Fremdheit und Interkulturalität: Aspekte kultureller Pluralität 9783839439104

This title addresses principal concepts of foreignness and inter-culturalism as ranges of topics of research related to

184 85 1MB

German Pages 154 Year 2017

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
The Role of Language in the Medieval Multi-Cultural Transmission Project
Von Gästen und Menschenfressern
Bildungsethnologie
Entwicklung als kulturspezifische Lösung universeller Entwicklungsaufgaben
Behinderung, Handicap, Andersartigkeit
Interkulturelle Kompetenz
Autorinnen und Autoren
Recommend Papers

Fremdheit und Interkulturalität: Aspekte kultureller Pluralität
 9783839439104

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Andreas Rauh (Hg.) Fremdheit und Interkulturalität

Edition Kulturwissenschaft | Band 137

Andreas Rauh (Hg.)

Fremdheit und Interkulturalität Aspekte kultureller Pluralität

Die Drucklegung dieses Bandes wurde ermöglicht durch Mittel des Human Dynamics Centre (Fakultät für Humanwissenschaften, Universität Würzburg).

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz und Korrektorat: Dr. Andreas Rauh Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-3910-0 PDF-ISBN 978-3-8394-3910-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung Andreas Rauh | 7

The Role of Language in the Medieval Multi-Cultural Transmission Project A Jewish Perspective Yossef Schwartz | 15

Von Gästen und Menschenfressern Zur kulturellen Wahrnehmung von Fremdheit Franz-Peter Burkard | 41

Bildungsethnologie Annäherungen an eine konstitutive Fremdheit Alfred Schäfer | 59

Entwicklung als kulturspezifische Lösung universeller Entwicklungsaufgaben Heidi Keller | 79

Behinderung, Handicap, Andersartigkeit Zum Umgang mit körperlichen und psychischen Abweichungen Dieter Neubert | 101

Interkulturelle Kompetenz Systematiken und Heterogenität eines Schlagwor tes Dominik Egger | 123

Autorinnen und Autoren  | 149

Einleitung Andreas Rauh

K ultur – I nterkultur alität – F remdheit Die Dynamik kultureller Pluralität ist in den letzten Jahrzehnten zu einer alltäglichen Erfahrung geworden. Wenn die Humanwissenschaften die beschreibenden wie normierenden Aspekte von Kultur und Interkulturalität diskutieren, dann zeigt sich dabei der Begriff »Kultur« selbst insgesamt als vieldeutig und nicht selten diffus. Gleichzeitig nimmt Kultur als fundamentales Wesensmerkmal des Menschlichen einen prominenten Platz in den Humanwissenschaften ein, denn sie bezieht sich auf vielfältige Phänomene des Humanen wie beispielsweise Sprache, Gestik, Verhaltens- und Umgangsformen, Religion, Weltanschauung und -deutung, Werte und Normen. Zudem beschränkt sich der Begriff der Kultur nicht nur auf geografische Konstrukte (Nationalkulturen), sondern verweist auf viele Arten kultureller Räume – etwa beim Begriff der Jugendkultur auf eine altersbezogene Ebene. Daneben können in einem weit gefassten Kulturbegriff auch das Geschlecht, die sexuelle Orientierung, körperliche Merkmale, soziale Umgebung, Musikgeschmack und Kleidungsstil usw. Anhaltspunkte für kulturelle Unterscheidungen und damit ein kulturelles Zugehörigkeitsgefühl liefern. Die Kultur wird dadurch zu einem Instrument der Ex- und Inklusion. Unter den Bedingungen der Globalisierung und Internationalisierung der Lebenswelt sind viele Phänomene und Konzepte stärker als jemals zuvor (nur) in einem interkulturellen Kontext zu verstehen und zu erklären. Der Interkulturalitätsbegriff entfaltet zunehmend politisch-gesellschaftliche und damit auch wissenschaftliche Relevanz. Dabei besteht eine enge Verbindung zwischen Interkulturalität und Interdisziplinarität. Kultur und somit auch Fachkultur ergibt sich immer auch durch Interkulturalität, also durch die Begegnung mit, aber auch die Abgrenzung von nicht zur eigenen Kultur Gehörendem. In Abgrenzung zum Multikulturalismus betont der Interkulturalitätsdiskurs nicht

8

Andreas Rauh

das Nebeneinander, sondern das Aufeinandertreffen, Miteinander und Verwobensein heterogener Kulturen. Die dabei erkennbar werdenden Erscheinungsformen und Möglichkeiten der Gestaltung menschlichen Wandels zu erforschen, ist Zielsetzung des Human Dynamics Centre (HDC) der Fakultät für Humanwissenschaften der Universität Würzburg. Hier werden Themenkomplexe diskutiert und erschlossen, die interdisziplinäre Herangehensweisen ausloten und gemeinsame Forschungsaktivitäten anregen. Diesem Unterfangen ist auch die vorliegende Publikation gewidmet, die auf eine Tagung des HDC im Juni 2016 zum Themenkomplex »Interkulturalität« zurückgeht. Dieser Komplex erschließt sich prominent durch Erfahrungen von Fremdheit, durch Abweichungen vom als vertraut Wahrgenommenen. Das interkulturelle Mit- und Durcheinander wirft Fragen auf nach der Bedeutung des Fremden für das kulturell Eigene und auch grundlegend nach den Möglichkeiten und Grenzen des erkennenden Zugriffs auf das Fremde. Fremdheit und Interkulturalität zu reflektieren bedeutet dann, den kulturellen Deutungsmustern nachzuforschen, die Heterogenität und Homogenität vermitteln. Sie erzeugen eine Fülle an Fragen- und Themenbereiche für humanwissenschaftliche Forschungsdisziplinen, was folgender exemplarischer Aufriss aus historischer, gesellschaftlicher, psychischer und pädagogischer Perspektive demonstrieren kann.1 In der Geschichte des Menschen waren und sind Heterogenität und Homogenität in Bezug auf Sprache, Kultur oder Religion ein Mittel der Fremd- und Selbstbeschreibung von Gruppen von Menschen. Die Postmoderne und der Postkolonialismus haben das Begriffspaar jedoch radikal in Frage gestellt und auf die Gefahr hingewiesen, dass Kulturzusammenhänge auch bloß imaginiert werden könnten, wenn bestimmten Gruppen von Menschen bestimmte Leistungen zugewiesen werden – beispielsweise den Griechen und Persern oder den islamischen und christlichen Kulturen des Mittelalters –, die es so nie gegeben haben könnte. Ist nicht das Individuum der eigentliche Träger all dessen, was mit kultureller Aneignung, Differenz, Identität etc. beschrieben werden kann? Die postkoloniale Kritik hat dabei kulturelle Essentialismen (»das Volk der Dichter und Denker«, »the Arab mind« etc.) und die Ausgrenzungsdiskurse von Gruppenetiketten im Visier. Wie aber müssen dann die Vergangenheit und Gegenwart kultureller Aneignungs- und Migrationsprozesse beschrieben werden? Wenn ganz auf Gruppenzuweisungen für kulturelle Leistungen verzichtet wird, droht eine andere Art des Essentialismus: Das Individuum würde absolut und ohne Rücksicht auf Kontexte betrachtet. Eine solche Dekontextualisierung wäre nicht nur historisch fragwürdig und herme1 | Der Aufriss verdankt sich den Überlegungen der HDC-AG »Interkulturalität« mit Dominik Egger, Andreas Göbel, Dag Nikolaus Hasse, Johannes Hewig, Andreas Rauh, Nina Reinsch, Carolin Rüger und Holger Schramm.

Einleitung

neutisch bedenklich, sie verhindert auch, die gemeinsamen Leistungen von Gruppen von Menschen zu erkennen und zu würdigen. Außerdem kann sie der Selbstbeschreibung von Gruppen nicht Rechnung tragen. Denn Abgrenzungs- und Heterogenitätsdiskurse waren in der Geschichte wie auch heute nicht nur ein diskriminierendes Mittel der Mächtigen, sondern auch ein Mittel der Minoritäten zur Behauptung der eigenen Identität durch die Betonung der eigenen Andersheit – beispielsweise der christlichen Minoritäten im Islam und der jüdischen Minoritäten in Europa oder der schwarzen Minorität in den Vereinigten Staaten. Nicht erst seit Huntingtons »The Clash of Civilizations?« (deutsch: Kampf [sic!] der Kulturen) steht die Begegnung von Kulturen im Fokus politischer und gesellschaftlicher Forschungen. Das Aufeinandertreffen, die Interaktion unterschiedlicher Kulturen bezieht auch die Dimension des interkulturellen Konflikts sowie der Konfliktbewältigung und -bearbeitung mit ein. Gegenwärtig stellt sich in den Internationalen Beziehungen verstärkt die Frage, ob und wie internationale Normen oder globale Herausforderungen (wie beispielsweise Klimawandel oder Migration) interkulturell unterschiedlich zur Kenntnis genommen werden. Im Kontext der aktuellen Migrationsbewegungen entfalten Fragen der Fremdheit und Interkulturalität neue Brisanz für die Europaforschung, die überlegt, wie sich bei diesen dynamischen, interkulturellen und bisweilen krisenhaften Prozessen eine europäische kollektive Identität bilden, und wie sich dabei eine europäische Öffentlichkeit entwickeln kann. Wie bettet sich Europa in eine Weltordnung im Wandel ein? Eine allgemein anerkannte oder gar disziplinüberschreitende Definition von »Kultur« oder von »Interkulturalität« bildete sich bisher nicht heraus. Verfolgt wird zumeist ein nicht-essentialistischer Zugang mit einem breiten Kulturbegriff, der die strategischen Kulturen der »security studies« ebenso umfasst wie »gender« als kulturelles Orientierungssystem. Bildungs- und erziehungswissenschaftliche Forschungen zu den Fragestellungen des interkulturellen Diskurses erhalten je nach Zielsetzung einen kulturanthropologischen, bildungsphilosophischen oder etwa sozialwissenschaftlichen Fokus. Ausgehend von einer Verschränkung der Perspektiven »Individuum«, »Gesellschaft« und »Kultur« ergeben sich Antagonismen, die für die Pädagogik von großer Bedeutung sind, da sie relevante Spannungsfelder wie etwa »Macht und Freiheit«, »Eigenheit und Fremdheit«, »Identität und Differenz«, »Kultur und Kulturalität« auf bauen. Die solcherart komplexe, kulturelle Perspektive beschränkt sich nicht mehr nur auf die Dimension der Migration, sondern wird zu einer generellen pädagogischen Perspektive. So erfahren interkulturelle Bildung und die Lehre interkultureller Kompetenz(en) einen massiven Bedeutungszuwachs. Der interkulturellen Kompetenz wird dabei das Potenzial sowohl für die Bewältigung kulturell bedingter Konflikte

9

10

Andreas Rauh

als auch für die Wahrnehmung von Chancen, welche sich im interkulturellen Kontext ergeben, gleichermaßen zugesprochen. In der Psychologie wird Interkulturalität in aller Regel unter dem Stichwort »Cross-Cultural Psychology« subsumiert und umfasst dabei sowohl Differenzen zwischen Kulturen als auch die gemeinsame Identität menschlichen Verhaltens und Erlebens über Kulturen hinweg. So stellten Ekman und Kollegen in bahnbrechenden Studien eine gewisse Universalität emotionaler Gesichtsausdrücke für beispielsweise Freude, Trauer, Ekel und Ärger über verschiedenste Kulturen hinweg fest. Trotz dieser Homogenität im menschlichen Gesichtsausdruck zeigten weiterführende Studien durchaus bedeutsame Heterogenität zwischen Kulturen unter anderem in der Wahrnehmung und Bewertung der Intensität solcher emotionalen Gesichtsausdrücke. Vergleichbare Effekte interkultureller Heterogenität und partieller Homogenität menschlichen Verhaltens und Erlebens zeigten sich unter anderem auch für die intensiv beforschten Bereiche der Persönlichkeitspsychologie und des subjektiven Wohlbefindens, sowie in der klinischen Diagnostik und Gesundheitsforschung. Gerade im Bereich der Persönlichkeitspsychologie wird die Frage interessant, wie groß die Unterschiede zwischen Kulturen im Verhältnis zu Unterschieden innerhalb einer Kultur ausfallen. Denn das Erleben vom Eigenen und Fremden, von Zugehörigkeit und Ausschluss hat einen großen Einfluss auf die Identitätsentwicklung und das eigene Selbstverständnis. Die Identitätsbildung steht in einem engen Verhältnis zur kulturellen Herkunft sowie der Sozialisation und Enkulturation. Unterschiede der Wahrnehmung, der kollektiven Konstruktion von Wirklichkeit, der Denk- und Handlungsschemata werden häufig erst im Kontakt mit anderen Kulturen deutlich. Normen und Werte können divergieren und damit sowohl zu intra- wie auch interpersonellen Spannungsverhältnissen führen, welche wiederum Einfluss auf Selbst- und Fremdbild, also die Identität haben. Zwischen persönlichen Erfahrungen und Bedürfnissen sowie den kulturell bedingten Anforderungen der Gesellschaft entsteht eine Wechselwirkung, die es auszubalancieren gilt, um erfolgreiche Identifikationsprozesse in der Differenz zweier oder mehrerer Kulturen zu ermöglichen. Fremdheit und Interkulturalität erzeugen nicht zwangsläufig Orientierungslosigkeit oder Verunsicherung, sondern können zu einem reflektierten Verhältnis zum eigenen Denken und Handeln, sowie zu den Werten und Normen von Kulturen führen. Statt den Fokus auf eine möglichst hohe Homogenität einer Gesellschaft zu richten, wird im Zuge der Inklusionsdebatte Unterschiedlichkeit vermehrt als fruchtbare Vielfalt diskutiert.

Einleitung

A spek te

der

F remdheit

Dieser Band versammelt Beiträge aus Philosophiegeschichte, Bildungsethnologie, Erziehungswissenschaft, Entwicklungspsychologie und -soziologie, die Fremdheit und Interkulturalität als grundlegende Dimensionen gegenwärtiger Kulturerfahrung analysieren. Den Band eröffnet Yossef Schwartz mit einer geschichtsorientierten Perspektive auf die multikulturelle Realität im Mittelalter, dargestellt am Phänomen der Übersetzung. Die Aktualität des Themas wird durch die Kontroverse deutlich, die Sylvain Gouguenheims Veröffentlichung »Aristoteles auf dem Mont Saint-Michel. Die griechischen Wurzeln des christlichen Abendlandes« 2008 (dt. 2010) ausgelöst hat. Denn sowohl Gouguenheim als auch seine vielen Kritiker teilen alle die gleiche Begeisterung für den griechischen Urtext und sehen ihn als monolithische Quelle des westlichen Wissenschaftswesens an, während das ganze »Mittelalter« als Übergangsphase konzipiert wird, in der die großen wissenschaftlichen, politischen und kulturellen Errungenschaften der Antike ihren natürlichen Erben und Nachfolgern übergeben wurden: dem weltlichen, westlichen, modernen Verstand. Der Beitrag beschreibt hingegen die hochdynamische Natur der mittelalterlichen kommunalen Identitäten, die immer wieder zu leidenschaftlichen Konflikten und multidirektionalen Migrationsprozessen führt, und die alle möglichen Kulturgütern miteinbezieht. Eine solche neue Perspektive ändert auch die Bewertung der Rolle der jüdischen Intellektuellen und ihrer Schwellenexistenz zwischen den verschiedenen mittelalterlichen Kulturen. Dies veranschaulichen zwei Beispiele: Die hebräische Übersetzung von Dominicus Gundissalinus beleuchtet mittelalterliche Übersetzungsbewegungen als multi-direktional, während die Darstellung einer inner-jüdischen Debatte zweier italienischer Ärzte den Grad der kulturellen Vielfalt in ein und dergleichen Sprachgemeinschaft aufzeigt. Der Beitrag von Franz-Peter Burkard zeigt auf, wie sehr die Wahrnehmung und Zuschreibung von »Fremdheit« im Rahmen kultureller Deutungsmuster erfolgt. Auf dem Hintergrund eines semiotischen Kulturbegriffs wird verdeutlicht, welche Bedeutung der, die, das Fremde für das Selbstverständnis einer Kultur hat und welche Formen des Umgangs damit entwickelt wurden. Dabei werden besonders zwei gegenpolige Typen des Fremden in den Blick genommen: der Menschenfresser und der Gast. Mit der zu respektierenden Eigenheit des Kindes und der »guten Wilden«, die im 18. Jahrhundert bedeutsam werden, verweist Alfred Schäfer auf das Problem einer zugänglichen Unzugänglichkeit. Ethnologische Forschungsperspektiven und die Untersuchung von Bildungsprozessen stoßen auf das Problem einer Fremdheit, die die Frage nach der Möglichkeit und den Grenzen eines erkennenden Zugangs aufwirft: Die angestrebte Repräsentation des Fremden verstrickt sich in die Paradoxie, dass eine adäquate Repräsentation

11

12

Andreas Rauh

des Fremden ihren Gegenstand auflösen würde. Es ist die Erfahrung einer solchen Fremdheit, die mit dem Problem ihrer Identifizierbarkeit einhergeht, die sowohl die ethnologische Forschung begleitet wie sie auch zentral ist für das, was man »bildende Erfahrung« nennen könnte. Diese mit dem Konzept der »Bildungsethnologie« behauptete Nähe beider Herangehensweisen wird an einem ersten Beispiel verdeulicht: der Artikulation von Fernreisenden nach Ladakh, die ihre »Erfahrungen« im Spannungsfeld von bestimmter Andersheit und unzugänglicher Fremdheit situieren – ohne hier eine Vereindeutigung vorzunehmen. In einem zweiten Beispiel (der Initiation in einen Voodoo-Maskenbund) wird die bildungsethnologische Herangehensweise durch eine differentielle Betrachtung des Verhältnisses von Initiations- und Bildungsprozessen in ihrem Verhältnis zu einer konstitutiven Fremdheit illustriert. Dabei wird jedoch betont, dass solche Analysen der Aporie der Repräsentation des Fremden nicht entgehen. Im Beitrag von Heidi K eller wird deutlich, wie unterschiedlich, ja sogar gegensätzlich die Vorstellungen über Erziehung und kindliche Entwicklung sein können. Dementsprechend wachsen Kinder in unterschiedlichen Lebenswelten auf. In der westlichen Psychologie wird allerdings das eigene Modell oft als universell gültig betrachtet. Im Beitrag werden daher unterschiedliche Erziehungsvorstellungen, entsprechende Lebenswelten und deren Implikationen für die kindliche Entwicklung diskutiert. Im Zentrum des Beitrags von Dieter Neubert steht die Frage nach der universellen Gültigkeit des westlich biomedizinischen »Behinderungsbegriffs« und die damit verbundenen Vorstellungen von Behinderung. Anhand älterer ethnographischen Arbeiten wird gezeigt, dass es einen gängigen Kern von Behinderung im Sinne von Körper-, Sinnes-, geistiger oder psychischer Behinderung gibt. Darüber hinaus gibt es jedoch weitere Abweichung der kulturspezifischen Normalitätserwartungen wie die Frage der Körpergröße oder -form oder Unfruchtbarkeit, die in ähnlicher Weise unerwünscht sind. Zudem muss zwischen der Einschränkung (Behinderung) und dem Umgang von Menschen mit diesen Einschränkungen (Behinderte) unterschieden werden. Denn es gibt eine Reihe von Beispielen, in denen Menschen trotz einer Einschränkung sozial integriert sind, bzw. die Behinderung praktisch ignoriert wird. Diese Befunde sind über das Phänomen Behinderung hinaus auch folgenreich für die Analyse interkultureller Kontakte. In diesem Sinne ist das Aufeinandertreffen von Menschen aus unterschiedlichen Kulturen immer auch ein Aufeinandertreffen von unterschiedlichen Normalitätserwartungen. Der kulturellen Fremdheit kann produktiv mit Toleranz und Respekt begegnet werden. Die potenziellen Spannungen werden aber nur aufgehoben, wenn sich die Normalitätserwartung ändert, und das kulturell Fremde als »normal« angesehen wird. Dominik Egger fragt in seinem Beitrag danach, was interkulturelle Kompetenz sein könnte. Er präsentiert dabei ein höchst kontroverses und teilweise

Einleitung

divergentes Feld unterschiedlicher Positionen, die unterschiedliche Grade der Bezugnahme auf das Phänomen der Fremdheit als Rahmen des Interkulturellen haben. Deren Grundpositionen werden systematisch im Zusammenhang mit jeweiligen Gegenpositionen analysiert und kritisch gewürdigt, wobei sich der Verfasser bemüht, nicht selbst Partei für eine bestimmte Perspektiven zu ergreifen. Anhand des Projektes »Globale Systeme und Interkulturelle Kompetenz« wird exemplarisch gezeigt, wie ein Umgang mit der dargelegten Heterogenität der Modelle und Standpunkte in der akademischen Lehre möglich ist.

13

The Role of Language in the Medieval Multi-Cultural Transmission Project A Jewish Perspective Yossef Schwartz The topic of this volume is interculturality and human diversity. Within the field of the humanities, this general topic is translated into the questions of heterogeneity and homogeneity as reflected in language, culture and religion, and especially as reflected in basic mechanisms of group-identity – the inner mechanisms of communal self-definition as against different »significant otherness«. Within this general framework, I would like to turn a history-oriented gaze on medieval culture and more precisely on the phenomenon of translation. Any act of translation indeed presumes some inter-action between a necessary common denominator on the one hand and radical otherness on the other, hence homogeneity and heterogeneity. As I shall try to demonstrate, the medieval case bears potential interest not only for the historian but offers actual implications for present public discourse as well, one that can only be explained on the grounds of the existence of common cultural assumptions, underlying both pre-modern and modern attitudes. The most striking example for modern public debate that emerged out of and was based on a set of medieval questions was provided by the debate evoked by the publication, in 2008, of Sylvain Gouguenheim’s highly controversial and problematic Aristote au Mont-Saint-Michel.1 Gougenheim’s argument is directed against the »liberal« pluralistic or multicultural historiography of science and philosophy, one in which Arabic/Muslim mediation plays an important role in facilitating access to Greek heritage and modern European science and philosophy. Opposing this exaggerated evaluation of the mediational role played by Arabic culture on the European path toward scientific revolution, Gouguenheim offers a series of claims. The majority of the Greek philosophic texts that shaped the late medieval Latin mind was not translated from Arabic but 1 | Gouguenheim, Sylvain: Aristote au Mont-Saint-Michel. Les racines grecques de l’Europe chrétienne, Paris: Seuil 2008.

16

Yossef Schwar t z

directly from Greek,2 based on a continuous familiarity with Greek heritage within Latin culture. Moreover, taking seriously the abovementioned dialectics of translation, that between otherness and similarity, Gouguenheim doubts the very possibility of a real cultural transmission, first from Greek to Arab-Muslim culture and then from the latter to Western-Christian civilization.3 Disputing this chain of transmission he erects both linguistic and cultural-religious hurdles. The semantic difference between Indo-European and Semitic languages4 as well as the theo-political differences between the worship of Allah and that of the Christian God,5 both create walls of cultural and cognitive incommensurability. Once those barriers have been well-defined, one can only assume, as indeed Gouguenheim does, that any concrete act of migration would end up only with misunderstandings and »bad« influences. Gouguenheim’s thesis evoked vehement reactions and detailed refutations.6 We can look back on this wave of publications with some critical perspective provided by the passage of time. Such critical observation might point out the fact that both Gouguenheim and his many critics all share the same zeal for the Greek urtext, as the monolithic source of Western scientism. This is combined with a similar simplistic understanding of knowledge migration mechanisms, operating under the notion of »influence«, differing only in their mutually contradictory assessments of the historic »truth«, that is of their mutual assessment of the role played by Arabic science in the »mediation« between the »Greek mind« and the »scientific revolution« (All quotation marks in the previous sentence indicate highly problematic signifiers, abstractions and etiquettes, which deserve much scholarly attention but will be not dealt with within the limits of this short paper). In other words, for both parties, as perhaps for most other modern minds, the entire »Middle Ages« is conceived as an epoch of transition, in which the great scientific, political and cultural achievements of antiquity were handed over to their natural heirs and successors: secular Western modern renaissance, scientific revolution, and enlightenment. It is not my goal in this paper to provide another »refutation« of Gouguenheim’s thesis. His narrative deserves thorough criticism and some of the best 2 | A well-known and documented fact as every reader of the different lists provided by the Cambridge History of Medieval Philosophy could easily confirm, see van Dyke, Christina/Pasnau, Robert: Cambridge History of Medieval Philosophy, Cambridge: Cambridge University Press 2010: Vol. II, p. 793-832. 3 | S. Gouguenheim: Aristote au Mont-Saint-Michel, p. 18. 4 | Ibid., p. 18, p. 136f. 5 | Ibid., p. 200f. 6 | For various polemical arguments against Gouguenheim, see Büttgen, Philippe/de Libera, Alain/Rashed, Marwan/Rosier-Catach, Irène: Les Grecs, les arabes et nous: Enquête sur l’islamophobie savant, Paris: Fayard 2009.

The Role of Language

minds of French and German medieval studies have done a great job of systematically recording his mistakes.7 In that respect Aristote au Mont Saint-Michel has probably already received more attention than it deserved in relation to its pure scientific merit. It will also not be too hard to reveal the fact that behind the seriously debated historic details, what really lay on the table was a post September 11th political dispute, conceived as such by all its participants, determining their intellectual positions to the degree that the historical discussion itself became almost redundant. My major claim will be that on a deep level both sides were missing an important element of medieval culture. Once emancipated from its teleological role of transmission and examined for itself, 8 the highly dynamic nature of medieval communal identities is easily uncovered; it is one that constantly leads both to passionate conflicts and to multi-directional migration processes, involving all possible cultural goods.9 Medieval Jewish intellectual history, once depicted in its original sense, emancipated from modern disciplinary biases, might provide us with an ideal example, portraying an alternative framework for any such discussion. As defined in the title of this paper, my main perspective in analyzing this multicultural infrastructure will be that of translation studies, unraveling the multifaceted story of translation as reflected in medieval mechanisms of estrangement and assimilation. Translation in its modern technical sense is an act of communication between distinct languages. In Catford’s definition it is a uni-directional act, resulting in »the replacement of textual material in one language (source language) by equivalent textual material in another language (target language)«.10 Most theoretical efforts are concentrated on portraying the 7 | For an unbiased account of both sides in the debate see Kintzinger, Martin/König, Daniel G.: »Arabisch-islamisches Erbe und Europäische Identität«, in: Sylvain Gouguenheim, Aristoteles auf dem Mont Saint-Michel. Die Griechischen Wurzeln des Christlichen Abendlandes, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesselschaft 2011, p. 229-258. 8 | For a critique of such most dominant and yet questionable presumption regarding the continuity between Greek, Greco-Roman and European culture, with or without partial Arab mediation, see Sand, Shlomo: History in Twilight: Reflexions on Time and Truth, Tel Aviv: Resling 2015, p. 25-77 [in Hebrew]. 9 | This is most clearly exemplified in the famous two sides of Iberian convivencia, see Nirenberg, David: Communities of Violence. Persecution of Minorities in the Middle Ages, Princeton NJ: Princeton University Press 1996; Fidora, Alexander/Tischler, Matthias: Christlicher Norden – Muslimischer Süden. Ansprüche und Wirklichkeiten von Christen, Juden und Muslimen auf der Iberischen Halbinsel im Hoch- und Spätmittelalter, Münster: Aschendorff Verlag 2011. 10 | Catford, John C.: A Linguistic Theory of Translation, An Essay in Applied Linguistics, Oxford: Oxford University Press 1965, p. 20.

17

18

Yossef Schwar t z

conditions of such a technical process and evaluating its results, such as the possibility of enriching the ideal of identity between source and target language. Less openly stated in such linguistics-oriented studies is the fact that the gap between source and target languages also form a natural dividing line between different cultures.11 This situation, well known in the modern nation-state culture, based as it is on an idealized combination of territory, language, and ethnic communal identity, is however precisely what underlies a controversy like the one described above. Arguing against such an implicit assumption, I would like to draw attention to the fact, not less obvious but still in need of being emphasized, that the real medieval cultural entanglement occurs not, or not only, between languages but also within languages. Accordingly, this paper will be divided into two main parts, whereas the first will entail some general remarks on medieval translation, the second will focus on concrete examples derived from Jewish intellectual history.

S ome

G ener al Thoughts on ( M edie val) Tr ansl ation

Translation is a linguistic practice and, at least in its »professional«, literal form, one that clearly belongs to a distinct social group: intellectuals, literates and the learned. Viewing medieval translations one can immediately identify different realms of such intellectual activity, of which the three most common are: translating the sacred (texts, doctrines), often involving different kinds of polemics and apologetics,12 translating the professional concrete content of nonlocal wisdom (medicine, mathematics, astronomy, philosophy, magic, etc.),13 and translating popular or elitist cultural goods (belles-lettres and poetry, legends and mythologies, but also artifacts and goods from other cultures). The main focus of my present discussion is on the second category of scientific interfaces. But such study must implement reading methodologies that will enable one to bypass as many modern anachronistic divisions as possible 11 | On translation in general see Pym, Anthony: »Propositions on Cross-Cultural Communication and Translation«, in: Target: International Journal on Translation Studies 16 (2004), p. 1-28. 12 | Two international research projects are dedicated to medieval translations of the Bible and adjunct sacred corpora. ›Biblia Arabica:  The Bible in Arabic among Jews, Christians and Muslims‹ is a joint project of Tel Aviv University and the Free University of Berlin (since 2013). ›The Medieval Bible: History and Holy Tidings‹ is a joint project of the Universities of Oslo, Stockholm and Iceland, mainly focusing on Scandinavian vernacular versions (since 2013). 13 | Montgomery, Scott L.: Science in Translation. Movements of Knowledge Through Cultures and Time, Chicago: University of Chicago Press 2000, p. 1-59.

The Role of Language

and get a better sense of the entangled disciplines of the medieval poly-system.14 Poetry, medicine, law, philosophy, exegesis, commercial exchange, mysticism, all must be viewed as different representations of one and the same cultural complex, of which the individual can make diversified use under different circumstances and for different purposes. From this perspective, our trivial dichotomies do not involve only the well-known ethnic and religious boundaries, which become such acute attributes of pre-modern societies in the modern imagination, but they involve a series of anachronistic disciplinary classifications that constantly transform concrete historic individuals into schizophrenics with multiple personalities. They can never be satisfactorily described within the boundaries of one singular discipline. Hence, as I shall try to demonstrate by means of a few examples, the boundaries a modern scholar is required to cross to modestly grasp a concrete segment of medieval reality in its full richness are not only religious but also linguistic and disciplinary. The study of medieval translations in their variegated local settings might get us a bit closer to the original kaleidoscopic nature of the living cultures involved. One might easily assume that interfaces of translation in the Middle Ages must be somewhat equivalent to interfaces of (religious) cultures. In a way, my concrete example will suggest the opposite, that is, that medieval language and therefore medieval inter-lingual practices too do not provide us with any »natural border« between religious communities. This means that language, including all medieval sacred languages, creates an inter-religious pluralistic space, much before acts of knowledge-transfer transcend the borders of language itself. The Greek knowledge transferred into Arabic during the main phase of the translation movement 15 reveals the diversity of communities active in Arabic and their diversified mechanisms of absorption again reveal a great inner Arabic religious multiplicity: Muslims, Christians belonging to different churches, Rabbinic and Karaite Jews, all participated through their particular 14 | Even-Zohar, Itamar: Papers in Culture Research, Tel Aviv: The Culture Research Laboratory 2010, p. 35-51; Rina Drory implemented Even-Zohar’s methodology in her research on eastern Judaeo-Arabic culture, cf. Drory, Rina: Models and Contacts. Arabic Literature and Its Impact on Medieval Jewish Culture, Leiden: Brill 2000. 15 | From the vast literature on this subject I will mention here only the well-known study of Gutas, Dimitry: Greek Thought, Arabic Culture. The Graeco-Arabic Translation Movement in Baghdad and Early ’Abbasid Society (2nd -4 th/8 th -10 th centuries), London/ New York: Routledge 1998; an important approach to the way this Hellenistic heritage was absorbed within all levels of the Islamicate world was formulated by Sabra, Abdelhamid I.: »The Appropriation and Subsequent Naturalization of Greek Science in Medieval Islam: A Preliminary Statement«, in: History of Science 25 (1987), p. 223-243 (reprinted in: F. Jamil Ragep/Sally P. Ragep (Eds.), Tradition, Transmission, Transformation, Leiden: Brill 1996).

19

20

Yossef Schwar t z

modes in the Arabic universal lingua franca and used it both in a universalistic mode and as a vehicle for expressing particular identity. This does not in any way justify seeing medieval language as a transparent neutral instrument, one that does not define the religious identity of its individual user. The choice made by Andalusian Judaeo-Arabic intellectuals, in their poetry, to recreate Hebrew as poetic alternative to Quranic Arabic, gives us a glimpse of the complexities involved here,16 and yet, language profoundly defines the cultural frame of mind, creating a level of complex entanglements and complex phases of mutual interchanges. On a certain level, intellectuals of different confessions might share identical concepts while deep chasms, almost cognitive incommensurability could exist between members of one and the same religious community, that do not share the same language. Another point of importance is that, when it comes to the act of translation, studies will normally concentrate almost solely on the receiving end of the process. It is as if the object of translation is a physical artifact, a »book« or »idea«, waiting to be transported to another textual territory, waiting to be discovered, read, and translated. But the act of translation in a multicultural society is, from the outset, a reciprocated dialogical one, and it remains so also after its completion. It is much more than the technical act of converting terminology and syntax from one language to another. In most cases, especially when it comes to complex sets of ideas, translation must either be based on a common set of notions, even beliefs, or else must create them anew, a task for the recipients of the translated materials. The steps following the translation itself are hence those of interpretation, absorption, censorship, selection, or what Sabra calls »naturalization«, and equivalent cultural mechanisms.17 In this process of cultural transmission, the translator as mediating agent might already act as an oral transmitter of notions and values.18 Let us concentrate for a moment on science and philosophy, including theology. The Hellenistic knowledge system at its peak was mono-linguist. Egyptians, Jews, Phoenicians and Syrians who became part of this large knowledge platform were assimilated into Greek as the intellectual lingua franca. In late antiquity, this monolinguist reality, though still dominant, gave place to new languages in which philosophy and science could be written: Latin, Syriac, Per16 | Blau, Joshua: »The Status of the Classical Arabic Layer of Medieval Judaeo-Arabic«, in: Joshua Blau et al. (Eds.), Te’uda XIV: Encounters in Medieval Judaeo-Arabic Culture, Tel Aviv: Tel Aviv University 1998, p. 47-56 [in Hebrew]. 17 | A.I. Sabra: The Appropriation and Subsequent Naturalization of Greek Science in Medieval Islam, p. 223-243.; Smalley, Beryl: The Study of the Bible in the Middle Ages Notre Dame (Indiana): University of Notre Dame Press 1964. 18 | Collins, Randall: The Sociology of Philosophies. A Global Theory of Intellectual Change, London: Harvard University Press 1998, p. 449.

The Role of Language

sian, later on Arabic.19 As a consequence, in the transition to the Middle Ages, the Hellenistic logos itself became polyphonic, maintaining its traditional continuity within Byzantine culture but at the same time developing its Arabic, Latin and finally even Hebrew autonomous realms, where the »original« Greek text loses much of its supremacy. Hence the multiplicity of translation interfaces.20 Each of those linguistic traditions developed further on its own independent route, with its own mechanisms for integrating Hellenistic heritage into its own cultural sphere. The attempts, at different historical junctures, to reunite those separate horizons involved a great effort, one that in its turn led to three major byproducts: First, there was the development of an independent literature that reflects a free and sovereign usage of the new materials. This is mostly true for the production of genuine paraphrases as against the more literal and slavishly verbatim commentary tradition.21 Both would continue to be the two dominant forms of scholastic discourse. In Toledo, the most important translation center of the 12th century, the two traditions can be observed in parallel: Gerard of Cremona (just like his Muslim Andalusian contemporary Averroes) represents the commentary tradition, systematically translating the canonical writings of the peripatetic school. Even when Gerard’s circle reproduced typical Arabic works in Latin, such as the Kitab fi l-khayr al-mahd known in Latin as Liber de causis, they immediately located them within the classic Greek classification of knowledge. At the same time Dominicus Gundissalinus clearly belongs to the paraphrase tradition, having been inspired by Avicenna and his Jewish followers such as Abraham Ibn Daud.22 It was to be Gundissalinus who would im-

19 | S.L. Montgomery: Science in Translation. 20 | It is not a coincidence, as Milka Rubin claimed already in 1998, that the concept of sacred/divine/natural/cosmic language emerges in that period, as a moment of self-reflection on canonic language now understands itself as a divine, cosmic absolute entity, see Rubin, Milka: »The Language of Creation or the Primordial Language: A Case of Cultural Polemics in Antiquity«, in: Journal of Jewish Studies 49 (1998), p. 306-333. 21 | Schwartz, Yossef: »Thirteenth Century Hebrew Psychological Discussion: The Role of Latin Sources in the Formation of Hebrew Aristotelianism«, in: Aafke M.I. van Oppenraay/ Resianne Fontaine (Eds.), The Letter Before the Spirit: The Importance of Text Editions for the Study of the Reception of Aristotle, Leiden: Brill 2012, p. 173194, here p. 174-178. 22 | Burnett, Charles: »The Coherence of the Arabic-Latin translation program in Toledo in the twelfth century«, in: Science in Context 14 (2001), p. 249-288; Fidora, Alexander: »Ein philosophischer Dialog der Religionen im Toledo des 12. Jahrhunderts. Abraham Ibn Daûd und Dominicus Gundissalinus«, in: Yossef Schwartz/Volkhard Krech

21

22

Yossef Schwar t z

mediately continue in composing his own Christianized versions of the same Arabic materials he himself had previously translated.23 Second, one can observe the emergence of new social groups and new social practices that identify themselves with the new intellectual horizon and develop the cultural mechanism for its absorption. Of course they are also the main beneficiaries, enjoying the exclusive status attained by possessing the knowledge. Hence, close to the reproduction of new texts and their organization into a whole new system of knowledge, a new society of letters must be developed to establish the social, political and cultural context of this knowledge. And third, such a social move necessitates a rearrangement of social hierarchies and divisions, therefore often precipitating various forms of social conflicts whose outcome would shape the exact place of the new learning within a cultural framework newly formed to encompass it. European Christians and Jews went through such conflicts simultaneously throughout the 13th century24 and this changed both their self-perception and their mutual perceptions of each other.25 Hence it is my claim, that in order to analyze medieval mechanisms of translation substantial social, political and cultural descriptions, which were briefly outlined here, are necessary. In the following I will try to provide some more details regarding the Jewish intellectual sphere as one particular medieval subculture. (Eds.), Religious Apologetics, Philosophical Argumentation, Tübingen: Mohr Siebeck 2004, p. 251-266. 23 | Gundissalinus’s five Latin tractates are titled: Tractatus de anima, De divisione philosophiae, De immortalitate animae, De processione mundi, De unitate. 24 | Thijssen, Hans: Censure and Heresy at the University of Paris, 1200-1400, Philadelphia: Penn Press 1998; Schwartz, Yossef: »Authority, Control and Conflict in Thirteenth-Century Paris: Contextualizing the Talmud Trial«, in: Elisheva Baumgarten/Judah D. Galinsky (Eds.), Jews and Christians in Thirteenth Century France, New York: Palgrave Macmillan 2015, p. 93-110. On the inner Jewish conflicts see Sarachek, Joseph: Faith and Reason: The Conflict over the Rationalism of Maimonides, Williamsport, PA: Bayard Press 1935; Freudenthal, Gad: »Holiness and Defilement: The Ambivalent Perception of Philosophy by its Opponents in the Early Fourteenth Century«, in: Micrologus 9 (2001), p. 169-193; Stern, Gregg: »Philosophy in southern France: Controversy over philosophic study and the influence of Averroes upon Jewish thought«, in: Daniel H. Frank/Oliver Leaman (Eds.), The Cambridge Companion to Medieval Jewish Philosophy, Cambridge: Cambridge University Press 2003, p. 281-303. 25 | Schwartz, Yossef: »Final Phases of Medieval Hebraism: Jews and Christians between Bible Exegesis, Talmud and Maimonidean Philosophy«, in: Andreas Speer/ David Wirmer (Eds.), 1308 [Miscelanea mediaevalia 35], Berlin: de Gruyter 2010, p. 269-285.

The Role of Language

I t takes t wo to tr ansl ate : J e wish intellectuals and the

dynamics of tr ansl ation

Medieval Jewish thought is normally narrated through two grand narratives which are only loosely inter-connected, one is external and the other internal. The external narrative is the well-known great chain of »Western« tradition from Greece to Modern Europe through the Latin Middle Ages, which was discussed above through the example of Gouguenheim and his critics. In that narrative, the entire Middle Ages is perceived as a great mass of a mediational epoch in which the different cultures are organized hierarchically according to their alleged contribution within the general chain of transmission. Indeed, as James Robinson, talking about the medieval translator as a »cultural type«,26 once asserted, translation is the most substantial mechanism of medieval cultural dynamics, constituting fundamental moments of Arabic, Latin, and Hebrew cultures as well as of many other local linguistic traditions. This was a major intuition underlying the life work of one of the greatest scholars of the 19th century, Moritz Steinschneider. Steinschneider’s major titles are brimming with the notion of translation, that largely dominates his magnum opus Die hebraeischen Uebersetzungen des Mittelalters und die Juden als Dolmetscher,27 but is not less dominant in many of his smaller works such as Die arabischen Übersetzungen aus dem Griechischen28 or Die europäischen Übersetzungen aus dem Arabischen bis Mitte des 17. Jahrhunderts.29 Steinschneider’s narrative (as much as one can truly speak about a »narrative« in his case) allows the following claim: translation is a constitutive moment in any medieval cultural project, and Jews in medieval culture are located in a »natural« position of being a perfect mediator, in other words, a translator (»Juden als Dolmetscher«). Hence, even if 26 | Robinson, James T.: »The Ibn Tibbon Family. A Dynasty of Translators in Medieval ›Provence‹«, in: Jay M. Harris (Ed.), Be’erot Yitzhak. Studies in Memory of Isadore Twersky, Cambridge, MA: Harvard University Press 2005, p. 193-224, here 193-195. 27 | Steinschneider, Moritz: Die hebraeischen Uebersetzungen des Mittelalters und die Juden als Dolmetscher, Berlin: Kommissionsverlag des Bibliographischen Bureaus 1893. 28 | Steinschneider, Moritz: Die arabischen Übersetzungen aus dem Griechischen, Leipzig: Harrassowitz, 1889-96. 29 | Steinschneider, Moritz: Die europäischen Übersetzungen aus dem Arabischen bis Mitte des 17. Jahrhunderts, Wien: Gerold 1904. Hence it is quite astonishing that the important volume dedicated to Steinschneider found no place for a chapter on Steinschneider’s concept of translation and on his contribution to the study of translations. See also: Leicht, Reimund/Freudenthal, Gad: Studies on Steinschneider. Moritz Steinschneider and the Emergence of the Science of Judaism in Nineteenth-Century Germany, Leiden: Brill 2012.

23

24

Yossef Schwar t z

pre-modern Judaism did not have much to add to human knowledge of the universe, it still played a crucial role in the circulation of knowledge, which became a most important mechanism of progress. Many popular and even scientific narratives maintain similar lines of argumentation even in the present. Alongside these external integrative descriptions one finds another, immanent narrative, dedicated to the inner Jewish development. Here Judaism is not perceived any more as a homogenous phenomenon that can be located in some abstract mediating space, but as a »community of communities«, characterized by a high degree of inner diversities and variations. The most common narrative chooses as its point of departure the moment at which Hellenistic heritage became an integral part of Jewish thought in the Judaeo-Arabic community from the 9th century onwards. This encounter between Jewish and Arabic literature (Drori) constitutes an act of inner migration in which a vast population remains in its territory while dramatically changing its basic linguistic orientation. Such inner migration was followed, about two centuries later, by a real geographic migration, that of Iberian Jews moving towards the northern Christian areas, where they encountered non-Arabophone Jews and started to provide them with translations into Hebrew of their cultural goods, beginning with Judaeo-Arabic literature itself and expanding it into classic Arabic Hellenistic or Muslim literature. The most important protagonists according to such narratives are the members of the Tibbonid family30 and the most important single translation event is Samuel ibn Tibbon’s translation of Moses Maimonides’ Guide of the Perplexed, completed in 1204.31 This state of affairs leads to the conclusion that the Arabic into Hebrew translation movement created, within European Christian culture, a Jewish sub-culture oriented toward its Arabic sources while turning its back on its Christian environment.32 Again, according to the historical narrative dominant today, the migration of Jewish Arab intellectuals into Christian areas inhabited by Jews who had no philosophic 30 | J.T. Robinson: The Ibn Tibbon Family. 31 | Fraenkel, Carlos: »From Maimonides to Samuel ibn Tibbon: Interpreting Judaism as a Philosophical Religion«, in: Carlos Fraenkel (Ed.), Traditions of Maimonideanism, Leiden: Brill 2009, p. 177-212. 32 | For the most systematic representation of this approach see: Freudenthal, Gad: »Arabic into Hebrew. The Emergence of the Translation Movement in Twelfth-Century Provence and Jewish-Christian Polemic«, in: David M. Freidenreich/Miriam Goldstein (Eds.), Beyond Religious Borders. Interaction and Intellectual Exchange in the Medieval Islamic World, Philadelphia: PennPress 2012, p. 124-143; Freudenthal, Gad: »Arabic and Latin Cultures as Resources for the Hebrew Translation Movement: Comparative Considerations, Both Quantitative and Qualitative«, in: Gad Freudenthal (Ed.), Science in Medieval Jewish Cultures, Cambridge: Cambridge University Press 2011, p. 74-105.

The Role of Language

and scientific background created islands of Arab learning within Christian society. It created a new type of Hebrew speaking/reading/writing Jewish intellectual mostly alienated from his Latin environment, and strongly connected to his Arabic-Jewish heritage. The many exceptions to this description are constantly described as precisely that – exceptions that do not change the overall picture. This story is partially true but highly problematic. In fact the movement of Arabic into Hebrew was much more chaotic and less linear than the Tibbonides and some modern scholars would like it to be. It was a complex continuous act of mass migration, with the typical characteristics of a migration process in which everything is in a process of displacement. Indeed, medieval Jewish literature is never limited to a purely Jewish cultural sphere. From the Cairo Geniza to the Italian and Catalan treasures and to the Jewish manuscripts of the Midi, northern France and Germany the same basic multilingual situation is to be found. Within each local Jewish language-community Jews employed different languages of speaking and writing for different purposes. Hebrew was always in use and its continuous usage created an intriguing double effect: from within a Jewish perspective it functioned as a cosmopolitan universal element while in relation to the non-Jewish majority cultures it was easily taken to reflect the particularistic element of Jewish existence, differentiating the Jew from his neighbours. Or again, the Arabic component of the conjunction »Judaeo-Arabic« differentiates the Arabic speaking Jew from his fellow Jews while the »Judaic« part, meaning the use of the Hebrew alphabet, and the integration of Hebrew and Aramaic Biblical and rabbinical quotations, differentiated him from his non-Jewish neighbour. Until the first half of the 12th century Hebrew was used for limited variants of intra-Jewish traditional literary activities. From then on it rapidly produced and dominated a series of new genres and intellectual realms. Parallel to that, a series of new religious and intellectual practices emerged. In fact, nothing in Jewish European intellectual life remained as it was. The study of the Talmud,33 organization of Halakha,34 popular pietism [Sefer Hasidim],35 the rise of Kabbalah – each of these realms produced its opponents and critics, denouncing them 33 | Fishman, Talya: Becoming the People of the Talmud. Oral Torah as Written Tradition in Medieval Jewish Cultures, Philadelphia: PennPress 2011. 34 | Galinsky, Judah D.: »On Popular Halakhic Literature and the Emergence of a Reading Audience in fourteenth-century Spain«, in: Jewish Quarterly Review 98 (2008), p. 305-327. 35 | Dan, Joseph: The ›Unique Cherub‹ Circle. A School of Mystical and Esoterics in Medieval Germany, Tübingen: Mohr Siebeck 1999; Baumgarten, Elisheva:  Practicing Piety in Medieval Ashkenaz: Men, Women and Everyday Observance, Philadelphia: PennPress 2014.

25

26

Yossef Schwar t z

as illegitimate novelties, which only emphasizes their novel dimensions in contemporary eyes. The totality of this Hebraization process is directly reflected in its dominant presence in two 13th century opposing phenomena: Hebrew philosophy and science as emerging forms of secular discourse, and Kabbalah as a total demand for sacralization. At the height of this process, Hebrew could offer wholeness: encyclopedic knowledge, an academic curriculum, a complete ethical vision. This totality has no parallel in Jewish history, neither earlier nor later, not even in present day Israel, where the demands of secular knowledge and education far exceed the limits of the modern Hebrew language. Rather than being a special marker of Jewish existence, the phenomenon described here is characteristic of large segments of pre-modern cultures. Translation is the most substantial mechanism of medieval intellectual dynamics, constituting fundamental moments of Arabic, Latin, and Hebrew text-communities as well as of many other local linguistic traditions. Contrary to Steinschneider’s definition of Jews as natural translators/mediators it is rather obvious that Jews were in fact, in most cases, very strongly bound to their local cultures which made them no more mediating figures than their non-Jewish neighbours. This general characteristic is self-evident as Jews adopted the same languages as their surroundings, such as in the case of Arabic or later on Spanish, Italian, and other European vernaculars. It is less apparent in the Latin European Middle Ages, where Jews were certainly assimilated into the locally spoken vernaculars but not into Latin in its literary written form. Since historians are so heavily dependent on written materials in order to reconstruct social and intellectual realities, the existence of a separate literary tradition among European Jews very easily prompts them to presume a separate cultural sphere. However indirect evidence often seems to support the opposite view. Certainly, with very few exceptions, medieval Jews did not write in Latin nor did medieval Christians write in Hebrew. Moreover, other than for polemical purposes, Jews and Christians were not committed to quote each other as authorities, i.e., to identify their exact external sources. Hence, a strict textual analysis searching only for absolutely recognizable citations would fall short in the attempt to provide a full description without using circumstantial evidence in order to form probable, »good enough« speculations. Based on such evidence, I would like to claim that Hebrew as a language of philosophizing is an innovation and its existential status is very close to the Latin of the period: both languages were spoken and it became commonplace for religious ritual and professional intellectuals. Both functioned as ritual and scholarly linguae francae within a particular cultural territory, and finally, both developed features in common with the emerging European written vernacular.

