Calderón: Fremdheit und Nähe eines spanischen Barockdramatikers 9783964564344

An drei Schwerpunkten - Theater und Bühnenkunst zur Zeit___ Calderóns, Barocker Ehrenkodex im Siglo de Oro, Rezeption Ca

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German Pages 230 [232] Year 2019

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Table of contents :
INHALT
DIE BAMBERGER CALDERON-TAGE 1987
VORWORT
CALDERON IN DEUTSCHLAND: PRÄSENZ UND BEDEUTUNG
THEATER UND BÜHNE IM SIGLO DE ORO
WELTBILD UND BILDERWELT IM DRAMA DES BAROCK
«DER ARZT SEINER EHRE» ODER DIE ANGST VOR DEM CHAOS
EHRE UND EHRENRACHE IN DEN ZWISCHENSPIELEN VON CALDERON
DAS «AUTO SACRAMENTAL» CALDERONS UND SEIN ZUSAMMENHANG MIT DEM FRONLEICHNAMSFEST
«DAS GROSSE WELTTHEATER» - EINE ONTOLOGIE DES BAROCK
«DER ARZT SEINER EHRE» UND «DAS GROSSE WELTTHEATER» IN DEUTSCHEN ÜBERSETZUNGEN UND BEARBEITUNGEN
CALDERON, IDEOLOGISCHER KRONZEUGE ODER LITERARISCHES PARADIGMA IM KATHOLISCHEN DEUTSCHLAND DES 19. JAHRHUNDERTS?
DIE REZEPTION CALDERONS IN BAMBERG VON DER FRÜHROMANTIK BIS IN DIE GEGENWART
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Calderón: Fremdheit und Nähe eines spanischen Barockdramatikers
 9783964564344

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A. San Miguel (Hrsg.) Calderón Fremdheit und Nähe eines spanischen Barockdramatikers

VERVUERT VERLAG

Calderön Fremdheit und Nähe eines spanischen Barockdramatikers Akten des internationalen Kongresses anläßlich der Bamberger Calderön-Tage 1987 herausgegeben von Angel San Miguel mit einem Vorwort von Hans Flasche

VEKVUEKT VERLAG • FRANKFURT AM MAIN

Die Fotos auf den Seiten 212, 217 und 226 sowie auf dem Umschlag stammen von Frau Ingeborg Limmer (Bamberg). Die Bilder von den Theateraufführungen wurden uns freundlicherweise vom E.T. A. Hoffmann-Theater in Bamberg zur Verfügung gestellt. CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Calderón: Fremdheit u. Nähe e. span. Barockdramatikers; Akten des internat. Kongresses anlässl. d. Bamberger Calderón-Tage 1987/ hrsg. von Angel San Miguel. Mit e. Vorw. von Hans Flasche. - Frankfurt/M.: Vervuert 1988 ISBN 3-89354-412-7 NE: San Miguel, Angel [Hrsg.]: Calderón-Tage © Vervuert Verlag, Frankfurt am Main Alle Rechte vorbehalten Hersteller Michael Konrad Gesetzt in Palatino Druck: Weihert, Darmstadt Printed in West Germany

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INHALT

Angel San Miguel, Die Bamberger Calderón-Tage 1987 7 Hans Flasche, Vorwort 11 Henry W. Sullivan, Calderón in Deutschland: Präsenz und Bedeutung 17 Manfred Tietz, Theater und Bühne im Siglo de Oro 35 Sebastian Neumeister, Weltbild und Bilderwelt im Drama des Barock 61 Hans-Jörg Neuschäfer, Der Arzt seiner Ehre oder die Angst vor dem Chaos. Fremdheit und Nähe des spanischen Ehrendramas 81

Hugo Laitenberger, Ehre und Ehrenrache in den Zwischenspielen von Calderón 95 Eugenio de Bustos, Das «auto sacramental» Calderóns und sein Zusammenhang mit dem Fronleichnamsfest 115 Leo Pollmann, «Das Große Welttheater» - Eine Ontologie des Barock 147 Dietrich Briesemeister, «Der Arzt seiner Ehre» und «Das Große Welttheater» in deutschen Übersetzungen und Bearbeitungen 161

Pere Juan i T O M S , Calderón, ideologischer Kronzeuge oder literarisches Paradigma im katholischen Deutschland des 19. Jahrhunderts? Der Fall des scharfsinnigen Canonicus Franz Lorinser 191 Angel San Miguel, Die Rezeption Calderöns in Bamberg von der Frühromantik bis in die Gegenwart 209

DIE BAMBERGER CALDERON-TAGE 1987 Die Bamberger Calderón-Tage vom 2. bis 5. Juli 1987 waren ein Höhepunkt in der bereits traditionsreichen Erfahrung der Stadt mit dem spanischen Barockdramatiker Don Pedro Calderón de la Barca. Eine feinfühlige Einstimmung auf den spanischen Barock bot bereits im Rahmen der feierlichen Eröffnungsveranstaltung im Kaisersaal der Neuen Residenz die «Música Canterey» Bamberg unter der Leitung von Dr. Gerhard Weinzierl mit ihren musikalischen Darbietungen aus dem 17. Jahrhundert mit Texten von Calderón. Im Zentrum der Veranstaltung standen zwei Aufführungen von Werken Calderóns. Die Zuschauer, die am 2. Juli die Alte Hofhaltung füllten, erlebten bei der Inszenierung von Calderóns Drama El médico de su honra (Der Arzt seiner Ehre) die ganze Strenge des barocken Ehrenkodex in Spanien sowie seine tragischen Folgen. Die Aufführung stellte nicht nur deshalb ein Ereignis dar, weil sie - nach einem einleitenden Resumée in deutsch - in der Originalsprache Calderóns geboten wurde, sondern auch, weil es Adolfo Marsillach und seinem Ensemble, dem «Teatro Clásico» aus Madrid, meisterhaft gelang, den «fremden» Calderón mit Hilfe von gleichermaßen exotischen wie bühnenwirksamen Mitteln einem Publikum nahezubringen, das auch nach etwa drei Stunden Spieldauer begeistert applaudierte. Viel Beifall spendeten die Zuschauer ebenfalls der Inszenierung des Großen Welttheaters. Mario Krüger, Intendant des Staatstheaters Braunschweig, nutzte die gesamte ihm zur Verfügung stehende Fläche der Alten Hofhaltung in einer szenisch-dekorativ schlichten,

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ANGEL. S A N M I G U E L

aber originellen Darbietung des berühmtesten auto sacramental Calderóns, in der die Botschaft des spanischen Dramatikers neben manchen Aktualisierungsansätzen deutlich erkennbar blieb. Ein Novum in der Geschichte der Calderón-Festspiele in Bamberg stellte 1987 die Einberufimg eines Symposiums dar, an dem Calderón-Spezialisten aus verschiedenen Ländern mitwirkten, deren Vorträge im vorliegenden Band erscheinen. Zum besseren Verständnis der vorgeführten Stücke gedacht, behandeln die hier gesammelten Aufsätze nicht beliebige Aspekte des Werkes Calderóns, sondern sprechen folgende einander ergänzende Themenkreise an: • Theater- und Bühnenkunst zur Zeit Calderóns, • El médico de su honra bzw. die Parodie des Ehrenthemas in den kleineren Werken (d.h. im teatro menor) Calderóns, • das auto sacramental bzw. Das große Welttheater, • die Rezeption Calderóns in Deutschland. Die Beiträge, deren Reihenfolge im Symposium aus organisatorischen Gründen nicht die zunächst geplante sein konnte, erscheinen hier in ihrer ursprünglich vorgesehenen thematischen Kohärenz. Auf Grund seines besonderen Charakters steht der Festvortrag H.W. Sullivans am Anfang dieses Bandes, dessen Untertitel «Fremdheit und Nähe eines spanischen Barockdramatikers» durch den des Vortrags von H.J. Neuschäfer angeregt wurde; er spiegelt wie ich meine - den Gesamtcharakter der hier gesammelten Aufsätze wider. Unberücksichtigt mußten hier die Ergebnisse der Podiumsdiskussion bleiben, die über das Thema «Die Idee Calderóns und das Theater heute» am 5. Juli 1987 im Bamberger Theater stattfand. An ihr nahmen außer den Referenten des Symposiums folgende Persönlichkeiten teil: • Professor H. Bihler (Univ. Göttingen), • Professor H. Flasche (Univ. Hamburg), • Mario Krüger, Intendant des Staatstheaters Braunschweig, • Adolfo Marsillach, Leiter des «Teatro Clásico» in Madrid, • Dr. H. Neubauer, Vorsitzender der Kunst- und Literaturvereinigimg Bambergs, • Rafael Pérez Sierra, Leiter des «Festival Almagro»,

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EINLEITUNG

• Professor H. Sandig (Univ. Erlangen-Nürnberg) und Harry Walther, der inzwischen verstorbene Intendant des E.T.A. Hoffmann-Theaters Bamberg. Als Organisator des Kolloquiums kann ich diese knappen Informationen nicht abschließen, ohne der Stadt Bamberg und insbesondere ihrem Kulturreferenten, Herrn Bürgermeister Rudolf Grafberger, herzlich dafür zu danken, daß uns allen 1987 die Möglichkeit gegeben wurde, die Bamberger Calderön-Tage mitzugestalten. Ich hoffe, es hat sich dabei gezeigt, daß die wissenschaftliche Beschäftigung mit Literatur über den intern-universitären Bereich hinaus auch eine breitere gesellschaftliche Funktion ausüben kann. Nicht zuletzt dies möchte dieser Band dokumentieren, dessen Veröffentlichung die Stadt Bamberg großzügig ermöglicht hat. Der Herausgeber Angel San Miguel

Gastspiel des Teatro Clàsico, Madrid

EL MEDICO DE SU HONRA (Der Arzt seiner Ehre) von Calderon de la Barca - in spanischer Sprache -

AMio Mamilfldi

Don Pedro Calderon de la Barca

Ei Medico desuHonra

E.T.A.-Hoffmann-Theater Bamberg, Alte Hofhaltung: Do., 2. und Fr., 3. Juli 1987

Hans Flasche

VORWORT Die Aufführung calderonianischer Dramen in Bamberg, die schon 1811 durch drei Premieren (unter der Leitung von E.T.A. Hoffmann) begonnen, 1973 wieder aufgenommen und in den darauf folgenden Jahren weitergeführt wurde, fand 1987 eine unter jeder Perspektive gelungene Fortsetzung. Die Leitung der Stadt lud Kenner der Texte des großen spanischen Autors und Spezialisten der Dramaturgie zu Calderón-Tagen (2.-5. Juli) ein. Es muß als ein hoch einzuschätzendes Verdienst aller Initiatoren dieser festlichen Veranstaltung bezeichnet werden, die Tradition zu pflegen, welche einen der größten Schöpfer der europäischen Literatur immer erneut beleuchtet wissen möchte. Sowohl die Inszenierung von zwei der bekanntesten und bedeutendsten Dramen als auch die zehn im Verlauf eines wissenschaftlichen Colloquiums gehaltenen Vorträge und nicht zuletzt eine von Textforschern und Theaterintendanten bestrittene Podiumsdiskussion erregte lebhaftestes Interesse. Ohne eine ausführliche Würdigung der einzelnen Leistung - um sie handelte es sich nach allgemeinem Urteil ohne Ausnahme - in diesem Vorwort vornehmen zu wollen, mag dennoch sowohl zu jedem Vortrag als auch zu jeder Inszenierung eine Bemerkung gemacht werden, die das Verständnis der in dem jetzt vorliegenden Band zusammengefügten Darlegungen erleichtern und ihren durch die Lektüre schon allein gesicherten Wert noch zusätzlich klären hilft. Der englische, jetzt in den Vereinigten Staaten lehrende CalderónSpezialist Henry W. Sullivan, der durch sein grundlegendes Werk Calderón in the German Lands (Cambridge 1983) diesseits und jenseits

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HANS FLASCHE

des Ozeans in der hispanistischen Welt bekannt wurde, führte am Abend des 2. Juli die in Jahrhunderten ungebrochene Nachwirkung des spanischen Dramatikers erneut vor Augen (Calderón in Deutschland. Präsenz und Bedeutung). Unmittelbar darauf folgte die von Adolfo Marsillach, dem Generalintendanten des «Teatro Clásico» Madrid, in der Alten Hofhaltung realisierte Inszenierung des (zum ersten Mal schon vor 1629 in Spanien selbst dargebotenen) Dramas El Médico de su Honra (Der Arzt seiner Ehre). Mit dieser Inszenierung wollte Marsillach - und wie meisterhaft gelang es ihm! - seiner Auffassung Ausdruck verleihen, daß ewig dauerndes Erbe (wie es schon Ramón Pérez de Ayala, der große spanische Romanautor vor einigen Jahrzehnten betont hatte) aktiv bewahrt werden müsse. Die moderne Umsetzimg des Calderóntextes vollzog Marsillach mit solch zarter Sensibilität, daß der heutige Zuschauer (von kleinen sprachlichen Modifikationen abgesehen) die Aufführung mit dem Originaltext in der Hand (wie es der Verfasser dieses Vorworts tat) begleiten konnte. Der (wohl zu scharfen) Forderung Federico García Lorcas, der jede Übersetzimg als Zerstörung des ursprünglichen Sprachgeistes charakterisierte, war, da ja in spanischer Sprache gespielt wurde, vollauf Genüge getan. Den ersten Vortrag nach der ersten Inszenierung hielt Manfred Tietz. Das von ihm gewählte Thema Theater und Bühne im Siglo de Oro brachte den Teilnehmern am Internationalen Colloquium die (insbesondere von englischen Forschern analysierte) Gestaltung der Bühne, und zwar nicht nur bei Calderón, sondern im ganzen spanischen Goldenen Zeitalter zu klarem Bewußtsein und ermöglichte auf diese Weise im Hinblick auf die vorhergegangene Aufführung eine vergleichende Reflexion. Auch Hans Jörg Neuschäfer (Der Arzt seiner Ehre oder die Angst vor dem Chaos: Fremdheit und Nähe eines atavistischen Rituals) lenkte den Blick auf das Erlebnis des Vorabends zurück, als er die überaus wesentliche Frage stellte, ob Calderón einen zu seiner Zeit noch wirklich lebendigen oder - das schien ihm mit Recht viel wahrscheinlicher - einen erstarrten Ehrbegriff vor Augen führen wollte. Die im Lauf der Calderón-Tage immer wieder diskutierte Aktualität der Dramen Calderóns kam auch durch den soeben zitierten Vortrag insofern zur Geltung, als der Mensch der Gegen-

VORWORT

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wart durch El Médico de su Honra erlebt, wie sinnlos und gefährlich extreme Steigerungen sein können. Das Thema Ehre bei Calderón kam noch einmal in Hugo Laitenbergers Darlegung (Ehre und Ehrenrache in den Zwischenspielen Calderóns) zur Sprache und wurde in seiner Funktion für die sonst relativ wenig analysierten Opuscula des spanischen Meisters aufs deutlichste erhellt. Die Nachmittagsvorträge des 3. Juli schlössen sich an Sullivans Festvortrag an. Dies war im Hinblick auf den alles umgreifenden Rahmen - Bamberger Calderón-Tage heißt nicht zuletzt Resonanz des großen Künstlers in Deutschland - nur natürlich. Pere Juan i Tous (Calderón, ideologischer Kronzeuge oder literarisches Paradigma im katholischen Deutschland des 19. Jahrhunderts?) - man lese besonders die Ausführungen zu der nicht genügend zu würdigenden Leistung des Übersetzers Lorinser bei Juan i Tous nach - rief dem Verfasser dieser Zeilen und gewiß vielen anderen die Worte von Ernst Robert Curtius ins Gedächtnis: «Dogma, Kultus und Mystik des Katholizismus sind mit der Kultur des spanischen Siglo de Oro so wesenhaft und innig verbunden, daß sie als tragender Lebensgrund der Epoche überall spürbar sind.» Angel San Miguels intensiver Überblick (Calderón in Bamberg von E.T.A. Hoffmann bis zur Gegenwart) war ein für das Colloquium in der Kaiserstadt vorgegebenes und damit zentral stehendes Thema. Mit Weltbild und Bilderwelt im Drama des Barock leitete Sebastian Neumeister den dritten Calderón-Tag (4. Juli) ein. Wie die Bilderwelt Calderóns den Ideenbau, der das metaphysische Theater trägt, leichter verstehen läßt, wurde hier in Überlegungen gezeigt, die ebenfalls zur positiv zu beantwortenden Frage nach Aktualität beitrugen. Denn: Ist ein Theater, das die Schaulust auf glänzende Weise befriedigt, nicht in hohem Maße aktuell? Mit der in spanischer Sprache zu Gehör gebrachten Vorlesung Das /tuto Sacramental' Calderóns und sein Zusammenhang mit dem Fronleichnamsfest begann E. de Bustos denjenigen Teil der Calderón-Tage, der sich mit geistlichen Spielen, die das Altarssakrament in den Mittelpunkt stellen, beschäftigte. Die wenig bekannte Tatsachen mit Recht erwähnende, ins Detail gehende Rede des spanischen Gelehrten fand insofern eine Fortsetzung durch Leo Pollmann (Das Große Welttheater, eine Ontologie des Barock) als auch er am Text selbst, am Gebrauch von Worten und

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HANS FLASCHE

Formeln die vom Dramatiker des Goldenen Jahrhunderts aufgebaute Wissenschaft vom Seienden aufs klarste exemplifizierte. Nachdem Dietrich Briesemeister viele, auch vielfach noch unbekannte oder wenig genannte Umformungen (»Das Große Welttheater» und «Der Arzt seiner Ehre» in Übersetzungen und Bearbeitungen) erläutert hatte, erhielten die nach Bamberg gekommenen und in Bamberg beheimateten Calderön-Freunde Gelegenheit, in der Alten Hofhaltung einer von Mario Krüger, dem Generalintendanten des Staatstheaters Braunschweig, gestalteten Aufführung des «auto sacramental» El Gran Teatro del Mundo (Das Große Welttheater) beizuwohnen. Für dies (wie El Midico de su Honra) frühe (1635 geschriebene und 1649 erstmals inszenierte) Werk wählte Krüger mit Recht die als beste anerkannte Übersetzung des Theologen Hans Urs von Balthasar, in welcher die für eine deutsche Fassimg erforderliche Abweichung vom Versmaß des Originals vorgenommen wurde. Dank der großen Einfühlungskraft des Braunschweiger Generalintendanten und der Bewegungskunst der Schauspieler (die mit Ausnahme der die «Welt» darstellenden Braunschweiger Künstlerin alle dem Bamberger Ensemble angehörten) kamen sämtliche im geistlichen Schauspiel Calderöns realisierten Eigenschaften des Barocktheaters zu der ihnen inhärenten Geltung. Man sah im Schauspiel die Gültigkeit der Textaussage, daß der Mensch, der stets auf seinen Tod vorbereitet sein muß, die ihm von Gott zugedachte Rolle im Weltgeschehen nicht nach seinem Willen auszusuchen vermag. Die Aussage der allegorischen Gestalt der Welt, ohne Licht gebe es kein Fest, hatte sich Krüger bei der Inszenierung stets erneut zunutze gemacht. Die Bamberger Calderön-Tage erhielten - nach den schon erwähnten - einen neuen Höhepunkt in der am vierten Tag (5. Juli) von zahlreichen Calderön-Spezialisten und Textinterpreten (und auch Personen aus dem zuhörenden Publikum) bestrittenen Podiumsdiskussion. Durch sie wurde noch einmal aufs einsichtigste vor Augen geführt, daß Calderöns Bühnenwerke trotz aller Anspielungen auf die Antike, trotz vielfach mehrdeutiger und dadurch erst bei größter Aufmerksamkeit im Kontext zu begreifender Termini, trotz langer Monologe aktuell sind, weil sie - und das betonte unter anderen vor allen Dingen Generalintendant Mario Krüger - metaphysische Aus-

VORWORT

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sagen in Fülle enthalten und beispielsweise immer wieder Sein und Wesen Gottes umkreisen. Als aus dem Auditorium die Frage laut wurde, ob man nicht Calderón und sein ganzes Werk unbeachtet lassen solle, kam die Antwort, daß man dann ebenfalls jede Beschäftigimg mit Goethe einstellen müsse. Daß die Stadt Bamberg sich auch in Zukunft der Opera des einen der beiden christlichen Weltdichter - nach Curtius sind dies Dante und Calderón - tatkräftig annehmen will, wird vor allem durch die von seiner Thematik, seiner Symbolik und Geistesprägung gefesselten, in der Welt religiöser Gedanken beheimateten Menschen mit größter Freude begrüßt werden. Die deutsche Calderón-Forschung an manchen Universitäten steht mit derjenigen in England, Frankreich, Spanien und den Vereinigten Staaten sowie anderen Ländern in enger Verbindung. Die Stadt Bamberg nimmt in der Reihe calderonischer Theaterzentren (man denke hier etwa an Spanien - beispielsweise an Madrid und Barcelona - oder an Nordamerika - beispielsweise an El Paso-Texas) schon jetzt einen ebenbürtigen Platz ein. Hans Flasche (Universität Hamburg)

DAS GROSSE WELTTHEATER (EL GRAN TEATRO DEL MUNDO) von

Calderón de la Barca Deutsch von Hans Urs von Balthasar Inszenierung Bühnenbild Kostüme Musik

Mario Krüger Michael Engel Martina Fekfcnann Hugo Schotter

Personen Der Meister Jan Burdinski Die Weit Annemarie Schradiek Annette Luyken Das Gesetz Martin Ehrbicher Wido Röttger Der König Otmar Schrott Der Bauer Hans Pomarius Die weise Frau Gabriele Weng Die schöne Frau Gabriele Otto Der reiche Mann Stefan Kolo Der arme Mann Christian Schult Die Stimme Sabine Becker

Regieassistenz Inspizient 4

Elke Wittek Klaus Fay 4

4

A u l f ü h r e n d e der Bühnenmusik: Leonhard Ebert (Bratsche), Ursula Finck (Flöte), Klaus GramB (Keyboard), M a x Kienastl (Geige), Thomas Lampert (Saxophon), Thomas Schäfer (Schlagzeug), Werner Chmel (Kontrabaß), Horst Wilm (Posaune) 4

4

4

TnMmíii Leitung • ChlfM Swtd Stellvertretung - Erich Ludwig Technische Einrichtung - Rudolf Oppett Beleuchtung - Siegfried Nitschke / Josef Weyrauther Ton - Rudolf Müller / Dieter Hofmann Requisite - Gertrud Fay; Maske - Detlef Rezepka Die Ausstattung wurde in den Werkstätten des E.T.A.-Hoffmann-Theaters hergestellt. Malersaal: Karlheinz Meyer, Andrea Meschke Maskenbildnerei: Detlef Rezepka, Elke Burmeister, Sabine Wille Schlosserei: Rudolf Oppett Schneiderei: Martina Feldmann, Gewandmeisterin, Kart Brehm, Sonja Zabjacan Schreinerei: Paul StrAtz, Johann Gottschalk Bühnentechnik: Ehrenfried Geppert, Dieter Hofmann, Josef Weyrauther Garderobe: Martha Weyrauther, Karl Brehm Bühnenrechte: Relea AG, Bahnenvertrieb, Basel Uraufführung: 1675 in Sevilla

Henry W. Sullivan*

CALDERON IN DEUTSCHLAND: PRÄSENZ UND BEDEUTUNG Vielleicht weil die verdeutschen Werke Calderóns nicht in einem kanonischen Text verankert sind (wie etwa die Schlegel-Tiecksche Übersetzung von Shakespeare), scheint, trotz ihrer Länge, die Präsenz des spanischen Dichters im deutschen Sprachraum eher gespensterhaft als fest etabliert zu sein. Doch darf man hier mit Recht von «Schein und Sein» reden, da die Präsenz in Deutschland sich in der Tat erstaunlich lang und beharrlich manifestiert hat. Seit der Mitte des 17. Jahrhunderts bis heute - sei es in anonymer Gestalt, sei es dem Namen nach - ist Calderón in immer neuen Fassungen auf der deutschen Bühne interpretiert worden. Der Stand der jüngsten Calderón-Forschung ermöglicht uns sogar folgendes, an der Oberfläche kühnes Urteil zu fällen: Zusammen mit Molière - und allein Shakespeare nachstehend - hat Calderón mehr direkten und indirekten Einfluß aufs deutsche Drama ausgeübt als irgendein anderer ausländischer Bühnendichter. Hauptziel meines heutigen Vortrages ist es, allgemeine Beweise für dieses Urteil zu liefern und gleichzeitig die allmähliche Einbürgerung Calderóns in Deutschland historisch zu skizzieren. Calderóns Stellung im deutschen Kulturraum wirft komplizierte Fragen auf. Für verschiedene Zuhörer in verschiedenen Epochen war er von verschiedener Bedeutung. Moderne Rezeptionstheorien (vor allem jene, die H.R. Jauß und Wolfgang Iser entwickelt haben) tragen zur Klarstellung des Bedeutungsproblems bei, weil sie die *

Für seine Hilfe bei der Formulierung des deutschen Textes bin ich Herrn Raymond GayCrosier zu großem Dank verpflichtet.

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Variablen in der ästhetischen Rezeption als unausweichliches Symptom des historischen Wechsels betrachten. Im Fall Calderóns verfügen wir über dreieinhalb Jahrhunderte seiner Rezeption in Deutschland, in denen denselben Texten - sozusagen den Konstanten der Gleichung, von der wir sprechen - sehr verschiedene Bedeutungen und Wertmaßstäbe beigemessen wurden. Eine Calderóns Theater zugeschriebene subjektive Bedeutung ist demzufolge mehr bei den Zuschauern als im dramatischen Objekt zu suchen. Wir können somit die Geschichte von Calderóns theatralischen Wirkungen mittels der genauen Prüfung dieser aufeinanderfolgenden subjektiven Bedeutungen rekonstruieren. Aufgrund dieses Gesamtbildes - d.h. der Texte in deutscher Übersetzung oder Bearbeitung und der kollektiven Übersicht ihrer Wirkungen - kann man mit einer gewissen Berechtigung von Calderóns «Bedeutung» in Deutschland sprechen. Ich möchte mit der Übersicht der Richtlinien und einiger Höhepunkte in Calderóns deutscher Rezeption beginnen. Anschließend erlaube ich mir, kurz über die Gründe seines andauernden und möglicherweise überraschenden Erfolges auf der deutschen Bühne zu spekulieren. Die ersten literarischen, unmittelbar aus dem Spanischen ins Deutsche übertragenen Calderón-Übersetzungen wurden erst 1803 von August Wilhelm Schlegel veröffentlicht. Aus diesem Grund ist Schlegel oftmals und irrtümlicherweise der «Entdecker» bzw. «Wiederentdecker» von Calderón in Deutschland genannt worden. Gewiß zögerte er nicht, sich in einem Brief an Goethe vom 15. März 1811 als «Calderóns erster Missionär in Deutschland» vorzustellen. Aber die erste dokumentierte Aufführung eines Calderónschen Schauspiels im deutschen Sprachraum fand bereits 1654 statt, als die niederländische Wandertruppe des Jan Baptista van Fornenbergh Das Leben ein Traum in Hamburg in einer flämischen Übersetzung inszenierte. Während anderthalb Jahrhunderten vor der Zeit Schlegels also existierte Calderón als bekannte Größe im deutschen Bühnenleben. Die Tatsache, daß diese Wandertruppe niederländisch war, ist gleichermaßen von Bedeutung. Denn, wenn vor 1803 wirklich keine direkte Übersetzung von Calderón ins Deutsche vorlag, wie sind

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dann seine Stücke überhaupt nach Deutschland gelangt? Die Antwort ist im regen Wanderleben der damaligen europäischen Kultur zu finden. Die vier Hauptwege, auf denen die Texte verbreitet wurden, können in ihrer chronologischen Bedeutsamkeit wie folgt wiedergegeben werden: Der erste Weg führte von den Niederländern nach Hamburg; der zweite direkt nach Österreich und erklärt sich durch die engen spanischen Beziehungen mit der Habsburger Krone in Wien; ein dritter Weg führte über Italien und ein vierter über Frankreich, das wir füglich als allgemeines literarisches Vertriebszentrum Europas betrachten können. Da gewisse Schauspiele Deutschland erst erreichten, nachdem sie sukzessive Übersetzungen in mehrere Sprachen durchlaufen hatten (z.B. aus dem Spanischen ins Französische, dann ins Holländische und schließlich ins Deutsche), hatte diese polyglotte Dauerverwandlung üblicherweise zur Folge, daß man nicht mehr klar einzusehen vermochte, bis zu welchem Grad Calderón im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert überhaupt noch als Verfasser von vielen ihm zugeschriebenen Dramen gelten konnte, die in den Repertoires der Wandertruppen angeführt wurden. Zur Zeit des Spätbarocks und der Aufklärung war der deutsche Calderón einer merkwürdigen Odyssee unterworfen, in der er bis zur Anonymität reduziert wurde. Allerdings muß der Kontrast zwischen dem Mangel seines Rufes in Deutschland und der kräftigen Rezeption seiner Dramen, die oft im Zentrum der Repertoires standen, mit historischer Präzision unter die Lupe genommen werden. Die Aufführimg vieler seiner Werke ohne Nennung des Urverfassers muß als Anerkennung der stillen Größe Calderóns betrachtet werden, dessen Dramaturgie und Poesie sich durch die ihnen innewohnende Vortrefflichkeit auszeichneten. In einer Rezension meines letzten Buches über Calderón in den deutschsprachigen Ländern wurde mir vorgeworfen, daß die Kontinuität zwischen der frühen Aufnahme der Calderónschen Werke durch die Bühne und der späteren gelehrten Rezeption bloß eine künstliche Einheit begründe. Dagegen möchte ich festhalten, daß diese frühe, durch Wandertruppen bewirkte Aufnahme eine reale Präsenz anzeigt. Darüber hinaus möchte ich darauf hinweisen, daß Calderóns Stoffgestaltung und

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Handlungsaufbau dem neuklassischen Drama Frankreichs eine würdige ästhetische Alternative anbot. Es scheint mir deshalb selbstverständlich, daß der Wirkungsgrad seines Theaters nicht allein an der Frage der Urheberschaft gemessen werden kann. Von wenigen, allerdings höchst bedeutungsvollen Ausnahmen abgesehen, waren aber Calderóns erfolgreichste Schauspiele entweder immer Komödien oder jene Palast-Intrigenstücke (wie etwa Das Leben ein Traum, Zufall spielt der Liebe Streiche), die sich mit geringen Änderungen zur Umgestaltung als sogenannte Haupt- und Staatsaktionen eigneten. Dagegen blieben Calderóns Ehrentrauerspiele, religiöse Stücke und eucharistische Allegorien oder «Fronleichnamsspiele» vor der Romantik überwiegend ohne Echo außerhalb Spaniens. Diese Diskrepanz muß zweifellos den Nachwirkungen der Reformation und insbesondere dem vom norddeutschen Protestantismus aufgerichteten Widerstand zugeschrieben werden. Aber Calderón hat auch den Neuklassizismus und das zunehmende Prestige des in den Fragen der Rührung und Einbildungskraft die französische Linie vertretenden Johann Christoph Gottsched in Leipzig überlebt. Schon für Gottsched, d.h. vor Schillers berühmter Definition, war das Theater eine Art moralischer Anstalt, in dem Stücke unter anderem der bürgerlichen Erbauung und menschlichen Glückseligkeit zu dienen hatten. Dramatische Ausarbeitungen hatten demnach präzise, vorausbestimmte Regeln zu befolgen, die immer den vorher genannten höheren Zwecken untergeordnet waren. Für einen in der frühen Aufklärimg geschulten Kritiker wie Gottsched erschien das alte Drama des 17. Jahrhunderts erstarrt in einem verwirrenden Überfluß von Handlungen, grotesk in seiner Mischung von tragischen und komischen Elementen, vernunftswidrig in seinen geschichtlichen und geographischen Mißgriffen wie auch in seinen Verletzungen der Einheiten, der Schicklichkeit (der französischen bienséance) und der Wahrscheinlichkeit (der vraisemblance). Für Voltaire zum Beispiel war Calderón ein gotischbarbarischer Urmensch, der keinen Sinn für Kompositionsregeln und bestenfalls nur plötzliche Ausbrüche seiner Einbildungskraft erkennen ließ. Voltaire beanstandete den guten Ruf des spanischen Dichters mit beträchtlicher Energie in seinem Vergleich zwischen

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Corneilles Heraclius und Calderóns In diesem Leben ist alles Wahrheit und Lüge sowie in seinen Ausführungen zum auto Die Andacht zur Messe. Beide Reaktionen erschienen 1764. Trotz aller Vorbehalte aber war Voltaire von Calderóns Gefühlswirksamkeit gebannt. Dieses ambivalente Verhältnis zu Calderón machte Voltaire zum typischen Vertreter der doppeldeutigen Rezeption, die die Aufklärung Calderón beschied. Meiner Meinung nach versuchten die Aufklärer der Vernunft deshalb den Vorrang zu geben, weil der vernunftswidrige Eifer und Parteigeist der katholisch-protestantischen Kriege des siebzehnten Jahrhunderts sie davon überzeugt hatten, daß religiöse Rührung für die Gesellschaft gefährlich sei. In dieser Überzeugung förderten sie alle vernünftigen Normen, den «Geist der Gesetze» (Montesquieu), die Regeln der Kunst, Gott als Gesetzgeber und Stifter, die Nützlichkeit der Wissenschaften und Künste, das Weltbürgertum und die progressive Überlegenheit des Materiellen über das Geistige. Auffassungen wie diese, besonders wenn sie im Drama blind angewandt wurden, standen der Theaterkunst Calderóns eindeutig feindselig gegenüber. Neuklassische Kritiker in Europa und sogar in Spanien verdammten Calderón in einem voraussagbaren Chorgesang der engstirnigen Kritik oder des schwachen Lobes. Aber die aufklärerische Unterdrückung der religiösen Empfindung führte dazu, daß der Ausdruck des Gefühls in allen Formen geringschätzig behandelt wurde. Das Ergebnis waren hohle lyrische Verse, totgeborene Trauerspiele und bestenfalls unterdrückte oder abgeschwächte Empfindsamkeit in Medien wie etwa der Malerei, den Romanen und der Komödie. Gerade deshalb entstand zur Zeit der Aufklärung ein starkes Bedürfnis nach einem erschütternden, machtvollen Theater, das Calderón meines Erachtens zu erfüllen vermochte. Trotz Voltaires Kritik an der Dramaturgie des Stückes In diesem Leben zwang Calderón dem französischen Aufklärer ein ungern abgegebenes Lob ab: «Man muß zugeben», schreibt Voltaire, «daß (um die Sprache Calderóns zu verwenden) es hier einige lodernde Flammen gibt, die diesen Rauchwolken entrinnen.» Eine derartig zweideutige Haltung erklärt ebenfalls die Metho-

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den, die Calderóns neuklassische Bearbeiter und Nachahmer anwandten. Sie behielten zwar jene Elemente seiner Werke, die dem menschlichen Interesse, dem Außerordentlichen, Erfinderischen und Wundervollen in seinen Intrigen gewidmet waren, aber sie kamen nicht umhin, seine Dramen formal den neuklassischen Regeln anzupassen. Sie schrieben Calderóns polymetrische Dialoge in Alexandriner oder gar in Prosa um. Sie lockerten die Ausdrucksweise und die Handlungen des Originals auf und teilten das Stück in fünf statt der ursprünglichen drei Akte auf. In den ernsten Stücken kürzten sie kurzerhand die Rolle des Hanswurstes und versuchten, so gut sie konnten, die Einheiten und einen sittlich belehrenden Ton einzuführen. Das Ergebnis war ein zwar mittelmäßiger Calderón, aber trotz aller Mängel besseres Theater. Es stellte sich nämlich rasch heraus, daß selbst ein klassisch aufmöblierter Calderón in Bezug auf Erzählkunst und Aufbau, Situationen und Handlung, menschliches Interesse und Gefühlsreichtum immer noch besser war als die meisten zeitgenössischen, von aufklärerischen Lohnschreibern verfaßten Schauspiele. Das äußerst reiche lyrisch-dramatische Potential Calderóns erklärt ferner die im 18. Jahrhundert weit verbreiteten Neubearbeitungen seiner Dramen als Operntexte, besonders an der alten Hamburger Oper, aber auch in der weitverbreiteten italienischen Oper. Der Vater des deutschen Hispanismus und der erste öffentliche Ankündiger des guten dramatischen Namens Calderóns war der große Kritiker und Bühnendichter Gotthold Ephraim Lessing. Er hatte die spanische Sprache um 1750 als Autodidakt erlernt, um das Drama des goldenen Zeitalters und die Werke des RenaissanceArztes Huarte de San Juan lesen zu können. Lessing breitete sich in lobender Weise über Antonio Coello, Lope de Vega und Calderón aus, vor allem in seinen polemischen Abhandlungen der Hamburgischen Dramaturgie (1767-68). Er ging sogar weiter und riet jungen deutschen Dramaturgen in ihren Bestrebungen, ein nationales Theater zu gründen, die im Sterben liegende Bühne Frankreichs abzulehnen und ihre Sicht eher auf Shakespeare und die Spanier zu richten. Lessings Schüler, insbesondere Johann Andreas Dieze, Freiherr von Cronegk, Heinrich von Gerstenberg und andere, pflegten

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ihren Calderón und errichteten damit in der Vorromantik die Basis für seinen wiederhergestellten literarischen Ruf. Die Auswahl Calderónscher Dramen, die in diesen Sturm-undDrang-Jahren aufgeführt wurden, ist von Bedeutung. Vom aufrührerischen und gewaltsamen Richter von Zalamea abgesehen, gewannen die vortrefflichen Versuche über die subjektive Psychologie in Die zwei schlaflosen Nächte oder der Betrug der Einbildung Calderón ein hohes Maß an Ansehen. Gegenstand des Dramas ist die sexuelle Gleichgültigkeit des Königs Pedro von Aragón seiner Gattin und Königin Donna Maria gegenüber und sein wollüstiges Begehren, das auf eine neuvermählte Frau namens Donna Violante gerichtet ist. In der Finsternis und den Verwicklungen der Nacht buhlt er leidenschaftlich um seine eigene Gattin in der Annahme, daß sie Violante sei. Das dieser Liebesnacht entstammende Kind ist der zukünftige Jakob der Eroberer. Der Schwerpunkt des Dramas liegt bei der Willkür aller Gegenstände des menschlichen Verlangens, d.h. bei der Subjektivität der Neigungen und Abneigungen, die als Funktionen der individuellen Phantasie gesehen werden. Gleichzeitig appellierte das Thema an das in Deutschland zunehmende Interesse für die schöpferische Einbildungskraft. Die dramatische Problematik scheint dem Idealismus Fichtes in den 1790er Jahren vorzugreifen. Meiner Meinung nach zeigt der vom Drama angedeutete Geschmackswechsel, wie sich das rationalistische Glaubensbekenntnis unter dem Druck der verdrängten Leidenschaft aufzulösen beginnt. Ebenfalls angedeutet werden die erahnte Macht und Rolle des Unbewußten, vor allem, wenn es sich in der Phantasie und dem Begehren ausdrückt. Aus dieser Lesart der Zwei schlaflosen Nächte können wir folgern, daß die darin enthaltenen Themen sowie die Qualität ihrer Verarbeitung auf Calderón im allgemeinen übertragen wurden und seine Anerkennung stark mitbestimmten. Nach 1798, d.h. dank der Wiederentdeckung durch die Romantiker, erlebte Calderón eine vollständige Rehabilitierung als Dramatiker, ja, man kann füglich sagen, seine Apotheose. Die Gebrüder Schlegel, Ludwig Tieck, Alexander und Wilhelm von Humboldt und die Gebrüder Grimm hatten alle in den späten 1780er und frühen 1790er Jahren Spanisch an der Universität Göttingen studiert

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und sich in die spanische Literatur eingelesen. Z u ihrer Verfügung stand die ausgezeichnete Bibliothek, die der Lessing-Verehrer Johann Andreas Dieze zusammengestellt hatte. Über einige Jahre hinaus entwickelte sich somit bezüglich der alten spanischen Literatur in Göttingen eine direkte kritische und wissenschaftliche Verbindung, die über Lessing und die Romantiker verlief. Die Beiträge der romantischen Schule zur Calderón-Kritik waren gemischter Natur und bewirkten, daß Calderóns kritische Rezeption in Deutschland schließlich eng an den Wirkungsgrad der Romantiker gebunden war. Diese Entwicklung war offensichtlich unausweichlich, da die Romantiker Calderón ohne Zweifel nach ihrem Bilde schufen. Sie fanden in ihm eine ideale katholische Figur, die Verkörperung mittelalterlicher Ritterlichkeit und Ehre, einen romantischen Theaterdichter von übersprudelnder Phantasie, den Inbegriff orientalisch-exotischer Üppigkeit im mozarabisch-christlichen Spanien der Fabel und Legende. Sie verglichen ihn mit Shakespeare - ja, stellten ihn gar über Shakespeare; sie deuteten an, ohne es allerdings je klar auszusprechen, daß Calderón der größte Dramatiker aller Zeiten war. Dieses offensichtlich übertriebene Urteil, so erwies sich bald, konnte dem kritisch prüfenden Blick nicht standhalten. Trotzdem anerkennt die moderne Welt bis zu einem gewissen Grad immer noch das romantische Calderón-Bild. Es muß klargestellt werden, wieviel davon erhaltenswert ist und wieviel verworfen werden muß. Z u m ersten und vor allem dank August Wilhelm Schlegel gelang es den Romantikern, Calderón mit zwei Vorurteilen zu belasten: die bis dazumal unbekannten Charakterisierungen, wonach er ein «katholischer» und «aristokratischer» Schauspieldichter war. In der Geschichte der europäischen Calderón-Rezeption hatte vor den Romantikern niemand diese Ausdrücke gebraucht. Bis zum heutigen Tage kann man die zum Klischee gewordene Bezeichnung hören, Calderón sei «der größte katholische Dramatiker der Welt». Ganz abgesehen von ihrer tendenziösen Bedeutung, besagt der erste Teil dieser Bezeichnung sehr wenig. Alle Schriftsteller im goldenen Zeitalter Spaniens waren ipso facto Katholiken. Sollte diese Bezeichnung mehr als eine bloße Binsenwahrheit sein, dann muß man den präzi-

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sen Charakter von Calderóns Gegenreformations-Theologie bestimmen. Falls die religiöse Assoziation einfach eine persönliche Empfindung verdeckt, die auf einen poetisch erlebten Katholizismus zurückzuführen ist (was bei den Romantikern zutrifft), dann ist die entstehende Perspektive verzerrt. Calderón den Stempel eines «katholischen» Dramatikers aufzudrücken, führt zu einer Serie falscher Annahmen, die übrigens den meisten protestantischen Gläubigen zuwider sind - wie es Goethe schon 1802 aufzeigte - und die auch andere Nicht-Katholiken stören. In der Tat wurde Calderón bald von den deutschen Katholiken zu einer polemische Waffe umfunktioniert, vor allem während des Kulturkampfes im späten neunzehnten Jahrhundert. Bis zum heutigen Tag wird er in diesem Sinn immer noch mißbraucht. Man kann ebenfalls starke Zweifel erheben, ob ein «aristokratischer» Dramatiker überhaupt existiert. Alle Theaterschriftsteller des spanischen goldenen Zeitalters, welchen sozialen Ursprungs sie auch waren, verschrieben sich dem gleichen sozialen Wertesystem. Wie Lope, Rojas, Moreto schrieb Calderón für höfische Zuhörerschaften und unterhielt Beziehungen mit Adligen. Aber es ist schwer einzusehen, wie diese Umstände seine Dichtung beeinflußten. Was die Romantiker möglicherweise anzudeuten versuchten, war ein aristokratisches Ethos dieser sozialen und moralischen Wertmaßstäbe (Rittertum, Ehre). Eben dieses Ethos und mit ihm die romantischen Intellektuellen als Klasse wurden ja vom triumphierenden Bürgertum scharf in Frage gestellt. Mehr als irgendeine Generation europäischer Schriftsteller waren die Romantiker aus Vertretern des niedrigen und mittleren Adels ihrer Zeit zusammengesetzt. Die romantische Agonie kann deshalb als die lyrische Trauer einer Generation von jungadligen Reaktionären angesehen werden, denen kein Erbe mehr beschieden war. Nicht zu übersehen andererseits sind die positiven Beiträge der Romantiker zu Calderón, die in vier Kategorien eingeteilt werden können: 1. Dank ihnen wurde Calderón in Deutschland und Übersee einem größeren Publikum als je zuvor bekannt gemacht. Er war nicht mehr der anonyme Lieferant von Handlungen und Intrigen, sondern ein Dichter des Welttheaters, der den Griechen, Shake-

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speare, Goethe und Schiller in nichts nachstand. 2. Die romantische Schule übersetzte zum ersten Mal Calderón direkt aus dem Spanischen und versuchte, wo immer möglich, die Syntax, das Versmaß, die Bildersprache und den Sinn des Originals getreu wiederzugeben. Diese werkgetreuen Übertragungen haben auf das deutsche Theater einen bis heute in der Literaturgeschichte unterschätzten formalen Einfluß ausgeübt. 3. Die romantische Verherrlichung Calderóns bewirkte schließlich eine Anerkennung der emotionalen Kraft seiner Stücke. Da die bewußten Gründe für seine Wertschätzung nur oberflächlicher Natur waren (katholisch, aristokratisch usw.), genügten sie nicht, um das von ihm verursachte romantische Furore zu erklären. Die von Calderón dargestellten menschlichen Leidenschaften sind das wahre Geheimnis seiner dämonischen Macht. Calderóns romantische Rezeption erhellt dies noch mehr als seine Rezeption in der vorromantischen Periode. 4. Schließlich begründete die romantische Bewegung die seriöse Calderón-Forschung. Abgesehen von den zahlreichen exakten oder annähernd exakten Übersetzungen im frühen neunzehnten Jahrhundert, schaffte die von Norwich und Keil bestellte spanische Originalausgabe die Grundlage für moderne Kommentare und Herausgeber. Seit sich Goethe von den Jungromantikern zwar verständnisvoll, aber dennoch deutlich distanzierte, hat man sein Verhältnis zu Calderón wiederholt als ein ambivalentes betrachtet. In der Sichtung des reichhaltigen Beweismaterials habe ich allerdings nichts als Lob für Calderón in Goethes zahlreichen Hinweisen auf ihn vorgefunden. Es war überdies die richtungsbestimmende Premiere des Standhaften Prinzen von 1811 in Weimar, die den spanischen Dichter als glaubenswürdige Antriebskraft im deutschen Theater begründete. Zum ersten Mal war eine vertrauenswürdige Übersetzung aus dem Spanischen erstellt worden. Auch wenn, um mit E.A.F. Klingemann zu sprechen, in den späten 1820er Jahren die deutsche Bühne angeblich «bis zum Brechreiz und völlig entgegen der deutschen Natur calderonisiert» war, so bedauerte Goethe, trotz aller Bewunderung für den spanischen Dichter, seinen negativen Einfluß auf die jungen deutschen Dramatiker, den er vor allem der mißglückten Einführung seiner affektierten Prosodie zuschrieb.

