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German Pages 396 [394] Year 2005
Susanne Hartwig CHAOS UND SYSTEM: STUDIEN ZUM SPANISCHEN GEGENWARTSTHEATER
T P T - T E O R Í A Y PRÁCTICA D E L T E A T R O I N V E S T I G A C I O N E S D E LOS S I G N O S CULTURALES (SEMIÓTICA-EPISTEMOLOGÍA-INTERPRETACIÓN) T P T - T H E O R I E U N D PRAXIS DES T H E A T E R S U N T E R S U C H U N G E N Z U D E N KULTURELLEN Z E I C H E N (SEMIOTIK-EPISTEMOLOGIE-INTERPRETATION) T P T - T H E O R Y AND PRACTICE OF THEATRE INVESTIGATIONS O N CULTURAL SIGNS (SEMIOTICS-EPISTEMOLOGY-INTERPRETATION) VOL. 14
EDITORES / HERAUSGEBER / EDITORS: Alfonso de Toro Ibero-Amerikanisches Forschungsseminar Universität Leipzig • D - 0 4 1 0 7 Leipzig detoro@rz. uni-leipzig.de Wilfried Floeck Institut für Romanistik Universität Gießen • D - 3 5 3 9 4 Gießen [email protected] María Francisca Vilches de Frutos Consejo Superior de Investigaciones Científicas E - 2 8 0 1 4 Madrid [email protected] José Ramón Alcántara Mejía Universidad Iberoamericana • México, D.F. [email protected]
Susanne Hartwig
CHAOS UND SYSTEM: STUDIEN ZUM SPANISCHEN GEGENWARTSTHEATER
Frankfurt am Main • Vervuert • 2005
BIBLIOGRAFISCHE INFORMATION DER DEUTSCHEN BIBLIOTHEK D i e D e u t s c h e B i b l i o t h e k verzeichnet d i e s e P u b l i k a t i o n in der D e u t s c h e n N a t i o n a l b i b l i o g r a f i e ; detaillierte b i b l i o g r a f i s c h e D a t e n s i n d i m Internet ü b e r http://dnb.ddb.de abrufbar.
Die Publikation dieser Arbeit wurde großzügigerweise aufgrund eines Druckkostenzuschusses Alexander von Humboldt-Stiftung ermöglicht.
der
Alle Rechte vorbehalten © Vervuert Verlag, Frankfurt a m M a i n 2 0 0 5 Wielandstr. 4 0 - D - 6 0 3 1 8 Frankfurt a m Main Tel.: + 4 9 69 5 9 7 4 6 17 Fax: + 4 9 6 9 5 9 7 87 4 3 [email protected] www.ibero-americana.net I S B N 3-86527-237-1 Zugl. Habil, Uni Gießen 2 0 0 4 Umschlagentwurf: Michael Ackermann Fotografie: Szene aus Hysterica Passio von Angelica Liddell © Fotografie: Maral Kekejian Gedruckt auf säure- und chlorfrei gebleichtem, alterungsbeständigem Papier Printed in Germany
Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt, darin die Augenäpfel reiften. Aber sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber, in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt, sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug der Brust dich blenden, und im leisen Drehen der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen zu jener Mitte, die die Zeugung trug. Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz unter der Schultern durchsichtigem Sturz und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle; und bräche nicht aus allen seinen Rändern aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern. (Rainer Maria Rilke, Archaischer Torso Apollos)
Nach dem berühmten Gödelschen Theorem gibt es kein endliches System von Axiomen, das alle Probleme lösen kann. Der Zusammenhang zwischen Problemen und den zu ihrer Lösung erforderlichen Mitteln ist somit ein offener, erfinderischer Prozeß, ein schöner Beleg fiir das aktive Erschaffen von Sinn durch den Menschen, das einerseits frei und zugleich streng durch das zu lösende Problem begrenzt ist. (Prigogine / Stengers 1993: 317)
VORWORT
Am Anfang der vorliegenden Arbeit stand die Frage: Was verschweigen Texte? Am Ende stellt sich heraus, dass sie eher auf die Frage antwortet: Wie verschweigen Texte? Unter dem Titel Chaos und System liegt nun die gekürzte und überarbeitete Fassung meiner Habilitationsschrift vor, die ich im Februar 2004 an der Philosophischen Fakultät der Justus Liebig-Universität Gießen einreichte. Die Analysen des spanischen Gegenwartstheaters verstehen sich dabei als Beitrag zu einer allgemeinen Theorie der Bedeutungskonstruktion literarischer Texte. Vielen Menschen möchte ich an dieser Stelle danken, da ich weiß, dass ohne ihre Unterstützung dieses Buch nicht möglich gewesen wäre: an erster Stelle Herrn Prof. Dr. Wilfried Floeck (Universität Gießen), der die Arbeit von Anfang bis Ende hilfreich begleitet hat; dann natürlich Herrn Prof. Dr. Francisco Caudet Roca (Universidad Autönoma/Madrid) und Frau Dr. Maria Francisca Vilches de Frutos (CSIC/Madrid), die mich während meiner Forschungstätigkeit in Madrid tatkräftig unterstützt haben; schließlich auch Prof. Dr. Hartmut Stenzel (Universität Gießen), Prof. Dr. Alexander Graf (Universität Gießen) und Prof. Dr. Klaus Pörtl (Universität Mainz/Germersheim) für die Übernahme der Gutachten; nicht zuletzt aber meinen Kolleginnen und Kollegen aus Madrid und Gießen, darunter auch denen des Gießener Graduiertenzentrums Kulturwissenschaften, sowie meinen Freundinnen und Freunden (hier vor allem Astrid Erll und Jörg Bredno), deren Hilfe immer unschätzbar ist. Gedankt sei ferner der Alexander von Humboldt-Stiftung für die Gewährung eines zweijährigen Auslandsstipendiums in Madrid im Rahmen des Feodor Lynen-Programms und fiir einen wirklich großzügigen Druckkostenzuschuss. Ein weiterer Dank geht an die Deutsche Forschungsgemeinschaft fiir die Gewährung eines Stipendiums im Emmy Noether-Programm. Leitgedanke des Buches ist das paradoxale Denken nach Art eines Bertolt Brecht: Wer sich nicht in Gefahr begibt, kommt darin um. Potsdam, im Mai 2005
INHALTSVERZEICHNIS
VORWORT
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EINLEITUNG
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SPANISCHES GEGENWARTSHEATER
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2.1 Produktions- und Rezeptionsbedingungen
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2.2 .Generation der Jahrtausendwende'?
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SYSTEMINTERFERENZEN
3.1 Grundlagen 3.1.1 Textsysteme 3.1.2 Text - Kontext - Situation
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3.2 Theoretische Voraussetzungen 3.2.1 Definition 3.2.2 Entstehung von Interferenzen 3.2.2.1 Allgemeines 3.2.2.2 Schrifttext 3.2.2.3 Bühnentext
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3.3 Dimensionen der Systeminterferenzen 3.3.1 Leitdifferenzen und Systemdimensionen 3.3.2 Die Sachdimension 3.3.2.1 Innen vs. Außen 3.3.2.2 Wege aus dem System: Mariano Anós, El Aire entre las páginas; Antonio Morcillo, Despedida II; Leopoldo Alas, Última toma 3.3.2.3 Weitere Beispiele: Verrätselung vs. Auflösung der Trennung von Fiktionsebenen 3.3.3 Die Zeitdimension 3.3.3.1 Vorhervs. Nachher 3.3.3.2 Wege aus dem System: Paco Zarzoso, Umbral-, Llu'ísa Cunillé, Rodeo-, Borja Ortiz de Gondra, Mujeres: tomas-, Pedro Manuel Víllora, Bésame macho 3.3.3.3 Weitere Beispiele: Ellipsen - Spiegelungen - Schlaglichter . .
86 86 90 90
95 113 125 125
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3.3.4 Die Sozialdimension 3.3.4.1 Konsens vs. Dissens 3.3.4.2 Wege aus dem System: Pedro Manuel Víllora, La misma historia-, Roberto García, Scouf, Francisco Ortuño, Corre . . . . 3.3.4.3 Weitere Beispiele: Verschleierung vs. Verweigerung von Kommunikationsofferten
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GRENZGÄNGE
181
158 173
4.1 Das Wechselspiel der Systeminterferenzen 4.1.1 Selbstorganisation, Attraktoren und Schwellen 4.1.2 ,Skizzen und ,chaotische'Texte 4.1.3 Annäherung an die Grenze
181 181 188 196
4.2 Ordnung im Chaos 4.2.1 Rodrigo García, Prometeo 4.2.2 Rodrigo García, Compré una pala en Ikea para cavar mit tumba
199 199 215
....
4.3 Chaos in der Ordnung 4.3.1 Mariano Gracia Rubio, Orléans 4.3.2 Angélica Liddell, Tríptico de la aflicción
236 236 245
4.4 Charakteristika 4.4.1 Sinn? 4.4.2 Tertium daturi 4.4.3 Interpretation?
264 264 271 275
4.5 Typen spanischen Gegenwartstheaters
286
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KULTURELLE KONTEXTE
298
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LEISTUNGEN DES KONZEPTES SYSTEMINTERFERENZ
310
6.1 Besonderheiten des Ansatzes 6.2 Weiterführende Fragestellungen
310 318
SCHLUSSBETRACHTUNG
322
Abkürzungen
324
Bibliographie
325
1
EINLEITUNG Heard melodies are sweet, but those unheard Are sweeter; therefore, ye soft pipes, play on. (John Keats)
Finde Regeln, die nur bei Ausnahmen gelten! Stelle Formeln für Unordnung auf! Beschreibe den unvorhersehbaren Aspekt von Erwartungen! Weise nach, dass Festlegungen Prozesse sind! — Eine Darstellung des spanischen Gegenwartstheaters kommt solch paradox anmutenden Handlungsanweisungen gleich. Immerhin gilt es, heterogene Formen ,textueller Unordnung' zu beschreiben und gerade das der Analyse zugänglich zu machen, was sich der Begriiflichkeit entzieht. Bei komplexen Texten stellt sich nämlich das Problem, dass die Beschreibung ihrer Strukturen im Grunde eine wörtliche Reproduktion des Textes sein muss.1 Denn dessen Einzelelemente lassen sich auf so vielfältige Weise miteinander verbinden, dass jede (komplexitätsreduzierende) Lesart als unzulässige Einschränkung des Bedeutungsspektrums erscheint. Doch Textmodelle operieren nun einmal mit Verallgemeinerungen und Abstraktionen. Hinzu kommt die schwierige Aufgabe, komplexe Texte mit ihren chaotisch anmutenden Elementen mit solchen Texten zu vergleichen, die sehr klare Strukturierungen anhand von Geschichten oder Leitthemen zulassen. Gibt es hier Gemeinsamkeiten jenseits wenig aussagekräftiger Allgemeinplätze? Traditionelle Beschreibungskategorien von Dramen wie Figur, Raum, Zeit und Handlung 2 verlieren bei vielen zeitgenössischen Theatertexten ihre distinktive Kraft. Greimas' (1966) auf einer sehr abstrakten Ebene ansetzendes Aktantenmodell etwa kann in Texten ohne Intrige und Konflikt zwischen abgrenzbaren Sprechern kaum mehr als eben die Abwesenheit dieser Merkmale feststellen. Die Betrachtung der Figuren als Aktanten setzt nämlich voraus, dass sie identifizierbare Identitäten haben und dass ihnen Handlungen zugeordnet werden können.3 Selbst bei einer nur abstrakten Nutzung des Aktantenmodells jenseits konkreter Sprecher muss dabei jedoch gewährleistet sein, dass thematische Schwerpunkte und Fiktionsebenen benannt werden können. Viele Gegenwartstexte bieten aber
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Komplexität bezeichnet „die Zahl der Möglichkeiten, die durch Systembildung ermöglicht werden" (Luhmann 1989: 4). Das heißt, dass ein System umso komplexer ist, je mehr Text man benötigt, um es zu beschreiben (vgl. an der Heiden 1996: 103). Vgl. z. B. die Gesamtdarstellungen bei Spang 1991, Pfister 1994, Pavis 1996. In seiner klassisch gewordenen Studie unterscheidet Greimas (1966) Subjekt, Objekt, Adressant, Adressat, Adjuvant und Opponent, die in spezifischen Relationen zueinander stehen. Fischer-Lichte macht darauf aufmerksam, dass diese Aktanten nur bei Handlungen mit Konfliktstruktur beschrieben werden können (2001: 167). Vgl. dazu Nöth 2000: 407. Greimas' Aktantenmodell liegt z. B. Pavis' (2002) Studien zum französischen Gegenwartstheater zugrunde.
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CHAOS UND SYSTEM: STUDIEN ZUM SPANISCHEN GEGENWARTSTHEATER
selbst diese elementaren Voraussetzungen nicht mehr. Die Analyse muss sich in diesen Fällen mit der Feststellung begnügen, dass Figuren, Raum, Zeit und Handlung(en) fehlen, kann die Texte darüber hinaus aber nicht begrifflich differenzieren. Poschmann gibt in diesem Sinne zu bedenken, dass Begriffe der Dramenanalyse ex negativo allenfalls noch sinnvoll anwendbar sind auf „Texte der klassischen Moderne, die sich in der Auseinandersetzung mit dem traditionellen Drama entwickelten und teilweise selbst in Abgrenzung von ihm definierten" (1997: 5); für viele Texte der Jahrtausendwende reichen sie jedoch nicht mehr aus. Auf neuartige Texte alte Kategorien nur negativ anzuwenden, bedeutet nämlich, die Eigenständigkeit dieser Texte als Phänomene sui generis zu negieren oder bildlich gesprochen: eine Katze als defizitären Hund wahrzunehmen.4 Zudem ist es, streng genommen, unzulässig, bei der Modellierung von Unbestimmtheit in literarischen Texten bereits von festen Analysekategorien wie ,Figur' oder .Handlung' auszugehen — solche Konzepte entstehen ja erst während des Rezeptionsaktes, und gerade der Mechanismus der Konstruktion solcher Konzepte sollte ins Zentrum des Interesses rücken.5 Als Folge der Unsicherheit im Umgang mit traditionellen Untersuchungskategorien ist eine verstärkt phänomenologische Betrachtungsweise des Gegenwartstheaters zu beobachten. Oftmals wird dieses in Einzeltextstudien mit verschiedenen Ansatzpunkten oder anhand allgemeiner formaler, in loser Reihung dargebotener Aspekte vorgestellt. Jesús Cracio schreibt z. B.: Primero: el cambio más radical [en el teatro español contemporáneo] ha sido la ruptura de unidades; segundo: existe una clara discontinuidad de tiempo y espacio donde a veces los planos se confunden o se superponen; tercero: aunque exista una mayoría de personajes realistas, últimamente y a partir, sobre todo, del año 9 0 , aparecen con frecuencia personajes abstractos, despersonalizados, c o m o si fuesen unas voces extrañas, anónimas; cuarto: la proliferación de monólogos y de poemas dramáticos y líricos; y quinto: textos m u c h o más cercanos a un posible guión de cine que a una obra de teatro. (Cracio 1998: 143) 6
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Fehlende Instrumente wirken sich negativ auf die Differenziertheit der Wahrnehmung aus, oder wie Bode treffend bemerkt: „Dem Laien sind alle gotischen Kirchen gleich [...]; der Kenner hält sich länger auf, weil er mehr sieht" (1988: 135). Vgl. hier z. B. Grabes' (1978) Untersuchungen dazu, „wie aus Sätzen Personen werden". Vgl. Klassifizierungen des spanischen Theaters z. B. bei Rague-Arias 1996: 238; 2000: 17, 31-45, Floeck 1997: 45; 1999: 161, Cornago 1999: 32f. sowie thematische Periodisierungen bei Vilches 1994: 286; 1999: 73-92 und Batlle i Jordä 1998. Für den französischsprachigen Raum vgl. z. B. Floeck 1989, Pavis 2002, zum italienischen Worttheater Finter 1991, Heymann 1993. Zu deutschem Gegenwartstheater vgl. Poschmann 1997, Weber 1992, Pflüger 1996 bzw. Einzelstudien in Zeitschriften wie Forum Modernes Theater oder Theater heute. Vielfach werden einzelne Werke ausgewählter Autoren nacheinander beschrieben.
EINLEITUNG
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Betrachtungen des Gegenwartstheaters wie diese mischen inhaltliche und formale Einzelaspekte, welche die Texte zwar charakterisieren, nicht jedoch Zusammenhänge zwischen den Kriterien und deren Kombinationen aufzeigen. Derartige Darstellungen des Gegenwartstheaters stützen sich auf das legitime Bemühen, die Heterogenität der Texte und die Pluralität ihrer Interpretationsmöglichkeiten zu bewahren eben durch die parataktische Nennung möglichst verschiedener Aspekte. Es darf jedoch nicht übersehen werden, dass nur übergreifende deskriptive Kategorien und allgemeine analytische Verfahrensweisen den Zusammenhang zwischen Strukturierungsverfahren, charakteristischem Gepräge der Texte sowie historischen Entwicklungen erfassen können. Cracio verdeutlicht z. B. nicht, wie die von ihm genannten Kriterien einander beeinflussen, und kann daher auch nicht zeigen, inwiefern gerade dieser Zusammenhang das Neuartige des Gegenwartstheaters ausmacht, können die meisten der von ihm genannten Attribute doch problemlos z. B. auch auf das Theater der klassischen Avantgarde der 20er Jahre oder auf das so genannte .absurde' Theater Anwendung finden. Statt ausschließlich am traditionellen Analyseinstrumentarium festzuhalten und dieses etwa über Negationen auszudifFerenzieren, erscheint es sinnvoller, ein neues, komplementäres Beschreibungsverfahren einzuführen, das neue Unterschiede sichtbar macht. Denn viele Analyseprobleme werden lösbar, wenn man sie in einen anderen Kontext stellt und so neue Wahrnehmungen ermöglicht. Ein allgemeines Modell von Textstrukturierungsverfahren ist dringend angeraten, um einerseits verschiedene Typen von ,ungeordneten Strukturen im Gegenwartstheater differenzieren zu können — denn bei weitem sind nicht alle fragmentierten Texte auch .chaotisch' — und andererseits das Neuartige an den Texten aufzuzeigen — denn altbekannte Techniken können neu funktionalisiert werden —, oder abstrakter formuliert: Invarianz in scheinbare Varianz und Varianz in scheinbare Invarianz einzuführen, vor allem, um die Texte in ihrem kulturellen Kontext würdigen zu können. Nur eine allgemeine Theorie kann Spezifik sichtbar machen, denn diese braucht einen Hintergrund, vor dem sie sich absetzen kann. Wenn sie die genannten Einzelaspekte in einen übergreifenden Zusammenhang bringt, wird sie auch zugleich zur Grundlage einer Überblicksdarstellung des spanischen Gegenwartstheaters. Damit wäre einem weiteren Desiderat Genüge getan, nämlich dessen Formenreichtum und Produktivität darzustellen, einen Vergleich mit Texten anderer Länder zu ermöglichen und damit der immer noch zu beklagenden Marginalisierung spanischer Produktionen im europäischen Kontext entgegenzuwirken. 7
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Dafür gibt es historische, soziologische und wissenschaftsgeschichtliche Gründe; vielfach ist es schlicht die Sprachbarriere, welche die Rezeption spanischer Texte z. B. in Deutschland erschwert. Eine Pionierleistung in der wissenschaftlichen Darstellung des spanischen Gegenwartstheaters stellen Floeck 1990 und 1997 dar. Zur weitgehenden Unbekanntheit des modernen spanischen Theaters außerhalb Spaniens vgl. Floeck 2002, zu geschichtlichen
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CHAOS UND SYSTEM: STUDIEN ZUM SPANISCHEN GEGENWARTSTHEATER
Ein Text ist über das bestimmbar, was er an Konstruktionen ermöglicht, aber auch über das, was er an Konstruktionen verweigert: über Unbestimmtheitsstellen, Leerstellen, über Offenheit, Lücken oder Schweigen.8 Doch ist eine Benennung des Sachverhalts nicht schon die Lösung des Beschreibungsproblems. Denn fokussiert eine Analyse einmal auf die Brüche in der Textstruktur, ergeben sich zahlreiche Folgefragen: Sind alle Leerstellen gleich? Haben alle eine ähnliche Wirkung auf die Konstruktionstätigkeit des Rezipienten? Wie werden sie im Text oder auf der Bühne funktionalisiert? Gibt es spezifische Leerstellen des (Gegenwarts)Theaters? Und wie entsteht Ordnung? Eine Antwort auf die Frage nach ,Lücken im Text scheint indes einfacher zu sein, wenn man umgekehrt fragt: Wie kommt es zu Unordnung? Wie fuhrt ein Text den Rezipienten ins Chaos? Komplexe Texte auf Grundregeln zurückzufuhren, ohne sie zu trivialisieren, erscheint nämlich viel einfacher, wenn man nach einer ,Generierungsregel' für Unordnung fragt - und eben darüber die Texte klassifiziert. Der Vorgang ist Beschreibungen in der Physik vergleichbar, die chaotische Entwicklungen von Systemen über rekursive mathematische Formeln erfassen, so dass Einfaches und Komplexes miteinander kombiniert werden. Die vorliegende Arbeit wechselt in diesem Sinn den Blickwinkel: Statt zu untersuchen, was aus den Textelementen konstruiert werden kann (wie in einer traditionellen Dramenanalyse), sucht sie danach, wie Konstruktionen vom Text verhindert werden. Sie fragt damit nicht nach Mehrdeutigkeit der Textelemente, sondern danach, wie Lücken, Unbestimmtheit und Offenheit eines Textes erzeugt und vom Gegenwartstheater genutzt werden. Das sokratische Diktum „Rede, dass ich Dich sehe!" wandelt sich zu einem „Verschweige, dass ich Dich sehe!" Damit soll das, was wiederholt als .Markenzeichen des Gegenwartstheaters proklamiert worden ist, am Beispiel spanischer Texte systematisch beschrieben werden, dass es nämlich schwer auf Bedeutungen und Aussagen festzulegen sei und durch lückenhafte Vorgaben und unerwartete Wendungen kohärente Sinnkonstruktionen immer wieder durchkreuze.9
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Gründen dafür Floeck 1990a: 3. Spanisches Theater spielt auch in Deutschland eine untergeordnete Rolle. Ausnahmen bilden die Texte des Katalanen Sergi Belbel, Gastspiele der andalusischen Gruppe La Zaranda (Regie: Eusebio Calonge), der katalanischen Gruppe La Fura deis Baus oder Rodrigo García und sein Carnicería Teatro, welches z. B. 2001, 2 0 0 3 und 2 0 0 4 auf das Berliner F.l.N.D. {Festival Internationaler Neuer Dramatik, Schaubühne Berlin), 2 0 0 2 auf die Bonner Biennale und 2004 auf die Recklinghausener Ruhrfestspiele eingeladen wurde. Uber .Leerstellen' oder .Lücken in Texten des Gegenwartstheaters reden z. B. Sanchis Sinisterra 1995, Sanchis Sinisterra in Pérez-Rasilla 1996b: 3f., Ortiz de G o n d r a in PérezRasilla 1997: 93, Pallín in Reiz 1997: 54, Reiz 1997a: 138, Batlle i Jordä 1998: 43, Zamorano in Trancón 1999: 60, Pallín in Huguet-Jerez 2 0 0 0 : 5. Z u m französischen Theater vgl. z. B. Corvin 1989: 6f., zum deutschen Theater Nagel 2 0 0 0 . O f t wird darauf hingewiesen, die Texte enthielten nur flüchtige Momenteindrücke und seien vage und mehrdeutig. Vgl. z. B. Cornagos Urteil: „La nueva escena [...] renuncia a elementos
EINLEITUNG
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Die Grundiiberlegung einer Charakterisierung des Gegenwartstheaters ist dabei folgende: Zwar entziehen sich viele Texte kohärenten Analysen, die Art und Weise, wie sie dies tun, ist indes kohärent analysierbar. Anders gesagt: Ein Text kann nicht auf beliebig viele Arten unberechenbar sein, denn die Konstruktionstätigkeit des menschlichen Geistes beruht auf einigen wenigen Grundprinzipien. ,Sinnverweigerung' von Gegenwartstexten wird entsprechend beschrieben, indem ,Wege aus der Ordnung ins Chaos' und ,Wege aus dem Chaos in die Ordnung' analysiert werden. Als Bezugspunkt der Beschreibungen soll ein Konzept Systeminterferenz anhand der Systemtheorie Niklas Luhmanns entwickelt werden. Da das „Muster, das verbindet" (Bateson 1993: 17) auf der Ebene der Rezeption des Textes gesucht wird und da allgemein Bedingungen und Möglichkeiten der Ordnungsbildung eines Textsystems die Grundlage des Beschreibungsmodells spanischer Theatertexte darstellen, können die aufgefundenen Muster auch auf andere „kulturelle Einheiten" (Eco) übertragen werden.
Forschungsstand Im Folgenden sollen einige generelle Tendenzen der Forschung charakterisiert werden, die mit dem besonderen Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit in einem engen Zusammenhang stehen. 1) Spanisches Gegenwartstheater Die überwiegende Zahl von Darstellungen des spanischen Gegenwartstheaters dient der Präsentation der Texte in ihrer Vielfalt und nicht in erster Linie der Suche nach neuen übergreifenden Klassifizierungen. Ein solcher phänomenologischer Uberblick über Einzeltexte10 dient primär der Inventarisierung möglichst vieler Werke. Der Vorteil dieser Darstellungsweise ist, dass der Blick auf Eigenarten der Texte nicht vorschnell durch Verallgemeinerungen verstellt wird, der Nachteil, dass eine Anhäufung von Details keine komplexen Zusammenhänge verdeudichen kann. Auch die Ubertragbarkeit von Einzelinterpretationen auf weitere Texte gestaltet sich als schwierig. Nur ein mit klaren Analysekriterien arbeitender allgemeiner Ansatz kann der Zersplitterung von Beobachtungen entgegen-
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homogéneos que puedan introducir invariantes, en beneficio de .inconstantes', impulsos más difícilmente previsibles convertidos en líneas de fuga que construirán umbrales de indefinición [...]" ( 2 0 0 1 : 65). Badle i Jordä spricht von „lo no-dicho, el sobreentendido, el malentendido, el doble sentido" des Theaters seit Mitte der 90er Jahre ( 1 9 9 8 : 43). Z u „lugares inconstantes" z. B. im argentinischen Theater vgl. Pellettieri 1 9 9 2 . Vgl. z. B. die Darstellungen jeweils einer Spielzeit von Vilches de Frutos in der Zeitschrift Anales de la literatura española contemporánea, die Rezensionen bei Centeno 1 9 9 6 oder die Uberblicke in Zeitschriften wie Primer Acto, ADE Teatro oder Reseña. Inhaltsangaben von Theatertexten weiblicher Autoren zwischen 1 9 7 5 und 2 0 0 0 gibt Hormigón 2 0 0 0 . Ein eher panoramischer Überblick findet sich bei Oliva 1 9 8 9 ; 1 9 9 8 ; 2 0 0 2 . Eine essayistische Form der Darstellung wählt Medina Vicario 2 0 0 3 .
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wirken. Bei dem Versuch, Gegenwartsdramatik globaler zu beschreiben, müssen die ausgewählten inhaltlichen und/oder formalen Merkmale zudem systematisch aneinander bezogen werden und sich auf dem gewählten Abstraktionsniveau gegenseitig ausschließen, denn nur dann liegt im strengen Sinne eine Klassifizierung vor, die eindeutige Zuordnungen erlaubt. Zudem sollten Kriterien ausgewählt werden, die Spezifika der Gegenwartsdramatik herausarbeiten - Anforderungen, die oftmals nicht erfüllt sind.11 Werden die das Theater charakterisierenden Begriffe zudem nicht operationalisiert, d. h. wird nicht angegeben, „was man tun muß, um eine Antwort zu erzeugen" (von Glasersfeld 1 9 8 7 : 2 8 6 ) , so sind sie schwer oder mitunter gar nicht anwendbar.12 Ein Blick auf die Publikationen, die eine globale Charakterisierung von Texten und Aufführungen des spanischen Gegenwartstheaters unternehmen, zeigt die Tendenz, mit sehr allgemeinen Begriffen wie postdramatisch, dekonstruktivistisch, fragmentarisch, rhizomatisch oder fraktal zu arbeiten, die zum Großteil ursprünglich nicht aus philologischen Zusammenhängen stammen. 13 Meist steht in den Untersuchungen allerdings nicht, auf welche Theorie sie sich genau beziehen (idekonstruktivistisch wird in vielen Arbeiten beispielsweise nahezu synonym mit fragmentarisch oder mehrdeutig gebraucht, ohne dass etwa Jacques Derridas' umfassende Theorie des Signifikanten anklänge), auf welcher logischen Ebene die benutzten Begriffe sinnvoll sind, wie man den Grad der Ausprägung der durch sie charakterisierten Textmerkmale erkennen kann (z. B. unterschiedliche Formen von Fragmentierung) und auf welche Weise die genannten Eindrücke auf Text-
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Viele Beschreibungen sind wenig prägnant, weil sie Gattungs- und Strukturbeschreibungen sowie rezeptionstheoretische Überlegungen auf unterschiedlichen Abstraktionsstufen miteinander vermischen. So nennt etwa Ragué-Arias „la crítica al fascismo, el racismo, el militarismo, la atracción por lo marginal, el teatro como ceremonia, las alusiones al mundo del cómic y de la televisión, el hecho de dirigirse a un público joven" (1996: 238), Heras (1999) Hypertextualität, Minimalismus, realismo sucio oder Einfluss von Kino und Videoclip. Alonso de Santos (1996: 95) gibt eine inhaltliche Aufzählung von zeitlosen Themen, die folglich das Gegenwartstheater nicht prägnant charakterisieren. Die Liste ließe sich verlängern. So charakterisiert de Toro das postmoderne Theater mit den Merkmalen „ambigüedad, discontinuidad, heterogeneidad, pluralismo, subversión, perversión, deformación, deconstrucción, decreación" und skizziert es allgemein als „antimimético" (1997a: 22). Jeder Begriff fur sich ist schillernd und müsste näher erläutert werden, um Konturen zu gewinnen. Zum Beispiel sagt „deformación" allein wenig aus, wenn nicht geklärt wird, was deformiert wird, wie sich die Deformation äußert und wie man sie im Text herausarbeiten kann. Dementsprechend wird auch die Funktion des Theaters im gesellschaftlichen Kontext gesehen: als Spiegel einer fragmentierten Welt, als Ausdruck des Verlustes transzendentaler Gewissheiten (Jean-François Lyotards métarécits) oder als Darstellung einer Identitätsdiffusion, einer Dezentralisierungsangst oder eines solipsistischen Kreisens um sich selbst (.Verlust der Referenz' bzw. ,Selbstreferentialität'). Vgl. z. B. de Toro 1990a: 21. Allgemeine Darstellungen bieten z. B. García Tempiado 1992, Ragué-Arias 1996; 2 0 0 0 , Floeck 1997, Berenguer/Perez 1999, Díaz Díaz 2 0 0 0 .
EINLEITUNG
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ebene erzeugt werden.14 Mindestens genauso interessant wie die Tatsache, dass kohärente Strukturen verschwinden, ist ja gerade die Frage danach, wie sie verschwinden. Da viele Schlagwörter, die in ein und derselben Darstellung genannt werden, nicht aus einheitlichen Analysekriterien hergeleitet werden, wird auch nicht deutlich, welchen Zusammenhang sie bilden. Die Terminologie der Einzeluntersuchungen ist oftmals eher hinderlich als erhellend, zum Beispiel weil sie impressionistisch, metaphorisch oder assoziativ und damit selbst erklärungsbedürftig ist, so dass sie genauso viele Fragen neu aufwirft, wie sie zu beseitigen sich anschickt;15 weil sie Wertungen vornimmt, ohne deren Voraussetzungen zu explizieren (Begriffe wie konservativ!innovativ, realistisch/symbolistisch, comprometido/autosuficiente, cómico/serio, traditionell/avantgardistisch basieren auf weitreichenden Präsuppositionen, die nur scheinbar allgemeinen Konsens hervorrufen); weil sie, ohne das Problem zu benennen, gelegentlich auf Begriffe zurückgreifen, die je nach (hermeneutischem, philosophischem oder soziologischem) Kontext Unterschiedliches bedeuten (z. B. Sinn, Botschaft, Handlung, aber auch theatral, dramatisch u. ä.); weil die Begriffe oft zu weit sind und daher nicht signifikante Nuancen der Gegenwartstexte sichtbar machen (z. B. pluralidad oder intertextualidad rizomdtica),16 keine Differenzierungen ermöglichen17 oder nur sehr schwer operationalisierbar sind; oder weil sie — das andere Extrem — zu eng und zu partikularistisch sind und damit synchrone und diachrone Zusammenhänge nicht erfassen. Besonders beliebt ist eine Charakterisierung des spanischen Theaters anhand des Begriffes realismo,18 manchmal mit dem Präfix neo-, der die Unterschiede zwischen alter und neuer Ausprägung des Phänomens zusätzlich verdunkelt. Wie in-
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So bringt Ragué-Arias (2000: 17) z. B. die Schreibweise von Gegenwartsautoren mit der Generierung von „unidades probabilísticas surgidas del desorden entrópico" zusammen (also offensichtlich in der Terminologie der Chaostheorie); im weiteren Verlauf ihrer Untersuchungen spezifiziert oder operationalisiert die Autorin diesen Begriff jedoch nicht, so dass er kein kohärentes Untersuchungsinstrument darstellt. Über das katalanische Theater schreibt Batlle i Jordä beispielsweise, es sei „la manifestación sincera de la perplejidad" (1996: 268). Bei zu weiten Begriffen werden heterogene Texte unter einem einzigen Merkmal zusammengefasst oder mit einem losen Etikett zusammengehalten (vgl. z. B. die meisten Gruppierungen bei Ragué-Arias 1996); in anderen Fällen werden Merkmale benannt, die nicht gattungstypisch sind, wie z. B. in de Toros Aussage: „Fragmentación, montaje y repetición son principios comunes de la organización performativa del teatro postmoderno [...]" (1997a: 22f.). So subsumiert O'Connor (1996) z. B. so unterschiedliche Auroren wie Paloma Pedrero, Ernesto Caballero, Sergi Belbel, Antonio Onetti und Rodrigo García unter den Oberbegriff novísimos, während die genannten Auroren kaum mehr gemeinsam haben als die Tatsache, dass sie in den neunziger Jahren Texte verfassen. Vgl. z. B. Batlle I Jordä 1996, Floeck 1997; 1997a, Cornago 2000. Von Neocostumbrismus sprechen beispielsweise Rubio Jiménez 1990: 318, Floeck 1993a, Wilke 1999: 182.
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flationär realismo gebraucht wird, zeigt bereits ein flüchtiger Blick auf die Epitheta, die den Begriff begleiten: expressionistisch, volkstümlich, kostumbristisch, symbolistisch, sozial, poetisch.™ Die Notwendigkeit solcher Präzisierungen deutet an, wie ungenau und wenig aussagekräftig der Begriff selbst ist. Unter Realistischem' (oder auch ,numerischem') Theater wird meist abbildungstheoretisch ein direkter sozialer Bezug (,Sozialrealismus') verstanden, oft in Verbindung mit Engagement (compromiso social). Um den Begriff realista so gebrauchen zu können, müsste indes zumindest ansatzweise theoretisch diskutiert werden, was überhaupt in einer Epoche und in einer Kultur als ,wirklich' gilt (und nicht: was .wirklich' ist, denn das kann aus konstruktivistischer Sicht ohnehin nicht ermittelt werden).20 Konstruktivistische Erkenntnistheorien verweisen gerade darauf, dass das, was eine Kultur als Wirklichkeit ansieht, ihre spezifische Art und Weise ist, mit Umwelteinwirkungen umzugehen, sie zu bewerten und zu verarbeiten. Ehe von Abbildungen gesprochen werden kann, muss vorab also erst geklärt werden, wie Textstrukturen den Eindruck von Realität erzeugen, etwa im Sinne von Roland Barthes' (1994) effet de réel als soziale Übereinkunft, nicht als Abbildung objektiver Gegebenheiten. Hier sind die Luhmannschen Begriffe der Selbst- und Fremdzurechnung1 vielversprechend, da sie eine Konzentration auf den Rezipienten implizieren, die Frage nach der Beschaffenheit der Wirklichkeit ausklammern und damit leichter auf literarische Texte anwendbar sind. Ahnliche Bedenken wie zum raz/irwzo-Begriff können für den Begriff narrativ angemeldet werden,22 denn was eigentlich ,eine Geschichte erzählen' bedeutet, müsste (auch unter Einbezug kognitionspsychologischer Theorien) erst genauer konturiert werden, ehe narrativ ein sinnvolles Beschreibungskriterium von literarischen Texten werden kann.23
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Vgl. z. B. Oliva 1989; 1992: 28, Ragué-Arias 1996, Gómez García 1996: 67. Wilke kommentiert: „Einem Topos gleich, wird oftmals kurzerhand die gesamte spanische Literatur als realistisch im Sinne von lebensnah bezeichnet und die Ursprünge des spanischen realismo bis zum Cantar de mío Cid und dem Libro de buen amor verfolgt" (1999: 28). Der Wechsel von Weltanschauungen fuhrt immer auch zu Wechseln der Darstellungsformen. Laut Konstruktivismus erfolgt die Wahrnehmung der Umwelt nach internen Regeln des Beobachters und nicht des Referenzgegenstandes (vgl. von Glasersfeld 1987, Watzlawick 1991, Schmidt 1996; 2000). Vgl. dazu Krause 1999: 178f. Schmidt beschreibt die Kunstentwicklung allgemein als zwischen den Polen Selbstbezug und Fremdbezug schwankend (2000: 315). Der Begriff narrativ meint z. B. in einigen Darstellungen allgemein ein Charakteristikum der Schrift, in anderen einen Verweis auf eine .ganze' Geschichte im Sinne von Aristoteles' Poetik, deren Kennzeichen Anfang, Mitte und Ende sind; in wieder anderen Darstellungen verweist narrativ auf einen Erzähler, der heterogene Fragmente zusammenfugt. Vgl. dazu z. B. Nünning/Nünning 2002a, Strasen 2002 und Zerweck 2002. Auch Begriffe wie tradicional, sainetesco, absurdo, grotesco oder — spezifisch spanisch - esperpento haben Bedeutungsverschiebungen erfahren. Wer sie im 21. Jahrhundert gebraucht, ohne sie noch einmal definitorisch zu präzisieren, hat in ihnen nur äußerst unzuverlässige Beschreibungsmittel. Wenn Sánchez z. B. dem Theater der 90er Jahre bescheinigt: „Siguen funcionando los
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Unproblematisch sind auch die Begriffe Selbstreferentialität der Sprache und Desemantisierung der Sprache (im Sinne eines Verlustes der Denotation)24 nicht. Sie verweisen darauf, dass die Sprache auf dem Theater nur noch ,sich selbst' bedeutet und nicht mehr auf eine außer ihr befindliche Wirklichkeit verweist. Abgesehen von den genannten Problemen, ,Wirklichkeit' als Bezugskategorie zu benutzen, kann Desemantisierung nur in konkreten Kontexten erkannt werden. Gerade die Konstruktion eines Kontextes ist aber im Gegenwartstheater oftmals das eigentliche Problem, nicht die Unverständlichkeit einzelner Kommunikationsbeiträge.25 Ohne Kontext ist es unmöglich zu entscheiden, ob ein Zeichen nur auf sich selbst verweist oder nicht. Auch in ihrer expressiven Funktion ist Sprache nicht autoreferentiell: Selbst unsinnig erscheinende Wiederholungen von Wortfetzen können ja durchaus auf etwas verweisen, was sie nicht selbst sind, z. B. auf Spannungszustände der Figur, die sie äußert; sie sind dann Indizien, aber nicht selbstreferentielle Zeichen. Begrifflich schärfer könnte Desemantisierung im Gegenwartstheater demnach erfasst werden, wenn man nicht nach Referenz, sondern nach der Konstruktion eines Kontextes fragt und allgemeine Bedingungen der Kontextkonstruktion bei der Informationsverarbeitung untersucht. Dies fuhrt zu der Frage, welche Strategien ein Rezipient anwendet, um eine Kommunikationssituation zu erfassen. In diesem Zusammenhang werden z. B. die in der Linguistik entwickelten so genannten Schematheorien interessant.26 Bedeutungskonstruktion ist in vielen Texten des Gegenwartstheaters gerade deshalb so schwierig, weil der Kontext nicht z. B. durch eine Charakterisierung
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conceptos de presentación o juego" (2000: 123), dann hat er zugleich Recht und Unrecht. Es stimmt, dass sich Zeigehaltung und Spiel auf der Gegenwartsbühne großer Beliebtheit erfreuen. Es ist jedoch fraglich, ob diese Zeigehaltung und diese Art des Spiels noch die gleichen sind wie in den 60er Jahren, denn der Kontext hat sich grundlegend gewandelt, und dadurch verändern sich auch die Kategorien und ihre Funktionen. Die Gemeinsamkeiten zwischen Spiel-Elementen wären demnach eher als „Familienähnlichkeiten" im Sinne Wittgensteins (2001: 787) zu konzeptualisieren als „ein kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, die einander übergreifen und kreuzen". Mit dem Begriff Familienähnlichkeiten verweist Wittgenstein auf „die Unmöglichkeit einer Realdefinition [...] fiir die meisten Begriffe, weil sie in vielen verschiedenen Kontexten unterschiedlich gebraucht werden und kein kontextunabhängiges Kriterium isoliert werden kann, das sozusagen das Eidos, das Wesen des Begriffs [...] widerspiegelte" (Fischer 1990: 178f., Anm. 29). Über Elfriede Jelineks Theater schreibt z. B. Pflüger: „Die Sprache bedeutet sich selbst" (1996: 290). Von der Desemantisierung (Abstraktion?) der Verbalsprache sprechen z. B. Poschmann 1997: 32 und de Toro 1997a: 22f. Außerdem sei angemerkt, dass der Begriff autoreferentiell auf einer als substantiell angenommenen Dichotomie zwischen Subjekt und Objekt basiert, die das postmoderne Theater gerade angreift. Jahn 1997 berücksichtigt z. B. das vom Leser in Form von kognitiven Schemata aktivierte Vorwissen bei seinen Untersuchungen zur Bedeutungskonstruktion literarischer Texte. Vgl. auch Müske 1991a; 1991b; 1992, Riehl 1998.
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von Sprechern oder durch Verweise auf konkrete Gesprächssituationen vorstrukturiert ist. Das hat zur Folge, dass alle Informationen zur Sprechsituation aus den Kommunikationsbeiträgen selbst hergeleitet werden müssen. Unklarheit der Kommunikation und fehlende Figurenidentität bedingen sich dabei gegenseitig. Eine nur kausal argumentierende Textinterpretation, die entweder die Sprache oder die Figurenidentität zum Ausgangspunkt des Verlustes von Bedeutung erklärt, gerät in eine Aporie, die an die Frage nach der Henne und dem Ei erinnert. Das Konzept der Selbstorganisation befreit hingegen vom Zwang nach einsinnigen Kausalfragen. Mit dem aus der Chaostheorie stammenden Konzept des Attraktors eröffnet sich außerdem die Möglichkeit, Bedeutungen als ,dynamische Stabilität' (also als nur temporär fixierbar) zu modellieren. Wird Bedeutungskonstruktion als Selbstorganisationsprozess beschrieben, wird der Rezipient zum Beobachter,27 der Unterscheidungen vornimmt und Zurechnungen durchfuhrt. Damit kann die Blickrichtung auf die für das Gegenwartstheater zentrale Frage gerichtet werden, wie Unentscheidbarkeit von Bedeutungen erzeugt und für den Text konstitutiv wird. 2) Gegenwartstheater allgemein Arbeiten, die übergreifende Konzepte und Begriffe zur Beschreibung des Gegenwartstheaters entwickeln, lassen sich überwiegend in zwei Gruppen einteilen: devianztheoretische Darstellungen, welche Texte anhand der Abweichungen von traditionellen Grundkategorien (Raum, Zeit, Figur, Handlung, Intrige etc.) bestimmen, und Darstellungen, die ihre Theorie auf der Basis einer zentralen Q u a lität des dramatischen Textes (z. B. Theatralität oder Dialogizität) konstruieren. Einige Beispiele sollen dies illustrieren. Villegas (2000) nimmt z. B. die „acción dramática" als Referenzpunkt seiner Analyse des Gegenwartstheaters. 28 Mit diesem Kriterium bleiben allerdings viele Texte (eben die ohne Handlung) undifferenziert. De Toros (1990a) vier Typen postmodernen Theaters 29 stellen das Verhältnis zwischen gesprochenem Text und anderen szenischen Elementen ins Zentrum der Analysen. Viele Werke fallen in diesem Modell indes problemlos unter mehrere Kategorien zugleich (z. B. ,plurimedial' und .traditionalisierend'), weil sich die Differenzierungskriterien nicht gegenseitig ausschließen, womit die Klassifizierung insgesamt nicht eindeu-
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Der Terminus Rezipient soll trotz seiner unschönen Konnotationen (er suggeriert, der Leser sei ein Gefäß, das ein Text .befüllt') beibehalten werden. Schmidt (2000: 303) schlägt den Terminus Nutzer vor, der aber wieder andere unschöne Konnotationen (z. B. Bewusstheit der Interpretationshandlung) impliziert. Vgl. vor allem Villegas 2000: 135; 77-104. D e Toro unterscheidet „teatro plurimedial o interespectacular", „teatro gestual o kinesico", „teatro de deconstrucciön" und „teatro restaurativo tradicionalisante" (1990a). Eine ähnlich globale Einteilung des aktuellen spanischen Theaters findet sich bei Berenguer/Perez 1999.
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tige Texttypen voneinander absetzen kann. De Toro stützt sich vor allem auf die Differenz interpretierbar vs. nicht interpretierbar, jedoch ist der Begriff interpretierbar mit einem Verweis auf die traditionellen Kategorien Handlung, Figur, Ort oder Zeit nicht hinreichend definiert. Auch reine Textcollagen sind ja durchaus interpretierbar im Sinne von ,deutbar'. Lehmann (1999) orientiert sich an den Polen dramatisch und postdramatisch und nennt als fundamentales Charakteristikum des innovativen Gegenwartstheaters die Aufhebung kohärenzbildender Makrostrukturen. Seinen als Essay angelegten Ausfuhrungen liegt die These zugrunde, dass sich im Gegenwartstheater Verbales und Nicht-Verbales voneinander lösen; wenn aber „die Theatermittel jenseits der Sprache in Gleichberechtigung mit dem Text stehen und systematisch auch ohne ihn denkbar werden, ist der Schritt zum postdramatischen Theater getan" (1999: 89). Die auf dieser Grundlage errichtete Klassifizierung von Gegenwartstexten funktioniert allerdings nur mit einer normativen Auffassung des Begriffes dramatisch. Es kann jedoch bezweifelt werden, dass die Begriffe dramatisch und theatralisch, welche die Basis der Typologie bilden, wirklich Antonyme sind.30 Dramatisch leitet sich, wie Lehmann selbst ausfuhrt, von griechisch drao, ,tun', her, aber Tun ist eben nicht auf Reden beschränkt. Tun impliziert auch „Theatermittel jenseits der Sprache", die aber laut Lehmann gerade den nicht-dramatischen Typus kennzeichnen.31 Wieso sollten eine Performance oder ein Happening nicht dramatische Momente enthalten? Es scheint, als schütte Lehmann durch seinen rigorosen Schnitt zwischen Sprechtext und visuellen/auditiven Theatermitteln, die er als diametral einander entgegengesetzt konzipiert, das Kind mit dem Bade aus, denn letztlich ist der Sprechtext auch nur ein Theatermittel unter anderen. Sollte Lehmann indes mit Sprechtext nur den sprachlichen Anteil einer Auffuhrung meinen, der sich an die Kognition richtet, dann unterscheidet seine Typologie im Grunde eine kognitive und eine nicht-kognitive Rezeption, die verwirrend und letztlich unzutreffend mit dem Gegensatzpaar sprachliche vs. nichtsprachliche Gestaltung gleichgesetzt wird. Aus dem Bereich der Germanistik stammen drei Arbeiten, die das Gegenwartstheater über ein allgemeines Kriterium bestimmen, das nicht aus traditionellen Analysekategorien oder deren Negation hergeleitet wird. Am Begriffspaar dialogisch vs. fixiert orientiert sich Pflügers Studie der Theaterästhetik Elfriede
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Vgl. die Grundaussage: „Theater und Drama standen und stehen in einem Verhältnis der spannungsgeladenen Widersprüche" (Lehmann 1999: 73). Zu den Kriterien der Begriffe postmodern und postdramatisch vgl. 1999: 27f.; 89. Außerdem kann eine Szene hochdramatisch sein, ohne dass ein einziges Wort fällt und auch ohne dass die Darstellung notwendig geschlossen oder intelligibel wäre. Vgl. die detaillierte Aufführungsanalyse von Compré una pala en Ikea in dieser Arbeit, vor allem die ,Ermordungsszene'.
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Jelineks {Vom Dialog zur Dialogizität. Die Theaterästhetik von Elfriede Jelinek, Tübingen: Francke 1996). Ihre These ist, dass Jelinek neben dem Gesagten auch „das Andere des Gesagten" mitfuhrt und damit einen nicht abschließbaren .dialogischen Zeichenprozess' in Gang setzt (1996: 58).32 Fixierte Bedeutungen gebe es demnach in Jelineks Theater nicht. Die „Dialogizität" der Rede rühre vom Verschwinden des dramatischen Dialogs zwischen den Figuren her.33 Pflügers Dialogizitätsbegriff stellt den Spielcharakter vieler Gegenwartstexte heraus und betont die Beziehung zwischen Text und Rezipient. Pflüger charakterisiert Jelineks Texte zwar anhand von deren Abweichungen vom traditionellen Theater (etwa dadurch, dass keine Geschichte mehr repräsentiert, lediglich ein dezentriertes Subjekt präsentiert werde),34 nennt aber auch Kriterien wie z. B. die ,reine Präsentation von Zeichen und Diskursen ohne Sinn'35 oder ,Intertextualität',36 und damit Merkmale, die keine bloße Negation traditioneller Kategorien der Dramenanalyse darstellen. Ein Mangel der Arbeit ist der stark metaphorisierende Sprachgebrauch, der die Theorie verdunkelt und eine Ubertragbarkeit auf andere Texte des Gegenwartstheaters erschwert.37 Gerda Poschmanns Arbeit liegt der Gegensatz Präsentation vs. Repräsentation zugrunde (Der nicht mehr dramatische Theatertext. Aktuelle Bühnenstücke und ihre dramaturgische Analyse, Tübingen: Narr 1997). Die Autorin nennt die „Abkehr von der problematisch gewordenen Repräsentation" als „wesentlich für das avantgardistische wie für das postmoderne Theater" (1997: 45).38 Für die Operationalisierung ihrer Typologie sucht Poschmann nach performativen Dimensionen des Textes, also nach der „Theatralität seiner sprachlichen Gestaltung" (1997: 322), und unterscheidet dabei mittelbare und unmittelbare Texttheatralität (1997: 324). Letztere drücke sich darin aus, dass Mehrdeutigkeit und Materialität der
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Pflüger erläutert: „Das dialogische Element resultiert aus der spannungsgeladenen Kollision der Textfragmente", denn erst „die Differenz zwischen den Stimmen" mache die Dialogizität aus (1996: 57). Pflüger nennt die Dialogizität der Rede „eine potenzierte Intertextualität" (1996: 18). Ihre Untersuchung hat insgesamt zum Ziel, „die Textverfahren [zu] rekonstruieren, die diese Semantik des Verschwindens von Sinn hervorbringen" (Pflüger 1996: 11). Dies subsumiert Pflüger verwirrend unter den Oberbegriff „Performativität", wobei sie den Anschein erweckt, als gebrauche sie den Begriff performativ als einen Gegenbegriff zu Sinnstruktur. Vgl. den Begriffskatalog Pflüger 1996: 284; 288; 290; 292. Was heißt z. B. „Sprachflächen aneinander vorbeitragen" (Pflüger 1996: 18 über Jelineks Totenaubergi oder „Traumatisierung" des Geschehens (1996: 34)? „Die Wandlung der Ästhetik von einer darstellenden Kunst, deren Form im Dienst der Repräsentation (eines .Inhalts') steht, zur Verabsolutierung der Autoreflexion künstlerischen Signifikantenmaterials (Sprache, Farbe, Form, Licht etc.), das gelöst von seiner Bezeichnungsfunktion Verwendung findet, und zur Einbeziehung des Rezipienten ist für das zwanzigste Jahrhundert bestimmend" (Poschmann 1997: 26f.).
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Sprache „in autoreflexiven linguistischen Zeichen direkt wirksam gemacht [werden] als innersprachliches Geschehen", wobei das sprachliche Geschehen nichts darstelle, sondern sei (1997: 332). Poschmann vertritt die These, dass auch der schriftliche Text die für das zeitgenössische Theater spezifische Theatralität konstituieren und eben dadurch das Drama überwinden könne (1997: 21) — sie arbeitet also letztlich mit ähnlichen Kategorien wie Lehmann und sucht nach inhärenten Qualitäten des Theatertextes.39 Fazit ihrer Überlegungen ist, dass im Gegenwartstheater eine „Aufwertung der Wirkungs- vor der Darstellungsfunktion" erfolge (1997: 129).40 Dadurch werden der Automatismus der Wahrnehmung gestört und der kritische Blick auf die Form der Darstellung selbst gelenkt (1997: 108). Der Gegenüberstellung von „Dargestelltem" und „Form der Darstellung" liegt die Annahme zugrunde, beide seien prinzipiell trennbar, was aus konstruktivistischer und systemtheoretischer Sicht unmöglich ist. Außerdem scheint fraglich, ob im Gegenwartstheater nur die Darstellungsfunktion aufgewertet wird oder ob das Innovative nicht vielmehr im Oszillieren zwischen Wirkungs- und Darstellungsfunktion der theatralen Zeichen liegt. Poschmanns Ansatz soll dahingehend weitergedacht werden, dass auch eine Theorie der Systeminterferenzen den Vorgang der Bedeutungskonstruktion zur Grundlage einer Systematik des Gegenwartstheaters macht. Sophia Totzeva arbeitet mit einem ähnlichen Begriff wie Poschmann: theatra-
les Potential (Das theatrale Potential des dramatischen Textes. Ein Beitrag zur Theorie von Drama und Dramenübersetzung, Tübingen: Narr 1995). Dieses sieht sie in der sprachlichen Gestaltung, „die eine gesprochene Sprache markiert und einen engen Situationsbezug anzeigt" (1995: 18), und im „deiktische [n] Gehalt des dramatischen Dialogs" (1995: 39). Ihr Erkenntnisinteresse gilt nicht der Charakterisierung des modernen Dramas im Allgemeinen, sondern den Problemen der Ubersetzung, weshalb Phänomene der Bedeutungskonstruktion durch den Rezipienten bei ihr nur am Rande Erwähnung finden.
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Der Text impliziert laut Poschmann Theatralität als „inhärente Qualität" (1997: Alf.). Poschmann stützt sich bei ihrer These auf Keim, demzufolge „der Theatertext die Theatralität der Aufführung nicht nur sprachlich repräsentieren, sondern .durch Akzentuierung der Materialität der Signifikanten' auch in der Sprachgestaltung selbst .präsentieren' kann" (1997: 44). Dabei unterscheidet sie zwischen Texttheatralität als impliziter szenischer Theatralität einerseits und als Eigenschaft der Sprache andererseits (1997: 44). Implizite Theatralität sei (im Gegensatz zur traditionellen Theatralität/Dramatizität) eine .autoreflexive' Theatralität, die nicht „binnenfiktional (durch Interpretation der szenisch präsentierten Vorgänge im inneren Kommunikationssystem und der Form ihrer Darstellung)", sondern als ein vom „Rezeptionsrahmen" abhängiger „Wahrnehmungsmodus" begriffen und im äußeren Kommunikationssystem (zwischen Bühne und Zuschauerraum) lokalisiert werde (1997: 45). Für Poschmann werden im Gegenwartstheater also vor allem Wahrnehmungsvorgänge zentral (1997: 313).
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Die drei genannten Beschreibungsansätze stehen in einer ,cartesianischen' Tradition insofern, als sie den Blickwinkel auf Eigenschaften des Textes lenken, so als besäße dieser Qualitäten jenseits der Beobachtung. Ein derartiger Essentialismus birgt die Gefahr der Verdinglichung, dass nämlich ein Beobachter Prozesse und Phänomene, die er selbst zuallererst durch Erkenntnisakte und Sprache konstituiert hat, wie etwas Gegebenes ansieht. Das Fundierungsparadox (was war zuerst: die Beobachtung oder das Beobachtete?) wird dabei .weggedrückt' durch eine unterschwellige Setzung. Bezieht man indes die Position des Beobachters von vornherein konsequent in die Interpretation ein, wie es Systemtheorie und Konstruktivismus tun, wird die Gefahr eines Zirkelschlusses offengelegt, und Kategorien wie Raum, Zeit, Handlung, aber auch Theatralität und Dialogizität erscheinen als Rezipientenkonstrukte und nicht als Eigenschaften des Textes. Der Unterschied in der Herangehensweise an Texte, der sich aus den jeweiligen epistemologischen Ansätzen ergibt, kann an folgendem Zitat veranschaulicht werden. Pflüger schreibt: Ein funktionierender Dialog würde die Materialität der Sprache und ihre semantische Potentialität ausblenden und die Brüchigkeit der Sprachoberfläche durch den [sie] Rückbindung an die semantische Ebene glätten. Die Anbindung an personale Identitäten würde die Mehrstimmigkeit der Rede vollends aufheben. (Pflüger 1996: 50) Diese Charakterisierung setzt stillschweigend eine chronologische Reihenfolge (und Kausalität) voraus: Erst fehlen ein funktionierender Dialog und personale Identitäten, dann wird die Sprache mehrstimmig. Man könnte indes genauso gut andersherum argumentieren: Zuerst ist die Sprache mehrdeutig, dann verlieren der Dialog seine Funktion und die Figuren ihre Identitäten.41 Beide chronologischen Anordnungen sind gleichwertig, und beide können letztlich nicht begründet werden. In dem Augenblick nämlich, in dem ein Theatertext gelesen oder eine Auffuhrung angeschaut wird, entsteht alles zugleich: die Figur, der Dialog, der Raum, die Zeit und die Handlung. 42 Wie sich diese Elemente dann zu einer kohärenten Situation organisieren lassen, hängt von dem dynamischen Zusammenspiel von Text, Aufführung und Rezipient ab. Danach zu fragen, ob die Figur hinter dem
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Nur am Rande sei daraufhingewiesen, dass auch die Anwendung philosophischer Kategorien wie ,dezentriertes' Subjekt bei einer Bühnenfigur zutiefst problematisch ist. Figuren sind keine Menschen: Sie existieren nicht jenseits der Kommunikationsbeiträge im Text und auch nicht vor dem Rezeptionsakt. Natürlich gibt es äußere Faktoren, die mittels Vorinformation die Konstruktion der Situation erheblich erleichtern. Wird z. B. der Rückgriff auf einen Mythos im Titel und/oder in Figurennamen angedeutet, entsteht eine ,Vorabsituation\ die aus dem Wissensfundus des Zuschauers stammt und dem Text von Beginn an untergeschoben werden kann.
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Dialog oder der Dialog hinter der Figur verschwindet, ist im Grunde sinnlos: Die Figur konstituiert den Dialog, und der Dialog konstituiert die Figur. Das Problem, wie der Eindruck von Mehrdeutigkeit entsteht, wird durch die Festlegung von Minimaleinheiten, die chronologisch und/oder kausal aufeinander bezogen werden, nicht gelöst.43 Denn die Betrachtung nur von Einzelelementen ist reduktionistisch: Einzelelemente wie Figur oder Dialog haben keine Eigenschaft außerhalb ihres Zusammenspiels untereinander und ihrer Stellung im Kontext des Werks. Daher ist es sinnvoller, von linearen zu nicht-linearen44 und von Substanzzu Systembeschreibungen überzugehen und das Interesse auf Phänomene der Rückkoppelung von Bedeutungskonstruktionen zu lenken. Letztere erscheinen dann als .dynamisches Gleichgewicht', das den Eindruck einer Sprechsituation hervorruft. Die Bedeutungsstruktur eines Theatertextes erscheint in dieser Perspektive als Prozess. Der neue Textbeschreibungsansatz mittels Systeminterferenzen soll den Schwerpunkt dementsprechend auf Relationen und Prozesse (die Systemdynamik) und nicht auf etwaige dem Text .inhärente' Eigenschaften legen, denn Komplexität ist mit Anhäufung von Detailinformationen nicht zu bewältigen.45 In den meisten neueren Arbeiten zu Drama und Theater werden die Rolle des Rezipienten und dessen kulturelle Kompetenz bei der Sinnkonstituierung betont, wobei eine Grundannahme des Prager Strukturalismus weiterentwickelt wird, nämlich dass sich das literarische Werk als Artefakt erst in der Rezeption vollendet. Villegas (2000) sieht beispielsweise Theater allgemein als „construcción visual" an, welche Kompetenzen des Zuschauers wie die Beherrschung gängiger kultureller Codes oder die Wahrnehmung intertextueller Verweise umfasst.46 Außerdem fordert Villegas, in Dramen- und Theaterstudien den Zusammenhang zur „producción visual" der gesamten Kultur zu beachten. Fischer-Lichte betont
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Dass Pflüger schreibt, Jelinek erreiche „die Mehrstimmigkeit der Rede, wie Derrida sie hier entwirft, durch ihr spezifisches intertextuelles Verfahren" (1996: 47), konstruiert ein Bedingungsverhältnis (intertextuelle Verfahren erzeugen Mehrstimmigkeit), das fiir die Argumentation gar nicht erforderlich ist: Da laut Derrida jede Rede Nachhall anderer Reden ist, ist Mehrstimmigkeit immer gegeben und bedarf daher nicht eines spezifischen intertextuellen Verfahrens. ,Nichtlinear' bedeutet in diesem Zusammenhang, dass Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Textkomponenten berücksichtigt werden. Aussagen über Beziehungen zwischen Textelementen sind von einem anderen logischen Status als Aussagen über Eigenschaften von Textelementen: Phänomene wie Kontrast oder Kongruenz können nicht lokalisiert werden. Vgl. das Kapitel „El lector como constructor de significado" (Villegas 1991: 123-138) und das Schema zur ,kulturellen Einbettung' der Rezeption (1991: 211-214). Bei seiner Bestimmung der Konstituenten des Dramas greift Villegas indes wieder auf traditionelle Elemente zurück (fabula und sujet, Figuren, zeitliche Disposition, Codes, Leserkompetenz, Motive und Intertextualität; vgl. 1991: 77-104).
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die Freiheit des Zuschauers bei der Rezeption postmodernen Theaters und erhebt diesen gar zum „unumschränkten Herrscher über mögliche Semiosen" ohne „übergeordnetes Ziel" (1991: 32).47 Der Zuschauer, so Fischer-Lichte, erfahre sich im postmodernen Theater als „dezentriertes Subjekt, das sich seiner eigenen Identität im Anschauen und im Bewußtwerden eben dieser Dezentrierung vergewissert" (1997: 36). Viele Studien zum Gegenwartstheater radikalisieren diese Position noch einmal, indem sie darauf verweisen, dass der Zuschauer einer Überfülle von Stimuli ausgesetzt ist, die er mitunter nur noch »erleiden kann. Andererseits hat er auch die Möglichkeit, sich den nicht mehr synthetisierbaren Einzelelementen .hinzugeben' und damit eine sinnliche, vorbegriffliche Erfahrung zu machen.48 Sander vermutet in diesem Sinne hinter der Reizüberflutung im Gegenwartstheater eine Strategie, die den Rezipienten zwinge, Wahrnehmungen assoziativ statt kognitiv aufzunehmen (1996: 160).49 In den folgenden Ausführungen zu Systeminterferenzen wird die Frage wichtig, wie das Zusammenspiel zwischen. Textstrukturen, Rezipient und Rezeptionskontext modelliert werden kann. Die Theorie folgt rezeptionsästhetischen Ansätzen und damit Isers Frage: „Wie sehen die Strukturen aus, die die Verarbeitung der Texte im Rezipienten lenken?" (1990: IV). Mit Iser (vgl. z. B. 1990: 41f.) werden Bedeutungen als verarbeitete Textwirkung angesehen. In vielen theaterwissenschaftlichen Studien werden zudem die materiellen und performativen Aspekte des Theaters hervorgehoben, dabei vor allem der menschliche Körper sowie Spiel- und Ritualcharakter von Bewegungen.50 Die Studien fokussieren auf Spannungsfelder, innerhalb derer Gegenwartstheater verortet werden kann: Präsentation vs. Repräsentation, Theatralität vs. Authentizität/Verkörperung, Körperlichkeit vs. Textualität, Intertextualität vs. Originalität. Mit Hilfe dieser Begriffspaare geraten auch Fragen wie die nach dem Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit, (Beobachter-) Subjekt und (Kunst) Objekt, Signifikat und 47 48
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Vgl. zur „Entdeckung des Zuschauers" auch Fischer-Lichtes 1991; 1997. Sander verweist z. B. im Zusammenhang mit Elfriede Jelineks Totenauberg auf eine Art .Passivität' des Zuschauers (1996: 159). Ahnlich spricht Hiß vom „Uberfluß an bildlichen, sprachlichen, musikalischen Beziehungsangeboten" in Robert Wilsons Theater, welche „die rezeptiven Automatismen" behindern und zum „Versagen gewohnter Wahrnehmungsmuster" führen (1993: 69). Verweise darauf, dass im Gegenwartstheater neben kognitiven vor allem (emotionale) Wahrnehmungsprozesse betont werden, finden sich z. B. bei De Marinis 1986: 15. Vgl. auch José Monieon in Debate 1987: 60. Vgl. z. B. die Titel von Publikationen der letzten Jahre wie Kulturen des Performativen (Fischer-Lichte/Kolesch 1998), Del ritual al juego (Cornago Bemal 1999), Inszenierung von Authentizität (Fischer-Lichte/Pflug 2000), Körper-Inszenierungen (Fischer-Lichte/Fleig 2000), Das Semiotische und das Performative (Fischer-Lichte 2001), Verkörperung (FischerLichte/Hom/Warstat 2001), Wahrnehmung undMedialität (Fischer-Lichte/Horn/Umathum/ Warstat 2001), Performativität und Ereignis (Fischer-Lichte/Horn/Umathum/Warstat 2003). Vgl. auch Sánchez 1997: 60; 2000: 116f.
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Signifikant ins Blickfeld. Cornago fordert sogar, Textinterpretation solle insgesamt nicht nach Sinn, sondern nach Spannungszuständen fragen und „redes multiples de significantes que juegan entre ellas" (2001c: 70) herausarbeiten. Der Theorieansatz der Systeminterferenzen wird diese Forderungen zu berücksichtigen haben. 3) Mehrdeutigkeit und zur Unbestimmtheit literarischer Texte Die Grundfrage der vorliegenden Arbeit, aufgrund welcher Mechanismen der Gegenwartstext als dezentriert oder fragmentiert erfahren wird, lenkt den Fokus des Interesses auf allgemeine Prinzipien von Bedeutungskonstruktion. Ein Blickwinkel, der nicht die Eindeutigkeit, sondern die .Lückenhaftigkeit eines Textes zum Ausgangspunkt nimmt, legt den Schwerpunkt auf eine fundamentale Voraussetzung jeder Kommunikation: deren grundsätzliche Komplettierungsbedürftigkeit. Jeder Äußerungsakt „umfaßt Gesagtes (Text) und Ungesagtes (Bedingungen, Voraussetzungen, Implikationen, Dispositionen des Sprechers usw.)" (Harth 1982: 257). .Kommunikationen verstehen heißt also immer auch .ergänzen', weil die Sprache eben nicht die bezeichnete Sache ist. 51 Hermeneutik und Textanalyse, Poststrukturalismus und systemische Psychologie und nicht zuletzt die Kognitionswissenschaften weisen darauf hin, dass in jedem Wahrnehmungs- und Kommunikationsakt Elemente ergänzt oder .errechnet' werden. Je konsequenter hirnphysiologische und konstruktivistische Positionen in die Überlegungen zur Textinterpretation einbezogen werden, desto natürlicher erscheint die Offenheit eines Textes und desto unwahrscheinlicher der alltägliche Normalfall: Kommunikationen relativ eindeutig zu verstehen. Wie und wodurch dennoch immer wieder Ordnungen (.Bedeutungen) entstehen, soll in dieser Arbeit über das Konzept des Attraktors modelliert werden. Bei aller Betonung der Konstruktionstätigkeit von Rezipienten darf nicht vergessen werden, dass natürlich auch der Text die Konkretisierung der Bedeutung entscheidend beeinflusst. Offenheit oder Mehrdeutigkeit von Texten sind ein Dauerthema semiotischer, besonders auch theatersemiotischer Arbeiten.52 Einer der prominentesten Theoretiker des ,offenen Kunstwerks' ist Umberto Eco (1962; 1968), demzufolge literarische Texte eine unbegrenzte Zahl möglicher Deutungen 51 52
Vgl. Müller 1984: 178f„ Barthes 1994: 482. Vgl. Fischer-Lichte 1979: 150f. und die entsprechenden Stichwörter in einschlägigen Theaterlexika. Vgl. auch die schon ältere Monographie von Volker Klotz Geschlossene und o f f e n e Form im Drama (1980 [1969]). Bereits Charles Sanders Peirce beschreibt die Semiose als einen prinzipiell offenen Prozess (vgl. dazu Mersch 1993: 96). Kemp (1992a; 1992b) spricht von Leerstellen in Bildern. Zur Definition der Semiotik vgl. Eco: „Die Semiotik untersucht alle kulturellen Prozesse als Kommunikationsprozesse. Ihre Absicht ist es, zu zeigen, wie den kulturellen Prozessen Systeme zugrundeliegen" (1994: 39). Besonderes Interesse gilt in den folgenden Ausführungen natürlich der Theatersemiotik, also der Theorie des Theaters als „System zur Bedeutungsproduktion" (Fischer-Lichte 2001: 159). Zur Theatersemiotik vgl. auch Nöth 1985: 499.
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enthalten.53 Die Aufgabe der Semiotik besteht entsprechend darin zu zeigen, „was im Text die Freiheit der Interpretation zugleich reguliert und stimuliert", also „die Form oder die Struktur der Öffnung" zu definieren (1987: 5). In eine ähnliche Richtung gehen Roland Barthes' Schriften zur „langue plurielle", denen zufolge ein Text irreduzibel mehrdeutig ist und potentiell unendlich viele Bedeutungen .generiert'.5'1 Die Ausführungen zu Systeminterferenzen werden wiederholt auf diese beiden Semiotiker zurückgreifen. Als neuer Aspekt erscheint die Frage nach unterschiedlichen Graden der Offenheit von literarischen Texten. Dabei wird Ecos Ansatz einer Typologie von Mehrdeutigkeit55 insofern aufgegriffen, als verschiedene Stufen bei der Verhinderung von Bedeutungskonstruktionen voneinander unterschieden werden. Jurij Lotman fasst in seinem Hauptwerk, Die Struktur literarischer Texte ([1972] 1993), Mehrdeutigkeit als ein grundlegendes Strukturmerkmal der Kunst im Allgemeinen auf. Jedes Element eines literarischen Textes könne in verschiedene Kontextstrukturen eingebaut und daher mit immer neuen Bedeutungen versehen werden.56 Ein Text kann also mit verschiedenen Codes unterschiedlich entschlüsselt werden, so dass die Rezeption einem Spiel gleicht, „dessen Regeln im Verlauf des Spieles erst gefunden werden müssen" (1993: 413). Diese Idee wird
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Eco unterscheidet offene und geschlossene Fabeln (1987: 151-153) sowie einfache Modelle von Öffnung (etwa wenn nur das Ende einer Fabel offen ist) und ,rhizomatisch' angelegte Texte, die fortwährend neue Geschichten erzeugen. Vgl. auch Ecos Konzept der .unbegrenzten Semiose' (1977: 168f.; 1987a: 105f.; 1999a). Zur Poetik des offenen Kunstwerks vgl. auch Eco 1999: 113-141 und dazu Zima 1995: 282-295. Vgl. z. B. Barthes' Charakterisierung des Textes: „Le Texte est pluriel. Cela ne veut pas dire seulement qu'il a plusieurs sens, mais qu'il accomplit le pluriel même du sens: un pluriel irréductible (et non pas seulement acceptable). Le Texte n'est pas coexitence [sic] de sens, mais passage, traversée; il ne peut donc relever d'une interprétation, même libérale, mais d'une explosion, d'une dissémination" (1984: 73). Vgl. auch Barthes 1966: 49-56. Zu Barthes schreibt Mersch: „Bedeutung wird [...] zum sekundären .Effekt' eines selbst grundlosen Spiels differenzieller Beziehungen - eine Verselbständigung, die den Sinn gänzlich aus der Betrachtung verbannt. Buchstäblich entspringt er der ,Lücke', die zwischen den Signifikanten klafft [...]" (1993: 100). Zu Barthes' Semiotik-Konzept vgl. auch Zima 1995: 267-282. Vgl. Eco: „Es gibt völlig mehrdeutige Botschaften (wie /wbstddd grf mu/, die sowohl phonetische als auch lexikalische Regeln verletzt); syntaktisch mehrdeutige Botschaften (wie /Hans hat ein wenn/, die Subkategorisierungsregeln verletzt) und semantisch mehrdeutige Botschaften (wie das bekannte /grüne farblose Ideen schlafen wütend/), doch bringen nicht alle diese Ambiguitätsformen unbedingt eine ästhetische Wirkung hervor (obwohl sie es, im entsprechenden Kontext, durchaus könnten)" (1987a: 349). Vgl. besonders die Kapitel „Die Vielschichtigkeit des künstlerischen Textes" (1993: 95-110) und „Von der Größe der Entropie in den künstlerischen Sprachen des Autors und des Lesers" (1993: 46-54). Lotman vertritt die Auffassung, „daß im extremsten Fall in der poetischen Sprache jedes Wort Synonym jedes anderen werden kann" (1993: 51). Auch verweist Lotman auf gegenläufige Mechanismen in jedem künstlerischen Text, welche Automatisierung und Entautomatisierung der Wahrnehmung bedingen (1993: 114).
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die Theorie der Systeminterferenzen weiterentwickeln und mit Konzepten der Chaostheorie in Verbindung bringen. Lotman spricht des weiteren vom .bedeutungsvollen Fehlen von Textelementen, dem so genannten „Minus-prijöm", bei dem eine Nullposition den Wert eines bedeutungshaltigen Elementes erhält (1993: 82f.). Wie sich das Konzept der Systeminterferenz zu diesem ,negativ realisierten Zeichen verhält, soll ebenfalls diskutiert werden. Die Kategorie .Unbestimmtheit' spielt auch in der Rezeptionstheorie eine zentrale Rolle. Der wohl bekannteste Begriff ist in diesem Zusammenhang Leerstelle, wie ihn Wolfgang Iser (1979; 1990; 1994) in Anlehnung an Roman Ingarden (vgl. z. B. Ingarden 1979) konzipiert. In Spanien hat vor allem Jose Sanchis Sinisterra Isers Leerstellentheorie zur Grundlage seines dramatischen Konzeptes gemacht.57 Nach Iser entstehen Leerstellen, wo Text-Setzungen unvermittelt aneinandergrenzen und den Leser damit auffordern, die sprachlich ausgesparte Relation selbst herzustellen. Der Text vollendet sich dann in der Sinnkonstitution des Lesers, der „das Gemeinte" produzieren kann (1990: 97). Dabei entsteht ein „Spiel von Abwesendem im Anwesenden" (1984: 184), eine „Dialektik von Zeigen und Verschweigen" (1990: 79). Iser fächert die Leerstellen auch typologisch auf und nennt verschiedene Arten von .Löschungen, 58 die Nuancierungen in der Textbeschreibung ermöglichen.59 Im Hinblick auf die Analysen des spanischen Gegenwartstheaters sei darauf hingewiesen, dass Iser zwar die Unvermeidlichkeit von Leerstellen zeigt, dem Text aber letztlich eine Art apriorische Kohärenz zuspricht.60 Die Rekonstruktion derselben durch den Rezipienten wird von dem Ausgesparten gelenkt, so dass es demnach eine .richtige' Füllung der Leerstelle gibt. Das substantialistische Verständnis von Sinn ist hier unübersehbar. Aus systemtheoretischer Sicht kann indes nichts im Text bereits vorhanden sein, was
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So spricht Sanchis Sinisterra etwa von der „nueva textualidad [que] deja abiertas muchísimas zonas que el lector tiene que completar" (Sanchis Sinisterra/Heras/de Tavira 2000: 32). Vgl. auch Sanchis Sinisterra 2002: 244-248. Die Löschung „erwartbarer Verfahren", die in Leerstellen verwandelt werden, hat folgende Erscheinungsformen: „Gelöscht wird in der Erzählperspektive die erwartbare Orientierung als möglicher Anhaltspunkt für die Bewertung; in der Figurenperspektive die erzählte Geschichte, die als Handlung der Verdeudichung dessen diente, was in den Figuren angelegt war; in der Perspektive der Leserfiktion schließlich jede markierte Positionszuschreibung, um in der Aufhebung repräsentierter Lesereinstellungen den Leser selbst aus dem Text hinauszudrängen" (Iser 1990: 322). Auf weitere Einzelheiten der von Iser selbst immer wieder modifizierten Theorie soll an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Eine klare und prägnante Darlegung der Theorien Ingardens und Isers sowie der Unterschiede und Gemeinsamkeiten beider findet sich bei Bode 1988: 318-325; 335-337. Iser schreibt z. B.: „Sinn muß in letzter Instanz die Beruhigung jener Störungen und Konflikte bringen, die der Text entfaltet hat" (1990: 345); außerdem spricht er von einer .Antwort [...], die der Text im Blick auf seine manifesten Problematisierungen parat hält" (1990: 352).
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,aktualisiert' werden könnte; vielmehr werden Textdaten von einem konstruierenden Bewusstsein aufeinander bezogen und in einem Prozess der Selbstorganisation zu einer kohärenten Einheit verflochten. Wo Iser von einem Code spricht, der .entdeckt' wird, spricht ein systemtheoretischer Ansatz von einem Code, der konstruiert wird. Zima (1995) zeigt in seiner umfassenden Darstellung der literarischen Ästhetik des 20. Jahrhunderts, dass Vieldeutigkeit oder Polysemie nicht Beliebigkeit bedeuten und dass Offenheit und Geschlossenheit einander nicht ausschließen, sondern dialektisch aufeinander bezogen sind (vgl. 1995: 2). Bode nennt in seiner Charakterisierung der Gegenwartsliteratur, -musik und -maierei Ambiguität als das Paradigma der Moderne.61 Er fordert dementsprechend, dass sich Beschreibungen von Gegenwartsliteratur nicht darauf beschränken sollten festzustellen, dass Ambiguität vorliegt, sondern zeigen sollten, wie sie gestaltet ist (1988: 384), z. B. durch Uberdeterminierung oder Negation (1988: 309).62 Von besonderem Interesse für eine Theorie der Systeminterferenzen sind Bodes Hinweise darauf, dass die Sinnkonstitution bei ambigen Texten nicht beliebig, sondern „auf bestimmte Weise unbestimmt" sei (1988: 102) und dass die vielfältigen Gestaltbildungsprozesse, durch die der Rezipient dem ästhetisch Wahrgenommenen eine Form zu geben versucht, nicht abschließbar sind und auch gar nicht sein müssen; vielmehr könne, so Bode, der Reiz des Kunstwerkes auch „in einer andauernden, hinhaltenden Provokation zur Gestaltsuche" liegen (1988: 35). Bode legt indes den Akzent auf die Mehrdeutigkeit, während die vorliegende Arbeit ihr Augenmerk auf die Erzeugung von Mehrdeutigkeit richtet, um Erwartungsstrukturen innerhalb des Rezeptionsvorganges als Ausgangspunkt einer Textbeschreibung nehmen zu können.63
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Vgl. Bode 1988: 2; 1992: 625. Bode geht davon aus, dass die Textelemente mit verschiedenen Verstehensrastern erschlossen werden können, die unterschiedliche Sinnfigurationen ergeben (vgl. 1988: 380; 1992: 626). Zu Ambiguität, Ambivalenz, Entdifferenzierung und Aporien in der Literatur der Postmoderne allgemein vgl. Zima 1997: 242-284. Nicht zugestimmt werden kann der Aussage: „.Nicht eindeutig sein' heißt durchaus nicht .unbestimmt sein', sondern , d o p p e l t oder mehrfach bestimmt" (1988: 339). Im Verständnis der vorliegenden Arbeit kann nicht eindeutig sein sehr wohl beide Bedeutungen annehmen: .mehrfach bestimmt sein' (dies wäre die aktive Negation von eindeutig sein) oder .unbestimmt sein' (dies wäre die passive Negation von eindeutig sein; vgl. zu den beiden Negationsformen Elster 2000). Die Betonung von Mehrdeutigkeit birgt latent die Gefahr, in textontologisches Fahrwasser zu geraten („die Elemente « W mehrdeutig"). Bode spricht sich gegen Isers Konzept der Leerstelle aus, weil dieses „die Erwartung des realistisch-mimetischen Lesens" impliziere (1988: 340). Im Lichte einer Theorie der Systeminterferenzen ist das jedoch gerade der Vorzug von Isers Ansatz: von ganz .normalen Textverarbeitungsmechanismen auszugehen, die eben auch in literarischen Texten zur Anwendung kommen. Die Grundannahme ist, dass jeder Text
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Das Zusammenspiel von Gesagtem und Ungesagtem ist nicht zuletzt auch ein beständiges Thema der Hermeneutik. Diese betont gerade die Unfähigkeit der Sprache, ,alles' zu sagen, so dass jeder Text dazu zwingt, vom Gesagten auf das Nichtgesagte zu schließen (vgl. Di Cesare 1995: 60f.). Dieses Phänomen ist über den ,Unsagbarkeitstopos' oder die Unbestimmbarkeits-Periphrase (je ne sais quoi) auch ins rhetorische Standardrepertoire eingegangen.64 Latentes und Manifestes sind in der Kommunikation untrennbar aufeinander bezogen, so dass Verstehen immer auch unkontrollierbar Nichtverstehen ist (vgl. Frank 1993: 516). Dies ist gerade fiir Theatertexte wichtig, da diese auf eine Aufführung hin angelegt sind und die szenische Umsetzung nur grob andeuten können, da Schrift Nonverbales nur völlig unzureichend kodieren kann. Nach Ubersfeld (1991: 394-400) füllen Regisseur, Schauspieler, Bühnenbildner und Zuschauer bei der Auffuhrung die Lücken im Text.05 Unbestimmtheit ist jedoch nicht nur eine Eigenheit literarischer Texte; vielmehr wird sie in jeder Kommunikation erzeugt. Interessiert im schriftlich niedergelegten Dramentext die Wechselwirkung zwischen Gesagtem und Nichtgesagtem, wäre im Bereich der Auffuhrungsanalyse die gegenseitige Beeinflussung von Konzeptuellem (Text) und Sinnlichem (,theatrale Mittel') zu berücksichtigen. Eine grobe Unterscheidung zwischen „Theater der Sprache" und „Theater der Bildlichkeit" berührt dabei noch nicht die dijferentia specifica des Gegenwartstheaters, vor allem dann nicht, wenn in unzulässiger Vereinfachung „Texttheater" mit Kohärenz und Symbolik, „Bildtheater" mit Inkohärenz und Sinnlichkeit gleichgesetzt werden. Ein Theater der Sprache ist nicht automatisch weniger sinnlich als ein Theater der Bilder; eine pantomimisch erzählte Geschichte kann z. B. viel kohärenter und symbolüberfrachteter sein als ein zerstückelter Sprechtext.66 Im Zusammenhang mit Systeminterferenzen und einem ,dezentrierten' Theater interessiert vielmehr das Wechselspiel zwischen primär auf Sinnlichkeit im Gegensatz zu primär auf kognitive Symbolverarbeitung zielenden Textelementen, zwei Tendenzen, die mit Luhmanns Unterscheidung von Bewusstsein und Kommunikation (1998: 11-67) in Verbindung zu bringen sind.
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zunächst einmal mit Strategien rezipiert wird, die auch in Alltagskommunikationen greifen, weil dies den geringsten Konzentrationsaufwand erfordert. Nach Lausberg drückt die Unbestimmbarkeits-Periphrase die Tatsache aus, „daß die sprachlichen Mittel zur Wiedergabe der Differenziertheit der Wirklichkeit nicht ausreichen" (1990: 69). Calabrese bescheinigt der Postmoderne insgesamt eine .neobarocke' Ästhetik, welche den Akzent auf das Undefinierte lege (1989: 174-179). Pavis 1991 spricht von einem „Metatext der Inszenierung", welcher der Kommentar des Regisseurs zum dramatischen Text sei. Vgl. auch Spang 1991: 27. Kodifizierte nonverbale Systeme sind z. B. das Gesten- und Bewegungs-,Vokabular' der französischen Pantomime (vgl. Cramer 2001: 7) oder die Gestensprache des klassisch-romantischen Handlungsballets.
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In der Epoche der so genannten Postmoderne erhalten ,Lücken der Kommunikation insgesamt einen besonderen Stellenwert.67 Das Unsagbare steht im Zentrum vieler Theorien, wie etwa in den Schriften Jean-François Lyotards, die sich auf Immanuel Kants Begriff des Erhabenen beziehen.68 Nach Lyotard zeugt die Kunst vom ,Ungedachten und .Unsagbaren und schärft dadurch die Empfänglichkeit für Ereignisse im Rezipienten.69 Auf diesen Gedanken wird im Zusammenhang mit der Funktion von Systeminterferenzen zurückgegriffen, zu deren Präzisierung insgesamt ebenfalls philosophische und soziologische Theorien zur westlichen Kultur des 21. Jahrhunderts relevant werden, welche ihren Fokus auf die Ambivalenz der Lebenswelt legen.70 Mehrdeutigkeit ist ein Ausgangspunkt vor allem der so genannten Dekonstruktion. Postrukturalisten wie Jacques Derrida (1972) oder Paul de Man (1979) sprechen von einem Verschieben des Sinns ad infinitum, weil jedes Zeichen unablässig auf andere, vorausgegangene oder nachfolgende Zeichen verweise und dadurch keine Identität oder Sinnpräsenz haben könne. Mit dem Begriff der différance drückt Derrida diese endlose Verschiebung des Sinns aus.71 Die Theorie der Systeminterferenzen fragt in diesem Sinne auch danach, wie Bedeutung, Situation und Kontext aufeinander bezogen werden und berücksichtigt, dass sie notorisch instabile Konstrukte des Rezipienten sind. Sie soll zeigen, wie Gegenwartstexte die Eigenschaft der Sprache, über Ambivalenzen und Polysemien immer neue Interpretationen zu generieren, innovativ nutzen und neuartig im Sinne eines,Theaters der Grenzgänge' funktionalisieren. 4) Systemtheorie und Literaturwissenschaft Die Systemtheorie Niklas Luhmanns weist in ihrem Sinnkonzept darauf hin, dass die jeweils aktualisierten Möglichkeiten einer Kommunikation nicht-aktualisierte Möglichkeiten nicht .vernichten, sondern als Möglichkeit fiiir die Kommuni-
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So schreibt Hassan: „Unbestimmtheit ist die Ursache von Teilnahme; diese Lücken wollen gefüllt sein. Der postmoderne Text, verbal oder nicht, lädt ein zu Performanz: er will geschrieben, verändert, beantwortet, ausgelebt werden [...]" ( 1 9 8 8 : 53). Kants Erhabenes bezeichnet unvorstellbare und undarstellbare Ideen und kann im Bereich der Literaturtheorie mit der Trope des Unsagbaren in Verbindung gebracht werden. Das Erhabene resultiert aus dem Konflikt zwischen dem Denkvermögen und dem Darstellungsvermögen: „[Das Gefühl des Erhabenen] hat statt, wenn die Einbildungskraft nicht vermag, einen Gegenstand darzustellen, der mit einem Begriff, und sei es auch nur im Prinzip, zur Ubereinstimmung gelangen könnte" (Lyotard 1 9 9 3 : 4 3 ) . Kunst müsse vom „Unsagbaren zeugen", fordert Lyotard, das Andere des Denkens bezeugen, „nicht, damit es artikulierbar werde, sondern um empfänglich zu werden für das, was vor dem diskursiven Denken war" (van Reijen/Veerman 1 9 9 5 : 128). Vgl. z. B. Beck/Beck-Gernsheim 1 9 9 4 , Bauman 1 9 9 5 , Schulze 2 0 0 3 . Z u Derrida, de M a n und der Dekonstruktion vgl. Zima 1 9 9 4 , Culler 1 9 9 9 . Z u m französischen Poststrukturalismus in der Narratologie vgl. Heinen 2 0 0 2 .