The Role of Language

Arab Jews did not »translate« from Arabic. They simply read it. European Jews had to translate from Arabic for the same reason Christians had to do so: since they had no direct access to its content. Translating from Arabic hence was a praxis, belonging to Christian and Jews, living in the geopolitical zone conveniently called »Europe«. A major intention of my work is to show to what extent the move from Arab-Jewish to Christian-Jewish culture (Arabic into Hebrew) was indeed a no less complex act of migration than the parallel move from Muslim Arabic to Christian Latin (Arabic into Latin). Moreover, I would like to argue that the two migration mechanisms were intermingled from the outset. Not only can we witness the translation from Hebrew into Latin (Christian Hebraism) and from Latin into Hebrew (Hebrew scholasticism), but a careful analysis reveals parallel basic mechanisms of appropriation which bear evidence of deeper layers of intercultural dialogue. It is here that the historian’s task becomes extremely complicated. Not only does it call for a precise study of the parallel Hebrew and Latin receptions of Greek, Judaeo-Arabic and Arabic sources, but it strives to point to moments of dynamic interchange between the two cultural mechanisms. Polemic and hostility, no less than enthusiastic adaptation, are important as direct evidence for such mechanisms at work. Petrus Alfonsi, Abraham Bar Hiyya, Abraham Ibn Ezra and Abraham Ibn Daud were all active during the 12th century as cultural transmitters of Arabic knowledge into European culture, either Latin/Vernacular or Hebrew/Vernacular or both. Their intellectual activity partially consisted of translation in the strict sense but mostly of producing original texts in their new languages – Hebrew and Latin – activities understood by themselves and their surroundings as acts of cultural transmission.36 It was about a generation later that the great systematic translators started their work. As Charles Burnett argued regarding Toledo,37 one of the earliest products of this translation industry was the conceptual schematization of a »system of knowledge«. Writing of encyclopedias and the flourishing literature on the division of sciences was necessary to bring order to what seemed to be a chaotic overflow of sporadic locally translated materials. Hence we can identify the following phases: early wandering agents promoting the new knowledge, creating the need for and consciousness of the material that was lacking; the translation work itself, most often accompanied by an oral act of study and mediation; the preparation of larger material textual infrastructure, such as compendia, paraphrases, encyclopedias, indexes; finally an adequate pedagogical program and curriculum. Taken together this 36 | See especially Alfonsis’s direct claim in his letter to the Parisian masters: Alfonsi, Petrus: »Epistola ad Peripateticos«, in: John Tolan, Petrus Alfonsi and his Medieval Reader, Gainesville: University Press of Florida 1993, p. 163-181. 37 | Ch. Burnett: The Coherence of the Arabic-Latin translation program, p. 249-288.

27

28

Yossef Schwar t z

forms an intellectual culture. At the turn of the 13th century this development reached its most mature stage, among Christians as well as among Jews. In fact, Jewish European traditions present us with the most illuminating test case for the discussion of borderlines and interfaces between the main medieval civilizations. Jews found themselves in one of the most crucial moments in Western intellectual history being located at the very heart of all involved cultures, as well as in the liminal spaces between the cultures. Unlike the somewhat schematic assumption of Steinschneider this did not necessarily make them into the classic »Dolmetscher«38 since many of them were simply too absorbed in their own cultural environment, and were not any closer to the conceptual scheme of the other culture than their Christian neighbours. On the contrary, some of them relied heavily on Christian sources in order to absorb the new Arab sources even if those were already available for them in Hebrew translations.

S ome

concre te e x amples

In 1846, the great Orientalist Salomon Munk, the man who edited and translated into French the Arabic version of Maimonides’ Guide of the Perplexed, achieved an enormous scholarly tour de force. While studying the writings of a 13th century Provençal Jewish philosopher, Shem Tov ibn Falaquera, he found among them excerpts which he identified as Hebrew translations of the lost Arabic original of a popular medieval Latin work, the Fons vitae. Falaquera, a Maimonidean scholar and commentator of Maimonides’ Guide, was a Hebrew writer but also a gifted Arabophone, who mastered the entire Arabic and Judaeo-Arabic philosophic-scientific library. His commentary on Maimonides is dominated by his systematic effort to provide his Hebrew reader with a full account of Maimonides’ direct and indirect Arabic sources. Among these sources are the Arabic works of the Jewish Andalusian poet and philosopher Salomon ibn Gabirol, which Falaquera frequently quotes and collocates with the arguments of Maimonides.39 In a Parisian manuscript that contained Falaquera’s notes, Munk found a series of excerpts containing translations from Arabic into Hebrew entitled »Excerpts from the Book Source of Life« (likutim mi-toch sefer makor chaim). Title and content motivated Munk to compare the content with a very well known Arabic-into-Latin translation: the Fons vitae translated in 12th-century Toledo by Dominicus Gundissalinus and Johannes Hispanus. 38 | M. Steinschneider: Die hebraeischen Uebersetzungen. 39 | Falaquera, Shem Tov ben Joseph Ibn: Moreh ha-moreh, Critical Edition, Introduction and Commentary by Yair Shiffman, Jerusalem: World Union of Jewish Studies 2001, p. 18-100.

The Role of Language

The comparison led him to an unambiguous conclusion: the author of the Arabic original version of Fons vitae, the mysterious Avicebron or Avencebrol was indeed Salomon ibn Gabirol. There is no doubt this was a significant discovery in the field of medieval studies. Fons vitae has played a great role in the shaping of scholastic thought and was especially intensively discussed among Dominicans and Franciscans, the latter of whom adopted his metaphysics with great enthusiasm. 40 It turns out that the most systematic philosophic work of a central medieval Jewish intellectual, originally composed in Arabic but that had not survived in its original form, 41 had its afterlife only in translation: a full Latin translation became a major source of scholastic thought while a partial Hebrew translation remained marginal. This is a nice example for the complex interdependence of the medieval text but I would like to add another chapter to my story. Subsequently, Munk discovered another Hebrew excerpt that could be compared to a known scholastic text. This time the title was the Book of the Soul (sefer ha-nefesh) and the excerpts from this work were found in a Hebrew encyclopedia, Heaven’s Gate (Sha’ar ha-shamayim) composed by Gershom ben Solomon of Arles, a contemporary of Falaquera. Again the Hebrew text found in the second part of the work was identical to a well-known Latin work, this time a tractate on the soul (Tractatus de anima) composed by the Toledan Dominicus Gundissalinus. Loewenthal, a disciple of Salomon Munk, in his Pseudo-Aristoteles über die Seele, 42 was trying to imitate his master’s achievement in revealing Ibn Gabirol’s true authorship of the presumably original Arabic text, pointing to Gabirol as the real author behind Gundissalinus’s De anima. Thus, his edition of the Hebrew excerpts from the Tractatus which he found in Gershom ben Solomon’s work, Loewenthal (most probably under direct supervision of Munk himself), was given the same title of »excerpts« (likutim). As was found out shortly afterwards, his failure was that he couldn’t distinguish between the two sides of a multi-directional migration process that took place during the late Middle Ages, 40 | McGinn, Bernard: »Ibn Gabirol: The Sage among the Schoolman«, in: Lenn E. Goodman (Ed.), Neoplatonism and Jewish Thought Albany: State University of New York Press 1992, p. 77-109. 41 | For some possible explanations see: Schwartz, Yossef: »Images of Revelation and Spaces of Knowledge, The Jew, the Christian and the Christian-Jew: Jewish Apostates as Cultural Mediators in Medieval Spain«, in: Fidora/Tischler, Christlicher Norden – Muslimischer Süden (2011), p. 267-287. 42 | Loewenthal, Abraham: Pseudo-Aristoteles über die Seele – Eine psychologische Schrift des 11. Jahrhunderts und ihre Beziehungen zu Salomo ibn Gabirol (Avicebron), Berlin: Mayer und Müller 1891; Gilson, Etienne: »Introduction«, in: »The Treatise De anima of Dominicus Gundissalinus«, Mediaeval Studies 2 (1940), p. 23f.

29

30

Yossef Schwar t z

a period in which the Jews functioned both as sources (Israeli, Gabirol, Ibn Ezra and Maimonides) and transmitters (Ibn Daud/Avendaut) and as receivers, translating scholastic works from Latin into Hebrew. Gershom ben Salomon himself neither translated the Latin text, nor was he the first to write it down in Hebrew. Later on, a full Hebrew translation of Gundissalinus’s tractate was found in a Cambridge manuscript, which I recently edited. 43 Reading the original Hebrew translation of the Latin tractate provides us with an even more astonishing glimpse into the daily decisions taken by Jewish translators. The anonymous Jewish (most probably Catalan) translator at the beginning of the 13th century provides us with one of the most striking examples of the typical dilemmas of medieval Hebrew Aristotelianism. He begins by translating the original text from the Latin, i.e., Aristotle’s De anima in the translatio vetus made by James of Venice, which he translates, rather clumsily though fairly accurately, from its beginning (402a1) up to the middle of the first chapter (403a2), but then gives up and moves on to a paraphrase of the Aristotelian ideas accessible to him through Gundissalinus’s tractate. In giving up on his first translation, the anonymous translator states: »So far I have translated the text of the book written by Aristotle himself; but it was hard and difficult, and so I have given up translating it and have taken [another book], one written by the wise man from Toledo who expounded the subject of the wise man’s work.« 44

In short, being aware of the new Greek-into-Latin translation of Aristotle’s De anima prepared by James of Venice, the prolific and mysterious Christian translator who plays a significant role in Gouguenheim’s narrative, 45 the anonymous Jewish translator moves eagerly to translate it into Hebrew, but finds himself confronted with a vocabulary which is (according to his own description!) far beyond his philosophic skills. He then turns to a Latin Christianized version (Gundissalinus’s Tractatus de anima), which in itself is, to a great degree, no more than a paraphrase of a classical Arabic work (Avicenna’s Shifâ’), mixed

43 | Gundissalinus, Dominicus: »Sefer ha-nefeš (Tractatus de anima)« (ed. Yossef Schwartz), in: Alexander Fidora/Harvey J. Hames/Yossef Schwartz (Eds.), Latin-Into-Hebrew: Studies and Texts, Volume 2: Texts in Contexts, Leiden: Brill 2013, p. 225-279. 44 | »Sefer ha-nefesh«, MS Cambridge, University Library, Add. 1858, fol. 191r: ‫ והיתה‬,‫עד כאן היא העתקת לשון ספר ארסט"ו עצמו‬ .‫ והנחנו העתקתו ולקחנו והוא לחכם מטולטולא פרש ענין ספר החכם‬,‫חזקה וקשה‬ 45 | S. Gouguenheim: Aristote au Mont-Saint-Michel, p. 106-115.

The Role of Language

with some metaphysical principles that were borrowed from the Arab-Jew Ibn Gabirol. The anonymous translator of Gundissalinus and the popularizer Gershom ben Solomon, who adapted his text, both provide us with significant testimonies for the use of 13th century scholastic Latin literature in the Jewish milieu. At the same time they reflect the high degree of complexities the literary exchange system had reached in the 13th century. Now for my second and final example: In 1289, a correspondence took place, between Zeraḥyah ben Isaac ben She’alti’el Ḥen (Gracián) from Rome and his colleague Hillel ben Samuel (ben Elazar of Verona) in Ferrara. 46 Zeraḥyah, originally from Barcelona, migrated to Rome during the 1270s and was active there as a physician, philosopher and translator of scientific and philosophic texts from Arabic into Hebrew. In 1289 he sent two letters to Hillel, another physician, philosopher, and translator of medical and philosophic texts from Latin into Hebrew, who, during his scholarly career, moved between the centres of Barcelona, Montpellier, Naples, Rome and northern Italy, in response to two unpreserved letters he received from him. The correspondence reveals the depth of hostility between the two. Zeraḥyah’s tone in the first letter is relatively polite and friendly but it becomes much more hostile and aggressive in tone in the second. There he discusses a set of theological controversies which had been raised in Hillel’s response to his first letter, from which Zeraḥyah quotes at length. According to Zeraḥyah, Hillel’s positions are not only totally erroneous but also ridiculous and absurd. Besides the detailed refutation of the discussed opinions, the second letter also includes a personal attack on Hillel. Zeraḥyah mentions their long friendship and his favourable attitude toward Hillel, who, without any justification, responded to Zeraḥyah’s pleasant clarifications with a public attack. In reading Hillel’s observations Zeraḥyah could only regret the fact that he had shared his thoughts with him so openly, an attitude which Hillel apparently did not deserve. Further on he was astonished by the great absurdities conveyed by Hillel and wondered from what strange sources such ludicrous opinions might have been derived. He asserted that whoever believed in such strange ideas must be considered a practitioner of the lowest forms of magic and superstiti46 | There are five manuscripts of the letters. While we are in need of a new critical edition, the best available version is the one printed in: Blumenfeld, Itzhak: Ozar Nehmad (Band II), Wien: Verlag von J. Knöpflmacher & Söhne 1863, p. 124-142. For a detailed description of the polemic see Schwartz, Yossef: »Cultural Identity in Transmission: Language, Science, and the Medical Profession in Thirteenth-Century Italy«, in: Elisheva Baumgarten/Ruth Mazo Karras/Katelyn Mesler (Ed.), Entangled Histories: Knowledge, Authority, and Transmission in Thirteenth-Century Jewish Cultures, Philadelphia: PennPress 2016, p. 181-203.

31

32

Yossef Schwar t z

on, and, most importantly, such false opinions should never be mentioned as belonging to the thought of Maimonides. According to Zeraḥyah, regarding all those elementary questions Hillel failed to meet any basic scholarly standards and proved himself to be one of the ignorant Ashkenazi scholars. Zeraḥyah ended his letter with another massive personal attack on Hillel, quoting in his support some of Rome’s leading intellectuals, calling on Hillel to withdraw into his true Ashkenazi »homeland« and raising serious doubts also regarding Hillel’s quality as a physician. This controversy is so interesting because it depicts the emerging cultural gap between Jewish European Arabophones and others who were closer to the Latin scholastic European tradition. An implicit source of tension seems to involve the identity of our two rivals as translators. In fact, observing the list of texts they chose to translate we can easily see that there are some cases in which both translated the same authors, though of course from two different source languages. The proximity of place, patronage, and works make it into what can be easily conceived as competing translation projects. 47 Hillel’s most popular translation, transmitted in fifteen manuscripts, was of Bruno da Longobucco’s (or »di Lungoburgo«) Chirurgia magna, 48 written in Padua in 1252. Moritz Steinschneider claimed that Hillel’s translation was produced almost immediately after the composition of Master Bruno’s work, perhaps even in the same year. 49 This seems to be hardly probable considering Hillel’s biography. Most probably the translation of the Chirurgia reflects Hillel’s acquaintance with teaching materials of the northern Italian universities after he moved to the north during the 1280s. If this is the case then his earlier translations must be dated to the late 1270s, for example, Hippocrates’s Apho-

47 | I intend to dedicate a full study to these translations elsewhere. On the general phenomenon of multiple translations of one and the same text see Rothschild, Jean-Pierre: »Traductions refaites et traductions révisées«, in: Resianne Fontaine/Gad Freudenthal (Eds.), Latin-Into-Hebrew: Studies and Texts, Volume 1: Studies, Leiden: Brill 2013, p. 391-420. Rothschild mentions the parallel translations by Hillel and Zeraḥyah of the Book of Causes but does not stress the fact that they were done simultaneously nor provide any account of the fact that the two authors translated parallel medical texts as well. 48 | Focà, Alfredo: Maestro Bruno da Longobucco, Calabria: Laruffa Editore 2004; Adorisio, Antonio Maria: I codici di Bruno da Longobucco, Casamari: Edizioni Casamari 2006. 49 | M. Steinschneider: Die hebraeischen Uebersetzungen, p. 788. For the adaptation of this dating in modern scholarship see Bos, Gerrit: Novel Medical and General Hebrew Terminology from the 13 th Century, Journal of Semitic Studies, Supplement 27, Oxford: Oxford University Press 2011, p. 53.

The Role of Language

risms with Galen’s commentary, dated to 1278.50 It is precisely during that period, i.e., after 1275, that Zeraḥyah began his activity as a translator in Rome, and among his first translation efforts were Galen and Hippocrates. Galen’s Book on Illnesses and their Accidents (De causis et symptomatibus) is dated to 1275 and the Chapters of Hippocrates to 1279. Needless to say, Zeraḥyah did not have any parallel translation to Bruno’s work, originally written in Latin. However, Bruno’s work itself, like so many other Latin medical and astronomical writings of that period, is basically a compilation of Arabic sources, a fact openly declared by the author in the prologue. Most interestingly, both authors translated the Book of Causes (Arab. K. alIḍah fi l-khayr al-mahd; Lat. Liber de causis; Heb. Sefer ha-sibot).51 Here again Hillel translated into Hebrew from the Latin translation prepared by Gerard of Cremona in Toledo while Zeraḥyah translated directly from the Arabic. It is hard to decide which of them was the first and whether one of them was motivated or provoked by the other. As Jean-Pierre Rothschild clearly demonstrated, the Book of Causes entailed some important psychological ideas that influenced scholastic discourse on the soul.52 The debate on the soul and the intellect was a major topic in the Latin universities, culminating in the 1270s.53 It should not surprise us therefore that both our authors turn their attention from the 1280s onward toward psychology. Zeraḥyah translated (Pseudo-)Alfarabi’s On the soul and Aristotle’s De anima (1284)54 and Hillel composed his own treatise on the Soul. Their conflicts transcended most of the common classifications used by modern scholars. Being both »Jewish-Italian physicians« and followers of Maimonides, they did share the same new language of science and philosophy and 50 | M. Steinschneider: Die hebraeischen Uebersetzungen, p. 660; Muntner, Suessmann: Moshe ben Maimon (Maimonides) Medical Works, II Jerusalem: Mossad Harav Kook 1987, p. XXVII; G. Bos: Novel Medical and General Hebrew Terminology, p. 10. 51 | Steinschneider, Moritz: Hebraeische Bibliographie, VI, Berlin: Kauffmann 1863, p. 110-114. 52 | Rothschild, Jean-Pierre: »Le Livre des causes du latin à l’hébreu: textes, problèmes, réception«, in: Fidora/Hames/Schwartz, Latin-into-Hebrew (2013), p. 47-84, here p. 50, p. 84. 53 | Dales, Richard C.: The Problem of the Rational Soul in the Thirteenth Century, Leiden: Brill 1995, p. 113-191; Schwartz, Yossef: »Divine Space and the Space of the Divine: On the Scholastic Rejection of Arab Cosmology«, in: Tiziana Suarez-Nani/ Martin Rohde (Eds.), Représentations et conceptions de l’espace dans la culture medieval, (Scrinium Friburgense 30) Berlin/Boston: de Gruyter 2011, p. 89-119, esp. p. 100-102, p. 117-119. 54 | Bos, Gerrit: Aristotle’s ›De anima‹ Translated into Hebrew by Zeraḥyah ben Isaac Shealtiel Ḥen: a Critical Edition with an Introduction and Index, Leiden: Brill 1994.

33

34

Yossef Schwar t z

yet, within that joint project, they oriented themselves toward different philosophic sources, different medical traditions, different Jewish spiritual paths, and different general cultural environments.

C oncluding

remarks

While it is not my aim here to deny that some Jews played a significant role as mediators of knowledge and translators from Arabic to Latin, I do believe that their role here is no more significant than that of non-Jews. The biggest efforts of transmission were directed inwards and were carried out within the Jewish world, from one cultural environment to another and as local reactions to environmental intellectual developments. The migration of Arabic knowledge to the European areas evokes parallel, though not necessarily equal, developments among Latin-writing Christians and Hebrew-writing Jews. The different possible mutual influences and exchanges are augmented by geographical areas, intellectual sub-occupations and philosophic temperament to create a highly complex and dynamic combination of Greek, Arabic, Latin and Hebrew discourse. Following the intriguing paths of these local traditions is a necessary precondition for the completion of the fascinating portrait of the medieval society of knowledge (»Wissensgesellschaft«55). Within such a society, the study of translations and migrating knowledge must be done under a more general understanding of medieval culture as a »culture of translation« (übersetzende Kultur). The constant flow of translations produced by such medieval societies is never one-dimensional or one-directional. Examining such a »Knowledge Society« is a project that should not be limited to institutional records, such as those available from European Latin institutions of knowledge. Late medieval European society is characterized by its manifold forms of emerging »secondary elites«,56 and the new Jewish intellectuals are one of the most significant presentations of this new socio-intellectual creature, normally identified with figures such as Ramon Lull and Dante Alighieri: authors of their own authority. Outside the official institutions of learning, there existed myriad channels through which knowledge became a common good in the growing European urban communities. Within these multifaceted Christian European societies, Jews represented the most significant intellectual sub-culture. Jewish physicians, philosophers and scientists – without having studied in Christian institutions and lacking fluency in Latin 55 | Fried, Johannes: Die Aktualität des Mittelalters, Stuttgart: Jan Thorbecke Verlag 2002, p. 34-42. 56 | Eisenstadt, Shmuel N.: »Heterodoxies and Dynamics of Civilizations«, in: Proceedings of the American Philosophical Society 128 (1984), p. 104-113.

The Role of Language

– constructed a sophisticated, analogous intellectual system and successfully devised means for sharing their knowledge via non-official educational forms, despite having become alienated from both hegemonic Latin and Jewish traditional educational institutions. In comparison with the parallel enterprises of the European vernaculars, the Hebrew translation project was much larger in its scope and profundity, mostly because of its global nature, uniting the different local communities of southern Europe first with each other and then also with their neighbouring Jewish communities: Arab-Jews to the south and Ashkenazi Jewry in northern France and the Rhineland. The fact that Jews in such different areas shared a common written language and a common library, accompanied for each of them by their local literary traditions, makes European Hebrew »science in translation« into one of the most fascinating spectacles of the growing intellectual power of the late medieval period.

Q uellenverzeichnis Adorisio, Antonio Maria: I codici di Bruno da Longobucco, Casamari: Edizioni Casamari 2006. Alfonsi, Petrus: »Epistola ad Peripateticos«, in: John Tolan, Petrus Alfonsi and his Medieval Reader, Gainesville: University Press of Florida 1993. Baumgarten, Elisheva: Practicing Piety in Medieval Ashkenaz: Men, Women and Everyday Observance, Philadelphia: PennPress 2014. Blau, Joshua: »The Status of the Classical Arabic Layer of Medieval Judaeo-Arabic«, in: Joshua Blau et al. (Eds.), Te’uda XIV: Encounters in Medieval JudaeoArabic Culture, Tel Aviv: Tel Aviv University 1998, p. 47-56. Blumenfeld, Itzhak: Ozar Nehmad (Band II), Wien: Verlag von J. Knöpflmacher & Söhne 1863. Bos, Gerrit: Aristotle’s ›De anima‹ Translated into Hebrew by Zeraḥyah ben Isaac Shealtiel Ḥen: a Critical Edition with an Introduction and Index, Leiden: Brill 1994. Bos, Gerrit: Novel Medical and General Hebrew Terminology from the 13th Century, Journal of Semitic Studies, Supplement 27, Oxford: Oxford University Press 2011. Burnett, Charles: »The Coherence of the Arabic-Latin translation program in Toledo in the twelfth century«, in: Science in Context 14 (2001), p. 249-288. Büttgen, Philippe/de Libera, Alain/Rashed, Marwan/Rosier-Catach, Irène: Les Grecs, les arabes et nous: Enquête sur l’islamophobie savant, Paris: Fayard 2009. Catford, John C.: A Linguistic Theory of Translation, An Essay in Applied Linguistics, Oxford: Oxford University Press 1965.

35

36

Yossef Schwar t z

Collins, Randall: The Sociology of Philosophies. A Global Theory of Intellectual Change, London: Harvard University Press 1998. Dales, Richard C.: The Problem of the Rational Soul in the Thirteenth Century, Leiden: Brill 1995. Dan, Joseph: The ›Unique Cherub‹ Circle. A School of Mystical and Esoterics in Medieval Germany, Tübingen: Mohr Siebeck 1999. Drory, Rina: Models and Contacts. Arabic Literature and Its Impact on Medieval Jewish Culture, Leiden: Brill 2000. van Dyke, Christina/Pasnau, Robert: Cambridge History of Medieval Philosophy, Cambridge: Cambridge University Press 2010: Vol. II. Eisenstadt, Shmuel N.: »Heterodoxies and Dynamics of Civilizations«, in: Proceedings of the American Philosophical Society 128 (1984), p. 104-113. Even-Zohar, Itamar: Papers in Culture Research, Tel Aviv: The Culture Research Laboratory 2010. Falaquera, Shem Tov ben Joseph Ibn: Moreh ha-moreh, Critical Edition, Introduction and Commentary by Yair Shiffman, Jerusalem: World Union of Jewish Studies 2001. Fidora, Alexander: »Ein philosophischer Dialog der Religionen im Toledo des 12. Jahrhunderts. Abraham Ibn Daûd und Dominicus Gundissalinus«, in: Yossef Schwartz/Volkhard Krech (Eds.), Religious Apologetics, Philosophical Argumentation, Tübingen: Mohr Siebeck 2004, p. 251-266. Fidora, Alexander/Tischler, Matthias: Christlicher Norden – Muslimischer Süden. Ansprüche und Wirklichkeiten von Christen, Juden und Muslimen auf der Iberischen Halbinsel im Hoch- und Spätmittelater, Münster: Aschendorff Verlag 2011. Fishman, Talya: Becoming the People of the Talmud. Oral Torah as Written Tradition in Medieval Jewish Cultures, Philadelphia: PennPress 2011. Focà, Alfredo: Maestro Bruno da Longobucco, Calabria: Laruffa Editore 2004. Fraenkel, Carlos: »From Maimonides to Samuel ibn Tibbon: Interpreting Judaism as a Philosophical Religion«, in: Carlos Fraenkel (Ed.), Traditions of Maimonideanism, Leiden: Brill 2009, p. 177-212. Freudenthal, Gad: »Holiness and Defilement: The Ambivalent Perception of Philosophy by its Opponents in the Early Fourteenth Century«, in: Micrologus 9 (2001), p. 169-193. Freudenthal, Gad: »Arabic and Latin Cultures as Resources for the Hebrew Translation Movement: Comparative Considerations, Both Quantitative and Qualitative«, in: Gad Freudenthal (Ed.), Science in Medieval Jewish Cultures, Cambridge: Cambridge University Press 2011, p. 74-105. Freudenthal, Gad: »Arabic into Hebrew. The Emergence of the Translation Movement in Twelfth-Century Provence and Jewish-Christian Polemic«, in: David M. Freidenreich/Miriam Goldstein (Eds.), Beyond Religious Borders.

The Role of Language

Interaction and Intellectual Exchange in the Medieval Islamic World, Philadelphia: PennPress 2012, p. 124-143. Fried, Johannes: Die Aktualität des Mittelalters, Stuttgart: Jan Thorbecke Verlag 2002. Galinsky, Judah D.: »On Popular Halakhic Literature and the Emergence of a Reading Audience in fourteenth-century Spain«, in: Jewish Quarterly Review 98 (2008), p. 305-327. Gilson, Etienne: »Introduction«, in: »The Treatise De anima of Dominicus Gundissalinus«, Mediaeval Studies 2 (1940), p. 23-27. Gouguenheim, Sylvain: Aristote au Mont-Saint-Michel. Les racines grecques de l’Europe chrétienne, Paris: Seuil 2008. Gundissalinus, Dominicus: »Sefer ha-nefeš (Tractatus de anima)« (ed. Yossef Schwartz), in: Alexander Fidora/Harvey J. Hames/Yossef Schwartz (Eds.), Latin-Into-Hebrew: Studies and Texts, Volume 2: Texts in Contexts, Leiden: Brill 2013, p. 225-279. Gutas, Dimitry: Greek Thought, Arabic Culture. The Graeco-Arabic Translation Movement in Baghdad and Early ’Abbasid Society (2nd-4th/8th-10th centuries), London/New York: Routledge 1998. Kintzinger, Martin/König, Daniel G.: »Arabisch-islamisches Erbe und Europäische Identität«, in: Sylvain Gouguenheim, Aristoteles auf dem Mont Saint-Michel. Die Griechischen Wurzeln des Christlichen Abendlandes, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesselschaft 2011, p. 229-258. Leicht, Reimund/Freudenthal, Gad: Studies on Steinschneider. Moritz Steinschneider and the Emergence of the Science of Judaism in Nineteenth-Century Germany, Leiden: Brill 2012. Loewenthal, Abraham: Pseudo-Aristoteles über die Seele – Eine psychologische Schrift des 11. Jahrhunderts und ihre Beziehungen zu Salomo ibn Gabirol (Avicebron), Berlin: Mayer und Müller 1891. McGinn, Bernard: »Ibn Gabirol: The Sage among the Schoolman«, in: Lenn E. Goodman (Ed.), Neoplatonism and Jewish Thought Albany: State University of New York Press 1992, p. 77-109. Montgomery, Scott L.: Science in Translation. Movements of Knowledge Through Cultures and Time, Chicago: University of Chicago Press 2000. Muntner, Suessmann: Moshe ben Maimon (Maimonides) Medical Works, II Jerusalem: Mossad Harav Kook 1987. Nirenberg, David: Communities of Violence. Persecution of Minorities in the Middle Ages, Princeton NJ: Princeton University Press 1996. Pym, Anthony: »Propositions on Cross-Cultural Communication and Translation«, in: Target: International Journal on Translation Studies 16 (2004), p. 1-28. Robinson, James T.: »The Ibn Tibbon Family. A Dynasty of Translators in Medieval ›Provence‹«, in: Jay M. Harris (Ed.): Be’erot Yitzhak. Studies in Me-

37

38

Yossef Schwar t z

mory of Isadore Twersky, Cambridge, MA: Harvard University Press 2005, p. 193-224. Rothschild, Jean-Pierre: »Traductions refaites et traductions révisées«, in: Resianne Fontaine/Gad Freudenthal (Eds.), Latin-Into-Hebrew: Studies and Texts, Volume 1: Studies, Leiden: Brill 2013, p. 391-420. Rothschild, Jean-Pierre: »Le Livre des causes du latin à l’hébreu: textes, problèmes, réception«, in: Fidora/Hames/Schwartz, Latin-Into-Hebrew (2013), p. 47-84. Rubin, Milka: »The Language of Creation or the Primordial Language: A Case of Cultural Polemics in Antiquity«, in: Journal of Jewish Studies 49 (1998), p. 306-333. Sabra, Abdelhamid I.: »The Appropriation and Subsequent Naturalization of Greek Science in Medieval Islam: A Preliminary Statement«, in: History of Science 25 (1987), p. 223-243 (reprinted in: F. Jamil Ragep/Sally P. Ragep (Eds.), Tradition, Transmission, Transformation, Leiden: Brill 1996). Sand, Shlomo: History in Twilight: Reflexions on Time and Truth, Tel Aviv: Resling 2015. Sarachek, Joseph: Faith and Reason: The Conflict over the Rationalism of Maimonides, Williamsport, PA: Bayard Press 1935. Schwartz, Yossef: »Final Phases of Medieval Hebraism: Jews and Christians between Bible Exegesis, Talmud and Maimonidean Philosophy«, in: Andreas Speer/David Wirmer (Eds.), 1308 [Miscelanea mediaevalia 35], Berlin: de Gruyter 2010, p. 269-285. Schwartz, Yossef: »Divine Space and the Space of the Divine: On the Scholastic Rejection of Arab Cosmology,« in: Tiziana Suarez-Nani/Martin Rohde (Eds.), Représentations et conceptions de l’espace dans la culture medieval, (Scrinium Friburgense 30) Berlin/Boston: de Gruyter 2011, p. 89-119. Schwartz, Yossef: »Images of Revelation and Spaces of Knowledge, The Jew, the Christian and the Christian-Jew: Jewish Apostates as Cultural Mediators in Medieval Spain«, in: Fidora/Tischler, Christlicher Norden – Muslimischer Süden (2011), p. 267-287. Schwartz, Yossef: »Thirteenth Century Hebrew Psychological Discussion: The Role of Latin Sources in the Formation of Hebrew Aristotelianism«, in: Aafke M.I. van Oppenraay/Resianne Fontaine (Eds.), The Letter Before the Spirit: The Importance of Text Editions for the Study of the Reception of Aristotle, Leiden: Brill 2012, p. 173-194. Schwartz, Yossef: »Authority, Control and Conflict in Thirteenth-Century Paris: Contextualizing the Talmud Trial,« in: Elisheva Baumgarten/Judah D. Galinsky (Eds.), Jews and Christians in Thirteenth Century France, New York: Palgrave Macmillan 2015, p. 93-110. Schwartz, Yossef: »Cultural Identity in Transmission: Language, Science, and the Medical Profession in Thirteenth-Century Italy«, in: Elisheva Baumgar-

The Role of Language

ten/Ruth Mazo Karras/Katelyn Mesler (Ed.), Entangled Histories: Knowledge, Authority, and Transmission in Thirteenth-Century Jewish Cultures, Philadelphia: PennPress 2016, p. 181-203. »Sefer ha-nefesh«, MS Cambridge, University Library, Add. 1858. Smalley, Beryl: The Study of the Bible in the Middle Ages Notre Dame (Indiana): University of Notre Dame Press 1964. Steinschneider, Moritz: Hebraeische Bibliographie, VI, Berlin: Kauffmann 1863. Steinschneider, Moritz: Die arabischen Übersetzungen aus dem Griechischen, Leipzig: Harrassowitz, 1889-96. Steinschneider, Moritz: Die hebraeischen Uebersetzungen des Mittelalters und die Juden als Dolmetscher, Berlin: Kommissionsverlag des Bibliographischen Bureaus 1893. Steinschneider, Moritz: Die europäischen Übersetzungen aus dem Arabischen bis Mitte des 17. Jahrhunderts, Wien: Gerold 1904. Stern, Gregg: »Philosophy in southern France: Controversy over philosophic study and the influence of Averroes upon Jewish thought«, in: Daniel H. Frank/Oliver Leaman (Eds.), The Cambridge Companion to Medieval Jewish Philosophy, Cambridge: Cambridge University Press 2003, p. 281-303. Thijssen, Hans: Censure and Heresy at the University of Paris, 1200-1400, Philadelphia: Penn Press 1998.

39

Von Gästen und Menschenfressern Zur kulturellen Wahrnehmung von Fremdheit Franz-Peter Burkard

I m W ald

der

Z eichen

Meine folgenden Überlegungen sind verortet im theoretisch-methodischen Feld eines semiotischen Kulturverständnisses.1 Der Blick soll sich also auf die kulturelle Produktion, Kommunikation und Interpretation von Sinn, genauer: von bedeutungshaltigen Zeichen, richten. Eine solche Fokussierung auf eine spezifische Zugangsweise erlaubt auf der einen Seite eine Schärfung bestimmter Aspekte, bedingt auf der anderen auch Grenzen dessen, was damit erfasst werden kann. Grundlagen für dieses Kulturverständnis hat u.a. Ernst Cassirer mit seiner Philosophie der Symbolischen Formen gelegt. Cassirer meint, dass das Wesen des Menschen nur von den Bedingungen seiner Kultur her verstehbar ist. Aus diesem Grund sieht er die wesentliche anthropologische Kategorie darin, dass der Mensch ein animal symbolicum ist, weil hierin – anders als im Begriff animal rationale – die gestaltende, kulturschaffende Seite des Menschen deutlich herausgestellt wird. Der Mensch erkennt Welt nicht einfach (durch Begriffe), sondern er erkennt, indem er Welt schafft und zwar durch symbolische Gestaltung, z.B. Sprache, Mythos, Kunst, Wissenschaft. »Der Mensch lebt in einem symbolischen und nicht mehr in einem bloß natürlichen Universum. Sprache, Mythos, Kunst und Religion sind Teile dieses Universums. Sie sind die bunten Fäden, die das Symbolnetz weben, das verknotete Gewebe menschlicher Erfahrung. [...] Statt mit den Dingen selbst umzugehen, unterhält sich der Mensch in gewissem Sinne dauernd mit sich selbst. Er lebt so sehr in sprachlichen Formen, in

1 | Als zwei wichtige Vertreter, deren Einfluss auch hier erkennbar sein wird, seien Claude Lévi-Strauss und Clifford Geertz genannt.

42

Franz-Peter Burkard Kunstwerken, in mythischen Symbolen oder religiösen Riten, dass er nichts erfahren oder erblicken kann, außer durch Zwischenschaltung dieser künstlichen Medien.« 2

Was in dem Zitat zum Ausdruck kommt, ist, dass (1) der Weltbezug des Menschen durch bedeutungshaltige Symbole vermittelt ist, weshalb unser »In-derWelt-sein« immer deutend oder verstehend ist, und dass es sich dabei (2) um ein »Netz«, »ein verknotetes Gewebe« handelt, was wiederum heißt, dass sich die Bedeutung von etwas niemals nur aus einer einfachen Relation ergibt, sondern immer aus einem Geflecht vieler aufeinander verweisender Zeichen. Und weil ein Zeichen in einem solchen Netz von Verweisungen steht, ist es immer mehrdeutig. Es gibt Zeichensysteme, wo man das vermeiden möchte, z. B. wenn man mathematische Symbole präzise definiert, aber das sind künstliche Sprachen. Kulturelle Zeichensysteme wie Religion, Kunst oder Philosophie haben immer eine potentiell unendliche Menge an Verweisungen und sind deshalb interpretationsbedürftig. Der Akteur dieses Prozesses ist natürlich zunächst einmal das Individuum, das Sinn erzeugt und Sinn deutet, allein schon in unserem alltäglichen Sprechen und Handeln. Die Deutungsleistungen des Einzelnen sind aber nicht beliebig und stehen auch nicht im luftleeren Raum, sondern greifen auf Muster zurück, die sich als eigene kulturelle Symbolsysteme im Laufe der Zeit herausgebildet und tradiert haben, wie eben Philosophie, Kunst oder Religion ebenso wie das Recht oder Moralvorstellungen. D.h. auch, dass unsere Deutungsleistungen niemals völlig frei sind, die Muster, die ihnen zugrunde liegen, können uns zuweilen bewusst sein, oft sind sie es nicht. Uns interessiert also wie Menschen ihre Kultur, im Sinne einer bedeutungshaltigen Welt, erzeugen, wie Deutungsmodelle sich etablieren, verändern, wieder auflösen. Das steht nun nicht beziehungslos nebeneinander, weil, wie ja schon gesagt, Bedeutungen nur in einem Beziehungsgeflecht entstehen, und deshalb verknüpfen sich die vielen Sinnschöpfungen und ihre Interpretationen zu Geschichten, die eine Kultur über sich erzählt. Es gibt »große Erzählungen« und kleine Geschichten, überzeugende und weniger überzeugende, langanhaltende und kurzlebige. Wenn oben schon die Grenzen eines jeden Ansatzes angesprochen wurden, dann heißt dies hier auf der einen Seite, dass ich dem Grundsatz der Öffentlichkeit von Kultur folge – also eines beobachtbaren Austausches von Zeichen mit der Fokussierung auf die Bedeutungszuschreibungen als solchen, oder wie Clifford Geertz es nicht unnachahmlicher hätte ausdrücken können: dass es nicht unsere Aufgabe ist, in die Köpfe der anderen zu schauen, »die

2 | Cassirer, Ernst: Was ist der Mensch?, Stuttgart: Kohlhammer 1960, S. 39.

Von Gästen und Menschenfressern

darauf ohnehin keinen besonderen Wert legen, da sie, wie wir alle, ihre Seele lieber als ihre eigene Angelegenheit betrachten.«3 Zum anderen aber liegen die Grenzen darin, dass das Spiel der Zeichen praktische Konsequenzen hat, und für deren Verständnis die Berücksichtigung psychischer, sozialer und historischer Faktoren unerlässlich ist, die mit den semiotischen in Interaktion treten, so dass sich eine konkrete historisch-kulturelle Situation nicht durch eine Zugangsweise bzw. Disziplin allein erhellen lässt. Dabei ist aber nicht zu vergessen, dass Deutungsmodelle eigenen Regeln und einer eigenen Dynamik folgen, die sich nicht einfach aus den anderen genannten Faktoren ergeben. Gerade aufgrund dieser Selbstständigkeit können sie großen Einfluss auf die Praxis haben. Um dies kurz an dem historischen und doch immer aktuellen Beispiel der Hexen- bzw. Hexerverfolgungen in Europa in der Zeit vom 14. bis 18. Jh. zu verdeutlichen: Das religiöse Deutungsmodell von Zwischenwesen mit magischen Eigenschaften ist uralt und in Varianten in allen Religionen enthalten. Um sich zu einem bestimmten Hexenmuster auszubilden und zu einer Phase epidemischer Verfolgungen zu kulminieren, müssen verschiedene andere Faktoren zusammenspielen, in diesem Fall etwa eine Änderung der theologischen Bewertung (nicht Besessenheit, sondern Bündnis mit dem Bösen), des Rechtsverständnisses (Inquisitions- anstatt Akkusationsverfahren), ein demographischer Wandel, möglicherweise Versorgungsknappheit etc. Nur das Zusammenspiel verschiedener Zugangsweisen macht also das Phänomen erklärbar. 4 Ein semiotisches Kulturverständnis ist hierbei eher auf der Metaebene anzusiedeln: es ist ein Deutungsmodell für Deutungsmodelle.

D er ,

die , das

F remde

Warum nun ist Fremdheit ein wichtiges Thema innerhalb eines solchen Verständnisses von Kultur. Der Strukturalismus hat deutlich gemacht, dass jedes Zeichen nur dadurch eine Bedeutung hat, dass es sich von anderen Zeichen unterscheidet. Wenn dies so ist, dann ist die Grenzziehung eine Notwendigkeit der Bedeutungskonstitution. Zeichen erzeugen Differenz und damit Erkennbarkeit in einem ansonsten ununterschiedenen Kontinuum. Lévi-Strauss hat dies auf den Punkt gebracht: »Wie immer eine Klassifizierung aussehen mag, sie ist besser als keine Klassifizierung«,5 will heißen: 3 | Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, S. 292. 4 | Vgl. dazu Burkard, Franz-Peter: »›Hexen‹ in religionswissenschaftlicher Sicht«, in: Markus Mergenthaler/Margarete Klein-Pfeuffer (Hg.), Hexenwahn in Franken, Dettelbach: J.H.Röll 2014, S. 22-35. 5 | Lévi-Strauss, Claude: Das wilde Denken, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1968, S. 21.

43

44

Franz-Peter Burkard

Einordnungen und Zuordnungen sind für den Menschen, der darauf angewiesen ist, sich die Welt verstehend zu erschließen, notwendig, sie sind eine Grundlage seines Vertrautseins mit der Welt. Die Anwendung gewohnter Deutungsmuster ist zunächst also ein Erfordernis der Ökonomie im pragmatischen Umgang mit der Welt, so dass der Einbruch eines Fremden – und das heißt hier einfach eines noch nicht verorteten und nicht klar zuordenbaren Elementes – nicht nur ausdrückliche Deutungsprozesse notwendig macht, sondern auch eine Herausforderung an das »Inder-Welt-sein« darstellt. Denn wenn es stimmt, dass der Mensch verstehend in der Welt ist, dann ist das Fremde eine Herausforderung an dieses Verstehen, und Unverständliches wäre wiederum eine Bedrohung des In-der-Welt-seins. Wie aber Karl Kraus schon so richtig bemerkt hat: »Das Vorurteil ist ein unentbehrlicher Hausknecht, der lästige Eindrücke von der Schwelle weist. Nur darf man sich von seinem Hausknecht nicht selber hinauswerfen lassen«,6 steht dem nun gegenüber, dass unsere Deutungsmodelle, um auf Dauer Sinn stiften zu können, fähig sein müssen, auf neue Sinnzumutungen zu reagieren. Fremd ist das – so könnte man etwas metaphorisch formulieren – zwar noch jenseits der Grenze gewohnter Klassifikation Lauernde, nahe genug jedoch schon, um jederzeit eintreten zu können. Um Sinn zu schaffen, werden daher Grenzen ausgelotet, neue gezogen, andere überschritten. Solche Grenzüberschreitungen sind produktiv oder wie es der Ethnologe Thomas Hauschild formuliert: »Mittlerfiguren überbrücken die Grenze, welche eine Sorte Mensch von anderen denkenden und sprechenden Wesen trennt. Schamanen, Flüchtlinge, Verirrte, entlaufene Sklaven, Arbeitsmigranten und Reisende beschreiben den Daheimgebliebenen ihre Begegnungen mit Fremden, Geistern, Monstern oder mit dem Schöpfer aller Dinge. [...] Die Grenze einer Kultur entsteht in dieser Grenzüberschreitung. Vielleicht handelt es sich bei der Geschichte vom Kontakt mit fremden Welten sogar um die ›Mutter aller möglichen Erzählungen‹. Lohnt es sich überhaupt mit einer Erzählung zu beginnen, wenn diese nicht die Erkundung ferner Gebiete beschreibt oder aber den Einbruch des Anderen in die vertraute eigene Welt?« 7

Jedes Deutungsmodell, das nicht Gefahr laufen will, über kurz oder lang zu versagen – oder an Langeweile dahinzuscheiden –, muss also Vertrautheit und 6 | Kraus, Karl: Aphorismen (Schriften Bd. 8), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986, S. 161. 7 | Hauschild, Thomas: »Ethnologie als Kulturwissenschaft«, in: Klaus Stierstorfer/ Laurenz Volkmann (Hg.), Kulturwissenschaft interdisziplinär, Tübingen: Gunter Narr 2005, S. 59. Das eingefügte Zitat in der obigen Stelle ist mit einem Verweis auf: Carlo Ginzburg: Hexensabbat, Berlin: Wagenbach 1990, S. 301 versehen.

Von Gästen und Menschenfressern

Fremdheit gleichermaßen integrieren. Das gelingt semiotisch gesprochen jedoch nur, wenn es strukturell immer einen Überschuss an Sinn bereithalten kann für alle möglichen noch zu besetzenden Signifikate. Anders gesagt, man benötigt einen hinreichend großen Vorrat an Leersignifikanten, die fähig sind, alle möglichen Bedeutungen anzunehmen und sie dahin zu transportieren, wo man sie brauchen kann. Einen noch schöneren Begriff dafür verwendet Lévi-Strauss, er nennt sie: flottierende Signifikanten (signifiant f lottant), 8 was zumindest für die Kulturwissenschaften besser zu treffen scheint, was gemeint ist, weil z.B. der linguistische Begriff (Nullsignifikanten) eine zu statische Position beinhaltet, hier aber geht es um die Beweglichkeit und die Fähigkeit der flottierenden Signifikanten Relationen herzustellen. Dies bedeutet auch, dass jedes kulturelle Symbolsystem, sei es Kunst, Literatur, Philosophie, Religion oder Wissenschaft, von sich aus auf größere Reichhaltigkeit drängt, auf ein Wuchern der Diskurse, auf eine sich selbst anstachelnde Produktivität. Die Dynamik und Unabgeschlossenheit solcher Prozesse erzeugt ein Feld eigener Qualität, das zwischen den Grenzen, also den vorhandenen Klassifikationen steht: das Feld des Liminalen, des Übergangs, des Weder–Noch, nicht abschließend Bestimmten und nicht endgültig Bestimmbaren, weshalb es im Allgemeinen als gefährlich betrachtet wird.9 Beispiele für liminale Phänomene sind etwa jahreszeitliche Übergangsfeste wie die römischen Saturnalien: die gesellschaftliche Ordnung löst sich auf, die Sklaven werden Herren und die Herren Sklaven, die Pforten zur Unterwelt stehen offen, so dass die Grenzen zwischen Lebenden und Toten verschwimmen, und wenn alles gut geht, schickt man die Toten am Ende wieder zurück in ihre Welt und alles bleibt in der Ordnung, oder das Ritual gelingt nicht und die Welt versinkt im Chaos. Oder räumliche Übergänge: die Schwelle des Hauses oder des Heiligtums, die deshalb zuweilen von Türhütern bewacht wird, die Grenze zwischen dem kultivierten Land und der Wildnis oder der Übergangsort schlechthin: der Friedhof. Wen wundert es, wenn die Kreativität kultureller Erzählungen das Reich des Liminalen bevölkert mit Wesen eigener Art: mit Schraten, Nymphen, Dryaden, Nachtmahren, Vampiren oder Menschenfressern. Victor Turner ver8 | Lévi-Strauss, Claude: »Einleitung in das Werk von Marcel Mauss«, in: Marcel Mauss, Soziologie und Anthropologie 1, Frankfurt a.M.: Fischer 1989, S. 39. 9 | Mary Douglas hat an vielen Beispielen gezeigt, wie das, was innerhalb bestehender Klassifikationen nicht klar eingeordnet werden kann, als gefährlich bzw. unrein gilt. Sie verweist ebenso darauf, dass das Unstrukturierte für die bestehenden Verhältnisse auch deshalb gefährlich ist, weil es die Kraft für neue Strukturen enthält. Douglas, Mary: Reinheit und Gefährdung, Berlin: Dietrich Reimer 1985, S. 124.

45

46

Franz-Peter Burkard

wies indes darauf, dass es auch bestimmte gesellschaftliche Gruppen gibt, die sich permanent im Liminalen befinden, wie Hofnarren, Hippies oder Schauspieler.10 Klar aber ist, dass man der, die, das Fremde zum Bereich des Liminalen zählen muss. Spüren wir also der Semantik des Fremden weiter nach, und ich beginne mit einem Text von Georg Simmel (Exkurs über den Fremden), der sich auf die Person des Fremden bezieht. »Wenn das Wandern als die Gelöstheit von jedem gegebenen Raumpunkt der begriffliche Gegensatz zu der Fixiertheit an einem solchen ist, so stellt die soziologische Form des ›Fremden‹ doch gewissermaßen die Einheit beider Bestimmungen dar – freilich auch hier offenbarend, daß das Verhältnis zum Raum nur einerseits die Bedingung, andrerseits das Symbol der Verhältnisse zu Menschen ist. Es ist hier also der Fremde nicht in dem bisher vielfach berührten Sinn gemeint, als der Wandernde, der heute kommt und morgen geht, sondern als der, der heute kommt und morgen bleibt – sozusagen der potenziell Wandernde, der, obgleich er nicht weitergezogen ist, die Gelöstheit des Kommens und Gehens nicht ganz überwunden hat. Er ist innerhalb eines bestimmten räumlichen Umkreises – oder eines, dessen Grenzbestimmtheit der räumlichen analog ist – fixiert, aber seine Position in diesem ist dadurch wesentlich bestimmt, daß er nicht von vorneherein in ihn gehört, daß er Qualitäten, die aus ihm nicht stammen und stammen können, in ihn hineinträgt. Die Einheit von Nähe und Entferntheit, die jegliches Verhältnis zwischen Menschen enthält, ist hier zu einer, am kürzesten so zu formulierenden Konstellation gelangt: die Distanz innerhalb des Verhältnisses bedeutet, daß der Nahe fern ist, das Fremdsein aber, daß der Ferne nah ist. Denn das Fremdsein ist natürlich eine ganz positive Beziehung, eine besondere Wechselwirkungsform; die Bewohner des Sirius sind uns nicht eigentlich fremd [...], sondern sie existieren überhaupt nicht für uns, sie stehen jenseits von Fern und Nah.«11

Vergesellschaftung ist für Simmel bestimmt durch die dynamische Wechselwirkung zwischen Individuen, und die Frage ist nun, wie beeinflusst der Fremde die Form dieser Wechselwirkung. Der Fremde wird von Simmel als der Bewegliche im Unterschied zur Fixiertheit im Eigenen, Vertrauten eingeführt. Er stellt potentiell eine Infragestellung, eine Störung im gewohnten Interaktions- und Deutungssystem dar. Dabei gilt zu beachten, dass sich dieser Einfluss nicht nur auf das Verhältnis des Einheimischen zum Fremden bezieht, sondern dessen Anwesenheit gerade auch die Dynamik der Verhältnisse der Einheimischen untereinander in Bewegung bringt.