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In seinem Gespräch mit Eckermann vom 12. Mai 1825 behauptete Goethe überraschenderweise, daß Calderón nicht den geringsten Einfluß auf ihn ausgeübt habe, «weder im Guten noch im Schlimmen». Diese Aussage kann allerdings aufgrund der vorliegenden textlichen Evidenz eindeutig widerlegt werden. Fest steht, daß Goethe 1807 eine Tragödie im Stile Calderóns entwarf, deren Skizze uns heute unter dem Titel Trauerspiel in der Christenheit überliefert ist. Dieses Fragment war direkt von Goethes intensiver Lektüre und wiederholten Deklamation von Auszügen aus Calderóns katholischer Märtyrertragödie Der standhafte Prinz inspiriert. Goethes standfestes Verhältnis zu Calderón widerspiegelt sich zudem unzweifelhaft in seiner direkten, bis heute nicht dokumentierten Intervention in die Bearbeitung der Calderónschen Tragödie. Das Glück war mir beschieden, in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburgs eine Kopie des Manuskriptes von Goethes Bearbeitung in fünf Akten der Schlegelschen Übersetzung zu entdecken. Dieses Dokument vermittelt ein präzises Bild der Bearbeitungstechnik des Weimarer Dichters, der offensichtlich eine Bühnenaufführung im Sinne hatte. Schließlich möchte ich hier meine persönliche Auffassung kundtun, wonach Goethe in seinen zahlreichen subtilen sowie lapidaren Urteilen über Calderón gleichzeitig die praktische Seite des dramatischen Genies des spanischen Dichters und dessen außerordentliche geistige Dimension illustrierte. Bis zum heutigen Tage verbleibt Goethe meines Erachtens Calderóns klügster Kritiker. Von Goethe abgesehen, inspirierte Calderón auch maßgebend die Philosophen des deutschen Idealismus sowie deutsche und österreichische Komponisten. Das von Baumgarten und Meier im 18. Jahrhundert geschaffene neue Fach der Ästhetik mit seinen mannigfachen Querverbindungen zum Idealismus Schlegels und Schellings bewirkte unter anderem eine äußerst ergiebige Neuaufwertung der Genrefrage der Tragödie. Calderóns ernste Werke wiesen einmal mehr auf das Problem einer christlichen Tragödie hin, die zuvor von Lessing aus theoretischen Gründen verworfen worden war. Weit mehr als Shakespeares Theater enthielten gewisse Stücke von Calderón unwiderlegbare tragische Qualitäten, die nichtsdestoweniger in ebenso klaren christlichen Themen eingebettet waren. Die so-

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lide neuscholastische und theologische Grundlage von Calderóns Weltanschauung erwies sich als besonders geeignet für eine Untersuchung durch eine philosophische Bewegung, deren wichtigstes Erbgut Kants Hervorhebung des Freiheits-, Gottes- und Unsterblichkeitsproblemes war. Zweitens entpuppte sich die Frage der Beziehungen zwischen der antiken Tragödie und dem modernen Charakterdrama als ein brennendes theoretisches Problem im Deutschland des späten 18. Jahrhunderts. Je mehr deutsche Bühnendichter der antiken Tragödie nachzuempfinden versuchten (wie etwa Schiller in seiner Braut von Messina), desto stärker verbreitete sich die Idee eines blinden und zwingenden Schicksals, das die Menschen zu schuldhaften Taten und zu ihrer eigenen Vernichtung verleitete (eine Idee, die auch vom Sturm und Drang aufgegriffen und weitergeleitet worden war). Als Lebenstragödie oder als literarisches Motiv inspirierte der Gedanke eines blinden Fatums bekanntlich zahlreiche sogenannte Schicksalstragödien. Schließlich führte die Frage, wie die antike Schicksalsauffassung mit dem modernen Bewußtsein verbunden werden konnte, zu einer neuen Auffassung des spanischen Dramas. Gemäß einer weitverbreiteten Meinung hielt man das spanische Drama für der Antike näherstehend als das europäische Theater. Calderón selber, so glaubte man, soll aufgrund seines Gebrauches von Orakeln, Vorahnungen und dem Untergang geweihten Gegenständen wie zum Beispiel Dolchen, Bildern und Spiegeln ein größeres Maß an antikem Ethos als etwa Shakespeare besessen haben. Wichtiger noch ist, daß er von Friedrich Schlegel, Schelling, Wilhelm Grimm, Heinrich Blümner, Johannes Schulze, Schopenhauer, Hegel, Rosenkranz und Hermann Ulrici als Musterbeispiel eines Dramatikers betrachtet wurde, dem es gelungen war, das antike Drama mit dem modernen zu verbinden. Die bewußten Versuche deutscher und österreichischer Komponisten und Librettisten, ihre nationalen Bühnen mit einer neuen, spezifisch deutschen Oper zu versehen, waren im allgemeinen von den gleichen Schwierigkeiten gekennzeichnet, die die Entwicklung eines deutschen Nationaltheaters in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts markierten. Bis mindestens 1750 war die Oper in Europa von

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der italienischen und französischen Tradition dominiert worden. Deutsche Autoren, die auf der Suche nach geeignetem dramatischen Stoff waren, wandten sich in zunehmendem Maß jenen ausländischen Quellen zu, die sich schon früher als ergiebig für die Gestaltung eines nationalen Theaters gezeigt hatten (wie etwa in England und Spanien). Unausweichlich führten die Spuren zu Calderón de la Barca. Öfters waren die Bearbeiter der calderonschen Dramen auch die deutschen Librettisten der neuen Generation. Romantische Librettisten versahen uns später mit einer noch größeren Fülle von calderonschen Handlungen, die sie für musikalische Aufführungen verarbeitet hatten. Der Gebrauch spanischer Themen als Basis für deutsche Opern oder Stücke mit musikalischen Beilagen kann in wichtigen Werken von Haydn, Mozart, E.T.A. Hoffmann, Beethoven, Weber, Schubert, Mendelssohn, Schlösser, Reinecke, Rheinberger, Raff, Lassen und Wagner gefunden werden. E.T.A. Hoffmann zum Beispiel komponierte 1807 eine vortreffliche Oper, der er den Titel Liebe und Eifersucht gab und die sich ausgiebig auf eine Calderónsche Intrigenkomödie stützt. In den Bamberger Jahren (1808-1812) und seiner neuen Position als musikalischer Direktor versuchte Hoffmann, seine Oper in dieser Stadt zu inszenieren. Leider kam sie nie zur Aufführung. Schuberts heroischromantische Oper von 1823, Fierabras, die auf Calderóns Die Brücke von Mantible fußt, besitzt eine ausgezeichnete Ouvertüre. Der erste Akt ist konkurrenzlos in der romantischen Oper Deutschlands. Vor allem war es Schubert gelungen, das calderónsche Dramakonzept zu rezipieren und das beim spanischen Dichter dominierende Ethos für die musikalische Romanze umzugestalten. Wagners Kontakt mit Calderón kam in der vollen Blüte seiner Gestaltungkraft zustande, nämlich zur Zeit seines Verhältnisses mit Mathilde Wesendonk, als er am Vorspiel und dem ersten Akt des Tristan arbeitete. Obwohl Wagner Calderón in deutscher Übersetzung lesen mußte, teilte er Franz Liszt seine tiefe Bewunderung für den spanischen Dichter mit: «Ich bin nahe daran, den Calderón einzig hoch zu stellen». Dann fügt er bei: «Dieses wunderbar ergreifende Bewußtsein ist es nun, was in Calderón so bezaubernd schöpferisch gestaltend uns entgegentritt und kein Dichter der Welt

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steht ihm hierin gleich.» Liszt selber erklärte, als er 1882 Parzival hörte, daß das musikalische Drama seine Hoffnung auf eine erhabene Hymne an die göttliche Liebe erfülle. Er fügte bei: «Es ist das Wunderwerk des Jahrhunderts, die autos sacramentales dienen ihm als Vorläufer.» («C'est l'oeuvre miracle du siècle, les autos sacramentales lui servent de précédents.») Man wäre versucht zu spekulieren, daß der eucharistische Schwerpunkt in Calderóns autos Wagner möglicherweise dazu verleitete, die Gralslegende aufzugreifen und unverhohlen zu verchristlichen. Vor allem der Höhepunkt der Oper mit seinen zahlreichen Bedeutungsmöglichkeiten und der Aufdeckung des Kelches und des Speeres erinnert uns zwingend an das Calderónsche dénouement mit seiner Zelebrierung in den Corpus Christi-Allegorien. Nach 1830 begann Calderóns Ruf im deutschsprachigen Europa zu fallen, vor allem weil ihn die frömmelnden reaktionären Romantiker wegen seines Katholizismus und seiner Treue zum Habsburgischen Thron geschätzt hatten. In den 30er und 40er Jahren waren die Monarchie und die katholische Kirche den zunehmenden Angriffen aus liberalen, radikalen und sozialen Reformkreisen ausgesetzt. Die Bewegimg des Jungen Deutschland zum Beispiel verwarf kurzerhand den romantisierten Calderón. Calderóns zweihundertster Todestag wurde zu einem Brennpunkt der Glaubensdebatten, die durch die Frage der katholischen Erziehvmg im Rahmen des Bismarckschen Kulturkampfes angefacht worden waren. Der zweihundertste Todestag erzeugte anerkanntermaßen mehr Hitze als Licht. Aber die außerordentlich große Zahl der Publikationen und Übersetzungen errangen schließlich akademischen Respekt für Calderón-Studien. Ein bemerkenswerter Aspekt dieser Entwicklung war die Gründung literarischer Gesellschaften im südlichen deutschen Sprachraum, die sich mit Erfolg den Aufführungen von Calderóns autos widmeten. Als Beispiele seien genannt: Die österreichische Leo-Gesellschaft (1891), die Münchner Calderón-Gesellschaft (1906) und selbst im Norden die Berliner Calderón-Gesellschaft (1912) und schließlich die Gesellschaft der Geistlichen Spiele in Einsiedeln (1924). Hofmannsthals Salzburger Großes Welttheater im Jahre 1922 gehört derselben Strömung an.

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Hofmannsthals äußerst wichtige Beziehung zu Calderön ist zu bekannt und bedarf deshalb hier keines ausgiebigen Kommentars. Es sei bloß darauf hingewiesen, daß von den zwanziger bis zu den fünfziger Jahren Calderöns Präsenz auf der deutschen Bühne sich eines ständigen Wachstums erfreute und gar mit einem zweiten romantischen Zeitalter der Entdeckung und Neubearbeitung verglichen werden kann. Der Übergang von der Weimarer Republik zum Dritten Reich und schließlich zur Bundesrepublik tat der ständigen Zunahme von Calderöns Popularität keinen Abbruch. Im Gegenteil, der Dichter der autos wurde gelegentlich für politische Zwecke mißbraucht. So etwa im Dritten Reich, wo er den schlimmsten Anspielungen ausgesetzt war, etwa wegen seiner angeblichen «antisemitischen» Tendenzen angesichts der limpieza de sangre (der Blutreinheit) oder wegen seiner Unterwürfigkeit gegenüber der absolutistischen Gesetzgebung, seiner Darstellung des legalen revolutionären «Führers» Segismundo, der seine Autorität direkt vom Volk ableitete usw. Interpretationen und Unterschiebungen dieser Art machten ihn in den Augen der Nazis zu einem mehr als annehmbaren, ja respekterheischenden Autor. Die von Hitler den Falangisten vermittelte Hilfe während des spanischen Bürgerkrieges, sein Versuch, Francos Kurs im Zweiten Weltkrieg auf die Achse zu trimmen, hatten zur Folge, daß die kulturellen Beziehungen mit der iberischen Halbinsel einen starken Aufschwung erfuhren. Calderöns Potential für propagandistische Zwecke paßte somit genau in den Rahmen der Nazi-Strategie. Es ist kaum übertrieben festzustellen, daß am Anfang des kalten Krieges Calderön sozusagen ein naturalisierter deutscher Dichter geworden war, dem trotz der soeben erwähnten Mißbräuche in den fünfziger Jahren eine erstaunliche Renaissance beschieden war. Zwischen 1949 und 1979 wurden nicht weniger als achtzehn Titel seines Repertoires im deutschen Sprachraum aufs Programm gesetzt, die insgesamt 350 Inszenierungen erforderten und etwa 5600 Aufführungen mit sich brachten. Die Zahl der Zuschauer dürfte ungefähr dreieinhalb Millionen erreicht haben, wobei Fernsehzuschauer hier nicht eingerechnet sind. Die bei weitem erfolgreichsten Stücke waren: Die Dame Kobold, Das Leben ein Traum, Der Rieh-

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ter von Zalamea und Das Große Welttheater. Die Welle neuer Forderungen und der Ruf nach sozialer Relevanz angesichts der zunehmenden Entfremdung verursachte in den sechziger und siebziger Jahren einen stetigen Schwund des Ansehens, das Calderón so lange genossen hatte. Es scheint aber, daß sein Ruf in den achtziger Jahren teilweise wiederhergestellt worden ist. Die Gründe für Deutschlands warme Aufnahme Calderóns, besonders nach 1800, können als Ausdruck einer Reihe von Bedürfnissen zusammengefaßt werden, die im deutschen Kulturbereich allein nicht erfüllbar waren. Zum ersten zeigt die deutsche Kultur erstaunliche Triumphe in der Musik, der Philosophie und der Poesie auf. Gleichzeitig sind deutsche Schriftsteller in der Schaffung origineller Komödien nicht besonders erfolgreich gewesen. Der wohl beständigste und reichste Beitrag Calderóns zum deutschen Theater liegt präzise im Bereich der Komödie. Zweitens hinterließ Calderón auch zahlreiche ernste und tragische Werke. Der spekulative und transzendentale Zug in seinen größten Dramen scheint einem tief verwurzelten Bedürfnis des deutschen Charakters zu entsprechen, nämlich seinem religiösen und metaphysischen Verlangen. E.M. Butler sieht in der Verbindung des religiösen Glaubens, der Schönheit und der Poesie einen schmerzverlockenden Zug des deutschen Geistes. So schreibt sie 1935: «Als Luther den Deutschen den römischen Katholizismus entzog, enthielt er ihnen ein System vor, das ihren mystischen Neigungen und ihrem Schönheitssinn entsprochen und gleichzeitig ihren Glauben untermauert hatte. In einem Wort, er zerstörte das mythologische Element der Christenheit, dieser poetischen Kombination von Schönheit und Wahrheit, welche (die Deutschen) seit jeher in der griechischen und nordischen Mythologie gesucht haben oder aber eben in der Rückkehr zum katholischen Glauben». Der romantische Enthusiasmus Calderón gegenüber kann zum Teil eben als diese «Rückkehr zum katholischen Glauben» im Sinne Butlers betrachtet werden. Diese Ansicht wurde ebenfalls von Heinrich Heine und anderen eher abgeneigten Kritikern vertreten. Da Calderón seine Welt mit der Folgerichtigkeit eines Theologen und Philosophen dramatisierte und einen unerschütterlichen Glauben an absolute Wertmaß-

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Stäbe bezeugte, übermittelt er einen stärkeren Sinn für jenen metaphysischen Bedeutungsschimmer, dem die Deutschen so gerne nachsinnen, als irgendein anderer Dramatiker. Drittens zeigt meines Erachtens Calderón das Tragische und menschliche Konflikte als systembedingte Problematik des künstlichen, von Menschen geschaffenen Gesellschaftskodex. Calderón zwingt den Zuschauer unablässig, die Voraussetzungen und die Folgen der «menschlichen Kultur» im Auge zu behalten, sogar und besonders in ihren transzendentalen und überbrückenden Dimensionen, die sich als freiheitsbeschränkend erweisen. Diese Sicht muß von einigen als lästig empfunden worden sein. Aber im großen und ganzen wurde sie von Generationen von deutsch sprechenden Zuschauern begeistert geteilt. Um einmal mehr mit Goethe zu sprechen: «Bei mir ist die alte Wahrheit wieder aufgestanden: daß, wie Natur und Poesie sich in der neueren Zeit vielleicht niemals inniger zusammengefunden haben als bei Shakespeare, so die höchste Kultur und Poesie nie inniger als bei Calderón.» (28. April 1829). Mit Calderóns schwer faßbarer Dialektik zwischen der wortlosen Poesie der Aufführung und der expliziten Poesie der menschlichen Kultur haben die Deutschen über Jahrhunderte hinaus die wahre schöpferische Kraft des spanischen Dichters erfaßt. fT

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THEATER UND BÜHNE IM SIGLO DE ORO i Eine weitgehend philologische Beschäftigung mit dem Theater überhaupt - und mit dem des spanischen Siglo de Oro im besonderen - läuft immer Gefahr, sich ausschließlich oder zumindest überwiegend auf den Dramentetf zu konzentrieren und diesen vorrangig zu untersuchen, sei es im Hinblick auf die schwierigen und keineswegs gelösten Editionsprobleme oder auf Quellen und Filiationen von Texten, sei es im Hinblick auf deren ideologischen Gehalt, ihre geistesgeschichtliche oder theologische Position. Eine solche Betrachtungsweise verliert meist sehr schnell aus den Augen, daß die untersuchten Texte eigentlich und vorrangig zur Aufführung auf einer Bühne mit ganz bestimmten historischen Voraussetzungen bestimmt waren und in der überlieferten gedruckten oder handschriftlichen Form nur einen Teil ihrer ursprünglichen Ganzheit repräsentieren. Denn diese Texte sind ganz entschieden bedingt durch die Gegebenheiten der Bühnen, deren technische Voraussetzungen und das durch sie mitbestimmte Gattungsspektrum. Gegenüber diesen sozusagen ehernen Vorgaben hatte jedes wie auch immer zu definierende persönliche Anliegen und jeder individuelle Gestaltungswille der Autoren zurückzutreten. So war etwa, um jetzt nur noch von Theater und Bühne des spanischen 17. Jahrhunderts zu sprechen, die Zahl der in einem Stück auftretenden Personen dem Autor durch die der Mitglieder einer Schauspieltruppe ebenso vorgegeben wie deren grundsätzliche Konfiguration, d.h. das Gegenüber von Liebhaber (galán) und Dame, von Edelmann (caballero) und

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lustiger Person (gracioso). Von den technischen Möglichkeiten der Bühne vorgegeben war auch die Verwendung der Bühnenmaschinen zur Befriedigung von Zuschauererwartungen, denen sich kein Textautor entziehen konnte, wollte er den Erfolg seines Stückes nicht gefährden. Eingezwängt waren die Autoren und Schauspieler schließlich in das Korsett - das Ritual - des Aufführungsablaufs, der stets mehr als das Spiel einer comedia oder eines auto sacramental vorsah und die Verwendung weiterer Elemente verlangte wie Vor-, Zwischen- und Schlußspiele, Tänze und Musik, Elemente, die bisweilen die Zuschauer mehr anzogen als die comedia oder das auto sacramental, die so zum bloßen Vorwand der Darbietung der attraktiven géneros menores werden konnten. Ohne daß Adolph Friedrich Schack die Theaterpraxis des Siglo de Oro bereits im Detail gekannt hätte, hob er doch in seiner 1845-46 veröffentlichten, auch heute noch durchaus brauchbaren Geschichte der dramatischen Literatur und Kunst in Spanien1 hervor, daß es sich bei allen Werken von Lope de Vega, Moreto, Tirso de Molina oder Calderón um «zunächst auf die Darstellung, nicht für die Lektüre, berechnete Bühnenwerke» handelt.2 Anerkennend zitiert er daher Immermanns Urteil speziell über Calderón, dem jener bestätigt hatte, er habe «die höchste poetische Kraft mit der größten technischen Fertigkeit und vollkommensten Bühnenpraxis vereinigt»3. Diese bühnen- und theatertechnische Seite hat jedoch in der Folgezeit die Calderón-Philologie häufig vernachlässigt; aber das tat sie nicht allein, mußte doch noch 1954 René Bray ein programmatisches Buch über Molière als Theatermann schreibet, um so den Blick weg von geistesgeschichtlichen Fragestellungen auf solche der Schauspiel- und Bühnenpraxis zu lenken. Ohne eine angemessene Berücksichtigung dieser Aspekte ist es nicht möglich, etwa ein auto sacramental wirklich zu verstehen, das eben viel mehr ist als ein theologisch hochkomplizierter Text, noch ist es möglich, sich eine angemessene Vorstellung von der ästhetischen und gesellschaftlichen Funktion des Theaters im Siglo de Oro zu 1 2 3 4

3 Bde., Berlin: 1845-46 (Reprint Hildesheim/New York 1975). Bd. 3, S. XIV. Bd. 3, S. XV. Molière homme de théâtre. Paris: 1954 (21968)

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machen, wo dieses ebenso wenig zum Ziel hatte, dem Zuschauer das Einfühlen in Charaktere von gleichem Schrot und Korn (Lessing) zu ermöglichen, wie ihn in die kritische Distanz des Zigarrenrauchers gegenüber einem episch vorgetragenen Bühnengeschehen (Brecht) zu versetzen. Angesichts dieses Sachverhalts ist es überraschend, daß die erste nach Schacks Werk erschienene Gesamtdarstellung des spanischen Theaters aus dem Jahre 1985 meint, ohne ein ausführliches Kapitel über die Bühne des Siglo de Oro auskommen zu können und sich ganz auf die nach Autoren und nicht nach Gattungen angeordneten Texte konzentriert.5 Demgegenüber sollen hier in notwendigerweise sehr knapper und allgemeiner Weise die Formen der Bühne, die Aufführungspraxis und die Funktion des Theaters im 17. Jahrhundert dargestellt werden. Dies ist auf relativ sicherem Boden möglich, da zu diesen Fragen eine Reihe von neueren Arbeiten existieren, die fußend auf älteren Standardwerken wie denen von Hugo A. Rennerté oder Bruce W. Wardropper7, in den letzten Jahrzehnten auf breiter Materialbasis die Probleme der Theaterproduktion und -rezeption sowie der Aufführungstechnik und Bühnengegebenheiten untersucht haben. Besonders verwiesen sei auf die große Materialsammlung zur spanischen Theatergeschichte von J.E. Varey und N.D. ShergoldS, auf die Darstellung der spanischen Bühne des letzteren9, Brigitte Kaufmanns Versuch zum Verhältnis von Autor, Publikum und Bühne10, die resümierende Beschreibung der Bühnen-

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Das spanische Theater. Von den Anfängen bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts. Hg. v. Klaus Pörtl. Darmstadt: 1985. (Grundriß der Literaturgeschichten nach Gattungen). Die Theaterseite berücksichtigt dagegen recht intensiv die von José María Diez Borque geleitete Historia del teatro en España, in deren erstem Band (Madrid: 1984) Marc Vitse und Frédéric Serralta das 17. Jahrhundert sehr eindringlich darstellen (S. 473-667). The Spanish Stage in the time of Lope de Vega. Madrid: 1909 (Repringt New York 1963). Introducción al teatro religioso del Siglo de Oro: evolución del auto sacramentai 1500-1648. Salamanca: 21967.

Fuentes para la historia del teatro en España. London 1971 ff. Erschienen sind die Bände 1-7 und Band 11. Heranzuziehen ist auch ihr Dokumentarband Los autos sacramentales en Madrid en la época de Calderón (1637-1681). Madrid: 1961. 9 A history of the Spanish Stage from Medieval Times until the End of the Seoenteenth Century. Oxford: 1967. 10 Die comedia Calderóns. Studien zur Interdependenz von Autor, Publikum und Bühne. Bern/Frankfurt/München: 1976.

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formen im Siglo de Oro durch Othón Arróniz11, die Arbeiten von Sebastian Neumeister^, José María Diez Borque", Emilio Orozco Díaz14 und José Antonio Maravallis, die besonders auch nach der Funktion des Theaters als Text und Schauspiel in der spanischen Gesellschaft des 17. Jahrhunderts gefragt haben sowie Josef Oehrleins Untersuchung zum Status und zur Leistung des Schaupsielers im «Goldenen Zeitalter»1^ und letztendlich eine Reihe von meist kürzeren Studien zum Verhältnis von Theater und barockem Fest17. Es hat schließlich nicht an dem Versuch gefehlt, das konkrete Theater des 17. Jahrhunderts anhand von Plänen, Skizzen und Modellen zu rekonstruieren.1^ II Werfen wir nunmehr zunächst einen kurzen Blick auf die drei Bühnenformen im Siglo de Oro: die Bühne der corrales, die Palastbühne bei Hofe (teatro palaciego) und schließlich die Bühne der carros. Dienten die beiden ersten dazu, ganz überwiegend comedias, also im weitesten Wortsinn profane Theaterstücke aufzuführen (bei der Palastbühne sind die mythologischen Festspiele und die zarzuelas hin11 Teatros y escenarios del Siglo de Oro. Madrid: 1977. 12 Mythos und Repräsentation. Die mythologischen Festspiele Calderóns. München: 1978. 13 Sociedad y teatro en la España de Lope de Vega. Barcelona: 1978. Vom gleichen Autor vgl. auch das Werk Sociología de la comedia española en el siglo XVIII. Madrid: 1976. 14 El teatro y la teatralidad del Barroco. Barcelona: 1969. 15 Teatro y literatura en la sociedad barroca. Madrid: 1972. La cultura del Barroco. Barcelona: 1975. 16 Der Schauspieler im spanischen Theater des Siglo de Oro (1600-1681). Untersuchungen zu Berufsfeld und Rolle in der Gesellschaß. Frankfurt: 1986. 17 Hier sei verwiesen auf den Band Teatro y fiesta en el Barroco. España e Iberoamérica. Ed. José María Diez Borque, sowie auf den Versuch, die Aufführung eines auto sacramental in ihrer ganzen theatralischen Komplexität zu evozieren: Calderón de la Barca: Una fiesta sacramental barroca. Loa para el auto. Entremés de los instrumentos. Auto sacramental La segunda esposa y triunfar muriendo. Mojiganga de las visiones de la muerte. Estudio preliminar, edición y notas de José María Diez Borque. Madrid: 1983. 18 John J. Alien: The reconstruction of a Spanish Playhouse: El corral del Príncipe, 1583-1774. Gainesville: 1983. Den Versuch, die carro-Bühne eines auto sacramental im Modell zu rekonstruieren unternahm zuletzt Pedro León: «La puesta en escena de las dos versiones de El Divino Orfeo de Calderón», in: Hacia Calderón. Séptimo Coloquio Anglogermano Cambridge 1984. Hg. v. Hans Flasche. Stuttgart: 1985, S. 146-157. Einen Eindruck von der Theaterrealität im Siglo de Oro vermittelte auch die Madrider Ausstellung IV Centenario del teatro Español (April-Juni 1984), deren Katalog von David Castillejo herausgegeben wurde: El corral de comedias. Escenario. Sociedad. Actores. Madrid 1984

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zuzurechnen), so war die dritte Bühnenform ausschließlich der Darstellung religiösen Theaters, den auto sacramentales - Fronleichnamsspielen - vorbehalten. Die ursprünglichste und einfachste Form des spanischen Theaters im 16. und 17. Jahrhundert war die corral-Biüme. Sie ist nach Vorformen des ambulanten, auf einem Brettergestell improvisierten Schauspielens die erste Form eines fest etablierten, staatlich strikt geregelten und von Zensurmaßnahmen eingegrenzten Theaters, das in Madrid 1579 und 1583 mit den corrales in der Calle de la Cruz und der Calle del Prínzipe in Erscheinimg trat. Den Namen corral erhielt es, weil es im rechteckigen, von einem Häusergeviert nach außen gänzlich abgeschlossenen Hof, dem eigentlich den Haustieren vorbehaltenen corral, errichtet worden war. An der Stirnseite dieses Freilichttheaters befand sich die Bühne. Davor lag ein größerer Bereich für billige Stehplätze (den die häufig lärmenden mosqueterosw einnahmen); seitlich davon bis auf die Bühne selbst reichend sowie hinter den Stehplätzen, dem patio, befanden sich Sitzbänke für die wohlhabenderen Zuschauer. Hinter diesen - und bereits in das der Bühne gegenüberliegende Gebäude integriert - erhob sich die recht enge cazuela, der einzige Bereich, von dem aus weibliche Zuschauer das - akustisch dort allerdings häufig nur noch schwer wahrnehmbare - Spiel verfolgen durften. Reiche, hochstehende und adlige Persönlichkeiten konnten aposentos mieten, Räume in den Längsgebäuden des corral, in deren Außenmauern Fenster gebrochen waren, die den Blick auf die Bühne gestatteten. Die Bühne selbst war einfach ausgestattet. Sie erhob sich 2 bis 2,50 m über den Boden, besaß keinen vorderen, zum Publikum hin abschließenden Vorhang, wohl aber einen telón de fondo, der die sonst fehlenden Kulissen ersetzte und die Bühne von einem Teil der Garderobe (vestuario) trennte. Die Bühne verfügte über einfache, doch mit Begeisterung verwandte technische Möglichkeiten: eine Reihe von Fallen und Öffnungen im Bühnenboden (trampas und escotillones), die das überraschende Versinken und Auftauchen von Personen gestattete; eine tramoya, einen 19

Ursprünglich «Musketiere», also Soldaten, dann Bezeichnung für alle «männlichen Gäste aus dem gewöhnlichen Volke», wie sie Ludwig Pfandl nennt (.Spanische Kultur und Sitte des 16. und 17. Jahrhunderts. Eine Einführung in die Blütezeit der spanischen Literatur und Kunst. Kempten: 1924, S. 158).

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Die Abbildung zeigt die einzige noch erhaltene corrai-Bühne in dem südspanischen Städtchen Almargo. Das 1950 als solches wiederentdeckte Theater wurde überstürzt restauriert. Obwohl es daher nicht detailgetreu rekonstruiert wurde, sind doch wesentliche Elemente des corraZ-Theaters zu erkennen: die erhöhte Bühne (tablado) ohne Vorhang zum Publikum (telón de boca) und ohne Kulissen; die Stehplätze im Raum vor der Bühne (patio), wo sich die billigen Plätze für das lärmende Publikum der mosqueteros befanden; rechts und links davon die gesonderten Bereiche für die teureren Sitzplätze (gradas und aposentos). Die Bühne zeigt in ihrer heutigen Form nur noch die Türen und den Balkon als Bühneneinrichtung. Die eigentlichen Maschinen (tramoyas) sind nirgends erhalten.

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«Mühltrichter», d.h. ein drehbares mit bemalten, also kulissenähnlichen Leinen bespanntes Gerät, das einer stumpfen, umgekehrten Pyramide glich und erlaubte, Gestalten plötzlich zu verdecken oderhervortreten zu lassen und einen Ortswechsel zu suggerieren. Diese primitive, nicht erhaltene tramoya wurde zum Vorbild späterer komplizierter Bühnenmaschinen, die dann alle mit diesem Wort bezeichnet wurden.20 Schließlich verfügte die corrai-Bühne über einen pescante, ein Hebegerät, das vor allem in den aufwendiger inszenierten Heiligenkomödien - den comedias de santos - es erlaubte, Gestalten des Jenseits, Engel oder Teufel, sozusagen aus der Luft einschweben zu lassen. Unter und hinter der Bühne befand sich der Umkleideraum, die Schauspielergarderobe, deren von den Schauspielerinnen benutzter Teil für die männlichen Zuschauer ein Ort magischer Anziehung war, konnte dort selbst das als besonders erotisch empfundene Wechseln von Schuhen und Strümpfen beobachtet werden. Dies mußten die Schauspielerinnen - trotz strenger behördlicher Verbote und entschiedener kirchlicher Proteste - ertragen, weil sie sonst Gefahr liefen, von den Verschmähten später während des Schauspiels ausgepfiffen zu werden.21 Furcht vor Feuer und vor der sittlichen Gefährdimg besonders der weiblichen Zuschauer auf dem Nachhauseweg waren die Gründe für die rigoros eingehaltene Vorschrift, daß die Aufführungen vor Einbruch der Dunkelheit abgeschlossen sein mußten.22 Da dem Theater außer einem Sonnensegel (toldo) eine Überdachimg fehlte, fielen bei Regenwetter die Vorstellungen aus. Innerhalb der Spielzeit, die von Ostern bis zum Beginn der Fastenzeit reichte, waren daher die Phasen von Ostern bis Fronleichnam (21. Juni) sowie die im kühleren Herbst und die von Weihnachten bis Fastnacht die ertragreichsten. Die corrai-Bühne und das Schauspielwesen verdanken in Spanien 20

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Theaterstücke, die diese Bühnenmaschinen intensiv nutzten, die sogenannten comedias de tramoya, erfreuten sich bei dem besonders schaulustigen Publikum der Zeit außerordentlicher Beliebtheit. Vgl. Pfandl: Spanische Kultur und Sitte. S. 159 f. Er stützt sich dabei v.a. auf eine zeitgenössische - satirische - Beschreibung der Theateraufführungen von Juan de Zabaleta: El dia delafiesta por la tarde (zuerst 1660); Neuausgabe von J.M. Diez Borque. Madrid: 1977, S. 17. Die Aufführungen begannen daher von Oktober bis April um 14 Uhr, im Frühjahr um 13 Uhr und im Sommer um 16 Uhr. Zabaleta: Dia de la fiesta, S. 13, Anm. 17.

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ihre Existenz letztlich einem religiösen Kontext. Auf mittelalterliche Ursprünge zurückgehend führte im 16. Jahrhundert in Madrid die Cofradía de la Pasión Theaterstücke auf und stellte den Erlös dem modern gesprochen - Sozial- und Krankenhauswesen der Stadt zur Verfügung. Von den fünf cuartos, den ein Stehplatz im corral vor 1608 kostete, gingen nach diesen Regelungen drei an die Schauspieltruppe und deren Leiter (autor), ein cuarto an das Hospital General und der verbleibende fünfte je zur Hälfte an das Hospital de la Corte und an das Hospital de Antón Martín.23 Wie eng die Verknüpfung des Gesundheits- mit dem Theaterwesen war, mag die Tatsache belegen, daß der König 1645 die Eintrittspreise erhöhen ließ, um im Krieg gegen Katalonien und Portugal die Lazarette zu finanzier e n . 2 4 Der Staat hatte also ein großes Interesse an einem intensiven Theaterbesuch und an einer ordnungsgemäßen Durchführung. Städtische Polizei (alguaciles de comedia) wachte darüber, daß etwa jeweils 2.000 Zuschauer auch tatsächlich das Eintrittsgeld bezahlten; Zuwiderhandlungen wurden mit Gefängnis bestraft. Das Theaterwesen der Stadt insgesamt mit seinen zwei corrales unterstand einer staatlichen Junta, die aus einem protector, der Mitglied im Staatsrat (Consejo de Castilla) war, sowie zunächst aus vier, dann fünf Comisarios bestand, die von den confradias ernannt w u r d e n . 2 5 Sie überwachten die Einnahmen und deren Verteilung an die Hospitäler. Im Jahre 1638, einem wichtigen Datum in der Geschichte des spanischen Theaters, übernahm die Stadt Madrid die corrales in eigene Regie, zahlte den Hospitälern, um diese vom Auf und Ab der Eintrittsgelder unabhängiger zu machen, einen Fixbetrag und vermietete die Theater an Pächter (arrendadores), die auf eigener Gewinnbasis den corral als wirtschaftlichen Betrieb führten, zum Teil mit erheblichen Vollmachten. So konnten sie, um den Spielbetrieb aufrechtzuerhalten, Schauspieltruppen zwingend veranlassen, nach Madrid zu kommen und dort zu spielen. Dieses durchorganisierte Wirtschaftsunternehmen corral-Theater mit seiner - es vor kirchlichen theaterfeindlichen Rigoristen retten23 Shergold/Varey: Fuentes, Bd. 3, S. 33. 24 Shergold/Varey: Fuentes, Bd. 3, S. 25 f. 25 Shergold/Varey: Fuentes, Bd. 3, S. 14 f.

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den - Verknüpfungen von Vergüngungsbetrieb und städtischen Sozialaufgaben26 hatte selbstverständlich Konsequenzen für die Produktion der für die Aufführung notwendigen Texte. Da angesichts der relativ geringen Größe Madrids im 17. Jahrhundert und trotz des Vorhandenseins etlicher ociosos die potentielle Zuschauerzahl nur beschränkt war, konnte ein Theaterstück sich höchstens fünf bis sechs Tage auf dem Spielplan halten. Es mußte dann, um den alten Kimdenkreis neu anzulocken, durch ein neues Stück ersetzt werden. Jede Schauspieltruppe mußte daher pro Spielzeit über etwa 10 neue und 30 alte comedias im Repertoire h a b e n . 2 7 Dieser große Textbedarf wiederum konnte von Seiten der Autoren nur durch rasches Schreiben gedeckt werden. So will Lope de Vega 1.500 comedias verfaßt haben^, von denen allerdings nur 470 erhalten sind, wobei manches nicht von ihm stammt, sondern unter seinem werbewirksamen Namen in den Verkehr gebracht wurde. Schack schätzte die Gesamtzahl der im Siglo de Oro produzierten - und längst nicht alle gedruckten - comedias auf 30.000 Stück; Aubrun vermutet erheblich vorsichtiger nur 10.000. Immerhin hat auch Calderon 120 comedias verfaßt. Diese Massenproduktion (erinnern wir daran, daß Racine 12 und Schiller 10 Theaterstücke hinterließen) war natürlich nur möglich, weil sie nach für den Spezialisten leicht reproduzierbaren Handlungsschemata (häufig eine lineare, wenn auch recht verschnörkelte Liebesgeschichte) und in klar umschriebenen Untergruppen (comedia deenredos, comedia de honor, comediade capayes26 Trotz der theologischen Diskussionen um die Zulässigkeit des Theaters in einem christlichen Gemeinwesen überhaupt - Diskussionen, unter denen ja auch ein Molière (16221673) in Frankreich oder eine Friederike Caroline Neuber (1697-1760) in Deutschland zu leiden hatten - betont Oehrlein zurecht diese spanische Sondersituation, die auch eine Aufwertung des Schauspielerstandes zur Folge hatte: «Die Verknüpfung des Unterhaltungsbetriebs in den Corrales mit der Finanzierung sozialer Aufgaben war immer wieder ein entscheidendes Argument für die Beibehaltung des Spielbetriebs.» Der Schauspieler im spanischen Theater des Siglo de Oro, S. 27. Die umfangreichen Dokumente der vor allem auf juristischen, moralischen und theologischen Argumenten basierenden Polemik um das Theater im 17. und 18. Jahrhundert hat Emilio Cotarelo y Mori zusammengestellt und abgedruckt. Bibliografia de ¡as controversias sobre la licitud del teatro en España (...). 2. Bde. Madrid: 1904. 27 Oehrlein: Der Schauspieler, S. 104. 28 Vgl. Lopes Gedicht Elogio a Claudio; dort gibt er - in sicherlich übertreibender und sich selbst ironisierender Weise - auch an, er habe mehr als 100 comedias in jeweils weniger als 24 Stunden verfaßt.

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Rekonstruktion einer carro-Bühne für das auto sacramental «Der göttliche Orpheus» (1663) (nach den Bühnenanweisungen (memoria de apariencias), die Calderón selbst im Stück gibt.)

Abb. 1 zeigt die vollständige Bühne, die aus dem tablado als der eigentlichen Spielfläche und vier carros mit turmartigen Aufbauten gebildet wird. Die vier carros sind rechts und links sowie hinter dem tablado angeordnet. Alle Teile der Bühne sind fahrbar, so daß es möglich war, das auto sacramental mit der gleichen Bühne an verschiedenen Stellen der Stadt aufzuführen. Der tablado war etwa 18 mal 6 Meter groß; die carros hatten im Bereich der Aufbauten eine Fläche von 2,60 auf 3,30 Meter und erreichten eine Höhe von etwa 7 Meter über der Spielfläche Die rechts und links an die Spielfläche herangefahrenen carros tragen jeweils ein Schiff, das mehreren Personen Platz bietet, drehbar ist und in den oberen Teil des Aufbaus versenkt werden kann (Abb. 2 und 3).

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Die beiden mittleren, von hinten an den tablado herangefahrenen carros sind im oberen Teil ihres Aufbaus kugelförmig gestaltet. Der linke carro trägt eine mit Sternen verzierte Weltkugel, der rechte einen Felsen {peñasco). Die beiden kugelförmigen Aufsätze sind durch Seilzüge in der Mitte aufklappbar. Dabei wird die Last des vorderen Teils des,Felsen' von zwei Pinien, die der Weltkugel von zwei Säulen aufgefangen. Diese Aufbauten sind groß genug, um acht Personen Platz zu bieten. Die heruntergeklappten Hälften der beiden Kugeln bilden zwei zusätzliche, mehrere Meter über dem tablado befindliche Spielflächen (Abb.4 und 5).

Calderón gibt außerdem an, daß am Ende der Vorführung sich in der aufrecht stehenden Halbkugel des,Felsen' ein Vorhang öffnet, der den Blick auf ein Meer freigibt, aus dessen (gemalten) Wellen eine möglichst große Zahl lebendiger Vögel davon fliegen soll. (Rekonstruktion nach Pedro R. León: «La puesta en escena de las dos versiones de El Divion Orfeo de Calderón», in: Hacia Calderón. Séptimo Coloquio Anglogermano. Cambridge 1984. Ed. H. Flasche. Stuttgart 1985, p. 146-157. Die dort beschriebenen Modelle sind hier zum ersten Mal als Fotografie veröffentlicht.)

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poda, comedia histórica, comedia religiosa) sowie auf der Basis fester Personenkonstellationen erfolgte, wie sie der Grundbestand einer Schauspielgruppe vorsah (1., 2., 3. Liebhaber; 1., 2., 3. Dame als Generation der Jungen: dem gegenüber eine Generation der Alten: Mütter, Väter (barbas), die Gestalt des Alten (vejete) sowie im soziologischen Kontrast aus der Schicht des einfachen Volkes Bedienstete (criadas, criados) und die lustige Person (gracioso).2? Dieses Grundmuster von maximal 20 Positionen konnte mit immer neuen konkreten Gestalten und Rollen besetzt werdend Dabei ließen sich auch gelegentlich Bravourstücke (Romanzen, Sonette u.a.) aus früheren Stücken übernehmen, Stücke in Gemeinschaftsarbeit erstellen oder einfach umschreiben (refundiciones). Die szenischen Möglichkeiten der Bühne, der generelle Bedarf an neuen Stücken und die auf den Konsum von Serienprodukten gerichteten Erwartungen der Zuschauer bestimmten Formen, Inhalte und Ideologie der Texte erheblich mehr als die individuellen Aussage* und Wirkabsichten der Autoren, wie wir sie seit der Romantik bei den zu religiösen oder sozialen Propheten verklärten Dichtern erwartend Dieser historische Hintergrund des Abfassens der comedias ist sicherlich ein Grund dafür, daß die spanischen Theatertexte vielfach den Eindruck des Repetitiven hinterlassen und aus der großen Menge von Texten letztlich nur relativ wenige der Probe der Jahrhunderte standgehalten haben.32 Ein weiterer Grund, der allerdings weniger auf die ästhetische als auf die geistige Durchschnittlichkeit zahlreicher comedias zielt, liegt darin, daß anders als in Frankreich, wo sich ein recht elitäres Publikum die Werke eines Corneille oder Racine, auch eines Molière an29 Oehrlein: Der Schauspieler, S. 67-72. 30 Oehrlein hat ausgezählt, daß in 76 % der Fälle die «durchschnittliche Besetzungsstärke bei den Stücken Calderôns (...) bei 9 bis 14 Darstellern» liegt. Der Schauspieler, S. 84. 31 Die grundsätzliche Um- und Aufwertung der Rolle des Schriftstellers weg vom bloßen Fachmann für nach den lehr- und lernbaren Regeln der Rhetorik und Poetik gestalteten Texten hin zum begnadeten Sinngeber menschlicher Existenz ist für Spanien noch nicht eindringlich untersucht. Eine mustergültige Studie legte Paul Bénichou für die - dezidiertere, fortgeschrittenere - Situation in Frankreich vor. Le sacre de l'écrivain. 1750-1830. Essai sur l'avènement d'un pouvoir spirituel laïque dans la France moderne. Paris: 1973. 32 Doch sind dies immerhin rund 50 Texte, die auch heute noch gespielt werden. Vgl. den Beitrag von H. Sullivan im vorliegenden Band.

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sah (Ja cour et la ville)33, das Publikum der corrales gerade auch die unteren sozialen Schichten umfaßte, die von den Zeitgenossen mit eindeutig negativer Wertung als der vulgo bezeichnet w u r d e n . ^ 4 Diesem wenig gebildeten, doch zumindest mit der spanischen Geschichte vertrauten Publikum gefielen handlungsreiche Stücke wie die comedias de capa y espada oder die mit Überraschungseffekten arbeitenden comedias religiosas mehr als Stücke problematischer Seelenanalyse.35 Zum Gefallen der in ihrem Gehalt letztlich stark repetetiven Stücke trug darüberhinaus häufig weniger der Text der comedia als seine szenische Darbietimg innerhalb eines rituellen Kontextes bei, wie zu zeigen sein wird. Doch zunächst - und weniger detailliert - zu den beiden anderen Bühnenformen. Am Hof - Madrid wurde zu Beginn des 17. Jahrhunderts endgültig die Hauptstadt Spaniens - hatte sich parallel zur corral-Bühne ein eigenständiges, aus ihr heraus entwickeltes Theater geformt. Es war jedoch von Anfang an als ein Theater im geschlossenen Raum, in einem großen Salon, konzipiert. Unter italienischem 33 Vgl. die Ausführungen von Erich Auerbach zum Publikum des französischen klassischen Theaters: «La Cour et la Ville», in: Ders.: Vier Untersuchungen zur Geschichte der französischen Bildung. Bern: 1951, S. 12-50. 34 So von Lope de Vega in seinem - z.T. jedoch ironisch distanzierten - Arte nuevo de hacer comedias (1609). Zu diesem Publikum gehörte jedoch auch der Adel, der vorwiegend die teueren aposentos gemietet hatte. Für die Entwicklung der Inhalte des spanischen Theaters ist jedoch neben der Anwesenheit eines häufig wenig gebildeten Publikums von großer Bedeutung gewesen, daß hier -anders als in Frankreich mit seinem laizistischen Bildungsideal des honnête homme - die überwiegende Zahl der eigentlichen Bildungsträger Geistliche waren, die grundsätzlich Theateraufführungen nicht beiwohnen durften. Wenn - in der Frühphase der spanischen comeififl-Produktion - ein Ordensmann und Priester wie Tirso de Molina (1584-1648) dennoch Stücke für das Theater schrieb (und ihm dankt die spanische Bühne solch hervorragende Werke wie das erste Don Juan-Drama der Weltliteratur), so geschah es doch, daß sich dieser letztendlich der kirchlichen Disziplin unterwerfen und das Stückeschreiben nach 1625/26 aufgeben mußte. Daß dabei auch politische Motive eine Rolle gespielt haben (Tirso tendierte zu einem «Theater der Opposition» gegenüber dem Hof, besonders gegenüber dem Günstling Olivares), überrascht angesichts der damals am spanischen Hof engen Verknüpfung von Religion und Politik nicht. 35

Selbst die lange Zeit als besonders problemorientiert angesehenen Ehrendramen sind eventuell eher als z.T. ins Extrem getriebene formale Variationen eines - gewiß gesellschaftlich vorhandenen - Problems (der Ehrenfrage und eines stark außenorientierten Verhaltenskodex des Adels) zu verstehen statt als tiefgreifende psychologische Studien. Vgl. Harald Wentzlaff-Eggebert: «Calderóns Ehrendramen», in: Pedro Calderón de la Barca (16001681). Beiträge zu Werk und Wirkung. Hg. v. Titus Heydenreich (Erlanger Forschungen, Reihe A, Band 28). Erlangen (1982), S. 19-32 und Peie Juan i Tous: ««Representar» y «razonar» en los dramas de honor calderonianos» (wird erscheinen in den Akten des Octavo Congreso Anglo-Germano Sobre Calderón, hg. von H. Hasche).