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kation latent bereithalten.72 Kommunikation kann sich nämlich immer nur auf eine Seite einer Unterscheidung beziehen und muss die andere unterdrücken. Die Unterscheidung kann aber ihrerseits wieder in einer neuen Kommunikation beobachtet werden (vgl. Luhmann 1998: 84-87)73 - genau dies soll das Konzept der Systeminterferenzen beschreiben, wie nämlich Gegenwartstexte die Unterscheidungen, die sie anregen, durch Interferenzen beobachtbar machen. Eine umfassende Anwendung systemtheoretischer Konzepte auf Textstrukturierungsverfahren in Dramentexten liegt bislang nicht vor. Von Siegfried J. Schmidt stammen die grundlegendsten Versuche, die Erkenntnisse der Systemtheorie in literaturwissenschaftliche Fragestellungen einzubinden (vgl. vor allem 1993; 1993a; 1996; 2000), allerdings weniger auf konkrete Interpretationsprozesse als vielmehr auf die Literatur als System in der Gesellschaft. Wichtige Anwendungen der Systemtheorie auf Interpretationen finden sich auch in den Sammelbänden von Fohrmann/Müller 1996 und Jahraus/SchefFer 1999. Für die Entwicklung einer Theorie der Systeminterferenzen sind auch Arbeiten aus der systemischen Psychologie (Kriz 1992; 1999, Simon 1991; 1999; 2002, Kießlich 1998) sowie der Chaosforschung in Verbindung mit Literaturtheorie (Wrobel 1997, Goldschweer 1998 und Küppers 1996) relevant.
Methodisches Vorgehen Die vorliegende Arbeit hat zum Ziel, einen textanalytischen Rahmen zur Beschreibung des Gegenwartstheaters zu erstellen, der auf einem Kategoriensystem fußt, das drei Anforderungen an eine Textbeschreibung erfüllt: 1. nicht auf traditionelle Dramenkategorien, auch nicht ex negativo, zurückzugreifen, 2. sowohl das ,neorealistische' Theater als auch ,Textcollagen erfassen und unterscheiden zu können und 3. Charakteristika eines ,neuen' Gegenwartstheaters zu erfassen. Hinzu kommt die Forderung, dass eine Theorie des Gegenwartstheaters auch der Spezifik der Gattung Rechnung trägt, dass sie also auf literarische Texte und auf szenische Aufführungen anwendbar ist. Jede Theorie muss einen Ansatzpunkt auswählen und damit eine Setzung vornehmen, eine Unterscheidung tätigen, die dann unabwendbar ihr ,blinder Fleck' sein wird. Die Entscheidung für eine Theorie als grundlegendes Erklärungsprinzip74 — im vorliegenden Fall die Systemtheorie — beeinflusst alle wei72 73 74
Vgl. Luhmann 1997a: 49f.; 55; 57. Beobachtung wird als differenztheoretischer Begriff aufgefasst: Sie ist das unterscheidende Bezeichnen (Luhmann 1995: 896). Zum Begriff des Beobachters vgl. Krause 1996: 88. Vgl. dazu Bateson: „Es gibt keine Erklärung für ein Erklärungsprinzip. Es ist wie eine Black Box. [...] Eine .Black Box' ist eine konventionelle Übereinkunft zwischen Wissenschaftlern, die dazu dient, an einem bestimmten Punkt mit dem Versuch aufzuhören, die Dinge zu erklären" (1983: 75).
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teren Schritte und fuhrt dazu, dass auch der Typus der Ergebnisse bereits eingeschränkt wird: Die Analyse wird am Ende ihre,selbstversteckten Ostereier' finden, d. h. die Antworten, die sie in ihrer Frage vorgezeichnet hat. Diesem Bedingungsgefiige kann keine Theorie entgehen, da es keinen voraussetzungslosen Beginn gibt, doch kann dies zumindest bewusst gemacht werden.75 Die folgende Arbeit wählt als theoretischen Ansatz und ständigen Bezugspunkt ein deduktives Beschreibungssystem, das „Familienähnlichkeiten" (Wittgenstein) von Texten auf einem hohen Abstraktionsniveau formulieren kann, nämlich die Systemtheorie Niklas Luhmanns. 76 Aus dieser werden Beschreibungsvorschriften für Texte abgeleitet, so dass die Textanalyse zur methodisch kontrollierten Komplexitätsreduktion wird. Luhmanns Systemtheorie bietet sich wegen ihres umfassenden und zugleich einfachen Prinzips an: Sie fuhrt alle Konstruktionstätigkeiten des Rezipienten (,Beobachtungen) auf das Unterscheiden zurück.77 Auch bei dem Entwurf einer Theorie von Systeminterferenzen werden also Unterscheidungen im Fokus des Interesses stehen, denn Selektionsvorgänge bei der Bedeutungskonstruktion bilden die Basis der folgenden Textuntersuchungen.78 Mit dem Bezug auf die Systemtheorie werden zugleich drei Grundannahmen verbunden: - Texte und Aufführungen bestehen nicht aus Raum, Zeit, Figuren oder anderen ,Minimaleinheiten', sondern aus Kommunikationen;79 Texte sollen als ein System aus aufeinander bezogenen Kommunikationsbeiträgen angesehen werden. - Literarische und theatrale Kommunikation übermitteln keine Bedeutung, sondern sind ein Anlass zur Bedeutungskonstruktion durch den Rezipienten.80 Dieser arbeitet, um Batesons vielzitierte Worte zu gebrauchen, mit Unterschieden,
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N ü n n i n g formuliert diesen Sachverhalt so: „Die Frage lautet nicht, ob sich Literaturwissenschaftler bestimmter Theorien, Modelle und Methoden bedienen oder nicht, sondern wie bewußt sie sich ihrer theoretischen und methodischen Prämissen sind und wie explizit sie die verwendeten Kategorien darlegen" (1995a: 2). Vgl. dazu die in der Bibliographie angeführten Schriften Luhmanns sowie als Einführungen bzw. Überblicksdarstellungen Krieger 1996, Gripp-Hagelstange 1997, Krause 1999, Berghaus 2003. Vgl. Luhmann: „Differenzen sind unerläßliche Voraussetzungen für Informationsgewinnung und Informationsverarbeitung. Ohne sie kann nichts als Selektion begriffen werden, nichts als ,dies-und-nichts-anderes' erscheinen" (1985a: 22). Die Systemtheorie beobachtet die Selbstorganisation von Kommunikationen. „Nicht die Frage, was ausgewählt wird, sondern wie dies geschieht, rückt damit ins Zentrum der Untersuchung. Die Blickrichtung wechselt somit von der Abbildung und Übertragung zur Codierung von Aktualität" (Spangenberg 1993: 68). Luhmanns Ansatz ist kommunikationstheoretisch, denn fur Luhmann ist die grundlegende Operation sozialer Systeme Kommunikation (vgl. z. B. 1993: 122). Dieser Arbeit liegen im Wesentlichen die Ausfuhrungen zum Radikalen Konstruktivismus (vgl. z. B. Schmidt 2000, von Foerster/von Glasersfeld 1999) zugrunde.
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die einen Unterschied machen;81 er erzeugt also Informationen. Die erkenntnistheoretische Grundlage der Textanalysen ist dementsprechend der Konstruktivismus: Der Beobachter (Rezipient, Interpret) rückt ins Zentrum des Interesses.82 - Der Text lässt sich nicht anhand von Einzelteilen beschreiben, denn als Ganzes ist er mehr als die Summe seiner Teile (Ubersummativität der Bedeutung). Die Typologie von Theatertexten basiert dementsprechend auf der Organisation der Textelemente.83 Die Beschreibungen von Beobachterstandpunkt, Systemdynamik, relationalen Strukturen und Differenzen tritt an die Stelle der Suche nach Eigenschaften von Textelementen, denn Schrift- und Bühnentexte erscheinen als Auslöser von Rezeptionsprozessen, die nicht analytisch und ursächlich auf die Eigenschaften ihrer Einzelfaktoren zurückführbar sind. Schrift- und Bühnentext werden außerdem im Sinne der Gewährleistung von Vergleichbarkeit einheitlich unter dem Aspekt der Systeminterferenz betrachtet, da sie beide Texte sind.84 Diese sind in ihrer jeweiligen Spezifik zu beschreiben, die je eigene Systeminterferenzen hervorbringt. Die Systemtheorie liefert dazu eine homogene und in sich abgeschlossene Begrififsstruktur, die es ermöglicht, heterogene Sachverhalte unter dem Gesichtspunkt spezifischer Leistungen als funktional äquivalent anzusehen, weil „das Gleichheitsurteil aus dem Objekt in die Funktion verlegt" wird (Luhmann 1989: 3, Anm. 7). Einer Theorie der Systeminterferenz soll die Frage zugrunde liegen, wie Rezipienten von Texten Wahrnehmungen organisieren, wie also Bedeutung generiert wird. Da der zu beschreibende neue Typus des Gegenwartstheaters hochkomplexe Texte umfasst, wird es nicht in erster Linie um deren Interpretationen gehen, sondern um Strategien möglicher Interpretationen, also eine Beobachtung zweiter Ordnung, die sich zum Ziel setzt zu klassifizieren, wie ein Text beobachtet werden kann. Der Blick richtet sich damit auf zwei Aspekte: den Text als Beobachtung
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Vgl. Batesons Definition von Information: „Informationen bestehen aus Unterschieden, die einen Unterschied machen" (1993: 123). Den Textanalysen liegt ein konstruktivistischer Ansatz zugrunde, weil dieser nicht Objekte oder Phänomene an sich untersucht, sondern das Kommunizieren über Objekte und Phänomene, was dem Interesse am Beobachter in der Systemtheorie entspricht. Es geht darum, „die Eigenschaften der Teile im Interesse der Gestalt zu vernachlässigen und die Aufmerksamkeit der Kernfrage zuzuwenden, nämlich der Frage der Organisation" (Watzlawick/Beavin/Jackson 1980: 120). Vgl. hierzu Fischer-Lichte: „Wir können die Aufführung als einen Text aus theatralischen Zeichen definieren, weil sie über die drei Merkmale verfugt, die Lotman als konstitutiv für den Begriff des Textes herausgestellt hat: Explizität, Begrenztheit und Strukturiertheit" (1990: 243). Vgl. auch Fischer-Lichte 1995a: 10-68. Der geschriebene Text wird im Folgenden als Schrifttext, der Aufführungstext als Bühnentext bezeichnet. Bühnentext nennen Sottong/Müller die „Gesamtmenge aller sinnlich wahrnehmbaren Phänomene, die innerhalb der raumzeitlichen Grenzen einer konkreten TheateraufFührung aktualisiert werden" (1990: 59).
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von Umwelt und die Textanalyse als (kommunizierte) Beobachtung des Textes. In beiden Fällen geht es um die Bedingungen von Bedeutungskonstruktionen. Auf diese Weise wechseln nicht nur die Fragen, sondern auch der Typ von Fragen, die an einen Text gestellt werden. Das besondere Interesse gilt den Texten, die Bedeutungskonstruktionen erschweren oder gar unmöglich machen, anhand derer zu rekonstruieren ist, aufgrund welcher Mechanismen die Bedeutung immer wieder aufgeschoben wird, oder, um mit Ceruti zu sprechen: „[...] el problema es comprender cómo puntos de vista diferentes se producen recíprocamente" (2000: 44). Ausgehend von allgemeinen Kommunikationsbedingungen und unter Berücksichtigung der Systemtheorie Luhmanns werden Systeminterferenzen als Störungen der Konstruktion eines kohärenten Systems definiert und von Begriffen wie Ellipse und Leerstelle abgesetzt. Unterschiedliche Typen von Interferenzen ermöglichen jeweils eigene Ansatzpunkte für die Textbeschreibung. Die Systemtheorie Luhmanns als universelle Grundlagentheorie betont die „unaufhebbare Gleichzeitigkeit von System und Umwelt" (Luhmann 1997: 13), wodurch sie von großem Nutzen bei der Erfassung des Zusammenspiels zwischen Gesagtem und Nicht-Gesagtem in literarischen Texten ist. Als Differenztheorie lehrt sie, dass Beobachten immer bedeutet, dass etwas von etwas anderem unterschieden wird und dass die Entscheidung fiir eine Seite der Unterscheidung immer auch latent die nicht aktualisierte Seite anklingen lässt. Dadurch behält die Systemtheorie das Ein- und das Ausgegrenzte gleichermaßen im Blick. Über den Begriff der Systeminterferenz soll entsprechend das, was im Prozess des Unterscheidens ausgegrenzt wurde, wieder systematisch in eine Charakterisierung der Theatertexte einbezogen werden. Die Systemtheorie ermöglicht auch eine Konzentration auf den Vorgang des Unterscheidens selbst und betont die Beobachterabhängigkeit jeder Datengewinnung und jeder Interpretation. Mit der Systemtheorie wird das Konzept der Selbstorganisation übernommen, so dass Textelemente nicht anhand von linearen Ursache-Wirkungsbeziehungen, sondern im Lichte von Rückkopplungsprozessen betrachtet werden. Bedeutung erscheint dann als Eigenwert der Textanalyse, d. h. als ,Fluchtpunkt' einer Interpretation. Die Nähe der Textbeschreibung zu Modellen der Systemwissenschaften wie Kybernetik oder Chaostheorie ist unübersehbar. Die Kybernetik, die Wissenschaft der Beschreibung von Regelung und Steuerung komplexer Systeme, beobachtet Relationen, Zuordnungsvorschriften und Spielregeln der Interaktion von Elementen eines Systems, Strukturen und Funktionen innerhalb eines Gesamtgefüges sowie Umwandlungen von Systemzuständen und -strukturen. Chaostheoretische Ansätze sind für die Beschreibung des spanischen Gegenwartstheaters vor allem interessant aufgrund ihres order-of-noise-Konzeptes, das die Entstehung lokaler Ordnungen inmitten chaotischer Strukturen aufgrund von Attraktoren beschreibt, d. h. ,Ordnern, die Einzelelemente zu einem Muster zusammenfügen. Die Chaostheorie modelliert damit, wie nach Phasen von In-
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Stabilität und Unordnung plötzlich Ordnung emergiert.85 Dabei sucht sie nach Schwellen innerhalb von Prozessen, d. h. nach .kritischen Punkten', an denen instabile Strukturen plötzlich in einen neuen stabilen Systemzustand umschlagen. Auf diese Weise werden System und Chaos in einem einheitlichen Modell miteinander verbunden. Allen Systemwissenschaften ist gemeinsam, dass sie in zirkulären Rückkopplungsprozessen denken86 und nicht von geradlinigen Kausalmodellen ausgehen. Damit interessieren sie sich für Beziehungen statt für Eigenschaften von Elementen, für Dynamik statt fiir statische Strukturen von Systemen und fiir Wahrscheinlichkeitsaussagen über Prozesse statt fiir deterministische Kausalerklärungen. Vor allem wird die Rolle des Beobachters zum zentralen Bestandteil jeder Analyse. Unter Einbezug u. a. von sprachwissenschaftlichen Bedeutungstheorien, Theorien der Informationsverarbeitung und der .Wahrnehmung durch Wissen aus der Wissenspsychologie werden Schrift- und Bühnentexte als inkomplette Strukturvorgaben ausgewiesen, die durch den Rezipienten kontextualisiert werden müssen, wobei der Kontext bei einem literarischen Text erst im Verlauf der Rezeption konstruiert wird. Die erhellende und erheiternde Darstellung von Sokal/Bricmont (1999) warnt davor, leichtfertig Fachbegriffe aus den Naturwissenschaften in die Geisteswissenschaften zu importieren; daher werden im Folgenden mit großer Vorsicht nur allgemeine Modelle der Naturwissenschaften aufgegriffen, die bereits in der Kognitionspsychologie Anwendung gefunden haben. Schließlich geht es darum, auf möglichst allgemeine Konzepte zurückzugreifen, um Einzelbeobachtungen in einen umfassenden Zusammenhang zu bringen - nicht darum, philologischen Textanalysen einen naturwissenschaftlichen Anstrich zu verleihen. Die Theorie der Systeminterferenzen strebt weder eine Addition noch eine Verschmelzung verschiedener Disziplinen an, sondern versucht, auf einem hohen Abstraktionsniveau Muster erkennbar zu machen, die nicht nur literarische Prozesse bestimmen, sondern allgemeine Prinzipien menschlicher Wahrnehmung zu sein scheinen. Systemische Konzepte sind abstrakt, d. h. sie sind nicht an Inhalte gebunden, sondern in den verschiedensten Wissenschaftsbereichen anwendbar.87
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Vgl. dazu Krohn/Küppers 1992, Kriz 1998. Vgl. auch die Anwendung der Chaostheorie auf literaturwissenschafdiche Interpretationen bei Wrobel 1997, Goldschweer 1998, Hartwig 2004a. Nach Hayles gibt es zwei Richtungen in der Chaostheorie, einen „Order-OutOf-Chaos-Branch" und einen „Strange-Attractor-Branch" (vgl. dazu Goldschweer 1998: 46). Rückkopplungsprozesse implizieren, dass Ergebnisse immer wieder auf sich selbst angewendet werden. Dabei ist auch das Phänomen der Autokatalyse, also einer sich selbst verstärkenden Dynamik, zu beachten; vgl. dazu Kriz 1992: 147. Bischof definiert Systemtheorie allgemein als eine „Wissenschaft, die Systeme hinsichtlich der formalen Struktur ihrer Gesetzlichkeit untersucht, ohne Rücksicht auf die Qualität der in solchen Aussagen erfaßten Variablen, d. h. unter Ausblendung aller Fragen, zu deren Beantwortung die Kenntnis ihrer Meßvorschrift nötig wäre" (1995: 20).
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Daher kann das in einem Bereich erzeugte Wissen auf andere Bereiche übertragen werden, so dass übergreifende Zusammenhänge und Wechselbeziehungen sowie grundlegende Prinzipien in Wahrnehmung und menschlicher Kommunikation sichtbar werden. In diesem Sinne hat die Theorie der Systeminterferenzen ein ,Netz-Design: Ihre Theoreme können mit Theoremen aus anderen Disziplinen verknüpft werden, weshalb zur Illustrierung vieler Aussagen Zitate aus unterschiedlichsten Disziplinen herangezogen werden, von Keats bis Heisenberg oder, wie die beiden Motti der Arbeit zeigen, von Rilke bis Prigogine. Da Kommunikation „nur dort und dann möglich [ist,] wo bzw. wenn es zu einer wechselseitigen Einschränkung der Operationsmöglichkeiten kommt" (Simon 1999: 207), sind Systeminterferenzen allgemein eine Herausforderung an Kommunikation, da sie gerade diese notwendige Voraussetzung nicht erfüllen. Systeminterferenzen haben, so die grundlegende These dieser Arbeit, die Funktion der ,Verstörung' eines Rezeptionsmechanismus, der auf Bedeutungskonstruktion abzielt. Bei der Modellierung dieses Mechanismus der ,Verstörung' wird Luhmanns Systemtheorie nicht auf Theatertexte angewendet-, vielmehr wird mit ihrer Hilfe ein Analyseinstrumentarium entwickelt, das genauere Analysen auf der Ebene des Textes erlaubt, synchrone und diachrone Verschiebungen in der Textkonstruktion sichtbar macht und schließlich einen neuen Typus des Gegenwartstheaters in allgemeinen kulturellen Strömungen verortet. Dabei werden kommunikations- und erkenntnistheoretische, sprach- und kognitionspsychologische, rezeptionsästhetische und philologisch-hermeneutische Ansätze verarbeitet und Vergleiche zu Ergebnissen aus den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften gezogen.
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SPANISCHES GEGENWARTSTHEATER
2.1
PRODUKTIONS- UND REZEPTIONSBEDINGUNGEN
W e r in Spanien seinen Theatertext einem größeren Publikum zugänglich machen oder sogar auf die Bühne bringen will, hat viele Möglichkeiten zur Auswahl, die allerdings nicht alle gleichermaßen Erfolg versprechen. Zahlreiche Klein- und Kleinstverlage 88 helfen den jungen Autoren, ihre Texte zu veröffentlichen, drucken diese dann allerdings meist nur in einer niedrigen Auflage, die oftmals in einer Flut von Neuerscheinungen untergeht. Publikationsmöglichkeiten bieten auch Theaterzeitschriften, allen voran Primer Acto (Madrid) und ADE (Revista teatral de la Asociación de Directores de Escena de España/M.aAñ&)m sowie die staatlichen Schauspielschulen. Die R E S A D in Madrid hat beispielsweise einen eigenen Studienschwerpunkt Dramaturgia, in dem das Verfassen von Theatertexten systematisch gelehrt wird. 90 Ein- bis zweimal pro Jahr stellen die Schüler ihre in den Kursen erarbeiteten Werke in einer Buchpublikation d e m breiten Publikum vor. 91
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90 91
Bekannte Reihen, die Theatertexte publizieren, sind Espiral/Teatro (Madrid, Fundamentos), Letras Hispánicas (Madrid, Cátedra), Austral (Madrid/Espasa-Calpe), Biblioteca Antonio Machado de teatro (Madrid/SGAE), Nuevo Teatro Español (Madrid, CNNTE), El ojo de La Avispa (Madrid, Buchhandlung La Avispa) oder Teatro Español Contemporáneo (Alicante, Muestra de Teatro Español de Autores Contemporáneos). Veröffentlichungsmöglichkeiten bieten zudem die SGAE (Sociedad General de Autores de España), die ADE {Asociación de Directores de Escena de España), kulturelle Einrichtungen wie das CNNTE (Centro Nacional de Nuevas Tendencias Escénicas), die Universitäten (z. B. Murcia und Valencia) oder Verlagshäuser wie Castalia, Naque oder Hiru. Unüberschaubar ist das System von Kleinstverlagen, die beispielweise in Madrid über die Buchhandlung La Avispa vertrieben werden (www.infoescena.es/avispa). Vgl. zu Publikationsmöglichkeiten auch Vilches 1987, Garcia Verdugo 1993, Aznar Soler 1996a: 15, Ríos Carratalá 1996, Piftero 1997, Pérez Jiménez 2004 sowie die Monographie 15 Años de la Asociación de Directores de Escena de España (ADE), Madrid: ADE 1997. Theatertexte publizieren außerdem die Zeitschriften Acotaciones (Revista de investigación teatral, Departamento de Publicaciones de la RESAD/Madrid), Escena (Associació per la Fundació ÄcfWBarcelona), Estreno, Gestos (Teoría y práctica del teatrollrv'me, California) oder El Público (Madrid). Zeitschriften mit einer geringeren Reichweite sind z. B. Acción (Revista de teatro editada por la Asociación Cultural Tabanque, Zaragoza) oder Art Teatral (Cuadernos de minipiezas ilustradas, Valencia). Zu Theaterzeitschriften vgl. Moreno/Salvatierra 2002. Vgl. auch www.aat.es und www.cervantesvirtual.com/portal/AAT. Zur Organisation der RESAD und deren Publikationen vgl. Granda 1994, Doménech 1997 sowie die Web-Seite der Schule www.resad.com. Zur „enseñanza teatral" allgemein vgl. Monterde 1996. Auch in anderen Städten publizieren die Theaterschulen die Texte ihrer Schüler. In der Escuela Superior de Arte Dramático de Murcia entstanden z. B. verschiedene Sammelbände mit dramatischen Monologen. Eine Beschreibung dieser Art .Stilübung' der Schüler des Cuarto curso de Interpretación findet sich bei Serrano 1998: 13. Ein anderer Sammelband vereint Kurztexte aus einem Workshop über die biblische Figur Judith (Serrano 2000).
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Auch in Schreibwerkstätten und thematisch ausgerichteten Workshops, die von vielen Theatersälen und kulturellen Einrichtungen angeboten werden,'2 entstehen Sammelbände mit den jeweils in gemeinsamer Arbeit entstandenen Texten. Immer wieder gibt es auch publikumswirksame Einzelaktionen, wie der von der Asociación de Autores de Teatro am 26. März 2002 im Círculo de Bellas Artes organisierte Maratón de monólogos.93 Außerdem werden Einzeltexte in kulturellen Einrichtungen als szenische Lektüren oder über das Internet angeboten.94 Um ein breiteres Publikum zu erreichen, muss ein Theaterautor jedoch versuchen, über Auffiihrungen in Alternativsälen und auf Festivals sowie über einen der zahlreichen Theaterpreise auf sich aufmerksam zu machen,95 und da gilt der altbekannte Satz: Nichts ist erfolgreicher als der Erfolg. Seit 1985 ist ein vielversprechender Weg zur Erlangung eines werbewirksamen Bekanntheitsgrades der prestigereiche Premio Marqués de Bradomín fîir Jungautoren. Dieser von Jesús Cracio ins Leben gerufene „Concurso de Textos Teatrales para Jóvenes Autores" verfolgt ausdrücklich das Ziel, neue Autoren bis zur Altersgrenze von dreißig Jahren zu fördern sowie prämierte Texte zu veröffentlichen und zu inszenieren.96 Für junge Autoren bieten sich daneben Theaterpreise wie der Premio de la Universidad Politécnica de Madrid (mit Veröffentlichung in der Theaterzeitschrift Primer Acto) oder der Premio Romero Esteo an.97 Neben diesen speziell fur Nachwuchstalente 92
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Zu Möglichkeiten eines Autors, seine Texte der Öffentlichkeit vorzustellen, vgl. z. B. den Bericht von Fernández 1996d. Neben Alternativtheatem bietet in Madrid z. B. die Casa de América thematische Workshops an, etwa im März 2001 unter der Leitung von Guillermo Heras („Teoría y práctica del teatro semimontado"), im Oktober 2001/Januar 2002 unter der Leitung von Paloma Pedrero („Taller de Escritura Dramática") oder im Januar/Februar 2002 unter der Leitung von Rubén Szuchmacher („Guerquinprogres", „Actuación de textos de nueva dramaturgia"). Am Vorabend des Dia Mundial del Teatro wurden 44 fünf- bis zehnminütige Monologe unter der szenischen Leitung von Elena Cánovas und Aitana Galán präsentiert; vgl. dazu Cuadernos de Dramaturgia Contemporánea 7, Alicante 2002: 93-119. Ein „Banco de textos teatrales contemporáneos" ist die Fundación Romea, welche Texte lebender Autoren veröffentlicht, die noch nicht aufgeführt worden sind und die höchstens sechs Schauspieler umfassen (siehe die Web-Seite Fundación Romea: http:Wfundacioromea.com/ php/web/cas/bancdetextos. php). Über die bestehenden Preise und Festivals informieren die einschlägigen Theaterzeitschriften wie Primer Acto. Eine „Guía de concursos de textos teatrales" findet sich in Cuadernos de Dramaturgia Contemporánea 3, Alicante 1998: 133-137. Welche Preise pro Jahr jeweils verliehen werden, kann im vom Centro de Documentación Teatral herausgegebenen „Anuario teatral" nachgelesen werden. Zur Zielsetzung vgl. Cracio 1987: 11; 1988: 9. Zu Einzelheiten der Preisvergabe vgl. Marqués de Bradomin 1986: 154. Außer dem Hauptpreis werden jährlich zwei so genannte „Accésits" veröffentlicht. Der Premio de la Universidad Politécnica und der Premio Miguel Romero Esteo wurden Mitte der neunziger Jahre zum ersten Mal verliehen. Zu den Teilnahmebedingungen des Premio de la Universidad Politécnica vgl. Primer Acto 292 (2002): 102. Zum Universitätstheater allgemein vgl. García Lorenzo 1999 und die Ausgabe Acotaciones en la caja negra 7 (2002). Der Premio Miguel Romero Esteo wird vom Centro Andaluz de Teatro verliehen.
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eingerichteten Wettbewerben existiert eine Vielzahl an nationalen und regionalen Preisen auch für ältere Autoren, von denen die wichtigsten der Premio Lope de Vega, der Premio Calderón de la Barca und der Premio Tirso de Molina sind.58 2003 wurde der erste Premio de Dramaturgia Innovadora auf dem wichtigsten Alternativfestival Madrids, Escena contemporánea, an Angélica Liddell verliehen. Auch ein Beitrag zu einem der nationalen oder internationalen Festivals kann für einen Theaterautor das Sprungbrett zu einer Theaterkarriere sein. In den letzten Jahren haben sich diese Festivals zu (europaweiten) Austauschforen neuer dramatischer Tendenzen entwickelt." In Madrid sind im Zusammenhang mit dem spanischen Gegenwartstheater zwei von besonderem Interesse: das im Januar und Februar stattfindende Festival Alternativo de las Artes Escénicas/Escena Contemporánea (unter diesem Namen seit 2001), 100 das in verschiedenen Ciclos101 Trends der Gegenwartsdramatik vorstellt, und die Muestra de Teatro de las Autonomías im Herbst (seit 1997), die einen Einblick in Inszenierungen der einzelnen autonomen Regionen Spaniens gibt. Ebenfalls einem Uberblick über die spanischen Produktionen einer Spielzeit ist die seit 1993 jeweils Ende November ausgerichtete Muestra de Teatro Español de Autores Contemporáneos in Alicante gewidmet.102 Internationale innovative Theater- und Tanzauffuhrungen sind auf dem (seit 1984) jährlich im Oktober stattfindenden Festival de Otoño in Madrid zu sehen.103 98
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Der Premio Tirso de Molina wird jährlich vergeben durch die Agencia Española de Cooperation Internacional (AECI) und beinhaltet neben einer Geldprämie die Finanzierung einer szenischen Umsetzung des Textes. Vgl. auch Primer Acto 2 1 7 (1987): 78. Weitere Preise sind Ciutat d'Alcoi, Ignasi Iglésias, Hermanos Machado, Donosti, Born de Ciutadella, Maria Teresa León (nur für Frauen), Hogar Sur de Teatro de Comedias, Rojas Zorilla de Toledo und SGAE de Teatro. Z u den Festivals allgemein vgl. García Lorenzo 1990: 2 9 8 - 3 0 0 , Floeck 1997: 24f. Escena Contemporánea ist eine Abspaltung des bereits seit über zehn Jahren bestehenden Festival La Alternativa, das seit 2 0 0 1 nur noch von einem kleinen Teil der Salas alternativas ausgerichtet wird (u. a. Triángulo, Liberarte Teatro Estudio, Aguas und Espada de Madera). Escena Contemporánea dauert fiinf Wochen und berücksichtigt auch Tanz, musikalische Experimente und Installationskunst. Im Jahr 2 0 0 3 etwa wurden neben der Rubrik „ O b r a s " sechs verschiedene Ciclos angeboten: „Perfil: Angélica Liddell", ,Autor: Michel Azama", „Nuevos creadores", „Madrid Escena", „Música" und „Otras actividades". Von den 2 9 Gruppen kamen 11 aus dem Ausland und sechs von außerhalb Madrids. Z u dem Festival vgl. de Francisco 2 0 0 3 : 33. Zur Muestra vgl. Heras 1998a: 10, Diago 2 0 0 2 : 142, Pardo 2 0 0 2 , Ríos Carratalá 2 0 0 2 , Heras 2 0 0 3 : 204-213. Eingeladen werden professionelle Gruppen Spaniens aller Altersstufen und Stilarten (d. h. auch Café-Theater, Straßen- und Kindertheater). Neun Tage lang werden neben den Auffuhrungen Diskussionsforen, Übersetzer-Workshops, Seminare, Ausstellungen und Schreibwerkstätten angeboten; das Werk jeweils eines Autors wird jährlich in seiner Gesamtheit gewürdigt. Außerdem werden die neuesten Buchpublikationen zum spanischen D r a m a und Theater vorgestellt. Listen der Aufführungen finden sich in den jährlich herausgegebenen Cuadernos de Dramaturgia Contemporánea, dem Publikationsorgan der Muestra. Z u m Festival de Otoño vgl. Heras 1994: 67-69. Im Herbst findet in Madrid seit 1996 außerdem das Festival Madrid Sur statt.
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Für die neuesten Tendenzen des spanischen Theaters von besonderem Interesse ist das Festival Escena Contemporánea, das ausdrücklich zum Ziel hat, zukunftsweisende Ideen, Inszenierungen und Projekte zu fördern.104 In einem Ciclo „Experiencias" werden dabei auch neue Auffiihrungsorte erschlossen. Side specific projects außerhalb von Theatergebäuden waren 2001 beispielsweise País llamado Julio (im Rahmen einer Führung durch die Casa de América; Regie: Mario Vedoya) und Somebody to love (in einer Galerie gegenüber dem Museo Reina Sofía; Regie: Rodrigo García), 2002 eine szenische Installation über mehrere Stockwerke eines ehemaligen Wasserturms des Canal Isabela II (.Zona Cero; Koordination: Borja Ortiz de Gondra), ein Tanzprojekt in einer Diskothek (Los negocios acaban a las diez; Leitung: Elena Córdoba) und eine „cena contada", bei der ein galicischer Geschichtenerzähler das Publikum bei einem Abendessen unterhielt (Por cierto...-, Organisation: Cándido Pazó), 2003 erneut eine inszenierte Führung durch die Casa de América (Alicia murió de un susto-, Leitung: Juan Branca); außerdem konnte das Publikum an einem Projekt teilnehmen, bei dem jeweils neun Zuschauer in den Keller eines Hauses in einem alten Stadtviertel Madrids geführt wurden, von wo aus sie durch ein Eisengitter auf einen darunter liegenden Keller blickten, aus dem verschiedene Laute zu ihnen hoch drangen (El hueco-, Compañía Proyecto Sur). Eine andere Auffuhrung erfolgte als MarathonInszenierung von 36 Stunden in einer Kneipe im Zentrum Madrids (Sexo; Leitung: Juan Carlos Montagna).105 Sieht man sich die Festivals an, welche sich gerade eine Förderung zukunftsweisender Theaterformen auf ihre Fahne geschrieben haben (wie Escena Contemporánea in Madrid), so zeigt sich der Trend, szenische Künste in Richtung auf ein sinnliches Gesamtkunstwerk zu öffnen, bei dem das gesprochene Wort nur ein Element unter vielen ist.'06 Der Nachteil der Festivals ist, dass sie kein konstantes Publikum regelmäßiger Theatergänger schaffen und dass jedes Projekt nur wenige Aufführungen er-
104 Vgl. die Programmhefte. Von 2001 bis 2003 lag die Leitung der Rubrik „Neuere Tendenzen des Gegenwartstheaters" in den Händen Javier Garcia Yagües. 105 Im Programmheft zu Escena Contemporánea 2003 war zu lesen: „Experiencias acoge propuestas que no solemos ver ni siquiera en las salas alternativas. Sus características experimentales, en cuanto al género, los espacios, el tiempo o la relación física con los espectadores, hacen que sea difícil encontrarles un sitio. La dirección de Escena Contemporánea, en su intento de mostrar y cuestionar los límites admitidos de la teatralidad, la producción y la creación, ha recogido y estimulado, incluso coproducido con algunas compañías, la realización de estas experiencias" (Programmheft „Escena Contemporánea" 2003: 34). Zum ,Ciclo' Experiencias auf dem Festival Alternativo 2003 vgl. Caruana 2003. 106 Macht man innovative Tendenzen an Festivals wie dem Festival de las Autonomías (Madrid) oder Escena Contemporánea (Madrid) fest, ist eine immer engere Verflechtung des Theaters mit der plastischen Kunst und dem modernen Tanz zu erkennen. Sánchez charakterisiert den ,Blick' im Gegenwartstheater mit den Begriffen contaminación und spricht von „espectáculos transdisciplinares" (1997: 60).
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lebt. So werden viele Produktionen gezielt für Festivals geschaffen, d. h. für Zuschauer, die in wenigen Tagen möglichst viel Neues sehen wollen. Das hat zur Folge, dass viele Inszenierungen in wenigen Wochen auf die Beine gestellt werden, Nachlässigkeiten in der Dramaturgie verraten und vielfach auch in der szenischen Gestaltung beschränkt sind (das Bühnenbild muss schließlich schnell auf- und abbaubar und möglichst wieder verwendbar sein). Auch fördert der Festivalbetrieb eine durch Nachahmung hervorgerufene Sterilität, die nicht weniger den Marktgesetzen gehorcht als die Produktionen fester Theater, zu denen die Festivals eigentlich die Alternative sein wollen: Die Autoren und Regisseure kopieren formelhaft Strukturen, die Anklang bei den Zuschauern gefunden haben, denn eingeladen wird, wer Erfolg hat, und Erfolg hat, wer die Publikumserwartungen nicht enttäuscht. Eine weitere Möglichkeit, für szenische Experimente aufgeschlossene Zuschauer zu erreichen, sind Aufführungen in den Salas alternativas. In Madrid sind die in den letzten Jahren innovativsten Alternativtheater die Cuarta Pared (seit 1992, c/Ercilla), das Teatro Pradillo (seit 1990, c/Pradillo), El Canto de la
Cabra
(seit 1991, c/San Gregorio), Ensayo 100 (seit 1995, c/Raimundo Lulio) und Triángulo (seit 1988, c/Zurita);107 in Barcelona sind vor allem die Sala Beckett und
das Institut del Teatre zu nennen. 108
Die hohe Zahl der Festivals, Preise und Kleinpublikationen erleichtert die Verbreitung von Texten des Gegenwartstheaters nur scheinbar: Da vielfach ästhetische Filter fehlen, gehen viele gute Produktionen im Strom einer ungeheuren eher mittelmäßigen Publikationsflut unter. Beschreibungen der Tendenzen des spanischen Gegenwartstheaters müssen schließlich danach fragen, welche Art Theater erfasst werden soll. So kann zwischen privatem und öffentlichem Theater, zwischen teatro comercial, teatro oficial und teatro alternativo unterschieden werden.109 Das Unterhaltungstheater (meist im teatro comercial), das sich am stärksten an den Erfolgsmedien Kino, Fernsehen, Internet und Videoclip orientiert, erfreut sich durchgehend großer Beliebtheit, die sich auch in kommerziellen Erfolgen niederschlägt; alternatives Theater hingegen
107 Die Guía del ocio Madrids nannte in ihrer bis 2002 existierenden Rubrik Salas alternativas 14 Säle, während sie seit 2003 nur noch zwischen „Teatro de Madrid" und „Otros escenarios" unterscheidet, wobei fast alle in diesem Kapitel genannten Theater unter die erste Rubrik fallen. Zu Funktionsweise, Zweck und Ziel der Salas alternativas vgl. Aznar Soler 1996a: 13, Ragué-Arias 1996: l45f., Yagüe 1996, López Mozo 1997, Pascual 1997, Primer Acto 248 (1993): 27-47, Leonard 1998: 734, Lumbreras 1998: 37 sowie den Beitrag „Teatro alternativo: un intento de panorámica" in Insula 601-602 (1997): 32f. Zur finanziellen Lage und zum Status des alternativen Theaters vgl. Sanchis Sinisterra bei Pallin 1998b. 108 Vgl. dazu Batlle i Jordä 1996; 1998. 109 Zu den verschiedenen Sparten im Theater und zum Verhältnis von Alternativ- und Privattheater vgl. auch Hormigón 1995, Floeck 1997, Pérez-Rasilla 2002a und den Überblick in Hartwig 2004d.
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erreicht nur wenige Zuschauer. So zeigt z. B. der 2000 von der SGAE (Sociedad General de Autores y Editores) vorgelegte Bericht über die Konsumgewohnheiten der Spanier, dass experimentelles Theater nur ein verschwindend kleines Publikum anspricht, das sich vor allem aus universitären Kreisen und Menschen im Alter zwischen 25 und 45 Jahren rekrutiert („Informe SGAE": 61).110 Gerade im Milieu von Kleintheatern werden indes innovative Tendenzen entwickelt, während in den kommerziellen Theatern eher eine konservative Ästhetik vorherrscht.111 Die vorwiegend Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre entstandenen Salas alternativas dienen allgemein der „Wiederbelebung eines Theaters, in dem Phantasie, Kreativität und Engagement mehr zählen als ökonomische Sicherheit und üppige Ausstattung" (Floeck 1997: 31f.).112 Viele Autoren des Alternativtheaters sind zugleich Regisseure und begleiten den gesamten Produktionsprozess einer Aufführung,113 weshalb viele ihrer Texte works in progress sind. Das alternative Theater versteht sich als unkonventionell, kreativ, experimentierfreudig und politisch unabhängig. Ragué-Arias nennt es „el heredero del teatro independiente, la alternativa ideológica y estética frente al teatro comercial y al teatro oficial" (1996: 145). Neue Impulse des Gegenwartstheaters müssen also fast ausschließlich in diesem Umfeld gesucht werden. 110 Statistiken, Berichte und Kommentare über Spielzeit und den „mercado escénico" finden sich auch in dem seit 1985 jährlich vom Centro de Documentación Teatral herausgegebenen „Anuario teatral", der über die Freizeitgewohnheiten der Spanier im Hinblick auf die szenischen Künste Auskunft gibt. Zu Besucherzahlen und Auslastung der Theatersäle vgl. z. B. den vom Centro de Documentación Teatral herausgegebenen Bericht „Los Teatros de Madrid. 1994-1998" (Madrid: C D T 1999). Zum Stellenwert des Theaters im aktuellen Spanien vgl. auch Hormigón 1995. 111 Hormigón spricht von einem „repertorio conservador, estética e ideológicamente hablando, en gran parte de los teatros privados e incluso públicos" (1996: 18). Meinungen von sieben Regisseuren über die salas alternativas zeichnet Doli 1999 auf. Zum Angebot der Theater in Madrid vgl. García Lorenzo 1990: 295. Zum baskischen, galicischen und katalanischen Gegenwartstheater vgl. Ragué-Arias 1996: 196-231; 2000, Gómez García 1996: 127-133, Vieites 1998 und die regelmäßig erscheinenden Kurzberichte in Primer Acto. Zum Theater in den verschiedenen autonomen Regionen (Andalusien, Valéncia usw.) vgl. Heras 2003: 194196. Zur Situation der Theater in der Region Madrid vgl. auch Hormigón 1996, Campos Garcia 2002. Zum aktuellen Theater in Barcelona vgl. Ebmeyer 2001. Zum katalanischen Theater vgl. auch Badiou 1987, Gas 1990 und Estreno XXIV, 2 (1998). 112 Vgl. zur Verflechtung von Theaterproduktion und spanischer Kulturpolitik Gómez García (1996); Gómez García macht die Theaterpolitik zur Grundlage seiner Periodisierung des Theaters seit 1975 und spricht von „La Transición desconcertada (1976-1982)", „El octubre Teatral (1983-1995)" und „El teatro de autor al final del siglo (1996-2000)". Vgl. auch die Tabellen bei Oliva 2002. Sirera (1998) setzt zwei Etappen in der Theatergeschichte der NachFrancozeit an, 1982-1992 und 1992-1995; vgl. auch Sirera 2000. Sánchez sieht die Spielzeit 1983-84 als Beginn eines „teatro contemporáneo español" an (2000: 115). Zur spanischen Theaterpolitik in den 70er und 80er Jahren vgl. Debate 1987, García Lorenzo 1990: 301-304; 1997, Oehrlein 1990: 283-285, Heras 1994, Vilches 1994: 281, Monleón 1995b, Aznar Soler 1996a: 12-13, Pérez-Rasilla 1996: 14, Ragué-Arias 1996: 113-144, Floeck 1997: 19-22. 113 Zu den Regisseuren der 90er Jahre vgl. López Mozo 1997a.
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SPANISCHES GEGENWARTSTHEATER
2.2
.GENERATION DER JAHRTAUSENDWENDE'?
Darstellungen des spanischen Theaters zeigen eine auffallende Vorliebe für Periodisierungen von literarischen Texten nach ,Generationen. So werden die Autoren, die in den 40er Jahren geboren sind und in der Zeit zwischen 1975 und 1982 literarisch hervortraten, kurzerhand zur generación de la transición und diejenigen, die nach 1955 geboren sind, zw joven generación democrática de los años SO.114 Die Aussagekraft solcher Bezeichnungen ist, wie man unschwer erkennen kann, gering. Wie steht es aber damit, um einen Jungdramatikerpreis wie den Marqués de Bradomin eine neue Generation anzusiedeln, eine generación BradomínV 15
Die Ästhetiken der Texte, die im letzten Jahrzehnt des 20. und im ersten des 21. Jahrhunderts entstehen, sind so vielfältig, dass ihre Charakterisierung durch einen Generationenbegriff über eine selbstevidente Aussage („Alle Autoren schreiben um die Jahrtausendwende") kaum hinauskommt. Generationen implizieren eine gewisse Homogenität, die allein durch das biologische Alter oder die Gleichzeitigkeit der Produktion nicht gegeben ist. Nicht einmal bei den Preisträgern des Premio Marqués de Bradomin kann von relativer Einheitlichkeit der ästhetischen Ausrichtung die Rede sein. Ein flüchtiger Blick auf formal und thematisch so unterschiedliche Werke wie die in bewährter Salonkomödientradition stehenden Texte Baldosas (para teatro) (David Desoía Mediavilla, Premio 1999) oder Búscame en Hono-Lulú (Margarita Sánchez Roldán, Accésit 1989), die deutlich der Linie eines politischen Aufklärungstheaters folgenden Texte Cuaderno de bitácora (Dámaris Matos Carmet, Accésit 2001) oder Siete hombres buenos (Juan Mayorga, Accésit 1990), psychologisierendes, auf die Alltagswelt Bezug nehmendes Theater wie Probablemente
Mañana
(Rafael C o b o s , Accésit 1998) oder Sueña,
Lucifer
(Carmen Delgado Salas, Accésit 1990), Texte mit absurden Figuren- und
Handlungskonstellationen wie Martes. 3:00 A.M. Más al Sur de Carolina del Sur
(Arturo Sánchez Velasco, Premio 1998) oder Una acera en la pared (Juan Manuel Chumilla Carbajosa, Accésit 1986) sowie hermetische Texte wie Orléans (Mariano Gracia Rubio, Accésit 1989) oder MACBETH Imágenes (Rodrigo García, Accésit 1987) verrät, dass die vielbeschworene generación Bradomin kaum mehr gemein-
114 Diese Einteilung legt z. B. Wilke 1999 ihrer Untersuchung des realistischen Theaters der 80er Jahre zugrunde (vgl. z. B. 1999: 17, mit Literaturverweisen). Die jüngeren Autoren werden auch zu einer „primera generación de la democracia española" zusammengefasst (vgl. Gabriele/Leonard 1996a: l l f . , Ragué-Arias 1996: 233). Gómez García (1996: 111) spricht von einer „generación de los ochenta". 115 Wiederholt findet sich die Aussage, der Premio Marqués de Bradomin habe zur Entstehung einer neuen Generation von Autoren geführt, die „generación Bradomin" (vgl. z. B. Gómez García 1996: 123-126, Ragué-Arias 1996: 233-264, Lax 1999: 7-21 sowie die Debatte in Cracio 1998).
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sam hat als eben dies eine: den Preis oder einen Accésit gewonnen zu haben. Auch die Autoren selbst wehren sich dagegen, einem Generationenbegriff subsumiert zu werden.116 Das spanische Gegenwartstheater kann auf keinen stilistischen Nenner gebracht werden.117 Einige Autoren fuhren ein Theater weiter, das an den Stil des Nuevo Teatro der 60er Jahre erinnert und Elemente des Zirkus und des Rituals enthält wie z. B. die andalusische Gruppe La Zaranda (unter der Regie von Eusebio Calonge);118 andere haben sich einem leichteren Unterhaltungstheater zugewandt, mit dem sie auch kommerzielle Erfolge verzeichnen, wie etwa Maxi Rodríguez oder Paco Mir. Viele Autoren arbeiten im Fernsehen, im Kino oder in der Werbebranche. Das bedeutet allerdings nicht, dass ihre Texte deshalb auch ähnliche Strukturen aufweisen, wie selbst ein nur oberflächlicher Vergleich zwischen Texten von Roberto Santiago, Raúl Hernández Garrido, Alejandro Jornet oder Rodrigo García zeigt.119 Ortiz de Gondra nennt den Einbezug des Zuschauers und den Gebrauch der Ellipse als gemeinsames Kennzeichen der um die Jahrtausendwende schreibenden Theaterautoren.120 Auch hier zeigt aber bereits ein oberflächlicher Vergleich, dass die verschiedenen Autoren fragmentarische Strukturen derart unterschiedlich funktionalisieren, dass von einer einheitlichen Ästhetik nicht die Rede sein kann.121 Soll mit generación eine Autorengruppe bezeichnet werden, die im weitesten Sinne eine gemeinsame Sache' vertritt, sei es ästhetischer oder inhaltlicher Art, so existiert keine generación Bradomín. Versteht man unter einer generación literaria allgemein einen gemeinsamen .kulturellen Kontext', auf den literarische Texte kreativ reagieren,122 verliert der Generationenbegriff seine Unterscheidungskraft:
116 Vgl. z. B. Borja Ortiz de Gondra 1999a. Vgl. auch den Fragebogen bei Ragué-Arias (1997), der fünfzehn Autoren u. a. danach fragt, ob sie sich als Teil einer Schriftstellergeneration fühlen. 117 Floeck spricht von einem „relativismo estético marcado por la heterogeneidad y la yuxtaposición de estilos múltiples" (1999: 162). Zum spanischen Gegenwartstheater allgemein vgl. vor allem Aznar Soler 1996, Ragué-Arias 1996, Floeck 1997, Sánchez 1997, Cracio 1998, Sastre/Pallín/Pascual/Fernández 1998, Sirera 2000: 88 sowie die Sondernummer „Teatro español actual", ADE Teatro 50/51 (1996). 118 Zur .neobarocken' Ästhetik der Zaranda vgl. Cornago 2001. 119 Roberto Santiago arbeitet seit Ende der achtziger Jahre als Drehbuchschreiber fíir TVE, Alejandro Jornet tritt als Schauspieler in Fernsehfilmen auf, Raúl Hernández Garrido ist seit 1988 in den Servicios Informativos y de Programas de TVE beschäftigt, Rodrigo García arbeitete lange Zeit in der Werbebranche. 120 Vgl. Ortiz de Gondra in Pérez-Rasilla 1997: 93, Ortiz de Gondra 1999a: 31. 121 Vgl. Hartwig 2004; 2004b. 122 Lax nennt z. B. mit Alberto Miralles und Julián Marías folgende Kriterien einer literarischen Generation: „Coincidencia de edades, determinado contexto histórico y estilo vital producto de las circunstancias sociales vividas" (1999: 10). Bezüglich der Autoren der Jahrtausendwen-
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Er besagt dann nicht mehr, als dass Zeitgenossen mit einem ähnlichen Erfahrungshorizont eine Generation bilden, so dass der Erfahrungshorizont und nicht eine gemeinsame Ästhetik zum eigentlichen Unterscheidungskriterium wird. Im Folgenden soll daher nicht von einer,Generation der Jahrtausendwende' die Rede sein, sondern allgemein von Texten, die um die Jahrtausendwende entstanden sind. Selbstverständlich können dabei Gruppierungen benannt werden, die sich durch ästhetische Gemeinsamkeiten auszeichnen. ,Kleingruppen' bilden sich bereits über die Escuelas Dramáticas. So verfassen viele Autoren gemeinsam Texte, wie etwa die beiden Sanchis Sinisterra-Schüler der Sala Beckett Paco Zarzoso und Llui'sa Cunillé, deren Werke sich durch rätselhafte Grundsituationen und bruchstückhaft aneinander gesetzte, oft nicht einmal chronologisch miteinander verbundene Einzelszenen auszeichnen.123 Ferner gibt es projektbezogene Zusammenschlüsse von Autoren, die ansonsten unabhängig voneinander arbeiten. Yolanda Pallín, Javier García Yagüe und José Ramón Fernández verfassten beispielsweise in den Jahren zwischen 1999 und 2002 gemeinsam eine
Trilogía de la juventud für die Compañía Cuarta Pared. Manche Autoren finden
über Aktionen zusammen, wie etwa in dem Projekt „Cabarè Borges", das die Aufführung von neun Kurztexten über einen frei gewählten Aspekt des Werkes oder der Persönlichkeit Jorge Luis Borges' umfasst.124 Andere Autoren veröffentlichen ihre Texte gemeinsam in thematisch ausgerichteten Sammelbänden, etwa Leopoldo Alas, Ernesto Caballero und Ignacio del Moral im Projekt Precipitados.125 Textsammlungen zu übergeordneten Themen erscheinen z. B. in
der Reihe Teatro Español Contemporáneo (Alicante), wie Al borde del área (1998) mit dem Thema „Fußball"126 oder Un sueño eterno
123
124 125
126
(1999) mit dem Thema
de stellt Lax fest: „Nos encontramos ante un teatro que [...] bien podríamos llamarlo la Generación del 7 6 8 x 5 7 6 ; Virtual; De la Guerra; De la llegada a Marte; De la red; De la conquista del Espacio; De la clonación o fotocopia; 6 2 5 ; Pentium; etc." ( 1 9 9 9 : 20). Vgl. auch das valencianische Autorengespann Caries Alberola/Roberto García oder die beiden (der Gruppe La Jácara aus Alicante nahe stehenden) Autoren Rafael González und Francisco Sanguino, die wiederholt gemeinsam Texte verfassen (vgl. dazu Ragué-Arias 1 9 9 6 : 255f.). Es beteiligten sich u. a. Raúl Hernández, Rodrigo García, Juan Mayorga, Antonio Álamo und Pedro Víllora. Vgl. Cuadernos escénicos de la Casa de América 2 (2000): 8 3 - 1 0 8 . Guillermo Heras erläutert: „[El proyecto] procede de una idea que planteé al Consorcio de Madrid Capital Europea de la Cultura dentro de un ciclo que pretendía reflexionar sobre la escritura desarrollada por diferentes autores que vivieron o viven en una ciudad tan específica como es Madrid" (Alas/Caballero/del Moral 1 9 9 2 : 8). Heras erläutert das Konzept wie folgt: „El fútbol debería ser ante todo un juego, y este volumen tiene también la vocación del juego. Convocar a una serie de autores de todo el Estado [...] para que desde su propia óptica del asunto y específica manera estética de encararlo, nos propusieran un mosaico de piezas teatrales breves que juntas formasen una geografía temática común. Los condicionantes: el referente futbolístico, no más de diez folios y la entrega en una fecha concreta, en lo demás, libertad absoluta" ( 1 9 9 8 : 7). Vgl. auch einen Workshop um Sigmund Freuds Konzept des „Unheimlichen" ( Taller de escritura Ateneo de
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„ K i n o " . G e r a d e i m U m f e l d der Muestra
de Teatro Español
de Autores
Contempo-
ráneos und dem Teatro del Astillero finden sich zahlreiche Sammelbandpublikationen von Kurztexten.127 Mehr als zwei Autoren des spanischen Gegenwartstheaters finden sich über längere Zeit nur selten zusammen.128 In den letzten Jahren kann man nur von zwei relativ konstanten Gruppen sprechen, von denen nur eine ihre Zusammengehörigkeit explizit herausstellt: das Teatro del Astillero und die Autoren um Rodrigo García. Die Gruppe Teatro del Astillero geht aus einem Workshop des Chilenen Marco Antonio de la Parra hervor.129 Vier Teilnehmer, José Ramón Fernández, Raúl Hernández Garrido, Luis Miguel González Cruz und Juan Mayorga, schließen sich 1995 mit dem Autor und Regisseur Guillermo Heras zusammen mit dem Ziel, ein innovatives spanisches Gegenwartstheater zu schaffen und zu verbreiten.130 Zu diesem Zweck organisiert die Gruppe Workshops, Aufführungen und „lecturas dramatizadas" von Texten ihrer Mitglieder, aber auch anderer Autoren (z. B. in der Casa de América), verfasst Texte zu gemeinsamen Themen (z. B. Ventolera/Rotos 1998 oder Oscuridad 2001) und publiziert in einer Reihe namens Teatro del Astillero Theatertexte. Die Gruppe hat keine creación colectiva zum Ziel, sondern versteht sich als Austauschforum von Ideen, Anregungen und Kritik. Ein hervorstechendes Kennzeichen der Texte des Astillero ist die sprachliche Virtuosität, die bisweilen an hermetische Verschlüsselung grenzt. Mayorga spricht von „una desconfianza respecto al lenguaje, una sospecha, y al mismo tiempo una recuperación del lenguaje, como si fuera un lugar mágico que de algún modo sí
127
128
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130
Madrid 2001; die Publikation heißt Lo siniestro, Madrid: Teatro del Astillero, 2002). In einer anderen (spanisch-argentinischen) Gemeinschaftspublikation werden Kurztexte ausgehend von einer Zeitungsnotiz des Geburtstages jedes Autors geschrieben {La notica del dia. Textos breves argentinos y españoles, coord. por Inmaculada Alvear, Madrid: La Avispa 2001). Vgl. auch die 2001 v o m Instituto de la Juventud im Verlag N a q u e herausgegebene Sammlung Ecos y silencios mit Kurztexten der ehemaligen Gewinner des Premio Marqués de Bradomln, die sich an Fotos der Ausstellung „Éxodos" von Sebastiäo Saigado in Madrid inspirieren. Z u m Konzept vgl. Cracio/Cerdá 2001, Pérez-Rasilla 2001a. Daneben bestehen auch die Theatergruppen weiter, die schon in der Zeit der Transición bekannt waren (Albert Boadella und Eis Jogiars, Salvador Távora und La Cuadra, Eusebio Calonge und La Zaranda sowie La Fura deis Baus, Eis Comediants, La Cubana und Sémola), die jeweils einen charakteristischen Stil entwickeln. Vgl. Hernández: „El grupo se formó a partir de los que quedamos en el Taller después de un año y medio de trabajo, y nos pareció muy interesante continuar reuniéndonos para confrontar nuestras obras, someternos a la crítica de los demás, intercambiar ideas..." (Monleón 1995c: 55). „[...] T E A T R O D E L A S T I L L E R O se encarga de difundir la nueva dramaturgia española, así como de propagar muestras de las más innovadoras formas de escribir del teatro del mundo, mostrando especial interés por las actuales vanguardias hispanoamericanas" („El Astillero", www.geocities.com/teatroastillero/ historia.htm; 2 1 . 1 0 . 2 0 0 2 ) .
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podría intervenir en la realidad" (Matteini 1998: 10). Die Bandbreite der Ästhetiken reicht von hochgradig symbolischen Texten (Hernández Garrido, Los restos: Agamenón vuelve a casa, Premio Rojas Zorrilla 1996) bis hin zu einem realismo sucio (González Cruz, La negra, Premio Born de Teatro 2001). In der Regel wird eine Geschichte mit einem durchgehenden Spannungsbogen erzählt, wenn diese auch mitunter durch poetische, symbolische, abstrakte und metaphorische Bearbeitungen stark verfremdet erscheint. Meist spielen die Texte mit verschiedenen Zeit-, Wirklichkeits- und Wahrnehmungsebenen, enthalten aber Ideen, die einen compromiso social implizieren. Die sprachlichen Verrätselungen dienen also der Verfremdung von Sachverhalten, die der politischen und sozialen Gegenwart entnommen sind. Die ästhetische Gestaltung wird dabei als ebenso wichtig angesehen wie der bearbeitete Stoff.'31 Über eine gemeinsame ästhetische Ausrichtung kann eine weitere Gruppe von Theaterleuten zusammengefasst werden, die in ihrem Kern Rodrigo García, Carlos Marquerie, Antonio Fernández Lera und die Tänzerin und Choreographin Elena Córdoba umfasst.132 Seit den neunziger Jahren arbeiten die genannten Autoren, Regisseure und szenischen Künstler regelmäßig zusammen, etwa indem Marquerie die Beleuchtung für Garcías Inszenierungen (z. B. für After sunt2000 und Compré una pala en Ikea para cavar mi tumbal2002) oder García das Bühnenbild fiir Fernández Lera (Mátame, abrázame!2002) entwirft. Anders als bei dem Teatro del Astillero gibt es jedoch keinen formalen Zusammenschluss.133
131 Vgl. die Einschätzung von Hernández: „Creo que sí que existe un nexo temático entre muchos de nosotros aunque, al mismo tiempo, también hay una gran disparidad en la forma. Existe una nueva generación, distinta de la inmediatamente anterior - que podría representar Ernesto Caballero más alejada del neorrealismo o del costumbrismo. Nosotros jugamos con temas más fantásticos, sin esa referencia tan inmediata a lo real y con una atención especial a la experimentación de la forma" (Monleón 1995c: 55). 132 Von den genannten Autoren direkt beeinflusst sind z. B. Alejandro Jornet, der sich immer wieder explizit auf Rodrigo García beruft, und der Schauspieler und Autor Carlos Fernández López, der u. a. mit Elena Córdoba zusammenarbeitet. 133 Es existiert allerdings das Bemühen, mit einer Textreihe namens „Pliegos de teatro y danza" (www.aflera.com/pliegos) ein gemeinsames Publikationsorgan zu schaffen. Auch geben die genannten Autoren seit Herbst 2002 Videos ausgewählter Aufführungen heraus. Pablo Caruana schreibt in dem Werbefaltblatt zu „Colección Vídeos de Teatro y Danza": „AI principio, por un lado, fue la UVI con Elena Córdoba, La Ribot, Olga Mesa, Ana Buitrago, Mónica Valenciano y Blanca Calvo - de dónde, a parte de sus propias creaciones, han surgido iniciativas tan necesarias como .Desviaciones' o .Piezas hechas y deshechas' - . Por otro, fue Carlos Marquerie [...], fue también Antonio Fernández Lera [...], y un joven que veía con admiración las cosas que Marquerie hacía el [sie] el Olimpia de las Nuevas Tendencias y que luego se uniría para con las cuatro extemidades [sie] remover los cimientos de todo aquello, Rodrigo García. Se juntaba, quizá por primera vez en nuestro país, un teatro donde desaparecían las líneas delimitadoras y limitadoras entre la danza, el arte, el teatro, el vídeo o la performance".
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Die gemeinsame Ästhetik zeichnet sich in erster Linie dadurch aus, dass sie im Schnittpunkt von Theater, Tanz und plastischer Kunst steht, was u. a. dazu fuhrt, dass die Inszenierungen niemals eine durchgehende Geschichte erzählen. „Comprender el argumento y seguir la trama es infravalorarse", heißt es im Manifest Los Cretinos de Velázquez, das Rodrigo García mitverfasst hat.134 Vielmehr zeigen die Werke Fragmente, die gelegentlich durch Leitmotive zusammengehalten werden und in weiten Teilen vorwiegend die präkognitive Wahrnehmung des Zuschauers ansprechen: „Sus sentidos están primero que sus razonamientos", um noch einmal die Cretinos de Velázquez zu zitieren.135 García ist der bekannteste und erfolgreichste der genannten Autoren. In den letzten Jahren hat er sich, vor allem aufgrund seines großen Erfolges in Frankreich, international einen Namen gemacht.136 Er schreibt nicht nur Texte, sondern arbeitet auch als Regisseur (seit 1989 mit seiner eigenen Gruppe La Carnicería Teatro) und als Bühnenbildner, entwirft Videos und Rauminstallationen.137 Viele seiner Projekte spielen mit der Grenze zwischen Fiktion und Realität und beziehen stark die sinnliche, vor allem die visuelle und akustische, aber auch die olfaktorische Dimension der Wahrnehmung ein. Für Garcia sind Geschichten bereits manipulierte Wahrnehmung: „[...] las historias al final lo que hacen es buscar nexos entre las cosas donde no hay nexos, no existen esos nexos" (Gabriele/ Leonard 1996: 42). Eine der Gegenwart angemessene Kommunikation sieht Garcia in der Auflösung traditioneller Theaterelemente wie sie Figuren mit eigener Identität, zusammenhängende Handlungen und benennbare Konflikte darstellen. An deren Stelle rücken Widersprüche, Brüche und Fragmente: „[...] no quiero tener ideas fijas" (García in Henríquez/Mayorga 2000: 17). Ein solches Theater strebt keine direkte Beeinflussung des Zuschauers oder die Übermittlung von Botschaften an, sondern ist vielmehr auf der Suche nach Ereignissen, die
134 Zuerst erschienen als „Los Cretinos de Velázquez, Manifiesto" in El Público (23.9.1995: 56) und noch einmal abgedruckt in Diago 1997. Vgl. eine weitere Aussage aus diesem Manifest: „Sugerencia es lo contrario a orientación. Los símbolos son trampas colocadas por idiotas para cazar idiotas." 135 Vgl. El Público 23.9.1995: 56. 136 Seit 2000 wird Garcías Theater in Europa rezipiert „de una manera hasta hoy desconocida para el teatro hecho en España" (Caruana 2002: 44). Auf dem Festival in Avignon 2002 war García z. B. mit vier Texten vertreten. Pérez-Rasilla urteilt: „Rodrigo García constituye una referencia obligada cuando hablamos del teatro de vanguardia en Madrid" (2002: 37). Zum Theater Garcías allgemein vgl. Hartwig 2001 und 2001a und den Fragebogen bei Ragué-Arias 1997: 15. Vgl. auch Ragué-Arias 1996: 258-260, Cuadros 1997: 37. Zur Ästhetik Carlos Marqueries vgl. die Studie des Textes El rey de los animales es idiota bei Hartwig 2004a. 137 Zu seinen Installationen gehören z. B. Hamlet (Audiovisual Experimental Festival AVE, Arhem/Niederlande, 1993), Dirne poesías-boxea (Teatro Pradillo, Madrid, 1993) oder Gilipollas tú, gilipollas yo (Sala Cuarta Pared, Madrid, 1997). Eine „Biografía Teatral de Rodrigo García" findet sich in Primer Acto 285 (2000): 28.
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neuartige Erfahrungen auslösen.138 Garcia geht indes nicht so weit, reine Klang-, Bild- und Bewegungscollagen zu entwerfen; dafür hängen die Fragmente seiner Inszenierungen noch zu deutlich miteinander zusammen. Sein Theater wandert vielmehr auf der Grenze zwischen Struktur und Chaos und verweist auf Zu-
sammenhänge zwischen den Fragmenten, die nicht mehr oder noch nicht beste-
hen.139 Da es im Folgenden darum gehen wird, innovative Ausprägungen des spanischen Gegenwartstheaters zu beschreiben, sollen Schrift- und Bühnentexte des letzten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts und der ersten Jahre des 21. Jahrhunderts im Zentrum des Interesses stehen.140 Dabei werden ausschließlich diejenigen Autoren berücksichtigt, deren Geburtsdatum um i960 oder später liegt. Neben pragmatischen Gründen hat dies eine sozialhistorische Berechtigung: Die ausgewählten Autoren haben ihre ersten Texte nach der Diktatur geschrieben, veröffentlicht und/oder aufgeführt, also in einem kulturellen Umfeld, das mentalitätsgeschichtlich gesehen alle Einflüsse aufweist, die unter das Schlagwort ,postmoderne Entgrenzungen'141 fallen. Das Theater der 90er gehört damit nicht mehr zu einer ersten Generation der Demokratie, sondern bereits in den Kontext einer hochindustrialisierten, spätkapitalistischen, vernetzten und globalisierten Welt. Die Schriftsteller, die ihre Laufbahn in der Mitte der 80er Jahre oder später beginnen, können als Sprachrohr der Gegenwartsästhetik gelten. Ausdrücklich sei darauf verwiesen, dass die Auswahl der näher analysierten Texte im Hinblick auf die Theorie der Systeminterferenzen erfolgt und nicht aufgrund von Wertungen zwecks Erstellung eines Kanons repräsentativer Theaterstücke (auf welchen Kriterien sollte eine solche Repräsentativität auch fußen?). Denn die Theorie setzt sich zum Ziel, spezifische Muster im spanischen Gegenwartstheater herauszuarbeiten, und nicht, Qualitätsurteile oder Prognosen abzugeben. Das Konzept der Systeminterferenzen ist nicht aus einem Korpus abgeleitet, sondern aus einer allgemeinen Texttheorie, weshalb die Textanalysen Beispiele fiir und nicht Grundlage der Theorie sind, oder um mit Wittgenstein zu sprechen: ,,[E]s wird nur an Beispielen eine Methode gezeigt, und die Reihe dieser Beispiele kann man abbrechen" (2001: §131).
138 Vgl. García: „Desde este punto de vista el tipo de teatro que yo hago tiene una función pedagógica ya que en cada obra, sin pretenderlo, estoy diciendo: no hay una fórmula para hacer obras de teatro. Te la tienes que inventar tú" (Henríquez/Mayorga 2000: 19). 139 Rodrigo spricht davon, er nehme das Format einer Performance auf, „pero mis obras no tienen nada que ver con [la performance] [...] tampoco es plan de ponerse a hacer un teatro donde se representen personajes, ni se cuenten historias [...]" (Caruana 2002: 53). 140 Die genauen Angaben zu den jeweils zitierten Bühnentexten finden sich im Anhang. 141 Unter ,postmodernen Entgrenzungen wird hier die Freisetzung des Individuums nach dem .Ende der großen Erzählungen im Sinne Jean-François Lyotards verstanden.
3
SYSTEMINTERFERENZEN Zunächst sieht man nichts als ein Chaos von Farben; dann beginnt es zu ähneln, es sieht aus wie, aber nein, es sieht aus wie gar nichts. Plötzlich fixiert sich ein Punkt wie der Kern in einer Zelle, dies wächst an, die Farben gruppieren sich rundherum, sammeln sich an; es bilden sich Strahlen, die Zweige austreiben, Ranken, wie Eiskristalle auf Fensterscheiben... und das Bild präsentiert sich dem Betrachter, der beim Akt der Schöpfung des Bildes mitgewirkt hat. (August Strindberg)142
3.1
GRUNDLAGEN
3.1.1
TEXTSYSTEME
Wie entsteht im Rezeptionsprozess eines Schrift- oder Bühnentextes Bedeutung? Die folgenden Ausfuhrungen stützen sich bei dem Versuch einer Beantwortung dieser Frage auf eine konstruktivistische Argumentation. Bedeutungskonstruktion und Verstehen wird entsprechend als aktiver, zielgerichteter Prozess angesehen, 143 dessen Grundoperationen Differenz- und Invariantenbildung anhand von Wahrnehmungsdaten sind (und nicht etwa die Entschlüsselung von bereits im Text vorhandenen Bedeutungen). Für den Konstruktivismus ist jede Wahrnehmung Interpretation, weil dies die Basis-Operation des Gehirns ist, oder wie Görnitz es ausdrückt: Man kann nicht nicht interpretieren (1999: 30). 144 Für die Textanalyse gilt entsprechend: Sie schafft aktiv Bedeutungen. Aus der konstruktivistischen Perspektive ergibt sich die Frage, wie Textdaten145 die Interpretation lenken bzw. wie Textanalysen überhaupt konsensfähig sein können. 146 Immerhin verfugen Rezipienten nicht über die gleichen Hirn-
142 August Strindberg (1998: 35f.) über modernistische Gemälde. 143 Vgl. Schmidt 1992: 322. Zur kognitions- und erkenntnistheoretischen Denkrichtung des Konstruktivismus vgl. Schmidt 2000: 13-69; 333; 1996a. Zum konstruktiven .Weiterschaffen' vgl. auch Dupuy/Varela 2000. Vgl. auch das Kapitel über die Rolle des Lesers, „Wie man Texte durch Lesen produziert", bei Eco (1999: 190-196) sowie das dortige Schaubild „Ebenen der textuellen Mitarbeit" (1999: 207). 144 Vgl. Abel: „Unser In-der-Welt-Sein wird nicht nachträglich auch noch interpretiert, sondern, so die Überlegung, es vollzieht sich intrinsisch als ein vielfältiges Interpretations-Geschehen" (1995: 170f.). Vgl. Schmidt 1992: 300. 145 Schmidts (2000) Vorschlag, facta (,Gemachtes') statt data zu sagen, wird hier nicht übernommen, da der Schrift- oder Bühnentext eine ,Ge-gebenheit' (also datum) ist, ehe er im Interpretationsakt zum factum wird. 146 Auch das Konstrukt eines .idealen Lesers' hilft bei diesem Problem nicht weiter, denn auch dieses Konstrukt muss konsensfähig sein.
SYSTEMINTERFERENZEN
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strukturen und Verarbeitungsmuster, sondern sind füreinander black boxes; Luhmann spricht hier von der „doppelten Kontingenz" des Kommunikationsaktes.147 Die Systemtheorie bietet als Lösung dieses Dilemmas das Konzept des .konsensuellen Bereiches' an, welches besagt, dass sich ein System von der Umwelt so lange .irritieren' lässt, bis beide ihr Verhalten aufeinander abgestimmt haben und (im Idealfall) ein gemeinsames Weiteroperieren mit minimaler Irritation möglich ist. Übertragen auf die Kommunikation heißt das: Kommunikationen werden über Verhaltensabstimmungen reguliert, die anhand von funktionierenden Anschlusskommunikationen beobachtet werden können. Konsens erscheint dann als ein „kommunikatives Konstrukt zur Stabilisierung von Erwartungssicherheiten in Kommunikationen" (Krause 1999: 138f.).148 Bei einer nur zufälligen Aneinanderreihung von Situationen oder Sequenzen ist diese Anschließbarkeit gefährdet, weil es „keine Möglichkeit gibt, das nächste Ereignis einer gegebenen Art aufgrund des Ereignisses oder der Ereignisse, die vorausgingen, vorauszusagen" (Bateson 1993: 276). Ubertragen auf die Analyse literarischer Texte bedeutet das, dass der Begriff Erwartung zentral wird. Denn bei dem Versuch einer kohärenten Textrezeption spielt immer auch die Frage eine Rolle, wie die weitere Kommunikation ablaufen wird. Die Kognitionspsychologie hat nachgewiesen, dass Menschen ihre Erwartungen dazu verwenden, um Geschichten zu rekonstruieren und zu steuern (vgl. Wessells 1994: 206).149 Erwartungsstrukturen haben dabei die Funktion, „zugleich Möglichkeiten einzuschränken und gewisse Möglichkeiten zu öffnen und für Anschlußoperationen verfugbar zu machen" (Krieger 1996: 71). Erwartungen entstehen dabei aus der Selektion von Anschlusskommunikationen. Werden sie rekursiv aufeinander bezogen, dann entstehen Erwartungserwartungen, die zur Selektionsverstärkung innerhalb der Kommunikation fuhren: „A erwartet, daß B
147 Vgl. Luhmann 1998: 19 und Krause 1999: 14-16; 98f. Den folgenden Ausfuhrungen liegt Luhmanns Kommunikationsbegriff zugrunde, dem zufolge Kommunikation die Selektion aus Information, Mitteilung und Verstehen ist (vgl. z. B. Luhmann 1995: 898), was impliziert, dass ein Text keine Kommunikation ist, sondern erst in der Rezeption (Beobachtung) zu einer solchen wird. Eine Mitteilung seligiert aus unterschiedlichen Verhaltensmöglichkeiten (denn der Akt der Mitteilung könnte anders ausfallen oder auch unterlassen werden); Egos Mitteilung wird dann für Alter zu einem Zeichen fur eine Information (die vor dem Horizont anderer Möglichkeiten gesehen wird). Beim Verstehen benutzt Alter schließlich die Differenz zwischen Information und Mitteilung, und Verstehen wird zur Grundlage fur eine Anschlusskommunikation (vgl. Schwanitz 1993: 290f., Gripp-Hagelstange 1997: 67, Kießling 1998: 327). Zum Wechselspiel zwischen Information, Mitteilung und Verstehen vgl. auch Baecker 1992: 259-264. 148 „Die doppelte Kontingenz überwindet Kontingenz, weil sie einen Problemlösungsprozess in Gang setzt" (Berghaus 2003: 99). 149 White (1987) geht so weit zu sagen, dass jede Erzählung schon vor ihrer Aktualisierung in Sprache oder Schrift eine Bedeutung der Form besitzt, die eine Vorentscheidung über die mögliche Deutung ist.
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CHAOS U N D SYSTEM: STUDIEN ZUM SPANISCHEN GEGENWARTSTHEATER
erwartet, daß A erwartet und so weiter (Reflexivität in der Sozialdimension)" (Schmidt 2000: 24). Besonders sinnfällig wird dieses Vorgehen bei Texten mit deutlichen intertextuellen Verweisen, die klare Erwartungshaltungen bezüglich Inhalt oder Ereignisverlauf des neuen Textes vorgeben. Ein Schrift- oder Bühnentext wird grundsätzlich kognitiv und emotional genauso verarbeitet wie Alltagskommunikationen (wie auch sonst?), d. h. der Rezipient bedient sich zur Konstruktion von Bedeutung der gleichen Strategien, die er auch in nicht-literarischen Kommunikationsakten nutzt. Er konstruiert kohärente Textstrukturen, indem er auf Wissen und Muster zurückgreift, die er im sozialen Umgang (Wittgenstein würde sagen: in Sprachspielen) mit anderen Menschen erworben hat. Unterstelltes Wissen bildet (über Erwartungen) die Grundlage funktionierender Kommunikation. Die Besonderheit der Verarbeitung eines literarischen Textes besteht nun darin, dass der Rezipient auch Muster und Schemata benutzt, die er vormals im Umgang mit Literatur erworben hat. Außerdem weiß er, dass der literarische Text .schon beobachtete Welt' ist,150 denn der Autor hat Umweltkomplexität bereits mittels eigener Unterscheidungen reduziert.151 Interpretation bedeutet demnach, die Selektionen eines Autors zu analysieren und (analog der Alltagskommunikation) in eine Ordnung zu bringen - eben das Beobachten (des Autors) wieder zu beobachten. Texte haben demzufolge keine Bedeutung,152 sondern regen potentielle Bedeutungen an unter der Prämisse, einen möglichen konsensuellen Bereich zu konstruieren. Textverarbeitung ist ein „sequentieller, zyklischer, hierarchischer und strategischer semantischer Organisationsprozeß, der auf eine kohärente Organisation von semantischen und kognitiven Daten abzielt" (Schmidt 1992: 325). Der schöpferische Rezipient bildet Invarianzen, fiillt Schemata auf, wendet Regeln an, kurz: er konstruiert Bedeutung.153 Die Ordnungsarbeit des menschlichen Geistes arrangiert die Daten bei der Textverarbeitung so lange, bis sie für ihn eine stimmige
150 Vgl. Lotmans (1993) Konzept .sekundärer modellbildender Systeme', also semiotischer Systeme, die sich einer primären Ebene bedienen, mit der sie nicht identisch sind. Zu sekundären modellbildenden Systemen bei Lotman vgl. Bode 1988: 44-50. 151 Daher gilt: Literarisch ist, was literarisch rezipiert wird, oder wie Bode es ausdrückt: „Die ästhetische Fokalisierung eines Textes (oder beliebigen X) durch den Rezipienten ist der praktische Vollzug der ästhetischen Zuschreibung" (1988: 362). Vgl. Müske: „Literarischkünstlerische (poetische) Texte unterscheiden sich von nichtliterarischen lediglich dadurch, daß deren Äußerungsbedeutungen innerhalb poetischer Kommunikationssituationen [...] generiert werden" (1991a: 45). 152 Der Informationsgehalt ist keine Eigenschaft der Nachricht, sondern ein Konstrukt des Empfängers. Vgl. von Foersters vehemente Zurückweisung der Behauptung, Information könne in Büchern gespeichert werden (1996: 270f.), und seinen kategorischen Satz: „Die Umwelt enthält keine Information. Die Umwelt ist wie sie ist" (1985: 93). 153 Vgl. von Glasersfeld 1987: 134. Peschl nennt das kognitive System den Konstrukteur aller künstlichen Regelmäßigkeiten in der Umwelt (1994: 302).
SYSTEMINTERFERENZEN
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Einheit ergeben. A u f diesem M e c h a n i s m u s beruht z. B . der in der Psychoanalyse verwendete Rorschach-Test, bei d e m ein Betrachter unstrukturierte Tintenkleckse b e n e n n e n soll, i n d e m er sie geistig strukturiert u n d E l e m e n t e zu M u s t e r n z u s a m mensetzt. 1 5 4 N i c h t z u s a m m e n p a s s e n d e s wird dabei gegebenenfalls a u f einer k o m plexeren E b e n e integriert (vgl. d a z u M ü s k e 1 9 9 1 : 10). Notfalls werden R e g e l m ä ß i g k e i t e n s o g a r in j e d w e d e s C h a o s h i n e i n i n t e r p r e t i e r t . A u c h bei j e d e m K o m m u n i k a t i o n s a k t ist der Rezipient a u f K o h ä r e n z bedacht: S c h o n u m überh a u p t m i t Interpretation beginnen zu k ö n n e n , m u s s er diese voraussetzen. D a s bedeutet nicht, dass er stets alle Ungereimtheiten beseitigt, d e n n K o m m u n i k a t i o n m u s s nur h i n r e i c h e n d ' s t i m m i g sein: „Wir .verstehen, w e n n wir eine ungestörte, d. h. widerspruchslose Interpretation g e f u n d e n h a b e n " (von Glasersfeld 1 9 8 7 : 195). 1 5 5 E i n e g r u n d l e g e n d e o r d n u n g s b i l d e n d e kognitive Aktivität ist in diesem Sinne, Kohärenzlücken aktiv zu schließen. D i e s gilt allgemein für j e d e W a h r n e h m u n g . U n a b l ä s s i g werden D a t e n zu Gestalten ergänzt. 1 5 6 D i e s e K o m p l e t t i e r u n g dient der K o m p l e x i t ä t s r e d u k t i o n u n d der Arbeitsersparnis. 1 5 7 D e n n g ä b e es keine Gestalten, a u f die rasch zurückgegriffen werden kann, m ü s s t e jeder W a h r n e h m u n g s a k t immer wieder n e u D a t e n z u s a m m e n s e t z e n u n d A n s c h l u s s k o m m u n i k a t i o n b e n ö t i g t e extrem viel Zeit.
154 Vgl. Jäger 1988: 64f. Selbst wo die Regelsuche eigentlich erfolglos bleiben müsste, werden Ordnungsstrukturen .erkannt'; vgl. etwa Versuche mit zufalligen Lichtblitzen oder Experimente über Kausalitätswahrnehmung (Kriz 1999: 135). Zu Zufallsbildern vgl. Graevenitz/Rieger/Thürlemann 2001. „Das Prinzip ist immer dasselbe: Ein .Objekt', Produkt des Zufalls und ohne eine bestimmte äußere Form, dient aufgrund der Vieldeutigkeit seiner Stimuli als Projektionsfläche für einen Identifikationsprozeß" (Junod 2001: 135). Auch die Gestaltpsychologie sieht menschliche Wahrnehmung als Vorgang der aktiven Organisation von Objekten oder Elementen in einem kohärenten Gesamtmuster an (vgl. Wessells 1994: 343, Vedfelt 1999: 224-255). Zum menschlichen Streben nach einem kohärenten Sinnzusammenhang vgl. auch Volkmann 1998, zur Sinnkonstanz Harth 1982: 257, Scherer 1984b: 161164. Vgl. aus der Psychologie auch Kriz 1999: 149. Zur Kohärenz aus textlinguistischer Sicht vgl. Fritz 1982, der als Mechanismen der Kohärenzerzeugung u. a. Kausal- oder Temporalanknüpfung, Motiv-Anknüpfung, explanative Sinnbeziehung, Spezifizierung und Generalisierung nennt. Zu dem aus der Textlinguistik stammenden Konzept der Kohärenz vgl. auch Krah 1998. 155 Zum Komplex der Textverarbeitung als „tendenziell unabgeschlossene Interaktion zwischen konzeptuellen Strukturen (Wissensbereichen)" vgl. das Schaubild bei Müske 1989: 84. 156 Wahrnehmung wird von biozerebralen Komplexen und sozial erlernten Gestaltbildungsprozessen geleitet; vgl. den so genannten .blinden Fleck' im Auge dort, wo der selbst nicht lichtempfindliche Sehnervenstrang in die Netzhaut eintritt, der kein ,Loch' beim Sehen zur Folge hat; vielmehr produziert das Gehirn aktiv ein in sich stimmiges und vollständiges Bild der Umwelt (vgl. Hülshoff 1999: 27 und Peschl 1994: 196). Vgl. auch Kebeck 1994. 157 Zur „wirtschaftliche[n] Bedeutung" von Assoziationen für einen Organismus vgl. von Foerster 1996: 306. Vgl. auch Simon 1999: 43f. Stadler/Kruse weisen darauf hin, dass Wahrnehmung mehr auf Erwartung als auf sensoriellem input beruhe (1995a: 15).
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Die Komplettierungsdynamiken greifen auch in literarischen Texten.158 Ausgehend von Wörtern und Sätzen schließt der Rezipient mittels vielfältiger Inferenzen auf fehlende Informationen. Dabei gehen Gelesenes und nur Erschlossenes ununterscheidbar in die Gedächtnisrepräsentation ein: „Nach kurzer Zeit sind uns oftmals die konkreten Formen der sprachlichen Mitteilung nicht mehr erinnerlich. Es ist nur noch der Inhalt der Mitteilung verfügbar" (Hoffmann 1986: 13).159 Worte und Phrasen fungieren dabei „als Auslöser für bestimmte mentale Such- und Konstruktionsprozesse beim Aufbau eines mentalen Modells" (Schnotz 1988: 326). Während des Rezeptionsprozesses wird ein Textkontinuum um „mögliche Aussagekerne des Textes" organisiert (Müske 1992: 166), die dann wie Filter auf die weitere Rezeption wirken. Sind einmal Kontexte strukturiert, sind nicht mehr alle Kommunikationen gleich wahrscheinlich, und eingehende Daten werden zunächst auf kontextkompatible Elemente hin geprüft, wobei inkompatible Elemente möglichst ausgeblendet werden.160 Der Aufbau von Wahrscheinlichkeiten und Redundanzen regelt den Rezeptionsprozess über ein negatives Feedback. Verstehen ist insofern der laufende Aufbau und Abbau von Redundanzen als Bedingung für rekursive Operationen, das Wegarbeiten von Beliebigkeiten, die Verringerung von Informationslasten und das Einschränken von Anschlußmöglichkeiten - und all das vor dem Hintergrund des Zugeständnisses von Selbstreferenz, also in dem Wissen, daß alles auch anders möglich wäre. (Luhmann 1998: 25) 158 Wahrnehmungsgestalten sind dabei auf mentale Phänomene übertragbar. Kindt parallelisiert z. B. die Sprachverarbeitung und die visuelle Gestaltbildung (2002: 4lf.). Vgl. auch Fluderniks (1996) Begriff der „Narrativisierung", welcher den Vorgang des In-Einklang-Bringens eines Textes mit der realen Welt beschreibt; vgl. dazu auch Zerweck 2002: 226-230. Zu Grundlagen der klassischen Gestalttheorie vgl. Koffka 1928, Wertheimer 1925 und Köhler 1929. Zur Gestalttheorie allgemein vgl. Stadler/Kruse 1986; 1990: 135. Zur Musterbildung bei Wahrnehmungen vgl. Wessells 1994: 67-73, Goldstein 1997: 172. Gestaltgesetze gibt es auch bei der Wiedergabe von Geschichten (vgl. Stadler/Kruse/Carmesin 1996: 326f.). 159 Vgl. van Dijks' (1980) „Makropropositionen". Van Dijk unterscheidet als Synthetisierungsprozesse Auslassung, Generalisierung und Ersatz durch globalere Proposition und geht davon aus, dass bei der Textverarbeitung zunehmend abstraktere Makrostrukturen konstruiert werden. Vgl. Schnotz/Ballstaedt/Mandl 1981: 558, Mandl 1981a: 10, Ballstaedt/Schnotz/Mandl 1981, Kaiser 1982: 239. Zu natrativen Makrostrukturen vgl. Nöth 2000: 407f. und die dortigen Literaturangaben. 160 „Der Begriff Wahrnehmung beschreibt zutreffend einen aktiven Prozeß, der bereits im vorhinein eine Vorstellung, ein Modell dessen verlangt, was als relevant und als wahr zu nehmen ist. Die Wahrnehmung antizipiert die Realität. Bereits im Akt der Beobachtung sind gewisse Modelle oder Vorwegnahmen der Realität beteiligt, die als Filter dessen wirken, was bedeutsam ist und welche Freiheitsgrade vernachlässigt werden können. Das orchesterhafte Gehör ist eine Metapher für die Anpassung der dynamischen Prozesse der Wahrnehmung an die Dynamik der physikalischen Realität" (Euler 1990: 55). Zur Situationsangemessenheit vgl. Kirstein 1989.