10 | Turner, Victor: Das Ritual, Frankfurt a.M./New York: Campus 2000, S. 94-127. 11 | Simmel, Georg: Soziologie (Gesamtausgabe Bd. 11), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992, S. 764f.

Von Gästen und Menschenfressern

Der Fremde, und das ist das Irritierende, bringt also nicht in erster Linie einen Fremdheitsaspekt in Bezug auf ihn selbst ein, sondern veranlasst das Eigene »mit anderen Augen« zu sehen. Der Fremde bewirkt also eine Dynamisierung der Gesellschaft, ohne die sie erstarren würde, gleichzeitig aber auch eine Relativierung, die von Seiten des gesellschaftlichen Systems begrenzt und beherrscht werden muss, weil ohne eingespielte Verhaltens- und Deutungsmuster gesellschaftliche Interaktionen und alltägliches Handeln ganz allgemein nicht funktionieren würden, insofern wir, während wir handeln, eben nicht zugleich alles in Frage stellen können. Und somit ist die Anwesenheit des Fremden ambivalent. Hinzu kommt ein weiterer Aspekt, der auf den Voraussetzungen habitualisierten Verhaltens fußt und den Simmel so beschreibt: »Jedes engere Zusammenleben beruht durchgehends darauf, daß jeder vom anderen durch psychologische Hypothesen mehr weiß, als dieser ihm unmittelbar und mit bewußtem Willen zeigt. [...] Wir müssen also durch Schlüsse, Deutungen und Interpolationen die gegebenen Fragmente ergänzen, bis ein soweit ganzer Mensch herauskommt, wie wir ihn innerlich und für die Lebenspraxis brauchen.«12

Diese Notwendigkeit von »Hypothesen« besagt aber: je fremder uns der andere ist, um so mehr ersetzen Hypothesen die Erfahrung, je mehr der andere uns »unheimlich« ist, um so mehr Geschichten gibt es über ihn. Ein interessantes Phänomen ist in diesem Zusammenhang der Dorftratsch. Man könnte sagen, dass es zum einen der Versuch ist, keine Fremdheit zuzulassen, weil alles, was im Dorf geschieht, im Konstrukt der öffentlichen Geschichten des »Tratsches« mit Sinn versehen wird; andrerseits ist es aber zugleich die Anerkennung, dass auch im kleinsten Dorf der Andere »unheimlich« bleibt, weil er immer ein Geheimnis verbergen könnte, das man nicht weiß. Unter den zahlreichen Figuren des Fremden können wir zwei paradigmatische herausgreifen: »Der Menschenfresser« stellt das äußerste Jenseits der Grenze der Kultur dar, nicht in die Gesellschaft integrierbar und »Beleg« für den Urzustand der Unzivilisiertheit.13 Auf der anderen Seite ist der »Gast« derjenige, dessen Fremdsein in die Gesellschaft eingegliedert werden kann und soll, und die Gastfreundschaft wiederum Ausdruck einer erreichten Höhe der Kultur. Für jeden dieser Typen gibt es bestimmte Deutungsmuster, die in Zu-

12 | Simmel, Georg: Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908 (Gesamtausgabe Bd. 7), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995, S. 142. 13 | Ebenfalls jenseits steht »der Barbar«, dem allerdings zugestanden wird, dass er irgendeine Art rudimentärer Kultur hat, wenngleich er allererst durch seine »unzivilisierte Sprache« auffällt.

47

48

Franz-Peter Burkard

sammenhang mit der Praxis, also dem sozialen-politischen Handeln, und mit sinnlich-räumlichen Manifestationen stehen.

D er M enschenfresser Der Menschenfresser ist also derjenige, der am weitesten ausgegrenzt wird, und wenn Simmels vorherige Überlegung stimmt, sollte es zugleich der Typus sein, bei dem die Hypothesen-, sprich Fiktionsbildung am stärksten ausgeprägt ist. Der Menschenfresser markiert die Grenze zwischen Zivilisation und Wildnis, zwischen Kultur und roher Natur. Er ist das Zuschreibungsmodell für den Fremden, der weder Recht noch Gesetz, vor allem nicht das Gastrecht kennt. Die Spannbreite des Umgangs mit dem Fremden ist in diesen Polen aufgespannt: bewirtet oder gefressen werden, was symbolisch natürlich heißt: Subjekt einer Bewirtung sein, oder deren Gegenstand, das Material. Aufschlussreich insofern, weil beides im gleichen semantischen Kontext angesiedelt ist: der Teilnahme am symbolischen Ritual des gemeinsamen Essens. Nimmt man das selbst-gefressen-werden als Opposition zum bewirtet-werden, dann kommt hier schon an Lévi-Strauss geschult der Verdacht auf, dass der Ursprung des Menschenfressers in einer – semantisch-logisch gesehen – notwendigen Vervollständigung des Bedeutungssystems liegen könnte, ein Verdacht, der sich, wie wir noch sehen werden, auch empirisch bestätigen lässt. Im griechischen Kontext gibt es eine bekannte Stelle, an der das Spiel zwischen den Polen von Menschenfresser und Gast sehr schön zum Ausdruck kommt, und sie ist auch deshalb aufschlussreich, weil sie den wilden Zustand jenseits der Kultur durch eine Verkehrung der gewohnten symbolischen Ordnung in Szene setzt: die Polyphem-Geschichte in der Odyssee (IX 105-542). Der einäugige Riese Polyphem wird mit allen Merkmalen des unzivilisierten Barbaren bedacht. Im Land der Zyklopen gedeihen die Früchte von Natur aus prächtig, aber der Boden wird nicht kultiviert, die Zyklopen sind des Ackerbaus, des Schiffsbaus, des Kelterns von Wein aus den Trauben unkundig, also der »Kultivierung«, der Pflege im ursprünglichen Sinn des Wortes. Außerdem sind sie der Sprache resp. semantischer Feinheiten nicht mächtig, fällt Polyphem doch auf den plumpen Trick des Odysseus: er heiße »Niemand« herein. Die Zyklopen sind, wie könnte es anders sein, Menschenfresser und zum Beweis dafür verspeist Polyphem einige von Odysseus Gefährten. Sie kennen kein Recht und Gesetz, vor allem nicht das heilige Gastrecht. Als Odysseus daran gemahnt, das Gastrecht zu achten und die Götter zu fürchten, erhält er zur Antwort: er sei ein Narr, da die Zyklopen sich um die Götter nicht küm-

Von Gästen und Menschenfressern

mern, und später fügt Polyphem hinzu: »Niemand will ich als letzten verspeisen nach seinen Gefährten. Das soll mein Gastgeschenk sein.« (IX 369f.)14 Allerdings enthält die Geschichte einige Umkehrungen in Brauch und Semantik des Gastrechtes, die darauf beruhen, dass es nicht der Barbar Polyphem, sondern der Fürst Odysseus ist, der das Gastrecht zuerst bricht. Keinesfalls ist es nämlich feine Art, in die Wohnung des Gastgebers ungefragt einzudringen und Milch, Käse und Lämmer stehlen zu wollen. Und als der Besitzer kommt, ihn nun seinerseits an die Einhaltung des Gastrechtes zu gemahnen. Darauf hin erfolgt wiederum eine Verkehrung der Rollen, wenn nun Odysseus den Polyphem bewirtet, unfreiwillig mit seinen Gefährten, hinterlistig mit dem starken Wein, den er mitgebracht hat. Der Wein, den üblicherweise der Gastgeber zum Wohle des Gastes reicht, wird nun zum Mittel der Vernichtung. Nun jedenfalls zeigt die ganze Geschichte, dass die Missachtung der heiligen, durch das Gastrecht verbürgten Ordnung für beide Teile böse ausgeht. Wenden wir uns wieder der Geschichte der Menschenfresser zu. Glaubt man einem bekannten Buch über den Kannibalismus, so sind die Inseln der Zivilisation umzingelt von menschenfressenden Wilden.15 Das Problem bei dieser Spezies allerdings ist, dass sie die seltsame Eigenschaft hat, wie wir sie von einer Fata Morgana kennen, zu verschwinden, sobald man ihr näher kommt. Diese Erfahrung machte schon Marco Polo auf seiner Reise in den fernen Osten (1271-92): er entdeckte jede Menge Kannibalen, allerdings nur in den Ländern, in denen er niemals war, so dass er sie schließlich auf einige, vor dem asiatischen Festland gelegene Inseln verbannte, wo sie dann, von der anderen Richtung kommend, Christoph Kolumbus fand, vermeintlich versteht sich, sowohl was die Zugehörigkeit der Inseln betrifft, aber auch die Menschenfresser.16 Zwar war Kolumbus von deren Existenz überzeugt, allerdings war er doch etwas skeptischer als viele seiner reisenden Nachfahren. So notiert er in sein Bordbuch: »Ich war der Meinung, daß die Indianer die Unwahrheit sprachen, und hegte den Verdacht, daß die gefürchteten Menschenfresser nichts anderes als Untertanen des Großen Khan waren, die sie in Gefangenschaft schleppten.« (26.11.1492) 17 14 | Vgl. Finley, Moses I.: Die Welt des Odysseus, Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 1968, S. 106. 15 | Volhard, Ewald: Kannibalismus, Stuttgart: Strecker und Schröder 1939 (siehe auch insbesondere den Kartenteil). 16 | Frank, Erwin: »›Sie fressen Menschen, wie ihr scheußliches Aussehen beweist...‹. Kritische Überlegungen zu Zeugen und Quellen der Menschenfresserei«, in: Hans-Peter Duerr (Hg.), Authentizität und Betrug in der Ethnologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, S. 201. 17 | Kolumbus, Christoph: Bordbuch, Frankfurt a.M.: Insel 1992, S. 123.

49

50

Franz-Peter Burkard

Nichtsdestoweniger wurde das 16. bis 19. Jh. die Hoch-Zeit der Kannibalen, eben jene Epoche, die mit der Entdeckung und Kolonisierung »neuer« Welten einen ebenso großen Bedarf an symbolischer Verortung hatte.18 Weit verbreitete Werke der damaligen Zeit waren etwa Jean de Léry: Histoire d’un voyage fait en la terre du Brésil (1586) und der Bericht des hessischen Söldners Hans Staden: Warhaftig Historia und beschreibung eyner Landtschafft der Wilden/Nacketen/Grimmigen Menschenfresser Leuthen... (1557). Diese Bücher waren Bestseller und sie werden auch heute noch als ethnographische Quellen ausgewertet. Besonders die schauerlichen Bilder der Menschenfresser verfehlten nicht ihre Wirkung. Unterzieht man die Kannibalen-Literatur des 16. Jh. jedoch einer kritischen Überprüfung, so zeigen sie sich als Produkt einer »medialen Aufheizung« und gezielter Vermarktungsstrategien.19 Die ersten Berichte erwähnen zwar Kannibalismus, aber nur marginal und durchaus auch mit dem Zusatz, dass Fremde bei den kannibalischen Praktiken selbst gar nicht anwesend sein dürften. Bezeichnend für die Bewertung der Authentizität dürfte daher auch Amerigo Vespuccis Fazit am Ende seines ethnographischen Teils sein: »und ich glaube das und damit genug«.20 Dies mag auch der Grund sein, warum spätere Texte, wie der von Staden, bemüht sind wiederholt zu versichern, dass sie alles »mit eigenen Augen gesehen« hätten. Tatsächlich aber zeigen die Analysen Menningers, dass sowohl die »Warhaftig Historia« von Staden sowie die Reiseberichte anderer vielgelesener Autoren Vorläufern folgen und gängige Stereotypen tradieren, hinsichtlich dessen, was die jeweiligen Verfasser selbst erlebt haben wollen. Letztlich lässt sich eine Rezeptionsgeschichte rekonstruieren, die bis auf die frühen Berichte (besonders Vespuccis) zurückführt und im Zuge einer medialen Vermarktung darauf ausgerichtet ist, das Kannibalen-Erzählmuster gezielt im Hinblick auf die Lesererwartung einzusetzen. Dazu gehören auch die in den Buchausgaben immer zahlreicher werdenden Bildtafeln, die die Tötung, Zerstückelung und Verspeisung der Feinde minutiös inszenieren. Verwunderlich genug, dass auch die wissenschaftliche Ethnologie bis zum Beginn des 20. Jh. allenthalben auf den Spuren der Kannibalen weilt und für den seltsamen Umstand ihres Verschwindens, sobald man ihnen näherkommt, auch zugleich eine Immunisierungsstrategie bereithält: bis vor kurzem hätten die »Wilden« dieser Praxis zwar gefrönt, aber das segensreiche Wirken der 18 | Zur kritischen Bewertung der »Menschenfresser-Berichte« aus der »Neuen Welt« siehe Peter-Röcher, Heidi: Mythos Menschenfresser, München: C.H.Beck 1998, S. 132-153. 19 | Siehe dazu die eingehende Untersuchung von Menninger, Annerose: Die Macht der Augenzeugen, Stuttgart: Franz Steiner 1995. 20 | Ebd., S. 133.

Von Gästen und Menschenfressern

Missionare hätte sie eben sehr schnell eines anderen belehrt. Wunderlich nur, dass die »Wilden« zwar an anderen unchristlichen Umtrieben, wie Polygamie, oder das Schrumpfen der Feindesköpfe, sehr hartnäckig festgehalten haben, aber das schmackhafte Menschenfressen sofort aufgegeben haben sollen.21 Auch hätte es einem schon zu denken geben können, dass immer gerade der Stamm, bei dem man forscht, stolz darauf ist, das Gastrecht zu kennen und den Forscher zu bewirten, aber, wie versichert wird, zu den anderen solle er sich lieber nicht wagen. Diese feindlichen Stämme auf der anderen Seite des Amazonas seien Barbaren, die kein Recht und Gesetz kennen und mit Vorliebe Menschenfleisch essen. Und schließlich hätte einen stutzig machen können, dass viele friedlichen und der Menschenfresserei abholden Einheimischen ihrerseits nun die Weißen in Verdacht haben, sie verspeisen zu wollen.22 Was aber die »Kannibalen« der Neuen Welt betrifft, so kommen im Grunde die meisten modernen Untersuchungen zu dem Schluss, dass der von der Reiseliteratur vornehmlich im 16. Jh. beschriebene Exokannibalismus so nicht existiert hat.23 Dagegen hat die Fiktion reale Folgen: nämlich in der von der spanischen Krone 1503 und in den folgenden Jahren erlassenen Gesetzgebung, sowie der portugiesischen 1570, nach der ausdrücklich nur als Menschenfresser kategorisierte Eingeborene versklavt werden durften.24 Lehrreich ist die Kannibalen-Geschichte deshalb, weil sie zeigt, auf welche Holzwege ein Verständnis von Kultur geraten kann, dass sich ihres Symbolcharakters nicht hinreichend bewusst ist. Und zwar auf eine doppelte Weise: nicht nur verdeckte der Glaube an die reale Existenz von Menschenfressern ihre bedeutungskonstituierende Funktion in einem Selbstinterpretationsmodell von Kultur, sondern auch die Ansicht, dass mit der Widerlegung ihrer Existenz die Sache nun erledigt wäre, begäbe sich auf denselben Holzweg. Denn freilich sind Menschenfresser real, nämlich als ein wirksames und praktisch folgenreiches Deutungsmuster, das seinen Namen zwar ändern kann, aber seine Funktion behält: um einen anderen ungestraft berauben und totschlagen zu können, muss man ihn erst zum Barbaren oder Menschenfresser machen.

21 | Siehe dazu E. Frank, »›Sie fressen Menschen...‹«, S. 202. 22 | Ebd., S. 203f. 23 | Siehe auch das Fazit von A. Menninger: Die Macht der Augenzeugen, S. 279f. 24 | Ebd., S. 282.

51

52

Franz-Peter Burkard

D er G ast Werfen wir nun einen Blick auf das Gegenmodell: der Umwandlung des Fremden, von dem, der von der Gesellschaft ausgeschlossen und rechtlos ist, zum Gast, der unter dem Schutz des Gastrechtes steht.25 Dieses hatte bei klassischen Kulturen einen religiösen Charakter. Der Fremde steht bei den Griechen unter dem Schutz des obersten Gottes (Zeus xenios); das Gastrecht zu verletzen, ist ein Bruch der und in der geheiligten Ordnung, die erst wieder hergestellt ist, wenn dieser gesühnt wird. Homers Odyssee beginnt und endet mit diesem Thema. Odysseus Sohn Telemach beansprucht gegenüber den Freiern zum ersten Mal die Rolle des Hausherren für den abwesenden Vater durch eine Rede, in der er sie an die Einhaltung des Gastrechts gemahnt: »Aber wenn ihr es um so bequemer und lieblicher findet, eines Mannes Hab ohn’ alle Vergeltung zu fressen, schlingt sie hinab! Ich werde die ewigen Götter anflehen, ob euch nicht endlich einmal Zeus eure Taten bezahle, daß ihr in unserem Haus dahinstürzt. Also sprach er; da bissen sie ringsumher sich die Lippen, über den Jüngling erstaunt, der so entschlossen geredet.« (I 376-382)

Im letzten Gesang dann, nachdem Odysseus den Frevel der Freier bestraft hat, rotten sich einige von deren Verwandten zusammen, um gegen ihn ins Feld zu ziehen. Zeus berät sich mit seiner Tochter Athene und diese verkünden: »Da der edle Odysseus die Freier jetzo bestraft hat, werde das Bündnis erneuert [...] Ruht, ihr Ithaker, ruht vom unglückseligen Kriege!« (XXIV, 483, 531) Die Botschaft ist klar: mit der Bestrafung des Gastfrevels ist die Ordnung wieder hergestellt, und daher ist eine weitere Blutrache nicht gerechtfertigt. Die Heiligkeit des Gastrechtes und damit der in die religiöse Sphäre reichende Status des Fremden ist aber auch gegründet in seinem ambivalenten Charakter, der ihn mit einem Tabu umgibt, wie es auch anderen heiligen Dingen eigen ist. Sie werden zum einen mit besonderer Aufmerksamkeit bedacht, sind aber zugleich potentiell gefährlich, weswegen man sich ihrer nicht uneingeweiht nähert. In vielen Kulturen finden sich deshalb umfangreiche Aufnahmeriten, die absolviert werden müssen, bevor der Fremde sich im Dorf selbst niederlassen darf. Auch das Reichen des Wassers zum Händewaschen bei der Begrüßung lässt sich zwar mit dem Abwaschen des Staubes der Reise begründen, dürfte aber symbolisch dennoch noch mit einem solchen Reinigungsritual in Zusam25 | Zum Gastrecht siehe auch: Pitt-Rivers, Julian: »Das Gastrecht«, in: Almut Loycke (Hg.), Der Gast, der bleibt. Dimensionen von Georg Simmels Analyse des Fremdseins, Frankfurt a.M.: Campus 1992, S. 17-42.

Von Gästen und Menschenfressern

menhang stehen. Und wer heute seinen Gast schon vor der Haustüre begrüßt, ist zugleich höflich und aufmerksam, nimmt ihn aber nichtsdestoweniger vor Betreten des Hauses in Augenschein und fängt ihn ab, bevor er die Schwelle des Heimes übertritt. Das Gastrecht der klassischen Zeit ist in vielfacher Hinsicht auf Gegenseitigkeit gegründet: Es dient dem Handel, des Austausches von Informationen und dem rechtlichen Schutz. Wenn ich einen Gastfreund heute aufnehme, kann ich wiederum auf seine Unterstützung rechnen, wenn ich bei ihm in der Fremde bin. Die Rolle von Gastgeber und Gast sind genau definiert, sie wandeln einen potentiell konfliktträchtigen Zustand der Anwesenheit des Fremden in einen solchen zeitlich begrenzter Ordnung um. Die Reziprozität funktioniert nur, wenn beide gleichermaßen die Regeln kennen, d.h. einen bestimmten Zustand der Kultur erreicht haben. Die räumlich übergreifende Gültigkeit des Gastrechtes ist auch ein Grund seiner religiösen Verankerung, denn es soll nicht nur innerhalb der Grenzen des Rechtes der jeweiligen polis gelten. Durch das Gastrecht nun ist aber der spannungsreiche Zustand der Anwesenheit des Fremden nicht einfach aufgehoben, sondern lediglich suspendiert oder sagen wir: in die Schwebe gebracht. Daher auch ist es zeitlich begrenzt. Dass dies so ist, kann glaube ich jeder an der eigenen Erfahrung ablesen, dann nämlich wenn ein lieber Gast nicht weiß, wann er zu gehen hat, sei es bei einem Abendessen oder bei einem Besuch von ein paar Tagen. Das Überschreiten der zeitlichen Grenze, bei einem Gast, der in die Kategorie dessen eingeordnet wurde, »der heute kommt und morgen geht«, führt offensichtlich doch sehr schnell zu Irritationen. Und das ist auch der Grund, warum für den Gast, der heute kommt und morgen bleibt, andere Deutungsmuster gefunden werden müssen. Das gilt auch schon deshalb, weil ja die Reziprozität eine große Rolle für das klassische Modell spielt und eben diese fällt ja nun weg, wenn der Gast nicht in seine Heimat zurückkehrt und seinerseits als Gastgeber fungieren kann. Genau darauf spielt z.B. auch Telemach an der schon zitierten Stelle an, wenn er den Freiern sagt: »[...] daß ich euch allen freimütig rate, mir aus dem Hause zu gehen! Sucht künftig andere Mähler; zehret von euren Gütern und laßt die Bewirtungen rings umhergehen.« (I, 373-375)26 Genau genommen kann es einen Gast auf Dauer nicht geben, d.h. sein Status muss sich verändern. An Stelle der »umhergehenden« Gastlichkeit muss also nun, so wird erwartet, eine innergemeinschaftliche Gegenseitigkeit treten, und d.h., so jedenfalls die klassische Lösung des Problems, will der Gast bleiben, inkorporiert er sich, er wird zum Einheimischen, mit anderen Worten: er heiratet. Die Heirat ist in diesem Fall, so könnte man sagen, ein symbolischer

26 | Vgl. M.I.Finley: Die Welt des Odysseus, S. 134.

53

54

Franz-Peter Burkard

Akt der Aufnahme ins Verwandtschaftssystem oder weniger positiv formuliert: ein symbolischer Akt der Unterwerfung unter das Gesellschaftssystem. Trotz dieser formalen Inkorporation bleibt die Spur des ursprünglichen Fremdseins erhalten und damit eine Liminalität auch des Gastes, der zum Einheimischen geworden ist, jedenfalls solange und so weit das kommunikative Gedächtnis reicht. Wenn wir nun Struktur und Geschichte des Deutungsmusters des Fremden, wie sie kurz umrissen wurde, im Hinterkopf haben, dann werden wir erwarten, dass das kulturelle Deutungssystem mit dem Typus des Gastes, der bleibt und Fremder bleiben will, besondere Probleme haben wird. Semiotisch gesprochen liegt der Grund darin, dass hier ein permanentes Feld des Liminalen geschaffen wird, in dem Bedeutungszuschreibungen einer beständigen Irritation unterliegen. Ich hatte oben erwähnt, dass eine neue Situation für die kulturellen Deutungssysteme dadurch entsteht, dass beim Gast der bleibt, die zeitliche Limitierung wegfällt. Dies hat nun zur Folge, dass die räumliche Grenze eine neue Sensibilität gewinnt. Trat sie zuvor als Eigenschaft des »Jenseits-der-Grenze-des-Vertrauten« auf, siedelt sie sich nun sichtbar innerhalb des Vertrauten an. Dies ist der Grund, warum die Anwesenheit von Fremdem – also dessen, was jeweils als ein solches interpretiert wird – so sensibel aufgenommen wird, wenn es sich gleichsam in die symbolische Topographie unserer wahrgenommenen Lebenswelt einschreibt. An dieser Stelle ist es angebracht, die anhand der Kategorie des Gastes aufgenommenen Überlegungen zu erweitern. Der Gast, der kommt und dann bleibt, ist sozusagen eine Form von außen hineingetragener Fremdheit,27 während es natürlich mannigfaltige Fremdheit gibt, die zum sozio-kulturellen System selbst gehört bzw. von ihm erzeugt wird. Das Fremde ganz allgemein markiert, wie schon gesagt, Verwerfungen oder Brüche, die unsere gebahnten Wahrnehmungs- und Zuschreibungsmuster in Frage stellen. Jean Baudrillard hat dies in Bezug auf die Stadt, die er als ein Ordnungssystem aufeinander verweisender Zeichen versteht, am Beispiel von Graffiti gezeigt, die er als einen »Aufstand der Zeichen« interpretiert, die sich quer über die Ordnung der Stadt schreiben und diese verwerfen.28 Sobald sich das Fremde nicht mehr nur in flüchtigen, kommenden und gehenden Erscheinungen manifestiert, sondern sich ansiedelt, lässt es sich also 27 | So wie es im angeführten Zitat von Simmel heißt: »[...] seine Position in diesem [räumlichen Umkreis] ist dadurch wesentlich bestimmt, daß er nicht von vorneherein in ihn gehört, daß er Qualitäten, die aus ihm nicht stammen und stammen können, in ihn hineinträgt.« G. Simmel: Soziologie, S. 765. 28 | Baudrillard, Jean: Der symbolische Tausch und der Tod, München: Matthes&Seitz 1982, S. 120-130.

Von Gästen und Menschenfressern

semantisch als ein »Aufstand der Zeichen« verstehen, als eine beständige Irritation, und in der Konsequenz eine Provokation für die Inhaber der jeweiligen Herrschaftsgewalt. Georg Simmel hat dies angedeutet, wenn er schreibt: »Die Herrschaftsausübung über Menschen dokumentiert ihre Eigenart oft in der besonderen Beziehung zu ihrem räumlichen Gebiete. [...] an welchen Orten dieses Gebietes sich auch diese oder andere Personen befinden werden, sie werden immer in gleicher Weise untertan sein.« 29

Symbolische Brüche im Raum scheinen so auch als Brüche im Herrschaftskontinuum auf. Dies mag auch erklären, warum ebenso manche Heterotopien, um den Begriff Foucaults zu verwenden, die eigentlich harmlos erscheinen, nicht selten große gesellschaftlich-politische Debatten entfachen. Beim Theater mag dies noch unmittelbar einleuchten, aber es ist bemerkenswert, dass auch Museen, die vor allem Heterochronien sind, prinzipiell verdächtig sind, was sich in der Diskussion um die angemessene Architektur, das Gesamtkonzept, bestimmte Ausstellungsstücke festmachen kann. Ein schönes Beispiel möchte ich noch nennen, nämlich die französische Reformuniversität Vincennes. Sie wurde 1968 gegründet als Reaktion auf die damaligen Proteste und versuchte eine neue (Universitäts-)Ordnung bzw. eine andere akademische Kultur jenseits der üblichen Hierarchien zu begründen. Eine erstaunliche Anzahl von wegweisenden französischen Philosophen, Literatur-, Kultur- und Filmwissenschaftlern lehrte zumindest kurzfristig hier. Sie erfüllte mit Sicherheit ein wesentliches Kriterium von Heterotopien, das Foucault nennt, dass sie nämlich in Bezug zu anderen Orten der Gesellschaft stehen, diese aber in Frage stellen oder verkehren. Nach einer Änderung der politischen Machtverhältnisse wurde sie 1980 restlos dem Erdboden gleich gemacht, heute zeugt nicht das kleinste Mäuerchen im Boden von ihrer Existenz. Die Frage ganz allgemein ist also, wie eine Gesellschaft mit liminalen Bereichen und Brüchen umgeht, und weil ich am Anfang die Hexenverfolgungen erwähnt habe, so scheint es mir die Überlegung wert, ob die Eskalation nicht rein semiotisch betrachtet auch ihren Grund darin hatte, dass man – vergeblich – versuchte, etwas, das zum Bereich des Liminalen gehört, in den der eindeutigen Klassifikation zu überführen. Zwischenwesen an sich sind unproblematisch, man fürchtet sie, aber man hat auch die Mittel sich dagegen zu schützen. So war es im Mittelalter selbstverständlich, dass die magischen Amulette und Zeichen gegen alle möglichen Zwischenwesen sogar von Priestern geweiht wurden. Hexen gehören dazu, das althochdeutsche Wort »hagazussa« enthält »hag«, was auf ein einfriedendes Gehölz verweist (also eine Hecke), und Hexen sind 29 | G. Simmel: Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908, S. 206.

55

56

Franz-Peter Burkard

demnach Wesen, die auf der Hecke, also der Schwelle zwischen Heim und Wildnis sitzen. In der Zeit der Hexenverfolgungen wird die Hexe (der Hexer) aber nun zu der konkreten Person im Dorf, der Nachbar, die Nachbarin, das Böse hat sich im Herz der Zivilisation angesiedelt. Die Folge ist, dass anstelle ambiguer Eigenschaften von Zwischenwesen nun klare Klassifikationen treten müssen, und die Handbücher der Zeit erklären definitiv, wie eine Hexe zu erkennen ist, welche Fragen bei den Verhören zu stellen sind und was sie zu gestehen hat. Die Klassifikation macht sie greif bar und damit auf ebenso definierte Weise vernichtbar.

M it

anderen

A ugen

Georg Simmel hat das Fremdsein als eine ganz und gar positive Wechselbeziehung bestimmt, die die gewohnten Deutungssysteme in Bewegung bringt, kritisch beleuchtet, verändert, erweitert. Und das gilt natürlich nicht nur für die soziale Dynamik, sondern auch für die des Verstehens und Denkens. So hat Helmuth Plessner in einem Aufsatz mit dem Titel »Mit anderen Augen« davon gesprochen, dass der entfremdende Blick die Voraussetzung dafür ist, überhaupt etwas wahrzunehmen und schließlich verstehen zu können, weil das Vertraute schon zugleich zum Verborgenen geworden ist. »Die Kunst des entfremdenden Blicks erfüllt darum eine unerläßliche Voraussetzung allen echten Verstehens. Sie hebt das Vertraute menschlicher Verhältnisse aus der Unsichtbarkeit, um in der Wiederbegegnung mit dem befremdend Auffälligen des eigentlich Vertrauten das Verständnis ins Spiel zu setzen.« 30

Es gibt Bereiche der Kultur, die das Privileg haben, sozusagen berufsmäßig die gewohnten Deutungsmuster zu irritieren und zu unterlaufen. Ganz besonders deutlich z.B. in den Richtungen der Kunst (wie Duchamp oder Beuys), die Gegenstände aus dem Alltagsbereich reißen und damit den gewohnten Bedeutungszuschreibungen entziehen, um in anderen Kontexten neue Deutungsprozesse zu provozieren. Die »Kunst des entfremdenden Blicks« ist auch unabdingbar für den Ethnologen, der sozusagen der berufsmäßige Fremde ist. Und das ist auch der Grund, warum er seine Aufgabe, und das tut er in jüngerer Zeit sogar bevorzugt, auch in der eigenen Kultur ausüben kann. Und da trifft sich nun die Ethnologie mit der Philosophie. Nach Foucault ist nämlich auch der Philosoph ein »Ethnologe der eigenen Kultur«, und wäre es daher nicht seltsam, wenn er 30 | Plessner, Helmuth: Conditio humana (Gesammelte Schriften Bd. 8), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983, S. 94.

Von Gästen und Menschenfressern

Angst vor dem Fremden hätte und sich nicht traute, unbegangene Wege des Denkens zu wagen, aus Scheu davor, die Sicherheit eingefahrener Denkmuster zu verlassen? »Was sollte die Hartnäckigkeit des Wissens taugen, wenn sie nur den Erwerb von Erkenntnissen brächte und nicht in gewisser Weise und so weit wie möglich das Irregehen dessen, der erkennt? Es gibt im Leben Augenblicke, da die Frage, ob man anders denken kann, als man denkt, und anders wahrnehmen kann, als man sieht, zum Weiterschauen oder Weiterdenken unentbehrlich ist. [...] Aber was ist die Philosophie heute – ich meine die philosophische Aktivität – wenn nicht die kritische Arbeit des Denkens an sich selber? Und wenn sie nicht, statt zu rechtfertigen, was man schon weiß, in der Anstrengung liegt, zu wissen, wie und wie weit es möglich wäre, anders zu denken? [...] Aber es ist sein [des philosophischen Diskurses] Recht zu erkunden, was in seinem eigenen Denken verändert werden kann, indem er sich in einem ihm fremden Wissen versucht.« 31

Die Aufgabe des Philosophen ist demnach nicht, das Kontinuum gewohnter Bedeutungen zu sanktionieren, sondern für Brüche und Verwerfungen zu sorgen und für Widerstand. Und um nicht träge und bequem im schon Erprobten zu werden, sollte der Stachel des Fremden der Gast im philosophischen Denken sein, der heute kommt und morgen bleibt.

L iter aturverzeichnis Baudrillard, Jean: Der symbolische Tausch und der Tod, München: Matthes& Seitz 1982. Burkard, Franz-Peter: »›Hexen‹ in religionswissenschaftlicher Sicht«, in: Markus Mergenthaler/Margarete Klein-Pfeuffer (Hg.), Hexenwahn in Franken, Dettelbach: J.H.Röll 2014, S. 22-35. Cassirer, Ernst: Was ist der Mensch?, Stuttgart: Kohlhammer 1960. Douglas, Mary: Reinheit und Gefährdung, Berlin: Dietrich Reimer 1985. Finley, Moses I.: Die Welt des Odysseus, Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 1968. Foucault, Michel: Der Gebrauch der Lüste, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989. Frank, Erwin: »›Sie fressen Menschen, wie ihr scheußliches Aussehen beweist...‹. Kritische Überlegungen zu Zeugen und Quellen der Menschenfresserei«, in: Hans-Peter Duerr (Hg.), Authentizität und Betrug in der Ethnologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, S. 199-224. Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987. 31 | Foucault, Michel: Der Gebrauch der Lüste, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, S. 15f.

57

58

Franz-Peter Burkard

Hauschild, Thomas: »Ethnologie als Kulturwissenschaft«, in: Klaus Stierstorfer/Laurenz Volkmann (Hg.), Kulturwissenschaft interdisziplinär, Tübingen: Gunter Narr 2005, S. 59-79. Kolumbus, Christoph: Bordbuch, Frankfurt a.M.: Insel 1992. Kraus, Karl: Aphorismen (Schriften Bd. 8), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986. Lévi-Strauss, Claude: Das wilde Denken, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1968. Lévi-Strauss, Claude: »Einleitung in das Werk von Marcel Mauss«, in: Marcel Mauss, Soziologie und Anthropologie 1, Frankfurt a.M.: Fischer 1989, S. 7-41. Menninger, Annerose: Die Macht der Augenzeugen, Stuttgart: Franz Steiner 1995. Pitt-Rivers, Julian: »Das Gastrecht«, in: Almut Loycke (Hg.), Der Gast, der bleibt. Dimensionen von Georg Simmels Analyse des Fremdseins, Frankfurt a.M.: Campus 1992, S. 17-42. Peter-Röcher, Heidi: Mythos Menschenfresser, München: C.H.Beck 1998. Plessner, Helmuth: Conditio humana (Gesammelte Schriften Bd. 8), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983. Simmel, Georg: Soziologie (Gesamtausgabe Bd. 11), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992. Simmel, Georg: Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908 (Gesamtausgabe Bd. 7), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995. Turner, Victor: Das Ritual, Frankfurt a.M./New York: Campus 2000. Volhard, Ewald: Kannibalismus, Stuttgart: Strecker und Schröder 1939.

Bildungsethnologie Annäherungen an eine konstitutive Fremdheit Alfred Schäfer

B ildung als E thnologie /E thnologie F remdheit als B ezugspunk t

als

B ildung :

Eine Verschränkung von Bildung und Ethnologie, wie sie mit der programmatschen Formel ›Bildungsethnologie‹ angekündigt wird, mag nicht ohne weiteres einleuchten. Schließlich handelt es sich dabei um zwei Gegenstandsbereiche und Forschungsfelder, die im Gefüge der Wissenschaften eher separiert erscheinen. Und doch soll hier aufgezeigt werden, dass beide Bereiche eine gemeinsame, wenn auch vielleicht unterschiedlich akzentuierte Problematik bearbeiten: die der Fremdheit. Dabei könnte man ›Fremdheit‹ mit Waldenfels1 (im Anschluss an Husserl) als Erfahrung einer zugänglichen Unzugänglichkeit fassen. Zugänglich wird die Unmöglichkeit, etwas Widerfahrendes im Gefüge der eigenen Kategorien und Schemata zu verorten. Man könnte das auch so formulieren: Fremdheit gibt es dort, wo noch die symbolische Unterscheidung von Eigenem und Anderem deshalb versagt, weil in ihr das Andere vom Eigenen her bestimmt wird. Das Fremde ist nicht einfach anders als das Eigene, sondern es steht für die Grenze einer solchen Vergleichbarkeit mit dem Eigenen. Dass das Fremde eine Grenze der Vergleichbarkeit angibt, lässt sich nun nicht nur im Rahmen eines phänomenologischen Erfahrungskonzepts angeben: Der Verweis auf die symbolischen Ordnungen, die Ordnungen kategorialer Unterscheidungen, selbstverständlich erscheinender und nicht zuletzt identitätskonstitutiver Narrative und Argumentationsmuster, impliziert die Verbindung zu einer (semiotisch informierten) Kulturtheorie. Diese geht davon aus, dass Unterscheidungen zwischen Kulturen, zwischen der eigenen und

1 | Waldenfels, Bernhard: Studien zur Phänomenologie des Fremden: Topographie des Fremden, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997.

60

Alfred Schäfer

der (jeweils) anderen Kultur nicht auf essentiell zu verstehenden Differenzen beruhen. Vielmehr sind solche Differenzsetzungen notwendig, um überhaupt zu einer Bestimmung des Eigenen zu kommen. Im Unterschied zu Anderem zeigt sich das Eigene. Dabei können solche Markierungen von Unterschieden durchaus wertend oder abwertend sein: Eine negative Figurierung des (barbarischen) Anderen erhöht das Eigene, dessen Hochachtung kann (wie im Falle einer Verehrung der klassischen griechischen Kultur) zu einem Maßstab für die Entwicklung eines hier noch defizitären Eigenen werden. Wenn nun das Fremde als Grenze einer solchen (identitätspolitischen) Vergleichbarkeit aufgerufen wird, so hat dies eine doppelte Relevanz. Zum einen ist damit angezeigt, dass Versuche seiner Bestimmung, seiner Einordnung im Verhältnis zum Eigenen problematisch werden. Zum anderen ist damit aber zugleich eine Problematisierung des Eigenen verbunden, dessen Konturen sich doch gerade durch die differentielle Bezeichnung von Eigenem und Anderem ergeben. Die Fremdheit des Anderen stellt somit die Selbstverständlichkeit des Eigenen, die sich durch den Vergleich mit (bestimmbaren) Anderen ergibt, in Frage. Dabei dürfte deutlich sein – und darauf deutet ja bereits die phänomenologische Formulierung einer zugänglichen Unzugänglichkeit hin –, dass Fremdheit nicht substanziell, sondern relational zu verstehen ist. ›Fremdheit‹ unterbricht die relationalen, differentiellen Bestimmungen des Verhältnisses von Eigenem und Anderem; sie steht für deren Scheitern und bleibt damit aber selbst noch auf diese Relationierung bezogen. Auch das ist mit ihrer Situierung als Grenze der Vergleichbarkeit von Eigenem und Anderem angezeigt. Wenn eine solche Grenze nicht substanziell verstanden wird, dann kann man – neben der phänomenologischen und der semiotischen Relevanz – auf eine historisch-gesellschaftliche Praxis des Vergleichens verweisen. Dirk Baecker hat gezeigt, dass der Kulturbegriff als eigenständiges Konzept sich erst im 17. Jahrhundert entwickelt hat.2 Während man vorher ›Kultur‹ eher in Verbindung mit einzelnen Praktiken (Kulturen des Ackerbaus usw.) verstanden hatte, wird dieses Konzept nun zu einem Singular, mit dessen Hilfe ganze Sozialformen verglichen werden können. Baecker weist nun zugleich darauf hin, dass ›Kultur‹ in diesem Verständnis ein (systemtheoretisch gesprochen) Beobachtungsbegriff zweiter Ordnung ist. Beobachtbar wird die Differenz von Eigenem und Anderem, wobei gerade nicht mehr einfach die Perspektive auf das Eigene zum selbstverständlichen Ausgangspunkt (einer Beobachtung erster Ordnung) genommen wird. Der Vergleich der Kulturen relativiert dabei gerade die Selbstverständlichkeit des eigenen Blicks: »Kultur bedeutet in der Moderne eine Reflexion auf die Kontingenz und Nichtwählbarkeit eines historisch determinierten und frei entscheidbaren sozialen Verhaltens 2 | Baecker, Dirk: Wozu Kultur?, Berlin: Kadmos 2003, S. 64ff.

Bildungsethnologie und das Vermögen zu einer jeweils individuell zurechenbaren Auflösung der in dieser Reflexion eingekapselten Paradoxie« 3 .

›Kultur‹ als Bezugspunkt einer Praxis des Vergleichens von Eigenem und Anderem eröffnet damit einen Raum, innerhalb dessen Versicherungsstrategien des Eigenen durch eine Bestimmung des Anderen immer möglich bleiben; aber sie werden durch den Vergleich eben als Strategien der Sicherung deutlich, in denen es keinen festen vorgängigen Gesichtspunkt des Eigenen gibt, sondern nur die Möglichkeit seiner Setzung. Eine solche Strategie lebt letztlich von der Befestigung einer gesetzten Differenz von Eigenem und Anderem: Kulturen werden gegeneinander profiliert, und damit wird eine Erklärungsgrundlage von Unterschieden produziert. Zugleich lässt sich aber auch darauf hinweisen, dass solche Praktiken des Kulturvergleichs eben Strategien des differentiellen Vergleichens sind, die als solche nicht notwendig, sondern anders möglich sind. Ein solcher Hinweis bezieht sich auf die Kontingenz und Grundlosigkeit des Vergleichens, in dem das Eigene zugleich konstitutiv und nur konstruiert ist. Das erlaubt nun eine (neben der phänomenologischen und semiotischen) weitere Justierung der Fremdheit als Grenze des Vergleichbaren. ›Fremdheit‹ steht dann für den Verweis auf eine Grundlosigkeit des Vergleichs von Kulturen, für den das darüber konstituierte Eigene grundlegend bleibt und zugleich für die Kontingenz und systematische Unbegründbarkeit des Vergleichs selbst steht. In einer dekonstruktiven Formulierung könnte man sagen, dass ›Fremdheit‹ darauf verweist, dass die Bedingungen der Möglichkeit eines kulturellen Vergleichens zugleich die Bedingungen ihrer Unmöglichkeit angeben. Damit steht ›Fremdheit‹ gegen eine (immer auch mögliche) Sicherungsbewegung, die das Eigene durch den bestimmenden Vergleich der Differenz zum Anderen befestigt. Kehrt man vor dem Hintergrund dieser Überlegungen zur Ausgangsfrage nach der Verbindung von Bildungstheorie und Ethnologie zurück, so lautet die These, dass die so figurierte Fremdheit den konstitutiven Bezugspunkt beider Disziplinen bildet, die damit beide mit dem Verhältnis der Möglichkeit wie Unmöglichkeit ihres jeweiligen Wirklichkeitszugangs befasst sind. Man kann dies zunächst durch einen historischen Verweis plausibilisieren. Die Entdeckung der Fremdheit des Kindes, dessen Bild bis dahin eher das eines noch unvollkommenen Erwachsenen war, 4 wie die Betonung eines ›guten Wilden‹, der nicht einfach eine defizitäre (oder gar tierische Vorform) des christlichen und zivilisierten Europäers darstellt, bedeuten die Aufwertung des Anderen zu einem gleichwertigen Gegenüber. Diese Gleichwertigkeit liegt in einer anderen Perspektive, einem anderen Selbst- und Weltverständnis, das mit den 3 | Ebd., S. 161. 4 | Vgl. Ariès, Phillippe: Geschichte der Kindheit, München: Hanser 1975.

61

62

Alfred Schäfer

Maßstäben des Eigenen nicht zu erfassen ist. Es steht nicht nur für eine andere Perspektive, sondern auch für andere Maßstäbe, Unterscheidungskriterien und damit für eine andere Rationalität, die als solche die Selbstverständlichkeit der eigenen in Frage stellt. Diese andere Rationalität ist vom Erwachsenen bzw. vom europäischen Forscher nicht zu explizieren, da beide jeweils in ihrer eigenen Logik und Rationalität befangen bleiben. Das fremde Kind wird ebenso wie der (gute) Wilde letztlich als unzugänglich gesetzt. Dies bedeutet eine systematische Problematisierung des Verhältnisses zu ihnen: Sie in den eigenen Kategorien und nach den eigenen Maßstäben begreifen zu wollen, bedeutet dann immer schon, dass man ihnen nicht gerecht wird, dass ihrer begrifflichen Vermessung immer etwas Gewaltsames anhaftet. Ihre Fremdheit steht gegen den exklusiven Anspruch der eigenen Rationalität, gegen den Überlegenheitsanspruch der eigenen symbolischen Ordnungen. Claude Lévi-Strauss5 hat Rousseau, bei dem sich beide Bezugspunkte finden, als den ›Entdecker der Wissenschaften vom Menschen‹ charakterisiert. Für die mit Rousseau anhebende moderne pädagogische Reflexion hatte dieser Ausgangspunkt gravierende Konsequenzen.6 Soziale und damit auch sachliche Bezugspunkte für den Umgang mit Kindern wurden problematisch und eine handlungstheoretische Vergewisserung des Umgangs mit Kindern geriet in Paradoxien. Der Eigenlogik des fremden Kindes gerecht zu werden, scheint Kenntnisse über dieses vorauszusetzen, die als solche diese Fremdheit immer schon zu Steuerungszwecken aufheben. Der Respekt vor der anderen Rationalität des kindlichen Welt- und Selbstverständnisses, vor seiner Freiheit gerät in die Paradoxie einer pädagogischen Lenkung, die – wie Kant dies fasste – durch Zwang zur (vernünftigen) Freiheit führen will.7 Pädagogische Verantwortung scheint notwendig mit einer (vor dem Hintergrund kindlicher Fremdheit) unverantwortlichen Lenkung im Sinne sozialer Normalitäts- und Rationalitätsstandards verbunden zu sein. Rousseau hatte aus der grundsätzlichen Problematisierung eines handlungstheoretisch konzipierten Erziehungsprozesses die Konsequenz gezogen, diesen im Rahmen einer imaginären Erzählung zu inszenieren – einer auf Wirksamkeit zielenden rhetorischen Konstruktion, in der die Paradoxien neutralisiert werden sollten.8

5 | Lévi-Strauss, Claude: Strukturale Anthropologie II, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1975. 6 | Vgl. Schäfer, Alfred: Die Erfindung des Pädagogischen, Paderborn: Schöningh 2009. 7 | Vgl. Kant, Immanuel: »Über Pädagogik«, in: ders., Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977, S. 691-761. 8 | Vgl. Rousseau, Jean-Jacques: Émile oder über die Erziehung, Stuttgart: Reclam 1963, dazu Schäfer, Alfred: Jean-Jacques Rousseau. Ein pädagogisches Porträt, Weinheim: Beltz 2002.

Bildungsethnologie

Die gegen Ende des 18. Jahrhunderts entstehende neuhumanistische Bildungstheorie löst diese Problematik insofern eleganter, als sie die (pädagogische) Fremdsteuerung zugunsten der Betonung einer kindlichen Selbstbildung zurückstellt. Der Bildungsprozess des Kindes soll nicht durch die Standards der Erwachsenen präformiert werden. So betont Humboldt, dass der individuelle Zugang zur Welt frei sein müsse (d.h. nicht durch vorgegebene soziale und rationale Imperative standardisiert sein dürfe), dass dieser zugleich an einer ›Mannigfaltigkeit‹ der Welt (und nicht an vorgegebenen selektierten) Inhalten zu erproben sei.9 Der Bildungsprozess soll einer fremden (individuellen) Eigenlogik folgen können. Und er kann dies letztlich nur dann, wenn die Fremdheit selbst als Medium des Bildungsprozesses betrachtet wird. Es sind die Irritationen durch die Welt und die Grenze der Möglichkeiten, sie verfügend zu begreifen, die Bildung als Erfahrungsprozess, in dem das Individuum über die Auseinandersetzung mit der Welt zu sich selber kommt, strukturieren. Bildende Erfahrungen verlangen Irritationen durch das Fremde. Die Ermöglichung solcher Erfahrungen ist nun zugleich dasjenige, was den ethnologischen Forschungsprozess antreibt. Feldforscher setzen sich nicht nur kognitiv, sondern auch körperlich und emotional dem Fremden aus – dem, was die Grenze eines unproblematischen Vergleichs von Eigenem und Fremdem markiert. Dabei zielen sie paradoxerweise auf eine Rehabilitierung des Fremden10 dadurch, dass sie diese Fremdheit in ihrer Andersheit zu dokumentieren versuchen. Bekanntlich ist diese Strategie des Othering11 Ausgangspunkt für die in den 1980er Jahren beginnende Diskussion um die Repräsentationsproblematik gewesen:12 Diese Debatte drehte sich um die Unmöglichkeit, Fremdheit objektivieren zu können, ohne sie immer schon in den eigenen kulturellen Deutungsmustern aufzulösen.13 Diese eher skizzenhaften Vorbemerkungen mögen genügen, um die Bedeutung der Fremdheit – und damit auch die Unmöglichkeit einer kategorialen und ethischen Begründung ihrer Bestimmung vom Eigenen aus – für die Bereiche der Bildung und der Ethnologie anzudeuten. Im Verhältnis zum (selbstverständlichen) Eigenen könnte man die geschilderte Konfiguration des 9 | Vgl. Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Grenzen des Staates zu bestimmen, Stuttgart: Reclam 2006. 10 | Vgl. Streck, Bernhard: Fröhliche Wissenschaft Ethnologie: Eine Einführung, Wuppertal: Hammer 1997. 11 | Vgl. Fabian, Johannes: Time and the Other. How Anthropology makes its Object, New York: Columbia University Press 1983. 12 | Vgl. Berg, Eberhard/Fuchs, Martin (Hg.): Kultur, Soziale Praxis, Text, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993. 13 | Vgl. auch Därmann, Iris/Jamme, Christoph (Hg.): Fremderfahrung und Repräsentation, Weilerswist: Velbrück 2002.