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Einfluß entwickelte sich hier eine moderne Perspektivbühne mit aufwendigen, realistischen Kulissen (bastidores), mit einem - für Spanien damals neuen - Vorhang zum Zuschauerraum hin (telón de boca), einem Orchestergraben, der den Bereich der Schauspieler klar von dem des Publikums trennte. Seit 1626, als der italienische Architekt Lotti (gest. 1640) seine Arbeit am spanischen Hof aufnahm, wurde diese - zunächst noch von Raum zu Raum oder Schloß zu Schloß tranportierbare - Bühne (escena portátil) mit einer aufwendigen Bühnenmaschinerie ausgestattet, die alle nur denkbaren optischen und akustischen Überraschungen erlaubte. Neu war vor allem, daß die Aufführungen in den Abendstunden vorgenommen wurden, so daß es jetzt möglich war, die Effekte künstlicher Beleuchtung mit eindrucksvollem, doch außerordentlich teurem Kerzenlicht zu v e r w e n d e n . 3 6 Dieses perfekte Illusionstheater wurde 1640 endgültig in einem für Theateraufführungen vorgesehenen Saal, dem coliseo, im Buen-Retiro-Pa\ast installiert. Calderóns Dama Duende («Dame Kobold») von 1629 war für dieses Palast-Theater und nicht mehr für die corrales geschrieben, setzt es doch in einigen Szenen der zweiten jornada voraus, daß die Bühne ins Dunkel getaucht ist.37 Als Calderón nach seiner Priesterweihe im Jahre 1651 überhaupt keine comedias mehr für die corrales verfaßte, schrieb er neben den autos sacramentales - nur noch für die Hofbühne mythologische Festspiele (fiestas), die dort zur Selbstfeier der Monarchie und ihres Umfelds im Gewand der Mythologie mit größtem Prunk aufgeführt w u r d e n . 3 8 Aus den erhaltenen Rechnungsbelegen geht hervor, daß die Aufführungen der fiestas von 1679/80 (Síquis y Cupido, Faetón, La púrpura de la rosa und Hado y divisa de Leónido y Marfisa u.a.m.) «wahre Materialschlachten mit einem geradezu gigantischen Aufgebot an künstlerischem Personal, Handwerkern und Hilfskräf36 Im Buen Refiro-Palast wurden 1653 innerhalb von nur 4 Tagen 695 Pfund Wachs im Wert von 6.255 reales verbraucht. Beim Verdienst eines Schauspielers von pro Tag 20 reales läßt sich der Betrag als «313 Tagessätze», also mindestens ein Jahresverdienst umrechnen! Bei einem heute für einen Schauspieler anzusetzenden Tagesverdienst von nur 150 DM ergäbe dies eine «Lichtrechnung» von fast 50.000 DM. 37 Vgl. Arróniz: Teatros y escenarios, S. 230. 38 Von den fiestas, die Calderón im Verlauf von 40 Jahren verfaßte, sind 19 erhalten. Sein erstes Festspiel war das Werk Polifemo y Circe (1634). Strukturen, Inhalte, Aufführungspraxis und Ideologie dieser Stücke hat S. Neumeister gründlich analysiert (s. Anm. 12).

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ten» w a r e n . 3 9 Die überlieferten, von Calderón selbst verfaßten memorias de apariencias lassen mit ihren genauen Angaben etwas von diesem Prunk ahnen. So sah Calderóns letzte Fiesta, Hado y divisa de Leónido y Marfisa folgende zehn Szenenwechsel vor, «die sehr verschiedenartige Bühnenbilder und Verwandlungsmaschinen erforderten. In der ersten jornada werden eine Felsenlandschaft, eine Grotte und ein Fluß (auf dem ein Schiff entlangfährt) verlangt, im zweiten Akt gibt eine auf den bastidores dargestellte Wald- und Felsenlandschaft den Blick auf eine «gran peña» frei, die sich schließlich öffnet und ein «gabinete real» erscheinen läßt; in einem zweiten Felsen kommt gar der Saal eines Palastes zum Vorschein. Schließlich wird dem Publikum eine Gebirgsszene vorgeführt, mit dem feuerspeienden Ätna als Attraktion. In der dritten jornada verwandelt sich ein Wald in einen Garten, dieser wieder in eine Szenerie aus Bäumen und Bergen, worauf noch einmal der Garten und schließlich ein Platz vor dem Palast als Bühnenbilder erscheinen.»4 Nur dem Genie Calderóns ist es zu verdanken, wenn der Text der fiesta nicht zum bloßen Vorwand für funktionslose Inszenierungskünste verkam. Dennoch wäre es verfehlt, wollte man dergleichen Stücke ausschließlich von der Seite des Textes her verstehen. Dieses Palasttheater war mm zwar ursprünglich zum Vergnügen des Hofes konzipiert worden, doch wurden schon bald Zuschauer aus der Stadt - gegen Eintrittsgelder mit der entsprechenden Abführung an die Hospitäler - zugelassen. Diese scheinbare Liberalität (für die Königin soll nämlich das zuschauende und sich streitende Volk häufig interessanter gewesen sein als die Theateraufführimg) führte im übrigen mehr oder minder direkt zum letztendlichen Ruin der städtischen corrales. Die von den prunkvollen Inszenierungen bei Hofe verwöhnten Zuschauer waren mit den primitiven Möglichkeiten der corraZ-Bühne bald nicht mehr zufriedenzustellen und blieben aus. Ab Mitte des 17. Jahrhunderts gingen die corrales allmählich dem Verfall entgegen, wozu allerdings auch die z.T. mehrjährigen Aufführungsverbote aus Anlaß von Trauerfällen am Hof beitrugen, hat39 Oehrlein: Der Schauspieler, S. 33. 40 Oehrlein: Der Schauspieler, S. 31

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ten sie doch zur Folge, daß die hochspezialisierten Schauspielertruppen allmählich auseinanderfielen. Gerade in Bezug auf die Schauspieler wirkte die Hofbühne im übrigen auch unter einem zweiten Gesichtspunkt negativ auf die corrales ein. Die Schauspieler an beiden Bühnen waren nämlich die gleichen, sie hatten jedoch vorrangig - besonders seit 1646 - dem Hof zur Verfügung zu stehen. Die komplizierte Aufführungstechnik an der Palastbühne machte es nötig, daß die Schauspieler umständlich proben mußten, so für die corrai-Bühne nur noch beschränkt zur Verfügung standen und häufig, dem Auf und Ab königlicher Launen folgend, Aufführungen buchstäblich in letzter Minute ausfallen lassen mußten. So wie der Hof insgesamt mit seiner Prunkentfaltung, die bisweilen selbst den luxuserfahrenen französischen Besuchern wie Madame d'Aulnoy den Atem verschlug, das dem wirtschaftlichen Ruin entgegengehende Spanien der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts finanziell überforderte, zehrte auch die Hofbühne allmählich die Ressourcen der corrales auf. Die dritte Bühnenform schließlich, die das Theater des Siglo de Oro kannte, ist die carro-Bühne. Sie wurde ausschließlich für das religiöse Theater der autos sacramentales verwandt, die zunächst nur am Fronleichnamsfest selbst, dann auch noch an den unmittelbar folgenden Tagen aufgeführt wurden. Die jedes Jahr neu hergestellte, aufwendig konzipierte Bühne war auf zwei, später vier Fahrzeuge (carros) montiert. Sie wurde von Ochsen gezogen, durch die Stadt transportiert und an verschiedenen zentralen Stellen aufgebaut, um so das gleiche auto sacramental vor jeweils anderem Publikum aufführen zu können. Die zusammengestellten carros ergaben eine beachtliche Spielfläche von 54 mal 23 Fuß Breite und Länge (1620) (etwa 18 mal 7 Meter), an deren Schmalseiten als Grundformen sich Türme befanden, die jedoch wie auch die Fläche selbst je nach dem darzustellenden Stück umgestaltet wurde. Die Bühne war mit den bei den corraZ-Bühnen üblichen Maschinen ausgestattet, die auch hier allerlei erstaunliche Kunstgriffe, vor allem auch das Herabschweben himmlischer Gestalten erlaubten. Die optische Wirkimg wurde durch eine umfangreiche Illusionsmalerei mit stark symbolischen, auf das Heilsgeschehen bezogenen Elementen verstärkt, die

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auch dem einfachen Zuschauer erlaubten, das Theologisch-Gemeinte des Bühnengeschehens zumindest in den Grundzügen zu verstehen. 41 Um von dieser Bühne einen konkreten Eindruck zu vermitteln, sei hier das für Calderóns Divino Orfeo (1663) vorgesehene Bühnenbild (memoria de apariencias) angeführt.^ Demnach sollte der erste carro als ein schwarzes Schiff gestaltet sein, das auf dunklen (gemalten) Wellen schwimmt, in denen grausige Meeresungeheuer zu sehen sind. Der Mast dieses Schiffes muß so stabil sein, daß ihn ein Mensch besteigen kann. Der zweite carro ist gleichfalls als Schiff gestaltet, jedoch (in klarer Symbolik) in den freundlichen Farben blau und gold gestrichen; es schwimmt auf einem blauen Meer mit lieblichen Fischen und Meerestieren. Auf der weiß-roten Betakelung sind Kelche und Hostien dargestellt. Auf den dritten carro ist eine Weltkugel montiert mit den Symbolen für Sterne und Planeten. Diese Kugel läßt sich so aufklappen, daß die vordere Halbkugel, wenn sie abgesenkt ist, eine ebene Fläche ergibt; aus der stehengebliebenen Halbkugel, die von einem Vorhang verschlossen ist, können Personen hervortreten. Diese Halbkugel ist von einem drehbaren Strahlenkranz umgeben. Der vierte carro schließlich stellt einen Felsen (peñasco) dar, der gleichfalls geöffnet werden kann. Er ist von Bäumen bedeckt, die ihn als Wald krönen, aus dem wilde Tiere hervorschauen. Wird nun der vordere Teil des Felsens heruntergeklappt und der Vorhang zur Seite gezogen, so zeigt sich ein Meer, in dessen Wellen sich Fische tummeln und aus dem lebendige Vögel aufsteigen, die während der Aufführung in möglichst großer Zahl freigelassen werden sollen. Dieser Prunk und diese - modern gesprochen - Show-Effekte gehören ganz genuin zum auto sacramental. Wird dieses heute von einem Leser - oder einem noch so genialen Übersetzer wie Eichendorff - auf den bloßen Text, vom Schau-Spiel zum bloßen Wort-Theater, reduziert, so ist von seinen Wirkungsabsichten und -mechanismen nichts mehr erhalten. Das angestrebte Staunen, der stupore, die 41 Zu den Details vgl. Shergold: A history of the Spanish Stage, S. 21 {{., sowie den Rekonstruktíonsversuch von P. León (s. Anm. 18). 42 Nach Calderón de la Barca: Obras, Bd. 3, S. 1834 f.

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admiratio, kann heute gewiß auch aus der Bewunderung für Calderóns Fähigkeiten entstehen, ein großes theologisches Wissen in Verse, Handlung und Bilder zu gießen. Für das breite Publikum des Siglo de Oro verhielt es sich aber sicher anders. Es konnte und brauchte den theologischen Gehalt der autos sacramentales nicht zu verstehen; es sollte in erster Linie beeindruckt, nicht im Sinne reproduzierbaren Wissens belehrt, sondern zur fraglosen Zustimmung zu den theologischen Sachverhalten verführt w e r d e n . ^ Aus dem visuellen und akustischen Feuerwerk der autos ein reines Worttheater, einen bloßen Text zu machen, widerspricht den Intentionen eines Calderón. Dieser war, wiederum von 1651 bis zu seinem Tod im Jahre 1681, der Alleinlieferant von jährlich zwei autos sacramentales für Madrid, die von eigens dazu zusammengestellten, den besten Schauspielern der corrales und mit großem finanziellen Aufwand und scharfer Kontrolle durch die Stadt aufgeführt wurden.44 III Doch selbst der Hinweis auf die prunkvollen Inszenierungen besonders der fiestas und autos sacramentales vermittelt keinen wirklichen Eindruck vom Theatererlebnis eines Zuschauers der Zeit. Denn weder diese Stücke noch die comedias wurden lediglich in der uns überlieferten Textform dem Publikum dargeboten. Auf allen drei Bühnen waren diese drei Typen von Theaterstücken in ein umfassenderes Bühnengeschehen eingebettet, das hier nur für die comedia kurz umrissen sei. Die Aufführung begann in aller Regel mit einer Loa, ursprünglich einem als Monolog vorgetragenen Lob auf das folgende Stück, einer situationsbezogenen captatio benevolentiae, einer kurzen, etwa 10-minütigen Einstimmung, die allmählich zum Dialog ausgestattet wurde und häufig eine Beziehung zwischen dem aufzuführenden Stück und dem jeweiligen Aufführungsort und dem Publikum her43

Vgl. zu dieser strittigen Frage die Ausführungen des Vf.s: «Zur Vermittlung religiöser Inhalte an Laien im Theater Calderóns. Die autos sacramentales und der vulgo ignorante, in: Romanische Forschungen 93 (1981), S. 319-334, sowie den Aufsatz von E. de Bustos im vorliegenden Band. 44 Vgl. die detaillierten Ausführungen von Oehrlein: Der Schauspieler, S. 33 ff.

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stellte, kurz eine Art in Szene gesetzter Prolog. Es folgte dann der erste Akt (jornada) der comedia. Zwischen ihn und den zweiten Akt wurde sozusagen als Pausennummer ein entremés - ein komisches, gesprochenes, stark mit Typen (wie der Gestalt des Juan Rana) arbeitende Zwischenspiel aus dem Milieu tumber Bauern oder pfiffiger Gauner mit durchaus aktuellen Bezügen - eingeschoben, das wiederum eine Viertelstunde füllte. Das entremés konnte mit Musik und Tanz ergänzt sein, was es für das zeitgenössische Publikum besonders attraktiv machte. Auf Akt 2 folgte dann ein erneutes Zwischenstück, eine jácara, die nach Aussagen der Zeitgenossen die Zuschauer besonders begeisterte, wohl weil sie im - sozial exotischen Milieu der «Unterwelt», der Verbrecher und Dirnen spielte, wiederum von Tanz und Musik ausgiebig Gebrauch machte und darüberhinaus durch die Verwendimg der Gaunersprache (germania) Heiterkeit erregte, jácara und entremés sind dem heutigen - ja gleichfalls gerade wegen seiner knappen Zuspitzung erfolgreichen - sketch durchaus vergleichbar. Auch mit Akt 3 (die comedia besteht immer aus drei jornadas) war zwar die comedia, nicht jedoch die Theaterveranstaltung zuende. Es schloß sich ein häufig groteskes Maskenspiel an, eine mojiganga, die in grellem und lautem Kontrast zum Schluß der comedia den musikalischen und tänzerischen Kehraus der ganzen Veranstaltung bildete.^ Eine Theateraufführung des 17. Jahrhunderts stellte sich also keineswegs nur in der Reproduktion des uns heute überlieferten Textes einer comedia dar, sondern in einer Reihe weiterer Texte ganz anderen Charakters, vor allem auch in massiv eingesetzter Musik, in Gesang, Clownerieen, bewußt verwandter Pracht einer modisch gehaltenen - von den weiblichen Zuschauern kopierten - Kleidung und im Tanz mit einer von den Zeitgenossen als erotisch empfundenen Note. Das Ganze wurde vorgeführt von professionellen Schauspielern die all jene Zwischenelemente selbst einzubringen vermochten, ohne daß sie der Verfasser 45 Zu diesen genera minora vgl. die Ausgabe von Javier Huerta Calvo: Teatro breoe de los siglos XVI y XVII. Madrid: 1985, die zahlreiche bibliographische Angaben enthält. Auch Calderón hat solche Kleingattungen verfaßt, deren erst jüngsterdings erfolgte Berücksichtigung das Bild vom «monolithischen», emsten Calderón erheblich modifiziert: Pedro Calderón de la Barca: Entremeses, jácaras y mojigangas. Ed. de E. Rodríguez y A. Tordera. Madrid: 1982. Vgl. auch die Ausführungen von A. Laitenberger zu den entremeses Calderóns in diesem Band.

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der comedia-Texte überhaupt anzugeben brauchte.^ Nicht umsonst nannten die Zeitgenossen den Leiter der Schauspieltruppe den autor des ganzen Spektakels, mit einem Begriff, den wir heute auf den Textproduzenten reduzieren. Ein analoges, jedoch noch gesteigertes Erlebnis boten die Aufführungen der autos sacramentales und besonders die der fiestas*7, wobei die letzteren alle Möglichkeiten der Hofbühne ausschöpften. Für den modernen Geschmack in vielleicht überraschender Weise wurde auch das einaktige auto sacramental von einer loa und einem entremés eingeleitet und einer mojiganga abgeschlossen. 4 » Dabei mischte sich Religiöses mit Profanem, Ernst mit Gelächter, Visuelles mit Akustischem, Wort mit Musik zu einem prunkvollen Ganzen, dessen «Extrarationalität» (J.A. Maravall 49 ) noch folkloristisch unterstrichen wurde vom Auftreten der tarasca, eines Drachens, der kunstvoll gezimmert und angemalt die Zuschauer mit seinem feuerspeienden Rachen in (Schein-)Schrecken versetzte sowie der Riesen (gigantes) in Gestalt von Negern, Türken und Indios. 50 Daß diese Nebenstücke, die Zwischenspiele und genera minores eventuell die vom Publikum besonders und eigentlich geschätzten Leckerbissen waren, daß sie, zumal beim auto sacramental den «bitteren theologischen Kern» unter so viel kirmeshaften Ele46

Bisweilen waren die Zwischenstücke für die Zuschauer von größerem Interesse als der «Haupttext». Fand dieser etwa nicht die Billigung des Publikums, so retteten die Schauspieler die (Gesamt-)Aufführung durch den (improvisierten) Einschub besonders beliebter Zwischenspiele. Diez Borque (Sociedad y teatro, S. 277 ff.) hat dargelegt, daß das Publikum ohnehin wohl das entremés als die schlechthinnige Attraktion einer Theateraufführung ansah. Um diesem Geschmack entgegenzukommen, wurde bisweilen in der Aufführung die eigentliche comedia ausgespart; in der sogenannten folla wurden nur noch derartige Zwischentexte von piezas menores aneinandergereiht. Oehrlein: Der Schauspieler, S. 107.

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Die komplette Aufführung von Calderóns Festspiel Fieras afemina amor (1670) hat S. Neumeister analysiert. Repräsentation und Mythos, S. 201 ff. Es ist allerdings kein zeitgenössischer Bericht erhalten, der genauen Aufschluß darüber gäbe, welche konkreten Texte von Kleingattungen etwa mit welchem speziellen auto Calderóns kombiniert wurden. Um dennoch einen Eindruck von der Komplexität einer solchen Aufführung zu vermitteln, hat J.M. Diez Borque den Versuch einer Rekonstruktion für Calderóns auto La segunda esposa y Triunfar muriendo mit loa, entremés y mojiganga unternommen: Una fiesta sacramental barroca (...). Madrid: 1983.

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Vgl. besonders seinen Aufsatz «Teatro, fiesta e ideología en el Barroco» in dem Sammelband Teatro y fiesta en el Barroco (s. Anm. 17), S. 71-95. 50 Diese - erst 1780 verbotenen - folkloristischen Elemente sind dem auto sacramental aus der es begleitenden Prozession zum Fronleichnamsfest erwachsen. Abbildungen und Beschreibungen der tarasca als einem - erschreckenden und zugleich verspotteten - Symbol des Bösen gibt u.a. César Oliva in «La práctica escénica en fiestas teatrales previas al Barroco. (...)», in: Teatro y fiesta, S. 96-114.

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menten verschwinden ließen5i, dies vermag auch der moderne Geschmack zumindest rational nachzuvollziehen. IV Die bisherigen Ausführungen zu Bühne und Aufführungspraxis erlauben es nun, abschließend nach der Funktion des Theaters im Siglo de Oro überhaupt und nach der Rolle zu fragen, die dieser von städtischen und staatlichen Stellen geförderten, keineswegs nur geduldeten Institution für das zeitgenössische zuschauende und zuhörende Publikum zukam. Diese sehr allgemeine und damit notwendigerweise spekulative Frage ist gerade in letzter Zeit und durchaus aufbauend auf einer Fülle von Detailstudien zu Text und Bühne in den Vordergrund des Interesses gestellt worden. Sebastian Neumeister hat sie für das mythologische Festspiel Calderóns zu beantworten versucht; José María Diez Borque hat sie jüngst besonders eindringlich für das auto sacramental gestellt; Josef Oehrlein ist sie von der Seite der Schauspieler her angegangen und José Antonio Maravall schließlich hat sie besonders im Hinblick auf die comedia untersucht. Nach den bisherigen Darlegungen ist deutlich geworden, daß dieses Theater tatsächlich umfassendes, bewußt inszeniertes «Theater», Spektakel, modern gesprochen Show war, in dem der Zuschauer sicher zunächst und ganz primär Unterhaltung (entretenimiento), Zeitvertreib (pasatiempo), Zerstreuung vom Alltag (diversión), kurz Vergnügen (deleite) s u c h t e 5 2 und in einem Maße sich verschaffte, wie es sich die metaphysisch überfrachtete romantische und postromantische deutsche (vorwiegend Calderón-)Rezeption kaum vorstellen

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Calderón selbst war sich der Notwendigkeit dieser nichtverbalen Elemente für das auto sacramental durchaus bewußt. So schreibt er im Vorwort zur Edition seiner autos, die natürlich nur den Text wiederzugeben vermag, daß etliches an diesen Stücken wenig mitreißend, lau (tibio) erscheinen mag, da der Druck weder den Klang der Musik noch Prunk und Pracht der Theatermaschinen wiederzugeben vermag. Vgl. Diez Borque: Una fiesta sacramental barroca, S. 72. 52 Nicht zu Unrecht hat L. Pfandl das Theater mit dem Stierkampf als den zwei großen Vergnügungen der Zeit in Verbindung gebracht, die bei jeder festlichen Angelegenheit als Mittel der Zerstreuung und des Zeitvertreibs eingesetzt wurden. Spanische Kultur und Sitte, S. 158.

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konrtte.53 Eine säkularisierte Kanzel, eine moralische oder in sonstiger Weise erzieherische Anstalt im Sinne Lessings oder Schillers w a r diese Bühne des Siglo de Oro in der Regel sicher nicht, die die Werte u n d Tugenden ihrer Zeit in Frage stellen oder neue Vorstellungen gegenüber d e n Mächten der Zeit - Monarchie u n d Kirche - hätte propagieren wollen. Diesen Sachverhalt belegt auch die bereits erwähnte theologische Polemik gegen das Theater: sie w a r n t weniger vor d e m Geschehen auf der Bühne u n d dessen ideologischer Substanz (etwa d e n - moralisch gesehen - Ungeheuerlichkeiten der dramas de honor), als vielmehr vor der aufreizenden Art der Darstellung54 u n d damit letztlich immer wieder vor d e n Schauspielern, deren in vielerlei Hinsicht tatsächlich oder vermutet normbrechendes Verhalten als gefährliches Vorbild angeprangert wird.55 Das Netz von Zensur u n d Kontrollen mit eventuell ruinösen wirtschaftlichen Folgen, das das Theater umgab, hätte dieses auch k a u m z u m Ort möglicher sozialer oder gar politischer Forderungen w e r d e n lassen können.56 Belehrung in welchem Sinne auch immer suchte u n d fand der zeitgenössische Zuschauer im Theater nicht oder k a u m , wohl aber ein hohes Maß an Vergnügen. In den damals geläufigen wirkungsästhetischen Kategorien ausgedrückt heißt dies: d a s delectare stand f ü r alle Beteiligten gegenüber d e m docere im Vordergrund. Diese beiden Begriffe müssen jedoch u m einen dritten, sehr wichti53 Vgl. hierzu Vf.: «Stimmen zu Calderón in Spanien und Deutschland», in: Calderón. 16001681. Bamberger Vorträge zum 300. Todesjahr. (Bamberger Hochschulschriften, 10). Bamberg: 1983, S. 47-66. 54 Bisweilen wurde das Theater auch bereits deshalb abgelehnt, weil es - als Zeitvertreib vom - in der Sicht der Zeitgenossen - Wesentlichen, d.h. der religiösen Praxis, ablenkt. So empfiehlt Zabaleta den Frauen, statt ins Theater zu gehen, lieber Heiligenviten zu lesen, Gebete zu sprechen oder den Haushalt, speziell die Wäsche auf mögliche Almosen für die Hospitäler zu durchmustern. El día de la fiesta, S. 36. 55 Vgl. Oehrlein: Der Schauspieler, S. 144 ff. Um jeden moralischen Anstoß etwa bei Liebesszenen auf der Bühne auszuräumen, verlangte das Gesetz, daß alle Schauspielerinnen über 12 Jahre verheiratet sein mußten. Die Schauspieler ihrerseits versuchten ihrem (unverdienten) schlechten Ruf u.a. dadurch entgegenzutreten, indem sie sich in einer Bruderschaft, der Cofradía de Nuestra Señora de la Novena, organisierten, die im übrigen noch heute existiert. 56 Daß auch im 20. Jahrhundert durchaus als revolutionär rezipierte Stücke von den spanischen Autoren systemkonform und eher konservativ gemeint waren, zeigt H.-J. Neuschäfer: «Lope de Vega und der Vulgo. Über die soziologische Bedingtheit und die emanzipatorischen Möglichkeiten der populären comedia (am Beispiel von Fuenteovejuna)», in: H. Baader, E. Loos: Spanische Literatur im Goldenen Zeitalter. Fritz Schalk zum 70. Geburtstag. Frankfurt: 1973, S. 338-356.

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gen und in der damaligen Diskussion zentralen Begriff ergänzt werden, den des movere, der emotionalen, extrarationalen Beeinflussung.57 Die oben angeführten neueren Autoren haben die Rolle des Theaters für die Zuschauer des 17. Jahrhunderts im Bereich dieses dritten Begriffs zu bestimmen versucht, auch wenn sie eventuell die begriffliche Trias docere, delectare und movere nicht explizit verwenden. Um die Zielsetzung des Theaters genauer zu beschreiben, gebrauchen sie vor allem die Begriffe Ritual und fiesta (Fest, Feier) und versuchen aus ihnen abzuleiten, worin das Interesse besonders des Staates (aber auch der Kirche im Hinblick auf die autos sacramentales) an den Theateraufführungen gelegen haben mag, so daß dieser den immer wieder vorgebrachten Forderungen nach einem prinzipiellen Verbot letztlich nicht nachgegeben hat.ss Daß man sich im Gegenteil die Sache etwas kosten ließ, mag nur eine Zahl verdeutlichen: die Aufführungen für das Corpus-Christi-Fest von 1649 kosteten 129.992,35 reales. Angesichts des Tageslohnes von 8 reales, die ein jornalero erhielt, macht dies immerhin 16.239 Tagelöhne aus. Das wären - nach zugegebenermaßen kaum umrechenbaren Zahlen - bei einem Tageslohn von nur 50 DM doch fast 800.000 Mark.59 Nach den Erklärungsansätzen besonders von Diez Borque und Maravall sind die auf Verblüffung, Zerstreuung und Bewunderung, nicht jedoch auf kritische Distanzierung zielenden Theateraufführungen des Siglo de Oro in der Einheit von Text und umfassender szenischer Praxis der Versuch einer großangelegten, bewußten politischen und religiösen Propaganda. Ihr Ziel war es, wie besonders Maravall in extremer Form formuliert, den Bevölkerungsmassen, die vom Land in die Stadt strömten und dort zusammen mit den 57

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Die Trias von docere, delectare und movere gehört nicht nur zur Grundsubstanz der poetologischen Diskussion der Zeit; sie bildete vor allem auch die Grundlage der gesamten Reflexion über die Vermittlungsformen religiöser Inhalte etwa in der Predigt. Sie war einem Lope de Vega, Tirso de Molina oder Calderón bestens vertraut. Trotz einiger zeitweiliger Verbote von Theateraufführungen im Zusammenhang mit Fällen von Staatstrauer und trotz einiger genereller, religiös motivierter regionaler Verbote wie in Sevilla wurden die comedias nie, die autos sacramentales erst 1769 verboten. Zu den Gründen dieses Verbots vgl. Vf.: Stimmen zu Calderón, S. 48-52. Eine neue Auffassung vom Theater z.T. im Gefolge des neoklassizistischen Geschmacks - hatte jedoch zur Folge, daß in Spanien im Verlauf des 18. Jahrhunderts die alten corrs/-Bühnen allenthalben aufgegeben und abgerissen wurden. Diez Borque: Una ßesta sacramental barroca, S. 92.

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Handwerkern, den Händlern und durchaus auch Teilen des Adels ein unruhiges Potential darstellten mit dem ritualisierten, zum mitreißenden Fest gestalteten Theater nicht nur eine Ablenkung zu schaffen, sondern ihnen zugleich eine politisch konservative, immobilistische und religiös traditionalistische Weltsicht stark emotional und in höchst suggestiver Weise nahezubringen.60 Dieser Deutung entsprechend wäre es die faktische, sicherlich nicht in jedem Fall konkret gewollte Funktion des spanischen Barocktheaters gewesen, vorbehaltlose Zustimmung zur hierarchisch immobilistischen Gesellschaft der absoluten Monarchie und der gegenreformatorischen Ecclesia triumphans zu erwecken. Dieser Deutung zuzustimmen ist sicher am leichtesten für das mythologische Festspiel, die Selbstfeier und Selbstverherrlichung des Königs und des Prinzips Monarchie. Auch für das als Gattung ebenfalls recht homogene auto sacramental mag diese Deutung weitgehend zutreffen, am meisten wohl für die mythologischen autos wie den Divino Orfeo, am wenigsten für ein auto wie das Gran Teatro del mundo**. Das würde auch erklären, wieso das mythologische Festspiel im Zeitalter der Demokratie und viele autos sacramentales in einer weitgehend säkularisierten Welt heute nur noch auf wenig Verständnis und Akzeptanz stoßen. Die Deutung des Theaters als eines rituell gestalteten und durch seinen mitreißenden Festcharakter besonders wirksamen Propagandainstruments wird jedoch wohl am wenigsten der comedia gerecht. Dies ist nicht der Fall, weil diese Deutung hier grundsätzlich falsch wäre, sondern weil die 10.000 oder gar 30.000 comedias, die im spanischen 17. Jahrhundert geschrieben und aufgeführt wurden, ein zu wenig homogenes Genus waren, um es mit nur einem Kriterium hinsichtlich ihrer Funktion beschreiben zu 60

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Nach Maravall war es das Hauptanliegen des Theaters, «realizar eficazmente, calculadamente, prgramadamente, esa (...) transmisión d e una ideología conservadora, mejor inmovilista, en virtud de la cual se asegura la permanencia de las masas populares y principalmente urbanas, en su integración en la sociedad jerárquica.» («Teatro, fiesta e ideología en el Barroco», S. 94.) Vgl. auch Maravalls großangelegte Studie La cultura del Barroco. Barcelona: 1975, besonders Kap. 9. Diez Borque bezeichnet die autos sacramentales insgesamt als ein Spiel mit der Polysemie der in Szene gesetzten Symbole, «pero anulando la tentación de pensar, en definitiva «evasión del mundo», o, (...) sustitución del contradictorio mundo profano por uno nuevo en el que todo es perfectamente coherente porque tiene unidad de sentido en su significado exclusivo y unitario.» Una fiesta sacramental barroca, S. 103 f.

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können. Hier ist vieles nicht ohne weiteres vergleichbar. Trotz des gleichen Aufführungsrituals sind Lopes Dama boba, Calderóns Mágico prodigioso und Tirso de Molinas Vergonzoso en palacio nicht problemlos auf einen Nenner zu bringen. Auch die Tatsache, daß eine Reihe von comedias - wenngleich auch nicht in der ursprünglichen, spektakulären Aufführungsweise - vom modernen Publikum durchaus noch mit Vergnügen akzeptiert werden (man denke nur an Calderóns Dame Kobold oder Das Leben ein Traum, an Lopes Fuenteovejuna oder Tirsos Don Juan-Drama), schränkt die These ein, daß dieses Theater sich in der Unterhaltungsfunktion und in der «Apologie des Bestehenden»62 erschöpfte. Dort w o sie ihre sicherlich vielfach vorhandenen zeitbedingten sozialen, politischen und religiösen Antworten auf die großen Fragen der conditio humana nicht zu rasch, zu eindeutig und propagandistisch geben, sondern dem modernen Leser und Zuschauer Raum für seine Erfahrungen und für seine Nachdenklichkeit lassen, sind die Texte und Aufführungen zumindest ausgewählter comedias und autos sacramentales auch heute noch ein außerordentliches, befreiendes ästhetisches Vergnügen, ff

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Neumeister: Mythos und Repräsentation, S. 261.

Sebastian Neumeister

WELTBILD UND BILDERWELT IM DRAMA DES BAROCK In den Karnevalstagen des Jahres 1637 ist Rom so etwas wie die Hauptstadt des Barock. Inmitten einer Architektur, die allein schon diesen Titel rechtfertigen würde, finden Veranstaltungen statt, die zumindest für die Geschichte des Barocktheaters von exemplarischer Bedeutung sind. Den Anlaß dazu bietet neben dem Karneval ein Ereignis, das im Jahre zuvor die Welt der hohen Politik und die internationale Diplomatie bewegt hatte, die Wahl des österreichischen Thronfolgers, des späteren Kaisers Ferdinand III., zum König von Rom. Mehrere Repräsentanten der durch diese Wahl begünstigten Mächte feiern den neugewählten König von Rom mit aufwendigen Festen in den Straßen und Palästen der Stadt: der österreichische Botschafter, der spanische Botschafter, der Kardinal von Savoyen und Heinrich von Motmann, der Vertreter des Thronfolgers in Rom und Anwalt beim päpstlichen Gericht, der sogenannten Sacra rota Unter den zahlreichen Empfängen, Feuerwerken, Triumphbögen und allegorischen Darstellungen, die uns überliefert sind, soll hier zunächst nur ein Fest interessieren, das vom spanischen Botschafter inszenierte und finanzierte Spektakulum auf der Piazza di Spagna2. Am 1. Februar 1637 ist hier ein monumentaler Atlas zu sehen, der unter dem doppelköpfigen Adler die Weltkugel trägt, während an den vier Ecken des künstlichen Gebildes vier Fontänen sprudeln, 1 2

Vgl. Maurizio Fagiolo Dell'Arco/Silvia Carandini: L'Effimero barocco. Strutture della festa nella Roma del '600. Roma: Bulzoni 1977. Bd. 1 (Katalog), S. 93. Vgl. ebenda, S. 95.

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die tagsüber Wein und nachts Feuer spenden. Eine Woche darauf, am Sonntag, dem 8. Februar, wird dann an derselben Stelle ein ebenfalls vom kaiserlichen Adler gekröntes Kastell errichtet, aus dem der neue König von Rom hervorreitet: Der König war mit hell leuchtenden Waffen und einer prächtigen Schärpe ausgestattet, er zeigte auf seinen Zügen eine wahrhaft königliche Majestät, auf dem Kopf trug er eine Krone, die mit feuerroten Lichteffekten zu funkeln schien. In der Hand hielt er den Kommandostab, bei dessen Anblick der Adler, der hoch in der Mitte des Platzes angebracht war, aufleuchtete und durch tausend brennende Pfeile, die er nach allen Seiten schleuderte, zeigte, wie sehr er die Schönheit und die Macht genoß, die ihm die Gegenwart seines durch das neue Königtum noch ruhmvolleren Herrschers gewährte.3 Bevor auf die Bedeutung dieser kunstreichen Vorführung näher eingegangen wird, muß ein zweites Schauspiel erwähnt werden, die Aufführung der Commedia de' due teatri (Komödie der zwei Theater) ebenfalls während der Karnevalszeit. Autor dieser Komödie ist kein geringerer als Giovanni Lorenzo Bernini, einer der größten unter den Künstlern des Barock. Er ist Autor im umfassenden Sinne des Wortes: «Er malte», wie es in einem zeitgenössischen Bericht heißt, «die Dekoration, er formte die Statuen, er erfand die Bühnenmaschinen, er komponierte die Musik, er schrieb den Text und er baute das Theater.»4 Das Stück, das aufgeführt wurde, ist uns nicht im Wortlaut erhalten. Durch einen anderen Bericht kennen wir lediglich die Modalitäten der Darbietung, die allerdings durchaus bemer-

3

«Era il Rè guarnito di armi bianche lucentissime con una richissima banda à traverso, dimostrava nel volto una maestà veramente regale, nel capo teneva una corona, che pareva arrichita di fiammeggianti piropi. In mano portava il Bastone di commando, à questa vista l'Aquila, che nel mezo della piazza era sostenuta in alto si riempi tutta di luce, e poi avventando da ogni banda mille ardenti Saette, dimostrava godere della bellezza, e del potere, che gli aggiungeva la presenza del suo Rè più di prima glorioso per il nuovo Regno.» (Ebenda).

4

«(Bernini) gave a Publique Opera (for so they call those Shews of that kind) where in he painted the seanes, cut the Statues, invented the Engines, composed the Musique, writ the Comedy & built the Theatre all himselfe.» The Diary of John Evelyn, ed. E.S. de Beer. Oxford 1955. Bd. II, S. 261.

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Claude Gellée, genannt Le Lorrain: Feux d'artifice (8.2.1637), Berlin, Kupferstichkabinett SMPK, R.D. 40-1 (Abbildung aus: Die Pferde von San Marco, Berlin: Frölich & Kaufmann 1982, S.258).

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kenswert sind.5 Denn wie in Carl Maria von Webers romantischer Oper Oberon gibt das Bühnenbild dem staunenden Publikum den Blick auf ein zweites Publikum frei, das ihm spiegelbildlich gegenübersitzt, allerdings ohne daß wie bei Weber die Rückseiten der Bühnenkulissen dazwischenstehen. Am Ende fahren, wie in der diesseitigen Realität des Theaterbesuchs, so auch auf der Bühne, die Kutschen vor, die die Zuschauer nach Hause bringen sollen. Und außerdem tritt eine Person auf, die jedem Spiel ein Ende bereitet: der Tod, «che per fatale decreto tronca qualunque gusto o passatempo mondano»6. Noch ist Karneval, noch regieren die Masken, doch Aschermittwoch steht vor der Tür... Was verbindet diese beiden Veranstaltungen des römischen Karnevals von 1637 miteinander und worin unterscheiden sie sich voneinander? Gemeinsam ist ihnen zweifellos eine Qualität, die ganz essentiell für das Zeitalter des Barock ist: der Scheincharakter der Welt, der das Spiel des Lebens ebenso durchwirkt wie das Spiel auf dem Theater. Im Falle der Reiterstatue des neugewählten Königs von Rom, die sich über die Piazza di Spagna zur Residenz des spanischen Botschafters bewegt, beteiligten sich übrigens, das ist bezeichnend, auch die versammelte Menge und die geladenen Gäste des Botschafters am Spiel, ganz so, als wäre es Wirklichkeit: Von verborgenen Maschinen bewegt, nahm das königliche Pferd beim Klang von Trommeln und Trompeten und unter dem Krachen von Böllern seinen Weg über den Platz zum Palast des Herrn Botschafters, nicht nur begleitet von den fröhlichen Zurufen der unendlichen Menge, die «Viva il Rè de' Romani» rief, sondern auch zum großen Vergnügen der vielen Kardinäle und anderen Fürsten, die sich im Palast seiner Exzellenz aufhielten.7 Das Spiel im Spiel 5

Vgl. Stanislao Fraschetti: II Bernini. Milano: Hoepli 1900., S. 262 f. (Massimiliano Montecucoli, Brief an den Herzog von Modena, 20. Februar 1637). Von Bernini ist nur ein einziges Stück im Wortlaut überliefert und unter dem Titel Fontana di Treoi in italienischer Sprache von Cesare D'Onorio bzw. The Impresario in englischer Übersetzung von Donald Beecher und Massimo Ciavolella herausgegeben worden (Rom 1963 bzw. Ottawa 1985; vgl. die Literaturausgaben in der englischen Ausgabe, a.a.O., S. 24, Anm. 1).

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Massimiliano Montecucoli, a.a.O., S. 263.

7

«(...) da occulte machine ricevendo il moto il Regio Cavallo, à suono di Trombe, et di Tamburi, & allo sparare di Mortaletti si incaminò per la piazza verso il Palazzo del Signore Ambasciatore non solamente con allegre acclamationi dell'infinita moltitudine, che gridava Viva il Rè de Romani, mà etiandio con sommo piacere di molti Cardinali, & altri Prencipi,

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dagegen, die Commedia de' due teatri, die dem Publikum den Scheincharakter der Welt ohnehin eindrucksvoll vor Augen stellt, endet umgekehrt mitten in der Wirklichkeit, mit dem Auftritt des Todes. Theater und Realität, Schein und Sein, engaño und desengaño überkreuzen sich in diesen beiden Veranstaltungen, die zur selben Zeit am selben Ort stattfinden, bis zur verwirrenden Identität: Rom, die Stadt des Karnevals ist allein schon dadurch auch die Hauptstadt des Barock. Beide Veranstaltungen stehen, das verbindet sie ebenfalls, im Dienste höfischer Selbstdarstellung, die Komödie der zwei Theater im Auftrag der theaterbegeisterten Barberini ebenso wie der Triumphzug des Königs von Rom, mit dem der spanische Botschafter seine diplomatischen Kollegen auszustechen versucht: zum Ruhme seines Herrn und Königs in Madrid.8 Barocke Kunst ist immer Auftragskunst und, sofern sie öffentlich in Erscheinung tritt, auch repräsentative Kunst. Martin Warnke hat in einem wichtigen Buch gezeigt, daß die Hofkunst mit einem solchen Auftrag nicht ihre Freiheit verlieren muß, sondern daß sie im Gegenteil daraus die Kraft zu kühnen Entwürfen und spektakulären Meisterwerken zu schöpfen vermag.' Wie sehr der Gedanke der politischen Repräsentation im Barock mit dem Kunstwillen ineins gesetzt wird, zeigt sich, wenn wir die Tendenzen weiter verfolgen, die die beiden römischen Spektakel des Jahres 1637 erkennen lassen. Der Ritt des Thronfolgers Ferdinand aus der väterlichen Burg, den der spanische Botschafter auf der Piazza di Spagna aufwendig darstellen läßt, könnte in seiner Wirkung auf das anwesende Publikum nur noch überboten werden, wenn der Thronfolger selbst erschienen wäre. Nim bietet das 17. Jahrhundert im Bereich des Theaters auch dafür Beispiele genug. Meist sind natürlich die Fürsten nur als Zuschauer anwesend, wenn auch in der Regel so plaziert, daß sie, darauf wird zurückzukomche nel Palazzo di sua Eccellenza dimoravano.» (a.a.O., Anm. 1, S. 95). 8 9

Von ähnlich aufwendigen Feierlichkeiten in Madrid selbst berichtet León Pinelo: Anales de Madrid, ed. Fernández Martín. Madrid 1971, S. 307. Hofkünstler. Zur Vorgeschichte des modernen Künstlers. Köln: Du Mont 1985. Warnkes Interesse gilt allerdings, dies muß im vorliegenden Zusammenhang gesagt werden, vorrangig den bleibenden, nicht den «ephemeren» Künsten.

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men sein, sozusagen zu Schauspielern ihrer selbst werden. Es kommt auch vor, das ist nicht mehr als eine logische Konsequenz, daß sie regelrechte Theaterrollen übernehmen, wie etwa Ludwig XIV. in den Plaisirs de l'Isle enchantée von 1664 die des Ruggiero aus Ariosts Orlando Furioso. Schließlich kommt es auch zur Verbindung beider Varianten, daß nämlich der Fürst sich in einer Theaterrolle selbst darstellt, etwa als Sonnengott, wie dies Carlo Emmanuele II. von Savoyen und wiederum Ludwig XIV., der roi soleil, in Frankreich tun.™ Eine völlig Identität zwischen Rolle und Realität stellt schließlich Leopold I. her, der in dem berühmten Roßballett von 1667 in Wien wirklich als er selbst, als «Ihre Kayserliche Majestät Selbsten» mit «Reichs-Kleinod und Kayserliche Cron» aus dem Tempel der Ewigkeit hervortritt.n Der Fürst als das Zentrum des absolutistischen Staates vertauscht die Gefangenschaft des Zeremoniells mit der Freiheit des Spiels, eines Spiels allerdings, das seinerseits im Dienste der höfischen Repräsentation steht. Der Staat wird zum Theater, zum Staatstheater oder, wie der Kunsthistoriker Dagobert Frey formuliert: «Die Repräsentanz der höchsten und heiligsten staatsrechtlichen Würde wird zu einem Schauspiel, und das bedeutet für die Zeit nicht eine Entwürdigung, Blasphemie, sondern offenkundig eine Ausdruckssteigerung. Wie kaum eine andere Erscheinimg der Zeit bietet uns dies einen Einblick nicht nur in die Auffassimg des Theatralischen, sondern in das ganze Realitätsgefüge des Barock.»i2 Doch kehren wir zurück zum Theater als einem ästhetisch-literarischen Phänomen. Als solches wirkt es auch dann noch, wenn es seine Existenz dem fürstlichen Wunsch nach Selbstdarstellung verdankt, ja es transformiert diesen Auftrag kraft einer ästhetischen Autonomie, die im Theater schon vor dem Absolutismus da war 10 Vgl. Mercedes Viale Ferrerò: Feste dette Madame Reali di Savoia. Torino: Istituto Bancario San Paolo di Torino 1965; Richard Alewyn/Karl Sälzle: Das große Welttheater. Hamburg: Rowohlt 1959 (21987); Emilio Orozco Diaz: El Teatro y la teatralidad del Barroco. Barcelona: Planeta 1969; Emst Leonardy: «Les fêtes de cour baroques», in: Alphonse Vermeylen (ed.): Questionnement du Baroque. Louvain-la-Neuve/Bruxelles 1986, S. 112-153. 11 Zitiert nach Alewyn/Sälzle, a.a.O., S. 112. Anführer einer der den vier Elementen gewidmeten Squadronen des Balletts war der in den Anmerkungen 5 und 6 genannte Graf Montecucoli (vgl. ebenda, S. 109). 12

Kunstwissenschaftliche Grundfragen. Wien 1946, S. 146.