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Redundanz baut Erwartungen auf und verstärkt erfolgte Selektionen: „Durch Erwartung werden also an sich kontingente Ereignisse miteinander verknüpft" (Hahn 1998: 519).161 Um Wahrnehmung zu strukturieren, wird Neues zu bereits Bekanntem in Bezug gesetzt: „Das kognitive Subjekt erfährt die Welt in jedem Wahrnehmungsakt so, wie sie dem Gehirn jeweils am wahrscheinlichsten, am zutreffendsten erscheint. In diesem Sinne ist unser Gedächtnis (als die Gesamtheit aller früherer sensomotorischen Erfahrung und der damit verknüpften Bewertungsprozesse) unser wichtigstes Sinnesorgan" (Roth 1985: 239). Textverstehen ist dabei Organisieren von Daten über top down- und bottom «/»-Prozesse,162 d. h. über das Wechselspiel von vorhandenem konzeptuellem Wissen und induktiv gewonnenen Daten. Laut Kognitionspsychologie basieren Kommunikationsakte auf allgemeinen Kenntnissystemen, d. h. sprachlichen oder handlungsmäßigen Rahmungen, Zusammenhängen, Situationen oder auch ,Weltwissen\ Auch Erzählschemata sorgen für eine kohärente Elaboration von Wahrnehmungsdaten und Zusammenhängen „zwischen Handlung und Handlungsresultat, Vorgang und Folge, Ursache und Wirkung, wobei ein Hauptgewicht auf der Klärung kausaler und temporaler Relationen liegt."163 Typische Situationen eines Realitätsbereichs werden in der Kognitionstheorie Schemata oder frames genannt.164 Schemata sind generalisierte Strukturen, die aus Leerstellen oder Rollen bestehen, die hierarchisch strukturiert sind und denen im
161 Vgl. Bolz: „Man kann also Redundanz als eine Art Musterung des Nachrichtenmaterials begreifen. Sie ermöglicht dem Empfänger, zwischen Signal und Rauschen zu unterscheiden. Insofern ist die Bedeutung einer Nachricht eine direkte Funktion ihrer Redundanz" (1994a: 309). Erwartungen sind im Luhmannschen Sinn „Erlebens- und Handlungszumutungen zwischen Sinnsystemen oder kondensierte [...] und konfirmierte [...] Erfahrungen, auf die Sinnsysteme sich einlassen können. [...] Die wechselseitige Unterstellung von E[rwartungen] begründet E[rwartun]gs-E[rwartungen] oder E[rwartun]gs-Reflexivität (Ego/Alter). Die relativ enttäuschungsfeste Erwartbarkeit von E[rwartun]gs-E[rwartungen] ist E[rwartun]gsStabilisierung und beruht auf E[rwartun]gs-Institutionalisierung [...]" (Krause 1999: 104). Zur Konstitution komplexer Handlungsmuster und damit verbundenen Normalitätserwartungen vgl. Nothdurft 1986: 92. Zu Verhaltenserwartungen vgl. Krallmann/SoefFner 1973. Zu Kontiguitätsebenen vgl. Müller 1984: 136. 162 Vgl. das Kapitel „Wahrnehmen als auf- und absteigender Prozeß" bei Zimmer 1983: 122-130. Zur datengesteuerten und konzeptuell gesteuerten Verarbeitung vgl. auch Wessells 1994: 70f. Ulich/Mayring sehen selbst die Gefuhlsentstehung als ein Wechselspiel von aktuellen und dispositionellen Faktoren an (1992: 76). 163 Schmidt (1991: 38) im Zusammenhang mit Erinnern und Erzählen. Vgl. Hempfers Verweis darauf, „daß rudimentäre genetische Strukturen genauso interiorisiert sind wie die logischen und daß ihre allmähliche Konstruktion in gleicher Weise eine psychogenetische Konstante darstellt" (1973: 127). 164 Vgl. zu Schemata und frames Herrmann 1960, Mandl 1981; 1981a: 6, Kaiser 1982, Müller 1984, Eco 1987: 10; 98-105, Mandl/Friedrich/Hron 1988, Mandl/Spada 1988, Schmidt
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Laufe der Textverarbeitung feste Werte zugewiesen werden. Sie steuern die Wahrnehmung über Hypothesen und Erwartungen. Auch im Bereich der Emotionen gibt es typische Konfigurationen von Ereigniswahrnehmungen, also „emotionale Schemata".165 Frames sind standardisierte Szenen und Situationen der Alltagswelt in Form eines mentalen Konzepts, eines .Rasters', das durch Kernbegriffe und Schlüsselsymbole aktiviert wird. Sie enthalten slots (Minsky) oder blanks (Fillmore), die automatisch gefüllt werden, wobei bestimmte Ereignisse als zentral und erwartbar, andere als eher peripher vorbewertet sind.166 Ein ,desambiguierter Frame' informiert z. B. über den Ausgangspunkt eines Geschehens, den Beweggrund, Teilnehmer, Ort, Zeit, Modus der Handlungsdurchfiihrung, Ähnlichkeit mit Vergangenem, Umstände, Phasen des Geschehens und Glaubwürdigkeit.167 Zu frames zählt auch das Wissen über Literaturspezifika wie Figurenkonstellationen, Textsegmentierungen, literarische Bilder, Motive, Sujets u. ä. (vgl. Müske 1992: 162). Sind bestimmte bereits existierende Texte die Voraussetzung für das Verständnis eines aktuell zu interpretierenden Textes (wie dies der Fall ist etwa bei Parodie, Pastiche,,Klassikerzertrümmerung'168 oder auch allgemein beim Vorliegen auffälliger Intertextualität), dann funktionieren die früheren Texte auch wie Schemata oder frames, die im Rezipienten aufgerufen werden und kohärenzstiftende Funktionen innerhalb des neuen Textes übernehmen.169 Ob und wie sie
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1988, Schnotz 1988, Weinert/Waldmann 1988, Wilkening 1988, Müske 1991a; 1991b; 1992, Röcke 1992, Wessells 1994: 326-333, Riehl 1998,Titscher/Wodak/Meyer/Vetter 1998, Thagard 1999. Vgl. auch andere Bezeichnungen für mentale Modelle wie Szenarium, Geschehenstyp, Scene, Script, Sonographie, Situationsmodell und Rahmen (Müske 1992: 119). Zur Theorie semantischer Netze vgl. Hoffmann 1986: 45, Wender 1988. Scripts organisieren das Wissen anhand von typischen Abfolgen von Routineereignissen, welche mental als komplexe Struktur repräsentiert werden (vgl. Nothdurft 1986). Vgl. Ulich/Mayring 1992: 84; zu den emotionalen Leerstellen-Systemen und deren wahrscheinlicher Belegung vgl. 1992: 90-95. Vgl. auch Bock 1984: 896. Vgl. Müske 1992: 120. Zur Definition von frames vgl. Müske 1989: 83; 1992: 131, Müller 1984: 41, Schu 1989: 227. Zu so genannten Schlüsselsachverhalten vgl. Müske 1991a: 46. Filterfunktionen von Schemata und frames sind etwa mit der Funktion von Valenzen bei Verben vergleichbar. Zur Valenz im Zusammenhang mit der Bedeutungskonstituierung vgl. Kern 2002. Vgl. Müske 1992: 161. Vgl. auch den „Leerstellenkatalog eines allgemeinen FRAME-Konzepts" (1992: 134). Mit .Klassikerzertrümmerung' ist die Inszenierung eines schon unzählige Male vorher aufgeführten Textes gemeint, die gängigen Erwartungen an die Inszenierung eben dieses Textes grob widerspricht. Eine solche .widersinnige' Inszenierung wird in Hartwig 2001b anhand eines Textes des italienischen Autors De Filippo durch den Regisseur Roberto Ciulli besprochen. .Klassikerzertrümmerungen' setzen Vorwissen über den Text und auch vorherige Inszenierungen voraus: Eine Inszenierung beobachtet eine Inszenierung. Der Zuschauer weiß bereits, was inhaltlich passiert und hat gewisse Erwartungen an die Darbietungsweise; mit diesem Vorwissen kann der Regisseur arbeiten. Zu verschiedenen Formen des Text-Text-Kontaktes vgl. Lachmann 1984: 133, welche Subtext, Hypotext, Hypertext, Anatext, Paratext, Intertext, Transtext, Text im Text, Genotext, Phänotext, Metatext und Autotext unterscheidet.
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kohärenzbildend wirken, richtet sich danach, ob sie stimmig in den neuen Kontext eingefügt werden können oder nicht. Schemata und frames sind flexibel, denn ihre jeweiligen Elemente sind nur grob festgelegt.170 Nicht alle Informationen müssen relevant werden: Der frame gibt nur Leitlinien vor, d. h. eine unscharfe Menge von flexiblen Elementen, die aktualisiert werden können, wobei frame-\nnovz.non und -durchbrechung immer möglich sind (Müske 1991: 8f.).171 Zudem sind individuelle von kulturell verbindlichen frames zu unterscheiden; erstere sind personenbezogene Konnotationen und Assoziationen. 172 Schemata und frames steuern die selektive Informationsverarbeitung. So enthält beispielsweise oft schon der Titel eines Textes ein Schema mit aufmerksamkeitssteuernder Funktion. 173 Als feed forward entsteht damit vorab ein Integrationspunkt des Textes. Ausgefüllt werden die Leerstellen durch Elaborationen (schemageleitete Hinzuftigungen), Präsuppositionen und Inferenzen (Schlussfolgerungen). 174 Was nicht in ein Schema oder einen frame passt, wird auf immer komplexeren Ebenen integriert, bis es stimmig wird, was zyklische Verarbeitungsprozesse impliziert.175 Solange die Annahmen tragfähig sind, werden sie nicht geändert: „Für uns bleibt eine Interpretation so lange viabel, bis wir auf etwas stoßen, was sie erschüttert" (von Glasersfeld 1987: 195). 170 Frames enthalten „Informationen von unterschiedlichem Abstraktionsgrad, unterschiedlicher Komplexität und unterschiedlicher Repräsentationsart" und sind prozedural-dynamisch (Müller 1984: 44). 171 Müske unterscheidet noch einmal zwischen Schemata, die der Text selbst aufbaut (,textinitiiert'), und Schemata, die er nur voraussetzt (Weltwissen; vgl. 1989: 84-86). 172 Vgl. die je individuell erworbenen Organisationsprinzipien, mit denen Ereignisse strukturiert werden, die in der Psychologie als Narrative bezeichnet werden (Osten 1995: 118; vgl. auch Schlippe/Schweitzer 1999: 41). Zu individuenbezogenen Dispositionsfaktoren im Verstehensprozess vgl. Schmidt 1992: 296, Wessells 1994: 293. Weitere rezeptionslenkende Faktoren sind u. a. gesellschaftliche ,Rahmen' (vgl. GofFman 1998; vgl. auch Soeffiier 1986: 76), Diskurse (vgl. Schmidt 2000: 20), Gattungen, Intertextualität, Sprachspiele (vgl. Linke/Nussbaumer 1988, Sottong/Müller 1998: 83), Konnotationen (vgl. Stierle 1984: 144, Barthes 1970: 13-16; 1982, Eco 1994: 108-111; Sottong/Müller 1998: 54), Prototypen (Wessells 1994: 85). Zu Denotation und Konnotation vgl. Eco 1977: 99-102; 181f. Zu Inferenzen durch intertextuelle Szenographien vgl. Eco 1999: 216-218; zu Inferenzen allgemein vgl. Kindt 2002: 53. 173 Vgl. dazu Mandl/Friedrich/Hron 1988: 132, Pérez Bowie 1992. Zur „Magnetwirkung" einer Überschrift vgl. Bock 1981. Zur zielorientierten Verarbeitung von Texten vgl. Schnotz/ Ballstaedt/Mandl 1981: 560-562. 174 Zur Inferenz vgl. Mandl 1981a: 8, Schnotz/Ballstaedt/Mandl 1981: 557, Schnotz 1988: 305; zur Präsupposition Eco 1987: 28-30; 1999a: 360-397, Totzeva 1995: 205-208. 175 Das Konsistenzpostulat sieht vor, „daß jede neue Lösung kompatibel ist mit dem akzeptierten Regelwerk des Systems beziehungsweise daß alle Abweichungen unter besonderem Begriindungszwang und Erfolgsdruck stehen. Das Kohärenzpostulat verlangt, daß alle noch nicht gelösten Probleme, für die eine Zuständigkeit besteht oder reklamiert wird, als zugehörig, als ein neuer Teil des Ganzen erklärt werden" (Küppers/Krohn 1992: 177). Bei optischen Täuschungen bleibt so z. B. auch die visuelle Wahrnehmung so lange ,in Bewegung', bis eine
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Das Gesagte gilt für Schrift- und Bühnentext gleichermaßen, auch wenn der Bühnentext nicht nur sprachliche Kommunikationen als Elemente aufweist. Auf der Bühne verschmelzen verschiedene Einzelwahrnehmungen miteinander, wobei das Ganze mehr als die Summe seiner Teile ist: Der Zuschauer sieht die über verschiedene Wahrnehmungskanäle eingehenden Daten nicht als einzelne, sondern erhält einen komplexen Gesamteindruck. Dabei enthält der sprachliche Anteil nicht etwa die ,Grundbotschaft', zu der die übrigen Wahrnehmungen nur ergänzend hinzukommen, denn verbale und nonverbale Elemente werden in der Auffuhrung nicht bloß addiert oder ,gemittelt'; vielmehr gehen sie eine neuartige Verbindung miteinander ein,176 so dass Bühnensituationen ganzheitlich analysiert werden müssen.177 Ob der Sprechtext in den Vordergrund tritt und die visuellen Elemente auf diesen bezogen werden oder ob umgekehrt die visuellen Elemente eine Interpretation festlegen, auf die dann der Sprechtext nur illustrierend bezogen wird, kann nicht im Vorhinein entschieden werden: Alle Elemente stehen in einem komplexen Selbstorganisationsprozess, in dem sie abwechselnd Vorderund Hintergrund der Bedeutungskonstruktion sein können.178 Dabei werden Gestaltgesetze wirksam;179 auch die Möglichkeit, Wahrnehmungselementen eine
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kohärente Lösung gefunden ist (vgl. Peschl 1994: 201 f.). Schemata und frames werden nach verschiedenen Gesichtspunkten ausgewählt, von denen besonders die Kohärenz und der Prozessaufwand wichtig sind. Vgl. Strasen 2002: 208 und Jahn 1997: 457. Bei der Zuordnung von Kommunikationen im Hinblick auf die Konstruktion eines Textsystems orientiert sich der Rezipient auch an den Griceschen (1991) Kooperationsprinzipien Wahrhaftigkeit, Relevanz, Klarheit und Knappheit. Jackendorf 1983 spricht allgemein bei der Bedeutungsanalyse von Präferenzregeln, die bevorzugte und wahrscheinliche Interpretationen bedingen. Vgl. Scherers Beispiel: „So wird Achselzucken mit fragendem Gesichtsausdruck als Unverständnis dekodiert, während es in Verbindung mit einem anderen Gesichtsausdruck als Gleichgültigkeit interpretiert werden kann" (1984a: 31). Muster sind übersummativ, d. h. sie emergieren spontan als Ganzes aus einem Wahrnehmungsangebot: „Es überlebt jeweils immer nur ein bestimmtes Muster, das momentan bewußt ist, der Rest wird als kontinuierlicher, diffuser Hintergrund interpretiert" (Euler 1990: 54). Vgl. zur konfigurativen Organisation bildlicher Zeichen auch Boeckmann 1994: 148. Peschl spricht von einem n-dimensionalen Raum (Hyperraum) der alltäglichen Wahrnehmung (1994: 95), wobei n die Zahl der Basiselemente darstellt, die bei einer Wahrnehmung kombiniert werden. Vgl. Scherer: „Ob man nun Sprache als komplementäre Größe zum informatorischen Gehalt situationeller Gegebenheiten auffaßt, oder aber ob man die Situation als Reservoir zur Auffüllung im Sprachlichen vorhandener Informationslücken ansieht, in einer ganzheitlichen Betrachtung fallen derartige Unterscheidungen nicht ins Gewicht" (1984b: 29). Die Gestaltbildung folgt den Gesetzen der Prägnanz, der Einfachheit, der Nähe, der Ähnlichkeit, der gestaltgerechten Linienfortsetzung oder der Vertrautheit (vgl. Goldstein 1997: 170-174). „By gestalt organization the most simple and regular interpretations are selected and other non-salient interpretations are supressed. Furthermore, we have argued that every pattern, in a way, is multistable, but in everyday life probability constitutes certain criteria for the selection of an aspect of the pattern that is assumed to best fit reality" (Stadler/Kruse 1995a: 10).
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globale B e d e u t u n g zuzusprechen, erhöht die Wahrscheinlichkeit, sie in ein G e samt integrieren zu können (Bedeutungshaltigkeit von Figuren; vgl. Stadler/Kruse 1986: 91). Stets werden die Gestalten w a h r g e n o m m e n , die in der jeweils konkreten Situation a m wahrscheinlichsten erscheinen, was bedeutet, dass Wahrnehm u n g kognitiv interpretiert wird auf der Basis von Vorwissen u n d Erwartungen (aus diesem G r u n d gibt es die so genannten optischen T ä u s c h u n g e n ) : Wahrnehm u n g durch Wissen! 1 8 0 D i e Eigenschaften von Gestalten sind dabei nur i m Z u s a m m e n h a n g erkennbar und nicht an einzelnen Elementen festzumachen: Gestaltqualitäten bilden nicht nur völlig neue Eigenschaften gegenüber der ihnen zugrunde liegenden Summe der Elementarereignisse (Ubersummativität), sondern sie bleiben auch unter Beibehaltung ihrer Strukturrelationen beim Austausch aller Elementarereignisse vollständig erhalten (Transponierbarkeit). (Stadler/Kruse 1992: 141) D i e Ganzheitlichkeit der W a h r n e h m u n g macht Trennungen von Sinneseindrücken schwierig, weshalb das Auffinden kleinster feststehender Einheiten bei Aufftihrungsanalysen grundsätzlich problematisch ist. 181 W e n n also von .Elementen des Bühnentextes' die Rede ist, sind diese nur aus heuristischen G r ü n d e n oder bei auffälligen D o m i n a n t e n trennbar. Wenn nämlich eine K o m p o n e n t e einer Konfiguration ungewöhnlich betont wird, kann sie in der Bedeutungskonstruktion eine Leitfunktion übernehmen u n d die G e s a m t w a h r n e h m u n g lenken. A u c h gibt es bestimmte natürliche oder kulturelle Erwartungen an S t i m m e , Gestik, M i m i k , R a u m , M u s i k oder das Zusammenspiel von Merkmalen, deren Nicht-
180 Vgl. Villegas' (2000: 168) Konzept der inter-visualidades. Auch Pavis schreibt: „[L'intertexte] n'est pas seulement linguistique ou littéraire, il est aussi visuel, gestuel, médiatique ou culturel" (2002: 9). Goldstein erläutert: „Daß wir manchmal Scheinkontliren wahrnehmen, ist ein Beleg dafür, daß unsere Wahrnehmung der Teile eines Reizmusters von seiner gesamten Konfiguration abhängt" (1997: 169). Die Objektwahrnehmung erfolgt zunächst über ,Rohskizzen' und Elementarmerkmale (vgl. Goldstein 1997: 192f.; 187). In der Gesamtverarbeitung ist von einem zyklischen Wechsel zwischen globalen und spezifischen Wahrnehmungen auszugehen (vgl. Wessells 1994: 67-69). Auch deformierte oder lückenhafte Wahrnehmungen können bis zu einem gewissen Grad ergänzt werden. 181 Vgl. dazu Fischer-Lichte 1990: 239; 1998: 187; 1995a: 20; 76-84, Lehmann 1992a: 1017 und die in den Theaterwissenschaften erarbeiteten Grundeinteilungen in linguistische, paralinguistische, kinesische, mimische, gestische und proxemische Zeichen bei Erika FischerLichte 1998. Zu Notationsproblemen allgemein vgl. Fischer-Lichte 1995a: 112-118; vgl. auch das Sequenzprotokoll bei Fischer-Lichte 1995a: 166-176. Zu Minimaleinheiten nonverbaler Zeichen vgl. auch Lange-Seidl 1975, Lehmann 1992a: 1017, Karabalic 1994: 12f. Vgl. zu Bühnenzeichen Sánchez 1999, Nieva 2000, Villegas 2000: 159-166. Zu kommunikativen Zwecken und Handlungsbedingungen nonverbaler Kommunikation vgl. Scherer/Wallbott 1984, Feldman/Rimé 1991, Papousvek/Jürgens/Papousek 1992, Poyatos 1993, Russell/ Fernández-Dols 1997, Schönherr 1997: 30-58 sowie Untersuchungen der linguistischen Pragmatik. Zur Gestik vgl. auch Egidi et al. 2000.
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erfullung erhöht aufmerksamkeitslenkend ist (etwa die Farbe Blau bei einer Banane).182 Wahrnehmungseinheiten zerfallen, wenn ihr reibungsloses Ineinandergreifen gestört wir4, wenn etwa das, was zu hören ist, nicht mit dem übereinstimmt, was zu sehen ist.183 In diesen Fällen werden die Elemente des Bühnentextes als einzelne sichtbar, während sie ansonsten in einer Gesamtkonfiguration miteinander verschmelzen. Je mehr Elemente der Bühnentext aufweist und je größer die Zahl möglicher Verbindungen zwischen ihnen wird, desto wahrscheinlicher ist, dass aus dem Reizangebot von Rezipienten z. T. völlig verschiedene Gestalten gebildet werden.
3.1.2
T E X T - KONTEXT - SITUATION
Ein Text produziert Bedeutung, indem er Umweltkomplexität reduziert und Eigenkomplexität aufbaut. Der dramatische Text - so der Ausgangspunkt aller folgenden Überlegungen - zeichnet sich dadurch aus, dass er durchgehend eine Sprechsituation impliziert. Darin unterscheiden sich dramatische und narrative bzw. poetische Texte voneinander: Jeder Kommunikationsbeitrag eines dramatischen Textes enthält immer auch Anweisungen für die Konstruktion einer Situation.184 Entsprechend impliziert auch der Bühnentext immer die Präsentation einer konkreten Situation; mag diese auch oftmals nicht begrifflich fassbar sein, so erscheint sie doch als Situation .Aufführung'. Wird also ein Text durch einen Zusatz im Titel (Theater, Stück, Drama, szenische Aktion o. ä.) als zur Gattung Drama gehörig ausgewiesen, müssen alle Elemente auch als Hinweise auf eine (Sprech) Situation genommen werden. In Romanen und Gedichten darf diese unterspezifiziert bleiben. Denn ist in diesen Gattungen die Situation, innerhalb derer die Kommunikationen erfolgen, nicht erkennbar, ist das noch nicht als 182 Die Farbgebung einer Inszenierung kann z. B. nur die Funktion einer Begleitung haben (fakultative Variante). Erst wenn Lichtverhältnisse und Gegenstandsfarben von der Alltagswahrnehmung stark abweichen, gewinnt sie eine eigene Qualität, etwa als Verweis auf die Irrealität des Raumes. Auch kann z. B. in einem gesprochenen Teil des Bühnentextes jeder Aspekt der Stimme oder der Sprechweise - Stimmhöhe, Stimmumfang, Timbre, Stimmqualität, Intonation, Rhythmus, Pause, Sprechtempo - verfremdet werden. Vgl. Ecos Beispiel aus dem Bereich der Musik: „[...] wenn ich fiir jede Note der Melodie die Klangfarbe auffällig verändere, dann höre ich die Melodie nicht mehr, sondern eine Folge von Klangfarben; die Note hört also auf, relevanter Zuge zu sein und wird fakultative Variante, während die Klangfarbe relevant wird" (1994: 239). Zur Dominantenbildung vgl. auch Fischer-Lichte 1990: 239. Die Dominante kann auch der kognitive Aspekt des zugrundeliegenden Schrifttextes sein. 183 Vgl. z. B. das Theater Robert Wilsons: Hier werden visuelle und auditive Zeichen völlig voneinander abgekoppelt, indem über Lautsprecher Texte gesprochen werden, während die Schauspieler unabhängig davon Bewegungen ausführen (vgl. Fischer-Lichte 2001: 216). 184 Das impliziert die grundlegende Kommunikationssituation eines Theaterstückes, die FischerLichte wie folgt beschreibt: „Theater ereignet sich, wenn eine Person (A) etwas bzw. Handlungen (X) vorführt, während eine andere (S) zuschaut" (Fischer-Lichte 1990: 237).
SYSTEM INTERFERENZEN
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bedeutungsvolle Abwesenheit zu werten.185 Ist dies jedoch bei einem zur Gattung Drama gehörigen Schrifttext der Fall, handelt es sich um eine wichtige Information, nämlich die aktive Negation eines konstitutiven Bestandteils des Textes.186 In narrativen Texten ist eine Lösung von der Situationsbindung ohne weiteres möglich, etwa wenn Kommentare und Beschreibungen gegeben werden. Zwar können auch der Gattung Drama zugehörige Texte kommentieren und beschreiben, doch geschieht dies immer innerhalb einer Kommunikationssituation. Dies gilt auch, wenn ein Theatertext nur einen einzigen Sprecher umfasst, der lediglich monologisch erzählt.187 Da dieser Erzähler nämlich als Geschichtenerzähler auftritt, ist,Geschichtenerzählen' die durchgängige Sprechsituation, selbst wenn die Figur Gedanken, Wünsche oder Möglichkeiten bloß referiert und nicht szenisch darstellt. In einem Roman muss hingegen z. B. die Wiedergabe von Gefühlen nicht unbedingt in einer bestimmten Situation erfolgen. Dramentexte unterscheiden sich damit nicht grundsätzlich durch inhaltliche oder formale Kriterien von narrativen und lyrischen Texten - José Ramón Fernández' La tierra (2000) liest sich wie ein Roman, Rodrigo Garcías Carnicero español (1998a) wie ein Gedicht - , sondern durch ihren funktionalen Aspekt: ihren durchgehenden Bezug auf eine Sprechsituation.188 Als Ausgangspunkt der folgenden Theorie ist also festzuhalten, dass ein unverwechselbares Kennzeichen eines Textes der Gattung Drama ist, dass er eine Situation impliziert. Situation wird in unserem Zusammenhang als der engere, Kontext als der weitere Begriff verstanden. Situation meint im Schrift- und Bühnentext die gerade aktuelle Sprechsituation bzw. Konfiguration, während Kontext die weitere, u. U. schon aus vielen Daten zusammengesetzte kommunikativ relevante Gesamtsituation des Textes meint.189 185 Poetische Rede etwa ist an keinen Kontext gebunden, wodurch ihre Mehrdeutigkeit erhalten bleibt (vgl. dazu Wellbery 1996: 373). 186 Denn Unterlassen ist nicht dasselbe wie Nicht-Tun (vgl. Simon 1999: 115): Eine (geforderte) theatrale Sprechsituation nicht anzugeben, ist signifikant, während eine (nicht geforderte) lyrische Sprechsituation nicht zu präzisieren, nicht unbedingt signifikant ist. 187 Vgl. z. B. Calisto von Julio Salvatierra (1998) oder Bienvenidos a Diablo von Rafael González Gosálbez (1996). 188 So schreibt Diago: „Aunque no persiga una traducción inmediata de códigos, todo lector de un texto dramático realiza siempre un trabajo imaginario de puesta en situación" (1995: 80). Dies kann man an einem Gedankenspiel verdeudichen. Stünde vor den ersten Versen des Romance sonámbulo, „Verde que te quiero verde", der N a m e einer Figur (z. B. „Federico García Lorca:")-. Was würde sich am Text ändern? Er würde automatisch eine Kommunikationssituation anzeigen und damit eine Kontextualisierung (die von dem Gedichttext allein überhaupt nicht eingefordert ist), selbst wenn diese im Text mit keiner weiteren Silbe angedeutet wäre; allein der Verweis auf eine Sprechfigur genügte. Ebenso reicht die Kennzeichnung eines Textes mit dem Titel „Theaterstück" aus, um die Vorstellung einer Sprechsituation zu erzeugen. 189 Stierle spricht von einer „Dialektik von Situation und Kontext [...], die in jeder in sich abgehobenen Symbolsituation wirksam ist" (1984a: 302). Eco unterscheidet Ko-Text, Kontext und Umfeld (1987: 17-19).
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CHAOS UND SYSTEM: STUDIEN ZUM SPANISCHEN GEGENWARTSTHEATER
Da jeder Kommunikationsbeitrag immer zahllose Möglichkeiten enthält, reduziert eine Situation bzw. ein Kontext unbestimmte in bestimmte Kontingenz. Jede Erzeugung eines Kontextes macht Kommunikationen anschlussfähig. Denn die Realisierung jeder Möglichkeit schafft Anschlusszwänge und schränkt damit das Möglichkeitsspektrum ein (wohingegen eine nur lose Kopplung von Daten es erweitert). Sprechen orientiert sich also an Situationen und weist zugleich Situationen als bestimmten Handlungsmustern entsprechend aus, und Sprachiwwendung ist nur als situationsgebundenes Handeln beobachtbar, wobei hinzukommt, dass jeder Kommunikationsbeitrag immer auch Aussagen über die Kommunikation macht.190 Hier liegen Möglichkeiten für Paradoxien, da Ebene und Metaebene sich vermischen können. So wie ein Wort erst im Satz Bedeutung gewinnt, so auch ein Text- und Bühnenelement erst innerhalb einer Situation.191 Text und Bühnenelemente sind aber selbst ein Teil der Situation, so dass der prinzipiell paradoxe Fall vorliegt, dass die Kommunikationsbeiträge durch das präzisiert werden, was sie eigentlich erst konstituieren. Fehlen klare Figuren-, Orts- oder Zeitangaben (fehlt also eine klare S'it\x3x\onsvorgabe), müssen alle Komponenten der Situation allein aus den Kommunikationsbeiträgen konstruiert werden. Ihre Beziehungen zueinander lassen dabei Rückschlüsse auf den Redekontext zu - oder werden, wenn sie unspezifisch sind, mit,Weltwissen' abgeglichen.192 In der Alltagskommunikation sind Situation und Kontext normalerweise vorgegeben, so dass sich die Kommunikation darauf beziehen kann. Allerdings muss auch hier oft auf Vermutungen und Wahrscheinlichkeiten über die Angemessenheit von Kommunikationsbeiträgen zurückgegriffen werden, weshalb es immer wieder zu Missverständnissen kommt.193 Mehrdeutigkeit von Kommunikation ist in Alltagssituationen jedoch
190 „Auf einer semantischen Ebene tauschen wir Propositionen, Einstellungen, Vermutungen, Forderungen aus; auf einer anderen Ebene machen wir Mitteilungen über unsere Identität, unseren Gemütszustand, unsere soziale und regionale Zugehörigkeit, aber auch über die Art und Weise, wie eine Äußerung verstanden werden soll" (Huber 1992: 147). 191 Der Umstand verändert den Sinn der Botschaft, deren Funktion und deren Informationsquote (Eco 1994: 137). Scheffer nennt verschiedene Kontexte z. B. für die beiden Wörter „berühren verboten", deren Bedeutung völlig unterschiedlich sein kann, und urteilt: „Vom Text ausgehend sind bestimmte (seltene?) Kontexte überhaupt nicht prognostizierbar, und damit ist auch nicht vorherzusehen, wie ein bestimmter Text dann rezipiert wird; fast alles ist dann möglich [...]" (1999: 213). Zu Kontextgebundenheit von Bedeutung vgl. Ricoeur 1973, Harth 1982: 257, Fischer 1987: 158, von Glasersfeld 1987: 125, Scherer 1989; 1984b, Linke/Nussbaumer 1988: 34, Kirstein 1989, Coseriu 1994: 143, Sottong/Müller 1998: 15. Vgl. die Kontextgebundenheit auch im emotionalen Bereich (Stadler/Kruse 1992: l42f.) und bei der visuellen Wahrnehmung (z. B. die so genannte laterale Inhibition; Peschl 1994: 198-201). 192 Vgl. Scherer 1984b: 27, Ulich/Mayring 1992: 76. 193 Vgl. dazu Soeffner: „Eine Situation wird durch die in ihr Befindlichen nicht eigentlich definiert, sondern gewöhnlich stellen die, die sich ,in einer Situation befinden, interpretierend und zumeist implizit, kaum bewußt, für sich fest, was für sie die Situation ist oder sein sollte,
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deshalb weniger gravierend, weil das Wechselspiel zwischen Kommunikation und Situation meist pragmatisch im Sinne tentativ unterstellter' Kontexte und konsensueller Bereiche gelöst wird.194 Dies zeigt sich deutlich an der .pragmatischsten Textsorte, den Gebrauchstexten (wie Kuchenrezepte oder Fernsehzeitschriften), die nicht als mehrdeutig empfunden werden: Sie sind für einen genau umrissenen Kontext bestimmt, über dessen Komponenten Konsens besteht. Der Rezipient bildet sich von Anfang an durchgehend eine (zunächst hypothetische) ganzheitliche Vorstellung von der Situation und dem Kontext, damit er die Textelemente kohärent aufeinander beziehen kann. Die Situation weist zu Beginn selbstverständlich viele black boxes auf, die u. U. im weiteren Verlauf der Rezeption präzisiert werden müssen. Dabei wird auf Schemata/frames zurückgegriffen, die selbst u. U. im Laufe der Rezeption ganz oder teilweise verändert werden.195 Ökonomische Gesichtspunkte spielen bei der Wahl des Schemas eine große Rolle: Das einfachste Schema ist das wahrscheinlichste.196 Der Beginn eines Textes hat dabei eine Leitfiinktion: Er gibt den Rahmen an, in dem die folgenden Kommunikationen gelesen werden.197 U m Textkohärenz zu konstruieren, muss ein Rezipient auf der Grundlage des Kontextes Vermutungen anstellen über das, was in der weiteren Folge des Textes passieren wird, so dass die Rezeption „ein ständiger Akt der Hypothesenprüfung" ist.198 Eine Selektion/Situation wird damit zur Prämisse für die folgende, deren
und sie verhalten sich - bis auf weiteres - entsprechend" (1986: 75). Zur Wichtigkeit der Kontextinformationen für die Auswahl angemessener Wortbedeutungen aus wahrnehmungspsychologischer Sicht vgl. Wessells 1994: 317. 194 „Der hohe Stellenwert, den das Problem der Mehrdeutigkeit in der sprachwissenschaftlichen Diskussion einnimmt, gründet in erster Linie auf Überlegungen sprachlogischer Natur. In der Wirklichkeit dialogischen Sprechens tritt dieser Aspekt jedoch stark zurück" (Scherer 1984b: 149). Vgl. Hofstadter: „Es besteht eine unendliche hierarchische Stufenfolge von Botschaften, die verhindert, daß irgendeine Botschaft jemals verstanden wird. Wir wissen aber alle, daß diese Paradoxien ungültig sind, denn Regeln werden tatsächlich angewandt, und Botschaften werden tatsächlich verstanden" (1985: 183). Vgl. auch Linke/Nussbaumer 1988: 44. Z u Ambiguitäten in Alltagssituationen vgl. Soeffner 1986: 7 5 , Wessells 1994: 3 l 4 f . 195 Nothdurft unterscheidet Störungen, die eine Abwicklung des Script verhindern, von Störungen, die einen Scriptwechsel hervorrufen (1986: 96). Zur Kohärenzerwartung bei der Rezeption vgl. Schmidt 1989 und 1989a. Vgl. auch Harth 1982: 2 5 7 , Scherer 1989a: 73, Müske 1991: 10. Zur .Sinnkonstanz' vgl. H ö r m a n n 1978: 4 9 9 und Iser 1990: VI. 196 So schreibt Lotman: „Der Leser ist daran interessiert, die notwendige Information mit dem geringsten Aufwand an M ü h e zu erlangen [...]" (1993: 418). Z u ganzheitlichen mentalen Modell-Repräsentationen vgl. Schnotz 1988: 308, Müske 1992: 51. Müller spricht von einer vorläufig stabilen Gesamtinterpretationn (1984: 20). Vgl. auch Lotman 1993: 407. 197 Zur Expositionsszene vgl. auch Lotman, der dem Anfang eines Erzähltextes eine kodierende Funktion zuspricht (1993: 311). 198 Kaiser 1982: 2 3 4 ; vgl. auch Wessells 1994: 324.
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Vieldeutigkeit sie durch Antizipationen einschränkt;199 zugleich wirkt die Folgesituation auf die Einschätzung der vorherigen Situation zurück, da sie deren Informationsgehalt erst herausstellt, so dass bei der Sinnkonstruktion rückgekoppelte Vernetzungen entstehen, die schließlich das Gesamtsystem des Textes lenken. Auf diese Weise bilden sich Systemgrenzen, „die den Schnitt stabilisieren" (Luhmann 1997: 7) und den Filter für neue Textdaten bilden. Damit entsteht allmählich eine sich selbst bestätigende Lesart.200 In diesem Sinne sind Kommunikationshandlungen rekursiv und projektiv, d. h. sie verarbeiten bereits Vorhandenes und antizipieren noch Kommendes.201 Bedeutungskonstruktionen beeinflussen sich in feed forward- und feed backProzessen gegenseitig, was aber gerade nicht zu einem infiniten Aufschub der Bedeutung führt, sondern im Gegenteil zu einem Prozess der Selbstorganisation. Dies bedeutet, dass die Ergebnisse eines Prozesses in diesen Prozess mit einfließen, dass also Rekursivität vorliegt: Selbstorganisierte Systeme sind die Produkte ihrer eigenen Operationen.202 Auf literarische Texte übertragen bedeutet das: Die Situation bestimmt die Bedeutung der Kommunikationselemente, und die Bedeutungen der Kommunikationselemente bestimmen die Situation. Die Einzelsituation erhält erst durch den Kontext ihre Bedeutung, und der Kontext setzt sich aus Situationen zusammen. Die Situations- und Kontextdefinierung ist also wechselseitig und damit dynamisch; sie wird irgendwann ,stillgestellt', wenn eine Bedeutung benannt wird, ist aber von ihrer Anlage her unabschließbar und daher immer modifizierbar. Weder geht der Kontext den einzelnen Kommunikationsbeiträgen noch gehen diese dem Kontext voraus: Beide können nicht unabhängig voneinander bestimmt werden. Der Raum ist nicht ohne die Figur bestimmbar, die nicht ohne die Handlung präzisiert werden kann, welche wiederum auf die Zeit angewiesen ist, die wiederum den Raum einbezieht... Pointiert formuliert: Die Vorstellung ei199 Dabei orientiert sich der Rezipient z. B. an semantischen Oppositionen, die den Text strukturieren. Bei Figurenkonstellationen sind dies z. B. Grobeinteilungen wie stark vs. schwach oder aktiv vs. passiv. Auch über die Konstruktion von Isotopien (im Sinne von Greimas) wird die Polysemie von Wörtern eingeschränkt. Greimas' IsotopiebegrifFhat die semantische Kohäsion des Textes zum Gegenstand; vgl. dazu Wiemann 1998: 246. Laut Greimas können auf der Ausdrucks- und auf der Inhaltsebene Isotopien ausgemacht werden (vgl. Zima 1995: 298). Vgl. auch Ricceur 1973: 119 und Ecos Isotopie-Begriff (1987: 115). 200 Vgl. Prigogine/Stengers: „Damit sich eine bestimmte Familie von Sequenzen bilden kann, müssen die Möglichkeiten eingeschränkt werden, so daß die Wahrscheinlichkeit steigt, daß bestimmte Sequenzen entstehen" (1993: 122). 201 Vgl. dazu Krallmann/Soeffner 1973: 62. Zu Vermutung, Ahnung und Erwartung vgl. Bollnow 1973: 32f., zum Wechselspiel von Thema und Horizont Bode 1988: 129f. Zur Vorwegnahme, Wiederaufnahme und Anreihung als verschiedene Arten der syntagmatischen Relationen auf Textebene vgl. Coseriu 1994: 233. Zu vorgreifenden Prozessen und prospektiven Vorstrukturierungen vgl. auch Müller 1984: 144 und von Glasersfeld 1987: 285. 202 Zur Selbstorganisation bzw. Autopoiesis vgl. Kratky 1990, Fischer 1993a, Küppers 1996a.
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nes Raumes entsteht durch die Vorstellung einer Figur, einer Handlung, eines Zeitpunkts und -ablaufs, und umgekehrt entsteht die Vorstellung einer Figur durch die Vorstellung von Raum, Handlung und Zeit.203 Der Kontext zieht sich also gewissermaßen wie Münchhausen am eigenen Schopf aus dem Nichts. Der Eindruck von Figuren und Raum entsteht damit erst im Laufe der Textrezeption durch das Inbeziehung-Setzen der einzelnen Kommunikationsbeiträge. Selbst wenn am Anfang des Textes detaillierte Angaben gemacht werden (z. B. bezüglich der Figuren), entscheidet erst der weitere Verlauf des Textes darüber, ob diese Angaben mit den Kommunikationsbeiträgen zu einem stimmigen Ganzen verarbeitet werden können. Wird z. B. zu Textbeginn ein konkreter Ort genannt und ruft dieser konkrete frames hervor, wird dann aber in den Kommunikationen diesen frames eklatant widersprochen, dann ändert sich auch der Ort, eben weil sich die gesamte Situation ändert. Denn ein Bühnenbild kann noch so naturalistisch auf ein bürgerliches Interieur des 19. Jahrhunderts verweisen: Benutzen die Figuren betont Ausdrücke des 21. Jahrhunderts, ist der Zeitverweis mehrdeutig, und die Bedeutung des Raumes beginnt, zwischen mehreren Möglichkeiten zu oszillieren. Handlung und Figuren kommen also nicht in einem Raum vor (denn die Vorstellung von einem Raum ergibt sich aus der Kommunikation), sondern konstituieren diesen und werden zugleich von ihm konstituiert. Jedes Element des Textes ist für die jeweils anderen Elemente der Kontext, in dem sie interpretiert werden. Die stillschweigende Annahme, dass eine Situation vorab existiere und dass sie sich in isolierbare Elemente zerlegen ließe, erinnert an die illusionäre Annahme der exakt bekannten Anfangsbedingungen in der Physik und fuhrt zu schiefen Kausalangaben. Die Einheit des Systems ist „Einheit aufgrund der im System selbst produzierten Anschlussfähigkeit der systemeigenen Operationen. Sie ist das, was sich ergibt, wenn das System rekursiv operiert" (Luhmann 1991: 73). Nach Luhmann ist,Verstehen' die Benutzung der Unterscheidung von .Information und .Mitteilung', die Alter an der Kommunikation Egos vornimmt. Anhand von Alters Anschlusskommunikation kann wiederum beobachtet werden, was Alter verstanden hat. In Luhmanns Terminologie gelingt Kommunikation, wenn Alter die Unterscheidung zwischen Information und Mitteilung der Wahl des Anschlussverhaltens zugrunde legt. Die Kohärenz des Textes ergibt sich aus ineinandergreifenden Anschlusskommunikationen, die anzeigen, welcher Aspekt einer (vorangegangenen) Kommunikation für relevant erachtet und innerhalb welcher Situation weiter kommuniziert wird. Anschlusskommunikationen .identifizieren' damit voraus2 0 3 Die Welt des Textes entsteht, während er rezipiert wird. Figuren gibt es z. B. nicht ,vorab', weshalb Darstellungen wie die Mahlers problematisch sind: „Ein Drama ist beschreibbar mit Hilfe der Elemente Figur, Handlung, Raum und Zeit. Die Elemente Raum und Zeit haben vornehmlich situierende Funktion; sie stellen den Rahmen, innerhalb dessen der zu zeigende Inhalt stattfindet [...]" (1992: 73).
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gegangene Kommunikationen. Unbestimmtheit wird durch den Aufbau von Wahrscheinlichkeiten reduziert, Komplexität durch Redundanzen (Betonung von Ähnlichkeiten, Vernachlässigung von Unterschieden) abgebaut, was auch über Rhythmen funktioniert.204 Voraussetzungen für die Ordnungsbildung der Kommunikationsbeiträge sind demnach Selektivität, Anschlussprozesse und die Verstärkung von Selektionen über Redundanzen. Erst Redundanzen und Anschlüsse lassen die kommunikativ relevanten Aspekte von Kommunikationen hervortreten; Störungen derselben erzeugen hingegen Paradoxie- oder Kontingenzeffekte.
3.2
THEORETISCHE VORAUSSETZUNGEN
3.2.1
DEFINITION
Systemtheoretisch gesehen sind Schrift- und Bühnentexte Komplexitätsreduktionen, d. h. die Umformung von unbestimmter in bestimmte Kontingenz: Sie beruhen auf Selektionen und sind damit geordneter als ihre Umwelt.205 In einem elementaren Sinne, also losgelöst von jeder Vorstellung einer bestimmten Struktur, ist jeder Text ein System: [A]ls Sfystem gilt] einheitlich alles das, worauf die Unterscheidung von innen (System) und außen (Umwelt) anwendbar ist. Die Annahme des Bestehens von S[ystem]en beinhaltet die Annahme einer Differenz von Sfystem] und Umwelt [...] Sfystem] ist eine Form, nämlich die Differenz von S[ystem] und Umwelt. (Krause 1999: 189)
Gegenüber Genettes Begriff der histoire, der von récit abzusetzen ist,206 liegt der Begriff System auf einer abstrakteren Ebene: Er umfasst nämlich auch Texte,
204 Vgl. entsprechende Aussagen aus der Wahrnehmungspsychologie (z. B. Wessells 1994: 168). Rhythmen schaffen Wiedererkennungseffekte und strukturelle Einheit. Gumbrecht sieht allgemein im Rhythmus die Gestalt zeitlicher Phänomene. Seine Argumentation lässt sich wie folgt zusammenfassen: Wenn systemtheoretisch die Form die Simultaneität von Selbst- und Fremdreferenz ist (so wie die Umriss-Linie einer geometrischen Figur Teil der Form und Teil der Umwelt ist), dann ist Rhythmus Form unter der Bedingung von Zeitlichkeit, denn er garantiert die Wiederkehr von Sequenzen (vgl. 1995: 717-719). 205 Zur Selektionsleistung als Aufbau einer Ordnung von geringerer Komplexität als die der Umwelt vgl. Luhmann 1989: 5. Nach Luhmann ist jede Darstellung eine Reduktion, denn die Komplexität der Welt kann in der Vorstellung nicht wiederholt werden (vgl. 1989: 27). 206 Laut Genette (1972) hat jede Erzählung zwei Dimensionen: histoire als die Folge der Ereignisse (das Was) und récit als die Erzählung selbst (das Wie der Vermitdung). Vgl. auch Nünning/Nünning 2002a: 6 und die dortigen Literaturangaben.
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denen keine narrative Struktur zugrunde liegt, und hat damit bei der Beschreibung des Gegenwartstheaters eine größere differenzierende Kraft. In der Terminologie Luhmanns zeichnet sich ein System durch das Aneinander-Anschließen seiner Operationen aus.207 Diese werden durch Beobachtungen erzeugt, nämlich indem ein Beobachter Unterscheidungen konstruiert und handhabt und indem Beobachtungen rekursiv miteinander vernetzt werden (Luhmann 1998: 83). Erst durch diese Unterscheidungen entsteht Information. Den Text als System zu beschreiben heißt, das spezifische Zusammenwirken seiner Teile, also seine Organisation, anzugeben.208 Aus dieser Auffassung von Textsystem soll das Konzept der System-Verstörung, die Systeminterferenz, hergeleitet werden, für die folgende Nominaldefinition 209 gilt: Systeminterferenzen (ST) sollen Mehrdeutigkeiten und Widersprüche bei der Relation von Textelementen heißen, die verhindern, dass der Text als ein einheitliches System organisiert werden kann, und zwar aufgrund von Paradoxien (kein System ist möglich) oder von Kontingenz (zu viele Systeme sind möglich). Paradoxien erlauben dem Rezipienten nicht, ,Lücken eines Textes gemäß bekannter Schemata widerspruchsfrei auszufüllen, denn paradox „nennt man Operationen, deren Vollzugsbedingungen zugleich die Bedingungen der Unmöglichkeit ihres Vollzugs sind" (Fuchs 1997a: 54).210 In der zirkulären Bestimmung von Kommunikationsbeitrag und Situation und von Situation und Kontext liegt der Keim der Paradoxie: Ein Kommunikationsbeitrag hat nur eine Bedeutung, wenn die Situation diese stützt, aber wenn sich die Situation selbst aus dem Kommunikationsakt ergibt,211 dann verweisen beide Ebenen rekursiv aufeinander 207 „Wenn Operationen aneinander anschließen, entsteht ein System. Der Anschluß kann nur selektiv erfolgen, denn nicht alles paßt zu jedem. Und er kann nur rekursiv erfolgen, indem die folgende Operation berücksichtigt und dann voraussetzt, was gewesen ist" (Luhmann 1998: 271). 208 Systeme werden laut Luhmann „durch diejenige Operationsweise definiert, mit der das System sich selbst produziert und reproduziert" (1993: 118). Daher existiert ein System nicht an sich, sondern nur im operativen Vollzug seiner Geschlossenheit (vgl. Luhmann 1991: 75). Der hier gebrauchte Begriff Organisation ist mit Lotmans CWi-Begriff vergleichbar, denn Lotman geht davon aus, dass künstlerische Texte die Eigenschaft haben, „sich in Kodes - in modellbildende Systeme - zu verwandeln" (1993: 89), und dann gilt: „Während der Empfänger eine künsderische Mitteilung aufnimmt, aus deren Text der Kode zu ihrer Entzifferung noch gewonnen werden muß, konstruiert er ein bestimmtes Modell" (1993: 46). Zum Systembegriff vgl. auch Meyer 2001: 180f. 209 Bei einer Nominaldefinition liegt das Kriterium für die Gültigkeit in der Zweckmäßigkeit; eine Nominaldefinition setzt sich nicht zum Ziel, irgendein ,Wesen' des Definiens zu erfassen (vgl. Burkart 1995: 121). 210 Zum Paradox vgl. auch den Sammelband Geyer/Hagenbüchle 1992 sowie Kray/Pfeiffer 1991. Zu den verschiedenen Arten der Paradoxie vgl. Watzlawick/Beavin/Jackson 1980: 174. 211 Bei Paradoxien wird ein Systemcode auf sich selbst angewandt, so dass „Paradoxien immer eine .autologische' Behauptung enthalten, eine Behauptung, die von sich selbst spricht" (Esposito 1991: 36).
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(d. h. keine ist durchgängig Ebene oder Metaebene);212 sie bestätigen einander nach Art einer Tautologie oder blockieren sich nach Art eines Paradoxons. Widersprechen sie sich, weiß der Rezipient nicht, an welche der (widersprüchlichen) Bedeutungen er anschließen soll. Denn es gilt gemäß der Logik: ex
contradictione quodlibet (sequitur).
Kontingenz entsteht, wenn Textdaten auf mindestens zwei verschiedene Arten komplettiert werden können, wenn also zwei oder mehr Lesarten möglich sind, zwischen denen keine Analogien bestehen. Kontingent ist in diesem Verständnis alles, „was weder notwendig noch unmöglich ist" (Luhmann 1992: 96).213 In beiden Fällen, Paradoxie und Kontingenz, vermeiden SI Festlegungen von Systemunterscheidungen. Dies entspricht in der Logik den Fällen „sowohl A als auch -i A" und „weder A noch A". SI machen Beziehbarkeiten von Textdaten unentscheidbar, d. h. sie fuhren die Interpretation in eine Aporie. Der Begriff Interferenz wird aufgrund seiner vielfachen Implikationen gewählt. Zunächst suggeriert er nicht etwa wie der Begriff Textlücke, dass dem Text etwas fehlt, sondern akzentuiert den Akzent der Verstörung eines Systems. Auch legt er nicht nahe (wie etwa die Begriffe Leerstelle oder Unbestimmtheitsstelle), dass diese Störung im Text konkret an einem Ort lokalisiert werden könne. Zugleich impliziert er .Überlagerung, Überschneidung',,Hemmung' sowie .Einwirkung eines sprachlichen Systems auf ein anderes' (vgl. Duden Fremdwörterbuch, s. v.). Schließlich verweist er auf eine Unterbrechung, die nicht unbedingt eine zeitlich messbare Diskontinuität sein muss. SI müssen in erster Linie von Ellipsen abgesetzt werden. Die bereits diskutierte Komplettierungsdynamik jedes Rezeptionsaktes zeigt, dass Ellipsen eine ökonomische Notwendigkeit jeder Kommunikation sind, da im Alltagsgespräch unzählige Sachverhalte nicht explizit ausgedrückt werden.214 Das Ausgelassene lässt sich indes meist leicht rekonstruieren. Ellipsen sparen etwas aus, was ergänz-
212 Rekursive Schaltungen sind paradoxieanfällig; vgl. Bateson 1993: 32, Lenk 1991: 117-120. 213 Kontingenz bedeutet, dass alles auch anders möglich ist: „Der Begriff wird also durch Negation von Notwendigkeit und Unmöglichkeit gewonnen" (Luhmann 1992: 96). Zum Phänomen der Kontingenz vgl. den Sammelband Graevenitz/Marquard 1998. 214 Vgl. Müller 1984: 169, Scherer 1984b: 155, Wessells 1994: 326. Barthes spricht von der „ambiguïté toute pure" (1966: 54) der literarischen Situation. Auch Isers Leerstellen leiten sich ja aus der mangelnden Vorgabe einer gemeinsamen Situation und eines gemeinsamen Bezugsrahmens her (1990: 262f.; vgl. 1990: 109). Coseriu nennt zwei Arten der Kontextkonstitution in geschriebener und gesprochener Sprache; erstere müsse erst den Redekontext erschaffen, letztere nicht (1994: 136). Diese Zweiteilung ist angesichts des Bühnentextes (der ja gesprochene Rede ist) indes unhaltbar. Es stimmt ja nicht, dass gesprochene Sprache immer schon um ihren Kontext weiß: Bei Uterarischen Texten kann ein vorab gegebener Kontext sowohl im Schrift- als auch im Bühnentext fehlen.
SYSTE.M I N T E R F E R E N Z E N
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bar ist, so dass ein kohärentes Textsystem gewahrt bleibt. 2 1 5 Ellipsen ähneln in dieser Hinsicht L o t m a n s „bedeutungsvolle[m] Fehlen" v o n Textelementen, d e m , M i nus-Prijöm', bei d e m eine Nullposition den W e r t eines bedeutungshaltigen Elementes erhält ( 1 9 9 3 : 82f.). 2 ' 6 Ellipsen erinnern auch an Ingardens ( 1 9 7 9 ) Unbestimmtheitsstellen u n d Isers ( 1 9 9 0 ) Leerstellen,217 die v o r allem der A u f m e r k s a m k e i t s s t e i g e r u n g u n d - l e n k u n g i m Rezeptionsprozess d i e n e n . D i e R e k o n s t r u k t i o n des Fehlenden setzt bei Ellipsen allenfalls praktische, nicht j e d o c h grundsätzliche Grenzen. SI unterscheiden sich hingegen insgesamt v o n d e n aus der R h e t o r i k bekannten figurae per detractionem dadurch, dass sie generell die K o n s t r u k t i o n eines Textsystems in Frage stellen. 218 SI decken sich daher auch nicht m i t Schweigen, welches z u m einen als NichtAktualisierung einer Möglichkeit, 2 1 9 z u m anderen als Verweis auf etwas Unausgesprochenes (oder Unaussprechliches) angesehen w e r d e n k a n n (.beredtes Schweigen'). 220 Im ersten Fall verweist Schweigen a u f eine nicht erfolgte Selektion aus
215 Wilpert definiert die Ellipse als eine Auslassung dessen, was zum Verständnis nicht unbedingt nötig ist (1989: 229). Mit Jakobson bezeichnet Schmitz die Ellipse als „ein anaphorisches oder deiktisches Nullzeichen": „[...] was sie verschweigt, verrät der sprachliche Ko- und/oder außersprachliche Kontext" (1990: 23). Vgl. auch Genettes Konzept der Ellipse (1972: 139141) und Scherer 1984b: 158. 216 Lotman nennt als Bedingung eines ,Minus-prijoms', „daß an der Stelle, die im Text auf dieser oder jener Ebene ein ,Minus-prijom' einnimmt, in der entsprechenden Kodestruktur ein bedeutungstragendes Element oder eine Anzahl im Rahmen der betreffenden Konstruktion synonymer Elemente vorhanden ist. Somit ist der künsderische Text obligatorisch in eine komplexere extratextuelle Konstruktion einbezogen, zu der er in binärer Opposition steht" (1993: 83). 217 Leerstellen, so Iser, sollen gefüllt werden durch die Beziehung der Textsegmente zueinander (1990: 288). Die Projektionen und die „Vorstellungsvielfalt" des Lesers münden in „die Gemeinsamkeit einer Situation" (1990: 263). Vgl. Totzevas Beschreibung von Ellipsen und Unbestimmtheitsstellen (1995: 186). 218 Die Auslassungen erzeugen Spannungen im Rezeptionsprozess, welche u. U. erst am Ende der Lektüre aufgelöst werden können oder zumindest die Bildung des Textsystems nicht behindern. Denn es gilt: „[...] die Vollständigkeit oder Unvollständigkeit einer Äußerung hängt nicht von den spezifischen Inhalten ab, sondern von der Erfüllung der Muster für den jeweiligen Äußerungstyp" (Sottong/Müller 1998: 39). 219 Vgl. Luhmann: „Jedes System koproduziert das, was als Umwelt nicht in das System eingeht, und auch dies kann dann .Schweigen' genannt (!) werden - allerdings Schweigen in einem zweiten Sinne: Schweigen ohne Anschlußföhigkeit" (1997: 17). 220 Als Beispiel diene der berühmte Satz „Cum tacent clamant". Hier gleicht Schweigen Chomskys empty categories, welche empirisch real sind, „nur daß sie eben phonetisch nicht realisiert werden", das heißt grammatische Kategorien, die durch Schweigen realisiert werden (Schmitz 1990: 23). Zu Schweigen, Verschweigen und wortloser Mitteilung vgl. Bahr 1992: 313; zu metakommunikativem Schweigen Hess-Lüttich 1978. Das .beredte' (expressive) Schweigen ist mit der Ellipse vergleichbar, da es wie ein (unausgesprochenes) Wort gebraucht wird, und erinnert an Isers Konzept der Leerstelle, besonders Isers „enthüllendes Schweigen" (1990: 230f.). Kamper nennt als zwei Arten das „Schweigen als Moment der Sprache" und das „Schweigen als Grenze der Sprache" (1992: 327).
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Kommunikationsmöglichkeiten, im zweiten auf eine emphatisch realisierte Selektion. Beide Formen des Schweigens verstören meist nicht die Kommunikation, sondern haben konkrete Funktionen wie etwa Zustimmung, Verweigerung, Entlastung von Sinnzuweisung oder Widerstand gegen Vereinnahmung. 221 Auch kann Schweigen der Gliederung von Kommunikationsabläufen dienen, also ohne Verweisfunktion sein.222 In allen genannten Fällen treten weder Paradoxie noch Kontingenz auf. Erst wenn Schweigen mehrdeutig wird, etwa wenn es die Entscheidung zwischen Nichts-sagen und Etwas-nicht-sagen oder zwischen ungesagt und unsagbar offen hält, kann es SI erzeugen.223 Bei der Beurteilung, ob SI vorliegen oder nicht, muss schließlich die Ebene des Systems von der des Themas unterschieden werden. Ein Text, der ein Dilemma darstellt, muss z. B. nicht zwangsläufig SI erzeugen: Unlösbare Fragen können auf höchst systemhafte Weise dargestellt werden, wenn nämlich das Problem auf einer einzigen Fiktionsebene in einer zeitlichen Ordnung mit Leitdifferenzen verhandelt wird.
3.2.2
ENTSTEHUNG VON INTERFERENZEN
3.2.2.1
ALLGEMEINES
Der Begriff Systeminterferenzen birgt die Gefahr einer Verdinglichung, so als könne man den beschriebenen Sachverhalt im Text isolieren. SI können jedoch nicht lokalisiert werden, denn sie sind nicht im Text vorgegeben. Vielmehr werden sie von einem Beobachter konstruiert über Unterscheidungen, die dieser am Text vornimmt. SI können also nur wahrscheinlich gemacht (und nicht: nachgewiesen) werden, indem Textstrategien benannt werden, die SI potentiell erzeugen. Anhand von möglichen Unterscheidungen werden Rückschlüsse auf die mögliche Gesamtorganisation des Textes durch den Rezipienten gezogen. Schrifttext und Bühnentext können gleichermaßen unter dem Aspekt der SI untersucht werden, sind jedoch verschiedene semiotische Systeme. Der Schrifttext 221 Zur Funktion des Schweigens vgl. Roloff 1973, Ruberg 1978, W^ciawski 1985, Saville-Troike 1985, Schmitz 1990, Baudrillard 1992, Bellebaum 1992, Dauk 1992, Dieckmann 1992, Dörfles 1992, Tacussel 1992, Kunz 1996, Raueiser 1996, Meise 1996, Luhmann/Fuchs 1997. Zum Schweigen als Zeichen vgl. besonders Dieckmann 1992: 66. Zur Sprechpause vgl. Weinrich 1961, Kunz 1996, der eine Grammatik des Schweigens erstellt, welche eine Lexikologie, Phonologie, Morphologie und Syntax umfasst. 222 Schweigen ist grundsätzlich die Voraussetzung dafür, dass Reden als Auswahl aus verschiedenen Möglichkeiten angesehen werden kann (man hätte auch nicht reden können). Schweigen und Reden verhalten sich wie Figur und Hintergrund zueinander, denn „kein Zeichen ohne Schweigen, kein Schweigen ohne Zeichen" (Schmitz 1990: 6). 223 Schweigen wird dann zu einem Grenzphänomen (Grenze des Textes, Grenze der Kommunikation). Vgl. z. B. Unterscheidungen bei Schmitz 1990: 38f., Raueiser 1996: 38.
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wird seriell, der Bühnentext seriell und parallel verarbeitet. 224 Während ein Schrifttext mentale Bilder evoziert, konfrontiert ein Bühnentext den Rezipienten mit einer komplexen sinnlich-kognitiven Situation. 225 Dennoch können einige allgemeine Aussagen zur Paradoxie- bzw. Kontingenzerzeugung für beide Textarten gemacht werden, ehe dann auf Spezifika der jeweiligen semiotischen Systeme eingegangen wird. Paradoxien und Kontingenz entstehen bei Verstößen gegen die Prinzipien des logisch-diskursiven Denkens, welches sein Fundament in drei logischen Sätzen hat: dem Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch, dem Satz v o m ausgeschlossenen Dritten und dem Satz von der Identität. 226 Paradoxien entstehen also erst auf der Ebene der Text beobachtung, dann nämlich, wenn ein Rezipient den Textdaten Unterscheidungen zuordnet, die inkompatibel sind, 227 wenn also Beschreibungen von Kontexten widersprüchlich sind. 228 In Luhmanns Terminologie werden bei einer Paradoxie beide Seiten einer Unterscheidung aktualisiert: Paradoxien lassen Operationen geschehen, blockieren aber Beobachtungen. Man kann durchaus paradox denken, auch paradox kommunizieren. [...] Aber wenn man beobachten, das heißt: unterscheiden und bezeichnen will, was gemeint ist, wird diese (nur diese!) Operation blockiert. Sie oszilliert zwischen den beiden Seiten, die sie unterscheiden will, und kann nicht entscheiden, auf welcher Seite die Folgeoperationen angeschlossen werden sollen. (Luhmann 1993: 128) 224 Serielle Verarbeitung berücksichtigt immer nur ein Item zu einem Zeitpunkt, simultane entsprechend mehrere Items (vgl. Wessells 1994: 79). Zur Semiotik des Theaters vgl. Nöth 2000: 462-466. 225 Müske (1992: 118f.) weist daraufhin, dass beim sinnlichen Wahrnehmen von Umwelt (und so auch in der Theaterauffiihrung) die gleichen Informationsverarbeitungsmechanismen aktiviert sind wie bei der Textverarbeitung. 226 Der Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch besagt, dass kontradiktorische Sätze nicht zusammen wahr sein können; der Satz vom unerlaubten Dritten, dass zwischen dem Entgegengesetzten der Kontradiktion kein Mitderes ist; der Satz der Identität bestimmt x und y als identisch, wenn jede beliebige Eigenschaft P auf x und y zutrifft (vgl. Aristoteles 1970: 10, 1057a). Allgemein kann man zwischen semantischen/logischen und pragmatischen/ästhetischen Paradoxien unterscheiden. Vgl. dazu Watzlawick/Beavin/Jackson 1980: 174; Hagenbüchle 1992: 34f. 227 Simon (1992a: 82f.) verweist darauf, dass es gerade das Denken sei, welches die Welt mit Ambivalenzen versehe; das Fühlen allein sei hingegen stets widerspruchsfrei, während das Denken (in der Terminologie der Systemtheorie: das Beobachten) Alternativen und damit Möglichkeiten von Widersprüchen einführe. Vgl. Schwegler 1992: 32. 228 Vgl. Simon: „Wo immer zwei Ordner gleichzeitig wirksam werden, können chaotische Prozesse und Dynamiken entstehen. Die Verhaltensweisen eines Menschen, der versucht zwei Kontextmarkierungen zu integrieren, können chaotisch, vollkommen unvorhersehbar und scheinbar ausschließlich vom Zufall abhängig werden" (1999: 215). Zu Kontextinkompatibilitäten vgl. Simon 1992a: 75.
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Paradoxien sind aus systemtheoretischer Sicht also Oszillationen, die nicht in einer Synthese aufgelöst werden können. Auch der Versuch, die Widersprüche auf einer Metaebene zu integrieren, kommt an kein Ende,229 so dass die widersprüchlichen Beobachtungen weder beibehalten noch sinnvoll reorganisiert werden können. Die Konstruktion eines Textsystems wird damit verstört. Kontingenz entsteht, wenn Möglichkeiten nicht durch Anschlüsse reduziert werden.230 Kann anhand der Anschlusskommunikationen nicht festgelegt werden, welche Seite der Unterscheidung zu markieren ist, kommt es zu Instabilitäten bei der Konstruktion einer Situation und eines Kontextes, was wiederum die Konstruktion eines Textsystems verstört oder sogar unmöglich macht. Denn nur das, was ausschließt, bildet ein System. Kontingenzerzeugung kann anhand so genannter Kippbilder oder syntaktisch ambiger Sätze verdeudicht werden. „Flying planes can be dangerous"231 ist z. B. ein Satz, der ohne Kontext nicht in seiner Bedeutung spezifiziert werden kann. Paradoxie und Kontingenz in Schrift- und Bühnentexten kann prinzipiell auf zwei Arten erzeugt werden: durch widersprüchliche Qualifizierungen von Kommunikationsbeiträgen und durch Oszillation zwischen logischen Ebenen. Kommunikationsbeiträge (d. h. auch verbale und nonverbale Bühnenelemente) kommentieren einander, was zu stimmigen, unstimmigen, paradoxen oder kontingenten Situationen fuhren kann (Qualifizierung). Oszillation der Bedeutungskonstruktion zwischen logischen Ebenen wird dadurch hervorgerufen, dass sowohl die Elemente des Schrift- als auch die des Bühnentextes als Zeichen oder als bloßes Material232 eingesetzt werden können: Damit ein kohärentes System 229 Aus einer wahren Aussage folgt, dass sie falsch ist und umgekehrt. „Eine Kommunikation, in der solche Bewertungen vorgenommen werden, bietet keine Ein- und Ausgrenzungslinien für die Zuschreibung von Bedeutung" (Simon 1991: 142). Polysemien sind dabei nicht automatisch paradox, denn oft können sie durchaus (etwa metaphorisch-analogisierend) auf einer Metaebene in eine einheidiche Beobachtung integriert werden. Vgl. dazu Ricceur: „Ein Kontext, der mehrere Isotopien zugleich toleriert oder gar aufbewahrt, konfrontiert uns mit einer wirklich symbolischen Sprache (langage), die, indem sie etwas sagt, etwas anderes sagt. Statt daß der Kontext hier eine einzige Sinndimension aussiebt, integriert, ja konsolidiert er mehrere, die sich wie die Texte eines Palimpsestes übereinanderschichten" (1973: 119f.). Vgl. auch Varela 2000: 299. 230 Die Bedeutung, die einer Seite zugeschrieben wird, darf nicht auch der anderen gleichzeitig zugesprochen werden, denn dann lösen sich Grenzen zwischen Bedeutungsbereichen auf (Simon 1991: 113). 231 Bekannt ist aus der Transformationsgrammatik die Arbeit mit ambivalenten Sätzen wie „They are Aying planes" (,Sie sind Flugzeuge, die gerade fliegen vs. ,Sie fliegen/lenken Flugzeuge'), die sich durch verschiedene Tiefenstrukturen auszeichnen (vgl. dazu Eco 1987: 118). 232 Die materielle ist eine prä-kognitive Ebene, die Julia Kristevas (1969) ,semiotischer Chora' gleicht. Kristeva meint mit ihrem Begriff einen Raum aus unbestimmten Artikulationen, Rhythmen und Klängen ohne Vorstellung, also ohne Repräsentation, welcher der Sprache des Unbewussten nahe steht (vgl. dazu Fischer-Lichte 1995a: 22-25, Nöth 2000: 120-124, Mahler-Bungers 2001: 188). Die Körperlichkeit der Sprache manifestiert sich für Kristeva in der Artikulation und in der Rhythmik der Rede.
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konstruiert werden kann, müssen sie allerdings entweder in ihrem materiellen Aspekt (z. B. als Klang) oder in ihrem semiotischen Aspekt (als Verweis) wahrgenommen werden, denn es gilt das, was Assmann das semiotische Gesetz der „inverse[n] Relation von Anwesenheit und Abwesenheit" nennt: dass „ein Zeichen, um semantisch erscheinen zu können, materiell verschwinden muß" (1995: 238) und umgekehrt. Lässt ein Schrift- oder Bühnentext Zweifel daran, ob er auf der einen oder der anderen Ebene zu lesen ist, kommt es zu paradoxen Blockierungen der Beobachtung (Bedeutungskonstruktion) oder kontingenten Beobachtungen. 3.2.2.2
SCHRIFTTEXT
Allgemein gesagt entstehen Paradoxien, wenn Kommentierendes und Kommentiertes einander widersprechen und nicht auf einer Metaebene reorganisiert werden können (z. B. indem eine Ebene als Lüge ausgewiesen wird). Eine Möglichkeit, Widersprüche zwischen Ebene und Metaebene zu erzeugen, ist im Schrifttext die gegenläufige Benutzung von Haupt- und Nebentext,233 denn der Nebentext steht auf einer anderen logischen Stufe als der Haupttext, den er qualifiziert, d. h. dessen Kontext er beschreibt. Der Nebentext kann z. B. Anweisungen enthalten, die den Kommunikationen im Haupttext zuwiderlaufen. Paradoxien können auch bei der Selbstqualifizierung von Kommunikationsebenen entstehen, etwa wenn sie einen Verweis auf Fiktionsebenen beinhalten („Das hier ist Theater!" — ist diese Aussage dann auch schon Theater, also im fiktiven Modus zu lesen?) oder wenn ein Satz seine eigene Aussage widerlegt (.performativer Widerspruch'). Kontingenz entsteht z. B., wenn Kommunikationsbeiträge verschiedene frames aufrufen, die miteinander nichts zu tun haben: In einer undefinierbaren Situation werden dann viele Bedeutungskonstruktionen gleichwahrscheinlich. Eine Möglichkeit der Kontingenzerzeugung ist uneigentliches Sprechen, d. h. die Spannung innerhalb eines Kommunikationsbeitrages zwischen wörtlicher und intendierter Bedeutung. Um Formen uneigentlichen Sprechens (z. B. Ironie) auf ihre Bedeutung hin zu hinterfragen, braucht der Rezipient Kontextwissen; wird der Kontext aber gerade durch die Kommunikation selbst charakterisiert, kann die Entscheidung über eine eigentliche Bedeutung an nichts festgemacht werden. Je schwächer daher die Signale eines Kommunikationsbeitrages sind, die darauf hinweisen, dass er eigentlich etwas anderes bedeutet als das, was er zu bedeuten scheint, desto mehr wird der Rezipient verunsichert bezüglich der Frage, in wel-
233 Der Begriff Nebentext geht auf Ingarden zurück. Vgl. zu dem Verhältnis zwischen Haupt- und Nebentext allgemein Pfister 1994: 35f.
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chem Modus die Aussage zu lesen ist: Verschiedene Unterscheidungen sind möglich - eine Quelle von Kontingenz. Nach Paul de Man ( 1 9 8 8 ) kommen in jedem Text buchstäbliche und figurative Bedeutungen (er nennt diese die wörtliche und die rhetorische Ebene des Textes) einander in die Quere und stehen immer in einem Verhältnis der Spannung zueinander.234 Ahnlich kann die Verwendung der Sprache zwischen Material und Symbol schwanken. Die Wörter und Sätze können derart kontextlos gebraucht werden, dass sie nur noch als Klang erscheinen und nicht mehr als symbolische Repräsentation, so dass sie keinen systematischen Bezug zueinander zu haben scheinen. Dann aber ist die Konstruktion einer Sprechsituation unmöglich, und Sprache wird zu einer bloßen Wahrnehmungserfahrung. Dieses Phänomen wird gerade im Zusammenhang mit Gegenwartstexten oft: .autoreferentieller Bezug der Zeichen auf sich selbst' genannt. 235 Ein als Klangmaterial gebrauchtes Wort verliert indes nie ganz seine normalsprachliche Bedeutung. Anschaulich bedeutet dies, dass eine hundertmalige Wiederholung des Wortes Leben immer einen anderen Effekt hat als eine hundertmalige Wiederholung des Wortes Tod. Bode schreibt entsprechend: Kein Wort, das aus der Menge seiner normalsprachlichen Zusammenhänge gerissen wird, um als Material, Baustein eines Sekundärsystems Verwendung zu finden, verliert durch diese Transposition seine primäre Bedeutung oder genauer: sein Bedeutungsfeld. (Bode 1988: 77)236
234 Lotman spricht bei literarischen Texten von einem sekundären modellbildenden System, dem eine natürliche Sprache zugrunde liegt, das aber eine zusätzliche sekundäre Struktur ideologischer, ethischer, künsderischer oder irgendeiner anderen Art erhält (1993: 61). Vgl. dazu Bode 1988: 380. Zu interner und externer Umkodierung vgl. Lotman 1993: 61-63. Kann der Rezipient nicht entscheiden, ob eine alltägliche oder eine spezifische Verwendung der Kommunikationselemente vorliegt, kommt es zu Oszillationen zwischen Bedeutungen. Vgl. Hamacher 1988: 9. So ist es etwa bei der rhetorischen Frage unmöglich, „mit Hilfe grammatischer oder anderer sprachlicher Hinweise zu entscheiden, welche der beiden Bedeutungen (die miteinander inkompatibel sein können) den Vorrang hat" (de Man 1988: 40). Die Struktur der wechselseitigen Suspendierung der einzelnen Bedeutungselemente sprachlicher Äußerungen nennt de Man Rhetorik (vgl. Hamacher 1988: 15). Ahnliche Überlegungen wie die zum uneigentlichen Sprechen gelten auch für Ideolekte, also die nur fiir einen Kontext spezifische Verwendung von Wörtern. 235 Vgl. die von Roman Jakobson (1960) so genannte poetische Funktion der Sprache, welche die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf die sprachliche Beschaffenheit einer Nachricht lenkt, und die Jakobson autoreflexiv nennt (vgl. Wiemann 1998a: 168). Ein autoreflexiver Text lenkt die Aufmerksamkeit auf seine eigene Form. 236 Bode verweist darauf, dass gerade das Fortbestehen der Referenzfunktion notwendige Voraussetzung für das Entstehen von Ambiguität ist (1988: 53). Daher könne die Sprache nie den abstrakten Zustand der Musik erlangen (1988: 78). Vgl. auch Barthes 1982: 41.
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Die erlernten Bedeutungen und Konnotationen eines Wortes können offensichtlich nicht ganz verdrängt werden, so dass der „état zéro" eines Wortes237 der reinen Wahrnehmung von Klang entgegensteht. Elemente des Schrifttextes bleiben also immer dem System der natürlichen Sprache zugehörig. Von dieser Regel ausgenommen sind nicht-lexikalisierte Wörter, etwa willkürliche Aneinanderreihungen von Buchstaben. Der Symbol- oder der Materialwert der Sprache kann unterschiedlich betont werden, doch verschwindet keiner der beiden Aspekte je vollständig;238 in der Betonung des einen oder des anderen liegen Möglichkeiten, zwischen verschiedenen Funktionalisierungen von Sprache hin- und herzupendeln und damit SI zu erzeugen. Der Eindruck von Kontingenz entsteht, wenn unentscheidbar ist, ob ein Wort als allgemeines oder spezifisches Symbol oder gar als bloßes Klang-Material erscheint.
3.2.2.3
BÜHNENTEXT
Dem Bühnentext stehen mehr Kommunikationskanäle zur Verfügung als dem Schrifttext: Neben der Sprache konstituieren visuelle und akustische, oft sogar olfaktorische Elemente die Situation. Dabei funktionieren nonverbale Zeichen in der Kommunikation anders als verbale. Sie werden z. B. vorwiegend analog und probabilistisch wahrgenommen.239 Eco (1994: 216f.) spricht von einem ^konischen Kontinuum', auf dem keine diskreten katalogisierbaren Einheiten festgeschrieben sind; bei der Bedeutungskonstruktion ist daher der Kontext entscheidend.240 Systemtheoretisch betrachtet kann die Inszenierung eines Schrifttextes als Beobachtung der Beobachtung (,Regisseur sieht Text, der Welt sieht) beschrieben
237 Vgl. Barthes über den ,état zéro': „Le Mot est ici encyclopédique, il contient simultanément toutes les acceptions parmi lesquelles un discours relationnel lui aurait imposé de choisir. Il accomplit donc un état qui n'est possible que dans le dictionnaire ou dans la poésie, là où le nom peut vivre privé de son article, amené à une sorte d'état zéro, gros à la fois de toutes les spécifications passées et futures" (1993a: 164). 238 Zur doppelten Lesbarkeit ästhetischer Objekte als Ding und als Zeichen vgl. auch Rebentisch 2003. 239 Vgl. Schönherr 1997: 32. Zur probabilistischen Kodierung vgl. Scherer 1984: 20. Die Unterscheidung zwischen analoger und digitaler Kommunikation stammt aus der Informationstheorie. 240 Zur Kontextabhängigkeit nonverbaler Zeichen vgl. auch Scheflen 1984: 156, Karabalid 1994: 11. Zu nonverbaler Kommunikation allgemein vgl. Eco 1987a: 230-233, Nöth 2000: 293-321. Zur nonverbalen Kommunikation nach Luhmann vgl. Berghaus 2003: 117-121.
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werden.241 Kein Schrifttext kann dabei seine Aufführung festlegen, gäbe er auch noch so detaillierte Anweisungen.242 Der Regisseur ist in seiner Beobachtung grundsätzlich frei und kann auf prinzipiell unendlich viele Weisen theatrale Mittel einsetzen. Die SI eines Schrifttextes können in einer Aufführung daher beibehalten, beseitigt oder durch bühnenspezifische SI ersetzt werden. Dabei ist nicht von vorab bestehenden Hierarchien auszugehen, etwa dass die verbalen Zeichen stets dominieren.243 Vielmehr zeigt jede Inszenierung ihre eigene Gewichtung und Hierarchie der Textelemente. Welche Elemente welche anderen kommentieren und wie Ebene und Meta-Ebene zu konstituieren sind, gestaltet sich in jedem Bühnentext neu.244 Desgleichen kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass Verbales eine eindeutigere Verweisfunktion habe als Nonverbales. Ist auch der nonverbale Ausdruck schwächer und weniger umfassend codiert, so ist er doch oft sehr viel verlässlicher und glaubwürdiger als der verbale.245 Die Sprache ist damit keineswegs der Garant für die Klarheit der Mitteilung. 241 „Wir als Zuschauer erkennen in einer Inszenierung die Auffassung des Regisseurs vom Originaltext des Autors wieder; daher haben wir durch die Aufführung keinen direkten Zugang zu dem Text, der gerade aufgeführt wird", schreibt Pavis (1991: 352). Zu anderen Konzepten bezüglich des Verhältnisses Text-Inszenierung vgl. Totzeva 1995: 36-48. Vgl. auch FischerLichtes weite Bestimmung der Auffuhrung als „Interpretanten des Dramas" (1990: 252). Zur Transformation des Schrifttextes in einen Bühnentext vgl. Fischer-Lichte 1995a: 34-54. Hiß spricht von „Prozessen der gegenseitigen Präzisierungen und Verschleierungen" (1993: 62). 242 Daher sind auch solche Annahmen wie die eines ,theatralen Potentials' (etwa bei Totzeva 1995) problematisch. Im Schrifttext ist ja nicht etwas enthalten. Der Regisseur trifft vielmehr Unterscheidungen am Schrifttext, die er durch Auswahl der Bühnenmittel umsetzt. Mögliche Darbietungsformen von Texten auf der Bühne nennen z. B. Lehmann 1989: 29; 1992: 353f. und Pavis 1996: 210-215. Legte ein Text eine Aufführung genau fest, wäre er eine Zeremonie und kein Theaterstück; vgl. Rapp: „Gäbe es nur eine bestimmte, in ihrem Ablauf (und Stil) festgelegte Aufführung, so wäre diese ein Ritual" (1993: 38). Zu dem schwierigen Begriff der Werktreue vgl. Fischer-Lichte 2001: 175. 243 Es besteht die Gefahr, nonverbalem Verhalten linguistische Kategorien unterzuschieben, so als wäre die Sprache das ontologische Apriori. Diese unterschwellige Hierarchisierung ist schon in sprachlichen Transkriptionsverfahren angelegt, weil in diesen dem Nonverbalen eine sprachliche Bedeutung zugewiesen wird. 244 Es ist daher eine unzulässige Verkürzung zu sagen, digitale Sprache diene dem Was und analoge dem Wie oder Dass eines Kommunikationsaktes (so etwa Breuer 1984: 44), da schon die Rede von digitaler oder analoger Sprache problematisch ist, weil damit dem analogen Bereich eine sprachliche Strukturierung unterstellt wird. Es ist also davon auszugehen, dass sowohl Verbales als auch Nonverbales je nach Kontext verschiedene Funktionen übernehmen kann. So weist Fischer darauf hin, dass es zwischen zwei logisch differenten Ebenen keine Widersprüche im logischen Sinne geben könne, denn „diese entstehen nur zwischen Sätzen (die analoge Mitteilung ist ja kein ,Satz') und sind logisch auch vollkommen harmlos, psychologisch sicherlich nicht. Deswegen halte ich auch den Terminus Inkongruenz [...] für treffender" (1987: 192). 245 Verstellung, Lüge oder Täuschung sind bei nonverbalen Signalen z. B. schwieriger, da weniger manipulierbar. Vgl. Scherer 1984a: 28. Daher kann nicht generell gesagt werden, ob
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D i e szenischen Elemente qualifizieren einander. 246 Laut Scherer sind die Funktionen des nonverbalen Verhaltens Substitution, Amplifikation, Kontradiktion und Modifikation des verbalen Verhaltens. 247 M a n kann diese vier Funktionen auch a u f das Verhältnis der nonverbalen Zeichen untereinander ausweiten. Was Z u m t h o r über die Rede schreibt, dass sie nämlich nicht „einfach die Vollstreckerin des Sprachsystems sei", sondern im Klang der S t i m m e u n d der Bewegung des Körpers „zum K o m m e n t a r des Erzählten" werde ( 1 9 9 5 : 7 0 9 ) , gilt auch für das Verhältnis zwischen den szenischen Elementen allgemein. In der Theaterauffiihrung überschneiden sich ein konkret-situativer und ein gesellschaftlich-symbolischer Kontext und damit unmittelbare und semiotische W a h r n e h m u n g . Von besonderer kommunikativer Relevanz ist dabei, dass nonverbale Elemente neben ihrer symbolischen Funktion innerhalb des Bühnentextes auch auf ihre natürliche Funktion verweisen. Jedes Zeichen im T h e a t e r kann das denotieren, was es auch in der Alltagswelt denotiert; es kann aber auch etwas ganz anderes darstellen, je nachdem, welchen Symbolwert ihm der theatrale Kontext verleiht. W i r d z. B. ein Holzstuhl in einer Inszenierung als Königsthron benutzt, dann wird er zum Zeichen für einen Königsthron; seine unmittelbare Wahrnehmungsqualität - ein eher bescheidenes Sitzmöbel - bleibt aber latent erhalten. 248 Systemtheoretisch formuliert heißt das:
schriftliche oder mündliche Rede eher Zweideutigkeiten erzeugt. Bei der Interpretation widersprüchlicher Mitteilungen z. B. wird oft die visuelle Komponente wichtiger als die verbale oder die vokale: „Der Empfänger einer widersprüchlichen, stark konflikthaltigen Nachricht sucht wahrscheinlich im Gesicht des Sprecher [sie] nach erklärenden Zeichen" (Bugental/Kaswan/Love 1984: 269). Vgl. zu verräterischen Gesten bei Täuschungsverhalten Ekmann/Friesen/Scherer 1984. 246 Laut Haley ist es unmöglich, „eine Botschaft nicht zu qualifizieren", da Stimmlage und Körperhaltung dies immer tun (1969: 86). Zur gegenseitigen Modifikation von theatralen Zeichen vgl. auch Fischer-Lichte 2001: 165. So grenzt z. B. die Sprache die Polysemie des Visuellen ein. Barthes nennt als Verhältnis zwischen „message linguistique" und „message iconique" ancrage und relais (1982: 31). Zum Einfluss der sprachlichen Bezeichnung auf die Bildverarbeitung vgl. auch Zimmer 1983, dem zufolge die Sprache Visuelles kommentiert, strukturiert und klassifiziert. Zum Verhältnis Text-Bild vgl. auch Barthes 1982: 32f. 247 Vgl. Scherer 1984b: 113; 1984a: 26-28. Hinzu kommen eine redundierende, eine komplettierende und eine modale Funktionsebene (vgl. 1984b: 330-348). Zu funktionalen Gesichtspunkten nonverbalen Verhaltens vgl. auch Hübler 2001: 22-31; zu Bedeutungsmengen zwischen Text und Bühnentext vgl. Sottong/Müller 1990: 85. 248 Mobilität und Polyfunktionalität theatraler Zeichen (vgl. Fischer-Lichte 1998: 182f.) lassen keine festen Bedeutungen zu. Vgl. die interne und externe Umkodierung nach Lotman (1993: 61-63) und darauf aufbauend Fischer-Lichte 1998 (vgl. auch 1984a: 157, 1990: 244, 2001: 157; 1995a: 15-19). Fischer-Lichtes Grundannahme ist, dass alle theatralischen Zeichen Zeichen von Zeichen sind. Wie vor allem der Prager Strukturalismus betont hat, ist das Theater ein Ort der semiotischen Transformation, der selbst alle materiellen Objekte und Verhaltensweisen von Personen, die im Alltagsleben eine nichtsemiotische (praktische) Funktion haben, auf der Bühne zu Zeichen macht. Hinzu kommen die indexikalischen Verweise.