63

64

Alfred Schäfer

Bildungsprozesses und die Forschungssituation der Feldforschung als liminale Situationen begreifen.14 Damit sind der Sinn und die mögliche Fruchtbarkeit einer Verschränkung, wie sie der Titel ›Bildungsethnologie‹ andeutet, jedoch noch nicht belegt. Worin besteht also die mögliche Bedeutsamkeit einer solchen Bildungsethnologie als einer Forschungsperspektive, die in ihren Aussagen letztlich immer auf deren Unmöglichkeit zurückverwiesen bleibt? Um mich der Beantwortung dieser Frage zu nähern, werde ich zunächst noch einmal das Konzept einer bildenden Erfahrung in Erinnerung rufen. Dann werde ich kurz auf eine Figur des (touristischen) Umgangs mit Fremdheit eingehen, die diese einerseits als Grundlage der Erfahrung aufruft und andererseits ästhetisch neutralisiert. Eine solche Figur erlaubt noch einmal einen Blick auf jenen differentiellen Umgang mit der Paradoxie in der Bestimmung von Eigenem und Fremden, wenn – mit Baecker – die Beobachtungsperspektive zweiter Ordnung berücksichtigt wird. Abschließend soll dann vor diesem Hintergrund das Konzept der ›Bildungsethnologie‹ verdeutlicht werden.

B ildende E rfahrung In jenem emphatischen Sinne der neuhumanistisch inspirierten Bildungstheorie macht man Erfahrungen dann, wenn einem etwas widerfährt, das sich nicht begreifen, nicht in verfügende Kategorien und Geschichten einordnen lässt. Solche Erfahrungen haben eine affektive Dimension: Sie berühren, ohne dass sich ihre Bedeutsamkeit in die Ordnungen des Selbstverständlichen oder Erwartbaren einordnen ließe. Man kann versuchen, diesen ›stummen Erfahrungen‹ einen Ausdruck zu verleihen, der aber zugleich nachträglich und letztlich inadäquat bleibt.15 Das Individuum verfügt nicht über die Mittel, die Differenz zwischen Erfahrung und Ausdruck zu schließen. Dies führt auf der einen Seite dazu, dass in immer neuen Anläufen versucht wird, solchen Erfahrungen einen Ausdruck zu geben, sie begrifflich zu fassen. Auf der andren Seite aber zeigen gerade diese immer neuen Anläufe, dass die Bedeutsamkeit der gemachten Erfahrung nicht zuletzt darin besteht, dass sie dem verfügenden Zugriff des Individuums letztlich unverfügbar bleibt. Die Aneignung solcher Erfahrungen und damit die Konstitution eines Subjekts der Erfahrung bleiben problematisch. In einer anderen (nicht-phänomenologischen) Terminologie ließe sich das so formulieren: Das Individuum vermag zwar, sich in seinen Artikulationen zu subjektivieren, sich in ihnen einen Ort als Erfahren14 | Vgl. Turner, Victor: Das Ritual – Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt a.M.: Campus 1989. 15 | Vgl. Waldenfels, Bernhard: »Das Paradox des Ausdrucks«, in: ders., Deutschfranzösische Gedankengänge, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995, S. 105-123.

Bildungsethnologie

des zu geben; aber es ist nicht das souveräne Subjekt dieser Subjektivierung. Es ist die Erfahrung, die das Bemühen um diese Souveränität durchkreuzt. Der Ort des Subjekts der Erfahrung lässt sich nicht angeben; es wird durch die Erfahrung als anderes hervorgebracht. Es ist daher nicht als Subjekt zu verstehen, das Erfahrungen macht und damit in seiner Souveränität nicht eingeschränkt wird. Erfahrungen stehen für eine Negativität, für einen Bruch mit bisherigen Selbst- und Weltverständnissen, den man – etwa durch ein Konzept kumulativen Lernens – als Entwicklung neuer Perspektiven theoretisch zu entproblematisieren versuchen mag, ohne dessen dezentrierende Macht aber das neuhumanistische Bildungsverständnis nicht zu denken ist. Eben diese Betonung einer dezentrierenden Negativität wird auch im – nichtphänomenologischen – Konzept der bildenden bzw. ästhetischen Erfahrung Adornos thematisch. Für ihn zeigen Erfahrungen die Grenze des verfügenden (begrifflichen) Denkens. Dieses Denken ist durch die Einübung in die symbolischen Ordnungen gesellschaftlicher Selbstvergewisserungen bestimmt. Sie betreffen nicht nur eine Ordnung subjektiver Gewissheiten, mit deren Hilfe sich die Individuen ihre Welt und ihren Ort in dieser Welt erschließen. Sie beinhalten auch das Gefüge eines objektivierten (wissenschaftlichen) Wissens, das ebenso die Funktion hat, sich das Irritierende, das Ungewisse und Uneindeutige der Welt vom Leibe zu halten. Erfahrungen ereignen sich dort, wo diese Schemata versagen, wo der Gegenstand, das Begegnende sich nicht einfach erschließen und subsumieren lässt, sondern rätselhaft bleibt. Für Adorno sind es im Rahmen einer Gesellschaft, die alles der verfügenden Kraft des begrifflichen Denkens und der damit verbundenen Natur- und Selbstbeherrschung unterwirft, vor allem Kunst und Kultur, deren Widerständigkeit und Rätselhaftigkeit solche Erfahrungen ermöglichen können.16 Die Rätselhaftigkeit, die nicht eindeutige Identifizierbarkeit von Werken ernster Kunst, bringt für ihn eine Aura hervor, der man sich einerseits nicht entziehen kann und die einen andererseits zu letztlich endlosen Annäherungsversuchen führt. In diesen halten sich – wie schon im (für die Entstehung der neuhumanistischen Bildungskonzept bedeutsamen) Schiller’schen Konzept des Spiels17 – begriffliche Erfassungsversuche und die begriffslos-sensible Erfahrung des Gegenstands die Waage. In einer solchen ästhetischen Erfahrung ist das Subjekt als (begrifflich) verfügendes suspendiert; es bleibt – wie Adorno sagt – ein ›Vorrang des Objekts‹, an dem sich begriffliche wie empfindende Subjektivierungsprozesse ereignen

16 | Kappner, Hans-Hartmut: Die Bildungstheorie Adornos als Theorie der Erfahrung von Kunst und Kultur, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984. 17 | Vgl. Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, Stuttgart: Reclam 1973.

65

66

Alfred Schäfer

– ohne dass es zur Konstitution eines Subjekts käme, das über seine Erfahrungen verfügen könnte.18 Es fällt nun nicht schwer, diese Figur einer ›bildenden Erfahrung‹ nicht nur auf den Prozess der Selbstbildung von Heranwachsenden zu beziehen. Nimmt man die Hypothese einer Fremdheit des Kindes (und damit letztlich jene der Alterität des Anderen) ernst, so wird man wohl davon ausgehen müssen, dass auch die forschende Identifikation von Bildungsprozessen an eine Grenze stößt. Bildungsprozesse zu identifizieren, sie objektivieren zu wollen, verweist auf die Frage ihrer Repräsentierbarkeit durch jenen, der ihnen nicht unterliegt. Wenn aber – gemäß dem Konzept einer bildenden Erfahrung sensu Adorno – nicht einmal der in Bildungsprozesse Involvierte weiß, was ihm gerade widerfährt, wenn er sich in der Paradoxie des Ausdrucks verfängt, so bleibt eine Identifikation von ›Außen‹ immer fragwürdig: Sie mag rhetorische Muster (wie jenes der Konversionserzählung, das noch die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse regiert 19) bemühen, aber diese bearbeiten nur die Unmöglichkeit einer adäquaten Repräsentation. Und viel wird davon abhängen, sich dieses Repräsentationsproblem – und damit das der Fremdheit – präsent zu halten. Aus dieser Perspektive, die den forschenden Blick auf Selbstbildungsprozesse selbst noch der Problematik der Fremdheit – und damit jener der Bildung – unterwirft, ergeben sich nun auch Parallelen zur ethnologischen Forschung. Auch sie arbeitet sich am Problem der Repräsentation ab: Sie kann nicht davon ausgehen, dass ihre Interpretationsmuster, ihre Plausibilitätsvorstellungen, ihre Begründungs- und Rationalitätskriterien, ihre rhetorischen Topoi und narrativen Logiken den Forschungsgegenstand adäquat wiedergeben und ihm daher gerecht werden können. Und auch hier hängt die Dignität der Forschung letztlich davon ab, inwieweit diese Unmöglichkeit in ihren möglichen (hypothetischen) Darstellungen präsent gehalten wird. Ethnologische Forschungsprozesse lassen sich über ihre (kognitive, affektive und leibliche) Konfrontation mit dem Fremden und die damit einhergehende Problematik einer kulturell konnotierten Dialektik des Ausdrucks durchaus in der Logik einer ›bildenden Erfahrung‹ ausbuchstabieren. Es ist die Rätselhaftigkeit und damit die Unmöglichkeit der objektivierenden Erkenntnis des kulturell Fremden, deren Faszination den Forschenden bindet und die gleichzeitig dem Fremden jene Aura verleiht, die Adorno den Werken der Kunst zudachte.

18 | Vgl. Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1966. 19 | Vgl. Koller, Hans-Christoph: Bildung anders denken. Einführung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse, Stuttgart: Kohlhammer 2011.

Bildungsethnologie

Es ist diese Aura der Fremdheit, die den Forschungsprozess zugleich hervorbringt und begrenzt. Sie konstituiert einen Vorrang des Objekts,20 der jede subjektive Verfügungsgeste als inadäquat erscheinen lässt. Im Folgenden möchte ich nun an dieser Figur zunächst eine Relativierung und dann eine Korrektur vornehmen. Die Relativierung bezieht sich auf die Möglichkeit eines souveränen Spiels mit der Fremdheit, die ich am Beispiel touristischer Erfahrungsdiskurse aufzeigen möchte. Die Korrektur betrifft die Rede von ›der‹ Bildung, die bisher als eher feststehend behandelt wurde.

Touristische E rfahrungsdiskurse : V om ästhe tischen S piel mit der F remdheit Der Vorrang des Objekts bedeutete für Adorno die Verpflichtung auf eine unerreichbare Wahrheit, die bei einer kulturindustriellen Zurichtung von Kulturgütern verlorengehe. Schon Benjamin hatte vermutet, dass sich der Bezug auf die Aura des Kunstwerks/des Fremden letztlich einer religiösen Figur verdankt.21 Erst dieser Hintergrund führt für Benjamin dazu, kulturindustriell produzierte Kunstwerke abzuwerten. Er aber verweist darauf, dass die grundsätzliche Problematik der Signifizierung auch anders eingesehen werden kann. Es ist deren Uneindeutigkeit, ihre verschiedene Lesbarkeit, an der jede Begründung einer ›wahren Bedeutung‹ scheitert, die für ihn die Grenze der Verfügbarkeit markiert. Für ihn ergibt sich aus der Konfrontation mit dem Kunstwerk bzw. mit dem Fremden das (politische) Problem einer Bedeutungszuweisung: Kunstwerke bzw. das Fremde werfen das Problem der Signifizierung dadurch auf, dass die Urteilskriterien selbst noch zum Gegenstand der Auseinandersetzung werden. Der Streit um das richtige und wahre Verständnis wird grundlos, muss Begründungen selbst produzieren und fingieren – und genau darin: im Spiel mit und in der Auseinandersetzungen um Bedeutungen liegt dann die Möglichkeit einer Erfahrung, in der der Verfügungsgestus des Selbst auf dem Spiel steht. Solche (ästhetisch-politischen) Erfahrungen der Unmöglichkeit einer wahren Bedeutung sind nun auch mit ›Kulturgütern‹ möglich. Als ein solches Kulturgut kann und soll hier die ›Begegnung mit dem Fremden‹ verstanden werden, die von Reiseveranstaltern, Reisekatalogen und Reiseführern in ihren kulturindustriell produzierten Bilderwelten versprochen wird. Nicht nur Pauschal-, sondern auch Individualtouristen lassen sich vom Zauber des Fremden, 20 | Vgl. Adorno, Theodor W.: »Zu Subjekt und Objekt«, in: ders.: Stichworte: Kritische Modelle 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1969, S. 151-168. 21 | Vgl. Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1963.

67

68

Alfred Schäfer

vom Versprechen neuer Erfahrungen verführen. Zumindest ein Teil von ihnen sucht die authentische Erfahrung der Authentizität fremder Kulturen.22 Und dennoch bleibt ihr Blick durch die Bilder des Fremden strukturiert.23 Dies hat Kulturkritiker dazu veranlasst, sie als naive Konsumenten zu betrachten, die auf die Versprechungen und das Marketing der Reiseindustrie hereinfallen. Solche Touristen suchen nach der Übereinstimmung oder auch Nicht-Übereinstimmung mit ihren vorgefertigten Bilderwelten. Und sie lassen sich daher nicht einmal auf die Irritation durch das Fremde ein. Tourismusforscher haben demgegenüber nicht nur darauf hingewiesen, dass Individualreisende jenseits sozialer Verpflichtungen und Einbindungen in gewohnte Abläufe eine ›Wirklichkeit‹ (auch praktisch) hervorbringen müssen, zu der sie in einem eher spielerischen Verhältnis stehen.24 Dieses Spiel besteht nicht zuletzt in Signifizierungspraktiken, in Bedeutungszuweisungen an miteinander nicht in einem notwendigen Zusammenhang stehende ›Elemente‹:25 Spielerisch sind diese Praktiken darin, dass ihre Kontingenz, ihre Nicht-Notwendigkeit, aber auch ihre Nicht-Unmöglichkeit mitläuft. Perspektiven auf das ›Fremde‹ erhalten – bei aller Inkohärenz und Revidierbarkeit – einen hypothetischen Charakter, der mit der Grenze von Andersheit und Fremdheit, Bestimmbarkeit und Unbestimmbarkeit spielen kann. Diese Perspektiven der Tourismusforschung und Tourismusethnologie lassen sich nun auch fruchtbar machen für die Analyse der touristischen Fremdheitserfahrung. Als Beispiel wähle ich eine eigene Untersuchung, die sich mit Individualreisenden in Ladakh befasste.26 Ladakh, das aufgrund politischer Grenzkonflikte zwischen Indien, China und Pakistan erst 1974 von der indischen Regierung für den Tourismus zugänglich gemacht wurde, gilt als eine intakte fremde Kultur, für die der tibetische Buddhismus und damit eine spirituelle Lebensweise bestimmend sind. Der Besuch der nach wie vor politisch einflussreichen Klöster im oberen Industal nördlich des Himalaya-Hauptkamms konfrontiert mit einer rätselhaften Bilderwelt in fast unendlichen Verweisungszusammenhängen und mit der zugänglichen Unzugänglichkeit verschiedener religiöser Praktiken und Rituale. Auch wenn Veränderungen 22 | Vgl. MacCannell, Dean: »Staged Authenticity. Arrangements of Social Space in Tourist Settings«, in: American Journal of Sociology 79 (1973), S. 589-603. 23 | Vgl. Urry, John: The Tourist Gaze, London: Sage 1990. 24 | Vgl. Wöhler, Karlheinz (Hg.): Tourismusräume. Zur soziokulturellen Konstruktion eines globalen Phänomens, Bielefeld: transcript 2010, S. 11-19. 25 | Vgl. Rojek, Chris: »Indexing, Dragging and the Social Construction of Tourist Sights«, in: Chris Rojek/John Urry (Eds.), Touring Cultures. Transformations of Travel and Theory, London: Routledge 1997, S. 52-74. 26 | Vgl. Schäfer, Alfred: Selbst-Spiegelungen am Anderen. Ambivalenzen kultureller Begegnung in Ladakh, Paderborn: Schöningh 2014.

Bildungsethnologie

durch den Tourismus (wie die von den Ladakhi selbst problematisierte Orientierung an materiellen Werten) oder eine Schulbildung, die karriere-orientiert verstanden wird, nicht zu übersehen sind, bemühen sich nicht zuletzt auch lokale Nicht-Regierungsorganisationen um eine Bewahrung der traditionellen Kultur – was auch immer darunter verstanden wird. Untersucht man nun die Produktivität der touristischen Erfahrungsdiskurse, verortet man diese also nicht einfach als Reproduktion vorgegebener Deutungsmuster oder als Stilisierung eines vorgängigen Selbst, dann ergibt sich eine eigentümliche Konstellation. Auf der einen Seite wird die Andersheit der Ladakhi gegenüber dem Eigenen aufgerufen: als nach wie vor intakte spirituelle Kultur, als vom Verlust ihrer Tradition bedroht usw. Dabei gilt diese Andersheit zugleich als bedeutsam für die eigene touristische Präsenz, für die Möglichkeit von Erfahrungen, die man hier machen kann. In der Beziehung zur Andersheit der Ladakhi lässt sich etwas über das eigene Selbst erfahren. Auf der anderen Seite berücksichtigen die touristischen Artikulationen auf unterschiedliche Weise, dass dieser konstitutive Erfahrungsraum in der Konfrontation mit dem Anderen eine eigene, eine selbst produzierte Verhältnisbestimmung ist. Mit Blick auf mögliche, das eigene Selbst verändernde Erfahrungen ist diese Andersheit zugleich konstitutiv und konstruiert. Dieses Verhältnis zu einer Andersheit, die für die Signifizierung des Eigenen konstitutiv ist und die zugleich aber auch nur eine konstruierte ist, bildet nun nicht einfach einen Widerspruch. Vielmehr ist es so, dass gerade der Verweis auf den Konstruktionscharakter des Anderen dessen Identifikation unterläuft: Er könnte ganz anders und daher fremd sein. Das wiederum wirkt eher noch einmal bekräftigend für die Perspektive auf die Möglichkeit einer bedeutsamen Erfahrung. Zugleich aber eröffnet sich – gleichsam parallel zu dieser Bekräftigung möglicher ›Fremdheitserfahrungen‹ am Anderen – auch die Möglichkeit einer Relativierung. Die Andersheit des Anderen kann unterschiedlich konzipiert und damit auch revidiert werden – und zwar so, dass das Genießen des eigenen Vor-Ort-Seins gesteigert wird. Der moderne Hedonismus,27 der im konsumierenden Genießen weniger den Gegenstand als das eigene Genießen genießt, ermöglicht dann einen ästhetisch souveränen Umgang noch mit der Fremdheit, die sozusagen als ›Überschuss‹ an den Signifizierungen der Andersheit aufscheint. Dass es die eigene Perspektive ist, in der das Verhältnis vom Eigenen zum Anderen in seiner Bedeutsamkeit hervorgebracht wird, beinhaltet dann gleichzeitig und mitlaufend das Versprechen, dass die Andersheit des Anderen doch fremd und damit faszinierend bleiben könnte; zugleich eröffnet die Differenz von Andersheit und Fremdheit einen Raum der Figuration von Erfahrungsmöglichkeiten, die noch mit dem Reiz der Dezentrierung des 27 | Vgl. Campbell, Colin: The Romantic Ethic and the Spirit of Modern Consumerism, London: WritersPrintShop 1987.

69

70

Alfred Schäfer

Selbst spielen können. Die Bestimmung der Anderen als anders kann bedeutsam sein für die Erfahrung zusätzlicher Aspekte, die die eigene Konstruktion anzureichern vermögen; sie kann aber auch irritiert und enttäuscht werden, womit die Relationierung von Eigenem und exotisiertem Anderen selbst noch einmal aufs Spiel gesetzt und die eigene Souveränität in Frage gestellt wird. Beides lässt sich genießen. Ein solcher postmaterialistischer Standpunkt, für den die Paradoxie der zugänglichen Unzugänglichkeit darin konstitutiv bleibt, dass sie die Möglichkeit eines reflexiven Genießens am Anderen eröffnet, schließt also nicht aus, dass Konfrontationen mit der Aura der Fremdheit auftreten können. Systematisch betrachtet, kann man es als eine offene Frage ansehen, ob eine solche Konfrontation (wie in den geschilderten touristischen Erfahrungsdiskursen) dazu führt, den eigenen Genuss zu steigern oder jenen Vorrang des Objekts zu begründen, der die zugleich unmögliche und notwendige Arbeit des Begriffs herausfordert. Bei dieser werden die eigene Subjektivität und die Möglichkeit des Genießens ihrer (vorübergehenden) Dezentrierung abgelöst durch eine problematisch bleibende Forschungsperspektive.

B ildungse thnologie : B ildungsprozesse an

fremden

B ildungsprozessen

Auch wenn der spielerische Umgang mit der Differenz von Andersheit und Fremdheit, der (wie auch immer grundierte) Umgang mit der Differenz von Bestimmung und Unbestimmtheit, selbst noch bedeutsam für eine ethnologische Forschung sein mag, so zielt diese letztlich doch auf eine problematische begriffliche Repräsentation, die intersubjektiv plausibel sein soll. Das Spiel mit der Differenz von Andersheit und Fremdheit gewinnt damit einen eher ›tragischen‹ Akzent: Man will die Erfahrung seiner Präsenz repräsentieren, ohne doch die Differenz aufheben zu können. Man will dem Fremden gerecht werden, ohne dafür ein Kriterium finden zu können. Insofern bleibt der ›Vorrang des Objekts‹ auch weiterhin eine Grenze: Es geht nicht primär um das Genießen der eigenen Fremdheitserfahrung, sondern um deren paradoxale begriffliche Bearbeitung. Die Grenze einer solchen begrifflichen Bearbeitung wurde eingangs über die Figuren einer Dialektik des Ausdrucks, einer semiotischen Betrachtung differentieller Bedeutungskonstruktion und eines Kulturbegriffs angedeutet, der mit dem Vergleich von Eigenem und Anderem in ein Spiel von Begründung und Unbegründbarkeit der je eigenen Vergleichsperspektive eintritt. Begründungsperspektiven hängen dabei an einer rhetorischen Stabilisierung der eigenen Perspektiven auf das Andere, die als solche der Versicherung und Bestimmung des Eigenen dienen. Die Problematik der Unbegründbarkeit rückt in den Blick, wenn man einerseits diese Strategie als Sicherungsstrategie

Bildungsethnologie

und damit als nicht notwendig, aber auch nicht als unmöglich durchschaut, ohne zugleich einen anderen ›festen Grund‹ gewinnen zu können. Man kann auf die eigenen Begriffe nicht vertrauen, wenn das ganze Unternehmen Sinn machen soll, zugleich aber kann man in den Konzepten der Anderen auch keine Sicherheit finden, da diese sich letztlich dem wie auch immer problematisierten eigenen Zugang verdanken. Es wurde nun eingangs darauf verwiesen, dass sich ein theoretisches Konzept wie das einer emphatisch ausgezeichneten ›bildenden Erfahrung‹ und eine ethnologische Forschungsperspektive an diesem Punkt berühren. Wenn hier nun ›Bildung‹ und ›Ethnologie‹ in ihrer Erfahrungsstruktur nicht nur analogisiert, sondern forschungsstrategisch aufeinander bezogen werden sollen, dann ist damit ein doppelter Anspruch verbunden. Auf der einen Seite soll die mit dem Konzept der ›bildenden Erfahrung‹ gegebene kategoriale Grenze in ein Forschungskonzept ›übersetzt‹ werden: Diese kategoriale Grenze bezog sich auf die Möglichkeit der begrifflichen Identifikation von Bildungsprozessen ebenso wie auf die konstitutive Bedeutung der Fremdheit als angenommenes Medium solcher Bildungsprozesse. In dieser Herangehensweise werden also Prozesse des Aufwachsens in anderen Gesellschaften unter dem Gesichtspunkt der Bildung, also hinsichtlich der Grenze ihrer Identifizierbarkeit bzw. Repräsentierbarkeit durch ein ihnen unterliegendes Subjekt zu analysieren versucht. Die Folie der Suche bildet also ein in sich problematisches Konzept der Bildung. Damit ist nun allerdings nicht gemeint, dass man überall nach Analogien zum neuhumanistisch verstandenen und daher problematischen Bildungsprozess sucht. Vielmehr ist damit auf der anderen Seite zugleich die Frage verbunden, inwieweit ein solches Konzept denn überhaupt taugen kann, beobachtbare, (dicht) beschreibbare oder analysierbare Prozesse zu erschließen. Was hier also auf dem Spiel steht, das ist eine mögliche zusätzliche Problematisierung der in sich schon problematischen Bildungskategorie im kulturellen Vergleich. Im Wechselspiel beider Perspektivierungen wird mithin an der doppelten Problematik des eigenen Zugriffs zu arbeiten versucht. Wenn ›Bildung‹ selbst nur als etwas zu bestimmen ist, das sich letztlich entzieht, dann eröffnet sich damit zugleich eine Frageperspektive mit Blick auf eine kulturelle Andersheit, die umgekehrt selbst nicht wiederum einfach der problematischen Bildungskategorie zu subsumieren ist, obwohl diese – methodisch wie im Vorgriff auf den möglichen Gegenstand – konstitutiv bleibt. Zwei Beispiele mögen diese Bewegung andeuten. In beiden wird zunächst der Irritationsgehalt der eigenen Kategorien durch einen Kontrast mit ethnographisch erhobenen Phänomenen wiederhergestellt. In ihnen scheint jene Fremdheit auf, die man in den selbstverständlich gewordenen Perspektiven auf eine verantwortbare Erziehung oder kumulative Lernprozesse zu entproblematisieren versucht. Dann wird aber zu zeigen versucht, dass die beschriebenen Phänomene sich aber kaum mit den

71

72

Alfred Schäfer

überkommenen und problematischen Kategorien der Bildung und Erziehung greifen lassen. Dass die Fremdheit von Kindern in ihrer letztlich nicht zugänglichen Eigenheit des Weltverhältnisses liegt, hat – seit Rousseau – den Objektivierungsbemühungen etwa in Form von Entwicklungslogiken keinen Abbruch getan. Solche Entwicklungslogiken, ein Wissen über die altersspezifischen Selbstverständnisse und Weltzugänge der Heranwachsenden, vermag die mit der Fremdheit des Kindes gegebene Paradoxie pädagogischen Handelns zumindest zu invisibilisieren. Eine Gewissheit hinsichtlich der Möglichkeiten und Wirksamkeiten kann dann zumindest – wie Rousseaus Fiktion demonstrieren sollte – imaginiert werden. Pädagogische Unterstützungs- und Förderprogramme scheinen dann, zumindest wenn alle Randbedingungen kontrolliert werden können, zumindest aussichtsreich zu sein. Man kann aber auch – als erstes Beispiel – davon ausgehen, dass Kinder einfach noch nicht über jenen sozialen Sinn verfügen, der notwendig ist, um sich in der Welt der Erwachsenen orientieren zu können. Das Fehlen eines Sinns für die Logik sozialer Beziehungen und die daran geknüpften Ansprüche und Verpflichtungen muss dabei nicht in einem Defizit gesehen werden, das Kinder als unvollkommene Erwachsene vorstellt. Die Dogon in Mali verlangen den Respekt vor einem sich allmählich entwickelnden sozialen Sinn – und damit vor einer in sozialen Merkmalen nicht bestimmbaren Fremdheit des Kindes. Kinder sind in dieser Perspektive bis zum Alter von etwa 7 Jahren noch nicht in der Lage, die mit dem (auf alle sozialen Beziehungen anwendbaren) Senioritätsprinzip und dem ebenfalls hierarchisch codierten Verhältnis der Geschlechter umzugehen. Sie können weder die Komplexität der sich aus diesen Beziehungen ergebenden Rechte und Pflichten noch gar den sich damit eröffnenden strategischen Raum einschätzen. Man kann also nicht damit rechnen, dass sie sich entsprechend verhalten und entsprechende Situationen plausibel einschätzen können. Dies bedeutet nicht zuletzt, dass soziale Beziehungen und damit auch die Zuwendung zu Kindern stark reduziert werden: Kinder bis zum Alter von 6-7 Jahren können schließlich deren Bedeutung noch nicht einschätzen. So geht man auch nicht davon aus, dass eine fehlende Zuwendung problematisch sein könnte, da ja die Kinder die Bedeutung sozialer Bindungen gar nicht einschätzen können. Es bedeutet auch, dass man auf Lernanreize und Förderungsversuche verzichtet, weil diese die Möglichkeiten des Kindes nicht respektieren.28 Die Intransparenz des Kindes wird so nicht mit Projektionen einer inneren Bereitschaft zu Lernprozessen und einer dieser korrespondierenden Verpflichtung zur Förderung seiner Entwicklung kompensiert. Das Konzept einer ›Erziehungskindheit‹, einer zu berücksichtigenden und verantwortlich zu fördernden Kindheit, 28 | Vgl. Schäfer, Alfred: Nähe als Distanz. Sozialität, Intimität und Erziehung bei den Dogon, Hamburg: LIT 2007.

Bildungsethnologie

und damit die Autorisierung einer verantwortlich fördernden Pädagogik ergeben sich von hier aus ebenso wenig wie die Befürchtung des Eintritts von Fehlentwicklungen oder gar Traumatisierungen bei mangelnder Anerkennung. Die Paradoxieproblematik einer handlungstheoretisch gedachten Pädagogik taucht hier nicht auf – und zugleich verweist ihr Fehlen darauf, dass sie wohl keine notwendige Bedingung einer Verwendung eines Erziehungskonzepts darstellt, für das die Fremdheit des Kindes konstitutiv ist. Initiationen in so genannten ›traditionellen Kulturen‹ – das zweite Beispiel – werden häufig mit Lernprozessen gleichgesetzt.29 In einer solchen Perspektive lernen etwa Heranwachsende in der Seklusionsphase der Initiation, in der sie aus dem sozialen Zusammenhang herausgenommen werden, wichtige Dinge über das Leben und die sozialen Verpflichtung der Erwachsenen. Sie lernen vielleicht auch ein geheimes, Frauen und Kindern unzugängliches Wissen über die kultische Verehrung von Gottheiten. Kombiniert wird dies nach dieser Auffassung mit Prüfungen, die die Eignung der Kandidaten belegen sollen. Nun ist allerdings das Wissen über die Pflichten der Erwachsenen nichts, das für die Novizen einen Neuigkeitswert hätte. Eher – so könnte man vielleicht sagen – geht es um die nicht hintergehbare und identitätskonstitutive Geltung dieses Wissen: also um ein Verhältnis zum Wissen. So werden etwa die Batemi in Nordtansania während ihrer Initiation mit transzendenten Mächten konfrontiert, die ihre bisherige Identität ›verschlingen‹ und aus denen sie (wie man sagt) neugeboren werden. Diese Geburt als ›Mann‹ ist dabei einmal diejenige einer sozialen Position (mit Rechten und Verpflichtungen); sie ist aber auch eine, die die unzugängliche Transzendenz zum konstitutiven Bestandteil dieser Identität macht, die einen Riss in die eigene Identität einträgt. Dieser Riss macht die Vorstellung einer autonomen Selbstverfügung unmöglich: Das Fremde der Transzendenz wird zum konstitutiven Bestandteil des eigenen Selbst. Die zugängliche soziale Identität wird durch eine Unzugänglichkeit gekreuzt, die im sozialen Verkehr zu berücksichtigen ist. Den anderen zu respektieren bedeutet dann, ihm nicht die moderne Vorstellung eines autonomen und selbstverantwortlichen Subjekts zuzumuten.30 Die Fon in Benin konfrontieren die Initianden in einen Voodoo-Maskenbund, in dessen Masken die deifizierten Ahnen in die Welt der Lebenden zurückkehren, direkt mit einem unmöglichen Verhältnis zum Wissen. Die Verbindung zur von nun an für die eigene Identität konstitutiven und unzugänglichen Transzendenz findet hier durch die Einverleibung von Substanzen statt, die häufig mit Opferblut vermischt werden. Dabei wird keinerlei Wissen über den Kult, über Ri29 | Vgl. Müller, Klaus E./Treml, Alfred K.: Ethnopädagogik. Sozialisation und Erziehung in traditionalen Gesellschaften. Eine Einführung, Berlin: Reimer 1992. 30 | Vgl. Schäfer, Alfred: Unbestimmte Transzendenz. Das Andere als Grenze in der Selbstthematisierung der Batemi (Sonjo), Berlin: Reimer 1999.

73

74

Alfred Schäfer

ten oder Regeln vermittelt. Zugleich werden die Novizen aber mit der Aussage konfrontiert, dass die deifizierten Ahnen jede Weitergabe des kultischen Wissens mit dem Tod bestrafen werden. Das für ihre neue Identität konstitutive Wissen, über das sie nicht verfügen, sollen sie nicht weitergeben.31 Eine solche Analyse der liminalen Phase der Initiation rückt diese nahe an die Subjektdezentrierung heran, die mit dem Konzept einer bildenden Erfahrung verbunden ist. Auch diese Erfahrungen sind vom Individuum nicht einholbar und konstituieren eine Riss, eine Unverfügbarkeit in der Selbstaneignung, in der Konstitution eines souveränen Subjekts. Und dennoch wird man Initiationsprozesse, in denen eine Konstitution des Selbst von einem transzendenten Anderen her erfolgt, kaum mit Prozessen bildender Erfahrung vergleichen können: Hier wird die Dezentrierung auf eine andere (nicht-reflexive, sondern eher rituelle) Weise an ein Selbst gebunden, das sich in der Differenz von Selbst-Bestimmung und Selbst-Entzug konstituiert. Bei solchen Betrachtungen bleibt allerdings auf einen wesentlichen Aspekt zu verweisen, der den Forschungsprozess und dessen Bearbeitung der Paradoxie der Fremderfahrung betrifft: Solche Beispiele erhalten nicht nur aufgrund ihrer Verdichtung einen Bestimmtheitsgestus, der erneut die Problematik einer Repräsentation des Fremden aufwirft. Gehen also solche Analysen, die das (problematische) Eigene verändern, um von dort her zu einer noch einmal veränderten Problematisierung der eigenen Kategorien zu gelangen, nicht von einem zu starken Bestimmungsanspruch des Fremden als Anderem aus? An einer solchen Problematik ändert sich (zumindest systematisch) auch nichts, wenn man die verhandelten Sachverhalte in unterschiedlichen Registern aufruft. Dies wäre als eine Strategie zu begreifen, die identifizierende Eindeutigkeit der beschriebenen Prozesse durch deren unterschiedliche Kontextualisierung zu unterlaufen. So könnte man die erwähnten Erziehungsvorstellungen der Dogon zugleich unter dem Gesichtspunkt einer sozialen Integration in eine Ordnung betrachten, in der durch das Senioritätsprinzip und die Geschlechterhierarchie definierte Rechte und Pflichten den sozialen Raum definieren. In einem solchen Raum finden Kinder keinen sozialen Ort: Sie werden integrierbar und adressierbar, wenn sie in der Logik des Sozialen mitspielen können. In moralischer Hinsicht gehen die Dogon davon aus, dass der Einzelne in seiner sozialen Funktion nicht aufgeht und sich dazu verhält. Dies konstituiert eine Intransparenz des Anderen, die neben der Ausfüllung einer sozialen Position ebenfalls zu respektieren ist. Und man könnte den Respekt vor der Intransparenz der Kinder damit in Verbindung bringen. Es ist die Intransparenz der Erwachsenen, aus der sich deren strategischer Umgang mit dem System von Rechten und Pflichten ergibt. Dieser strategische Umgang ist – qua Intranspa31 | Vgl. Schäfer, Alfred: Das Unsichtbare sehen. Zur Initiation in einen Voodoo-Maskenbund, Münster: Waxmann 2004.

Bildungsethnologie

renz – zu respektieren, und man kann daher nicht (zumindest nur begrenzt) fordernd und verurteilend den Anderen zur Rechenschaft ziehen. Solche Kontexte lassen die Erziehungskonzeption und die Praxis der Dogon in einem unterschiedlichen und durchaus heterogenen Licht erscheinen. Man kann Initiationsprozesse im Kontext ritueller oder mythischer Zusammenhänge betrachten. Man kann die damit in Verbindung stehenden Personvorstellungen betrachten. Man kann die Formierung des Verhältnisses von Immanenz und Transzendenz in der Gestaltung sozialer Prozesse hinzuziehen. Und auch hier ergibt sich dann ein komplexes Feld, in dem Initiationen unterschiedliche Bedeutungen gewinnen. Aber das ›Spiel‹ mit solchen unterschiedlichen Bedeutungszuweisungen findet immer noch seinen Bezugspunkt in der identifikatorischen Bemühung, die hier mit den problematischen Kategorien von Bildung und Erziehung in Verbindung gebracht wird. Der strategische Einsatz einer kategorial inspirierten empirischen Forschung scheint demnach nach wie vor mit problematischen Objektivitätsansprüchen zu arbeiten. Nun wird man zwar sagen können, dass das Repräsentationsproblem ein Problem jeder Forschung darstellt. Diese Einsicht folgt aus der Verabschiedung einer adäquanztheoretischen Wahrheitstheorie. In der Erforschung des Fremden ergibt sich – jenseits einer methodischen Neutralisierung dieses Problems – die Spezifität, dass (wie in der Bildungstheorie) die Repräsentationsproblematik selbst zum Forschungsgegenstand wird. Claude Lévi-Strauss32 hat einmal gesagt, dass es nicht zuletzt auch das als schmerzhaft, emotional und affektiv erlebte Scheitern der eigenen Möglichkeit ist, den eigenen Erfahrungen einen intelligiblen oder gar rationalen Sinn zu geben, das nicht nur den Forschungsprozess antreibt. Es drängt gerade auch zur Einsicht, dass der Zugang zum Fremden nur über das Eigene führt, über die Arbeit an den eigenen Intelligibilisierungs- und Rationalisierungsmechanismen, die Arbeit an den eigenen Kategorien – einen Prozess, den Lévi-Strauss als einen schildert, der zwischen jener Emotionalität und Rationalität anzusiedeln ist, die gemeinsam das Selbstverständliche des Eigenen konstituieren. Eine solche Arbeit am Eigenen, an den (die eigene Identität sichernden) eigenen Kategorien der Welterschließung aber macht den Ort, von dem her diese Arbeit erfolgen soll, selbst problematisch. Sich zu den Grenzen der eigenen (kategorialen) Erschließungsperspektiven zu verhalten, kann weder vom (fremden) Gegenstand noch vom Eigenen her erfolgen. Es kann nur um eine Arbeit an der Irritation des eigenen Zugangs durch das Fremde, das vom Eigenen her nicht zu Bestimmende gehen. In einer solchen Perspektive, die eine ethnographischen Erfahrung in einem Raum zwischen Eigenem und Fremdem situiert, wird gerade nicht von der Möglichkeit ausgegangen, dass das Ergebnis in einer Repräsentation des 32 | C. Lévi-Strauss: Strukturale Anthropologie II.

75

76

Alfred Schäfer

Fremden bestehen kann, die dieses gleichsam in dessen Selbstperspektive wiederzugeben vermöchte. Man sollte an dieser Stelle auch nicht – wie Lévi-Strauss das tut – versuchen, ein menschliches Mitgefühl als Begründungsmöglichkeit des Verstehens ins Feld zu führen. Das zu vergegenwärtigende Problem ist vielleicht ein anderes: Wenn man einmal von einem Zwischenraum der ethnographischen Erfahrung ausgeht, dann dürfte das erkenntnistheoretisch bedeutsame Problem gar nicht in der adäquaten Repräsentation der Fremden bestehen, sondern darin, den Zwischenraum der ethnographischen Erfahrung selbst zu ›repräsentieren‹. An dieser Stelle dürfte es allerdings problematisch sein, sinnvoll in einem starken Sinne von Repräsentation zu sprechen. In einem ›starken Sinne‹ meint, dass Kriterien für eine Übereinstimmung in Anspruch genommen werden sollen. Was hier geschieht, lässt sich eher als eine diskursive Artikulation jener Zwischenwelt der ethnographischen (oder auch bildenden) Erfahrung verstehen. Eine solche diskursive Artikulation gibt der ›Zwischenwelt‹ einen nachträglichen Sinn – einen Sinn, den sie als Erfahrung selbst nicht hatte. Die diskursive Artikulation konstituiert eine Differenz zur Erfahrung, allerdings ist sie wiederum nur Ausdruck jener Erfahrung, von der sie sich zugleich trennt. Die Phänomenologie Merleau-Pontys spricht an dieser Stelle von einer ›Dialektik des Ausdrucks‹.33 Als andere, sich entziehende bleibt die ethnographische Erfahrung in ihrer diskursiven Artikulation anwesend. Die diskursive Artikulation bildet den Versuch, der ethnographischen Erfahrung einen intelligiblen und rationalen Sinn zu geben – einen Sinn, den sie nicht hatte und der doch zum Ausdruck kommen soll. Zugleich aber erscheint dies nur möglich, indem eine zweite Differenz eingezogen wird. Die Artikulation der ethnographischen Erfahrung gibt dieser nicht allein einen nachträglichen, sie immer zugleich artikulierenden wie verfehlenden Sinn. Sie ist für den Feldforscher auch nur möglich durch den Rückgriff auf die eigenen diskursiven Ordnungen, die kategorial verfassten Wahrheits- und Richtigkeitsregime. Und doch ist auch hier – soll denn die ethnographische Erfahrung selbst noch einen Ort haben – nicht eine einfache Auflösung des Anderen in das Eigene möglich. Die ethnographische Repräsentation wird in dieser Hinsicht auf eigene Konzepte – wie etwa das der Bildung oder Erziehung – zurückgreifen müssen und doch nur zeigen können, dass eine konsistente Verwendung dieser Konzepte im Hinblick auf das Dargestellte scheitert. Wenn man dies auf die oben gegebene Darstellung bezieht, wäre der souveräne Repräsentationsgestus noch einmal daraufhin zu befragen, inwieweit denn die scheinbar souveränen Register des ›Funktionalen‹, des ›Moralischen‹ und des ›Strategisch-Politischen‹ als solche, aber zugleich auch in ihrer Konstellation greifen, inwieweit sie nicht gleichzeitig ihren scheinbar so eindeutigen Sinn verlieren. Das zu berücksichtigen wäre zumindest ein Anspruch, 33 | Vgl. dazu B. Waldenfels: Das Paradox des Ausdrucks.

Bildungsethnologie

der über die bloße Illustration eines strategischen Einsatzes im Hinblick auf die eigenen pädagogischen Kategorien hinausgeht, der die Repräsentation des Fremden nur zur Irritation des Eigenen benutzt. Wenn die Darstellung etwas von der ihr eigenen Problematik, die ethnographische Erfahrung diskursiv zu repräsentieren, ohne sie der eigenen diskursiven Ordnung gleichmachen zu können, hat ›repräsentieren‹ können, dann hätte sie ihr Ziel erreicht.

L iter aturverzeichnis Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1966. Adorno, Theodor W.: »Zu Subjekt und Objekt«, in: ders., Stichworte: Kritische Modelle 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1969, S. 151-168. Ariès, Phillippe: Geschichte der Kindheit, München: Hanser 1975. Baecker, Dirk: Wozu Kultur?, Berlin: Kadmos 2003. Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1963. Berg, Eberhard/Fuchs, Martin (Hg.): Kultur, Soziale Praxis, Text, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993. Campbell, Colin: The Romantic Ethic and the Spirit of Modern Consumerism, London: WritersPrintShop 1987. Därmann, Iris/Jamme, Christoph (Hg.): Fremderfahrung und Repräsentation, Weilerswist: Velbrück 2002. Fabian, Johannes: Time and the Other. How Anthropology makes its Object, New York: Columbia University Press 1983. Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Grenzen des Staates zu bestimmen, Stuttgart: Reclam 2006. Kant, Immanuel: »Über Pädagogik«, in: ders., Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977, S. 691-761. Kappner, Hans-Hartmut: Die Bildungstheorie Adornos als Theorie der Erfahrung von Kunst und Kultur, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984. Koller, Hans-Christoph: Bildung anders denken. Einführung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse, Stuttgart: Kohlhammer 2011. Lévi-Strauss, Claude: Strukturale Anthropologie II, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1975. MacCannell, Dean: »Staged Authenticity. Arrangements of Social Space in Tourist Settings«, in: American Journal of Sociology 79 (1973), S. 589-603. Müller, Klaus E./Treml, Alfred K.: Ethnopädagogik. Sozialisation und Erziehung in traditionalen Gesellschaften. Eine Einführung, Berlin: Reimer 1992.

77

78

Alfred Schäfer

Rojek, Chris: »Indexing, Dragging and the Social Construction of Tourist Sights«, in: Chris Rojek/John Urry (Eds.), Touring Cultures. Transformations of Travel and Theory, London: Routledge 1997, S. 52-74. Rousseau, Jean-Jacques: Émile oder über die Erziehung, Stuttgart: Reclam 1963. Schäfer, Alfred: Unbestimmte Transzendenz. Das Andere als Grenze in der Selbstthematisieg der Batemi (Sonjo), Berlin: Reimer 1999. Schäfer, Alfred: Jean-Jacques Rousseau. Ein pädagogisches Porträt, Weinheim: Beltz 2002. Schäfer, Alfred: Das Unsichtbare sehen. Zur Initiation in einen Voodoo-Maskenbund, Münster: Waxmann 2004. Schäfer, Alfred: Nähe als Distanz. Sozialität, Intimität und Erziehung bei den Dogon, Hamburg: LIT 2007. Schäfer, Alfred: Die Erfindung des Pädagogischen, Paderborn: Schöningh 2009. Schäfer, Alfred: Selbst-Spiegelungen am Anderen. Ambivalenzen kultureller Begegnung in Ladakh, Paderborn: Schöningh 2014. Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, Stuttgart: Reclam 1973. Streck, Bernhard: Fröhliche Wissenschaft Ethnologie: Eine Einführung, Wuppertal: Hammer 1997. Turner, Victor: Das Ritual – Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt a.M.: Campus 1989. Urry, John: The Tourist Gaze, London: Sage 1990. Waldenfels, Bernhard: »Das Paradox des Ausdrucks«, in: ders., Deutsch-französische Gedankengänge, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995, S. 105-123. Waldenfels, Bernhard: Studien zur Phänomenologie des Fremden: Topographie des Fremden, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997. Wöhler, Karlheinz (Hg.): Tourismusräume. Zur soziokulturellen Konstruktion eines globalen Phänomens, Bielefeld: transcript 2010.

Entwicklung als kulturspezifische Lösung universeller Entwicklungsaufgaben Heidi Keller Der menschliche Lebenslauf kann als Serie universeller Entwicklungsaufgaben verstanden werden. Entwicklungsaufgaben sind Themenstellungen, die während der Menschheitsgeschichte relevant wurden, um adaptive Probleme zu lösen und damit das Überleben und die kompetente Interaktion mit der Umwelt zu ermöglichen und zu verbessern. Diese Aufgaben stellen sich allen Menschen in bestimmten ontogenetischen Zeitfenstern. Wie Entwicklungsaufgaben allerdings gelöst werden, in welchem komplexeren Entwicklungszusammenhang sie stehen und wann genau sie gelöst werden, hängt von der Umwelt ab, bzw. von den Informationen, die der physische und soziale Kontext bereitstellen. Diese Informationen sind in kulturellen Modellen organisiert und strukturiert. Kulturelle Modelle übersetzen die kontextuellen Informationen in Vorstellungen, Werte, Normen, Verhaltensregeln und Konventionen, die für bestimmte Umwelten Anpassungswert besitzen. Sie sind nicht immer bewusst zugänglich, sondern auch vorbewusst wirksam. Entwicklung ist immer ein aktiver Prozess der Konstruktion und Ko-Konstruktion, so dass das sich entwickelnde Individuum nicht eine Kopie seiner sozialen Umwelt wird, sondern sich diese aktiv und individuell aneignet. So entsteht interindividuelle Variation sowie historische Dynamik über die Generationen hinweg.1

1 | Für eine genauere Diskussion s. Keller, Heidi: Cultures of infancy, Mahwah, NJ: Erlbaum 2007; sowie Keller, Heidi/Kärtner, Joscha: »Development – The culture-specific solution of universal developmental tasks«, in: Michele L. Gelfand/Chi-Yue Chiu/Ying-yi Hong (Eds.), Advances in culture and psychology, Oxford, NY: Oxford University Press 2013, S. 63-116.

80

Heidi Keller

E nt wicklung

als

Z usammenspiel

von

G ehirn

und

U mwelt

Die ontogenetische Entwicklung des Menschen ist durch das Zusammenspiel von Gehirn und Umwelt definiert. Eine der wichtigsten biologischen Vorbereitungen für Entwicklung ist das angeborene Interesse an der Umwelt, das Bedürfnis, Informationen aufzunehmen und zu lernen. Die schrecklichen Zustände in den Waisenhäusern zu Beginn des vorigen Jahrhunderts haben gezeigt, dass Babys ohne eine anregende Umwelt verkümmern und sterben, selbst wenn sie gut ernährt werden und sich in hygienischen Bedingungen befinden.2 Dieses Lernen ist allerdings nicht beliebig, sondern von offenen genetischen Programmen gesteuert, d.h. Prädispositionen zum Lernen bestimmter Informationen zu bestimmten Zeiten. Diese Zeiträume sind durch die jeweiligen Entwicklungsaufgaben definiert, wo das Lernen der relevanten Informationen leichter ist als zu anderen Zeiten – obwohl Menschen natürlich lebenslange Lerner sind. Menschen haben im Vergleich zu anderen Primaten eine lange Kindheit,3 um die vielen Informationen aufzunehmen und zu verarbeiten, die notwendig sind, um in der Komplexität des menschlichen Lebensraumes erfolgreich agieren zu können. Die erste universelle, integrative Entwicklungsaufgabe, die Babys in aller Welt lösen müssen, ist die Entwicklung einer sozialen Matrix, d.h. den Erwerb eines verlässlichen Beziehungsnetzwerks. Darauf sind Babys gut vorbereitet. Mit ihrem charakteristischen Aussehen, dem von Konrad Lorenz so bezeichneten Kindchenschema – bestehend aus relativ großem Kopf im Vergleich zum restlichen Körper, dem ausgeprägten Hinterkopf, der hohen Stirn und den großen Augen –, wecken sie die Aufmerksamkeit und sprechen die Fürsorgemotivation ihrer sozialen Umwelt an. Babys haben alleine durch ihr Aussehen einen hohen sozialen Aufforderungscharakter, auf den Erwachsene wie auch schon Kinder ab circa 3 Jahren ansprechen und den Kontakt mit Babys suchen. Sie verfügen über ein angeborenes Repertoire von sozialen Verhaltensweisen und emotionalen Ausdrucksformen und sind damit bereit für sozialen Austausch und Kommunikation. Menschen sind gleichermaßen mit einem parentalen Ko-Design ausgestattet, d.h. dem Interesse an Babys und der Motivation zur Fürsorge. Dieses umfasst den Wunsch nach Kontakt und Kommunikation, Versorgung, Stimulation und Beruhigung. Dazu haben sich verschiedene Systeme entwickelt, die auf die Bedürfnisse von Babys abgestimmt sind – das 2 | Spitz, René: »Anaclitic depression: An inquiry into the genesis of psychiatric conditions in early childhood-II«, in: The Psychoanalytic Study of the Child 2 (1945), S. 313-342; Schaffer, H. Rudolph: »Objective observations of personality development in early infancy«, in: British Journal of Medical Psychology 31 (1958), S. 174-183. 3 | Bogin, Barry: »The evolution of human childhood«, in: BioScience 40 (1990), S. 16-25.