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und die ihn auch überleben wird. Das Spiel, als daß sich der Ernst der absolutistischen Herrschaft darstellen will, überwältigt diesen Ernst, es setzt sich als Spiel durch, das nun seinerseits Ernst macht mit dem Spiel. Es ist der Ernst der Kunst, der in ihrer Wahrheitsfähigkeit liegt. Bernini führt im Auftrag der Barberini eine Metapher zu ihrer höchsten technischen Perfektion, die bekanntlich für die Epoche zentrale Bedeutung hat, das Theater im Theater." Ihre erste große Ausformung erhält diese Metapher schon bei Shakespeare, der das Motiv an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert zweimal gestaltet, 1598 im ersten Teil von Henry IV und 1600 im HamletM Shakespeare nutzt das Theater im Theater sozusagen didaktisch, in Henry IV zur Klärung der Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Falstaff und Prinz Henry, im Hamlet Prince ofDenmark als Mahnimg zur Umkehr, die Hamlet seiner Mutter in einer Spielszene zukommen läßt. Ganz ähnlich verfährt 35 Jahre später auch Corneille, der in seiner Komödie L'illusion comique den Zauberer Aleandre zum Spiel im Spiel greifen läßt, um Pridamant über das Schicksal seines Sohnes Clindor aufzuklären. Als allerdings Clindor am Ende der Vorführung tödlich getroffen zu Boden sinkt, stellt sich heraus, daß er, dessen Lebensbericht dies war, inzwischen Schauspieler ist, der so das Ende einer Tragödie spielt: Das Spiel wird zur Wahrheit, die Wirklichkeit zum Spiel. Der Ernst der Tragödie, der hier in den Komödienschluß umschlägt, läßt ahnen, daß dem 17. Jahrhundert die spielerische Eleganz abhanden gekommen ist, mit dem noch das elisabethanische Theater die menschlichen Verhältnisse gegen die Vergänglichkeit setzt und dem toten König immer einen Thronfolger beigibt, der die Ordnung wiederherstellt. Die extreme Künstlichkeit der Fiktion trifft vielmehr bei Corneille wie bei Bernini frontal auf die Drohung 13 Vgl. dazu u.a. Manfred Schmeling: Das Spiel im Spiel. Rheinfelden: Schäuble 1977; Georges Forestier: «Le théâtre dans le théâtre ou la conjonction de deux dramaturgies â la fin de la Renaissance», in: Revue d'histoire du théâtre (1983), S. 162-173. 14

Vgl. dazu u.a. die bei Schmeling, a.a.O., genannte Literatur, insbesondere Dieter Mehl: The Elizabethan Dumb Show: The History of a Dramatic Convention. London 1965. Zum folgenden vgl. auch Sebastian Neumeister: «The mirror and the play: World picture and picture world in Shakespeare and Calderón», in: Louise Fothergill-Payne u.a. (eds.), Parallele tires I. Spanish and English Drama 1580-1680. Erscheint 1988.

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des Todes und die Komödie kann sich ihr allein noch durch das Insistieren auf ihrer Fiktivität entziehen. Das metaphysische Fundament unserer Existenz wird sichtbar. Hier setzt Calderón ein. Er gewinnt dem Motiv im selben Jahr 1635, in dem Corneilles Illusion comique entsteht, gleich zweimal Dimensionen ab, die über den bloßen barocken Theatereffekt weit hinausreichen. Da sowohl Das Große Welttheater als auch Das Leben ein Traum zum Kanon der Weltliteratur zählt, braucht das hier im einzelnen nicht ausgeführt zu werden. Calderón stellt uns den Trug der sichtbaren Welt, das Spiel im Spiel, als das er das Leben versteht, mit großer sinnlicher Kraft vor Augen, im Drama des irdischen Daseins ebenso wie in der Allegorie des Fronleichnamsspiels. Gott, der im Großen Welttheater die Welt zu seinem Ruhm eine fiesta, ein Festspiel aufführen läßt, ist wie König Basilio, der seinen Sohn Segismundo zur Probe in den Palast bringen läßt, im zeitgenössischen Sinne des Wortes der autor, der Schauspieldirektor eines Spiels, das einmal gelingt und einmal mißlingt. Es gelingt im Gran teatro del mundo, weil hier das Theater in seiner Spielstruktur exakt der Weltstruktur entspricht und so gerade in der Allegorie die Identität einer philosophischen Mimesis erreicht. Es mißlingt in La vida es sueño, solange die Protagonisten nicht den Ernst respektieren, der die scheinbare Freiheit des Spiels immer eingrenzt und garantiert. Erst das Bewußtsein, daß alles ein Spiel, ein Traum sein könnte und daß deshalb der Ernst auch im Spiel herrscht, läßt Segismundo dann zum König reifen, der seinen realen Pflichten im Theater des Lebens nachkommen kann. Prinz Hamlet vergleicht, als er vor Beginn seiner Spielszene den Schauspielern genaue Anweisungen gibt, das Theater mit einem Gegenstand, der für das Barock ähnlich wichtig ist wie das Theater im Theater, mit einem Spiegel: (...) the purpose of playing, whose end (...), was and is, to hold (...) the mirror up to nature, to show virtue her own feature, scorn her own image, and the very age and body of the time his form and pressure.1® 15 Hamlet Prince of Denmark, Akt III., Szene 2.

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Der Spiegel ist, wie das Theater, ein Instrument der Erkenntnis. Als Hamlet wenig später seiner Mutter noch einmal ins Gewissen redet, verwendet er wieder das Bild des Spiegels: You go not tili I set you up a glass Where you may see the inmost part of

you.16

Spiegel und Rede, Spiegel und Theater stehen in vielfacher und komplexer Beziehung zueinander. Die mimetische Kraft des Wortes, die sich im Theater zur dramatischen Handlung steigert, gewinnt im Spiegel bildhaft Evidenz. Auch hier schöpft, wie Dichtung, Musik, Kunst und Architektur gleichermaßen beweisen, erst das Barock ganz die Möglichkeiten aus, die schon in der mittelalterlichen Analogie von Mikrokosmos und Makrokosmos und in der RenaissanceGleichung ut pictura poesis angelegt sind.17 Das Barock erliegt auch deshalb der Suggestion des Spiegelbildes, weil der Gedanke der Repräsentation für dieses Zeitalter so zentrale Bedeutung hat.1» Die Verabsolutierung des Staates und seiner auf einen Mittelpunkt hin geordneten Konstruktion, wie wir sie insbesondere aus dem Frankreich Ludwigs XIV. kennen, ist der Versuch, mit modernsten Mitteln den mittelalterlichen Ordo-Gedanken wiederzubeleben, von neuem eine Identität von Anspruch und Sein herzustellen, die in den Stürmen des 16. Jahrhunderts verlorengegangen war. Und da der absolutistische Herrscher geneigt ist, sich gegen jede triste Realität für gottgleich zu halten, ist es nur konsequent, wenn auch er sagt, was im Großen Welttheater Gott zur Welt sagt: Aus eigener Macht bereiten will ich ein Fest mir, denn zu allen Zeiten, um meine Kraft und Herrlichkeit zu preisen, wird die Natur sich festlich mir erweisen; und da, vor allen Festen, an würd'gem Schauspiel sich am allerbesten die Geister kräftigen und heben 16 Ebenda, Akt III, Szene 4. 17 Vgl. Francisco Rico: El pequeno mundo del hombre. Madrid: Castalia 1970 bzw. Reusselaer W. Lee: Ut pictura poesis: The Humanistic Theory of Painting. New York: Norton 21967. 18 Vgl. Sebastian Neumeister: Mythos und Repräsentation. München: Fink 1978.

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und nur ein Spiel ja alles Menschenleben, so mag auf Deinen Auen der Himmel auch ein Schauspiel heute schauen, das, bin ich Herr hier eben, notwendig von den Meinen wird gegeben.1' Die großen höfischen Feste, mit denen die Herrscher Europas im 17. Jahrhundert einander wechselseitig, aber wohl auch sich selbst Eindruck zu machen suchen, die schon beschriebene Bereitschaft, dabei auch höchstselbst mitzuwirken, die Identität von Repräsentation und Realität, die sich im strengen höfischen Zeremoniell ausdrückt20 - dies alles gibt dem Wunsch des Autors im Großen Welttheater, sich selbst ein Fest zu bereiten und so seine Größe vorzuführen, einen ganz real n und durchaus politischen Sinn. Gesellt sich (so heißt es 1647 in Baltasar Graciäns Handorakel und Kunst der Weltklugheit) zu ausgezeichneten Gaben die Fähigkeit, damit zu prunken, so erlangen sie den Ruf eines Wunders. Es gibt prunkende Nationen, und die spanische ist es im höchsten Grad. Erst das Licht ließ die Pracht der Schöpfung hervortreten. Das Prunken füllt vieles aus, ersetzt vieles, und gibt allem eine zweites Dasein, zumal wenn es sich auf wirklichen Gehalt stützt. Der Himmel, der die Vollkommenheiten verleiht, versieht sie auch mit 19 Una fiesta hacer quiero a mi mismo poder, si considero que sólo a ostentación de mi grandeza fiestas hará la gran naturaleza; y como siempre ha sido lo que más ha alegrado y divertido la representación bien aplaudida, esrepresentaciónla humana vida, una comedia sea la que hoy el cielo en tu teatro vea. Si soy Autor y si la fiesta es mía, por fuerza la ha de hacer mi compañía, (w. 39-50) 20 Vgl. dazu u.a. Yves Bottineau: «Aspects de la cour d'Espagne au XVIie siècle: L'étiquette de la chambre du Roi», in: Bulletin hispanique 74 (1972), S. 138-157; John H. Varey: «Further Notes on Processional Ceremonial of the Spanish Court in the Seventeenth Century», in: Iberoromania 1 (1974), S. 71-79; ders.: «The Audience and the Play at Court Spectacles: The Role of the King», in: Bulletin of Hispanic Studies 61 (1984), S. 339-406 (vgl. dort weitere Literatur).

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dem Hange, zu prunken; denn jedes von beiden allein wäre unpassend.21 Allerdings, der Spiegel als Instrument der Repräsentation im Sinne des Wortes hat einen großen Nachteil: Er sagt uns die Wahrheit. Das kann gerade dann zur Gefahr werden, wenn die Ansprüche so hoch geschraubt sind wie im Repräsentationstheater des Absolutismus: in der pageantry am englischen Hofe, in dem comédiesballet von Paris, den fiestas reales von Madrid, den römischen Barockopern, den Dresdener Feuerwerken.22 Lope de Vega konnte die comedia 1609 in seinem Arte nuevo de hacer comedias en este tiempo unter Berufung auf Cicero noch unbekümmert einen Spiegel der Sitten und ein lebendes Bild der Wahrheit nennen, «espejo/de las costumbres y una viva imagen/de la verdad» - «Comoediam esse (Cicero ait) imitationem uitae,/spéculum consuetudinis, imaginem ueritatis», wie der von Lope benutzte Donatus in seinem Terenz-Kommentar schreibt.^ Der Spiegel dagegen, den das barocke Hoftheater uns an die Hand gibt, zeigt den Herrscher wie die Gemälde der Zeit nur kostümiert, zur Pose erstarrt, nicht mehr als Individuum - eine Tendenz, die in der kleinbürgerlichen Sicht der Moderne, etwa in Thomas Manns Roman Königliche Hoheit (1909), in ihr genaues Gegenteil verkehrt wird. Die Opern Monteverdis, die mythologischen Festspiele Calderöns, die Oratorien Georg Friedrich Händeis, sie stehen einander in dieser Hinsicht sehr nahe: Die Großen der Welt werden zu Gestalten der heidnischen oder christlichen Mythologie verklärt, der Spiegel soll wie die Fürstenspiegel der Zeit nicht die

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«Cuando la ostentiva se junta con la eminencia, pasa por prodigio. Hay naciones ostentosas, y la española lo es con superioridad. Fue la luz pronto lucimiento de todo lo criado. Llena mucho el ostentar, suple mucho, y da un segundo ser a todo, y más cuando la realidad se afianza. El Cielo, que da la perfección, previene la ostentación, que cualquiera a solas fuera violenta.» Oráculo manual, Aph. 277: «Hombre de ostentación.» (Auszug; Übersetzung: Arthur Schopenhauer).

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Die inzwischen unübersehbare Literatur (s.o. Anm. 1,10, 18) wird für den spanischen Bereich nicht unbeträchtlich bereichert durch Jonathan Brown/J.H. Elliott: A Palace for a King. The Buen Retiro and the Court of Philip IV. New Häven/London: Yale UP 1980 (spanische Ausgabe: Madrid 1981); José Maria Diez Borque (ed.): Teatro y fiesta en el Barroco. Barcelona: Serbal 1986.

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Verse 123-125. Vgl. § 24 der Ausgabe von Juana de José Prades (Madrid: C.S.I.C. 1971, S. 95).

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Wahrheit zeigen, sondern das Ideal.24 Wenn die Wahrheit dann doch durch das Kostüm, durch die Pose hindurchscheint, gilt es einzugreifen, sei es durch die pure Behauptung einer Identität von Urbild und Abbild, sei es durch die Verwendung eines falschen Spiegels oder durch die Zerstörung des echten. Auch hier kann der Schritt vom elisabethanischen Zeitalter zum spanischen Goldenen Zeitalter aufschlußreich sein. Es ist der Schritt von der Renaissance zum Barock. In Shakespeares Richard II. (Life

Dono del Re del Alpi à Madama Reale, Abendessen und Ballet im Castello di Rivoli (Savoyen), 10.2.1645 Die Abbildung zeigt die Tribüne mit Madama Reale und den Fürstinnen Adelaide und Margherita, die Festtafel der Höflinge, die emblematische Figur Savoyens (rechts) und die Fahne des Landes auf dem Felsen von Mommegliano im Hintergrund. (Abbildung aus: Mercedes Viale Ferrerò: Feste delle Madame Reali di Samia, Torino: Istituto Bancario San Paolo di Torino, Tavola V).

24 Anders als für Spanien liegt zur englischen Literatur eine umfangreiche motivgeschichtliche Untersuchung vor: Herbert Grabes: Speculum, minor and looking-glass. Tübingen: Niemeyer 1973. Vgl. auch Jurgis Baltrusaitis: Der Spiegel. Gießen: Anabas 1986.

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and Death of King Richard II.) läßt sich der von Bolingbroke entmachtete König einen Spiegel bringen. Als dieser ihm jedoch trotz aller Schicksalsschläge keinerlei Veränderung im eigenen Antlitz zeigt, erwacht das Mißtrauen des an Lüge und Schmeichelei gewöhnten Monarchen: Er wirft den Spiegel zu Boden, wo er zerbricht wie die eigene politische Existenz, «crack'd in a hundred shivers»2^. Das Individuum der Renaissance bewahrt, so könnten wir daraus schließen, auch noch im Scheitern seine Souveränität: Die Realität geht vor, innere Wirklichkeit und äußeres Abbild sollen einander entsprechen. Was König Richard II. hier tut, hält Baltasar Gracián dagegen rund 50 Jahre später für ausgesprochen unklug. In seinem schon zitierten Handorakel empfiehlt der Hofexperte dem Höfling, gerade nicht zu warten, bis sich die Gunst des Schicksals von ihm abwendet, sondern schon vorher die Konsequenzen zu ziehen. «Nicht abwarten, daß man eine untergehende Sonne sei», so lautet der Titel des 110. Aphorismus, und Gracián rät den Mächtigen dieser Welt: Der Kluge versetzt sein Rennpferd bei Zeiten in den Ruhestand und wartet nicht ab, daß es, mitten auf der Rennbahn niederstürzend, Gelächter errege. Eine Schöne zerbreche schlau beizeiten ihren Spiegel, iim es nicht später aus Ungeduld zu hm, wenn er sie aus ihrer Täuschung gerissen hat.26 Die Souveränität im Umgang mit dem eigenen Schicksal ist taktischer Anpassung gewichen: der Spiegel wird nicht zerstört, weil er nur so der Wirklichkeit entspricht, sondern nunmehr genau, umgekehrt, um der Wahrheit, dem desengaño des Spiegelbildes zu entgehen. Ja, in dem 1640, also wenige Jahre vor dem Handorakel in München erschienenen emblematischen Fürstenspiegel Idea de un Principe político-cristiano fordert der spanische Diplomat Diego Saavedra Fajardo den Herrscher als das ideale Spiegelbild des Gemeinwesens auf, sich ganz aus den Bindungen an die Welt zu lösen. Der Herr25

Ufe and Death of Richard U., Akt IV.

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«Jubila con tiempo el advertido al corredor caballo y no aguarda a que, cayendo, levante la risa en medio de la carrera; rompa el espejo con tiempo y con astucia la belleza, y no con impaciencia después, al ver su desengaño.» Oráculo manual, Aph. 110: «No aguarduar a ser sol que se pone.» (Auszug; Übersetzung: Arthur Schopenhauer).

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scher sei, so postuliert Saavedra Fajardo anhand eines Emblems, das einen Löwen vor einem zerbrochenen Spiegel zeigt, selbst dann das intakte Abbild seines Staates, wenn die äußeren Umstände ihn darin nicht bestätigen: Die Unbeständigkeit und der Neid der Zeit bricht den Spiegel des Gemeinwesens in einzelne Stücke. Doch in jedem von ihnen, wie klein es auch sei, finde sich die Majestät stets unversehrt. Wer als Fürst geboren ist, darf sich nicht durch äußere Zufälle verändernd

D i e g o Saavedra Fajardo: Idea de urt Príncipe politico-christinao representada en cien Empresas, München: Nicolaus Heinrich 1640, Empresa 33 (Nachdruck: Murcia 1975, S.221).

Zwischen dem idealen Fürsten und der Realität klafft eine Lücke, die nicht mehr zu schließen ist: Die Dekadenz der Habsburger ist längst eine Tatsache. Umso auffälliger ist es, daß gerade in diese Periode, in die Jahrzehnte zwischen 1635 und 1670, die Serie der mythologischen Hoffestspiele fällt, in denen dem spanischen Herr27 «Divida la inconstancia y envidia del tiempo en diversas partes el espejo de los Estados. Pero en cualquiera dellas, por pequeña que sea, hállese siempre entera la majestad. El que nació príncipe no se ha de mudar por accidentes extrínsecos.» (Empresa 33).

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scherhaus eine Feier von unerhörter Pracht bereitet wird. Wir besitzen allein von der Hand Calderóns nicht weniger als zwanzig Textvorlagen, deren Aufführung in die Frühgeschichte der Oper gehört. Die funkelnde Kette dieser mit großem Aufwand inszenierten Dramen kann in ihrer Vielfalt hier nicht dargestellt werden, weder im Detail noch im Überblick.28 Vielmehr soll hier - unter Verweis auf die inzwischen reichhaltige Literatur zu diesem Thema 2 ' - nur auf eine Aufführung am Hofe von Madrid eingegangen werden, die Premiere von Calderóns Stück Hado y divisa de Leonido y Marfisa am 3. März 1680 im Coliseo-Theater des Retiro-Palastes. 30 Und auch diese comedia soll hier aus Gründen, die gleich ersichtlich werden, nicht selbst vorgestellt werden, sondern nur ihr äußerer Rahmen, die festliche Aufführung im Hoftheater. Diese nämlich ist es, in der wir dem ikonischen Material des römischen Karnevals von 1637 noch einmal begegnen. Calderón hat sein Stück mit einem Vorspiel, einer sogenannten loa versehen, in der die geistesgeschichtliche Situation Spaniens am Ende des 17. Jahrhunderts noch einmal wie unter einem Vergrößerungsglas sichtbar wird. Angesichts früherer Darstellungen^ 1 sollen auch hier einige Andeutungen genügen, ja im wesentlichen kommt es auf ein einziges Detail an: die Tatsache, daß das Königspaar während der Aufführung am 3. März 1680 nicht die Fürstenloge des Coliseo benutzt, sondern sich auf einem erhöhten Platz in der Mitte des Saales niederläßt, in gebührendem Abstand vom Hofstaat flankiert. John E. Varey hat darauf hingewiesen, daß das Herrscherpaar in dieser mehrfach überlieferten Anordnung nicht nur zum perspektivisch-privilegierten, ja in gewisser Weise zum einzigen Zuschauer der jeweiligen Aufführung wird, sondern unter den Augen des anwesenden Hofstaates auch zum Schauspieler seiner selbst.32 Stärker 28

Vgl. aber Neumeister, a.a.O. (Anm. 18), Anhang 2.2; zur Musik S. 62-75 u. 173-179.

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S.o. Anm. 22.

30

Die Aufführung ist in ihrer Gesamtheit nur in der Ausgabe der «Biblioteca de Autores Españoles» dokumentiert (Calderón de la Barca, Obras, ed. Juan Eugenio Hartzenbusch, Bd. IV, Madrid 1850).

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Vgl. dazu zuletzt Varey, «The Audience ...», a.a.O. (Anm. 20), und die dort angegebene Literatur.

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Vgl. dazu Neumeister, a.a.O. (Anm. 18), S. 268-277.

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Grundriß des Coliseo-Theaters im Buen-Petiro-Palast zu Madrid während des Vorspiels zu Calderons Drama Hado y divisa de Leonido y Marfisa am 3.3.1680 (Uraufführung). (Zeichnung: Sebastian Neumeister).

als in der Fürstenloge übernimmt das Herrscherpaar in der Mitte des Saales eine Rolle, seine Rolle und muß ihr wie in den Staatsgeschäften auch sonst durch angemessenes Verhalten gerecht werden. Der König ist sein eigener Schauspieler, das Theater ist der Staat und die Aufführung die Geschichte, so wie sie der Staatsraison zu entsprechen hätte. Besser als das Stück selbst, eine rein unterhaltende Situationskomödie, zeigt dies die Handlung des Vorspiels zu

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Hado y divisa de Leonido y Marfisa, ein rhetorisch hochtönender Reigen panegyrischer Deklamationen, die Dichtung, Geschichte und Ruhm vortragen, Poesía, Historia und Fama. Die Plazierung des Herrscherpaares in der Mitte des Saales und im Zentrum der gespiegelten Bühnenperspektive erhält bei Calderón eine zusätzliche Bedeutung dadurch, daß das Dekor der loa eine in die Tiefe gestaffelte Ahnengalerie zeigt und an ihrem Ende, an der hinteren Stirn des Theaters, das gemalte Porträt des Herrscherpaares: An der Wand des Saales und in der Mitte der Perspektive wurde ein von einem prächtigen Baldachin überwölbter Thron errichtet, unter dem sich zwei Bilder unserer allerglücklichsten Monarchen befanden, so lebendig dargestellt, daß es sich, da sie sich ihren Urbildern gegenüber befanden, um einen Spiegel zu handeln schien, auf den sie ihre seltenen Qualitäten übertrugen; und der Wunsch, sie überall zu sehen, gilt auch für ihre Porträts.33 Die hier beschriebene Anordnung lädt zu einer ikonographischen Deutung geradezu ein, sie ist eine «symbolische Form» im Sinne Ernst Cassirers und Erwin Panofskys. Am äußersten Ende des spanischen Goldenen Zeitalters, ein Jahr vor dem Tode Calderóns, stehen wir unvermutet noch einmal vor einer Kombination von Bildelementen, die den römischen Karneval von 1637 so bemerkenswert gemacht hatten. Was dort getrennt zu bewundern war, die Theaterszene als Spiegelung des vor ihr versammelten Publikums einerseits und die repräsentative Darstellung des Fürsten andererseits, bietet sich dem Hofstaat von Madrid nimmehr als Einheit dar. Wir haben es mit barocker Repräsentationskunst in höchster Perfektion zu tun, das heißt allerdings auch: mit ihrer Peripetie. Denn das Bedeutungsverfahren, mit dem sich der Herrscher hier unübersehbar in den Mittelpunkt stellt, erweist sich bei näherem Zusehen als künstlich und sinnentleert, der angebliche Wunsch, das Bild des 33

«En la frente del salón, ocupando el medio de la perspectiva, se hizo un trono cubierto de un suntuoso dosel, debajo del cual había dos retratos de nuestros felicísimos monarcas, imitados tan al vivo, que como estaban frente de sus originales pareció ser un espejo en que trasladaban sus peregrinas perfecciones; y el ansia que desea verles en todas partes, quisiera hallar mas repetidas sus copias.» A.a.O. (Anm. 30), S. 358.

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Königspaares überall zu sehen, erinnert fatal an den zerbrochenen Spiegel bei Saaverda Fajardo. Die Einheit von Anspruch und Bild bleibt prätendiert und ohne Rückbindimg an eine bedeutende Realität. Wichtig erscheint auch der Blick auf die Gattung: Die Apotheose des Fürsten findet nicht mehr wie in den mythologischen Festspielen Calderöns in der allegorischen Haupthandlung statt, sondern im Vorspiel. Zwar ist hier ihr Triumph total bis hin zur Identität von Bühne und Zuschauerraum, doch gerade dadurch wird die Apotheose zu einer Absichtserklärung ohne reale Aussagekraft. Ebenso isoliert wie das Königspaar seinen Platz in der Mitte des ColiseoSaales einnimmt, um sich im eigenen Porträt zu spiegeln, ist es auch in der politischen Wirklichkeit. Die ursprüngliche, aus der comediaTradition übernommene Funktion der loa, eine Beziehimg zwischen dem Theaterabend und dem Aufführungsort herzustellen, erfaßt nur noch den König und seinen Hofstaat. Die loa bleibt auch ohne jeden Bezug zum Stück selbst, das eben kein mythologisches Festspiel mehr ist wie in der Blütezeit des Hoftheaters, sondern die Dramatisierung eines italienischen Novellenstoffes ohne tiefere Bedeutung. Die comedia als kunstvoll konstruiertes Divertissement ist so wie zu Zeiten Lope de Vegas der eigentliche Sieger. Kurz vor ihrem Erlöschen erobert sie sich noch einmal die literarische Autonomie zurück, die das Hoftheater seiner repräsentativen Funktion opfern mußte, hochprivilegiert zwar, doch gefesselt. Die Natur, von der Lope de Vega in seinem Arte nuevo de hacer comedias spricht, überwuchert wieder die luftigen Konstruktionen, in denen sich die Hofgesellschaft des Barock einer prekären Entrückimg hingegeben hatte. Wir stehen am Ende der glanzvollen Geschichte des spanischen Hoftheaters und seiner aufwendigen Bilderwelt. Den Epilog zu dieser Geschichte liefert rund 200 Jahre nach ihrem Ende ein Fürst aus dem Hause Wittelsbach, König Ludwig II. von Bayern. Die Theaterabende, die Ludwig II. zwischen 1872 und 1885 für sich arrangieren ließ, zeigen, daß er Thalia, der Muse des Theaters, verfallen war wie vor ihm nur Phillipp IV. von Spanien. Diese sogenannten Separatvorstellungen, für die u.a. auch eines der Festspiele Calderöns, La

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purpura de la rosa, vorgesehen war34, entspringen jedoch nicht mehr, wie man meinen könnte, der Machtvollkommenheit eines absolutistischen Herrschers. Ludwig II. von Bayern hat sich selbst durchaus noch einmal als ein solcher Fürst verstehen wollen. So waren zwar, wie Hans von Bülow in einem Brief berichtet, bei einem Wagnerkonzert im Residenztheater zwanzig bis dreißig Verehrer des Meisters anwesend, doch mußten sie sich ganz ähnlich wie in der Anordnung im Coliseo «für die Hofloge unsichtbar p l a c i e r e n » 3 5 ; Der Herrscher isoliert sich auch hier von der Realität. Doch die Vorstellungen vor dem König sind wie die historisierenden Schlösser im Stile der Romantik oder Ludwigs XIV. dennoch nicht mehr als die Liebhabereien eines zugegeben einzigartigen, historisch-literarisch gebildeten Privatmanns. Ludwig II. liefert ungewollt auch den Beweis dafür, daß er ein Nachgeborener ist: Er förderte in Richard Wagner einen Künstler, der - seinerseits ein Verehrer Calderöns nur sich selbst und sein Werk im Sinn hatte, nicht mehr den fürstlichen Auftrag. Der Herrscher macht sich zum Diener des Künstlers, die Kunst triumphiert. Daß der Tempel dieser Kunst, das Festspielhaus von Bayreuth, vornehmlich aus Bürgerspenden finanziert wird, nicht mehr aus der Schatulle des Königs, verdeutlicht einmal mehr die neue Konstellation: Der Fürst des 19. Jahrhunderts heißt Richard Wagner. *T

34 Vgl. Karl Hommel: Die Separatvorstellungen vor König Ludwig II. von Bayern. München 1963, S. 133. 35 Ebenda, S. 45 (Brief an Joachim Raff vom 13. Juli 1865).

Hans-Jörg Neuschäfer

«DER ARZT SEINER EHRE» ODER DIE ANGST VOR DEM CHAOS FREMDHEIT UND NÄHE DES SPANISCHEN EHRENDRAMAS Was soll uns Deutschen, uns Westdeutschen zumal, uns ach so aufgeklärten, fortschrittlichen, wissenschaftlich gebildeten und liberalen Zivilisationsmenschen, das spanische Ehrendrama des Don Pedro Calderön de la Barca, der vor über vierhundert Jahren das Zeitliche gesegnet hat? Was schert uns das blutige Ritual einer längst überwundenen Epoche? Wie anders könnte sie uns noch interessieren denn als anthropologisches Studienobjekt oder als Fundort für atavistische Kuriositäten? So oder ähnlich mag man reagieren, wenn man zum ersten Mal mit der befremdenden Welt des spanischen Ehrendramas konfrontiert wird: um so mehr, wenn man seiner extremen Ausprägung, dem Medico de su honra begegnet. Gleichzeitig findet man nichts dabei, sich der Betrachtung blutrünstiger Hollywoodiaden hinzugeben und dabei den wirklichen Atavismus gleichsam zu genießen. Es kann also mit unserer Aufgeklärtheit nicht allzuweit her sein. Die folgenden Betrachtungen wollen diesen Zweifel bestärken, indem sie den durchaus fremden, ja skandalösen Calderön-Text zunächst distanziert beschreiben, um anschließend vorsichtig zu fragen, ob er uns nicht doch näher steht, als wir dachten. Ich beschränke mich dabei auf El medico de su honra und verweise ein für allemal auf die in den Anmerkungen angegebenen Arbeiten, in de-

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nen ich mich mit dem Problem des Ehrendramas gründlicher auseinandergesetzt habe.1 In der nachfolgenden Analyse des Handlungsverlaufs wird die Parallelhandlung um Da Leonor erst am Ende referiert. Das Stück beginnt mit einem Jagdunfall, den der Infant Don Enrique vor dem Landgut Doña Mencías und ihres Gatten Don Gutierre erleidet, der in diesem Augenblick gerade in der Stadt Sevilla weilt. Als Doña Mencía den verletzten Reiter erkennt, erfahren wir, daß Don Enrique ihr einst den Hof gemacht und daß sie diese Werbung nicht ungern gesehen hat. Doña Mencía läßt aber von Anfang an keinen Zweifel daran, daß sie, inzwischen verheiratet, ihrem Mann die Treue bewahren wird, auch wenn die Ehe, wenigstens von ihrer Seite, offensichtlich nicht aus Liebe geschlossen worden ist. Der Infant kehrt daraufhin enttäuscht nach Sevilla zurück (1. Tag). Da sich Enrique nicht damit abfinden kann, seine Dame verheiratet zu sehen, kehrt er zu Beginn des zweiten Tages inkognito zu deren Landgut zurück. Natürlich zwingt schon die reine Höflichkeit Doña Mencía dazu, den Infanten zu empfangen. Kaum hat dieser das Haus betreten, kommt der Ehemann unerwartet zurück. Die Schreckreaktion Mencías auf diese Rückkehr steht in keinem Verhältnis zu dem, was vorgefallen oder besser nicht vorgefallen ist: Sofort verliert sie jede Gelassenheit und verhält sich, obwohl doch unschuldig, wie eine Schuldige. Aus Angst, ihr Mann könne eines Tages dahinterkommen, daß sie jemand besucht hat, traut sie sich nicht, den Vorfall einfach zu verschweigen. Sie hat aber auch nicht 1

S. dazu Hans-Jörg Neuschäfer: «El triste drama del honor», in: Hacia Calderón. Segundo Coloquio anglogermano, Hamburg 1972, S. 89-108. Ders.: «Die Dramaturgie des Ehrendramas», in: Maske und Kothurn 24 (1978), S., 319-325 (hieraus entnehme ich die Inhaltsanalyse von El médico de su honra). Ders.: «Der Geltungsdrang der Sinne und die Grenzen der Moral (...) im klassischen Drama Spaniens und Frankreichs», in: F. Nies, K. Stierle (Hrsg.): Die Französische Klassik, München 1985, S. 205-230. Vielleicht ist dies auch eine gute Gelegenheit, die Vertreter des derzeit vorherrschenden wissenschaftstheoretischen Modetrends, die Diskurstheoretiker, besonders die Abteilung Diskursarchäologie, um Nachsicht zu bitten. Ich weiß, daß es in ihren Augen eigentlich nicht statthaft ist, vergangene Texte mit gegenwärtigen Erfahrungen zu vermitteln und sie dem vulgo von 1987 am Ende noch verständlich zu machen. Ich gestehe, daß ich dieser Versuchung zum wiederholten Male erlegen bin, zumal man mich ausdrücklich darum gebeten hatte, für die «Laien» unter den Tagungsteilnehmern und für die Festspielleitung die Frage «Ist Calderón heute noch spiel- und rezipierbar?» nicht aus dem Auge zu lassen. Leider ist eine Antwort auf diese Frage mit dem Diskurs der Diskursarchäologie nicht zu geben.

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genügend Vertrauen zu ihm, tun ihm die Wahrheit zu offenbaren. So beschränkt sie sich auf die vage Andeutung, ein Mann sei ins Haus eingedrungen, und weckt gerade damit den Verdacht ihres Gatten. Da der Infant das Haus noch nicht verlassen hat, sieht sich Mencia zu einer überstürzten List gezwungen, zu einer wahren Kurzschlußhandlung: Sie löscht das Licht, um die Flucht Enriques zu decken, und bestärkt damit erst recht den Verdacht ihres Mannes, vor dem sie sich aus lauter Angst wie eine wirkliche Ehebrecherin verhält. Als Gutierre schließlich auch noch den Degen findet, den der Infant in der Eile verloren hat, gerät Mencia in Panik, womit sich der Verdacht des Ehemannes zur Quasigewißheit verdichtet, daß die Ehre seiner Frau - und damit auch seine eigene - tatsächlich bedroht ist. Als er am nächsten Tag auch noch am Hof von Sevilla feststellen muß, daß der Infant seinen Degen vermißt, wird der Verdacht zur Obsession, die ihn fortan so sehr beherrscht, daß er nur noch an die Gefährdung seiner Ehre denken kann und nicht mehr fähig ist, anderes zu entdecken als scheinbare Beweise; Beweise, die in Wahrheit doch nur auf Irrtümern und Mißverständnissen beruhen. An diesen Mißverständnissen ist natürlich zunächst einmal Mencia selbst schuld. Mittelbar gehen sie aber auch auf die Disposition Gutierres zurück, der schon beim geringsten Anlaß Verdacht schöpft und seine Frau wie ein Untersuchungsrichter behandelt. Und da die Frau diese Disposition kennt, wird eben auch ihre Angst verständlich. Auf jeden Fall ist es nicht zu übersehen, daß keiner der beiden Ehegatten auch nur erwägt, den anderen ins Vertrauen zu ziehen und sich mit ihm auszusprechen: Es scheint, als verschlage es den Personen die Sprache, sobald die Ehre in Frage steht. Don Gutierre findet das offensichtlich auch ganz in Ordnung, denn die Sorge um die Ehre erfordert nach seiner Meinimg geradewegs Mißtrauen und Vorsicht, und sie rechtfertigt auch die heimtückischsten Finten. So kehrt er zum Beispiel in aller Heimlichkeit zum Landgut zurück und stellt seine schlafende, d.h. in diesem Moment besonders wehrlose Frau auf eine hinterhältige Probe: Er weckt sie mit verstellter Stimme und tut so, als ob er der Infant sei. Das Resultat dieser seltsamen Prüfung ist voraussehbar: Mencia schreckt aus dem unruhigen Schlaf hoch, redet ihm mit «königliche Hoheit» an

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und fragt verzweifelt, ob er denn glaube, der Trick mit der Kerze lasse sich nach Belieben wiederholen. Damit gibt sie ungewollt das Geheimnis der vergangenen Nacht preis, und Don Gutierre, der gar nicht mehr fähig ist wahrzunehmen, daß seine Frau dem vermeintlichen Infanten Vorwürfe macht, fühlt sich bestätigt und beschließt, nun die Ehre auf seine Art zu kurieren.

Der Arzt seiner Ehre. Doña Mentía (Marosa de Leza) im Garten. Aufführung in Bamberg am 2.7.1987 durch das spanische Nationalensemble «Teatro Clásico» unter Leitung von Adolfo Marsillach.

Der dritte Tag beginnt mit einem Besuch Gutierres beim König, der den Infanten um Aufklärung bittet und gleichzeitig Don Gutierre hinter einem Vorhang zuhören läßt. Aber der König unterbricht den Infanten aus Rücksicht auf den verborgenen Gutierre gerade dann, als der Konkretes zu sagen beginnt, so daß Gutierre noch in seiner Meinung bestärkt wird. Einmal mehr also spitzt sich das Problem zu, weil die Personen sich nicht offen aussprechen können

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oder wollen. Auch der letzte Anstoß, der dann definitiv zur Bluttat führt, geht von einem Mißverständnis aus: Doña Mentía schreibt dem Infanten einen Brief, wird dabei aber von ihrem Gatten überrascht, der nun das letzte Beweisstück in der Hand zu halten glaubt, obwohl sie auch jetzt wieder in der besten Absicht gehandelt hatte. Abermals kommt es nicht zu einer Aussprache zwischen den Gatten, die alles hätten aufklären können. Stattdessen fällt Mentía vor Schreck in Ohnmacht, als Gutierre in ihrem Rücken auftaucht, einmal mehr, als ob sie schuldig wäre und nicht in Wahrheit gerade den Beweis ihrer Unschuld in Händen hätte. Nun schreitet der Arzt seiner Ehre zur Tat, indem er einen Chirurgen dazu zwingt, an Doña Mentía den todbringenden Aderlaß vorzunehmen. Dem König gegenüber erklärt Gutierre den Tod seiner Frau als Unfall, und der König akzeptiert diese Erklärung ohne Rückfrage, obwohl er im Grunde sehr wohl weiß, was wirklich geschehen ist. Der Arzt seiner Ehre bleibt also straffrei - und nicht nur das. Der König hält sogleich eine neue Ehefrau für ihn bereit, und zwar Doña Leonor, von der zu Beginn des Dramas schon einmal kurz die Rede war. Sie war früher von Gutierre umworben, dann aber von ihm verlassen worden, weil er auch sie in falschem Verdacht hatte. Da Leonor wegen dieses wenn auch noch so unbegründeten Verdachts kein «unbeschriebenes Blatt» mehr war - denn eine ins Gerede gekommene Ehre ist schon keine mehr -, blieb sie unverheiratet. Der König sieht nun eine gute Gelegenheit, das Unrecht von damals wieder gutzumachen, indem er Don Gutierre zu ihrem Mann bestimmt. Wie sehr aber auch diese Ehe wieder unter dem schrecklichen Ehrgesetz steht, zeigt der Rat des Königs an Gutierre, als dieser ihn fragt, was er denn tun solle, falls er mit seiner zweiten Frau in eine ähnliche Situation wie mit Mentía käme. Der König rät ihm, die gleiche Medizin noch einmal anzuwenden, und sanktioniert damit endgültig den Mord. Aber auch Doña Leonor ermächtigt ihren Gatten ausdrücklich dazu, im Falle eines Zweifels mit ihr genau so zu verfahren, wie er es mit Mentía getan hatte. So endet das Stück nicht mit einem wirklichen Schluß, sondern mit der Aussicht auf eine «Fortsetzung folgt», auf einen Schrecken ohne Ende. Soweit die Zusammenfassimg der Handlung.

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Wir wollen uns nun die Frage stellen, welches Bild der Ehre durch den Text vermittelt und wie dieses Bild dramaturgisch verwirklicht wird. Zunächst ist festzustellen, daß der Text bis auf das Ende des dritten Aktes, wo die Ereignisse sich häufen, recht handlungsarm bleibt und seine dramatische Spannung vor allem aus der seelischen Disposition der Personen bezieht und aus ihrer fortschreitenden Verstrickung in Irrtum und Mißverständnis. Dabei fallen vor allem zwei Strukturprinzipien auf: einmal die vollständige Befangenheit der Personen, und zum anderen das Prinzip des circulus vitiosus. Beide Prinzipien sind ihrerseits wieder Emanationen des Ehrkonzepts, das im Médico de su honra so angelegt ist, daß es die Personen total beherrscht und daß es aus ihren Handlungen einen Teufelskreis macht. Jedenfalls wird nicht eine einzige Person des Dramas durch die Ehre in ihren Möglichkeiten bereichert, alle werden sie im Gegenteil durch sie begrenzt. Keine Person ist frei und kann sich, wenn auch nur in Grenzen, selbst bestimmen; vielmehr werden alle von der Obsession der Ehre beherrscht und sind unfähig, etwas zu fühlen oder zu tun, was nicht vom Interesse der Ehre diktiert wäre. Eben das nenne ich eine vollständige Befangenheit. Doña Mencía zum Beispiel kennt nur ein einziges Gefühl: die Angst. Sie lebt in der ständigen Furcht, die Ehrgesetze zu verletzen, leidet geradezu unter einer Art von Verfolgungswahn und fühlt sich von einer Ehrenrache bereits bedroht, als Don Gutierre noch nicht einmal konkreten Verdacht geschöpft hat. Aus Angst ist sie weder gegenüber dem Infanten noch gegenüber ihrem Gatten zu einem ungezwungenen Verhalten fähig, und aus Angst auch reagiert sie wie eine in flagranti ertappte Ehebrecherin, als Gutierre unerwartet auftaucht, und versucht, sich mit allerlei Tricks herauszuwinden, statt ihm die Situation ganz einfach zu erklären. Später dann, als Don Gutierre mit dem Degen erscheint, den der Infant bei seiner Flucht verloren hatte, bangt sie sogleich um ihr Leben und beteuert eilfertig ihre Unschuld, bevor noch wirklich Rechenschaft von ihr gefordert wurde. Genau damit aber weckt sie bei Don Gutierre überhaupt erst den Verdacht, die excusatio non petita sei am Ende eine accusatio manifesta.

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Der Arzt seiner Ehre. Die bedrohliche Macht der opinion in Ehrensachen wurde in der Bamberger Aufführung des «teatro Clásico» durch die ständige Präsenz von vier schwarz gekleideten und schwarz maskierten Gestalten unterstrichen. Links Don Gutierre (José Luis Pellicena).

Diese Stelle beansprucht unser Interesse gleich in doppelter Hinsicht: denn einerseits läßt sie die quasi neurotische Seelenverfassung Doña Mencías erkennen, die in ihrer Angst unfähig ist, vernünftig zu denken und zu handeln. Andererseits zeigt sie aber auch deutlich, bis zu welchem Grad sie sich in einem wahrhaftigen Teufelskreis bewegt, der folgendermaßen funktioniert: Die diktatorische Ehrenideologie, die schon beim kleinsten Verdachtsmoment drakonische Maßnahmen fordert, treibt Doña Mencia in eine Angstpsychose. Die Angst wiederum diktiert ihr eine Verhaltensweise, die den Verdacht Don Gutierres weckt. Die Äußerung des Verdachts bei Don Gutierre vertieft dann wieder die Angst bei Doña Mencia bis zur Panik, und die Panik Mencías steigert ihrerseits den Verdacht von Gutierre usf., so daß der Teufelskreis sich immer mehr zu einer Spirale verengt, die schließlich zu einer tödlichen Schlinge wird, als

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Don Gutierre den unglückseligen Brief entdeckt, den Doña Mentía dem Infanten schreibt. Wenn man die Motive sieht, die dem schrecklichen Geschehen im Arzt seiner Ehre zugrunde liegen, so stößt man also auf zwei verhängnisvolle Fehlannahmen: Doña Mentía bildet sich in ihrer Angst ein, daß Don Gutierre sie ermorden will, und Don Gutierre wiederum bildet sich aufgrund ihrer Ängstlichkeit ein, daß Doña Mentía tatsächlich gegen das Ehrgesetz gefehlt hat. Der schreckliche Mord Don Gutierres ist im Grunde also nichts anderes als die Folge der panischen Todesangst von Doña Mentía. Und die Todesangst Doña Mentías wiederum ist die Folge der latenten Mordbereitschaft Don Gutierres. Dies ist wahrlich ein auswegloser Teufelskreis und ein absolutes Mißverständnis. Hier sieht man sofort, welche Folgen die strenge und grausame Reinheitsforderung der Ehre hat: Sie schafft von vornherein eine Atmosphäre von Angst und Mißtrauen, verwirrt die Gefühle der Personen, bringt sie um Vernunft und freie Willensentscheidung und läßt in ihnen nur noch zwei extrem destruktive Gefühlslagen lebendig, diese aber in äußerster Intensität: die Todesangst (bei der Frau) und die Tötungsbereitschaft (beim Mann). Wenden wir uns nun der männlichen Hauptperson zu, so können wir feststellen, daß bei ihr die Beschränkung und Reduzierung der Persönlichkeit durch die Sorge um die Ehre nicht geringer ist als bei Doña Mentía. Zwar braucht Gutierre nicht ständig um sein Leben zu bangen, wohl aber um die Integrität seiner Ehre, was in der Welt des Médico de su honra bestimmt nicht weniger bedrohlich ist. Denn die Ehre ist das höchste, zugleich aber auch das verletzlichste weltliche Gut, ein Gut, das schon durch den geringsten Verdacht befleckt, wenn nicht gar zerstört wird. Deshalb muß Don Gutierre ständig auf der Lauer sein, und es wird verständlich, daß er schon in Aufregung gerät, bevor er weiß, ob wirklich etwas geschehen ist. So hoch steht das Gut der Ehre für ihn, daß es notfalls auf Kosten des Lebens geschützt werden muß. Und deshalb ist für Don Gutierre, der ganz vom Ehrenstandpunkt beherrscht wird, der Mord auch kein destruktiver Akt, sondern eher eine therapeutische Vorsorgemaßnahme, bei der der Arzt seiner Ehre etwas Nebensächliches, nämlich

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das Leben opfert, u m die Hauptsache, nämlich die Ehre, zu bewahren. Wir sehen, was die totale Unterwerfung unter die Ehrideologie auch aus Don Gutierre gemacht hat: einen beschränkten Automaten, der n u r noch schwarzsehen kann, der n u r noch aus Mißtrauen besteht, dessen zweifellos vorhandene Intelligenz so sehr pervertiert w o r d e n ist, daß sie die Zerstörung des Lebens f ü r einen Akt der Heilung hält. Die ganze Lichtseite des Lebens aber bleibt Gutierre verschlossen; sie ist f ü r ihn wie f ü r Mencia überhaupt nicht m e h r denkbar: nämlich die Liebe, die Hoffnung, das Vertrauen, aber auch der Glaube, von d e m in diesem seltsamen Stück (aber auch in anderen Ehrendramen) bezeichnenderweise nie die Rede ist. In der Tat ist d e n n hier ja auch der Götzendienst an der Ehre an die Stelle des Gottesdienstes getreten. Auf d e n ersten Blick erscheint dieses Szenario äußerst befremdend. Z u m a l wenn m a n bedenkt, daß es in keiner der gleichzeitigen europäischen Literaturen eine ähnliche Vergötzung der Ehre gab. 2 Auf der anderen Seite m u ß m a n sich aber auch darüber im Klaren sein, daß, was Spanien anbelangt, die Vision des Medico de su honra zwar extrem, doch f ü r das Siglo de Oro keineswegs atypisch ist, ja d a ß noch im 20. Jahrhundert, in den Esperpentos von Valle Inclän oder in d e n ländlichen Dramen Lorcas, Calderöns Spuren sichtbar bleiben. Ist oder war Spanien also wirklich so diferente, wie es die Tourismuswerbung zu Francos Zeiten ständig behauptete? Bevor m a n es sich in dieser Annahme bequem macht, sollte m a n sich aber doch noch fragen, auf was eigentlich die Vorstellung des spanischen Ehrendramas hinausläuft. Da ist zunächst die Idee, fast möchte m a n sagen: der f r o m m e Wunsch, die Affekte - heute nennen wir sie: die Triebe - könnten von der Moral u n d der Vernunft unter Kontrolle gehalten werden. Dabei werden die Affekte als das unberechenbar Chaotische u n d eben deshalb Bedrohliche angesehen, das 2

Zwei Beispiele: Shakespeares Othello und Corneilles Cid. Im Othello haben wir eine ganz ähnliche Handlungsstruktur, doch wird hier die Ehre der unschuldig Getöteten a m Ende wiederhergestellt, die Tat des Mannes ausdrücklich als ein durch fatale Umstände ermöglichter Irrtum hingestellt. Hier handelt es sich also u m einen tragischen Ausnahmefall, nicht u m eine grundsätzliche Disposition. - Bei Corneille gibt es neben d e m Wert der Ehre noch andere, den der Liebe etwa oder den der Generosität. Hier wird also die Fetischisierung des einen Wertes aufgrund einer entlastenden Yfertekonkurrenz vermieden.