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Das System verwendet zwar in der Poesie Worte, in der bildenden Kunst Materialien, im Tanz Körper, die auch sonst vorkommen, und baut damit externe Referenzen ein; aber es diszipliniert sie durch die interne Verwendung, die am Ermöglichen der Formenbeobachtung ausgerichtet ist, also wiederum im Dienste des Beobachtens zweiter Ordnung steht. (Luhmann 1 9 9 2 : 121)
Theatrales Verhalten ist ein Verweis darauf, dass etwas auf einer anderen Ebene zu lesen ist als auf der, auf der es normalerweise zu lesen wäre.249 Jemand, der auf einer Bühne eine Ankündigung macht, ist noch nicht theatral; dies wird er erst, wenn er so tut, als ob er eine Ankündigung macht. Im theatralen Wahrnehmungsmodus werden daher automatisch zwei Ebenen wirksam: eine eigentliche und eine uneigentliche, weshalb die durch Theatralität erzeugte Als-ob-Illusion mit dem uneigentlichen Sprechen im Schrifttext vergleichbar ist. Für die Entstehung von SI folgt daraus: Ein Theaterspiel legt automatisch nahe, dass zwei logisch getrennte Ebenen in der Wahrnehmung wirksam werden, eine eigentliche' und eine .theatralische'. Werden diese Ebenen miteinander vermischt, pendelt die Bedeutungskonstruktion zwischen ihnen hin und her, ohne entscheiden zu können, welchen Fiktionsmodus sie nun welcher Wahrnehmung zuschreiben kann. Mitunter taucht die Schwierigkeit auf zu entscheiden, welche Elemente der Inszenierung (z. B. der Bühnenrand) noch zur Theaterkommunikation gehören und welche, eigentlich' sind: „Da potentiell alles zum Zeichen werden kann, sind Zeichen und Nichtzeichen nicht durch eine Schwelle getrennt, sondern sie unterscheiden sich nur durch die Perspektive des Rezipienten" (Nöth 1990: 245). Der Rezipient weiß daher bei manchen Bühnentexten nicht, an welche Seite der Unterscheidung er anschließen soll, Fiktion oder Nicht-Fiktion. Selbst wenn auf der Bühne Akrobatik zu sehen wäre (also eindeutig nicht-theatrale Aktionen), so befände sich diese dennoch im Rahmen einer Auffuhrung und wäre damit doch theatral, da eine Repräsentations-Situation bestünde.250
Boeckmann vermutet, dass „mehr oder weniger alle Handlungen im sozialen Kontext einen [...] indexikalischen Zeichen-Anteil" haben (1994: 47). Zu Unterscheidungen zwischen Signal, Index, Anzeichen und Symptom vgl. Nöth 1985: 98f.; 158; Müller/Sottong 1993: 23, Sottong/Müller 1998: 49. Ob ein Zeichen symbolisch, indexikalisch oder ikonisch gebraucht wird, legt der Kontext fest; vgl. als Beispiel Passow 1984. 249 Theatralität bedeutet nach Fischer-Lichte ,als Zeichen präsentieren' (vgl. 1998: 195f.). Vgl. auch Fischer-Lichte 2001: 280-283. Entsprechend gelten als theateranaloge lebensweltliche Inszenierungen u. a. Rituale, Zeremonien, Intrigen, Täuschungen und Betrügereien sowie doppeldeutige Kommunikation etwa in der Diplomatie oder beim Flirt (Schwanitz 1990: 110-115). 250 Cornago spricht von Semiotisierung: „El poder de semiotización del espacio escénico proporcionaba al teatro una naturaleza ficticia que lo diferenciaba a su vez de otro tipo de espectáculos que carecían de este plano imaginario; los deportes, juegos malabares, el circo o los toros no desarrollaban un nivel de ficción" (2000: 41). Jeder Text kann dementsprechend auf Ubercodierungen (also Subcodes, d. h. Bedeutungszuweisungen, die nur im konkreten
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Jedes Aufführungselement hat zudem auch eine materielle Präsenz und wird vom Rezipienten unmittelbar physisch auf einer vegetativen und vorbewussten Ebene mit dem Körper wahrgenommen. 251 So gibt es etwa ein SpmcYierleben noch vor dem Sprach verstehen, das sich auf Rhythmus, Tempo, Tonhöhe und Klangfarbe der Stimme bezieht, ebenso wie ein vorbegriffliches empathisches Erfassen von Situationen oder Eindrücken von Menschen. 252 Wenn Artaud sich fiir die Retheatralisierung des Theaters einsetzt und etwa von den „dissoziierenden, vibratorischen Wirkungen" der Intonation auf die Sensibilität des Zuschauers spricht ( 1 9 9 5 : 396), 253 dann hebt er auf eben diese prärationale Wirkkraft ab, die einem Aufführungselement innewohnt. Lyotard spricht auf ähnliche Weise von der .Energie' des Materials. 254 Hinzu kommt noch der .Widerstand der Materie', d. h. all die Elemente, die weder Regisseur noch Schauspieler vorhersehen können, die von der Panne bis hin zu unfreiwilligen Anspielungen reichen. 255 Dass die Auf-
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Kontext gültig sind) und Untercodierungen (also potentielle Codes) im Sinne Ecos (1987a) untersucht werden. So sprechen Sottong/Müller im Zusammenhang mit zeichenhaften Elementen, die nicht allgemein bekannt sind, sondern die der Text erst dadurch aufbaut, dass er sie benutzt (Äquizeichen), von einem System; den Kode dieses Äquizeichensystems zu rekonstruieren nenne man Interpretation (1998: 118). Zur Unterscheidung von Äquizeichen und .echten Zeichen vgl. Sottong/Müller 1990: 59; 1998: 57-60. Die Materialität kann mit Barthes' sens obtus, dem „signifiant sans signifié", in Zusammenhang gebracht werden, da dieser auch keine Repräsentation ist: „[...] ma lecture reste suspendue entre l'image et sa description" (1982: 55); das Symbolhafte schließlich erinnert an Barthes' sens obvie (vgl. 1982: 46). Fischer-Lichte (2001) spricht von dem Wechselverhältnis zwischen dem Semiotischen und dem Performativen. Fischer-Lichte spricht von „physiologische[n] Reaktionen, welche der sinnliche Akt der Wahrnehmung auszulösen vermag" (2001a: 13). Selbst unbekannte Wörter verursachen emotionale Reaktionen, weshalb davon auszugehen ist, dass akustische Signale „eine affektive Eigenbedeutung besitzen, die an keinen systematisch vollzogenen Lernprozeß gebunden ist" (Bock 1984: 897). Vgl. zum Spracherleben der präverbalen Phase beim Kind Schönau 1991: 66. Vgl. auch die projektive Identifizierung, in der emotionale Zustände präverbal übermittelt werden (Mahler-Bungers 2001: 188). Zum Gegensatz zwischen der Materialität der Zeichen und semantisierten Zeichen vgl. Fischer-Lichte 1997. Artaud sagt, er wähle Töne, Geräusche und Schreie „zunächst um ihrer Schwingungsqualität willen [aus], dann nach dem, was sie darstellen" (1995a: 410). Vgl. zu Artaud Fischer-Lichte 1997: 189-203. Vgl. auch psychologische Handbücher, die bestimmte Farben, Lichteinstellungen, Töne und Objekte mit bestimmten Atmosphären in Verbindung bringen (z. B. Heller 2000). Zur physischen Materialität der Textelemente vgl. auch Lehmann 1989: 48. Lyotard nennt z. B. die in Farbe gebannte Energie, die im Betrachter wieder freigesetzt werden kann, wenn keine „Dispositive" sie mehr gefangen halten (1982: 49; vgl. van Reijen/ Veerman 1995: 139). Dass bloßes Material präsentiert wird, ist aus der modernen Malerei bekannt. So spricht z. B. Josef Albers von einer Prozessästhetik des organischen Sehens, welche der Rezeption kein fertiges Produkt liefere, sondern das Sehen selbst als aktiven Prozess bewusst mache. Albers nennt den statischen, substantiellen factual fact (Sachverhalt) und den entmaterialisierenden, subjektiven actual fact (Anschauungserlebnis) (vgl. Imdahl 1987: 149-151). Vgl. Hartwig 2003.
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fiihrung mit verschiedenen Codes - dem allgemeinen kulturellen und ihrem eigenen - und mit sinnlich wahrnehmbaren Materialien arbeitet, kann für Paradoxie- und Kontingenzerlebnisse genutzt werden, wenn Wahrnehmungselemente zwischen ihrem Symbol- und ihrem Materialstatus schwanken. In diesem Fall sind sie mehrdeutig in den Kontext eingebunden, oder aber der Kontext selbst ist so unklar, dass ihre Funktion nicht eindeutig ist.256 Verweist das Bühnenbild auf keinen Ort und enthält es keine begrifflich bestimmbaren Objekte, dann stellt es ein kompositorisches Ganzes aus Tönen, Formen und Farben dar, das ein nur von Harmonien oder Disharmonien gelenktes Sehen ermöglicht. Bewegungen der Schauspieler können dabei als freie Positionierungen der Körper im Raum vorgeführt werden.257 W i e beim modernen Tanz oder in der modernen Musik verlieren die Elemente des Bühnentextes dann ihre funktionale Bezogenheit auf einen übergeordneten symbolischen Zusammenhang und werden zum reinen Sinneserlebnis. Ob dabei allerdings der Zeichencharakter der Wahrnehmungselemente gänzlich verschwindet, so dass Objekte oder Bewegungen auf der Bühne in ihrer reinen Präsenz erfahrbar werden, ist fraglich. Elemente, die über sich aussagen, sie seien bloß ,Elemente der Welt' ohne Verweisfunktion, werden durch ihre Präsentation auf der Bühne doch wieder semiotisiert: Sie bedeuten dann, dass sie ,nicht bedeuten' und sind damit ein Verweis auf die Abwesenheit eines Verweises.258 Die Darstellung von Präsenz ist ein Widerspruch in sich. Besonders sinnfällig wird die Möglichkeit von Bedeutungszuweisung auf verschiedenen Ebenen bei nonverbalen Bühnenelementen am Körper des Schauspie256 Vgl. zur Farbe Hartwig 2003. Vgl. auch Hartwig 2002a zur Farbgebung verschiedener Inszenierungen des Festival de febrero (2001) in Madrid. Tbl Artaud spricht von einer „Poesie im Raum" mittels Linien, Formen, Farben, die man in allen Künsten finde (1991: 336) ; vgl. auch Appia 1991. Zu Gordon Craigs geometrischem Theater vgl. Alcázar 1998: 26, zu Bob Wilsons geometrischen Konstruktionen Birringer 1991: 223. Dondis nennt als Grundprinzipien der Aufteilung eines visuellen Feldes z. B. Asymmetrie, Akzent, Instabilität, Fragmentierung oder Kohärenz (1976: 28f.). Zum sinnlich-expressiven Wert der Formen vgl. Inen 1970: 75, Dondis 1976: 58. Zu räumlichen Strukturierungen und proxemischem Verhalten vgl. Hall 1963. 258 Reine Präsentationen erfolgen im Zirkus, auf Sportveranstaltungen oder bei Stierkämpfen. Die Zirkusnummer etwa produziert, so Fischer-Lichte, nicht Bedeutung, sondern Wirkung, denn sie verfugt „nicht über eine eigenständige semantische Dimension, sondern wird von der pragmatischen Dimension dominiert" (1997: 129). Ein Vergleich zur Pop Art liegt nahe, denn auch hier handelt es sich um das Präsentieren von Bedeutungslosigkeit, wobei aber die Grenze zwischen Bedeutung und Bedeutungslosigkeit gerade in der Rezeption wieder auftaucht. Barthes kommentiert: „Le pop art met [...] en scène une qualité philosophique des choses, qu'on appelle la fiuticité: le factice, c'est le caractère de ce qui existe en tant que fait et apparaît dépourvu d'aucune justification: non seulement les objets représentés par le pop art sont factices, mais encore ils incarnent le concept même de facticité - ce en quoi, malgré eux, ils recommencent à signifier: ils signifient qu'ils ne signifient rien" (1982: 185). Vgl. auch den Versuch der abstrakten Malerei, Bilder nicht mehr auf etwas anderes verweisen, sondern in ihrer Materialität für sich stehen zu lassen (Sottong/Müller 1998: 129) - und damit stehen sie zumindest doch wieder für ,etwas anderes', nämlich für dieses Konzept.
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lers. Menschliche Körper werden einerseits durch gesellschaftliche Körperbilder bestimmt,25' andererseits je nach Erfordernissen der Aufführung zum Zeichen innerhalb einer Inszenierung (z. B. in theatralischen Posen); schließlich sind sie aber immer auch ein direkter physischer Gegenstand der Wahrnehmung (das Individuum mit Alter, Größe, Geschlecht, Statur etc.)> also „zugleich Medium, Materialität und Leibhaftigkeit, Signifikanten, die niemals ganz im Zeichen aufgehen" (Fleig 2000: 12). Außerdem gibt der Körper immer auch indexikalische Verweise auf innere Vorgänge, die nur begrenzt kontrollierbar sind.260 Der menschliche Körper ist, was er ist, und stellt zugleich dar, was er nicht ist; er wird damit zur trennenden und verbindenden Grenze zwischen Individualität und Rolle, Persönlichkeit und Sozialwesen, Theatralität und Authentizität, und wiederholt damit die Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum, Auffuhrung und Leben. Selbst wenn der Schauspielkörper als bloßes Objekt261 oder als Symbol benutzt wird, fuhrt er immer noch Verweise auf Menschliches mit sich; und umgekehrt kann er noch so natürlich erscheinen, auf der Bühne stellt er stets etwas dar (aufgrund seines Erscheinens innerhalb eines Rahmens) und hat damit eine minimale Zeichenfunktion. Immer besteht die Möglichkeit der Manipulation des Körpers im fingierten Ausdruck. Nur mit Bewusstsein ausgestattete Wesen können sich indes verstellen, weshalb der Einsatz von lebenden Tieren auf der Bühne eine andere Körperlichkeit ins Spiel bringt: die authentische Körperlichkeit als Gegebenheit (und nicht als Wahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten). Ähnliches gilt fiir den Einsatz der Stimme. Gesprochene Sprache z. B. kann durch Betonung ihrer Materialität (Töne, Druck, Schallwellen) die Grenzen zwischen Lauten, Klängen und Kommunikation verwischen.262 2 5 9 Fleig spricht von dem „Spannungsverhältnis zwischen der leiblichen Materialität auf der einen und der Konstruktion des Körpers auf der anderen Seite" (2000: 11; zum Körper zwischen Natur und Kultur vgl. auch Fischer-Lichte 1995a: 28). Zur Körperlichkeit als Ergebnis kultureller Idealisierungen und Formungen vgl. Hahn 1995, Cramer 2001: 116; vgl. auch Tischleder (2000: 129) zum Konzept der kulturell lesbaren Körper nach Judith Butler. Zum Körper in den szenischen Künsten vgl. Birringer 1991: 205-231, Fischer-Lichte/Fleig 2000, Genge 2000, Sánchez 2002. Zu Körperkonzepten allgemein vgl. Hübler 2001. 2 6 0 Nur bei der Marionette und im Schattentheater sind diese natürlichen Nebenbedeutungen kontrollierbar. Vgl. in diesem Zusammenhang Konzepte Kleists, Appias, Craigs oder Meyerholds zu einem Theater ohne menschliche Körper (dazu Krysinski 1998a). Fischer-Lichte/ Fleig 2 0 0 0 sehen Körper als Material und als Medium an. Zum Verhältnis Körper als konkretes Material vs. semiotisierter Körper vgl. auch den Sammelband Fischer-Lichte/Horn/Warstat 2001. Vgl. auch Versuche des mime corporel, Darstellungsvorgänge auf der Bühne von der individuellen Erscheinung des Darstellers abzulösen (Cramer 2001: 5). 261 Vgl. Decroux' Versuche, den Schauspieler als Skulptur einzusetzen (Cramer 2 0 0 1 : 78-81). 2 6 2 Vgl. den Sammelband Bayerdörfer 2 0 0 2 und darin Hartwig 2002b. Barthes spricht in Le graiti de la voix (1984) von der Körnigkeit der Stimme als Körperindiz. Poschmann nennt Klang und Atem den „Kreuzungspunkt von Symbolischem (Sprache) und Imaginärem (Körper des Sprechenden)" (1997: 333). Zur ,Intervokalität' und zum Verhältnis von Stimme als Dialog mit Körper, Sprache, Soma und Psyche vgl. Finter 2002.
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Bei der Rezeption verschmelzen im Normalfall verbale und nonverbale Bühnenelemente zu einer stimmigen Situation, einer ganzheitlichen Wahrnehmung. Stimmigkeit bedeutet Ordnung, die den Eindruck von Konsistenz erzeugt, narrativ (.Geschichten), visuell (.Gestalten) und/oder akustisch (Harmonien). Kognitive und affektive Bedeutungen befinden sich im Einklang.263 Stimmigkeit und Unstimmigkeit sind der Konsonanz oder Dissonanz eines Orchesterspiels vergleichbar und können daher auch in Begriffen der Spannung bzw. Spannungslösung gesehen werden.264 Der Eindruck von (Un)Stimmigkeit entsteht aufgrund von latenten und manifesten, sozialen und individuellen Bezugssystemen, bei denen auch die historisch gültige Norm des Theatersystems eine Rolle spielt.265 Verbale und nonverbale Zeichen stehen in einem regelhaften Zusammenhang, weil sie im Prozess des Spracherwerbs regelhaft miteinander verknüpft wurden. Daher kann man von der Kongruenz zwischen Sprache und Handlung/Emotion sprechen. Die Kongruenz von Verbalem und Nonverbalem wird anhand sozialer Normen festgestellt. Viele nonverbale Elemente (Mimik, Gestik, Musik etc.) können daher wie Sprache benutzt werden.266 Stimmigkeit von
263 Vgl. Hiß: „In jedem Wahrnehmungsaugenblick verarbeiten wir gleichzeitig Zeichen, die völlig unterschiedlichen Formzusammenhängen angehören, und die uns über unterschiedliche Sinneskanäle erreichen. Und wir werden in den meisten Fällen [...] dies Disparate und Vielschichtige zu synthetischen Eindrücken, zu Korrespondenzen, verarbeiten" (1993: 31). Vgl. Karabalid 1994: 16f. Ciompi spricht von der Psyche als einem kognitiv-affektiven Doppelsystem: Beide Komponenten, Kognition und Affekt, gehören im Normalfall untrennbar zusammen, d. h. sie bestärken und bestätigen sich gegenseitig (1998: 217). Wird das Erleben als stimmig erfahren, so stellt sich ein Gefühl von Angemessenheit ein (Schmidt 1992: 326). Zur Stimmigkeit vgl. Stadler/Kruse/Carmesin 1996: 332. 264 Für Ciompi ist Stimmigkeit Spannungsreduktion (1998: 95; 173; 398f.). Zu sympathicotonen oder parasympathicotonen (angespannten oder entspannten) Grundbefindlichkeiten des Menschen vgl. Ciompi 1997: 67; vgl. auch Ulich/Mayring 1992: 118, Kohut 1996: 96. Schmidt spricht von einer „psychischen Äquilibrierungsdynamik" (1992: 299). Euler nennt Symmetrien und Harmonien „nicht zufällige Epiphänomene unseres Wahrnehmungssystems, sie Uegen in der Logik der Selbstorganisation" (1990: 55). 265 Für Unstimmigkeiten gilt also das Gleiche wie fiir Dissonanzen in der Musik: Sie können nur innerhalb eines festgelegten Systems von Normen definiert werden (vgl. zur Musik Ballstaedt 1991: 368). Singen ist z. B. in der Oper nicht eigens zeichenhaft, da es nicht fakultativ ist, in einem Theaterstück indes sehr wohl. Die antike Rhetorik etwa sah in der pronuntiatio .angemessene' Gesten vor. Zur .richtigen' Verbindung von Zeichen und Gefühlen aus historischer Sicht vgl. Fischer-Lichte 2001: 154f. Dies Gefühl für Stimmigkeit erinnert an so genannte Nullpunktbildungen in der Wahrnehmung, kontextspezifische Referenzpunkte, anhand derer eine Gesamtwahrnehmung aufgebaut wird. Vgl. Stadler/Kruse 1992: 140. Zum theatralischen Code als System und als Norm vgl. Fischer-Lichte 1995a: 71; 1998: 191. 266 Zu direkten sprachlichen Übersetzungen nonverbaler Akte vgl. Hübler 2001, vor allem die Kapitel „Der Körper als Teil von Sprache" (2001: 82-120) und „Die Zivilisierung des Nonverbalen" (2001: 171-218). Vgl. auch Scherer 1984a, Schönherr 1997: 206-213. Eco beschreibt z. B. musikalische Syntagmata mit ausdrücklich denotativem Wert wie Trompetensignale oder Musik mit „kulturell verfestigtem konnotativem Wert" wie die Hirtenmusik
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Eindrücken wird demzufolge in erster Linie danach beurteilt, ob sie in erwarteten Kontexten in erwartbarer Form auftreten. Daher gibt es auch gewohnheitsmäßige Koppelungen, z. B. sprachliche Inhalte und Stimmqualitäten. 267 Eine Verletzung solcher Regeln fuhrt zu Unstimmigkeiten und letztlich zu einer paradoxen oder kontingenten Beurteilung der Wahrnehmung. Unstimmigkeit/Kanaldiskrepanz 268 entsteht, wenn nonverbale und verbale Zeichen nicht miteinander in Einklang gebracht werden können, nicht einmal auf einer Metaebene. 269 Ist dies auch nach Abschluss der Rezeption nicht möglich, kann von SI gesprochen werden. In diesem Fall qualifizieren die Textelemente einander auf eine mehrdeutige oder widersprüchliche Weise. Dies geschieht besonders deudich in dem aus der Psychologie bekannten double bind, bei dem zwei widersprüchliche Wahrnehmungen zugleich auftreten. „Die Theorie des ,double bind', die Schizophrenie und ihre Genese erklären soll, besagt gerade, daß Objektund Metaaussage einander negieren und keine Möglichkeit zur Auflösung auf der Metaebene besteht" (Schlieben-Lange 1975a: 192).270 Die Rezeption verbaler und noverbaler Elemente des Bühnentextes ordnet diese ein zwischen den Polen Symbol und Materie, Darstellung und Authentizität, Zeichen und Präsenz, Repräsentation und Präsentation. Riten und Improvisationen markieren den einen oder den anderen Pol. SI entstehen dort, wo der Bühnentext
267
268 269 270
(1994: 22). Zu Handbewegungen mit einem kulturell definierten Bedeutungsgehalt vgl. Wallbott 1984a: 103f. Zu interkulturellen Unterschieden in Körperhaltung und -bewegung vgl. Wallbott 1984b: 147f., Lenk 1991: 122. Zu Mimik, Gestik und Körperhaltung vgl. Wallbott 1984; 1984a; 1984b. Stimmigkeit zwischen den einzelnen Bühnenelementen schaffen u. a. auch suprasegmentale Einheiten, die über einzelne Konfigurationen hinweg den Zusammenhalt des gesamten Textes garantieren: Farbwahl, Rhythmus, die Wahl spezifischer Formen oder Materialien im Bühnenbild oder auch eine charakteristische Diktion. Vgl. Stadler/Kruse 1992: 140 und Goldstein 1997: 189. Auch jede Objektklasse hat ihr eigenes Bezugssystem: Eine gelbe Banane ist stimmig, eine blaue unstimmig, denn das Weltwissen sieht bestimmte Kombinationen nicht vor. Daher kann überhaupt nur eine „composition paradoxale" entstehen, wie z. B. Meyerholds blaue Sonne und sein orangefarbener Himmel (vgl. dazu Pavis 1996: 65). Nöth spricht von „prototypische[n] semiotische[n] Sichtweisen" fur Objekte (1990: 249). Nach der Definition bei Eco (1999: 19) untersucht die Paralinguistik suprasegmentale Merkmale und freie Varianten, welche die sprachliche Kommunikation unterstützen. Zu suprasegmentalen Einheiten vgl. Eco 1994: 21. Kanaldiskrepanz ist die „Übermittlung von Zeichen mit widersprüchlichen oder einander ausschließenden Bedeutungen in verschiedenen Kanälen" (Scherer 1984: 24; vgl. auch 1984b: 114). Ein Widerspruch zwischen der Bedeutung der verbalen und derjenigen der nonverbalen Zeichen kann in eine Synthese münden; Vorschläge nennt Fischer-Lichte 2001: 208. Zum Begriff double bind vgl. Bateson 1983: 276f., Bateson/Jackson/Haley/Weakland 1969a: 16-18, Ciompi 1998: 205-220. Scherer spricht vom Auseinanderklaffen von Inferenz und Evidenz (1984a: 28). Zur paradoxen Handlungsaufforderung im double bind\$. auch Simon 1992a.
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CHAOS UND SYSTEM: STUDIEN ZUM SPANISCHEN GEGENWARTSTHEATER
zwischen Zeichenhaftigkeit und Materialität schwankt. Die Frage: Was ist kodiert und was ist nicht kodiert? (also: Was ist kommunikativ? Oder bezüglich des Schauspielkörpers: Was ist Verkörperung und was ist Darstellung?) ist dann unentscheidbar, so dass die Grenze zwischen Wirklichkeits- und Fiktionsebenen verschwimmt.
3.3
DIMENSIONEN DER SYSTEMINTERFERENZEN
3.3.1
LEITDIFFERENZEN UND SYSTEMDIMENSIONEN
Am Anfang ist die Differenz - in der Systemtheorie beginnt alle Beobachtertätigkeit mit einer Unterscheidung, also mit dem Ziehen einer Grenze, und der Bezeichnung einer der beiden Seiten. Wird ein Text als System angesehen, dann sind die einzelnen Kommunikationsbeiträge dessen Elemente, für die gilt: Eine Kommunikation teilt die Welt nicht mit, sie teilt sie ein. Wie jede Operation [...] bewirkt die Kommunikation eine Zäsur. Sie sagt, was sie sagt; sie sagt nicht, was sie nicht sagt. Sie differenziert. Wenn weitere Kommunikationen anschließen, bilden sich auf diese Weise Systemgrenzen, die den Schnitt stabilisieren. (Luhmann 1997: 7)271 Kommunikation ist in dieser Sichtweise Selektion aus einer unendlichen Menge von Alternativen, eine Voraussetzung für Komplexitätsreduktion und Ordnungsbildung (vgl. Luhmann 1989: 27). Die Beobachtung von Selektionen soll die Grundoperation der folgenden Textanalysen sein. Dabei wird von drei Unterscheidungen ausgegangen, die sich an Luhmanns drei Sinndimensionen eines Systems orientieren: Sach-, Zeit- und Sozialdimension. Diesen können je eigene SI zugeordnet werden: — SI der Sachdimension entstehen, wenn eine konsistente Innen-AußenUnterscheidung nicht möglich ist, d. h. wenn die Zurechnung von Kommunikationsbeiträgen zu Fiktionsebenen problematisch wird; — SI der Zeitdimension entstehen, wenn eine konsistente Vorher-NachherUnterscheidung nicht möglich ist, d. h. wenn die Zurechnung von Kommunikationsbeiträgen zu Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft nicht erfolgen kann;
271
Luhmann erläutert: „Beobachtung soll jede Art von Operation heißen, die eine Unterscheidung vollzieht, um deren eine (und nicht deren andere) Seite zu bezeichnen. Mit der Abhängigkeit der Bezeichnung von einer Unterscheidung ist die Bezeichnung selbst kontingent gegeben, denn mit einer anderen Unterscheidung bekäme das Bezeichnete selbst (auch wenn es den gleichen Namen haben würde) einen anderen Sinn" (1992: 98).
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— SI der Sozialdimension entstehen schließlich, wenn eine konsistente Konsens-Dissens-Unterscheidung nicht möglich ist, d. h. wenn eine Zurechnung von Kommunikationsbeiträgen zu Leitdifferenzen eines Textes anhand einer Einteilung der Kommunikationsbeiträge in Konsens und Dissens verhindert wird.272 Die Analyse gemäß dieser drei Dimensionen sagt nichts darüber aus, wie die Textelemente selbst beschaffen sind — etwa ob sie der Alltagskommunikation ähneln oder eher phantastisch wirken (auch wenn solche Beobachtungen natürlich in die Konstruktion von Sach-, Zeit- und Sozialdimension einfließen). Sie konzentriert sich vielmehr auf deren Beziehungen: Innen vs. Außen, Vorher vs. Nachher, Konsens vs. Dissens. Da die Theorie sich nur auf Differenzen bezieht, sind die drei Dimensionen der SI keine Umbenennung der traditionellen dramatischen Kategorien Raum, Zeit und Handlung: Diese sind vielmehr in jeder der drei Dimensionen von SI enthalten. Bei den SI der Sachebene interessiert nur die Abgrenzung von System und Umwelt(en), bei den SI der Zeitebene nur die eindeutige chronologische Beziehbarkeit der Situationen/Kontexte aufeinander und bei den SI der Sozialebene die Regelhaftigkeit in der Zuordnung von Kommunikationen zu Leitdifferenzen. Wie die Figuren-, Zeit-, Raum- oder Handlungskonzeption, an sich' ist, wird unter diesem Blickwinkel nicht relevant. .Handlung' z. B. erscheint nicht als zusammenhängende Größe, sondern unter dem Aspekt der VorherNachher-Relation, ist jedoch auch in der Innen-Außen-Differenz oder in der Konsens-Dissens-Differenz enthalten, insofern sie Aufschlüsse über Fiktionsebenen und Zuordnungen zu Leitdifferenzen gibt. Auch die Figur steht im Schnittpunkt der drei Sinndimensionen und wird daher bei allen drei Beschreibungen berücksichtigt. Der Eindruck von Figurenidentität entsteht nämlich, wenn die Sach-, Zeit- und Sozialdimensionen des Textes so organisiert werden, dass die einzelnen Kommunikationsbeiträge widerspruchsfrei Sprechern zugeord-
272 Die Unterscheidung erinnert an die Kategorien Ikon, Index und Symbol, die Charles Sanders Peirce gemäß der Relation zwischen Zeichenträger und Objekt als die drei Grundfunktionen des Zeichens unterscheidet (vgl. Peirce 1986/90; dazu Nöth 1985: 95). In einem ersten Entwurf der Theorie sollte tatsächlich von ikonischen, indexikalischen und symbolischen SI die Rede sein. Dieser metaphorische Gebrauch der Begrifflichkeit ist durchaus schon bei Peirce selbst angelegt, denn nicht Objekte sind ikonisch, indexikalisch oder symbolisch, sondern Bezüge, da Zeichenverwendung nach Peirce ein „Prozeßdes In-Beziehung-Setzens" ist (vgl. Boeckmann 1994: 55; 43; 174). Doch stellt sich das Problem der Referenz, denn Peirces drei Grundtypen von Zeichen unterscheiden sich in der Art des Bezuges zwischen bezeichnetem Objekt (Signifikat) und bezeichnendem Objekt (Signifikant). Die konsequente Anbindung der SI-Theorie an die Luhmannsche Systemtheorie klammert indes die Frage nach der Relation von Zeichen und Objekt aus, da für Luhmann .Wirklichkeit' mit dem Akt des Unterscheidens beginnt. Zwar hätten die drei Peirceschen Kategorien als „Grundtypen des Verweisens" (und nicht als Grundtypen des Zeichens!) verwendet werden können; um Verwirrungen verschiedener Konzepte zu vermeiden, ist jedoch den schwerfälligeren Bezeichnungen „SI der Sachdimension", „SI der Zeitdimension" und „SI der Sozialdimension" der Vorzug gegeben worden.
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net werden können.273 Daher muss eine fehlende Vorgabe von Sprechinstanzen nicht zwangsläufig dazu fuhren, dass ein Text keine abgrenzbaren Figurenidentitäten enthält. Ahnliches gilt für Raum und Zeit: Sie gewinnen Konturen über die Bezugnahme der einzelnen Kommunikationsbeiträge aufeinander. Direkte Orts-, Zeit- und Figurenangaben (etwa in einer Didaskalie zu Beginn des Textes) bürgen allein noch nicht für die Systemhaftigkeit eines Textes, denn nachfolgende Kommunikationen können diesen ersten Angaben widersprechen. Umgekehrt zieht auch das Fehlen derartiger konkreter Angaben zu Beginn des Textes nicht zwangsläufig Systemlosigkeit des Textes nach sich, denn präzise indirekte Angaben in den Kommunikationsbeiträgen können sie im weiteren Verlauf des Textes ersetzen. Einer Textanalyse, die sich auf die SI-Theorie stützt, geht es also darum, Relationen zwischen allen Kommunikationsbeiträgen zu beschreiben und auf ihre spezifische Organisation hin zu untersuchen.274 Mit Unterscheidungen werden die Kommunikationen eines Textes jeweils der Sach-, Zeit- und Sozialdimension zugerechnet. Diese Unterscheidungen können explizit oder implizit bleiben. Explizite werden direkt kommuniziert, implizite über Schemata, frames oder Assoziationen konstruiert, die mit den einzelnen Kommunikationsbeiträgen verbunden sind. Je expliziter die Unterscheidungen im Text markiert sind,275 desto mehr lenkt der Text den Aufbau eines spezifischen Systems. Selbstverständlich bedingen sich die drei Sinndimensionen gegenseitig, und nur zu Analysezwecken werden Einstiegspunkte gewählt, damit die Beobachtung beginnen kann.276 Dabei wird eine Sinndimension hervorgehoben, während die 273 Vgl. Krieger: „Mitteilungen werden Akteuren oder, wie Luhmann sagt, .Personen zugeschrieben, die kommunikativ gerade zu diesem Zweck vom System konstruiert werden. Es ist also Kommunikation, die Personen konstruiert, und nicht umgekehrt" (1996: 103f.). Luhmann erläutert: „Alle semantischen Beschreibungen der Sozialdimension über Formen wie Ego/Alter oder Konsens/Dissens sind dann bereits Konstruktionen eines solchen Systems des Beobachtens von Beobachtungen. Sie externalisieren und beschreiben die Probleme der Sozialdimension, indem sie das, was zunächst ein Problem der Anschlußfähigkeit und Autopoiesis der Kommunikation ist, auf Personen zurechnen und so darstellen, als ob es um psychisch verankerte Meinungsunterschiede gehe" (1998: 114). 274 Textanalyse wird dabei zur Beschreibung der möglichen Konstruktion eines Gesamtsystems, und dabei gilt, dass die Elemente des Systems diejenigen Operationen sind, die das System von allen anderen Systemen unterscheiden (vgl. Baecker 1992: 231). 275 Explizite Angaben sind z. B. Alters- und Berufsangaben zu Figuren, Benennungen von Orten oder Zeitpunkten oder eine charakteristische Wortwahl in den Kommunikationsbeiträgen (z. B. FachVokabular). 276 Vgl. dazu Gripp-Hagelstange: „Die Beobachtung muß als formgebendes Moment verstanden werden. Uber sie bzw. über die bezeichnete Seite der Unterscheidung wird bewirkt, daß nicht mit einer beliebigen nächsten Operation weitergemacht, sondern daß an der Innenseite der Form angeschlossen wird, und so aus der rekursiven Vernetzung der Beobachtungsoperationen strukturierte Geschehenszusammenhänge entstehen können, deren Grenzen dann einschränken, was in den jeweiligen Systemen beobachtet werden kann" (1997: 45).
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beiden anderen zum unspezifischen Hintergrund werden,277 d. h. die Beschreibung einer Dimension hat die Unschärfe der anderen zur Folge.278 Die Unterscheidung zwischen den Systemdimensionen ist also nicht substantiell, sondern strategisch-konzeptionell, denn die Beschreibung der Systemdimensionen soll der Operationalisierung der SI-Theorie dienen, also Verfahren der Beobachtung bereitstellen. Die Illustrierung der theoretischen Annahmen erfolgt im Anschluss an die Beschreibung der jeweiligen Sinndimension, indem an mehreren Texten aufgezeigt wird, wie sie jeweils ,aus dem System heraus' fuhren, nämlich Interferenzen erzeugen, welche die Konstruktion eines Textsystems verstören. Abschließend wird das Wechselspiel der einzelnen Analyseebenen beleuchtet. Bei den Textbeispielen handelt es sich um einen exemplarischen Uberblick, der das Anwendungspotential der Theorie verdeutlicht, nicht jedoch Aussagen über die Repräsentativität der Texte trifft. Die Beispieltexte sollen lediglich zeigen, welche verschiedenen ,Muster' im spanischen Gegenwartstheater erzeugt werden, und angesichts der überwältigenden Materialfiille kann dies nur in Form einer .Landkarte' geschehen, die Orientierungspunkte anzeigt.279 Diejenigen Texte wurden ausgewählt, an denen ein Sachverhalt prägnant gezeigt werden kann, da in erster Linie deutlich werden soll, welche Unterscheide in der Nutzung von Ellipsen, von SI als ,Störeffekt' und von SI als .Konstruktionsprinzip' bestehen.280 Die Auswahl erfasst dabei nur einen winzigen Ausschnitt des Alternativtheaters, also nur einen Sektor, in dem potentiell die meisten Innovationen und Strukturvarianten auftreten. Die gesamte Produktion der kommerziellen oder öffentlichen Theater ist damit nicht berührt.
277 Dies erinnert an die ceteris-paribus-Kiausel in den Naturwissenschaften, die bei Experimenten zwischen veränderbaren Variablen einerseits und als konstant gesetzten sonstigen Einflüssen andererseits unterscheidet. 278 Dass verschiedene Größen nicht gleichzeitig genau bestimmt werden können, erinnert an die Grundaussage in Werner Heisenbergs Unschärferelation, welche besagt, dass die Art der Fragen entscheidet, wie sich ein Untersuchungsobjekt zeigt, „da im atomaren Bereich durch die Messung eines Phänomens immer zugleich eine Veränderung des gemessenen Phänomens bewirkt wird" (Gripp-Hagelstange 1997: 22; vgl. auch Ciompi 1988: 106, Kratky 1990: 7, an der Heiden 1996: 117, Wrobel 1997: 96). 279 So verweist Schulze auf die theoretische Sättigung', die einen Darstellungszusammenhang bereits mit einem Bruchteil des Materials abdeckt: „[...] je mehr Material man hinzufügt, desto geringer wird der zusätzliche Informationsnutzen. Theoretische Sättigung ist erreicht, wenn sich an den Hauptaussagen nichts mehr ändert" (2003: 359). 280 Ein Blick auf die Inszenierungspraxis anhand ausgewählter Bühnentexte des Festivals Escena
Contemporánea
(2001, 2002 und 2003 in Madrid) und der Muestra de Teatro
(2001, 2002 und 2003 in Alicante) vervollständigt den Gesamteindruck.
Contemporáneo
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CHAOS UND SYSTEM: STUDIEN ZUM SPANISCHEN GEGENWARTSTHEATER
3.3.2
D I E SACHDIMENSION
3.3.2.1
INNEN
VS. AUßEN
Systeme müssen sich gegen eine Umwelt abgrenzen. Auf das Textsystem übertragen heißt das, dass die einzelnen Kommunikationen auf Sprechsituationen verweisen, die aus einer unendlichen Zahl von Alternativen ausgewählt wurden. Die gewählten Möglichkeiten bilden das System; der Rest ist Umwelt. Die Errichtung von Grenzen, die Innen und Außen voneinander unterscheiden, konstituiert die Sachdimension eines Systems: [Die Sachdimension] beruht auf Unterscheidungen dessen, was Gegenstand einer Beobachtung ist: dieser und nicht jener markierte Raum, dies und nicht das, dieses Thema oder dieser Gedanke und nicht jenes Thema oder jener Gedanke. (Krause 1999: 176)281 Jeder Sprechsituation schränkt die Möglichkeiten der Kommunikationsbeiträge ein und legt eine Fiktionsebene fest. Sie zeichnet also Erwartungen betreffs der Art der Kommunikationsbeiträge und deren Kombinationen vor. Wollte man die Textorganisation mit einem Schachspiel vergleichen, so wäre die Sachdimension die Musterung des Spielbretts und die Form der verschiedenen Spielfiguren. Damit der gesamte Text als System angesehen werden kann, müssen die Sprechsituationen in sich kohärent sein und in einem eindeutigen Verhältnis zueinander stehen. Die Schemata und frames, welche die Kommunikationsbeiträge evozieren, müssen daher hinreichend kompatibel sein, d. h. es muss Kontiguität zwischen ihnen bestehen. Gibt ein Text z. B. Berufs- und Altersbezeichnungen von Figuren an, werden damit frames aufgerufen (etwa bei cirujano ,Krankenhaus'), die durch weitere Kommunikationsbeiträge, z. B. in Sprachwahl/Stil, abgestützt werden können. Eine konsistente Innen-Außen-Unterscheidung liegt vor, wenn alle Kommunikationsbeiträge auf einen gemeinsamen Kontext (im vorliegenden Beispiel,Krankenhaus') bezogen werden können. Es liegt auf der Hand, dass bei der expliziten Nennung von Ort und Zeit sowie bei Charakterisierungen der Figuren durch den Nebentext die Konstruktion von Situationen und Kontexten stärker gelenkt und vereindeutigt wird, als wenn die Komponenten der Situationen erst aus den Kommunikationsbeiträgen herausgefiltert werden müssen. Dies ist aber noch keine Vorentscheidung bezüglich der Systemhaftigkeit des Textes. Denn fehlende oder unterspezifizierte Sprecherangaben (wie Bindestriche, Großbuchstaben oder ein generisches El/Ella) ziehen nicht automatisch SI auf der
281 Vgl. Berghaus: „[Sinnvollerweise] wird immer nach innen/außen unterschieden, das heißt was dazugehört und was nicht; um welche Themen es gerade geht versus nicht geht" (2003: 112).
SYSTEMINTERFERENZEN
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Sachebene nach sich. O b die Sachdimension eines Schrift- oder Bühnentextes konstruiert werden kann, hängt nämlich davon ab, o b insgesamt eine stabile Innen-Außen-Grenze konstruierbar ist. D a K o m m u n i k a t i o n e n eines Textes i m m e r auch Mitteilungen sind über die Art, wie das Mitgeteilte zu verstehen ist, müssen zu Sprechsituationen ,Auslegevorschriften' für Kommunikationsbeiträge konstruiert werden, die o f t die entsprechende Fiktionsebene konstituieren: [D]ie primäre Aufmerksamkeit, mit der sich die Interaktionspartner gegenseitig ihrer Handlungen und den darin verwendeten Zeichen und Gesten zuwenden, [gilt] immer der Entschlüsselung jener Auslegungsvorschriften, durch die jene Handlungen und Äußerungen einem bestimmten Relevanzsystem zugeordnet werden und einen bestimmten Wirklichkeitsakzent erhalten. (Soeffner 1986: 83) 282 In jeder K o m m u n i k a t i o n werden fiktionale u n d logische E b e n e n unterschieden. D a s bedeutet, dass auch die Situationen i m m e r einen spezifischen M o d u s aufweisen: S o können sie der Realität, aber auch der Erinnerung, d e m T r a u m , der Phantasie, d e m Wunsch, der Spaß- oder der Spielwelt zugeordnet werden. 2 8 3 D i e Innen-Außen-Grenze ist stabil, wenn i m m e r nur eine der beiden Seiten (Traum oder Realität, W u n s c h oder Wirklichkeit, Phantasiewelt oder Alltagswelt) bezeichnet wird oder wenn S p r ü n g e in den E b e n e n klar markiert sind. 2 8 4 A n h a n d der Bereiche, a u f welche die K o m m u n i k a t i o n s b e i t r ä g e verweisen (z. B . Alltag, Science Fiction, Märchen), 2 8 5 u n d a u f g r u n d der Z u s c h r e i b u n g von Selbst- u n d Fremdreferenz (Zuschreibungen z u m Sprecher verraten eine subjek-
282 Literarische Texte stehen, in der Terminologie von Sottong/Müller, im medialen Modus: Äußerungen in diesem Modus „sind nur mittelbar, unter Anwendung gattungsspezifischer Transformations- oder Interpretationsregeln, auf die Realitätskonzeption bezogen; der Rezipient weiß bei einer derartigen Äußerung, daß sie nicht im selben Sinn wahr/adäquat bzw. falsch/inadäquat sein kann wie eine Äußerung im immediaten Modus" (1998: 107). 283 Der hier benutzte Begriff Modus ist nicht zu verwechseln mit Genettes (1972: 184) Begriff mode, der eine Perspektive auf das Geschehen innerhalb einer Erzählung bezeichnet. Hier geht es indes um Modalitäten wie Erinnerung, Vorstellung, Traum und Wachbewusstsein (vgl. zu diesen Laing 1974: 31, Müller 1984: 106). Zur Fiktionsebene des Traumes im spanischen Gegenwartstheater vgl. Fritz 1996. 284 Ebenenwechsel können deutlich markiert werden, z. B. durch die Ankündigung oder nachträgliche Erläuterung eines Spiels-im-Spiel, einer Parodie, einer ironischen Aussage, eines Spaßes, einer Intrige oder eines Täuschungsversuchs. Die Alltagssprache enthält eine Fülle von Indikatoren, die den Modus von Äußerungen anzeigen, Signale „der Identifikation von Mitteilungen", anhand derer „zwischen Tatsache und Phantasie, zwischen Buchstäblichem und Metaphorischem" unterschieden wird (Bateson 1983: 268). 285 Themen werden über wiederholte Selektivität als solche identifizierbar (vgl. Schmidt 1993a: 265).
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tiv-innere, Zuschreibungen zur Umwelt des Sprechers eine äußere Sichtweise) konstruiert der Rezipient eine kohärente Ebene, auf der die Sprechsituation situiert wird. Können die Kommunikationsbeiträge in kompatiblen frames organisiert werden und ergeben sich klar unterscheidbare Fiktionsebenen, kann man von einer stabilen Innen-Außen-Grenze reden: Der Rezipient weiß dann, auf welcher Ebene er den Text zu lesen hat. In dieses Wissen fließen natürlich auch Einschätzungen von Gattungen, Rede- und Stilformen ein (vgl. Schmidt 1992: 304). Die Charakteristika einer Fiktionsebene sind fiir die Sachdimension nicht wichtig: So kann ein Text Reales oder Fiktives verhandeln, Historisches oder Zeitgenössisches, Alltagsmenschen oder Marsmännchen umfassen — für die Konsistenz der Sachdimension ist nur entscheidend, ob die Fiktionsebene(n) in sich kohärent ist (sind) und ob eventuelle Wechsel zwischen Ebenen hinreichend markiert sind, so dass deren Beziehungen untereinander immer eindeutig bleiben. Ist eine Situation unterspezifiziert, kann auch ihr Fiktionsgrad kontingent werden: Wenn nichts ausgeschlossen ist, ist alles möglich, und die Kommunikationssituation hebt sich nicht klar von ihrer Umwelt ab. Dies ist oft der Fall, wenn die Kommunikationsteilnehmer nicht charakterisiert werden, der Kommunikationsort ohne Konnotation bleibt und die Kommunikationen hochgradig metaphorisch sind. Enthalten die Kommunikationsbeiträge zu viele assoziative Gedankensprünge,286 zerfällt die Einheit der Situation. Fiktionsebenen können explizit durch Kommunikation über Kommunikation unterschieden werden. Solche Kontextmarkierungen (Bateson 1993: 146) sind indes hochgradig anfällig fiir Paradoxien, da sie zirkulär aufeinander verweisen: Eine Aussage über eine Situation ist Teil der Situation und steht damit weder innerhalb noch außerhalb derselben, so dass bei Vorliegen eines Widerspruches keine Möglichkeit besteht, diesen anhand der Aussage oder der Situation zu lösen, denn es gibt keine Hierarchie zwischen ihnen.287 Die Sprechsituation selbst ist dann undefinierbar. Die Überlagerung eines inneren und eines äußeren Kommunikationssystems — die übrigens mitnichten ein Spezifikum der Gattung Drama ist288 — kann dazu
2 8 6 Assoziationen folgen der räumlichen und zeitlichen Nähe und der Ähnlichkeit, haben aber sprunghaften Charakter, d. h. sie begründen keine Linearität. 287 Das hier vorliegende Problem der Rückbezüglichkeit erinnert an die Vermischung logischer Ebenen, die der Mathematiker Bertrand Russell als Paradox der Aufhebung von Diskontinuität zwischen einer Klasse und ihren Gliedern formulierte. Zur Lösung des Problems legt Russell fest, dass alles, was sich auf eine Gesamtheit bezieht, nicht selbst Teil dieser Gesamtheit sein darf (vgl. Whitehead/Russell 1910-1913). Russell schaltet die Paradoxie also durch logische Hierarchisierung aus: Aussagen über eine Klasse haben einen höheren logischen Typus als Aussagen über die Elemente der Klasse. 288 In verwirrender Weise wird immer wieder die Unterscheidung zwischen innerem und äußerem Kommunikationssystem als Spezifikum der theatralen Situation genannt. Die Unter-
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genutzt werden, die Fiktionsebene einer Sprechsituation mehrdeutig zu machen. Eine für das Drama spezifische Grenze zwischen Fiktionsebenen ist die zwischen Bühne und Zuschauerraum. Jeder Einbezug des Zuschauers verunsichert diesen betreffs des Fiktionsgrades von Kommunikationen. Eine Wendung ad spectatores etwa oder die Thematisierung der Bühnensituation auf der Bühne (was die Kommunikationsbeiträge zugleich auf der Fiktionsebene der Bühne und auf der Realitätsebene des Zuschauers platziert) lassen die Aussagen zwischen zwei Ebenen oszillieren. Einen ähnlichen Effekt haben Improvisationen, die einerseits spontan sind, andererseits aber innerhalb einer Aufführung erfolgen und damit das Paradox der organisierten Spontaneität' hervorrufen. Noch komplizierter wird der Sachverhalt bei fingierten Improvisationen: Hier wird der Rezipient gleich mehrfach bezüglich der Grenze zwischen Realitäts- und Fiktionsebene verunsichert. Kontingenz entsteht immer, wenn Grenzen zwischen Aussagen und Aussagen über Aussagen verschwimmen, wenn also die Aussageebenen nicht deutlich unterschieden werden. Dies ist auch der Fall, wenn unklar bleibt, ob eine Aussage beschreibt oder deutet. Der Bühnentext kann eine kontingente Innen-Außen-Grenze dadurch erzeugen, dass nicht ersichtlich wird, ob die Elemente der Inszenierung der materiellen oder der zeichenhaften Wirklichkeit angehören, ob sie also als Symbol oder als bloßes Material genutzt werden. So kann z. B. Lärm wahrgenommen werden als unangenehmes Geräusch oder als ein Verweis auf Bedrohung. Bezüglich des Schauspielkörpers kann Unklarheit darüber bestehen, wo die Rolle aufhört und wo der authentische Schauspieler als individueller Mensch zum Vorschein kommt, was also theatral-distanziert und was echt ist. Die Grenzen zwischen ontologischen Ebenen überlagern sich, wenn der Schauspieler als Skulptur auftritt oder auf andere Weise als lebendes Objekt ausgestellt wird. Hier können widersprüchliche Lesarten erzeugt werden. In diesen Zusammenhang fällt auch der Einsatz von Medien, etwa wenn eine menschliche Stimme über einen Lautsprecher zu hören oder der Schauspieler auf einem Bildschirm zu sehen ist, wodurch eine virtuelle Ebene mit eventuell neuer Zeit- und Fiktionsstruktur eingeführt wird: Der Modus der Wahrnehmung und das Verhältnis des medialisierten Bühnenelementes zur konkreten Bühnenhandlung können hier u. U. schwer definierbar
Scheidung bezieht sich auf die zwei ineinander verschachtelten Kommunikationssituationen: die Bühnensituation als Kommunikation zwischen Schauspielern und die „Nachricht, die vom Autor, modifiziert durch den Regisseur, an das Publikum übermittelt wird" (Nöth 1985: 501). Diese vermeintliche Besonderheit des theatralen Textes ist bei näherer Betrachtung ein Konstituens aller literarischen Texte: Immer kommuniziert auch der Autor dem Leser seine Sicht, was besonders im Falle des unzuverlässigen Erzählens deutlich wird. Eine Doppelung in zwei Kommunikationssituationen ist folglich nicht dramenspezifisch. Vielmehr liegt literarischen Texten immer eine Doppelstruktur von direkter und indirekter Kommunikation zugrunde.
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sein.289 SI liegen vor, wenn ein ,unaufhörliches' Oszillieren zwischen verschiedenen Rezeptionsmodi in Gang kommt, so dass eine stimmige Konstruktion der Situation auf einer einzigen Fiktionsebene verhindert wird.290 Kontingenz entsteht, wenn offensichtlich verschiedene Fiktionsebenen vorliegen, diese aber nicht eindeutig aufeinander bezogen werden können, etwa wenn Didaskalien eigenständige narrative Einheiten darstellen und damit eine Kommunikationsebene in den Text einfuhren, die in keinem eindeutigen Verhältnis zum Haupttext steht.291 Paradoxie entsteht, wenn z. B. zwei Sequenzen eines Texts einander jeweils qualifizieren, wobei jede der anderen das Attribut .phantastisch', sich selbst das Attribut ,real' zuschreibt (vgl. die Textanalyse von Despedida IT) — es liegt dann eine ,seltsame logische Schleife' vor.292 Auch intertextuelle Verweise können Verunsicherung bezüglich des Gegenstandes der Kommunikation bewirken, dann nämlich, wenn der Rezipient nicht erkennen kann, ob sich Kommunikationsbeiträge auf den aktuellen Kontext oder auf den Bezugstext beziehen. Auch kann ein Text mit Erwartungen spielen, welche durch die Rezeptionsgeschichte eines Textes entstanden sind, etwa indem er sie stereotyp erfüllt oder gerade im Gegenteil grob konterkariert, so dass zugleich verschiedene Lesarten anklingen. Weder Spiel-im-Spiel-Techniken293 noch Intertextualität müssen indes zwangsläufig Kontingenz oder Paradoxien erzeugen: Sind Fiktions- und Zeitebenen untereinander eindeutig hierarchisiert, kann der Rezipient ein Textsystem erstellen. So können z. B. mythische Figuren und Alltagsmenschen durchaus miteinander reden, ohne dass die Sachdimension inkohärent ist; die gemeinsame Sprechsituation ist dann z. B. symbolisch zu lesen. 289 So schreibt Alcázar: „AI combinar la actuación en vivo con la imagen proyectada, el actor puede manifestarse en varios planos físicos y temporales. La imagen en video posibilita la multiplicación de espacios y tiempos [...]" (1998: 113). Zur Nutzung neuer Technologien im Theater vgl. Alcázar 1998: 103-114, Villegas-Silva 1998, Blas Brunei 2001, Villegas 2001: 14-16. 290 Zu Auflösungen der Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit vgl. das Kapitel „Dramaturgias de la complejidad: estrategias contaminantes" in Sánchez 1999: 169-196. Der Brechtsche Verfremdungseffekt ermöglicht z. B. dem Rezipienten, Fiktionsebenen klar zu trennen; allerdings können auch Oszillationen entstehen, wenn deutlich wird, dass „der Ernst des Spiels eben doch nur der Ernst eines Spiels" ist, wie Breuer über das epische Theater schreibt (2000: 140). 291 Vgl. z. B. Texte wie 013 varios: informe prisión (Premio Marqués de Bradomín 1987) von González und Sanguino (1998). Der Text enthält schlaglichtartige Sequenzen über Inhaftierte eines Gefängnisses, wobei die Didaskalien z. T. eigenständige poetische Erzählungen sind. Vgl. auch Chumilla Carbajosas (1987) Una acera en la pared: Die Didaskalien erzählen die Ereignisse aus der Perspektive des (personifizierten) Bildes, an dem der Maler gerade arbeitet. 292 Eine .seltsame Schleife' vermischt Hierarchien zwischen zwei in sich logischen Einzelepisoden, die aufeinander bezogen sind. Hofstadter nennt als Beispiel: „Der folgende Satz ist falsch. Der vorhergehende Satz ist richtig"; jeder Satz ftir sich ist harmlos, aber die Art, wie sie aufeinander verweisen, schafft eine Schleife (1985: 23). 293 Zu verschiedenen Formen des Spiels-im-Spiel vgl. Hornby 1986.
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Wahrnehmungselemente werden mehrdeutig bei .Orten in Bewegung', wenn Komponenten des Bühnenbildes verschieden funktionalisiert sind, die unterschiedlichen Bedeutungen jedoch gleichzeitig anklingen,294 oder bei Bühnenelementen, die gar nicht erst eine durchgehende Funktion haben und wie Spielzeug unterschiedlichste Objekte repräsentieren können.295 In diesen Fällen ist die Konstruktion einer festen Innen-Außen-Grenze nicht möglich. SI der Sachebene verhindern also die deutliche Absetzung eines Systems von seiner Umwelt (oder bildlich gesprochen: von Figur und Hintergrund), weil widersprüchliche oder zu viele Grenzziehungen (Gestalten) möglich sind.
3.3.2.2
W E G E AUS DEM SYSTEM: MARIANO ANÓS, EL AIRE ENTRE LAS PÁGINAS; ANTONIO MORCILLO, DESPEDIDA II; LEOPOLDO ALAS, ÚLTIMA TOMA
Im Folgenden seien drei Texte exemplarisch vorgestellt, die verdeutlichen, wie Unsicherheit bezüglich der Innen-Außen-Differenzierung eines Textsystems erzeugt werden kann. VERWEIS UND VERWEIS AUF VERWEISE: EL AIRE ENTRE LAS PÁGINAS
Mariano Anós' (2000) 296 Text El Aire entre las páginas kommentiert und variiert die berühmte Erzählung El libro de arena von Jorge Luis Borges, die er fast vollständig zitiert.297 El Aire entre las páginas hat dabei eine auffällige visuelle Auftei-
294 Jede Kommunikation und jedes Bühnenelement kann verschieden funktionalisiert werden; es kann seine Funktion auch von einer Sequenz zur nächsten wechseln, was allein noch nicht zu SI fuhren muss: So genannte Verwandlungsbühnen können z. B. Komponenten des Bühnenbildes mehrfach zu unterschiedlichen Zwecken nutzen, ohne dass dadurch die Texteinheit litte. In Yolanda Pallíns/José Ramón Fernández'/Javier Yagües (2002) Imagina etwa weist die Bühne Versatzstücke auf, die unterschiedliche Kontexte andeuten; zur Verwandlungsbühne von Imagina vgl. die Beschreibung in Hartwig 2004. 295 In Rodrigo Garcías Compré una pala en Ikea evozieren z. B. die Möbelstücke zu unterschiedlichen Zeitpunkten verschiedene Kontexte. Hier kann also nicht von einer kohärenten Innen-Außen-Differenzierung die Rede sein. Zu mehrdeutigen Bühnenelementen vgl. auch Fischer-Lichte im Zusammenhang mit Aufführungen Appias und Popovas (1997: 25). 296 Der Schauspieler, Regisseur, Schriftsteller und Maler Mariano Anós wurde 1945 in Zaragoza geboren, studiert Philosophie und Letras an der Universidad de Zaragoza und lehrt zur Zeit an der Escuela Municipal de Teatro de Zaragoza. Bislang hat er drei Texte verfasst, von denen zwei unveröffendicht sind. El Aire entre las páginas wurde von Citidad Interior Teatro unter der Regie von Luis Merchán im Jahr 2000 uraufgeführt. Der Text ist in einem Sammelband über Theater aus Aragón abgedruckt. 297 Vgl. Anós 2000a: 7. Gestrichen wurden die Einleitungsworte im Borges-Text, die Ausfuhrungen über den Bibelverkäufer (nur sein Satz „Mírela bien. Ya no la verá nunca más" wird zitiert; AP: 9), die Verkaufshandlung, einige Passagen aus der Mitte der Erzählung sowie der letzte Satz.
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lung: Typographisch können vier Arten der Textpräsentation unterschieden werden: Textblöcke, die nur in Großbuchstaben geschrieben sind (Typ I) und z. T. in Klammern und kursiv gesetzt sind (Typ Ia), solche, die kursiv geschrieben sind und in Klammern stehen (Typ II), solche, die hinter Spiegelstrichen stehen (Typ III), und kursiv gedruckte, eingerückte Textblöcke, die in Anführungszeichen stehen (Typ IV). Außerdem gibt es vier Zeilen, die nur aus Punkten bestehen, wobei jeweils am Ende die beiden Wörter „Se contará" erscheinen {AP: 10; 12; 14; 17). Das Ende des Textes bilden sechs Zeilen nur aus Punkten. Die vier Schriftarten legen nahe, vier Modi der Kommunikation zu unterscheiden: Die in Klammern gesetzten Textabschnitte (Typ Ia und II) könnten Szenenanweisungen sein,298 wobei nicht deutlich wird, warum einmal Groß- und einmal Kleinbuchstaben verwendet werden. Die Textblöcke in Großbuchstaben (Typ I) wirken wie Kommentare zu dem Borges-Text oder (selbstreferentiell) zu El Aire entre las páginas, was aufgrund der Metaphorik der Kommunikationsbeiträge unentscheidbar ist.299 Die Textblöcke, die mit Spiegelstrichen (.-) gekennzeichnet sind (Typ III), könnten als Repliken von Sprechern oder Textträgern verstanden werden (gemäß der traditionellen Angabe von Sprecherwechseln nach dem Muster ,Name.- '); sie umfassen meist nur kurze Sätze oder wenige Wörter und selten mehr als einen Satz; die meisten Repliken hinter den Spiegelstrichen bestehen aus nur einer Zeile. Auffällig ist bei den Kommunikationsbeiträgen des Typ III die hohe Frequenz an rhetorischen Fragen; viele Sätze brechen unvollständig ab, in einigen Fällen werden auch einzelne Wörter verstümmelt.300 Die kursiv gesetzten Textblöcke in Anführungszeichen schließlich (Typ IV) sind eine wörtliche, fast vollständige Wiedergabe des Borges-Textes El libro de arena. Die Zeilen, die nur aus Punkten bestehen, künden jeweils den nächsten Abschnitt aus dem Borges-Text an; die Wörter „Se contará" dieser Zeilen beziehen sich vermutlich auch auf den Borges-Text, wobei nicht ersichtlich wird, wer ihn zitiert und was der Sprechanlass ist. Die Situation ist also unklar: Liest jemand den Borges-Text vor und kommentieren ihn eine, zwei oder mehrere Personen? Führen die Figuren Handlungen aus? Wie stehen sie zueinander? Und was ist der Anlass des Kommentars? Verweisen alle Kommentare auf den Borges-Text oder verweisen sie auf die Variationen selbst, so dass sie Verweise auf Verweise sind? 298 Vgl. die jeweiligen Stellen: „(Ojos vendados.)" (AP: 9); „(SE HACE Y SE MUESTRA AL PÚBLICO.)" (AP: 10); „(ENTRE CARCAJADAS)" {AP: 11); „(Ceremonia)" {AP: 13). 299 Diese Textblócke erscheinen an zwei Stellen, am Anfang und im letzten Viertel des Textes (AP: 9; 16). Der erste Textblock lautet: „EL LIBRO DE ARENA ES LA HOGUERA DE LOS CÍRCULOS DE ARENA Y EL LIBRO DE ARENA ES EL PELLEJO DE LOS PÁJAROS DE ARENA Y EL LIBRO DE ARENA ES EL FANTOCHE DE LOS PÁRPADOS DE ARENA Y EL LIBRO DE ARENA ES EL TEATRO DE LOS CÓMICOS DE ARENA" (AP: 9). 300 Ein Satz lautet: „Recordé haber leído" (AP: 17); das direkte Objekt fehlt. Mitten im Wort endet z. B. der Satz „Nunca se rep" (AP: 18).
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Der Text endet mit kurzen, z. T. defektiven Sätzen, die jeweils hinter einem Spiegelstrich stehen; einige der Sätze sind wörtliche, aber unsystematisch aneinander gereihte Zitate des Borges-Textes. Hinter dem letzten Spiegelstrich erscheint kein Satz mehr, und das Ende von El Aire entre las páginas bilden sechs Zeilen, die nur aus Punkten bestehen: Zeichen für die Beliebigkeit der Anschlusssätze? Zeichen für die Endlosigkeit des Textes? Die Punkte deuten auf ein unspezifisches Weiterlaufen der Kommunikation hin. Eine Hierarchie zwischen den einzelnen typographischen Blöcken, etwa die Aufteilung in Haupt- und Nebentext, ist nicht erkennbar. Damit besteht keine Hierarchie zwischen Wirklichkeits- oder Fiktionsebenen.301 Der visuellen Absetzung der vier Typen voneinander entspricht keine Absetzung durch Art und Inhalt der Kommunikationsbeiträge. Diese haben weder ein einheitliches Thema noch bauen sie in Anschlusskommunikationen irgendwie logisch aufeinander auf. Nur Typ IV macht eine Ausnahme: Der Borges-Text ist eine zusammenhängende Geschichte, die einen klaren Handlungsablauf hat: Ein Mann kauft von einem fahrenden Händler ein außergewöhnliches Buch, das keinen Anfang und kein Ende hat und in dem niemals eine einmal aufgeschlagene Seite wiedergefunden werden kann. Das Buch fasziniert den Mann, ängstigt ihn aber bald, so dass er es absichtlich in der Nationalbibliothek liegen lässt. Alle Textpassagen vom Typ I bis III scheinen eine Umsetzung des Aufbaus dieses libro de arena zu sein, denn sie wirken wie zufällige Aussagen (ohne Anfang und Ende) mit Redundanzen, die auf keine erkennbare Ordnung verweisen. Alle Textblöcke könnten verschiedenen Sprechern oder nur einem einzigen zugerechnet werden. Bisweilen erscheinen Sätze in der ersten Person Singular oder Plural: Manche davon könnten Zitate von Figuren des Borges-Textes sein, etwa die erste Replik aus Anós' Text („[...] vendo, un libro [...]"; AP: 9) eine Aussage des Buchverkäufers. Die meisten Sätze sind jedoch derartig metaphorisch, dass Zuordnungen zu konkreten Sprechern äußerst vage bleiben. Vielfach erscheinen die Aussagen in der dritten Person Singular, sind sehr allgemein und z. T. nur assoziativ mit dem Borges-Text verbunden, der in Anführungszeichen wiedergegeben ist.302 Alter und neuer Text werden damit so ineinander verschachtelt, dass die zitierten Wörter in ihrer Bedeutung zu schillern beginnen, während die
301 Der Textblock, der am Beginn steht, wird z. B. an späterer Stelle wördich wieder aufgenommen, steht dann aber hinter einem Spiegelstrich {AP: 9; 13f.). Offensichdich handelt es sich um zwei verschiedene Darbietungsformen des Gesagten, wobei jedoch nicht deutlich wird, worin der Unterschied besteht. 302 Vgl. als Beispiel: „.- ,Todo fue inútil'. . - ,Que buscara la primera hoja'. . - Decimos: ,todo'. Decimos: ,1a primera. Decimos: .infinito'. Mentimos, y mentimos con la mayor desvergüenza" (AP: 11).
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Kommentare durch ihre Mehrdeutigkeit den Assoziationsspielraum noch erweitern.303 Der einzige Kontext, in dem die Kommunikationsbeiträge verankert sind und durch den sie an Kontingenz verlieren, ist der Borges-Text. Die Beziehung zwischen den Kommunikationsbeiträgen ist jedoch unklar. Kommunizieren die Kommentare (Typ III) mit dem Borges-Text oder über ihn (auf einer Metaebene)? 304 Viele hochmetaphorische Passagen bleiben mangels Kontext suggestive Aussage-Fragmente mit oft vor allem klanglicher Qualität, wie z. B. folgende Stelle: .- Era como si salieran del libro. .- ERA-COMO - SI - SALIERAN - DEL - LIBRO. .- E-RA-CO-MO-SI-SA-LIE-RAN-DEL-LI-BRO. (AP: 11) Die Wörter verlieren ihre Verweisfunktion und werden zu bloßem Material. Wo der Text sich selbst zu kommentieren scheint (was typographisch durch Großbuchstaben angezeigt wird), ist die Aussage durch dunkle Metaphern verschleiert, so dass die Bedeutung kontingent wird. Kommunikation geht an diesen Stellen in reines Klangspiel über: ES LA CEREMONIA DE LA TRITURACIÓN DEL LIBRO D E ARENA. ÉSTA ES LA CEGUERA DE LOS DIOSES. ÉSTA ES LA SORDERA D E LOS DEMONIOS. (AP: 16) Zahlreiche Anaphern, Wiederholungen und syntaktische Parallelismen unterstreichen den litaneiartigen Charakter des Textes. Der Rhythmus wird so wichtig wie oder gar wichtiger als die inhaltlichen Verweise.305 Die Rezeption schwankt damit beständig zwischen einer symbolischen Interpretation des Textes und einer reinen Wahrnehmung von dessen klanglich-rhythmischer Gestaltung.
303 Zusammenhängende längere Repliken wirken dabei wie hermetische Gedichte. Vgl. auch poetische Neuschöpfungen wie „Arenaloj" (AP: 14). 304 Manche Metaphern wirken wie Kommentare zum Text selbst, wie etwa: „El libro de arena es el libro de reclamaciones de la realidad" (AP: 15). Ein Satz scheint die Poetik des Gesamttextes zu sein: „Sólo el teatro sabe la fatiga infinita de burlar, de escamotear, de falsificar, de emborronar, de sabotear, de pisotear, de apestar la respuesta" (AP: 12). Anos kommentiert: „Quizá con engañoso aspecto de .escritura automática, el hermetismo del texto [...] no está pidiendo en absoluto ser ,explicado'. Se ocupa de suministrar a la escena una sucesión de impulsos que puedan servir para poner unos cuerpos en marcha en cierta dirección y mover ondas sonoras [...]" (2000a: 7). 305 Die Wiederholungen sind assoziative Klangspiele, die über Parallelismen die Aufmerksamkeit abwechselnd auf den Inhalt und auf den Rhythmus ziehen. Vgl. z. B.: „.- ¡Aquí la imprecación
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Durch fehlende Anschließbarkeit und eine Fülle von non sequitur sind die einzelnen Repliken auch in sich nicht konsistent. Bereits zu Beginn des Textes sagt ein ,Ich' von sich, es verkaufe ein Buch, verliert sich dann aber in Assoziationen, die sich Gestammel annähern: „Estoy, por decirlo así, aquí, supongamos, en este momento, de ninguna manera, vendo, un libro, algo, no soy, se contará" (AP: 9). Damit verlieren sich geordnete Gedankengänge in Assoziationen. 306 Auch die direkten Charakterisierungen der Sprechsituation sind metaphorisch verschlüsselt und können im Verlauf der Rezeption nicht konkretisiert werden. In den beiden Sätzen, die Ortsangaben erahnen lassen, wird auf eine Bühnensituation verwiesen: „Éste es el escenario del infinito" (AP: IO)307 und „Es el teatro del infinito" (AP: 11). Vage wird eine Bühnen- (Repräsentations-)Situation auch durch die Anrede an „señoras y señores" (AP: 11) sowie „(Ceremoniaj" (AP: 13) angedeutet. Die Benutzung des Wortes ,Ich' und die Anreden an ein ,Du' schaffen keine Klarheit bezüglich der Beziehung der Kommunikationsbeiträge zueinander, nicht einmal bezüglich der Sprecherzahl, und lassen damit keine Charakterisierungen der Sprechinstanzen zu, die wiederum Rückschlüsse auf den Fiktionsgrad der Sprechsituation erlaubten.308 Das ,Tú' ist unbestimmt: An einigen Stellen scheint es ein Kommunikationspartner zu sein, der zur Kommentarebene gehört; an anderen Stellen scheint mit ,Tú' das libro de arena angesprochen zu werden (AP: 15), und wieder an anderen Stellen bezieht sich die Anrede vermutlich auf José Luis Borges, auf den das Epitheton „ciego" hinweist.309 Bisweilen wird ein einziger Satz
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del libro sin principio y sin final!/.- ¡ Ahora la celebración del libro sin principio y sin final!" (AP: 13). Anós selbst sagt: „Hay un cierto tema y unas ciertas variaciones: un mecanismo que puede dar lugar a que algo ocurra. Oscilando impúdicamente de lo panfletario a lo enigmático, la técnica del texto se propone inducir una teatralidad que tal vez tenga derecho a llamar constituyente. Quiero decir deudora, más que de unas u otras convenciones estilísticas, de lo que son las exigencias más radicales, más elementales, de la situación escénica" (2000a: 8). Nach dem Zitat aus dem Borges-Text heißt es z. B.: „Nevermore, dijo el cuervo, dijo la pluma negra fuera del cuerpo, dijo sin voz la voz de tinta que se derrama por las heridas que son las heridas del hombre del libro de arena que eres tú, si eres algo" (AP: 9). Die Anspielung auf die berühmte Ballade Edgar Allan Poes, The Raven (1845), bleibt im Kontext unverständlich. Kurz vorher wurde jedoch gesagt: „El infinito es impresentable" {AP: 10). Durch die Kommunikation kommt also etwas zur Erscheinung, was selbst nicht darstellbar ist. So setzen sich in einer Passage ein ,Tu und ein ,Yo' wie folgt voneinander ab: „.- [...] Tú la página vuelta del libro de arena./Tú la manecilla de reloj de arena./Tú que vendes la imagen del ancla que se desvanece./[...]Tú que miente yo" (AP: 14); „ - Yo que mido la distancia entre las hojas./.- Yo que atribuyo cifras arábigas a las hojas./.- Yo que cuento las hojas./.- Yo el ancla yo la máscara./.- Yo que comprovendo" (AP: 16). Vgl. z. B.: „[El] hombre de arena que eres tú, si eres algo [...] tú, texto herido, [...] Tú, el que sólo imagina una pluma nunca vista [...] Tú, el ciego" (AP: 9); „El ciego, el impostor, dice con cautela: ,como si'" (AP: 11); „En primera línea de playa el ciego miente" (AP: 18), „Tú el ciego tú la falta de ti. [...] Tú el aparato digestivo de la ausencia" (AP: 17).
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auf mehrere Spiegelstriche verteilt; sollte es also tatsächlich mehrere Sprecher geben, so sind diese so konturlos, dass sie sich nicht als wirkliche Kommunikationspartner (Ego und Alter) voneinander absetzen lassen.310 Die zeitliche Relation zwischen den einzelnen Repliken ist dadurch gegeben, dass der Borges-Text immer wieder (mit Unterbrechungen) zitiert wird. Dies allein garantiert den chronologischen und thematischen Zusammenhalt des Textes. Die Repliken selbst können über das rein Assoziative hinaus in keine logische Reihenfolge gebracht werden; nur ihr konstanter Bezug auf Elemente des Borges-Textes verleiht ihnen eine rudimentäre Kohäsion. Daher wirken die Kommunikationen wie Kommentare, ist doch dessen Charakteristikum seine Zeitlosigkeit und sein logischer Status als Metaebene. Der Titel verweist dementsprechend auf ,Luft\ also das Nichts zwischen den Buchseiten, das, was selbst nicht im Text auftaucht, aber vom Text (in Form von Gedanken und Kommentaren) provoziert wird.311 Da aber die Repliken mitunter auch mit dem BorgesText direkt kommunizieren, verwischt sich wieder die klare Trennung zwischen Kommentiertem und Kommentierendem, die (logisch voneinander getrennt) nicht direkt miteinander interagieren dürften. El Aire entre las páginas ist wie ein ,Thema mit Variationen: Der Borges-Text gibt die Stichwörter, an welche die übrigen Kommunikationsbeiträge anschließen, allerdings chaotisch-assoziativ.312 Anós kommentiert: [...] ante todo se trata de un montaje de objetos (frases o palabras), más bien indiferentes al conjunto ordenado del que han sido extraídos. Extraídos, sí, como muelas, con violencia, para ser proyectados a nuevas aventuras de lenguaje, expuestos a derivas del sentido. (2000a: 7) In vielen Kommunikationsbeiträgen klingt das Wortfeld mentir an oder es erfolgt eine Bewertung des Gesagten als willkürlich. Viele Affirmationen stehen somit im Verdacht, nicht aufgrund ihres Aussagegehaltes, sondern wegen ihrer Klangqualitäten und Assoziationen ausgewählt worden zu sein.313 310 Auch zahlreiche Selbstqualifizierungen im Plural, wie z. B. der Satz: „Nosotros, los impostores, los que se gozan en tambalearse, decimos frases" (AP: 11), geben keine Auskunft über mögliche Beziehungen zwischen Interlokutionspartnern. 311 Der Titel taucht als Replik innerhalb des Textes auf (AP: 17). 312 Zwar werden kurzzeitig Wörter leitmotivisch wiederholt, wie etwa eine Reihe von Sätzen, die mit „El ciego" beginnen (AP: 10), oder die Wortfelder arena und aire, doch stehen viele Sätze völlig zusammenhanglos nebeneinander. Vgl. z. B. die Satzfolge: „El infinito tiembla. El ancla es el péndulo. Pedazos de música de cuerda. No hay infinito" (AP: 10). Einige Sätze sind zu Gedankeneinheiten zusammengefasst, indem sie durch den gleichen Satz eingerahmt werden (AP: 9f.). Auch erscheinen Begriffe aus der Alltagswelt, die mit dem Borges-Text nichts zu tun haben, wie „tranquilizantes", „tiralíneas", „Fuma como un carretero" und „Se preocupa por guardar la línea" (AP: 10). 313 Manche Repliken heben ihre Aussage selbst wieder auf, etwa wenn es heißt: „Pues bien, ahora os decimos: No hay todo. No hay primera. No hay infinito. Y mentimos también" (AP: 11).
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Der Borges-Text ist die Grundlage der Ordnungsbildung von El Aire entre las páginas, wodurch ein Verschachtelungs- und Spiegelungseffekt entsteht: In Borges' Text wird von einem Buch mit willkürlicher oder zumindest unergründlicher Ordnung erzählt, allerdings auf eine kohärente Weise, während Anós' Text aus ungeordneten Kommentaren über die Borges-Erzählung besteht. Wie das Buch, von dem Borges' Text berichtet, unstrukturiert ist, so ist auch Anós' Text ohne erkennbare Ordnung - außer eben in den Verweisen auf den Prätext,314 so als sei Anós' Text dessen sinnliche Umsetzung und zugleich Ausdruck von dessen Scheitern: Denn Anós' Text hat ein Thema, eben den berühmten Borges-Text, und kann unter einen Begriff, Libro de arena, subsumiert werden. Damit ist El Aire entre las páginas die Darstellung von Kontingenz und zugleich das Scheitern dieser Darstellung.315 Die Aussage „No hay relato del libro de arena" (AP: 16) ist damit zugleich wahr und falsch. Sie ist wahr, denn das Buch, von dem Borges berichtet, hat keine Erzählstruktur; sie ist falsch, denn die Geschichte, die Borges über das Buch erzählt, hat sehr wohl eine solche. Das Gleiche passiert mit dem Text von Anós: Er bezieht sich auf das (ungeordnete) libro de arena und zugleich auf den (geordneten) Borges-Text. Alle Kommunikationsbeiträge des Anós-Textes können daher jeweils auf beide Ebenen bezogen werden.316 KOMMENTARE UND KOMMENTARE ZU KOMMENTAREN: DESPEDIDA II
Der aus 21 Sequenzen bestehende Text Despedida II (Premio SGAE de Teatro 2001) des 1968 in Albacete geborenen Autors Antonio Morcillo317 hat als zentrales Thema die Krankheit Magersucht, die bildlich als das Verschwinden des Körpers erscheint.318 3 1 4 Die Unbestimmtheit des Textes El Aire entre las páginas, was Raum, Zeit, Figuren und Handlung angeht, macht buchstäblich den Satz (der ein Borges-Zitat ist) erfahrbar: „Si el espacio es infinito estamos en cualquier punto del espacio. Si el tiempo es infinito, estamos en cualquier punto del tiempo" (AP: 12). 315 Systemtheoretisch ausgedrückt, versucht der Text (erfolglos), in der Unterscheidung motiviert vs. willkürlich oder endlich vs. unendlich die jeweils zweite Seite zu markieren. Der Versuch besteht darin, willkürliche Kommunikationen zu erzeugen, die dann aber Willkür darstellen und damit motiviert sind. 316 Entsprechend gibt Anós für die Inszenierung Folgendes vor: „Ha de producirse en todo caso una convivencia, más hecha de fricción que de imposible armonía entre el funcionamiento del texto y el de la acción escénica. (Un modelo: las confrontaciones Heiner Müller/Bob Wilson)" (2000a: 7). 3 1 7 Morcillo studierte Jura an der Universidad Castilla-La Mancha, später Dirección und Dramaturgia im Institut del Teatre von Barcelona. 1996 schrieb er seinen ersten Theatertext, El hacha. Mit Los carniceros gewann er 1997 den Premio Marqués de Bradomin. Er arbeitet auch als Regisseur. 318 Gleich zu Beginn kündet einer der Protagonisten die Magersucht als „el tema" (D: 9) an. Zusammengefasst ist die Gleichsetzung von Magersucht und dem Verschwinden des Körpers in Monas Monolog: „Tener un cuerpo y pesar cero/existir es reducir a la mínima expresión/ la carne a polvo y el polvo en aire y que el aire sea yo" (D: 80).
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Der Text nennt sechs Figuren: den Kunstsammler Auedeich und dessen Tochter Mona, die Psychologin Altona und deren Ehemann Amat sowie den Schweizer Maler und Bildhauer Giacometti und dessen Intimfreund Van Meurs, einen holländischen Bibliothekar. In jedem dieser drei Paare gibt es einen Kranken (Mona, Altona, Van Meurs), der schließlich einen Todeskampf fuhrt, und jemanden, der diese Krankheit unter einem ästhetischen Gesichtspunkt beschreibt (Auedeich, Amat, Giacometti). Die zeitliche Sukzession der einzelnen Szenen ist einfach zu rekonstruieren über die Frage nach der Behandlung von Monas Krankheit: In der ersten Szene redet Auedeich mit seiner Tochter über eine bevorstehende Therapie; in den folgenden Szenen wird wiederholt eine mögliche Einweisung in ein Krankenhaus erwähnt; schließlich kämpft Mona in der letzten Szene in einem Krankenhausbett um ihr Leben. Dass die einzelnen Sequenzen zwischen verschiedenen Fiktionsebenen hin- und herspringen, beeinträchtigt ihre zeitliche Kohärenz nicht.319 Charakteristikum des Textes ist die Brüchigkeit der Realitätswahrnehmung der Figuren, die sich im Verschwimmen der Grenzen zwischen Innen- und Außenwelt äußert. Alberto Giacometti hat als historische Person einen anderen ontologischen Status als die fiktiven Figuren Auedeich, Mona, Altona und Amat. Der Schweizer Maler und Kleinplastiker lebte von 1901-1966 und kann dem weiten Umkreis des Surrealismus zugerechnet werden.320 Morcillo datiert die Szenen zwischen Van Meurs und Giacometti selbst auf das Jahr 1921 und situiert sie in Tirol (vgl. die Didaskalie D: 11). Die Figuren um Auedeich sind in einer anderen, nicht näher präzisierten Zeit, jedoch nach Giacomettis Tod situiert.321 In einigen Szenen begegnen sie indes Giacometti in persona, so dass die zwei Zeitebenen ineinander fließen. Die Vermutung liegt nahe, dass es sich um Halluzinationen handelt. Hinzu kommt, dass Auedeich, Mona und Altona sich jeweils selbst oder Personen aus ihrer Umgebung zu verschiedenen Zeitpunkten mit dem Bildhauer identifizieren. Anhand welcher Kommunikationsbeiträge welcher Figur eine erste Fiktionsebene des Textes konstruiert werden könnte, ist damit nicht zu entscheiden, wirken sie doch alle wechselseitig füreinander wie Projektionsflächen.322 319 Auch wenn das Ende des Texts skurril erscheint, verweist es doch zeitlich eindeutig auf den Anfang. 320 Giacomettis meist lang gezogene und platt wirkende Skulpturen sind durch die Suche nach der Form im Raum bestimmt; seit den dreißiger Jahren reduzierte der Künstler ihr Volumen immer mehr. Reißer/Wolf sprechen von ,,dürre[n] Figurenelementefn], die wie Stalagmiten aus dem Boden ragen, ausgemergelt wirkende, überschlanke archaische Figuren" (2003: 46). Zu Giacomettis Ästhetik allgemein vgl. Reißer/Wolf 2003: 45-48, 321 Auedeich sagt an einer Stelle, dass Giacometti bereits tot sei (D: 14). Auedeich ist Kunstsammler und hat in seinem Haus Reproduktionen der Werke des Bildhauers ausgestellt (vgl. D: 14), und er, Mona und Altona sind wie besessen von dem Künstler. 322 Giacometti wirkt wechselweise wie die Veräußerlichung der Innenwelt Auedeichs, Monas und Altonas (Projektion): Auedeich, Mona und Altona werden zum Medium des zerstörerischen Bildhauers.
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Aus dem Kontext kann nicht erschlossen werden, wessen Phantasiegebilde Giacometti ist. Der Bildhauer mischt sich z. B. in persona in ein Gespräch zwischen Mona und der Psychologin ein und antwortet an Monas Stelle, ohne dass jedoch die beiden Frauen auf ihn reagieren. Zwei Kommunikationsebenen laufen damit nebeneinander her, ohne dass ihr Bezug aufeinander negiert oder konkretisiert werden könnte: Mona.- ¿Sabe por qué las estatuas de Giacometti son tan delgadas? Van Meurs.- ¿Adonde vas? [Beginn eines zu dem Gespräch zwischen Mona und Altona parallel laufenden Dialogs zwischen Van Meurs und Giacometti, der von Altona und Mona ignoriert wird; Anm. S.H.] Giacometti.- (Se levanta, con su cuaderno de dibujo) Quiero mirarla de cerca. Altona.— No cambies de tema... ya te lo he dicho... no lo sé... Mona - ¿Quiere saber una cosa?: usted me recuerda mi madre. Van Meurs.- ¿Cómo es su paisaje? Altona - ¿Por qué? Giacometti.— Por tu inocencia, por la impotencia de tus preguntas, por el cariño que despierta la candidez de tu sufrimiento. [Hier scheint Giacometti in Monas und Altonas Gespräch einzugreifen, indem er Altonas Frage beantwortet (oder bleibt er in seinem Kontext?); damit vermischen sich die beiden Kommunikationsebenen, doch weder Mona noch Altona reagieren auf Giacometti, so dass nicht deutlich wird, ob er die Halluzination einer der beiden Frauen verkörpert; Anm. S.H.] Mona - No lo sé. [Mona selbst kennt ihre Beweggründe nicht - oder spricht sie sie nur nicht offen aus? Anm. S.H.] (D: 55) Das Verhältnis zwischen Giacomettis Kommunikationsbeiträgen und denen der beiden Frauen auf der Ebene der Geschichte um die Magersucht ist mehrdeutig. Handelt es sich bei Giacomettis Kommentaren um seine eigenen Vermutungen oder spricht er Monas bzw. Altonas Gedanken aus? Am Ende der Sequenz reden die Figuren nacheinander, ohne eindeutig miteinander zu sprechen, aber auch ohne deutlich voneinander getrennt zu sein.323 Giacometti und Mona reden in der ersten Person Singular, so dass ihre Aussagen parallelisiert sind, als sei Giacometti ein Teil Monas.324 Van Meurs' Kommunikationsbeitrag wird entsprechend mit dem Altonas parallelisiert. Doch wird die Gleichsetzung Giacometti-Mona, Van Meurs-Altona im weiteren Verlauf des Textes nicht durchgehalten, denn immer
323 „ALTONA - ¿Y qué quieres decirme con eso? GIACOMETTI - ¿Qué quiero decir? VAN MEURS.- ¿Qué quiere decir? MONA- ¿Qué quiero decir?" (D: 56). 3 2 4 Parallelisiert werden Mona und Giacometti in dieser Szene auch dadurch, dass beide ein Porträt von Altona zeichnen wollen.
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mehr identifiziert sich auch Altona mit dem Bildhauer,325 und Mona wird am Ende zu einem todkranken Modell fiir ihren zeichnenden Vater, so dass sie eher Van Meurs ähnelt.326 Ein Oszillieren zwischen Fiktionsebenen zeigt sich deutlich auch in zwei Sequenzen, die in dem Saal eines Museums situiert sind. Dieser Saal ist einerseits der reale Ort, an dem Auedeich Giacomettis Werke ausstellt (vgl. D: 14), andererseits erinnert er an eine Geschichte, die über den Bildhauer erzählt wird (und die Mona Auedeichs Lieblingsgeschichte nennt): Der historische Giacometti soll einmal in einer öffentlichen Ausstellung Hand an seine Skulptur gelegt haben, um ihr Volumen weiter zu verringern (D: 28f.). Der Ausstellungssaal verweist damit auf zwei Zeitebenen zugleich, die in den Sequenzen 12 und 18 ineinander fließen, weil Altona in dem Museumssaal auf Giacometti persönlich trifft.327 Beide sehen sich die (real existierende, aus dem Jahr i960 stammende) Bronzestatue Large Standing woman I an. Dabei redet Altona über Mona so, wie Giacometti über seine Statuen redet: Beide warten darauf, dass Mensch bzw. Statue verschwinden (D: 65). In Sequenz 18 geht Altona auf Giacomettis Geheiß selbst mit Hammer und Meißel auf eine Statue los, wiederholt damit also die Handlung, die von der historischen Person Giacometti berichtet wurde. Auf welcher Fiktionsebene beide Sequenzen liegen, bleibt ungewiss, und der Rezipient erfährt nicht, ob es sich um eine echte Handlung oder um Phantasien (Träume, Wünsche, Befürchtungen) Altonas handelt.328 Ein weiteres Charakeristikum des Textes ist, dass sich an einigen Stellen offensichtlich zwei Kommunikationsebenen überlagern, von denen die eine einen Alltagsdialog, die andere die Gedanken der Figuren in lyrisch verschlüsselter Form darzustellen scheint (vor allem Amats Monolog/Sequenz 17 bzw. Monas Mono-
325 Giacometti gibt Altona in der Sequenz 14 Stichwörter vor, die sie in ihrem Gespräch mit ihrem Ehemann aufnimmt: Hier scheint Giacometti die Personifikation von Altonas Innenwelt zu sein. Altona nimmt in dieser Sequenz ihren Ehemann Amat kaum noch wahr und fungiert fast nur noch als Giacomettis Medium (D: 70). 326 Als Mona zum ersten Mal mit der Psychologin von Giacometti und Van Meurs redet (Sequenz 6), geht das Gespräch ohne weitere explizite Angaben und ohne Orts- oder Szenenwechsel in einen Dialog zwischen diesen beiden Männern über, der wohl Monas Innenwelt zuzurechnen ist. Es ist aber auch möglich, dass er eine unabhängige, parallel ablaufende Kommunikation darstellt. Dass Mona z. B. über Van Meurs' Todeskampf in Tirol redet (D: 36f.), lässt den Fiktionsgrad der Sequenzen 2 und 4, die diesen Todeskampf szenisch direkt darstellen, unklar werden - ist diese szenische Darstellung eine reale Handlung oder handelt es sich bereits u m eine von Monas Phantasien? 327 Als Giacometti sich beim ersten Mal von Altona verabschiedet, sagt er, er müsse einem kranken Freund Medizin geben (D: 66), wodurch er sich selbst wieder in der H a n d l u n g ansiedelt, die im Jahr 1921 in Tirol spielt, also nicht auf der Zeitebene Altonas. 328 Altonas Verhalten ist wördich oder metaphorisch interpretierbar, etwa dahingehend, dass Giacometti ihr Hirngespinst ist und den Hass auf ihren eigenen Körper visualisiert.