Entwicklung

primäre Pflegesystem, das Körperkontaktsystem, das Objektstimulationssystem, das Köperstimulationssystem, das »face-to-face«-System und das verbale System, die voneinander unabhängig und universell vorhanden sind. Sie treten allerdings immer in bestimmten Mischungen auf, und diese werden durch kulturelle Modelle gesteuert.

K ultur

und

K onte x t

Kulturelle Modelle variieren mit kontextuellen Merkmalen. Kontexte kann man nach verschiedenen Dimensionen beschreiben, die in ihrem Zusammenspiel kindliche Lernumwelten bilden (z.B. Geografie, Ökologie, Klima, Siedlungsform, Geschichte). 4 Eine besondere Rolle für die Gestaltung dieser kindlichen Lernumwelten oder Entwicklungsnischen stellt das Niveau der formalen Bildung der Personen dar, die die soziale Umwelt des Kindes konstituieren. Die formale Bildung beeinflusst in einem hohen Maß das Reproduktionsverhalten, d.h. das Alter, wann man das erste Kind bekommt, wie viele Kinder man bekommt und in welcher Familienkonstellation man lebt. Diese Dimensionen formen soziale Milieus, die wiederum bestimmend für den Umgang und die Erziehung von Kindern sind.5 Menschen, die in ähnlichen soziodemografischen Milieus leben, haben ähnliche Menschenbilder, Vorstellungen vom Leben und damit von Entwicklung und Erziehung. Ein solches Milieu kennen wir sehr gut: die westliche Mittelschichtgesellschaft. Hier ist das Niveau der formalen Bildung hoch, das Erstgeburtsalter spät, die Anzahl der Kinder gering und die Familie besteht in der Regel aus zwei Generationen (Eltern und Kind), der sogenannten Nuklearfamilie. Das, was wir über Entwicklung und Erziehung wissen, ist fast ausschließlich von Mitgliedern dieses Milieus an Mitgliedern dieses Milieus untersucht und beschrieben worden.6

4 | S. dazu Whiting, Beatrice B./Whiting, John W.M.: Children of six cultures: a psycho-cultural analysis, Cambridge, Mass: Harvard University Press 1975. 5 | S. dazu Keller, Heidi: »Psychological autonomy and hierarchical relatedness as organizers of developmental pathways«, in: Philosophical Transactions B 371, 2016 doi: 10.1098/rstb.2015.0070. 6 | Arnett, Jeffrey J.: »The neglected 95 %: why American psychology needs to become less American«, in: American Psychologist 63 (2008), S. 602-614.

81

82

Heidi Keller

D as B ild

vom K ind in der westlichen M it telschichtfamilie Wie ist das Bild vom Kind in diesem Milieu? Das Säuglingsalter ist hier besonders aufschlussreich, da es wie eine Linse auf kulturelle Orientierungen wirkt,7 sie also vergrößert, fokussiert und so gut sichtbar macht. Schauen wir also in Lehrbücher der Entwicklungspsychologie oder der Elementar- und Frühpädagogik, dann lesen wir, dass Säuglinge ab Geburt aktiv sind als Konstrukteure ihrer eigenen Entwicklung. Schon das Baby ist eine separate, aktive und autonome Person, deren Wünsche und Aktivitäten in sich selbst Gültigkeit besitzen. Das impliziert eine kindzentrierte Haltung und einen responsiven Umgang mit dem Kind. Entsprechend hat das Baby das Recht auf eine sensitive Mutter, die dem Baby gibt, was seine Kommunikationen intendieren und was es möchte. Sie reagiert sozial auf des Babys Versuche, soziale Interaktionen zu initiieren, spielerisch auf Versuche, Spiel zu initiieren. Sie hebt das Baby hoch, wenn es dies zu wünschen scheint und legt es wieder hin, wenn es explorieren möchte, so wird eine gute Mutter in der Bindungstheorie beschrieben (Ainsworth sensitivity scale). 8 An diesem Beispiel wird deutlich, dass der Umgang mit dem Baby dyadisch exklusiv sein soll, d.h. ein Erwachsener, in den ersten Lebensjahren in der Regel die Mutter, konzentriert sich ausschließlich auf ein Baby und begleitet es mit wacher Aufmerksamkeit. In diesen intensiven sozialen Austauschsituationen liegen Babys üblicherweise auf dem Rücken und die Mutter, zuweilen natürlich auch der Vater, beugt sich über das Baby. Die Kommunikationsstruktur ist distal, über die Fernsinne reguliert, d.h. Schauen und Hören spielen die Hauptrolle. Die bevorzugten Elternsysteme sind also »face-to-face« und das Sprachsystem. Eine große Rolle spielt auch das Objektstimulationssystem, da Spielzeuge fast immer beteiligt sind, meist in Form dieser großen multifunktionalen mobilen Spielstationen. Körperkontakt und Körperstimulation spielen eine vergleichsweise geringe Rolle. Während des Blickkontaktes wird praktisch permanent gesprochen, meist im Frageformat (»Dir ist jetzt langweilig hier, hm?«). Dabei wird eine (Quasi-)Dialogstruktur realisiert, mit Pausen, um dem Baby Gelegenheit für eigene Beiträge zu geben, wobei dann alle kleinen Signale als intentionale kommunikative Akte interpretiert werden. Inhaltlich geht es um die Verbalisierung und Interpretation der inneren Zustände des Babys, was es möchte, was es intendiert (»Erzähl mir mal, was Du da siehst? Dir ist jetzt langweilig, hm?«). Die Mutter versetzt sich also in die Lage des Babys und versucht, den so 7 | Gottlieb, Alma: The afterlife is where we come from, Chicago: Chicago University Press 2004. 8 | Ainsworth, Mary D.S.: Maternal sensitivity scales, www.psychology.sunysb.edu/ attachment/measures/content/ainsworth_scales.html vom 1.11.2012.

Entwicklung

gemeinsam erarbeiteten Bedürfnissen und Wünschen unmittelbar und ohne Verzögerung zu entsprechen. Positive Emotionen spielen eine große Rolle und unterstreichen die Individualität des Babys. Permanentes Lob (»Toll, toll! Das kannst Du schon!«) zelebrieren die Individualität. In den ersten Lebensmonaten nehmen solche intensiven sozialen Situationen etwa 30 bis 40 % des Tages von Babys ein, aber genau so viel Zeit verbringen Babys auch alleine, d.h. es ist niemand in Reich- oder Sichtnähe. Dies ist ein weiteres Sozialisationskonzept, das ebenfalls für sehr wichtig gehalten wird. Babys sollen lernen, alleine zu sein und mit sich selbst zurecht zu kommen. Allein zu sein wird als kindliches Bedürfnis betrachtet: »Du willst alleine spielen?« fragt eine Mutter ihr 3 Monate altes Baby in einer gemeinsamen Spielsituation, als es ein bisschen Unmut äußert. Eine Mittelschicht-Mutter aus Los Angeles erklärt uns dies genauer in einem Interview: Mutter: »Sie brauchen nicht ständig jemanden um sich herum. Das macht sie nur abhängig, und sie werden weinerlich, weil sie nicht alleine sein können. Für uns Menschen ist es wichtig, mit sich selbst eine Beziehung zu haben, so dass sie alleine sein können.« Interviewerin: »Mhm. Wenn sie älter sind?« Mutter: »Uhm—nein, schon als Babys müssen sie in der Lage sein, nicht ständig jemanden um sich herum zu brauchen.« Interviewerin: »Mhm.« Mutter: »So entwickeln sie Identität von sich selbst.«

Babys aus diesen sozialen Milieus lernen die Welt kennen, indem sie zunächst sich selbst kennenlernen; sie lernen etwas über ihre Wünsche, Präferenzen, Intentionen, bevor sie sehr viel später verstehen, dass die Vorstellungen anderer davon abweichen können. Dies ist auch die Grundlage der Entwicklungspsychologie, wie wir sie in unseren Lehrbüchern lesen können und die als allgemeingültig, eventuell mit geringen lokalen Variationen, qualifiziert wird. Vorstellungen über Entwicklung sind immer auch normativ gerahmt, so dass dieses Entwicklungsmilieu als dasjenige betrachtet wird, das für eine normale, gesunde Entwicklung notwendig und förderlich ist. Das ist auch das Credo der Bindungstheorie, der einflussreichsten Theorie der sozialemotionalen Entwicklung, die in den 60er und 70er Jahren formuliert wurde und bis heute weitgehend unverändert angewendet wird.9 Die Bindungstheorie ist Grundlage vieler Konzepte der Familienberatung, des 9 | Bowlby, John: Attachment and loss, Vol. 1: Attachment, New York: Basic Books 1969; Ainsworth, Mary D.S./Blehar, Mary C./Waters, Everett/Wall, Sally: Patterns of attachment: A psychological study of the strange situation, Hillsdale, NJ: Erlbaum 1978.

83

84

Heidi Keller

Übergangs zur Elternschaft und inzwischen auch der Elementar- und Frühpädagogik. Dieses kulturelle Modell der psychologischen Autonomie mit dem Fokus auf Individualität und Einzigartigkeit sowie der inneren Welt der Wünsche, Intentionen und positiven Emotionen entspricht der Lebenssituation der formal hoch gebildeten westlichen Mittelschichtfamilien. Die exklusive Aufmerksamkeit auf das Baby erfordert eine ökonomische Situation, die diese Freistellung eines Erwachsenen (Mutter, eventuell auch, zumindest temporär, Vater) von anderen Aktivitäten und Aufgaben erlaubt. Die exklusive Aufmerksamkeit kann definitionsgemäß nur auf einen sozialen Partner ausgerichtet werden, was die Anzahl der Nachkommen entsprechend reduziert. Die Mentalisierung und verbale Elaboriertheit erfordert ein hohes Niveau formaler Bildung. Dieses soziale Milieu ist allerdings eher die Ausnahme denn die Regel, wenn man die Weltbevölkerung im Blick hat – die westliche Mittelschicht umfasst weniger als 5 %. Die Psychologie dieser kleinen Bevölkerungsgruppe wird jedoch für allgemein gültig gehalten.

E in

anderes

B ild

vom

K ind

Die immer noch vorherrschende Vorstellung eines universellen Entwicklungspfades mit eventuellen qualitativen Abweichungen ist jedoch nicht nur unbegründet, sondern auch da, wo wir Daten aus anderen kulturellen Kontexten haben, widerlegt.10 Die vernachlässigten 95 % 11 bilden natürlich keine homogene Gruppe, sondern repräsentieren unterschiedliche soziodemografische Milieus und damit unterschiedliche kulturelle Modelle.12 Eine größere Gruppe bilden subsistenzwirtschaftlich lebende Bauern in nicht westlichen Ländern, die immerhin 30-40 % der Weltbevölkerung ausmachen. Die Kenntnis der Psychologie in diesem sozialen Milieu ist auch deshalb besonders wichtig, da die überwiegende Mehrzahl der in westliche Länder einwandernden Menschen diesen kulturellen Hintergrund mitbringen. Die soziodemografischen Rahmendaten bestehen hier in einem niedrigen Niveau formaler Bildung (die natürlich auch inhaltlich anderes strukturiert und vermittelt ist), früher Erstelternschaft, vielen Kindern und einer Mehrgenerationenfamilie, die aus vielen 10 | Markus, Hazel R./Kitayama, Shinobu: »Culture and the self. Implications for cognition, emotion and motivation«, in: Psychological Review 98 (1991), S. 224-253; Henrich, Joseph/Heine, Steven J./Norenzayan, Ara: »The weirdest people in the world?«, in: Behavioral and Brain Sciences 33 (2010), S. 61-135. 11 | J.J. Arnett: The neglected 95 %, S. 602-614. 12 | H. Keller/J. Kärtner: Development – The culture-specific solution of universal developmental tasks, S. 63-116.

Entwicklung

verwandten und z.T. auch nicht verwandten Personen besteht, wobei die Zusammensetzung der Familie sich auch häufiger ändern kann. Die Familie ist definiert durch ein Netzwerk sozialer Verpflichtungen, in dem Gemeinschaftssinn, Kooperation und Respekt gegenüber Älteren das familiäre Wertesystem abbilden. Das Bild vom Kind in diesem Milieu muss natürlich ein völlig anderes sein als in der westlichen Mittelschicht. Hier geht es darum, möglichst schnell in die familiäre Hierarchie hineinzuwachsen. Das bedeutet, dass sozialisatorischer Druck auf eine frühe Selbstständigkeitsentwicklung ausgeübt wird, allerdings nicht in Bezug auf die Entwicklung der inneren Welt des Wünschens und Intendierens, sondern möglichst früh zu unabhängigem Handeln (Handlungsautonomie) in der Lage zu sein. Dazu ist motorische Unabhängigkeit eine wesentliche Voraussetzung. Die Psychologie ist dagegen eher kommunal ausgerichtet, d.h. Kinder sollen sich nicht so schnell wie möglich als unabhängige Agenten wahrnehmen, sondern als Teil eines sozialen Systems. Körperkontakt ist ein Medium sozialer Nähe, so dass Babys fast immer am Körper getragen werden. Dabei erfahren sie den Körperrhythmus ihrer Betreuungspersonen und wachsen in eine soziale Synchronizität. Motorische Stimulation akzeleriert die Entwicklung von Sitzen, Stehen und schließlich unabhängigem Laufen. Kinder haben in der Regel mehrere Bezugs- und Betreuungspersonen, bevorzugt andere Kinder. Die Mutter ist häufig diejenige, die für das physische Wohl zuständig ist, insbesondere das Stillen, darüber hinaus aber wenig sozialen Austausch mit dem Baby hat. Blickkontakt und Objektstimulation sind sehr selten, wie überhaupt exklusive dyadische Beziehungen – diese sind vielmehr durch multiple Aufmerksamkeitsstrukturen gekennzeichnet, wobei vielleicht die visuelle Aufmerksamkeit auf Haushalts- oder Farmtätigkeiten liegt, und die Interaktion mit dem Baby auf der Wahrnehmung und Beantwortung körperlicher Signale beruht.13 Entsprechend ist auch die non-verbale Kommunikation bedeutsam, wobei natürlich auch sprachliche Kommunikation eine Rolle spielt. Es geht aber nicht um die Verbalisierung der inneren Welt und das Erspüren von Befindlichkeiten, sondern um Anweisungen und die Vermittlung sozialer und moralischer Werte. Auch der Ausdruck von Emotionalität wird nicht geschätzt, da dies nicht mit der gebotenen Zurückhaltung, die eine kommunale Präsenz erfordert, im Einklang steht. Wir haben dieses kulturelle Modell als hierarchische Relationalität bezeichnet, d.h. der Organisator dieser Psychologie sind die Erfordernisse der hierarchisch gegliederten Gemeinschaft. Entsprechend lernen Kinder auch zunächst über das soziale System und andere, bevor sie über 13 | Für Beispiele s. Otto, Hiltrud/Keller, Heidi: Different faces of attachment, Cambride, UK: Cambridge University Press 2014; Quinn, Naomi/Mageo, Jeannette M.: Attachment reconsidered: Cultural perspectives on a Western theory, New York, NY: Palgrave Macmillan 2013.

85

86

Heidi Keller

sich selbst lernen. Natürlich ist Autonomie auch hier ein wichtiges Bedürfnis, aber eben die Autonomie des Handelns, nicht die des Mentalisierens. Diese beiden Sozialisationsstrategien und die sie rahmenden kulturellen Modelle bilden natürlich nicht die Gesamtheit der menschlichen Lebensformen ab. In jedem Fall bilden sie auch nicht die Endpunkte einer Dimension, wie häufig fälschlicherweise angenommen wird, d.h. sie sind keine Gegensätze, obwohl im Detail viele Praktiken gegensätzlich erscheinen. Es sind zwei Modelle, von denen wir vergleichsweise viele Informationen haben – wir wissen sehr viel über Entwicklung und Erziehung der westlichen Mittelschicht, und wir haben einige Informationen über nicht westliche ländlich-bäuerliche Lebenswelten. Insbesondere die dörflichen Kulturen des subsaharischen Afrika haben immer schon das Interesse von Anthropologen und Psychologen angezogen, so dass wir dieses Sozialisationsmodell einigermaßen rekonstruieren können. Dabei gibt es aber viele Wissenslücken, die zukünftige Forschung schließen muss. Die bisher geschilderten Sozialisationsstrategien legen den Grundstein für unterschiedliche Sozialisationspfade, die auf unterschiedliche Kompetenzen hin ausgerichtet sind, um an die kulturellen Modelle der psychologischen Autonomie einerseits und hierarchischen Relationalität andererseits angepasst zu sein. Im Folgenden werden einige zentrale Entwicklungsaufgaben der Vorschulzeit aus der Perspektive der unterschiedlichen kulturellen Modelle vorgestellt.

E nt wicklungsaufgaben

und

S ozialisationspfade 14

Die Entwicklungsnische oder kindliche Lernumwelt wird durch Sozialisationsziele gerahmt, bei denen es darum geht, welche Vorstellungen über Kompetenzen oder ideale Entwicklungskonzepte man erreichen will, welche Ethnotheorien man entwickelt, d.h. Vorstellungen, wie man diese Ziele erreicht, und welche Verhaltensstrategien und Verhaltenskontexte man realisiert, um diese Vorstellungen umzusetzen. Bisher wurden psychologische Autonomie und hierarchische Relationalität als übergreifende Sozialisationsziele diskutiert und die ersten Lebensmonate in diesen verschiedenen Milieus charakterisiert. Abbildung 1 visualisiert die unterschiedlichen Entwicklungskontexte in einer deutschen städtischen Mittelschichtfamilie (links) und einer nordwestkamerunischen Bauernfamilie (rechts).

14 | Mehr Informationen, auch zu den Originalquellen der im folgenden referierten Untersuchungen finden sich in: H. Keller/J. Kärtner: Development – The culture-specific solution of universal developmental tasks.

Entwicklung

Abbildung 1. Psychologische Autonomie und Hierarchische Relationalität als Entwicklungskontexte

Nach ungefähr einem Jahr haben Babys eine primäre Beziehungsmatrix ausgebildet. Die Bindungstheorie beschreibt dieses Beziehungsgefüge des Kindes aus der westlichen Mittelschicht als ein emotionales Band mit einem unverwechselbaren Partner. Die Qualität dieser Beziehung (Bindung) wird durch die sensitive Responsivität (schnelles und angemessenes Reagieren auf jedes noch so kleine kindliche Signal) und die Mentalisierungsfähigkeit (mind mindedness, d. h. das Verbalisieren und Interpretieren der inneren Welt des Kindes) geprägt. Ist die Bindungsbeziehung zu der primären Bezugsperson sicher, zeigen die Babys Fremdenfurcht und reagieren mit entsprechender Abwehr und Protest bei Annäherung einer fremden Person. Das Baby aus einer traditionellen Bauernfamilie wächst mit vielen Bezugspersonen auf und entwickelt in der Regel nicht diese individualisierte Bindungsbeziehung, sondern das Gefühl von Sicherheit in einem Netzwerk und erfährt Trost bei der Person, die gerade verfügbar ist. Es ist also nicht nur eine Person, die wichtig und unersetzlich ist, sondern das soziale System ist ein sicherheitsspendendes Netz. Körperkontakt ist das Medium, mit dem Liebe und Zuneigung ausgedrückt wird. So entwickeln Kinder in traditionellen Bauerndörfern häufig auch keine Furcht vor Fremden. Bedrohliche Fremde kennt man nicht, so dass jeder Andere grundsätzlich ein Babysitter sein kann.15 Das ändert sich natürlich mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. So zeigten Marey-Sarwan und Kollegen16 in einer Untersuchung, dass viele 1-jäh15 | Gottlieb, Alma: »Is it time to detach from attachment theory? Perspectives from the West African rain forest«, in: Otto/Keller, Different faces of attachment (2014), S. 187-214; Keller, Heidi/Otto, Hiltrud: »Different faces of autonomy«, in: Xinyin Chen/ Kenneth H. Rubin (Eds.), Socioemotional development in cultural context, New York: Guilford Press 2011, S. 164-185. 16 | Marey-Sarwan, Ibtisam/Keller, Heidi/Otto, Hiltrud: »Stay close to me. Stranger anxiety and maternal beliefs about children’s socio-emotional development among

87

88

Heidi Keller

rige Beduinenkindern in der Negev-Wüste Fremdenfurcht zeigten, obwohl es nicht zum traditionellen Verhaltensrepertoire gehört. Diese Familien leben in von der israelischen Regierung nicht anerkannten Dörfern und sind erheblichem Druck und alltäglichen Gefahren ausgesetzt. Daran wird erneut die kontextuelle Bedingtheit von Verhaltensmustern deutlich. Mit ungefähr 18 Monaten hat das westliche Mittelschichtkind ein kategoriales Selbst ausgebildet, d.h. es nimmt sich als unabhängig und eigenständig wahr. Das kann man mit dem sogenannten Rouge-Test nachweisen, wenn dem Kind ein roter Fleck neben die Nase appliziert wird, ohne, dass es dies bemerkt, z.B. beim Naseputzen, und es dann mit einem Spiegel konfrontiert wird. Deutet es genau auf den Farbfleck oder benennt es ihn, falls es das schon sprachlich ausdrücken kann, hat es erkannt, dass da etwas ist, was da nicht hingehört, d.h. es hat ein Bild von sich. Ungefähr zu dem gleichen Zeitraum realisieren westliche Mittelschichtkinder auch, dass andere möglicherweise andere Präferenzen haben als sie selbst. Die amerikanische Psychologin Alison Gopnik hat dies aufgewiesen, in dem sie Kinder dieses Alters zwischen Crackern und rohem Brokkoli wählen ließ. Natürlich bevorzugten alle Kinder Cracker – die Versuchsleiterin machte dann aber deutlich, dass sie selbst Cracker scheußlich findet und Brokkoli liebt. Wenn sie dann die offene Hand hinstreckte und die Kinder bat, ihr etwas zu geben, gaben ihr die 18 Monate alten den gewünschten Brokkoli, während 14 Monate alte noch nicht zwischen den eigenen und anderen Präferenzen unterscheiden konnten.17 Das 18 Monate alte Bauernkind kann sich noch nicht im Spiegel erkennen, da der Sozialisationsdruck ja gerade eben nicht auf Abgrenzung und Eigenständigkeit liegt, sondern auf kommunalem Erleben.18 Es entwickelt diesen Entwicklungsschritt sehr viel später nach dem 2. Lebensjahr. Dafür hat es aber bereits ein differenziertes System sozialer Regulationen ausgebildet und kann sich im Haushalt nützlich machen, Botengänge verrichten, etwas holen oder wegbringen und so bereits Handlungsautonomie zeigen. Das westliche Mittelschichtkind dagegen probt seinen unabhängigen Willen und folgt der Bitte,

Bedouins in the unrecognized villages in the Naqab«, in: Journal of Cross-Cultural Psychology 47(3) 2016, S. 319-332. 17 | Repacholi, Betty M./Gopnik, Alison: »Early reasoning about desires: Evidence from 14- and 18-month-olds«, in: Developmental Psychology 33(1) 1997, S. 12-21. 18 | Ob es Präferenzen anderer als verschieden wahrnehmen kann, wissen wir nicht, da es entsprechende Untersuchungen nicht gibt. Man könnte spekulieren, dass sie das können müssten, da sie ja von Anfang an darauf ausgerichtet sind, andere wahrzunehmen und zu beobachten. Andererseits möchten in einer dörflichen Gemeinschaft Menschen nicht anders sein als andere, daher ist die Äußerung ausgewiesener Präferenzen wiederum unwahrscheinlich, so dass die Beobachtungsgrundlage nicht gegeben ist.

Entwicklung

etwas zu holen oder weg zu bringen, wenn überhaupt, dann nur sehr zögerlich und erst nach mehrmaliger Aufforderung. Mit etwa 2 Jahren ist das westliche Mittelschichtkind dann auch in der Lage, Empathie zu zeigen, d.h. die Befindlichkeit eines anderen dieser anderen Person zu attribuieren und nicht sich selbst. Dies kann man auch mit einer einfachen Versuchsanordnung feststellen:19 Eine Versuchsleiterin spielt mit einem Kind in einer Laborsituation, wo auch die Mutter des Kindes anwesend ist. Versuchsleiterin und Kind haben jeder einen Teddybären, wobei sich der Arm des Bären der Versuchsleiterin plötzlich vom Körper löst (mit Klettband präpariert). Die Versuchsleiterin ist sehr traurig, dass ihr Teddy nun kaputt ist und äußert diese Emotion sehr deutlich. Versucht das Kind die Versuchsleiterin zu trösten oder gibt ihr ihren Teddy, dann zeigt das, dass es sich in die Lage des anderen versetzen kann, also Empathie entwickelt hat. Noch nicht empathiefähige Kinder reagieren entweder überhaupt nicht, lachen vielleicht sogar, sind verwirrt, suchen Rat bei der Mutter oder dergleichen. Kinder die eindeutig empathisch reagiert haben, haben sich zuvor mit 18/19 Monaten im Spiegel erkannt. Es gibt also einen eindeutigen Zusammenhang zwischen Selbsterkennen und dem Erkennen der Gefühlszustände anderer – allerdings gilt dieser Zusammenhang nur für Kinder aus westlichen Mittelschichtfamilien. Bei Mittelschichtkindern aus Delhi, also einer nicht westlichen Gesellschaft, konnten wir diesen Zusammenhang nicht nachweisen, wobei die Kinder aber genau so empathiefähig waren wie Berliner Mittelschichtkinder, bei denen Selbsterkennen im Spiegel Voraussetzung für Empathie war.20 Das weist auf eine andere interessante kulturelle Dynamik hin – das gleiche Entwicklungsergebnis muss nicht auf die gleiche Weise zustande kommen. Leider gibt es keine Untersuchungen dazu mit Kindern aus traditionell lebenden Bauernfamilien.21 Die nächste Entwicklungsaufgabe mit ungefähr 3 Jahren ist die Entwicklung eines autobiografischen Gedächtnisses, d.h. das Herstellen von Bezügen zur eigenen Vergangenheit und in der Lage zu sein, darüber zu sprechen. Das wird in der Regel so erfasst, dass Mutter und Kind gebeten werden, sich über etwas zu unterhalten, was in den letzten Wochen passiert ist und an dem beide 19 | Bischof-Köhler, Doris: Spiegelbild und Empathie. Die Anfänge der sozialen Kognition, Bern: Huber 1989. 20 | Kärtner, Joscha/Keller, Heidi/Relindis D. Yovsi, R.D.: »Self-recognition in different socio-cultural environments. A cross-sequential study«, Vortrag, gehalten auf dem »Biennial meeting of the Society for Research in Child Development (SRCD)«, Atlanta, GA, USA, April 7-10, 2005. 21 | Eine solche Untersuchung wäre alleine schon deshalb problematisch, da die Äußerung von Emotionen sozial unangemessen wäre und die Vorstellung, dass Erwachsene vor Kindern offen Trauer zeigen und weinen in einer ebenfalls unvertrauten dyadischen Situation, wäre eine grobe Missachtung der lokalen Kultur.

89

90

Heidi Keller

teilgenommen haben. Abbildung 2 zeigt einen kleinen Ausschnitt einer solchen Unterhaltung zwischen einer Berliner Mittelschichtmutter mit ihrem dreijährigen Sohn. Am Wochenende waren wir an der?

Ostsee!

Und was haben wir da am Strand alles gebaut?

Da haben wir ne Höhle gebaut.

Und wie haben wir das gemacht?

Und da haben wir doch ehm noch haben wir ein ganz schickes en ganz schickes Schloss gemacht … mit einer Schüppe!

Aha. Wie viele Schüppen hatten wir denn da?

Eins Zwei Drei Vier Fünf.

Ne ‹lacht› drei waren das, ne?

Ja drei.

Abbildung 2. Protokollausschnitt aus einer Berliner Mutter-Kind-Unterhaltung über einen kürzlich gemachten gemeinsamen Ausflug an die Ostsee

Es ist deutlich, dass es die Mutter darauf angelegt hat, dem Kind möglichst viel Raum für eigene Gesprächsbeiträge zu geben. Das tut sie, indem sie offene Fragen stellt, die Gesprächsbeiträge des Kindes aufgreift und evaluiert. Dieser Gesprächsstil wird als elaborativ bezeichnet und kennzeichnet das Konversationsverhalten euroamerikanischer Mittelschichtfamilien, wo das Kind von Geburt an als gleichberechtigter Partner an Unterhaltungen beteiligt ist. Das Gespräch spiegelt die Kindzentriertheit und dyadische Exklusivität der frühen Dialoge wieder. So sagt auch die Kindzentriertheit in Spielinteraktionen mit 18 Monate alten Kindern deren Teilnahme an den Konversationen und damit ihrem autobiografischen Gedächtnis mit 3 Jahren vorher. Das Nso Bauernkind wächst in einer anderen Konversationskultur auf. Die hierarchische Beziehung zwischen Mutter und Kind zeigt sich deutlich daran, dass die Mutter das Gespräch bestimmt und dem Kind die Rolle des Bestätigens dessen, was die Mutter sagt, zukommt (s. Abbildung 3). Inhaltlich geht es in dem Gespräch um das Zusammentreffen mit einem Geist (Juju). Geister sind wichtiger Teil der Stammeskultur und treten zu besonderen Anlässen im Alltag auf. Unter der Vielzahl unterschiedlicher Jujus gibt es gute und böse und auch welche, die durchaus handgreiflich werden können, so dass es viel Sinn macht, schnell weg zu laufen (s. Abbildung 4).

Entwicklung

Went and saw Kibaranko (juju).

mmh

And it was chasing us.

mmh

We and auntie.

mmh

And grandma Noelle.

mmh

Be looking but at me. And grandma Noelle.

mmh

And it was chasing us and we were running.

mmh

Do you still remember how it chased us not so?

mmh

It was chasing us and we were really really running.

mmh

Abbildung 3. Ausschnitt aus Unterhaltung einer Nso Bäuerin mit ihrem 3-jährigen Sohn

Abbildung 4. Juju in Nsoland, vor dem man besser davonläuft

Abgesehen davon geht es um andere Personen. Der Diskurs ist konkret und wiederholend. Vergangenheits- und Zukunftsbezüge werden auch in den Konversationen mit Babys im ersten Lebensjahr, ganz im Gegensatz zu westlich städtischen Familien, nicht hergestellt. Dieser Stil wird repetitiv genannt und kennzeichnet den Konversationsstil in traditionellen Bauernfamilien. Elemente davon, die Mutterzentriertheit und soziale Orientierung kennzeichnen auch den Konversationsstil nicht westlicher städtischer Familien. Auch in der Vorhersage dieses autobiografischen Gedächtnisses finden sich wieder kulturspezifische Zusammenhangsmuster. In städtischen Mittelschichtfamilien ist es nicht die Kindzentriertheit des Spiels, die das auto-

91

92

Heidi Keller

biografische Gedächtnis vorhersagt, sondern ob das 18 Monate alte Kind den Initiativen der Mutter im gemeinsamen Spiel folgt. Zwischen 4 und 6 Jahren fangen Kinder an, sich selbst zu zeichnen. Dabei gibt es interessante kulturelle Gemeinsamkeiten, wie natürlich auch Unterschiede. Die verschiedenen Stadien der Menschzeichnung, Kritzeln, Kopffüßler, Übergangsstadium und realistische Menschzeichnung, sind universell. Das Zeichnenniveau ist auch nicht abhängig von der Übung oder dem Vorhandensein von Materialien – und auch die Proportionen von Kopf und Körper werden überall gleich dargestellt. Allerdings gibt es substantielle Unterschiede in der Darstellung, insbesondere der Größe und der Binnengestaltung der Figuren. Deutsche Mittelschichtkinder zeichnen sich raumgreifend, groß, mit positivem Gesichtsausdruck und im Falle realistischer Darstellungen mit den Armen nach oben ausgerichtet. Die Figur steht auf der Blattkante. Nso Bauernkinder zeichnen sich klein, häufig ohne Gesichtsdetails, häufig den Armen nach unten und irgendwo auf dem Din-A4-Blatt (s. Abbildung 5).

Abbildung 5. Selbstzeichnungen eines deutschen Mädchens und eines Nso Jungen

Mit diesen Merkmalen werden wesentliche Dimensionen des Selbstkonzeptes visualisiert, das individualistische kindzentrierte, emotional expressive Modell des westlichen Mittelschichtkindes und das zurückhaltende, bescheidene Modell des nicht westlichen Bauernkindes. In diesem Entwicklungsabschnitt manifestieren sich weitere bedeutsame Kompetenzen. So lassen sich unterschiedliche Informationsverarbeitungsstrategien feststellen. Das westliche Mittelschichtkind ist in analytischer Wahrnehmung und kategorialer Verarbeitung trainiert. Von den ersten Lebenstagen war es angehalten, Formen und Farben zu unterscheiden und an entsprechenden »pädagogischen« Spielzeugen diese Symbolsprache zu praktizieren und einzuüben. Das nicht westliche Bauernkind hat dagegen eher gelernt, die Umwelt in Funktionen zu begreifen und Zusammenhänge herzustellen. Abstrak-

Entwicklung

tion und Dekontextualisierung stehen Kontextualisierung und Ganzheitlichkeit (Holismus) gegenüber. Zu dem kognitiven Apparat gehört auch exekutive Kontrolle, d.h. die Fähigkeit, kurzfristige Impulse gegenüber längerfristigen Planungen zurückzustellen. Diese Kompetenz ist sehr in den Fokus der (westlichen) Entwicklungspsychologie gerückt, da erfolgreiche exekutive Kontrolle mit vielen positiven Entwicklungskonsequenzen in Beziehung zu stehen scheint.22 Bekannt geworden ist der sogenannte Marshmallow-Test als Untersuchungsparadigma exekutiver Kontrolle. Dabei wird in der Regel sechsjährigen Kindern ein Marshmallow und eine andere beliebte Süßigkeit angeboten mit der Instruktion, dass sie diese sofort essen könnten oder aber warten, bis die Versuchsleiterin zurück käme und dann zwei Marshmallows oder ähnliches bekämen. Das Kind sitzt an einem Tisch in einem Labor, und die Versuchsleiterin verlässt den Raum für 15 oder 20 Minuten. Die Kinder werden währenddessen gefilmt. In der einzigen vergleichenden Untersuchung von westlichen Mittelschichtkindern mit nicht westlichen Bauernkindern haben Bettina Lamm und Kollegen (under review) dramatische kulturelle Unterschiede gefunden. Bei den deutschen Kindern warten 70 % der Kinder nicht, sondern essen die Süßigkeit auf oder knabbern sie an – bei den Nso ist es umgekehrt, 70 % der Kinder warten, so geduldig, dass einige sogar vor der begehrten Süßigkeit einschlafen. Die Verteilungen sind also bedeutsam verschieden, kann man da die gleichen Entwicklungskonsequenzen erwarten? Die Nso Kinder lernen von Geburt an, sich anzupassen, ihre Rolle anzunehmen und nicht mit Eigenaktivitäten die soziale Harmonie zu stören. Die deutschen Mittelschichtkinder lernen ihren eigenen Bedürfnissen und ihrem Willen Priorität einzuräumen. Das heißt also, dass diese Aufgabe völlig Unterschiedliches in den unterschiedlichen Kulturen erfasst. Natürlich folgen noch viele weitere Entwicklungsaufgaben, bis zum Erwachsenenalter ein Selbstkonzept ausgebildet ist, das Hazel Markus und Shinobu Kitayama in einem bedeutsamen Artikel23 im Folgenden charakterisiert haben (s. Abbildung 6). Diese Autoren haben das euroamerikanische Selbstkonzept als independent bezeichnet, d.h. das Selbst ist unabhängig, selbstbestimmt und hat stabile Ich-Grenzen. Es geht Beziehungen mit anderen ein, die dem Selbst näher stehen können oder weiter entfernt sind, wie der Mutter (M), dem Vater (V), Geschwister (Ge) und Freund (Fr), um nur einige Mitglieder eines sozialen Netzwerks zu benennen. Alle anderen verfügen natürlich auch idealerweise über stabile Selbst-Grenzen und definieren die Beziehungen entsprechend aus ihrer Perspektive. Diese Sichtweise auf das Selbst und damit auf die Person 22 | Mischel, Walter: The Marshmallow Test. Understanding self-control and how to master it, London: Bantam Press 2014. 23 | H.R. Markus/S. Kitayama: Culture and the self, S. 224-253.

93

94

Heidi Keller

wird normativ verortet, indem stabile Ich-Grenzen als Zeichen psychischer Gesundheit betrachtet werden. Die Persönlichkeit zeichnet sich durch über Zeit und Raum weitgehend stabile Merkmale aus. Persönlichkeitseigenschaften charakterisieren Personen.

Abbildung 6. Das independente und das interdependente Selbstkonzept nach Markus und Kitayama (1991)

Das interdependente Selbst ist fluide, d.h. die signifikanten Anderen sind Teil des Selbstkonzeptes. Die Weltsicht ist also grundsätzlich kommunal und erfordert die stringente Beachtung von sozialen Rollen und den sich daraus ergebenden Verpflichtungen. »Ich bin weil wir sind« ist ein afrikanisches Sprichwort, das diese Perspektive auf den Punkt bringt. Vermischung (enmeshment) und Symbiose sind die normativen Orientierungen. Die Persönlichkeit ist eher situativ organisiert, in dem die Anpassung an die jeweiligen Kontexte im Vordergrund steht, was dazu führen kann, dass unterschiedliche Meinungen in verschiedenen Situationen vertreten werden. Diese Charakterisierungen sollen nicht darüber hinwegtäuschen, dass Kulturen natürlich keine homogenen Gebilde sind, wo jedes Mitglied über genau das gleiche Verhaltens- und Erlebensrepertoire verfügt. Es gibt überall interindividuelle Variabilität, aber es gibt auch modale Muster, die sich z.B. in den Verteilungen spiegeln. Und natürlich ist die Realität komplexer als es die Darstellung in einem kurzen Beitrag erlaubt.

K ulturelle O rganisation

von

E nt wicklungspfaden

Wir haben argumentiert, dass Entwicklungsaufgaben zentrale allgemeine Themenstellungen darstellen, die sich für Kinder (und Erwachsene) überall auf der Erde stellen, die jedoch unterschiedlich gelöst werden müssen, um

Entwicklung

adaptiv in den jeweiligen Kontexten zu sein. Die inhaltliche Definition und die Betrachtung des Entwicklungsverlaufs in Wissenschaft und Praxis (z.B. Entwicklungstests) ist aber primär an der westlichen Perspektive ausgerichtet. Systematische Informationen aus anderen Kulturen liegen kaum vor. In unserem kulturvergleichenden Forschungsprogramm haben wir Hinweise finden können, dass es systematische und bedeutsame Unterschiede gibt, die sich den folgenden Dimensionen zuordnen lassen: Tempo und zeitliche Abfolge, Stabilität, Dynamik und Gestalt.24 Tempo und zeitliche Abfolge: Das Erreichen von Entwicklungsergebnissen wird aus der Interaktion zwischen Reifungsprozessen und Umwelteinflüssen bestimmt. Die Umwelteinflüsse werden gespeist durch die Beachtung und Betonung kultureller Standards und kultureller Ideale. Wie wir bereits gesehen haben, erkennen sich deutsche Mittelschichtkinder sehr viel eher im Spiegel als kamerunische Nso Bauernkinder. Dazu sind bestimmte biologische Voraussetzungen notwendig, wie etwa ein bestimmter neurologischer Status der Informationsaufnahme und -verarbeitung (der allerdings auch nur in Interaktion mit Umwelteinflüssen erreicht wird). Der Zeitpunkt des Auftretens ist dann aber davon bestimmt, wie stark die vorausgehenden Sozialisationsprozesse auf Individualität und Abgrenzung hin ausgerichtet sind.

Abbildung 7. Einjähriger Junge zeigt Handlungsautonomie, indem er ohne Aufforderung dabei hilft, den Platz zu säubern

24 | S. zusammenfassend H. Keller: Cultures of infancy; sowie H. Keller/J. Kärtner: Development – The culture-specific solution of universal developmental tasks.

95

96

Heidi Keller

Ein anderes Beispiel ist die motorische Entwicklung, insbesondere das Erreichen der grobmotorischen Meilensteine des Sitzens, Stehens und selbstständigen Laufens. Babys in den subsaharischen Dörfern Afrikas werden, wie wir gesehen haben, viel getragen und erfahren damit viel motorische Stimulation. Dazu kommen über den Tag verstreute kurze Episoden, wo sie in vertikaler aufrechter Position rhythmisch auf und ab bewegt werden. In den kurzen Zeiträumen, wo sie eventuell nicht am Körper eines Betreuers getragen werden, werden sie in Behälter oder mit Stoff gepolsterte Erdlöcher auf dem Feld gesetzt, um ein Sitztraining zu absolvieren. Und wenn sie mit 7/8 Monaten keine Anstalten machen, selbstständig zu laufen, werden sie zwischen speziell dafür errichtete Bambusstangen gestellt und trainieren Laufen, immer unter der Supervision älterer Kinder. So können sie im Schnitt mit einem Jahr laufen und schon bald im Alltag behilflich sein, um z.B. mit einer Machete die Abfälle vom Gemüseputzen zusammen zu schieben (s. Abbildung 7). Robert LeVine, ein kulturvergleichender Entwicklungspsychologie der ersten Stunde, hat diese Phänomene »cultural precocity« genannt, was etwa mit »kultureller Frühreife« übersetzt werden kann. Kinder entwickeln die Kompetenzen früh, auf die in ihrer kulturellen Umwelt Wert gelegt wird und die mit entsprechenden Sozialisationsstrategien unterstützt, gefördert und trainiert werden. Der Begriff der cultural precocity ist weniger ethnozentrisch, als wenn wir, wie üblicherweise praktiziert, von motor precocity des subsaharischen Kindes sprechen, was ja eine Bewertung an einem Standard bedeuten würde, also dem durchschnittlichen Entwicklungstempo des westlichen Kindes.25 Stabilität/Instabilität: Entwicklungsergebnisse sind keine On-Off-Phänomene, d.h. sie sind nicht eines Tages da und gehören von diesem Zeitpunkt an zum Verhaltensrepertoire. Vielmehr geht jedem Entwicklungsergebnis eine Phase der Oszillation voraus, wo das Verhalten an einem Tag zu sehen ist, an dem nächsten aber nicht. Wie lange und wie ausgeprägt diese Instabilitätsphasen sind, hängt wiederum davon ab, welcher Sozialisationsdruck auf das Verhalten ausgeübt wird. In Kontexten, in denen die Entwicklung einer Kompetenz nicht im Vordergrund steht, ist anzunehmen, dass die Oszillationsphasen länger und ausgeprägter sind als in Kontexten, wo der frühe Erwerb dieser Kompetenz kulturell bedeutsam ist. Und genau das zeigt sich im Spiegel-Erkennen, wenn wir deutsche Mittelschichtkinder mit Nso Kindern vergleichen – deutsche Kinder haben kürzere Oszillationsphasen mit weniger Variabilität als Nso Kinder.26 25 | LeVine, Robert A./LeVine, Sarah: Do parents matter? New York, NY: PublicAffairs 2016. 26 | Kärtner, Joscha/Keller, Heidi/Chaudhary, Nandita/Yovsi, Relindis (Eds.): »The development of mirror self-recognition in different socio-cultural contexts«, in: Monographs of the Society for Research in Child Development 77(4) (2012).

Entwicklung

Dynamik: Entwicklungsergebnisse mögen in unterschiedlichen kulturellen Umwelten gleich aussehen, aber in unterschiedlichen Dynamiken verankert sein. Wir haben schon gesehen, dass zweijährige Kinder aus Mittelschichtfamilien in Delhi und Berlin gleichermaßen empathisch sind, d.h. eine in Not geratene Person zu trösten versuchen, dass diese Empathie aber unterschiedlich entsteht – in Berlin ist die Selbst-Andere-Unterscheidung, d.h. das kategoriale Selbst, eine notwendige Voraussetzung, während es das in Delhi nicht ist. In Delhi verläuft der Entwicklungspfad offensichtlich anders, nämlich eher situativ vermittelt durch gemeinsame soziale Handlungserlebnisse. Auch die Entwicklung des autobiografischen Gedächtnisses mit 3 Jahren verläuft unterschiedlich in Delhi und Berlin. In Übereinstimmung mit dem kulturellen Modell der psychologischen Autonomie ist mütterliche Responsivität in Spielsituationen mit dem 19 Monate alten Kind, d.h. die Mutter folgt den Initiativen des Kindes, eine entwicklungsförderliche Bedingung, während das in Delhi nicht zutrifft. Dort ist es vielmehr die mütterliche Strukturierung des Spiels, d.h. das Kind folgt den mütterlichen Initiativen, die entwicklungsfördernd wirkt. Dies ist besonders interessant, weil daran auch mit Entwicklungsprozessen verknüpfte normative Orientierungen deutlich werden. In der westlichen Psychologie wird Responsivität, d.h. die Initiative liegt beim Kind, als die Verhaltensstrategie betrachtet, die Kinder in ihrer Entwicklung optimal fördert, während mütterliche Strukturierung als entwicklungshinderlich gilt. Unsere Ergebnisse machen deutlich, dass diese Annahmen kulturspezifisch sind. Gestalt: Die Entwicklung von Bindungsbeziehungen ist ein gutes Beispiel dafür, dass auch Entwicklungsergebnisse kulturspezifisch aussehen können. Das westliche Mittelschichtkind hat mit etwa einem Jahr wahrscheinlich eine emotionale Beziehung in Form eines unverwechselbaren Bandes mit einer spezifischen Bezugsperson entwickelt, in der Regel der Mutter, und möglicherweise wenigen anderen nachgeordneten Beziehungen. Das Bauernkind in vielen Dörfern Afrikas, Südamerikas oder Asiens hat wahrscheinlich ein multiples Netzwerk von verlässlichen Beziehungen, vor allem mit anderen Kindern entwickelt. Damit zusammenhängend ist auch Fremdenfurcht keine Universalie, sondern tritt kontext-/kulturspezifisch auf. In Kontexten mit multiplen Betreuungssystemen werden Kinder von Anfang an daran gewöhnt, mit anderen in Kontakt zu kommen und diese nicht als bedrohlich wahrzunehmen. Das ist natürlich im anonymen Großstadtleben, wo fremden Personen nicht immer friedliche Absichten unterstellt werden können, keine sinnvolle Strategie.

97

98

Heidi Keller

F a zit

und

A usblick

Insgesamt wird deutlich, dass kulturelle Einflüsse auf Entwicklungsprozesse ein sehr komplexes Geschehen darstellen und nicht in den Dimensionen »mehr–weniger« oder »früher–später« abgehandelt werden können. Die Kenntnis kulturspezifischer Einflüsse auf Entwicklung ist substantiell, um Entwicklung aus einer globalen Perspektive zu verstehen. Dieses Wissen ist essentiell, um praktische Anwendungen bedarfsgerecht konzipieren und durchführen zu können. Gegenwärtig sind Therapie und Beratung, Interventionen und erzieherische Prozesse ausschließlich in der westlichen Psychologie begründet, werden aber als allgemein gültig exportiert. So sind die Qualitätsstandards von elementar- und frühpädagogischen Konzepten stringent an psychologischer Autonomie orientiert. Konzepte und Praktiken stehen daher häufig in eklatantem Widerspruch zu den Qualitätsvorstellungen von Familien, die an hierarchischer Relationalität orientiert sind. Die Konsequenz ist, dass Kinder nicht am Bildungssystem beteiligt sind, weil einerseits die Eltern diese Bildungsinstitutionen ablehnen oder aber die Kinder durch die ungewohnten und fremden Praktiken verwirrt sind und sich zurückziehen. Die Ausrichtung therapeutischer und beraterischer Arbeit an dem Modell der psychologischen Autonomie stellt nicht nur für viele Menschen eine unüberwindbare Hürde dar, es kann auch zu sehr bedenklichen Konsequenzen kommen. Menschen, für die der offene Ausdruck von Emotionen inadäquat ist und nicht zu einer gesunden Psychologie gehört, werden dadurch, dass sie dazu angehalten werden, ihre Probleme und Traumatisierungen verbal und emotional auszudrücken, diese nicht nur nicht verarbeiten können, sondern fügen möglicherweise neue hinzu. Dies ist gerade für Menschen mit Fluchtbiografien essentiell. Die Diagnostik auf der Grundlage des Modells der psychologischen Autonomie kann zu gravierenden Fehldiagnosen führen, wenn z.B. Menschen als emotional flach beurteilt werden, wenn sie nicht die gleiche emotionale Grammatik anwenden wie der Diagnostiker oder Therapeut und dann möglicherweise mit Medikamenten behandelt werden, die überhaupt nicht angemessen sind. Migranten wird häufig Mentalisierungsfähigkeit abgesprochen, ohne in Betracht zu ziehen, dass es möglicherweise unterschiedliche Formen des psychischen Funktionierens gibt. Solche Vorkommnisse sind keine pessimistische Spekulation, sondern leider allzu oft Realität. Menschen können unterschiedliche kulturelle Modelle sozusagen unter einen Hut bringen, wenn die Modelle in gleicher Weise in ihrer Umwelt wertgeschätzt werden. Die Entwicklung einer bikulturellen oder multikulturellen Identität ist die gesündere Integrationsstrategie, wie sich in vielen Untersuchungen gezeigt hat – insbesondere der Erhalt der familiären Werte und die lebendige Weitergabe der Herkunftssprache sind protektive Faktoren, die mit höheren Bildungsabschlüssen, besserer ökonomischer Lage, besserer Gesundheit und Wohlbe-

Entwicklung

finden im Aufnahmeland verknüpft sind. Abwertung und Pathologisierung bringen jedoch die unterschiedlichen kulturellen Modelle in Konflikt und verhindern Integration.27 Die Akzeptanz unterschiedlicher kultureller Modelle in einer Gesellschaft trägt zu humaneren Lebensbedingungen bei.