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hauptsächlich von der Frau repräsentiert wird, während die Aufrechterhaltung von Ordnung und Moral der berechnenden Disziplin des Mannes anheimgestellt ist. Offensichtlich ist sich die Moral im Ehrendrama ihrer Stärke aber nicht mehr sicher, weshalb sie bei ihrer wirklichen oder vermeintlichen Bedrohung nicht gelassen, sondern gereizt reagiert und aus Angst vorm Versagen schnell in Panik gerät. Die Unsicherheit ist so groß, daß die Moral sich nicht auf sich selbst verläßt, sondern sich auf einen höheren Zwang beruft, der sie zur Stärke verpflichtet. Dieser höhere Zwang ist die Ehre. Die Ehre wiederum erscheint in den einschlägigen Dramen als etwas durchaus äußerliches, denn sie ist gleichbedeutend mit dem öffentlichen Ansehen (spanisch: opinión), was nichts anderes heißt, als daß erst die Furcht vor der gesellschaftlichen Bloßstellung, nicht schon das Gewissen an sich, den Forderungen der Ehre den gehörigen Nachdruck verleiht. In der Bamberger Aufführung wurde die bedrohliche Macht der opinión durch die ständige und unvermeidbare Präsenz von vier schwarz gekleideten und schwarz maskierten Gestalten unterstrichen, die immer dann eingriffen, wenn es Spuren des Fehlverhaltens zu sichern galt. Dabei verlangt die Gesellschaft vom Einzelnen gar nicht so sehr die Einhaltung konkreter moralischer Gebote, als vielmehr die Wahrung des äußeren Scheins, dies allerdings mit äußerster Strenge: es kommt allein darauf an, nicht «auffällig» zu werden, denn wer auffällt, hat die Ehre bereits verloren. Es herrscht also ein starker Zwang zur Verhinderung oder wenigstens zur Verheimlichung peinlicher «Störungen». Wenn solche «Störungen» auftreten oder auch nur aufzutreten drohen, werden sie deshalb in aller Stille «bereinigt», gleichgültig um welchen Preis, wenn nur das öffentliche Aufsehen vermieden wird. Da nun die Gesellschaft durchaus an dem Glauben festzuhalten beliebt, die Moral habe die Triebe, die Ordnung das Chaos fest im Griff, darf sich die persönliche Unsicherheit und die Angst vorm Versagen, die an sich alle calderonianischen Helden (Männer und Frauen) aufs schwerste belastet, nicht offen blicken lassen, denn das wäre ja «auffällig». Gefordert ist vielmehr die Verstellung - disimulo ist ein weiteres Schlüsselwort des Ehrendramas -, d.h. die Kunst, Schwäche als Stärke erscheinen zu lassen und so zu tun, als ob alles in bester

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Ordnung und unter Kontrolle sei. Auch deshalb müssen «Störfälle» so behandelt werden, als hätten sie gar nicht stattgefunden.

Der Arzt seiner Ehre. Die tragischen Spuren des Aderlasses an Doña Mentía nach der Bamberger Aufführung des «Teatro Clásico».

Aus diesem Widerspruch von tatsächlicher Schwäche und vorzuspiegelnder Stärke, von privater Not und gesellschaftlichem Harmonisierungszwang erklärt sich letztlich die psychopathologische Befangenheit, die mißtrauische Gehemmtheit, die hinterhältige Verschlagenheit und die Verschwiegenheit von Personen, die das Unglück haben, in eine «ehrenrührige» Situation zu geraten: Sie dürfen sich nicht aussprechen, weil sie damit das von der Gesellschaft verhängte Tabu durchbrechen würden, daß nicht sein kann, was nicht sein darf. Schweigen sie aber, so fallen sie nur um so sicherer den verdrängten Widersprüchen zum Opfer, als diese nicht «wahr» sein dürfen. Das spanische Ehrendrama erweist sich damit als ein mächtiges Instrument der Verdrängung des Unerwünschten. Es ist einerseits hellsichtig genug, die unaufhebbaren Widersprüche der men-

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schlichen Natur zu erkennen, insbesondere den zwischen Affekt und Intellekt, zwischen Trieb und Moral; es scheint andererseits aber gerade von dieser Erkenntnis so betroffen und erschreckt, daß es ihr die offizielle Anerkennung verweigert. Erst die französische Moralistik wird die Ideologie von der Beherrschbarkeit der Triebe ernsthaft in Frage stellen. Betrachtet man El médico de su hottra in diesem psychoanalytischen oder auch sozialpsychologischen Licht, so schrumpft die Möglichkeit beträchtlich, seine merkwürdigen Verhaltensmuster umstandslos einer völlig «anderen», womöglich archaischen Kulturstufe oder gar einem Atavismus zuzuschreiben. Vielmehr müssen wir uns, wenn wir ehrlich sein wollen, eingestehen, daß manches an der Psychologie des Ehrendramas uns noch immer betrifft. Es gibt jedenfalls keinen Grund, uns auf unsere scheinbare Aufgeklärtheit etwas einzubilden; sie ist nur ein dünner Lack, der schnell abbröckelt, wenn die Angst vorm Versagen gegenüber den entfesselten Triebkräften uns zu einem ähnlichen Ordnungsfetischismus treibt wie die Bewohner der calderonianischen Welt. Wir brauchen in unserer eigenen Geschichte nicht weit zurückzugehen, um einschlägig fündig zu werden. Man denke an den Ehrenbegriff des Nationalsozialismus, der, auch wenn er ein völkischer oder rassistischer und jedenfalls noch verderblicher war, ganz ähnlich funktionierte wie der des Ehrendramas. Während der moralische Ehrbegriff des Siglo de Oro zur exorzistischen Beschwörung sexueller Begehrlichkeit gebraucht wurde, diente der nazistische Ehrenpopanz der schauerlichen Austreibung einer angeblich schrankenlos gewordenen (und allein den Juden zugeschriebenen) ökonomischen Begehrlichkeit. Daß er ähnliche Folgen der Vernunfts- und Gefühlspervertierung mit sich brachte und ähnliche Rituale der Selbstpreisgabe erzwang, ist bekannt. Aber man muß nicht einmal in die jüngste Vergangenheit schauen, wenn einem die Gegenwart gerade jetzt wieder ein - übrigens echtes - Beispiel von Atavismus liefert: ich meine die Aidshysterie. Sie hat viel mit der Situation bei Calderón gemein: Es handelt sich, so wird vorausgesetzt, um eine Bedrohung der Ordnung durch die Folgen eines chaotisch gewordenen Trieblebens. Deshalb hat die

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Erhebung der Volksgesundheit zum Popanz einer neuen Ehr- und Sauberkeitsideologie sogar eine gewisse Plausibilität. Und wie im Fall des Ehrendramas ist zu beobachten, daß gerade die unsicher sind, die sonst immer alles im Griff zu haben meinen (das sind bei uns die Staatsorgane), daß sie schnell in Panik geraten und daß sie wie Don Gutierre im Medico de su honra - z u Präventivmaßnahmen aufrufen, die leicht fürchterlicher als die gefürchtete Gefahr selbst werden können. Den Arzt seiner Ehre, meine Damen und Herren, kann man, wenn man will, historisch «kaltstellen», indem man ihn nach den Regeln der Gelehrsamkeit in die Literaturgeschichte des fernen spanischen Barock verbannt. Man kann ihn aber auch, wie jedes große Werk der Weltliteratur, mit unseren A u g e n und aus der Nähe der zeitgenössischen Erfahrung betrachten. Dann wird das scheinbar Fremde manchmal wieder überraschend verwandt. Ja die fremde Perspektive macht uns überhaupt erst wieder für Eindrücke empfänglich, die wir aus der Nähe gar nicht oder nur undeutlich hätten wahrnehmen können. «r

Hugo Laitenberger

EHRE UND EHRENRACHE IN DEN ZWISCHENSPIELEN VON CALDERON

Unerbittlich verfolgt der «Mann von Ehre» den Verdacht ehelichen Fehlverhaltens (seiner Frau) bis zur Erlangung subjektiver Gewißheit. Mit eben dieser Härte (gegen andere, gegen sich selbst) setzt er seine Rache ins Werk und verwandelt sich in den Médico de su honra, den Arzt seiner Ehre. Während das Werk dieses Arztes zwischen Bangen und Ängsten seinem blutigen Ende entgegenstrebt, findet es noch im Stück selbst - zum Befremden der Nachgeborenen - einen komischen Begleiter in der «lustigen Person», dem gracioso des Stückes. Hätte uns das «Teatro Clásico» gestern1 eine Inszenierung ganz im Stile der Epoche geboten, wäre dieses Befremden durch eine Reihe weiterer komischer, ja derb-komischer Zutaten und Einlagen noch verstärkt worden, die des Zusammenhangs mit der Handlung des Stückes völlig entbehrt hätten. So hätte zunächst ein Prolog (loa) das Interesse und die Stille der Zuschauer durch u.U. recht zweifelhafte Spaße erzwungen, und 1

Die Bamberger Aufführung des Médico de su honra durch das «Teatro Clásico», Madrid, unter der Leitung von Adolfo Marsillach fand am Vorabend des hier abgedruckten Vortrags statt. Es lag daher nahe, gerade auf dieses berühmteste Ehrendrama Calderóns anzuspielen. - Unter den zur Zeit greifbaren Ausgaben des Médico nenne ich:Pedro Calderón de la Barca: El Médico de su honra. Edición de D.W. Cruickshank. Madrid: Editorial Castalia 1981. Calderón de la Barca: Dramas de honor II. El Médico de su honra. El Pintor de su deshonra. Edición, prólogo y notas de Angel Valbuena Briones. Madrid: Espasa-Calpe 41978.

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nach dem ersten (evtl. auch dem zweiten) Akt - während der Arzt seiner Ehre bereits den Weg seiner schmerzhaften Selbstvergewisserung schreitet - hätte ein entremés, ein komisches («einaktiges») Zwischenspiel mit eigener Handlung, für heitere Ausgelassenheit beim Publikum gesorgt. An die Stelle des zweiten entremés hätte - variatio delectat - auch eine Sonderform des Zwischenspiels, die mojiganga, treten können, eine Art Mummenschanz mit tanzenden, meist allegorischen Figuren, die im Publikum verzaubertes Befremden, mehr noch als heitere Ausgelassenheit, ausgelöst hätten. Es kann aber gerade hier, während sich das «Drama der Ehre» seinem dramatischen Höhepunkt nähert, auch «Deftiges» geboten werden: in Form der jácara, einer kürzeren Einzelszene, die einen notorischen Schwerverbrecher auf die Bühne bringt, der - eben wieder einmal freigekommen - sich in vulgärem Rotwelsch über das bevorstehende Wiedersehen mit seiner «Schlampe» äußert. Den «krönenden Abschluß» des Spektakels - das Blut der unschuldig getöteten Ehefrau im Nebenraum wäre noch feucht gewesen und der Arzt seiner Ehre vom Schrecken seiner augenblicks durch königlichen Befehl erzwungenen Wiederverheiratung noch nicht erholt - den «krönenden Abschluß» also hätte ein baile final bilden können, ein choreographisch vielleicht etwas zweideutiger Schlußtanz auf einen ebensolchen Text. - Das spanische Drama des siebzehnten Jahrhunderts war durch die hier skizzierte Praxis der Aufführung als krauses «Gesamtkunstwerk» ausgestattet, das einem heute schwer zu verstehenden Bedürfnis nach ständiger komischer Auflockerung und «umfassender Unterhaltung» Rechnung trug: Einem Bedürfnis, das nicht nur im weltlichen, sondern selbst im religiösen Theater sein Recht forderte; so mußte auch beim «Fronleichnamstück», dem auto sacramental, das Vergnügen des Publikums durch Dreingabe eines oder mehrerer komischer entremeses «abgerundet» werden.2 Die Forschung hat sich erst in letzter Zeit wieder verstärkt diesen 2

José María Diez Borque (genaue bibliographische Angaben vgl. Fußnote 6) läßt eine von ihm zusammengestellte «fiesta sacramental barroca» etwa in folgender Anordnung ablaufen: (1) Loa (2) Entremés («Los instrumentos») (3) Auto sacramental («La segunda esposa») (4) Mojiganga («Las visiones de la muerte»). Sämtliche «Teilstücke», höchstwahrscheinlich auch die loa, sind von Calderón. Zur Theateraufführung als «Gesamtkunstwerk», vgl. José María Diez Borque: Sociedad y teatro en la España de Lope de Vega. Barcelona: Antoni Bosch Editor 1978, S. 269-97.

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komischen Kleingattungen, welche die Aufführung des spanischen Dramas «garnierten», dem sogenannten teatro menor, zugewendet.3 Die Geschichte der wichtigsten dieser Gattungen, des entremés, beginnt Mitte des sechzehnten Jahrhunderts mit den pasos von Lope de Rueda4. Zwar waren diese frühesten entremeses vom Dichter selbst noch z.T. in seine comedias y coloquios eingearbeitet, doch fehlt schon hier fast jeder Zusammenhang mit der Haupthandlung des Stückes, so daß z.B. ihr posthumer Herausgeber, Juan de Timoneda, darauf hinweist, daß diese pasos graciosos auch aus den Werken Ruedas herausgenommen und als Zwischenspiele in andere Werke eingesetzt werden können.5 Diese freie Einsetzbarkeit wurde in der Folgezeit die Regel. Welche entremeses mit jeweils welchem Drama (oder auto sacramental) zur Aufführung kamen, scheint wesentlich eine Frage des von einer Truppe beherrschten Repertoires gewesen zu sein.6 3

Bereits zu Beginn dieses Jahrhunderts kam die große Textsammlung zu den «kleineren» Theatergattungen von Cotarelo mit einer über 300 Seiten umfassenden «Introducción general» heraus: Colección de Entremeses, Loas, Baües, Jácaras y Mojigangas desdefines del siglo XVI a mediados del XVIII. Ordenada por Don Emilio Cotarelo y Mori. Tomo I. Volumen lo y 2°. Madrid 1911 (Nueva Biblioteca de Autores Españoles, nos. 17 y 18). Als Zeugnisse der neueren Hinwendung zum «entremés» und anderen Kleingattungen mögen hier nur folgende handliche Anthologien stehen, welche ausführliche Einleitungen mit Bibliographie (besonders reichlich bei García Valdés) enthalten: Ramillete de entremeses y bailes nuevamente recogido de ¡os antiguos poetas de España. Siglo XVII. Edición, introducción y notas de Hannah E. Bergman. Madrid: Editorial Castalia 1980. Antología del entremés barroco. Edición de Celsa Carmen García Valdés. Barcelona: Plaza y Janés Editores 1985.

4

Zur «Frühgeschichte» des entremés vgl.:William Shaffer Jack: The Early Entremés in Spain. The Rise of a Dramatic Form. Philadelphia 1923. Eugenio Asensio: Itinerario del entremés (de Lope de Rueda a Quiñones de Beruwente). Madrid: Gredos 21971. Neben dem Werk von Lope de Rueda, der mit seinen pasos als eigentlicher Schöpfer des entremés bezeichnet werden darf, hat der sog. Entremés von Horozco mehr den Wert einer literarhistorischen Kuriosität. F. González Ollé schreibt über ihn: «La obrita de Horozco viene siendo considerada como el primer entremés completamente separado de una obra dramática de mayor envergadura». (Sebastián de Horozco: Representaciones. Edición de F. Ganzález Ollé. Madrid: Castalia Editores 1979, S. 36).

5

Timoneda erstellt in seiner Ausgabe (1567) zu den comedias und coloquios von Rueda eine regelrechte «Tabla de los passos graciosos que se pueden sacar de las presentes comedias y colloquios y poner en otras obras» (zitiert nach: Lope de Rueda: Pasos. Edición de Fernando González Ollé. Texto establecido por Vicente Tusón. Madrid: Ediciones Cátedra 21983, S. 14).

6

Die erwähnte «freie Einsetzbarkeit» der entremeses hatte auch Konsequenzen für deren (separate, in besonderen Sammlungen und Anthologien erfolgende) Veröffentlichung. Es entspricht dem neuerdings erwachten Interesse für die Theaterpraxis des 17. Jahrhunderts,

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Bei künftigen Bamberger Veranstaltungen würde nichts hindern, den Arzt seiner Ehre etwa mit solchen Einlagen zu kombinieren, die genau das Thema des Stückes selbst - «Ehre und Ehrenrache» - in komischer Variante behandeln.7 Calderóns eigenes Repertoire stünde hierzu mit mindestens drei entremeses zur Verfügimg, die zugleich für drei verschiedene Weisen, dieses Thema zu variierenß, stehen: (I) Im ersten Fall (El Dragoncillo) bleibt die Verletzimg der Ehre unentdeckt; eine Ehrenrache entfällt. (II) In meinem zweiten Beispiel (Guardadme las espaldas) wird der Ehemann zwar auf die Ehrverletzung aufmerksam, ist jedoch zu wenn heute in Einzelfällen comedias oder autos sacramentales zusammen mit eingestreuten Beispielen von Gattungen des teatro menor herauskommen; z.B.: Augustin Moreto: El desdén, con el desdén. Las galeras de la honra. Los oficios. Edición, introducción y notas de Francisco Rico. Madrid: Editorial Castalia 21978 01971). Pedro Calderón de la Barca: Una fiesta sacramental barroca. Edición de José María Diez Borque. Madrid: Taurus 1984. In beiden Fällen sind die Werke (Moreto: El desdén, con el desdén,(comedia); Calderón: La segunda esposa, (auto sacramental)) kombiniert mit «kleinen Gattungen» des jeweiligen Autors, doch wurde deren Auswahl nach subjektiven Kriterien des Herausgebers vorgenommen. Die didaktische Absicht, durch diese Art der Veröffentlichung auf die besondere Theaterpraxis des 17. Jahrhunderts aufmerksam zu machen, steht im Vordergrund. In wenigen Fällen ist verbürgt, welche Stücke bei einem konkreten Anlaß miteinander zur Aufführung kamen. Zu nennen wären hier die Fiestas del Santísimo Sacramento, repartidas en doce autos sacramentales con sus loas y entremeses von Lope de Vega, die posthum im Jahre 1644 von José Ortiz de Villena herausgebracht wurden; heute wieder nachlesbar in Obras de Lope de Vega VI. Autos y coloquios I. Edición y estudio preliminar del Exc. Sr. D. Marcelino Menéndez Pelayo. Madrid: Ediciones Atlas 1963 (BAE, Tomo 157). - Menéndez Pelayo schreibt hierzu in seiner Einleitung (S. xliv): «Es cierto que las loas y los entremeses no son de Lope, a lo menos en su totalidad, pero tampoco el colector los dio por tales, limitándose a decir que se habían representado en la Corte con los autos». 7

Die psychologischen und praktischen Schwierigkeiten, auf die dies (bei Publikum und Ausführenden) stoßen würde, sollen nicht geleugnet werden. Eine praktikablere Möglichkeit, dem deutschen Publikum den im wahrsten Sinne «fremden Calderón» der entremeses nahezubringen, bestünde in der separaten Aufführung dieser Meisterwerke komischer Kleinkunst. Dieses Verfahren hätte sogar historische Vorbilder. Da das Publikum oft mehr Gefallen an den eingestreuten Zwischenspielen als am Hauptstück fand, wurden im 17. Jahrhundert auch gelegentlich Aufführungen veranstaltet, die ausschließlich aus entremeses bestanden (sog. follas de entremeses, vgl. Asensio 21971:16).

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Calderóns teatro menor ist heute in folgender, recht praktischer Ausgabe zusammengefaßt (nachfolgend zitiert als R./T.): Pedro Calderón de la Barca: Entremeses, jácaras y mojigangas. Edición, introducción y notas de Evangelina Rodríguez y Antonio Tordera. Madrid: Editorial Castalia 1982. Von denselben Autoren stammt auch folgendes einschlägige Werk: Evangelina Rodríguez y Atonio Tordera: Calderón y la obra corta dramática del siglo XVII. London: Tamesis Books Limited 1983.

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EL

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Compendio IIa*

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EL

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TOSO, E N E L Q_V A L 1 T tontieiun muchos p'ffoi griciofot dttextcQe* te Paetá y grdciofo rrprefcntintc Lop» - dt KmeJí.ptrt poner en principio/ y euremedia de Coüoquioi.y ComeJijl,

Recopilado! por loan Timoneda.

ImprefToi ton licencia y Priuilcgio Real por quatroañot. 1 ^ 7 , y Viden/t tn caf* dt loa Timoneda. Titelblatt der ersten Auflage des Bandes El Deleitoso (Der Vergnügliche), in welchem Juan de Timoneda im Jahre 1567 posthum einen Teil der entremeses von Lope de Rueda, des hauptsächlichen Schöpfers der Gattung, herausgab. Entnommen aus: Lope de Rueda: Pasos. Edición de Fernando González Ollé. Texto establecido por Vicente Tusón. Madrid: Ediciones Cátedra 21983, S. 88. Der Text des Titelblattes lautet: «Der Vergnügliche. Sammlung genannt Der Vergnügliche, in welchem viele witzige Passos (= Vor- und Zwischenspiele) des ausgezeichneten Dichters und lustigen Schauspielers Lope de Rueda enthalten sind, die sowohl vor als auch zwischen Colloquios und Comedias aufgeführt werden können». (Zu Ruedas Gewohnheit, seine Pasos auch als «Vorspiele» zu verwenden, vgl. Joseph A. Meredith: Introito and Loa in the Spanish Drama ofthe Sexteenth Century. Philadelphia 1928, S. 94 f.)

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einer Ehrenrache, die sich in diesen Kleingattungen immer gegen den Rivalen, nie - oder fast nie - gegen die Ehefrau richtet, nicht imstande. (III) Im dritten Fall (El desafío de Juan Rana) haben wir den im «entremés» seltenen Vorgang, daß dem Protagonisten eine Ehrenrache schließlich (unter recht eigenartigen Umständen) gelingt. I. «El Dragoncillo» Der kleine Dragoner, der zum Teil auf einen entremés von Cervantes (La cueva de Salamanca) zurückgeht?, wurde erst im Jahre 1708, lange nach dem Tode Calderóns, im Druck veröffentlicht.™ Hier wird uns gewissermaßen ein Gegenbild zu Don Gutierre, dem Arzt seiner Ehre, vorgestellt. Betätigt jener strikt den Wahlspruch «Toujours y penser, jamais en parier», so ist der gehörnte Gatte hier von solch «aristokratischer» Selbstdisziplin weit entfernt, führt er doch seine eheliche Ehre in teils ernsthafter Sorge, teils aber auch spaßhaft immerzu auf der Zunge. Glaubt er etwa, sich vor dem Dorfrichter wegen noch offenstehender Geldschulden verbergen zu müssen, so wendet er sich hilfesuchend an seine Frau: «Sag mir doch, wo wenn ich komme und ein anderer da ist - er sich versteckt.»11 Kann er bei der Rückkehr nach Hause nicht gleich eingelassen werden, weil «zufällig» der Dorfküster, der sacristán, zu Besuch ist, kommentiert er: «Brauchen die denn so lange, um sich zu verstecken?»^ 9

Vgl. zuletzt Jean Canavaggio: En Torno al «Dragoncillo». Nuevo examen de una reescritura», in: Estudios sobre Calderón. Actas del Coloquio Calderoniano Salamanca 1985 (Editor Alberto Navarro González). Salamanca 1988, S. 9-16.

10

In: Flores del Parnaso (...). Zaragoza 1708. Vgl. Rodríguez/Tordera 1982, S. 61. - Zur (recht komplizierten) Textgeschichte des «teatro menor calderoniano» sei hier generell auf die «Noticia bibliográfica» dieser beiden Autoren verwiesen (R./T., S. 51-67).

11

Wir behalten auch für die hier vorgelegte Druckfassung des Vortrages durchweg die (ursprünglich aus Publikumsriicksichten verfertigten) Ubersetzungen des Calderónschen Textes bei und bringen die Originalzitate, z.T. etwas erweitert, in den Fußnoten. So die obige Stelle; es spricht der Ehemann (Gracioso): Garcioso. Decidme vos ¿adónde, cuando yo vengo y otro está, se esconde? (R./T.,S. 265; Vers 21/22)

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Gracioso. ¿Tanto en econderse tardan? (R./T.,S. 272; Vers 184)

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Er meint hier, nur geistreich zu sein, und ahnt nicht, wie sehr er die Wahrheit trifft. Seine ständige Beunruhigung durch den Gedanken der Ehre bestätigt auch die Ehefrau, die dem frisch einquartierten Dragoner ihren Mann mit den Worten vorstellt: «Es ist mein Gatte, der zittert, wenn ein Soldat - gleich welcher Kompanie - im Haus verweilt.»13 Der Ehemann sucht dieses Zittern teils durch Späße (die ahnungslos die Wirklichkeit treffen), teils durch ein zur Schau gestelltes Vertrauen zu überspielen. Als er sich von zu Hause entfernen muß, sperrt er den jungen Dragoner zwar in den Strohschuppen ein, übergibt jedoch seiner Frau den Schlüssel zum Schuppen und versichert salbungsvoll: «Hier will ich das Vorbild eines großartigen Gatten geben. Der Schlüssel meiner Ehre, Frau, ist dieser; bewahr' ihn hier und, bitte, keine Widerrede. Denn das Vertrauen ist es, was die größte Sicherheit gewährt. Nimm ihn; schließe du.» 14 Daß es sich hier um eine bloße Attitüde handelt, zeigt ein «aparte» gesprochener Satz, der diese «Geste des Vertrauens» begleitet: «O, während ich weg bin, Wurm (= Wurm der Ehre), verschon' mich mit deinen Bissen.» 15 Von Unruhe getrieben kehrt der Gatte denn auch alsbald wieder ins Haus zurück, um seiner Frau (in der bereits angeklungenen bäuerlichen Metaphorik) zu gestehen: «O Küken der Ehre, wie 13 Soldado. ¿Quién es este pazguato? Teresa. Mi marido, que tiembla cuando en casa ve alojado de cualquier Compañía algún soldado. (R./T.,S. 268; Vers 94/96) 14 Gracioso Aquí he de ver un primor de gran marido. La llave de mi honor, mujer, es ésta; (Dale una llave.) cátala aquí, no quiero más respuesta. Porque la confianza es la que más seguridad alcanza. Tómala, cierra tú. (R./T.,S. 269; Vers 120/25) 15 Gracioso. (¡Oh, en esta ausencia, no me muerdas, gusano, la conciencia! (Ap.)) (R./T.,S. 269; Vers 125/26)

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sehr du doch scharrst!»i6 Eilends überzeugt er sich, daß die Tür zum Strohschuppen noch geschlossen ist, um dann erleichtert zu konstatieren: «Wie lohnt sich's doch, wenn man als Gatte seiner Frau vertraut.»17 Er ahnt nicht, daß von dem «kleinen Dragoner» schon deshalb keine Gefahr droht, weil der wirkliche Rivale, der sacristán, sich zwischenzeitlich bereits in seinem Haus zum Rendez-vous eingefunden hat. Wegen der unerwarteten Rückkehr des Gatten hat sich der Küster allerdings unter dem Tisch versteckt, wo er der Dinge harren muß, die da kommen sollen. Mit unter dem Tisch und den herabhängenden Tischtüchern befinden sich auch all die mitgebrachten Köstlichkeiten, mit denen der Küster seiner Freundin und ihrer mitwissenden Dienerin ein Abendessen spendieren wollte. - Hier nun wittert der Dragoner, der von seinem Gefängnis aus die Situation durchschaut hat, seine Chance. Er will auf Kosten des in der Falle sitzenden Küsters jetzt doch noch an das Abendessen kommen, das ihm die knauserigen Wirtsleute bei seiner Ankunft verweigert hatten. Mit Hilfe eines Vorwands befreit er sich aus dem Strohschuppen und verspricht dem Mann, der mehr noch als auf seine Ehre, auf Materielles erpicht ist, ihnen allen - dem Ehemann, seiner Frau, der Dienerin und sich selbst - durch Teufelsbeschwörung ein köstliches Mahl zu verschaffen. Diese Beschwörung wird unter der grotesken Assistenz des Gatten durchgeführt; dem unter dem Tisch versteckten Küster bleibt keine Wahl, als die ihm von dem Dragoner zugeteilte Rolle des Teufels zu spielen und das mitgebrachte Essen zwischen den Tischdecken heraufzureichen. Erst zum Schluß, als der Küster und die beiden Damen schlimmste Ängste über den Ausgang des Experiments durchgestanden haben, darf der ausgenommene Liebhaber 16 Gracioso. ¡Ay polilla del honor, y cuánto escarbas! (R./T.,S. 272; Vers 189/90) 17 Teresa. ¿A qué vienes? Gracioso. (Va hacia el paño.) Muy bien puesta está la tranca. ¡Lo que hace hacer un marido de su mujer confianza! (R./T., S. 272; Vers 193/196)

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im Schutze eines rechtzeitig zur Explosion gebrachten Knallkörpers - aus dem Hause entwischen.

ENTREMESES V A H I O S .

REPARTIDO EN DIEZ; y smtDt Éntreme/e* nuevos.

ESCOGIDOS DE LOSMEpRESJNGENIOS D E E S F A M Ai

ÜlMftft CtäktTjMtTfia deÜ brosScnie». fe «/» caf* 4 U ffimiu de U VUterit.

Titelblatt der Sammlung Lorbeer verschiedener «entremeses», Zaragoza 1660, in welcher auch verschiedene Zwischenspiele Claderons erstmals veröffentlicht wurden. Entnommen aus: Pedro Calderón de la Barca: Entremeses, jácaras y mojigangas. Edición, introducción y notas de Evangelina Rodríguez y Antonio Tordera. Madrid: Editorial Castalia 1982, Vorseite zu S. 159.

Der Gefoppte ist nicht nur der Küster, der hier - obwohl Angehöriger eines quasi geistlichen Standes - für einmal dem Soldaten unterlegen ist und daher Rache für seine Demütigung schwört, sondern auch der ständig auf seine Ehre bedachte Ehemann, dem das Verhältnis zwischen seiner Frau und dem Küster bislang schon entgangen war, und der auch diesmal - nicht zuletzt wegen seiner Gier nach dem gratis servierten Abendessen - die Gelegenheit verpaßt

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hat, der Ehebrecherin auf die Schliche zu kommen. Ein wesentlicher Aspekt der Komik dieses entremés beruht in der Tat auf der Diskrepanz zwischen der ständig verbalisierten Sorge des Gatten um seine Ehre und der faktischen Blindheit für deren ständige Verletzung. Das Publikum lacht über dieses Auseinanderklaffen von Anspruch und Wirklichkeit. Indem es sich hier jedoch über ein Beispiel verletzter ehelicher Ehre amüsiert, lacht es über etwas, worüber es sonst nach spanischer Auffassung (oder sagen wir besser: nach Auffassung des spanischen «Ehrendramas») wenig zu lachen gibt. Darf es das? Ja, es darf, - sofern die nötigen Vorsichtsmaßnahmen getroffen sind. Diese befolgt Calderón (und die Gattung des entremés) allerdings zumeist peinlich genau. So sorgt er dafür, daß der gehörnte Ehemann von Anfang an negativ markiert ist. Nicht nur, daß er nicht dem Adel angehört, dem im eigentlichen Sinne Ehre (und Ehrenrache) zusteht; die negative Markierung geht viel weiter: Schon im Personenverzeichnis des Stückes, dann aber auch wohl in Kleidung und Gestik, insbesondere jedoch in seinen Reden, tritt der gehörnte Ehemann als der traditionelle gracioso villano auf, also jene Art von Bauerntölpel, auf dessen Kosten ohne Konsequenzen gelacht werden darf. Die Ehre dieses Tölpels (auch villano bobo genannt), dem nicht nur die Ehre, sondern auch die Selbstbeherrschung des Ehrenmanns abgeht, der sich mit seiner vermeintlichen Ironie nur noch weiter lächerlich macht, konnte dem Publikum gleichgültig sein. Uber Dinge auch einmal lachen zu dürfen, die sonst von der Aura «blutigen» Ernstes umgeben sind, mag ihm angenehm gewesen sein; in seiner eigenen Ehrauffassung brauchte es sich deshalb nicht verunsichert fühlen. Im Gegenteil: daß «Ehre» keine Sache für Bauerntölpel ist, darüber wird es einen klassenüberschreitenden Konsens im Publikum gegeben haben.

II. «Guardadme las espaldas» Eine ähnliche Reaktion mag man sich im Falle unseres zweiten entremés vorstellen, dessen Titel mit Haltet mir den Rücken frei zu übersetzen wäre (erstmals veröffentlicht 1663).™ - Der gehörnte Ehemann 18

In: Tardes aparíbles de gustoso entretenimiento (...). Madrid 1663. Vgl. r./T., S. 59 (und S. 57).

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ist auch hier ein gracioso bobo, vielleicht mehr städtischer Provenienz. Bei seinem ersten Auftritt entdeckt er gerade, daß die Finger seiner Hand nicht von gleicher Länge sind. Die etwas schwierigere Entdeckung, daß seine Frau gleich mehrere Liebhaber hat, ist ihm indes noch nicht gelungen. Dazu braucht es die Mithilfe eines älteren Anverwandten, der jedoch keinesfalls aus Altruismus handelt, da er hofft, sich der Rache des Ehemannes zu bedienen, um sich selbst der Konkurrenz seiner Rivalen zu entledigen. Von den intellektuellen und sonstigen Fähigkeiten seines Schützlings hat der interessierte Denunziant indes eine so geringe Meinung, daß er eine «stellver-tretende» Ehrenrache durch einen valiente, einen bestellten Totschläger, vorschlägt. - Kaum hat sich dieser ach so besorgte Freund und Verwandte zwecks Beschaffung des valiente vom Ehemann vor der Tür des Hauses verabschiedet, erscheint auch schon ein erster galán, der sich bei Lorenzo, dem Ehemann, mit folgendem «Argument» Einlaß verschafft: «O Lorenzo! Hört mir gut zu! Von Adel seid Ihr, vernünftig seid Ihr und Ihr seid tapfer. Ich geh' ins Haus, Eure Frau zu besuchen. Doch sollte einer bei ihrem Gatten mich verpfiffen haben, so haltet mir den Rücken frei; Ihr seid mein Freund, ich zähl' auf Euch, bin gleich zurück.»19 Kurz darauf bahnen sich zwei weitere galanes mit derselben Bitte, «Haltet mir den Rücken frei», den Weg ins Haus. Als schließlich der «väterliche Freund» mit dem valiente zurückkehrt, ist dieser mitnichten der erwartete Rächer der Ehre, sondern erweist sich als «Nummer 4». Auch er fordert den Gatten auf, «Haltet mir den Rücken frei», und drängt ins Haus; gefolgt von «Nummer 5», dem treusorgenden Anverwandten, der den nämlichen Freundschaftsdienst 19

Galán lo. ([Ap.] Lorenzo está a la puerta, mas no importa: que ha de valerme su simpleza extraña y allá tengo de entrar, que ésta es la maña): ¡Ah, Lorenzo! Escúchame atentamente, noble sois, cuerdo sois, y sois valiente; yo entro a ver a vuestra esposa, y por si ha habido quien algo le haya dicho a su marido, pues sois mi amigo, y de vos me valgo, guardadme las espaldas, que ya salgo. (R./T.,S. 220; Vers 103/21)

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erbittet. Als schließlich der Gatte selbst noch versucht, wenigstens als «Nummer 6» zugelassen zu werden, wendet er sich mangels eines Ansprechpartners ans Publikum: «Haltet mir den Rücken frei/» - und stürmt gleichfalls hinein. Doch der Störenfried ist nicht erwünscht; er wird hinausgeworfen und verprügelt; zum Schluß muß er gar zur Belustigung aller noch tanzen. Doch er trägf s mit Gelassenheit, indem er auf ein wohlbekanntes zeitgenössisches Sprichwort anspielt: «Cornudo y apaleado, mandadle que baile, o mandarle bailar» (in etwa: «Gehörnt und geprügelt, laßt ihn noch tanzen, ja befehlt ihm zu tanzen»).20 Statt mit der Ehrenrache endet unser entremés regelrecht mit dem Triumph der «Rivalen», zu dem der Ehemann, der «den Rükken freihält», als freiwillig-unfreiwilliger Komplize beiträgt. Und nicht nur dies: Er akzeptiert diesen Triumph mit seiner masochistischselbstironischen, ins Sprichwort gekleideten Unterwerfungsgeste. Das Publikum kann über die hier vorgeführte - serienweise - Verletzung der Ehre lachen, ohne das Gefühl zu haben: «Tua res agitur». Der gehörnte Ehemann ist in der Tat ein so unrettbarer Dummkopf, daß auch der schlichteste Zuschauer sich haushoch überlegen fühlen konnte. III. «El desafío de Juan Rana» Etwas anders liegen die Verhältnisse bei unserem letzten Beispiel, Juan Ranas Herausforderung zum Duell (Erstveröffentlichung 1663)21. Vom äußeren Ablauf her darf dieser entremés als die größte Annäherung an ein drama de honor bezeichnet werden: Der Ehemann wird hier nicht nur auf seine verletzte Ehre «aufmerksam»; es kommt auch zum Duell und zur Wiederherstellung der Ehre durch den Sieg über den Rivalen. Diese äußere Ähnlichkeit des Ablaufs läßt jedoch den parodistischen Charakter dieses Werkes um so deutlicher hervortreten: Fast Punkt für Punkt findet eine zumindest implizite Be20

Lorenzo. Y mandábanle bailar como quien no dice nada. (R./T., S. 225; Vers 246/47 mit Hinweis auf das im Text «zitierte» Sprichwort, das wir oben leicht «modernisiert» wiedergeben).

21

In: Tardes apacibles de gustoso entretenimiento (...). Madrid 1663. Vgl. R./T., S. 59 (und S. 57).

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Portrait des großen Schauspielers Cosme Pérez, der unter dem Künstlernamen Juan Rana («Johannes Frosch») auftrat, u.a. auch in dem hier besprochenen entremés Calderons Juan Ranas Herausforderung zum Duell. (Entnommen aus: Josef Oehrlein: Der Schauspieler im spanischen Theater des Siglo de Oro (1600-1681). Untersuchungen zu Berußbild und Rolle in der Gesellschaß. Frankfurt: Verlag Klaus Dieter Vervuert 1986 [Titelblatt]. - Vgl. auch unsere Fußnote 22.)

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zugnahme auf das Ehrendrama statt, und doch passiert alles gerade umgekehrt als es danach zu erwarten wäre; die Welt der Ehre und Ehrenrache erscheint zu einer verkehrten Welt verfremdet. Juan Rana22, der Ehemann, kommt in mürrischer Gemütsverfassung nach Hause. Seine Frau liest ihm seiner Verspätung wegen «die Leviten» und entlockt ihm schließlich den Grund seiner Verärgerung: Rana hat erfahren, daß seine Ehre ins Gerede gekommen ist; er ist als marido sufrido beschimpft worden, als Ehemann, der um seine «Hörner» weiß und sich auch noch damit abfindet. Auch hat er eine Tracht Prügel von dem vermutlichen Rivalen bezogen. - Rana tut hier alles, was einem «Mann von Ehre» nicht erlaubt ist: Er gibt seinen Groll zu erkennen, wird von seiner Frau zur Rede gestellt und läßt sich sogar zu Geständnissen herbei. Auch alles andere geschieht anders als zu vermuten: Die Ehefrau, die ihren Mann wohl tatsächlich betrügt, muß diesen erst darüber belehren, daß er solch üble Nachrede nicht dulden darf, seine Ehre durch Duell wiederherstellen muß. Rana möchte all dies am liebsten überhört haben. Seine Frau muß ihn erst aufklären, wie, mit welcher Contenance, man dem Gegner im Duell entgegentritt. Als eifriger Schüler wiederholt er die Belehrung, und seine Bewegungen machen die Parodie nur noch grotesker. Die Ehefrau drängt auf schriftliche Aufforderung zum Duell; das entsprechende Schreiben, das ihr der Ehemann diktiert, gerät zur Parodie einer carta de desaßo. Ranas Abschied von seiner Frau, die - wie wir hier erfahren - drei Monate nach der Heirat einen, wie Rana meint, legitimen Sohn zur Welt gebracht hat, ist herzzerreißend. Doch die Frau reagiert unsentimental: «Schaut, ich rate Euch, mich mit Ehre wiederzusehen oder tot in Euer Haus zurückzukehren.»23 Von diesen Worten begleitet schwankt Rana sei-

23

22 Zu dem Schauspieler «Juan Rana», dessen Vorname Cosme (von dem Eigennamen Cosme Pérez) im Text des entremés erscheint, vgl. R./T., S. 201, Fußnote, sowie die Biografía de Juan Rana bei Cotarelo (1911: clvii-clxiii). Zum Auftreten von Schauspielern «unter ihrem privaten Namen» vgl. Josef Oehrlein: Der Schauspieler im spanischen Theater des Siglo de Oro (1600-1681). Untersuchungen zu Berufsbild und Rolle in der Gesellschaft. Frankfurt: Verlag Klaus Dieter Vervuert 1986, S. 162 f., sowie Sebastian Neumeister: Mythos und Repräsentation. Die mythologischen Festspiele Calderóns. München 1978, S. 225. Bernarda. Cobarde, villano, necio, a enviar voy el papel, y mirad que os aconsejo

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ner Ehrenpflicht entgegen: «O Gott, jetzt wird's ernst; es gibt keinen Zweifel: es ist aus. Ich soll mich duellieren, ich meinen Gegner fordern! Der bloße Gedanke macht mich zittern.»24 - Die Gegner treffen sich; Rana versucht letzte Ausflüchte und versetzt dann dem schneidig auftretenden Rivalen einen «pantuflazo», einen Schlag mit dem Pantoffel, so daß dieser zu Boden geht. Rana, der Hasenfuß, ist - für einen Augenblick - der Größte. Die Polizei kommt dazu, und Rana brüstet sich: «Ich habe mich mit hundert duelliert; neunundneunzig sind geflohen: dieser hier liegt, Krallen nach unten, tot am Boden. »25 Rana wird verhaftet; doch die bloße Bitte seiner herbeigeeilten Frau reicht aus, ihn auch gleich wieder freizubekommen. - Der entremés endet, wie üblich, mit Musik und Gesang. Die Frau singt: «Nur weil er tapfer ist, will man Juan Rana verhaften. »26 Und Rana ergänzt iroque vengáis a verme honrado o volváis a casa muerto. (R./T., S. 208; Vers 139/43) 24

Cosme. Por Dios, que esto va de veras, no hay que dudar: esto es hecho. ¡Yo reñir, yo desafío! De sólo pensarlo tiemblo. (R./T.,S. 208; Vers 144/47)

25

Cosme. He reñido con cien hombres: los noventa y nueve huyeron, y a éste, con la zambullida, uñas abajo le he muerto. (R./T., S. 211; Vers 190/93)

26

Die Schlußpassage des «entrémes» lautet im ganzen: Gil. Ea, pues acabe en baile lo que empezó en prendimiento. (Canta.) Bernarda. Por valiente a Juan Rana prenderle quieren. Cosme. Eso es lo que se saca de ser valientes. Bernarda. Ya es valiente Juan Rana, ténganle miedo. Cosme. Para cuando las ranas tengan más pelo. (R./T., S. 212 f.; Vers 208/17)

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nisch: «Ja, das hat man davon, wenn man tapfer ist.» Die Frau, ganz stolz auf den Mann, den sie wohl weiter «entehren» wird: «Juan Rana ist jetzt ein tapferer Mann: habt Angst vor ihm.» Doch Rana, der Hasenfuß, jeder Wiederholung von Heldentaten abhold, beugt vor mit einem Wortspiel («rana» = der Frosch): «Ja, für den Fall, daß den Fröschen mehr Haare wachsen.» Er weiß: Seine Ehrenrache ist kein Fall zur Wiederholung; der groteske Sieg mit dem Pantoffel war ein Zufallstreffer. Es läge nahe, Juan Ranas Herausforderung zum Duell dem bisher angewandten interpretatorischen Schema zu unterwerfen. Rana wäre dann (wie die Tölpel der beiden früheren Werke) als eine bloß negative Gestalt zu sehen, was «Rückwirkungen» beim Publikum auf die «sonstige Gültigkeit» der Ehrenideologie ausschließen würde. Claude Chauchadis geht in einem Aufsatz des Jahres 198027 in diese Richtung. Danach hätte es bezüglich der Verdammung der von Rana verkörperten Eigenschaften (marido sufrido; falta de hombría) einen gewissermaßen ständeübergreifenden Konsens gegeben, wodurch insinuiert wird, das Urteil über Rana sei damit im ganzen schon gesprochen. Gerade dies darf jedoch bezweifelt werden. Zwar ist der «Mangel an Mannhaftigkeit» (der überhaupt erst zu den grotesken Szenen parodistischer Umkehrung führt) ein ganz gewichtiger Aspekt der Komik des Stückes. Der Gipfel der Komik wird jedoch da erreicht, wo gerade der Hasenfuß Rana den Sieg über seinen schneidigen Rivalen davonträgt. Der unritterliche Angsthase macht sich hier doch irgendwie sympathisch, und dies mag einer wenigstens partiellen Identifikation mit Rana von seiten eines volkstümlicheren Publikums förderlich sein. Indem gerade dieses Publikum über den Protagonisten lacht, lacht es zwar auch über sich selbst und seine eigenen Ängste; zugleich aber genießt es den Zufallssieg Ranas als den seinigen. Mit Ranas Pantoffelschlag geht ja nicht nur dessen (ebenfalls «bürgerlicher») Rivale zu Boden; auch die Exklusivität der vom Adel geprägten Ehrauffassung (zuvor schon Gegenstand der Parodie) bleibt nicht ohne Schaden. Hier wird 27 Vgl. Claude Chauchadis: «Risa y honra en los entremeses», in: Risa y sociedad en el Teatro español del Siglo de oro. Actes du colloque du Groupe d'Études sur le Théâtre Espagnol. Toulouse 1980, S. 165-185 (speziell S. 177 f.).

