Förderung außermusikalischer Kompetenzen durch Musik stellt Gembris selbst einen Bezug zu therapeutischen Aspekten her: „Die o.g. emotionsregulierenden und sozial verbindenden Wirkungen haben sicher auch therapeutische Aspekte. Obgleich man hier nicht von Musiktherapie im engeren Sinne sprechen kann (weil diese bestimmte Indikationen, Settings, Methoden und therapeutisches Handeln beinhaltet), gibt es hinsichtlich allgemeiner Wirkungsmöglichkeiten des Musikhörens und Musizierens deutliche Überschneidungen mit musikpädagogischen Settings. […] Diese Potenziale von Musik sind nicht nur auf musiktherapeutische Kontexte beschränkt, sondern können auch in musikpädagogischen und außerschulischen Settings wirksam werden […].“ (Gembris 2015, 7)
ZUSAMMENFASSUNG Ein Szenario: Jugendliche sitzen in einem Trommelkreis; die Spielregel ist das Stopp-Trommeln. Alle trommeln frei, hebt einer der Mitspielenden die Hände und ruft „Stopp“, hören alle so lange auf, bis der Spieler oder die Spielerin selbst weiterspielt.
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Welches wären Ziele eines solchen Spiels im Musikunterricht? Welches wären Ziele im Rahmen der Musiktherapie? Welches wären Förderziele? Es liegt wie immer im Auge der Betrachter – und im Gesamtsetting. Als Unterricht verstanden, werden Spiel und Pause, Lärm und Stille gestaltet und erfahren, auch die Trommel und ihre Klangmöglichkeit kann Unterrichtsthema sein. Als Therapie verstanden, geht es z.B. um die Frage, welche Erfahrungen die Spieler mit dem Thema „Stopp“ haben. Wurde ein „Stopp“ von Seiten des Kindes oder des Jugendlichen gehört und akzeptiert? In einem therapeutischen Gespräch kann die Thematik behandelt werden. Als Förderung verstanden geht es um Konzentration, Sozialverhalten bzw. Selbst-Positionierung innerhalb einer Gruppe. Hinter dem Musikunterricht steht eine pädagogische Profession, hinter der Musiktherapie steht eine therapeutische Profession. Förderung ist keine eigene Profession sondern eine Folge, gleichsam ein „Querlagen-Effekt“, der über die Arbeit verschiedener Professionen erzeugt wird. Die aktuellen Integrations- und Inklusionsdiskussionen plädieren für Normalisierung in jeder gesellschaftlichen und auch künstlerischen Hinsicht. Sie sind gleichzeitig eine Aufforderung, sich im Bereich der Musik zu positionieren. Die Verortung der Musik und ihrer Wirkungen im Bereich des Normalen – die Transferwirkungen der Musik sind ja auch normal – entlastet vor allem die Pädagog*innen und klärt auch die eigene Position als Lehrer*in.
LITERATUR Bastian, Hans Günther (2000): Musik(erziehung) und ihre Wirkung. Eine Langzeitstudie an Berliner Grundschulen. Mainz u.a.: Schott. Bastian, Hans Günther (2001): Kinder optimal fördern – mit Musik. Intelligenz, Sozialverhalten und gute Schulleistungen durch Musikerziehung. Mainz: Atlantis-Musikbuch-Verlag. Bruhn, Herbert (2000): Musiktherapie. Geschichte – Theorien – Methoden. Göttingen u.a.: Hogrefe. Bruhn, Herbert/Kopiez, Reinhard/Lehmann, Andreas C. (Hg.) (2008): Musikpsychologie. Das neue Handbuch. Originalausgabe. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt-Taschenbuch-Verlag. Decker-Voigt, Hans-Helmut (Hg.) (1983): Handbuch Musiktherapie. Funktionsfelder, Verfahren und ihre interdisziplinäre Verflechtung; lexikalische Stichwörter. Lilienthal: Eres-Edition.
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Deutsche Musiktherapeutische Gesellschaft (2018): Musiktherapie: Definition – Berufsbild – Geschichte. Berlin. www.musiktherapie.de/musiktherapie/ definition.html (Zugriff am: 19.09.2018) Gembris, Heiner (2015): Transfer-Effekte und Wirkungen musikalischer Aktivitäten auf ausgewählte Bereiche der Persönlichkeitsentwicklung. Ein Überblick über den aktuellen Stand der Forschung. Gütersloh: BertelsmannStiftung. www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/Projekte/47_MIKA/ Gembris_Expertise_final.pdf (Zugriff am: 19.09.2018) Jank, Werner/Meyer, Hilbert (2014): Didaktische Modelle (11. Aufl.). Berlin: Cornelsen. Mahns, Wolfgang (1987): Zur Praxis der musiktherapeutischen Einzelbehandlung in der Sonderschule. In: Musik und Kommunikation. Hamburger Jahrbuch zur Musiktherapie und intermodalen Medientherapie, H. 1, 11–34. Pfeifer, Eric (2014): Musiktherapie als Fördermaßnahme in der Schule. Eine Studie zum Zusammenhang von Fremdheitserfahrung, Integration und Prävention in Schulklassen. Zugl.: Augsburg, Univ., Diss., 2011. Wiesbaden: Reichert (Musiktherapie Universität Augsburg). Probst, Werner (1991): Instrumentalspiel mit Behinderten: Ein Modellversuch und seine Folgen. Mainz: Schott. Probst, Werner/Vogel-Steinmann, Brigitte (1978): Musik, Tanz und Rhythmik mit Behinderten. Regensburg: Bosse. Schneider, Christina Maria (2018): Therapeutisches Musizieren. www.mtats.de/ men%C3%BC/instrumental-und-gesangsunterricht/therapeutisches-musizieren/ Zugriff am: 19.09.2018) Tenorth, Heinz-Elmar (2014): Kurze Geschichte der allgemeinen Schulpflicht. Le monde diplomatique, H. 9. www.monde-diplomatique.de/artikel/!827733 (Zugriff am: 02.10.2018) Tüpker, Rosemarie (2005): Musiktherapie in der Schule. Wiesbaden: Reichert. Verband deutscher Musikschulen (2018): BLIMBAM. Berufsbegleitender Lehrgang „Instrumentalspiel mit Menschen mit Behinderung an Musikschulen“. Bonn. www.musikschulen.de/projekte/inklusion/menschen-mit-behinderung/ blimbam/ (Zugriff am 19.09.2018)
Von Road Maps und notwendigen Umleitungen Wege und Umwege zur inklusiven Kulturellen Bildung Sven Sauter Behinderung als Ausgangspunkt einer Kritik […] hinterfragt, worauf unsere Definitionen und Vorstellungen von ästhetischer Produktion bzw. ihrem adäquaten Verständnis gründen – Tobin Siebers 2009, 8
EINLEITUNG Es ist sicherlich eine interessante Koinzidenz, dass zwei bedeutsame Ereignisse gleichzeitig im Jahr 2006 stattfanden, die bis heute nachhaltig die Diskurse zu und Bereiche von Kunst, Teilhabe, Behinderung und Inklusion beeinflussen. Da ist auf der einen Seite die Behindertenrechtskonvention, die am 13. Dezember 2006 von der UN-Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York zum Schutz der Menschenrechte von Menschen mit Behinderung verabschiedet wurde. Die Konvention präzisiert und ergänzt die bereits bestehenden menschenrechtlichen Standards unter dem besonderen Blickwinkel der Menschen mit Behinderung. Wichtige Aussagen zum Feld der Kunst und der diskriminierungsfreien Teilhabe an Kunst, Kultur und Kultureller Bildung sind neben der Präambel und den Allgemeinen Grundsätzen beispielsweise zu finden in Artikel 24 (Bildung) sowie in Artikel 30 (Teilhabe am kulturellen Leben sowie an Erholung, Freizeit und Sport). Tatsächlich ist die Behindertenrechtskonvention der erste Menschenrechtsvertrag, der explizit den Begriff Inklusion benutzt und als Leitidee benennt. Wobei allerdings auch feststeht, dass Inklusion ein untrennbarer und zentraler Be-