Q uellenverzeichnis Ainsworth, Mary D.S.: Maternal sensitivity scales, www.psychology.sunysb. edu/attachment/measures/content/ainsworth_scales.html vom 1.11.2012. Ainsworth, Mary D.S./Blehar, Mary C./Waters, Everett/Wall, Sally: Patterns of attachment: A psychological study of the strange situation, Hillsdale, NJ: Erlbaum 1978. Arnett, Jeffrey J.: »The neglected 95 %: why American psychology needs to become less American«, in: American Psychologist 63 (2008), S. 602-614. Bischof-Köhler, Doris: Spiegelbild und Empathie. Die Anfänge der sozialen Kognition, Bern: Huber 1989. Bogin, Barry: »The evolution of human childhood«, in: BioScience 40 (1990), S. 16-25. Bowlby, John: Attachment and loss, Vol. 1: Attachment, New York: Basic Books 1969. Garcia Coll, Cynthia/Garrido, Maria: »Minorities in the United States: Sociocultural context for mental health and developmental psychopathology«, in: Arnold J. Sameroff/Michael Lewis/Suzanne M. Miller (Eds.), Handbook of developmental psychopathology, Dordrecht, Netherlands: Kluwer Academic Publishers 2000, S. 177-195, dx.doi.org/10.1007/978-1-4615-4163-9_10. Gottlieb, Alma: The afterlife is where we come from, Chicago: Chicago University Press 2004. Gottlieb, Alma: »Is it time to detach from attachment theory? Perspectives from the West African rain forest«, in: Hiltrud Otto/Heidi Keller (Eds.), Different faces of attachment, Cambridge, UK: Cambridge University Press 2014, S. 187-214. Henrich, Joseph/Heine, Steven J./Norenzayan, Ara: »The weirdest people in the world?«, in: Behavioral and Brain Sciences 33 (2010), S. 61-135. Kärtner, Joscha/Keller, Heidi/Relindis D. Yovsi, R.D.: »Self-recognition in different socio-cultural environments. A cross-sequential study«, Vortrag, gehalten auf dem »Biennial meeting of the Society for Research in Child Development (SRCD)«, Atlanta, GA, USA, April 7-10, 2005. Kärtner, Joscha/Keller, Heidi/Chaudhary, Nandita/Yovsi, Relindis (Eds.): »The development of mirror self-recognition in different socio-cultural contexts«, in: Monographs of the Society for Research in Child Development 77(4) (2012). 27 | Garcia Coll, Cynthia/Garrido, Maria: »Minorities in the United States: Sociocultural context for mental health and developmental psychopathology«, in: Arnold J. Sameroff/Michael Lewis/Suzanne M. Miller (Eds.), Handbook of developmental psychopathology, Dordrecht, Netherlands: Kluwer Academic Publishers 2000, S. 177-195.

99

100

Heidi Keller

Keller, Heidi: Cultures of infancy, Mahwah, NJ: Erlbaum 2007. Keller, Heidi: »Psychological autonomy and hierarchical relatedness as organizers of developmental pathways«, in: Philosophical Transactions B 371 (2016), doi: 10.1098/rstb.2015.0070. Keller, Heidi/Otto, Hiltrud: »Different faces of autonomy«, in: Xinyin Chen/ Kenneth H. Rubin (Eds.), Socioemotional development in cultural context, New York: Guilford Press 2011, S. 164-185. Keller, Heidi/Kärtner, Joscha: »Development – The culture-specific solution of universal developmental tasks«, in: Michele L. Gelfand/Chi-Yue Chiu/ Ying-yi Hong (Eds.), Advances in culture and psychology, Oxford, NY: Oxford University Press 2013, S. 63-116. LeVine, Robert A./LeVine, Sarah: Do parents matter? Why Japanese babies sleep soundly, Mexican siblings don’t fight, and American families should just relax, New York, NY: PublicAffairs 2016. Marey-Sarwan, Ibtisam/Keller, Heidi/Otto, Hiltrud: »Stay close to me. Stranger anxiety and maternal beliefs about children’s socio-emotional development among Bedouins in the unrecognized villages in the Naqab«, in: Journal of Cross-Cultural Psychology 47(3) 2016, S. 319-332. Markus, Hazel R./Kitayama, Shinobu: »Culture and the self. Implications for cognition, emotion and motivation«, in: Psychological Review 98 (1991), S. 224-253. Mischel, Walter: The Marshmallow Test. Understanding self-control and how to master it, London: Bantam Press 2014. Otto, Hiltrud/Keller, Heidi: Different faces of attachment, Cambride, UK: Cambridge University Press 2014. Quinn, Naomi/Mageo, Jeannette M.: Attachment reconsidered: Cultural perspectives on a Western theory, New York, NY: Palgrave Macmillan 2013. Repacholi, Betty M./Gopnik, Alison: »Early reasoning about desires: Evidence from 14- and 18-month-olds«, in: Developmental Psychology 33(1) 1997, S. 12-21. Schaffer, H. Rudolph: »Objective observations of personality development in early infancy«, in: British Journal of Medical Psychology 31 (1958), S. 174-183. Spitz, René: »Anaclitic depression: An inquiry into the genesis of psychiatric conditions in early childhood-II«, in: The Psychoanalytic Study of the Child 2 (1945), S. 313-342. Whiting, Beatrice B./Whiting, John W.M.: Children of six cultures: a psycho-cultural analysis, Cambridge, Mass: Harvard University Press 1975.

A bbildungen Alle Abbildungen/Screenshots: Heidi Keller.

Behinderung, Handicap, Andersartigkeit Zum Umgang mit körperlichen und psychischen Abweichungen Dieter Neubert Das Verhältnis von Behinderung zu Kultur scheint auf den ersten Blick völlig eindeutig zu sein. Wir finden weltweit Menschen mit Behinderung, und so liegt es nahe, Behinderung als ein Universal anzusehen, das nur unwesentlich von Kultur beeinflusst wird. Auch wenn das Phänomen weltweit vorhanden ist, kann die Frage gestellt werden, wie jeweils mit Behinderung umgegangen wird. Schon in unserer Kultur sind unterschiedliche Reaktionen auf Menschen mit Behinderungen festzustellen. Dies zeigt sich bereits im Umgang mit behinderten Kindern. Im Bereich der Schule konkurrieren zwei Modelle, Integration in den normalen Schulalltag und Unterrichtung in Spezialschulen. Im öffentlichen Umgang besteht die Forderung nach Respekt und Gleichstellung. Zugleich sind schwere Behinderungen als ein Grund für einen Schwangerschaftsabbruch akzeptiert, und entsprechende Untersuchungen in der Schwangerschaft gehören zum gängigen diagnostischen Programm. Vereinfacht können wir im Blick auf das Thema Behinderung auch über Deutschland hinaus drei große Trends und Debatten identifizieren: die Forderung nach der Anerkennung von Diversität (diversity), verschärfte Leistungsanforderungen moderner Gesellschaften und Verfestigung eines globalen Konzepts von »Behinderung«. Im Rahmen des Diversitäts-Ansatzes wird Behinderung gemeinsam mit Kennzeichen wie unterschiedliche Hautfarbe, Geschlecht oder sexuelle Orientierung als Teil gesellschaftlicher und individueller Vielfalt angesehen. Beim Konzept der Diversität geht es darum, vermeintlich Abweichenden gegenüber Toleranz, Offenheit und Respekt entgegenzubringen und damit eine konsequente Anerkennung auszudrücken, Diskriminierung zu verhindern sowie Chancengleichheit herzustellen.1 Im Kern steht dabei die Idee der 1 | Terzi, Lorella: »Beyond the dilemma of difference: The capability approach to disability and special educational needs«, in: Journal of Philosophy of Education 39(3) (2005), S. 443-459; Terzi, Lorella: »A capability perspective on impairment, disability

102

Dieter Neuber t

»Normalisierung«2 und die Abkehr von einem Defizite betonenden Behinderungsbegriff.3 Dieses gesellschaftspolitische Programm wird im Bereich der Behinderung durch den konsequenten Einsatz technischer Hilfsmittel unterstützt. Ein Schlüsselbegriff ist dabei die Barrierefreiheit mit Rampen für Gehbehinderte, die Unterstützung von körperlich eingeschränkten Menschen durch hochmobile Rollstühle, Informationen für Sehbehinderte durch Audioansagen und Braille-Schriftzeichen, Bodenmarkierungen sowie elaborierte Seh- und Hörhilfen. Wie erfolgreich dies sein kann, belegt der Umgang mit Sinnesbehinderungen. Brillen, Kontaktlinsen oder Hörgeräte kompensieren die Einschränkungen weitgehend und deren Hinweiswirkungen auf die Einschränkung wurde minimiert. Die Hilfen sind kaum sichtbar (Kontaktlinsen oder stark miniaturisierte Hörgeräte oder Implantate) oder werden wie im Falle von Brillen inzwischen als Modeaccessoire verstanden. Der Erfolg der Idee der Diversität zeigt sich auch an sichtbaren Veränderungen in der Öffentlichkeit. Ein rollstuhlfahrender Finanzminister ist zumindest in Deutschland keine Besonderheit mehr, und der prominente mehrfach eingeschränkte Physiker Stephen Hawking tritt in einer Werbung für Jaguar-Fahrzeuge auf, um die Besonderheit dieser Marke zu unterstreichen. 4 All dies erweckt den Eindruck einer weitgehenden Integration und »Normalisierung«. Dieser Erfolgsgeschichte steht die Verschärfung von Leistungsanforderungen in der modernen Gesellschaft und Wirtschaft entgegen. Postindustrielle, kapitalistische Gesellschaften zeichnen sich dadurch aus, dass im Berufsleben zwar körperlich hart arbeitende Berufe an Bedeutung verloren haben, auf der anderen Seite aber generell unabhängig von schwerer körperlicher Arbeit hohe körperliche Leistungsanforderungen anderer Art gestellt werden. Es geht um hohe Konzentrationsfähigkeit, hohe Arbeitsintensität und zunehmende Anforderungen an die Qualifikation der Mitarbeiter. Dies bedeutet einen Wegfall einfacher Arbeitsplätze, hinzu kommt ein wachsender Konkurrenzdruck. Dies schränkt die Verfügbarkeit von Nischen im Arbeitsmarkt für Schwerbehinderte ein. Zugleich fordern die gesteigerten Leistungsanforderungen auch gut qualifizierte Behinderte in besonderem Maß. Diese zusätzlichen Anforderungen und Einschränkung auf dem Arbeitsmarkt werden nur zum Teil dadurch and special needs. Towards social justice in education«, in: Theory and Research in Education 3(2) (2005), S. 197-223. 2 | Bösl, Elsbeth: Politiken der Normalisierung, Bielefeld: transcript 2009. 3 | Linton, Simi/Mello, Susan/O’Neill, John: »Disability Studies: Expanding the parameters of diversity«, in: The Radical Teacher 47 (1995), S. 4-10; etwas skeptischer Wansing, Gudrun: »Konstruktion — Anerkennung — Problematisierung: Ambivalenzen der Kategorie Behinderung im Kontext von Inklusion und Diversität«, in: Soziale Probleme 25(2) (2014), S. 209-230. 4 | https://www.youtube.com/watch?v=XYkcuxw4aJM vom 31.10.2016.

Behinderung, Handicap, Andersar tigkeit

kompensiert, dass es zunehmend sitzende Tätigkeit gibt und Digitalisierung auch behindertengerechte Arbeitsplätze leichter möglich macht. Der dritte Trend den es zu berücksichtigen gilt, ist die Verfestigung eines globalen Konzepts von Behinderung. Nach der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist Behinderung ein Oberbegriff, der Schädigung, Beeinträchtigung der Aktivität und Beschränkung von Partizipation umfasst. Demnach ist Behinderung nicht nur ein Gesundheitsproblem, sondern ein komplexes Phänomen, das Eigenschaften des Körpers und Eigenschaften der Gesellschaft miteinander verknüpft.5 Die Überwindung der Probleme von Menschen mit Behinderung erfordert die Beseitigung von Umwelt- und sozialen Barrieren. Behinderung umfasst nach WHO Einschränkungen des Körpers, einschließlich des Gehirns und der Sinne. Dies entspricht im Wesentlichen dem bei uns gängigen Konzept von Behinderung. Das Besondere an der WHO-Definition und Klassifikation ist, dass sie weltweite Geltung beansprucht. Dies verfestigt, und das ist beabsichtigt, eine weltweit einheitliche Vorstellung von Behinderung. Damit erscheint Behinderung in diesem Sinne als eine nicht hintergehbare und wissenschaftlich begründete Wirklichkeit. »Behinderung als Problem« wird damit zu einem einheitlichen globalen Phänomen. Dies widerspricht im Kern der Vorstellung von Diversität, denn Behinderung wird mit der WHO-Definition eben als nicht normal und problematisch angesehen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob »Diversität« lediglich eine normative Illusion ist. Gerade die Übereinstimmung der globalen WHO-Definition mit unserer gängigen Vorstellung von Behinderung unterstreicht die Besonderheit von Behinderung und widerspricht der Normalisierungsidee des Diversitätskonzepts. Es soll hier nicht darum gehen, den Widerspruch zwischen dem normativen Ziel der Normalisierung und der sozialpolitischen Verantwortung der Unterstützung von Menschen mit Behinderung weiter zu diskutieren oder gar aufzulösen. Hier wird vielmehr die Frage verfolgt, ob unsere Annahme der Universalität des Phänomens Behinderung tatsächlich zutreffend ist. Eine klassische kulturvergleichende Studie zum heutigen Zeitpunkt ist mit dem Problem konfrontiert, dass das globale Konzept von Behinderung, wie es von der WHO seit einigen Jahrzehnten propagiert wird, in sehr unterschiedliche Kulturen hineinwirkt und es methodisch kaum noch zu erschließen ist, was Teil des globalen Behinderungskonzepts ist und was auf lokale kulturspezifische Vorstellungen zurückgeht. Dieses Problem verschärft sich zudem dadurch, dass durch den globalen Kolonialismus und der damit verbundenen Verbreitung von westlichen Werthaltungen dieser Prozess bereits Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts begonnen hat. Wenn nun ein Kulturvergleich vorgenommen werden soll, so ist es angeraten, sich auf Material zu stüt5 | World Health Organization (Hg.): ICF. International Classification of Functioning, Disability and Health, Genf: World Health Organization 2001, S. 3.

103

104

Dieter Neuber t

zen, dass Kulturen vor den massiven Einflüssen durch den Norden beschreibt. Entsprechendes Material finden wir vor allem in frühen Ethnographien und zum Teil auch in historischen Arbeiten zu Europa. Genau dieses Material soll im Folgenden ausgewertet werden, wobei auf eine ethnologische Datenbank, die »Human Relation Area Files« zurückgegriffen wird.6 Denn dies erlaubt einen Blick auf Behinderung bevor eine zunehmend global vereinheitlichte Vorstellung von Behinderung wirksam wurde. Die Grundlage für diesen Beitrag bildet eine bereits lange zurückliegende Studie,7 mit der zum ersten Mal ein breit angelegter Vergleich durchgeführt wurde. Bemerkenswerterweise ist dieses Vorhaben bisher nicht wiederholt worden. Auch wenn jüngerer Zeit ein gewisses Interesse auch innerhalb der Ethnologie an Behinderung zu beobachten ist, sind die meisten Studien auf jeweils eine Gesellschaft oder Ethnie bezogen. Interessant ist in diesem Zusammenhang ein ebenfalls schon älterer Sammelband von Benedicte Ingstad und Susan Reynolds Whyte, 8 in dessen Einleitung auch einige vergleichende Überlegungen angestellt werden. Ansonsten ist Behinderung im Globalen Süden vor allem ein Thema der Entwicklungs- und Gesundheitspolitik. In Deutschland ist dabei auf die Zeitschrift »Behinderung und Internationale Entwicklung/Disability and International Development«9 hinzuweisen, die sich vor allem auf aktuelle entwicklungs-, bildungs- und sozialpolitische Themen bezieht. Da somit bislang kaum oder gar keine systematisch vergleichenden Arbeiten vorliegen, soll an dieser Stelle nochmals auf die ältere Arbeit zurückgegriffen werden. Zudem bezieht sich die vergleichende Studie auf alte Arbeiten, die vorkoloniale bzw. wenig beeinflusste Konstellationen untersuchen. Somit hat sich auch die Informationslage kaum verbessert, denn neue empirische Studien finden eben unter radikal veränderten Bedingungen statt. Bevor nun die Ergebnisse der Studie zusammengefasst und diskutiert werden können, ist es notwendig, eine entsprechend interkulturell anwendbare Begrifflichkeit zu entwickeln sowie einige Informationen zum methodischen Vorgehen zu geben. Bei der Darstellung der empirischen Ergebnisse wird erstens das Phänomen Behinderung im interkulturellen Vergleich behandelt und gefragt, was als Behinderung angesehen wird. In einem zweiten Schritt erfolgt dann der Vergleich der sozialen Reaktionen auf Menschen mit Behinderung. Auf dieser Basis lassen sich dann Folgerungen für die Stellung von Behinder6 | Siehe den späteren Abschnitt »Die Studie«. 7 | Neubert, Dieter/Cloerkes, Günther: Behinderung und Behinderte in verschiedenen Kulturen: eine vergleichende Analyse ethnologischer Studien, Heidelberg: Winter 2001 [1987]. 8 | Ingstad, Benedicte/Reynolds Whyte, Susan (Hg.): Disability and Culture, Berkeley: University of California Press 1995. 9 | http://www.zbdw.de vom 31.10.2016.

Behinderung, Handicap, Andersar tigkeit

ten nicht nur in den untersuchten Gesellschaften, sondern auch für unsere Gesellschaft ziehen. Den Abschluss bilden Überlegungen dazu, inwieweit uns die Befassung mit dem Phänomen Behinderung helfen kann, auch die Frage kultureller Fremdheit in unserer Gesellschaft zumindest aus einer anderen Perspektive zu beleuchten.

A uf

der

S uche

nach einer

B egrifflichkeit

Die Herausforderung bei der Suche nach einer Begrifflichkeit besteht darin, Begriffe zu entwickeln, die einerseits das Phänomen Behinderung adäquat erfassen, andererseits jedoch nicht von vornherein durch eine kulturspezifische Vorstellung präformiert sind.10 Beginnen wir mit den gängigen Begriffen, die in der Wissenschaft verwendet werden. »Behinderung« verweist auf eine erkennbare Einschränkung und betont zugleich deren Bedeutung. »Behinderte« sind dann Menschen mit dieser Einschränkung, deren Leben durch diese Einschränkung mitbestimmt wird, so dass die Einschränkung zum festen Bestandteil des Menschen wird. Oftmals wird der Mensch sogar über diese Einschränkung bestimmt. Der neuerdings häufiger gebrauchte Begriff »Handicap« versucht genau diese Verbindung zwischen Person und Einschränkung aufzulösen und betont die Möglichkeit, die Folgen der Einschränkung zu überwinden. Alle diese Begriffe implizieren letztlich einen Bezug auf wissenschaftliche, biomedizinische Kategorien. Damit wird unterstellt, dass dies universelle Kategorien sind und somit eben allgemein gelten. Genau dies ist der Hintergrund für die von der WHO propagierte globalisierte Vorstellung von Behinderung. Wenn wir nun eine Begrifflichkeit für den interkulturellen Vergleich entwickeln wollen, können wir diese Kategorie nicht unhinterfragt anwenden. Denn es geht ja auch darum, kulturspezifische Vorstellungen zu berücksichtigen. Dieser Unterschied zwischen universellen Kategorien und kulturspezifischen Kategorien wird in der Ethnologie mit dem Begriffspaar »etisch« und »emisch« benannt. Diese Unterscheidung lehnt sich an die vergleichende Sprachwissenschaft an. Innerhalb der Sprachwissenschaft gibt es die Phonetik, eine systematische Erfassung aller menschlichen Sprachlaute. Die Phonetik ist somit ein universelles System, das es erlaubt, alle Laute aus allen Sprachen zu klassifizieren und zu benennen. Die kulturspezifischen Besonderheiten der jeweiligen Sprache beziehen sich unter anderem auch auf spezifische Lautverbindungen, wie die deutschen Umlaute, den Phonemen. Kenneth Pike hat auf diese Differenzierung zurückgegriffen und bezeichnet lokale Vorstellungen 10 | Siehe im folgenden D. Neubert/G. Cloerkes: Behinderung und Behinderte in verschiedenen Kulturen, S. 32-36.

105

106

Dieter Neuber t

angelehnt an den Begriff des »Phonems« als »emisch« und universal verwendbare Kategorien angelehnt an den Begriff der »Phonetik« als »etisch«.11 Es gilt nun eine Begrifflichkeit zu finden, die den verschiedenen Perspektiven gerecht wird, und zugleich erlaubt, einen vergleichenden Standpunkt einzunehmen, dessen Begrifflichkeit universell anwendbar sind. Berry schlägt dafür ein schrittweises Vorgehen für die Entwicklung etischer Begriffe vor.12 Für die Entwicklung einer etischen Definition von Behinderung heißt dies, dass ausgehend von einer Kultur der dort verwendete Behinderungsbegriff mit einer weiteren Kultur verglichen und angepasst wird, so dass auch die dort vorhandenen Vorstellungen von diesem Begriff mit abgedeckt werden. Dies wird mit weiteren Kulturen gleichermaßen wiederholt, so dass daraus ein universell nutzbarer »etischer« Begriff abgeleitet werden kann (derived etic). Dahinter steckt somit eine schrittweise Abstraktion des ursprünglich konkreten Behinderungsbegriffs einer Kultur. Im Grunde handelt es sich um einen iterativen Prozess, bei dem Phänomene und Begriffe unterschiedlicher Kulturen verglichen werden. Ohne den Prozess hier im Einzelnen nachzuzeichnen, ergibt sich eine abstraktere begriffliche Fassung als der globalisierte Behinderungsbegriff der WHO, der auch in unserer Kultur Verwendung findet. Um Behinderung zu bestimmen, wird zunächst von »Andersartigkeit« ausgegangen. Eine »manifeste Andersartigkeit« ist hier ein Merkmal im körperlichen, geistigen oder psychischen Bereich einer Person, das häufig Spontanreaktionen auslöst bzw. Aufmerksamkeit hervorruft (Stimulusqualität). Entscheidend dabei ist nicht das Phänomen selbst, sondern die dadurch ausgelöste und beobachtbare Reaktion. Aber nicht alle Andersartigkeiten müssen in allen Kulturen gleichermaßen Spontanreaktionen auslösen. Andersartigkeit, die in zumindest einer Kultur eine Stimulusqualität in diesem Sinne hat und somit dort eine Reaktion auslösen kann, soll eine »potentielle Andersartigkeit« genannt werden. Potentielle Andersartigkeiten in diesem Sinne sind zum Beispiel Blindheit, Gehörlosigkeit, große Tattoos im Gesicht, Gesichtsentstellungen, Unfruchtbarkeit, Hysterie aber auch außergewöhnliche Körperkraft, großer Wuchs, Intelligenz oder eine schöne Stimme. Schon diese Aufzählung zeigt, dass Andersartigkeit auch positiv bewertet werden kann. Zumindest in Europa und Nordamerika sind Intelligenz oder eine schöne Stimme sehr wünschenswerte Eigenschaften. Der Vergleich bezieht sich somit auf potentielle Andersartigkeit, so dass überhaupt festgestellt werden kann, auf was überhaupt reagiert 11 | Pike, Kenneth L.: »Etic and emic standpoints for the description of behavior«, in: Donald C. Hildum (Hg.), Language and thought: an enduring problem in psychology, Princeton, NJ: D. Van Norstrand Company 1967, S. 32-39. 12 | Berry, John W.: »On cross-cultural comparability«, in: International Journal of Psychology 4(2) (1969), S. 119-128.

Behinderung, Handicap, Andersar tigkeit

wird und in welcher Form. Denn es kann durchaus sein, dass eine spezifische Andersartigkeit in einem kulturellen Kontext eher abgelehnt, in einem anderen Kontext jedoch möglicherweise erwünscht ist. Als »Behinderung« werden hier manifeste Andersartigkeiten, denen ein entschieden negativer Wert zugeschrieben wird, angesehen. Kurz gefasst ist eine Behinderung eine »unerwünschte Andersartigkeit«. Die entsprechende Negativbewertung ist erkennbar durch konkretes Verhalten wie Vorsichtsmaßnahmen, Heilungs- oder Behandlungsversuche, ausgeprägtes Mitleid, diskriminierende Reaktionen, Extremreaktionen (Tötung, Ausstoßung), Selbsttötung, Erklärungen und Deutungen der Andersartigkeit als Strafe oder als Merkmal für ein schuldhaftes Verhalten. All diese Reaktionen sind in den untersuchten Kulturen in unterschiedlicher Häufigkeit dokumentiert. Eine weitere begriffliche Klärung ist notwendig. Der Begriff Behinderung verweist auf die negative Reaktion, die sich zunächst ausschließlich auf die negative Bewertung des Phänomens bezieht. Behinderte sind Menschen mit einer solchen Behinderung. Diese Unterscheidung ist wichtig, denn selbst wenn ein Phänomen und somit eine Eigenschaft einer Person als unerwünscht angesehen wird, also die Person eine Behinderung hat, muss dies nicht automatisch zu einer Benachteiligung der Person führen. Diese Trennung zwischen Phänomen und Reaktion liegt auch dem Begriff des Handicaps zu Grunde. Schließlich muss noch das Verhältnis von Krankheit und Behinderung geklärt werden. Im Grunde ist dies einfach: eine Krankheit ist eine vorübergehende Einschränkung, eine Behinderung hingegen dauerhaft. Einschränkungen, die durch chronische und dadurch dauerhafte Krankheiten bewirkt werden, sind in diesem Sinne also eine Behinderung. Auch Krankheiten, die eine dauerhafte Einschränkung zur Folge haben, zum Beispiel Kinderlähmung, führen dann zu Behinderung. Unklar ist die konkrete Abgrenzung im Falle von Krankheiten unbestimmter Dauer. Bei diesen unklaren Fällen wird die jeweils lokale Deutung herangezogen, bzw. werden lange Krankheiten mit ungewissem Ende als Behinderung behandelt.

D ie S tudie Die Studie beruht, wie bereits benannt, vor allem auf der ethnologischen Datenbank »Human Relation Area Files«. Die Datenbank wurde in den 1950er Jahren mit dem Zweck des systematischen Kulturvergleich aufgebaut und beinhaltete 200 unterschiedliche Kulturen vor allem aus dem Globalen Süden aber auch basierend auf historischen Quellen aus Europa. Für diese Kulturen wurden jeweils die vorhandenen relevanten Quellen zur Beschreibung der jeweiligen Kultur vollständig erfasst, auf Mikrofiche kopiert und durch ein

107

108

Dieter Neuber t

umfangreiches Indexsystem erschlossen.13 Mit dieser Datenbank, die inzwischen auch digitalisiert vorliegt,14 ist es somit möglich, zu bestimmten Stichworten quer durch die 200 vorhandenen Kulturen entsprechende Textstellen zu identifizieren. Genau dies ist die Grundlage der Studie, deren Ergebnisse hier vorgestellt werden. Dazu wurde eine umfangreiche Liste von Stichwörtern erstellt, die auf potentielle Andersartigkeit hinweisen können. In einem zweiten Schritt konnte anhand des Index bestimmt werden, zu welchen Kulturen Textquellen mit entsprechenden Stichwörtern vorhanden sind. Insgesamt wurden auf diese Weise 25 Kulturen aus Asien, Afrika, Süd- und Mittelamerika, Nordamerika, Ozeanien und Europa ausgewählt, bei denen Informationen zu potentieller Andersartigkeit bzw. zu Behinderung vorlagen. Die Spannbreite der unterschiedlichen Kulturen reicht von Jäger- und Sammlerinnen-Gesellschaften über pastorale Gesellschaften bis hin zu Ackerbauern und komplexen historischen Staaten. Bis auf die Kultur in der Datenbank, die als »Römer/Griechen« bezeichnet wird, sowie Azteken und Inka, stützen sich alle Informationen auf Ethnographien. Alle Textstellen mit einem potentiellen Bezug auf Andersartigkeit wurden dann systematisch ausgewertet. Durch diese Arbeitsweise liegt der Auswertung eine große Zahl höchst unterschiedlicher Ethnographien und historischer Quellen zu Grunde. Um den Text lesbar zu halten, wird bei der Vielzahl der Einzelangaben hier in der Regel auf die entsprechenden Literaturhinweise verzichtet.15 Das Sample ist somit keine Zufallsauswahl, sondern bezieht genau die Gesellschaften ein, über die entsprechende Informationen innerhalb der Datenbank vorlagen und muss – wie bei qualitativen Studien üblich – vor allem den Anforderungen an eine Sättigung sowie der Gewährleistung eines hinreichenden Kontrasts der Befunde genügen. Wie man bei der Auswertung sehen wird, bietet diese Auswahl ein beträchtliches Maß an unterschiedlichen Vorstellungen und Reaktionen, so dass dies als Grundlage für allgemeinere Aussagen über die Variation der Bestimmung von Behinderung und des Umgangs mit Behinderten getroffen werden können (Kontrastreichtum). Zugleich gibt es weithin erkennbare Muster, die sich über die Kulturen hinweg identifizieren lassen (Sättigung). Die Informationen 13 | Lagacé, Robert O.: Nature and use of the HRAF files a research and teaching guide, New Haven, Conn.: Human Relations Area Files 1974; Murdock, George Peter: Outline of cultural materials, New Haven, Conn.: Human Relations Area Files 1961; Schweizer, Thomas: »Interkulturelle Vergleichsverfahren«, in: Hans Fischer (Hg.), Ethnologie eine Einführung, Berlin: Reimer 1983, S. 427-443. 14 | http://ehrafworldcultures.yale.edu vom 31.10.2016 (in Deutschland durch die DFG lizensiert). 15 | Eine kurze Beschreibung der jeweiligen Kulturen sowie eine vollständige Bibliografie findet sich in der Originalveröffentlichung D. Neubert/G. Cloerkes: Behinderung und Behinderte in verschiedenen Kulturen.

Behinderung, Handicap, Andersar tigkeit

aus der Datenbank wurden mit Blick auf spezifische Andersartigkeiten durch eine größere Zahl von Einzelveröffentlichungen zu anderen Kulturen sowie vergleichenden bzw. historische Arbeiten zur Medizin- und Altersethnologie zu Behinderung ergänzt.16

B ehinderung

im interkulturellen

V ergleich 17

Im ersten Schritt des Vergleichs stehen unerwünschte Andersartigkeiten im Zentrum, also Behinderungen. Die Darstellung folgt dabei einer Strukturierung nach den unterschiedlichen Phänomengruppen. Der Bereich der in den untersuchten Quellen nahezu durchgängig mit Behinderung verbunden wird, sind körperliche Andersartigkeiten. Extreme Deformationen wie etwa fehlende Gliedmaßen oder Körperteile (Augen, Mund) und deutliche körperliche Funktionseinschränkung sind nahezu generell unerwünscht (NC 38f.). Dagegen werden körperliche Andersartigkeiten mit geringer oder ohne Funktionseinschränkung nicht einheitlich bewertet (NC 39f.). Negative Bewertung finden sich bei Veränderungen im Gesicht, aber auch bei großem Körperwuchs im Falle der kleinwüchsigen !Kung San (Buschleute) oder weiße Zähne (Yap), Abweichungen von üblicher Behaarung und Schmalhüftigkeit bei Frauen (Chagga) sowie Albinismus und (Brand-)Narben (Yahgan, Araukanier). Es gibt aber auch positive Bewertung von Pockennarben (Sinteng). Zusätzliche 16 | U.a. Clark, Margaret: »Contributions of cultural anthropology to the study of the aged«, in: Laura Nader/Thomas W. Maretzki (Hg.), Cultural illness and health, Washington: American Anthropological Association 1973, S. 78-88; Glascock, Anthony P./ Feinman, Susan L.: »Social asset or social burden: An analysis of the treatment for the aged in non-industrial societies«, in: Christine L. Fry (Hg.), Dimensions: Aging culture and health, New York: Praeger 1981, S. 13-31; Hanks, Jane R./Hanks, Lucien M.: »The physically handicapped in certain non-occidental societies«, in: Journal of Social Issues 4 (1948), S. 11-20; Lowenfeld, Berthold: The changing status of the blind. From separation to integration, Springfield, Ill.: Thomas, 1975; Zedlitz, Helmut: »Verehrt, gefürchtet, ausgestoßen. Die Stellung des Behinderten in der Geschichte«, in: Evangelische Akademie Baden (Hg.), Unsichtbare Schranken. Angst vor Behinderten, Karlsruhe 1982, S. 4-13; siehe dazu auch die ausführliche Bibliographie in D. Neubert/G. Cloerkes: Behinderung und Behinderte in verschiedenen Kulturen, S. 125-137. 17 | Die Darstellung in diesem und dem folgenden Abschnitt bezieht sich ausschließlich auf die Befunde in D. Neubert/G. Cloerkes: Behinderung und Behinderte in verschiedenen Kulturen. Aufgrund des dort verarbeiteten Umfangreichen Materials, wird hier in der Regel nicht auf die zugrunde liegenden Originalquellen Bezug genommen, sondern lediglich auf die entsprechenden Seite in Neubert/Cloerkes, kurz »NC«, verwiesen.

109

110

Dieter Neuber t

Fingern galten mitunter als positives Omen (Araukanier) und die Niwchen, eine Gruppe, die sich vornehmlich mit Kajaks bewegte, schätzen einen extrem ausgebildeten Oberkörper bei kleinem Unterkörper. Einschränkung der Sinnesfunktionen wie Sehbehinderungen oder Blindheit, Gehörlosigkeit oder Sprachbehinderung werden weitgehend negativ bewertet; dies gilt auch für Albinismus (NC 40f.). Veränderungen im Bereich der Sexualorgane und der Sexualität wiederum weisen teilweise sehr unterschiedliche Bewertung auf. Überwiegend wird Unfruchtbarkeit, die zumeist Frauen zugeschrieben wird, negativ bewertet. Es gibt nur wenige Ausnahmen (z.B. Ojibwa, Yap) (NC 42). Dagegen wird Unfruchtbarkeit in modernen Industriegesellschaften deutlich von Behinderung unterschieden und ist, wie wir wissen, oft durchaus erwünscht. Transsexualität wird als Andersartigkeit immer wahrgenommen aber mit durchaus ambivalenter Bewertung. Diese Ambivalenz zeigt sich gleichermaßen für Intersexualität (Hermaphrodismus), deren Bewertung von Bedrohung, die zu Infantizid führt (Chagga), bis hin zur Zuschreibung spezifischer, positiver Eigenschaften reicht (Niwchen, Navaho) (NC 43f.). Psychische Andersartigkeiten werden überwiegend erkannt und häufig auch negativ bewertet, wobei die Ethnographien die Phänomene zumeist nur sehr allgemein beschreiben. In einigen Ethnien gibt es spezifische lokale Begriffe (Yap, Lepcha, Fellachen, Ojibwa) (NC 45). Es finden sich aber auch wichtige Ausnahmen. Hysterische Phänomene, Trance oder Ekstase erfahren eine höchst ambivalente Bewertung mit jeweils einer spezifischen Bedeutung. Diese Phänomene können als Besessenheit interpretiert werden, bei der die besessene Personen entweder Opfer oder in anderen Fällen Kontrolleur des Geistes sind. Im letzteren Fall kann diese Kraft zur Heilung von Krankheiten eingesetzt werden (Navaho, Niwchen, Ojibwa, Samen, Toda) (NC 46). Geistige Andersartigkeit, in der Regel als geistige Schwäche unterschiedlichen Grades, wird ebenfalls überwiegend wahrgenommen und auch im Falle leichter Einschränkung eindeutig negativ bewertet (NC 44). Alte Menschen und der mit dem Alter einhergehende Altersprozess sind generell akzeptiert, und in vielen Gesellschaften ist das Alter eine wichtige Voraussetzung dafür, Führungs- und Ritualpositionen zu übernehmen. Alter wird dabei generell respektiert und geschätzt, und vor allem in den Gesellschaften, in denen gerade Alte besondere Positionen übernehmen, erhält Alter eine eindeutig positive Bewertung. Ausgeprägte Altersschwäche und damit einhergehende Einschränkungen sowie Senilität oder Demenz sind hingegen durchgängig unerwünscht (NC 47). Interessant ist aber auch der Blick auf weitere potentielle Andersartigkeiten, über die zwar nur in Einzelfällen berichtet wird, die aber zeigen, wie breit das Feld von Andersartigkeiten sein kann. Dazu gehören Linkshändigkeit (Navaho, Chagga) einschließlich konkreter Berichte über Ablehnung, aber auch

Behinderung, Handicap, Andersar tigkeit

Phänomene wie unübliche Geburten (Fußgeburt, Chagga) oder Zwillingsgeburten. Gerade Zwillingsgeburten werden wiederum sehr unterschiedlich bewertet: teilweise erfahren sie besondere Wertschätzung, in anderen Fällen hingegen werden einer oder sogar beide der Zwillinge vernachlässigt oder getötet (Araukanier, Bali, !Kung San, Chagga, Murngin, Nootka, Yoruba). In einigen Fällen mussten sich die Eltern Reinigungszeremonien unterziehen, unabhängig davon, ob ein oder beide Zwillingen am Leben blieben (Navaho, Yap) (NC 48f.). Führt man diese Befunde zusammen, so lässt sich ein universeller Kern unerwünschter Andersartigkeiten erkennen, der durchaus der biomedizinischen Behinderungsdefinition entspricht. In diese Gruppe fallen erhebliche körperliche Funktionseinschränkungen, deutliche Einschränkung der Sinnesfunktion, starke Altersbeeinträchtigungen und starke geistige Beeinträchtigungen. Wiederum sind aber wichtige Abweichungen zu berücksichtigen. Anders als in Europa gilt Unfruchtbarkeit in den meisten Kulturen als unerwünschte Andersartigkeit; und dieses Phänomen entspricht durchaus dem, was wir als Behinderung bezeichnen. Bei anderen Phänomenen ist die Bewertung weitaus uneinheitlicher; dazu gehören psychische Abweichungen, weniger ausgeprägte körperliche Andersartigkeit, unübliche Geburten und eine Reihe anderer Fälle.

S oziale R e ak tion

auf

B ehinderte

Die Einordnung als unerwünschte Andersartigkeit bezieht sich auf negative Spontanreaktionen, aus denen hervorgeht, dass das Phänomen unerwünscht ist. Dies darf aber nicht mit dem Umgang mit den entsprechenden Menschen, die von der unerwünschten Andersartigkeit betroffen sind, gleichgesetzt werden. Genau dieser Umgang und dessen breites Spektrum sind Gegenstand dieses zweiten Schrittes der Analyse. Auffällig ist, dass die unterschiedlichen Formen des Umgangs kaum systematisch durch die jeweiligen Andersartigkeiten vorgegeben sind. Deshalb erfolgt hier die Darstellung nach unterschiedlichen Formen des Umgangs. Die deutlichste negative Form des Umgangs mit Menschen mit unerwünschten Andersartigkeiten sind »Extremreaktionen«. Dazu gehört aktive Tötung sowie »passive Tötung« durch Vernachlässigung; sie findet sich besonders häufig bei missgestalteten Neugeborenen oder Neugeborenen mit starken Funktionseinschränkungen (Araukanier, !Kung San, Chagga, Fang, Lepcha, Navaho, Römer/Griechen, Yap) (NC 57) sowie auch bei geistig behinderten Kindern (Araukanier, Ojibwa) (NC 66). Dagegen werden Menschen mit erworbenen Körperbehinderungen so gut wie nie aktiv getötet. Das Gleiche gilt bei Blindheit und Gehörlosigkeit, die häufig erst deutlich nach der Geburt

111

112

Dieter Neuber t

entdeckt werden (NC 58, 61). Extrem aggressive psychisch Behinderte werden mitunter ausgesetzt (NC 69). Sehr selten gibt es Berichte zum Aussetzen von Alten und Schwachen. Die entsprechenden Quellen sind häufig recht alt und ungenau (Chagga, Fang). Es gibt allenfalls Hinweise auf Einzelfälle, in denen kaum ein anderer Ausweg gesehen wird, wobei dann diese Reaktionen als extrem belastend für die Gruppe angesehen werden (!Kung San, Samen). Eine Reihe der Fälle, die als Aussetzen beschrieben wurden, behandeln wohl eher ein freiwilliges Zurückbleiben der Kranken oder Schwachen (NC 72f.). Weitaus häufiger als diese Extremreaktionen sind »Schutz- und Hilfeaktionen«. Extreme Formen sind der Ausschluss aus dem Gruppenleben bei gleichzeitiger zumindest minimaler Versorgung. Dazu gehört das Einsperren psychisch Kranker oder die Isolation ansteckend Kranker (Niwchen, Navaho) (NC 68). In Einzelfällen wird dies auch für geistig Behinderte berichtet (Pokot) (NC 66). Die meisten Berichte beziehen sich auf Pflege und Versorgung der Behinderten, selbst dann, wenn dies eine hohe Belastung für die Gruppe darstellt; dies gilt sowohl für körperliche als auch für geistige Einschränkungen (NC 58, 61, 67, 69). Die Versorgung ist teilweise durch besondere Schutzregeln für die entsprechenden Behinderten normativ geregelt (Chagga) (NC 60). Ein Beispiel für die Mühe, die eine entsprechende Versorgung erfordern kann, gibt es für die !Kung San. Ein Bericht zu dieser nomadischen Jäger- und Sammlerinnen-Gruppe beschreibt, dass ein Schwerkranker über ein Jahr auf alle Wanderungen mitgenommen, getragen und gepflegt wurde (!Kung San) (NC 58).18 Einige der Berichte verweisen auch auf eine Versorgung Behinderter in spezialisierten Einrichtungen wie in einer Missionsstation, einer Klinik oder einem Heim hin (NC 69). Dieses Beispiel zeigt, wie die Präsenz anderer Angebote und anderer normativer Vorstellungen in das lokale Leben eingebunden wird. Neben den Schutz- und Hilfe-Aktionen zeigen sich auch »Einschränkungen der Partizipation«. Dazu kann der Verlust von Führungsrollen gehören, der Ausschluss von Ritualen oder eingeschränkte Heiratsfähigkeit. Diese Art von Einschränkungen ist besonders bei körperlichen Funktionsminderungen und bei der Beeinträchtigung der Sinnesorgane sowie bei geistiger Behinderung und manchen psychischen Abweichungen zu erkennen (NC 58f., 61f.). Wichtig ist erneut zu betonen, dass entsprechende Einschränkungen, besonders der Verlust der Heiratsfähigkeit, gerade bei Unfruchtbarkeit zu beobachten sind (NC 64, 66f.). Dieses ist ein weiterer Hinweis darauf, dass Unfruchtbarkeit im interkulturellen Vergleich als Behinderung betrachtet werden muss. Manche der Benachteiligungen können aber auch eine unbeabsichtigte Bevorzugung bewirken. Beispielsweise wurden schwächliche oder körperbehinderte Kinder in eine Missionsschule geschickt, da sie für die Feldarbeit ungeeignet waren.

18 | Thomas, Elizabeth M.: The harmless people, New York: Knopf 1959, S. 213.

Behinderung, Handicap, Andersar tigkeit

Dies erwies sich für einen späteren Aufstieg innerhalb des modernen Systems als ein großer Vorteil (Navaho) (NC 59).19 Interessant sind aber auch Fälle der Modifikation der Partizipation, die besonders dann vorkommen, wenn die unerwünschte Andersartigkeit keine ausgeprägte Hilfsbedürftigkeit mit sich bringt. Eine weit verbreite Form sind verminderte Leistungsanforderungen oder spezifische Freiheiten, was gerade im Falle geistiger Behinderung berichtet wird (NC 67). Eine andere Art der Modifikation der Partizipation sind »Sonderrollen« wie zum Beispiel als Heiler oder ritueller Experte. In beiden Fällen nehmen gerade Menschen mit körperlichen Besonderheiten solche Rollen ein. So wird von Heilern bzw. rituellen Experten berichtet, die eine schwarze Zunge hatten, ohne Beine geboren wurden oder extrem kleinwüchsig waren (Navajo, Ojibwa, Malaien) (NC 59). Ebenso gibt es eine Reihe von Berichten, bei denen diese Sonderrolle von Menschen mit psychischer Abweichung (Bali, Navaho, Niwchen, Ojibwa,20 Yap) oder von Interbzw. Transsexuellen (Araukanier, Fang, Navaho, Niwchen) wahrgenommen wurde (NC 65, 70f.). Über Koranschulen wird berichtet, dass die dort übliche Form des Lernens als Memorieren Blinden nicht nur die erfolgreiche Teilnahme möglich machte, sondern sogar die Übernahme der Rolle des Lehrenden erlaubte (NC 62). Diese Art der modifizierten Partizipation widerspricht zumindest teilweise der Vorstellung von Menschen mit einem Handicap. Sonderrollen markieren einen sehr speziellen Umgang mit Menschen mit einer unerwünschten Andersartigkeit, denn sie bieten eine akzeptierte Stellung innerhalb der Gesellschaft, die allerdings nicht mit einer Normalisierung gleichgesetzt werden kann. Als letzte Form des Umgangs ist eine Nicht-Reaktion oder »Laissez-Faire« zu nennen. Wiederum betrifft dies besonders Menschen mit Andersartigkeit, die entweder nicht hilfebedürftig sind oder nur in einem begrenzten Umfang Hilfe oder Unterstützung benötigen, was vor allem bei geringen körperlichen Andersartigkeiten der Fall ist (NC 60). Ein seltenes aber doch markantes Beispiel ist der Bericht über einen Mann, der seine deutliche Gesichtseinstellung erst wahrnahm, als er Gelegenheit erhielt, sich in einem Spiegel zu betrachten (Orokaiva/Melanesien) (NC 60f.).21 Offenbar haben die Reaktionen seiner Mitmenschen und der Umgang mit ihm nicht darauf hingewiesen, dass er sich wegen 19 | Kluckhohn, Clyde/Leighton, Dorothea C.: The Navaho, Cambridge, Ma.: Harvard University Press 1947. 20 | »Many sorcerers are cripples or suffer from some infirmity because their medicine-power has turned against them…«, Jenness, Diamond: The Ojibwa Indians of Parry Island: their social and religious life, in: Bulletin of the Canada Department of mines 78, Ottawa: National Museum of Canada 1935, S. 84, zu Qjibwa. 21 | Williams, Francis E.: Papuans on the Trans-Fly, London: Oxford University Press 1969, S. 239.

113

114

Dieter Neuber t

seiner Gesichtsentstellung deutlich von ihnen unterscheidet. Weitaus gängigere Laissez-Faire-Reaktionen sind beispielsweise »normale« Anforderungen, die Abwesenheit von Benachteiligung, aber auch die Abwesenheit von zusätzlichem Schutz. Laissez-Faire und Nicht-Reaktionen bei eindeutig unerwünschter Andersartigkeit entsprechen dem, was wir mit der Bezeichnung des Handicaps bewirken wollen. Trotz der Andersartigkeit existiert keine konkrete Benachteiligung. Allerdings ist hier die Grenze zwischen Laissez-Faire und Nicht-Reaktion auf der einen Seite und der Abwesenheit von Stimulusqualität auf der anderen Seite nicht einfach zu ziehen. Es kommt dabei auf den Einzelfall an, ob die Andersartigkeit tatsächlich Stimulusqualität hat und unerwünscht ist, aber keine Nachteile für die entsprechende Person bestehen, oder ob schon das Phänomen selbst als wenig bedeutsam angesehen wird und eben keine spontane Reaktion hervorruft. Subtile Abgrenzungen dieser Art sind bei einer Sekundäranalyse der alten Quellen oft nicht mehr möglich. Trotz der bestehenden Unsicherheiten lassen sich durchaus Schlussfolgerungen zur sozialen Reaktion auf Menschen mit unerwünschten Andersartigkeit (Behinderten) ziehen. Das wichtigste Ergebnis ist, dass es im Grunde keine universellen Formen des Umgangs gibt. Mit ein und derselben unerwünschten Andersartigkeit kann höchst unterschiedlich umgegangen werden. In der Regel reicht dies von Extremreaktionen über Einschränkungen der Partizipation mitunter in Verbindung mit Schutz- und Hilfereaktionen bis zur Modifikation der Partizipation mit den genannten Sonderrollen. Auf eine einfache Formel gebracht: wir haben ein hohes Maß von interkultureller Varianz. Mindestens ebenso wichtig ist die Erkenntnis, dass auch interkulturell in den meisten Fällen individuelle, auf den jeweiligen Einzelfall bezogene Entscheidungen getroffen werden. Dies gilt auch bei Extremreaktionen. In Bezug auf die soziale Reaktion beobachten wir also auch eine intrakulturelle Varianz im Grunde bei allen Reaktions- und Umgangsformen. Die jeweiligen fallbezogenen Entscheidungen sind mit der emischen (kulturspezifischen) Deutung und Ursachenerklärung verknüpft. Gängige Ursachenerklärungen im Falle von unüblichen Geburten bzw. bei Neugeborenen mit körperlichen Einschränkungen sind Missachtung von spezifischen Regeln oder »Vorsichtsmaßnahmen« während der Schwangerschaft. Sowohl unerwünschte Andersartigkeiten bei Neugeborenen als auch später erworbene Behinderungen können als »Strafe« für individuelles aber auch für kollektives Fehlverhalten angesehen werden. Schließlich können all diese Veränderungen auch als Einfluss negativer Mächte durch Hexerei und schwarze Magie zustande kommen. Die Klärung, was die jeweilige Ursache ist und wie das Phänomen gedeutet werden soll, obliegt in der Regel rituellen Experten, die dann auch einen Rat für ein entsprechendes Verhalten bzw. die spezifischen Umgangsformen geben. D.h. auch dann, wenn Einigkeit darüber besteht, welche Phänomene als unerwünsch-

Behinderung, Handicap, Andersar tigkeit

te Andersartigkeit, als Behinderung, angesehen werden, bleibt im Einzelfall häufig offen, was eine angemessene Reaktion bzw. Umgangsform ist. Es gibt also keinerlei Hinweis darauf, dass es universelle Reaktionen auf Behinderung gibt. Noch nicht einmal innerhalb einer Kultur sind die entsprechenden Reaktionen und Umgangsformen einheitlich. Wie in dem jeweiligen möglichen Handlungsspektrum agiert wird, ist und bleibt auch immer eine individuelle Entscheidung. Es deutet vieles darauf hin, dass Menschen, die bereits in die Gesellschaft integriert sind, mit mehr Nachsicht und Wohlwollen rechnen können als Neugeborene, die eben noch nicht als ein vollwertiger Teil der Gesellschaft angesehen werden.