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in der Tat demonstriert: «Selbst ein Hasenfuß repariert seine Ehre, wenn es denn unbedingt sein muß.» Und auch noch dies, «daß es denn unbedingt sein müsse», wird durch den Sieg Ranas nicht gerade bestätigt. Für den Protagonisten ist in der Tat das bloße Leben, das «Überleben», weit wichtiger als die «Ehre»; sein Zufallstreffer ist nur das Resultat einer Nötigung von seiten der Ehefrau. - Eher im Sinne von Chauchadis mag jener Teil des Publikums reagiert haben, der sich stärker der Ehrauffassung des Adels verpflichtet fühlte. Hier mag Herablassung und Verachtung für Ranas falta de hombría, für seinen «feigen» Zufallssieg, dominiert haben. Doch diese bewußte Reaktion trifft sicher nur einen Aspekt: Im wenigstens spielerischen Sicheinlassen auf den von Rana verkörperten Zweifel («ob es denn unbedingt sein müsse»), im Lachen über die unheroische Philosophie des Protagonisten, mag auch hier ein vielleicht unbewußtes Gefühl der Befreiung über die provisorische (wenn auch auf Rana beschränkte) Außerkraftsetzung des Ehrenkodex empfunden worden sein, dessen bedrückende Normen ja gerade der adelige Protagonist des Ehrendramas zu beklagen pflegt. Durch das im Medium des Lachens mögliche Eingehen auf Ranas «Lebensphilosophie» mag auch der in seiner «Phüosophie des Todes» befangene Adel eine zeitweilige Entlastung von der eigenen Ideologie, eine Art «moralischer Ferien» (Eugenio Asensio28) genossen haben. Aus meiner bisherigen Kommentierung läßt sich entnehmen, daß ich den «subversiven» Gehalt der Zwischenspiele Calderóns, der heute z.T. das Interesse der Interpreten weckt29, gering einschätze. Man darf ja nicht übersehen, daß die meisten der etwa von Rodri-

28 Vgl. Asensio 21971, S. 35. 29 Ich zitiere hier zur Illustration folgende Fassage aus der Rezension Franco Meregallis zu Diez Borque (1984; vgl. unsere Fußnote 6): «Un problema ancora più essenziale affiora (affiora appena) in ciò che scrive Diez Borque. Questi afferma che alcuni sostengono che il messaggio contenuto nella pieza mayor viene annullato o sovvertito da quello delle piezas menores», «incluso en esa área inamovible barroca de los dogmas y creencias religisas» (p. 81), posizione «que no comparte». Mi pare quasi impossibile che qualcuno pensi davvero che sotto sotto Calderón velesse negare i dogmi che ufficialmente esaltava». Vgl. Rassegna ¡beristica 28 (maggio 1987), S. 40.

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guez/Tordera abgedruckten siebzehn entremeses Calderóns (hinzu kommen noch zwei jácaras und fünf mojigangas)30 von vorneherein so beschaffen sind, daß hier Haltungen und «Laster» der Lächerlichkeit preisgegeben werden, die sowieso als gesellschaftlich tadelnswert aufgefaßt werden, (so daß diese Werke als ideologisch eher «affirmativ» zu bezeichnen sind). Andere Zwischenspiele liegen thematisch geradezu auf dem Gebiet des moralisch und ideologisch Indifferenten. In einem entremés mit dem zweideutigen Titel La rabia (die Wut; die Tollwut) irrt sich z.B. ein Tollwutbeschwörer beim Hausbesuch in der Tür seiner Patientin und gerät versehentlich in die falsche Gesellschaft. Dies hindert ihn jedoch nicht daran, die zufällig gerade hier versammelten Personen, die auf ihre Weise von «rabia» gebissen sind, reihum zu kurieren. Die Wirkung des entremés beruht wesentlich auf der Komik der Situation und erschöpft sich auch in ihr. Die ideologiekritische Brille zu bemühen, wäre hier Pedanterie. Immerhin sind die drei zuvor präsentierten entremeses dadurch ausgezeichnet, daß hier Normen und Vorstellungen, die in der Großform des Dramas (und der Ideologie der Gesellschaft) als sakrosankt erscheinen, ins komische Spiel einbezogen und vielleicht sogar von ihm tangiert werden. Doch gerade hier ist, wie schon angedeutet, die Vorsicht Calderóns auffällig. Zwar bleibt der fortgesetzte Ehebruch im ersten entremés unter allgemeinem Gelächter unentdeckt und im zweiten ungesühnt. Doch finden diese vacaciones morales mu- unter der Bedingung statt, daß es sich hier um die honra burlada zweier so tölpelhafter Protagonisten handelt, daß sich bewußt niemand mit ihnen identifizieren möchte. Aus dem komischen Spiel kann hier nicht nur kein Einwand gegen die Ehrenideologie, sondern fast noch eine Bestätigimg gezogen werden: Das Gelächter richtet sich auf den gehörnten Tölpel; es tangiert nicht die Ehrauffassung als solche. Letzteres geschieht jedoch wenigstens an30

Das von Rodríguez/Tordera vorgelegte Textkorpus beschränkt sich auf die weniger umstrittenen Titel. Die Diskussion um die Zuschreibbarkeit weiterer Werke ist in vollem Gange; vgl. etwa Javier Huerta Calvo: «Los géneros teatrales menores en el Siglo de Oro», in: El teatro menor en Esparta a partir del siglo XVI. Actas del Coloquio celebrado en Madrid/20-22 de mayo de 1982. Madrid: CSIC 1983, S. 30. Auch die Rezension von Franco Meiregalli zur Ausgabe von Rodríguez/Tordera beschäftigt sich weitgehend mit Zuschreibungsproblemen. Vgl. Rassegna Iberistica 21 (dicembre 1984), S. 33-36.

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satzweise bei Juan Rana, durch dessen grotesken Sieg wenigstens für einen Teil des Publikums - im Medium des Lachens - die Exklusivität der Adelsehre, ja die Ehrenideologie selbst (und die Pflicht zur Ehrenrache) relativiert erscheinen mag. Hier ist sozusagen das Maximum an «Subversion», dessen Calderón fähig ist, erreicht. Gerade hier muß aber auch die Praxis der Aufführung berücksichtigt werden, um die eventuelle Wirkung der Kleingattungen des Theaters beim Publikum des siebzehnten Jahrhunderts einzuschätzen. Das teatro menor ist ja nicht selbständig; es hat gegenüber dem teatro mayor von vorneherein untergeordnete Funktion. Die «moralischen Ferien» des entremés (wenn sie denn - in verschiedenen Graden und mit all den erwähnten Absicherungen - stattfinden) dauern immer nur für die Zeit zwischen den Akten des Hauptwerks. Dann fordert die «Moral» wieder ihr Recht und die adelige Ehrenmoral sogar bis zum blutigen Ende. Auch bei Juan Ranas Herausforderung zum Duell, die man wohl als einen wirklichen (burlesken) Kontrapunkt zum «Ehrendrama» bezeichnen kann, darf dieser Gesichtspunkt nicht vergessen werden. Auch der groteske Sieger, der hier zwischen den Akten seinen Auftritt hat, ist gewissermaßen selbst von dieser Rangordnung überzeugt. Er weiß, daß er mit seiner unheroischen Philosophie nicht in ernsthafte Konkurrenz zur heroischen Philosophie des Ehrendramas treten kann und läßt dies in seiner ironischen Selbstrelativierung am Schluß anklingen. - Die Bedingungen, unter denen der entremés steht, (1) seine faktische Unterordnung unter das Drama bei der Aufführung, (2) die in ihm selbst beobachtbaren (man könnte fast sagen: seiner Struktur inhärenten) «Absicherungen», lassen ganz allgemein gesprochen die Funktion der hier gewährten «moralischen Ferien» eher als die eines Ventils, nicht einer Infragestellung, erscheinen. Sie dienen nicht der Zerstörung, sondern der besseren Eintragbarkeit der Ordnung und lassen die «Ferien von der Ordnung» immer wieder in die erneute Bestätigung der Ordnung einmündend «T

31 Auf den «karnevalistischen» Hintergrund der Gattung entremés (und das Werk von Mikhail Bakhtine über Rabelais) verweisen sowohl Chauchadis (1980: passim) als auch Huerta Calvo (1982:47).

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DAS «AUTO SACRAMENTAL» CALDERONS UND SEIN ZUSAMMENHANG MIT DEM FRONLEICHNAMSFEST Vor etwas mehr als einem Jahrhundert, am 20. Mai 1881, fand in der Fonda Persa des Madrider Retiro-Parks ein Festessen statt, das die Madrider Universität den Teilnehmern an den Feiern zum 200. Todesjahr von Calderón gab. In der politisch angespannten Atmosphäre der Zeit, die vor allem vom Streit um die Freiheit der universitären Lehre geprägt war, hielt Menéndez Pelayo seine vielleicht polemischste Rede mit dem sogenannten Brindis del Retiroi, dem Trinkspruch von Retiro-Park, in der er die provozierende Klischeevorstellung von Calderón als dem Dichter der spanischen Gegenreformation, dem martillo de herejes, dem «Ketzerhammer» (wie Hugo Schuchardt Menéndez Pelayo selbst in einem Brief unmittelbar nach der Rede nennen sollte), dem Sinnbild des inquisitorischen Spaniens, dem Dichtertheologen prägte. Allerdings scheint es mir nicht unangebracht, auch daran zu erinnern, daß der Brindis das Ergebnis einer langen geschichtlichen Entwicklung ist, in deren Verlauf die autos sacramentales insgesamt und die Calderóns im besonderen Ausdruck, oder wie dieser selbst sagte, literarische Darstellungen (argumentos) eines komplexeren Sachverhalts (asunto) waren: der Polemik um Sinn und Wert der spanischen Geschichte, einer Polemik, die ihren Ursprung in der 1

Vgl. den Text des Trinkspruchs in der Ausgabe der Obras Completas. Madrid: C.S.I.C. 1941, Bd. III «Estudios, Discursos de crítica histórica y literaria».

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These von der Existenz zweier diametral entgegengesetzter Spanien (las dos Españas) hat. Was die autos sacramentales angeht, so wurde diese Polemik im Jahr 1765 eröffnet, als deren Aufführung verboten wurde. Sie besteht bis in unsere heutige Zeit und verfälscht und verzerrt die Analyse und Bewertung der autos sacramentales noch immer. Dies hat zur Folge, daß man in der einschlägigen spanischen Literatur entweder auf eine radikale Verurteilung der autos sacramentales stößt (selbst ein in seinen Ansichten so gemäßigter Mann wie Jovellanos nannte, um nur ein Beispiel zu geben, die Aufführungen der autos sacramentales einen «abergläubischen Brauch») oder aber eine maßlos überzogene Apologie findet, die, wie es N. González Ruiz deutlich macht, selbst davor nicht zurückschreckt, die Gegner der autos sacramentales als «Ketzer und Freimaurer» anzuklagen. Wie so oft verdanken wir es den außerspanischen Hispanisten, daß wir uns nunmehr wissenschaftlich mit Texten auseinandersetzen können, die für uns Spanier lange Zeit fast ausschließlich Stein des Anstoßes oder Objekt ideologischer Manipulation gewesen sind. Dank ihrer Hilfe sind wir in der Lage, die Texte Calderóns unvoreingenommen und ohne leidenschaftliche Parteilichkeit zu lesen (wie viele Vorurteile mußte Unamuno überwinden!). Ihr Wert besteht für uns nicht mehr darin, ob wir uns - sei es im Positiven oder Negativen - in ihnen wiederfinden. Wir lassen uns jetzt vielmehr auf ihre völlige Andersartigkeit ein und analysieren sie als Texte auf den verschiedenen Ebenen, die sie der wissenschaftlichen Untersuchung anbieten. Vor diesem Hintergrund müssen wir uns zunächst einmal fragen, ob das auto sacramental, wie es zumindest seit Menéndez Pelayo immer wieder behauptet wird, wirklich der künstlerische, speziell der dramatische Ausdruck des spanischen Katholizismus der Gegenreformation war. Wir verfügen hier nicht über die nötige Zeit, um die Geschichte des auto sacramental als literarische Gattimg zu skizzieren. Das hervorragende Werk von Bruce W. Wardropper2 enthebt uns dieser Mühe, auch wenn vielleicht einige seiner Aussagen zu nuancieren wären. Hier soll lediglich hervorgehoben werden, daß die autos sacramentales keine unmittelbare Folge 2

Wardropper, Bruce W.: Introducción al teatro religioso del Siglo de Oro. Madrid: Revista de Occidente 1953.

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der Gegenreformation sind, sondern das Ergebnis eines dialektischen Prozesses innerhalb des religiösen Theaters, das, wenn wir einmal vom Problem seiner mittelalterlichen Ursprünge absehen, im Zusammenhang mit der liturgischen Tradition des Officium pastorum mit Juan del Encina seinen Anfang nimmt und in der Dichtimg Calderón de la Barcas seine höchste Vollendung erreicht. Dieser Prozeß bestimmt das auto sacramental nicht nur in seiner Textgestalt und in allen Elementen seiner Aufführung (Ort, Publikum, Organisation, Inszenierung, dramatisches Geschehen, Dekoration und Bühneneffekte, Musik, Lichteffekte usw.), sondern auch in dem sozialen, wirtschaftlichen, politischen, kulturellen und religiösen Kontext, vor dem sich die carro-Bühne des auto sacramental bewegt. Dennoch sei nachdrücklich darauf hingewiesen, daß all dies nicht besagen will, die autos sacramentales seien in ihrer Entwicklung etwa vom Dogma der Eucharistie unbeeinflußt geblieben, dem das Konzil von Trient ei-ne solch außerordentliche Bedeutung beimaß. Es genügt, an das Dekret De sanctissima Eucharistia zu erinnern, das in der 13. Sitzungsperiode des Konzils, am 11. Oktober 1551, verabschiedet wurde, während der auch der Begriff der Transsubstantiation, der in den Texten Calderóns einen solch großen Widerhall fand, seine Weihe erhielt. Andererseits darf auch nicht übersehen werden, daß die Blüte der autos sacramentales parallel zum profanen Theater des spanischen Barocks und in ständiger Wechselbeziehung zu ihm erfolgte. Schon 19403 (zur selben Zeit, als er die Gleichsetzimg von Gegenreformation und auto sacramental zurückwies und dieses vielmehr mit der präreformatorischen Bewegung von Kardinal Cisneros in Verbindung brachte) wies der immer scharfsichtige Marcel Bataillon auf diesen allem Anschein nach immer noch nicht völlig akzeptierten 3

Marcel Bataillon betont in seinem Aufsatz «Ensayo de explicación del Auto Sacramental» (zuerst in Bulletin Hispanique 42,1940, S. 193-212; wiederabgedruckt in M.B.: Varia lección de clásicos españoles. Madrid: Credos 1969, S. 182-205), daß «(...) die Entstehung eines eucharistischen Theaters, das für das Fronleichnamsfest bestimmt ist, keine Erscheinung der Gegenreformation zu sein scheint, sondern ein Phänomen der Katholischen Reform (...)»(S. 189). An anderer Stelle schreibt er: «(...) Es wird nötig sein aufzuzeigen, wie hier eine richtige Politik der öffentlichen Schauspielaufführungen am Werke ist, die im speziellen Fall des Fronleichnamsfest die Waage zu halten versucht zwischen dem Wunsch des Volks nach Unterhaltung und den strengen Forderungen des reformatorischen Geistes» (S. 204).

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Sachverhalt hin. Gleichzeitig hob er die Notwendigkeit hervor, die autos sacramentales vor dem Hintergrund der «Theaterpolitik» der letzten spanischen Habsburger zu untersuchen. Diese «Theaterpolitik» war eng mit einer «Erziehungspolitik» verbunden, deren charakteristischste Formulierung zweifelsohne die Ratio Studiorum ist, aufgrund der seit 1599 das Theaterspiel in den jesuitischen Bildungseinrichtungen entschieden gefördert wurde. Die Bedeutung und Tragweite solcher Aktivitäten herauszustellen wäre hier müßig, da dies bereits J. Simón Díaz im Hinblick auf das Colegio Imperial4 sowie die von Jean Jacquot in Dramaturgie et Sociétés zusammengestellten Untersuchungen verschiedener Autoren mehr als deutlich gezeigt haben, um nur zwei Forschungsansätze sehr unterschiedlicher Ausrichtung und Vorgehensweise zu erwähnen. Ausgehend von diesen einleitenden Bemerkungen werde ich nun, wenngleich nur zusammenfassend und vorläufig, die autos sacramentales Calderóns aus einem semantisch-pragmatischen Blickwinkel heraus betrachten. Ich verstehe die autos sacramentales als Kommunikationsakte zwischen Autor und Publikum, die darauf gerichtet sind, eine ganz bestimmte kollektive Antwort hervorzurufen und dies in einem ganz konkreten Kontext: dem des Fronleichnamsfestes. Im Gegensatz zu anderen literarischen Genera besteht der Kommunikationsakt des auto sacramental nicht nur aus dessen Text, sondern umfaßt auch dessen Aufführung auf einer speziellen Bühne. Gewiß, mir liegt nichts ferner, als Sprache und Dichtung Calderóns geringzuschätzen; ich will sie auch nicht völlig zugunsten des Bühnengeschehens zurückstellen, was nicht nur einige Bühnenbildner des Barocks versuchten (man denke nur an Calderóns Auseinandersetzungen mit Cosme Lotti), sondern was zum Teil auch noch manchen heutigen Regisseuren vorschwebt. Mir geht es vielmehr darum, einige bislang nicht gebührend berücksichtigte hermeneutisch wichtige Grundsätze hervorzuheben, die zwar - bei oberflächlicher Betrachtung - als Banalitäten erscheinen, für das Verständnis des auto sacramental jedoch von größter Wichtigkeit sind: 4

Simón Díaz, José: Historia del Colegio Imperial de Madrid. Madrid: C.S.I.C. 1952. (2 Bde.).

5

Dramaturgie et société. Rapports sur l'oeuvre théâtrale, son interprétation et son public aux x v i e et XVIie siècles. Etudes réunies et présentées par Jean Jacquot. Paris: CNRS 1968.

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1. Das auto sacramental muß wie jedes andere Theaterstück auch, primär von der Aufführung her verstanden werden und nur in zweiter Linie aufgrund der Lektüre des Textes. 2. Die Kommunikation zwischen Autor und Publikum erfolgt über eine Reihe von Vermittlungsinstanzen wie handelnde Personen, Schauspieler, Inszenierung, denen in anderen Formen literarischer Kommunikation nicht die gleiche Bedeutimg zukommt. Die Bühnenanweisungen in den autos sacramentales dienen in hohem Maße dazu, den Sinn zu erläutern, den der Autor diesen Vermittlungsinstanzen geben will. 3. Der Bühnentext insgesamt resultiert aus dem - zeitlich versetzten Wechselspiel zwischen verbalem und ikonographischem Text, zwischen dem gesprochenen Wort sowie dargestellter Handlung und Bühnenbild. 4. Die Oralität des verbalen Textes bringt es mit sich, daß die durch ihn vermittelten Inhalte in rascher Folge und linear dargeboten werden, ohne die Möglichkeit, bereits Gesagtes zu wiederholen. Der ikonische Text dagegen erfreut sich zumindest in einem Teil seiner Bestandteile einer relativen Stabilität. So beinhalten die spezifischen Zeichen der beiden Texttypen aufgrund ihrer jeweiligen Beschaffenheit und Rezeptionsform ganz verschiedene, zum Teil komplementäre Möglichkeiten der Darstellung und Wirkung. 5. Der ikonische Text gewinnt erheblich an Bedeutung in Anbetracht des Rauschens (im linguistischen Sinn des Wortes), das sich während einer Aufführung im Freien und vor einem bunt gemischten, lärmenden und ausgelassenen Publikum notwendigerweise ergibt. Aus diesem Grund kommen dem ikonischen Text Funktionen der stützenden Interpretation und der Redundanz in Bezug auf den verbalen Text zu. Ausgehend von diesen elementaren und durchaus einsichtigen Voraussetzungen soll nun das Faktum der Aufführung von autos sacramentales im konkreten gesellschaftlichen Kontext ihrer Zeit dargestellt werden. Zunächst gilt es festzuhalten, daß ihre Aufführung fester Bestandteil des Fronleichnamsfestes war, das die Christen jeweils am ersten Donnerstag nach Trinitatis feierten, seit es Papst Urban IV. 1264 in seiner Bulle Transiturus de hoc mundo institutiona-

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lisiert hatte. Natürlich hat das Fest, das an die Einsetzung der Eucharistie erinnert, einen besonderen Bezug zum Gründonnerstag, doch das Wissen um den nahen Opfertod Jesu und die die gesamte Karwoche beherrschende Atmosphäre der Buße verhinderten - oder hemmten Zumindestens - jegliche Freudesbekundung. Das von Papst Urban festgelegte, am Sommeranfang liegende Datum verlängerte dagegen nicht nur den Auferstehungszyklus6, sondern schloß ihn sogar in gewisser Hinsicht ab. Es gab der Gemeinschaft der Christen die Möglichkeit, die Fülle ihres Glaubens unmittelbar zum Ausdruck zu bringen sowie die Gewißheit ihrer Hoffnung auf Erlösimg und die liebevolle, dankbare Erkenntnis, daß Gott als Freund und Bruder unter seinen Gläubigen stets gegenwärtig ist. Der heitere und triumphale Charakter dieses Festes wurde 1443 durch Papst Eugen IV. bestätigt, der der Mäzen von Botticelli war. Dieses Verständnis des Festes war ausschlaggebend für das Anfertigen der großen Prozessionsmonstranzen, auf die im folgenden noch einzugehen sein wird. Es ist hier nicht möglich, die bemerkenswerte Entwicklung des Fronleichnamsfestes vom Ende des 13. bis zum 17. Jahrhundert auch nur ansatzweise nachzuzeichnen. Als Calderón seine autos sacramentales verfaßt, zeigen die Feste in Madrid und Toledo bereits eine genau festgelegte Form, die für andere Orte und Städte Spaniens als Modell dient, wenngleich diese auch eigene Besonderheiten entwickeln. Das Fest ist um drei Akte zentriert: die Messe als feierliches Pontifikalamt, die Prozession und das auto sacramental. Die Messe und die Prozession werden umittelbar nacheinander am Morgen abgehalten, während die Aufführung des auto sacramental erst nach einer Unterbrechung für das Mittagessen - und vielleicht auch einer Pause für die Siesta - stattfindet. In Madrid wird das auto sacramental zunächst vor dem Königspaar, auf dem Platz vor dem Alcázar, gespielt; danach wird die gleiche Aufführung an verschiedenen Stellen der Stadt wiederholt. 6

Aus diesem Grunde ging das Bild des Auferstandenen bei der Prozession der Monstranz häufig unmittelbar voraus. Dies war z.B. der Fall bei der Prozession in Salamanca im Jahre 1605. Vgl. Girolamo da Somaia: Diario de un estudiante de Salamanca. Edición e introducción de George Haley. Salamanca: Universidad 1977, S. 360.

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Was nun die Feier der Messe angeht, so sollen hier aus Zeitgründen nur einige, in unserem Kontext besonders interessante Aspekte hervorgehoben werden. Dabei wird nicht in Abrede gestellt, daß sie auch andere, durchaus beachtenswerte Aspekte enthält, die bei einer umfassenden Analyse gleichfalls heranzuziehen wären. Als erstes wäre der theatralische und symbolische Charakter der Liturgie der Messe zu nennen. Dies gilt sowohl für die Struktur der Darbietung ihrer Texte als auch für die faktische Darbietung. Dieser Charakter wird während der großen kirchlichen Feste besonders hervorgehoben und erreicht im Zeitalter des Barocks nur schwer zu überbietende prunkvolle Ausgestaltungen. Hier sei nur - als ein noch heute lebendiges Beispiel - an den Tanz der Chorknaben (Jos seises) in der Kathedrale von Sevilla erinnert. Der Ablauf der Liturgie konnte aber noch erheblich komplexer werden: so durch die Anwesenheit des Königspaares, dem etwa, um nur ein Detail anzufügen, von den städtischen Oberen während des Offertoriums in zeremonieller Weise Kerzen und kleine Fackeln gereicht werden mußten.7 Außerdem ist auf die Bedeutimg der Predigt hinzuweisen. Mit ihr wurde eigens ein bedeutender Prediger betraut, dessen Auswahl häufig keine geringen Probleme aufwarf. Obwohl gleich noch einmal auf diesen Komplex zurückzukommen ist, sei doch schon angemerkt, daß das Konzil von Trient die Institution des Predigers wieder aufgewertet hatte und daß infolgedessen die Predigtanleitungen eine außerordentliche Entwicklung erfuhren und großen Erfolg hatten, wie es die Rhetorica ecclesiastica zeigt, die Fray Luis de Granada zuerst 1587 in Lissabon veröffentlicht hatte.8 Als zweiter wichtiger Punkt ist festzuhalten, daß an der Meßfeier des Fronleichnamsfestes nur ein zahlenmäßig beschränktes Publikum teilnimmt, da die Räumlichkeit keiner Kirche oder Kathedrale ausreichte, um die Menschenmengen aufzunehmen, die an dieser bedeutsamen Feier teilnehmen wollten. Besonders deutlich ist diese 7 8

Vgl. die Einführung zu dem Band Autos Sacramentales in der BibUoteca de Autores Espaüoles, t. LVIII: Madrid 1952. Ecclesiasticae Rhetoricae, sive de ratione concionandi libri sex, nunc primum in lucem editi (...). Olyssipone. Excudebat Antonius Riberius, expensis Joannis Hispani bibliopolae anno domini 1576 cum privilegio. Das Kolophon weist jedoch das Jahr 1575 aus.

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Beschränkung in Madrid, wo die Kirche Santa María la Real kaum der Königsfamilie, dem Adel und den Vertretern der Verwaltungsspitze Platz bot, zumal alle Plätze gemäß der strengen hierarchischen Ordnung des habsburgischen Zeremoniells eingenommen werden mußten. Schließlich sei noch erwähnt, daß innerhalb der relativen Chronologie der einzelnen Akte, aus denen sich das Fronleichnamsfest in seiner Gesamtheit zusammensetzt, die Meßfeier zeitlich als erste voll ausgeprägt worden war. Die wesentlichen Elemente ihrer Liturgie erlangen ihre Gestalt schon im 13. Jahrhundert, als Texte des hl. Thomas von Aquin in sie aufgenommen werden, von denen später einige - wie das Tantum ergo - in verschiedenen autos sacramentales erscheinen. Was nun die Prozession betrifft, so begann sie unmittelbar nach der Messe. Sie stellte sowohl die geistliche als auch die weltliche Obrigkeit oftmals vor nicht geringe Probleme, die sie gemeinsam lösen mußten. Schon im voraus hatte man den Weg, den die Prozession nehmen sollte, hergerichtet. Teppiche und Schabracken aus dem Besitz des Königs, des Domkapitels, der verschiedenen Staatsräte, des Adels und hochgestellter Persönlichkeiten ergänzen die kirchlichen Paramente, oder schmücken die Balkone, von denen aus die adligen Damen - unter ihnen die der königlichen Familie - den Vorbeimarsch betrachten und beim Vorbeizug der Monstranz Blütenblätter herabwerfen. Das Pflaster der Straßen wird dicht mit Blumen oder wohlduftenden Pflanzen wie Zypergras, Thymian und Rosmarin bedeckt; in einigen Fällen sogar mit verschiedenfarbiger Erde, wie es noch heute in einigen Orten auf den Kanarischen Inseln Brauch ist. In manchen Straßen schützen eigens angebrachte Sonnensegel die Teilnehmer vor den starken Strahlen der Junisonne. In bestimmten Abständen werden außerdem provisorische Altäre errichtet, an denen kurz Station gemacht wird. Desweiteren gibt es Triumphbögen, die mit eucharistischen Symbolen reich verziert sind. Dem hochaufgerichteten Kreuz voran schreiten Gruppen von Tänzern und Musikanten, Gestalten von Riesen und verkleideten

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Narren sowie weiteren allegorischen Figuren, darunter ein Ungeheuer, die tarasca - eine Schlange oder Drachen - die alle zusammen die Neugierde der Zuschauer wecken sollten, die Wartezeit verkürzten und, wie Covarrubias anführt, die einfachen Leute vom Land, «die am Tag des Herrn in den Städten zusammenströmen, vor Staunen ganz verstummen ließen». Nach dem Kreuz folgen in strenger hierarchischer Ordnung hinter ihren jeweiligen Wimpeln, Fahnen und Bannern die zahlreichen Vertreter der verschiedenen Stände, Zünfte, Laienbruderschaften, Kongregationen, der zivilen Körperschaften, der militärischen Orden, des Ordens- und Weltklerus.' Jede Gruppe zeichnet sich außerdem durch ihre Kleidung aus, die sich zu einer Symphonie von Farben zusammenfügt: das Braun der Waisenkinder aus dem colegio de San Ildefonso, einer städtischen Anstalt; das Blau der «Obdachlosen»; das strenge glänzende Schwarz der Gewänder der Ordensritter; das Weiß der pompösen Umhänge der Militärorden; die Farbenvielfalt der Mönchsgewänder und Chorhemden, der Meßgewänder und Pluvialen der Geistlichen etc. Den Schluß des Festzugs bildet endlich die Uniformenvielfalt der spanischen und deutschen Gardesoldaten sowie der Bogenschützen. Als Beispiel für diese Prachtentfaltung sei auf die schon von González Pedroso angeführten Prozessionsbeschreibungen verwiesen: die Prozession von Lissabon, die 1619 anläßlich der Ankunft Philipps III. stattfand und die von Madrid, die 1623 zu Ehren des Besuches durchgeführt wurde, den der Prinz von Wales Philipp IV. abstattete.^ Das Kernstück der Prozession ist die Monstranz, die das Altarsakrament der öffentlichen Verehrung darbietet. Es ist daher nicht unangebracht, auf die Bedeutung hinzuweisen, die den Prozessions9

Die Berichte, die uns Girolamo da Sommaia über die Fronleichnamsfeiern vom 9. Juni 1605 und vom 15. Mai 1606 liefert, sind insofern interessant, als sie die Ausrichtung dieser Feste in kleinen Städten wie Salamanca widerspiegeln. Sie erwähnen auch die strikte Rangfolge, in der die einzelnen Pfarreien an dem Prozessionszug teilnahmen (sowie die unvermeidlichen Streitereien darüber, welche Stelle jede von ihnen einzunehmen hatte). Der Vf. zeigt auch, daß zwischen den Ratsherren und den Adligen Meinungsverschiedenheiten darüber ausgefochten wurden, wer die Stützen der Monstranz und des Palliums tragen durfte. A.a.O., S. 360 f. und S. 506 f.

10 Vgl. die Beschreibung dieser Prozession bei Antonio de León Pinelo: Anales de Madrid. Hg. von Fernández Marín. Madrid 1971.

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monstranzen seit der offiziellen Bestätigung des Fronleichnamsfestes im Jahre 1443 zuwächst. Diese blühende Entwicklung läßt sich für Spanien am Beispiel der Dynastie von Goldschmieden - die der Arfe - verfolgen, die allem Anschein nach aus dem in der Kölner Bucht gelegenen Dorf Harff stammte. Schon 1501 beauftragt das Domkapitel von Léon Heinrich von Köln, der sich später Arfe nennen sollte, mit der Anfertigimg jener herrlichen Monstranz, die dem Dom gehörte und im Unabhängigkeitskrieg zerstört wurde und die derjenigen ähnelte, die man noch heute in Sahagún bewundern kann. 1515 ruft Kardinal Cisneros den selben Heinrich von Köln nach Toledo, um von ihm dort die große Monstranz fertigen zu lassen, deren Kernstück, das einer Überlieferung zufolge aus dem ersten von Amerika nach Spanien gebrachten Gold hergestellt wurde, er aus dem Nachlaß der Königin Isabella erhalten hatte. Zur gleichen Zeit fertigt Heinrich von Köln auch die Monstranz von Córdoba an, die während der Prozession von 1518 zum ersten Mal verwendet wird. Zum Wert dieser berühmten spätgotischen Monstranzen sei hier nichts weiter ausgeführt. Festgehalten sei nur, daß sie mit zahlreichen symbolträchtigen Figuren geschmückt sind und daß sie zunächst auf Traggestellen, später dann auf Triumphwagen in den Prozessionen mitgeführt wurden. Der Sohn Heinrichs, Antonio de Arfe, schafft das Modell der spanischen plateresken Renaissance, das seit der Fertigstellung der Monstranz von Santiago de Compostela (1545) bis ins 17. Jahrhundert hinein als Vorbild dient. Ihr folgt die 1552 fertiggestellte Monstranz von Medina de Rioseco, die vor allem auch wegen der Figur des vor der Bundeslade tanzenden Davids von Interesse ist. Die dritte Generation wird durch Juan de Arfe y Villafaña vertreten. Der Humanist, Mathematiker und Goldschmied schuf die Monstranzen von Avila, Burgo de Osma und vor allem die von Sevilla, deren reich mit Allegorien und Hieroglyphen ausgestattete plastische Elemente nach dem sinnreichen Entwurf des Domherrn don Francisco Pacheco gefertigt wurden. Ihn hat unser Künstler in einer 1587 linter dem Titel Beschreibung der Gestaltung und Verzierung der Silbermonstranz der Hl. Kirche von Sevilla herausgegebenen Schrift detailliert erklärt.

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Es ist wohl nicht eigens hervorzuheben, daß das Verzeichnis der Gold- und Silberschmiede sowie der Prachtmonstranzen überaus umfangreich ist. Eigentlich müßte man auch auf die Arbeiten von Becerill in Cuenca oder Rafael González in Segovia ebenso wie auf die große Monstranz von Jaca (1645) verweisen. Hier sei jedoch nur noch an die Monstranz erinnert, die Francisco Alvarez 1568 für die Stadt Madrid fertigstellte, da es sich bei diesem Exemplar um die meines Wissens einzige bedeutende Monstranz handelt, die nicht im Auftrag einer geistlichen, sondern einer weltlichen Körperschaft entstand. Trotz meiner geringen kunstgeschichtlichen Kenntnisse möchte ich doch eine Hypothese aufstellen. Ich habe den Eindruck, daß eine ausgesprochene Parallelität zwischen der Ausgestaltung der Monstranzen und der Entwicklung der autos sacramentales besteht, denn bei beiden Phänomenen lassen sich drei, eng miteinander verbundene Etappen feststellen. Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn man die plastischen Bestandteile der Monstranzen betrachtet, die eine zunehmende «Literarisierung» aufzuweisen scheinen. So werden etwa in die Monstranz von Toledo die freistehenden Figuren noch nach einem Schema eingefügt, das dem der gotischen Fassade entspricht: jede Figur besitzt eine eigene, gleichsam isolierte Bedeutung, die neben die der anderen Figuren gesetzt ist. In dem von Antonio de Arfe geschaffenen plateresken Modell dagegen stehen die Figuren in einem Dialog miteinander, es bilden sich Szenen, wie die schon erwähnte Szene des tanzenden Königs David oder die Darstellung des Opfers von Isaac an der Monstranz von Avila. Zugleich wird die Oberfläche mit plateresken Reliefs verziert, in denen Figuren klassischen Ursprungs in großer Zahl vorhanden sind. Da erhebt sich doch die Frage, ob wir es hier nicht mit einer weiteren Manifestation jenes christlichen Humanismus zu hm haben, der in den autos sacramentales zur Verwendung mythologischer Motive führt. Und ließen sich die Symbolik und die Hieroglyphen der Monstranz von Sevilla nicht mit dem Adjektiv «allegorisch» bezeichnen, das so charakteristisch für die autos sacramentales Calderóns ist? Um nun die Bemerkungen zu den grundsätzlichen Bezügen zwi-

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sehen auto sacramental und Prozession abzuschließen, sei nochmals auf vier, meines Erachtens nicht unerhebliche Phänomene verwiesen. Dabei denke ich zuerst an den geistlich-weltlichen Mischcharakter der Prozession, was sowohl für ihre Organisation als auch für ihre Finanzierung gilt. Das Zusammenspiel von kirchlicher und weltlicher Macht hat jeweils verschiedene Schwerpunktsetzungen zur Folge: während in Toledo der kirchliche Charakter vorherrscht, tritt in Madrid mehr die politische Bedeutimg hervor. Das gleiche Nebeneinander von Kirche und Staat zeigt sich im übrigen auch bei der Vergabe der Aufträge zum Schreiben von autos sacramentales und bei der Bezahlung ihrer Aufführimg. Auf kirchlicher Ebene setzt die Prozession eine Vorstellung von kollektiver Frömmigkeit voraus, die den Bereich des Sakralen auf den gesamten städtischen Raum ausweitet, durch den die Prozession führt. Mit anderen Worten: die Verehrung des Altarsakraments, die sich am Gründonnerstag im Inneren der Kirche vollzieht, geschieht nun auf der Bühne des Alltagslebens, des Profanen. Der Menschensohn geht den Menschen unmittelbar entgegen. In diesem Zusammenhang ist es zumindest bemerkenswert festzustellen, daß die große Monstranz von Toledo eine Struktur aufweist, die der des Tabernakels im Hochaltar der Kathedrale auffallend ähnelt - den übrigens Petit Juan ebenfalls im Auftrag des Kardinals Cisneros hergestellt hat. Es ließe sich dies als ein weiterer, typisch spanischer Widerspruch deuten: zur gleichen Zeit als durch die Errichtimg des berühmten Chors von Villalpando im Altarraum eine gewisse Distanzierung der Gläubigen erfolgt, bemüht man sich zugleich um eine größere Annäherung bei der Anbetung auf der Straße. In sozio-politischer Hinsicht sei hervorgehoben, daß die Laien nicht als gläubige Einzelpersonen, sondern als Mitglieder öffentlicher Körperschaften an der Prozession teilnehmen. Daher ist der Festzug auch die Darstellung bzw. das Schauspiel der gesellschaftlichen Mächte und ihrer internen hierarchischen Ordnung. Vor diesem Hintergrund werden auch die häufigen Auseinandersetzungen verständlich, die darum entbrannten, welchen Platz innerhalb der Prozession jeder einzelnen Gruppe zugewiesen wurde, ein Phänomen, das sich mutatis mutandis auch bei einigen Aufführungen von

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autos sacramentales wiederholen sollte. Diese Rangstreitigkeiten nahmen zum Teil solche Ausmaße an, daß manche Institution, die ganz besonders auf ihr soziales Prestige bedacht war, sogar eine eigene Fronleichnamsprozession ganz für sich alleine zu organisieren bemüht war. Überraschenderweise gelang dies sogar bisweilen, wie zum Beispiel im Fall der Universität von Salamanca. Zwar nimmt sie am Fronleichnamsfest als Korporation an der allgemeinen Prozession teil, organisiert dann jedoch darüber hinaus eine eigene Prozession, die am folgenden Sonntag im plateresken Kreuzgang des Hauptgebäudes stattfindet. Schließlich sei erwähnt, daß sich im Publikum, das der Prozession zusieht, eben jene Widersprüche wiederfinden, die sich aus der dargelegten Mischung von Sakralem und Profanem, Kirchlichem und Staatlichem ergeben. So vertrug sich trotz des religiösen Ursprungs der Prozession der ausgelassene Straßenlärm, der durch die Anwesenheit von Fremden verstärkt und durch die dem Kreuz voranschreitenden Komparsen weiter angestachelt wurde, nur schlecht mit der frommen Verehrung des Allerheiligsten. Einen mehr als deutlichen Beleg dafür geben uns die Cortes von Valladolid, die 1555 den Mangel an Respekt in Gegenwart der Prozessionsmonstranz beklagten." Die Aufführung des auto sacramental schließlich bildet den letzten Akt des Festes. Sie konnte allerdings durchaus am folgenden Tag wiederholt werden. Bisweilen geschah dies sogar während der ganzen folgenden Woche, sei es in ein und derselben Stadt (wie es in Madrid geschah) oder sei es an anderen Orten, wohin sich die Schauspieltruppen begaben, die am Fronleichnamstag in der Hauptstadt oder in anderen bedeutenden Städten gespielt hatten. Aber diese Wiederholungen, die im Erfolg der autos sacramentales und der Professionalisierung der Schauspieltruppen begründet sind, veränderte in gewisser Weise den Charakter von Stücken, die eigentlich nur zur Aufführung am Fronleichnamsfest, d.h. innerhalb eines genau festgelegten und konkreten religiösen Kontexts, bestimmt waren. Das Problem, das die Kritik bislang vorrangig beschäftigt hat, war 11

Vgl. Ballesteros Beretta, Antonio: Historia de España. Barcelona: Salvat 1927, Bd. IV, 2, S. 278.

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die Frage nach dem Was dessen, das da aufgeführt wurde, d.h. die Definition des auto sacramental als literarischer Gattung. Dieses Problem erhielt ein besonderes Gewicht dadurch, daß es bei Calderón Dramen und autos sacramentales gibt, die den gleichen oder doch einen sehr ähnlichen Inhalt haben: La vida es sueño (Das Leben ein Traum), Los encantos de la culpa (Der Sünde Zauberei), El pintor de su deshonra (Der Maler seiner Schande) u.a.m. Ich will mich nicht weiter mit dieser zweifelsohne wichtigen Frage auseinandersetzen, zu deren Klärung höchst aufschlußreiche Arbeiten von Valbuena Prat12, Parkeri3, Wardropperi4 und in jüngerer Zeit von Rullis und Egidois beigetragen haben. Doch möchte ich erwähnen, daß ich wie Ruiz Ramóni? einer dynamischen Definition des auto sacramental zuneige, die der allmählichen Entwicklung des auto auf jenem langen Weg gerecht wird, auf dem sich dieses «als tatsächlich sakramentales Theaterstück herausbildet» (was nicht nur in thematischer Hinsicht zu verstehen ist), bis es bei Calderón zu seiner völligen Entfaltung gelangt. Aus dieser Perspektive scheint es mir nicht müßig, noch einmal auf ein schon so oft behandeltes Thema zurückzukommen, nämlich die Definitionen, die die beiden bedeutendsten Theaterautoren des Siglo de Oro für das auto sacramental gegeben haben. Ich glaube vielmehr, daß eine kontrastive Überprüfung der beiden Definitionen durchaus fruchtbar sein kann. In der Tat zeigt sich uns in der Definition von Lope de Vega das auto sacramental als ein gleichsam von außerhalb des religiösen Kerns des Fronleichnamsfestes konzipiertes Phänomen. Wenn im Vorspiel zu einem der autos sacramentales, der Loa entre un villano y una labradora, gesagt wird, die autos sacramentales seien «Schauspiele/zu Ruhm und Ehre der Eucharistie» 12

Valbuena Prat, Angel: El teatro español en su Siglo de Oro. Barcelona: Planeta 1969.

13

Parker, Alexander A.: The Allegorical Drama of Calderón. Oxford-London 1943.

14

Wardropper, a.a.O.

15

Calderón de la Barca, Pedro: La Vida es sueño (comedia, auto, loa). Edición y notas de Enrique Rull. Madrid: Alhambra 1980.

16

Egido, Aurora: La fábrica de un Auto Sacramental «Los Encantos de la Culpa». Salamanca: Universidad 1982.

17 Ruiz Ramón, Francisco: Historia del Teatro Español. Desde aus orígenes hasta 1900. Madrid: Alianza Editorial 1967, S. 362-380.

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(«Comedias/en honor y gloria del pan»)i8, so werden uns zwei Sachverhalte mitgeteilt: a) daß ein Kunstwerk (comedia) sich als fromme Verherrlichung (alabanza) eines religiösen Sachverhalts, der Eucharistie darstellt; b) daß die Substanz des Stücks nicht notwendigerweise eucharistischer Natur sein muß, auch wenn sie es durchaus sein kann. Es handelt sich vielmehr um «religiöse Geschichten» («historias divinas») im weitesten Sinn. Andererseits hat diese Verherrlichung eine doppelte, durchaus dialektische Zielsetzimg (die «Beschämung der Ketzer» und den «Ruhm unseres Glaubens»), in der man wohl zurecht das Zusammenspiel von Religiösem und Nationalem sehen darf. Im Gegensatz dazu definiert Calderón die autos sacramentales aus dem religiösen Grundcharakter des Fronleichnamsfestes heraus. Er bezeichnet sie als «in Versform verfaßte Predigten» («Sermones puestos en verso») und - in Fortführung dieser Vorstellung - als «Fragen der heiligen Theologie in (auf der Bühne) darstellbarer Form». Das heißt ein religiöser Gegenstand (die Predigt) verändert seine Ausdrucksgestalt und verwandelt sich in einen darstellbaren Text (auto), der für die Freude am Tag des Herrn empfänglich macht.« 18

Es scheint mir nicht überflüssig, hier noch einmal die bekannten Verse Lopes zu zitieren: Y ¿qué son autos?-Comedias a honor y gloría del pan, que tan devota celebra esta coronada villa, porque su alabanza sea confusión de la herejía y gloría de la fe nuestra, todas de historias divinas. Deutsch: Was sind denn nun autos sacramentales? Es sind Theaterstücke (comedias) zu Ruhm und Ehren des Brots,/ das heute unsere gekrönte Stadt (d.h. Madrid)/ mit frommem Herzen feiert,/damit ihr Preis/ Verwirrung der Ketzerei/ und Ruhm unseres Glaubens sei,/ (Theaterstücke) ganz mit religiösen Themen.