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standteil des menschenrechtlich begründeten Diskriminierungsverbots ist. Das Diskriminierungsverbot wohnt von daher einem jedem Menschenrecht inne. Denn die Menschenrechte verpflichten den Staat, sie gleichermaßen gegenüber allen Menschen zu achten, zu schützen und sie für alle zu gewährleisten. Inklusion ist in diesem Sinne kein eigenständiges Recht, sondern ein inhärenter Bestandteil jedes Menschenrechts. Die UN-Behindertenrechtskonvention drückt das allerdings erstmals explizit aus. Der Sache nach wohnt Inklusion indes auch allen früheren Menschenrechtsverträgen inne (vgl. Rudolf 2012). Zum anderen fand 2006 in Lissabon vom 6. bis 9. März die UNESCOWeltkonferenz für Kulturelle Bildung statt. Auf dieser Konferenz wurde der Leitfaden für Kulturelle Bildung vorgelegt, der eine Kulturelle Bildung für Alle als Zielperspektive formuliert. Die so genannte Road Map for Arts Education hat einen anderen, ungleich bescheideneren Verbindlichkeitsgrad als die Behindertenrechtskonvention, die mit Staatenprüfungsverfahren, Fachausschüssen und Individualbeschwerdeverfahren wirksame sowie verbindliche völkerrechtliche Durchsetzungsinstrumente aufweisen kann. Der Leitfaden aus Lissabon kommt zurückhaltender daher: Er hat den Status eines Diskussions- und Strategiepapiers. Was den praktischen Wert des Dokuments betrifft, „so ist es als ein sich entwickelndes Referenzdokument gedacht, das konkrete Änderungen und Schritte zusammenfasst, die nötig sind, um kulturelle Bildung im schulischen und außerschulischen Bereich einzuführen und zu fördern. Damit wird ein stabiler Rahmen für zukünftige Entscheidungen und Handlungen in diesem Bereich erstellt.“ (Deutsche UNESCO-Kommission 2008, 16) In konzeptioneller Hinsicht besteht der Wert der Road Map darin, dass sich in Lissabon die Weltgemeinschaft – bei aller regionaler Verschiedenheit – darauf geeinigt hat, dass Kulturelle Bildung ein notwendiger und unverzichtbarer Bestandteil von Bildung ist (vgl. Fuchs 2008, 15). Auch gegenwärtig sind Inhalte, Zielsetzungen und auch der Begründungszusammenhang dieses Dokuments von anhaltender Aktualität für eine inklusive Kulturelle Bildung. Aus diesem Grund möchte ich in diesem Beitrag zunächst die Road Map in ihren Grundzügen skizzieren, um anschließend einen Impuls, der direkt diesem Leitfaden für Kulturelle Bildung entspringt, aufzugreifen und darzustellen. Er besteht in einer Kooperation mit einer Kunstsammlung, die als nachhaltig wirkende Partnerschaft die Ausbildung von Lehrkräften und außerschulisch arbeitenden Pädagogen und Pädagoginnen verändern wird. Da eine Road Map eine Landkarte und nicht die Landschaft darstellt, gibt die anschließende Reflexion eine wichtige Merkmalsausprägung von ästhetischer Produktion und Reproduktion wieder: Sie besteht in der Widerständigkeit der
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Kunst und der Widerspenstigkeit (Sierck 2018) von (nicht nur behinderten) Künstler*innen. Dies formuliert spezifische Ansprüche an das pädagogische Personal, das in der Vermittlung arbeitet. Absolut betrachtet lassen sich mit der vorliegenden Road Map keine direkten und linearen Wege zu einer diskriminierungsfreien Teilhabe an Kunst, Kultur und Kultureller Bildung beschreiten. Aber Umwege erweitern bekanntlich die Ortskenntnis und von daher möchte ich für den eigenständigen Wert dieser Umwege im Dienste eines umfassenden Bildungsbegriffs in der Kulturellen Bildung plädieren.
LEITFADEN FÜR KULTURELLE BILDUNG – LISSABON REVISITED Wie auch alle anderen Dokumente und Übereinkünfte der Vereinten Nationen im Kontext von Teilhabe, Inklusion und den Menschenrechten muss auch die UNESCO Road Map for Arts Education konkret mit Leben gefüllt und in den jeweiligen Zusammenhängen re-kontextualisiert werden. Dieser Prozess fällt umso leichter, je mehr die Grundzüge des Dokuments bekannt sind und an die jeweilige Verantwortung in den unterschiedlichen Bereichen von Kultureller Bildung, Ausbildung, Kunstproduktion und der Kooperation mit anderen Akteuren adressiert werden kann. Wichtig ist zunächst, dass die Ziele der Kulturellen Bildung, wie sie im Leitfaden skizziert werden, unmittelbar an einem menschenrechtlichen Bildungsverständnis anschließen. Dieser menschenrechtliche Fokus zeigt sich in der folgenden Aussage sehr deutlich: „Kultur und Kunst sind unerlässliche Bestandteile einer umfassenden Bildung, die es jedem Einzelnen ermöglicht, sich voll zu entfalten. Kulturelle Bildung ist daher ein grundlegendes Menschenrecht, das für alle Lernenden gilt, einschließlich für die oft von Bildung Ausgeschlossenen, wie Einwanderer*innen, kulturelle Minderheiten und Menschen mit Behinderungen.“ (Deutsche UNESCO-Kommission 2008, 17) Hieran schließen sich sodann die betreffenden Referenzdokumente an wie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die Kinderrechtskonvention, allerdings noch nicht die Behindertenrechtskonvention, die erst gut sechs Monate später verabschiedet werden sollte. Gleichwohl zeigt sich die Strategie der Vereinten Nationen, die auch in der Education for All-Kampagne seit mindestens 1994 nachhaltig Wirkung entfaltet: Aus der Perspektive der vulnerabelsten Gruppen wird ein Recht auf eine qualitativ hochwertige und diskriminierungs-
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freie Bildung normativ formuliert und Teilhabe als operativer Maßstab eingeführt (vgl. Kunze/Sauter 2019). In diesem Zusammenhang kommt Kooperationen besondere Bedeutung zu. Sie umfassen mehrere Dimensionen. Zunächst wird eine direkte Partnerschaft mit Kunstschaffenden angesprochen. „Damit Kinder und Erwachsene umfassend am kulturellen und künstlerischen Leben teilnehmen können, müssen sie künstlerische Ausdrucksformen durch Mitmenschen, meistens Künstler*innen genannt, die verschiedene Aspekte der Existenz und Koexistenz erforschen und ihre Erkenntnisse mitteilen, nach und nach verstehen, schätzen und erfahren lernen. Das Ziel besteht darin, allen Menschen gleiche Chancen auf kulturelle und künstlerische Aktivitäten zu geben. Kulturelle Bildung sollte ein verpflichtender Teil allgemeiner Bildung sein.“ (Deutsche UNESCO-Kommission 2008, 19) Interessant an dieser Ausführung ist, dass hier kein eigenständiges Feld der Kulturellen Bildung formuliert wird, sondern die Kulturelle Bildung als Bestandteil der allgemeinen Bildung angesehen wird. Darauf wird noch zurückzukommen sein, denn es entsteht dadurch die Notwendigkeit einer Klärung des Bildungsbegriffs. Im Sinne der Steigerung der Bildungsqualität und der Förderung der kulturellen Vielfalt – beides längerfristige Strategien mit entsprechenden Programmlinien der UNESCO – wird auch die Kulturelle Bildung positioniert und in drei unterschiedliche Dimensionen unterteilt: 1. Studium künstlerischer Arbeiten 2. Direkter Kontakt mit künstlerischer Arbeit (z. B. Konzerte, Ausstellungen, Bücher und Filme) 3. Beschäftigung mit Methoden. (ebd., 25) Im Abschnitt über die grundlegenden Strategien für eine effektive Kulturelle Bildung werden sowohl der Rahmen als auch das operative Geschäft der fachlichen Ausbildung für Lehrkräfte angesprochen, die zwei Hauptzielen entsprechen sollen. Zum einen geht es in einer inhaltlichen Hinsicht darum, dass Lehrkräfte und Kunstproduzierende Zugang zu entsprechenden Materialien und eine entsprechende Ausbildung haben; „Kreatives Lernen“, so der Leitfaden, „kann nur durch kreatives Unterrichten erfolgen.“ (ebd., 26) Und zum anderen werden Formate vorgeschlagen, die in der Förderung kreativer Partnerschaften auf allen Ebenen zwischen Ministerien, Schulen, Lehrkräften und Vertreter*innen aus Kunst, Wissenschaft und öffentlichen Institutionen bestehen (vgl. ebd.).
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Diese zwei grundlegenden Strategien werden zusammengeführt, um eine wirksame Kulturelle Bildung zu erreichen, die innerhalb eines allgemeinen Bildungsverständnisses positioniert wird, gleichzeitig aber auch immer wieder Überschneidungsbereiche thematisiert: „Lernen in der kulturellen Bildung [beinhaltet] sowohl die Schaffung von Kunst als auch Reflexion, Betrachtung, Interpretation, Kritik und Philosophieren über kreative Künste.“ (ebd., 32) Somit schließt die Road Map aus Lissabon mit Empfehlungen an die unterschiedlichen Adressen von Bildungspolitik und Bildungspraxis, Kunstproduktion und anderen Akteuren der Zivilgesellschaft, um allen Kindern und Jugendlichen Teilhabe in diesem Feld zu ermöglichen, denn sie haben das Recht, durch Kulturelle Bildung einen Sinn für Ästhetik, Kreativität, kritisches Denkvermögen und ihre Fähigkeit zur Reflexion zu entwickeln (ebd., 35). Schließlich wird die Förderung der aktiven Teilnahme an und des Zugangs zu Kunst für alle Kinder als Kernstück der Bildung bezeichnet (ebd., 38).