F olgerungen

für die soziale

S tellung

von

B ehinderten

Wenn wir uns die Beispiele für unerwünschte Andersartigkeiten ansehen, dann wird gerade bei den sehr kulturspezifischen Andersartigkeiten – den körperlichen Andersartigkeiten ohne Funktionseinschränkung wie unüblicher Körperwuchs, Schmalhüftigkeit oder ein extrem ausgebildeter Oberkörper – deutlich, dass diese Andersartigkeiten sich auf kulturspezifische Äußerlichkeiten beziehen. Genau genommen sind auch extreme Deformationen gleichermaßen eine Abweichung vom gängigen Bild des menschlichen Körpers. Denkt man dies weiter, so spricht vieles dafür, dass bei der Bewertung der Andersartigkeit eine »Normalitätserwartung« zugrunde liegt, die dann eine positive oder eben negative Spontanreaktion hervorruft. Allgemein gesagt bewirken gerade Abweichung von gattungsspezifischen Eigenschaften oder eben vom kulturspezifischen Aussehen bzw. von kulturspezifischen Anforderungen (zum Beispiel Hautfarbe, Haarwuchs, Körpergröße, Abweichung von spezifischen Verhaltensweisen) eine potenzielle negative Bewertung. Ganz besonders deutlich wird das bei damit verbundenen Funktionseinschränkungen. Die Normalitätserwartung wird darüber hinaus auch durch kulturelle Verhaltensmuster bestimmt wie zum Beispiel im Falle der sexuellen Orientierung oder den spezifischen Erwartungen gegenüber der Fruchtbarkeit einer Frau. Nimmt man die Befunde ernst, so lassen sich durchaus Folgerungen für die Möglichkeiten des gesellschaftlichen Umgangs mit Behinderung und Behinderten ziehen. Behinderung als »unerwünschte Andersartigkeit« ist nicht einfach weg zu definieren oder durch eine neue Begrifflichkeit wie »gehandicapped« statt »behindert« ungeschehen zu machen. Die Abweichung von der Normalitätserwartung bleibt bestehen und kann durch eine vermeintlich nicht-diskriminierende politisch korrekte Bezeichnung nicht aufgehoben werden. So ist die Bezeichnung »Behinderter« anstelle der früher verwendeten Bezeichnung »Krüppel« sicherlich weniger beleidigend und auf den ersten Blick auch weniger vorurteilsbelastet. Zugleich markiert auch die Bezeichnung als

115

116

Dieter Neuber t

»behindert« oder »gehandicapped« weiterhin eine Abweichung von der Normalitätserwartung. Dies ist durchaus folgenreich für die Forderung nach Normalisierung. Solange eine Abweichung von der Normalitätserwartung besteht, lässt sich diese nicht einfach aufheben. Denn die Abweichung von der Normalitätserwartung wird nicht einfach durch eine neue Begrifflichkeit ungeschehen gemacht. Ein sinnvolles Ziel ist vielmehr eine »Normalisierung« der sozialen Reaktion auf bzw. der Umgangsformen mit Menschen mit Behinderung und die damit verbundene Normalisierung der sozialen Stellung. Dies scheint auf den ersten Blick eine Spitzfindigkeit zu sein. Es steckt aber deutlich mehr dahinter als eine Begriffsspielerei. Der Unterschied der Bewertung von Behinderung und der sozialen Reaktion auf behinderte Menschen verweist darauf, dass das Phänomen der Behinderung als solches nicht einfach aufzuheben ist. Gerade dann, wenn massive Einschränkungen vorhanden sind, erfordert dies einen spezifischen Umgang, spezifische Unterstützung und somit eine Aufmerksamkeit genau für die Einschränkung. Wie wir aus dem interkulturellen Vergleich sehen können, bedeutet dies aber eben nicht automatisch eine Einschränkung der sozialen Rollen. Das Konzept der Normalitätserwartungen verweist jedoch auch auf die Bedeutung gesellschaftlicher Veränderung. Denn wenn sich die gesellschaftliche Normalitätserwartung ändert, verändert sich auch die Bewertung der Andersartigkeit. Sicherlich ist dies selten der Fall, aber in einer Gesellschaft, in der der Status des »normalen« Erwachsenen nicht unbedingt mit Elternschaft in Verbindung gebracht wird, ist Kinderlosigkeit und damit Unfruchtbarkeit nicht mehr eine generell unerwünschte Andersartigkeit. Gleichwohl kann Unfruchtbarkeit individuell weiterhin sehr belastend sein, aber dies ist gesellschaftlich nicht mehr von zentraler Bedeutung. In dieser Hinsicht hat sich die Normalitätserwartung in Gesellschaften des Globalen Nordens überwiegend verändert. Die Kompensation von Sinnesminderung durch Hilfsgeräte kann ebenfalls die negative Bewertung entsprechender Andersartigkeit deutlich abschwächen oder gar aufheben. Wie bereits erwähnt machen Kontaktlinsen oder extrem verkleinerte Hörgeräte die Einschränkung nahezu unsichtbar. Da dadurch im Alltagsleben weder eine entsprechende Wahrnehmung oder Aufmerksamkeit für die Andersartigkeit besteht, verändert sich auch die Bewertung. Aus einer starken Einschränkung wird eine nicht unbedingt erwünschte, aber weitgehend unproblematische Veränderung. Dies geht durchaus soweit, dass verbesserte Implantate vormals Gehörlosen den Zugang zur hörenden Gesellschaft eröffnen und die Folgen dieser spezifischen Behinderung deutlich abmildern. Es hängt von der Leistungsfähigkeit und Verfügbarkeit der jeweiligen Geräte ab, inwieweit die Einschränkung dann überhaupt noch als Behinderung wahrgenommen wird. Nahezu vollständige Kompensation der Einschränkung kann somit die eigentliche Abweichung von der Normalitätserwartung obsolet machen.

Behinderung, Handicap, Andersar tigkeit

F olgerungen

für I nterkultur alität

Auch wenn sich die hier zu Grunde liegende Studie auf den Vergleich der sozialen Reaktion auf Behinderte bezieht, bieten die daran anschließenden Überlegungen durchaus auch Anschlusspunkte zur Frage des Umgangs mit kulturell fremden Menschen. Denn wie wir gesehen haben, erfasst unerwünschte Andersartigkeit nicht nur den gängigen Kern von Behinderung im Sinne von Körper-, Sinnes-, geistiger oder psychischer Behinderung, sondern eben auch andere Abweichung der kulturspezifischen Normalitätserwartungen wie die Frage der Körpergröße oder der Körperform. In diesem Sinne ist das Aufeinandertreffen von Menschen aus unterschiedlichen Kulturen immer auch ein Aufeinandertreffen von unterschiedlichen Normalitätserwartungen. Das soll keineswegs heißen, dass kulturelle Andersartigkeit als Behinderung betrachtet werden kann. Ganz im Gegenteil: Das, was wir als Behinderung wahrnehmen, ist lediglich ein extremes Beispiel der (dauerhaften und kaum veränderlichen) Abweichung von Normalitätserwartungen. Der Umgang mit abweichenden Normalitätserwartungen verweist also auf die entsprechenden Prozesse der Bewertung der Abweichung und der spezifischen sozialen Reaktionen auf die Abweichung, bzw. des Umgangs mit der Abweichung. Dieses Zusammendenken von Abweichungen mit Behinderung ist keineswegs neu. Erving Goffman hat in seinem klassischen Werk »Stigma«22 genau diese Verbindung hergestellt. Viele seiner Beispiele im Blick auf Stigmatisierungsprozesse, in der hier verwendeten Sprache eine soziale Reaktion auf unerwünschte Andersartigkeiten, beziehen sich auf Behinderte. Gleichwohl werden auch eine Vielzahl anderer sozialer Abweichungen in den Beispielen angesprochen. So zum Beispiel ein früherer Gefängnisaufenthalt oder eine andere Hautfarbe.23 Behinderungen sind durchaus ein Prototyp für Abweichungen und unerwünschte Andersartigkeiten, weil sie so deutlich und erkennbar sind und zumindest innerhalb unserer Kultur relativ einheitlich negativ bewertet werden. Goffman macht aber am Ende seiner Arbeit deutlich, dass sich all seine Befunde nicht nur auf den Umgang mit Menschen mit Behinderung oder anderen Abweichungen beziehen, sondern für alle Situationen des Lebens gelten:

22 | Goffman, Erving: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1975. 23 | Die eingangs erwähnte Debatte zur Diversität erfasst gleichermaßen ein weites Spektrum von »Andersartigkeiten«, dies zeigt sich besonders bei Terzi (L. Terzi: Beyond the dilemma of difference; L. Terzi: A capability perspective on impairment), die sich auf den zunächst auf sozio-ökonomische Ungleichheit ausgerichteten »Fähigkeiten-Ansatz« (capability approach) von Amartya Sen stützt (1992).

117

118

Dieter Neuber t »Deshalb bilden die gelegentlich Unsicheren und die konstant Unsicheren ein einziges Kontinuum und ihre Situation im Leben ist innerhalb des gleichen Rahmens analysierbar.« 24

Vor diesem Hintergrund ist es legitim, ausgehend vom Umgang mit Behinderung und Behinderten auch die Frage des Verhaltens gegenüber kulturell Fremden zu thematisieren. Kulturell Fremdes bzw. kulturell fremde Menschen können der jeweiligen Normalitätserwartungen widersprechen, und oft tun sie dies auch. Das kulturell Fremde ist somit auffällig und zumindest bemerkenswert. Menschen schauen sich um oder schauen weg, aber sie reagieren; es handelt sich zunächst einmal um eine manifeste Andersartigkeit. Probleme tauchen immer dann auf, wenn diese Andersartigkeit als unerwünscht angesehen wird. Unabhängig von der jeweiligen Bewertung zeichnen sich interkulturelle Beziehungen immer dadurch aus, dass Andersartigkeit im Sinne einer Abweichung von Normalitätserwartungen existiert und auch nicht durch entsprechende Normen der Toleranz oder des Respekts geleugnet werden kann. Entscheidend ist also nicht die Existenz der Andersartigkeit, sondern deren Bewertung. Die Verhinderung der negativen Bewertung kann in Bezug auf kulturelle Andersartigkeit durch die Norm der Akzeptanz der kulturellen Vielfalt eingefordert werden. Eine entsprechende Akzeptanz, so zeigt es sich im deutschen Alltag, kann durchaus erreicht werden. Dies ist sichtbar in veränderten Kleidungspraktiken, der Akzeptanz fremder deutscher Dialekte, der Akzeptanz unterschiedlicher christlicher Religionen und insbesondere in der Akzeptanz anderer Formen von Sexualität. Auch wenn Homosexualität nicht unbedingt als die Norm angenommen wird, so ist diese Andersartigkeit zumindest im Rahmen rechtlicher Regelungen in vielen Teilen der Alltagspraxis inzwischen nicht mehr automatisch mit einer negativen Bewertung verbunden. Gleichzeitig beobachten wir auch, dass bestimmte Verhaltensweisen, die über lange Zeit der Normalitätserwartungen entsprachen, heute nicht mehr akzeptiert werden, zum Beispiel das Schlagen von Kindern aus erzieherischen Zwecken oder Gewalt in der Ehe. Wenn wir uns die verschiedenen Reaktionen innerhalb der modernen Gesellschaften auf Andersartigkeit anschauen, so zeigt sich, dass Extremreaktionen wie aktive und passive Tötung oder Ausstoßung gesellschaftlich geächtet sind. Dies gilt sowohl für den Globalen Norden wie für den Globalen Süden. Es gibt aber weiterhin einige Gruppen, die im Blick auf das kulturell Fremde Extremreaktionen insbesondere die Verstoßung, im Amtsdeutsch Ausweisung, befürworten. Dies findet sich sowohl im Globalen Norden in der Regel verbunden mit rechtsradikalen oder nationalsozialistischen Gruppen als auch im

24 | E. Goffman: Stigma, S. 157.

Behinderung, Handicap, Andersar tigkeit

Globalen Süden, wie fremdenfeindliche Übergriffe beispielsweise in Südafrika oder Myanmar, um nur zwei Beispiele zu nennen, gezeigt haben. Schutz- und Hilfereaktionen für kulturell Fremde sind relativ selten bzw. dann in der Regel öffentlich organisiert, sei es durch den Staat oder entsprechende Wohlfahrtsorganisationen. Entsprechende Maßnahmen sind spezifische Angebote zur Anpassung der kulturell Fremden mit Sprach- und Integrationskursen oder auch spezifische Angebote für unterdrückte Frauen. Allerdings sind diese Maßnahmen durchaus ambivalent. Auch wenn sie hilfreich für die einzelnen Nutznießer sein können, markieren sie allein durch ihre Existenz die Besonderheit des kulturell Fremden und die damit verbundenen Defizite gemessen an den Normalitätserwartungen in unserer Gesellschaft. Der Alltag kulturell Fremder ist häufig durch eingeschränkte Partizipation geprägt. Dies zeigt sich bei Nachteilen bei Wohnung- und Arbeitssuche, Ablehnung in Alltagsinteraktionen oder darin, dass kulturell Fremde als Ehepartner für die eigenen Kinder nicht erwünscht sind. Wir finden ebenso modifizierte Partizipation durchaus auch im Sinne von Sonderrollen. Beispiele sind »Alibi-Ausländer«, die belegen sollen, dass kulturell Fremde gleichermaßen wie kulturell Einheimische akzeptiert sind, oder die das kulturell Fremde repräsentieren. Auch die Praxis in Kindergärten und Schulen ausländische Feste zu feiern, wie beispielsweise das islamische Zuckerfest oder das chinesische Neujahr, sofern muslimische Kinder oder Kinder aus China in der Gruppe sind, markieren Sonderrollen. Denn die entsprechenden Kinder sind dann Repräsentanten des kulturell Fremden, die über ein spezifisches kulturell reiches Wissen verfügen, was eben nicht »normal« ist. Eine weitere Form modifizierter Partizipation ist auch die Akzeptanz von »unangepasstem« kulturellen Verhalten, wie zum Beispiel die Freistellung von muslimischen Mädchen von Sport- und Schwimmunterricht. All diese Formen modifizierter Partizipation haben ambivalente Wirkungen. Einerseits sind sie Ausdruck von Respekt und Akzeptanz kulturell anderer Verhaltensweisen, andererseits manifestieren sie immer auch Andersartigkeit und schränken damit Normalisierung ein. Es macht aber einen erheblichen Unterschied, wie die Andersartigkeit bewertet wird: als unerwünscht oder erwünscht. Auch Formen des Laissez-Faire haben durchaus widersprüchliche Wirkungen. Dazu gehört beispielsweise kein zusätzlicher Schutz bei kulturellem unangepassten Verhalten was einen deutlichen Druck auf Anpassung an »normale« Anforderungen mit sich bringt. Um ein Beispiel wieder aufzugreifen, bedeutet dies die Teilnahme am Sport- und Schwimmunterricht auch für muslimische Mädchen. Dies signalisiert zwar keine Sonderrolle und im Grunde auch keine Benachteiligung gemessen an der jeweiligen Normalitätserwartungen innerhalb der Gesellschaft, bewirkt aber durchaus einen Zwang zur Assimilation. Dies zeigt, dass, solange kulturell Fremdes eine unerwünschte Andersartigkeit ist, zwei verschiedene Reaktionen möglich sind, um damit

119

120

Dieter Neuber t

umzugehen und Diskriminierung und Benachteiligung zu vermindern. Diese Umgangsformen können aber die Abweichung von der Normalitätserwartung nicht beseitigen, sondern markieren sogar häufig die Existenz dieser Abweichung. Reaktionen in Richtung auf Normalisierung bewirken wiederum einen Druck zur Assimilation. Dieser Widerspruch würde letztlich nur dann aufgelöst, wenn sich die Normalitätserwartung verändert und damit eine veränderte Bewertung des kulturell Fremden vorgenommen wird. Zum einen kann sich die Vorstellung der eigenen und der fremden Kultur so verändern, dass das kulturell Fremde als Teil der eigenen Kultur wahrgenommen wird. Zum anderen könnte das kulturell Fremde fremd bleiben, aber als Teil der Normalitätserwartung wahrgenommen werden. In beiden Fällen, die im Grunde die Enden eines Kontinuums markieren, hätte sich dann auch die Gesellschaft verändert. Kulturwandel ist aber ein mittel- oder gar langfristiger Prozess. Historisch gesehen wird dies durchaus ergänzt durch partielle Anpassung- bzw. Assimilationsprozesse von kulturell Fremden. Schon die veränderten Einstellungen gegenüber sexuellen Präferenzen und Gender-Selbstdefinitionen mit der Akzeptanz von Homosexualität und Transgender-Identitäten sind zumindest für Teile der Gesellschaft eine ernsthafte Herausforderung. Auch wenn diese Veränderung noch nicht in der gesamten Gesellschaft nachvollzogen wurde, zeigt sich doch im Großen und Ganzen eine deutlich veränderte Normalitätserwartung. In diesen Fällen kann die Veränderung der Normalitätserwartungen sich auf Kernwerte der Gesellschaft wie eben Menschen- und Freiheitsrechte berufen. In den Prozessen dieses Kulturwandel geht es um die schwierige Balance zwischen Wertevielfalt auf der einen Seite und gesellschaftlichen Kernwerten, wie zum Beispiel Menschen- und Freiheitsrechte auf der anderen Seite.

A nhang In Neubert/Cloerkes 2001 untersuchte Ethnien 25 Andamanen (AN): Südasien

Murngin (MU): Australien

Araukanier (AR): Südamerika

Navaho (NA): Nordamerika

Azande: Zentralafrika

Niwchen (Gilyak)(NI): Sibirien

Azteken (AZ): Mittelamerika

Nootka (NO): Nordamerika

Bali (BA): Südostasien

Ojibwa (OJ): Nordamerika

Blackfoot: Nordamerika

Orokaiva: Ozeanien

25 | Die Bezeichnungen folgen der teilweise überholten Bezeichnung der verwendeten Version der Human Relation Area Files.

Behinderung, Handicap, Andersar tigkeit Buschleute(BU): südl. Afrika

Palaung: Südasien

Chagga (CH): Ostafrika

Pokot: Ostafrika

Creek: Nordamerika

Ponape: Ozeanien

Cuna (CU): Südamerika

Römer/Griechen (RG): Südeuropa

Dahomey: Westafrika

Samen (Lappen)(SN): Nordeuropa

Dierie: Australien

Samoa (SA): Ozeanien

Eipo: Ozeanien

Sebei: Ostafrika

Eskimo: Grönland/Nordamerika

Sema Naga: Südasien

Fang (Pangwe) (FA): Zentralafrika

Semang: Südostasien

Fellachen (FE): Nordafrika

Sinteng: Südasien

Gisu: Ostafrika

Sudanesen: Südostasien

Hausa: Westafrika

Tamang: Südasien

Inka (IN): Südamerika

Tiv: Westafrika

Jukun: Westafrika

Toda (TO): Südasien

Kamba: Ostafrika

Trobriant: Ozeanien

Lepcha (LE): Südasien

Truk: Ozeanien

Luhya: Ostafrika

Witoto: Südamerika

Malaya: Südostasien

Wolof (WO): Westafrika

Manus: Ozeanien

Yahgan (YA): Südamerika

Maori: Ozeanien

Yap (YP): Ozeanien

Masai: Ostafrika

Yoruba (YO): Westafrika

Q uellenverzeichnis Berry, John W.: »On cross-cultural comparability«, in: International Journal of Psychology 4(2) (1969), S. 119-128. Bösl, Elsbeth: Politiken der Normalisierung, Bielefeld: transcript 2009. Clark, Margaret: »Contributions of cultural anthropology to the study of the aged«, in: Laura Nader/Thomas W. Maretzki (Hg.), Cultural illness and health, Washington: American Anthropological Association 1973, S. 78-88. Glascock, Anthony P./Feinman, Susan L.: »Social asset or social burden: An analysis of the treatment for the aged in non-industrial societies«, in: Christine L. Fry (Hg.), Dimensions: Aging culture and health, New York: Praeger 1981, S. 13-31. Goffman, Erving: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1975. Hanks, Jane R./Hanks, Lucien M.: »The physically handicapped in certain non-occidental societies«, in: Journal of Social Issues 4 (1948), S. 11-20. Ingstad, Benedicte/Reynolds Whyte, Susan (Hg.): Disability and Culture, Berkeley: University of California Press 1995.

121

122

Dieter Neuber t

Jenness, Diamond: The Ojibwa Indians of Parry Island: their social and religious life, in: Bulletin of the Canada Department of mines 78, Ottawa: National Museaum of Canada 1935. Kluckhohn, Clyde/Leighton, Dorothea C.: The Navaho, Cambridge, Ma.: Harvard University Press 1947. Lagacé, Robert O.: Nature and use of the HRAF files a research and teaching guide, New Haven, Conn.: Human Relations Area Files 1974. Linton, Simi/Mello, Susan/O’Neill, John: »Disability Studies: Expanding the parameters of diversity«, in: The Radical Teacher 47 (1995), S. 4-10. Lowenfeld, Berthold: The changing status of the blind. From separation to integration, Springfield, Ill.: Thomas 1975. Murdock, George Peter: Outline of cultural materials, New Haven, Conn.: Human Relations Area Files 1961. Neubert, Dieter/Cloerkes, Günther: Behinderung und Behinderte in verschiedenen Kulturen: eine vergleichende Analyse ethnologischer Studien, Heidelberg: Winter 2001 [1987]. Pike, Kenneth L.: »Etic and emic standpoints for the description of behavior«, in: Donald C. Hildum (Hg.), Language and thought: an enduring problem in psychology, Princeton, NJ: D. Van Norstrand Company 1967, S. 32-39. Schweizer, Thomas: »Interkulturelle Vergleichsverfahren«, in: Hans Fischer (Hg.), Ethnologie eine Einführung, Berlin: Reimer 1983, S. 427-443. Terzi, Lorella: »Beyond the dilemma of difference: The capability approach to disability and special educational needs«, in: Journal of Philosophy of Education 39(3) (2005), S. 443-459. Terzi, Lorella: »A capability perspective on impairment, disability and special needs. Towards social justice in education«, in: Theory and Research in Education 3(2) (2005), S. 197-223. Thomas, Elizabeth M.: The harmless people, New York: Knopf 1959. Wansing, Gudrun: »Konstruktion – Anerkennung – Problematisierung: Ambivalenzen der Kategorie Behinderung im Kontext von Inklusion und Diversität«, in: Soziale Probleme 25(2) (2014), S. 209-230. Williams, Francis E.: Papuans on the Trans-Fly, London: Oxford University Press 1969 [1936]. World Health Organization (Hg.): ICF. International Classification of Functioning, Disability and Health, Genf: World Health Organization 2001. Zedlitz, Helmut: »Verehrt, gefürchtet, ausgestoßen. Die Stellung des Behinderten in der Geschichte«, in: Evangelische Akademie Baden (Hg.), Unsichtbare Schranken. Angst vor Behinderten, Karlsruhe 1982, S. 4-13. http://ehrafworldcultures.yale.edu vom 31.10.2016 (in Deutschland durch die DFG lizensiert). http://www.youtube.com/watch?v=XYkcuxw4aJM vom 31.10.2016. http://www.zbdw.de vom 31.10.2016.

Interkulturelle Kompetenz Systematiken und Heterogenität eines Schlagwortes Dominik Egger »Kann man Menschenkenntnis lernen? Ja; Mancher kann sie lernen. Aber nicht durch einen Lehrkurs, sondern durch ›Erfahrung‹. – Kann ein Andrer dabei sein Lehrer sein? Gewiß. Er gibt ihm von Zeit zu Zeit den richtigen Wink. – So schaut hier das ›Lernen‹ und das ›Lehren‹ aus. – Was man erlernt, ist keine Technik; man lernt richtige Urteile. Es gibt auch Regeln, aber sie bilden kein System, und nur der Erfahrene kann sie richtig anwenden. Unähnlich den Rechenregeln.« W it tgenstein 1984, S. 574 f.

1. E inleitung »Interkulturelle Kompetenz« oder auch »interkulturelle Kommunikation« sind zu Schlagwörtern unserer Gesellschaft geworden, die auf zentrale Aufgaben jeder Einzelnen und jedes Einzelnen (oder einer Gruppierung) als Beitrag zur gesellschaftlichen Integration verweisen. Die Bertelsmann-Stiftung betitelt sie als »Schlüsselqualifikation des 21. Jahrhunderts«.1 Die politischen und öffentlich-medialen Diskurse sind voller Forderungen nach mehr interkultureller Kompetenz in Politik und öffentlichem Dienst.2 Die zahlreichen, in den vergangenen Jahren veröffentlichten wissenschaftlichen und berufspraktischen Beiträge zum Thema sind kaum zu überblicken. Der inflationäre Gebrauch und der Bedeutungszuwachs des Begriffs der interkulturellen 1 | Vgl. Bertelsmann Stiftung (Hg.): Interkulturelle Kompetenz – Schlüsselkompetenz des 21. Jahrhunderts? Thesenpapier der Bertelsmann Stiftung auf Basis der Interkulturellen-Kompetenz-Modelle von Dr. Darla K. Deardorff, 2006. 2 | Vgl. beispielsweise die Debatte um den Polizeieinsatz anlässlich der Silvesterfeierlichkeiten am 31.12.2016 in Köln.

124

Dominik Egger

Kompetenz hängt mit der Wahrnehmung gesellschaftlicher Veränderungen bzw. Zustände vor allem in Bezug auf Migration zusammen, die sich anhand einiger Statistiken veranschaulichen lassen: Zum 31.12.2015 lebten in Deutschland 9,1 Mio. Ausländer und Ausländerinnen.3 21,0% der 2015 in Deutschland lebenden Menschen hatten einen Migrationshintergrund »im engeren Sinn«. 4 14,1% hatten eigene Migrationserfahrung.5 Der United Nations High Commissioner for Human Rights (UNHCR) schätzt die Zahl der Migrantinnen und Migranten weltweit auf etwa 244 Mio. Menschen.6 Die Aktualität des Themas steht außer Frage. Im praktischen Diskurs herrscht dabei teilweise eine gewisse Ignoranz gegenüber dem theoretischen Diskurs über interkulturelle Kompetenz vor. Unter diesem Begriff scheinen dort eher stillschweigend all jene Fähigkeiten zusammengefasst zu sein, die Konflikte zwischen Menschen verschiedener Nationalkulturen zu verhindern oder zu lösen helfen, teilweise ohne sie einer systematischen Analyse zu unterziehen oder sie überhaupt näher zu beleuchten. Solche meist listenartigen Aufzählungen werden häufig »auf der Basis intuitiver Plausibilitätskriterien und alltagsweltlicher Vorannahmen präsentiert. Nicht selten dient das eine Modell dem anderen als Vorbild, sodass zahlreiche Varianten kursieren, die [scheinbar; Anm. d. Verf.] nur geringfügig voneinander abweichen.«7 Skepsis ist aus wissenschaftlicher Perspektive allemal angebracht. Die wissenschaftliche Debatte selbst scheint die Phase des im Großen und Ganzen kritiklosen und unsystematischen Hypes um interkulturelle Kompetenz hinter sich gelassen zu haben. Die interessante Diskussion in der Zeitschrift »Erwägen, Wissen, Ethik« aus dem Jahr 20038 ist ein Beispiel für den zunehmenden Austausch der unterschiedlichen Fachvertreter und Fachvertreterinnen sowie 3 | Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Hg.): Das Bundesamt in Zahlen 2015. Asyl, Migration und Integration, Stand: September 2016, S. 103. 4 | Eine Person hat im hier verwendeten Sinn einen Migrationshintergrund, »wenn sie selbst oder mindestens ein Elternteil die deutsche Staatsangehörigkeit nicht durch Geburt besitzt.« Statistisches Bundesamt (Hg.): Fachserie 1, Reihe 2.2: Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Bevölkerung mit Migrationshintergrund – Ergebnisse des Mikrozensus 2015, Wiesbaden: Statistisches Bundesamt 2016, S. 4. Zur ausführlichen Erläuterung des Begriffs im Sinne der verwendeten Statistiken vgl. ebd., S. 4f. 5 | Vgl. ebd., S. 37. 6 | Department of Economics and Social Affairs (Hg.): International Migration Report 2015. Highlights, New York: United Nations 2016, S. 5. 7 | Straub, Jürgen: »Kompetenz«, in: ders./Arne Weidemann/Doris Weidemann (Hg.), Handbuch interkulturelle Kommunikation und Kompetenz. Grundbegriffe – Theorien – Anwendungsfelder, Stuttgart/Weimar: Metzler 2007, S. 42. 8 | Benseler, Frank/Blanck, Bettina/Keil, Reinhard/Loh, Werner (Hg.): Erwägen, Wissen, Ethik. Deliberation Knowledge Ethics, [EWE] Vormals: Ethik und Sozialwissen-

Interkulturelle Kompetenz

deren Willen, im Rahmen eines Diskurses eine kritische und systematische Analyse bestehender Konzepte vorzunehmen. Stefanie Rathje hat in einem hervorragenden Aufsatz9 die dort verfassten Standpunkte und Argumente analysiert und daraus den Forschungsstand erarbeitet, der im Wesentlichen noch Gültigkeit beanspruchen darf. Beide Veröffentlichungen liefern deshalb, trotz ihres Alters, die Grundlagen für die nun folgende Darstellung. Im Anschluss an diese sollen argumentative Grundmuster und Positionen des Diskurses um interkulturelle Kompetenz erarbeitet und systematisch präsentiert werden. Die Fachdiskussion der Human- und Betriebswissenschaften liefern dabei den Orientierungsrahmen der Ausführungen. Die Standpunkte werden durch die Analyse in einen systematischen Zusammenhang mit jeweiligen Gegenpositionen gestellt und kritisch gewürdigt. Die Frage, was interkulturelle Kompetenz sein könne, wird zunächst begrifflich aufgegriffen: Knapp soll einleitend der zugrunde liegende Kompetenzbegriff skizziert und in seiner Heterogenität angedeutet werden, bevor das beachtliche Begriffsfeld interkulturellerer Kompetenz beleuchtet wird. Daran anschließend werden wichtige Differenzkriterien von Modellen interkulturellerer Kompetenz systematisch diskutiert. Dabei wird in erster Linie der Frage nachgegangen, in welchen Dimensionen und auf Grundlage welcher Argumentation die Gültigkeit interkultureller Kompetenz eine Ausdehnung erfahren kann oder eher eng geführt werden sollte. Daran schließen sich Überlegungen zu definitorischen Festlegungen an, die, einmal mehr, die Divergenz der im Diskurs eingebrachten Modelle thematisieren. Schließlich soll in einem abschließenden Exkurs das Lehrprojekt »Globale Systeme und Interkulturelle Kompetenz« der Julius-Maximilians-Universität Würzburg vorgestellt und damit ein Hinweis auf die Möglichkeit der Lehrbarkeit interkultureller Kompetenz im Rahmen eines akademischen Studiums gegeben werden. Das Ziel dieser Diskussion ist es, einen Überblick über grundlegende Aspekte interkulturellerer Kompetenz zu geben. Wenngleich der Versuch unternommen wurde, möglichst viele relevante Perspektiven zu berücksichtigen, ermöglicht es die Fülle aktueller Veröffentlichungen nicht, alle Positionen zu Wort kommen zu lassen.

schaften [EuS], Streitforum für Erwägungskultur, 14(1), Stuttgart: Lucius & Lucius 2003, S. 137-228. 9 | Rahtje, Stefanie: »Interkulturelle Kompetenz – Zustand und Zukunft eines umstrittenen Konzepts«, in: Britta Hufeisen/Jörg Roche (Hg.), Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht [ZiF], 11(3) (2006): »Interkulturalität und Fremdsprachenunterricht – Kritische Anmerkungen und neue Perspektiven«, 21 S.

125

126

Dominik Egger

2. W as

ist interkulturelle

K ompe tenz ?

2.1 Begriffliche Heterogenität 2.1.1 Der Begriff »Kompetenz« Das Adjektiv »kompetent« wird seit dem 18. Jahrhundert verwendet. Es ist entlehnt aus dem Lateinischen vom Partizip Präsens »competens« des Verbs »competere« (zusammentreffen, etwas gemeinsam erstreben, gesetzlich erfordern; zustehen, zukommen). »Competere« setzt sich zusammen aus »petere« (begehren, zu erlangen suchen) und der Vorsilbe »con«. Kompetent bedeutet also »zuständig«. Das Abstraktum »Kompetenz« ist bereits ab dem 16. Jahrhundert bezeugt. Es bedeutete zunächst »Recht auf Einkünfte«. Erst ab dem 19. Jahrhundert wird es in der Bedeutung des Adjektivs als »Zuständigkeit« verstanden.10 Auf einer anderen Bedeutungsebene entwickelte sich das Adjektiv »kompetent« laut Straub von der Bedeutung »bewerben« über »fähig sein für das Angestrebte« bis hin zu »kundig sein«.11 Der Begriff der »Kompetenz« umfasst demnach »Befugnis, Zuständigkeit«, im Zusammenhang mit der hier diskutierten Fragestellung aber auch insbesondere »Vermögen«, »Fähigkeit« und »Fertigkeit«. Arnold und Schüssler unterscheiden nach Fachbereichen zwischen soziologischen, arbeitswissenschaftlichen, psychologischen, betriebswissenschaftlichen, linguistischen und pädagogischen Konnotationen des Begriffs.12 Auch wäre es wohl möglich, Differenzierungen je nach bevorzugter Forschungsmethode13 oder nationalsprachlichem Diskursrahmen festzustellen. Die heute ausufernde Ausdehnung der Begriffsbedeutung umschreibt Straub wie folgt:

10  |  Vgl. Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, bearb. v. E. Seebold, Berlin/Boston: Walter de Gruyter 252011, S. 518f. 11 | J. Straub: Kompetenz, S. 36. Straub verweist hier auf den »Kluge« in der Ausgabe von 1989, S. 394. In der dem Verf. vorliegenden Ausgabe von 2011 ist dieser Hinweis jedoch nicht zu finden. 12 | Vgl. Arnold, Rolf/Schüssler, Ingeborg: »Entwicklung des Kompetenzbegriffs und seine Bedeutung für die Berufsbildung und für die Berufsbildungsforschung«, in: Guido Franke/Bundesinstitut für Berufsbildung (Hg.), Komplexität und Kompetenz. Ausgewählte Fragen der Kompetenzforschung, Bielefeld: W. Bertelsmann 2008, S. 61ff. 13 | Als Beispiel kann das Kompetenzkonzept nach John Erpenbeck und Lutz von Rosenstiel genannt werden. Vgl. Erpenbeck, John/Rosenstiel, Lutz v. (Hg.): Handbuch Kompetenzmessung. Erkennen, verstehen und bewerten von Kompetenzen in der betrieblichen, pädagogischen und psychologischen Praxis, Stuttgart: Schäffer-Poeschel 2007, S. XVII.

Interkulturelle Kompetenz »Die Spannbreite reicht von einem Handlungspotential, das in wissenschaftlicher Expertise, in spezialistischem Sachverstand oder einer in vielfältigen Erfahrungen (ἐmpeirίa, experientia) begründeten praktischen Klugheit (jrόnesiV, prudentia) verwurzelt ist, bis hin zu allen möglichen einzelnen Vermögen, Fähigkeiten und Fertigkeiten aller möglichen ›Subjekte‹, die in allen möglichen Handlungsbereichen dazu befähigt sein können, in der gegebenen Situation das jeweils Gebotene oder Erforderliche wahrzunehmen, zu denken, zu empfinden, zu fühlen, zu wollen, zu entscheiden und zu tun.«14

Häufig werde unter dem Begriff Kompetenz demnach eine Kombination einzelner Eigenschaften, Vermögen oder Fähigkeiten und Fertigkeiten gemeint, die zumeist einer Person, selten auch Kollektiven, als Träger zukommen. Straub verweist darauf, dass neben diesem eher effizienzgebundenen Charakter der obigen Begriffsdeutungen noch ein weiterer Typus theoretischer Bestimmung des Kompetenzbegriffs geläufig sei, der gerade für die Perspektive interkultureller Kompetenz von Bedeutung ist. Die Dimensionen Ethik und Moral, die als valoratives oder normatives Element im Rahmen interkultureller Kompetenz häufig implizit, seltener explizit, eine Rolle spielen, sprengen den zweckrationalen und instrumentellen Charakter der obigen Begriffsdeutungen. Die Begriffe »Achtung«, »Anerkennung« oder »Toleranz« verweisen als Grundbegriffe des Diskurses über interkulturelle Kompetenzen auf eben diese zweite Bedeutungsebene von Kompetenz. Daneben fehlten im Diskurs über interkulturelle Kompetenz die Beachtung weiterer Kompetenz-Konzepte beispielsweise aus der Psychologie in der Tradition Piagets oder Chomskys Kompetenzkonzept als Korrelatbegriff zur Performanz. Auch wenn diese Konzepte gerade aus Sicht der interkulturellen Kompetenz zu kritisieren seien, sieht Straub in diesen doch die Möglichkeit interessanter Anregungen für Konzepte interkultureller Kompetenz.15

2.1.2 Das Begriffsfeld »interkulturelle Kompetenz« Will man sich der Frage nähern, was interkulturelle Kompetenz ist, so stoßen wir auch hier auf begriffliche Probleme. Im gesellschaftlichen wie im politischen, im berufspraktischen wie im wissenschaftlichen Diskurs tummeln sich unterschiedliche Begriffe, die teils auf Differenzen im Verständnis der zu behandelnden Sache aufmerksam machen sollen, teils synonym dasselbe behaupten. Eine inhaltliche Systematik fehlte der Diskussion insgesamt lange Zeit ebenso wie anerkannte inhaltliche Eckpfeiler. Wie bereits der Oberbegriff »Kompetenz« liegt auch der Begriff »interkulturelle Kompetenz« in sehr vielfältiger und uneinheitlicher Form vor. Schon 14 | J. Straub: Kompetenz, S. 37. 15 | Vgl. ebd., S. 38f.

127

128

Dominik Egger

ein Blick in die englisch- und amerikanischsprachige Debatte deutet dies an. Dort findet sich eine Vielzahl von Begrifflichkeiten, die das Begriffsfeld »interkulturelle Kompetenz« als Schlagworte besetzen: »global competence«, »cross-cultural effectiveness«, »cross-cultural adjustment«, »cross-cultural competence«, »cross-cultural communication effectiveness«, »cross-cultural communication competence«, »cross-cultural adaption«, »cross-cultural success«, »intercultural sensitivity«, »intercultural effectiveness«, »intercultural communication competence«, »personal adjustment« oder »personal success« werden von Straub16 in Anlehnung an A. Thomas17 und E. W. Taylor aufgezählt. Im Deutschen finden sich ebenfalls mehrere Begriffe,18 die jeweils als Leitwort das Themenspektrum für sich beanspruchen und teils synonyme Verwendung finden, an Hand derer aber auch Differenzierungen eingefordert werden. Systematisch betrachtet kann unterschieden werden zwischen der Verwendung der Begriffe »Kompetenz«, »Handlungskompetenz« oder »Kommunikationskompetenz«. Diesen wird als Spezifikum vor allem im wissenschaftlichen Diskurs meist das attributive Adjektiv »interkulturell« vorangestellt. Seltener finden sich stattdessen auch die Adjektive »international«, »transkulturell«19 oder »hyperkulturell«20 als Attribute – und das sowohl im akademischen Diskurs als auch in der Weiterbildungspraxis. Zunächst handelt es sich bei Fragen der Begriffswahl jedoch nur um Wortstreitigkeiten, anhand derer allerdings teilweise auch inhaltliche Differenzen diskutiert werden. »Wir verfügen bis heute über keinen klaren Begriff ›interkultureller Kompetenz‹ – so häufig wir ihn auch benutzen mögen«,21 so Straub. Die Begriffe und Konzepte hinter den Begriffen unterscheiden sich in vielfältiger Weise. Einige bedeutende Unterschiede werden im Folgenenden diskutiert.22

16 | Vgl. ebd., S. 35. 17 | Vgl. Thomas, Alexander: »Interkulturelle Kompetenz. Grundlagen, Probleme und Konzepte«, in: Erwägen Wissen Ethik, EWE 14(1) (2003), S. 142. 18 | Vgl. hierzu die Auflistung bei J. Straub: Kompetenz, S. 35. 19 | Nach dem von Wolfgang Welsch in die Diskussion eingeführten Begriff der »Transkulturalität«. Vgl. bspw. Welsch, Wolfgang: »Transkulturalität. Zwischen Globalisierung und Partikularisierung«, in: Alois Wierlacher u.a. (Hg.), Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache. Intercultural German Studies, Bd. 26, München: Judicum 2000, S. 327-351. 20 | Nach dem von Byung-Chul Han in die Diskussion eingeführten Begriff der »Hyperkulturalität«. Vgl. Han, Byung-Chul: Hyperkulturalität. Kultur und Globalisierung, Berlin: Merve 2005. 21 | J. Straub: Kompetenz, S. 44. 22 | Nachfolgend wird zumeist der Begriff »interkulturelle Kompetenz« verwendet, um durch begriffliche Heterogenität nicht von der eigentlichen inhaltlichen Differenz ab-

Interkulturelle Kompetenz

2.2 Differenzkriterien interkultureller Kompetenz – Zu Fragen der Ausdehnung der Gültigkeit interkultureller Kompetenz 2.2.1 Über die Generalisierbarkeit interkultureller Kompetenz Der Versuch der Einordnung von interkultureller Kompetenz in eine übergeordnete, allgemeine Kompetenz-Systematik zeigt einige sehr unterschiedliche Positionen auf. Denn die Sichtweisen reichen von interkultureller Kompetenz als kulturspezifische Kompetenz, über eine kulturübergreifende Perspektive, bis hin zu einer Gleichsetzung mit einer allgemeinen Sozial- oder sogar Handlungskompetenz.

Kulturspezifische Kompetenz Ein sehr spezialisiertes Verständnis von interkultureller Kompetenz ist dann gegeben, wenn darunter lediglich eine Erfahrungs- und Wissenskompetenz in Bezug auf eine oder mehrere fremde Kulturen verstanden wird. In der Praxis findet man ein solches Verständnis gelegentlich in Form von »Ländertraining«-Seminaren, Ratgebern in Buchform für berufliche Kontakte im Ausland 23 oder – mal nicht nationenorientiert gedacht – in Form von Ratgebern über »die Frau« bzw. »den Mann« an sich. Walter Herzog wirft einem der bekanntesten Konzepte interkultureller Kompetenz, welches Alexander Thomas entwickelte,24 ein solch enges Verständnis vor, wenn er kritisiert, dass in dessen Konzept offen bleibe, weshalb und wie eine bikulturelle Kompetenz mit einer interkulturellen Kompetenz zusammenhinge. Ein solcher, kulturspezifischer Begriff einer dann aber als allgemein vorgestellten interkulturellen Kompetenz sei »ein leerer Begriff«,25 ähnlich dem Begriff einer allgemeinen Fremdsprachenkompetenz. Stefanie Rathje lehnt eine rein kulturspezifische Perspektive ebenso ab und verweist auf die Entstehungsgeschichte des Konzepts interkultureller Kompetenz: Die Beobachtung, »dass bestimmte Menschen mit Fremdheitserfahrungen in unzulenken. Lediglich wo zitierte Autoren selbst einen anderen Begriff wählen, wird dies beibehalten. 23 | Vgl. bspw. die Reihen »Fettnäpfchenführer« oder »Geschäftskultur kompakt« die jeweils der Conbusch-Verlag für einige Länder aufgelegt hat. Die von Alexander Thomas herausgegebene Reihe »Handlungskompetenz im Ausland«, erschienen im Verlag Vandenhoeck & Rupprecht, basiert auf den vom Herausgeber entwickelten »Kulturstandards«. Beinahe jeder »Länderratgeber« verweist in Vorwort oder Einleitung darauf, dass das zu beschreibende Land natürlich nicht im Detail den dargestellten Stereotypen entspreche, um dann jedoch in erster Linie Stereotype zu präsentieren. 24 | Vgl. A. Thomas: Interkulturelle Kompetenz. 25 | Herzog, Walter: »Im Nebel des Ungefähren: Wenig Plausibilität für eine neue Kompetenz«, in: EWE 14(1) (2003), S. 179.

129

130

Dominik Egger

terschiedlichen Kontexten leichter umgehen können als andere«,26 sei die bis heute gültige Begründung für die Notwendigkeit eines entsprechenden Kompetenzkonzepts. Dem widerspreche aber eine Position, die sich lediglich auf die Kompetenz bezüglich spezifischer Kulturen versteife, ohne kulturübergreifende Kompetenzaspekte zu berücksichtigen. Im aktuellen Diskurs findet sich kaum noch eine Position, die sich selbst als kulturspezifisch bezeichnen würde, wenngleich dies dennoch für manche gilt. Die Kritik an diesem Standpunkt aber hat sich allgemein durchgesetzt.

Kulturübergreifende Kompetenz Versteht man interkulturelle Kompetenz als kulturübergreifende, nicht an einen bestimmten Kulturraum oder eine bestimmte kulturelle Gruppierung gebundene Kompetenz, entspricht dies der von Rathje genannten Beobachtung. Diese Art von Kompetenz muss aber ein Spezifikum aufweisen, welches in der Sphäre des allgemein (Inter-)Kulturellen agiert. So mahnt beispielsweise Wierlacher, dass eine kulturelle Anpassung an eine andere Kultur, auch wenn diese wechselseitig vollzogen würde, nicht ausreiche, um auf interkulturelle Kompetenz zu verweisen. Der Umgang mit anderen Kulturen müsse notwendig auch eine kulturhermeneutische Selbstreflexion beinhalten.27 Wierlacher verwendet in seinem Modell die Figur des »tragfähigen Zwischen«,28 das mehr sei als der Überschneidungspunkt zweier kultureller Räume, sondern vielmehr eine dritte Ordnung, ein Ort des Allgemeinen. Er definiert interkulturelle Kompetenz entsprechend als »die schöpferische Fähigkeit, diese neue Ordnung zwischen Menschen verschiedener Kulturen zu stiften und fruchtbar zu machen«.29 Loenhoff versteht unter interkultureller Kompetenz »die Fähigkeit zu einer reflexiven Haltung gegenüber Fremdheit und damit […] das Vermögen zu einem vernünftigen Umgang mit dem Umstand, daß sich der andere genau so an seinen wie man sich selbst an eigenen kulturellen Formvorlagen orientiert«.30 Hier liefert die Bezugnahme auf das Phänomen der Fremdheit die Sphäre des (inter-)kulturell Allgemeinen31 und stellt damit eine sinnvolle Erweiterung des Konzepts interkultureller Kompetenz dar. Problematisch ist hierbei jedoch die zunächst inhaltslose Phrase »vernünftiger Umgang«, die 26 | S. Rathje: Interkulturelle Kompetenz, S. 7. 27 | Vgl. Wierlacher, Alois: »Das tragfähige Zwischen«, in: EWE 14(1) (2003), S. 215. 28 | Ebd., S. 216. 29 | Ebd. 30 | Loenhoff, Jens: »Interkulturelle Kompetenz zwischen Person und System«, in: EWE 14(1) (2003), S. 193. 31 | Vgl. auch Mecheril, Paul: »Behauptete Normalität – Vereinfachung als Modus der Thematisierung von Interkulturalität«, in: EWE 14(1) (2003), S. 198.

Interkulturelle Kompetenz

erst definitorisch mit Sinn gefüllt werden müsste, um dem Konzept eine praktische und theoretische Relevanz zugestehen zu können.32

Allgemeine Sozialkompetenz Eine noch weiter generalisierte Perspektive auf interkulturelle Kompetenz setzt sie – zumindest beinahe – mit einer allgemeinen Sozialkompetenz gleich. Zumeist ergibt sich diese Sichtweise auf der Grundlage einer Auflistung notwendiger Teilkompetenzen für interkulturelle Kompetenz, die dann zeigt, dass, abgesehen von kulturspezifischen Kompetenzen und Sprachenkenntnissen, diese Teilkompetenzen mit einer Auflistung von notwendigen Teilkompetenzen einer allgemeinen Sozialkompetenz übereinstimmt. Für Nový ist es zumindest offensichtlich, »dass die soziale Kompetenz ganz bestimmt eine Bedingung der interkulturellen Kompetenz ist und die Empfindlichkeit gegenüber Phänomenen der Multikulturalität […] nur ihre qualitative Erweiterung«33 sei. Gudula Linck ist sogar der Meinung, »daß es keinen qualitativen Unterschied gibt zwischen sozialer und transkultureller Kompetenz«.34 Hansen dagegen verweist auf ein Problem, das entsteht, wenn soziale und interkulturelle Kompetenz gleichgesetzt werden, ohne die Spezifika interkultureller Kompetenz ausreichend zu würdigen: Der interkulturelle Kontakt sei eben doch ein besonderer, sogar »ein besonders schwieriger. […] Die Verständigung über politische und kulturelle Grenzen hinweg wird insofern erschwert, als die Basis des Gemeinsamen schmaler ausfällt als bei binnen- oder intrakultureller Kommunikation.«35 Interkulturalität stelle deshalb einen Sonderfall von Erkenntnis und Kommunikation dar. Dennoch steht außer Frage, dass bedeutende Schnittmengen zwischen interkulturellen und sozialen Kompetenzen bestehen. Es wäre vor diesem Hintergrund lohnenswert, jene Besonderheit interkultureller Situationen noch eingehender zu erforschen.

Allgemeine Handlungskompetenz Die Kritik Hansens lässt sich auch auf die am weitesten generalisierte Sichtweise von interkultureller Kompetenz anwenden. Dennoch schlägt Jürgen Bolten vor, interkulturelle Kompetenz »als eine generelle Handlungskompetenz

32 | Vgl. S. Rathje: Interkulturelle Kompetenz, S. 8. 33 | Nov ý, Ivan: »Interkulturelle Kompetenz – zu viel Theorie?«, in: EWE 14(1) (2003), S. 206. 34 | Linck, Gudula: »Auf Katzenpfoten gehen und das qi miteinander tauschen. Überlegungen einer China-Wissenschaftlerin zur transkulturellen Kommunikation und Kompetenz«, in: EWE 14(1) (2003), S. 191. 35 | Hansen, Klaus P.: Kultur und Kulturwissenschaft. Eine Einführung, Tübingen/Basel: A. Francke (UTB) 2000, S. 318.

131

132

Dominik Egger

mit ›interkulturellem Vorzeichen‹ zu deuten.«36 Denn »[u]nter dem Etikett ›Interkulturelle Kompetenz‹ häufig verbuchte Eigenschaften wie ›Rollendistanz‹, ›Empathie‹, ›Toleranz‹, ›Flexibilität‹ oder ›Organisationsfähigkeit‹ sind für erfolgreiches Handeln in der eigenen Kultur zweifellos ebenso unverzichtbar wie in interkulturellen Kontexten.«37 Darum handele es sich nicht um originär »interkulturelle« Teilkompetenzen, was Bolten sogleich veranlasst, sogar deren Existenz in Frage zu stellen. Die Position Boltens im Kontext der Debatte ist vor allem auf Grundlage seiner Zieldefinition interkultureller Kompetenz zu verstehen. Dieser Aspekt wird in Kap. 2.2.5 noch ausführlicher behandelt. Die Frage, wo interkulturelle Kompetenz im Spannungsfeld spezifischer bis generalisierter Modelle zu verorten ist, ist eine erste deutliche Differenzkategorie im Diskurs über sie. Eine weitere Frage, die ebenfalls die Ausdehnung der Gültigkeit interkultureller Kompetenz zum Thema hat, ist die Frage nach dem Träger interkultureller Kompetenz.