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... Sermones puestos en verso, en idea representable cuestiones de la Sacra Teología, que no alcanzan mis razones a explicar ni comprender.

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Diese durch und durch religiöse Auffassung erklärt vielleicht zumindest teilweise, weshalb Calderón seit seiner Priesterweihe im Jahre 1651 kein weltliches Theater mehr für die volkstümliche corralBühne schreibt, sondern sich darauf beschränkt, prunkvolle Werke für die Hofbühne und autos sacramentales zu verfassen. Dabei handelt es sich nicht um einen Verzicht aus Reue über eine Tätigkeit, die von manchen als für das Priesteramt unwürdig angesehen wird. In seinem bekannten Brief an den Erzbischof von Toledo und Patriarchen von Spanisch-Amerika, don Alonso Pérez de Guzmán, weist er den «von ich weiß nicht wem vorgebrachten Vorwurf, Priesteramt und Dichtung seien unvereinbar» vehement zurück. Es ist schon zutreffend, daß hier ein tiefverletzter Calderón spricht - ihm war die Übernahme der Kaplanspfründe der Capilla de los Reyes Nuevos in Toledo, verweigert worden -, der die Gelegenheit nutzt, um seinen Berechtigungsnachweis gerade auch aus seiner Tätigkeit als Bühnenautor darzulegen, denn Verse machen, ist, wie er darlegt, eine «Zierde der Seele». Dieser Text20 müßte zweifelsohne eingehender erläutert werden. Für uns genügt es jedoch festzustellen, daß ein so theaterfeindlich eingestellter Mann wie don Alonso es für «ehrbar» und eines Kaplananwärters (von dem allerdings auch noch der Nachweis der Blutsreinheit gefordert werden sollte) nicht unangemessen hielt, daß dieser autos sacramentales schrieb. Dies war sicher nur möglich, weil das auto sacramental als ein zutiefst religöses Werk empfunden wurde. In seiner meisterhaften Analyse der Calderónschen Definition des auto sacramental hat Alexander A. Parker die Folgen für Aufbau und Stil des auto dargelegt, die sich aus dem festen Vorsatz ergeben, Predigt und dramatische Handlung nicht auseinandertreten zu lassen. In jüngerer Zeit hat sich besonders Aurora Egido ausführlich und überzeugend mit der strukturellen und thematischen Wechsely al regocijo dispone en aplauso de este día. Deutsch: Predigten/ die in Verform vorgebracht wurden,/ Fragen der heiligen Theologie in (auf der Bühne) darstellbarer Form,/ die mein Verstand nicht/ zu erklären noch zu verstehen vermag,/ und (diese Aufführung) macht uns zum Jubel bereit/ zum Lob dieses Tages. 20 Vgl. den vollständigen Text bei Hartzenbusch in Biblioteca de Autores Españoles, Bd. IV, S. 676.

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beziehung zwischen Predigt und auto sacramental auseinandergesetzt. Den Schlußfolgerungen beider Autoren stimme ich im wesentlichen zu, doch möchte ich den ein oder anderen Aspekt noch nuancieren und etwas präzisieren. So bedarf die Behauptung Parkers, daß das auto sacramental und die Predigt «Formen der Unterweisung» seien, vielleicht einer kurzen Erläuterung. Ich beabsichtige nun keineswegs, etwas Neues zu entdecken, wenn ich daran erinnere, daß der Kirche (speziell seit dem Trienter Konzil, aber auch schon viel früher) das Problem der allgemeinen theologischen Unwissenheit nicht nur unter den Laien, sondern auch unter den Geistlichen bewußt war, einer Unwissenheit, die dem Entstehen von Ketzertum und Aberglaube Vorschub leistete. Den zahlreichen Belegen für diese Unwissenheit ließe sich ein weiterer hinzufügen, der sich konkret auf das Fronleichnamsfest bezieht. Im 9. Kapitel des 1. Buchs des Buscón begegnet der Protagonist einem alten Priester, der Lieder zu Fronleichnam und Weihnachten verfaßt hat (außerdem schrieb er eine comedia mit dem Titel Die Arche Noah). Die Lieder zeigen unter dem Deckmantel der karikaturesken Übertreibung, welches Ausmaß diese Unwissenheit annehmen konnte. Die pestilenzialische Strophe lautet folgendermaßen: «Pastores, ¿no es lindo chiste que hoy es el señor san Corpus Christe? Hoy es el día de las danzas en que el Cordero sin mancilla tanto se humilla, que visita nuestras panzas, y entre estas beinaventuranzas entra en el humano buche. Suene el lindo sacabuche pues nuestro bien consiste. Pastores, ¿no es lindo chiste, etc.» «Ihr Schäfer ists nicht eine Freude?/ Der heilige Herr Fronleichnam kömmt heute!/ Itzt tanzt man froh auf allen Wegen,/ Weil das Lämmlein Gottes sonder Makel/ Aus dem Tabernakel/ Steigt

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und besuchet unsre Mägen/ Und unter lauter lauter Glück und Segen/ Eingeht durch die menschliche Gurgel,/ Drum tönen Dudelsack und Orgel/ Dem Ohre sanft entgegen./ Ihr Schäfer, ists nicht eine etc. etc.» (Quevedo, Der abenteuerliche Buscón. Aus dem Spanischen übersetzt von H.C. Artmann. Frankfurt: Insel 1980, S. 88.)

Und als der gute don Pablos ihn belehren will (wobei auch er einen Fehler macht), daß «Corpus Christi kein Heiliger sei, sondern der Tag der Einsetzung des Sakraments» («Corpus Christi no es santo, sino el día de la institución (sie) del Sacramento»), beruft sich der Priester auf die Autorität des Kalenders. 21 Gegen diese allgemeine Unwissenheit wurden verschiedene Mittel einzusetzen versucht, von denen hier zwei hervorgehoben werden sollen: zum einen zahllose Katechismen (mit Titeln wie Enchiridion oder Institutio), die sowohl von katholischer als auch von protestantischer Seite im Laufe des 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts veröffentlicht werden. Dabei lassen sich zwei Arten von Katechismen unterscheiden: die eine ist für die Priesterausbildung gedacht (der tridentinische Katechismus ist «ad parrochos» - für die Pfarrer bestimmt; für Spanien sei nur an den berühmten Katechismus von Fray Bartolomé Carranza erinnert, der 1558 in Antwerpen erschien, acht Jahre vor dem Katechismus, den der hl. Karl Borromäus verfaßte). Der zweite Typus richtet sich an die Gläubigen allgemein. Hier sind besonders erwähnenswert die Katechismen der Jesuiten Gaspar de Astete (1559) und Jerónimo Ripalda (1618), die von der spanischen Kirche bis zum zweiten vatikanischen Konzil benutzt wurden. Diese Katechismen stellen das angemessene kirchliche Medium zur Unterweisung dar, d.h. zur Vermittlung von Kenntnissen. Es sei nur noch ergänzt, daß die weite Verbreitung der Katechismen umso auffälliger ist als sie in einem geistigen Klima erschienen, das durch ein generelles Mißtrauen und durch die Inquisition vergiftet war, wie das traurige Geschick des Erzbischofs Carranza belegt.22 21 Ich zitiere nach der kritischen Ausgabe von F. Lázaro Carreter (Salamanca: Universidad 1980). 22 Zur weiten Verbreitung der Katechismen vgl. J.R. Guerrero: «Catecismos de autores espa-

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Das zweite der Gegenmittel zeigt sich, wie oben bereits angeführt, in einer Blüte der Predigtrhetoriken, deren Hauptanliegen es war, die Predigttechniken zu erneuern. Natürlich gibt es viele Predigttypen (die dogmatische, die apologetische, die panegyrische, die deliberative Predigt usw.), aber wenn wir uns auf das geläufigste Modell beschränken, dann ist klar, daß sich die Predigt nicht so sehr an den Verstand als vielmehr an den Willen des Gläubigen richtet. Sie soll, wie schon der hl. Augustinus lehrte, den Willen bewegen (movere), damit dieser die in den Glaubensaussagen enthaltenen Möglichkeiten in die Praxis umsetzt, ein Problem, das insbesondere wegen der Polemik um das Verhältnis von Glauben und Werken von Bedeutimg war. Natürlich handelt es sich auch hier - wie fast immer - um eine Frage der Verhältnisse: denn wie in den Katechismen Appelle an den Willen nicht gänzlich fehlen, so fehlen auch in den Predigten nicht dogmatische Bezüge. In der Terminologie der Sprachphilosophie Karl Blühers gesprochen, dominiert in der Predigt eindeutig die appellative Funktion; mit den Worten von Fray Luis de Granada heißt dies, daß «unter all den Predigern, die man in den Kirchen hört, kaum welche eindrucksvoll und beredt zur Sache zu sprechen verstehen und noch viel weniger sind es, die Sünder zur Buße zu bewegen und in ihnen die Liebe zur Tugend zu wecken wissen» («entre tantos predicadores que se oyen en los templos, apenas se encuentra uno u otro que hable al intento copiosa y elocuentemente, y aun son mucho menos los que mueven a penitencia a los malos, y les inducen al amor de la virtud») - 23 Obgleich die Predigt auch der Unterweisimg dienen kann, liegen die unmittelbaren Wirkabsichten doch im movere, dem Bewegen, Hinleiten. Dies sind auch die Wirkabsichten des auto sacramental. Der zweite Komplex, mit dem ich mich näher beschäftigen möchte, betrifft die Abgrenzung jener Merkmale des auto sacramenñoles de la primera mitad del siglo XVI (1500-1559)», in: Repertorio de Historia de las Ciencias Eclesiásticas en España II (Salamanca 1971), S. 225-260. Vgl. auch die Einleitung von J.I. Tellechea zu seiner Ausgabe von Bartolomé de Carranza: Comentarios sobre el Catecismo Christiano 1558.2 Bde. Madrid: Biblioteca de Autores Cristianos 1972. 23 Die Übersetzung basiert auf der spanischen Version: Los seis libros de la Retórica Eclesiástica, o de la manera de predicar, escritos en latín por el V.P.M. Fray Luis de Granada, vertidos en español por orden del limo. Sr. Obispo de Barcelona, para instrucción de sus feligreses. 1770. Das Zitat findet sich auf S. 167 dieser Ausgabe.

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tal, die es vom feierlichen Hochamt am Morgen des Fronleichnamsfestes unterscheiden. Auch sie ließen sich auf verschiedenen Ebenen untersuchen. Da ich jedoch keine erschöpfende Analyse vornehmen will, beschränke ich mich auf jene Elemente, die bislang am wenigsten dargestellt wurden. Dabei bin ich mir vollkommen darüber im klaren, daß meine Schlußfolgerungen lediglich ein Referat anderer, vielleicht grundsätzlicherer Einsichten sind. Zunächst gehe ich von der Ebene des Publikums aus; ich glaube dort eine Reihe von erwähnenswerten Unterschieden feststellen zu können, von denen fünf genannt seien: 1. Das auto sacramental wendet sich an die Gesamtheit des Volkes («vom Bischof bis zum Küster/ vom König bis zum Hirtenjungen»24), während sich die Predigt an eine Minderheit richtet, die aufgrund ihrer sozialen Stellung ausgewählt wurde. Das Volk seinerseits besteht überwiegend aus Städtern, aber es fehlen in ihm nicht die Leute vom Land, die aus den Dörfern in die Stadt kommen und deren Anwesenheit einer der Schlüssel zum Verständnis von Eigenart und Sprache der loas ist, die als knappe Einleitung vor dem auto sacramental gespielt wurden. 2. Diese Gesamtheit des Volkes tritt als solche ohne hierarchische und priviligierende räumliche Unterscheidungen im städtischen Szenarium der Aufführung in Erscheinung. Sicher hat es nicht an Versuchen gefehlt, auch bei der Aufführimg der autos sacramentales die sozialen Unterschiede deutlich werden zu lassen, wie es bei der Predigt und der Prozession der Fall war (so etwa bei den Aufführungen von autos sacramentales, die für die Staatsräte reserviert waren, wozu die Plaza del Salvador in Madrid gesperrt wurde, und so eine Art corraZ-Theaterraum entstand). Dennoch ist festzustellen, daß das auto sacramental in seiner authentischen Form - so wie es auf der plaza del Alcázar aufgeführt wurde - das gesamte soziale Spektrum der Zuschauer umfaßte, den König ebenso wie den letzten einfachen Untertan. Dabei kam es sogar mehr als einmal vor, daß das Königspaar nur unter Schwierigkeiten der Aufführung mit einem Minimum an Bequemlichkeiten beiwohnen konnte. Trotz 24 José de Valdivieso: El hospital de locos. In: Teatro teológico español. Ed. von Nicolás Gomzález Ruiz. Madrid: BAC1946, Bd. 2, S. 167.

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aller Vorbehalte ist also das auto sacramental in gewisser Hinsicht ein Vorläufer der modernen Massenveranstaltungen. 3. Diese Unterschiede zwischen Predigt und auto sacramental haben notwendigerweise einen substantiellen Unterschied im sozialen Niveau der in den beiden Kommukationstypen verwandten Sprache zur Folge. Hier mag der Hinweis auf die diaphasischen - individuellen - Varianten genügen, die der Sprachverwendung in den Predigten von Fray Hortensio de Paravicino und in den autos sacramentales von Calderón zugrundeliegen. Außerdem sei an die ironischen Bemerkungen Calderóns gegenüber dem berühmten Barockprediger erinnert. Wohlgemerkt, dies heißt nicht, das Vorhandensein von kultistischen Elementen in der Dichtungssprache Calderóns leugnen, es heißt nur, daß deren Häufigkeit und vor allem ihr funktionaler Wert ein gänzlich anderer ist. 4. Außerdem besteht zwischen denen, die einer Predigt zuhören und denen, die der Aufführung eines auto sacramental beiwohnen, ein beträchtlicher Unterschied hinsichtlich der literarischen und religiösen Vorbildung. Ein großer Teil der Zuschauer der autos sacramentales sind völlige Analphabeten - daran ändert sich auch nichts, wenn man immer wieder zur Erklärung der großen Beliebtheit der autos beim Volk einen längst überholungsbedürftigen Gemeinplatz anführt: den von der angeblich großen theologischen Bildung des spanischen Volks im 17. Jahrhunderte Dabei setze ich allerdings «Analphabet» keineswegs mit «ungebildet» gleich. Ich will nur sagen, daß dessen Kultur sich von der in unserem heutigen Verständnis unterscheidet: ihr grundlegender Bezug sind nicht die Schrift und das Geschriebene, noch bewegt sie sich ausschließlich im intellektuellen Bereich der Begrifflichkeit. Ich hoffe, daß wir im Laufe des Kolloquiums das, was ich hier meine, noch präzisieren können. 5. Schließlich darf nicht vergessen werden, daß man mit zwei ganz verschiedenen psychischen Einstellungen zur Predigt bzw. zum auto sacramental geht oder, wie man heutzutage sagt, wir es mit zwei grundsätzlich unterschiedlichen Publikumserwartungen zu tun haben. Als Beispiel - für einen jedoch wichtigen Teilaspekt - sei darauf 25

Vgl. J.M. Valverde in M. de Riquer/J.M. Valverde: Historia de la literatura universal. Barcelona: Planeta 1984, Bd. V, Kap. 6 (S. 283-290).

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hingewiesen, daß die Inquisition Predigt und auto sacramental mit einem unterschiedlichen Grad von Mißtrauen überwachte. So wurde etwa 1662 das auto sacramental Las Ordenes Militares (Die Ritterorden) von der Inquisition verboten. Doch Calderón kümmerte sich nicht um das Verbot und veröffentlichte das auto 1677, ohne daß dies Folgen gehabt hätte. In direktem Bezug zu diesem letzten Punkt will ich noch an einige Unterscheidungsmerkmale erinnern, die sich aus den Örtlichkeiten ergeben, an denen die beiden Kommunikationstypen ihre Wirkung entfalten. Das Kirchenschiff umschließt einen physisch abgeschlossenen Raum, der dadurch, daß er die akustische Wahrnehmung erleichtert, auch die innere Sammlung des Zuhörers fördert, wozu auch dessen körperliche Ruhe beiträgt. Das Sprechen von der Kanzel herab gibt dem Gesagten zudem eine belehrende Qualität; es gewinnt eine dogmatische Autorität, die durch die liturgische Handlung im Hochamt noch unterstrichen und verstärkt wird. Nicht zuletzt gehen auch Architektur, Bildhauerkunst und Malerei und dort besonders das Altarbild - eine Synthese mit der religiösen Aussage der Predigt ein. Andererseits erfolgt die Predigt in der spirituellen Atmosphäre der Messe, die ihrerseits eine genau festgelegte Abfolge hat, die höchst symbolträchtig ist. Die zeitliche Einordnung zwischen Lesung und Glaubensbekenntnis gibt der Predigt nicht nur eine allgemeine Bedeutung. Sie bedingt auch einen großen Teil ihres Inhalts, der vorrangig in der Glossierung oder der Erläuterung des sakralen Bibeltextes besteht. Für das auto sacramental, das auf einer Bühne im Freien aufgeführt wird, die nur so hoch ist, daß die Zuschauer einigermaßen gut sehen können, ergibt sich demgegenüber die Notwendigkeit, gleichsam aus sich selbst heraus, das Umfeld für seine Aufführung zu schaffen. Paradoxerweise räumt gerade diese Notwendigkeit dem auto sacramental einen größeren Freiraum ein, da das Umfeld nicht nur ad hoc geschaffen, sondern auch vielfältiger und beweglicher gestaltet werden kann. Und selbst wenn dies aus verschiedenen Gründen nicht realisierbar ist, so bietet sich immer noch die - auch bei heutigen Aufführungen genutzte - Möglichkeit, das Kirchenportal als eine Art Bühnenkulisse zu nutzen.

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Das auto sacramental verfügt über das gesamte Fronleichnamsfest als Bezugsrahmen. Dieser Umstand erlaubt es auch, falls die Übertragimg in angemessener Form geschieht, entsprechende Elemente der Messe oder der Prozession in die Aufführung des auto sacramental einzubeziehen. Aber diese Bestandteile erfahren sowohl eine zeitliche als auch räumliche Verfremdung mit einer Reihe von Folgen. Von diesen will ich hier lediglich zwei ganz unterschiedliche anführen. a) Die Gruppen der Komparsen, Musikanten und Tänzer, die die Prozession anführten, haben jetzt die Aufgabe, die Zuschauer anzulocken. Außerdem überbrücken sie mit ihren kurzweiligen Darbietungen die Wartezeit bis zur Ankunft der carros und dem Aufbau der Bühne; dabei schaffen sie eine spielerische Atmosphäre. b) Ursprünglich untergeordnete Elemente können bei der Aufführung Eigenständigkeit und semantische Bedeutung gewinnen. So kann das ein oder andere der exempla, das zuvor den Predigttext illustriert hat, Eigenständigkeit entwickeln und sich in das Handlungsschema eines auto sacramental verwandeln. Anders ausgedrückt: das exemplum wird zum Text der als auto sacramental in Erscheinung tretenden Predigt, dessen Kraft sich aus der symbolischen Bedeutung des Textes ergibt. Die eigentlichen Unterschiede zwischen Predigt und Fronleichnamsspiel liegen jedoch weder in ihrem Publikum noch in ihrem räumlichen Umfeld, sondern in der Sprache, die beide verwenden. Ich habe schon eingangs darauf hingewiesen, und möchte nun einen der bereits genannten Punkte wieder aufgreifen. Ich habe dort gesagt, daß der Diskurs der Predigt einen homogenen Charakter hat, da er ausschließlich auf einem verbalen Zeichensystem fußt. Im auto sacramental dagegen werden zu gleicher Zeit zwei Systeme von Zeichen eingesetzt: verbale und plastische. Die unzähligen Fragen, die mit diesen beiden Systemen verbunden sind - sei es hinsichtlich ihrer jeweiligen Eigenart, sei es in Bezug auf ihre Beziehungen untereinander - können hier und jetzt auch nicht einmal annähernd behandelt werden. Deshalb will ich wieder nur einen Aspekt herausgreifen, auch wenn ich weiß, daß dies eine Verstümmelung bedeutet.

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Vom Standpunkt der Wirkungsabsicht des auto sacramental aus dem movere im Sinne von Augustinus - leisten die beiden Zeichensysteme - das verbale und das plastische - ganz Verschiedenes. So hat u.a. José A. Maravall hervorgehoben, in welch hohem Maß das Wirkungsvermögen der bildenden Künste, insbesondere der Malerei, im Zeitalter des Barocks gepriesen wurde. Ihre Überlegenheit gegenüber der Dichtung liegt nach Worten von Francisco de Holanda in ihrem größeren Vermögen begründet, «stärkere Affekte bewirken zu können und viel größere Kraft und stärkeren Nachdruck zu besitzen, sowie darin, den Geist und die Seele mit einer wirksameren Beredsamkeit zu Freude und Jubel bewegen zu können wie auch zu Traurigkeit und Tränen» («causar mayores afectos y tener mucha mayor fuerza y vehemencia, ansí para conmover el espíritu y el alma a alegría y regocijo, como a tristeza y lágrimas, con más eficaz elocuencia»).26 Es ist dies nicht nur eine Fragestellung der Verfasser von Abhandlungen zur bildenden Kirnst, die den ikonischen Code, den der Bilder, hervorheben: Im Verlauf seiner Überlegungen zum pragmatischen Wert der visuellen Mittel führt der kürzlich verstorbene José A. Maravall jene Verse an, die die Gestalt der «Keuschheit» in einer der ersten Szenen des auto sacramental Sueños hay que verdad son (Träume gibfs, die Wahrheit sind) zur Gestalt des «Traumes» spricht. Sie sollen hier noch einmal angeführt werden: «Y pues lo caduco no puede comprehender lo eterno y es necesario que para venir en conocimiento suyo haya un medio visible que en el corto caudal nuestro del concepto imaginado pase a práctico concepto.»27 «Und da das Vergängliche,/ das Ewige nicht verstehen kann,/ ist 26

Maravall J.A.: La cultura del Barroco. Barcelona: Ariel 31983, vgl. besonders den Anhang «Objetivos del empleo de medios visuales» (S. 501-524).

27

Teatro teológico español (BAO, Bd. 2, S. 581.

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es nötig, um seine/ Erkenntnis zu erlangen,/ daß es ein sichtbares Medium gibt,/ damit unser unzureichendes Vermögen/ von der bildlichen Vorstellung/ zum tatsächlichen Begriff aufsteigen kann.» Doch ihnen geht eine Passage unmittelbar voraus, die weniger oft zitiert wird. Auch diese Verse stammen aus dem Mund der «Keuschheit»: «... supuesto que el haber vestido tú sombras, y luces yo, a efecto habrá sido de hacer más representable un concepto...» «... da/ du mit Schatten bekleidet bist/ und ich mit Licht,/ so geschah dies wohl mit dem Ziel,/ einen abstrakten Begriff anschaulicher zu machen...» Sie beendet ihre Tirade mit den Worten: «Y pues no tiene el oirlo la fuerza que tendrá el verlo. llega conmigo ¿qué ves?» Sueño: «Lo que ves, eschucho y veo ...»28 «Und da das Hören/ nicht die Kraft des Sehens hat,/ komm mit mir: Was siehst Du?» Traum: «Was du siehst, das höre und sehe ich...» Aus der Analyse dieser Textstellen lassen sich nach meiner Auffassung zumindest drei wesentliche Schlußfolgerungen ziehen: a) Wie Francisco de Holanda ist auch Calderón der Auffassung, daß dem Sehen eine höhere kommunikative Kraft zukommt als dem Hören. Das bedeutet auch, daß die Antwort auf die Botschaft stärker sein wird. b) Die Erkenntnis Gottes erschöpft sich nicht in der intellektuellen Dimension des Menschen; sie erfaßt die Totalität seines Wesens, sie kann nur über sie zu größerer Vollkommenheit gelangen und die 28

E b e n d a , S . 578.

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Möglichkeit zu einer praktischen Umsetzung in Werken erlangen, c) Ein Begriff ist umso leichter darstellbar, je eindrucksvoller und anschaulicher die Gestalt der dramatischen Person ist, die ihn verkörpert. Wie Argan völlig zurecht bemerkt hat, handelt es sich ganz wesentlich darum, den in ein Bild verwandelten Begriff vorzubringen. Es ist aber nicht überraschend, wenn die Bühnenanweisungen beim Auftritt zahlreicher Personen ständig auf anschauliche Bilder rekurrieren, die dem Zuschauer aus der Malerei bekannt sind. So erscheint in dem auto sacramental A Dios por razón de estado& (Zu Gott aus Staatsklugheit) die Gestalt des «Naturgesetzes» am Fuß eines Baums, «um den sich eine Schlange windet». Die Gestalt des «Geschriebenen Gesetzes» tritt auf «mit den Gesetzestafeln in der Hand und der ehernen Schlange, so wie Moses dargestellt wird», während die Gestalt des «Gesetzes der Gnade» «mit einem Kreuz in der Hand und mit verbundenen Augen, wie der Glaube gemalt wird» erscheint. Diese Beispiele ließen sich beliebig fortsetzen und erreichen eine beeindruckende Vielschichtigkeit. Allerdings ist dieser Rückgriff auf bildhafte Darstellungen bei Calderón keineswegs neu; er findet sich in der Kirche seit ihren Ursprüngen und vor allem im mittelalterlichen Europa. Man kann daher von der Existenz eines richtigen ikonographischen Codes sprechen, der den Gläubigen wohl vertraut war und in den seit der Renaissance nicht wenige heidnische Elemente eingegangen waren. Hier gibt es jedoch eine konkrete Detailfrage, auf die ich kurz die Aufmerksamkeit lenken möchte. Ich meine die berühmte - immer wieder aufgenommene - Polemik um die Frage, ob in der Malerei der Zeichnimg oder der Farbe der Vorrang zuzusprechen ist. Im Barock wurde dieser der Vorrang zuerkannt, denn, wie es Jáuregui sagte, sie besitzt die Fähigkeit, «tausend innere Leidenschaften auszudrücken». Saavedra Fajardo wiederholt diese Vorstellung in seiner República literaria. Auch für ihn ist es die Farbe, «die den Dingen ihr letztes Sein gibt und die es am besten vermag, die Gemütsbewegungen auszudrücken» («es quien da su último ser a las cosas y quien más descubre los movimientos del ánimo»). Daraus ergibt 29 In: Teatro teológico español, Bd. 2, S. 649 ff.

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sich unmittelbar, daß die Farbe in weit höherem Maß als die Zeichnung in der Lage ist, diese Gemütsbewegungen beim Zuschauer hervorzurufen.^ Ausgehend von diesen Einsichten sei nunmehr ein Blick auf Calderón geworfen. Auch er räumt der Farbe große Bedeutung ein, und zwar sowohl in seinen Hinweisen zu den Kostümen (wenn hier auch liturgische Elemente und symbolische Bedeutungen im Spiel sind) wie auch in den sogenannten «memorias de apariencias», den Hinweisen zum Bühnenbild. Zur Illustration zitiere ich lediglich den letzten Abschnitt der «memorias de apariencias» des auto sacramentáis El Sacro Parnaso (Der heilige Parnaß) von 1659: «Adviértase que en el carro del dosel... ha de haber unos premios, que serán: un corazón, una piedra, una pieza de tela carmesí, una mitra blanca, una paloma plateada, un sol dorado pendiente colgado de un collar...» «Es ist zu beachten, daß auf dem rückwärtigen Bühnenwagen ... sich einige Gegenstände befinden, als da sind: ein Herz, ein Stein, ein Stück scharlachroter Stoff, eine weiße Mitra, eine versilberte Taube, eine vergoldete Sonne, die an einer Stelle herabhängt...» Da der ikonographische Code gleichzeitig mit dem sprachlichen System vorgebracht wird, verweisen beide ständig aufeinander. Der Vorrang der Bildelemente erklärt, wieso der poetische Text häufig zum Appell an den Zuschauer wird, damit dieser sich bemüht, die gemalten Zeichen zu entschlüsseln. Bisweilen wird der Text sogar zur bloßen Glosse, die den Sinn dieser Zeichen erklärt. Aurora Egido3i hat auf diese beschreibenden Passagen, das Phänomen der Ekphrasis, in dem auto sacramental Der Sünde Zauberei hingewiesen. Die Ergebnisse ihrer Analyse ließen sich auf viele andere Werke übertragen. Dieses Verfahren wird meiner Ansicht nach in besonders extremer Form am Schluß des auto sacramental El veneno y la triaca (Gift und Gegengift) eingesetzt, wo alles darauf zielt, daß die Gestalt der «Infantin» das «tief' Sinnbild» entziffert.32 30

Vgl. Maravall, a.a.O., S. 522 f.

31

Vgl. A. Egido, a.a.O.

32

In der Bühnenanweisung schreibt Calderón: «In einem Baumstamm erscheint ein Totenge-

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Diese Vorrangstellung des bildhaften Codes - und in ihm der hohe Rang der Farbe - gegenüber dem Wort, steht in voller Übereinstimmung mit dem Grundanliegen des auto sacramental, das darin besteht, die Zuschauer emotional zu bewegen. Dazu werden die Elemente des sprachlichen und des visuellen Systems gezielt eingesetzt und zur Steigerung ihrer Wirkimg aufeinander bezogen. Die vorliegende Analyse wäre allerdings unvollständig, wenn ich nicht zumindest andeutungsweise auf ein letztes Problem eingehen würde. Ohne Zweifel beabsichtigt das auto sacramental in höherem Maß als die Predigt, den Willen, die Affekte und die Gefühle der Gläubigen zu bewegen. Dabei gilt es im Auge zu behalten, daß sich Calderón an gläubige spanische Katholiken des 17. Jahrhunderts wendet, ein solch evidenter Sachverhalt, daß man ihn manchmal vergißt. Welche Art von Gemütsregungen, welche Reaktionen für rippe und in seinem Wipfel ein Kreuz». «Jeroglífico hermoso, en quien se vierte una copia de fruta guarnecida, una cruz bella en púrpura teñida y un cadáver postrado a su error fuerte. Un pan, que en came viva se convierte; un vino, que ya es sangre su bebida: hazme antídoto docto de mi vida el Veneno ignorante de mi muerte. Tendré, sí el árbol fruto da divino; si la Cruz rojo humor corre sangriento; si el cadáver recibo. Peregrino; si pasman vino y pan, mi Entendimiento; en fruta, Cruz, cadáver, pan y vino salud, consuelo, vida y Sacramento. (Spanischer Text nach Teatro teológico español, Bd. 2, S. 256. Die Interpunktion ist geändert.) Die folgende freie deutsche Übersetzung stammt von Joseph Freiherr von Eichendorff: Tief Sinnbild, überströmend niederschweben Seh' ich von dir so schöner Früchte Gabe, Am bluf gen Kreuz, weil ich gesündigt habe, Müd' einen zarten Leichnam sich erheben. Der mild im Brot den blüh'nden Leib will geben, Im Weine mir sein Herzblut beut zur Labe. O heb' mich Halbversunkne aus dem Grabe, Zerbrich des Giftes Pfeil und lehr' mich leben! Ja, wenn das Kreuz mit Blut betaut die Steine, Wenn Himmelsfrüchte an dem Stamme prangen Und ich den süfien Leib mit mir vereine: Wend' ich von solchem Wunderglanz umfangen. In Frucht, Kreuz, Leib und Brot und Weine Das ew'ge Heil im Sakrament empfangen.

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das Alltagsleben wollte Calderón nun in den Zuschauern auslösen? Welche Gefühle sollten das Gemüt der Gläubigen am Fronleichnamsfest beherrschen? Die nächstliegende und wichtigste Antwort ist sicher in den Texten von Calderón selbst zu suchen. Um der Kürze willen beschränke ich mich auf das, was im auto sacramental La vida es sueño (Das Leben ein Traum) gesagt wird. Bei seiner ersten Begegnimg mit dem Menschen hat ihn der «Verstand» an die Nichtigkeit seiner Natur («Staub warst du, Staub wirst du wieder werden») erinnert. Aber der «Freie Wille» widerspricht ihm: «Ya que a su servicio estás, ¿para qué afligirle quieres, sin ver cuanto escandaliza, que pase tu mal humor lo que es Jueves del Señor a Miércoles de Ceniza?» «Da du dich in seinem Dienst befindest,/ warum willst du ihn betrüben,/ ohne zu sehen, wie ärgerlich es ist,/ wenn deine schlechte Laune/ diesen festlichen Donnerstag des Herrn (das Fronleichnamsfest)/ zum Aschermittwoch macht?» Er wendet sich dann an den Menschen (den er als «Erbprinzen des Königs» bezeichnet) und rät ihm: «goza la felicidad sin que te entristezca nada.» «Genieße das Glück,/ ohne daß dich irgendetwas betrübe.» Man könnte nun entgegenhalten, daß dies der «Freie Wille» sagt, um dem gerade erst geschaffenen Menschen zu schmeicheln. Doch etwas ähnliches hatte zuvor schon das «Feuer» vorgebracht, als es die Danksagimg einleitet, die von den Elementen auf Bitten der «Liebe» und mit dem Kehrreim «Lobet den Herren!» gesungen wird: «Sí haremos, porque en el día

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del Señor los regocijos también son culto; y supuesto que las cuatro esferas fuimos organizadas debajo de compás métrico y ritmo, vaya de música y baile, diciendo todas conmigo...» «Ja, das wollen wir hin, denn am Tage/ des Herrn gehören Frohsinn und Frohlocken/ auch zum Gottesdienst; und da wir vier Sphären/ nach metrischem und rhythmischen Maß/ geschaffen wurden/ beginne nun Musik und Tanz/ und alle sollen mit mir singen...» Und in der Schlußszene verkünden die vier Elemente im ganzen Universum, daß der nun erlöste Mensch «gracia, venia, amparo, asilo, piedad, refugio y clemencia» «Gnade, Verzeihen, Schutz, Asyl,/ Erbarmen, Zuflucht und Milde» gefunden hat, weshalb der Mensch an diesem «Tag der Vergebung» das «Gloria in excelsis Deo» anstimmt. Man hat so oft das Bild (oder besser die negative Klischeevorstellung) von einem düsteren spanischen Katholizismus beschworen, der vom Todesgedanken geängstigt und fasziniert zugleich ist, besessen von der Vorstellung der Blutsreinheit, in seiner schöpferischen Freiheit gelähmt durch die Furcht vor der Inquisition, tragisch erschüttert durch die übertriebene Beschäftigung mit Schmerz und Leiden ..., daß man kaum nachvollziehen kann, daß die charakteristischste literarische Schöpfung dieses düsteren Katholizismus die Aufforderung zu Jubel und Freude sein soll.33 Und dennoch sind Calderóns Worte völlig eindeutig. Er will uns zum Jubeln bringen, 33

Tellechea hat an die volkstümliche Redewendung erinnert, nach der das Glück dann vollkommen wäre, wenn das Johannis- und das Fronleichnamsfest auf einen Tag zusammenfielen. Er bringt dies mit dem Faktum in Verbindung, daß Carranza der Taufe und der Eucharistie eine besondere Bedeutung zumißt. Vgl. Catecismo christiano, Bd. 1, S. 91.

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zu einer tief empfundenen Freude, denn im Altarsakrament ist die Nähe Gottes gegenwärtig, eines Gottes, der «fern von Zorn und reich an Erbarmen»^ ist, Trost und Zuflucht im Schmerz und im Unglück bietet, sowie die Gewißheit immerwährender Gnade. 35 Diese Nähe Gottes verwandelt den Jubel in Verehrung, das Lachen in Gebet und macht noch aus dem kleinsten Glöckchen eines Tänzers, wie es in der loa zum auto sacramental El árbol del mejor frutóte (Der Baum der besseren Frucht) heißt, einen unschlagbaren Beweis gegen die Glaubensfeinde. Dieser Calderón aber ist weit entfernt davon, ein «Dichter der Inquisition» zu sein. «T (Übersetzt von Heike Nottebaum und Manfred Tietz)

34

Der Satzbau der Bibel findet in den autos ein sehr häufiges Echo. Als Beispiel sei die Schlußszene aus dem Pleito matrimonial del cuerpo y el alma angeführt: «Demos alabanza a tan grande Sacramento pues por él las iras templa desús rigores el cielo» (Teatro teológico español, Bd. II, S. 330). Deutsche Ubersetzung nach Eichendorff (Der Ehezwist): Laßt uns alle Preis denn singen Diesem hohen Sakramente, Das da des erzürnten Himmels Rache in Erbarmen wendet.

35

In dem gleichen auto sacramental La Vida es sueño (Das Leben ein Traum) erklärt die Gestalt der «Macht»: Pues es obra del Poder dar poder a quien le absuelva, como el hombre su culpa confiere, elemento habrá que tenga materia también, en quien otro Sacramento sea preservación de este daño, dando al espíritu fuerzas; con que en aumentos de Gracia pueda durar en la enmienda. (Teatro teológico español, Bd. 2, S. 420). Deutsch: Da es das Werk der Macht ist,/ jemandem Macht zu geben, um ihn (d.h. den Menschen) freizusprechen/ sobald er seine Schuld bekennt,/ so wird es auch ein Element geben,/ das Stoff enthält, in dem ein weiteres Sakrament ist/ als Schutz vor diesem Schaden, indem es dem Geiste Kräfte gibt;/ damit durch ein Anwachsen der Gnade/ er auf dem Weg der Besserung zu bleiben vermag.

36 Vgl. Riquer/Valverde. Historia de la literatura universal, Bd. IV, S. 288 f.

Leo Follmann

«DAS GROSSE WELTTHEATER» EINE ONTOLOGIE DES BAROCK Calderöns frühes Meisterwerk Das Große Welttheater ist sicher, wie Alejander A. Parker herausgearbeitet hat, ein königstreues, politisch konservatives Stück. Die Frage ist allerdings, ob das Stück, wie Parker meint, «not primarily a ,philosophical' but a ,sociological' auto» ist1. Diese Aussage hat gewiß ihre Berechtigung. Sie gibt aber die Prioritäten des Stücks nicht richtig wieder. Das Grundthema des Großen Welttheaters ist ein ontologisches, ein fundamentaltheologisches und damit ein philosophisches im Rahmen einer Theologie. Dieses ontologische Grundthema umspannt den soziologischen Aspekt und verweist ihn in seine theologischen Grenzen. Mit dieser These hoffe ich, von Calderöns Stück ausgehend, einen kleinen Beitrag zu einer noch zu schreibenden Ontologie des Barock zu liefern. Der Begriff besagt, daß es darum geht, die der Kunstrichtung Barock immanente philosophische Position herauszuarbeiten. Das Große Welttheater eignet sich hierzu ganz besonders. Es kommt auch dem Stück zugute, wenn man es so sieht: es kommt dann erst in seinem historischen und überzeitlichen Gewicht voll zum Tragen. Das Leitmotiv von El gran teatro del mundo ist ein durch gesanglichen Vortrag hervorgehobener Satz im Rahmen dieser versteckten Ontologie. Es lautet:

1

Alejander A. Parker: The allegorical drama of Calderón. An introduction to the autos sacramentales. Oxford/London: The Delphin Book Co. 1943 (Reprint Brussels 1961), S. 113.

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Obra bien, que Dios es Díos2 (ich hebe hervor). In der Übertragung von Joseph von Eichendorff lautet der Satz (leider, muß man wohl sagen): Tue recht, Gott über euch.3 Dieses «Gott über euch» verharmlost und vermenschlicht den Text; es schneidet ihn auf das romantische, gefühlsbetonte Ich zu. Es muß wörtlich, und einzig zutreffend, heißen: «Denn Gott ist Gott.» Es ist dies der einzige Satz des Werks - der überdies wiederholt gesagt, ja gesungen wird -, in dem von einem Wesen schlicht festgestellt wird, daß es ist. Für die Figuren des Stücks im Stück, für den König, den Reichen, den Bauern, den Armen, Schönheit, Klugheit und «ein Kind» sagt Schönheit stellvertretend: Sólo en tu concepto estamos ni animamos ni vivimos. (Vers 289) Von Eichendorff übersetzt: Deines Denkens Schattenrisse Sind wir, die nicht schaun nicht leben. Der Bauer sagt: A tu mandamiento estoy Como hechura de tu mano (Vers 311) Deinem Winke folg ich gern Als das Machwerk deiner Hände. Der Arme hebt hervor, daß zwischen den Figuren des Stücks hinsichtlich ihrem ontologischen Status kein Unterschied ist. Er fragt anfangs, als er sich noch nicht in seine Rolle gefügt hat: wenn der 2

Ich zitiere nach d. Ausgabe von A. Valbuena Prat in den Clásicos Castellanos. Madrid 1951.

3

Franz Lorinser in: Don Pedro Calderóns de la Barca Geistliche Festspiele, in deutscher Übersetzung mit erklärendem Commentar und einer Einleitung über die Bedeutung und den Werth dieser Dichtungen, herausgegeben von Dr. Franz Lorinser, 1. Band, Regensburg: Manz 21882, S. 100, übersetzt: Recht zu thun; Gott unser Hort! Auch diese Ubersetzung verfehlt die ontologische Dimension. Hans Urs von Balthasar übersetzt in Calderón de la Barca, Das große Welttheater, übersetzt und für die Bühne umgestaltet von Hans Urs von Balthasar, Einsiedeln, Sigillum 46,1959, S. 20: Gott unser Freund, wir seine Dichter. Amen.

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König das gleiche Recht hat wie ich, warum hat er dann eine bessere Rolle (v. 470f.). Der Schöpfer beruhigt ihn, indem er ihm klarmacht: spiel du deine Rolle gut, dann werde ich dich mit ihm gleichstellen (te igualaré con él, v. 418). Später, nach dem Spiel, geht der Arme dem König voran, worüber dieser sich ärgert. Der Schöpfer seinerseits hält klar fest, daß seine Geschöpfe nur eine Rolle übernehmen und spielen werden. Sie haben sich diese nicht aussuchen können. Zwischen ihm und seinen Geschöpfen, auch dem König, liegt eine klare ontologische Differenz: Ya sé que si para ser el hombre elección tuviera, ninguno el papel quisiera del sentir y padecer; (...) aquello es representar aunque piense que es vivir. Wollte ich die unruhvollen Menschen um die Wahl befragen, Auch nicht einem wollt behagen Möchten dann des Leidens Rollen (...) Was er für das Leben hält, Eben nur das Schauspiel (ist). Gott ist Gott, ja Gott allein ist, er ist der, der er ist. Der Mensch hat wohl eine unsterbliche Seele, aber seiner Erscheinungsform nach, auch seinem Stand nach, seiner Bedeutung als Mensch nach spielt er nur eine Rolle. Es kommt alles darauf an, daß er sie gut spielt und so das Gesetz der Liebe erfüllt. Gelingt ihm das, dann wird er zum himmlischen Gastmahl berufen. Und da gibt es keine Unterschiede mehr. Die Menschen sind also mit dem, was sie darstellen, nicht im Sinne des Seins, das Gott ist. Zwischen Gott und den Menschen als historisch-sozialen Wesen ergibt sich eine ontologische Differenz. Zwischen Gott und dem Menschen vermitteln «Das Gesetz der Gnade», «Eine Stimme» und «Welt», sonst niemand, nicht die Kirche und nicht der Papst. Das ist bemerkenswert. Calderón ist konse-

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Das Große Welttheater. Die Welt (A. Schradiek) und der Bauer (H. Pomarius) in der Inszenierung von Mario Krüger (Bamberg, 4.7.1987).

quent, in dieser Hinsicht gewissermaßen evangelisch konsequent.* (Bei Teresa de Avila sind auch solche Züge feststellbar. I0re ontologische Position wäre nicht weniger interessant.) 4

Erst nach der Repräsentation des Stücks und nach Gottes Urteil spielt, nicht als ontologische Vermittlung, sondern als Fürsprache, die Kirche hinein. Discreción, auf die dies zutrifft, hält aber fest, daß sie nicht für «la Religión» steht, sondern nur ein Mitglied ihres Standes ist (v. 1240 f.). Auf den Papst und seine Ablässe wird nur vom Gracioso des Stücks, dem Bauern, Bezug genommen (v. 1493 ff.).

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«Das Gesetz der Gnade» verkündet den Gegenstand der «gran comedia», die Gott selbst verfaßt hat und die die Welt zur Bühne haben soll. Es besteht in dem bereits zitierten leitmotivischen Satz, der bei dieser Gelegenheit noch einen gewichtigen Vorspann erhält: Ama al otro como a ti, y obra bien, que Dios es Dios. Man könnte etwa übersetzen: Lieb den andern wie dich selbst, Handle recht, denn Gott ist Gott. Der erste Vers nennt das hohe Ziel, das auf den Dekalog zurückgreift. Niemand erreicht es so recht im Stück. Beim Armen liegt das in der Rolle: er bettelt und muß sich vom Landmann sagen lassen, er solle lieber schaffen; der König, die Schönheit, der Reiche und der Bauer geben ihm nichts; die in der Religion begründete rechte Erkenntnis gibt zwar etwas, muß sich aber vom Armen sagen lassen, daß sie Gott bequem dient. Calderón ist ein Menschenkenner. Er weiß, daß die Eigenliebe der Schatten ist, den der Mensch niemals überspringen kann. «Gesetz der Gnade» läßt deshalb im weiteren diesen Teil meistens weg. Die Losimg heißt nur noch: Obrar bien, que Dios es Dios. Recht handeln, denn Gott ist Gott. «Gesetz der Gnade» weiß, was man dem Menschen zutrauen darf. Das wird sich im Stück noch klar zeigen. Während «Gesetz der Gnade» eine Vermittlung von Gott zum Schauspiel der Welt darstellt, funktioniert «Eine Stimme» umgekehrt. Es ist eine Stimme, die im Binnenstück selbst, im Augenblick der Erprobung, dem Menschen seine Lage vor Gott bewußt macht. «Welt» muß uns etwas ausführlicher beschäftigen. Der Schöpfer spricht sie gleich zu Beginn folgendermaßen an: Hermosa compostura de esa varia inferior arquitectura, que entre sombras y lejos a esta celeste usurpas los reflejos,

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cuando con flores beilas el nümero compite a sus estrellas, siendo con resplandores humano cielo de caducas flores (v. 1-7) Anmutige Konturen Der aus der Tiefe dämmernden Naturen, Die zwischen Licht und Nächten Des Himmels Abglanz sich erproben möchten Und die Gestirne überfunkeln Mit ihren schönen Blumen, die verdunkeln, Eh sie noch kaum erglühten, Ein irdischer Himmel schnell verwehter Blüten. Auch die Welt wird also von Gott eindeutig auf ontologische Distanz gebracht. Es handelt sich um eine «varia inferior arquitectura». Die entscheidenden Charakteristika der Welt stehen im bewußten Gegensatz zum Himmel. Sie liegen in Wandelbarkeit und Unterlegenheit, in der Herkunft aus dem Dunkel und in der weiten Entfernung vom Himmel und schließlich in der fehlenden inhaltlichen Entsprechung zum Himmel: «a esta Celeste arquitectura usurpas los reflejos»: die Schönheit der Welt mißt sich zu Unrecht mit der des Himmels. Und wenn die Zahl der Blumen mit den Sternen wetteifern kann, so ergibt sie doch nur einen menschlichen Himmel vergänglicher Blumen. Mit anderen Worten: die Welt ist dem Wandel unterworfen und vergänglich. Sie ist dem Göttlichen ontologisch different wie das Dunkel dem Licht. Der Schöpfer setzt im folgenden schwere barocke Metaphorik ein, um diesen Wandel und den damit verbundenen uneindeutigen Mischcharakter der Welt herauszuholen. Da zerfurchen beispielsweise die Schiffe der Vögel die Luft (te surcan los bajeles las aves) und Geschwader von Fischen durchfliegen das Meer (te vuelan las escuadras de los peces). Die Metaphern arbeiten so den Mischcharakter der Welt heraus. Sie bringen alles in Bewegung, mischen die Elemente, zeigen, daß das Meer wie die Luft, die Luft wie das Meer sein kann, während Gott Gott ist: «que Dios es Dios». Dieser Mischcharakter umfaßt auch die Schönheit der Welt. Die Welt ist wandel-

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Das Große Welttheater. Von links nach rechts: der Arme (Ch. Schult), die Weise (G. Weng) und der Meister (J. Burdinski).

bar und bewegt. Aber sie ist als solche faszinierend und schön. Zur barocken Schönheit gehört ja gerade die Bewegtheit. Diese Schönheit der Welt stammt von Gott. Er hat sie der Materie verliehen. Sie ist seine Schöpfung: Pues soy tu Autor, y tu mi hechura eres (v. 36) Da ich Dein Schöpfer und Du mein Geschöpf bist.