WEITERE WEGMARKEN Wie wichtig die unbedingte Fokussierung auf einen vielschichtigen Bildungsbegriff im Lissabon-Leitfaden war, zeigt sich, wenn aktuelle Entwicklungen im Feld der Kulturellen Bildung in den Blick genommen werden. Der 2014 vom Rat für Kulturelle Bildung gemeinsam mit der Kultusministerkonferenz herausgegebene „Fahrplan kulturelle Bildung in Schule“ setzt die thematische Beschäftigung mit der Kulturellen Bildung weiter fort. Allerdings finden sich hierin keine menschenrechtlichen Begründungen und der kritische Impetus des Bildungsbegriffs scheint ebenfalls verloren gegangen zu sein. Zwar sind die Stichworte Inklusion und Partizipation/Teilhabe enthalten, dies jedoch nur im Kontext der KMK-Empfehlungen zur kulturellen Kinder- und Jugendbildung als Schlagworte. Ganz deutlich zeigt sich allerdings der Einfluss großer privatwirtschaftlicher Stiftungen (wie beispielsweise die Stiftung Mercator, ALTANA Kulturstiftung, Bertelsmann Stiftung, Deutsche Bank Stiftung, PwC Stiftung, Vodafone Stiftung). Erkennbar wird deren bevorzugt marktwirtschaftliches Vokabular wie „Sicherung der Qualität“, „verbindliche Qualitätsstandards und Messkriterien“ sowie das Plädoyer im Sinne eines „systematischen Managements aller verfügbarer Ressourcen, um sowohl die Effektivität […] als auch die Effizienz der Angebote in ihrer Gesamtheit entscheidend zu erhöhen“ (vgl. Rat für Kulturelle Bildung 2014, 10).
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War noch im Lissabon-Leitfaden von einer effektiven Kulturellen Bildung und einer Verbesserung der Bildungsqualität die Rede, so ist dies als Reflex auf den zunehmenden Einfluss der OECD als globalen bildungspolitischen Akteur zu verstehen. Im Kontext der PISA-Studien war eine latente Befürchtung im Feld der Kulturellen Bildung, dass ihr Einfluss zugunsten messbarer und in den PISA-Fächern (Mathematik, Naturwissenschaft sowie die jeweilige Landessprache) zurück gedrängt werden könnte. Hier sah Max Fuchs einen wichtigen Subtext der Road Map, und in der Tat kann man inzwischen feststellen, „dass PISA weltweit das zentrale bildungspolitische Referenzsystem und somit die OECD zum wichtigsten bildungspolitischen global player geworden ist“ (Fuchs 2008, 9). Und es ist mittlerweile – nur acht Jahre später – der neoliberale Jargon auch in das Feld der Kulturellen Bildung eingezogen, wie die Ausführungen aus der Broschüre des Rats für Kulturelle Bildung eindrücklich belegen (zur Kritik des Einflusses der privatwirtschaftlichen Stiftungen im Feld der Bildung siehe: Höhne 2012; Höhne 2015; Krautz/Burchardt 2018). Es benötigt also – um die Eigenständigkeit der Kulturellen Bildung zu bewahren – eine Erneuerung des kritischen Impetus des Lissabon-Leitfadens sowie eine andere Road Map. Sie lässt sich finden in den Forschungen, den Positionen und dem Netzwerk Another Roadmap for Arts Education, das von Carmen Mörsch an der Zürcher Hochschule der Künste gegründet worden ist. Das internationale Netzwerk Another Roadmap for Arts Education ist ein Zusammenschluss von Akteur*innen an Museen, Universitäten, Schulen und aus der freien Kultur- und Bildungsarbeit, die Kulturelle Bildung als engagierte Praxis für sozialen Wandel betreiben, reflektieren und erforschen. Sie kommen aus Praxen, die das Lernen mit und durch Kunst eingebettet in sozialen und politischen Verhältnissen sehen – aber auch als Möglichkeit, diese Verhältnisse zu befragen und zu verändern (vgl. Institute for Art Education o.J.). Es sind drei zentrale Forschungsziele, die das Netzwerk in seiner Arbeit leiten: 1. Richtlinien und Praktiken im Feld Kultureller Bildung im Rahmen der Grundannahmen der von der UNESCO erarbeiteten Dokumente („Leitfaden für kulturelle Bildung“, Lissabon 2006, und „Seoul Agenda“, 2010) mit besonderem Fokus auf das gesteigerte Interesse an „Kreativität“ zu analysieren, 2. den globalen Transfer von Konzepten Kultureller Bildung im kolonialen und postkolonialen Zusammenhang historisch zu untersuchen und die gegenwärtige Dominanz westlich/nördlicher Konzepte von Arts Education kritisch zu hinterfragen und
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3. Alternativen zu entwerfen sowie andere Paradigmen für Praktiken und Forschung in Kultureller Bildung zu entwickeln (vgl. ebd.). Hier finden sich unmittelbar Anschlüsse an die UNESCO-Leitlinien und den vielschichtigen und kritischen Bildungsbegriff wieder, der nicht ökonomisch verzweckt wird, sondern transformative Prozesse entfalten kann. Auf der Webseite des Netzwerks www.colivre.net/another-roadmap werden fortlaufend aus den unterschiedlichen Clustern Texte sowie Lernmaterialien veröffentlicht.
KOOPERATIONEN UND UMWEGE Im Sinne des Lissabon-Leitfadens und der Another Road Map for Arts Education hatte ich für Lehrveranstaltungen im Fach Sonderpädagogik sowie im Studiengang Kulturelle Bildung an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg Kontakt hergestellt zu einer bedeutenden Sammlung der Kunst der Naive – in unmittelbarer Nähe zum Hochschulort. Auch hier eine interessante Koinzidenz, dass die Sammlung Zander in Schloss Bönnigheim die weltweit größte ihrer Art darstellt. In mehr als 60 Jahren hat die Galeristin und Sammlerin Charlotte Zander (1930–2014) eine Vielzahl an Meisterwerken der Naive und Art Brut zusammengetragen, die von einzigartigem kunsthistorischem Wert sind. Die Künstler*innen der Moderne waren auf der Suche nach Gegenwelten. Außereuropäische Kunstwerke, Malerei von Kindern oder psychisch Kranken und auch die Kunst der Autodidakten wurden für sie zum geistigen Jungbrunnen jenseits akademischer Normen. Ihrer Sehnsucht nach Ursprünglichkeit und nicht akademischen künstlerischen Positionen entsprachen Werke von Autodidakten wie Henri Rousseau, Séraphine Louis, André Bauchant, Camille Bombois oder Louis Vivin, die mit Werken in der Sammlung Zander vertreten sind. Keiner dieser Künstler*innen hat an einer Kunstakademie studiert (vgl. Sammlung Zander o.J.). In der Sammlung vertreten sind auch Werke, die dem Kontext der Art Brut zuzurechnen sind. Es sind die Künstler August Walla und Adolf Wölfli, die auch im Rahmen der Ausstellung in der Frankfurter Kunsthalle Schirn „Weltenwandler: Die Kunst der Outsider“ 2010/2011 zu sehen waren. In die Sammlungen und Museen kommen diese Kunstwerke nicht, weil deren Schöpfer mit der Kategorie „behindert“ belegbar sind, sondern aus dem Grund, dass die Werke eine unverwechselbare künstlerische Ausstrahlung und erkennbare Bildsprache aufweisen.
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Sie hatten bereits meine Aufmerksamkeit in der Frankfurter Ausstellung und auch in Ingelheim (Adolf Wölfli in Ingelheim, 2011) geweckt, sodass ich Kontakt zur Direktorin, Cynthia Thumm, aufnahm. Seitdem ist eine nachhaltige Kooperation entstanden, die zum einen den Lernort Museum erschließt und auch ein vielschichtiges Verständnis des Zusammenhangs von Kunst, ästhetischer Rezeption und Behinderung, Teilhabe, Inklusion und Exklusion ermöglicht. Im Rahmen der Kooperation wurde in den Kursen „Auf Augenhöhe? Menschenbilder und Behinderung“ sowie „Inklusive Kulturpraxis“ zunächst ausgewählte Biographien und Werke von Künstler*innen mit Beeinträchtigung bzw. Psychiatrieerfahrung studiert (im Fokus standen Séraphine Louis, August Walla und Adolf Wölfli). Anschließend besuchte der Kurs die Sammlung Zander, um dort im Museum die Werke dieser Künstler*in sowie weitere dort ausgestellte Werke zu studieren und mehr über die jeweiligen Künstler*innen zu erfahren. Zudem konnte die Direktorin der Sammlung Zander für einen Gastvortrag an der Hochschule innerhalb des Seminars/Kurses gewonnen werden, der unterschiedliche kunsthistorische und kunsttheoretische Dimensionen ausleuchtete. Vor allem zeigte sich dabei die Widerspenstigkeit in der kunsthistorischen Einordnung der Künstler*innen zwischen den Kategorien Art Brut und Kunst der Naive. Diese Einordnungen entspringen der Sichtweise des 19. und 20. Jahrhunderts, können heute aber eine wissenschaftliche Neuinterpretation erfahren. Hinsichtlich der konkreten Kunstpraxis kennzeichnet die Frage der Kategorisierung allerdings ein nachrangiges Problem (vgl. Noetzel/Probst 2017).