2.2.2 Die Träger interkultureller Kompetenz Interkulturelle Kompetenz wird, wie der Kompetenzbegriff selbst, meist als ein Aspekt des personalen Handlungspotentials verstanden. Dieses ist, wie das konkrete Handeln einer Person, situationsabhängig, d. h. auch, dass andere handelnde Personen in der Situation ebenfalls ein »Mitspracherecht«38 haben. Straub verweist zudem auf die Tatsache, dass »[p]ersonale interkulturelle Kompetenz […] stets in einer durch Kontext- und Situationsinterpretation (Hervorh. d. Verf.] des Akteurs vermittelten Weise zum Tragen«39 kommt. Es finden sich kaum Ansätze, die interkulturelle Kompetenz auch Gruppen, insbesondere Organisationen oder Institutionen, zuschreiben. 40 Um einen solchen Ansatz theoretisch abzusichern, müsste jedoch eine »Theorie kollektiven und speziell organisationellen [!], institutionellen Handelns, die eine Mehrzahl von Personen bzw. eine […] Organisation oder Institution […] als Handlungssubjekt« 41 konzeptualisiert, entwickelt werden. Jürgen Straub zeigt sich enttäuscht, dass diese »nahe liegende Aufgabe bis heute nicht angegangen worden« 42 sei.

36 | Bolten, Jürgen: »Grenzen der Ganzheitlichkeit – Konzeptionelle und bildungsorganisatorische Überlegungen zum Thema ›Interkulturelle Kompetenz‹«, in: EWE 14(1) (2003), S. 157. 37 | Ebd. 38 | J. Straub: Kompetenz, S. 39. 39 | Ebd. 40 | Vgl. A. Thomas: Interkulturelle Kompetenz, S. 142. 41 | J. Straub: Kompetenz, S. 39. 42 | Ebd.

Interkulturelle Kompetenz

2.2.3 Das Anwendungsgebiet interkultureller Kompetenz Das dritte Feld der Differenzierung von Modellen interkultureller Kompetenz ist die Frage, »in welcher Art von menschlicher Interaktion interkulturelle Kompetenz überhaupt relevant wird.« 43 Die Debatte pendelt hier zwischen zwei Varianten, wobei die eine Variante die zweite einschließt.

Internationale Interaktion Die spezifischere Variante definiert »das Anwendungsgebiet interkultureller Kompetenz als Interaktionssituationen zwischen Individuen aus unterschiedlichen Kulturen, wobei damit implizit unterschiedliche Nationalkulturen, also gemeinhin Länder gemeint sind.« 44 Diese Variante scheint bei den meisten Veröffentlichungen zu interkultureller Kompetenz als Denkumgebung vorherrschend zu sein. Mindestens die gewählten alltagsweltlichen Beispiele verweisen fast ausschließlich auf einen internationalen, zumindest einen migrationsbezogenen Kontext. Auch die meisten Forschungssettings interkultureller Kompetenzforschung setzen zumeist auf nationalkulturellem Hintergrund an. Eines der bekanntesten Modelle liefert Alexander Thomas, 45 dessen Kulturbegriff »sich stark an der Idee der Nationalkultur« 46 orientiert. Krotz findet diese Sichtweise angemessen, da hierbei der »Tatbestand echter, oft gegensätzlicher und prinzipiell unterscheidbarer kultureller Welten« 47 gegenüber postmodernistischen Strömungen verteidigt würde. Jedoch ignoriere Thomas die innere Heterogenität der meisten Gesellschaften weitgehend, wenngleich diese kurz erwähnt würde. Rathje gesteht der Reduktion des Anwendungsgebietes interkultureller Kompetenz auf internationale Interaktionen einen pragmatischen Sinn zu, »da diese Form der Interkulturalität dem subjektiven Empfinden nach häufig mit dem höchsten Grad an Fremdheitserfahrung, Komplexität und Misslingenswahrscheinlichkeit assoziiert wird und zudem politisch und wirtschaftlich besonders relevant erscheint.« 48 Mecheril kritisiert dagegen an diesem Ansatz »die umstandslose und nicht begründete Gleichsetzung von ›Gesellschaft‹ und ›Kultur‹«. 49 Er argumentiert fragend:

43 | S. Rathje: Interkulturelle Kompetenz, S. 9. 44 | Ebd., f. 45 | Vgl. A. Thomas: Interkulturelle Kompetenz. 46 | Krotz, Stefan: »Symbolwelten und Machtstrukturen: zwei sich ergänzende Aspekte für die Analyse von Interkulturalität«, in: EWE 14(1) (2003), S. 183. 47 | Ebd. 48 | S. Rathje: Interkulturelle Kompetenz, S. 10. 49 | P. Mecheril: Behauptete Normalität, S. 200.

133

134

Dominik Egger »Welche signifikante Gemeinsamkeit weisen die Alltagskulturen einer Potsdamer Professorin, die künstlerisch interessiert ist und auf dem Land wohnt, einer 16jährigen Schülerin kurdischer Herkunft in Bayern, die unter der Androhung, ausgewiesen zu werden, ›sozialisiert‹ wurde, eines Hamburger Werftarbeiters, der als Geselle aus Emden nach Hamburg gezogen ist, eines rechtsextremen Jurastudenten und eines Thüringer Sozialarbeiters auf, der in einer kleinstädtischen Suchtberatungsstelle arbeitet? Und welchen Status besitzen diese Gemeinsamkeiten gegenüber den Unterschieden?« 50

Ihm geht es dabei nicht nur um die Ignoranz gegenüber einer inneren Heterogenität von Gesellschaften, sondern um die Kategorie der Nation, die nicht allein für einen Kulturbegriff tragfähig sei. Die Frage des Kulturbegriffs wird in Kapitel 2.2.4 eingehender aufgegriffen. Auch Rathje sieht einen Schwachpunkt der Argumentation darin, dass interkulturelle Probleme innerhalb von Gesellschaften in dieser Perspektive ausgeschlossen würden, »ohne jedoch in der Lage zu sein, eine sinnvolle Grenze zwischen der inter-nationalen Spezialsituation der Interkulturalität und der innergesellschaftlichen Interkulturalität ziehen zu können.«51 Ihr Argument bezieht sich also auf eine konzeptuelle Abgrenzungsproblematik und verweist damit auf Folgeprobleme vor allem für Forschungsansätze.

Interkollektive Interaktion Ein erweitertes Anwendungsgebiet, welches das der internationalen Interaktion einschließt, liefern Ansätze, die interkollektive Interaktion zum Anwendungsgebiet interkultureller Kompetenz erklären. Vertreterinnen und Vertreter entsprechender Modelle verstehen darunter »Interaktionen zwischen Individuen aus unterschiedlichen Gruppen oder Kollektiven, denen jeweils eine eigene Kultur zugerechnet wird«.52 Internationale Interaktion ist in dieser Perspektive ein Spezialfall interkollektiver Interaktion. Wolfgang Frindte verweist als Beispiele solcher kulturellen Kollektive auf »subkulturelle Zugehörigkeiten oder Organisations- und Unternehmenskulturen«.53 Linck, die, wie oben zitiert, keinen qualitativen Unterschied zu erkennen vermag zwischen sozialer und interkultureller bzw. transkultureller Kompetenz, erweitert die Gruppe möglicher kultureller Kollektive um die Kategorien »Mann und Frau, Alt und Jung«, sowie »Ossis und Wessis«.54 Weitere Beispiele könnten »ent50 | Ebd. 51 | S. Rathje: Interkulturelle Kompetenz, S. 10. 52 | Ebd., S. 11. 53 | Frindte, Wolfgang: »Die Praxis muss für sich selber sprechen – interkulturelle Kommunikation als komplexes Management«, in: EWE 14(1) (2003), S. 169. 54 | G. Linck: Auf Katzenpfoten gehen und das qi miteinander tauschen, S. 191 (dort Anm. 28).

Interkulturelle Kompetenz

lang gewöhnlicher Differenz- und Ungleichheitsachsen«55 in den typisierten Kategorien »Klasse«, »Sexualität« oder »Erwerbstätigkeitsstatus« gefunden werden. Aufgrund der Abgrenzungsproblematik bei Modellen, die sich auf internationale Interaktionen als Anwendungsgebiet interkultureller Kompetenz verlegen, präferiert Rathje die interkollektive Variante. Doch bestehe hier die Gefahr, dass durch die »Identifikation kleiner und kleinster Kollektive auf einer Mikroebene praktisch jede menschliche Interaktion zur interkulturellen erklärt werden müsste.«56 Sie fordert deshalb, dass Interaktionen nur dann als interkulturell gelten sollen, wenn diese von den Interaktionspartnern und Interaktionspartnerinnen selbst als solche interpretiert werden.57 Die Frage nach dem Anwendungsfeld interkultureller Kompetenz deutet auf eine fundamentalere Differenzkategorie hin: Die Frage, was unter Kultur überhaupt verstanden werden kann.

2.2.4 Der Kulturbegriff Kohärenzorientierung Immer noch sind vereinzelte Sichtweisen vorzufinden, die, um mit Wolfgang Welsch zu sprechen, Kultur unter dem Blickwinkel einer Kugelmetapher betrachten. Eine Kultur wird in diesen Konzepten verstanden als autonome Insel oder eben Kugel. Sie grenzt sich von anderen Kulturen ab, ihre Grenzen sind klar konturiert, wodurch sie eindeutig von anderen Kulturen unterschieden werden kann. Sie wird als intern homogen vorgestellt und häufig gedacht als volks- oder ethniengebunden. Diese Sichtweise auf Kultur geht auf Kulturkonzepte des 17. und 18. Jahrhunderts zurück, die bis heute wirkmächtig sind.58 Aktuelle Positionen, die sich – bewusst oder unbewusst – auf diese Tradition des Kulturbegriffs stützen, können unter dem Stichwort »Kohärenzorientierung« gekennzeichnet werden. Kultur wird dann »im weitesten Sinne als etwas Einigende[s]«59 verstanden, »das aus Gemeinsamkeiten entsteht, die von einer signifikanten Anzahl seiner Mitglieder geteilt werden.« 60 Zwar leugnen diese Ansätze in der Regel innere Widersprüche und Abweichungen von der Normalitätsvorstellung der Kultur nicht, dennoch dominiere »die Vorstellung, dass Kultur selbst eher als das Widerspruchsfreie, also das Kohärente inner-

55 | P. Mecheril: Behauptete Normalität, S. 199. 56 | S. Rathje: Interkulturelle Kompetenz, S. 11. 57 | Vgl. ebd., S. 14. 58 | Vgl. W. Welsch: Transkulturalität, S. 328ff. 59 | S. Rathje: Interkulturelle Kompetenz, S. 12. 60 | Ebd.

135

136

Dominik Egger

halb einer menschlichen Gruppe gedacht werden sollte«.61 Als Beispiel dieser Position kann die Definition von Alexander Thomas genannt werden, der Kultur als »universelles, für eine Gesellschaft, Organisation und Gruppe aber sehr typisches Orientierungssystem« 62 versteht.

Differenzorientierung Welsch stellt diesem Kulturbegriff mit dem von ihm geprägten Begriff der »Transkulturalität« ein anderes Kulturverständnis gegenüber, das sich auszeichnet durch Vernetzung, Durchmischung und Durchdringung.63 Eine kohärente Einbindung eines Individuums in nur eine Kultur hält Welsch für deskriptiv falsch64 (und auch normativ gefährlich). Auch Mecheril kritisiert die Idee eines monokulturell erfolgreich sozialisierten Individuums, zumal am Beispiel vieler in Deutschland lebender Menschen mit Migrationshintergrund gezeigt werde könne, dass eine monokulturelle Sozialisation für weite Teile der Bevölkerung ebenso eine Fiktion darstelle, wie die Behauptung, Sozialisation oder Enkulturation verliefe überhaupt immer »erfolgreich«.65 Demgegenüber besitzen Kulturbegriffe, die sich von der fiktiven Vorstellung innerer Homogenität lösen und stattdessen die Binnendifferenzen innerhalb von Kulturen berücksichtigen, einen Vorteil. Auch hier leugnen die Vertreterinnen und Vertreter dieser Sichtweise nicht die gegenteilige Beobachtung des Vorhandenseins kultureller Normen. Betont wird aber die »Individualität ihrer jeweiligen Ausprägungen« und der »Prozesscharakter von Kultur«.66 Allerdings kritisiert Rathje an dieser Vorstellung dennoch, dass sie »wiederum keine schlüssige Erklärung [biete] für den ebenso offensichtlichen Zusammenhalt von Kulturen […]. Wenn die alltägliche Interaktion fundamental durch die Verarbeitung von Differenzen geprägt ist, warum besteht dann überhaupt die Vorstellung einer Sondersituation der Interkulturalität als einer Situation, in der die Individuen sich selbst sowie den Interaktionspartner der Einheit einer Kultur zurechnen?« 67

Die aus Sicht der Forschung folgerichtige, problematisierende Frage stellt Fischer auf: »[W]as macht die Einheit in der Vielfalt aus? Was hält die teils konträ-

61 | Ebd. 62 | A. Thomas: Interkulturelle Kompetenz, S. 138. 63 | Vgl. W. Welsch: Transkulturalität, S. 335ff. 64 | Vgl. auch S. Rathje: Interkulturelle Kompetenz, S. 12. 65 | Vgl. P. Mecheril: Behauptete Normalität, S. 200f. 66 | S. Rathje: Interkulturelle Kompetenz, S. 13. 67 | Ebd.

Interkulturelle Kompetenz

ren, divergierenden kulturellen Systeme in einer Gesellschaft zusammen?«68 Ein deskriptiv brauchbarer Kulturbegriff muss demnach die Differenzen und Widersprüche innerhalb von Kulturen ebenso berücksichtigen, wie er eine Erklärung liefern muss für deren Zusammenhalt trotz inhärenter Differenzen. Daneben darf nicht vergessen werden, dass Begriffe nicht nur eine deskriptive Funktion haben, sondern auch normativ wirken. Sie sind operative Begriffe. Wie Welsch richtig festhält, haben Kulturbegriffe »[w]ie andere Selbstverständigungsbegriffe (beispielsweise ›Identität‹, ›Person‹, ›Mensch‹) auch, […] Einfluss auf ihren Gegenstand, verändern diesen. Unser Kulturverständnis ist auch ein Wirkfaktor in unserem Kulturleben.« 69 Dies mag ein Grund sein, warum gerade pädagogische Konzepte interkultureller Kompetenz auf Grund ihrer offensichtlichen Praxisrelevanz diesen normativen Faktor besonders häufig hervorheben.

2.2.5 Die Ziele interkultureller Kompetenz Die unterschiedlichen Stellungnahmen zur Generik bzw. Spezifik und zu den Anwendungsgebieten interkultureller Kompetenz sowie zum Kulturbegriff verwiesen allesamt auf die Frage der Ausdehnung der Gültigkeit interkultureller Kompetenz. Die jeweiligen Perspektiven legen zudem häufig eine entsprechende Thematisierung der eigentlichen Ziele einer solchen Kompetenz nahe. Mit einer Festlegung auf bestimmte Ziele wird wiederum sowohl die Frage der Gültigkeit behandelt als auch eine Präferenz für bestimmte Ansichten zur Generalisierbarkeit und für Anwendungsgebiete eines Konzepts interkultureller Kompetenz wie auch für einen im Rahmen der Diskussion um interkulturelle Kompetenz angemessenen Kulturbegriff. Die Zielvorstellungen der am Diskurs Beteiligten variieren zwischen ökonomischer und bildungswissenschaftlicher Orientierung – erstere nimmt vor allem das Effizienzkriterium in den Blick, zweitere den Bildungsprozess der Interaktionspartner.

Ef fizienz »Unter dem Stichwort Effizienz lassen sich Ansätze zusammenfassen, die in ihrer Definition interkultureller Kompetenz im weitesten Sinn auf das Gelingen und die Produktivität einer interkulturellen Interaktion abzielen und interkulturelle Kompetenz dementsprechend als Erfolgsinstrument positionieren.« 70

68 | Fischer, Veronika: »Hinterfragung des Kulturbegriffs von Alexander Thomas«, in: EWE 14(1) (2003), S. 168. 69 | W. Welsch: Transkulturalität, S. 343f. 70 | S. Rathje: Interkulturelle Kompetenz, S. 4.

137

138

Dominik Egger

Wiederum steht der Ansatz von Thomas für ein solches Zielkriterium Pate: Die interkulturelle Kompetenz soll es den Interaktionspartner ermöglichen, »den interkulturellen Handlungsprozess so (mit)gestalten zu können, dass Missverständnisse vermieden oder aufgeklärt werden können und gemeinsame Problemlösungen kreiert werden, die von allen beteiligten Personen akzeptiert und produktiv genutzt werden können«.71 Mit der Wahl des Effizienzkriteriums geht häufig auch ein zunehmend generalisiertes Verständnis interkultureller Kompetenz einher, »da sie alle am Erfolg beteiligten Kompetenzen der Interaktionspartner umfassen muss.«72 Besonders deutlich wird dies im Konzept von Bolten, dessen Beispiele und Veranschaulichung immer wieder auf das Effizienzkriterium verweisen und der entsprechend des Ziels der angemessenen bzw. erfolgreichen Zusammenarbeit von einer interkulturellen Handlungskompetenz spricht, die kaum von einer allgemeinen Handlungskompetenz zu unterscheiden sei.73 Ein massiver Kritikpunkt an Effizienzzielen im Rahmen von Konzepten interkultureller Kompetenz ist der moralische Vorwurf der Manipulation. Durch den instrumentellen Charakter, den interkulturelle Kompetenz in diesem Zusammenhäng häufig erhalte, könne die Durchsetzung eigener Vorteile unabhängig von ethisch-normativen Vorgaben betrieben werden. Ahmed Aries wirft solchen Konzepten vor, »den Gegenüber als etwas zu betrachten, das durch Erklärbarkeit manipulierbar wird. Schließlich will der, der ›versteht‹, weil er erklären kann, als Verhandelnder zum Erfolg kommen«.74 Interkulturelle Kompetenz wäre so »moralisch haftbar für sämtliche, auch negative Folgen einer interkulturellen Interaktion.«75 Auch würde eine solche, am Effizienzkriterium ausgerichtete Zielsetzung Fragen zur Bedeutung zahlreicher Rahmenbedingungen aufwerfen, die für den definierten Erfolg ausschlaggebend sein können. Interkulturelle Kompetenz gehe dann »in einem aufgeblähten Konzept […] als Generalschlüssel zum Erfolg«76 in interkulturellen Situationen auf. Herzog verweist nicht zuletzt auf ein forschungsmethodisches Problem: Die Anreicherung eines Modells der interkulturellen Kompetenz mit Erfolgskriterien sei »aus theoretischer Warte inakzeptabel, [da] Begriffe, die sich zur Problemanalyse eignen sollen, mit Kriterien der Problemlösung«77 versehen würden. Letztlich könne zudem zwischen Kompetenz und Performanz nicht 71 | A. Thomas: Interkulturelle Kompetenz, S. 141. 72 | S. Rathje: Interkulturelle Kompetenz, S. 6f. 73 | Vgl. J. Bolten: Grenzen der Ganzheitlichkeit, S. 157. 74 | Ahmed Aries, Wolf D.: »Dialog und interkulturelle Kompetenz – ›Begegnung‹ versus ›Sozialtechnik‹?«, in: EWE 14(1) (2003), S. 153. 75 | S. Rathje: Interkulturelle Kompetenz, S. 5. 76 | Ebd., S. 6. 77 | W. Herzog: Im Nebel des Ungefähren, S. 178f.

Interkulturelle Kompetenz

mehr unterschieden werden. Rathje empfiehlt aufgrund dieser massiven Kritik, die Zieldefinition enger zu fassen. Interkulturelle Kompetenz dürfe nicht ausschlaggebend mit dem Gesamterfolg der Interaktion verknüpft werden.78

Menschliche Weiterentwicklung /Bildung Eine im Sinne Rathjes »engere« Zieldefinition bieten interkulturelle Kompetenzkonzepte, »die das Gelingen interkultureller Interaktion eher in der persönlichen Weiterentwicklung der Interaktionspartner suchen.«79 So versteht Wierlacher eine interkulturelle Überschneidungssituation als »Reflexionssituation«, in der für beide beteiligten Identitäten »im Erfolgsfall eine Veränderung ihrer selbst« 80 mit einhergehe. Diese Veränderung zeigt sich in der von ihm beschriebenen Ebene eines »tragfähigen Zwischen«, das sich durch »Konstitution einer partiellen Gemeinsamkeit auf einer Sinnebene« 81 bilde. Ein derartiges bildungstheoretisches Konzept umgeht die Probleme einer Instrumentalisierung und impliziert keine unhaltbaren Erfolgsversprechen. Dennoch fordert Rathje, die Handlungsziele der Beteiligten nicht aus den Augen zu verlieren, da sie in der Interaktionssituation in pragmatischer Hinsicht von Bedeutung seien. 82 Sie bringt auch bildungswissenschaftliche Zielbestimmungen in Bezug zur Generik interkultureller Kompetenz: »Die Vorstellung von interkultureller Kompetenz als universelle, nicht an einen bestimmten Zielkulturraum gebundene Kompetenz findet sich vor allem im Zusammenhang mit Ansätzen, die interkulturelle Kompetenz mit dem Ziel menschlicher Weiterentwicklung verknüpfen.« 83

Rathje scheint es nicht zu stören, dass sie einen ähnlichen Zusammenhang bereits beim Kriterium der Effizienz feststellte.84 Ihre Argumentation zeigt also lediglich, dass sowohl eine bildungswissenschaftliche Zielsetzung als auch eine ökonomische wenig vereinbar zu sein scheinen mit einer kulturspezifischen Engführung der Inhalte interkultureller Kompetenz.

78 | S. Rathje: Interkulturelle Kompetenz, S. 6. 79 | Ebd. 80 | A. Wierlacher: Das tragfähige Zwischen, S. 215f. 81 | Ebd., S. 216. 82 | Vgl. S. Rathje: Interkulturelle Kompetenz, S. 6. 83 | Ebd., S. 7. 84 | Vgl. ebd., S. 6f.

139

140

Dominik Egger

2.3 Definitorische Heterogenität Infolge der aufgezeigten Differenzen bezüglich möglicher Konzepte verwundert es nicht, dass dementsprechend eine Vielzahl unterschiedlichster Definitionsversuche von interkultureller Kompetenz vorliegen. Die Definitionsversuche reichen nach Straub von einer »Ansammlung unterschiedlicher Typen expliziten Wissens und dessen gleichsam technischer Anwendung bis hin zu einer Art normativer Metaphysik interkulturell kompetenter Personen, die als Avantgarde eines umfassenderen Welt- und Menschenbildes vorgestellt werden.« 85 Problematisch an normativen und metaphysisch aufgeladenen Konzepten sei eben jener normative Gehalt, der die Begriffsbestimmung an jeweils bestimmte kulturelle Hintergründe und Weltanschauungen bindet. »Bereits deswegen kann nicht davon ausgegangen werden, dass solche Begriffe allgemein zustimmungsfähig und universell verwendbar sind.« 86 Gleichzeitig sind Grundbegriffe der Humanwissenschaften nie völlig neutral, sondern immer auch kulturell und normativ geprägt. Eine Wissenschaft, die diese Bedingtheit vergisst, ist außer Stande ihre ideologischen Grundlagen zu reflektieren und einen entsprechenden Diskurs über ihre Voraussetzungen zu führen. Technische (oft eher technologische) Definitionen werden bei Straub als Teil einer interpersonalen kommunikativen Kompetenz, die im spezifischen Kontext der interkulturellen Überschneidungssituation Anwendung fänden, als meist allgemein und abstrakt charakterisiert. Als Kriterien interkulturellen Handelns werden hier »Effektivität« und »Angemessenheit« in den Mittelpunkt gerückt, um ein zielführendes erfolgreiches Handeln zu gewährleisten. Straub kritisiert an einer solchen Definition jedoch, dass, wenn der Begriff interkultureller Kompetenz insbesondere auf die Kriterien »Effektivität« bzw. »Effizienz« verpflichtet werde, eine genauere Bestimmung interkultureller Kompetenz auf die Frage, was unter »Effektivität« und »Angemessenheit« verstanden werden soll, verschoben werde.87 Allerdings ließe sich diese Kritik wohl prinzipiell auf beinahe jedes begrifflich-abstrakte Definiens anwenden, das nicht auf direkte Anschauung verweist. Ein anderer Umstand kommt hier dennoch wiederum zum Tragen: Die Uneinheitlichkeit von Begriffsbedeutungen setzt sich im Bereich der Definitionen fort. »Vielfach sind die das eigentlich interessierende Konstrukt partiell definierenden Begriffe selbst uneindeutig und umstritten«, 88 so Straub. Dies gilt insbesondere für Definitionsversuche, die auf eine listenartige Aufzählung 85 | J. Straub: Kompetenz, S. 40. 86 | Ebd. 87 | Vgl. ebd., f. 88 | Ebd., S. 42.

Interkulturelle Kompetenz

von Teilkomponenten setzen. Doch gerade in diesen Fällen ergäben sich noch weitere Fragen: Sind die Komponenten/Konstituenten notwendig? In welcher Kombination sind sie hinreichend für interkulturelle Kompetenz? Stehen sie in einer Hierarchie zueinander und wenn ja, wie sind sie gewichtet? Wie stehen die übergeordneten Dimensionen zueinander?89

2.4 Anerkennung der Heterogenität Über Anwendungsgebiete, Inhalte, Begriffe und Definitionen sowie nicht zuletzt Ziele herrscht also Uneinigkeit. Interkulturelle Kompetenz ist eben nicht direkt beobachtbar, was eine Verständigung erleichtern könnte, sondern ein »Interpretationsprodukt«.90 Jede Position findet mehr oder weniger Befürworter und Befürworterinnen respektive Kritikerinnen und Kritiker. »Im interessierenden Fall kommt erschwerend hinzu, dass bis heute – trotz geführter Debatten – nicht ausgemacht ist, ob es tatsächlich sinnvoll ist, ›interkulturelle Kompetenz‹ (ausschließlich) als Allgemeinbegriff zu etablieren, also ohne spezifizierende Rücksicht auf die je besonderen Lebensbereiche und (beruflichen oder ›privaten‹) Handlungsfelder und die speziellen Aufgaben, die bestimmte Personen miteinander, nebeneinander oder auch gegeneinander in konkreten Situationen zu einem bestimmten Zeitpunkt zu bearbeiten haben […].« 91

Dennoch ist interkulturelle Kompetenz im wissenschaftlichen wie im gesellschaftlichen Diskurs längst als relevant anerkannt. Seit nun einigen Jahren bereits gibt es eine ganze Reihe Vorschläge zur wissenschaftlichen Bestimmung und Systematisierung des Begriffs. Vielfältige Modelle und Systematiken wurden entwickelt und ausführlich debattiert. Die Diskussion in »Erwägen, Wissen, Ethik« um den Vorschlag von Alexander Thomas sei hier nur als ein herausragendes Beispiel genannt.92 »Ein wirklich allgemeiner, tragfähiger Konsens lässt sich jedoch nicht ausmachen.«93 Straub weist zurecht darauf hin, dass ein solcher Konsens indes auch nicht erforderlich sei und spielt dabei auf andere sozial- und kulturwissenschaftliche Grundbegriffe an. Dennoch sei ein größeres Maß an Klarheit wünschenswert. Dieses Kapitel wollte zur Klärung wichtiger und unterscheidbarer Positionen in systematischer Weise beitragen. Im Folgenden soll darauf auf bauend anhand eines Beispiels in den Blick ge-

89 | Vgl. ebd., f. 90 | Ebd., S. 39. 91 | Ebd., S. 44. 92 | Vgl. F. Benseler u.a. (Hg.): Erwägen, Wissen, Ethik, Heft 1. 93 | J. Straub: Kompetenz, S. 35f.

141

142

Dominik Egger

nommen werden, wie ein derart differenziertes und heterogenes Themengebiet im Rahmen eines akademischen Studiums gelehrt werden könnte.

3. D as L ehrprojek t »G lobale S ysteme und I nterkulturelle K ompe tenz« Globalisierung und Internationalisierung haben unsere alltägliche Lebenswelt kulturell pluralisiert. Dies gilt selbstverständlich, vielleicht sogar im besonderen Maße (schon aus historischer Tradition) auch für die akademische Welt. Internationale Konferenzen, internationale Publikationen und internationale Forschungskooperationen prägen zunehmend die global vernetzte Forschungslandschaft. Aber auch interdisziplinäre Kompetenz wird in einer immer mehr durch Spezialisierung gekennzeichneten Forschungsgemeinschaft notwendig. Der Blick auf das eigene Fachwissen erfordert zunehmend auch einen Blick über die eigene Fachkultur hinaus. Auch die typischen außeruniversitären Berufsfelder von Hochschulabsolventen und -absolventinnen sind von dieser kulturellen Pluralität gekennzeichnet: Ob als Mitglied eines multikulturellen und meist auch interdisziplinären Teams in einer international tätigen Organisation, als Lehrkraft in einer vielfältig heterogen besetzten Klasse oder in Verhandlungen mit Geschäftspartnerinnen und Gesprächspartnern im Ausland oder aus anderen gesellschaftlichen Kontexten: Interkulturelle Kompetenz wird in beinahe jedem Berufsfeld benötigt. Vernetztes Denken, Transferdenken, ist insbesondere im Kontext von kulturellen Phänomenen gefragt. Diese Zustandsbeschreibung unserer Lebenswelt zeigt die Bedeutung interkultureller Kompetenz für jeden Hochschulabsolventen und jede -absolventin (im Grunde auch für Absolventinnen und Absolventen anderer [Aus-]Bildungswege). Interkulturelle Kompetenz stellt eines der wichtigsten Soft Skills unserer Zeit dar. Die Hochschulen täten demnach gut daran, diesem Thema Aufmerksamkeit zu widmen, und einige tun dies auch längst. Die beschriebene Vielfältigkeit und die Widersprüchlichkeiten interkultureller Kompetenzkonzepte erschweren es jedoch, in der akademischen Lehre einen angemessenen Weg zu finden, interkulturelle Kompetenz zu vermitteln. Welchem interkulturellen Kompetenzmodell sollte nachgeeifert werden? An welchen Rahmenüberlegungen sollte man sich orientieren? Welcher Weg ist der richtige, um »wahre« interkulturelle Kompetenz bei Studierenden zu ermöglichen? Die Julius-Maximilians-Universität Würzburg hat zur Beantwortung dieser Fragen und bei der Umsetzung eines eigenen Konzepts einen pragmatischen, gleichzeitig aber inhaltlich wohl auch angemessenen Weg eingeschlagen: Seit 2008 können Studierende aller Fachbereiche und Studienabschlüsse im Zuge ihrer Immatrikulation an der Würzburger Universität Veranstaltungen des Lehrprojekts »Globale Systeme und Interkulturelle Kompetenz«

Interkulturelle Kompetenz

(GSIK)94 besuchen. Themenfelder interkultureller Kompetenz werden mit Zusammenhängen globaler Systeme verknüpft und theoretischen Grundlagen praktische Anwendungsbezüge gegenübergestellt. Schon diese thematische Verknüpfung interkultureller Kompetenzen mit den Rahmenbedingungen globaler Systeme, die einerseits Ursache von, andererseits aber auch Umgebung gelebter Interkulturalität ist, zeigt, wie grundsätzlich die Verantwortlichen sich dem Themenfeld nähern wollten. Doch nicht nur diese aus Sicht der beteiligten Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen notwendige thematische Kombination macht interkulturelle Kompetenz zu einem äußerst komplexen Bildungsziel. Kompetenzerwerb ist in der Regel nicht an einem Wochenende in einem 20-stündigen Workshop zu vollziehen. Und gerade die auf unterschiedliche soziale, handlungsrelevante und selbstreflexive Teilkompetenzen abzielende interkulturelle Kompetenz, deren Spezifikum, das (Inter-) Kulturelle, nicht von ungefähr seit Jahrzehnten zu akademischen Debatten führt, wird von den meisten Fachvertreterinnen und -vertretern als besonders komplex angesehen. Sie fordert uns auf, kulturelle Phänomene zu reflektieren und damit auch unsere je persönliche kulturelle Bedingtheit zu fassen. Im Rahmen des Lehrprogramms des GSIK-Projekts erhalten Studierende deshalb erst nach Absolvierung mehrerer Seminare und Teilnahme an anderen Veranstaltungsformaten wie akademischen Vorträgen, Podiumsdiskussionen oder Service Learning-Formaten ein entsprechendes Zertifikat für ihre Bewerbungsunterlagen. Die Teilnahmezahl von über 1000 Studierende pro Semester zeigt, dass dieses anspruchsvolle freiwillige Lehrprogramm sehr gut angenommen wird. Entsprechend bemüht sich das unter der Schirmherrschaft der Fakultät für Humanwissenschaften stehende Projekt, ausreichend Lehrveranstaltungen anzubieten. Im Sommersemester 2016 konnten beispielsweise mehr als 100 teilweise reguläre,95 teilweise außerordentliche Veranstaltungen im Rahmen des GSIK-Projekts anerkannt werden. Möglich wird dieses umfassende Lehrangebot des deutschlandweit in dieser Form einmaligen Kooperationsprojekts durch die derzeit 18 regelmäßigen Projektpartner und -partnerinnen aus sieben Fakultäten, drei zentralen Einrichtungen sowie mehreren Arbeitskreisen, Referaten, Fachschaftsvertretungen und Initiativen der Studierendenvertretung der Würzburger Universität. Dazu kommen weitere unregelmäßige oder

94 | www.gsik.uni-wuerzburg.de vom 20.02.2017. 95 | Viele Veranstaltungen werden von den beteiligten Fachbereichen im Rahmen von regulären Bachelor- und Masterstudiengängen angeboten. Die Teilnahme für Studierende auch anderer Studiengänge wird im Rahmen des GSIK-Programms ermöglicht. Studierende können auf diese Weise häufig Programm-Teilnahmescheine und ECTS-Punkte für ihren Studiengang parallel erwerben.

143

144

Dominik Egger

projektbezogene Kooperationspartnerinnen und -partner von innerhalb und außerhalb der Universität. Die fachliche Bandbreite umfasst geistes-, kultur-, sozial- oder humanwissenschaftliche Gebiete und Themeninhalte ebenso wie naturwissenschaftliche. Diese akademische Vielfalt geht selbstverständlich einher mit sehr unterschiedlichen Zugängen und Perspektiven auf die Themenfelder interkultureller Kompetenz und globaler Systeme. Während in einigen Sprachwissenschaften häufig landespezifische Kulturbeispiele Anlass zu Reflexion bieten, in pädagogischen Kontexten sowohl kulturwissenschaftliche als auch praktische Problemstellungen der Heterogenität erörtert werden, diskutieren Juristen und Juristinnen die kulturelle Gewordenheit unterschiedlicher nationaler Rechtssysteme oder länderübergreifender Normen und Wertegrundlagen der Justiz. Die Betriebswissenschaften interessieren sich für pragmatische Fragen internationaler Zusammenarbeit, die Biologie neben berufsvorbereitender Aspekte im Rahmen internationaler Konzerne für Migrationsbewegungen der Tier- und Pflanzenwelt. Die Theologie wiederum diskutiert religiöse Normen und Werte und bemüht sich um den interreligösen Dialog. Auch die bevorzugten methodischen Zugänge unterscheiden sich massiv, weswegen auch an dieser Stelle einige Unterschiede in der Interpretation interkultureller Kompetenz zu Tage treten: Unterschiedliche Methoden generieren nun einmal unterschiedliche Perspektiven auf den zu untersuchenden Gegenstand. An dieser gelebten Interdisziplinarität und besonders auch den Widersprüchen und Ambivalenzen sollen die Studierenden teilhaben, weshalb sie im Zuge ihres Zertifikaterwerbs auch in für sie studiengangsfremde Fachbereiche eintauchen und dort Veranstaltungen belegen müssen. Zudem bieten fächerübergreifende Kooperationsveranstaltungen die Möglichkeit, den interdisziplinären Diskurs zu pflegen. Die Lehrenden erhoffen sich so ein Lernen durch die Erfahrung unterschiedlicher akademischer Kulturen und damit durch das Erleben von Fremdheit bzw. Andersheit in einem eigentlich gewohnten Umfeld. Bezüglich der oben angeführten Differenzkategorien gibt es in dieser interdisziplinären und kooperativen Gemengelage bewusst keine Vorgabe seitens der Projektverantwortlichen: Weder wird die Perspektive auf interkulturelle Kompetenz eingeschränkt oder ein Kulturbegriffskonzept vorgegeben, noch werden bestimmte Zielbestimmungen ausgeschlossen. Das mehrfach ausgezeichnete Projekt bemüht sich im Gegenteil gerade darum, die Heterogenität unterschiedlicher Ansätze zu fördern und in fächerübergreifenden Veranstaltungen einander gegenüber zu stellen. Der so entstehende Dialog der Disziplinen soll Studierenden wiederum als Beispiel einer gelebten Praxis der Inter(fach)kulturalität dienen. Die Universität Würzburg hat im Rahmen des Projekts »Globale Systeme und Interkulturelle Kompetenz« also entschieden, der konzeptuellen Vielfalt Raum zu bieten. Dies begründet sich insbesondere durch den Umstand, dass Heterogenität ein inhaltliches Grundthema des zu

Interkulturelle Kompetenz

behandelnden Stoffes darstellt. Im Rahmen des GSIK-Projekts soll Studierenden auf diese Weise ein Einblick in den tatsächlichen Fachdiskurs gegeben werden. Die Anerkennung von Heterogenität beginnt damit beim zu behandelnden Stoff selbst.

4. L iter atur Ahmed Aries, Wolf D.: »Dialog und interkulturelle Kompetenz – ›Begegnung‹ versus ›Sozialtechnik‹?«, in: Erwägen Wissen Ethik, EWE 14(1) (2003), S. 153-154. Arnold, Rolf/Schüssler, Ingeborg: »Entwicklung des Kompetenzbegriffs und seine Bedeutung für die Berufsbildung und für die Berufsbildungsforschung«, in: Guido Franke/Bundesinstitut für Berufsbildung (Hg.), Komplexität und Kompetenz. Ausgewählte Fragen der Kompetenzforschung, Bielefeld: W. Bertelsmann 2008 (1. unveränd. Nachdruck), S. 52-74. Benseler, Frank/Blanck, Bettina/Keil, Reinhard/Loh, Werner (Hg.): Erwägen, Wissen, Ethik. Deliberation Knowledge Ethics, [EWE] Vormals: Ethik und Sozialwissenschaften [EuS], Streitforum für Erwägungskultur, 14(1), Stuttgart: Lucius & Lucius 2003. Bertelsmann Stiftung (Hg.): Interkulturelle Kompetenz – Schlüsselkompetenz des 21. Jahrhunderts? Thesenpapier der Bertelsmann Stiftung auf Basis der Interkulturellen-Kompetenz-Modelle von Dr. Darla K. Deardorff, 2006, https://www.jugendpolitikineuropa.de/downloads/22-177-414/bertelsmann_intkomp.pdf vom 28.12.2016. Bolten, Jürgen: »Grenzen der Ganzheitlichkeit – Konzeptionelle und bildungsorganisatorische Überlegungen zum Thema ›Interkulturelle Kompetenz‹«, in: Erwägen Wissen Ethik, EWE 14(1) (2003), S. 156-159. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Hg.): Das Bundesamt in Zahlen 2015. Asyl, Migration und Integration, Stand: September 2016, http://www. bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Publikationen/Broschueren/bundesamt-in-zahlen-2015.pdf vom 28.12.2016. Department of Economics and Social Affairs (Hg.): International Migration Report 2015. Highlights, New York: United Nations 2016, http://www.un.org/ en/development/desa/population/migration/publications/migrationreport/docs/MigrationReport2015_Highlights.pdf vom 08.12.2016 Erpenbeck, John/Rosenstiel, Lutz v. (Hg.): Handbuch Kompetenzmessung. Erkennen, verstehen und bewerten von Kompetenzen in der betrieblichen, pädagogischen und psychologischen Praxis, überarb. u. erw. Aufl., Stuttgart: Schäffer-Poeschel 2007. Fischer, Veronika: »Hinterfragung des Kulturbegriffs von Alexander Thomas«, in: Erwägen Wissen Ethik, EWE 14(1) (2003), S. 167-169.

145

146

Dominik Egger

Frindte, Wolfgang: »Die Praxis muss für sich selber sprechen – interkulturelle Kommunikation als komplexes Management«, in: Erwägen Wissen Ethik, EWE 14(1) (2003), S. 169-172. Han, Byung-Chul: Hyperkulturalität. Kultur und Globalisierung, Berlin: Merve 2005. Hansen, Klaus P.: Kultur und Kulturwissenschaft. Eine Einführung, vollst. überarb. u. erw. Aufl., Tübingen/Basel: A. Francke (UTB) 2000. Herzog, Walter: »Im Nebel des Ungefähren: Wenig Plausibilität für eine neue Kompetenz«, in: Erwägen Wissen Ethik, EWE 14(1) (2003), S. 178-180. Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, bearb. v. E. Seebold, durchges. u. erw. Aufl., Berlin/Boston: Walter de Gruyter 252011. Krotz, Stefan: »Symbolwelten und Machtstrukturen: zwei sich ergänzende Aspekte für die Analyse von Interkulturalität«, in: Erwägen Wissen Ethik, EWE 14(1) (2003), S. 183-185. Linck, Gudula: »Auf Katzenpfoten gehen und das qi miteinander tauschen. Überlegungen einer China-Wissenschaftlerin zur transkulturellen Kommunikation und Kompetenz«, in: Erwägen Wissen Ethik, EWE 14(1) (2003), S. 189-192. Loenhoff, Jens: »Interkulturelle Kompetenz zwischen Person und System«, in: Erwägen Wissen Ethik, EWE 14(1) (2003), S. 192-193. Mecheril, Paul: »Behauptete Normalität – Vereinfachung als Modus der Thematisierung von Interkulturalität«, in: Erwägen Wissen Ethik, EWE 14(1) (2003), S. 198-201. Nový, Ivan: »Interkulturelle Kompetenz – zu viel Theorie?«, in: Erwägen Wissen Ethik, EWE 14(1) (2003), S. 206-207. Rahtje, Stefanie: »Interkulturelle Kompetenz – Zustand und Zukunft eines umstrittenen Konzepts«, in: Britta Hufeisen/Jörg Roche (Hg.), Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht [ZiF], 11(3) (2006): »Interkulturalität und Fremdsprachenunterricht – Kritische Anmerkungen und neue Perspektiven«, 21 S., online: http://tujournals.ulb.tu-darmstadt.de/ index.php/zif/article/download/396/384 vom 06.02.2017. Statistisches Bundesamt (Hg.): Fachserie 1, Reihe 2.2: Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Bevölkerung mit Migrationshintergrund – Ergebnisse des Mikrozensus 2015, erschienen am 16. September 2016, ergänzte Version am 01.11.2016, Wiesbaden: Statistisches Bundesamt 2016, S. 37. https:// www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/Bevoelkerung/MigrationIntegration/Migrationshintergrund2010220157004.pdf vom 28.12.2016 Straub, Jürgen: »Kompetenz«, in: ders./Arne Weidemann/Doris Weidemann (Hg.), Handbuch interkulturelle Kommunikation und Kompetenz. Grundbegriffe – Theorien – Anwendungsfelder, Stuttgart/Weimar: Metzler 2007, S. 35-46.

Interkulturelle Kompetenz

Thomas, Alexander: »Interkulturelle Kompetenz. Grundlagen, Probleme und Konzepte«, in: Erwägen Wissen Ethik, EWE 14(1) (2003), S. 137-150. Welsch, Wolfgang: »Transkulturalität. Zwischen Globalisierung und Partikularisierung«, in: Alois Wierlacher u.a. (Hg.), Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache. Intercultural German Studies, Bd. 26, München: Judicum 2000, S. 327-351. Wierlacher, Alois: »Das tragfähige Zwischen«, in: Erwägen Wissen Ethik, EWE 14(1) (2003), S. 215-217. Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914-1916. Philosophische Untersuchungen, in: ders.: Werkausgabe Bd. 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984. www.gsik.uni-wuerzburg.de vom 20.02.2017.

147

Autorinnen und Autoren Fremdheit und Interkulturalität

Burkard, Franz-Peter, Prof. Dr., lehrt Philosophie und Religionswissenschaft an der Universität Würzburg. Forschungsschwerpunkte liegen in der Anthropologie, Ethik, Kulturphilosophie, Theorie und Geschichte der Religionswissenschaft sowie Religionsethnologie. Zum Thema des Bietrags siehe auch die Publikation: Anthropologie der Religion, 22011. Egger, Dominik, Dipl. Päd., studierte Pädagogik, Philosophie, Soziologie und Psychologie an der Universität Würzburg. Seit 2012 ist er Hochschuldozent am Lehrstuhl für Systematische Bildungswissenschaft der Würzburger Universität und leitet seit 2015 zusätzlich das interdisziplinäre Lehrprojekt ›Globale Systeme und Interkulturelle Kompetenz‹ (GSIK). Seine Forschungsinteressen liegen in den Bereichen Interkulturalität, Ethik und Bildungsphilosophie. In seinem Promotionsprojekt beschäftigt er sich aus einer bildungsphilosophischen Perspektive heraus mit interkultureller Kompetenz. Keller, Heidi, Prof. em. Dr., ist Professorin i.R. der Universität Osnabrück und Direktorin von Nevet an der Hebrew Universität in Jerusalem. Sie hat an verschiedenen Universitäten im In- und Ausland gelehrt und geforscht. Sie interessiert sich für die Wirkung des Zusammenspiels von biologischen Grundlagen und kulturellen Informationen auf die kindliche Entwicklung und hat dazu umfangreiche kulturvergleichende Forschungsprogramme initiiert und durchgeführt. Seit einigen Jahren setzt sie sich zudem für die Anwendung kultureller Erkenntnisse in der pädagogischen Praxis ein. Sie hat Modelle und Konzepte entwickelt, die es erlauben, die Kita als multikulturellen Raum zu gestalten und dadurch die Förderung aller Kinder gleichermaßen zu ermöglichen.

150

Fremdheit und Interkulturalität

Neubert, Dieter, Prof. Dr., studierte Soziologie, Pädagogik und Ethnologie in Mainz. Er schloss sein Studium mit einem Diplom in Pädagogik ab und promovierte in der Soziologie. Seine Habilitation in Soziologie erfolgte an der Freien Universität Berlin. Nach Tätigkeiten als Sozialarbeiter und wissenschaftlicher Mitarbeiter in Mainz und an der PH Heidelberg hatte er eine Vertretungs- bzw. Gastprofessur an der Universität Bayreuth und an der Universität Hohenheim inne. Seit 2000 ist er Professor für Entwicklungssoziologie an der Universität Bayreuth. Nach früheren Arbeiten zur Soziologie der Behinderten arbeitet er heute zur Soziologie Afrikas, zur Soziologie gewalttätiger Konflikte, zum sozialen Wandel, zur Sozialstrukturanalyse in Afrika und zur Entwicklungspolitik. Sein regionaler Schwerpunkt ist Afrika, insbesondere Ostafrika und hat auch in Südostasien geforscht (Vietnam und Thailand). Rauh, Andreas, Dr. phil., studierte Kunstpädagogik, Pädagogik und Philosophie und promovierte an der Graduiertenschule für die Geisteswissenschaften in Würzburg. Er arbeitete zunächst am ›Zentrum für Mediendidaktik‹ (ZfM) der Universität Würzburg, und erhielt Lehraufträge in der Kunstpädagogik und Entwicklungspsychologie. Seit 2013 ist er Geschäftsführer des ›Human Dynamics Centre‹ (HDC) der Fakultät für Humanwissenschaften, an der Fakultät ebenso Koordinator des KOMPASS Tutoren-/Mentorenprogramms und des Promotionsqualifikationsprogramms (FPQ). Zahlreiche Publikationen zum Themenkomplex der Atmosphäre als Wahrnehmungsphänomen. Seine Forschungsinteressen liegen in den Bereichen Ästhetik, Erkenntnistheorie, Ontologie. Weitere Informationen auf www.andreasrauh.eu Schäfer, Alfred, Prof. Dr., ist seit 1993 Professor für Systematische Erziehungswissenschaft an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Seine Forschungsschwerpunkte liegen zunächst in der Frage nach den kategorialen Konstruktionsproblemen pädagogischer Theorien und dem damit verbundenen Wirklichkeitsproblem von Erziehung und Bildung; hinzu kommen bildungsethnologische Untersuchungen (mit Feldforschungsprojekten in Tansania, Mali, Benin, Ladakh), in denen es nicht zuletzt auch um einen befremdenden Blick auf kategoriale Problemfassungen der europäischen Tradition ging. Als dritter Schwerpunkt lässt sich das Verhältnis von politischer und pädagogischer Rhetorik angeben. Wichtige Veröffentlichungen: Das Versprechen der Bildung (2011); Irritierende Fremdheit. Bildungsforschung als Diskursanalyse (2011); Zur Genealogie der Pädagogik (2012); Schulische Leistungsdiskurse. Zwischen Gerechtigkeitsversprechen und Hirndoping (2015).

Autorinnen und Autoren

Schwartz, Yossef, Prof. Dr., ist Direktor der ›School of Philosophy, Linguistics and Science Studies‹ an der Universität Tel Aviv. Er ist Mitglied des Cohn Instituts für Wissenschafts- und Ideengeschichte, deren Direktor er von 2009 bis 2015 war. Zu seinen Veröffentlichungen zählen u.a.: »To Thee is silence praise«: Meister Eckhart’s reading in Maimonides’ Guide of the Perplexed, Tel Aviv 2002 [Hebrew]; (zus. m. Volkhard Krech hg.), Religious Apologetics – Philosophical Argumentation, Tübingen: Mohr Siebeck 2004; Hillel von Verona, Über die Vollendung der Seele, hg., übersetzt und eingeleitet von Yossef Schwartz, Freiburg: Herder 2009; (zus. m. Alexander Fidora/Harvey Hames hg.), Latin-Into-Hebrew: Studies and Texts, Volume 2: Texts in Contexts, Leiden: Brill 2013.

151

Kulturwissenschaft Eva Horn, Peter Schnyder (Hg.) Romantische Klimatologie Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2016 Mai 2016, 152 S., kart., 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3434-1 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3434-5

Fatima El-Tayeb Undeutsch Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft September 2016, 256 S., kart., 19,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3074-9 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3074-3

Arianna Ferrari, Klaus Petrus (Hg.) Lexikon der Mensch-Tier-Beziehungen 2015, 482 S., kart., 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-2232-4 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2232-8

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Kulturwissenschaft Andreas Langenohl, Ralph Poole, Manfred Weinberg (Hg.) Transkulturalität Klassische Texte 2015, 328 S., kart., 24,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-1709-2 E-Book:  € (DE), ISBN

María do Mar Castro Varela, Nikita Dhawan Postkoloniale Theorie Eine kritische Einführung 2015, 376 S., kart., 24,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-1148-9 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-1148-3 EPUB: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-1148-3

Thomas Hecken, Moritz Baßler, Robin Curtis, Heinz Drügh, Nadja Geer, Mascha Jacobs, Nicolas Pethes, Katja Sabisch (Hg.) POP Kultur & Kritik (Jg. 5, 2/2016) September 2016, 176 S., kart., zahlr. Abb., 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8376-3566-9 E-Book: 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-3566-3

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de