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Für diese Schönheit der Welt gilt daher das gleiche wie für den Menschen: sie ist eindeutig ontologisch different. Calderón bringt hier kein Analogiedenken in Ansatz. Er schlachtet beispielsweise nicht den im Mittelalter vielzitierten Satz aus dem Buch der Weisheit aus, in dem es heißt, daß Gott alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet hat. Ganz im Gegenteil bezeichnet er es als Anmaßung, wenn sich die Welt mit dem Himmel vergleicht: ihre Schönheit vergeht. Calderón hält es hier, wie fast gleichzeitig Quevedo5, mit stoischem Denken, dem gemäß das Leben eine Komödie, die Welt eine Bühne, der Mensch ein Schauspieler und Gott der Autor ist, der nach seinem Belieben Rollen verteilt. Was für Mittelalter und Renaissance Piatonismus und Neuplatonismus sind, das ist für den Barock die Stoa. Sie gestattet auseinanderzunehmen und als Gegensatz von Schein und Sein zu fassen, was Mittelalter und Renaissance auf Stufen und über die Analogie vermittelt sahen. Mit diesem Abbau des neuplatonischen Stufendenkens hängt es zusammen, wenn menschliche Schönheit und Reichtum als Figuren des Binnenstücks eindeutig negativ festgelegt sind. Nach neuplatonischem Denken wäre die Schönheit eine höhere Stufe des Seins. Sie vermittelt zum wahren Sein, zu Gott hin. Das kann Calderón nicht gebrauchen. Die menschliche Schönheit ist bei ihm Verführerin und ein Narziß. Sie hört und sieht gar nicht, daß der Arme Not hat. Sie schaut sich im Spiegel des Wassers an. Der Reichtum vollends, der im Mittelalter mit Adel konnotierte, vereint so ziemlich alle Hauptsünden auf sich: Wollust, Völlerei, Faulheit und Neid. Sein «nutze den Tag» könnte aus der Renaissance stammen. Calderón sieht die Welt anders. Das Binnenstück, das Große Welttheater im engeren Sinn, illustriert Calderóns Weltsicht als Sinnbild für menschliches Leben und für Heilsgeschichte. Es ist in Zubereitung, Aufführung, Personen und 5

In Epicteto y Fociletes en español con consonantes, Madrid 1635. Angel Valbuena Prat spricht sich in der Einleitung zu seiner Ausgabe des Stücks (Clásicos Castellanos) dafür aus, daß es um dieses Datum herum, vielleicht schon 1633, vielleicht auch kurz nach 1635 anzusetzen sei. Diese Position übernimmt Hans Urs von Balthasar im Nachwort zur erwähnten Ausgabe. Nach Harry W. Hilburn: A Chronology of the Plays of don Pedro Calderón de la Barca. Toronto: The University of Toronto Press 1938, entstand das Stück zwischen 1645 und 1650. N.D. Shergold, A History of the Spanish Stage, Oxford: Clarendon Press 1967, S. 438 spricht von einer Aufführung des Stücks, die 1641 in Valencia stattgefunden habe.

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Handlung eine gespielte Ontologie des Barock. Es ist ein fundamental- und moraltheologisches Lehrstück. Es zieht klar die Grenzen zwischen Gott und Schöpfung. Gott der «Autor» - will seine Macht feiern (una fiesta hacer quiero a mi mismo poder; v. 39 f.); er will nur seine Größe zeigen (sólo a ostentación de mi grandeza; v. 41). Weil es sein Fest ist (si la fiesta es mía; v. 49), soll seine compañía, seine Truppe, das heißt die Menschen, eine comedia aufführen und zwar die comedia ihres eigenen Lebens. Calderón sagt hier nicht auto sacramental, Fronleichnamsspiel. Er sagt comedia (Schauspiel). Dem Binnenstück fehlt ein entscheidendes Charakteristikum zum Fronleichnamsspiel: der ausdrückliche Hinweis auf das Altarssakrament. Der erfolgt erst nachher. Auch gattungsmäßig besteht also eine klare Distanzierung. Wir begegnen wieder dem Prinzip der Mischung: im auto sacramental wird eine comedia gespielt. Es herrscht hier gattungsmäßig die gleiche confusión, wie sie der Schöpfer zweimal vom Zustand der Geschichte bzw. von den Leistungen der Menschen vermeldet (v. 938, 1002). Der Schöpfer sagt da, natürlich könne er dafür sorgen, daß die Menschen nicht in die Irre gehen. Aber er will den freien Willen respektieren. Im übrigen steht dieses Festhalten am Zustand der confusión - das Unkraut soll mitwachsen - in Übereinstimmimg mit dem ontologisch bedingten Kunstprinzip des Barock. Der Mensch ist nicht Gott, er irrt sich immer wieder, geht in die Irre, und jeder braucht am Ende die Gnade. Bei jedem muß Gott ein Auge zudrücken. Am Ende des Binnenstücks ermahnt er die Zuschauer, sich zu bessern, nachdem sie die yerros de hoy gesehen haben, d.h. nachdem sie in der comedia gesehen haben, wie da die Menschen in die Irre gehen. Die comedia ist also ernst zu nehmen; das zeigt auch ihre Einbettung in ein auto sacramental. Aber sie soll auch Spaß machen. Diesbezüglich dürfen es der Autor und die Zuschauer mit Gott halten. Es soll für sie ein Fest und ein Vergnügen sein. Der Spaß enthält für die Zuschauer eine Lehre, die vor dem Generalthema der ontologischen Differenz zu lesen ist. Die Figuren haben hinsichtlich der Grundbedingung eines bloßen, vergänglichen Rollenspiels einander nichts voraus. Sie sind diesbe-

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züglich völlig gleich. Ihre Rolle wird ihnen übergeben, zusammen mit den Insignien, und sie müssen hernach wieder aus ihrer Rolle heraustreten und die Insignien abliefern. Auch das König-Sein ist nur ein estar, es ist ein vorübergehendes Dasein, ein Auf-der-ProbeStehen und eine pure apariencia. Es ist diesbezüglich wie das EinArmer-Sein. Der Arme hält das ausdrücklich fest. Beides enthält, gemessen am Sein Gottes, die gleiche Chance und birgt die gleiche Gefahr. Die Chance, die Probe zu bestehen, wird im umgekehrten Verhältnis zur gesellschaftlichen Bedeutung geringer. Der Arme nutzt die Chance besser, wesentlich besser als der König: er qualifiziert sich gleich für den Himmel, während der König ins Fegefeuer soll. Man kann nicht sagen, daß das Ausdruck einer konservativen soziologischen Sicht sei. Es ist aber auch nicht primär sozialkritisch gedacht - es spielt höchstens etwas Sozialkritik hinein. Es ist zunächst metasoziologisch gemeint. Es ist Ausdruck einer heilsgeschichtlichen Sicht, der gemäß es ganz wesentlich darauf ankommt, das Gesetz der Gnade und die eigene Lage als Geschöpf Gottes richtig einzuschätzen und entsprechend recht zu handeln. Mundo, die Welt, sagt einmal zur Menschlichen Schönheit und zur Vertreterin religiöser Orden (Discreción): Una acierta, y otra yerra (v. 731) Die eine macht's richtig, die andere falsch. Es ist also nicht so, daß Menschliche Schönheit ihre Rolle gut spielt, indem sie Discreción die Schlingen der Liebe auslegt, um sie zu Fall zu bringen, auch wenn sie so ihrer Rolle als Allegorie der Schönheit gerecht wird. Es geht um mehr. Was sie aus ihrer Rolle macht, wird an der Wahrheit des Seins und an einer Moral gemessen, die sich hiernach ausrichtet. Gut seine Rollen spielen heißt erkennen, wer man ist und wer Gott ist, daß man Staub ist und Gott Gott ist. Schlecht die Rolle spielen heißt, sich verabsolutieren, seine Rolle vom ontologischen Grund, von Gott abziehen. Das heißt nicht, daß soziologische Aspekte ganz fehlen. Es ist nicht zu übersehen, daß sich Discreción, Religion, die sofort den Himmel erreicht, und der König gegenseitig stützen. Da scheint sich eine soziale Hierarchie durchzusetzen. Aber darunter birgt sich

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Das Große Welttheater. Oben von links nach rechts: die Weise (G. Weng), die Schöne (G. Otto), der Reiche (St. Kolo) und die Welt (A. Schradiek). Unten: der Arme (Ch. Schult), der König (O. Schrott) und der Reiche (St. Kolo).

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keine ontologische Hierarchie, kein Stufendenken. Ontologisch stehen sie alle in einer Ebene, ontologisch gibt's da überhaupt keine Stufe, sehr im Unterschied zum Neuplatonismus und zum von ihm abgeleiteten mittelalterlichen Gradualismus. Man täuscht sich auch, wenn man meint, daß mit Rey und Discreción die Spitze der Gesellschaft, König und Klerus gemeint seien. In deutschen Übersetzungen wird dieses «Discreción», von Joseph von Eichendorff und anderen, mit «Der Weise» wiedergegeben. Das ist irreführend. Die Lage wird nicht viel besser, wenn man diesen Weisen in das Gewand eines Priesters steckt; ein Mönchsgewand geht schon eher an. Der Text indiziert eindeutig, daß nicht der Klerus, sondern der Schwesternstand, als Beispiel für ein in der Religion begründetes rechtes Erkennen, gemeint ist. Für Discreción steht hier die Nonne, und zwar noch genauer die Klausurnonne nach Art der Karmelitin. Teresa de Avilas reformierter Karmel könnte das Vorbild sein; vielleicht ist aber auch gerade der nichtreformierte, lasche Zweig gemeint. Die Kritik des Armen, die Nonne diene Gott, habe es aber auch gut, könnte in diese Richtung zielen. In einer Aufzählung, die der Arme vornimmt, und die eindeutig die Figuren des Stücks zum Gegenstand hat, wird Discreción klar als Nonne (la religiosa) identifiziert. An einer anderen Stelle heißt es: «Va a caer la Religión y la da el Rey la mano»: da ist nicht «eine Hand wäscht die andere» gemeint, sondern das gegenreformatorische Bündnis zwischen König und religiösen Orden. Discreción sagt deswegen einmal von sich, sie gehe gar nicht gern aus dem Haus, sie «breche nicht gern die Klausur ihres friedlichen Gefängnisses» (v. 685 f.). Das sagt die Nonne, nicht der Weise und auch nicht spezifisch der Priester. Wenig später sagt sie noch deutlicher: Yo no he de salir de casa; ya escogí esta religión para sepultar mi vida: por eso soy Discreción, (v. 719) Aus dem Hause geh ich nicht, ich hab diesen Stand gewählt, um mein Leben zu begraben, deshalb heiß ich Religion.

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Die Zulassung zum himmlischen Gastmahl erfolgt also ganz gegen die gesellschaftliche Ordnung: der Arme und die Klausurnonne werden unmittelbar zugelassen. Sie kommen sofort in den Himmel: Suban a cenar conmigo el pobre y la religión (v. 1449). Eichendorff übersetzt: Sei der Bettler und der Mönch Denn zum Ehrentisch erhoben. Es muß richtig heißen: Sei der Bettler und die Nonne denn zum Ehrentisch erhoben. Die Nonne und die Armen verbindet die Armut. Im Grunde verbindet sie auch die «necesidad», das Angewiesensein auf Hilfe. Vom Armen wird sie ausdrücklich festgestellt. Aber jeder weiß, daß die Nonne auch Hilfe braucht. Die Nonne und der Arme sind Anruf, das Gesetz der Liebe zu erfüllen. Was sie verbindet, ist die relative Rechtlosigkeit. Der Arme und die Nonne enthalten damit eine wichtige Lehre zum Menschen; in ihnen tritt die Kontingenz und Bedürftigkeit des Menschen viel klarer heraus als im Reichen, in der Schönheit und im König - und auch klarer als das beim Kleriker der Fall wäre, der hier nicht gemeint ist. Wer reich oder wer König ist, der macht sich leicht etwas vor, der glaubt, daß er etwas habe und damit auch schon etwas sei. (Teresa de Avila führt entsprechend, im Libro de la vida, aus, sie müsse manchmal bei sich lachen, wenn sie sähe, wie wichtig sich manche Prälaten nähmen.) Wer glaubt, etwas zu sein, verbaut sich damit leicht die Einsicht in das Staub-Sein all dieses vermeintlichen Besitzes. Dem Armen und der Nonne, natürlich auch dem Mönch (soweit er wirklich seine Rolle, die Armut lebt), hilft die Armut. Sie macht es leichter, die Wahrheit von Gott und dem Menschen zu erkennen, die, daß Gott Gott ist (que Dios es Dios) und die, daß der Mensch nur Staub ist mit all seiner scheinbaren Herrlichkeit. Die Armut hilft zu erkennen, daß der Mensch, solange-er auf Erden wandelt, bedürftig ist, in der «necesidad» lebt, kontingent ist. Er

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müßte begreifen, daß alles für ihn darauf ankommt, die Liebe zu leben und Gott die Ehre zu geben. Es kommt vor allem deswegen entscheidend hierauf an, weil es für ihn, den Menschen, keinen Kreislauf gibt, wie für Bach, Quelle und Fluß. Er ist nicht einfach Natur, und für ihn kann es auch keine Lösung sein, sich der Natur anzugleichen, Natur zu werden. Denn der Mensch kehrt zwar auch zu seinem Ursprung, der Gott ist, zurück, ist aber dann nicht mehr, was er war, was er auf Erden war. Er kehrt zu seinem Ursprung zurück, «a no ser lo que fui» (v. 1001 f.), um nicht mehr zu sein, was er war. So sagt der König in einer Rede, in der er gewissermaßen über sich hinauswächst und hernach seine «yerros», seine Irrungen zugibt (v. 1005). Da haben wir sie wieder, die ontologische Differenz. Gott ist Gott, die Natur bewegt sich in einem Kreislauf. Der Mensch ist, so wie er in der Geschichte begegnet, einmalig. Er spielt da nur eine Rolle, und es kommt alles darauf an, daß er sie gut spielt. Es ist interessant festzustellen, daß Calderón letztlich nur dem Armen generell, als allegorischer Figur, den Himmel sofort eröffnet. Die Nonne hat zuvor festgehalten, daß sie nicht allgemein für den religiösen Ordensstand steht. Sie bricht hier für einen Augenblick aus dem allegorischen Ansatz aus. Discreción sagt da: ich bin nicht der Ordensstand, ich bin nur ein Ordensmitglied (v. 1240 f.). Calderón legt anscheinend großen Wert darauf, den Irrtum auszuschließen, daß die Wahl eines bestimmten Standes schon den Himmel und die Voraussetzimg hierfür, die rechte Einsicht, geschaffen habe. ?T

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«DER ARZT SEINER EHRE» UND «DAS GROSSE WELTTHEATER» IN DEUTSCHEN ÜBERSETZUNGEN UND BEARBEITUNGEN Unter den Stücken Calderóns, die zunächst das begeisterte Interesse der Frühromantiker (Ludwig Tieck, August Wilhelm Schlegel) und Goethes weckten, befand sich keines seiner vier großen Ehrdramen. Schlegels Auswahlübersetzungen im Spanischen Theater (1803-1809) lenkten die Aufmerksamkeit vielmehr auf das christliche Schicksalsdrama Die Andacht zum Kreuze, auf die historische Charaktertragödie Der standhafte Prinz, das allegorisch-opernhafte Festspiel Über allen Zauber Liebe, das sagenhafte Ritterspiel Die Brücke von Mantible sowie die Intrigenkomödie Die Schärpe und die Blume sowie das biblische Schauspiel Locken des Absalon als «Musterstücke» für ein neues deutsches Versdrama. Wenige Jahre später wird sich Goethe außerdem noch mit der Tocher der Luft, Das Leben ein Traum und der Großen Zenobia beschäftigen. Erst danach, ab 1818, in einer späteren Phase der Auseinandersetzung mit Calderón, werden die Ehrdramen übertragen und schließlich auch aufgeführt. Das heißt nicht, daß jetzt erst die Bedeutimg von Ehre und Liebe für Calderóns Dramatik entdeckt worden wäre. Schon A.W. Schlegel hatte diese scharfsichtig erkannt. «Ehre, Liebe und Eifersucht» so schrieb er, «sind durchgängig die Triebfedern; aus ihrem gewagten, aber edlen Spiele geht die Verwicklung hervor und wird nicht durch schelmenhaften Betrug ge-

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flissentlich angezettelt. Die Ehre ist immer ein ideales Prinzip, denn sie beruht ... auf jener höheren Sittenlehre, welche Grundsätze heiligt, ohne Rücksicht auf Erfolg.»1 Doch gerade dieser typisch spanische Ehrenstandpunkt, der seinen literarischen Ausdruck gefunden hatte in zahlreichen dramatischen Gestaltungen des 17. Jahrhunderts, war nach dem Durchbruch der Vernunftethik in der Aufklärimg nur schwer zu vermitteln an ein Publikum, dessen Wertvorstellungen und gesellschaftlich-historischer Erziehungshintergrund sehr verschieden waren von denen im spanischen Siglo de Oro. Diese Distanz zum Ehrproblem bzw. zur Frage, wie (vermeintlich oder tatsächlich) verletzter Ehre wieder Genugtuung zuteil wird, schafft sichtlich Verlegenheit sowohl bei den Kritikern als auch bei den Theaterleuten selbst. Einerseits bewundern sie, mit Schack etwa, die formal «durchgängige Meisterschaft der Composition» im Arzt seiner Ehre2. Schack hält das Werk trotz des Ehrenfanatismus für «eine der wundervollsten Schöpfungen im ganzen Reiche der Poesie», aber andererseits stößt die furchtbare Tragödie ab durch ihre überspitzte Rechtsauffassung. Dieser Zwiespalt zwischen Faszination und Befremden zeigt sich nun in einer Reihe von deutschen Bühnenbearbeitungen. Wohl kein anderes Werk Calderöns ist so häufig für die Bühne «eingerichtet» und dabei so tiefgreifend verändert worden wie El médico de su honra. In der bewegten und zuweilen auch von fruchtbaren Mißverständnissen gekennzeichneten Geschichte der Aneignung Calderöns in Deutschland bildet das Ringen um eine angeblich bühnengerechte und zeitgemäße Fassung dieses Ehrendramas ein sehr bemerkenswertes Kapitel. Vielleicht war der Auslöser dafür die ausführliche Behandlung des Stückes durch Simonde de Sismondis in La littérature du Midi de l'Europe (Paris 1813, deutsche Fassung 1816-19). In derselben Zeit setzte auch die Beschäftigung der Übersetzer mit El mayor monstruo los celos ein. Der Mariamne-Herodes-Stoff dieser blutigen Tragödie des Mißtrauens wurde im 19. Jahrhundert mehrfach wieder aufgenommen (Grillparzer, Rückert, Hebbel). Es ist be1 2

Schlegel, August Wilhelm: Sämtliche Werke. Hrsg. E. Böcking, Leipzig 1847, Bd. 6, S. 397. Schack, Adolph Friedrich von: Geschichte der dramatischen Literatur und Kunst in Spanien, Frankfurt 21854, Bd. 3, S. 156.

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merkenswert, daß El médico de su honra zuerst in einer freien Bearbeitung auf die Bühne kam. Joseph Christian Freiherr von Zedlitz (1790-1862), ein seinerzeit geschätzter Dichter und Schulkamerad Eichendorffs, ließ allerdings in seiner fünfaktigen, an der Wiener Burg 1823 aufgeführten Tragödie Zwey Nächte in Valladolid (gedruckt Wien 1825) von der spanischen Vorlage nicht viel übrig; er legte auch gar nicht das Original zugrunde, sondern griff wohl auf Schreyvogels Fassung zurück. Was ihn vor allem interessierte, waren (imaginäres) spanisches Ambiente, wie es dem Zeitgeschmack entsprach, und düster-leidenschaftliche Stoffe. In diesem Zusammenhang fügt sich auch Der Stern von Sevilla (1829), dessen Handlung ebenfalls unter dem unbarmherzigen Gesetz des Ehrenkodex auf die Spitze getrieben wird. Weniger erfolgreich mit seiner metrisch treuen Übersetzimg des Arztes seiner Ehre für die deutsche Bühne von 1826 war dagegen der Hamburger Sprachlehrer Georg Nikolaus Bärmann (1785-1850), der 1820 in Halle ohne Studium den Doktorgrad erlangt hatte; er widmete sich im großen Stil der Übersetzung und brachte u.a. Bulwer-Lytton, Lord Byron, Walter Scott, Shakespeare, Molière und Eugène Scribe heraus. Als er, beim 12. Calderón-Stück angelangt, noch immer keine Bühne für eine seiner deutschen Versionen gewonnen hatte, stellte er das Unternehmen in voller Erbitterung über die «heutigen Volksschauspieler, die, verloren im Übertriebenen, Matten und Erbärmlichen, nicht mehr im Stande sind, irgend dasjenige genügend darzustellen, was dramatisches Kunstwerk genannt werden kann», obwohl er doch im Text bereits alle jene Passagen genau gekennzeichnet hatte, die bei einer Aufführung ausgelassen werden könnten. Hier wird erneut das Bemühen um einen Bühnen-Calderón deutlich, das im merkwürdigen Widerspruch steht zu Goethes begeistertem Eindruck vom unmittelbaren «Theatralischen, ja Bretterhaften» der Calderónschen Kunst. Im Fall des Médico de su honra verspürten die Regisseure allerdings immer wieder das Bedürfnis nachzubessern, um dem Werk die ihrer Meinung nach bühnengerechte, wirksamere Gestalt zu geben; mit Calderón freilich haben solche Eingriffe wenig gemein. 1827 brachte Andreas Schumacher (1803-1868), ein Beamter in der Wiener Hofkanzlei und Übersetzer von Shakespeare-Gedichten, als

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letztes von 36 Schauspielen Calderóns Don Gutierre. Der Arzt seiner Ehre heraus. Wieder stand dafür Joseph Schreyvogels (1768-1832) am Burgtheater 1818 erfolgreich uraufgeführte Bearbeitung des spanischen Stücks Pate. Der österreichische Dramaturg modelte es um zu einer aristotelisch-klassizistischen Charaktertragödie in fünf Akten und in Blankversen. Die Eingriffe in den Text der Originalvorlage wiegen schwer. Die auftretenden Personen werden einerseits vermehrt, etwa um Bediente, «Bürger, Wachen und Volk» - das hat mit der ursprünglichen Soziologie des Dramas nichts zu hm -, andererseits wird die wichtige Figur des Gracioso gestrichen. An dessen Stelle führt Schreyvogel als Diener Gutierres das Paar Coquin und Florell ein. Bühnenanweisungen verdeutlichen die Umstände des Geschehens. Die Monologe werden zumeist gerafft, manchmal aber auch verlängert, etwa am Schluß von Akt IV, um Gutierres Konflikt als einen rein psychologischen herauszuarbeiten. Szenenumstellungen, neue Schauplätze und Einschübe verändern das Gefüge der Handlung und die Verkettung der Geschehnisse. Die Gestalt Enriques bekommt durch episodische Ausgestaltung (beispielsweise der Intrigue der Maurensklavin Jacinta) stärkeres Gewicht als bei Calderón. Schreyvogel verändert nicht nur Calderóns Sprachduktus, sondern vor allem auch die Auflösung des tragischen Konflikts, indem er poetische Gerechtigkeit walten läßt. Der König verurteilt Gutierres Tat als «Wahn» und nennt ihn einen Barbaren. Er begnadigt ihn zwar mit dem Leben und verbindet ihn mit Doña Leonor, doch verbannt er ihn zugleich. Gutierre erkennt seinen Irrtum, gibt seine Schuld zu und erdolcht sich mit Enriques Waffe vor den Augen des Königs: Ist Mencia schuldlos, so hab ich getan, was keine Buße sühnt in dieser Welt. Für Gnade dünkt Gutierre sich zu groß, Des Helden Recht, o König, ist sein Schwert: Wie es ihn schützt, straft es auch ihn selbst.3

3

Calderón, Don Pedro: Eine Auswahl deutscher Übertragungen. Hrsg. Ludwig Goldscheider, Stuttgart u.a. 1924, Bd. 1, S. 143-226, Übersetzung von Carl August West, d.i. Joseph Schreyvogel.

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Dem Publikum bot Schreyvogels Fassung einen entsprechend dem Geschmack und den Bühnenerfordernissen seiner Zeit purgierten, entschärften Calderón; fast vier Jahrzehnte lang bestimmen deren Aufführungen am Wiener Burgtheater das Verständnis des spanischen Ehrendramas. Am Königlichen Theater in Berlin wurde Der Arzt seiner Ehre erst 1837 (also fast zwei Jahrzehnte später als in Wien) inszeniert und bis 1843 wiederholt aufgeführt. Im Zeichen des seit der Frühromantik beliebten Vergleichs (und gegenseitigen Ausspielens) von Shakespeare und Calderón wird El médico de su honra wiederholt Othello gegenübergestellt (so schon in Caroline Pichlers Widmungsgedicht für Schreyvogels Bearbeitung oder später von Moriz Carriere). 4 Die einzige als Übersetzimg zu bezeichnende deutsche Wiedergabe der spanischen comedia bot Johann Gries (1775-1842), auch er ein gebürtiger Hamburger, erst kurz vor seinem Tod. Sie ist am weitesten verbreitet und bis heute auch immer wieder aufgelegt worden.5 Gries, der jahrzehntelang in Jena, dem «Centrum der Deutschen Literatur» lebte und mit vielen berühmten Dichtern der Zeit bekannt war, hatte sich auf Goethes Anregung hin seit etwa 1811 der Eindeutschimg von Calderóns Bühnenwerk gewidmet. Seine Übertragung der Zenobia hielt Goethe für «vortrefflich» (die Weimarer Aufführung 1815 wurde allerdings ein Mißerfolg). An die Goethes Meinung nach notwendige Überarbeitung der Schlegelschen Übersetzungen durch Gries bzw. an dessen weitere, eigene Übersetzungen knüpfte er hohe Erwartungen. Sie könnten eine «große Wohlthat» werden und ein neues Calderón-Verständnis schaffen. Gries war mit sicherem Stil- und Formgefühl begabt und hatte durch Übertragungen von Tasso und Ariosto bereits große Erfahrung gewonnen. Er versuchte, das ursprüngliche Versmaß beizubehalten und möglichst originalgetreu zu übersetzen. Dabei hatte er sich ständig der Meinung zu erwehren, er sei nur ein Fortsetzer und Anhänger Schlegels. Gries wollte sich nicht vereinnahmen lassen von der «neuen Schule» des überschwenglichen Calderónismus, 4 5

Carriere, Moriz: «Calderóns Arzt seiner Ehre» und Shakespeares Othello», in: Nord und Süd 1881, S. 235-252. Z.B. Don Pedro Calderón de la Barca, Dramen, München 1963, S. 363-480.

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sondern als Übersetzer seinen gleichsam philologisch vermittelnden Beitrag liefern. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts schuf Adolf Friedrich Graf von Schacks Geschichte der dramatischen Literatur und Kunst in Spanien (Bd. 3, Frankfurt 21854) eine neue Grundlage für das literaturhistorische Verständnis von Calderöns Theaterkunst gegenüber den eher kunsttheoretischen romantischen Deutungen der Brüder Schlegel. Schacks trotz aller Vorbehalte gegenüber dem «fremden Calderön» von Bewunderung für die ästhetische und dramatische Vollendung von El midico de su honra erfüllte Deutung ist nicht ohne Folgen geblieben. In seinem Handbuch der spanischen Literatur (Leipzig 1856, Bd. 3, 676 ff.) bietet Ludwig Lemcke als Textbeispiel für Calderöns weltliche Schauspiele allein Auszüge aus dem Arzt seiner Ehre dar, eine ungewöhnliche Entscheidimg angesichts der bislang herrschenden Vorlieben. Einige bühnenstatistische Vergleichszahlen mögen die neuen Tendenzen veranschaulichend Am Frankfurter Stadttheater wurde im Zeitraum 1849-1886 Das Leben ein Traum fünfzehn Mal, Der Arzt seiner Ehre immerhin dreizehn Mal gespielt. Am Berliner Hoftheater brachten es zwischen 1849 und 1899 Der Arzt seiner Ehre und der Richter von Zalamea jeweils auf dreizehn Aufführungen, Das Leben ein Traum auf fünfzehn, Der Maler seiner Schmach auf dreiundzwanzig und Dame Kobold schließlich auf dreiunddreißig Aufführungen. An der Rangfolge auf den Spielplänen Dame Kobold, Das Leben ein Traum und Der Ritter von Zalamea sollte sich auch in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg nichts mehr ändern. Interessanterweise pflegte Richard Wagner die Calderön-Lektüre über viele Jahre hinweg mit geradezu ritueller Regelmäßigkeit.7 In seiner Autobiographie vermerkt er, daß der Spanier einen «tiefen und nachhaltigen Eindruck» auf ihn gemacht habe. Als Leitfaden diente ihm Schacks Geschichtshandbuch (Schack war sein Nachbar in München), und in Wagners Bibliothek befinden sich auch nicht 6

Angaben nach Helmut Schanze, Drama im bürgerlichen Realismus 1850-1890, Frankfurt 1973, Anhang.

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Wagner, Richard: Mein Leben. Hrsg. Martin Gregor-Dellin, München 1977, S. 567 f., 696; s.a. Neumeister, erw. Aufsatz, S. 266.

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wenige Textausgaben. 1857, in der Zeit, als Wagner am Musikdrama Tristan und Isolde arbeitete, spricht er erstmals von der Lektüre des Midico de su honra. Bald darauf wollte er in Frankfurt die Aufführung von El secreto a voces (Das laute Geheimnis) sehen, kam jedoch zu spät, als das Stück schon vom Spielplan abgesetzt war. Man verwies ihn auf Don Gutierre mit Friederike Meyer als Mencia. Wenn auch ihre Kraft für das «gewaltige Pathos» dieser Gestalt nicht ausreichte, so zeigte sich Wagner dennoch «von der Aufführimg der Calderönschen Tragödie im ganzen sehr befriedigt». 1881 hat er zusammen mit Cosima nochmals den Arzt seiner Ehre gelesen, leider wieder ohne seine Gedanken über das Werk mitzuteilen. In einem Brief an Franz Liszt (1858) teilt e seine Bewunderung mit für die in Calderons Dramen zum Ausdruck gebrachte Ehrauffassimg. «Die eingreifendsten Darstellungen des Dichters haben den Conflikt dieser ,Ehre' mit dem tief menschlichen Mitgefühl zum Vorwurf; die ,Ehre' bestimmt die Handlungen, welche von der Welt anerkannt, gerühmt werden; das verletzte Mitgefühl flüchtet sich in eine fast unausgesprochene, aber desto tiefer erfassende, erhabene Melancholie, in der wir das Wesen der Welt als furchtbar und nichtig erkennen. Dieses wunderbar ergreifende Bewußtsein ist es nun, was in Calderon so bezaubernd schöpferisch gestaltend uns entgegentritt, und kein Dichter der Welt steht ihm hierin gleich.»8 Die beiden 1880/84 und 1891/96 erschienenen mehrbändigen Ausgaben ausgewählter Schauspiele Calderons enthalten nicht den Arzt seiner Ehre. Die erste, von Schack eingeleitete, enthält acht der schon klassischen Übersetzungen von Schlegel und Gries (darunter Der wundertätige Magus, Der standhafte Prinz, Das Leben ein Traum, Der Richter von Zalamea, Die Dame Kobold und Das laute Geheimnis: sie gehören zum Standardrepertoire). Die andere im katholischen Herder-Verlag von Konrad Pasch besorgte Ausgabe bietet 14 bislang noch nicht übersetzte Stücke Calderons. Dazwischen und in einer Zeit, da insgesamt nur noch wenige Calderonausgaben herauskamen, brachte Adolf Wilbrandt 1889 in Berlin eine Einzelausgabe mit einer neuen Bearbeitung des Medico de su honra «für die deutsche 8

Zitiert bei Neumeister, S. 257 (Briefwechsel zwischen Wagner und Liszt, Leipzig 1887, Bd. 2, S. 187 f.).

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Bühne» heraus. Inzwischen war Calderóns Bewertung durch die Literaturkritik und -historie nicht zuletzt als Folge des Kulturkampfes in das Gegenteil der Begeisterung im ersten Jahrhundertdrittel umgeschlagen. Die schon mit Grillparzer angebahnte Bevorzugimg Lopes gegenüber Calderón schlägt in Adolf Schaeffers Geschichte des spanischen Nationaldramas (Leipzig 1890, Bd. 2) voll durch. Nach den das ganze Jahrhundert hindurch geführten Diskussionen über die Einteilung des dramatischen Schaffens von Calderón eröffnet Schaeffer seine Gesamtdarstellung des spanischen Dichters völlig überraschend mit El médico de su honra (S. 2-7), nicht, weil er dieses «berühmte Trauerspiel» für das wichtigste hielt, sondern weil er Calderón die Verfasserschaft schlichtweg abspricht. Es sei im Aufbau «eine nahezu sklavische Nachbildung» einer Vorlage von Lope de Vega (eine Zuschreibung, die sich heute nicht mehr aufrechterhalten läßt), Lope gebühre das Verdienst der Erfindung und Disposition der Handlung, Calderóns Anteil hingegen sei verschwindend gering zu veranschlagen. Im Bemühen, Calderón abzuwerten und Lope umso höher auf den Schild zu heben, nimmt Schaeffer eine im Stil der damaligen philologisch-kritischen Quellenforschung aufsehenerregende neue Zuschreibung vor. Sie hatte freilich keinen Bestand und war aus einer anticalderonischen Laune und Voreingenommenheit entsprungen.' Die letzte (und damit siebente) deutsche Fassung von Dr. Rudolf Presber (1868-1935), einem Journalisten und Schriftsteller aus Frankfurt, erschien vor achtzig Jahren.io Presber wollte zunächst nur eine «wesentliche Umarbeitung» in Gestalt eines Dramas mit vier Aufzügen, um Calderón vor Calderón zu schützen und «dieser Tragödie die Bühne zu erobern». Zu diesem Zweck reinigt er das Stück «vom Staub des Allzuspanischen und Antiquierten». Was echt spanisch ist, meint Presber aus landläufiger Vorstellung zu wissen, auf 9

Schon in der von H. Dohm herausgegebenen Darstellung Die Spanische National-Literatur in ihrer geschichtlichen Entwicklung, Berlin 1887, heißt es: «El medico de su honra ist ein grauses Trauerspiel ... In einer wundervollen Sprache ist die tragische Idee dieses Stückes ausgeführt, die Träger derselben jedoch, Mencia und Gutierre, sind nichtsbedeutende Charaktere ...»(S. 449,451).

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Der Arzt seiner Ehre. Drama in vier Aufzügen. Für die deutsche Bühne übersetzt und bearbeitet von Rudolf Prester, Berlin 1907.

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die er sich mit dem Bühnenbild beruft: Garten mit Aussicht auf sonnige Ebene, Mandolinenklänge (!) im Hintergrund, maurisches Interieur, exotische Wohlgerüche. Diese Details sollen dem Stück «just die abstoßenden Eigentümlichkeiten» abnehmen. Presber, der sich gegen die Bildungsheuchelei jener deutschen Bildungsbürger ereifert, die vorgeben, ihren Calderón zu kennen, fällt offenkundig selbst einem Spanienklischee zum Opfer. Vom Dichter weiß er nur mitzuteilen, daß er über 100 Dramen «mehr improvisiert, als in behutsamer Arbeit ersonnen» habe! Seine Bearbeitung ist in Blankverse gefaßt, aus den drei jornadas der Vorlage werden vier Akte (mit mehreren Szenenwechseln). Plesber gibt ebenfalls die komische Figur auf und führt u.a. neu ein Don Ottavio, Gouverneur von Sevilla, einen Vetter Don Gutierres. Kräftigen Kürzungen stehen Akzentverlagerungen und Erweiterungen an anderen Stellen gegenüber. Die Elemente des Glaubens (der im Original übrigens eine erstaunlich geringe Rolle spielt) sowie der Ehre hat er nach eigenem Eingeständnis eigenmächtig gemildert. Dementsprechend wird eine Mencia vorgeführt, die Enrique erklärt, daß sie ihren kindlichen Glauben an Gott längst verloren habe und in dieser kompromittierenden Situation vollends an seiner gütigen Vorsehung zweifle. Presber verändert ebenfalls das für modernes Empfinden «schlankweg unannehmbare Ende der Tragödie», dem er auch die früheren Mißerfolge zuschreibt. Einen antisemitischen Zungenschlag bringt die Umbenennimg des Arztes in Eleazar mit sich. Von Gutierre mehrfach als Jude angesprochen, vollführt dieser die grausige Tat und tötet statt zu heilen, um sein eigenes Leben zu retten. Gutierre bietet dem Scheusal dafür Geld. Tod der Mencia und Totenwache mit vier betenden Nonnen werden melodramatisch ausgestaltet. Der König, der von einem nächtlichen Streifzug inkognito durch Sevillas Amüsierviertel in Gutierres Haus eintritt, spricht unmittelbar vor der Totenbahre Recht. Er mißbilligt zwar Gutierres leidenschaftliche Verblendung, erblickt jedoch im Infanten Enrique, seinem eigenen Bruder, den wahren Schuldigen. Dieser versucht nämlich, eine Verschwörung anzuzetteln. Gutierre soll mit einem Heerbann gegen die Rebellierenden ausziehen. Als Bewährungspro-

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be und Strafe nimmt er den Auftrag an und sieht bereits den Sieg voraus: Mein Haß ist tot, und meine Liebe lebt! Und wenn sie mich in allen Gassen preisen, Als deiner edlen Krone Schwert und Hort, Will ich den Kranz von dieser Stirne reißn Ich war es nicht, der siegte - jene dort (S. 220) (auf die tote Mencia deutend). Mit dieser Wiederherstellung der Gerechtigkeit sowohl durch das Schuldgeständnis als auch durch zugleich sühnende und siegende Loyalität gegenüber dem Herrscher meinte Presber, dem Ehrkonflikt die Spitze genommen zu haben. Das ist ihm gewiß auch gelungen, freilich um den Preis einer Verstümmelung des Calderónschen Werkes, das er doch eigentlich «als Lebendiges für das deutsche Publikum» hatte hervorheben wollen. Die Beschäftigimg der deutschen Theaterregisseure und Übersetzer mit El medico de su honra fand dann auch mit dieser Umarbeitung des Dramas durch Presber ein Ende. Unter den Stücken Calderóns, die nach 1945 auf deutschen Bühnen aufgeführt wurden, befindet sich Der Arzt seiner Ehre nicht mehr, lediglich die deutsche Fassimg von J.D. Gries wurde wieder aufgelegt. Die Beschäftigung mit diesem «Trauerspiel der Ehre» war von Anfang an in Deutschland hineingezwängt in die romantische Vorstellung vom «Schicksalsdrama». August Wilhelm Schlegel gab dazu das bezeichnende Stichwort, wenn er die Ehre bei Calderón als «feindseliges Schicksal» bezeichnete und in ihr zugleich, die Poetisierung des auf die Spitze getriebenen theatralischen Effekts erkannte. Doch gerade diese Erkenntnis haben die Nachfolgenden offensichtlich kaum beherzigt, denn im Verlauf des 19. Jahrhunderts setzte sich immer stärker eine historisierende Deutung durch, die einerseits das «befremdliche, ja abstoßende» dramatische Geschehen als getreue Abspiegelung spanischer Gesellschaft, Sitte und Wesensart verstand. Eine solche Sichtweise bestätigt zugleich immer mehr die Unzeitgemäßigkeit, «die ferne, sehr spanische Größe», wie sie etwa auch Karl Voßler empfand, der Calderóns Schauspiele mit ihrem

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«veralteten Ehrbegriff» für heute «kaum mehr genießbar» hielt." Andererseits hat das Werk nicht aufgehört, Bearbeiter im Zeichen modischer Publikumswirksamkeit des Typs Schicksalstragödie zu faszinieren, nur verfremden sie Calderón dabei zusätzlich aus einer landläufigen, exotischen Spanienvorstellung heraus. An El médico de su honra wird der Fehlschlag jener krampfhaften Bemühungen besonders deutlich, die Calderón im 19. Jahrhundert mit aller Macht für das deutsche Theater zu vereinnahmen und nutzbar zu machen trachteten. Das Theater der Ehre und das Große Welt-Theater, das Rollenspiel der Menschen vor Gott und das der Menschen untereinander mit einem Bogen deutend zu umspannen, ist nicht einfach. Der Gedanke, daß Calderón als poeta theologus mit seinen christlichen Weltvorstellungen zutiefst widersprechenden furchtbaren Ehrendrama El médico de su honra die sündhafte Situation einer Welt hätte zeigen wollen, in der selbstgesetzte Normen den Menschen ausweglos gefangenhalten und selbst die stärkste seiner Seelenkräfte, die Liebe, heillos zugrunderichten, diese hintergründig mögliche geistliche Bedeutimg der Arztmetapher kam spätgeborenen, laizistisch denkenden Zuschauern oder Theaterprofessionellen in einem gewandelten gesellschaftlich-geschichtlichen Umfeld nicht in den Sinn. Gab es doch schon längst große Verständnisschwierigkeiten mit den geistlichen Schauspielern selbst. Als «geistliche Possenspiele»12 waren Calderóns autos sacramentales nicht nur von der neoklassizistischen Literaturtheorie und aufklärerischen Kritik des 18. Jahrhunderts abgelehnt worden; sie entsprachen auch nicht mehr dem veränderten religiösen Empfinden und den Möglichkeiten, Glaubensinhalte mit den Mitteln darstellender Künste sinnfällig-allegorisch zu erklären. Die Aufführung von autos war sogar in Spanien verboten worden. Ihre Wiederentdeckung geschah in der deutschen Frühromantik beim Versuch einer Neubegründung der Poesie aus dem Geist der christlichen Religion. Friedrich Schlegel sah im Werk Calderóns, des Dichter-Theologen schlechthin, den «Inbegriff romantischer Kunst und christlicher 11

Voßler, Karl: Aus der südlichen Romania, Leipzig 1950, S. 206.

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Flögel, Karl Friedrich: Geschichte des Groteskekomischen, Liegnitz, Leipzig 1788, S. 73.

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DIETRICH BRIESEMEISTER

Sinnbildlichkeit». Im Vordergrund des neuen Interesses gerade auch an den religiösen Fragen des calderonschen Theaters standen allerdings nicht die autos, sondern Dramen wie El mágico prodigioso, La devoción de la cruz, La vida es sueño, El principe constante, wenngleich F. Schlegel etwa die autos sacramentales durchaus kannte und auch 1803 erstmals den für das Calderön-Verständnis des 19. Jahrhunderts immer wieder herangezogenen Vergleich mit Dante anstellte. Die Verbindung Calderóns mit der «Literatur des Katholizismus» sollte bei den ideologischen Auseinandersetzungen des 19. und 20. Jahrhunderts und den Versuchen einer religiösen Restauration besonders folgenreich werden. «Calderóns autos sind in der gedrängtesten Form gerade das, was Dantes Divina Commedia in ihrem majestätischen Umfang ist: christlich allegorische Darstellungen des Universums», sagte Schlegel in den Berliner V o r l e s u n g e n . " Dante gleiche mehr einem Propheten des Alten Bundes, Calderóns Poesie hingegen sei wie die Offenbarung Johannis. Diese «typische» Wertung gilt es, zumal im Blick auf das Große Welttheater, gegenwärtig zu halten. Die autos, die eigentlich zum Sehen und Hören geschrieben waren, die ganz aus oder nur mit der sinnenhaft szenisch gespielten Vergegenwärtigung des Wortes leben, sie wurden zu Lesedramen. An eine Aufführung als Schauspiel war überhaupt nicht zu denken. Es ist trotz Schlegels Hinweis auf die kunsttheoretische und spirituelle Bedeutung der autos auffällig, wie spät und zögerlich sich Übersetzer daranwagten. 1829 veröffentlichte der spätere Kardinal Melchior von Diepenbrock die erste deutsche Fassung eines autos (La vida es sueño bezeichnenderweise). 1846 erschien Joseph Freiherr von Eichendorffs Auswahlübersetzung der Geistlichen Schauspiele, darunter an zweiter Stelle Das Große Welttheater. Zehn Jahre später eröffnete der Breslauer Domherr Franz Lorinser seine 18bändige Übertragung aller geistlichen Festspiele (man beachte den Wechsel der Gattungsbezeichnimg!) mit dem Großen Theater der Welt (21882). Dieses Stück steht also an hervorgehobener Stelle innerhalb der neueren deutschen Rezeption von Calderóns autos, ja die insgesamt hierzulande wenig erfolgreichen Wiederbelebungsversuche des auto sacramental 13 Bei Brüggemarm, S. 186, Anm. 36 zitiert.

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beschränken sich eigentlich auf Übersetzungen und Bearbeitungen dieses einen Werkes; es gibt ein Dutzend davon. Eine gleiche Zahl von Übersetzungen erreicht, vielleicht wegen seines Bezugs zum Faust-Problem, El mdgico prodigioso. Nur in Deutschland ist den autos, und insbesondere dem Großen Welttheater, so viel Aufmerksamkeit gewidmet worden und ein nachhaltiger «Erfolg» beschieden gewesen; merkwürdigerweise fallen die Nachweise für die erste französische, italienische, portugiesische und ungarische Übertragung allesamt in das Jahr 1938, lediglich eine englische Fassung lag bereits 1856 vor. (Pdlllidjf &d)aulj>iflr

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