OPFERGESCHICHTEN ODER WIDERSPENSTIGE KÜNSTLER*INNEN? In der Sammlung Zander sind neben den autodidaktisch gebildeten und arbeitenden Künstler*innen auch solche zu finden, die definitiv keinen Zugang zu einer akademischen bzw. künstlerischen Ausbildung hatten. Es sind Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen und Behinderungen wie Adolf Wölfli (1864– 1930), August Walla (1936–2001) u.a. Diese Künstler sind eher der Art Brut (zur Kritik der Kunstkategorien in diesem Kontext vgl. Luz 2012; Koch 2017) zuzurechnen und verbrachten beide ihr Leben in psychiatrischen Heilanstalten: Wölfli 1895–1930 in Waldau bei Bern (vgl. Boehringer Ingelheim 2011). Und Walla kam erstmals 1970 in das Landeskrankenhaus Gugging und lebte ab 1983 ständig dort im Haus der Künstler (vgl. Museum Gugging o.J.).
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Es sind zeitgeschichtlich anderes gelagerte Biographien als die der Künstler*innen aus der „Heidelberger Sammlung Prinzhorn“ (prinzhorn.ukl-hd.de), von denen viele nicht nur Verfemung erfahren hatten, sondern auch im Kontext der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Verbrechen mehrheitlich in der Vernichtungsanstalt Grafeneck auf der Schwäbischen Alb umgebracht worden sind. Von den nachweislich 21 verfolgten und umgebrachten künstlerisch tätigen Menschen, die in der Sammlung Prinzhorn vertreten sind, hatten einige Akademien oder Kunstgewerbeschulen besucht, andere waren Laienmaler*innen und haben sich autodidaktisch in den Kunstfertigkeiten gebildet. Miteinander vereint waren sie in der Perspektive der NS-Ideologie als Kranke, als Schizophrene, deren Lebenswert und auch der ästhetische Ausdruck ihrer Werke bestritten wurde (vgl. Röske 2013). Gleichwohl gilt, dass sie eine Ambivalenz eröffnen in der Hinsicht, dass bei der biographischen Betrachtung der Kunst andauernd die Frage im Raum steht, ob und wie bei der Kunstproduktion die Behinderung zu thematisieren ist. Bei der ästhetischen Rezeption spielt diese Frage im Grund keine Rolle, dennoch wird sie im Subtext immer auch sichtbar. Es sind die Irritationen, die immer auftraten, wenn Behinderung beobachtet wird: „Behinderung ist Irritation.“ (Weisser 2005, 21) Allerdings wirkt diese Irritation nicht mehr im Sinne von Jan Weissers performativer Theorie der Behinderung, dass etwas nicht geht, von dem man erwartet, dass es geht (vgl. ebd., 15). Es verhält sich genau umgekehrt, dass etwas geht, von dem man erwartet, dass es nicht geht. Mithin wird eine produktive Erwartungsverletzung erfahrbar. Daran schließt die Perspektive von Udo Sierck an, der in seiner Theorie der Widerspenstigkeit die Perspektive in diesem Sinne erweitert. Sierck dazu: „Die übliche historische Betrachtung behinderter Menschen ist eine Geschichtsschreibung der Opfer: Kinder, Frauen und Männer mit ungewöhnlichen Äußeren, unbekannten Verhaltensweisen oder mit Einschränkungen der Lernfähigkeit wurden versteckt, verhöhnt, verspottet, verteufelt, in speziellen Institutionen verbracht, ruhiggestellt, zwangssterilisiert und getötet. Diese Behandlungsformen reduzier(t)en behinderte Menschen in der Wahrnehmung zu Objekten von Entwürdigung und Misshandlung.“ (Sierck 2018, 10) Udo Sierck kritisiert den Mangel an Gegenbildern und dass eine Geschichtsschreibung über die widerspenstigen Behinderten nicht existiere. Warum dies so ist, erklärt er damit, dass diese genannte Ambivalenz zum Tragen kommt: „[…] wenn Personen in der historischen Betrachtung für ihre künstlerischen, literarischen, philosophischen, politischen oder unternehmerischen Qualitäten gewür-
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digt werden, [spielt] die vorhandene Behinderung im Rückblick keine Rolle mehr und [bleibt] unerwähnt.“ (ebd., 11, Hervorhebung von mir, S.S.) Aufgebrochen werden kann diese Perspektive durch (Selbst-)Reflexion: „Der historisch gefestigte Blick auf Behinderung muss gebrochen werden, in dem die üblichen Denkweisen an die Betrachter zurückgeworfen werden. Wesentlich im Sinne der Widerspenstigkeit ist, ob sich jene selbst im Bewusstsein der Einschränkung als Subjekt entsprechend den eigenen Möglichkeiten präsentieren. Widerspenstig sein kann aber auch heißen, einengenden Verhältnissen durch Witz und Ironie zu trotzen. Oder einfach zu überleben.“ (Sierck 2017, 87 f.) Eine notwendige Ergänzung: Besonders die Kunstproduktion und die schöpferische Kraft sind Möglichkeiten, sich als Subjekt zu positionieren und eine eigenständige künstlerische Haltung zu entwickeln.
AUSBLICK Die Umwege auf dem Weg zu einer inklusiven Kulturellen Bildung liegen in exakt dieser Widerspenstigkeit und der Analyse der vielschichtigen Ambivalenz: Diese zu lehren und zu lernen braucht zum einen Zeit und zum anderen sind keine kausalen Relationen abzuleiten. Die zeitlichen Prozesse sowie die unaufhebbare Ambivalenz von eigenständiger ästhetischer Werkrezeption und biographischer Interpretation sind zwei von mehreren Strukturmerkmalen künstlerischer Vermittlungsprozesse im Kontext von Behinderung und Inklusion (vgl. Quinten et al. 2015; Sauter et al. 2016). Auch im Feld einer inklusiven Kulturellen Bildung sind sie diese Umwege letztlich Wege zur Urteils- und Unterscheidungsfähigkeit. Es genügt nicht, als Künstler*in ausgestellt zu sein, um Anerkennung zu finden und vice versa sind die widerspenstigen und widerständigen Subjektpositionierungen nur im Kontext von Behinderungen an der gesellschaftlichen (oder künstlerischen) Teilhabe zu verstehen. Dieses Spannungsfeld konnte besonders eindrücklich am außer(hoch)schulischen Lernort der Sammlung Zander in der Auseinandersetzung mit den dort exemplarisch ausgewählten Werken unmittelbar erfahren werden. Auf diesem Wege hat sich durch die beständige (Selbst-)Reflexion eine Sensibilität bei den Lernenden erhöht, um vor allem die eigene Wahrnehmung beständig zu befragen, welche Normalitätserwartungen dominieren und auf welchen Wegen, die keine geradlinigen und direkten Wege sein werden, das kreative und ästhetische Vermögen von besonders begabten und befähigten Menschen zur Entfaltung zu bringen sein wird.
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So hat eine Another Road Map for Arts Education die Umwege ins Zentrum geholt und eines ganz deutlich gezeigt: Es sind die Kooperationen, die in diesem Feld von besonderer Bedeutung sind, wenn die Wege und Umwege transformativ wirken sollen und wollen.