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log/Sequenz 19). 329 Diese Stellen wirken wie symbolische, atemporale K o m m e n tare zu dem übrigen Text. O b es sich um eine écriture automatique des Unterbewussten handelt, kann aus dem Kontext nicht erschlossen werden. Z u m Ende des Textes hin vermischen sich Realitäts- und Fiktionsebenen am stärksten. Monas Zimmer wird so beschrieben, als sei es selbst ein Gemälde, 3 3 0 und die letzten drei Sequenzen tragen Uberschriften, die an Giacomettis Plastiken erinnern, so als seien die Sequenzen selbst zu Kunstwerken oder .lebenden Bildern' geworden. 331 Morcillos Text handelt damit von Figuren, die Skulpturen bewundern 332 und selbst zu Skulpturen werden. Immerhin trägt der gesamte Text einen Titel, der an die Namensgebung von Giacomettis Statuen erinnert: Despedida 7/.333 Die Kommunikationsbeiträge kommentieren die Magersucht und sind zugleich Ausdruck derselben, oder anders gesagt: Der Text kommentiert Kunstwerke und wird selbst zu einem: Er ist also sein eigener Kommentar, was einer Verwischung logischer Ebenen entspricht. Jede Figur interpretiert und bewertet das Verhalten der anderen Figuren, und dabei entstehen Widersprüche. Altona wirft Mona, M o n a Altona Lügenhaftigkeit vor, und immer wieder streiten Vater und Tochter ab, was der jeweils andere über sie sagt. Eigen- und Fremdcharakterisierungen können nicht in Einklang miteinander gebracht werden. Auch werden viele Sachverhalte verschieden dargestellt,
329 Amat und seine Frau Altona sprechen z. B. in der fünften Sequenz vordergründig über das Abendessen, doch mischen sich in ihre Worte höchst rätselhafte, metaphernreiche Passagen, die nicht mit der banalen Konversation verbunden sind. D a die zweite Kommunikationsebene metaphorisch verschlüsselt ist, kann sie nur sehr vage auf die andere Ebene bezogen werden. Die Kommunikationen der zweiten Ebene sind durch Spiegelstriche von der Alltagskommunikation abgesetzt. So sagt Altona zu Beginn der fünften Sequenz: „¿Te gusta? — lento paladear chasquidos los ojos de serpiente que esconde la lengua cuando muerde - [...]" (D: 21). In Sequenz 9 treffen Auedeich und Amat (zum ersten und letzten Mal) aufeinander. Die Sequenz beginnt mit je einem enigmatischen Monolog der beiden Figuren. Anschließend fuhren beide eine Alltagskonversation. Vgl. auch Amats stark sexuell getönte Phantasien bezüglich seiner Frau (D: 25). 330 Die Didaskalie ähnelt der Beschreibung eines Kunstwerkes; vgl. einen Auszug: „De Mona, habitación de témpera. Silencio azul prusiano que es succionado por la ventana cuando se abre. La luna enguanta de perla la mano derecha de Giacometti que levanta los cristales. La luna es una cuadriculada estrella fugaz que es catapultada al incolor aire" (D: 75). 331 Monas Monolog (Sequenz 19), in dem sie von ihrer Auslöschung spricht, erhält den Titel The Standing female nude, die Sequenz, in der Auedeich und Altona im Garten an einem mit Kerzen geschmückten Tisch sitzen (Sequenz 20), trägt den Titel The seated portrait, Monas Agonie im Krankenzimmer (Sequenz 21) heißt The Walking man. 332 Im Text werden verschiedene Werke Giacomettis genannt, z. B. El objeto invisible (Manos sosteniendo el vació) (D: 28), Figura femenina alargada. De pie. I(D: 47), Large standingwoman ( D : 63) und Mujer con la garganta cortada (D: 66). 333 Die Nummer II erinnert an die Durchnummerierung von Giacomettis Statuen. Als Altona Giacometti von Mona erzählt, kommentiert dieser: „Figura femenina alargada de pie //' (D: 66). Von sich selbst sagt Altona: „Figura femenina alargada de pie Iii' (D: 66).
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etwa ob Monas (verstorbene) Mutter schlank oder fiillig war;334 ob Mona versucht hat, sich umzubringen, oder ob sie nur baden wollte (D: 40f.; 54); ob Mona Giacometti bewundert oder hasst; ob Mona ihr Zuhause liebt oder ob es ihr gleichgültig ist335 oder ob Auedeich ein „putero" ist.336 Da alle Kommunikationen subjektiv verzerrt sein könnten, bleiben die Fragen unentscheidbar. Verschiedene Versionen gibt es auch bezüglich eines Objektes, auf das wiederholt Bezug genommen wird: ein Porträt Altonas. Die Aussagen darüber, wer es gezeichnet hat und was es darstelle, sind widersprüchlich.337 Wo Halluzination, Traum, Phantasie anfangen und wo eine gemeinsame Realität aufhört, kann aus den Kommunikationen nicht ermittelt werden. Ob Mona magersüchtig und ob in diesem Fall die Schuld in der Begeisterung des Vaters für Giacometti liegt, bleibt bis zuletzt ungewiss.338 Alle diesbezüglichen Kommentare stehen im Verdacht, stark subjektiv verzerrt zu sein. Jede Figur maßt sich die Definitionsgewalt über die Zuschreibung der Eigenschaft gesund bzw. krank an und spricht sie den anderen entsprechend ab.339 Nur von Altona erfährt der Zuschauer direkt, dass sie magersüchtig ist: Er kann sie dabei beobachten, wie sie Essen in sich hineinstopft und anschließend in die Toilette erbricht. Die Unsicherheit bezüglich des Wahrheitsgehaltes der Aussagen wird dadurch vergrößert, dass die Figuren mitunter ironisch sprechen, dies aber nur vage markiert ist. An einer Stelle etwa beginnt Mona, davon zu erzählen, sie träume von Giacometti, und deutet einen Inszest an (D: 34). Doch das, was der Schlüssel zu ihrer Pathologie zu sein scheint, wird gleich darauf als erfundene Geschichte ausgegeben, die Mona (wie diese selbst behauptet) nur erzähle, um die Psychologin
334 Auedeich sagt, sie sei dick gewesen, doch als Altona von der Tochter angefertigte Zeichnungen der Mutter sieht, findet sie diese schlank (D: 57). Auedeichs Kommentar dazu lautet, dass M o n a ihre Mutter subjektiv verzerrt dargestellt habe. 335 Ihr Vater sagt, M o n a liebe ihr Zuhause (D: 40f.; 73), auf die Ankündigung einer Einweisung ins Krankenhaus reagiert diese aber mit den Worten: „Muy bien" {D: 49). 336 Dies behauptet M o n a (D: 51). Auedeichs Reaktion auf diese Unterstellung ist: „Hablaré con mi hija. N o puedo creer que..." (D: 58) - mit diesem unvollständigen Satz erhält der Rezipient keine Antwort auf die Frage nach dem Wahrheitsgehalt von Monas Aussage. 3 3 7 Auedeich sagt, es handle sich u m Monas Zeichnung ( D : 59), was M o n a abstreitet (D: 67); sie behauptet, Auedeich habe es gezeichnet (D: 68), was dieser zurückweist (D: 73). In zwei Sequenzen scheint gar Giacometti persönlich der Zeichner zu sein (D: 55f; 75). Die Zeichnung scheint eine Frau darzustellen, die einen schwarzen Fleck am Hals hat, so dass sie an Giacomettis Statue Mujer con la garganta cortada erinnert. Altona sieht in dem Porträt einen „cadáver" (D: 83), während Auedeich und M o n a es positiv beurteilen (D: 69). 338 Mögliche Erklärungen, die in diese Richtung gehen, werden ironisiert oder verneint, z. B. Amats direkte Frage (D: 46). Vgl. auch Altonas Aussage: „Tiene algunos síntomas, pero no son definitivos" ( D : 13). M o n a bezeichnet Altonas Beobachtungen als Lügen (D: 32). 339 M o n a besteht z. B. darauf, sie sei nicht krank. Sie wird aber als krank eingestuft von der Psychologin und einer Schulkameradin. Diese Schulkameradin sieht M o n a aber ihrerseits als krank an (D: 55).
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zufrieden zu stellen. Da der Text kaum Didaskalien enthält und viele Anschlusskommunikationen in ihrem Wahrheitsgehalt unbestimmbar sind, ist Ironie meist nicht eindeutig bestimmbar. Ein Grund für die Schwierigkeit einer Zuordnung der Kommunikationsbeiträge zu Fiktionsebenen liegt darin, dass die Figuren, welche als Identitäten zunächst klar voneinander abgesetzt zu sein scheinen, im Verlaufe des Textes ihre Konturen verlieren und sich miteinander vermischen. Auffällige Parallelisierungen fuhren allmählich dazu, dass sie miteinander verschmelzen. — Über die Krankheit spiegeln die beiden weiblichen Figuren Mona und Altona einander, so dass sie, wenn sie über sich selbst reden, auch über die jeweils andere zu reden scheinen. — Altona werden Parallelen zu Monas (verstorbener) Mutter nachgesagt. Die Beschreibung, die Auedeich von deren Tod gibt, ähnelt dem Erstickungstod Altonas am Ende des Textes.340 Altona nimmt sogar die Stelle der Mutter in Auedeichs Bett ein (Sequenz 15).341 — Altona und Giacometti ähneln sich in ihrer Begeisterung für im Verschwinden begriffene Statuen und darin, dass sie Kunstwerke in ihrem Volumen reduzieren wollen (Sequenz 12 und 18). — Mona und Giacometti ähneln sich in ihrem Zeichentalent („De niña, era igual que Giacometti"; D: 14), und Giacometti vervollständigt Monas Zeichnung (Sequenz 16). Doch erinnert Mona auch an Van Meurs, da sich ihre Todeskämpfe gleichen (Sequenz 4 bzw. 21). — Auch Auedeich und Giacometti werden parallelisiert.342 Eine weitere Grenzverwischung des Textes liegt in der allmählichen Gleichsetzung von menschlichem Körper und leblosem Kunstwerk: Der lebendige Leib
340 Als Auedeich zu Beginn des Textes die Todesart von Monas Mutter beschreibt, kommentiert er: „Murió de un infarto de miocardio, aquí mismo, más o menos, donde usted está sentado. Cayó de la silla" (D: 16). Buchstäblich weist er damit Altona den Platz der Mutter zu. Als Altona stirbt, fällt sie tatsächlich vom Stuhl (D: 84). 341 Ist sie vielleicht Monas Mutter? Mona und Auedeich deuten auf die Ähnlichkeit zwischen Altona und der Mutter hin (vgl. D: 60f.; 67). Altona behandelt Auedeich in Sequenz 20 so, wie sie auch ihren Ehemann Amat behandelt hat: Sie redet wortreich über Kochrezepte (Sequenz 20). Zwischendurch liegt sie aber auch wieder mit Amat im Ehebett (Sequenz 17), so dass auch Amat in eine Parallele zu Auedeich gerät. Hat Altona ihre Liaison zu Auedeich nur erfunden? Führt sie ein Doppelleben? Keine der Interpretationen kann anhand des Kontextes ausgeschlossen werden. 342 Zu Beginn des Texts sagt Mona, ihr Vater sei so perfektionistisch wie der Bildhauer (D: 32). Erst in der letzten Sequenz wird der Vergleich ganz entfaltet: Auedeich sitzt am Krankenbett seiner sterbenden Tochter, wie auch Giacometti am Krankenbett seines Freundes wachte (Sequenz 2), und Auedeichs Worte sind fast identisch mit denen, die Giacometti zu Van Meurs sagte, während beide das Gesicht ihres agonisierenden Gegenübers zeichnen.
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wird über sein langsames Verschwinden zum ästhetischen Objekt, Magersucht ist der Transformationsprozess.343 So sagt Mona in einem Monolog von sich: [...] estoy en la frontera estática del movimiento en el terreno no acabado que hace tiempo se acabó simultáneamente en el pivote del fin y en el pivote del principio seré la versión inmaterial de mí misma consumida en mí misma (D: 81)344 Altona hat ein ähnliches Selbstbild: „Sólo puedo realizarme en los objetos. [...] Sólo soy realización, modulación, de la materia" (D: 78). Beide Frauen ähneln immer mehr einer Statue. Uber die Parallelisierung von Magersucht und Kunstwerk wird die Krankheit zur Metapher für die durch Eigen- oder Fremdeinwirken herbeigeführte Umwandlung des Lebendigen in ein ästhetisches Objekt.345 Der Tod erscheint als höchste Vollendung des Körpers: „La muerte produce belleza" (D: 30). Was wie eine klar strukturierte Geschichte beginnt, verwandelt sich immer mehr in eine Aneinanderreihung halluzinatorisch wirkender Sequenzen. Das zentrale Rätsel des Textes ist die Frage danach, welcher Typus von Wahrnehmung (Innen- oder Außenwelt) in den Kommunikationsbeiträgen dominiert. Der Aufbau des Textes übersetzt unmittelbar das Paradox seines Grundthemas: Das Ineinander-Übergehen von Subjekt und Objekt im Körper, der sich selbst töten und zugleich retten will, der sich also zum Objekt macht (eine Statue, die bearbeitet werden muss) und damit Täter und Opfer eines (Selbst-)Mordes wird: „Esa enfermedad eres tú misma y tú eres esa enfermedad" (D: 53). 343 Die Geschichte über Giacometti, derzufolge der Bildhauer seine Statuen immer weiter reduziert habe (D: 28f.), zeigt plastisch den Vorgang des Abmagerns. Altona kommentiert diese Geschichte mit den Worten: „Si [Giacometti] hubiera podido, hubiera retocado y retocado la escultura hasta... hasta... hasta hacerla desaparecer..." (D: 29). Zu Giacomettis realen Statuen schreiben Reißer/Wolf, sie bewegen sich „am Rande der Abbildlichkeit und ihrer Existenz im Raum. Sie wirken extrem überlängt durch ihre kleinen archaischen Kopfformen auf hochgestielten Hälsen. Die Erscheinungsweise des Körpers wird von der gerippeartigen Gestalt, den schnurdünnen, beinah gelenklosen Gliedmaßen bestimmt und reduziert sich auf ein existentielles Minimum an Masse [...] Die Materie scheint selbst in Auflösung begriffen. Das Körperliche schwindet, die Präsenz bleibt" (2003: 47f.). 344 Altona deutet Monas Verhalten folgendermaßen: „Puede que tú tengas el mismo sentimiento que Giacometti tenía por sus estatuas" (D: 33). Zu Auedeich sagt Altona: „Creo que su hija quiere convertirse en un modelo de belleza apreciado por usted" (D: 41). 345 So beschreibt Altona die an Magersucht leidenden Menschen mit den Worten eines Bildhauers: „Trabajan esa imagen, la esculpen, la modelan, durante todo el día, encerradas en su propio taller de creación" ( D : 39). Altona selbst vergleicht sich mit Giacomettis Statue Figurafeminina alargada: „Soy yo. Encerrada en mi mente. Hecha estatua. La belleza de mi muerte es una belleza de bronce" ( D : 47). Vgl. auch Amats Beschreibung von Altona (D: 77).
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Der Rezipient befindet sich in keiner privilegierten Position: Er hat keinen ,archimedischen Standpunkt, von dem aus er beurteilen könnte, wann die Figuren aufrichtig miteinander kommunizieren, wann sie lügen und welcher der Kommunikationbeiträge auf welcher Fiktionsebene liegt. Er erfährt nicht, wo die Grenze zwischen Bewusstem und Unbewusstem verläuft. Am Ende ist sogar fraglich, wie viele Figuren miteinander kommunizieren, denn bei Giacometti und Van Meurs, vielleicht sogar bei Amat und Altona, könnte es sich um reine Phantasiefiguren Auedeichs und Monas handeln. In diesem Sinne werden die zentralen Objekte des Textes, Giacomettis Statuen, zum Sinnbild des Solipsismus der Figuren, welche sich in ihre Innenwelt zurückziehen und die Grenze zur Außenwelt nicht mehr aufrechterhalten können.346 WIEDERHOLUNGEN VON WIEDERHOLUNGEN: ULTIMA TOMA
Leopoldo Alas' Ultima toma347 ist ein Beispiel fiir ein intertextuelles Spiel mit einem dem kulturellen Standardrepertoire angehörenden Text, das die Bedeutungskonstruktion zwischen verschiedenen Fiktionsebenen hin- und herpendeln lässt. Die Handlung spielt in einem Studio (wie zu Beginn des Textes angezeigt; UT: 15), in dem ein Film über Romeo und Julia gedreht wird, was u. a. aus den Didaskalien hervorgeht. Ultima toma ist damit durchgängig vor dem Hintergrund des weltberühmten Shakespeare-Textes Romeo andJuliet (1595/96) zu lesen. Der Text nennt vier Figuren mit Eigennamen, die auf die berühmte Tragödie verweisen: Mercucio, Lorenzo, Romeo und Julieta. Außerdem werden weitere Figuren mit ihrem generischen Namen genannt, welche die Welt des Films evozieren (Productor, otros actores). Mercucio wird als „Narrador 1 (guionista)", Lorenzo als „Narrador 2 (tecnico)" ( UT: 15) bezeichnet. Obwohl ihre Namen an Shakespeares Text erinnern,348 sie also auf die (zweite) Fiktionsebene (des gedrehten Films) verweisen, gehören sie eindeutig zum Kontext der Dreharbeiten (also der ersten Fiktionsebene). Außerdem sprechen sie das Publikum direkt an, so dass in ihnen drei Ebenen zugleich anklingen: die des Zuschauers, die der Dreharbeiten und die des Films. Diese Position wäre dazu geeignet, Mercucio und Lorenzo eine Kommentatorfunktion zu verleihen, doch verdunkeln ihre Kommentare das Geschehen eher als das sie es erhellen.
346 Über Giacomettis Gestalten schreibt DuRy, sie seien „schmal in die Höhe gezogen und Metaphern der Isolierung, in welcher der Mensch die Kontakte zur Umwelt verliert und sich in das Gehäuse seiner inneren Vorstellungen verschließt" (1989: 749). 347 Der Text wurde 1985 von der Compañía La Tartana unter der Regie von Carlos Marquerie im Teatro Retiro de Sitges im Rahmen des XVII Festival International de Teatro de Sitges uraufgeführt. Eine kurze Charakteristik findet sich bei Ragué-Arias 1996: 246. 348 Romeo und Julia sind die Protagonisten der tragischen Liebesgeschichte, Mercutio und der Franziskanermönch Lorenzo sind in Shakespeares Text Romeos Freunde.
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Die beiden Hauptfiguren, Romeo und Julieta, werden mit ihrem Rollen- und nicht ihrem Schauspielernamen benannt (wodurch zwei Fiktionsebenen vermischt werden). Sie spielen eine Liebesbeziehung, während sie auf der ersten Fiktionsebene kein Interesse aneinander haben. Eine Didaskalie präzisiert dementsprechend, dass sie sich zwischen den Filmszenen wie zwei nahezu unbekannte Menschen behandeln. 349 Bei vielen Kommunikationsbeiträgen wird indes nicht deutlich, ob sie zum Schauspieler außerhalb der Fiktion des Romeo und JuliaFilms oder zu den Figuren des Films gehören. Der Text umfasst zwölf Szenen, die durch abrupte Schnitte voneinander abgesetzt sind und zum Großteil Schlaglichter einer Filmproduktion darstellen, deren Zusammenhang höchst vage bleibt:350 Lorenzos Gespräch mit einem Produzenten zwecks Vereinbarung eines Drehtermins (Szene 2), ein Schnelldurchlauf durch Filmsequenzen, 351 ein Fest als Werbung für die Schauspielerin Julieta (Szene 5), eine Liebeserklärung in drei verschiedenen Filmgenres (Szene 7), die Ermordung der (nicht näher charakterisierten) .Schergen durch Romeo mit Regieanweisungen aus dem off{Szene 8), Julietas Schmeicheleien gegenüber dem Produzenten (Szene 10), schließlich Julietas Drogen- und Romeos Liebestod (Szene 11). Die genannten Szenen können nicht durchgehend eindeutig entweder der Ebene der Dreharbeiten oder der des Films zugeordnet werden. Drei Szenen müssen außerhalb der Filmproduktion situiert werden: In Szene 4 erscheint Romeo allein auf der Bühne und spricht von seinen Wünschen; in Szene 6 gehen Romeo und Julieta wie in Trance aufeinander zu,352 doch ihre Worte werden nicht von ihnen selbst, sondern von Mercucio und Lorenzo gesprochen, was an eine Synchronisation erinnert. Ahnlich mimen Romeo und Julieta auch in der neunten Szene eine Liebeserklärung, deren Worte Mercucio und Lorenzo laut aussprechen.353 Die Kommunikationsbeiträge können in beiden Fällen als Romeos und Julias Aussagen (bzw. Gedanken) oder als Mercucios und
349 Vgl. den Wortlaut der Didaskalie: „Los actores protagonistas, Romeo y Julieta, se comportan, entre escena y escena, como desconocidos. Entre ellos no hay más que una relación profesional, si acaso algún coqueteo" (UT: 21). 350 Alas sagt selbst in der Einleitung, dass die Anordnung der Szenen willkürlich sei: „Lo que a continuación se expone no es, como se verá, un desarrollo dramático, sino las líneas maestras de una idea para un posible espectáculo" (UT: 15). 351 Vgl. die Didaskalie: „Los actores miman aceleradamente algunas de las tomas esenciales de la película que se está rodando" ( UT: 21; Szene 3). 352 Zwar ist der Kontext immer noch die Party aus der vorangegangenen Szene, doch verschwimmt er und lässt die beiden Hauptdarsteller in einer Art Traumwelt miteinander kommunizieren. 353 Vgl. die Didaskalie: „Romeo y Julieta hacen el amor furtivamente; tienen de plazo hasta el alba. Mercucio y Lorenzo, al fondo, mirándose a los ojos y con las manos enlazadas, se dicen palabras de amor que complementan la acción que presenciamos" (UT: 33); vgl. auch UT: 34.
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Lorenzos Kommentare zu Romeos und Julias Aussagen (bzw. Gedanken) gelesen werden. Die Zuordnung ist hier nicht eindeutig. Zwei andere Szenen überschreiten die Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum: In der ersten und der zwölften Szene wenden sich Mercucio und Lorenzo direkt ans Publikum und erklären ihm die Allgemeingültigkeit des Gezeigten. Dabei erheben sie die Tragödie um Romeo und Julieta auf den Rang des Allgemeinen und Altbekannten. Der Zuschauer werde nur eine neue Darstellung des Immergleichen sehen.354 Das szenische Spiel wird damit als Wiederholung unzähliger bereits erfolgter Wiederholungen ausgewiesen,355 wobei die Handlung trotz Varianten, Aktualisierungen und Modus-Verschiebungen die gleiche bleibt.356 An einer Stelle etwa stellen Romeo und Julieta eine Liebesszene in tragischem Ton dar, dann im Stil des Cine negro, als Melodrama und schließlich als Musical. Die erste Fiktionsebene (das Drehen eines Filmes) bleibt dabei stets präsent.357 Mit jeder Wiederholung scheint der Fiktionsgrad des Gezeigten anzusteigen, das zur Bezugnahme auf Bezugnahmen auf Bezugnahmen... wird: Eine ,erste Ebene' direkten Erlebens verflüchtigt sich dabei.358 Mehrfach wird nicht deutlich, wie zwei nebeneinander ablaufende Handlungen aufeinander zu beziehen sind oder ob jede für sich zu lesen ist. In der fünften Szene z. B. sind Mercucio und Lorenzo Musiker auf Julietas Party und singen.359 Doch bleibt die Frage offen, auf welche Fiktionsebene sich der Text ihres Liedes bezieht: Richten die Sänger ihre Worte an niemanden konkret (dann sind sie Teil
354 In der ersten Szene spricht Mercucio vom Unglückszustand jedes Liebenden und endet mit dem Aphorismus: „Amamos siempre lo que más nos atormenta" (UT: 17). Lorenzo erklärt dem Publikum, dass nur das gezeigt werde, was ohnehin allgemein bekannt sei (UT: 17). Dementsprechend sagt Mercucio in einer Wendung an einen Zuschauer: „Tu drama no es sólo tu drama. Todos nosotros somos igual de desgraciados..." (UT: 17). 355 So sagt Lorenzo in der letzten Szene zum Publikum: „Y luego, además, lo único que hay son circunloquios: se dicen sólo los sinónimos de esa palabra que tenemos en la punta de la lengua y que no podemos recordar. Sinónimos y sinónimos" (UT: 41) Im Chor sprechen Mercucio und Lorenzo am Ende der letzten Szene die ,Moral' des Textes: „Esa es la tragedia:/saber que se irá repitiendo por siempre/la misma tragedia" (UT: 42). 356 Eine Abweichung vom stereotypen Ablauf ist etwa Julietas Darstellung als Drogenabhängige: „Julieta, con una sobredosis de heroína. Julieta, ácida y triste. Julieta, drogada y sola" (UT: 39). Vgl. auch Szene 9: „La escena concluye con la huida de Romeo a lomos de una ruidosa Kawasaki" (UT: 35). 357 Vgl. z. B. die Didaskalien: „En plena apoteosis aparece por el fondo el Productor. Se hace el silencio" (UT: 30) und: „Se miran, se sienten ridículos, ríen juntos" (UT: 29). 358 So lautet entsprechend die Didaskalie zur letzten Filmszene: „La muerte de los protagonistas sucede porque sucede, sin grandes aspavientos, con la inexorabilidad de un destino ya escrito. Sobre sus cadáveres, delicadamente extendidos el uno junto al otro, se encienden las luces tenues de dos focos" (UT: 39). 359 Das Lied beginnt im Stil eines Kommentars: „Esto es un bacanal sin danza circular y sin solista. Es un pretexto para el desenfreno, una conspiración de los sentidos" (UT: 25).
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eines Rituals), an die Partygäste (dann stehen sie auf der ersten Fiktionsebene) oder an den Zuschauer, der das gesamte Stück beurteilen soll (dann stehen sie auf der Wirklichkeitsebene des Publikums)? Auch in der achten Szene greifen unterschiedliche Fiktionsebenen ineinander: Romeo (Figur der zweiten Fiktionsebene ,Film') kämpft mit den Schergen des Produzenten (Figuren der ersten Fiktionsebene .Dreharbeiten), während eine Stimme aus dem o^Regieanweisungen gibt, die nicht zu dem gerade gezeigten Geschehen passen (also eine dritte fiktive Handlung kommentieren).360 In der zehnten Szene spricht Julieta mit dem Produzenten, wobei nur ihre Worte wiedergegeben werden, so dass das Gespräch wie ein Monolog wirkt; Mercucio und Lorenzo drücken dabei ihre Gedanken aus, wie in der Didaskalie vermerkt wird (UT: 37). Da jedoch Julietas Worte und die Mercucios/Lorenzos oft nicht logisch aneinander anschließen, ist der Bezug der beiden Kommunikationsebenen mehrdeutig.361 Besonders die Party-Szenen sind komplex. Sie spielen in der Welt des Filmgeschäfts, von der sich aber eine Art Traum-Szene abzuheben scheint (Szene 5 bzw. 6), in der Romeo und Julieta eine (nur gewünschte?) Begegnung spielen.362 Auf welche Fiktionsebene (Romeo und Julieta als Menschen? als Rollenfiguren?) sich die Worte beziehen, die Mercucio und Lorenzo synchron dazu sprechen, ist unklar; sie sprechen in der ersten Person Singular, doch wird nicht deutlich, wessen Gefühle sie ausdrücken, die eigenen, die Romeo und Julietas oder die der Schauspieler, die Romeo und Julieta mimen. Der Text verunsichert den Rezipienten durchgängig bezüglich der Zuordnung der Kommunikationsbeiträge zu Fiktionsebenen, besonders was die Unter-
360 Vgl. die Didaskalie: „Los dos esbirros del Productor acosan a Romeo y le intimidan. Se produce una pelea entre ellos. Romeo mata a uno de los esbirros. Durante el desarrollo de la pelea, una voz de megáfono emite órdenes de rodaje que complementan los hechos que presenciamos"; die Regieanweisungen lauten: „Un frenazo. Ojos abiertos. La nuez de la garganta: que le naufrague. Una puerta. Un portazo. [...] Temblor de manos. El gatillo. La voz de un niño. La señora: que se desmaye. Q u e rueden las naranjas de la bolsa. Efecto de pasos en el suelo mojado. ¡Ahora! ¡Corriendo! ¡Que huya rápido!¡Huida!" (UT: 31). 361 Vgl. einen Ausschnitt aus der Szene, der zeigt, dass Julietas Aussagen vor dem Produzenten und ihre Gedanken nicht klar aufeinander bezogen werden können: „JULIETA: [...] gracias a usted, estoy acabada./LORENZO: Estoy pensando en el suicidio, ¿verdad?/JULIETA: Necesito un castigo, ¿no? ¿Es eso lo que me está insinuando? Le doy mi palabra: estoy dispuesta a pagar todos mis pecados; hasta creo que dejaré propina./MERCUCIO: Quiero algo más de lo que quiero. Lo último que yo pueda pedir nunca será lo último que se puede pedir. Hay una demanda que no se formula nunca" (UT: 37). Sind Julietas Gedanken Möglichkeiten, Wünsche oder Ängste? 362 Die Didaskalie lautet: „Todos rodean a Julieta, centro de la fiesta. Un cañón de luz la ilumina. [...] Otro cañón de luz ilumina a Romeo, que se mantiene al margen. Los dos actores se miran desde lejos y empiezan a andar el uno hacia el otro, entre gente paralizada, sombras sin fisonomía. Mercucio y Lorenzo, mientras, comentan" (UT: 27).
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Scheidung zwischen der Welt des Filmgeschäfts und der der Filmfiktion betrifft.363 Dass der Text trotz seiner unbestimmbaren Sprünge zwischen Fiktionsebenen nicht völlig verwirrend ist, erklärt sich vor allem durch den konstanten Verweis auf die berühmte Shakespeare-Tragödie, also auf einen der bekanntesten Texte der Weltliteratur. Dieser hat durch die Jahrhunderte hindurch unzählige Nachahmungen, Modernisierungen und Variationen erfahren, so dass jede neue Bearbeitung auf ein dichtes Gewebe von Intertexten zurückgreifen kann. Entsprechend wirken Romeo und Julieta in Ultima toma nur wie ein Medium, durch das hindurch die ,ewige Wiederholung' des Gleichen spricht, und jede Szene scheint gleichermaßen nur die Wiederholung einer Wiederholung zu sein. Alle Kommunikationsbeiträge werden damit potentiell zum Zitat und alle Handlungen zu Verweisen auf bereits erfolgte Handlungen, buchstäbliche Umsetzung von Shakespeares Satz „All the world's a stage". Realität, Wunsch, Fiktion und Phantasie mischen sich dabei untrennbar, und innerhalb der unendlichen Wiederholungen verliert sich jeder Rest einer ursprünglichen, authentischen Geschichte. Dementsprechend erläutert Lorenzo dem Publikum gegen Ende, das Schauspiel sei ,,[c]omo un disco que sigue rayado cuando ya el disco se ha terminado" (UT: 42).
3.3.2.3
WEITERE BEISPIELE: VERRÄTSELUNG VS. AUFLÖSUNG DER TRENNUNG VON FIKTIONSEBENEN
Viele Texte werden pauschal als absurd oder grotesk eingestuft, weil die anzitierten Schemata und frames nur schwer auf eine Alltagswelt bezogen werden können und die Kommunikationsbeiträge damit hochgradig mehrdeutig sind. Obwohl solche Texte eine Phantasie- oder Albtraumwelt errichten, ist dennoch meist eine kohärente (nur eben ungewöhnliche) Sachdimension konstruierbar, was zu einer Verrätselung, nicht jedoch Zerstörung des Textsystems fuhrt. Damit Fiktionsebenen (und eventuelle Hierarchien zwischen mehreren Fiktionsebenen) stabil erscheinen, reicht es, wenn die Textdaten kohärent auf sie beziehbar sind: Am Anfang jeder Geschichte stehen freie Entscheidungen für Informationen fiktionaler und realer Natur. [...] Die anschließenden Informationen müssen in-
3 6 3 Das Telefongespräch zwischen Lorenzo und dem Produzenten, (Szene 2), Romeos Monolog nach Drehschluss (Szene 4), die Party fiir Julieta (Szene 5), Julietas Gespräch mit dem Produzenten (Szene 10) oder die Publikumsanrede in der letzten Szene scheinen auf der Ebene der Dreharbeiten situiert zu sein, während andere Szenen (3, 7, 8, 1 1 , besonders aber Szene 9, die soufflierte Liebesrede zwischen Romeo und Julieta) in ihrem Fiktionsstatus unbestimmbar sind.
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nerhalb der fiktionalen Realität selbst erzeugt werden und immanent plausibel sein. (Berghaus 2003: 21 lf.)*4
Beispiele Schrifitexte: Mag die Fiktionswelt, gemessen an der Alltagswelt, auch noch so ungewöhnlich erscheinen, liegen keine SI der Sachdimension vor, wenn diese Welt in sich stim-
mig ist. Gracia Morales' Quince peLtaños (Premio Marqués de Bradomín 2000,
Accésit Premio „Miguel Romero Esteo" 2000) zeigt z. B. drei Menschen in einer zunächst befremdlich wirkenden Welt, die in einem mit Stellwänden abgegrenzten Raum darauf warten, dass sie von einer Stimme aus dem o f fein Reiseziel genannt bekommen. Eine der Figuren, eine Frau, sitzt am oberen Ende einer Wendeltreppe, die (so wird im Laufe des Textes deutlich) ihren Wunsch versinnbildlicht, vor Missständen in der Welt nicht die Augen zu verschließen, also buchstäblich über die Wände hinauszuschauen. Den beiden anderen Figuren ist der ,Blick nach draußen durch die Wände versperrt. ,Oben vs. ,Unten wird damit zum Symbol für die (idealistische) Entscheidung, sich der Wirklichkeit zu stellen, im Gegensatz zu der (pragmatischen) Entscheidung, in Blindheit zu verharren.365 In Pepa Lozano Lostaus (1998) La criatura y otros monstruos beschließt eine junge Frau, ihr Leben tauchend in der Badewanne zu verbringen, um über ihren Tod nachzudenken. Eine abstruse Herr-Diener-Geschichte erzählt Méndez Moya (2000) in Trasnocha 2 (Anacronismo escénico). Maxi Rodríguez' (1997) Text El arte que hizo pub ist ein Gedankenspiel über die gewaltsame Verbreitung von Kunst: Ein bewaffnetes ,Comando Bululú' nimmt Geiseln in einem Disco-Pub, um mehr Wissen über und eine stärkere Verbreitung von Kunst einzufordern; die Grundsituation folgt keiner Alltagslogik, baut aber eine eigene kohärente ,Para-Logik' auf. Ahnlich handelt Maxi Rodríguez' (1990) El color del agua
{Premio Marqués de Bradomín 1989) von der Phantasiewelt (und der Identitäts-
krise) eines Dichters, der sich den ganzen Tag über in der Badewanne aufhält und seine Umwelt vornehmlich über die Wortfelder agua/pesca beschreibt.366 364 Vgl. Luhmann 1996a: 99-101. Vgl. auch Kirstein: „[...] theoretisch kann zu jeder noch so abwegig wirkenden Sprachäußerung eine Situation hinzu gedacht werden, in der gerade diese Äußerung durchaus akzeptabel und adäquat erscheint" (1989: 83f.). Vgl. auch Ausfuhrungen zum „Wahrheitswert" in fiktiven Welten (z. B. Surkamp 2002). 365 Vgl. die Aussagen der Frau: „La gente está como dormida o ciega, mientras tú, en esta cárcel, estás condenada a la vigilia..." (Morales 2001: 40). Vgl. auch die Interpretation der Metaphorik im Vorwort von Itziar Pascual 2001b: 13. 366 Maxi Rodríguez' (198 5) El mió coito o la épica del B. U.P. (XII Premio Borne de Teatro 1987) ist ein Text über eine unglückliche Liebesgeschichte, in der sich mittelalterliche Welt und Studentenmilieu der Gegenwart überlagern. Eine groteske Welt schafft Olvido Vítores' Text (1997) La cruel venganza de doña Esperanza, der die übersteigerte Racheaktion einer Frau an einer Diebesbande zum Gegenstand hat. Die Didaskalie zum Bühnenbild deutet bereits an, dass es um eine irreale Sprechsituation geht: „El decorado totalmente distorsionado y en colores chillones. La obra dará la sensación de cómic" (Vítores 1997: 149).
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Wenn Haupt- und Nebentext nahtlos ineinander übergehen, so dass nicht deutlich wird, wo die Fiktionsebene (Haupttext) aufhört und der Kommentar über diese Fiktionsebene (Nebentext) anfängt, muss dies nicht zwangsläufig SI nach sich ziehen. In José Ramón Fernández' (2000) La tierra werden z. B. Figurenaussagen und Beschreibungen typographisch nicht voneinander abgesetzt. Zwar ist dadurch bei einigen Kommunikationsbeiträgen nicht eindeutig entscheidbar, ob sie den Figuren oder dem Nebentext zuzuordnen sind,367 doch fuhrt dies zu keiner nachhaltigen Verstörung des Textsystems als Ganzem.368 Manche Texte zeigen ungewöhnliche Elemente und zunächst abstrus wirkende Situationen, die aber nach und nach ,Spielregeln' erkennen lassen, so dass die Texte insgesamt zu Allegorien werden. In Adrián Daumás' (1992) Text La escena del príncipe (Accésit Premio Marqués de Bradomín 1991) werden z. B. sechs Figuren zu einem im Todeskampf liegenden Prinzen eingeladen, der seinen Nachfolger bestimmen will. Die drei Männer und die drei Frauen sind zu Beginn an verschiedenen Orten des Saales platziert und reden simultan, so dass der Zuschauer, je nach Sitzplatz, nur einen Teil des Textes hören kann.369 Diese Nebenbühnen sind Orte der Intimität, an denen die Figuren ihr wahres Gesicht zeigen. Eine fur alle Zuschauer sichtbare Hauptbühne repräsentiert dann den offiziellen Ort des Auswahlverfahrens, wo die Figuren einander zu täuschen und zu manipulieren versuchen. Der Text lässt sich als eine Allegorie nach Art des theatrum mundi lesen, dessen Thema die „ambición de poder" (vgl. Daumás 1992: 116) ist. Als allegorische Spiele erscheinen auch José María Martínez Ruiz' (2003) El drama cósmico — die Figuren Nada, Nadia und Nadie spielen verschiedene Rollen im Angesicht eines „oráculo" — und González Gabriels (1999) Juegos Malabares — die Figuren Uno, Otro und Otro más versuchen, mittels ihrer Jonglierkünste Zutritt zu einem nicht näher charakterisierten Raum zu erhalten.370
367 Vgl. z. B. folgenden Auszug: „Mercedes ve pasar un toro de aire junto a su vientre. ¿Por aquí pasa?/Más vale. Miguel la besa./¿Y tu hermana?/Está abajo. Se besan con ansia./Espera. Se va a arrugar esto./Entra María con ropa./Es la hora de la tierra" (Fernández 2000: 78). Die Sätze „¿Por aquí pasa?" oder „Es la hora de la tierra" könnten von den Figuren gesprochen werden oder Kommentare des Nebentextes sein. Auch Juli Dislas (1999) Al anochecer beginnt wie ein Prosatext. Vgl. ebenso die Prosapassagen in Lucía Sánchez' (1994) Lugar común. (Posesión en doce tiempos) (Accésit Premio María Teresa León 1994). 368 Ahnliches kann über Hernández Garridos (1999) Kurzstück Internegativos gesagt werden, das einem Drehbuch ähnelt. 369 Vgl. zur Aufteilung der Bühne Adrián Daumás 1992: 61. Auch wenn jeder Zuschauer nur einen Bruchteil der Monologe der einzelnen Figuren hört, kann er Figurenidentitäten konstruieren, da sich die Figuren auf der Hauptbühne später allmählich gegenseitig entlarven. 370 Allegorisch stellt De la Peñas (2001) Kurztext Agen, 1, 1 die Versuchung eines Schriftstellers dar. Allegorisch ist auch Inmaculada Alvaros (1997) Suche einer Protagonistin nach einem Seelenverwandten in Rosa Espina (vgl. dazu Hormigón 2000: 82). In Eva Hibernias (1998) El arponero herido por el tiempo (Accésit Premio Marqués de Bradomín 1997) werden in lyrischen Erinnerungsfetzen unglückliche Erlebnisse einer Familie berichtet. Itziar Pascals (1994) Text
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Manchmal verweisen bereits die Sprecherangaben auf eine Phantasiewelt; in Muñoz de Mesas (2003) Objetos perdidos etwa eine Tasche, ein Rucksack und ein Koffer. Auch märchenhafte, poetische oder phantastische Texte können kohärente Systeme darstellen, wie z. B. Morcillo López' (1998) Los carniceros {Premio Marqués de Bradomín 1997), das eine albtraumhafte Uberlagerung von Krankenhaus, Psychiatrie und Krieg zeigt. Überraschung stiften Szenarien, die zunächst auf die Alltagsrealität bezogen werden können, allmählich jedoch durch die Hinzunahme inkongruenter Elemente ins Surreale abgleiten. Viele Texte können am Ende kongruent in einem anderen Modus (z. B. ,Phantasiewelt') als System konstruiert werden. Pedro Casablancs (1988) Text Fabulación en torno a una playa prohibida (Accésit Premio Marqués de Bradomín 1987) nennt z. B. als Spielort eine Fläche weißen Sandes mit einer Ziegelsteinmauer im Hintergrund. Eine zunächst alltägliche Szene - ein Paar bräunt sich am Strand - mutet durch das Erscheinen merkwürdiger Figuren, die zusammenhanglose Reden fuhren, immer phantastischer an. Anspielungen darauf, dass der Sand vermutlich verseucht ist, lassen schließlich eine Endzeitvision als Grundsituation deutlich werden. War der Text anfangs in einem Modus des Alltäglichen lesbar, wird er am Ende als Albtraum-Welt erfahrbar. Ebenenwechsel können auch als Sprünge gestaltet sein, so dass eine normale' und eine ,fiktive' Welt in Kontrast zueinander treten. Ein solcher Sprung findet sich beispielsweise in Juan Alberto López' (1997) Text Hijos de habitáculo, in dem eine Ärztin ein szenisches Experiment ankündigt und sich am Ende selbst als Teil des Experimentes zu erkennen gibt.371
Fuga zeigt symbolische Handlungen zum Thema,Krieg'. Zur schematischen Aufteilung dieses Textes vgl. Hartwig 2002: 144-146. Ähnlich schematisch konstruiert Pascual (1996) El domador de sombras. Die beiden Männer in Sergi Belbels (1990) En compañía de abismo wirken wie zwei Seiten eines einzigen Ichs. Vgl. auch das Gedankenspiel im Nirgendwo in Itziar Pascuals Kurztext Memoria (1994a; vgl. die Inhaltsangabe Hormigón 2000: 680). 371 Antonio Onettis (2002) La calle del infierno zeigt zunächst einen Konflikt dreier Frauen, die in einem Supermarkt arbeiten, bevor dann die letzte Szene alle vorherigen Kommunikationen als reine Einbildung einer Putzhilfe des Supermarktes ausweist. Ähnlich zwischen Phantasie und Realität wechseln die Texte 405 (Samper 2002; Accésit Premio Marqués de Bradomín 2001), Olvido (Pindado Jiménez 2001) und Recreo (Veiga 1998; der Protagonist heißt hier bezeichnenderweise Narciso). Mit Wunschwelt und Wirklichkeit spielt Caries Alberolas (2000) Mandíbula afilada, ein Text in zwei Teilen, in denen jeweils die Grundsituation (Juan liebt Laura, die einen anderen heiraten will) eine unterschiedliche Bewertung erfährt: Der erste Teil wird im zweiten als Juans Wunschphantasie kenntlich, der zweite repräsentiert die Realität. Eine überraschende Umdeutung am Schluss findet sich in Yolanda Pallins (1996c) Como la vida misma (vgl. die Inhaltsangabe bei Hormigón 2000: 663f.). Zwischen Alltäglichkeit und abstrusen Situationen spielen auch Dorados Por un jersey (1994) und Bienvenido al Klan (1996).
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Der Wechsel zwischen Innen- und Außenwelt einer Figur geht indes mehrfach auch mit einem Ineinanderfließen dieser beiden Wahrnehmungsebenen einher, da gerade der Wahn einer Figur dadurch fühlbar gemacht werden kann. So zeigt Yolanda Pallins (1996a) Los restos de la noche in 15 voneinander abgesetzten Szenen, wie sich langsam die Grenzen zwischen Realitätswahrnehmung und Phantasieerleben einer Frau namens Laura auflösen. Diese steht zwischen der biederen Welt ihres Ehemannes und der eines (nicht durch einen Namen individualisierten) Hombre, der Lauras Ängste und Schuldgefühle personifiziert. In der letzten Szene flieht die Protagonistin aus ihrer Wohnung und trifft draußen auf eine Frau, die sie zum Hombre führt: An dieser Stelle zerfließen die Grenzen zwischen den beiden Fiktionsebenen. Da diese aber bis zu diesem Punkt klar auseinander gehalten werden können, ist für den Rezipienten erkennbar, dass Laura hier in ihre eigene Wahnwelt eintritt; die Klarheit des Kontextes macht den Übergang zwischen den Fiktionsebenen kenntlich. So kommentiert Hormigón: „La aparición de la mujer (el otro yo de Laura) y la huida a la playa tiene tanto de fuga real como de entrada en la locura" (2000: 665).372 Verunsicherungen bezüglich der Sachdimension entstehen, wenn die Zurechnung der Kommunikationsbeiträge auf die Psyche der Figuren und zugleich auf deren Umwelt prinzipiell möglich ist. In Sergi Belbels El tiempo de Planck (2000), einem Text, der die letzten Stunden im Leben eines Mannes namens Planck erzählt,373 zeichnet sich die jüngste Tochter Maria durch ihre überragende Intelligenz und Feinfuhligkeit aus, die bewirken, dass sich in ihrer Wahrnehmung Halluzinationen, Wünsche oder bloße Möglichkeiten und Realität (auch für den Rezipienten untrennbar) miteinander vermischen.374 Mit Fiktionsebenen spielt auch Antonio Morcillo López' (2000a) El Exterminador, eine Geschichte über einen Kammerjäger, welcher Kakerlaken in
372 Ähnlich verfängt sich ein Protagonist in seiner Wahnwelt in Juan Mayorgas (2000) Cartas de amor a Stalin (Premio Borne und Premio Caja España 1998). Als Albträume gestalten González Cruz' (2001a) Kurztext El cuarto de los ratones und Villoras (2000d) Kurztext El ciego de Gondar das subtile Hinübergleiten von der Wirklichkeit in die Phantasie. 373 Der Text umfasst zweiundvierzig Szenen, die mit „Cero" bezeichnet werden und eine Szene „Uno": Symbolisch steht diese Aufteilung für die Zahl 10'43, eben die plancksche Zeit. Die allmähliche Auflösung chronologischer und kausallogischer Verbindungen zwischen den Szenen ist eine sinnliche Umsetzung von Theoremen der Quantentheorie bezüglich der Linearität der Zeit: In den 10" hoch minus 43 Sekunden, also der Zeit vor dem Big Bang, existierte keine raumzeitliche Linearität, d. h. es gab keine Ursache-Wirkung-Relation. 374 Wirklichkeit und Halluzinationen sind auch im Drogenrausch von vier Jugendlichen in Antonio Álamos (2001) Caos nicht mehr zu unterscheiden. Hier wird der Realitätsverlust als Verlust an Kohärenz unmittelbar szenisch vermittelt. Traum und Wirklichkeit überlagern sich auch in Óscar Huéscars (1998) Kurzstück El lado oscuro, in dem nicht geklärt wird, ob ein Maler mit seinem Modell Mona eine wirkliche oder eine nur eingebildete Beziehung hat.
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Privatwohnungen vernichtet. Die zunächst alltagsweltlich wirkenden Figuren haben instabile Identitäten, und ihre Beziehungen untereinander verändern sich im Laufe des Textes auf unerklärliche Weise. Der Text endet in einer Verwirrung aller Fiktionsebenen, da er Figuren miteinander kommunizieren lässt, die nur Teil eines (zuvor bereits evozierten) Gemäldes sind.375 Manche Texte, die erhebliche Brüche in der Kohärenz der Fiktionsebenen aufweisen, können mit Hilfe von Wissen, das als bekannt vorausgesetzt oder zumindest prinzipiell in Erfahrung gebracht werden kann (z. B. biographisches Wissen über historische Persönlichkeiten) zu einem kohärenten System komplettiert werden. Antonio Alamos (1992) La oreja izquierda de Van Gogh (Premio Marqués de Bradomin 1991) beschreibt z. B. vier Momente aus dem Leben des berühmten Malers. Der Text spiegelt die subjektive Perspektive eines Menschen wider, der Innen- und Außenwelt nur schwer, und im Laufe der Zeit immer weniger voneinander unterscheiden kann. 376 Das Ende des Textes zeigt das unwiderrufliche Auseinandertreten von wirklichkeitsbezogener Wahrnehmung und Phantasiewelt des Malers. Der intertextuelle Bezug zur historischen Person Van Gogh lässt die Sachdimension indes trotz abrupter Sprünge zwischen Innen- und Außenwelt des Malers kohärent erscheinen. Ahnliches kann über Alfonso Plous Biographien von Künsdern, Bunuel, Lorca y Dali (2000), Goya (2000a) und Picasso adora la Maar (Martin/Plou 2002), 377 gesagt werden: Sie zeigen schlaglichtartig assoziativ miteinander verbundene Stationen aus den Biographien der jeweiligen Personen, die zwischen verschiedenen Ebenen der Gegenwart und der Erinnerung hin- und herspringen. Auf ähnliche Weise nutzt Benito de Ramöns (2000) Medea/Médée die berühmten Prätexte von Euripides, Seneca, Corneille, Anouilh, Sastre und Müller (vgl. 2000: 163) zur Wahrung der Kohärenz seiner Medea-Version, die trotz assoziativer Szenenverbindungen eine kohärente Sachebene aufweist.
375 Ein ähnliches Verwirrspiel zwischen der Fiktionsebene der Haupthandlung und der der eingebetteten Geschichte findet sich in Morcillos El Tiovivo (2000b). 376 Die Szenenanweisungen zeichnen sich dementsprechend durch ihren Metaphernreichtum aus und wechseln öfter in die erste Person Singular, so dass sie als subjektive Wahrnehmungen des Malers kenntlich werden. Ortsangaben zu Beginn des zweiten und dritten Teils sowie zahlreiche Szenenanweisungen vor allem in den letzten beiden Teilen des Textes situieren das Geschehen in der Vorstellungswelt Van Goghs. Die erste Ortsangabe lautet z. B.: „Estudio del pintor. Una habitación que, por extensión, podría ser un campo de trigo. Es un interior y un exterior al mismo tiempo. El color predominante es el amarillo. D e vez en cuando un cuervo se posa sobre una silla vacía [...]" (Álamo 1992: 19). 377 Plou äußert sich zu Goya, Buñuel, Dalí y Lorca und Picasso adora la Maar in „Entre realidad y sueño", in: Cuadernos de Dramaturgia Contemporánea 1, Alicante: 21-28. Vgl. auch Martín/ Plou 2002: 3.
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Auch bei Rollenwechseln, welche die Figuren gewollt oder ungewollt durchführen, verschwimmen oftmals Fiktionsebenen ineinander, wobei jedoch in den meisten Fällen globale Unterscheidungen möglich bleiben. José Fernández' (1994a) Text ¿Qué hizo Nora cuando se marchó? handelt beispielsweise von einer Figur, die im Hades ankommt und dort vor Minos, Radamanto und Eaco verschiedene Rollen aus der Weltliteratur des Theaters spielt. Zwar sind die Ubergänge zwischen der ersten Fiktionsebene und den verschiedenen Rollenspielen oft überraschend, doch wird das Spiel-im-Spiel früher oder später (spätestens beim Ablegen der Rolle) als solches erkennbar. Verschachtelungen von Fiktionsebenen wirken als Überraschungseffekt in González Gosálbez' (1993) La pesadilla
(Premio de Teatro „Ciutat d'Alcoi" 1992),
der mit einem Traum-im-Traum-im-Traum beginnt, mit einem Traum-im-Traum fortfährt und schließlich auf einer ersten Fiktionsebene endet, was erst am Schluss bei der Rekonstruktion der Gesamtstruktur erkennbar wird.378 Ahnlich erweisen sich die meisten Kommunikationsbeiträge in Julio Escaladas (1998) Text Mutis erst am Ende als bloße Phantasie: In der ersten und der letzten Szene will ein Mann seine Frau verlassen und tut dies dann doch nicht. In den dazwischen liegenden Szenen verkörpern verschiedene Frauen Varianten einer Paarbeziehung.379 Einheitliche Elemente aller Szenen sind die Hinweise auf eine Reportage über Ameisen im Fernsehen und darauf, dass es neun Uhr schlägt - Sinnbild dafür, dass alle Kommunikationen in einem einzigen Moment (nur in der Vorstellungswelt des Mannes) ablaufen. In der mit „Coda" überschriebenen letzten Szene stellt Juan seinen Koffer weg, setzt sich neben seine Frau und schaut den Film über Ameisen an.380 Verunsicherung bezüglich der Fiktionsebenen kann auch durch Illusionsbrüche hervorgerufen werden. Gerade in der Unterhaltungskomödie kommt es oft vor, dass das Publikum zum Beichtvater wird.381 Bei direkten Anreden an Zu-
378 Der Text besteht aus drei Teilen und einem Epilog: Ein Drehbuchautor wird jeweils vom Telefonklingeln geweckt und erlebt eine Szene, an deren Ende er getötet wird; jedes Mal wacht er danach auf und erlebt die Szene noch einmal mit leichten Variationen. Im Epilog läutet das Telefon, aber der Autor liegt diesmal wirklich tot am Tisch. 379 Alle Szenen spielen im Wohnzimmer und tragen als Überschrift einen Frauennamen. 380 Ahnlich ist Galilea Pacuals (1998) Kurzstück Riégame strukturiert, das die gewalttätigen Phantasien einer Frau zeigt. 381 Vgl. z. B. Elvira Lindos (1996) La ley de la selva (ein Text über die Frustrationen einer Hausfrau), Caries Alberolas/Roberto Garcías (2002) 23 centímetros (ein Text über Beziehungsprobleme eines Callboys), Roberto Santiagos (2002) Desnudas (ein Text über eine Vierecksgeschichte um einen Filmregisseur), Garcia-Araus' (2002) Como cerdos (ein Text über die Arbeitslosigkeit einer Gruppe von Jugendlichen): In allen Texten wenden sich eine oder mehrere Figuren kurzzeitig ans Publikum, dem sie ihre Situation oder ihre Gefühle schildern.
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schauer liegt indes nur dann eine Aufhebung der Kohärenz der Sachdimension vor, wenn der Zuschauer auch eine Funktion innerhalb der Textorganisation erhält, etwa wenn er den Verlauf des Textes ändern kann. Wird er nur von der Bühne aus angesprochen, bleibt die Grenze zwischen ihm und der fiktionalen Kommunikation klar erkennbar. Manche Texte erschweren dem Rezipienten die Zuordnung von Kommunikationsbeiträgen insofern, als nicht deutlich wird, wie viele Fiktionsebenen voneinander abgegrenzt werden müssen. So bleibt bisweilen unklar, ob ein Sprecher in seiner eigenen Welt Selbstgespräche fuhrt oder ob er einen Kommunikationspartner hat. Emilio Encabos (2000) La metralla de los días (Accésit Premio Marqués de Bradomín 1999) lässt beispielsweise die Grenzen zwischen Phantasie und Realitätswahrnehmung verschwimmen: Der Protagonist Carlos trifft in einem verlassenen Lager, also einem neutralen Raum, auf eine Frau, die (wie sie erzählt) ,irgendwo' seine Telefonnummer gefunden und ihn angerufen habe, damit er ihr eine Vergangenheit erfinde,382 denn Carlos' Nebentätigkeit ist das Niederschreiben von Lebensgeschichten fremder Menschen. Carlos nennt die Frau Lucia, der er verspricht, ihre Aussagen mit eigenen Erfindungen zu einer Geschichte zu verweben. Außerdem lässt er den Wunsch durchblicken, Lucia möge im Gegenzug auch ihm eine Identität verschaffen. Nach einem Dunkelmoment lautet die Szenenanweisung: „Luz. Infancia. Los dos son niños. Lucía está debajo de la mesa agazapada" (Encabos 2000: 72). Spiel und Erinnerung überlagern sich, aber noch sind Didaskalien vorhanden, welche die Fiktionsebenen voneinander trennen.383 Die dritte Szene beginnt mit der Didaskalie „Luz. Adolescencia. Carlos está sentado frente al público con los ojos cerrados'' (Encabos 2000: 78). Ais Lucía Carlos küsst, wird aus dessen Reaktion nicht deutlich, auf welcher Ebene er antwortet, auf der des (gespielten) Jugendlichen oder der des (nicht gespielten) Erwachsenen. Auch im weiteren Gespräch stellt sich diese Frage mehrfach und bleibt stets unbeantwortet. Die vierte und letzte Szene scheint wieder auf der gleichen Fiktionsebene wie die erste zu liegen. Lucia erzählt u. a. von ihrem Arbeitstag, doch ihre Schilderung erinnert an das, was Carlos zu Beginn des Textes von seinem Arbeitstag berichtet hat: Imitiert Lucia ihn? Oder ist Lucia letzten Endes Carlos' Phantasiegestalt?384 Als sie geht, bleibt Carlos nur die Kassette mit Lucias
382 Die Frau erzählt, sie sei aufgewacht und habe nicht mehr gewusst, wer sie sei; ihr Wunsch lautet: „ Q u i e r o que me escribas. Invéntame" (Encabos 2000: 65). 383 Die Didaskalie lautet: „Carlos [...] empieza a volver a comportarse como un adulto. Ella se queda mirándole, paralizada, asustada" (Encabos 2 0 0 0 : 77). 384 Zweimal redet Carlos über sein H a n d y mit einer Frau, offensichtlich seiner Lebensgefahrtin, die auch Lucia heißt (Encabos 2000: 69) - hat sich Carlos die Figur Lucia als Lebenspartnerin erfunden?
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Worten vom Ende der ersten Szene und einem Abschiedsgruß, der die Zweifel an ihrer Existenz untermauert. 385 Der Text endet hier und lässt die Fragen nach Luciás Identität offen. In Maxi Rodríguez' (1998) Ondas erfolgt die Verstörung der Sachdimension aufgrund eines stetigen Verschiebens von Fiktionsebenen, das bewirkt, dass alle Kommunikationen unter Verdacht geraten, lediglich die Erfindung eines Schriftstellers zu sein: In der ersten Szene betrauert „El" einen Frauenleichnam; in der zweiten Szene erwürgt eine Großmutter mit einem Rosenkranz ein Kind; in der dritten Szene wird erkennbar, dass die zweite Szene nur eine erfundene Geschichte von „Él" war, der wieder den Leichnam einer Frau beklagt, die jedoch zum Leben erwacht. Beide streiten, und „Él" erwürgt die Frau - was erneut eine Phantasie sein könnte: „[...] nadie sabe dónde empieza la ficción y dónde acaba lo real" (Rodríguez 1998: 26). Einen Wiederholungseffekt, der die Relationen der einzelnen Textteile zueinander offen lässt, enthält José Luis Bernagos (1993) ¿A quién quieres quejarte tú, corazón?, das mit „Drama probabilistico en siete prólogos y una escena única" betitelt ist. Der Text wirkt wie ein ,Thema mit Variationen': In den sieben Prologen wird immer wieder die gleiche Szene mit verschiedenen Akzentuierungen gespielt, wobei in die abschließende ,escena única' Elemente aus jedem Prolog einfließen. Z u seinem Text Reloj (Accésit Premio Marqués de Bradomín 1988) gibt Rodrigo García (1989) auf sechs Seiten jeweils verschiedene Figurenangaben, wobei er einmal konkrete Namen nennt, ein andermal auf vage Stimmen verweist und an einer Stelle sogar unter die Figuren Giuseppe Verdi, Rigoletto, Gilda und Duca zählt. In jeder der sechs möglichen Figurenkonstellationen erscheint die Angabe „un viejo", Zentralfigur des Textes, deren Erlebnisse im Altersheim Gegenstand der Kommunikationsbeiträge sind. Wie viele Sprecher der Text umfasst bzw. welche Kommunikationen der Innen- und welche der Außenwelt des „viejo" angehören, bleibt offen. 386
385 Vgl. die Worte des Abschiedsmonologes: „[...] ya no me distingues de ese personaje que has creado y no sabes cual de los dos te habla. O de los tres. N o sabes si soy la amnésica, la que inventamos juntos o esa que no conoces y se burla de todo" (Encabos 2000: 99). 386 In Luna de miel setzt Yolanda Pallín (2000) mehrere Heiratsanträge und mehrere Versionen des Kennenlernens eines Paares nebeneinander, ohne zu präzisieren, welchen Wahrheits- oder Fiktionsgehalt diese jeweils haben. Ähnlich redet in Yolanda Pallins (1999a) Kurztext Memoria eine Frau offensichtlich über ihre Erinnerung, die bildlich auf eine Leinwand hinter ihr projiziert wird und die sie kommentiert. In Paco Sanguinos (1994) Mario 1979 (Accésit Premio Marqués de Bradomín 1993) wird ein Mordfall beschrieben, wobei bis zuletzt unklar ist, wer das Opfer ist, und wo die Grenze zwischen Realität und Phantasie/Erinnerung verläuft.
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Unlogische Vermischungen von Fiktionsebenen entstehen, wenn die Erzählung selbst Gewalt über den Erzähler erlangt, wie etwa in Antonio Onettis (1989) Text Marcado por el tipex (Accésit Premio Marqués de Bradomín 1988), in dem ein Schriftsteller von den Figuren seines Romanes am Ende dominiert wird.387 Eine andere Möglichkeit, Verunsicherung betreffs der Sachdimension hervorzurufen, ist, in ein kohärentes Textsystem Einzelszenen einzuweben, deren Bezug zum Kontext völlig unklar bleibt (.autonome Sequenzen). In Alberto Conejeros (2000) El lanzador de cuchillos wird z. B. anhand langer Monologe mit pantomimischen Einlagen die Geschichte eines Mordes aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet, in die wiederholt Beschreibungen eingeflochten werden, die als ,.Apuntes para la coreografía" oder „Apuntes para la música" bezeichnet werden. Diese stellen jedoch keine Szenenanweisungen im eigendichen Sinne dar, sondern sind impressionistische Schlaglichter, Intensität vermittelnde metaphorische Bilder, die unzählige mögliche Bezüge zum Kontext aufweisen. 388 Oft werden zusammenhanglose szenische Einlagen zur Auflockerung einer Geschichte eingesetzt und haben dann so wenig mit ihrem Kontext zu tun wie Werbepausen mit dem Fernsehprogramm. So sieht Antonio Onettis (1986) Text Los peligros de la jungla (Accésit Premio Marqués de Bradomín 1985) musikalische Einlagen vor, die keinen stringenten Bezug zur Geschichte haben. 389
Beispiele Bühnentexte: Viele Inszenierungen des Alternativtheaters enthalten ungewöhnliche Sprechsituationen, bilden aber insgesamt ein kohärentes Textsystem. Ihre Symbolik muss zwar z. T. mühsam entschlüsselt werden, ist aber prinzipiell erkennbar und weist eine innere Logik auf. Die Inszenierungen der beiden durch den Premio Marqués de Bradomín ausgezeichneten Texte Cuaderno de bitácora (2001 ; Regie: Carlos Álvarez-Ossorio) und Quince peldaños (2001; Regie: Rafael Torán) tauchen den Zuschauer z. B. in eine traumartige Welt, deren Symbolismus einer nach und nach erkennbaren Logik gehorcht. So zeigt die Bühne von Cuaderno de bitácora eine leicht nach
3 8 7 Ähnlich erzahlt Antonio Álamos Kurzstück Una luz que ya no está von einer Begegnung zwischen einer Pizzausträgerin und einem Schriftsteller, der diese nur erfindet: „Soy escritor. Tengo el nombre del personaje que estoy creando en ese m o m e n t o " (Álamo 2 0 0 2 h : 70). 3 8 8 Ähnlich steht in Laila Ripolls ( 2 0 0 2 ) La ciudad sitiada das T h e m a .Kriegselend' i m Zentrum, wobei halluzinatorisch-surreale Sequenzen eine Leidensatmosphäre schaffen, jedoch keinen eindeutigen Bezug zur H a u p t h a n d l u n g zeigen. 3 8 9 Als Auflockerung der H a u p t h a n d l u n g gibt es kurze, z. T. völlig inkohärente Nebenhandlungen von ,Chören in B. B. Oadas ( 2 0 0 2 ) La gallinita ciega oder in Jesús Laiz' ( 2 0 0 2 ) Phil o Sophia. Auch Elio Palencias ( 1 9 9 4 ) Escindida (Premio Marqués de Bradomín 1 9 9 3 ) enthält mehrere surreale Einschübe.
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vorne geneigte Kreisscheibe als Spielboden, die rot angeleuchtet wird, und einen roten Kreis an der Wand. Durch die Mitte der Kreisscheibe verläuft ein ebenfalls rot ausgeleuchteter Graben, der die (im Text als Leitthema fungierende) Trennung zwischen der armen und der reichen Welt als ,Wunde' visualisiert. Auf der einen Seite des Grabens befinden sich Maschinen, Schrauben, Rohre und Bildschirme, auf der anderen nur Steine. Das zunächst fremdartig anmutende Ambiente kann als .Teilung der Welt in Arm und Reich' gedeutet werden, das Hauptthema der Dialoge, so dass Visuelles und Sprechtext einander zu einem System ergänzen. In Quince peldaños sieht der Zuschauer einen futuristisch anmutenden Raum, der in sterilen Metall- und Weißtönen gehalten ist und klare geometrische Formen aufweist. Milchglaswände spenden Licht und versperren zugleich die Sicht auf die Außenwelt. In der Mitte der Bühne fuhrt eine Wendeltreppe ins Leere, an deren oberen Ende die Protagonistin Julia sitzt, die ein Fernglas auf eine links an der Wand befindliche Projektionsfläche richtet. Auf dieser erscheinen von Zeit zu Zeit Bilder von Krieg, Elend und Gewalttaten. Die Raumaufteilung macht die dem Text zugrunde liegende Leitdifferenz Blinde vs. Sehende, (am Boden der Tatsachen verweilende) Pragmatiker vs. (in geistige Höhen zurückgezogene) Idealisten augenfällig. Das Grundthema der Kommunikation ist das soziale Engagement des Individuums. In beiden Auffuhrungen braucht der Zuschauer einige Zeit, bis er ein kohärentes System konstruieren kann, da die Verweise auf Alltagssituationen verschlüsselt sind. Neben solch relativ einfacher Symbolik nutzen Inszenierungen oft assoziationsreiche Verwandlungsbühnen. In Si un día me olvidaras (2001; Regie: Carlos Rodríguez)390 bilden z. B. sieben rechteckige, aus Eisengittern gebildete Kisten das Bühnenbild, zwei von etwa zwei Metern, flinf von etwa einem Meter. Diese Kisten werden wie Module im Laufe der Auffuhrung zu verschiedenen Orten (Mauer, Kerker, Keller) zusammengesetzt. Sie verleihen der Aufführung etwas Abstraktes, da die Figuren stets in einem von klaren geometrischen Linien bestimmten Raum agieren; ein klaustrophobischer Eindruck entsteht durch die Gitter der Kisten, die teilweise durch Schatten noch verdoppelt werden. Zudem ist die Inszenierung monochromatisch, da dunkle Erdfarben in Kleidung und Requisiten dominieren. Lichtwechsel setzen die verschiedenen Räume voneinander ab und kennzeichnen insbesondere die Erinnerung sowie einen .irrealen' Ort durch einen grünen Lichtkegel, der am Ende als das .innere Gefängnis', Raum des Verdrängten, kenntlich wird. Der gesprochene Text handelt von Kindern, die während der argentinischen Diktatur verschleppt wurden und im Erwachsenenalter zum ersten Mal von ihrer Herkunft erfahren. Die szenischen Elemente und
390 Eine Rezension findet sich bei López Mozo 2001a.
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der Sprechtext evozieren die Schwierigkeit der Identitätssuche, das Dunkel der Erinnerung und den Kerker des Gedächtnisses.391 In vielen Inszenierungen wird der Zuschauer in das Spiel mit einbezogen. Solange er lediglich Ansprechpartner ist oder mit seinen Interventionen keine Auswirkungen auf die Bühnenhandlung hat, liegt keine Verstörung in der Kohärenz der Sachdimension vor. Kommt er der Aufforderung zur Beteiligung nach, wird er zum Mitspieler, verliert aber nicht zwangsläufig die Möglichkeit, Realität und Fiktion auseinander zu halten.392 Erst eine endgültige Preisgabe der Unterscheidung zwischen Publikum und Darstellungsebene macht das Theater zum Spiel. Verunsicherungen im Hinblick auf die Sachebene verursachen z. B. Improvisationen, bei denen der Zuschauer nicht entscheiden kann, ob es sich um ,echte' oder,fingierte' spontane Handlungen handelt. In Afiersun (2001; Regie: Rodrigo García)393 tritt beispielsweise einer der Schauspieler vor das Publikum und erklärt, der Regisseur habe ihm zehn Minuten zur Verfugung gestellt, um außerhalb der Aufführung seine „teoría del pensamiento" vorzustellen. Er bittet einen Zuschauer, auf die Bühne zu kommen, um sie gemeinsam mit ihm zu wiederholen. Die eigentliche Improvisation leistet hier der (nicht bei allen Auffuhrungen auffindbare) Freiwillige aus den Zuschauerreihen; die ,Improvisation des Schauspielers ist hingegen minutiös einstudiert, was aber anhand des Kontextes nicht erkennbar ist. Bezüglich der Unterscheidung von Fiktions- und Wirklichkeitsebenen wird der Zuschauer auch in side-specific-projects verunsichert.394 So spielt die Inszenierung País llamado Julio (2001; Leitung: Mario Vedoya, Koordination: José Sanchis Sinisterra) subtil mit der Grenze zwischen Inszenierung und Realität. Der Spielort ist die Casa de América, ein Stadtpalast an der Plaza de Cibeles in Madrid. Es gibt keinen Saal oder Bühnenraum; vielmehr wird die Zuschauergruppe durch das Ge-
391 So schreibt Rodríguez, die „textura de óxido" und die Gitterstäbe kongruieren mit den „ideas de frío, opresión y encierro interior que domina a los protagonistas" (2001: 175). 392 Selbst wenn der Zuschauer wirklich einbezogen wird, müssen die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit nicht zwangsläufig verwischen. In Sanedrín 54 (2003; Regie: Vanessa Martínez Navas) wird das Publikum beispielsweise als aktiver Teil in die Fiktion eingebunden. Dem Zuschauer wird zu Beginn eine Mappe in die Hand gegeben, in der die Patienten eines Sanatoriums fiir Geisteskranke beschrieben sind, die im Laufe des Abends szenisch präsentiert werden. Der Zuschauer soll am Ende per Handzeichen entscheiden, welcher der Kranken entlassen werden darf. Vgl. zu der Aufführung Henriquez 2003, Torres 2003. 393 Vgl. zu After Sun Einzelstudien bei Hartwig 2002a; 2003a sowie die Rezension López Mozo 2001c: 40. 394 Side-specific-projects sind Aufführungen außerhalb von Theatergebäuden an Orten, deren Eigentümlichkeiten bei der Inszenierung berücksichtigt werden.
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bäude geführt und trifft in den einzelnen Räumen auf Schauspieler, 395 die nicht alle aufgrund ihrer Kostümierung als solche sofort identifizierbar sind. Auch ist für den des Hauses Unkundigen nicht immer klar, was zum Bühnenbild und was zur normalen Einrichtung der Casa de América gehört. Viele Worte und Gesten der Schauspieler können dabei sowohl der Spiel- als auch der Realitätsebene zugeordnet werden, und oftmals ist nicht entscheidbar, wo die Performance beginnt. In der Vermischung von Figuren und Zuschauern, Bühnenbild und echtem Raum, Improvisation und Inszenierung wird der Zuschauer in seiner Wahrnehmung generell verunsichert bezüglich der Zuordnung seiner Eindrücke zu Rollenspiel oder authentischem Verhalten.396
3.3.3
D I E ZEITDIMENSION
3.3.3.1
VORHER VS.
NACHHER
Zeit ist keine objektive Größe, 397 sondern wird anhand von Interpunktionen in der Wahrnehmung und im Erleben konstruiert. 398 Interpunktionen grenzen Kommunikationseinheiten gegeneinander ab und ermöglichen damit, diese über Konstanz und Variabilität zueinander in Beziehung zu setzen. Ähnlichkeit und
Beim Betreten der Casa de América wird der Zuschauer zur Treppe geleitet, wo ein junger M a n n einzelne Personen jovial anspricht, so dass er als Schauspieler erkennbar wird. An der Treppe stehen indes zwei weitere Frauen, die unauffällig sind u n d erst i m Laufe der Führung durch ihr unangemessen lautes und theatralisches Sprechen als der Fiktionsebene zugehörig erkennbar werden. 3 9 6 Zwei Jahre später wird auf d e m dritten Festival Escena Contemporánea eine ähnliche Auffuhrung in der Casa de América angeboten, Alicia se murió de un susto (2003; Leiter: Juan Branca, Produktionsleitung: Leo Granulles, Regie und Inszenierung: M o r o Anghileri). Den Zuschauern wird diesmal die Rolle von potentiellen Käufern des Palastes zugewiesen. Immer mehr werden sie jedoch in die surrealen Geschichten der Hausbewohner einbezogen. Vgl. zu der Inszenierung Caruana 2 0 0 3 : 94f. Das von Borja Ortiz de G o n d r a koordinierte Zona Cero (2002) bringt plastische Kunst und kurze Inszenierungen in einem alten Wasserturm des Canal de Isabel II z u m T h e m a „11. September 2 0 0 1 " zusammen. Der Zuschauer sucht sich seinen eigenen Blickwinkel aus und wählt damit seine individuelle Perspektive, wobei er nicht immer unterscheiden kann, was zur Installation, was z u m Theaterspiel und was zum realen Wasserturm gehört. Vgl. die Kritik in Primer Acto 2 9 2 (2002): 95-98.
395
3 9 7 D i e E m p f i n d u n g eines kontinuierlichen Zeitstroms ist eine Illusion; in Wirklichkeit werden aufeinanderfolgende Bewusstseinszustände in Drei-Sekunden-Einheiten miteinander verknüpft (vgl. Mainzer 1999: 104). C i o m p i 1988 spricht von einer Eigenzeit (und einem Eigenraum) jedes Bezugssystems (also auch des Beobachters). 398 Bateson verweist darauf, dass eine Interpunktionsweise von Ereignissen weder wahr noch falsch sei (1983: 388). Woran sollte man auch Richtigkeit oder Falschheit überprüfen können? Interpunktionen können in einem gegebenen Kontext höchstens sinnvoll oder unsinnig sein.
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Verschiedenheit sind dabei beobachterabhängige Begriffe, denn der „Begriff der Zeit entsteht, wenn die sequentiellen Elemente auf die kontinuierlichen abgebildet oder projiziert werden" (Glasersfeld 1987: 167).399 Luhmann nennt Zeitlichkeit „ein durch Ausdifferenzierung ausgelöstes Zusammenbestehen von Veränderung und NichtVeränderung" (1989: 9).400 Die Zeitdimension eines Textsystems entsteht über die Zuordnung von Kommunikationsbeiträgen zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Ein Zusammenhang zwischen Kommunikationsbeiträgen (und den Situationen, die aus ihnen konstruierbar sind) entsteht, wenn diese als voneinander abhängig angesehen werden, denn „Kohärenz bezieht sich auf die Art und Weise, in der sich die Komponenten eines Systems beeinflussen" (Bargatzky 1986: 199).401 Ist eine Sequenz b in Hinblick auf eine Sequenz a funktionalisiert, dann stehen beide in einem nicht-kontingenten Verhältnis zueinander. Dies macht den Unterschied zwischen einer parataktischen und einer hypotaktischen Verbindung aus: Bei ersterer ist Sequenz b eine Alternative auf a; bei letzterer ist b eine Folge, Spezifizierung, Erklärung oder Analogie von a.402 Jede Anschlusskommunikation kann daraufhin beobachtet werden, welche Unterscheidung zwischen Information und Mitteilung sie an dem vorausgegangenen Kommunikationsbeitrag getroffen hat. Sie ermöglicht zudem die Konstruktion von Erwartungen (Wahrscheinlichkeiten) bezüglich des weiteren Verlaufs der Kommunikation (feed back bzw. feed forward).m Die Folgekom-
399 Die Theorie der Interpunktion von Kommunikationsabläufen (vgl. Watzlawick/Beavin/ Jackson 1980: 57f.) besagt, dass Menschen den Kommunikationsprozess in Verhaltens- bzw. Mitteilungssequenzen gliedern und damit strukturieren, z. B. Handlungen als ,Reiz' oder .Reaktion bewerten. 400 Zeit ist nach Luhmann die Desimultaneisierung von Welt (1998: 106), denn sie entstehe „zur Kompensation jener Verkürzung der Aktualität, mit der das Gleichzeitige limitiert und die Unbeeinflußbarkeit der Welt negiert wird" (104). 401 Jansen nennt als die drei Möglichkeiten der Relationen zwischen Szenen „dépendance", „indépendance" und „interdépendance" (1968: 84); Jansen erläutert: „Les situations entre lesquelles il y a des relations de (inter)dépendance forment, dans la succession, une chaîne si aucune des situations ne peut changer de place par rapport aux autres, et, dans l'ensemble, un système si aucune des situations ne peut être isolée du reste des situations" (1968: 86). 402 Oft werden Zeitzusammenhänge kurzerhand mit kausalen Zusammenhängen (etwa über handlungspragmatische Verknüpfungen) gleichgesetzt. Korrelationen sind jedoch logische Kategorien und gehören daher in den Bereich des Denkens (der Beobachtung) und nicht der Wahrnehmung, denn diese kann nur Einwirkungen bzw. Wechselwirkungen erfassen. Kausalität wird also von einem Beobachter konstruiert, indem eine Situation als Ausgangspunkt genommen wird, von der andere Situationen dann abhängig gemacht werden: Kausale, finale und sonstige Verknüpfungen sind Zuschreibungen des menschlichen Geistes. 403 Vgl. zu so genannten Anschlusserwartungen auch Ergebnisse aus der Linguistik, die darauf verweisen, dass Wörter bestimmte Folgewörter erwartbar machen, zu denen sie in einer metonymischen Relation stehen, z. B. einer Teil-Ganzes-Relation: Nach der Erwähnung von
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munikation entscheidet dann darüber, welche der Kommunikationsofferten tatsächlich weiter genutzt, also angenommen werden. Im Aneinander-Anschließen von Kommunikationsbeiträgen entsteht die Zeitdimension des Textes. Eine erfolgte Selektion kann durch folgende Selektionen verstärkt werden, so dass ein .Hintergrund' entsteht, vor dem Varianz und Invarianz wahrgenommen werden können. Der Rezipient wählt aus den Komponenten von Kommunikationsbeiträgen diejenigen aus, die er benutzt, um Kohärenz zu konstruieren,404 d. h. er muss Kommunikationsbeiträge selektiv betrachten, ihren Komponenten Varianz und Invarianz zuschreiben, damit Komplexität reduzieren und Redundanzen erzeugen. Es entsteht eine Struktur (ein Kontext), der einen Hintergrund bildet, vor dem Ereignisse sichtbar werden.405 In der Schachspielmetapher ausgedrückt, gibt die Zeitdimension darüber Auskunft, in welcher Reihenfolge die einzelnen Spielzüge getätigt werden. Nur wenn zwei Kommunikationsbeiträge ähnliche und unähnliche Aspekte aufweisen (oder zumindest ein Kommunikationsbeitrag als Überleitung konstruierbar ist), können sie in eine zeitliche Relation zueinander gebracht werden.406 Ist dies nicht der Fall, ist das zeitliche Verhältnis zwischen ihnen kontingent: Grundverschiedene oder identische Kommunikationsbeiträge stehen dann in keinem zeitlichen Verhältnis zueinander. Die Zeitdimension eines Textes weist keine SI auf, wenn für alle Kommunikationsbeiträge die dreifache Unterscheidung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eindeutig möglich ist, d. h. wenn jeder Kommunikationsbeitrag zu den übrigen entweder vor-, gleich- oder nachzeitig ist und wenn jede Situation zu den übrigen Situationen entweder vor- oder nachzeitig ist.
Fußboden wird z. B. eher Teppich als Bild erwartet (vgl. Müller 1984: 139). Zur Konnotation, die ebenfalls verbindende Funktion haben kann, vgl. die Angaben bei Fischer-Lichte 1998: 200, Anm. 12. Vgl. Eco: „Das Eintreten eines Erwartungszustands bedeutet, Vorhersagen zu treffen" (1987: 143). Vgl. auch das Kapitel „Vorhersagen als Präfiguration von möglichen Welten" (1987: 143-148). 404 Denn „.Gleichheit' ist immer das Resultat einer Untersuchung von bestimmten Eigenschaften" (Glasersfeld 2000a: 33). 405 Das bedeutet, dass Ereignisse keine ontologischen Gegebenheiten sind, sondern immer das Ergebnis einer Bezugnahme auf Nicht-Ereignisse (vgl. dazu Lotmann 1993: 332f.). Struktur und Ereignis sind wechselseitig aufeinander bezogen: „Von einem Ereignis läßt sich nur relativ zu vorgängigen bzw. nachfolgenden Strukturen sprechen, es bezeichnet die Unterbrechung oder Aufhebung einer Dauer und die Möglichkeit zu neuer Strukturbildung" (Kremer 1992: 517). Vgl. Lotmans (1993) Auffassung des Verhältnisses von Ereignis und Sujet: Ereignisse gibt es nur durch Überschreitung einer vorgegebenen Struktur: „Ein Ereignis ist ein revolutionäres Element, das sich der geltenden Klassifizierung widersetzt" (1993: 334). 406 Vgl. den filmischen Schnitt, bei dem Einstellungen zu einer sinnvollen Einheit verschmolzen werden (Theorie der Montage von Sergej Eisenstein).
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Raumzeitliche Brüche im Text führen nicht zwangsläufig zu einem Zusammenbruch der Zeitdimension: Als Ganzes kann der Text durchaus zeitliche Konsistenz aufweisen,407 während umgekehrt Texte, die ohne Unterbrechung ablaufen (vgl. den weiter unten analysierten Text Mujeres: tomas) durchaus SI der Zeitdimension enthalten können. Bei a-chronologischem Erzählen etwa ist die zeitliche Reihenfolge der Kommunikationsbeiträge durcheinandergeraten, was zu einer Wahrnehmungserschwerung führt und aufmerksamkeitssteigernde Funktion hat, denn die logische Implikation des post hoc, ergo propter hoc wird damit unterwandert. Kann jedoch am Ende des Textes ein globales Zeitgerüst erstellt werden, das allen Kommunikationsbeiträgen einen eindeutigen Platz zuweist, bleibt die Zeitdimension unbeschadet. Bei der Beurteilung von SI der Zeitdimension geht es also nicht darum, den plot des Textes zu betrachten — dieser kann zahlreiche Lücken, Brüche und chronologische Verschiebungen aufweisen —,408 sondern das Textsystem als Ganzes zu untersuchen. Paradoxie bzw. Kontingenz entstehen, wenn ein Kommunikationsbeitrag zu einem anderen so in Beziehung gesetzt werden kann, dass er weder Vorzeitigkeit noch Nachzeitigkeit bzw. sowohl Vorzeitigkeit als auch Nachzeitigkeit zugleich ausdrückt. In diesem Fall sind die beiden Kommunikationsbeiträge nicht eindeutig miteinander verknüpft und damit in ihrer Chronologie nicht bestimmbar. Wenn Kommunikationsbeiträge inkompatible Schemata oder frames aufrufen, stellen sie nicht miteinander verknüpfbare Ereignisse dar. Im Schrifttext kann dieser Eindruck durch Kommunikationsbeiträge unzusammenhängenden Inhalts, im Bühnentext durch brüske Umfunktionalisierung von Bühnenelementen oder unzusammenhängende simultane Wahrnehmungen hervorgerufen werden. Kommunikationsbeiträge, die mit einem ansonsten kohärenten Kontext weder durch gemeinsame Elemente noch durch Kausallogik verbunden werden können, bleiben in ihrer zeitlichen Einordnung in das Textganze unbestimmt; sie werden dann zu ,autonomen' Teiltexten.
407 Z. B. bei Ellipsen. So verweist Müller darauf, dass Kohärenz nicht an systematische Beziehungen zwischen Folgesätzen gebunden ist, sondern in einer übergreifenden /rawzf-Struktur verankert ist, „die vielfältige normale und erwartbare Anknüpfungspunkte über die in einzelnen Sätzen aktualisierten Teile des Gesamt-FRAME hinaus bereitstellt" (1984: 54). 408 Vgl. die Unterscheidung der russischen Formalisten zwischen Fabel und plot, plot meint eine Geschichte, „wie sie tatsächlich erzählt wird, wie sie an der Oberfläche erscheint mit ihren zeitlichen Verschiebungen, Sprüngen, Einblendungen von vorangegangenen und zukünftigen Ereignissen (beziehungsweise Antizipationen und flash-backs), Beschreibungen, Abschweifungen, eingeschobenen Reflexionen" (Eco 1987: 128). Die Fabel ist die geordnete Wiedergabe einer Geschichte.
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SYSTEMINTERFERENZEN
3.3.3.2
W E G E AUS DEM SYSTEM: PACO ZARZOSO,
RODEO;
B O R J A O R T I Z DE G O N D R A , MUJERES:
UMBRAL;
LLUÏSA C U N I L L É ,
TOMAS; P E D R O M A N U E L
VÍLLORA, BÉSAME MACHO
Die folgenden vier Texte zeigen verschiedene Grade an Unterhöhlung einer Vorher-Nachher-Relation: Fragmentierung, Stillstand, logische Schleifen und Rückbezüglichkeit. BEZIEHUNGSLOSIGKEIT:
UMBRAL
Paco Zarzosos (1997) Umbral {Premio Marqués de Bradomin 1996) 409 setzt sich aus ftinf, jeweils durch einen Dunkelmoment voneinander abgesetzten Episoden zusammen, von denen jede eine neue Situation und eine eigene Figurenkonstellation aufweist. Uber die Dialoge und die vagen Ortsbezeichnungen werden Kontexte nur angedeutet, und auch die Figuren sind nur sehr allgemein charakterisiert. Lediglich die Angestellte des Schlachthofes (der fünften Episode) hat einen konkreten Namen, Ana, die übrigen Figuren werden nur mit ihrer Funktion in der Figurenkonstellation benannt: Peatona, Peatón, Vecino de Abajo, Presidenta und Administrador del Matadero. m Zwischen den Episoden gibt es keine direkten Anschlüsse, und die Figurenkonstellationen überschneiden sich nicht; die Episoden sind daher eigenständig und verweisen nicht thematisch aufeinander. Die erste konfrontiert eine Frau und einen Mann an einem Hauseingang (U: 13). Aus dem Monolog der Frau wird ersichtlich, dass sie einst die Geliebte des Mannes war, der nunmehr mit einer anderen Frau zusammenwohnt. Die Kommunikationen kreisen um die Vergangenheit, die Gefühle und die unerfüllten Wünsche der Ex-Geliebten. Die Situation ist statisch angelegt; die Begegnung endet damit, dass der Mann ins Haus geht. In der nächsten Episode lässt eine Frau in einem Studio Bewerbungsfotos anfertigen. Die Fotografin bringt sie zum Reden, und die Kundin bleibt bei dem T h e m a ,Liebe' hängen. Sie lässt sich derart von ihrer Begeisterung hinreißen, dass sie beschließt, ihr unscheinbares Leben grundlegend zu ändern. Am Ende zeigen die nüchternen Worte der Fotografin, dass es sich aus ihrer Sicht um ein rein berufliches Gespräch gehandelt hat. Zwei Fußgänger treffen in der dritten Episode an einer Ampel aufeinander. Während sie darauf warten, dass diese auf Grün schaltet, malt sich die
409 Z u m künstlerischen Werdegang des 1966 in Puerto de Sagunto geborenen Schauspielers und Autors Paco Zarzoso, einem Schüler José Sanchis Sinisterras, vgl. Ragué-Arias 1999, Monleón 2002a, Sanchis Sinisterra 2002: 147-149. Vgl. auch das Interview mit Zarzoso in Pallin 1999b. 410 Obwohl sie sich gegenseitig danach fragen, nennen weder die Presidenta noch der Nachbar ihre Vornamen (Episode IV).