LITERATUR Boehringer Ingelheim – Internationale Tage (Hg.) (2011): Adolf Wölfli in Ingelheim. Katalog zur Ausstellung. Ingelheim. Deutsche UNESCO-Kommission (Hg.) (2008): Kulturelle Bildung für Alle. Von Lissabon 2006 nach Seoul 2010. Bonn: Deutsche UNESCO-Kommission. Fuchs, Max (2014): Der UNESCO-Leitfaden zur kulturellen Bildung. Annäherungen und Überlegungen. In: Deutsche UNESCO-Kommission (Hg.): Kulturelle Bildung für Alle. Von Lissabon 2006 nach Seoul 2010. Bonn: Deutsche UNESCO-Kommission. Höhne, Thomas (2012): Stiftungen als Akteure eines neues Bildungsregimes. In: Die Deutsche Schule 104., H. 3, 242–255. Höhne, Thomas (2015): Ökonomisierung und Bildung. Zu den Formen ökonomischer Rationalisierung im Feld der Bildung. Wiesbaden: Springer VS. Institute for Art Education (IAE) (o.J.): Another Roadmap School/Another Roadmap for Arts Education. Zürich: Zürcher Hochschule der Künste. www.zhdk.ch/forschungsprojekt/426616 (Zugriff am: 06.10.2018) Koch, Jakob Johannes (2017): „Es würde etwas Unverwechselbares fehlen!“ Kunst von Menschen mit Behinderung von der Antike bis heute. In: ders. (Hg.): Inklusive Kulturpolitik. Menschen mit Behinderungen in Kunst und Kultur. Analysen – Kriterien – Perspektiven. Kevelaer: Butzon & Bercker, 79–118. Krautz, Jochen/Burchardt, Matthias (Hg.) (2018): Time for Change? Schule zwischen demokratischem Bildungsauftrag und manipulativer Steuerung. München: kopaed. Kunze, Axel Bernd/Sauter, Sven (2019): Educational Governance im Kontext von Heterogenität und Inklusion. Eine mehrperspektivische Betrachtung. In: Roman Langer/Thomas Brüsemeister (Hg.): Handbuch Educational Governance Theorien. Wiesbaden: Springer VS, 573–614. Luz, Viola (2012): Wenn Kunst behindert wird. Zur Rezeption von Werken geistig behinderter Künstlerinnen und Künstler in der Bundesrepublik Deutschland. Bielefeld: transcript. Museum Gugging (o.J.): August Walla. www.gugging.at/de/gugginger-kunst/ die-kuenstler-aus-gugging/august%20walla (Zugriff am: 06.10.2018)
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Noetzel, Thomas/Probst, Jörg (2017): Behinderung und Krankheit als Stigma? Zur Ambivalenz von Kategorisierungen normabweichender Kunst und Kultur. In: Koch, Jakob Johannes (Hg.): Inklusive Kulturpolitik. Menschen mit Behinderungen in Kunst und Kultur. Analysen – Kriterien – Perspektiven. Kevelaer: Butzon & Bercker, 57–75. Quinten, Susanne/Krebber-Steinberger, Eva/Sauter, Sven/Schwiertz: Heike (2015): In jedem Fall dazwischen?! Strukturmerkmale künstlerischer Vermittlungsprozesse im Kontext von Behinderung und Inklusion. In: Eger, Nana/Klinge, Antje (Hg.): Künstlerinnen und Künstler im Dazwischen. Forschungsansätze zur Vermittlung in der Kulturellen Bildung. Bochum: projektverlag, 147–154. Rat für Kulturelle Bildung (Hg.) (2014): Fahrplan kulturelle Bildung in Schule. Akteure der kulturellen Bildung im Dialog. Anforderungen, Empfehlungen und Analysen. Essen. www.stiftung-mercator.de/de/publikation/fahrplankulturelle-bildung-in-schule-akteure-der-kulturellen-bildung-im-dialog-anforder ungen-emp/ (Zugriff am: 06.10.2018) Röske, Thomas (2013): Anstaltskunst und „Euthanasie“ im Nationalsozialismus. In: Rudnick, Carola S. (Hg.): Bildfreiheiten. Paul Goesch und Gustav Sievers – Künstler und Opfer in der NS-Psychiatrie. Ausstellungskatalog, Lüneburg, 7–11 Rudolf, Beate (2012): „Inklusion ist Bestandteil jedes Menschenrechts“. Berlin: Deutsches Institut für Menschenrechte e.V. www.institut-fuer-menschen rechte.de/aktuell/news/meldung/article/inklusion-ist-bestandteil-jedes-mensch enrechts/ (Zugriff am: 05.10.2018) Sammlung Zander (o.J.): Die Sammlung Zander. www.sammlung-zander.de/ museum/ (Zugriff am: 04.10.2018) Sauter, Sven/Quinten, Susanne/Krebber-Steinberger, Eva/Schwiertz, Heike (2016): Im Zwischenraum: Kunst, Behinderung und Inklusion. In: Kulturelle Bildung Online. www.kubi-online.de/artikel/zwischenraum-kunst-behinder ung-inklusion (Zugriff am: 16.10.2018) Siebers, Tobin (2009): Zerbrochene Schönheit. Essays über Kunst, Ästhetik und Behinderung. Bielefeld: transcript. Sierck, Udo (2017): Widerspenstig. In: Oliver Musenberg (Hg.): Kultur – Geschichte – Behinderung. Band 2: Die eigensinnige Aneignung von Geschichte. Oberhausen: Athena, 87–96. Sierck, Udo (2018): Widerspenstig, eigensinnig, unbequem. Die unbekannte Geschichte behinderter Menschen. Bonn: bpb. Weisser, Jan (2005): Behinderung, Ungleichheit, Bildung. Eine Theorie der Behinderung. Bielefeld: transcript.
Zusatzinformationen
Inklusive kulturelle Bildungsangebote in Baden-Württemberg Johannes Schult & Ina Henning
EINLEITUNG Die Partizipation an kulturellen Bildungsangeboten wird durch ein Zusammenwirken von Personen- und Umweltvariablen ermöglicht (vgl. Kröner 2013). Auf Seite der Umweltvariablen können dabei inner- und außerschulische Angebote unterschieden werden. Schulen haben einen expliziten Bildungsauftrag, zu dem selbstredend auch die Kulturelle Bildung gehört. Im außerschulischen Bereich existieren neben schulähnlichen kooperativen Angeboten (z.B. von Vereinen durchgeführte Kurse) auch Angebote Kultureller Bildung in freier Trägerschaft; in beiden Szenarien sollten sich die Inhalte oder Projekte an für die Kinder und Jugendlichen relevanten Themen und Fragestellungen orientieren oder einen Bezug dazu ermöglichen (vgl. Witt 2015). Ziel sollte es sein, tragfähige Konzepte zu entwickeln, die langfristige Kooperationen von Schulen und außerschulischen kulturellen Bildungseinrichtungen schaffen, sodass eine Nachhaltigkeit gegeben ist (vgl. Rehm/Hoheußle/Müller 2015). Da die vorliegende Erhebung an einer Institution für Lehrerbildung (PH Ludwigsburg) durchgeführt wurde, liegt der Fokus nachfolgend auf innerschulischen inklusiven Partizipationsmöglichkeiten, zu denen auch kooperative Angebote, die in den Schulen angeboten wurden, gezählt werden. Im schulischen Kontext kann die Umweltseite je nach Kapazität und Größe der Schule sowie Qualifikation und Verfügbarkeit der Lehrpersonen beispielsweise Angebote in den Bereichen Musik, Sport, Theater oder weiteren Kulturtechniken (z.B. Bastelgruppen) verzeichnen. Für inklusiv beschulte Kinder an allgemeinbildenden Schulen stellen solche Angebote eine wichtige Integrationsmöglichkeit dar, so es denn die Chance zur Partizipation gibt. Kulturelle Aktivitäten im schulischen Kontext sind üblicherweise weniger (oder gar nicht) mit
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denselben Leistungsbewertungen und konvergenten Verhaltenserwartungen verbunden wie der Regelunterricht. Denn gerade bei kreativen Tätigkeiten können ganz unterschiedliche Begabungen von Schulkindern zur Geltung kommen und im Miteinander zusammenwirken, wenn (a) kreative Vielfalt und Respekt vor der jeweiligen Individualität initiiert und ausgehalten werden kann und (b) ein Toleranzrahmen mit Anerkennung auch sozialisationsbedingter Ausdruckspräferenzen und des jeweiligen persönlichen Geschmackes erarbeitet werden kann (vgl. Braun 2015). Inklusive schulische kulturelle Angebote bieten dann bestenfalls also eine Plattform für alle Schüler*innen. Die Angebotsvielfalt ist dabei groß, ein Blick von außen erst einmal unübersichtlich und nur bedingt transparent.
STUDIENDESIGN UND STICHPROBE Um aussagekräftige Daten zur Verbreitung innerschulischer inklusiver kultureller Bildungsangebote zu erhalten, befragten wir im Schuljahr 2017/18 allgemeinbildende Schulen in Baden-Württemberg, die laut amtlicher Schulstatistik (Stand: Schuljahr 2016/17) mindestens 5 inklusiv beschulte Kinder haben.1 Außenklassen wurden nicht berücksichtigt. Der Befragungszeitraum lief vom 14.11.2017 bis zum 16.02.2018. Die Kontaktversuche fanden telefonisch und per E-Mail statt. Bei der halbstandardisierten Befragung klärten die Anruferinnen (geschulte studentische Hilfskräfte)2 zuerst, ob es im aktuellen Schuljahr inklusiv beschulte Kinder an der Schule gibt. Traf dies zu, wurde weiterhin gefragt, welche kulturellen Angebote mit Partizipationsmöglichkeiten für die Inklusionsschüler*innen es an der Schule im aktuellen Schuljahr gibt, getrennt für die Bereiche „Musik“, „Bewegung“, „Kunst“, „Theater“ und „sonstige kulturelle Projekte“. Von den 527 identifizierten Schulen konnten aus Zeitgründen nur 337 kontaktiert werden. Von den kontaktierten Schulen gaben 192 Auskunft (57 %), wobei 5 davon im laufenden Schuljahr keine inklusiv beschulten Kinder mehr hat-
1
Die Erhebung wurde von der Stelle „Inklusive Fachdidaktik Musik“ der PSE Stuttgart-Ludwigsburg (www.pse-stuttgart-ludwigsburg.de) im Rahmen des Projekts „Lehrerbildung PLUS“ durchgeführt. Das Verbundprojekt „Lehrerbildung PLUS“ wird im Rahmen der gemeinsamen „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ von Bund und Ländern aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung gefördert.
2
Wir bedanken uns bei Natalie Auracher, Simone Kalmbach, Theresa Mutz und Vanessa Rapp für die engagierte Befragung der beteiligten Schulen.
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ten (und somit auch keine inklusiven kulturellen Angebote). Die befragten Schulen wie auch die erfolglos kontaktierten Schulen hatten im Mittel 13 inklusiv beschulte Kinder. Die weiteren Berechnungen basieren auf den 187 befragten Schulen, die im Schuljahr 2017/18 von inklusiv beschulten Kindern besucht wurden. Die Verteilung auf die verschiedenen Schularten wird zusammen mit den mittleren Schülerzahlen in Tabelle 1 dargestellt. Tabelle 1: Schularten und mittlere Schülerzahlen der befragten Schulen Schulart
Grundschule Werkreal-/Hauptschule Gemeinschaftsschule Realschule Gymnasium mehrere Schularten (davon Grund- und Werkreal-/Hauptschulen)
Anzahl befragter Schulen 89 8 54 10 0 26 (15)
Mittlere Anzahl inklusiv beschulter Kinder 11 14 19 10 – 14 (17)
Mittlere Schülerzahl 260 319 503 459 – 547 (416)
Quelle: Johannes Schult & Ina Henning, amtliche Schulstatistik
Die Häufigkeit von spezifischen Angeboten sowie die verschiedenen Angebotsmuster wurden nach ihrer Häufigkeit aufgelistet und deskriptiv exploriert. Schulartunterschiede wurden mit einer Varianzanalyse mit Tukey-Kontrasten für paarweise Vergleiche geprüft. Korrelative Zusammenhänge der Angeboteanzahl mit den Schulmerkmalen Zahl der Inklusionsschüler*innen, Gesamtschülerzahl, der Zahl der Lehrkräfte sowie der durchschnittlichen Schülerzahl pro Lehrkraft wurden ebenfalls statistisch getestet. Die erhobenen Schulinformationen wurden zudem für die geografische Exploration aufbereitet und auf einer interaktiven Landkarte präsentiert (Schult/Henning 2018). Dabei wurden zusätzlich 75 außerschulische Angebote integriert, die in freier Recherche zusammengetragen worden waren. Auch hier standen Angebote mit großer Reichweite und Vielfalt im Fokus, ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben.
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ERGEBNISSE Das Ziel der Befragung war es, ein repräsentatives Bild der (innerschulischen) inklusiven kulturellen Bildungsangebote in Baden-Württemberg zu bekommen. Im ersten Schritt stand dabei die Verbreitung von Angeboten mit inklusiven Möglichkeiten zur Partizipation im Fokus. Von den insgesamt 187 befragten Schulen boten nur 18 (10 %) keine inklusiven kulturellen Aktivitäten an. Bei Schulen mit Aktivitäten reichte der Umfang von einem Angebot bis zu 19 Angeboten. Im Schnitt wurden von den befragten Schulen fünf inklusive kulturelle Angebote genannt. Für die allgemeine Schülerschaft liegt der Bundesschnitt etwas höher bei sechs Angeboten, wobei dort auch die Schulform Gymnasium mit einfließt, an der es tendenziell mehr Angebote gibt als an anderen Schularten (Scherer/Tarazona/Weishaupt 2013). Schulchöre wurden am häufigsten angeboten (98 Schulen, 52 %), gefolgt von Theater-AGs (31 %), Kunst-AGs (24 %), Tanz-AGs (19 %) und FußballAGs (18 %). Insgesamt gab es 301 verschiedene Nennungen. Weitere Differenzierungen ergaben sich beispielsweise durch zusätzliche Detailinformationen wie außerschulische Kooperationspartner oder Angaben zu den Klassenstufen, an die sich spezifische Angebote richten. Angebotsmuster Um verschiedene Facetten der Kulturellen Bildung differenziert zu betrachten, wurden die einzelnen Angebote in die Bereiche „Musik“, „Bewegung“, „Kunst“, „Theater“ und „sonstige kulturelle Projekte“ eingeordnet. Über alle Schulen hinweg zeigte sich dabei, dass musikalische Angebote am häufigsten genannt wurden (148 Schulen, 79 %). Die Anzahl der Schulen, die in den fünf Bereichen jeweils inklusive Aktivitäten anbieten, ist in Abbildung 1 links unten dargestellt. Die Häufigkeiten der verschiedenen Angebotsmuster werden in der rechten Hälfte von Abbildung 1 illustriert. Am verbreitetsten sind Schulen mit Angeboten in allen fünf Bereichen (27 Schulen; die verbundenen Punkte darunter zeigen die fünf Angebote). Ebenfalls häufig gibt es Schulen, die inklusive Angebote in den vier Bereichen „Musik“, „Bewegung“, „Kunst“ und „Theater“ hatten (25 Schulen). An dritter Stelle kommen Schulen, die ausschließlich musikalische Aktivitäten anbieten (24 Schulen). Die Verteilung der Angebotsmuster zeigt, dass die Schulen mehrheitlich sehr vielfältige kulturelle Inklusionsmöglichkeiten anbieten, welche viele verschiedene Bereiche kultureller Aktivitäten abdecken. Wenn es lediglich in einem Bereich inklusive Angebote gibt, dann handelt es sich dabei überwiegend um musi-
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kalische Angebote. Andere Angebotskombinationen (u.a. solche mit Theater aber ohne Musik) gibt es wesentlich seltener. Keine befragte Schule bietet ausschließlich inklusive Partizipationsmöglichkeiten im Bereich Kunst an. Abbildung 1: Anzahl der Schulen mit inklusiven kulturellen Bildungsangeboten in den Bereichen sowie Überblick über die Häufigkeit verschiedener Angebotsmuster (zur Darstellung vgl. Conway/Lex/Gehlenborg 2017) 30
27
Anzahl Schulen mit diesem Angebotsmuster
25
20
24
18
12
10
10 6
5
5
4
4
4
4
4
4
3
2
2
2
1
1
1
1
0 Projekte Theater Kunst Bewegung Musik 150
100
50
0
Anzahl Schulen mit Angebot in diesem Bereich
Quelle: Johannes Schult & Ina Henning
Zusammenhänge von inklusiven kulturellen Bildungsangeboten und Schulmerkmalen Beim Vergleich der verschiedenen Schularten zeigen sich Mittelwertsunterschiede bezüglich der Menge an inklusiven kulturellen Angeboten (F(4, 182) = 3,45, p = ,01; vgl. Tab. 2). Gemeinschaftsschulen boten im Schnitt am meisten Aktivitäten an. Im Vergleich dazu gab es an Werkreal-/Hauptschulen (p = ,03) sowie tendenziell auch an Realschulen (p = ,07) weniger inklusive Partizipationsmöglichkeiten. Dieses Befundmuster ähnelt den Schulartunterschieden jenseits der Inklusion: Allgemein gibt es ebenfalls an Hauptschulen und Realschulen im Schnitt weniger kulturelle Angebote als bei anderen Schulformen (vgl. Scherer/Tarazona/Weishaupt 2013). Hinsichtlich der Zahl der inklusiven kulturellen Bildungsangebote gab es keine signifikanten Korrelationen mit der Zahl der Inklusionsschüler*innen (r = ,09, p = ,24), der Gesamtzahl der Schüler*innen (r = ,11, p = ,14), der Zahl