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Frau eine leidenschaftliche Liebesgeschichte mit dem Unbekannten aus.411 Als beide die Straße überqueren wollen, bittet der Fußgänger um Feuer, die Fußgängerin weist ihn jedoch schroff zurück, und beide gehen ihrer Wege. Die vierte Episode zeigt simultan zwei eigentlich in verschiedenen Stockwerken liegende Appartements (die Aufteilung der Bühne erinnert an den aus der Kinoästhetik bekannten split screen): An jeweils einem Ende eines Sofas sitzen die Sprecherin der Hausgemeinschaft und der Nachbar. Sie telefonieren miteinander, weil in der Wohnung der Frau der Strom ausgefallen ist, und erzählen sich Geschichten aus ihrem Leben. Als das Licht zurückkehrt, beendet die Frau das Gespräch abrupt. Die letzte Episode ist schließlich im Büro eines Schlachthofverwalters situiert. Dieser probt eine Ansprache an eine Angestellte namens Ana, die gekündigt hat, was er aber gerne rückgängig machen würde. Aus dem Selbstgespräch wird deutlich, dass ihm mit Ana eine Liebesbeziehung vorschwebt. Als Ana das Büro betritt, ertönt eine Sirene, die den Wortwechsel der beiden überdeckt. Dieser ist kurz und endet damit, dass Ana sich vom Verwalter verabschiedet. Gemeinsame strukturelle Kennzeichen der Episoden sind die nur vage Andeutung der Sprechsituation, das Fehlen grundlegender Situationsveränderungen und die undramatische Trennung der Kommunikationspartner am Ende ihrer jeweiligen Begegnung.412 Handlungsablauf, Motivik oder Details der Kommunikationssituation verbinden zwei oder drei, nicht jedoch alle fiinf Episoden miteinander.413 Die Episoden haben also keine übergreifenden Gemeinsamkeiten, weisen in sich aber eine kohärente Chronologie auf. Der Zusammen-
411 Ihre langen Gedankengänge dauern nur die reale Zeit einer Rotphase, so dass in dieser Episode eine deutliche Zeitdehnung vorliegt. Die Didaskalie lautet: „La frecuencia de la intermitente luz ámbar es mucho menor de lo normal. En ese lapsus de indecisión ámbar oímos el pensamiento de LA PEATONA en voz en off" (U: 33). Die Fiktionsebene ist hier also deudich markiert. 412 Jede Episode konfrontiert zwei Menschen miteinander, deren Beziehung sich dann sehr verschieden gestaltet; vier Konstellationen bauen auf klaren Rollenverteilungen auf (leidende ExGeliebte vs. gleichgültiger Ex-Geliebter, Verkäufer vs. Kunde, Sprecherin der Hausgemeinschaft vs. Mitglied der Hausgemeinschaft, Chef vs. Angestellte), eine bringt zwei nicht näher spezifizierte Fußgänger zusammen. Nicht alle Episoden umfassen Dialoge: Der Ex-Geliebte bleibt angesichts des Wortschwalls seiner Ex-Geliebten stumm, und das Gespräch an der Ampel findet nur in der Phantasie der Fußgängerin statt. 413 Die dritte und die fünfte Episode stellen die lebendige Phantasie einer faden Wirklichkeit gegenüber und verweisen so auf die Unmöglichkeit der Umsetzung von Träumen in der Alltagswelt. Die dritte und die vierte Episode haben gemeinsam, dass sich ein Mann und eine Frau beinahe einander annähern, dann aber doch voreinander zurückziehen. Eine unglückliche Liebesbeziehung in der Vergangenheit verbindet die Frauenfiguren der ersten und der vierten Episode. Die erste und die letzte Episode sind jeweils durch die Einseitigkeit der Kommunikation gekennzeichnet: Sie bestehen aus einem langen Monolog. Auch kleinere Details verbinden einige Episoden: das Telefon (Episoden I und IV), die Zigarette (Episoden I, III und IV) oder der Beruf bzw. die Suche nach einem Beruf (Episoden II, IV und V).
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halt des Gesamttextes wird nur über allgemeine strukturelle und thematische Ähnlichkeiten gewahrt: In jeder Episode versucht z. B. einer der beiden Gesprächspartner, sich einem anderen anzunähern. 414 A u f einer abstrakten Ebene verbinden alle Episoden die Themen Liebe und Kommunikation, wobei stets Klischees anklingen. 415 Die Kommunikation ist immer schleppend, wenn sie überhaupt in Gang kommt; jeweils einer der beiden Gesprächspartner bestreitet fast die gesamte Konversation, so dass kein wirklicher Dialog entsteht. 416 Jedes Gespräch ist daher durchgehend vom Verstummen bedroht. Die generischen Namen der Figuren lassen die Geschichten zu zeitlosen Beispielen dieses Typus von Gesprächsablauf werden. Der gesamte Text wirkt damit wie eine Darstellung von Variationen auf das Thema ,Kommunikationslosigkeit'. Die Beziehungen der Figuren sind außerdem flüchtig und oberflächlich. 417 Die Grundatmosphäre der einzelnen Episoden ist jedoch jeweils eine andere: Ist die erste eher melodramatisch, so sind die zweite und die fünfte durch die Uberlagerung inkompatibler
Kontexte (Liebe vs. Bewerbungsfoto,
Liebe vs. Schlachtereiberufi
komisch, die drit-
te Episode wirkt wie einer soap opera entsprungen. Die Verbindungen zwischen den fünf Episoden sind kontingent. Prinzipiell wäre es vorstellbar, dass alle Figuren des Textes Bewohner des Hochhauses sind, vor dem sich in der ersten Episode die Ex-Geliebte und der Ex-Geliebte treffen. 418
414 Liebesbeziehungen zwischen den beiden Gesprächspartnern klingen in allen Episoden an, mit Ausnahme der Episode II (Fotostudio), in der aber auch von Liebe die Rede ist. Die zentrale Unterscheidung ist hier die zwischen gesehen werden und nicht gesehen werden (U: 31), die symbolisch ausgeweitet wird auf geliebt werden vs. nicht geliebt werden. 415 Vgl. das sehnsüchtige Warten am stummen Telefon (Episode I), abgedroschene Liebesmetaphern der Fotografin (Episode II), der Fußgängerin (Episode III) und des Schlachthofverwalters (Episode V) bzw. das stereotype .Flirt-Programm' zwischen den Fußgängern und die Annäherung zwischen Hausverwalterin und Nachbar (Episode IV). 416 Die Ausnahme bildet das Telefongespräch zwischen der Presidenta und ihrem Nachbarn in Episode IV. Dies ist auf eine momentane Ausnahmesituation, den Stromausfall, zurückzuführen; das Interesse der beiden Gesprächspartner aneinander erlischt entsprechend in dem Moment, in dem der Strom wieder funktioniert und wieder andere Ablenkungen vorhanden sind. Zarzoso sagt selbst über den Stellenwert des Schweigens in seinem Theater: „[...] aquí hay silencios porque no se sabe cómo decir, pero hay una gran necesidad de decir algo" (Cracio 1998: 161). 417 Der Ex-Geliebte war nur zwei Tage mit der Frau zusammen, die derartig unter der Trennung leidet; die Fotografin sieht ihren Dialog mit der Kundin als reine Geschäftsbeziehung an; die Begegnung der Fußgänger an der Ampel kommt nur in der Phantasie zustande, Hausvorsteherin und Nachbar haben sich nur während der kurzen Zeit des Stromausfalls etwas zu sagen, und der Verwalter des Schlachthofs kennt die Frau seiner Träume nicht einmal persönlich. 418 Eine explizite Verbindung über die Einzelgeschichten hinaus ist der Name Ana: Er fällt am Ende der ersten Episode (durch das Interphon des Hauses) und ist der Name der Angestellten des Schlachthofes in der letzten Episode. Mehr als die Vermutung, die Schlachthofangestellte könnte im gleichen Haus wohnen wie der Ex-Geliebte, ist aus diesem Detail allerdings nicht ableitbar.
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Solche Konstruktionen von Kohärenz werden aber durch den Kontext nicht weiter gestützt und bleiben bloße Spekulationen. Offensichtlich liegen alle Episoden auf der gleichen Fiktionsebene, aber ihr Zusammenhalt ergibt sich höchstens auf einer sehr abstrakten und allgemeinen Ebene: das Bemühen einsamer Menschen um Kommunikation und das Scheitern dieses Bemühens. 419 Die Beziehungslosigkeit der Figuren, die in jeder Episode deutlich wird, spiegelt sich in der fehlenden Verbindung zwischen den Episoden. Nicht einmal über das Motiv des umbral, die im Titel genannte Schwelle, sind die Episoden eindeutig aufeinander beziehbar. Explizit wird eine Schwelle nur in der ersten Episode erwähnt: Hier stellt sie fiir die Ex-Geliebte symbolisch den Riss in ihrem Leben dar, welcher die gemeinsame Zeit mit dem Mann von ihrer jetzigen Leidenszeit trennt (U': 17f.). Auf einer abstrakten Ebene kann die Schwelle als (unüberschreitbare) Trennlinie zwischen Kommunikationspartnern gewertet werden, als Grenze solipsistischer Einzelwelten.420 Die fiinf Episoden von Umbral wirken damit wie zufällig zusammengewürfelte Einzeltexte, zwischen denen höchstens .Familienähnlichkeiten im Sinne Wittgensteins bestehen: Es gibt kein Element, das alle einheitlich charakterisierte, wohl aber ein Ahnlichkeitsverhältnis, das alle miteinander verbindet.421 WIEDERKEHR DES GLEICHEN: RODEO
Llui'sa Cunillés (1992) Text Rodeo (Premio Calderón de la Barca 1991) 4 2 2 umfasst Cliente, Mujer, Otro Cliente, Amigo u n d Padre. D e r
sieben Figuren: Ella, Hermano,
419 Zu Umbral schreibt Monleón: „De hecho, pese a la heterogeneidad anecdótica, sí existe un nexo interior entre las obras. Viene establecido por un sentimiento común que podríamos resumir en la soledad de unos personajes que, momentáneamente, consiguen la comunicación y salen de la agonía para volver luego a ella" (2002a: 19). 420 Monleón sieht das Wort umbral vor allem bezogen auf die erste Episode, aber auch auf „esa línea, nunca franqueada por los personajes, donde debiera empezar su encuentro real con los demás" (2002a: 22). 421 Sanchis Sinisterra (2002: 147) spricht bezüglich weiterer Stücke Zarzosos von einer „extraña sucesividad no progresiva" {Valencia), „elíptica" ( Cocodrilo ) und „simplemente truncada" (Nocturnos). Zarzosos Ästhetik charakterisiert Sanchis als „un permanente deslizamiento entre lógicas distintas" (2002: 149). Was er über Nocturnos schreibt, gilt auch für Umbral: „[...] la independencia situacional de cada una de las seis escenas, con sus espacios, personajes e historias diferentes, impide de entrada cualquier nexo argumental... aunque otros sutiles vínculos afirman que se trata de ,una obra', y no de un agrupamiento de piezas breves. [...] la continuidad cede su función estructurante a la contigüidad. Como si el soporte temporal de la relación causa-efecto, base de la progresión dramática, perdiera relevancia en beneficio de la dimensión espacial, enclave de los avatares de toda interacción humana: presencia/ausencia, proximidad/lejanía, propiedad/alteridad, aislamiento/comunidad, centralidad/excentricidad, estatismo/dinamismo, convergencia/divergencia..." (2002: 149). 422 Die 1961 in Barcelona geborene Sanchis Sinisterra-Schülerin Llui'sa Cunillé schreibt sowohl auf Kastilisch als auch auf Katalanisch. Zu Cunillés Werdegang vgl. Gabriele/Leonard 1996a:
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Ort ist ein Büro, das erst am Schluss des Textes als Büro eines Bestattungsunternehmens erkennbar wird. Erst am Ende sind damit auch einige vage Anspielungen und undurchsichtige Reaktionen in den Kommunikationen der Figuren verständlich.423 Die Perspektive, die der Zuschauer auf das Büro erhält, wechselt zweimal, wodurch der Text in drei Teile zerfällt, die jeweils durch einen Dunkelmoment voneinander abgesetzt sind. Das Bühnenbild bleibt das gleiche, nur wird es jeweils um 90 Grad gedreht.424 Nach der zweiten Drehung befindet sich auf der Bühne ein Totenkranz (R: 49), so dass der Ort spezifiziert wird. In den Repliken der Figuren dominiert das non sequitur, etwa in dem zusammenhanglosen Gespräch zwischen ,Ella' und der ,Frau (R- 35-44). Die Dialoge sind oft so vage, dass der Redegegenstand nicht deutlich wird. Die Figuren kommunizieren über Andeutungen miteinander, und viele ausgelassene Informationen sind anhand des Kontextes nicht rekonstruierbar.425 Auch darüber, ob die Figuren ernsthaft oder ironisch miteinander kommunizieren, ist oft keine klare Aussage möglich. 426 Manche Kommunikationsbeiträge wirken unmotiviert, weil zu viele Kontextinformationen zu einer sinnvollen Bedeutung fehlen.427 Aufgrund der Unklarheit der Sprechsituationen kann nicht bestimmt werden, worauf die einzelnen Anschlusskommunikationen Bezug nehmen. Systemtheoretisch ausge-
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18f. und Hormigón 2000: 269. Die Rätselhaftigkeit des Cunilléschen Theaters betonen Ragué-Arias (1996: 211-213) und Badle i Jordä (1998: 41). Zu dem Text Rodeo vgl. auch den Kommentar bei Sanchis Sinisterra 2002: 138-143. Viele Reaktionen sind zunächst unverständlich, etwa wenn der Bruder sagt: „Octubre... un buen mes, un mes casi excelente", und er und seine Schwester sich anschauen und lächeln {R 21). Der Sarkasmus wird verständlich, wenn der Satz auf das Bestattungsunternehmen bezogen wird: bueno bezeichnet dann Todesfälle. Vgl. die Didaskalien, welche den Wechsel beschreiben: „Oscuridad. Ella se encuentra sentada de perfil en su escritorio. La puerta que antes se encontraba en el fondo ahora se halla en el lado izquierdo, y la que estaba en el lado derecho en el fondo, como si en la habitación se hubiera operado un giro de noventa grados a la izquierda" (R: 34); „En la habitación se ha operado otro giro de noventa grados hacia la izquierda [...]" (R' 49). Der Beruf der ,Frau wird z. B. nur angedeutet, ohne dass ersichtlich wird, worin er eigentlich besteht, warum sie den ,Vater' sprechen will und warum dieser sich ihr offensichtlich entzieht (R 36). Die ,Frau' charakterisiert sich selbst mit den rätselhaften Worten: „Alguien que no viene a lo de siempre, que dice otras cosas, que no pasa de largo" (R: 39). Warum etwa das Verhalten der ,Frau als comedia bezeichnet wird (R 38), ist allein aus dem Kontext nicht erkennbar. An anderer Stelle wird nicht deutlich, was das Spielchen zwischen ,Freund' und ,Ella' zu bedeuten hat, bei dem es um den Satz „No lo soportaría si me dejaras" geht (R- 53). Hat der Freund den Satz im Scherz gesagt, und will ,Ella' ihn ernst nehmen? Oder hat er ihn im Ernst gesagt, und ,Ella' will ihn ironisieren? So wird z. B. nicht deutlich, warum der Spiegel, den der .Bruder' entdeckt, ein ausreichender Grund für seine nachdrücklichen Fragen ist und warum er ein Indiz für eine Krankheit darstellt (Ä- 29).
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drückt, wird die Differenz von Information {was jemand ausgewählt hat) und Mitteilung (unter welcher Perspektive er es ausgewählt hat) vielfach nicht erkennbar. Der Rezipient weiß zunächst nicht, ob die beiden Dunkelmomente vor dem jeweiligen Drehen des Bühnenbildes als Zeitsprünge aulzufassen sind, so dass er verunsichert wird bezüglich des zeitlichen Zusammenhangs der drei Textteile. Dass diese ein und denselben Tag beschreiben, wird nur anhand von Indizien deutlich.428 Zwei Rückverweise auf vorherige Kommunikationsbeiträge stützen beispielsweise die Vermutung, dass die Spielzeit einen Tag umfasst.429 Durch explizite Details sind die drei Teile jedoch nicht miteinander verbunden.430 Die Begegnungen der Figuren wirken daher willkürlich, ihre Dialoge unzusammenhängend.431 Ein Eindruck von Zeitlosigkeit entsteht dadurch, dass im Laufe des Textes nur minimale Situationsveränderungen erfolgen und somit das Leben aller Figuren still zu stehen scheint. Viele Kommunikationen sind schon zu Ritualen geworden: ,Ella' liest immer denselben Roman {R: 26) und beklagt sich darüber, dass die Kunden, die bei ihr anrufen, immer das Gleiche sagen (R: 42). Die beiden .Kunden, die ins Büro kommen, sehen sich dementsprechend zum Verwechseln ähnlich (R: 31). Auch die ,Frau' kommt wohl jeden Tag vorbei.432 Nicht einmal die Fiktionswelt des Kinos bringt Neues, denn der Film, über den der ,Kunde' an einer Stelle des Textes spricht, beinhaltet nur einen stereotypen Beziehungs-
428 Vor dem Ende des ersten Teils geht der .Kunde durch eine Tür von der Bühne, durch die er am Ende des zweiten Teiles wieder auf die Bühne tritt; die fehlende Unterschrift, die der .Kunde' zu einem Zeitpunkt verweigert (R: 31 f.), gibt der .andere Kunde' schließlich am Ende des Tages (R: 55). Auf einen Zusammenhalt der Geschichte verweist schließlich der Hut des .anderen Kunden', der an der Garderobe hängt (R- 21), auf den immer wieder angespielt wird (R• 22; 31) und den der .andere Kunde' schließlich mitnimmt (Ä- 54). 429 Im zweiten Teil fragt die ,Frau\ ob .Ella' verärgert sei (R: 38); als in Teil III der .Freund' das Gleiche fragt, antwortet .Ella': „Es la segunda vez que lo preguntan hoy" (Ä- 50). Außerdem bejaht .Ella' die Frage des .anderen Kunden', ob sein Bruder (.Kunde') im Geschäft vorbeigekommen sei, mit „esta tarde" (/£• 55). 430 Mit der geringen Kohärenz der Textelemente erklärt sich Hormigóns (nicht zutreffendes) Urteil: „Es un fragmento de realidad [...] [s]in linealidad en la fábula" (2000: 270). 431 Die Gespräche wirken ohne Zusammenhang wie die Impressionen des Alltagslebens, die .Ella' aufzählt (R: 39-43). 432 Vgl. .Ella': „Usted se presenta aquí cada tarde y hace esta comedia espantosa" (R: 38). Zum Abschied sagt die .Frau': „Volveré mañana" {R' 44). Als der .Bruder' den Inhalt einer Schachtel in den Mülleimer kippt, sagt .Ella' ihm voraus, er werde ohnehin alles wieder herausholen, was er dann auch macht (/£• 25). Der .Bruder' erscheint jeweils zu Beginn und Ende des Textes und spricht von seinen Plänen, sich eine neue Arbeit zu suchen (Ä- 24), ohne dass etwas daraufhindeutet, dass er seinen Entschluss in die Tat umsetzen wird. Auch die Streitereien mit seiner Frau wirken wie eine alte Gewohnheit.
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konflikt.433 Schon die genetischen Namen aller Figuren in Rodeo verweisen auf ein Fehlen von Individualität. Der Eindruck von mangelnder Zielgerichtetheit der Kommunikation wird dadurch verstärkt, dass ,Ella' (die Figur mit der größten Präsenz) mehrfach ihre eigenen Aussagen wieder zurücknimmt.434 Einen Eindruck von Stillstand ruft schließlich auch die Ähnlichkeit der wenigen ,Ereignisse' hervor: So erzählt ,Ella in der Mitte des Textes von einem schon einige Zeit zurückliegenden Unfall, dessen Zeugin sie geworden sei (R: 43). Gegen Ende des Textes berichtet der Vater von einem gerade erst erlebten, mit,Ellas' Bericht jedoch nahezu identischen Unfall (R: 57); die beiden Unfälle liegen zeitlich auseinander und sind doch so ähnlich, dass man sie für ein und dasselbe Ereignis halten könnte. In diesem Detail kondensiert sich die Grundstruktur des Textes: Alles wiederholt sich stereotyp. Eine Aussage .Ellas' ist in diesem Sinne paradigmatisch für die gesamte Zeitstruktur des Textes: „Si, pasan cosas, nadie lo duda, ni yo, pero ya han pasado, si es que realmente han pasado de ese modo" (R: 40). Die Dialoge werden wiederholt dadurch unterbrochen, dass eine Figur in den Nebenraum tritt, aus dem dann nach kurzer Zeit Wasserrauschen zu hören ist. Durch dieses Geräusch einer banalen Alltagshandlung gewinnt der Text einen Rhythmus, der einen Tagesablauf markiert, der eben nicht mehr durch echte Ereignisse in seiner Zeitlichkeit greifbar wird.435 Die Kommunikationen der Figuren wirken entsprechend wie Steinchen eines Kaleidoskops, das aus einigen wenigen Elementen (Kommunikationsmöglichkeiten) besteht, die sich in unterschiedlicher Reihenfolge unablässig wiederholen.436 Das .Drehen' des Bühnenbildes ist in
433 In dem Film will ein Paar mit einer Reise seine Beziehung retten; ,Ella' erwidert, das erinnere sie an etwas (R: 45f.), fuhrt diese Bemerkung aber nicht näher aus. Ihre Aussage kann auf die Tatsache bezogen werden, dass auch .Elia' selbst eine Reise plant (R: 23; 59f.) und auch sie nicht weiß, wie es um ihre Beziehung bestellt ist. 4 3 4 So bittet sie die .Frau' z. B. höflich, auf den .Vater' zu warten (R• 55), macht ihr dann aber Vorwürfe, weil sie wartet (R' 38). Wenn .Ella' von sich selbst spricht, schwächt sie ihre Aussagen meist anschließend wieder ab wie etwa in dem Satz: „[...] soy muy inteligente o al menos debería serlo" (R: 38). Als die .Frau zu .Ella sagt, .Ella' habe Sinn flir Humor, antwortet diese: „O al menos debería tenerlo" (R: 37f.). Über ihren Freund sagt .Ella' zum .Bruder', er sei nur „un amigo para pasar el rato" (R' 25), ihrem Vater kündigt sie allerdings an, dass sie den .Freund' heiraten wolle {R: 61). .Ella' hat ihn jedoch noch nicht einmal ihrem Vater oder ihrem Bruder vorgestellt. .Ella' sagt ihrem .Freund', er solle den ,Vater' nicht kennen lernen (R- 51), beim Abschied lauten ihre Worte aber dann: „¿Vendrás a buscarme mañana? Te presentaré a mi padre" (R• 57). 435 Bezeichnenderweise sagt ,Ella über ihre Uhr: „Todavía le doy cuerda cada noche, nunca se ha detenido... es casi una superstición, tengo la impresión de que si él se detuviera un día yo me detendría con él... " {R: 41) - es scheint fast so, als müsse sich eine leer laufende Existenz über mechanische Uhren der Tatsache versichern, dass überhaupt Zeit verstreicht. 4 3 6 Uber Cunillés Ästhetik allgemein schreibt Hormigón: „Sus obras suelen partir de situaciones generadas por el azar, de encuentros y desencuentros de personajes casi anónimos capaces de
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diesem Sinne ein Symbol fiir den Dynamik nur vortäuschenden Stillstand der Handlung. I M M E R W I E D E R Z U M E R S T E N M A L : MUJERES:
TOMAS
Borja Ortiz de Gondras' (1999)437 Kurztext Mujeres: tomas handelt von einer Begegnung zweier Frauen: Die zwanzigjährige Mercedes ist Lauras Tochter, die diese vor 19 Jahren verließ und nun zum ersten Mal wieder sieht. Das erste Treffen wird auf vier unterschiedliche Weisen gezeigt, wobei die Begegnungen jeweils nahtlos aneinander anschließen. Der Text bietet damit verschiedene Möglichkeiten der Entwicklung einer Grundsituation, eben unterschiedliche »Aufnahmen, wie der Stücktitel bereits andeutet. Der Text beginnt damit, dass Mercedes mit Jacke und Schirm wutentbrannt ein Appartement, offensichtlich Lauras, verlässt. Nach einiger Zeit steht sie mit nasser Jacke und nassem Schirm wieder in der Tür. Beide Frauen unterhalten sich, kommen aber mit keinem Wort auf den Wutanfall zurück. Eine Bemerkung Lauras lässt vielmehr darauf schließen, dass sie Mercedes zum ersten Mal in ihrem Leben sieht.438 Schließlich erzählt Mercedes vom Tod ihres Vaters, und Laura verlässt den Raum. Mercedes beginnt damit, Wasser zu kochen, als Laura an der Tür klingelt. Wieder wird aus einer Aussage deutlich, dass sich beide Frauen zum ersten Mal in ihrem Leben begegnen.439 Sie unterhalten sich über den Wunsch der Tochter, ihre Mutter endlich kennen zu lernen. Sie geraten in Streit, und die Mutter gibt der Tochter eine Ohrfeige, woraufhin diese aus dem Zimmer läuft. Kurze Zeit später klingelt sie jedoch wieder an der Tür, und Laura öffnet ihr. Wieder ist es offensichtlich die erste Begegnung.440 Mercedes erzählt diesmal vom Tod ihrer Großmutter, und Laura läuft überstürzt aus dem Raum.
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proporcionar una complejidad narrativa desde la aparente sencillez más elemental. Suelen ser segmentos que concluyen con la innecesariedad del acto, accidentes de una cotidianeidad que se sustenta en el vacío de una realidad irreal, fuera de su contexto, tal vez universal. Sus situaciones son acciones fallidas, contactos eventuales, actos inútiles repetidos con la monotonía de la cotidianeidad en la que todo es intercambiable" (2000: 269). Der 1965 geborene Baske Borja Ortiz de G o n d r a zählt zu den bekanntesten Autoren des spanischen Gegenwartstheaters. Er studierte Recht an der Universidad de D e u s t o u n d Dirección Escénica an der R E S A D und ist u. a. Gewinner des Premio Calderón de la Barca und des Premio Marqués de Bradomín. Z u Ortiz de G o n d r a vgl. Fernández 1996c, Matteini 1998, Pallin 1998, Fritz 1999, Pascual 2 0 0 1 a . „Te había imaginado distinta" (MT: 150); vgl. auch: „ T ú eras la que quería conocerme" (MT: 151). S o sagt Laura: „ M e haces todas las preguntas que quieras, ¿vale?, yo te las respondo, y luego nunca más nos volvemos a ver. C u m p l o c o m o madre una vez en mi vida y se acabó" (MT: 152). Laura sagt: „Te había imaginado distinta" ( M T : 155), u n d Mercedes siezt sie.
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Die vier Begegnungen gehen bruchlos ineinander über, können aber inhaltlich in kein zeitliches Verhältnis zueinander gebracht werden. Zwar sind beide Figuren durchgehend durch das Mutter-Tochter-Verhältnis gekennzeichnet, doch lernen die beiden Figuren sich in jeder Sequenz neu kennen. Damit ist der Ort zweifach funktionalisiert: Abwechselnd ist er Lauras oder Mercedes' Appartement.441 Zwei Objekte werden in allen vier Begegnungen thematisiert, eine Teetasse und eine Pralinenschachtel,442 die als materielle Elemente Konstanten darstellen, in ihrer Handhabung allerdings Varianten des Textes markieren; aus ihrem Gebrauch ist kein zeitliches Verhältnis der vier Begegnungen rekonstruierbar. Die vier Einzelsequenzen gehen ineinander über, ohne dass sie logisch aneinander anschließen, wodurch SI in der Zeitdimension entstehen. Mujeres: tomas zeigt damit Bruchstücke einer möglichen Geschichte wie Rohmaterial eines Filmes, dessen verschiedene Versionen bruchlos hintereinander abgedreht werden.443 Da die vier Sequenzen nahtlos ineinander übergehen, entsteht ein paradoxer Effekt. Sie sind in sich kohärent und logisch aufgebaut, ihre Verbindung ist jedoch paradox: Hier liegt eine .seltsame Schleife' vor.444 E N D L O S B A N D : BÉSAME
MACHO
In Pedro Manuel Villoras 445 (2001) Bésame macho (Premio Calderón de la Barca
2000) unterhalten sich zwei Frauen über ihre Beziehungen zu Männern: eine ältere Frau namens Helena und eine jüngere namens Clara. Die beiden befinden sich offensichtlich in einer Kneipe, in der man auch tanzen kann (vgl. BM: 20; 40), und kennen sich erst kurze Zeit. Helena hat sich neben Clara gesetzt, und diese scheint damit nicht einverstanden zu sein; entsprechend ist ihr Verhältnis konfliktgeladen. Das sich über geraume Zeit erstreckende Gespräch wird zweimal wortwörtlich wiederholt, wobei die Wiederholungen nahtlos aneinander anschließen, womit der paradoxe Fall vorliegt, dass die erste Replik des Dialogs die Anschlusskommunikation der letzten ist. 4 4 1 In der Didaskalie steht nur „un apartamento" (MT: 149). 4 4 2 A m A n f a n g isst Laura, a m Ende Mercedes den Inhalt einer Pralinenschachtel. In der ersten Begegnung bringt Mercedes eine Pralinenschachtel als Geschenk mit, aber Laura lehnt diese ab mit der Begründung, sie habe eine Allergie gegen Pralinen. In der vierten Begegnung schenkt Mercedes ihr erneut eine Pralinenschachtel, u n d Laura sagt nur „La intención es la que vale" ( M T : 156). 4 4 3 Der Text steht in einem S a m m e l b a n d , dessen übergreifendes T h e m a das Verhältnis von Theater und Kino ist. 4 4 4 Vgl. dazu Hofstadter 1985. Hofstadter nennt als Beispiel M . C . Eschers Bild einer optischen T ä u s c h u n g , Treppauf, Treppab: Der Verweis der dargestellten Treppen aufeinander schaffe ein Paradoxon: „Gleichermaßen ist jeder lokale Einzelteil von Treppauf, Treppab durchaus legitim, erst die Art und Weise, wie sich die Teile zu einem globalen Ganzen zusammenfügen, schafft etwas Unmögliches" (1985: 23). 4 4 5 Villora studierte Ciencias de la Información und Philosophie sowie Dirección de Escena in der R E S A D in Madrid. Er arbeitet als Kritiker der Zeitung ABC.
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Die beiden Frauen reden in Andeutungen, weshalb die Sprechsituation durchgehend unterspezifiziert bleibt. Der Gegenstand und die Motivation des Gesprächs bleiben unklar. D a die Frauen auf direkte Fragen mehrfach mit Gegenfragen antworten, bleibt der Bezugspunkt der Anschlusskommunikation oft verschwommen. 446 Spannung entsteht dadurch, dass jede Frau ein Anliegen hat: Helena will, dass Clara mit ihr kommt, 447 aber Clara will erst wissen, warum Helena die Männer hasst. D a keine von beiden nachgibt, drehen sich ihre Ausführungen im Kreis — so wie der Dialog wieder in seinen Anfang mündet. 448 Auch gibt jede Frau jeweils nicht die Informationen, welche die andere erbittet. Clara ist offensichtlich schwanger, und es klingt die Vermutung an, dass Helenas Sohn der Vater ist. D a sich beide Frauen gegenseitig der Lüge bezichtigen449 und ihre Aussagen gegenseitig entwerten, ist ihre Beziehung zueinander nicht eindeutig. 450 Der Kontext gibt keine Anhaltspunkte dafür, wessen Version glaubwürdiger ist. Hinzu kommt, dass die Figuren an verschiedenen Stellen sich selbst oder der jeweils anderen Figur widersprechen, so dass keine gemeinsame Gesprächsbasis entsteht.451 Konsens erzielen beide nur in zwei Punkten: im Eingeständnis ihrer Einsamkeit und in ihrer Überzeugung, dass Männer abstossend
446 Folgender Wortwechsel etwa kreist in sich selbst und bleibt in seiner Aussage mehrdeutig: „CLARA: Volveré mañana./HELENA: Y pasado, si quiere. N o se lo impido./CLARA: ¿Acaso podría?/HELENA: ¿Quiere ponerme a prueba?/CLARA: ¿Me está probando a mí?/HELENA: ¿Usted qué cree?/CLARA: ¿Y qué tal lo hago?/HELENA: ¿Usted qué cree?/CLARA: Q u e no está segura de recordar las reglas del juego" (BM: 27f.). 447 Die Beweggründe dieses Wunsches bleiben unklar; so erläutert Helena: „[...] lo único que pretendo de usted, lo que le ofrezco, es devolverla a su lugar" (BM: 27), ohne dann zu präzisieren, was sie mit „su lugar" meint. 4 4 8 Die Schnittstelle, an der die Wiederholung einsetzt, ist Claras Satz: „Todavía hay muchas cosas de usted que ignoro. [...] Yo sé por qué los desprecio, pero aún no me ha dicho por qué los odia" (BM: 52), wobei mit los offensichtlich die Männer gemeint sind, was aber nicht deutlich ausgesprochen wird. Helenas Antwort („No, por favor, no insista. N o vuelva a hacerme esa pregunta") ist der erste Satz des Textes und der Wiederholungen. 449 Vgl. z. B. das gegenseitige Misstrauen der beiden Frauen: „CLARA: D u d o que sea tan sensible, que le duelan las emociones, y mucho menos las palabras./HELENA: También dudo yo de su integridad, de sus intenciones" (BM: 36). 450 Dies wird z. B. an folgendem Auszug aus dem Dialog deutlich: „HELENA: [...] Lo que estuvo en mi vientre luego hurgó en el suyo" (das bedeutet, dass Claras Kind Helenas Enkelkind ist), „CLARA: Miente" (das bedeutet, dass Claras Kind nicht Helenas Enkelkind ist), „HELENA: „En su vientre, hurgando como un roedor" (Helena besteht auf ihrer Version), „CLARA: Mentira. Sucia mentira" (Clara besteht auf ihrer Version), „HELENA: Vomitando su escoria" (Helena besteht auf ihrer Version), „CLARA: Cállese" (Clara will die Kommunikation abbrechen), „HELENA: Y a usted le gustaba" (Helena stellt eine neue Behauptung auf), „CLARA: N o " (Clara verneint diese neue Behauptung; BM: 36f.). 451 So sagt Clara z. B.: „Usted lo conoce. Es su madre. H a venido por eso" (BM: 34), aber Helena antwortet nicht direkt darauf: Ein Konsens kommt nicht zustande.
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sind, die beiden einzigen Themen, bei denen sich ihre Kommunikationen klar aufeinander beziehen und gegenseitig ergänzen.452 Kurzzeitig duzen sich die beiden Frauen ( B M : 22), kehren aber alsbald wieder zum Siezen zurück: Auch in ihren Kommunikationen werden Annäherungen aneinander immer wieder zurückgenommen, was den Eindruck eines Auf-derStelle-Tretens des Dialoges unterstreicht. Jede der beiden Frauen beschreibt sich und die andere so, als wiederholen sie stereotype Handlungen und Kommunikationen.453 Zudem nähern sie sich bisweilen so stark aneinander an, dass es scheint, sie hätten die gleiche Lebensgeschichte.454 Da Männer nur in Verallgemeinerungen dargestellt werden, wird keine individuelle Geschichte erkennbar. An einigen Stellen scheinen Clara und Helena gar die Wiederholung ihres eigenen Dialoges zu ahnen, etwa wenn Clara sagt: „Creo que todo esto lo he vivido antes. [...] El lugar, su presencia, sus palabras, las mías" {BM: 38f.). 455 Diese Ahnung flihrt aber zu keiner Bewusstwerdung bezüglich der Kommunikationssituation oder gar zu einer Distanzierung von dieser und enthält damit auch nicht die Möglichkeit der Situationsveränderung. 456 Clara und Helena sind füreinander (und für den Zuschauer) unverständlich, und kein Aspekt ihrer rätselhaften Geschichte wird im Laufe des Dialoges geklärt. Zwar spielen sie immer wieder auf ihre Lebensgeschichte an, die eventuell das Geheimnis zwischen ihnen lüften könnte, doch bleibt es bei vagen Andeutun-
452 Vgl. BM: 42f.; 47f. Clara beschreibt die Männer, und dies kommt Helena bekannt vor (BM: 28-32). Für beide ist es sehr wichtig, dass sie Frauen sind, und für beide sind Männer Feinde. Auch reden sie über drei Typen von Männern, die eine Gefahr für sie darstellen {BM: 28). 453 Clara sagt z. B., dass es ihr öfter passiere, dass solche Frauen wie Helena sich zu ihr setzen und dann immer das Gleiche sagen (BM: 25). Auch qualifiziert Clara Helenas Aussagen wiederholt mit Sätzen wie: „Eso mismo dicen todas" (BM: 34; vgl. auch BM: 26; 33; 41). Helena verallgemeinert im Gegenzug Claras Erfahrungen (BM: 38). Helena fragt Clara, ob sie ,eine der ihren (möglicherweise der Frauen im Allgemeinen) sein wolle (BM: 25). Auch prophezeit sie Clara, sie werde die Männer hassen, weil das alle Frauen täten (BM: 51). 454 Helena malt beispielsweise die Beziehung zwischen Clara und dem Mann, von dem sie schwanger ist, mit detailreichen Sätzen aus und endet mit der Feststellung: „Esa era usted. Esa era yo; todas lo somos" (BM: 37f.). 455 Auf Helenas Frage, ob Clara sie kenne, antwortet Clara: „No, pero como si ya la conociese. N o la he visto nunca, y sin embargo la conozco" (BM: 39). 456 Vgl. „HELENA: Y nada de todo esto es nuevo para usted./CLARA: Nada./HELENA: Entonces sabrá lo que va a pasar ahora./CLARA: N o sé, no lo sé. Pero lo sé./ [...] HELENA: Se lo diré yo: que va a venir conmigo y nos iremos de aquí. [...] CLARA: N o estoy de acuerdo. N o es lo que siento. N o sé lo que es, pero sé que nunca me he ido con usted" (BM: 39). Vgl. auch Claras Antwort auf die Frage, ob Helena gehen solle: „Siento cosas que he sentido antes, pero no sé lo que tengo que hacer, ni lo que quiero. Lo siento, pero no tengo una respuesta para usted" (BM: 42).
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gen,457 die zentrale Fragen offen lassen: wer der Vater von Claras Kind ist, was Claras und Helenas Lebens so nachhaltig geprägt hat, warum Helena die Männer hasst und, viel fundamentaler noch, was die Frauen konkret voneinander wollen. Der Text handelt von immer wieder aufgeschobenen Entscheidungen und Erklärungen. Helenas vielversprechender Satz „Cuando tenga una decisión tomada se lo diré" {BM: 17), erweist sich damit als bloße Floskel. Die Wiederholung qualifiziert alle Kommunikationsbeiträge der beiden Frauen als Routine. Die Themen kreisen in sich selbst, der Dialog mündet entsprechend immer wieder in seinen eigenen Anfang ein und wird damit buchstäblich zwecklos.458 Bereits Gesagtes wird nicht kommunikativ weiterverarbeitet und verändert daher die Situation nicht. Die Eingangsreplik, welche alle weiteren Kommunikationen nach sich zieht, erweist sich in der Wiederholung paradoxerweise als Folge eben dieser Anschlusskommunikationen. Kommunikationen und Anschlusskommunikationen befinden sich damit in einem Verhältnis zirkulärer Kausalität, Zeit erscheint als reversibel, und es ist unmöglich, über die Ausgangssituation hinauszugelangen. Daher ist der Titel des Textes, welcher auf den berühmten Bolero von Consuelo Velázquez, Bésame mucho, anspielt, programmatisch: Im Bolero, dem andalusischen ,Werbetanz' eines Paares, werden die ewig gleichen Themen ,Liebe' und .Herzeleid' auf eine einfache Melodie im mäßig bewegten 3/4-Takt litaneiartig wiederholt. Ein derartiges Endlos-Band stellt auch der Dialog zwischen den beiden vom Leben enttäuschten Frauen dar.
3.3.3.3
WEITERE BEISPIELE: ELLIPSEN - SPIEGELUNGEN - SCHLAGLICHTER
Ein gängiges Schlagwort bei der Charakterisierung des spanischen Gegenwartstheaters ist .Fragmentierung', und in der Tat ist die Aufsplitterung einer Geschichte in Teiltexte ein äußerst beliebtes Organisationsprinzip der jungen Autorengeneration. In der überwiegenden Mehrzahl handelt es sich jedoch um eine elliptische oder verrätselnde Darbietung eines im Ganzen kohärenten Textsystems durch chronologische Umstellungen und nicht um echte Fragmentierung. Denn von dieser kann im Grunde nur die Rede sein, wenn die Textsequenzen entweder in sich geschlossene .autonome' Einheiten bilden oder wenn die Verbindungen zwischen Sequenzen äußerst vage sind (vgl. Hartwig 2004).
457 So antwortet Helena ausweichend auf die Frage, warum sie die Männer hasse: „Respete mi dolor, o mi edad, y no me haga esa pregunta. [...] Tengo una herida sin cicatrizar y prefiero no rascar en ella" (BM: 36). Vgl. auch Helenas Aussage: „Mi error viene de lejos, pero ese es un tema que no viene al caso" (BM: 18). 458 An einer Stelle sagt Helena dementsprechend: „Me alegra que creas que estamos hablando", worauf Clara antwortet: „No sea torpe. Llevamos mucho rato haciéndolo aunque no digamos nada [...]" (BM: 22).
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Beispiele: Schrifttexte Der fragmentarische Charakter vieler Texte zeigt sich schon in einer Aufteilung in kleine und kleinste Sequenzen, hervorgerufen durch Brüche in der raumzeitlichen Kontinuität. In den meisten Fällen fuhrt dies jedoch nicht zu einer Zerstörung des Textsystems als Ganzem. Vielmehr ist die Aufsplitterung die Folge notwendiger Selektionen innerhalb einer Erzählung, womit sie der filmischen Schnitttechnik vergleichbar ist. Erstaunlicherweise wird im Zusammenhang mit Theatertexten auch bei gewöhnlichen Ellipsen, die meist nicht einmal die Chronologie der erzählten Textteile verrätsein, auffällig häufig von Fragmentarik gesprochen, wohingegen keinem Kinozuschauer in den Sinn kommen würde, Schnitte und dadurch bedingte raumzeidiche Sprünge in einem Kinofilm als Fragmentarisierung der Geschichte zu bezeichnen: Kausallogische Verbindungen reichen aus, um die Kohärenz der Geschichte zu gewährleisten. Erst wenn die Anschlüsse zwischen einzelnen Einstellungen mehrdeutig werden, wenn also nicht entscheidbar ist, wie eine Sequenz auf vorhergehende Sequenzen Bezug nimmt und damit zwischen Information und Mitteilung unterscheidet, entsteht der Eindruck von Bruchstückhaftigkeit. Das Gleiche sollte bei der Charakterisierung von Schriftund Bühnentexten gelten: Einschnitte in einem kohärenten Ablauf von Kommunikationen in einem Text, in dem Sach-, Zeit- und Sozialdimension spätestens am Ende rekonstruierbar sind, dienen der Raffung oder der Akzentuierung des Erzählten und sind daher nicht als Fragmente zu werten. Solange die Systemhaftigkeit des Gesamttextes konstruierbar ist, sind die Einzelteile als funktionale Einheiten beschreibbar. In den meisten Texten ist die vermeintliche Fragmentierung dementsprechend nur eine elliptische Erzählweise, bei der jeder Teiltext auf ein übergreifendes Textsystem ausgerichtet ist. So ist beispielsweise David Desolas (2000) Baldosas (Premio Marqués de Bradomín 1999) eine ins Absurde spielende Komödie über das Leben eines Ehepaares, das sich trotz Geldmangels eine eigene Wohnung „baldosa por baldosa" kauft, in der die sich über Jahre erstreckenden Einzelgeschichten entsprechend markante Stationen im Kampf um das eigene Heim darstellen.459 Viele prämierte Texte des Premio Marqués de Bradomín sind ähnlich strukturiert: In Dámaris Matos' (2001) Cuaderno de bitácora (Accésit Premio Marqués de Bradomín 2000; Premio Miguel Romero Esteo 2000) geht es z. B. um die symbolische Darstellung der ungerechten Aufteilung der Erde in Arm und Reich.460 In Eva Hibernias (1997) Los días perdidos bietet jede Sequenz eine neue Facette eines
459 Dass am Schluss des Textes zwei Varianten durchgespielt werden — ein glückliches und ein unglückliches Ende - zerstört nicht die Systemhaftigkeit des Textes, denn eine Version ist als bloße Möglichkeit gekennzeichnet. 460 Vgl. auch den Kommentar bei Pascual 2001b: 14-15.
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desolaten Gesamtbildes des Krieges; eine zeitliche Erstreckung erhält der Text nur über die Figur des Mädchens Alba, das am Ende stirbt.461 Einheit des Ortes und eine ellipsenartige Handlung finden sich auch in Margarita Sánchez Roldáns ( 1 9 9 0 ) Beziehungskomödie Búscame en Hono-Lulú (Premio Marqués de Bradomín 1 9 8 9 ) und Juan Mayorgas ( 1 9 9 0 ) Darstellung einer republikanischen Exilregierung während der Franco-Diktatur, Siete hombres buenos (Accésit Premio Marqués de Bradomín 1989). Die Beispiele fiir elliptische Texte umfassen mindestens drei Viertel aller Texte des spanischen Gegenwartstheaters. 462 Ellipsen erlauben die Darstellung breit angelegter Sachverhalte, wie etwa historischer Ereignisse.463 Bisweilen erreichen die Texte raumzeitliche Ausdehnungen eines Epos, wie etwa bei Garcia Larrondo, dessen Texte auch einen stark märchenhaften Einschlag zeigen.464 Elliptische Texte ähneln vielfach Drehbüchern. 465 Die meisten raumzeitlichen Brüche werden zum Perspektivenwechsel genutzt, 466 ein gängiges Mittel, um an Szenenabschlüssen Pointen zu setzen und anhand von Parallelen und Kontrasten die Rezeption zu lenken.
461 Vgl. auch die Interpretation bei Hartwig 2002. 462 Nur mit einem Akteinschnitt unterbrochen wird Maxi Rodríguez' (1998b) Geschichte über spanische Fußballfans, ¡Oé, oé, oé...!. Auch Creo en Dios (Sanguino/González 1998) beruht auf Einzelsequenzen, die um die Entwicklung einer Freundschaft zwischen zwei Frauen kreisen. Mit zeitlichen Ellipsen arbeitet Antonio Onetti (1996) in seiner Milieuskizze Purasangre. Ahnlich ist Sánchez Roldáns (1996) Tragödie über einen Inzest, Sobre ascuas (1996), strukturiert. Elliptische Texte sind auch Carmen Delgado Salas (1991) Sueña, Lucifer (Accésit Premio Marquis de Bradomín 1990) sowie viele Texte der jungen RESAD-Absolventen, z. B. Emilio del Valles (2001) Cuando todo termine (eine tragische Liebesgeschichte während eines Krieges), Maria Gainzarains (2000) A punto de cerrar, Nieves Morenos (2000) Prólogo, Ana Rocasolanos (2000) El regalo (die Geschichte einer Krankenpflege), Sara Rosenbergs (2000) Senza fine (die tragische Geschichte eines Hausbesitzers, der sich gegen Immobilienhaie zu wehren sucht) und Yolanda Dorados (1996) Bienvenido al Klan. Vgl. Hartwig 2004b. Ellipsenartig sind schließlich alle drei 2002 mit dem Premio Marqués de Bradomín ausgezeichneten Texte: José Bustos El día de autos, Juan Alberto Salvatierra López' El rey de Algeciras und Marilia Sampers Menú del día. 463 Vgl. z. B. den Text Las tres heridas von Pilar Ruiz Gutiérrez (1994; Accésit Premio Marqués de Bradomín 1993); vgl. zum Inhalt Hormigón 2000: 867f. 464 Vgl. Larrondos Texte Mariquita aparece ahogada en una cesta (1993; Premio Marqués de Bradomín 1992), La cara okulta de Selene Sherry (1996) und Noche de San Juan (2002; Premio Hermanos Machado de Teatro 1998). 465 Solche Texte implizieren Simultanbühnen, die schnelle Sequenzwechsel erlauben. Vgl. Juana Martín Ramos' (2003) Text Todo lo que reluce es oro über den Konsumrausch. José Manuel Arias Acedos (2002) Komödie El niño no para de crecer por dentro nutzt die Szeneneinteilung zur Pointierung komischer Momente. Das Melodrama El último verano von Coté Soler und Raquel Pérez (Accésit Premio SGAE de Teatro 2000) erzählt die neuralgischen Momente der Geschichte einer Familienlüge. Auch Sergi Belbels (2000a) La sangre setzt parallel gebaute Szenen effektvoll nebeneinander. 466 In Antonio Alamos (1997a) Pasos etwa werden abwechselnd zwei Blickwinkel bezüglich einer Situation miteinander kontrastiert (die zweier Frauen und die zweier Kakerlaken), so dass
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In vielen Fällen sichert den Zusammenhalt der Einzelteile ein Erzähler, der dem Zuschauer (mühsame) kognitive Arbeit abnimmt, indem er Verbindungen zwischen den Textelementen vereindeutigt, gezielt (durch Fragen und Andeutungen) Spannung aufbaut und durch Kommentare Perspektiven schafft.467 Abstrakter wird die elliptische Struktur genutzt, wenn exemplarisch verschiedene Etappen eines übergreifenden Prozesses dargestellt werden.468 Nur noch rudimentäre Kohärenz weisen Texte mit Reigenstrukturen auf, in denen Sequenzen jeweils eine Figur aus der unmittelbar vorhergehenden Sequenz übernehmen, ohne die Sequenzen auch kausal miteinander zu verbinden. Zwei Texte des katalanischen Erfolgsautors Sergi Belbel zeigen beispielsweise diese Struktur, Caricias (1991) und Morir (Un instante antes de morir) (1996) (Premio Borne de Teatro 1994, Premio Nacional de Literatura Dramática 1996).469
Menschen- und Tierwelt parallelisiert werden. Rafael Cobos' (1999) Text Probablemente mañana (Accésit Premio Marqués de Bradomín 1998) zeigt die Reaktionen der Familienmitglieder auf eine Familientragödie. Ahnlich ist die Struktur des Textes Náufragas von Luis Merchán (2000): 25 Schlaglichter werden auf die Verarbeitung einer gescheiterten Paarbeziehung geworfen. Fina de Calderóns (2000) El árbol erzählt eine melodramatische Geschichte um eine unglückliche Liebe, wobei zwischen zwei Zimmern hin- und hergependelt wird. 467 In Liddells (2001) Hamorroisa mischen sich Erzählung und szenische Darstellung, was die Autorin zu zahlreichen Metakommentaren über das Beschriebene nutzt. Vom Totenreich aus erzählt eine Frau von ihrer gewalttätigen Ehe in Unos cuantos piquetitos (Ripoll 2000). In Yolanda Dorados (1999) El secreto de las mujeres stellt ein Mann Szenen seines Lebens dar, stets unter der gleichen Fragestellung: Was ist das Geheimnis der Frauen? Vgl. Erzählerfiguren in Cándido Pazos (1998) Kurztext Bululú del juez de línea. 468 Vgl. auch die im Rahmen eines Vortrags dargestellten Geschichten in Adelardo Méndez Moyas (2001) La muerte nuestra de cada día. Episoden einer Paarbeziehung zeigen Carlos Ruiz' (2000) Medias naranjas (siete historias ácidos) (Premio del IV Certamen Nacional Universitario de textos teatrales 2000) und Castel de Lucas' (2000) La estación verde (III Premio Arte Joven). Eine Experimentierbühne fur stereotype Verfuhrungsszenen entwirft Alvaro López de Quintana (1998) in Memorias de un seductor sin gancho; der Text besteht aus sehr kurzen Einzelszenen mit zahlreichen Ortswechseln und eingeschobenen recitables und cantables. Vgl. auch Francisco Sanguinos/Rafael González' (1995) La confesión de un hijo de puta: Die Szenen zeigen Verhöre mit einem Gauner in einem Kommissariat, die jeweils mit einem Freispruch enden. 469 In allen Zweierkonstellationen von Caricias geht es um den Unterschied Täter vs. Opfer, wobei jede Figur einmal die eine, ein anderes Mal die andere Seite der Unterscheidung illustriert. Der Text Morir reiht Episoden aneinander, die im ersten Teil über das Thema .Sterben, im zweiten über das Thema ,Gerettetwerden' miteinander verbunden sind, wobei die Sequenzen des ersten Teiles denen des zweiten kontrapunktisch gegenüberstehen. Zu Belbels Theater allgemein vgl. Pörtl 2002. Vgl. auch Rodríguez' (1999) El lóbulo y las orejas (Drama erògeno) und Onettis (1997) Madre Caballo (dazu Fritz 2002); Plous (1987) Laberinto de cristal (Premio Marqués de Bradomín 1986) zeigt Schlaglichter auf die Entwicklung eines Quartetts von Freunden, die in einer klassischen „cadena amorosa" unglücklich ineinander verliebt sind. Eine Reigenstruktur bilden auch die 15 Szenen von Nox tenebris (Barrera/Dólera et al. 1995): Nach und nach verschwinden Mitglieder einer Gruppe, die von einer Art Teufelsgestalt verführt werden (vgl. Hormigón 2000: 141).
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Sind die Sequenzen in sich geschlossene Einheiten, jedoch durch eine zentrale Figur miteinander verklammert, zeigt sich die Organisationsform des Stationendramas. 470 Da die Aneinanderreihung der Episoden nicht kontingent ist, solange eine zentrale Figur Kohäsion verbürgt, weisen solche Texte eine intakte Zeitdimension auf. Carol López Díaz' Susie {Premio María Teresa León 1 9 9 8 ) stellt z. B. eine Entdeckungsreise dar, auf welcher die Protagonistin mit verschiedenen gesellschaftlichen Subkulturen in Kontakt kommt, ohne dass eine zielstrebige Suche dargestellt wäre (wie etwa bei einer Initiationsreise); der Text stellt vielmehr das Leben der Protagonistin in seinem richtungslosen A u f und A b dar.471 Raúl Hernández Garridos Los malditos (Premio Calderón de la Barca 1 9 9 4 ) zeigt auf ähnliche Weise schlaglichtartig das allmähliche Hineinwachsen eines Jungen in eine Welt der verrohten Guerrilla im Dschungel, die abwechselnd von zwei Führerfiguren befehligt wird. Ein tanzartig angelegtes Stationendrama ist Arturo Sánchez Vélaseos ( 1 9 9 7 ) En-Cadena (Premio de la Universidad Politécnica). Bei exemplarischen Schlaglichtern aus dem Leben einer Gruppe wiederkehrender Figuren erinnert die Textstruktur an soap operas aus dem Fernsehen. Die auf Kurzszenen basierende Struktur dient abwechslungsreicher Unterhaltung, die keine Konzentration auf übergreifende Zusammenhänge erforderlich macht. Vor allem die jungen Autoren, die gerade die RESAD verlassen haben, bedienen
470 Dieser Dramentypus zeigt Stationen, die in jeweils autonomen Spielkomplexen „den Protagonisten des Stücks in immer neue Begebenheiten, in neue Entscheidungs- und Handlungszusammenhänge verwickelt. Dabei wechselt oftmals auch die Realitätsebene: Traum, Phantasie, Märchenwelt und Realwirklichkeit stehen bruchlos nebeneinander, bilden eine äußerst komplexe, lediglich im Erlebniszentrum des Protagonisten konvergierende Spielwelt" (Brauneck 1995: 206). 471 Pindados (2002) Ulises zeigt einen Mann, der offensichdich seiner Frau etwas angetan hat und nun ziellos durch die Stadt streift; in Alcalás (2001) Humo konfrontiert die (bereits tote) Eva ihren Ehemann mit Szenen seines Lebens; Nanclares' (2000) Dieta präsentiert die subjektive Welt einer Frau, die schlank werden will; Payá Gómez' (1999) Edipo en Móstoles zeigt zentrale Momente eines Lebensweges; Torrecilla de Fuenmayors (1999) Crapuleando con Satán Cañí (El diablo visita España) ist ein Gedankenspiel um eine Odyssee Satans, der mit einem Flugzeug über Spanien abstürzt und zurück in die Hölle will; Capitáns (1998) Viaje nocturno beinhaltet einen nächtlichen Irrgang durch Madrid, wobei der Protagonist nur auf Personen trifft, die morden oder ermordet werden; Lozano Lostau (1998) spricht in Ciclo über die Erlebnisse einer Frau mit ihrer Sexualität und den Menschen ihrer Umgebung; ein Stationendrama mit der Grundstruktur einer Suche ist Escalantes (1997) Buscando a Cary Grant, Stationen aus dem Leben eines brutalen Mörders zeigt González' (1997) Lovo (Yo violé a Caperucita Roja y luego la maté) (Accésit Premio Marqués de Bradomin 1996); in Schlaglichtern an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten zeigt González Gosálbez' (1995) El culo de la luna (Premio de teatro Durango-Baqué) das Leben einer zerrütteten Familie. Vgl. auch die Szenen in Ortiz de Gondras (1998) Mane, Thecel, Phares (Premio Calderón de la Barca 1998; dazu Fritz 1999: 43-46) sowie die Darstellungen des Lebens einer Prostituierten in Plous (1990) La ciudad, noches y pájaros.
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sich häufig dieser Darstellungsform.472 Die Trilogía de la juventud von José Fernández, Yolanda Pallín und Javier Yagüe {Las manos, 2001; Imagina, 2002; 24/7, 2002a)473 zeigt z. B. mosaikartig die Erlebnisse einer Gruppe von Jugendlichen unterschiedlicher Generationen im Spanien der 40er Jahre, zu Beginn der 70er Jahre und in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts. Gemeinsam ist den Texten, dass Themen und Konflikte aneinandergereiht werden, ohne dass die Handlungsstränge in eine abschließende Lösung oder eine Synthese münden. Trotzdem bleibt die Systemhaftigkeit des Gesamttextes erhalten, da Sach-, Zeitund Sozialdimensionen konstruiert werden können. In einigen Fällen elliptischen Erzählens sind die Einzelteile nicht chronologisch geordnet, sondern müssen puzzleartig wieder zusammengesetzt werden. Variaciones sobre un cielo nublado von Darío Facal enthält z. B. „27 variaciones pendientes de ser ordenadas para cada espectáculo concreto. El orden de la lectura propuesto no tiene ninguna pretensión de ser definitivo" (Facal 2003: 146). Die einzelnen Sequenzen lassen sich eindeutig chronologisch aufeinander beziehen (wenn sie auch auf verwirrende Weise dargeboten werden), so dass eine Geschichte in ihrer zeitlichen Erstreckung konstruiert werden kann: verworrene Beziehungen von Familienmitgliedern, die mit ihrem Leben unzufrieden sind, jedoch nichts daran ändern wollen. Dass die Reihenfolge der Szenen bei jeder Auffuhrung beliebig verändert werden kann, ist die strukturelle Umsetzung eines Grundgedankens des Textes: dass sich nämlich an der Grundsituation der Familie (Trennung, Betrug, Enttäuschung) nichts ändert.474
472 Mahor Galilea Pascuals ¡Comed mucha fruta! (1999) mischt unter die Schlaglichter aus dem Leben zweier Schwestern auch Traum- und Wunschszenen (vgl. Hormigón 2000: 353-355). 473 Vgl. zu Imagina Ruggeri Marchetti 2001: 76-85, Hartwig 2004. 474 Hernández Garridos (2003) Text Los engranajes (Premio Lope de Vega 1997) über die Gerichtsverhandlung einer Mörderin weist eine assoziative und sprunghafte Struktur von Erinnerungen auf, in die sich auch Wünsche und reine Phantasien mischen. Zwischen Vergangenheit und Gegenwart pendeln die Szenen in Casas' (2003) Y desaparecer... und in Agonía von González Cruz (1996; Premio Calderón de la Barca 1995; Premio Ciudad de Alcorcón para jóvenes 1995; Premio Rojas Zorrilla 1996). Zwei Texte Ortiz de Gondras, Del otro lado (Danzón) (2001a) und ¿Dos? (1996a), bestehen nur aus Teiltexten, die nicht in chronologischer Reihenfolge dargeboten werden. Del otro lado arbeitet zudem mit einer Darstellungsund einer Reflexionsebene (vgl. Hartwig 2003a), ¿Dos? erzählt von dem Wiedersehen zweier Freundinnen anhand von Fragmenten, die am Ende wie ein Puzzle zusammengesetzt werden können. Vgl. auch Lobos (1998) Apenas dos (Premio de la Universidad Politécnica 1998, zwei ineinander verschachtelte Zeitebenen), Mayorgas (1993a) Más ceniza (Premio Calderón de la Barca 1992) (drei ineinander verschachtelte Geschichten) oder El traductor de Blumemberg (Mayorga 1993, zwei Zeitebenen). Vgl. auch Caburs (2000) Kriminalgeschichte um die künstliche Erzeugung von Menschen, die erst am Ende in ihrer Chronologie erkennbar wird (Vitro), sowie Fernández' (1994) Para quemar la memoria. Vgl. auch Ibáñez' (1996a) Las estrellas también brillan en otoño und Fejermans (1986) Ejercicio de olvido (Accésit Premio Marqués de Bradomín 1985), in dem sich zwei Frauen nach Jahren wiedertreffen und noch einmal „in vivo" Stationen ihrer schwierigen Freundschaft erleben.
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Eine besonders ingeniöse Form eines .chronologischen Puzzles' ist Sergi Belbels (1990a) Talem (lecho conyugal). Dem Text liegt eine einfache, wenn auch abstruse Geschichte zugrunde, die in einer präzisen Zeitspanne abläuft,475 jedoch nicht linear erzählt wird, sondern zweimal in je 19 voneinander abgesetzten Szenen, von denen die mit geraden Zahlen vorwärts, die mit ungeraden rückwärts laufen (Belbel 1990a: 13). Die zeitlichen Verschiebungen können nach und nach vom Rezipienten aufgedeckt werden, so dass am Ende das Zeitgerüst der Geschichte rekonstruierbar ist. Die chronologische Verrätselung verleiht der banalen Handlung überraschende Pointen: Was zunächst wie eine Ansammlung enigmatischer, fast surrealer Fragmente anmutet, entpuppt sich zum Schluss als farcenhafte Bettgeschichte.476 Stark fragmentierte Texte, die viele SI in der Zeitdimension aufweisen, ahmen bisweilen eine verschwommene Erinnerung nach. Antonio de Pacos (2002) Text Polaroid besteht z. B. aus mehreren kurzen Textblöcken, die jeweils mit „1" und „2" überschrieben sind und buchstäblich wie die im Titel angedeuteten Schnappschüsse' wirken.477 Das zentrale Thema ist die Erinnerung anhand von Fotos: „De mi época de infancia guardo un recuerdo de color sepia, como las fotos que hacían las cámaras Polaroid" (de Paco 2002: 21). Eine ähnliche Struktur weist Rodrigo Garcías Kurzstück (1998a) Carnicero español auf, in dem sich eine Sprechinstanz (es gibt keine Sprecherangaben) mit einem versartig angelegten Monolog an Bilder seiner Kindheit erinnert Manche Texte bestehen aus Teiltexten, die in kein zeitliches Verhältnis zueinander gebracht werden können, die aber über Themen und Leitdifferenzen Ähnlichkeiten miteinander aufweisen. Übergangsformen bilden Texte, welche über einen nur sehr vagen Bezug oder eine lockere Rahmenhandlung eigenständige Einzelgeschichten miteinander verbinden,478 und solche, die in ein dominantes
475 Der Text gibt an: „[...] aproximadamente, de tres de la tarde a nueve de la mañana del día siguiente" (Belbel 1990a: 13). Ein Mann und eine Frau haben sich ein riesiges Bett liefern lassen, können es aber aufgrund widriger Umstände nicht einweihen und entschließen sich, zwei Unbekannte dies tun zu lassen (Amigo und Amiga)-, der Plan misslingt, Amigo und Amiga schlafen neben dem Bett, der Mann und die Frau streiten sich. Vgl. zu dem Text auch das Vorwort von Benet i Jornet (1990: 8). 4 7 6 Der Zusammenhang wird deutlich, weil die Elemente des ersten Teils wortwörtlich in die Kontexte des zweiten integriert werden. Hochgradig Mehrdeutiges (wie die fast autistischregressiven Worte der Frau „Limpio. Limpio. Limpio"; 59) erscheint am Ende als ein logischer Kommunikationsbeitrag (der Amigo hat sich übergeben, und die Frau säubert den Raum; 71). Vgl. auch Benet i Jornet 1990: 8. 477 Der Autor schreibt: „Concibo estos textos como una obra totalmente abierta a cualquier puesta en escena" (de Paco 2002: 19). 478 In Pomberos (2002) Pater, matris (Accésit Premio María Teresa León 2001) werden zwei parallele Geschichten erzählt: die von einem alleinerziehenden Vater und die von einem lesbischen Paar. Die drei begegnen sich ein einziges Mal, sind aber wiederholt gleichzeitig auf
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Textsystem ein zweites Textsystem einbauen, welches Zusatzaspekte des Hauptthemas enthält.479 Ein Beispiel für die Aufrechterhaltung der Sach- und der Sozialdimension bei Vorliegen von SI in der Zeitdimension ist Yolanda Pallins (1999) Lista negra, ein Text aus fünf in sich kohärenten Teiltexten, die keine Sprecherangaben enthalten und je eine neue Sprechsituation aufweisen.480 Aus den Kommunikationsbeiträgen geht hervor, dass in jedem Teil ein neuer Sprecher zu Wort kommt.481 Explizite zeitliche Bezüge zwischen ihnen gibt es nicht. Doch obwohl sich verschiedene Modi (reale Erfahrung, Erinnerung und Wunschwelt) überlagern, berichtet jeder Monolog, teilweise mit erheblichen Ellipsen und mit stark subjektiver Einfärbung, von einer im Großen und Ganzen zusammenhängenden Handlung an einem konkreten Ort. Zu letzterem werden zwar keine direkten Angaben gemacht, doch finden sich indirekte Ortsbeschreibungen in den Kommunikationsbeiträgen. Eine dominante Fiktionsebene (die Realität der Vorstädte), eine einheitliche Thematik (Gewalt) und gemeinsame Leitdifferenzen (Täter vs. Opfer) verklammern die Teile miteinander.482 Der Text zeigt nur SI in der Zeitdimension. Eine strenge Trennung zweier Teiltexte findet sich in Itziar Pascuals (1998) Las voces de Penèlope (Accésit Premio Marqués de Bradomín 1997); der eine evoziert die mythische Geschichte der Frau des Odysseus, der andere wirft Schlaglichter
479 480
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der Bühne zu sehen, ohne dass sie sich gegenseitig wahrnehmen. Abizanda Losadas (2000) Text Veo, Veo verschachtelt drei Geschichten über Entscheidungssituationen von Paaren ineinander und hält sie über eine Rahmenhandlung (Kinder, die durch ein Schlüsselloch schauen) zusammen. Auch in Pallíns (1996c) Como la vida misma überlagern sich drei Geschichten mit dem Thema ,Tod' (vgl. die Inhaltsangabe bei Hormigón 2000: 663f.). Heterogene Geschichten halten Jornet und García Prieto (1995) in Noticias del desorden über eine Rahmenhandlung zusammen; der Erzähler trifft am Ende mit einer Figur zusammen, so dass die Rahmenhandlung selbst (paradox) in die Fiktionsebene der Erzählungen hineingenommen wird. Sánchez' (1994) Lugar común (Accésit Premio María Teresa León 1994) verwebt drei Textsysteme, die Paarbeziehungen zeigen. Vgl. z. B. Pedro Riveros Text (2000) La Montaña del Rey (Königsberg) (Accésit Premio Marqués de Bradomín 1999), der eine Geschichte um eine Schauspielergruppe und den Inhalt eines der gespielten Texte miteinander verbindet. In jedem Teil ist von Handlungen die Rede: Im ersten vom Angriff eines frustrierten Arbeitslosen auf einen Arbeiter, im zweiten ein tödlicher Uberfall zweier Männer auf ein Liebespaar im Park, im dritten die Ermordung eines Menschen durch eine Jugendbande, im vierten eine Gewaltszene in der Metro und im fünften ein Bewerbungsgespräch. Direkter und indirekter Stil, eigene Rede und Zitat fremder Rede, Erzählung und direkte Anrede vermischen sich.Vgl. zu dem Text auch Serrano 1998a, Lax 1999: 23f. Daher trifft Hormigóns Urteil nicht zu: „Lista negra carece de argumento en el sentido tradicional de la palabra, lo mismo que carece de personajes y de coordenadas temporales o espaciales tradicionales" (2000: 668). Auf ähnliche Weise ist Yolanda Pallíns (1996b) D.N.I. ein Text ohne Zeit-, Orts- und Figurenangaben. Die neun Fragmente, aus denen er sich zusammensetzt, könnten alle Monologe der gleichen Frau, aber auch verschiedener Frauen sein; einigendes Element ist der Verlust eines Personalausweises.
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auf das Leben zweier moderner Frauen, die Probleme mit ihren Männerbeziehungen verarbeiten. Zwar besteht zwischen beiden Ebenen zeitliche Diskontinuität, doch haben sie das gleiche Thema: das Verhältnis zwischen Mann und Frau, insbesondere die Passivität der Frau (symbolisiert im Warten) und die Aktivität des Mannes (symbolisiert im Reisen). Über ein tertium comparationis sind die Teiltexte in Sergi Belbels (1986)
A.GJV.W. Calidoscopios y faros de hoy {Premio Marqués de Bradomín 1985) miteinander verbunden. Belbel stellt Schlaglichter aus dem Leben André Gides und Virginia Woolfs sowie einen Dialog zweier Menschen aus der heutigen Zeit nach einer gemeinsam verbrachten Liebesnacht nebeneinander.483 Parallelismen verbinden die Teile und machen sie leicht aufeinander beziehbar.484 Uber eine gemeinsame Thematik (unglückliche Liebesgeschichten und der drohende Selbstmord) sind auch die drei Geschichten in Sergi Belbels (1991a) Text Elsa Schneider miteinander verbunden, zwischen denen keine kausallogische Verbindung besteht, und die von Arthur Schnitzlers Figur Fräulein Else, Romy Schneider und einer Frau namens Elsa Schneider handeln. Belbel lässt den letzten Teil in beiden Texten als eine Art Synthese, Fortführung und Umschreibung der beiden ersten Teile erscheinen.485 Das Organisationsprinzip ,Thema mit Variationen liegt Texten zugrunde, die stark durch SI in der Zeitdimension geprägt sind, jedoch gemeinsame Bezugsfelder und Leitdifferenzen haben. In diesen Fällen kann von einer Varieté-Struktur gesprochen werden, wie etwa im Text ¡Hombres! der Companyia T de Teatre (1995), dessen Sequenzen über das im Titel genannte Thema miteinander verbunden sind, jedoch heterogene Sprechsituationen implizieren. Itziar Pascuals (1999a) Blue Mountain (Aromas de los últimos días) (Mención especial Premio María Teresa León 1998) zeigt auf ähnliche Weise zwölf unterschiedliche in sich zusammenhängende Dialoge über das Thema ,Kaffee'. Sehr nah an eine zusam-
483 Die beiden Figuren des dritten Teils tragen Namen, welche die gleichen Initialen haben wie Gide und Woolf: Alfred Geis und Verónica White. Ein Band verbindet sie miteinander und mit dem (dunklen) Bühnenhintergrund; erst am Ende wird deutlich, dass der Mann mit Gide, die Frau mit Woolf vertäut ist. 484 Gemeinsame Elemente der drei Teile sind Bänder, Kaleidoskop und Laterne. Jeder Teil beginnt mit wirren Satzfetzen aus dem o f f , die in den folgenden Dialogen wieder aufgenommen und kontextualisiert werden. Der erste Teil hat Haydn, der zweite Beethoven als musikalischen Referenzpunkt; im dritten Teil mischen sich verschiedene Musikrichtungen. 485 In Álamos Los enfermos wird eine Szene zwischen Eva und Hitler mit einer Szene zwischen Stalin und Churchill und einer Szene mit hohen Parteifunktionären im Kremlin verbunden, die in Hitlers Körper (bzw. Leichnam) ein verbindendes Element haben. Ein gemeinsamer Bezugspunkt ist zudem die Krankheit der jeweiligen Protagonisten (vgl. Álamo 1997: 13). Vgl. zu dem Text auch Baltasar 1997. Ähnlich erfolgt eine Integration von Einzelgeschichten nur auf einer thematischen Ebene (.Generationenkonflikt') in Población Jiménez' (2000) ¡Despierta, mttchacho!
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menhanglose Reihung von Einzelsequenzen reicht Méndez Moyas (2001c) Text Retalles (Untertitel: „Pulgas dramáticas sobre vida urbana") heran, in dem zahlreiche Episoden nur teilweise aufeinander Bezug nehmen und das vereinheitlichende Thema (Großstadtleben) zu allgemein ist, um mehr als nur oberflächliche Kohärenz zu verbürgen.486 Ein weiterer Schritt in Richtung auf die Auflösung der Zeitdimension erfolgt bei Texten, die nur noch durch ein marginales oder sehr allgemeines übergreifendes Element zusammengehalten werden. Borja Ortiz de Gondras (1996) Text Metropolitano etwa zeigt unzusammenhängende Szenen aus dem Alltagsgeschehen in einer Metrostation.487 Die einzige Verbindung zwischen ihnen besteht in der Einheit des Ortes, die auch eine Einheit der Fiktionsebene impliziert.488 Zeit- und Sozialdimension des Textsystems sind aufgelöst, während die Sachdimension weitgehend intakt bleibt.489 Selbst die Einheit der Fiktionsebene gibt Zarzosos (1997b) Nocturnos auf: Der Text wirkt wie eine willkürliche Zusammenstellung von sechs voneinander unabhängigen Sequenzen, in denen sich banale Alltagskonversation und phantastische Elemente mischen.490 Zarzoso selbst spricht davon, dass im Zentrum seiner Texte der Rhythmus stehe (vgl. Pallin 1999b: 74f.), der in diesem Fall das letzte Residuum von Kohärenz darstellt.
486 Vage über das Thema .Großstadt' sind die 17 Episoden in Pascuals (2000a) Ciudad lineal miteinander verbunden. Das gleiche Organisationsprinzip liegt Pascuals (2000) Una noche de lluvia zugrunde: verschiedene Dialoge immer wieder neuer Figuren vor einem Kino; alle haben denselben Film gesehen. 487 Nur eine einzige Figur taucht in mehr als einer Szene auf, deren Kommunikationsbeiträge jedoch keine eindeutige zeidiche Beziehung der Szenen untereinander nahe legen. Die Themen sind derart heterogen, dass auch keine kohärente Sozialdimension konstruiert werden kann. 488 Ähnlich ist der Text Estación Sur strukturiert, eine Gemeinschaftsarbeit von Mitgliedern des Teatro del Astillero (Fernández/González Cruz/Heras/Hernández Garrido/Mayorga 1999), bei dem der die Einzelepisoden verklammernde Ort eine Busstation ist. Vgl. das Konzept: „Las escenas que se ofrecen a continuación pueden tener cualquier orden, por lo que las presentamos con un criterio totalmente aleatorio: orden alfabético de la primera palabra. Queda en manos de quienes las pongan en escena la decisión acerca de qué escenas añadir o eliminar, acerca del orden, el tiempo y el espacio" (5). 489 Ahnlich besteht Rodrigo Garcías (2000a) Text ¡Haberos quedado en casa, capullos! aus fiinf in sich nur grob zusammenhängenden Teilen mit jeweils einer Überschrift. Garcia fuhrt den Text auf dem XI Festival La Alternativa in Madrid an fiinf verschiedenen Orten auf: in der Kunstgalerie Salvador Díaz, im Círculo de Bellas Artes, im Mercado de Fuencarral, im Palacio de Linares und im Sex Shop Mundo Fantástico (c/Atocha). García nennt das Theater selbst Teatro en serie. 490 Die Episoden handeln von einer Leuchtturmangestellten, dem Gespräch eines Mannes mit seinem Auto, dem Gespräch einer Frau und eines Krankenwagenfahrers wegen eines vermeintlichen Unfalles, dem Gespräch zwischen einem Fallschirmspringer und einer Frau, die Wäsche aufhängt, einer Unterhaltung zweier Frauen am Strand sowie von den Kommentaren einer Frau, die in ein Mietshaus am Stadtrand einzieht.
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Ähnlich löst Llui'sa Cunillés (1998) Text El instante (Accésit Premio María Teresa León 1997) Sach-, Zeit- und Sozialdimension auf, obwohl er die durchgängige Präsenz einer Figur aufweist und obwohl die Episoden in sich mehr oder weniger zeitlich kohärent sind. Ihre Verbindung erscheint indes völlig willkürlich, und das Textganze wirkt damit gerade wegen der Protagonistin, die in allen Teiltexten mitwirkt, kontingent: Die Figur erzeugt die Erwartung von Kohärenz, die mit jeder neuen Episode enttäuscht wird.491 Nur einen rudimentären Zusammenhang zeigt auch Lluísa Cunillés Kurztext Mediatriz de un escaleno (1991), in dem zwei Darstellungsebenen beziehungslos nebeneinander stehen: Während ein altes Ehepaar einen mysteriösen Mieter aus seiner Wohnung vertreiben will, isst ein Mann in der Mitte der Bühne ein mehrgängiges Menü. Ob er der nämliche Mieter ist, kann anhand des Kontextes nicht festgestellt werden. Letztes Element rudimentärer Kohäsion ist der lineare Ablauf der Dialoge des Ehepaares und der Verlauf des Essens. 492
Beispiele Bühnentexte: Viele Inszenierungen des alternativen Gegenwartstheaters reihen unzusammenhängende Anekdoten oder Erzählstränge aneinander, die auf Verwandlungs- oder Simultanbühnen szenisch präsentiert werden. Obwohl diese Bühnentexte fragmentiert wirken und oft kleine Einlagen direkten Kommunizierens mit dem Zuschauer enthalten (also Fiktionsebenen vermischen), erscheinen sie am Ende in ihrer überwiegenden Mehrheit als zeitlich kohärent. Dies gilt z. B. für die Inszenierungen der bereits angesprochenen Trilogía de la juventud (Las manos, 2000; Imagina, 2001; 24/7, 2003; Regie: Javier G. Yagüe), drei Bühnentexte, die schlaglichtartig das Leben jugendlicher Spanier in drei verschiedenen Jahrzehnten beleuchten. Die Bühnendekoration besteht aus mehrfach nutzbaren Elementen, 493
491
In der ersten Szene reden Marta und ihr Lebensgefährte Eduardo von einem Kostümfest, das sie besuchen wollen; a m Ende erbricht sich Eduardo und stürzt auf einen Tisch. Auf diese Handlung wird in der nächsten Szene kein Bezug genommen. Marta unterhält sich hier mit einem .älteren M a n n über nicht weiter konkretisierte Geschäfte; am Ende werden sie aus der Luft angegriffen, wobei die Beweggründe dafür im Dunkeln bleiben. Auf dieses Ereignis nimmt die Folgeszene nicht Bezug; Marta lernt einen .jungen Mann kennen (Verführungsversuch?), und die Szene endet damit, dass Marta unmotiviert ihren K o p f auf eine Theke legt. In der letzten Szene unterhält sich Marta auf einem Kostümfest mit einer Frau über unzusammenhängende Themen, wobei die Frau während des Gesprächs ihr Kostüm abund dann wieder anlegt. 4 9 2 Eine rätselhafte Grundsituation stellt auch Cunilles (1996a) Text Accidente dar, der die Begegnung zweier Männer (Hombre 1 und 2) und deren berufliche Zusammenarbeit umfasst. Der Zusammenhang der Kommunikationsbeiträge ist nicht durchgehend ersichtlich. 4 9 3 Viele Requisiten werden mehrfach und auf verschiedene Weise genutzt, so z. B. ein Wassereimer in Las manos als Waschtrog, als Wasserfurt oder als Viehtränke, ein Tisch als Tisch oder als Bett. In Imagina besteht das Bühnenbild aus übereinander gestapelten Kästen, welche die
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die heterogene Orte stilisiert andeuten. Der Wechsel zwischen den Sequenzen erinnert an filmische Schnitttechniken.494 Auch die Inszenierung Hamlet Garcia (2002; Regie: Miguel Morillo) setzt sich aus unterschiedlichen Bühnenelementen wie ein Puzzle zusammen, ergibt jedoch am Ende einen erkennbaren Zusammenhang. Den vier Schauspielern sind zunächst jeweils eigene Bühnenbereiche und Requisiten zugeordnet, und das Bühnenbild wirkt wie ein ungeordnetes Sammelsurium. Im Laufe der Zeit wird indes deutlich, wie die Segmente aufeinander bezogen werden können: anhand zusammenhängender Erlebnisse dreier Menschen in einer Großstadt. Ein am Ende ertönender Wecker deutet an, dass die drei Geschichten von einer Person nur geträumt wurden. Nur dass auf der Bühne eine Musikband spielt, die an keiner Stelle einen Bezug zu der Handlung auf der Bühne aufweist, stellt einen Bruch in der Zeitdimension dar. Unsicherheiten bezüglich der Beziehungen der einzelnen Bühnen- und Textelemente entstehen bei Umfiinktionalisierungen von Bühnenelementen, die offensichtlich auch Zeit- und Fiktionsebenenwechsel andeuten, diese aber nicht klar markieren. So zeigt sich etwa Auflösung von Kohärenz in der Inszenierung Pan con pan (2002; Regie: Miguel Muñoz), welche das Leben sozial benachteiligter Menschen zum Gegenstand hat, dieses aber unsystematisch darstellt. Die mit Kisten, Tüchern, Kabeln und alten Haushaltsgeräten zugestellte Bühne erweckt den Eindruck einer Müllkippe oder einer Behausung in Slums. So wie die einzelnen Kommunikationsbeiträge oftmals nicht aufeinander aufbauen, komische und tragische Lesarten einander überlagern und ungewöhnliche Seherfahrungen angeboten werden, so sind auch die Requisiten verschiedenen Funktionalisierungen ausgesetzt. Die Teiltexte sind nicht eindeutig aufeinander bezogen, so dass die Kohärenz des Bühnentextes immer wieder zu zerfallen droht und nur aufgrund des übergeordneten Themas gewährleistet bleibt.
verschiedenen Wohnstuben der jugendlichen Protagonisten anzeigen. Zu 2717ygl. das Dossier in: Primer Acto 295 (2002): 42-52. Zu Las manos vgl. Floeck 2002a: 60. Die drei Texte gehören zu den großen Erfolgen des Alternativtheaters in den Spielzeiten 1999/2000, 2000/2001 und 2001/2002. Vor allem Las manos hatte eine durchschlagende Wirkung in der Theatersaison 1999/2000 und 2000/2001 und erhielt verschiedene Preise. 494 Eine detaillierte Untersuchung der nur scheinbaren Fragmentarik von Imagina findet sich bei Hartwig 2004. Nur scheinbare Fragmentierung liegt auch in Del otro lado (2001; Regie: Borja Ortiz de Gondra) vor, das verschiedene Zeit- und Fiktionsebenen vor einem einheitlichen Bühnenbild anhand von Lichtwechseln markiert (vgl. ebenfalls Hartwig 2004). Dass in diesem Text Rückblenden vorliegen, wird aus den Kommunikationen der Figuren untereinander ersichtlich. Ähnlich ist das gesellschaftskritische Stück La pecera (2001; Regie: Ana Sala) konstruiert, das mittels einer Verwandlungsbühne Schlaglichter aus dem Leben von Arbeitnehmern zeigt. Im Programmheft heißt es: „La pecera es la sociedad en la que vivimos, agobiante, estrecha y acostumbrada a presenciar sin asombro cómo el pez grande se come al pequeño".
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In den letzten Jahren ist vor allem eine Zunahme .szenischer Collagen im spanischen Gegenwartstheater zu beobachten, die mit Verwandlungsbühnen arbeiten und dem Organisationsprinzip ,tema con variaciones' folgen, wobei bisweilen noch zumindest eine kleinere durchgehende Handlung erkennbar bleibt. A cuestas con Murphy (2003; Regie: Santiago Sánchez) erzählt beispielsweise eine Liebesgeschichte zweier Außenseiter und illustriert nebenbei durch wiederholt eingeschobene unzusammenhängende Nebenhandlungen .Murphys law', „Si algo puede ir mal, irá mal".495 In Richtung Kabarett und Varieté tendieren Inszenierungen mit einer Fülle von Sequenzen, die keinen eindeutigen Bezug zueinander aufweisen. Dies ist etwa der Fall bei der valenzianischen Gruppe Esteve y Ponce, die in ihren beiden letzten Projekten, Mala leche (2002; Regie: Rafael Ponce) und Los cabeza-globo (son felices en su parque eòlico) (2002; Regie: Rafael Ponce), nach einem kabarettartigen Nummernprinzip aktuelle Themen Spaniens szenisch kommentieren. Dabei erzielen sie durch überraschende Färb- und Formelemente sowie z. T. ausgefeilte Choreographien ästhetische Effekte und lassen die Bühne bisweilen irreal wie in einem Comic erscheinen.496 Varietéartig ist auch die Struktur von Estudio sobre la (b)risa (2002; Regie: Fernando Renjifo), ein Text über das Lachen. Das Bühnenbild besteht aus Stühlen, Bänken, Sesseln und Lampen, die für die verschiedenen Teiltexte (Anekdoten, Witze, clowneske Einlagen, Tanz und philosophische Betrachtungen) und Choreographien unterschiedlich gruppiert werden. Sketchartig ist die Aufführung A quien madruga (2003; Regie: Carlos Sarrió), die aus kurzen, in sich geschlossenen Sequenzen mit verschiedenen Figuren und Themen besteht, die zusammengehalten werden durch ein immer wiederkehrendes Nachdenken über die Götter.497 Texte mit diesem Organisationsprinzip erinnern an Fernsehshows, die vom Zuschauer nur eine begrenzte Aufmerksamkeitsspanne erfordern, kurzweilig unterhalten und vor allem auf die reflexartige Auslösung von Lachen angelegt sind. 4 9 5 An einer Stelle wird das Publikum einbezogen: Jeder Zuschauer erhält am Eingang ein Kartonblatt, das eine Brotscheibe mit Butter darstellt. In einem Moment der Aufführung wird das Publikum aufgefordert, den Karton in die Luft zu werfen und zu sehen, ob das Papier auf die Seite mit der Butter fällt oder nicht - die typische Situation, an der .Murphys law' erkennbar wird, dass nämlich (fast) immer der schlechteste Fall (hier: der Karton fällt auf die Seite mit der ,Butter') eintritt. 496 Eine Rezension zu Mala leche findet sich bei López Mozo (2002). In reines UnterhaltungsVarieté gehört auch die Inszenierung Spot (2002; Regie: Caries Alberola), die in kurzen, pointierten Sequenzen Werbespots des spanischen Fernsehens kreativ aufgreift und in Sketchen parodiert. Die Inszenierung zeigt keine durchgehende Geschichte; einheitliche Themen sind die Werbung und deren Übertreibungen. 4 9 7 Der Bezug ist auf unterschiedliche Weise präsent: über ein Gospel, in einem Gespräch über Wunder oder nur in Wortspielen. Vgl. auch die vagen Angaben im Programmheft: „Todos son víctimas de algún dios, que puede ser Dios propiamente dicho, o puede llamarse el Futuro, la Historia, el Progreso" (Programmheft „Escena contemporánea 2 0 0 3 " : 7).
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S Y S T E M INTERFERENZEN
3.3.4
D I E SOZIALDIMENSION
3.3.4.1
KONSENS
VS.