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der Lehrkräfte (r = ,13, p = ,08) sowie der daraus ableitbaren durchschnittlichen Schülerzahl pro Lehrkraft (r = –,01, p = ,92). Auch wenn Schulen mit einem ungünstigeren Lehrer-Schüler-Schlüssel somit nicht systematisch weniger inklusive kulturelle Aktivitäten anbieten, gaben vier Schulen im Rahmen der Befragung an, dass momentan aufgrund von Lehrermangel bzw. von überlasteten Lehrkräften keine inklusiven kulturellen Angebote oder zumindest weniger als im vorherigen Schuljahr möglich sind. Tabelle 2: Durchschnittliche Zahl der genannten inklusiven kulturellen Bildungsangebote getrennt nach Schulart Schulart Grundschule Werkreal-/Hauptschule Gemeinschaftsschule Realschule mehrere Schularten (davon Grund- und Werkreal-/Hauptschulen)
Mittelwert 5,1 1,6 6,1 2,4 4,6 (5,3)
Standardabweichung 4,3 1,4 3,9 4,1 3,9 (4,4)
Quelle: Johannes Schult & Ina Henning
Interaktive Landkarte Die gesammelten Schulinformationen wurden zusammen mit ergänzenden außerschulischen Angeboten über eine Landkarte gelegt, um eine interaktive Exploration zu ermöglichen (vgl. Abb. 2–4). Abbildung 2: Ausschnitt der interaktiven Landkarte mit inner- und außerschulischen inklusiven Angeboten zur Kulturellen Bildung
Quelle: Schult/Henning (2018)
Inklusive kulturelle Bildungsangebote in Baden-Württemberg | 185
Durch Heranzoomen bekommt man einen Überblick über die Angebote in einem bestimmten Gebiet. Ein solcher Ausschnitt der interaktiven Karte ist in Abbildung 2 dargestellt. Die Angebote sind an den jeweiligen Standorten mit einem Marker dargestellt. Farblich wird unterschieden zwischen innerschulischen (hell) und außerschulischen Angeboten (dunkel). Auf den Markern wird durch Symbole angezeigt, in welchen Bereichen es inklusive Aktivitäten gibt. Über das Menü rechts lassen sich auch gezielt einzelne Bereiche bzw. Kombinationen von Bereichen auswählen. In Abbildung 3 sind beispielhaft die schulischen Musikangebote eingeblendet, erkennbar durch das Notensymbol auf den Markern. Abbildung 3: Ausschnitt der interaktiven Landkarte mit innerschulischen inklusiven Angeboten im Bereich Musik
Quelle: Schult/Henning (2018)
Durch Anklicken eines Markers können Detailinformationen aufgerufen werden (vgl. Abb. 4). Die interaktive Darstellung erlaubt es, verschiedene Zielgruppen anzusprechen und zu informieren (z.B. Eltern, Lehramtsstudierende, Schulen, Kooperationsinteressierte). Abbildung 4: Ausschnitt der interaktiven Landkarte mit Angebotsinformationen einer ausgewählten Einzelschule
Quelle: Schult/Henning (2018)
186 | Johannes Schult & Ina Henning
Um dieses Angebot als fortlaufendes Informationsangebot nutzen zu können, würden mittel- und langfristig ein leicht zugänglicher Ausstellungsort sowie eine nachhaltige Pflege möglichst durch eine Institution im Bereich der inklusiven Kulturellen Bildung vonnöten sein.
DISKUSSION UND FAZIT Die vorliegenden Ergebnisse unterstreichen die Vielfalt der inklusiven kulturellen Bildungsangebote an Schulen in Baden-Württemberg. Neun von zehn Schulen (mit mindestens 5 Inklusionsschüler*innen) bieten mindestens eine Aktivität inklusiv an. Es gibt im Schnitt fünf schulische Angebote mit Kulturbezug, die offen sind für Inklusionsschüler*innen. Am verbreitetsten sind Schulchöre sowie Theater-, Kunst- und Tanz-AGs. Bei der Betrachtung der Schulartunterschiede zeigt sich die besondere Rolle der Gemeinschaftsschule im baden-württembergischen Schulsystem. Sie soll ein Ort für gemeinsames Lernen sein, der neben heterogenen Lerngruppen auch Inklusion explizit mit einschließt (HudelmaierMätzke/Merz-Atalik 2011). Im Rahmen der Kulturellen Bildung scheint dieser Anspruch erfüllt zu werden. Bei der Befragung wurde jedoch auch deutlich, dass inklusive kulturelle Bildungsangebote keine Selbstläufer sind. Manche Angebote können an den Schulen nur stattfinden, wenn es Kooperationen mit Vereinen oder Unterstützung durch die Eltern gibt. Im Einzelfall mangelt es außerdem an Lehrkräften bzw. den Lehrkräften an Zeit, so dass Angebote reduziert oder eingestellt werden müssen. Dementsprechend ist die konstante Fortführung der hier dargestellten kulturellen Bildungslandschaft nicht zwingend gegeben und weiterhin auf Unterstützung durch öffentliche Gelder angewiesen.
LITERATUR Braun, Elisabeth (2015): Kulturelle Bildung – direkte Wege zur Inklusion in der Schule? In: Lehren & Lernen, Zeitschrift für Schule und Innovation aus Baden-Württemberg, Kulturelle Bildung, Konzepte und Perspektiven, H. 102015, 19–22. Conway, Jake R./Lex, Alexander/Gehlenborg, Nils (2017): UpSetR: an R package for the visualization of intersecting sets and their properties. In: Bioinformatics 33, H. 18, 2938–2940.
Inklusive kulturelle Bildungsangebote in Baden-Württemberg | 187
Hudelmaier-Mätzke, Peter/Merz-Atalik, Kerstin (2011): Länderbericht BadenWürttemberg. Der Wechsel beginnt: Vom Außenklassenkonzept und anderen kooperativen Modellen zu einer inklusiven Gemeinschaftsschule! In: Zeitschrift für Inklusion, H. 2. www.inklusion-online.net/index.php/inklusiononline/article/view/93 (Zugriff am: 10.09.2018) Kröner, Stephan (2013): Kulturelle Partizipation bei Jugendlichen als Feld der Person-Umwelt-Transaktion. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 16, H. 3 Supplement, 233–256. Rehm, Susanne/Hoheußle, Nils/Müller, Michael J. (2015): Leuchttürme sind gut – Strukturen sind besser! In: Lehren & Lernen, Zeitschrift für Schule und Innovation aus Baden-Württemberg, Kulturelle Bildung, Konzepte und Perspektiven, H. 10-2015, 13–15. Scherer, Rosa/Tarazona, Mareike/Weishaupt, Horst (2013): Kulturelle Bildung an den Schulen in Deutschland. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 16, H. 3 Supplement, 159–179. Schult, Johannes/Henning, Ina (2018): Inklusion und Kulturelle Bildung innerund außerschulisch in Baden-Württemberg. Interaktives Whiteboard bei der Fachtagung „Kreativität grenzenlos!? Inklusive Perspektiven auf inner- und außerschulische Kulturelle Bildung“ am 22.02.2018 an der PH Ludwigsburg. Witt, Kirsten (2015): Was ist Kulturelle Bildung? In: Lehren & Lernen, Zeitschrift für Schule und Innovation aus Baden-Württemberg, Kulturelle Bildung, Konzepte und Perspektiven, H. 10-2015, 4–6.
Autorinnen und Autoren
Bauernschmitt, Susanne, Akademische Oberrätin für künstlerische Praxis, Kunstwissenschaft und Kunstdidaktik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, mit den Arbeitsschwerpunkten Künstlerische Kunstpädagogik und Kunst & Inklusion. Auf das Studium des Grundschullehramts und der Kunst für gymnasiales Lehramt an der Akademie der Bildenden Künste Nürnberg bei Professor Knaupp, folgten Referendariat und Lehrtätigkeit an bayerischen Gymnasien. 2006 wechselte sie an die PH Heidelberg. mail: bauernschmitt@ph-heidel berg.de; web: www.susannebauernschmitt.de. Braun, Elisabeth, Studium: Musik und Bewegung, Grundschullehramt, Sonderpädagogik. Ab 1980 Professorin für Kulturarbeit in sonderpädagogischen Handlungsfeldern an der PH Ludwigsburg/Reutlingen bis zur Emeritierung 2011. Von 1983–2003 Leitung der LKJ (Landesvereinigung Kulturelle Jugendbildung Baden-Württemberg e.V.). Seit 2000 Künstlerische Leitung des Kulturfestivals „Kultur vom Rande“ in Reutlingen. Mitglied im Leitungsteam: Fortbildung „Musikschule der Vielfalt“ (Kooperation LV der Musikschulen und PH Ludwigsburg). Christ, Markus, Sonderschullehrer mit einem Master in Sonderpädagogik mit dem Schwerpunkt Kulturarbeit in sonderpädagogischen Arbeitsfeldern. Seit 2015 ist er für „Kultur ohne Ausnahme“ in Reutlingen tätig – ein Projekt für inklusive Kulturelle Bildung und Kulturarbeit. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Freizeitpädagogik und Kulturelle Bildung in sonderpädagogischen Kontexten, soziale Interaktion, Praktiken und Bedeutung im Feld der Kulturellen Bildung.
190 | Kreativität grenzenlos!?
Deutsch, Helene, 1984 in Frankfurt a.M. geboren; studierte an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach mit den Schwerpunkten freie Grafik, Zeichnung und Bildhauerei. Seit 2015 promoviert sie bei Prof. Dr. Juliane Rebentisch im Fachbereich Philosophie und Ästhetik an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach. Sie arbeitet im Atelier Goldstein seit 2015 als Künstlerassistentin und leitet dort seit 2017 die inklusive Bildungsinitiative gemeinsam mit Sophia Edschmid. Edschmid, Sophia, 1987 in Frankfurt a.M. geboren; studierte an der GoetheUniversität Kunstpädagogik mit den Schwerpunkten Neue Medien und freie Plastik. Seit 2013 arbeitet sie als Regisseurin und freie Filmschaffende. Im Atelier Goldstein arbeitet sie als Künstlerassistentin seit 2015 und leitet dort seit 2017 die inklusive Bildungsinitiative gemeinsam mit Helene Deutsch. Gerland, Juliane, Dr. phil., studierte Allgemeine Musikerziehung und Instrumentalpädagogik sowie Musiktherapie. 2014 Promotion an der TU Dortmund über die Auswirkungen des Musizierens auf die Selbst- und Fremdwahrnehmung. Von 2013–2015 war sie Lehrbeauftragte an der TU Dortmund, von 2015– 2018 Juniorprofessorin für Kulturelle Bildung & Inklusion an der Universität Siegen. Seit 2018 ist sie Professorin für Musik in kindheitspädagogischen und sozialen Handlungsfeldern an der FH Bielefeld. Henneberger, Susanne, 1987 in Meiningen geboren. Ihr Abitur machte sie 2005 am Gymnasium Georgianum Hildburghausen. Danach studierte sie Schauspiel an der Freiburger Schauspielschule und war von 2009–2015 in diversen Theaterstücken u.a. am Wallgrabentheater Freiburg zu sehen. Seit 2010 führt sie zahlreiche theaterpädagogische Projekte bei Werkraum Karlsruhe e.V. durch und ist dort seit 2014 fest angestellte Mitarbeiterin im Bereich Kultur- und Projektmanagement. Henning, Ina, Musikstudium in Trossingen (Diplom, künstlerische Ausbildung), Aufbaustudium der Musiktherapie in Heidelberg (Master of Arts) und Toronto (Master of Music). Promotion 2013 an der University of Toronto zum Doctor of Musical Arts, weitere Abschlüsse im Fachbereich Sonderpädagogik und der Psychotherapie (HP Psych). Lehraufträge zu Themen der Musikwissenschaft und Musikpädagogik, zur Zeit akademische Mitarbeiterin im Fach Musik an der PH Ludwigsburg. Arbeitsschwerpunkte: Inklusive Musikdidaktik, Musik und Gestus.
Autorinnen und Autoren | 191
Merkt, Irmgard, geb. 1946, Studium an der Staatlichen Hochschule für Musik, München, 3 Jahre Schuldienst an einem Gymnasium in Bochum. Promotion 1983 zum Thema Deutsch-türkische Musikpädagogik in der Bundesrepublik. Von 1991 bis 2014 Professorin für Musik in der Fakultät Rehabilitationswissenschaften der TU Dortmund. Lehrgebiete: Interkulturelle Musikerziehung; Musik und Inklusion. Oberschmidt, Jürgen, Dr. phil., Professor für Musik und ihre Didaktik an der PH Heidelberg. Nach dem Studium an der Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover Lehrer für Musik und Deutsch an einem Gymnasium in NRW und in der Lehrerausbildung an der Universität Kassel tätig. Seit 2018 Präsident des Bundesvorstandes Musikunterricht. Arbeitsschwerpunkte: Musik und Sprache, fachübergreifende Unterrichtskonzepte, kreatives Klassenmusizieren, fachübergreifende Unterrichtskonzepte, bildungstheoretische Grundlagen des Musikunterrichts. Sansour, Teresa, Vertretungsprofessorin für Inklusive Bildung an der MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg. Arbeitsschwerpunkte: Inklusive Didaktik, Pädagogik und Didaktik bei geistiger Behinderung, Pädagogische Interaktionen. Nach dem Studium und dem Vorbereitungsdienst für das Lehramt an Sonderschulen folgte eine wissenschaftliche Laufbahn zunächst an der HumboldtUniversität zu Berlin und seit 2012 an der PH Heidelberg. E-Mail: [email protected]. Sauter, Sven, PD Dr. phil., lehrt und forscht als Akademischer Rat an der PH Ludwigsburg zu den Arbeitsschwerpunkten: Disability Studies und Cultural Studies; Heterogenität, Differenz und Ungleichheit in Bildungsprozessen; menschenrechtliche Aspekte von Inklusion sowie ästhetische und kulturelle Bildung und Theorien der Sonderpädagogik im Kontext von Gleichheit und Differenz. Schult, Johannes, Dr. rer. nat., Studium der Psychologie in Konstanz (Diplom), Datenanalyse-Aufbaustudium in Brüssel und Leuven (Master). Promotion 2013 an der Universität Konstanz. Anschließend wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität des Saarlandes. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte u.a. schulische Leistungsmessung, Studienerfolgsprognose, Schulentwicklung, Stress. Zahlreiche nationale und internationale Publikationen mit Schwerpunkt Psychologie und Bildungswissenschaften. Aktuell Psychologierat am Institut für Bildungsanalysen Baden-Württemberg.
192 | Kreativität grenzenlos!?
Sihler, Jürgen, geb. 1963. 1982–1985 Ausbildung zum Heilerziehungspfleger, die er abbrach um Schauspieler zu werden. Nach dem Schauspielstudium an der Hochschule für Musik & Darstellende Kunst Mozarteum Salzburg, war er als Schauspieler und Regisseur von 1989–2006 an verschiedenen Stadt-, Landesund Staatstheatern engagiert. Er ist Gründungsmitglied und Geschäftsführer von Werkraum Karlsruhe und seit 2006 dort als Regisseur, Theaterpädagoge und Filmemacher in einer Vielzahl von Projekten aktiv. Witte, Katharina, Dr. paed., Akademische Rätin für Kulturarbeit in sonderpädagogischen Arbeitsfeldern an der PH Ludwigsburg. Seit 2002 Mitarbeit in einem inklusiven Theaterprojekt in Kooperation zwischen dem Theater die Tonne Reutlingen und der Lebenshilfe Reutlingen, der Bruderhausdiakonie Reutlingen und der PH Ludwigsburg. Arbeitsschwerpunkt: Biographische Bedeutung von Theaterspiel, Musik und Bewegung für Menschen mit unterschiedlichen Voraussetzungen; Entwicklung inklusiver Strukturen an professionellen Kultureinrichtungen.
Pädagogik Anselm Böhmer
Bildung als Integrationstechnologie? Neue Konzepte für die Bildungsarbeit mit Geflüchteten 2016, 120 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3450-1 E-Book PDF: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3450-5 EPUB: 12,99€ (DE), ISBN 978-3-7328-3450-1
Jan Erhorn, Jürgen Schwier, Petra Hampel
Bewegung und Gesundheit in der Kita Analysen und Konzepte für die Praxis 2016, 248 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3485-3 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3485-7
Monika Jäckle, Bettina Wuttig, Christian Fuchs (Hg.)
Handbuch Trauma – Pädagogik – Schule 2017, 726 S., kart. 39,99 € (DE), 978-3-8376-2594-3 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2594-7
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Pädagogik Elisabeth Kampmann, Gregor Schwering
Teaching Media Medientheorie für die Schulpraxis – Grundlagen, Beispiele, Perspektiven (unter Mitarbeit von Linda Leskau, Kathrin Lohse, Arne Malmsheimer und Jens Schröter) 2017, 304 S., kart., zahlr. Abb. 24,99 € (DE), 978-3-8376-3053-4 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-3053-8
Ruprecht Mattig, Miriam Mathias, Klaus Zehbe (Hg.)
Bildung in fremden Sprachen? Pädagogische Perspektiven auf globalisierte Mehrsprachigkeit Januar 2018, 292 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3688-8 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3688-2
Heidrun Allert, Michael Asmussen, Christoph Richter (Hg.)
Digitalität und Selbst Interdisziplinäre Perspektiven auf Subjektivierungs- und Bildungsprozesse 2017, 268 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3945-2 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3945-6
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