DISSENS
Die dritte Unterscheidung, mittels derer die Konstruktion eines Textsystems untersucht werden kann, fragt nach der Art und Weise, wie mittels Erwartungen, Unterstellungen, Erwartungserwartungen und Unterstellungsunterstellungen die Textelemente gekoppelt werden. 498 Die Grundüberlegung ist, dass der Text auf Bezugsfelder hin untersucht werden kann und auf die spezifische Perspektive, unter der diese Bezugsfelder gesehen werden. Dabei geht es um die Konstruktion von Themen, denen die Textelemente gemäß der Binäropposition Konsens vs. Dissens zugeordnet werden können: Jede Kommunikation erzeugt [...], indem sie sich selbst bestimmt, eine Bifurkation, verzweigt also die möglichen Anschlüsse in: Annahme oder Ablehnung. Diese Alternative liegt voll innerhalb dessen, was angeschlossen werden kann; auch Ablehnung ist ja nur im Anschluß an eine vorherige Kommunikation und im Hinblick auf das durch sie Bestimmte möglich. Die mit Kommunikation erzwungene, im Verstehen von Kommunikation aktualisierte Alternative schließt dritte Möglichkeiten aus. Es wird keine Kommunikation zugelassen, die weder angenommen noch abgelehnt werden möchte. (Luhmann 1997: 18)499 Luhmann selbst legt bei der Sozialdimension den Akzent auf die Unterscheidung von Ego und Alter, „wobei wir als Ego den bezeichnen, der eine Kommunikation versteht, und als Alter den, dem die Mitteilung zugerechnet wird" (1997a: 1137). Bei der Betonung der Unterscheidung zwischen Ego und Alter gerät Luhmann indes wieder ins Fahrwasser der Personifizierung von Sprechern. Kommunikationsbeiträge schließen jedoch auch innerhalb eines zusammenhängenden (also nur einer einzigen Person zugehörigen) Kommunikationsbeitrages aneinander an,
498 Schmidt (2000: 26) unterscheidet zwischen Erwartungserwartung und Unterstellungsunterstellung; während sich erstere eher auf den Wissensaspekt der Kommunikation bezieht, trägt letztere der emotionalen und normativen Ebene Rechnung, wie z. B. Einschätzung der Kommunikationspartner, unterstellte Intentionen, Bewertungen und Einstellungen. Die Wahl der Thematik und der Leitdifferenzen entscheidet darüber, auf welcher semantischen Ebene der Text gelesen wird. 499 Dass eine Kommunikation zustimmend oder ablehnend eingeschätzt werden kann, hat gemeinsame Bezugsfelder zur Voraussetzung. Schwanitz spricht von „semantischen Oppositionen" als Organisationsprinzip von Geschichten (1990: 232). Vgl. Schwanitz' „Tiefenstruktur des Kunstwerkes" (1990: 249), in der Figuren als „Bündelungen von Attributionsmöglichkeiten" erscheinen (1990: 233). Zur Wichtigkeit des Themas in einem Text vgl. auch Kieserling 1996. Zur Sozialdimension vgl. Luhmann 1998: 111-114. Zur Kohärenzbildung in Texten durch Thema und thematischen Zusammenhang vgl. Fritz 1982: 205-223.
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und in diesen Fällen ist es verwirrend, die Sozialdimension als Zurechnung zu ,Ego vs. Alter' zu formulieren. Daher soll die Sozialdimension der SI-Theorie in Anlehnung an Luhmanns Konzept von ^Annahme vs. Ablehnung von Kommunikation modelliert werden: Im Akt des Verstehens erkennt eine Anschlusskommunikation eine vorherige Kommunikation als Mitteilung an; sie schließt an diese in Form von Zustimmung oder Ablehnung an. Ein Fehlen von Zustimmung oder Ablehnung fuhrt entsprechend zu SI der Sozialdimension. Um auf die Schachspielmetapher zurückzukommen: Die Sozialdimension des Textes bestimmt, dass es schwarze und weiße Figuren gibt und dass diese konträre Ziele verfolgen.500 Bezugsfelder, Schlüsselwörter501 und Themen werden konstruiert mit Hilfe der Selektionen, welche die Anschlusskommunikationen vornehmen. Die Art der Ablehnung oder Annahme von Kommunikationsofferten ist dabei nicht entscheidend, sondern allein die Frage, ob eine klare Zuordnung möglich ist oder nicht. „Jede Themenwahl spezifiziert die dazu passende Kommunikation und dirigiert damit die Autopoiesis der Kommunikation in eine bestimmte Richtung, die anderes ausschließt", schreibt Luhmann (1998: 135). Anschlusskommunikationen können entsprechend mit einem Thema kompatible Leitdifferenzen hervorheben, etwa beim Thema .Herrschaft' einen moralischen (gut vs. schlecht) oder einen Nützlichkeitsaspekt (nützlich vs. schädlich). Der jeweilige Informationsgewinn hängt von der verwendeten Unterscheidung ab.502 Auch wenn Leitdifferenzen
500 Vgl. Zima: „[...] das individuelle oder kollektive Subjekt bewältigt die gesellschaftliche Wirklichkeit, indem es bestimmte semantische Gegensätze und Unterschiede für relevant erklärt und, ausgehend von diesen Differenzen, Aktantenmodelle bildet, die es ihm gestatten, Subjekte und Antisubjekte, Helden und Widersacher, Auftraggeber und Gegenauftrageber [sie] in einer sinnvollen Erzählung aufeinander zu beziehen" (2000: 16). 501 Zu Schlüsselwörtern, die sich über Erwähnungskontexte ausbilden, vgl. Nothdurft 2002: 6769. Manche Bezugsfelder/Themen sind durch unzählige Intertexte schon in Binäroppositionen vorstrukturiert (etwa ,Krieg' durch Täter vs. Opfer). Manchmal können solche Binäroppositionen auch schon aus dem Titel des Textes abgeleitet werden. Zu Möglichkeiten und Zwängen von Anschlüssen vgl. Schmidt 1993a: 264f. Schmidt verweist u. a. darauf, dass sich für jedes Thema in einer Gesellschaft Schematismen entwickeln. Vgl. auch Fuchs: „Kommunikation erzeugt laufend Offenheiten im Hinblick auf das, was angenommen oder abgelehnt werden kann. Sie kann und muß diesen Umstand berücksichtigen, etwa dadurch, daß sie Konditionen für Präferenzen enthält, Plausibilisierungs-, Überzeugungs-, gar Nötigungselemente, die die Annahme von Selektionsofferten wahrscheinlicher als deren Ablehnung machen und auf mögliche Dispräferenzen reagieren können" (1997b: 88). 502 Als grobes Raster von Wahrnehmungen im Allgemeinen nennt Simon die semantischen Dimensionen aktiv-passiv, stark-schwach bzw. gut-böse (1999: 194; vgl. Simon 1991: 169). Lotman verweist darauf, dass sich in einem künstlerischen oder mythologischen Text unschwer zeigen lässt, „daß der inneren Organisation der Textelemente in der Regel eine binäre semantische Opposition zugrunde liegt: die Welt wird dort eingeteilt sein in Reiche und Arme, Eigene und Fremde, Rechtgläubige und Ketzer, Gebildete und Ungebildete, Menschen der Natur und Menschen der Gesellschaft, Feinde und Freunde" (1993: 337). Lotman definiert diese semantischen Oppositionen als Grenzen im Raum.
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gekoppelt werden (etwa gut = nützlich vs. schlecht = schädlich), ist Konsens bzw. Dissens möglich.503 Konsens und Dissens bewirken die Zurechnung der Kommunikationen zu (voneinander trennbaren) Sprechinstanzen. Alle Elemente des Schrift- oder Bühnentextes können daraufhin untersucht werden, ob sie sich auf Leitdifferenz(en) beziehen lassen. Vor allem nonverbale Signale enthalten dabei oft entscheidende Bewertungen, die über Annahme oder Ablehnung von Kommunikation entscheiden. Zustimmung verstärkt die eine Seite der Leitdifferenz, Ablehnung die andere; beide erkennen die Unterscheidung als solche an. Erst wenn nicht mehr von Zustimmung oder Ablehnung gesprochen werden kann, liegen SI vor. Wird etwa das Bezugsfeld A in verschiedenen Kommunikationen angesprochen, gibt es aber Kommunikationsbeiträge, die beständig das Bezugsfeld B ansprechen, dann liegt eine kontingente Beziehung zwischen beiden vor: B kann weder Konsens noch Dissens bezüglich A sein, denn es ist gar nicht auf A bezogen. Desgleichen reicht es nicht zu wissen, ,über was' kommuniziert wird: Auch die Perspektive (also die Selektion, welche die Anschlusskommunikation vornimmt) muss deutlich werden, sonst entstehen SI in der Sozialdimension. Dann kann nämlich nicht mehr über Annahme und Ablehnung entschieden werden.504 Über die Adäquatheit von Anschlusskommunikationen entscheidet dabei auch der allgemeine Diskurs, auf den sich eine Kommunikation bezieht, da dieser regulative Funktionen übernimmt. So sind in einem religiösen Diskurs z. B. nur bestimmte Aussagen zulässig. Vielfach können Kommunikationsbeiträge über Bezugnahmen auf Alltagswissen, Schemata oder frames als Zustimmung oder Ablehnung interpretiert werden. Es besteht auch die Möglichkeit, über den Kommunikationsbeitrag zu reden und durch eine Metaaussage ein neues Bezugsfeld für Annahme oder Ablehnung zu schaffen: Die Kommunikation wird dann selbst thematisiert.505 Diskontinuierliche Themen- oder Fokuswechsel erzeugen hingegen Kontingenz, wenn
503 Kopplungen verraten Ideologien, etwa wenn teuer-billig zwangsläufig schön-hässlich impliziert. 504 Immerhin kann ein Kommunikationspartner nicht ein Thema A ,an sich' annehmen oder ablehnen, sondern Aspekte der Behandlung des Themas. Im Extremfall kann er natürlich auch die Kommunikation über A pauschal zurückweisen, dann ist das übergeordnete Bezugsfeld allerdings Kommunikation und nicht das Thema A. Vgl. Luhmann: „Psychisch gibt es hier [bei einem Ereignis] kein entweder/oder. Genau das braucht aber der Kommunikationsprozeß, um seine eigene Autopoiesis fortsetzen zu können. Was als Verstehen erreicht ist, wird daher im Kommunikationsprozeß souverän entschieden und als Bedingung fürs Weitermachen bzw. fiir klärende Zwischenkommunikation markiert" (1998: 26). 505 Vgl. Kieserling: „Die thematischen Aspekte der Kommunikation betreffen niemals nur das, wovon jeweils die Rede ist, sondern immer auch, und am Thema erkennbar, die Kommunikation selbst [...] Es gibt keine reine Sachlichkeit, keine durch soziale Rücksichten unverzerrte Konzentration auf das Thema und seine Anforderungen [...]" (1996: 280f.).
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die Kommunikationsbeiträge nicht in übergreifende Bezugsfelder integriert werden können.506 Es liegt auf der Hand, dass zeitliche Brüche innerhalb des Textes nicht zwangsläufig SI in der Sozialdimension nach sich ziehen müssen: Zwei Sequenzen, die nicht chronologisch miteinander verbunden sind, können dennoch ähnliche Leitdifferenzen nutzen und dadurch die Einheit der Sozialdimension wahren. So werden gerade im Gegenwartstheater oft zwei parallele Handlungen nebeneinander gezeigt, die kausallogisch nicht miteinander verbunden sind, aber ähnliche Thematiken und Perspektiven aufweisen. Die Verweigerung der Annahme und zugleich der Ablehnung einer Kommunikationsofferte bedeutet deren Entwertung als Kommunikation.507 Diese kann auf verschiedene Arten erfolgen: durch unverständlichen Themenwechsel,508 durch absurdes Missverstehen (etwa das Anschließen auf einem anderen Niveau, z. B. durch Konkretisierung von Metaphern oder metaphorische Auslegung konkret gemeinter Bemerkungen), durch ein Aneinander-Vorbeireden, durch die Einfuhrung inadäquater Elemente, durch rein assoziatives oder auf puren klanglichen Ähnlichkeiten von Wörtern basierendes Anschließen an einen Kommunikationsbeitrag oder durch Schweigen;509 ferner durch das schnelle Alternieren zwischen gegensätzlichen Aussagen, durch die gleichzeitige Anwen-
506 Eine unpassend wirkende Anschlusskommunikation kann oft auf einer übertragenen Ebene (d. h. bei der Berücksichtigung von Nebenbedeutungen) als Annahme oder Ablehnung gewertet werden, etwa wenn auf die Frage: „Wie geht's?" mit „Schönes Wetter heute" geantwortet wird - offensichtlich wird durch diese Antwort die Frage nach dem Befinden insgesamt abgelehnt. Es ist auch möglich, dass die Antwort „Schönes Wetter heute" den Satz „Mir geht es so gut, dass selbst das Wetter mich froh stimmt" impliziert, also doch eine direkte Antwort auf die Frage ist. Dies kann nur der Kontext klären. Zur .Themenfortfiihrung und Kohäsion' in Texten aus sprachwissenschaftlicher Perspektive vgl. Schwitalla 2002. Themen gehen im Dialog allmählich aus Rhemata hervor (topic shading), und ein plötzlicher Themenwechsel muss eigens signalisiert werden (2002: 107). 507 Hesse verweist darauf, dass entwertende Aussagen (d. h. wenn der Partner „der Antwort weder eine Annahme noch eine Verwerfung entnehmen" kann) auf die Aussage „Du existierst nicht als Person" hinauslaufen (1998: 41). 508 Zur Markierung eines frame-Wechsels benutzen Kommunikationspartner z. B. ,Rahmenschaltelemente' (vgl. dazu Müller 1984: 78). 509 Vgl. auch Hesse 1998: 28. In der Psychologie sind einige dieser Kommunikationsarten als konfusionierender Kommunikationsstil bekannt oder als fehlender Fokus der Aufmerksamkeit. Dazu schreibt Simon: „Wo es nicht gelingt, die Aufmerksamkeit zu fokussieren, wird zwangsläufig die Möglichkeit zum Konsens begrenzt" (1999: 211). Als kontradiktorische Kommunikationsmuster nennt Ciompi zweideutige oder abwegige Bemerkungen, zerstreutes und ablenkendes Verhalten, instabile Denkvorgänge, nihilistische Entwertung der zu lösenden Aufgabe, inadäquate, unlogische und widersprüchliche Kommentare sowie abstrakte, diffuse und diskursive Vagheiten (1998: 213).
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dung verschiedener Beziehungsdefinitionen,510 durch den Wechsel verschiedener emotionaler Tonlagen trotz gleich bleibenden Themas (z. B. indem über ein und dieselbe Sache zunächst ernsthaft, dann im Spaß geredet wird), oder umgekehrt, durch die Beibehaltung der Tonlage trotz heterogener Themen — ein derartiger Kommunikationsstil erinnert an die von Searles (1969) so genannten .Mechanismen, die verrückt machen'. Auch die widersprüchliche oder willkürliche Bewertung von eigenen oder fremden Kommunikationsbeiträgen kann zu SI fuhren: Die Leitdifferenz liegt hier auf einer Meta-Ebene, die über Kommunikation kommuniziert. In der Psychologie sind solche unentscheidbaren Bewertungen unter dem bereits erwähnten Stichwort double bind bekannt. Bei einer double ¿/«¿/-Situation werden zwei widersprüchliche Aussagen zugleich getroffen, etwa eine Liebeserklärung und eine Drohgebärde.511 Die Kommunikationsofferten können nicht hierarchisiert werden. Die Paradoxie liegt in der Gleichzeitigkeit der gegebenen Zeichen. Ahnliche Verwirrungen können ironische Kommentare, rhetorische Fragen oder allgemeiner: ,uneigentliches' Sprechen erzeugen, dann nämlich, wenn nicht deutlich wird, ob Annahme oder Ablehnung einer Kommunikation vorliegt. Eigentliches' und ,uneigentliches' Sprechen brauchen Signale auf einer Metaebene, um identifizierbar zu sein.512 Diese Metaebene darf aber ihrerseits nicht wieder in Zweifel gezogen werden, denn dann besteht die Gefahr eines unendlichen Regresses der eigentlichen' Aussage. Der Rezipient kann in diesem Fall nicht bestimmen, welche Selektion eine Anschlusskommunikation vorgenommen hat und kann sie daher weder als Konsens noch als Dissens werten. Eine kontingente Konsens-Dissens-Relation liegt vor, wenn aus den Anschlusskommunikationen (aufgrund von Mehrdeutigkeit oder Widersprüchlichkeit) nicht ersichtlich ist, ob Annahme oder Ablehnung (Konsens vs. Dissens) der von Kommunikationsofferten markierten Seite von Leitdifferenzen vorliegt. Dabei können Anschlusskommunikationen auch derart vage sein, dass eine Einteilung nach Konsens oder Dissens unmöglich ist. SI der Sozialdimension entstehen, wenn Kommunikationsofferten weder angenommen noch abgelehnt (Kontingenz) oder sowohl angenommen als auch abgelehnt werden (Paradoxie).
5 1 0 So verweist Haley im Zusammenhang mit der Schizophrenie-Forschung darauf, dass jemand, der vermeiden möchte, seine Beziehung zu einem anderen zu definieren, „alles, was er sagt oder nicht sagt, mit einer Negation bzw. einer Verneinung qualifizieren" kann (1969: 91). 511 Für double ¿/W-Kommunikationen gilt: „In diesem Kontext wird eine Mitteilung gegeben, die a) etwas aussagt, b) etwas über ihre eigene Aussage aussagt und c) so zusammengesetzt ist, daß diese beiden Aussagen einander negieren bzw. unvereinbar sind" (Watzlawick/ Beavin/Jackson 1980: 196). 5 1 2 „Durch das Einschleusen von Paradoxien in Kommunikation wird Anschließbarkeit weiterer Kommunikation so problematisch, daß darüber kommuniziert werden muß" (Fuchs 1997b: 94).
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3 . 3 . 4 . 2 WEGE AUS DEM SYSTEM: PEDRO MANUEL VÍLLORA, LA MISMA HISTORIA; ROBERTO GARCÍA, SCOUT; FRANCISCO ORTUÑO, CORRE
Die drei im Folgenden vorgestellten Texte zeigen, wie sich das Nivellieren von Bedeutungsunterschieden auf die Konstruktion der Sozialdimension auswirkt. DIE VERSCHIEDENHEIT DES GLEICHEN: LA MISMA HISTORIA
Pedro Manuel Vílloras La misma historia (Accésit Premio Lope de Vega 2000) handelt von einem Vorfall in einer Familie, der aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet wird. Der Text umfasst sieben Szenen, von denen vier jeweils als „Historia" bezeichnet werden.513 Wie der Stücktitel anzudeuten scheint, fallen alle Textteile unter ein einheitliches tertium comparationis, eben die gleiche Geschichte. Damit entsteht die Erwartung, dass alle Teiltexte ähnliche Themen und Leitdifferenzen haben. Der Text nennt neun Figuren, die allerdings nur von vier Schauspielern dargestellt werden sollen: ein .junger Schauspieler' fiir Hijo, Él und Muchacho, ein .älterer Schauspieler' für Padre, Maestro und Miguel, eine .junge Schauspielerin für Ella sowie eine ,ältere Schauspielerin für Madre und Lina. Mit dieser Verteilung der Figuren klingen Unterscheidungen Wie. jung vs. alt und männlich vs. weiblich als Leitdifferenzen an, die wichtiger zu sein scheinen als die Individualität der Figuren. Der Text besteht aus zwei Fiktionsebenen: Die mit Historia überschriebenen Textteile beziehen sich auf den Abschied eines Sohnes von seinen Eltern und die Beurteilung dieses Abschiedes durch die einzelnen Familienmitglieder; die anderen Teile umfassen in sich geschlossene Handlungen, die als Geschichten des Sohnes ausgewiesen werden, also eine zweite Fiktionsebene bilden. Die zweite, vierte, sechste und siebte Szene werden jeweils von einer Figur präsentiert,514 welche die Didaskalien spricht und damit eine Kommentarebene darstellt, die der Dialogebene übergeordnet ist und an einen allwissenden Erzähler erinnert.515 Damit wird eine Grenze zwischen zwei logischen Ebenen, Haupt- und Nebentext, verwischt.
513 „Historia del hijo" (Szene I), „Historia de la madre" (Szene III), „Historia del padre" (Szene V ) und „Historia de un adiós" (Szene VII); die anderen Szenen tragen die Titel „El camino de los sueños" (Szene II), „La victoria del traidor" (Szene IV) und „Delirio (en un bellísimo crepúsculo)" (Szene VI). 514 Die Präsentatoren sind der Vater, die Mutter, der Sohn und ,Ella\ deren Beziehung zur Familie unklar bleibt; möglich ist, dass sie nur ein Phantasiegebilde ist, vermutlich des Sohnes. So sagt ,Ella' von sich: „[...] yo, que no tengo nombre ni lugar" ( M H : 69). 515 Neben Hinweisen auf R a u m und Zeit enthalten die Didaskalien auch Angaben zur Gefühlslage der kommunizierenden Figuren.
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Drei Monologe (Szenen I, III und V) werden von Sohn, Mutter und Vater gesprochen. Das gemeinsame Thema ist die Erklärung einer .Eigenart' des Sohnes, die nicht näher präzisiert wird (sein Abschied? seine Homosexualität?). Der gemeinsame Raum ist ein Schlafzimmer, wobei jeweils im Hintergrund schemenhaft andere Figuren zu sehen sind (vgl. die Didaskalien MH: 18; 37; 47). Offensichtlich sind die Monologe kurz vor der Abschiedsszene (Szene 7) situiert. Im ersten spricht der Sohn von einem „sacrificio expiatorio" und von einer Schuld, die er jedoch nicht näher erläutert, da er sie als bekannt voraussetzt.516 Daher nennt er nicht die Vorfälle, auf die sich seine Beurteilungen beziehen, sondern geht gleich zu möglichen Erklärungen über, welche indes ohne klare Konturierung der Geschichte, auf die sie sich beziehen, rätselhaft bleiben. Vage klingt als problematischer Bereich in der Familie die Sexualität an.517 Auch die Mutter nennt in ihrem Monolog nicht die konkreten Ereignisse, die sie zum Nachdenken über ihre Familie veranlasst haben. Sie entwertet allerdings die Aussage des Sohnes, dass die Familienbeziehungen an diesen Ereignissen Schuld seien. Auch sie spricht von Sexualität als einem,Grund', präzisiert aber nicht die Folgen. Außerdem rechnet sie das sexuelle Problem ihrem Sohn zu.518 Ansonsten erzählt die Mutter von ihren eigenen Problemen mit ihrem Ehemann, die sie aber als natürlich ausgibt, da ihr Leben „una vida que es siempre la misma historia" {MH: 37) sei. Um welche Geschichte es in der Familie geht, wird schließlich auch nicht aus dem Monolog des Vaters ersichtlich. Dieser zieht indes insgesamt die Sinnhaftigkeit der Kommunikation über die Geschehnisse in Zweifel.519 Er beschreibt sein Verhältnis zu seiner Ehefrau, und seine Aussagen sind mit den Erzählungen aus
516 „La culpa que deseo expurgar es de sobras conocida, y por ello me guardaré muy mucho de contarla lineal y literalmente [...] Sin embargo, mis deseos de claridad me hacen rehuir la posible caída en lo críptico, la incomunicación producida por un lenguaje simbólico. Mi historia es siempre la misma historia, la misma historia de siempre, y el relato de mi historia es formalmente parecido, similar, a mi historia" (MH: 17). So kündet er das Thema des Textes an mit den Worten: „[...] todo, repito, forma parte de lo que en algún momento habría sido considerado mi sacrificio expiatorio" (MH: 17). 517 Der Sohn erklärt: „AI principio estaba engañado, pero me di cuenta cuando supe que, a los niños, ni se nos encontraba debajo de una col ni nos traía la cigüeña de París [...]; el efecto suscitado por tal revelación fue el desengaño en materia de relaciones sociales: [...] por primera vez yo era una persona, una cosa otra, y los demás no" {MH: 17f.). 518 „[...] el origen es un problema sexual; y no mío, desde luego, ni de mi marido, por más que mi hijo se empeñe ahora en decir que el ambiente de casa le resultaba insoportable. Tampoco quiero que parezca que toda la culpa es suya, no, no es eso, pero es muy fácil venir con el cuento de la infancia oprimida, la ruptura de los modelos y la hipocresía social" (MH: 37). 519 „Nada queda que contar; nada que no se sepa, e incluso lo ya conocido no valía la pena de ser contado. No es que a veces el silencio sea lo mejor; es que siempre es lo mejor. Las cosas son como son, y no son de otra forma. Por mucho que se hable sobre ellas no se logrará cambiarlas" (MH: 47).
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dem Monolog der Mutter kompatibel (vgl. MH: 38; 47). Die Beweggründe seines Sohnes entwertet er als Flausen und sucht nicht, wie Mutter und Sohn, nach Gründen eines eventuellen sexuellen Problems.520 Die drei Monologe haben gemeinsam, dass sie das Bezugsfeld ihrer Aussagen im Unklaren lassen. Dadurch sind die Stellungnahmen höchst unklar, ohne aber gänzlich unverständlich zu sein. Deutlich wird nur, dass die Figuren unterschiedlicher Meinung sowohl über die Geschehnisse (in ihrer Familie?) als auch über deren Bewertung sind. Die letzte Szene mit der Überschrift „Historia de un adiós" enthält neun, jeweils durch Pausen voneinander abgesetzte Gespräche aller Familienmitglieder, die keine Auskunft über Beweggründe des Abschieds geben. Auch die Beziehungen der Figuren untereinander und ihre Bewertungen der Situation bleiben mehrdeutig. So lautet das dritte Gespräch: M A D R E : - Insisto en que te equivocas. P A D R E : - Calla. H I J O : - No voy a discutir contigo. P A D R E : - N o hables así a tu madre. HIJO:— Es ella que ha empezado. P A D R E : - Y tú el que la sigue. HIJO:— Defiendo mi postura. P A D R E : - Atacas. H I J O : - Yo soy quien no quiere discutir. M A D R E : - N o os peleéis. P A D R E : - Nadie se está peleando. H I J O : - T ú sí. M A D R E : - T ú también. H I J O : - T ú tienes la culpa. P A D R E : - Nadie está hablando de culpas. M A D R E : - Sí, yo sí. H I J O : - Y yo. P A D R E : - Yo también. {MH: 69f.)
Aus diesem Wortwechsel wird nicht deutlich, wer wem was vorwirft, wer wen für verantwortlich hält und worum es überhaupt geht (offensichtlich ein Dauerthema, das nicht einmal mehr präzisiert werden muss).521 Auch wie die Einstellung 520 Vgl. seine Lösung: „[...] mi hijo, que no se comprende si habla de ambición, o de solidaridad, o de poder o de yo qué sé qué, que ni él mismo lo sabe. De tanta confusión y falta de criterio no puede salir nada bueno [...] Al parecer, ahora todos siguen siendo así. Pero yo sólo sé de mi hijo. Lo que necesita es una buena chica que lo quite de tantas tonterías, aunque a este paso no sé..., no sé... " (MH: 48). 521 So sagt der Sohn im fünften Gespräch zum Thema seiner Stellungnahme: „Lo de siempre" (MH: 70).
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der Familienmitglieder zu dem Thema ist, bleibt unklar. Ob sie ehrlich oder unehrlich miteinander kommunizieren und welche Gefühle echt oder nur fingiert sind, ist anhand des Kontextes nicht ermittelbar.522 Auch die letzte Handlung des Sohnes - er schiebt einen Ballon unter seine Kleidung, so als sei er schwanger, und lässt ihn dann platzen {MH: 72) — ist mehrdeutig: Symbol für den Weggang/Tod des Kindes? flir die geplatzten Träume der Eltern? für den Phantasie- und Spielcharakter des Dargestellten? Zwischen den Monologen werden drei in sich geschlossene Kurzgeschichten szenisch dargestellt, offensichtlich Erfindungen des Sohnes.523 Als dieser die sechste Szene ankündigt, klingt ein mögliches tertium comparationis aller Geschichten an: „una nueva ocasión para explicar por qué debería marcharme, por qué me voy" (MH: 49). Diese Aussage legt nahe, dass alle Kommunikationen darum kreisen, den Grund für den Abschied des Sohnes zu erforschen. In allen drei Geschichten auf der zweiten Fiktionsebene geht es um das Ineinandergreifen von Realität und Phantasie sowie um Generationenkonflikte, die sich um emotionale Einengung, inzestuöse Beziehungen und Emanzipationswünsche drehen. Die zweite Szene mit dem Titel „El camino de los sueños" wird vom Vater erzählt. Sie handelt von einem Sohn und von ,Ella', die in dieser Geschichte ,die Schwester' darstellt.524 Die beiden begegnen sich nach zwei Jahren wieder {MH: 21), nachdem der Sohn offensichtlich die Familie als Folge eines schlimmen Zerwürfnisses verließ.525 Die Geschwister schlüpfen in verschiedene Rollen, um gemeinsam erfundene Szenen mit märchenhaftem Anklang zu spielen (3. Fiktionsebene), wobei nicht deutlich wird, was sich auf die tatsächliche Geschichte zwischen Bruder und Schwester und ihr Verhältnis zur Familie bezieht und was
522 Die Gefühle des Sohnes („Vais a hacerme llorar"; MH: 71) werden von der Mutter beispielsweise als Ironie angesehen, was der Sohn zurückweist; er räumt allerdings ein, dass er etwas verheimliche, doch präzisiert er nichts. 523 Der Vater nennt die zweite Szene eine „recreación literaria" seines Sohnes (MH: 19), die Mutter die vierte Szene „la segunda de las historias que ha creado mi hijo para contar su propia historia" (MH: 39) und der Sohn die sechste Szene „una historia más" (MH: 49). 524 Die Abschiedsszene in der Familie (Szene 7) erwähnt mit keinem Wort eine Schwester: Wieso erfindet der Sohn also eine inzestuöse Beziehung zu einer fingierten Schwester, um, wie er sagt, .seine' Geschichte zu erzählen? 525 Die Schuld wird jeweils unterschiedlichen Personen zugewiesen: Der Sohn bezichtigt seine Schwester des Verrats an der Mutter (MH: 30), die Schwester erzählt davon, dass der Vater dem Sohn und der Mutter die Schuld zuweise (MH: 29f.). Der Sohn will wissen, was sein Vater von ihm dachte, und die Schwester antwortet: „Le parecía mal", ohne zu präzisieren, worum es geht (MH: 29). Erst nach und nach wird deutlich, dass es offensichtlich um einen Inzest zwischen Schwester und Vater geht. Außerdem klingt an, dass der Sohn homosexuell ist. So sagt er zur Schwester: „Él era un cabrón y tú su ramera; cuando os descubrí juntos me juré que nunca estaría con una mujer" (MH: 35).
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nicht, wo also die Grenze zwischen Spiel und Ernst verläuft.526 Reale und fingierte Handlungen, reale und fingierte Erzählungen, Begründungen und Vorwürfe sind nicht voneinander trennbar.527 Die vierte Szene erzählt die Mutter. Sie spielt in einer „¿poca anterior" {MH: 39) und zeigt einen Jungen und seinen Meister an dem Tag, an dem der Meister verhaftet wird; offensichtlich verriet ihn der Junge. Beide kämpfen miteinander, küssen sich jedoch am Ende, woraufhin der Alte den Jungen kastriert. Die Beweggründe der Handlungen bleiben unklar.528 Die Geschichte wirkt wie ein Gleichnis, das jedoch im Kontext nicht eindeutig zu interpretieren ist. Mit den übrigen Geschichten weist es strukturelle und thematische Gemeinsamkeiten auf: eine Vaterfigur (der Meister), ein homosexuelles, inzestuös gefärbtes Verlangen, die Befreiungswünsche eines Kindes und deren Bestrafung. Die letzte Geschichte (Szene 6) erzählt der Sohn selbst. Sie zeigt das Ehepaar Miguel und Lina, das in vier verschiedenen möglichen Beziehungen erscheint. Zu Beginn der Szene wartet Lina auf ihren Sohn Carlos, während ihr Mann sie daraufhinweist, dass Carlos nur ein inexistentes Traumbild sei {MH: 53f.). Lina steigert sich jedoch in ihre inzestuöse Liebe zum Sohn hinein.529 Als ein Fußball auf die Bühne rollt, beginnt sich Miguel, der im Nebentext weiterhin diesen Namen trägt, wie der Sohn Carlos zu verhalten {MH: 55). Wieder deutet sich eine inzestuöse Beziehung an. Doch noch einmal wechseln die Rollen: Miguel ist wieder Linas Ehemann und versucht, seine um die Rückkehr des Sohnes Carlos besorgte Ehefrau zu beruhigen (teilweise wiederholen sich Dialogteile aus dem ersten Teil der Szene), indem er sie darauf hinweist, dass Carlos erwachsen sei {MH: 61). Lina wirft ihrem Mann vor, er verstehe sie nicht (hier zeigt sich eine Parallele zu dem Vorwurf, den die Mutter in ihrem Monolog in Szene III dem Va-
526 Auch ist unklar, ob die Schwester den Bruder tatsächlich oder nur ,zum Spaß' mit ihrem Selbstmord bedroht (MH: 26f.). Warum reagiert der Bruder wütend auf die (fingierte) Erzählung der Schwester über den (fingierten) Vater, der sie in einem Schloss gefangen hält (MH: 25)? Warum spinnen beide an einem inzestuösen Märchen, das von einer Königin handelt, die ihren Sohn ganz für sich behalten will (MH: 34)? 527 Das Ende der Geschichte ist mehrdeutig. Der Vater erzählt: „[...] se oye un disparo que enlaza con el comienzo de la música del tango ,UNO'; entonces se enciende un reflector y salen los dos, él con un frac rosa, cantando a dúo la canción. Si queréis saber más, preguntádselo a mi esposa" (MH: 35). 528 Als Beweggrund des Verrats nennt der Junge: „Pero quizá el traidor espera una respuesta, una derrota vuestra ante él" (MH: 44); der Alte begründet seine Tat mit den Worten: „Aprende... que el amor... [...] no justifica la ventaja al enemigo" (MH: 46). 529 Hierin erinnert die Beziehung der Figuren zunehmend an das Märchen von der Königin, das die Schwester ihrem Bruder in der zweiten Szene erzählt. Lina gibt sich z. B. als ,Vater und Mutter' ihres Sohnes aus: „Me llamo Lina y tengo un hijo que se llama Carlos; yo soy la madre de Carlos; el padre de Carlos se llama Lina y soy yo" (MH: 53). Später redet sie davon, Carlos wolle sie heiraten, und er sei der einzige, den sie liebe (MH: 54).
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ter macht), und wieder wird eine sehr enge Mutter-Sohn-Beziehung deutlich. Schließlich wechselt noch einmal die Situation.530 Diesmal wartet Lina auf Carlos, der jedoch tot ist, und nennt schließlich ihren Mann beim Namen ihres Sohnes {MH: 66). In dieser Geschichte klingt vieles an, was auch in den anderen Szenen bereits thematisiert wurde. Dennoch ist aus den drei Geschichten, den drei Monologen und der Abschiedsszene kein eindeutiger Konflikt rekonstruierbar, anhand dessen die Figuren nach Konsens und Dissens eingeteilt werden könnten. Jedes Familienmitglied gibt eine Erklärung über ein Ereignis (der Sohn verlässt die Eltern), aber die Erklärungen weichen so voneinander ab, dass keine Rekonstruktion der Vorfälle möglich ist. Da die Monologe subjektiv sind und die Geschichten jeweils als Erzählung einer Figur erscheinen, kann der Rezipient nirgendwo eine erste Ebene der Beobachtung konstruieren, von der aus er alle Aussagen nach Fiktionsebenen und Geltungsanspruch hierarchisieren könnte. Die Textdaten reichen nicht aus, um die Aussagen nach wahr oder fingiert einzuteilen oder um den Grundkonflikt und dessen Bewertung nachzuzeichnen. Jede Aussage stellt vorhergehende und folgende Aussagen in Frage. Alle Themen und Bewertungen der einzelnen Mitteilungen müssten aufeinander eindeutig beziehbar sein, damit das Verhältnis der Familienmitglieder ersichtlich wäre, was eine Unterscheidung in Konsens und Dissens der Kommunikationsbeiträge zuließe. Die Angaben des Textes reichen indes nicht aus, um diesen logischen Kontext zu erstellen.531 REISE OHNE ANFANG UND ENDE:
Roberto
Garcías 5 3 2
SCOUT
( 1 9 9 7 ) T e x t Scout (Accésit Premio Marqués de Bradomín
1996)
handelt von der Grenze zwischen Spiel und Ernst sowie von ständigen Regelveränderungen von Spielen. Er stellt die beständig neu zu definierende Beziehung
530 Der Übergang zwischen den beiden Verwandlungen erfolgt in einem surreal anmutenden Ambiente: „Suena un teléfono; la primera vez no lo perciben; la segunda, se miran asustados; la tercera, Miguel se levanta; la cuarta, Miguel se acerca a Lina y la coge por los hombros; la quinta, Lina se suelta y va al centro del escenario; la sexta, Lina grita; la séptima también y empieza a oírse el bote; el balón sale y lo coge Lina; el teléfono ha dejado de oírse" {MH: 65). 531 Vgl. auch die drei dem Text vorausgehenden Motti von Jean Genet, Querelle: „Es, pues, bajo el signo de un impulso interior sumamente peculiar, como queremos presentar el drama que se desarrollará a continuación" {MH: 13), Thomas Mann, Der Zauberberg: „¡Es imposible analizarlo y profundizarlo todo si queremos seguir adelante!" {MH: 13), und Ana María Matute, El tiempo,,Aquel día hizo lo que todos los días" {MH: 13). Alle drei Motti verweisen auf das Triebhafte, Rätselhafte und zugleich Alltägliche im menschlichen Leben, tragen jedoch nicht zur Klärung des Konfliktes des Dramas bei. 532 Der 1968 in Valencia geborene Roberto Garcia ist Theaterautor und Regisseur. Er ist vor allem durch seine gemeinsam mit Caries Alberola verfassten Texte bekannt (Joan, el Cendrós, 1998; L'any que ve, 1998; Besos, 1999/Premio Max al mejor autor teatral en catalán und Premio de l'Asociació d'Escriptors Valencians al mejor texto; 23 centímetros, 2000, und Spot, 2002).
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zwischen drei Figuren dar, Autostopista, Conductor und Chica. Im ersten Teil des Textes steigt ein Tramper nachts zu einem Unbekannten ins Auto und stellt sich als Leiter einer Pfadfindergruppe vor, die aus unerfindlichen Gründen eben in dieser Nacht verschwunden sei, weshalb er nun ein Telefon suche, um die Polizei zu benachrichtigen. Angaben zu Ort und Kleidung der Figuren bestätigen diese Version.533 Der Fremde nennt seinen Namen, Julián. Nach kurzer Zeit bietet der Autofahrer ihm an, einander Phantasieidentitäten zu erfinden. Ihr,Spiel' fuhrt dazu, dass viele ihrer Aussagen bald nicht mehr klar einer Fiktionsebene zugeordnet werden können, und auch ihre Handlungen sind nicht mehr eindeutig in ,Spiel' und ,Ernst' trennbar.534 Beide gelangen an ein Hotel, und dem Tramper gelingt es nicht, über ein Handy die Polizei zu kontaktieren. Im zweiten Teil befindet sich der Tramper am Tresen einer Kneipe, an dem ihm ein Mädchen von Einschlafmethoden erzählt (5: 99).535 Die Konversation scheint direkt an den ersten Teil des Textes anzuschließen, denn der Tramper erläutert dem Mädchen: „Walter [der Autofahrer; Anm. S. H.] me... me ha dicho que aquí podíamos descansar" (5. 101) und erzählt von seinem Anliegen, telefonieren zu wollen. Dann beginnt ein neues Spiel mit Identitäten: Das Mädchen stellt eine Ähnlichkeit zwischen dem Tramper und der Filmfigur Indiana Jones fest (5: 103), woraufhin der Tramper von seinem nächsten Film erzählt, seinen Künstlernamen Jack' nennt (den er im ersten Teil im Spiel zusammen mit dem Autofahrer eingeführt hat), aber zugibt, er heiße eigentlich Julián: Damit kommt er wieder auf seine Identität als Pfadfinder-Gruppenleiter zurück. Das Mädchen stellt sich mit dem Namen Lucia vor, dem gleichen, den der Tramper sich in der ersten Sequenz für seine Filmpartnerin ausgedacht hat. Lucia, so erzählt er, heiße
533 Vgl. die Didaskalie zu Beginn des Textes: „Exterior. Noche. Una autopista sin principio ni fin. Un coche. AI volante, el conductor. A su lado, el autostopista, vestido de boy scout" (S: 65). 534 Der Autofahrer nennt den Tramper Bob, der sich aber selbst den Namen Jack gibt. Beide erfinden Bob/Jack eine Identität als Schauspieler, wobei Julians Pfadfinder-Uniform zum Kostüm seines neuesten Filmes umgedeutet wird. Der Fahrer nennt sich daraufhin Walter und gibt als seinen Beruf .Mörder' an. Der Tramper erzählt von dem Film, den er gerade dreht und in dem er einen Abenteurer auf einer Afrika-Expedition spielt; in diesem Film erscheint auch ein Mädchen namens Lucia. Damit schafft er eine dritte Fiktionsebene - er spielt den Schauspieler, der einen Abenteurer spielt und seine Aussagen beginnen, nicht mehr eindeutig zu sein: Sie können nicht mehr klar einer der drei Ebenen zugeordnet werden. Der Autofahrer kritisiert den Inhalt des Films mit den Worten, er sei nur eine Wiederholung von Stereotypen (S: 92) - was als Metaaussage auch zu ihrem eigenen ,Spiel' gelten kann. Immer wieder insistiert der Tramper auf seiner,Realitätsebene', etwa wenn er im ersten Teil wiederholt nachfragt, ob das, was er mit dem Autofahrer beredet, noch zum Spiel gehört oder nicht. Vgl. auch seinen mehrfach geäußerten Wunsch, aus dem Spiel auszusteigen (vgl. S: 78f.; 94f.). 535 Sie erzählt auch von ihrem Liebhaber, dem der Sex am meisten gefalle, wenn sie schon eingeschlafen sei. Dieser Gedanke wird im nächsten Teil aufgenommen, allerdings erscheinen dann der Tramper in der Rolle eines Freiers und das Mädchen in der einer Prostituierten.
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auch eine Jugendliebe, die er heimlich auf dem Dachboden geküsst habe (S: 110f.). Das Mädchen aus der Kneipe beginnt, den Tramper zu verführen und bezeichnet dies als „la escena de amor de tu película" (5: 114). Damit vermischt sie die Erinnerung des Trampers an Lucia auf dem Dachboden mit der erfundenen Filmfigur und der aktuell ablaufenden Situation, wodurch wieder die Überlagerung von drei Fiktionsebenen entsteht. Es bleibt unklar, ob der Ort eine einfache Kneipe oder ein Bordell ist536 und ob sich Lucias Angebot, eine Liebesszene zu spielen, auf ihre Gefühle als .reales' Mädchen, eine Spielebene (des Films) oder ein Geschäft (als Prostituierte) bezieht. Im dritten Teil befinden sich der Tramper und das Mädchen in einem Schlafzimmer. Das Mädchen liegt gefesselt im Bett und schläft, während der Tramper auf der Bettkante sitzt; auf dem Nachttisch liegt ein Messer (5: 116). Offensichtlich schließt die Handlung dieses Teils an die vorhergehende direkt an, zumindest sind ähnliche Hintergrundgeräusche (Lachen) zu hören (vgl. 5: 114; 1 16).537 Der Tramper gesteht der Schlafenden, dass er weder Jack heiße noch Schauspieler sei und gibt sich als Pfadfindergruppenleiter aus (S: 117); damit kommt er wieder auf die Fiktionsebene der Ausgangssituation (des ersten Teils) zurück. Das Umfeld, in dem er sich gerade befindet, bezeichnet er als groß angelegtes Spiel: „Aquí nadie es quien dice ser. Todo es un juego" (S: 1 18).538 Nebenbei schlitzt er das Kopfkissen mit dem Messer auf. Das Mädchen erwacht und will für Sex bezahlt werden - der Ort wird damit eindeutig als Bordell ausgewiesen. Der Tramper gibt die Schuld an ihren Fesseln dem Autofahrer und auch die am zerstörten Kissen; da dies unverkennbar eine Lüge ist, stellt sich die Frage, ob der Tramper auch bezüglich der Fesseln lügt, was anhand des Kontextes unentscheidbar bleibt. Das Mädchen verlässt den Raum mit dem Messer in der Hand. Den Abschluss der Sequenz bildet eine Reihe skurriler Handlungen: Das Mädchen kehrt in den Raum zurück, verfolgt von dem Autofahrer. Dieser ohrfeigt die Frau, wirft sie zu Boden, sticht ihr das Messer in den Körper und richtet eine Pistole auf den Tramper (S: 123). Hier ist der Autofahrer sichtbar der Mörder, fiir den er sich im ersten Teil nur im Rahmen eines Spiels ausgegeben hat.
536 Als der Tramper das Mädchen als Prostituierte bezeichnet und den Ort als Bordell (5: 111), streitet das Mädchen dies ab und sagt von sich, sie komme aus dem Zirkus. Ihre akrobatischen Künste sind bereits zu Beginn der Sequenz deudich geworden durch ihr gekonntes Balancieren der Flaschen (S: 99); außerdem gibt sie ihre Vertrautheit mit wilden Tieren zu erkennen (S: 102). 537 Außerdem stellt der Tramper eine Verknüpfung zur ersten Sequenz her, wenn er sagt: „Así empezó todo. Walter... Él... me propuso... jugar a ser otra persona" (S: 118). 538 In seinem langen Monolog kommt er schließlich wieder auf die Frau zu sprechen, die er auf dem Dachboden küsste, die sich, wie das Mädchen neben ihm, auch gerne schlafend gestellt habe (S: 118). Er schätzt seine aktuelle Situation als Lüge und als bösen Traum ein (S: 118) und wartet auf das Erwachen.
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Der letzte Teil ähnelt dem ersten durch den äußeren Rahmen: Es ist Nacht, man sieht eine endlose Straße und das gleiche Auto wie zu Beginn des Textes, nur sitzen diesmal der Tramper und das Mädchen darin (5: 124). Was zwischenzeitlich vorgefallen ist, wird nur andeutungsweise berichtet; was aus dem Autofahrer geworden ist, wird nicht erwähnt. Die Verbindung der neuen Situation zu den vorherigen Szenen ist unklar, denn der Tramper erinnert sich an nichts und das Mädchen zieht es vor zu schweigen und fordert den Tramper dazu auf, sich eine eigene Version der Ereignisse zu erfinden (5: 127). Hier beginnt also erneut ein Spiel. 539 Das Mädchen nennt den Tramper Jack, obwohl dieser Julián genannt werden will (S: 131), und redet von einem ihrer Onkel namens Julián. D i e beiden fahren .irgendwohin, und das Auto beschleunigt kontinuierlich. Die letzte Didaskalie gibt an, dass sich das Geräusch eines Autounfalls und ein Trompetenton vermischen -Verweis darauf, dass der gesamte Text nur ein Albtraum ist?540 Der vierte Teil bleibt so vage, dass die Sprechsituation und ihr Bezug zu den vorausgegangenen Dialogen nicht rekonstruierbar sind. Welche Beziehungen die Figuren zueinander haben, wie sich ihre Phantasien von dem real Erlebten absetzen, wie ihre wahre Identität ist und welche Ziele sie verfolgen, bleibt unklar. können drei Sprecher Über die Bezeichnungen Autostopista!Conductor!Chica voneinander abgesetzt werden. 541 Dadurch, dass der Tramper dreimal davon erzählt, dass er seine Pfadfindergruppe verloren habe, 542 bleibt er immer auf diese (erste Fiktions)Ebene bezogen. Ansonsten erweckt jeder der vier Teile den Anschein, dass mit jedem neuen Ort auch ein gänzlich neues Spiel mit neuen Regeln beginnt. Das Mädchen sagt entsprechend über die Kneipe: „Aquí sólo se viven los sueños propios" (S: 109). Der Text handelt von einer ständigen Neudefinierung
539 Der Tramper versucht zu erfahren, wie das Mädchen „ihm" (wem? dem Autofahrer?) das Auto entwendet habe, aber das Mädchen rät ihm: „Olvídate de él. Haz como yo. Cada vez que empiezo una nueva vida, borro todo lo anterior. Cuando me escapé de casa, cuando me fui del circo, ahora" (S: 129). 540 Vgl. die Didaskalie: „La luz es cada vez más cegadora. De repente, se hace el O S C U R O . Oímos el ruido estrepitoso de un accidente de coche. Poco a poco, superponiéndose a este ruido, un toque de corneta. Diana" (S: 132). 541 Ein in allen Textteilen wiederkehrendes Requisit sind ein Kompass und eine Trompete, mit der zum Wecken geblasen wird. Der Tramper holt im ersten Teil einen Kompass aus seiner Tasche (S: 96), den er im zweiten Teil dem Mädchen zeigt (S: 109) und im dritten Teil aufs Bett wirft (S: 117). Im letzten Teil gibt ihm das Mädchen diesen Kompass zurück, der .liegen geblieben sei (sie sagt nicht wo; S: 124). Im ersten Teil bläst der Tramper die Trompete im Auto (5: 71) und im dritten im Hotelzimmer (5: 119); im zweiten Teil interessiert sich das Mädchen fiir das Instrument (S: 107). Am Ende des vierten Teils ertönt ein Trompetensignal (S: 132). 542 Er erwähnt dies zu Beginn des ersten (5: 65f.), am Ende des zweiten (S: 113) sowie in seinem Monolog zu Beginn des dritten Teils (5: 116Í). Im vierten Teil bittet er das Mädchen: „Sólo dime que no estoy soñando, Lucía" (S: 132) und wehrt sich gegen das Aufwachen.
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der Sprechsituation 543 mit einer ständig sich verschiebenden Thematik (ausgedrückt in immer neuen Spielen) und einer Uberlagerung mehrerer Identitäten in einer Figur.544 Wie jede Figur zu der anderen steht und was echte und fingierte Aussagen sind, bleibt infolge des wiederholt wechselnden Rahmens offen. Der Text schafft damit verschiedene Kontexte, die offensichtlich zusammenhängen; da aber keine durchgehenden Themen benennbar sind, schließen die Kommunikationsbeiträge nicht logisch aneinander an, und ihre Einteilung in Konsens und Dissens ist nicht möglich. LEBENSLEERLAUF: CORRE
Francisco Ortuños 545 (1992) Text Corre (Accésit Premio Marqués de Bradomín 1991) ist charakteristisch fur die Schreibweise gerade junger Autoren, weil er eher einem Drehbuch als einem Theaterstück ähnelt: Er zeigt verschiedene Momentaufnahmen aus dem Leben von Jugendlichen in der Großstadt, die durch zahlreiche, an filmische Schnitt- und Uberblendungstechniken erinnernde raumzeitliche Brüche voneinander abgesetzt sind. Die z. T. sehr kurzen Einzelsequenzen, die oftmals nur assoziativ miteinander verbunden sind, werden durch einen zeitlichen und örtlichen Rahmen zusammengehalten. 546 In der Liste zu Beginn des Textes finden sich nicht weniger als 44 Figurenangaben, von denen die meisten ein Namen sind oder eine allgemeine Funktionsbezeichnung. 547 Viele Figuren treten nur an einer einzigen Stelle des Textes auf. Nur wenige werden mehrfach erwähnt oder vage charakterisiert; vor allem Maria
543 Offensichtlich können alle vier Teile auch als parapsychologische Erscheinung angesehen werden, was die Einheit ihrer Fiktionsebene ausmacht. Der Text spielt auf das so genannte .Bermudadreieck' an (vgL S: 127; Verweis auf Ufos: S: 66), ein Seegebiet im südwesdichen Nordadantik, das bekannt wurde aufgrund angeblich mysteriös-übernatürlicher Schiffs- und Flugzeugkatastrophen. 544 Vgl. Lucia aus dem Film, Lucia als Kellnerin, Lucia als Prostituierte, Lucia als Juliáns Jugendliebe; Julián als Pfadfinder, Julián als Lucias Onkel. 545 Der 1977 in Sevilla geborene Francisco Ortufio besuchte die Escuela Superior de Arte Dramático in Sevilla und die R E S A D in Madrid und arbeitet als Autor und Regisseur. Seine Hauptaktivität liegt im Schreiben von Drehbüchern fiir Film und Fernsehen. Zudem drehte er selbst einige Kurzfilme. Angaben zu seinen zahlreichen, z. T. prämierten Theatertexten finden sich in Premio Miguel Romero Esteo. Editada por el Centro de Documentación de las Artes Escénicas de Andalucía 2001: 33. In seiner Einführung in das Werk Ortuños („Escribir de oído", ibid.: 33-35) unterstreicht Antonio Onetti den Einfluss des Kinos auf die Texte. 546 Vgl. die Didaskalie: „La acción transcurre en una gran ciudad desde las 11,30 de la noche a las seis de la madrugada" (C: 119). Eine .Autorin bestätigt minen im Text, dass das Textende zwischen fünf und sechs Uhr liegt (C: 143). Dementsprechend hört Lito in der letzten Szene die Sechs-Uhr-Nachrichten im Autoradio (C: 170). Einmal fällt der Name der Stadt Madrid (C: 128). 547 Neben Ana, Jorge, Antonio und Pablo erscheinen beispielsweise Voz de uno, El, Voz, Invitada, Invitado, Tres Tias en un striptis, Mujeres canción, Amiga, Joven und Un Camarero (C': 120).
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und Ana schälen sich als Individuen heraus, wobei die Aussagen über sie teilweise in ihrer Glaubwürdigkeit angezweifelt werden müssen.548 Eine Auflistung der markanten Themen der Gespräche lässt die Heterogenität des Gesamttextes deutlich werden, der wie ein buntes Fresco das Leben Jugendlicher in der Großstadt spiegelt: In der ersten Sequenz steigen zwei Männer und eine Frau auf ihre Motorräder, von denen einer offensichtlich über einen Kellner verärgert ist. Die nächste Sequenz zeigt Pablo, der in einer Telefonzelle mit seiner Exfreundin Amaya spricht, mit der er gestritten hat. In Sequenz 3 versucht Pablos Schwester Julia, ihren fernsehsüchtigen Mann dazu zu bewegen, mit ihr ins Krankenhaus zu fahren, da Pablo zwischenzeidich zusammengeschlagen wurde. Der Ehemann weigert sich, woraufhin Julia ihn beschimpft und ihm seine Homosexualität vorwirft. In der nächsten Sequenz trifft der Ehemann sich mit seinem Geliebten José Maria und will ihn zu etwas überreden, was nicht näher präzisiert wird. Die fünfte Sequenz zeigt José Maria, wie er in ein Bordell für Homosexuelle geht, wo sich ein Mann namens Pelabién mit dem „moro" Mohamed unterhält, der als Prostituierter arbeiten soll. Die Musik der Bar geht über in die Musik einer Party im Hause Albertos. Lito und Ana streiten sich, ohne dass aus ihren vagen Anspielungen ein Grund dafiir erkennbar wäre. Lito leiht sich ein Auto aus. In der siebten Sequenz wechselt der Zuschauer in die Küche des Appartements, in dem die Party gefeiert wird: Hier wirft Susana ihrem Ex-Geliebten Jorge vor, dieser habe seine Frau geschlagen. Die nächste Sequenz spielt im Flur des Appartements, wo sich Antonio mit einem nicht näher charakterisierten weiblichen Gast unterhält, anschließend mit Maria, die offensichtlich seine Exfreundin ist. Es folgen zwei kurze Sequenzen, in denen sich zwei bislang noch nicht erwähnte Frauen am Fenster über Männer und Sex, zwei andere Personen auf dem Sofa über ihre Angst vor dem Verlassenwerden unterhalten. Sequenz 11 beinhaltet ein Gespräch zwischen Lito und Antonio; Lito sucht vergeblich eine passende Frau, und Antonio erzählt, seine Freundin Maria habe ihn betrogen. Lito redet daraufhin abfällig über die Frauen im Allgemeinen, schlägt vor, Marias Liebhaber zu verprügeln und Maria durch Trini zu ersetzen; am Ende erbricht sich Antonio. In der nächsten Sequenz philosophiert ein unbekannter Gast über das Dasein, wobei ihm Amaya nur nebenbei zuhört. Sequenz 13 zeigt Alberto mit seiner Frau, die ihn beschimpft und sich betrinkt. In der vierzehnten
548 Direkte Angaben zu Maria geben Antonio (C: 139) und der Junge' (wobei dieser vermutlich nur wiedergibt, was Maria ihm von sich erzählt hat, und dabei handelt es sich wohl um Lügen; vgl. C: 157). Indirekte Charakterisierungen Marias werden über die Nachrichten auf dem Anrufbeantworter gegeben (C: 159). Alberto und Maria sind wohl Geschwister, wie man erst spät erfährt (vgl. die Didaskalie C: 157). Über Anas Leben wird ,Marga la Maca' verhört (C: 151-153). Marga selbst wird nicht charakterisiert, so dass die Glaubwürdigkeit ihrer Aussagen fraglich ist. Auch wird Anas Beruf erwähnt (C: 138).
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Sequenz treffen eine Figur namens >Autorin' (offensichtlich die Verfasserin des Textes Corre selbst) und Lito zusammen; Lito beschwert sich über die Handlung, aber die Autorin bezahlt ihn dafür, dass er weiterspielt. Sequenz 15 zeigt einen Gast mit Pilar im Kleiderschrank, und in Sequenz 16 beobachten zwei Gäste durch ein Fernglas fremde Personen. In der folgenden Sequenz ist die Stimmung der Party auf dem Höhepunkt angelangt; als Antonio singen will, zerstört er eine Gitarre, überwirft sich mit dem Gastgeber Alberto und wird von diesem aus der Wohnung geworfen. Das Fest ist zu Ende. Die achtzehnte Sequenz schwenkt in einen Striptease-Club mit Tänzerinnen und in ein Krankenhaus, in dem Ana ihren Bruder besucht, der am Bett der Mutter wacht. Dieser macht ihr heftige Vorwürfe wegen ihres Lebenswandels, leiht ihr aber schließlich Geld. Dieses bringt Ana in die Bar eines Mannes namens Seispesetas (Sequenz 19); zwei Schlaglichter zeigen, wie Ana vergewaltigt und wie ihr Leichnam auf der Straße von Schaulustigen angestarrt wird. In der nächsten Sequenz wird Marga la Maca verhört, die sich in einem langen Monolog über Anas Leben auslässt. Die Polizistin, mit der sie redet, weint sich in der nächsten Sequenz bei einer Freundin in einer Diskothek aus; auch viele unzusammenhängende Gespräche in der Diskothek sind zu hören, aus denen sich ein Dialog zwischen Maria und einem jungen Mann herausschält; beide steigen in ein Auto und fahren durch die Stadt. In Sequenz 23 sind sie in Marias Wohnung und schlafen miteinander. Anschließend wirft Maria den jungen Mann hinaus und hört ihren Anrufbeantworter ab. In der folgenden Sequenz machen ein paar Männer die Bühne sauber und fegen Ana und ihre Wohnung einfach fort. In Sequenz 25 ist Lito in einer Bar und hört zufällig mit, dass die Kellnerin Laura aus Rationalisierungsgründen vom Barbesitzer entlassen wird. In der folgenden Sequenz treffen sich beide draußen, und Lito gesteht Laura seine Liebe; Laura geht. In Sequenz 27 begegnen sich Lito und Antonio, und Antonio erzählt, wie ihn eine Mulattin erschossen habe, als er mit ihr schnellen Sex haben wollte. Ein weiterer Toter erscheint; auch Lito sinkt in die Hölle hinab und zieht dabei ein Schild mit der Aufschrift Fin vom Schnürboden herunter. Alle Sequenzen springen zwischen verschiedenen Innen- und Außenräumen hin und her, sind aber über eine durchgehende Raum-Zeit-Einheit (eine Nacht in Madrid) miteinander verbunden. Nur gelegentlich verweisen z. T. sehr vage Angaben auf vorausgehende oder folgende Sequenzen und machen damit Verbindungen explizit.549 Zusammenhänge zwischen den Einzelszenen schaffen Figuren,
549 Pablo wird beispielsweise zusammengeschlagen (Sequenz 2), was Pablos Schwester in der nächsten Sequenz ihrem Mann erzählt (C: 124). Antonio aus Sequenz 1 steht in Sequenz 8 auf Albertos Party im Flur. Ana taucht in den Sequenzen 1, 6 und 9 sporadisch auf. Laura, die letzte neue Figur des Textes, erwähnt die ermordete Ana (C: 160).
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die mehrfach auftreten, vor allem Ana, Maria und Lito. Einige Episoden sind zudem über Ortskontiguität miteinander verbunden. Die Sequenzen 6 bis 12 schließen z. B. direkt aneinander an, weil sie verschiedene Räume auf Albertos Party zeigen und weil einige Figuren mehrfach auftreten. Manche Übergänge sind der Ästhetik filmischer Schnitte nachempfunden, weil sie nicht über raumzeitliche Kontinuität, sondern über logische oder thematische Zusammenhänge miteinander verbunden sind.550 Andere ähneln filmischen Uberblendungen: Zwischen Sequenz 5 und 6 wird z. B. die Musik aus der Homosexuellen-Bar allmählich zur Musik von Albertos Party (C: 130). Nur wenige Ortswechsel wirken völlig aus dem Zusammenhang gerissen.551 Immer wieder sind die Didaskalien auch von subjektiven Kommentaren durchzogen, so als seien alle Sequenzen die Erzählung einer außenstehenden Person. Dies verschafft dem Text indes keine narrativlogische Ordnung. Wird anfänglich noch eine Reigenstruktur angedeutet (Wechsel der Orte unter Beibehaltung mindestens einer Figur), verliert sich im Verlaufe des Textes mehr und mehr der direkte Bezug zwischen aneinander angrenzenden Sequenzen. An drei Stellen wird die Fiktionsebene des Textes verlassen: als Lito mit der ^Autorin zusammentrifft (Sequenz 14), als die Männer die Bühne fegen (Sequenz 24) und als am Ende ein Schild mit der Aufschrift „Fin" vom Schnürboden fällt.552 Durch diese Illusionsbrüche wirkt die gesamte Handlung von Corre wie eine einzige theatrale Pose.553 Entsprechend sagt ein philosophierender Gast auf Albertos Party: „No hay máscaras sociales o circunstanciales, y luego más allá lo profundo, la verdad. A veces pienso que ante nosotros mismos representamos también un papel" (C: l40fi).
550 Eine Polizistin hält z. B. im Präsidium Marga Feuer hin, das in der Diskothek von ihrer Freundin entgegengenommen wird: „La Poli va a darle [a Marga] fuego y. A quien le da fitego es a una amiga suya. Están en í/pub-disco Cercanías" (C: 153). Ais Pablo aus der Telefonzelle herausgeht, heißt es: „Dos macarras le esperan fuera. Uno de ellos va a darle una hostia y. Suena el teléfono en casa de la hermana de Pablo" (C: 123): Hier ist die zweite Sequenz als Folge der ersten erkennbar. Vgl. auch den .Kameraschwenk' in der Diskothek: „Elplano se abre para ver toda la disco. Mucha gente haciendo de todo" (C: 154). 551 Ob z. B. das Zimmer (Sequenz 13) oder die „terraza del patio" (Sequenz 14) noch auf Albertos Appartement verweisen, bleibt unklar. Unbestimmbar ist auch der Ort, an dem splitternackt Walzer getanzt wird (Sequenz 5, C: 127). Ein brüsker Ortswechsel erfolgt zwischen Albertos Party, dem Striptease-Club und dem Krankenhaus (C: 146f.). 552 Vgl. auch einen Szenenwechsel auf offener Bühne, der das theatralische Moment der Situation herausstreicht: „El sale a la calle rodeado de guardaculos. Asedio de periodistas. José Maria, su chico, le besa. Atentado terrible de los que dan de comer a la prensa. Flashes. Desnudan a los dos y los meten en la cama. Pisito de José María. En los pies de la cama ¿f (C: 125). 553 Die Autorin' zeichnet für den gesamten Text verantwortlich („Tú eres la autora de esta obra"; C: 142) und steht damit zugleich innerhalb und außerhalb der Fiktionsebene. Sie fordert: „Lo que hay que hacer es intentar que la historia sea verosímil" (C: 143). Sie bezahlt Lito und verspricht ihm, er dürfe das Ende des Stückes alleine bestreiten (C: 143) - was dann auch der Fall ist.
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Dadurch, dass auf die einzelnen Dialoge nur kurze Schlaglichter geworfen werden, bleiben viele Anspielungen unverständlich.554 Auch auf der Party, die einen einheitlichen Rahmen für mehrere Episoden bildet, sind nur Fetzen von Konversationen zu hören, die nicht zu übergreifenden Themen zusammengefügt werden können. Manche Anschlusskommunikationen scheinen am vorausgegangenen Kommunikationsbeitrag völlig vorbeizugehen, so dass nichts Konkretes über die Motivation der Figuren zu erfahren ist.555 Viele Dialoge gleichen damit in ihrem mangelnden Zusammenhalt den Stimmen auf Marias Anrufbeantworter (C: 159) oder denen in der Diskothek (Sequenz 22), evozieren die heterogensten Assoziationen und sind nahezu auf unbeschränkte Weise interpretierbar: isolierte Kommunikationsfragmente ohne erkennbaren gemeinsamen Bezugspunkt. In ähnlicher Weise können zahlreiche Kommunikationsbeiträge und Reaktionen der Figuren in Ermangelung eines klaren Kontextes nahezu beliebig mit Bedeutung versehen werden. Nur wenige Dialoge können im Laufe der Rezeption wenigstens andeutungsweise präzisiert werden. So redet Maria auf der Party geheimnisvoll mit einer Miriam am Telefon (C: 133); ihre merkwürdige Wortwahl erklärt sich später daraus, dass sie wohl mit einem heimlichen Geliebten spricht, eine Deutung, die dadurch gestützt wird, dass im Laufe des Textes ihre Promiskuität markant herausgestellt wird. Auch die zunächst unverständlichen Anspielungen von Antonio und Maria auf .Erklärungen und,Schuld' (C: 137) werden später präzisiert: Maria hat Antonio offensichtlich betrogen.556 Viele Konflikte werden angesprochen, jedoch nicht näher ausgeführt. Warum haben sich Pablo und Amaya zerstritten (Sequenz 2)? Warum wird Pablo zusammengeschlagen (Ubergang Sequenz 2 zu 3)? Was hat José Maria ,E1' angetan (C: 126)? Worauf beziehen sich die Anspielungen der Gäste auf der Party (Sequenz 6)? Was ist zwischen Antonio und Maria passiert? Warum stirbt Ana? Wer ist der Mörder? Warum ist Marga la Maca „más que sospechosa" (C: 149)? Ist Litos Höllenfahrt am Ende nur ein drogenbedingter Albtraum? Bis zum Ende
554 Als Beispiel kann ein Auszug aus der vierten Sequenz angeführt werden: Der Rezipient erfährt nicht, was der konkrete Gegenstand der Unterhaltung ist (in eckigen Klammern steht jeweils eine Frage, die sich aus dem Kommunikationsbeitrag ergibt, die aus dem Kontext aber nicht beantwortet werden kann): „Lo que has hecho esta noche ha sido la hostia" [Was?] - „ Q u é quieres" — „Lo vio mucha gente"- „Ya te he dicho todo" [Was heißt das?]— „Estaría dispuesto incluso a darte dinero" [Wer? Woflir?] - „Parezco una puta" [Wieso?] (C: 126). 555 Vgl. z. B.: „Tú sientes algo. Creo que me estoy quedando contigo. Me gustas. El verano pasado una tía me dejó tirado" - „Por qué no te vas"- „He dicho algo"- „Llámame. Pero ahora vete. Vete" (C: 158). 556 Dies wird in einem Gespräch zwischen Antonio und Lito erzählt (C: 140). Am Ende sucht sich Maria einen neuen Liebhaber (Sequenz 23), woraufhin Antonio sie zum Teufel schickt (C: 167).
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erscheinen zudem immer wieder neue Figuren, die meist nicht in die vorangegangenen Sequenzen integriert werden können. Ihre Beziehungen zueinander bleiben so mehrdeutig wie die Beziehungen der Sequenzen untereinander. Auffällige Analogien zeigen die Episoden nur insofern, als sie meist zwei Figuren aufweisen, die über Paarbeziehungen reden. Der Rezipient erfährt jedoch fast nichts über konkrete Beziehungen. Auch die Selbst- und Fremdcharakterisierungen der Figuren sind unterspezifiziert oder widersprüchlich. Ob die Figuren sich beispielsweise gegenseitig anlügen oder aufrichtig sind, kann mittels Kontextwissen meist nicht geklärt werden. Immer wieder entwerten sie ihre eigenen Repliken oder die ihres Kommunikationspartners.557 Auch liegen grobe Kontextinkompatibilitäten vor, etwa wenn sich in die Vergewaltigungsszene Konnotationen von einem Tangotanz mischen (C: 149) oder wenn vor dem Verhör anlässlich der Ermordung Anas ein erheiterndes Lied ertönt, „interpretada bragas en mano por un coro de mujeres" (C: 149£). Die Dialoge der einzelnen Sequenzen sind nur ansatzweise verständlich und lassen sich nicht zu kohärenten Aussagen zusammensetzen. Da sie immer nur kurze Schlaglichter sind, ist es unmöglich festzustellen, wie und unter welchem Aspekt die einzelnen Kommunikationen aufeinander Bezug nehmen, wie sie also in Annahme oder Ablehnung unterschieden werden könnten. Die letzten drei Sequenzen wirken wie eine Halluzination des unter Drogen stehenden Lito, der jede Logik fehlt.558 Daher sind die Kommunikationsbeiträge willkürlich, Information und Mitteilung können nicht unterschieden und Kommunikationsofferten weder angenommen noch abgelehnt werden: Aus unverständlichen Aussagen kann alles gefolgert werden. Den Text insgesamt kennzeichnet das rastlose Laufen der Figuren (und des Rezipienten) von einem Ort zum anderen, von einer Bezie-
557 Jorge entwertet Susanas Aussage beispielsweise mit dem Hinweis darauf, sie habe zu viel Heroin genommen (C: 136); die philosophischen Worte eines Gastes werden mit der Didaskalie „De ligoteo" (C': 140) versehen und damit in ihrem Ernst in Frage gestellt, und Marga sagt am Ende ihrer Lebensbeichte: „Todo lo que te he dicho es una puta basura" (C: 153). Susana erklärt Jorge, dass sie ihn verfuhren und bespucken werde, damit er sich wie Dreck fiihle, fügt dann aber hinzu: „Es que te quiero. Te quiero desesperadamente coño"; abschließend nennt sie ihn jedoch „basura" (C: 136). 558 Ortuño gibt selbst an, dass die Sequenzen des Textes gegen Ende wie durch die Brille eines Betrunkenen zu sehen sind: „La obra va poniéndose a eso de las cinco y treinta de la madrugada un poco borracha. Caprichosa. Capaz de que pase cualquier locura. De aquí en adelante ya no sé lo que pertenece a la realidad y lo que cae del lado de la trompa de Lito" (C: 162). So lautet eine Didaskalie: „La ciudad cae sobre él a sus pies. Una ciudad con sus calles, con sus luces, y sus coches, y sus putas, y sus ministerios, y el metro, y los listos y yo qué sé. Los rascacielos le llegan a la altura de las rodillas. Un avión cruza el aire. Mira al cielo y se dirige a ése. El más grande. Al cojonudo" (C: 166).
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hung zur anderen und von einer Aussage zur anderen559 in einer nur als inkohärente Folge von Stimuli erfahrbaren Umwelt. Darüber hinausgehende grundlegende Leitdifferenzen des Textes werden nicht deutlich.
3.3.4.3
W E I T E R E BEISPIELE: VERSCHLEIERUNG VS. VERWEIGERUNG VON K O M M U NIKATIONSOFFERTEN
Gehen Kommunikationsbeiträge nicht eindeutig oder widersprüchlich aufeinander ein, entsteht Verunsicherung bezüglich des Gegenstandes der Kommunikation. Manche Texte verrätsein indes lediglich die Anschlüsse zwischen den Kommunikationsbeiträgen statt sie grundsätzlich aufzugeben. Manchmal werden z. B. keine Sprechinstanzen genannt, was zu Verunsicherungen über die Abgrenzungen von Kommunikationsbeiträgen führt. Fehlende Figurenangaben müssen indes nicht automatisch zur Folge haben, dass die Rekonstruktion eines Textsystems ernsthaft gefährdet ist. So gibt Encarna de las Heras' (1994) Text La orilla rica beispielsweise keine Sprecher an, sondern nur gelegentlich Spiegelstriche als Zeichen für Sprecherwechsel. Anhand der Kommunikationsbeiträge und ihrer Anschlüsse ist jedoch ohne Schwierigkeiten die Geschichte des Mädchens Kawtar rekonstruierbar.560 In anderen Fällen werden Sprecherangaben gemacht, die auf individualisierte Figuren zu verweisen scheinen, im Verlauf des Textes allerdings keine voneinander abgrenzbaren Positionen betreffs übergreifender Leitdifferenzen darstellen. Wenn aus den Kommunikationsbeiträgen nicht ersichtlich wird, welche Positionen voneinander abgesetzt und welche aufeinander bezogen werden können, entstehen SI der Sozialdimension. So setzt Facals (2001) Kurztext [Amniötica] Sprecheinheiten durch Striche voneinander ab, ohne sie zu benennen, wobei viele Kommunikationsbeiträge keine eindeutige Stellungnahme zu den anderen Kommunikationsbeiträgen sind, etwa weil sie nur aus Wörterbucheinträgen bestehen. Zudem weisen viele Anschlusskommunikationen keinen klaren Bezug zu ihrem Kontext auf.561 Dennoch ist am Ende deudich erkennbar, worum es im Text geht: um einen Entscheidungsprozess, an dessen Ende eine Abtreibung steht. Der
559 So nimmt Marga explizit auf den Titel des Textes Bezug, als sie die ermordete Ana zitiert: „Ana decía siempre que no había que hacer caso a nadie, que una tenía que guiarse por su coco y punto. Había una frase que me repetía siempre. Corre. Corre tía, que esta mierda se acaba pronto" (C: 152). 560 Vgl. die Kohärenz, mit der die Geschichte von Hormigón (2000: 443f.) nacherzählt wird. 561 So ist schon unklar, wer z. B. die über mehrere Zeilen sich erstreckende Wiederholung des Lautes „ M " am Anfang des Textes spricht (Facal 2001: 43). Z u Amniötica vgl. auch die Einleitung Hartwig 2001c.
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Text gibt keinen Aufschluss darüber, wie viele Personen an diesem Prozess beteiligt sind und wie diese Personen zueinander stehen, ob es sich etwa um den Vater des Kindes, die Eltern der Frau oder Freunde handelt. Nur die mit „Voz amortiguada" überschriebenen Textblöcke sind klar der Schwangeren zuzurechnen. Eine Möglichkeit, SI der Sachdimension zu erzeugen, ist, die Bezugnahme von Sprechern auf Leitthemen paradox zu gestalten. In Jordi Gomars (2002) Text Superhéroes de barrio mit dem Untertitel „Musical de ir por casa" (Accésit Premio Marqués de Bradomín 2001) scheint die Grundsituation zunächst eindeutig zu sein: In jeder Szene sitzt ein „Psic" (Psychiater) einem Menschen mit Existenzproblemen gegenüber, und der Patient singt jeweils ein Lied, in dem er seine Schwierigkeiten darstellt. In der vorletzten Szene liegt der Psic jedoch selbst auf der Couch, wiederholt alle bereits angesprochenen Probleme, ordnet sich diese diesmal jedoch selbst zu und will von seinen Patienten therapiert werden. Diese Rollenverkehrung macht die Beziehungen der Figuren untereinander fraglich und lässt die Grenzen zwischen ihnen zusammenfließen. Die Unterscheidung psychisch gesund vs. psychisch krank wird insgesamt aufgegeben. In der letzten Szene besingen sich alle als „Superhéroes del barrio", wobei es dem Zuschauer überlassen bleibt, wie er diese Bezeichnung auf den Text bezieht. Verunsicherung bezüglich des Gegenstandes der Kommunikation entsteht, wenn eigentliches' und ,uneigentliches\ aufrichtiges und lügenhaftes Sprechen nicht unterschieden werden können. Yolanda Pallins (1996) La Mirada (Accésit Premio Marqués de Bradomín 1995) besteht aus zwei Teilen, die nicht aufeinander verweisen, deren Thematik und Ablauf sich aber ähneln; in beiden ist unklar, wann die Figuren voreinander Gefühle und Gedanken nur vortäuschen und wann sie authentisch sind.562 Daher ist es nicht möglich, die einzelnen Kommunikationsbeiträge eindeutig aufeinander zu beziehen. Auch in Borja Ortiz de Gondras (1996b) Text Dedos (Vodevil negro) (.Premio Marqués de Bradomín 1995) enthalten die Kommunikationen der Figuren Widersprüche. In wechselnden gewalttätigen, von Dominanz und Unterwerfung geprägten sexuellen Beziehungen zeigen sie sich als Täter und als Opfer, ohne dass eine Figur durchgehend eine der beiden Positionen beibehielte. In der vorletzten Szene konstituiert sich wieder das gleiche Ehepaar wie zu Beginn, und beide Personen erklären, alle vorherigen Aussagen seien Lügen gewesen („Seamos
562 Im ersten Teil begegnen sich ein älterer M a n n und eine junge Frau zufällig auf einer Parkbank, im zweiten Teil sprechen eine ältere Frau und ein junger M a n n miteinander, offensichtlich nach einer Liebesnacht. Im ersten Teil sagt die Frau von sich: „Me gusta contar mentiras. Es divertido" (Pallín 1996: 82) und verhält sich inkohärent. Auch die Frau des zweiten Teils erzählt verschiedene Versionen ihres Lebens, und nachdem sie eingewilligt hat, mit dem jungen M a n n zusammenzuleben, verlässt sie ihn. In einem anderen Text Pallins (1997), Los motivos de Anselmo Fuentes (Premio Calderón de la Barca 1996), wird ebenfalls mit vagen Identitäten zweier Figuren gespielt, die bis zum Ende ungeklärt bleiben.
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realistas"; Ortiz de Gondra 1996b: 64). Über den Wahrheitsgehalt dieser Aussage gibt der Kontext keine Auskunft, 563 weshalb auch der Wahrheitsgehalt aller übrigen Kommunikationsbeiträge des Textes nicht ermittelt werden kann, so wenig wie die Beziehung der Figuren zueinander geklärt wird. Auch Rollenspiele, deren Beginn und Ende nicht klar markiert sind, verunsichern den Rezipienten im Hinblick auf mögliche Bezüge zwischen Kommunikationsbeiträgen. In Paco Sanguinos/Rafael González' (1998a) Metro lernen sich z. B. ein Mann und eine Frau auf einem Bahnsteig in der Metro kennen, erzählen sich widersprüchliche Geschichten über ihr Leben und geben sich immer wieder neue Namen und erzählen inkohärente Details aus ihrem Leben. Am Ende küsst die Frau den Mann und sagt, sie sei bereit, mit ihm wegzugehen, nimmt dann aber überraschend die nächste einfahrende Metro und lässt ihn allein am Gleis zurück. Der Rezipient hat keine Position, von der aus er Lügen und Aufrichtigkeit voneinander unterscheiden könnte.564 Kontingenz in der Sachdimension entsteht auch, wenn die Kommunikationen zwischen verschiedenen Themenbereichen hin- und herspringen und keinen Fokus der Aufmerksamkeit fixieren, da in diesen Fällen keine Leitdifferenzen benannt werden können, nach denen die Kommunikationen sinnvoll anzuordnen wären. Im ersten Teil des Textes La Caja Negra von Antonio Morcillo López (2000) befinden sich beispielsweise zwei Figuren auf der Bühne, in deren Mitte eine riesige verschlossene Tür zu sehen ist, unter der an einer Stelle ein Zettel durchgeschoben wird, auf dem eine Bitte um (nicht näher präzisierte) .Erklärungen' zu lesen ist, der nicht nachgekommen wird. Auch wirken die Handlungen und Gespräche der zwei Figuren unzusammenhängend. 565 Der zweite Teil des Textes zeigt die andere Seite der Tür: Dort stehen zwei weitere Männer, die ebenfalls rätselhaft miteinander kommunizieren. Schließlich schreiben sie einen
563 Auch in Alfonso Plous (2000b) TR3s wird nicht deutlich, inwiefern sich die Figuren in einer Dreiecksbeziehung anlügen oder ob sie aufrichtig sind. In 55 — Lenisteph visualisiert Francisco Pascual Garrido (1999) die Erinnerungen einer Figur an Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter. Dabei spaltet sich diese in mehrere Sprecher auf: Lenisteph als kleines Kind, als Jugendlicher, als „55-Lenisteph" und als alter Mann. Ein „traductor", der bei einigen Dialogen anwesend ist, kommentiert Lenistephs Kommunikationsbeiträge, wobei diese Kommentare z. T. den Worten Lenistephs widersprechen. 564 Auch in Cunillés (1997) Privado machen zwei Männer und eine Frau über sich widersprüchliche Berufsangaben; ihre Beziehungen zueinander (Liebesaffäre? bloße Bekanntschaft?) bleiben undurchsichtig. Es ist nicht nachvollziehbar, wann die Figuren voreinander spielen, wann sie die Wahrheit sagen und auf welche Kontexte (reale oder nur eingebildete?) sie sich beziehen. Entsprechend stellt Hormigón in seinem Resümee des Textes nur Fragen (2000: 279). 565 Der eine Mann schläft bei laufendem Fernseher im Sessel, während der andere putzt. Beide reden über die vermutlich hinter der Tür sich aufhaltenden Menschen, aber auch über sich selbst. Der eine stirbt beim Verzehr eines Bonbons, wird aber von dem anderen wieder zum Leben erweckt. Am Ende schläft der eine ein, der andere singt ihm ein Lied vor.
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Zettel, den sie unter der Tür durchschieben, doch sie warten vergeblich auf Antwort.566 Offensichtlich zeigen die beiden Teile des Textes simultane Geschehnisse vor und hinter einer Tür. Für das jeweilige Figurenpaar ist das Geschehen jenseits der Tür rätselhaft, buchstäblich die black box, auf die im Titel angespielt wird. Der Rezipient hat indes nur scheinbar eine privilegierte Position: Er sieht zwar beide Seiten der Tür, doch bleiben für ihn die Handlungen und Gespräche inkongruent. Während die Figuren noch die Hoffnung nähren, ihre Unwissenheit könne sich auflösen, wenn sich nur die Tür öffnete, weiß der Rezipient, dass diesseits und jenseits der Tür nur Rätsel existieren.567 Trotz klarer zeitlicher Zusammenhänge und Einheitlichkeit der Sprechsituation können dem Text keine eindeutigen Themen und Leitdifferenzen entnommen werden. Vielfach bleibt die Grundsituation eines Textes rätselhaft, und nur der lückenlose zeitliche Ablauf sichert einen rudimentären Zusammenhalt der Kommunikationsbeiträge. Einen albtraumartigen Ort entwirft z. B. Raúl Hernández Garridos (1998a) enigmatischer Kurztext Calibdm Ein Lehrling, eine Frau und ein alter Mann treffen in der Nähe einer mysteriösen Tür aufeinander; ob diese nun Symbol für den Tod ist und wie die Geschichte mit der mehrfach evozierten Kriegsthematik zusammenhängt, wird aus den vagen Kommunikationsbeiträgen nicht ersichtlich, so wenig wie der Grund der immer wieder thematisierten Furcht der Figuren. Trotz scheinbarer Kohärenz zwischen den Einzelszenen aufgrund der durchgehenden Präsenz einer Frau und des Themas .Handtaschendiebstahl', scheint in Xavier Puchades Desaparecer (Accésit Premio Marqués de Bradomín 1998) der Bezug der Kommunikationsbeiträge untereinander an vielen Stellen kontingent. 568
566 Offensichtlich gab es im Vorfeld einen Unfall, über den beide aber nicht reden, obwohl sie mehrfach auf ihn anspielen. Am Ende reißt der eine Mann dem anderen die Zunge heraus, wobei die Motivation fiir diese Tat unklar bleibt. 567 Ahnlich rätselhaft aufgrund unzusammenhängender Kommunikationen (wenn auch nicht mit einer zweiteiligen Struktur) sind auch viele Texte Marisa Ares' wie Mordecai Slaughter en: Rotos Intencionados (1987), Negro seco (1987a) oder Antia, empújame (1988). Vgl. dazu die Beschreibungen bei Hormigón 2000: 104-108. Es handelt sich um eine willkürlich anmutende Aneinanderreihung von Szenen, die teils kinohafte, teils makabre, teils erotische, teils psychopathisch anmutende Elemente enthalten. Zudem sind die Texte wie ein Fortsetzungsroman strukturiert. Hormigón schreibt zu Rotos intencionados: „La pieza es un mosaico de elementos dispares, en la línea de cierto teatro-pastiche [...]" (2000: 107). 568 Der Text beginnt damit, dass eine Frau in einem Kommissariat erscheint und einen Handtaschendiebstahl anzeigen will. Die übertrieben pingelige Reaktion des Polizisten sowie dessen blühende Phantasie und Reizbarkeit wirken deplaziert, ebenso wie sein sexuell getönter Verweis darauf, dass er die Nummer 22 trägt. In einer Reihe von Szenen am nächtlichen Strand begegnet die Frau verschiedenen Menschen und hört merkwürdige Geschichten. Die Umstände, unter denen sie ihre Handtasche verloren hat, wirken surreal-traumhaft. Die jeweiligen Gestalten, die ihr begegnen, scheinen Geheimnisse zu verbergen und verabschieden sich jeweils auf eine sehr brüske Weise von ihr.
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Der Text wirkt insgesamt wie eine zusammenhanglose Phantasiegeschichte, welche heterogene Gestalten präsentiert, diese jedoch nicht systematisch miteinander verbindet. 569 Rodrigo Garcías Notas de cocina ( 1 9 9 8 ) umfasst drei Sprechinstanzen, eine Frau und zwei Männer, die für die Frau kochen. Die Kommunikationsbeiträge erlauben keine Individualisierung der Figuren.570 Neben kleinen Geschichten und Anekdoten finden sich assoziativ aufeinander bezogene Dialoge, Kochrezepte, Erörterungen genau umrissener Themen (wie beispielsweise Familie und Ehe) und Songtexte, wobei einige Themen wiederkehren. 571 Zwar ist ein durchgehender Handlungsfaden das Kochen, doch ist dieses Leitthema mit den einzelnen, z. T. nur aus Satzfetzen bestehenden Kommunikationsbeiträgen nicht stringent verbunden. Vielfach lösen sich zudem die Sätze in reine Klangspiele auf.572 A u f diese Weise gelingt es dem Rezipienten nicht, übergreifende Zusammenhänge herzustellen. 573 Nur rein chronologisch sind die einzelnen Szenen in Paco Zarzosos (1997c) Valencia miteinander verbunden. Ein Mann namens Miguel Ángel klingelt an ei-
569 Entsprechend klagt die Frau: „Si al menos hubiera encontrado otro bolso, algún rastro, algo, habría tenido la seguridad de que todo esto es cierto, de que es cierto lo que ha pasado esta noche, y podría saber si lo ocurrido ha sido bueno o malo. Pero nada, nada confirma que esto haya ocurrido" (Puchades 1999: 180). Schließlich geht die Frau wieder ins Kommissariat und zieht ihre Anzeige zurück. Der Polizist ist wütend, doch die Frau verschwindet unbemerkt und lässt eine Handtasche (eine andere?) zurück. Daraufhin nimmt der Polizist die gleiche Haltung wie zu Beginn des Textes ein und gibt über Telefon das Verschwinden eines Mädchens bekannt, wobei unklar bleibt, um wen es sich handelt. 570 In einer einfuhrenden Erläuterung schreibt García: „Para otro que quiera poner en escena esta obra los nombres serán indicativos de quien dice cada parte aunque no descarto que encuentre una mejor distribución de las frases o prefiera trabajar con más o menos actores" (1998: 13). 571 Vgl. die Charakterisierung bei Hartwig: „Nahrungsmittel, Kochen und der Vorgang des Essens bilden das Zentrum des Stückes, doch klingen auch die [in Garcías Texten] bekannten Themen Boxen und Oper an. Zwischen unzusammenhängenden oder rein klanglich aufeinander bezogenen Repliken umfasst das Stück auch kurze skurrile Geschichten: z. B. von einem Vater, der bei der Klassenlehrerin vorstellig werden soll, weil sein Sohn morgens schon nach Alkohol riecht; von einem Künsder, der einen Preis entgegennehmen soll, für den er mittlerweile genug gelitten habe und den er letzdich doch nicht erhält; oder von einem Essen in einem sündhaft teuren Restaurant, welches aus Wein von astronomischem Wert und billigen Hamburgern besteht" (Hartwig 2001: 44). 572 In der 15. Sequenz beginnen z. B. alle Sätze mit Este, Esta(s) oder Esto. Die 36. Sequenz besteht aus 158 Imperativen. 573 Ähnlich vereint Rodrigo Garcías (2001a) Borges assoziativ aneinander gereihte Jugenderinnerungen mit einem zentralen Ereignis: dem enttäuschenden ersten Zusammentreffen eines Heranwachsenden mit dem berühmten Autor Jorge Luis Borges. Garcías (2001) Text Lo bueno de los animales es que te quieren sin preguntar nada ist ähnlich strukturiert, hat aber in diesem Fall als wiederkehrendes Thema den menschlichen Körper, dessen Bedrohung durch Krankheit und unmenschliche Behandlung, aber auch dessen Würde und Selbstbehauptung.
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ner Tür, und eine Stimme sagt ihm über das Interphon, er solle in die Wohnung kommen, in der ein Fest stattfindet (Szene 1). Am Fahrstuhl begegnet Miguel Ángel einem schwarz gekleideten Mann aus der Hausgemeinschaft. Das Licht fällt aus (2). Miguel Ángel ist an der offen stehenden Wohnungstür angekommen; im Wohnungsflur wühlt eine Frau in den Jacken herum (3). Auf dem Fest trifft Miguel Ángel einen jungen Mann, der mit einem ferngesteuerten Auto spielt und dem er sein ereignisloses Leben erzählt (4). Im Bad unterhält Miguel Ángel sich mit Maria Rosa, die ihre Schlüssel in der Toilette verloren hat (5). Im Schlafzimmer ist ein alter Mann, der ein unverständliches Selbstgespräch fuhrt und Miguel Ángel einen (nicht näher charakterisierten) Vertrag anbietet (6). Auf dem Balkon treffen sich alle Gäste und schauen einem Feuerwerk als Abschluss der Party zu. Miguel Ángel zündet sich eine Zigarette an, und alle blicken auf ihn. Die Szenen sind nur durch die Einheit des Ortes miteinander verbunden, aber die Sprechsituationen und die Figurenkonstellationen wechseln beständig und sind schwer charakterisierbar, so dass übergreifende Themen oder Leitdifferenzen nicht benannt werden können. Ähnliche Inkohärenz der Sachdimension findet sich in Paco Zarzosos (1997a), Cocodrilo-. In sieben Szenen, die (mit Ausnahme der letzten) jeweils zwei Kommunikationspartner umfassen, werden Schlaglichter auf das Umfeld des Protagonisten Cocodrilo geworfen. Die einzelnen Episoden beziehen sich nur vage aufeinander, sind über wiederholt auftretende Figuren miteinander verbunden, ergeben aber eine grotesk-komische Ansammlung heterogener Dialoge ohne erkennbare Ordnung und ohne Entwicklung. Nur die Fiktionsebene wird durchgehend beibehalten. Der Eindruck eines einzigen Monologs trotz markierter Sprecherwechsel entsteht, wenn Anschlusskommunikationen sich nicht anhand von Leitdifferenzen voneinander differenzieren lassen. Ein begrifflich nicht fassbares Ambiente erzeugen z. B. poetisch verschlüsselte Texte, in denen Sprecher nach unklaren Regeln miteinander kommunizieren und sich in einem .Niemandsland' aufhalten. Zwar ist Arturo Sánchez Vélaseos (1999) Martes. 3:00 A.M. Más al Sur de Carolina del Sur (Premio Marqués de Bradomín 1998) beispielsweise in der Tiefgarage eines Parkhauses zunächst scheinbar realistisch situiert, doch sind die Kommunikationen der drei Sprecher durchgehend schwer aufeinander beziehbar. Eine Frau (die als „Aventurera" bezeichnet wird; Sánchez Velasco 1999: 19) sucht mit Hilfe einer Landkarte ,ihren' (nicht weiter charakterisierten) Weg und trifft auf zwei Männer, Don (charakterisiert als „Nocturno" und .Ayudante"; 19) und Doc (charakterisiert als „Guardia", „Profesor" und „vacacional"; 19). Die Frau umschreibt ihre Suche mit hochverschlüsselten metaphorischen Worten, so dass deren Ziel unklar bleibt.574 Auch im Verlauf des Textes kann die verschwommene 574 So sagt sie: „Debo llegar a un lugar inabarcable. Cualquier lugar donde el salto de la noche al día sea irreversible y no tenga que volver por el mismo camino cogida de la mano" (Sánchez
SYSTEMINTERFERENZEN
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Grundsituation nicht präzisiert werden; selbst die zeitlichen Übergänge zwischen den Einzelszenen sind meist offen. Insgesamt scheinen die Kommunikationen auf der Stelle zu treten.575 Ähnlich thematisch unstrukturiert wirkt Hernández Garridos (1995a) Las madres de mayo van de excursión.576 Z u Beginn des Textes sind die K o m m u n i k a -
tionen der Figuren aufeinander beziehbar und bilden zusammen mit der Ortsangabe (eine Bushaltestelle an einer Autobahn) eine konkrete Sprechsituation: Ein alter Mann will seinen Sohn in der fernen Stadt suchen und wartet daher auf den Bus. Diesem Mann begegnen jedoch Figuren, die unverständliche Handlungen ausführen, die nicht zu der scheinbar klaren Sprechsituation passen. Dann erfolgt ein surreales Zwischenspiel ohne erkennbare Handlungslogik. Im zweiten Teil des Textes hat sich das Szenario grundlegend verändert und ist nun in keiner Weise mehr der Alltagswelt analog. Insgesamt entsteht eine Endzeitatmosphäre mit inkohärenten Kommunikationsbeiträgen, die keine Identität der Sprecher verbürgen.577 Beispiele:
Bühnentext
Der Aufführung Aeropuertos (2001; Regie: Alejandro Jornet) liegt keine durchgehende Geschichte zugrunde, und entsprechend stellen die sechs Schauspieler keine Figuren dar. Nur gelegentlich reden sie miteinander, meist sprechen sie jedoch direkt das Publikum an. Insgesamt entsteht der Eindruck, dass ein Text willkürlich auf mehrere Stimmen verteilt ist. Die zehn Szenen umfassen Kommunikationsbeiträge, die assoziativ gedankliche Schwerpunkte ausbilden und oft in einen stakkatohaften Rhythmus verfallen.578 Ein wiederkehrender Bezugspunkt der Kommunikation sind die Beziehungen zwischen Kindern und Eltern sowie die Allgegenwart des Fernsehens. Die mosaikartige Struktur der einzelnen Stellungnahmen der sechs Figuren spiegelt dabei die kaleidoskopartige Nachrichtenvermittlung des Fernsehens wider. Die Bühne zeigt eine breite, etwa vier Meter ho-
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Velasco 1999: 31); „ C a d a vez que amanece despierto en otro lado con el plano equivocado" (42). A u f ähnliche Weise können auch die Kommunikationen und die Beziehungen der Figuren in Raúl Dans' (1997) Text Derrota in kein logisches Verhältnis zueinander gebracht werden. Schon der Titel zeigt eine groteske Mischung: Eine Anspielung auf die Mütter der Plaza de Mayo, die Anfang der siebziger Jahre in Argentinien von der Regierung Rechenschaft über den Verbleib ihrer verschleppten Kinder forderten, wird mit einer .Exkursion', also einem entspannten Ausflug, verbunden. Ein ähnlich apokalyptisches Ambiente beschreibt der Text Mundo encerrado en dos der RESAD-Absolventin Mencía Marafión (2001), der weder eine eindeutige zeitliche Erstreckung noch eine fiktionale Verortung (Beschreibung der Welt? der Angst? des Wunsches? der Erinnerung?) enthält. Aktuelle Themen mischen sich mit Phantasien, Träumen, Erinnerungen und Kommentaren. Teilweise werden kleine Geschichten erzählt.
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he graubraune Wand, die zur Mitte hin zwei unterschiedlich tiefe rechteckige Öffnungen aufweist, an die fahrbare Treppen gelehnt sind. Diese erinnern an Gangways, wie sie zum Besteigen von Flugzeugen benutzt werden. Rechts vorne steht ein kleines, viereckiges Podest. Über der Bühne schwebt ein Modell der Erdkugel, das bei Dunkelszenen angeleuchtet wird. Suggestive Bilder erhöhen die Mehrdeutigkeit des Textes. Zahlreiche Szenen ohne Sprechtext präsentieren Körper, Bewegungen, Licht und Farben oft als reines Material ohne symbolische Verweisfunktion. Dabei sucht die Auffiihrung weder Konkordanz noch Diskrepanz zwischen sprachlichen und visuellen Elementen, sondern erzeugt auf allen Ebenen Polysemie, die sich z. B. in verschiedenartigen Funktionalisierungen der Treppe, des Podestes, der Kleider oder auch der Schauspielerkörper ausdrückt (vgl. Hartwig 2003b: 206-209). Insgesamt sind die Themen und Leitdifferenzen nur auf einer sehr abstrakten Ebene formulierbar.579
579 Das Thema „Flughafen" wird am Anfang angesprochen und zunächst nur andeutungsweise mit dem Gedanken an Multikulturalität verbunden (Flughafen als nicht festgelegter Ort, als Nirgendwo im positiven Sinne). Erst in der neunten Szene wird es genauer beleuchtet. Eine Figur erzählt hier von ihrem Kindheitstraum, in einem Flughafen zu leben, um sich die geistige Offenheit zu bewahren.
4
GRENZGÄNGE Klopf die Lichtkeile weg: das schwimmende Wort hat der D ä m m e r (Paul Celan) Viele farbige Dinge nebeneinander angeordnet, bilden eine Reihe vieler farbiger Dinge. (Documenta 1982) 5 8 0
4.1
DAS WECHSELSPIEL DER SYSTEMINTERFERENZEN
4.1.1
SELBSTORGANISATION, ATTRAKTOREN UND SCHWELLEN
Werden Kommunikationsbeiträge auf voneinander trennbaren Fiktionsebenen nach bestimmten Konsens-Dissens-Regeln chronologisch angeordnet, entsteht ein System, dessen Organisation beschreibbar ist. Um ein letztes Mal die Schachmetapher zu bemühen: Das Wechselspiel der Systemdimensionen gibt Aufschluss über die Organisation des Gesamtsystems Text, also dessen Regeln.™ Diese Regeln besagen, welche Bedeutungen möglich und wahrscheinlich sind. Ein Textelement wird als stimmig interpretiert, wenn es sich diesen Regeln einfügen lässt.582 Kontingent wird ein Text hingegen, wenn bei jedem Kommunikationsbeitrag auch die Regeln verändert werden, wenn also zugleich gilt: Die Züge ändern die Regeln, die Regeln bestimmen die Züge.
580 Lawrence Weiner ließ diesen Satz auf der Documenta 1982 an der Fassade des Ausstellungsgebäudes anbringen (vgl. Böhringer 1998: 17). 581 Auf den Begriff Code im Zusammenhang mit Regeln und Zuordnungsvorschriften wurde bewusst verzichtet, da der Begriff Bedeutungs-Attraktor den dynamischen und veränderbaren Aspekt der Regeln des Textsystems hervorhebt. Außerdem gebraucht diese Arbeit den Luhmannschen Sinn-Begriff, welcher auf die Gleichzeitigkeit von Aktualität und Möglichkeit verweist, was der Code-Begriff nicht impliziert. 582 Die Tatsache, dass die Sach-, Zeit- und Sozialdimensionen bei der Textbeschreibung aus heuristischen Gründen unterschieden werden, heißt nicht, dass sie wirklich trennbar wären. Bei jeder Beschreibung einer der drei Sinndimensionen klingen unvermeidlich die beiden anderen mit an. Man kann die Konstruktion von Textbedeutung in Analogie zu einem Spiel sehen, das nur existiert, wenn einigermaßen stabile Regeln vorhanden sind. Vgl. dazu Simon: „Eine Geschichte ist die Konkretisierung eines Spiels. Ein Spiel ist definiert durch deskriptive und präskriptive Regeln. [...] Der Unterschied zwischen beiden besteht darin, daß durch die Regeln eines Spiels die Handlungsmöglichkeiten - der Spielraum - der Beteiligten
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In den traditionellen Dramenkategorien wie Figur, Raum oder Handlung überschneiden sich alle drei Sinndimensionen; Figur, Raum und Handlung können aber auch aus dem Blickwinkel jeder einzelnen Sinndimension beobachtet werden. Die oft als Charakteristikum für das Gegenwartstheater genannte ,Depersonalisierung/Identitätsdiffusion der Figuren kann z. B. unter den Gesichtspunkten betrachtet werden, ob die betreffende Figur ihre Konturen verliert, weil innere Gedanken und äußere Erlebnisse in den Kommunikationsbeiträgen zusammenfließen (SI der Sachebene), oder eher weil die Kommunikationsbeiträge der Sprecher nicht als zusammenhängend und voneinander abhängig erfahrbar sind (SI der Zeitebene) oder weil sie keine Zuordnung zu Leitdifferenzen erlauben, die sich auf Bezugsfelder/Themen beziehen lassen (SI der Sozialdimension). ,Identitätsdiffusion kann natürlich auch als Zusammenspiel aller drei Dimensionen beschrieben werden. Ahnliche Fragen können bei Schlagwörtern wie ,fragmentierte Handlung' oder ,Ortlosigkeit' gestellt werden. Dass es nützlich ist, SI-Dimensionen zu unterscheiden, auch wenn diese sich stets gegenseitig modifizieren, liegt daran, dass sie mit je spezifischen Unterscheidungen arbeiten.583 Mit der Auffächerung nach drei Sinndimensionen kann deshalb präziser angegeben werden, wie Kontingenz oder Paradoxie im Text entsteht, als wenn nur allgemein von kontingenten oder paradoxen Strukturen die Rede ist. Nützlich ist die Unterscheidung dreier SI-Dimensionen auch deshalb, weil jede ihren eigenen blinden Fleck hat, der aus der Perspektive einer anderen Sinndimension beobachtet werden kann: Wird etwa unter einem Vorher-Nachher-Blickwinkel nur die Fragmentierung eines Textes erkennbar, kann dieser unter dem Konsens-Dissens-Blickwinkel durchaus als kohärent erscheinen. Denn SI einer Sinndimension ziehen nicht automatisch SI anderer Sinndimensionen nach sich. Es ist beispielsweise möglich, dass ein Text eine kohärente Innen-Außen- und Vorher-Nachher-Unterscheidung ermöglicht, nicht jedoch eine Differenzierung nach Konsens und Dissens.
beschrieben (d. h. abgesteckt) werden, während in der Geschichte beschrieben wird, welche der Möglichkeiten von den Protagonisten realisiert werden (wurden). In der konkreten Geschichte sind stets die allgemeinen Spielregeln impliziert" (1999: 236). Vgl. auch Wittgensteins Auffassung von Sprachspielen, die über den Gebrauch gelernt werden (2001). Ein Zeichen sinnvoll verwenden heißt dabei, konventionellen Regeln zu folgen; Außerungsbedeutungen sind Sprachverwendungen. Zum Handeln, das in Regeln übersetzt wird, vgl. auch Gebauer 1995: 231f. 583 Das bedeutet, dass z. B. der Fiktionalitätsgrad von Sequenzen bei der Konsens-DissensDifferenzierung nicht im Fokus des Interesses steht (wohl aber in der Sachdimension), dass die Möglichkeit der chronologischen Verbindung von Kommunikationen für die InnenAußen-Differenzierung belanglos sind (nicht für die Zeitdimension) und dass die Annahme oder Ablehnung von Kommunikationsofferten nur für die Konsens-Dissens-Differenzierung wichtig wird.
GRENZGÄNGE
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Das System Text kann als Resultat des Zusammenspiels der Konstruktion von Sinndimensionen bei der Rezeption angesehen werden, und da keine apriorischen Dominanzverhältnisse zwischen diesen Sinndimensionen vorliegen, entsteht die Textkohärenz in einem Prozess der Selbstorganisation. Das bedeutet, dass die Prozessresultate (d. h. kohärente Teiltexte) wieder auf den Prozess angewendet werden (Selbstverstärkung/Rückkopplung) 5 8 4 und dass der Prozess ohne externe Vorgaben und Steuerung abläuft, denn er produziert selbst die Gesetzmäßigkeiten, die seinen Ablauf regulieren. Der Selektionsmechanismus der Selbstorganisation ist der „Ubergang von einem gegenseitigen Sich-Verändern zu einem gegenseitigen SichBedingen" (Küppers 1996a: 138). Die Wechselwirkung der Einzelelemente (Kommunikationsbeiträge) bei der Konstruktion von Sinndimensionen erinnert dabei an M . C . Eschers sich gegenseitig zeichnende H ä n d e (abgedruckt in Varela 2 0 0 0 : 295): Sie „legen gegenseitig ihre Entstehungsbedingungen fest" (Varela 2 0 0 0 : 294). 5 8 5 Selbstorganisation ist selbstverständlich nur möglich, wenn der Rezipient seine Konstruktionen anhand der Textdaten frei organisieren kann. Äußere Kontrollen (etwa Vorgaben eines Kritikers bezüglich einer nichtigen' Lektüre oder die gezielte Vergabe von Informationen zum Kontext in Form von Sekundärliteratur) manipulieren hingegen den Konstruktionsprozess: Sozial und institutionell vermittelte Präferenzregelsysteme wie ideologische Grundüberzeugungen oder literaturtheoretische Positionen, um nur zwei zu nennen, greifen bei der Rezeption von Literatur besonders stark in die Bedeutungszuschreibung ein, indem sie die kognitive Umwelt der Rezipienten prästrukturieren und so entscheidend beeinflussen, welche Kontexte überhaupt zugänglich sind. (Strasen 2002: 213)58S Im Falle einer nicht behinderten Rezeption organisiert der Rezipient die Textdaten anhand eigener Schemata und frames in den drei Sinndimensionen so lange,
584 Mathematisch ausgedrückt bedeutet Rückkopplung, dass das Resultat einer Funktion im nächsten Iterations-/Zeitschritt zum Operand wird. Dieses feedback bringt Informationen über vergangene Zustände der Funktion in die Berechnung des neuen Resultats ein; vgl. dazu Stadler/Kruse 1992: 137, Peschl 1994: 189. Zur Selbstorganisation vgl. Kratky/Wallner 1990, Küppers 1996a. Vgl. auch das Kapitel „Zeit, Irreversibilität und Selbstorganisation" bei Mainzer 1999: 84-88. Zu gegenseitigen Spezifizierungen von Teilen eines Systems vgl. auch Varela 2000. 585 Varela fügt hinzu: „Innerhalb dieser Organisation verlieren damit die gewöhnlichen Unterscheidungen zwischen Produzent und Produkt, zwischen Anfang und Ende oder zwischen input und Output ihren Sinn" (2000: 297). 586 Die Rezeption eines Textes kann auch durch Ideologien in eine bestimmte Richtung gelenkt werden, wobei Ideologie verstanden wird als „eine bestimmte Form, die die vorhergehenden Kenntnisse des Empfängers angenommen haben, als ein System von Meinungen und Vorurteilen, als ei[n] Blickwinkel über die Welt" (Eco 1994: 135).
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bis eine stabile Ordnung, ein .Fluchtpunkt', Bedeutung entsteht.587 U m diesen Prozess zu veranschaulichen, ist der Einbezug eines Konzeptes aus der Chaostheorie vielversprechend: das des Attraktors. 588 Was ein Attraktor ist, kann am anschaulichsten an einem Beispiel aus der Physik erläutert werden, an der so genannten Bdnard-Instabilität: 589 Wird eine Flüssigkeit in einem runden Behälter von unten erhitzt, erfolgt bei kontinuierlicher Erhöhung der Temperatur bei einem kritischen Wert eine sprunghafte qtialitative Veränderung: Die Flüssigkeit zeigt plötzlich eine geordnete Bewegung in Form eines bienenwabenförmigen Musters, das ,wie aus dem Nichts' entsteht. Abstrakt kann dieser Vorgang so beschrieben werden: Zunächst chaotische Strukturen (die unkoordinierten Teilchenbewegungen der Flüssigkeit) zeigen bei kontinuierlicher Veränderung eines Kontrollparameters (Temperatur) spontan ein .kooperatives (synergetisches) Verhalten, das auf makroskopischer Ebene als Strukturbildung wahrnehmbar wird (Wabenmuster). Das Muster wird nicht von außen vorgegeben, sondern entsteht aus der inneren Dynamik des Prozesses. Die Benard-Instabilität ist damit ein Beispiel für Selbstorganisation, die nicht als regelloses ,freies Kräftespiel' aller Einzelteile aufgefasst werden darf. Denn die Organisation (auch innerhalb der Benard-Instabilität) erfolgt mit Hilfe von ordnenden Parametern, nämlich dadurch, dass sich zufällige Fluktuationen im Laufe der Zeit durchsetzen und dominant werden. Solche,Ordner' sind einige wenige Komponenten des Systems, die nach einiger Zeit alle anderen dominieren (oder wie es in der Chaostheorie heißt: .versklaven'), so dass sich alle Elemente so verhalten, als wären sie über den (erst noch herzustellenden) Gesamtzustand des Systems bereits informiert. Damit ist der Selbstorganisationsprozess autokatalytisch. 590 Attraktoren dynamischer Systeme sind Muster, auf die ein System hinsteuert, „die Menge, gegen die schließlich alle von einer Umgebung U des Attraktors
587 Die Bedeutung eines Textes kann in diesem Sinne als Stimmigkeit einer Konstruktion, als .phasenstarre Wechselwirkung' angesehen werden, welche „an ein Orchester von lauter Individuen [erinnert], die alle im gleichen Takt die gleiche Melodie spielen - ganz ohne Dirigenten" (Briggs/Peat 1992: 322). 588 Zur Chaostheorie allgemein vgl. Küppers 1996. Vgl. die Anwendung der Chaostheorie auf literaturwissenschaftliche Interpretationen bei Wrobel 1997, Goldschweer 1998, Hartwig 2004a. 589 Die Benard-Instabilität ist benannt nach dem Franzosen Henri Bénard, der das im Folgenden beschriebene Experiment 1900 durchführte. Zur Bénard-Instabilitat vgl. Pohlmann 1986: 55, Haken/Wunderlin 1990: 18-19, Haken 1996: 178-181, Küppers 1996a: 126-135, Kießling 1998: 99, Kriz 1999: 60f. D a s Konzept des Attraktors zeigt sich auch sehr anschaulich in so genannten .chemischen Uhren', d. h. chemischen Reaktionen in Form von raum-zeitlichen Mustern; vgl. Hess/Markus 1986, Prigogine/Stengers 1993: 89, Kriz 1992: 160f.; 1999: 61-63. 590 Haken spricht von Ordnern als Strukturen, die dem Verhalten der Elemente, durch die sie erzeugt wurden, ihre Ordnung aufzwingen (vgl. Haken/Wunderlin 1990: 25).
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ausgehenden Trajektorien konvergieren" (Loistl/Betz 1993: 17).591 Das Konzept des Attraktors verbindet Dynamik und Stabilität, denn der stabile Zustand ist in einer dynamischen Organisation entstanden und kann wieder zerfallen, wenn sich die Randbedingungen ändern.592,Stabilitätsüberhang' eines Attraktors (Hysterese) bedeutet, dass jeder Attraktor ein gewisses Beharrungsvermögen hat, also einen Bereich, in dem er sich stabil und fehlertolerant zeigt und kleinere Störungen und Schwankungen ausgleicht.593 Werden diese zu stark, emergiert nach einem Phasenübergang ein neuer Attraktor, so dass das System plötzlich eine neue Qualität zeigt. Man kann also sagen, dass eine Störung assimiliert wird oder zu einem neuen Attraktor fuhrt. Daraus folgt, dass Ordnung in dynamischen Systemen nur scheinbar konstant ist; in Wirklichkeit wird sie aktiv aufrecht erhalten durch Assimilationen von Störungen.594 Die so genannten Phasenübergänge bezeichnen Perioden von Instabilität zwischen zwei stabilen Phasen.595 Vor jedem Wechsel zu einem neuen Attraktor liegt im System eine hypersensitive Situation vor, in der spontan eine Vielzahl von Möglichkeiten ausgebildet wird; welche davon die Oberhand gewinnen, hängt u.a. von äußeren Einflussfaktoren ab. Ein Attraktor ist also ein innerhalb eines bestimmten Zeitraumes stabiler Gleichgewichtszustand. Attraktoren bilden sich aufgrund der inhärenten Möglichkeiten eines Systems (d. h. dessen interner Organisation) und infolge zufälliger Randbedingungen. Die Bénard-Instabilitât verdeutlicht, welche Rolle Randbedingungen (die Temperaturerhöhung) bzw. Fluktuationen bei der Ausbildung von Attraktoren spielen. Fluktuationen sind kleine Instabilitäten innerhalb eines im Großen und Ganzen stabilen Systems, die erst dann wichtig sind, wenn das System instabil wird. Dann nämlich wird es empfindlich fiir Einflüsse, die sonst nicht ins
591 Vgl. Loistl/Betz 1993: 15-21. Im Falle der Benard-Instabilität wird der Attraktor am Bienenwabenmuster beobachtbar. Zu Einzelheiten bezüglich Attraktoren und Chaostheorie vgl. Kriz 1992; 1997, Schwegler 1992, Küppers/Krohn 1992. Zum Thema „Synergetik: Prozesse der Selbstorganisation in der belebten und unbelebten Natur" vgl. Haken/Wunderlin 1986. Zu Ordungsparametern bei der Musterbildung und Mustererkennung vgl. Haken/Haken-Krell 1992: 155. 592 Zum Eigenwert vgl. auch, von Foerster 1985: 212, Krohn/Küppers 1989: 134-138, Simon 1991: 259 sowie den Sammelband Niedersen 1986. 593 Vgl. Stadler/Kruse 1992: 147. Hysteresen sind metastabile Phasen, in denen eine Ordnung trotz immer größer werdender Labilität aufrecht erhalten wird (vgl. dazu Küppers 1996a: 133). 594 Daher sind Attraktoren nicht einfach Regeln, Ordnungen, Strukturen, Interaktionsmuster, Gestalten oder Schemata, sondern Prozesse (Kriz 1999: 159). 595 Eine Phase (phasis = .Erscheinungsform') bezeichnet einen räumlich oder zeitlich abgegrenzten materiellen Zustand (Krammer 1990: 60), der stabil wirkt. Zu Phasensprüngen vgl. Ciompi 1997: 138, Wrobel 1997: 190, Kießling 1998: 106.
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Gewicht fallen,596 und es genügt der kleinste Anstoß, um das gesamte System in einen neuen Zustand zu treiben. Hierher rührt die typische Sensibilität chaotischer Systeme gegenüber geringsten lokalen Veränderungen der Umgebungsbedingungen, der berühmte ,Schmetterlingseffekt', der besagt, dass kleine Einwirkungen große Ursachen zeitigen können. Ob sich eine Verstörung destruktiv auf das System auswirkt oder nicht, hängt damit nicht von den Ausgangsbedingungen des Systems ab, sondern von dessen momentanem Zustand. Dies ist die eigentliche Bedeutung des Begriffes .chaotisch', wie er in der Physik gebraucht wird: die Empfindlichkeit gegenüber Anfangsbedingungen.597 Die Bénard-Instabilitát zeigt auch, welchen Stellenwert so genannte Schwellen im Selbstorganisationsprozess von Systemen haben: Das Wabenmuster tritt plötzlich auf, es emergiert, was bedeutet, dass die Verwandlung nicht stetig ist.598 Die Zusammenhänge zwischen der Veränderung der Umgebungsbedingungen und der des Systems sind nichtlinear, denn eine kontinuierliche Veränderung der Randbedingungen (die kontinuierliche Temperaturerhöhung) fuhrt zu diskontinuierlichen Zustandsänderungen (das ,plötzliche' Bienenwabenmuster).599 Der Übergang in ein neues globales Muster erfolgt als qualitativer ,Sprung', so dass zwei Zustände des Systems wie durch eine Schwelle voneinander getrennt sind. Bei der Erklärung der Rezeption literarischer Texte kann das AttraktorModell als heuristische Hilfskonstruktion gebraucht werden, die dynamische Prozesse zu modellieren erlaubt, bei denen stabile Werte aus dem komplexen Zusammenspiel verschiedener Faktoren emergieren.600 Bei der Textanalyse kann es
596 Vgl. Prigogine/Stengers 1993: 92f. Randbedingungen sind also notwendige, jedoch nicht hinreichende Bedingungen für das Auftreten einer Struktur (1993: 90). 597 Vgl. Sokal/Bricmont 1999: 160. Vgl. auch Prigogine/Stengers: „Alle Systeme, die einer irreduziblen probabilistischen Beschreibung gehorchen, bezeichnen wir definitionsgemäß als chaotisch" (1993: 15). 598 „Emergenz bezeichnet das plötzliche Auftreten einer neuen Qualität, die jeweils nicht erklärt werden kann durch die Eigenschaften oder Relationen der beteiligten Elemente, sondern durch eine jeweils besondere selbstorganisierende Prozeßdynamik [...]" (Krohn/Küppers 1992: 7f.). Zur Emergenz vgl. Krohn/Küppers 1992, Kriz 1997. 599 Darin liegt die Nichtlinearität des Zusammenhanges. Vgl. Kießling 1998: 21, Kriz 1999: 182, Schlippe/Schweitzer 1999: 65. 600 Das Konzept des Attraktors wurde vielfach auf nicht-naturwissenschaftliche Bereiche übertragen, u. a. (durch die Kognitionspsychologie) auf Wahrnehmungsphänomene. In der Psychologie z. B. werden Attraktoren als Handlungsziele modelliert, die das Verhalten eines Menschen beeinflussen („psychisches Feld", vgl. Stadler/Kruse 1992: 147). Ciompi sieht Affekte allgemein als Attraktoren an, die Denken und Verhalten konditionieren (1997: 154). Auch soziale Strukturen können als „stabile Werte und vorhersehbare Formen der Interaktion" gelten (vgl. Foerster/Pörksen 1999: 61). Zur Übertragung des Attraktorkonzepts auf menschliches Verhalten allgemein vgl. auch Thagard 1999: 215. Ciompi zieht folgende Parallele: „System-dynamisch betrachtet spielt die Information in psychischen Bezugssystemen genau
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beispielsweise die Konstruktion von Bedeutungen und deren oft plötzlichen Wandel veranschaulichen. Zu diesem Zweck muss man sich Bedeutungen als ,stabile Werte' vorstellen, auf die das Zusammenspiel von Textdaten und Komplettierungen des Rezipienten zulaufen. Die dynamische Stabilität eines Attraktors erklärt dann, wie eine Gesamtbedeutung aufrecht erhalten werden kann, auch wenn viele Textdaten als ,Störelemente' fungieren.601 Der Rezeptionsprozess kann dann wie folgt beschrieben werden: Zu Beginn des Textes organisiert der Rezipient unter Zuhilfenahme von Schemata und frames die Textdaten in Bedeutungseinheiten, die irgendwann zu einer Situationsbeschreibung ,umspringen', also von ungeordneten zu geordneten Reizstrukturen werden, was einer plötzlichen drastischen Komplexitätsreduktion entspricht: Ein Bedeutungs-Attraktor des Textes602 ist gefunden, der weder .richtig' noch ,falsch', sondern lediglich ein vorläufig stabiler Zustand bei der Bedeutungskonstruktion ist.603 Mit diesem wird nun weiter operiert, wodurch die Möglichkeiten der Interpretation drastisch eingeschränkt werden, und es gilt, was Peschl zur Wahrnehmung im Allgemeinen sagt: Durch das Triggern bestimmter Trajektorien werden ganze ,Subräume' an Möglichkeiten im activation space ausgeschaltet - dies wird so lange wiederholt, bis sich die Dynamik im Attraktor eines Minimums, das alle Randbedingungen möglichst gut erfüllt, .verfangen' hat. (Peschl 1994: 205) Die von den Bedeutungs-Attraktoren abweichenden Textdaten können als ,Fluktuationen angesehen werden, also als ,Störelemente', die nicht weiter ins Gewicht fallen, wenn der Bedeutungs-Attraktor stabil ist, d. h. so lange neue Textdaten assimiliert werden können. Störungen verstärken sich aber mitunter auch gegensei-
die gleiche Rolle wie die Energie in physischen Bezugssystemen: Psychische Begriffe sind verdichtete Information, gleich wie Materie verdichtete Energie ist; strukturelle Transformationen entstehen in beiden Bereichen durch fortwährende Energie- beziehungsweise Informationszufuhr" (1988: 258). 601 „Meaning is an order parameter of complex brain processes. Its function is the reduction of information and the stabilization of established attractors" (Stadler/Kruse 1995a: 5). 602 Kriz spricht von ,Sinn-Attraktoren' (1999: 141). Da der SI-Theorie der Luhmannsche Sinnbegriff zugrunde liegt, der sich mit dem Sinn-Begriff von Kriz nur zum Teil deckt, soll in dieser Arbeit von Bedeutungs-Attraktoren die Rede sein. Goldschweer spricht von .Zustandsräumen, „die aus verschiedenen Erzählern, Zeitebenen, Erzählmodi usw. gebildet werden, die einen Text konstituieren"; nach und nach bilde sich ein übergeordneter Attraktor, „der gewissermaßen die Essenz der bisherigen Rezeption darstellt" und die zukünftige steuert (1998: 82). 603 Anders formuliert: Die gegenseitige Modifikation von top down- und bottom-up-Konstruktionen bildet rekursiv einen stabilen Wert heraus. Bei dem Phänomen der Emergenz kann die neue Ebene (neue Ordnungen und Muster) nicht aus den Eigenschaften der alten erklärt werden.
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tig, so dass die Bedeutungskonstruktion in einem ,Phasensprung' in eine neue Lesart .umkippt', also einen neuen Bedeutungs-Attraktor aufsucht. 604 Auch können mehrere Bedeutungs-Attraktoren nebeneinander ausgebildet werden (z. B. bei ,puzzle'-artigen Textstrukturen), die dann gegebenenfalls zu einem übergeordneten Bedeutungs-Attraktor zusammengesetzt werden. Ein Text erscheint manipulativ, wenn er Bedeutungs-Attraktoren explizit selbst formuliert oder wenn die einzelnen Textelemente einen bestimmten Bedeutungs-Attraktor gegenseitig nachdrücklich verstärken (wie dies z. B. in der Werbung der Fall ist). Das bedeutet zwar nicht zwangsläufig, dass der Rezipient keine abweichenden Schemata oder frames nutzen kann, doch ist es sehr wahrscheinlich, dass er die vom Text suggerierten Schemata und frames übernimmt, denn der Aufwand, den er betreiben müsste, um dies nicht zu tun, ist ungleich höher als die Annahme derselben. SI verstören die Konstruktion von Bedeutungs-Attraktoren, denn sie be- oder verhindern eindeutige Grundunterscheidungen, die am Text vorgenommen werden müssen.
4.1.2
.SKIZZEN' UND .CHAOTISCHE' TEXTE
Das Textsystem kann derart unterspezifiziert bleiben, dass es nur vage oder in groben Zügen erkennbar ist und einer Skizze ähnelt, die von jedem Rezipienten individuell ergänzt werden kann. Sach-, Zeit- und Sozialdimension weisen Inkohärenzen auf. Exemplarisch sei Angélica Liddells Erstlingswerk Leda (1993) vorgestellt, eine Aneinanderreihung von 21 surrealistisch anmutenden Szenen mit wiederkehrenden Themen, die oft nicht deutlich aneinander anschließen; einige Szenen weisen keinen Text auf und stellen nur eine kurze pantomimische Einlage dar. Die Figuren bilden zwei Gruppen: die Muchacha im Rollstuhl, die zusammen mit Padre und Madre eine Familie formt, und dieselbe Muchacha in ihrer Funktion als Incubadora, welche zusammen mit den Engeln und dem Anunciador in einem transzendentalen Heilskontext steht. 605 In den Ortsangaben wiederholen sich Verweise auf ein Schloss und einen Park, gelegentlich wird auch ein Bordell erwähnt, einmal die Caseta delMudito, und oftmals bleiben die Szenen auch ohne Angaben. Die Kommunikationsbeiträge sind durchweg in einer phantastischen Welt anzu-
604
Dieser Vorgang ist dem positiven Feedback vergleichbar: Jedes D a t u m fuhrt weiter von der Homöostase weg in Richtung auf Eskalation. Vgl. Kriz 1992: 145; Stadler/Kruse 1992: 145; Loistl/Betz 1993: 21. Vgl. auch Lernprozesse allgemein: Der störende Einfluss von nicht mehr an die bisherigen Denkschemata assimilierbaren Widersprüchen fuhrt zu einer radikalen Neuorganisation von kognitiven Strukturen (vgl. dazu Ciompi 1997: 115).
6 0 5 In den heilsgeschichtlichen Kontext passt, dass die Engel hin und wieder Latein sprechen, Kirchenvokabular benutzen und eine Jungfrau suchen (Liddell Zoo 1993: 102).
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siedeln, in der es aber auch mehrere Fiktionsebenen geben könnte. 606 Die Sprechsituationen beziehen sich auf ein surrealistisches Ambiente, in dem über weite Strecken jede Anschlusskommunikation gleich wahrscheinlich wird. 607 Die Figuren reden oft aneinander vorbei, d. h. es bleibt offen, wie die Anschlusskommunikationen zwischen Information und Mitteilung unterscheiden. Dies wird besonders in der neunten Szene deutlich, als die Incubatriz verkündet, dass sie ein Kind vom Mudito erwarte, während Vater und Mutter ein banales Frühstückstisch-Gespräch fuhren. 608 Der Anunciador, welcher aufgrund seines Namens prädestiniert zu sein scheint für die Rolle des distanzierten Beobachters, wendet sich zweimal ans Publikum mit einer langen Tirade, die Erklärungen ankündigt. Zahlreiche Tautologien, Paradoxien und Metaphern machen die Botschaft jedoch unverständlich. 609 Seine übergreifende Position trägt nicht zur Klärung des Textsystems bei. Viele Dialoge und Handlungsbeschreibungen sind nicht kohärent aufeinander beziehbar: Die Handlungen im Bordell (Szene 2) haben mit der Suche nach einer „virgen incubadora" in der ersten Szene z. B. nur über zwei Figuren etwas zu tun ( Anunciador und Engel), doch ist nicht nachvollziehbar, warum diese beiden Figuren einen Bordellbesitzer töten und Prostituierte verfolgen. Die Verwandlungen der Figuren machen die Konstruktion eines chronologischen Zusammenhangs schwierig. 610 Bisweilen gehen die Kommunikationen der Figuren und die beschriebenen Handlungen so weit auseinander, dass zwischen ihnen kein Zusammenhang ersichtlich wird. 611
606 Offenbar gibt es verschiedene Fiktionalitätsstufen, etwa im Spiel-im-Spiel, wenn die Engel sich als Schwäne verkleiden (Liddell Zoo 1993: 109) oder als Familie (139), doch sind diese Verkleidungsszenen als fingierte Spiele gekennzeichnet. Der Bezug zwischen den Fiktionsebenen wird über die Figurenangabe deudich. 607 So lautet z. B. die Didaskalie für die zweitletzte Szene: „En el prostíbulo, helicópteros y sirenas ensordecedores. Tres ángeles muertos con las alas arrancadas. Seis policías rodean la cabeza del Anunciador con los cañones de sus seis armas, coronándole" (153). 608 Die Incubatriz bringt in dieses Gespräch abstruse Kommunikationsbeiträge ein wie etwa die Bitte: „¿Me dejas una muñeca? O algunos brazos rotos, o un pecho que no te sirva" (126). 609 In der zweiten Szene des ersten Teiles sagt er: „No huyáis, sólo es un juego porque no es un juego: la regla fundamental es utilizar el agujero correcto, el agujero estéril, la gruta encantada" (104). In der vorletzten Szene tritt er zum letzten Mal auf und sagt die Worte: „Eso es todo" (153). Damit zeigt er seine Position innerhalb und außerhalb der Fiktionsebene des Textes an (er kommuniziert mit den Figuren und mit dem Zuschauer), erläutert aber nur das, was ohnehin zu sehen ist. 610 Hormigón spricht von „una realidad poblada de seres fantásticos que se transforman según los acontecimientos, que poseen una gran capacidad de metamorfosis y a los que estamos obligados a reconocer en cada momento" (2000: 389). 611 Als Beispiel diene folgende Szene: ,¿4ngel 2. - Una mariposa se ha posado en mis labios. Angel 3 — (Sodomizando a su compañero.) ¿Cómo es la mariposa? Angel 2 - Blanca, pequeña, feliz..." (109). An anderer Stelle fallen nach der hundertmaligen Wiederholung des Wortes Padre Körperteile eines Menschen herab, und die Incubatriz sagt „¡Mudito!" (129).
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Der Redegegenstand ist vage bestimmbar mit den Schlagwörtern Sex, Inzest und Religion. Leitmotivisch erfolgen Anspielungen auf (meist tote) Schwäne und auf Eier. Letztere werden durchgehend durch die Bezeichnung Incubatriz evoziert.612 Über die Erwähnung von Eiern erhalten die Sequenzen eine chronologische Struktur, die von der Berufung eines Mädchens als Incubatriz bis zur Zerstörung der Eier in der drittletzten Szene durch eben die Incubatriz reicht. Vielfach werden Wörter aufgrund ihrer Vagheit zu reinen Klängen ohne konkrete Bedeutung: 613 Der Materialwert der Sprache tritt hervor, während die kommunikative Funktion in den Hintergrund gerät. D a es aber auch wiederkehrende Themen gibt, kann zumindest für den Gesamttext grob eine systematische Ordnung der Kommunikationsbeiträge erstellt werden,614 die jedoch nicht alle Textelemente umfasst. Es handelt sich um die Geschichte einer frühzeitig beendeten Schwangerschaft, die möglicherweise durch einen Inzest hervorgerufen wurde. Mit diesem Interpretationsschlüssel erhalten viele Szenen eine funktionale Bedeutung im Hinblick auf ein Textsystem: Der Text zeigt dann die (chaotische) Innenwelt einer Frau, die eine Abtreibung vorgenommen hat.615 Diese Ordnung verbindet jedoch nur einen Teil der Textelemente kohärent miteinander; andere (wie etwa die Schwäne, das Schloss, das Bordell, der Mord an den Prostituierten) behalten ihre konnotative Vielfalt uneingeschränkt bei. Der Verweis auf die mythische Figur Leda, welche vor allem ein Symbol für Schamlosigkeit (aufgrund von Unzucht mit einem Schwan) ist, könnte die Bedeutung einer Bewertung des Verhaltens der Incubatriz haben. Eine sexuelle Vereinigung mit Schwänen klingt immer dann an, wenn die Incubatriz von diesen Tieren berichtet. Warum allerdings Incubatriz und Leda parallelisiert werden, und wer (sie selbst oder ihre Umwelt) die Incubatriz mit der mythologischen Figur vergleicht, wird aus dem Kontext nicht ersichtlich.616
6 1 2 Die Symbolik bleibt unklar: Steht das Ei für Nachkommenschaft oder Fruchtbarkeit im Allgemeinen? In der ersten, der fünfzehnten und der neunzehnten Szene wird z. B. ein Tablett mit Eiern erwähnt. A n einer Stelle zwingt die Mutter die Incubatriz, ein Ei zu essen (126). 6 1 3 Der Text beginnt z. B. mit der Aufzählung von Gestirnsnamen (101), die im weiteren Verlauf des Textes nicht mehr thematisiert werden. Vgl. auch die hundertmalige Wiederholung des Wortes Padre (129). 614 Hormigón sieht dieses Bedeutungsmuster offensichtlich nicht, wenn er schreibt: „Un texto de enorme potencia visual, que estimula los sentidos del espectador y esboza, apenas, sugerencias de significado" (2000: 389). 6 1 5 Die zwölfte Szene wäre dann die Entscheidungsszene; dort sagt die Incubatriz: „ N o puedo. Y es por no poder por lo que lo siento aún más incrustado, como un diente en la encía. Y un martillo que golpea el diente y lo clava, lo clava, hundiéndolo en la infección. El ruido del martillo clavando. D u r o como un diente. N o pudo. ¿Sabrán ya que no puedo?" (133). Symbolisch kann mit dieser Bedeutungshypothese dann auch der Verweis interpretiert werden, dass die Incubatriz im Rollstuhl sitzt: Sie ist an ihre Rolle gefesselt. 6 1 6 Ähnlich skizzenhaft ist auch González Cruz' Kurztext Rushes. Er enthält Schlaglichter, die durch 29 Dunkelmomente voneinander abgesetzt sind, nur sehr wenig Sprechtext enthalten
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Gerade wenn Texte zu einem Verlust von Ordnungsstrukturen tendieren, wirken intertextuelle Verweise strukturbildend und verbürgen eine zumindest rudimentäre Ordnung. Uber Anspielungen auf berühmte Texte der Weltliteratur hält z. B. Rodrigo García oftmals noch vage eine systematische Struktur seiner Texte aufrecht, etwa in MACBETH Imágenes (1988) (Accésit Premio Marqués de Bradomín 1987) oder in Rey Lear (1997) — zwei aus wenig strukturierten Kommunikationsbeiträgen bestehende Texte - , die (z. B. über Figurennamen) Anklänge an die berühmten Shakespeare-Texte aufweisen. Auch Martillo (1991a) und Matando horas (1991b) haben einen konkreten Text als Strukturhintergrund, den Atridenmythos617 bzw. Peter Handkes Erzählung Die linkshändige Frau, dessen Themenschwerpunkte auch in Garcías Text erkennbar sind. Hernández Garridos (1999a) hochmetaphorischer Text Los restos Fedra erlaubt zumindest die rudimentäre Konstruktion eines Textsystems, weil der Bezug auf den Mythos um Phädra strukturbildend wirkt. In den genannten Fällen kann jeweils ein existierender Prätext in einen sehr unstrukturierten Text hineingelesen werden, was die Mehrdeutigkeiten einschränkt.618 Aber auch ohne intertextuelle Verweise sind oft über gängige Alltags -frames zumindest skeletthaft Geschichten rekonstruierbar.619 In einem Idealtypus .chaotischen Theaters (im Sinne einer .ungeordneten Datenmenge') ist jede Textkonstruktion gleich wahrscheinlich, weil die Textdaten untereinander beliebig korrelierbar sind, so dass die Konstruktion eines Gesamtsystems willkürlich bleibt. Die Sinndimensionen (Sach-, Zeit-, Sozialdimension) werden beständig verstört und bestätigen daher nicht mehr gegenseitig die globale Ordnungsstruktur des Textes. Anders gesagt: Die Möglichkeiten der Ordnungsbildung steigen mit jedem neuen Textelement exponentiell an. Die
und im Wesentlichen eine Frau und einen H u n d beschreiben. Nur gelegentlich redet die Frau am Telefon, offensichtlich mit ihrem Lebenspartner. Die aneinandergereihten Sequenzen lassen sich zu der Geschichte einer einsamen Frau zusammensetzen, die ein Leben zu zweit versucht („cena romántica"), von ihrem Partner aber immer wieder versetzt wird. A m Ende zieht sie um, die letzten drei Sequenzen zeigen nur noch den fressenden Hund. Details dieser offensichtlich melodramatischen Geschichte bleiben völlig im Dunkeln. 6 1 7 Garcia greift in Martillo speziell auf die Bearbeitung des Elektra-Stoffes durch Heiner Müller zurück (vgl. Garcia 1991a: 79). Die Elemente des Mythos wirken indes wie beliebig verwendbare Versatzstücke eines verlorenen Zusammenhanges. Vgl. zu Matando horas die ausfuhrliche Analyse bei Hartwig 2002c. 618 Auch Eva Hibernias (1996) grotesker Kurztext Mu (fragmentos) bezieht sich ansatzweise auf Shakespeares King Lear, was in den Figurennamen deudich wird. 6 1 9 Garcías (1991) Acera derecha handelt von der Beziehung eines Mannes und einer Frau, deren Aussagen auf verschiedenen Zeit- (und Fiktions-?)ebenen situiert sind und deren Relation zueinander nicht durchgängig bestimmt werden kann, da viele Kommunikationsbeiträge defektiv, widersprüchlich oder mit Fragezeichen versehen sind. Vielfach lösen sie sich auch in reine Klangspiele auf. Dennoch kann über einige rekurrente Themen skizzenhaft die Geschichte einer Paarbeziehung rekonstruiert werden. Vgl. zu dem Text Jensen 2 0 0 2 . Mit einer äußerst vagen Sprechsituation arbeitet auch Llui'sa Cunillés (1996) Text Libración.
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Elemente des Textes wirken dann, als seien sie zufallsgeneriert.620 Das bedeutet, dass an keiner Stelle des Textes über die Anschlusskommunikationen Wahrscheinlichkeitsaussagen gemacht werden können.621 .Chaotisches Theater' erinnert an dadaistische Experimente, welche die Freiheit der künstlerischen Produktion in rein assoziativen Zufallstexten proklamieren.622 Es entspricht auch Lyotards Forderung nach einem Theater der puren Materialität, einem ,energetischen Theater', das sich ganz den ,Energieströmen' widmet und diskontinuierliche Ereignisse produziert.623 .Chaotisches Theater' weist außerdem Anklänge an die „intensités pures" auf, von denen Deleuze und Guattari sprechen.624 Den Theorien gemeinsam ist der Gedanke, an die Stelle des Werks Ereignisse zu setzen. Das Happening ist beispielsweise der Versuch, nur Randbedingungen zur Hervorbringung von Ereignissen bereitzustellen und ansonsten keine Vorgaben für die Aufführung zu machen, nicht einmal bezüglich der Grenzen zwischen Schauspiel und Realität.625 Situationen und Regeln des Spiels entstehen auf diese Weise in actu. Charles schreibt zu Performance und Happening entsprechend: Wenn es Sinn gibt, dann weiß man doch nicht welchen: keine Assoziation, keine klare Konfiguration von Details wird die Unbestimmtheit der Ausfuhrung vertreiben; kein Netz von Hinweisen wird die drohende Zweideutigkeit bannen.
(1989: 53)
620 Zufall impliziert „das Eintreten eines Ereignisses, das vom betreffenden System her - sei dieses als Ordnung, sei es als zweckmäßig handelndes Subjekt konzipiert - nicht vorausseh- und voraussagbar wäre, und nicht ableitbar ist; und zweitens, die Singularität dieses Ereignisses, die nicht aufgeht in einer wiederholbaren Funktion" (Wellbery 1991: 162). 621 Von Zufall ist die Rede, wenn kein feststellbarer Zusammenhang zwischen Ereignissen besteht: Das Eintreten eines Ereignisses ändert nichts an der Wahrscheinlichkeit des Eintretens eines anderen. 622 Surrealismus, Futurismus und Dada zeigen Montage und Simultaneität im Sinne einer assoziativen Verknüpfung von (Wort-)materialien ohne logische Abfolge. Vgl. dazu z. B. Marinetti/Settimelli/Corra 1995: 95. Aleatorische Dichtung folgt dem Gesetz des Zufalls und einer assoziativen Sprechweise; vgl. z. B. das poème simultan in der Theorie Hugo Balls (1995: 104). 623 Das energetische Theater soll „(durch Exzeß oder durch Tiefpunkte) die höchste Intensität dessen hervorrufen, was da ist ohne Absicht" (Lyotard 1982: 22f.). Zu Lyotards energetischem Theater vgl. auch Lehmann 1999: 56-58, Balme 1999: 65. Das poème simultan der Dadaisten zielt ebenfalls auf Präsentation von Energie ab (vgl. dazu Ball 1995: 104). Vgl. zu Aufführungen, bei denen es um einen Austausch von Energien geht, auch Fischer-Lichte 2001: 145. 624 Deleuze und Guattari sprechen von „un corps sans organes qui ne cesse de défaire l'organisme, de faire passer et circuler des particules asignifiantes, intensités pures" (1976: 10). 625 Vgl. dazu z. B. Charles 1989: 25-85, Klotz 1994: 39f., Alcázar 1998: 89-101, Sánchez 1999: 184. Zu Happening und Ritus vgl. auch Finter 1985: 46. Zu Happening, Event und Performance vgl. Reißer/Wolf 2003: 174-177, zu Performance und Body Art Reißer/Wolf 2003: 191-193.
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Bei diesem Aufführungstypus geht es um das gemeinsame Erleben einer Erfahrung.626 Ereignishaftigkeit muss in erster Linie jede Erwartung durchkreuzen, da diese in nuce Ordnungsstrukturen enthält.627 Einem ,chaotischen Theater' nähern sich nur wenige Texte des Gegenwartstheaters an, von denen zwei beispielhaft angeführt seien: íñigo Reyzábals (1989)
Le Petit Negre (Premio Marqués de Bradomín 1988) und Paloma Ortiz' (2001) Sabemos quién se ha meado en tu copa de helado.
Reyzábal verbindet in siebzehn ,Kapiteln (mit je eigenem Titel) mehrere unabhängige, in sich eigenständige Figurengruppen miteinander, auf die verschiedene Schlaglichter geworfen werden. Viele Sequenzen verweisen ohne erkennbare logische Ordnung auf eine Beziehung zwischen zwei Figuren namens Florence und Jean.628 Die klarsten Konturen erhält ein in mehreren Episoden als traditionelle Geschichte erzähltes Hörspiel um eine blinde Frau. Zudem schafft Reyzábal eine nur fur den Leser sichtbare Textebene: er ordnet einige Textpassagen in Form eines Bildes an. Es ist nicht klar, wie viele Geschichten nebeneinander gestellt werden und ob (und auf welcher Fiktionsebene) sie miteinander zusammenhängen. Immerhin könnte jede Darstellung dem Radiostudio entstammen, auf das immer wieder angespielt wird. Es gibt keine übergreifende gemeinsame Thematik (außer dem sehr abstrakten Thema,Liebe'), so wenig wie die Figur, auf die im Titel angespielt wird, eine konkrete Funktion hat: Der im Titel genannte ,kleine Neger' (ein Verweis auf eine Komposition Debussys) läuft immer wieder kurz über die Bühne, bleibt aber ein nicht assimilierbares Element des Textes.
Sabemos quién se ha meado en tu copa de helado der jungen RESAD-Schülerin Paloma Ortiz nähert sich stark einer reinen Wort-Collage an. Der Text nennt als
Kommunikationspartner Yo-Él, Yo-Ella und Tatiana 7 años, die aber nicht als voneinander abgegrenzte individuelle Sprecher erkennbar werden. Mehrere Textblöcke, die jeweils mit einem Namen versehen sind, schließen bruchlos aneinander an, ohne einen inneren Zusammenhang erkennen zu lassen. Haupt- und Nebentext verschwimmen ineinander.629 Die Themen sind heterogen und nicht
626 Vgl. die Aufführungen der klassischen Avantgarde, insbesondere des Surrealismus, und dazu Sánchez 1999: 89. 627 Uber den Surrealismus schreibt Barthes, er sei „une subversion directe des codes - d'ailleurs illusoire, car un code ne peut se détruire, on peut seulement le ,jouer' mais en recommandant sans cesse de décevoir brusquement les sens attendus (c'était la fameuse .saccade' surréaliste), en confiant à la main le soin d'écrire aussi vite que possible ce que la tête même ignore (c'était l'écriture automatique)" (1984: 63). Barthes nennt als Charakteristikum des surrealistischen Textes „décevoir brusquement les sens attendus" (1994a: 492). 628 So bringt z. B. die erste Sequenz den Selbstmord und dann die Heirat von Florence und Jean zusammen. 629 Die erste Aussage von „Tatiana 7 años" lautet z. B.: „Lo primero que quiero es avisar de que yo no estay" (Ortiz 2001: 176) - handelt es sich um eine Szenenanweisung? Die Mehrdeutigkeit
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explizit miteinander verbunden, und viele Wörter werden litaneiartig wiederholt. Die Sprecher zitieren stets die Rede anderer Sprecher (meist in der dritten Person Singular), so dass nicht deutlich wird, wem die Aussagen zugerechnet werden müssen.630 Als Beispiel eines Bühnentextes sei ein szenische Experiment des III Festival
Alternativo de las artes escénicas/Escena Contemporánea 2003 in Madrid (Rubrik „Otras Actividades") angeführt, das einem Happening nahesteht: In Sexo (Regie: Juan Carlos Montagna) werden 27 Stunden lang ununterbrochen Texte zum Thema ,Sex' vorgetragen und z. T. szenisch dargestellt.631 Die Zuschauer werden stündlich in einen kleinen Kellerraum eingelassen und dürfen gehen, wann sie wollen. Während der gesamten Dauer der Aufführung wechseln verschiedene Darsteller einander ab, bleiben aber im Raum, d. h. die nächtlichen Besucher können sie beim Schlafen beobachten. Die Grenzen der Auffuhrung sind unklar; viele Elemente können sowohl der Fiktions- als auch der Wirklichkeitsebene zugerechnet werden, und jeder Zuschauer sieht nur einen Bruchteil des Bühnentextes. Die Darstellerwechsel rufen zeitliche Diskontinuitäten hervor, und das übergreifende Thema wird nicht nach klaren Leitdifferenzen abgehandelt: Sach-, Zeit- und Sozialdimension sind nicht eindeutig konstruierbar. Als weiteres Beispiel sei K. O.S. (2002; Regie: Marta Galán) genannt, ein Bühnentext mit collageartiger Aneinanderreihung verschiedener Sprechtexte und Bewegungseinheiten, loser Gedankenfragmente, Tanz und Pantomime; am Ende wird dem Zuschauer auf der Bühne hergestelltes Popcorn angeboten. Im Programmheft heißt es: [...] no parte de una dramaturgia previa, los textos se generan a partir de improvisaciones sobre propuestas determinadas; los actores no encarnan a personajes sino que se manifiestan como individuos que accionan; no hay una
der verschiedenen Drucktypen kennzeichnet den gesamten Text und fuhrt dazu, dass Aussagen und Kommentare nicht trennbar sind. Am Ende des Stückes heißt es z. B.: „Si quiero, necesito dos vidas o igual Necesito no tener más vidas. Y oscuro. Y luz de sala. Y se acabó' (Ortiz 2001: 179). 630 Ahnlich aufgebaut ist auch Ortiz' zweiter veröffentlichter Text, Y si no aguantas te metemos en un saco (2003). Vermischungen von Fiktionsebenen, heterogene Themen und Assoziationen sowie zeitliche Unbestimmtheit finden sich auch in Campos Gallegos (2002a) Medidas variables, Cremades Cascales' (1999a) Topos {Premio de Teatro Buero Vallejo „Ciudad de Guadalajara" 1998), del Pozos (1999; 1999a) Clown, ma non troppo und „De la U", Molinas (1994) El último gallo de Atlanta. Eine einigende Rahmenhandlung haben die ansonsten grotesk-phantastischen Stücke 013 varios: informe prisión (Premio Marqués de Bradomin 1987; González/Sanguino 1998) und Ora pro nobis (Accésit Premio Marqués de Bradomin 1986) von Matallana Bulnes (1987), das mit Zwischenspielen nach Art von Werbeeinschüben arbeitet. 631 Beginn: 22. Februar, 20h, Ende: 23. Februar, 23h; Ort: Pub Madragoa (c/Pez, 2, Madrid). Zu der Aufführung vgl. Catuana 2003: 100.
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línea argumental motivada por la ley de causa-efecto sino una multiplicidad de acciones, textos y registros emocionales. Y la característica clave [...] es la no representación. (Programmheft „Escena Contemporánea 2002": 6)632
,Chaotisches Theater' ist streng genommen eine zufällige Selektion von Elementen, die durch ihre Unvorhersehbarkeit gekennzeichnet sind. Aus der Sicht des Rezipienten ist es eine ungeordnete Abfolge von Stimuli, die im Extremfall zu Verärgerung, Uberforderung und Langeweile führt. Sind alle Bedeutungskonstruktionen gleich wahrscheinlich, können sie auch als gleichermaßen irrelevant angesehen werden. Vielfach gehen .chaotische' Texte daher in Bedeutungslosigkeit über, wenn nämlich ihre Strukturlosigkeit nicht originell, sondern eine Art vorhersehbarer Unvorhersehbarkeit ist,633 so dass das Publikum „zur Apathie hin vergewaltigt" (Brook 1997: 79) wird.634 Im positiven Fall kann der Rezipient hingegen Muster frei in den Text hineinlesen und diesen somit kreativ weiterschreiben. Ob Texte bereits ohne Ordnung sind oder ob sie ein subtiles Spiel an der Grenze zwischen Chaos und System initiieren, ist in vielen Fällen reine Interpretationssache. Dies ist u. a. dadurch zu erklären, dass die Feststellung, eine Ansammlung von Elementen weise nicht einmal rudimentäre Ansätze von Mustern, Redundanzen oder Gesetzmäßigkeiten auf, schwer zu begründen ist. Wie könnte auch bewiesen werden, dass noch eine (sehr komplexe) Ordnung oder dass bereits eine insgesamt .chaotische' Ansammlung von Textdaten vorliegt, steht doch das Unregelmäßige „immer im Verdacht, eine noch unbekannte Regelmäßigkeit zu verbergen" (Küppers 1996b: 151)?635
632 Simón handelt den Text unter der Rubrik „Baile y movimiento en Escena Contemporánea" ab und urteilt: „[...] tantas ideas terminaban aplastándolo todo, dejando estancadas las imágenes y los movimientos [...]" (2002: 140). 633 Hier tritt ein Effekt ein, den Hofstadter im Zusammenhang mit computererzeugten strukturlosen .Unsinnssätzen wie folgt beschreibt: „Eine Sache beginnt den Menschen zu langweilen, nicht wenn man ihr Repertoire von Verhaltensweisen erschöpft hat, sondern wenn man die Grenzen des Raumes gezogen hat, der dieses Verhalten begrenzt" (1985: 661). Trancón spricht von der „ idea del texto dramático interactivo e incompleto, que suele llevar a muchos a la vaciedad, con el pretexto de que es el espectador el que tiene que construir el sentido de la obra" (1999: 61). Vgl. auch Guillermo Heras' Invektiven gegen einen .chaotischen' Typus des spanischen Gegenwartstheaters (2001; 2002). 634 So schreibt Brook über „das Klägliche eines schlechten Happenings": „Man gebe einem Kind einen Tuschkasten, und wenn es alle Farben gemischt hat, ist das Ergebnis immer das gleiche schmuddelige bräunliche Grau" (1997: 79). 635 Daher gibt es, streng genommen, keinen Gegenbegriff zu Ordnung. Vgl. an der Heiden 1996: 102; 106. An der Heiden (105f.) nennt als Beispiel die Zahl jt, deren Bestandteile nach dem Komma nur als regelgeleitete Abfolge erkennbar sind, wenn man weiß, dass sie unter Bezugnahme auf den Kreisradius erzeugt wurden. Vgl. das Problem der Chaosfeststellung auch aus mathematischer Sicht: „Es ist ein mathematischer Widerspruch, zu sagen, daß eine Folge
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Offensichtlich gibt es bei Mehrdeutigkeit einen ,point of no return', „jenseits dessen er den für den Rezipienten doch recht entscheidenden Bedeutungsaspekt (im Sinne von ,relevance' und ,meaning') aus dem Auge verliert" (Bode 1988: 79f.). Bodes Folgerung lautet, das Optimum der ästhetischen Effizienz liege innerhalb des Spektrums der Mehrdeutigkeit, in der Annäherung an den Umschlagpunkt, nicht jenseits desselben (1988: 80). Störungen des Textsystems können also ein Maximum oder ein Optimum anstreben: Hier liegt die Grenze zwischen Komplexität und Zerfall. .Chaotische' Texte unterscheiden sich dadurch von Texten, die als ,Grenzgänge' beschrieben werden können, dass letztere das Wechselspiel zwischen Ordnung und Chaos zur Grundlage ihrer Struktur machen.
4.1.3
ANNÄHERUNG AN DIE GRENZE
Das Problem eines .chaotischen Theaters' ist die Unmöglichkeit, Ereignisse auf Dauer zu stellen. Wird Ordnungslosigkeit zum Konstruktionsprinzip von Texten, verlieren die Störungen ihre Kraft als operationales Hindernis bei der Bedeutungskonstruktion, da sie selbst zur Regel werden und keine aufmerksamkeitserregende Funktion mehr übernehmen können.636 Das fuhrt dann zu dem paradoxen Effekt, dass die Abwesenheit des Organisationsprinzips zum neuen Organisationsprinzip wird.637 Bei .chaotischen' Texten stellt sich zudem das Problem, ex negativo doch auf ein System zu verweisen, weil Verneinung und Bejahung sich gegenseitig bedingen. Nur vor dem Hintergrund, dass alle Bedeutungskonstruktion nach Systemhaftigkeit strebt, kann ja ein .chaotischer' Text als solcher erkannt werden. Damit entsteht der Effekt, dass das Verneinte durch die Verneinung mitgefuhrt wird, oder wie Charles es ausdrückt: Wird das Signal gewordene Rauschen sich nicht automatisch zur Form verkehren, zur Form, die ein Rauschen nachäfft? Mit einer Art von umgekehrtem Neoplatonismus bevorzugt man nunmehr den Hintergrund - aber das platoni-
keine Ordnung hat; wir können höchstens sagen, dal? sie keine all jener Gesetzmäßigkeiten aufweist, nach denen man suchen könnte" (Spencer Brown 1957: 105). Vgl. auch Watzlawick/Kreuzer: „Man kann Unordnung, totale Unordnung, etwa in einem Zahlensystem, überhaupt nicht wahrnehmen, weil unser Hirn gar nicht geeignet ist, totales Chaos wahrzunehmen, sondern überall Ordnung sucht - auch dort, wo keine ist" (1999: 16). 6 3 6 Vgl. Eco (1987a: 3 5 1 ) unter Verweis auf "klovskij. Vgl. auch Luhmann: „Wenn die Kommunikation laufend in spezifischer Weise irritiert wird, entstehen eingeübte Formen des Umgangs mit solchen Störungen" (1993: 126). 6 3 7 Die zufällige Ansammlung unverbundener Textdaten führt zu einer Regelmäßigkeit, die mit .Abwesenheit von Ordnung' umschrieben werden kann.
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sehe S c h e m a der Imitation bzw. Kopie eines transzendenten Modells bleibt durchaus erhalten. D e r wahrhafte Einsatz wäre das Formgeräusch [...] ( 1 9 9 8 :
331 f.)639
Die Alternative sowohl zu systemischen als auch zu ,chaotischen Texten ist daher ein Text, der die Grenze zwischen Chaos und System in sich wieder einfuhrt (das re-entry der Systemtheorie): Weder-noch und Sowohl-als-auch bilden einen Gegenpol zur Affirmation und zugleich zur Negation von Systemhaftigkeit. Texte, die zwischen Chaos und System oszillieren, sollen daher als ,Theater der Grenzgänge' bezeichnet werden. An die Grenze zwischen System und Chaos kann sich ein Text prinzipiell auf zwei Arten annähern, nämlich indem in chaotische Textdaten strukturierte,Inseln' oder in strukturierte Textdaten Paradoxie- und Kontingenzeffekte eingeschleust werden. In beiden Fällen werden Bedeutungs-Attraktoren verstört, ohne dass der Text insgesamt völlig ungeordnet wirkt. Im ersten Fall können Textdaten partiell in Bedeutungs-Attraktoren integriert werden, im zweiten Fall gibt es neben einem dominanten Bedeutungs-Attraktor eine auffällige Menge nicht integrierbarer Textelemente. Der erzeugte Effekt ist in beiden Fällen ähnlich: Der Text schwankt in allen drei Sinndimensionen zwischen Stabilisierung und Destabilisierung. Beide Möglichkeiten, sich an die Grenze zwischen Chaos und System anzunähern, werden im Folgenden jeweils durch einen Schrift- und einen Bühnentext illustriert, die ausgewählt wurden, weil an ihnen besonders markant ein ,Theater der Grenzgänge' veranschaulicht werden kann. Eine Darstellung der Textstrukturen gestaltet sich bei beiden Typen des .Theaters der Grenzgänge' als schwierig, da SI als zentrales Strukturmerkmal erhalten bleiben sollen und nicht durch abstrahierende Zuschreibungen von Ordnungsstrukturen .geglättet' werden dürfen.639 Eine Textanalyse kann also nur Bedingungen der Ordnungsbildung und Möglichkeiten der Entstehung von Unentscheidbarkeit benennen, weshalb sie nicht darauf zielt zu beschreiben, welche Bedeutung ein Text hat, sondern welche Probleme beim Konstruieren derselben möglicherweise entstehen.640 Mit einem Terminus
638 Charles zitiert Shuzo Kuki, Le problème de la contingence, Tokio 1966, S. 3. Vgl. das sophistische Argument der Umkehrung (das so genannte antistrephon): Die Leidenschaft etwa verleugnet die Vernunft, folglich erkennt sie sie an. Denn Negativität ist nur im Hinblick auf etwas Identifizierbares denkbar (Zima 1989: 210). Vgl. auch Watzlawick 1988: 138. 639 Streng genommen müsste eine Textbeschreibung die Texte identisch wiederholen, um keinen falschen Eindruck von der Ordnung der Textelemente zu erzeugen, denn es gilt: „Ein komplexes System besteht aus so vielen Elementen, daß diese sich nur selektiv und reduktiv aufeinander beziehen können" (Bolz 1994a: 307). 640 Die Textanalyse hat nicht zum Ziel, Verbindungen zwischen den einzelnen Textelementen festzulegen, sondern Komplexität zu modellieren und dabei den Akzent auf die Stellen zu legen, an denen Paradoxie- und Kontingenzeffekte entstehen. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf .Knotenpunkten der Bedeutungskonstruktion, wodurch die Analyse den Vorschlag
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Gumbrechts (1995a: 915) ist eine solche Analyse als ein ,flacher Diskurs' anzusehen, der nicht primär auf Deutungen abzielt: Auf diesem Niveau sollten konstitutive Elemente von (historisch und pragmatisch verschiedenen) Kommunikationsformen benennbar und Strukturen ihres Zusammenspiels identifizierbar werden, ohne daß diese Elemente durch Deutung/Interpretation — also durch die Ersetzung der sie evozierenden Sinngestalten mit anderen Sinngestalten — in den Hintergrund gedrängt würden. Solches .Evozieren ohne Deuten' ist gemeint, wenn heute [...] von einem .Beschreiben' geredet wird, das von Verstehen/Interpretieren/Deuten (der Substitution von Sinn durch Sinn) abgehoben sein soll. (Gumbrecht 1995a: 915) Die Analyse benennt in diesem Sinne mehrere mögliche Perspektiven der Textbeschreibung und versteht sich als Anleitung zum Lesen von SI in Texten des Gegenwartstheaters, die aufzählt, welche Verknüpfungen von Textdaten mögliche Konstruktionsgrundlagen der Textrezeption sind. Die nonverbalen Elemente eines Bühnentextes zu beschreiben, wirft das Problem auf, dass Wahrnehmung (Barthes spricht von „plénitude analogique"; 1982: 12) sprachlich wiedergegeben werden muss, wodurch sie verändert, d. h. zugleich reduziert (auf Begriffe gebracht) und (durch die Konnotationen der Begriffe) erweitert wird.641 Für die SI-Theorie ist aber gerade diese Kommunikation (also das Reden über/das Beobachten von Wahrnehmung) von Interesse, denn ,Interferenzen' können nur in der Kommunikation entstehen, nicht schon auf der Ebene der Wahrnehmung, da nur in der Kommunikation die drei Sinndimensionen konstruiert werden.642 Abschließend sei darauf hingewiesen, dass es keine logische Begründung für einen Einstiegspunkt in einen Text gibt. D a den Analysen jedoch die Annahme zugrunde liegt, dass Bedeutungs-Attraktoren sich aufgrund eines Selbstorganisationsprozesses ausbilden, ist es bei der Textbeschreibung nicht ausschlaggebend,
Ecos aufgreift, „einen Text als ein System aus Knotenpunkten oder Verknüpfungen (oder ,Gelenkstellen) darzustellen" (1987: 83), ohne dass indes auf Ecos Vorstellung eines .ModellLesers' zurückgegriffen wird. 641 So werden bei sprachlichen Beschreibungen von Wahrnehmungen immer Konnotationen und Bedeutungselemente durch die Versprachlichung hinzugefligt (vgl. Barthes 1982: 12 und Bateson 1983: 532). Auf Probleme der Notation angesichts der Flüchtigkeit des Gegenstandes (die Einzigartigkeit einer konkreten Aufführung) kann hier nur verwiesen werden (vgl. zu diesem Problem Lehmann 1992a: 1016, Brauneck 1995: 25). 6 4 2 Vgl. Schwegler: „Widersprüche können ihre Ursachen nicht in den Handlungen selbst haben, da die Handlungen sich nicht widersprechen können: immer führe ich entweder eine Handlung oder eine andere Handlung aus. Also können die Ungereimtheiten und scheinbaren Paradoxien erst auf der Ebene der Beschreibungen entstanden sein, zwischen den Theorien und nicht schon auf der Ebene der nichtsprachlichen Handlungen" (1992: 32).
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bei welchem Aspekt (Sach-, Zeit- oder Sozialdimension) angesetzt wird, sondern nur, wie diese miteinander verknüpft werden.643 Da nach Ordnungsprinzipien der Bedeutungskonstruktion und nicht nach besonderen SI gefragt wird, ist die Organisation des Textes wichtig, und diese zeigt sich unabhängig von der Reihenfolge, in der man die Textelemente zueinander in Beziehung setzt. 4.2
ORDNUNG IM CHAOS
4.2.1
RODRIGO GARCIA, PROMETEO Dadle a la historia la posibilidad de ser otra — de ser muchas — porque la historia os lo grita a la cara. (Garcia 1991: 2 1 )
Rodrigo Garcia (1992) nennt in seinem Text Prometeo,644 der eine moderne Mythenadaptation zu sein scheint, „El Boxeador", „El Speaker", „La Mujer" und „Otra Mujer" als Sprecher (P: 198). Damit klingen .Boxkampf, ,Medien und eventuell .Paarbeziehungen' als mögliche frames an. Der Text besteht indes aus 59 collageartig aneinander gefugten Textblöcken, die nur in wenigen Fällen direkt aneinander anschließen. Dennoch können zwischen vielen Kommunikationsbeiträgen Zusammenhänge skizziert werden.645 Die Textblöcke sind gleichmäßig auf die vier Sprecher verteilt, die vielfach auch (zu zweit, zu dritt oder zu viert) im Chor reden, wodurch sie wie ein einziger Sprecher wirken.646 Keinem Sprecher können durchgehend die gleichen Themen zugeordnet werden. Insgesamt grenzen daher die einzelnen Repliken eher
643 Auch der konkrete Rezipient, der einen Text zu lesen beginnt, befindet sich in der Situation, in einem Netz möglicher Verbindungen von Textelementen irgendwo beginnen zu müssen und sich voranzutasten, bis Ordnungen konstruiert werden können. 644 Der Text wurde vom Autor selbst aufgeführt auf dem Festival Internacional de Granada 1992 und im Rahmen von Madrid Capital Europea de la Cultura 1992. Zur Uraufführung von Prometeo vgl. Galindo 1992; vgl. auch Centeno 1996: 77. Zu einer Aufführung des Textes unter der Regie von Antonio López-Dávila vgl. Reiz 1997a: 140. 645 So sagt García: „Yo no sirvo para contar historias. Y sin embargo pretendo que mi obra, al acabar, se haya transformado en una historia" (Henríquez/Mayorga 2000: 17). 646 Der Boxer spricht 18 Mal, die Frau 19 Mal, die Andere Frau 17 Mal, der Speaker 21 Mal. Die ersten beiden Repliken sind z. B. allen vier Sprechern zugeordnet, wobei die Reihenfolge der Nennung unterschiedlich ist: Vor der ersten Replik steht als Sprecherangabe „El Boxeador, La Mujer, Otra Mujer, El Speaker", vor der zweiten „El Speaker, El Boxeador, La Mujer, Otra Mujer" - ein Hinweis auf die Willkür der Aufteilung der Textteile in benennbare Sprechinstanzen.
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zusammenhängende Kommunikationseinheiten denn individualisierte Kommunikationsteilnehmer voneinander ab.647 Schon die erste Replik zeigt die subtile Uberlagerung von Monolog und Dialog. Sie wird chorisch von allen vier Sprechern gesprochen (also als Monolog), ist aber wie ein Dialog (vermutlich zwischen einem Boxer und dessen Trainer) strukturiert.648 Die Replik ist damit zugleich nur einem und mehreren Sprechern zuzurechnen (chorische Homogenität in der sprachlichen Realisierung eines heterogenen Kommunikationsbeitrags), was einen Paradoxieeffekt erzeugt. Handelt es sich um einen Dialog zwischen mehreren Sprechern oder um die Vorstellung (Erinnerung) nur eines Sprechers von einem Dialog? Finden sich mehrere Sprecher zusammen, um wie einer zu sprechen, oder ist ein Sprecher in mehrere aufgespalten? Bereits die erste Replik zeigt damit das Oszillieren zwischen Innen- und Außenwelt von Sprechern, was als Charakteristikum aller Kommunikationsbeiträge des Textes gelten kann. Vielfach werden Dialoge durch direkte Anreden angedeutet, doch wird nirgends ersichtlich, wer der Angesprochene sein könnte. Aus dem Kontext kann nicht erschlossen werden, wem etwa Aufforderungen wie das von allen vier Sprechern gesprochene „Sal de ahf (P: 199) gelten, wen die Frau anspricht, wenn sie „mira mis/piernas, prueba/un poco de vino" (P: 209) sagt, oder wen der Boxer „Solitaria" nennt („seras carne/para el juego de las/bestias"; P: 229). Jeder der vier Sprecher könnte der Adressat sein, aber auch Außenstehende oder der Zuschauer. Imperative, Aufforderungen und Fragen könnten auch Selbstanreden in einer Art ,Innenschau' darstellen.649 Da der Text an vielen Stellen solche direkten Anreden aufweist, muss der Rezipient stets mehrere Möglichkeiten zugleich in Erwägung ziehen, ohne dass er anhand des Kontextes eine eindeutige Zuordnung vornehmen könnte. Auch wenn die Sprecher in der dritten Person reden, ist die Einschätzung der Aussagen mehrdeutig. Sind sie dann allwissende Erzähler? Rekapitulieren sie subjektive Eindrücke? Sprechen sie von ihren Phantasien? Oder zitieren sie andere Sprecher? Wenn etwa der Speaker von der Heimkehr eines Boxers zu seiner Familie berichtet, weiß er über die Gefühle aller Familienmitglieder Bescheid.650 647 Dies zeigt sich auch darin, dass mehrfach zwei Repliken voneinander abgesetzt, jedoch mit der gleichen Sprecherangabe versehen werden, was ein Verweis darauf ist, dass die Textblöcke keine sprachliche Interaktion zwischen Kommunikationsteilnehmern, sondern zusammenhängende Kommunikationseinheiten darstellen. Vgl. eine Aussage Garcías: „[...] he suprimido los personajes, ya no hay personajes y también casi estoy tratando de que no existan historias" (Gabriele/Leonard 1996b: 42). 648 Vgl. den Beginn der Replik: „Veo venir el golpe./¿Qué golpe?/El golpe, veo venir el golpe./¿Qué golpe, imbécil?/El golpe./Sal de ahi" (P: 199). 649 Vgl. Fragen wie die der Frau: „¿Crees que has aprendido a vi vir?/; De quiénes?" (P: 222). 650 Vgl. z. B. den Satz: „Y ninguno dijo lo que pensaba./Y los cuatro pensabais lo mismo:/somos más viejos" (P: 228).
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Referiert er hier Aussagen des Boxers? Oder gibt er seinen eigenen Kommentar? Die Repliken könnten die Wiedergabe innere Zustände oder aber äußerer Eindrücke sein. Obwohl der Text keine raumzeitlichen Brüche in Form von Szenen- oder Akteinteilungen aufweist, ist anhand der Kommunikationsbeiträge nicht rekonstruierbar, wie diese chronologisch oder kausal miteinander zusammenhängen.651 Die Vagheit vieler Aussagen (systemtheoretisch gesprochen: die nicht eindeutige Unterscheidung zwischen Mitteilung und Information) bewirkt, dass fast jede Anschlusskommunikation wahrscheinlich ist. Daher ist die Zeitdimension des Textes nicht rekonstruierbar. Die Textblöcke stellen in den meisten Fällen keine aufeinander aufbauenden und direkt aneinander anschließenden Kommunikationsbeiträge dar. Ein klarer Zusammenhang zwischen mehreren Repliken existiert nur an zwei Stellen: bei den Beschreibungen der Sebastian-Darstellungen in der Malerei und in der Geschichte einer überfahrenen Katze. Da die Repliken ansonsten meist keines der Wörter oder auch nur Themen des vorangegangenen Kommunikationsbeitrages explizit aufnehmen, schränken sie nicht gegenseitig ihr Bedeutungsspektrum ein. Dennoch bilden sich auch thematische Schwerpunkte aus, die oft über mehrere Repliken hinweg Verbindungen zwischen den einzelnen Aussagen herstellen. Vielfach sind bereits innerhalb eines Textblocks die Anschlüsse zwischen den Sätzen oder Syntagmen so vage, dass mehrere frames anklingen und unterschiedliche Bezüge möglich werden, wie folgendes Beispiel zeigt. A los maestros del engaño. A los hombres de la chaqueta oscura: manchas en el cemento. Al niño arrastrado por los pasillos de unos grandes almacenes. A la chica que en el pueblo se pierde la enseñanza más importante: aplastar antes de ser aplastada. A las madres borrachas frente a las tragaperras de los bares. A la mujer del sombrero en la cabeza y nada más que el sombrero en la cabeza. A los que se hacen fotografías junto a sus seres queridos para un portarretratos erecto sobre el escritorio. A los que jamás se han preguntado: ¿por qué? y ¿para qué? A los que el día de la explosión siguieron de largo, como si no fuera con ellos. A los que no pueden creer. A todos y entre todos, también a mí: danos el fuego. (P: 206)652 651
In einem Interview erläutert García: „[...] este asunto de la progresión remite a una sensibilidad indigna de un artista... Digamos que es la ley del mínimo esfuerzo" (Henríquez/Mayorga
2000: 18).
6 5 2 Einige der genannten Personen sind Angehörige von Gruppen, andere Individuen, wieder andere abstrakte Wesen; manche wirken wie Symbole, manche wie konkrete Personen, von denen einige wie Helden, andere wie tragische Figuren oder gar banal oder lächerlich erscheinen. Der abschließende Imperativ „danos el fuego" nimmt das Prometheus-Motiv auf.
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D i e einzelnen Satzteile grenzen nicht gegenseitig ihre K o n n o t a t i o n e n u n d ihr Bed e u t u n g s s p e k t r u m ein, so dass weder die Sprechsituation n o c h die F u n k t i o n des G e s a m t b e i t r a g e s i m K o n t e x t präzisiert werden k ö n n e n . Viele Repliken wirken a u f ähnliche Weise wie F r a g m e n t e , deren B e z u g s p u n k t e nicht b e n e n n b a r sind 6 5 3 u n d die daher w i e aus e i n e m u n b e k a n n t e n Z u s a m m e n h a n g herausgebrochen zu sein scheinen. 6 5 4 N u r vage k o n n o t a t i v e V e r b i n d u n g e n entstehen, w e n n die Frau v o n toten Tieren u n d v o n verletzten M e n s c h e n spricht, j e d o c h kein klarer Vergleichspunkt ersichtlich wird, d a m a n g e l s K o n t e x t die Verweise zu u n g e n a u sind. 6 5 5 D i e fehlend e innere K o h ä r e n z vieler Repliken hat zur Folge, dass a u c h die Sprechsituation d u r c h g e h e n d unterspezifiziert bleibt. M a n c h e Repliken scheinen reine, undifferenzierte W a h r n e h m u n g nachzuahm e n , die n o c h nicht v o m K o h ä r e n z stiftenden Intellekt geordnet wurde. 6 5 6 W ö r ter u n d Satzfetzen stehen wie plötzliche E i n d r ü c k e z u s a m m e n h a n g l o s nebeneinander, wie etwa in der f o l g e n d e n , vollständig zitierten R e p l i k der Frau: Andar [Infinitiv eines Grundverbs, dessen Bezug unklar ist] La caliza. [Einzelwort, dessen Einbettung in den Kontext unklar ist] N o todas las nubes [defektiver Satz] Movimiento perpetuado. [Bezug auf andar oder auf nubes unklar] Engranajes Las palabras. [Engranajes und palabras werden syntaktisch/visuell parallelisiert, jedoch nicht über ein Verb miteinander verbunden] Volver a verte [Affirmation] Nunca. [Negation] En la misma plaza [Vergleichsobjekt von misma unklar] Paises sacudidos. [Bezug auf das im Text wiederholt angesprochene T h e m a .Krieg'?]
653 Vgl. z. B. die kontextuell nicht spezifizierte Aussage des Boxers: „Mi primerisimo primer/plano mi/Gran Plano de Mí" (P: 229). Vgl. auch Sätze wie die folgenden: „Sentir, un buen día, sin la/necesidad de ver./Sentir, al día siguiente, sin la/necesidad de tocar./Llevar la ropa como algo que/arde" (P: 202). 654 Hier liegt ein Verfahren vor, das Fischer-Lichte (1997: 175f.) als Struktur vieler Texte des Gegenwartstheaters nennt: Beim Herausbrechen eines Elementes aus seinem Kontext verliert dieses seine syntaktische Dimension, wird dekontextualisiert und defunktionalisiert. 655 Vgl. die gesamte Replik: „Pasillo infinito./Laberinto para/animales degollados./Mano recortada/contra el papel vegetal./Foco./Mano a contraluz./Prótesis./Silueta hilo de/sangre./ Gris" (P: 219). Kurz zuvor fällt das Wort „Hospitales"; die auf die zitierte Passage folgende Replik beschreibt detailliert die auf dem Gemälde dargestellten Wunden des Heiligen San Sebastián (P: 219), so dass z. B. das Wort Prótesis möglicherweise .Krankenhaus' konnotiert. 656 Die beobachteten Details werden nicht explizit miteinander verbunden, wie ja auch im Akt der Wahrnehmung selbst noch keine kausallogischen Verbindungen bestehen.
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No te detengas. [Adressat der Aufforderung unklar] Vé. [sie] [Adressat der Aufforderung unklar; Bezug auf ir oder auf ver unklar] Ella va. [Bezug des Pronomens ella unklar; das Wort vé aus dem Vorsatz scheint sich auf den Infinitiv ir zu beziehen] Vé [sie; s. o.] Atrás. [ Vé scheint sich auf den Infinitiv ver zu beziehen] Eso es lo importante. [Bezug der Aussage unklar: Kommentiert sie den vorausgehenden oder den folgenden Satz?] Volver la cabeza [Aufforderung oder Aussage?] Pero no Cuando quieras. [Bezug zum vorausgehenden ,Pero no'?] Sí. [Bezug unklar] Cuando tú quieras. [Affirmation ohne direktes Objekt] La mujer cuenta: me llamo... [defektiver Satz] (P: 223f.). Insgesamt können aus den genannten Kommunikationsfetzen die heterogensten Kontexte konstruiert werden; logische oder chronologische Verbindungen werden vage oder gar nicht vorgegeben. Die Replik ahmt einen zufälligen Strom von Wahrnehmungen und Gedanken nach, in denen sich Erinnerungen u n d bloße Vorstellungen mischen: Eine Trennung zwischen Innenweltbeobachtung und Außenweltbeobachtung ist nicht möglich. W i e hier ist auch in vielen anderen Textblöcken nicht zu erkennen, ob sich die Aussagen auf direkte Beobachtungen von äußeren Begebenheiten, Kommentare zu diesen Beobachtungen, Erinnerungen oder reine Vorstellungen beziehen und in welchem zeitlichen Verhältnis sie zu den sie umgebenden Aussagen stehen. 657 Auch ist .eigentliches' von .uneigentlichem' (vor allem von metaphorischem) Sprechen aufgrund der Vagheit des Kontextes meist nicht unterscheidbar.658 Damit kann die Sprechsituation nicht konkretisiert werden. Durch die
657 Garcia situiert sein Theater insgesamt im Kontext der Erinnerung, wobei er den fiktiven, phantastischen Aspekt des Erinnerungsvorgangs betont. So sagt er: „Creo que en esa lucha por recordar está la gracia. No en el recordar, sino en el poder desvirtuar a tus anchas. Completar. Mentirte a ti mismo. Exagerar. Y por supuesto, ocultar. La parte más importante de mi obra es la que no me atrevo a contar, mi gran vergüenza" (Galán 1998). 658 Manche Repliken sind daher wie hermetische Gedichte lesbar, etwa die in kurzen Versen gehaltene Tirade der Frau, die davon zu berichten scheint, dass sie ein neues Leben anfängt (P: 202). Nur das Wort „seguir" wiederholt sich viermal (P: 202). Kein konkretes Ereignis wird greifbar, jede Anspielung kann wördich oder metaphorisch gelesen werden, jedes neue Detail verweist nur vage auf die evozierte Grundsituation des „seguir". Auf unverständliche Weise beginnt die Frau an anderer Stelle eine (recht kohärente) Beschreibung alltäglicher Handlungen mit den Worten: „Aquí también estaba de paso. Trataba de conducir mi cuerpo, pero todos los movimientos eran distintos. Hacía lo contrario" (P: 230) — weder „también" noch „distintos" oder „contrario" können in ihrer Bedeutung konkretisiert werden, da ein Vergleichshintergrund fehlt.
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Unterdrückung logischer Verbindungen zwischen den Textelementen entsteht der Eindruck, die Bilder behielten die Fülle einer ganzheitlichen Wahrnehmung bei, noch ehe sie unter einer bestimmten Perspektive angeordnet und noch ehe sie durch Anschlusskommunikationen präzisiert werden. Ein weiteres Moment des Textes, was zu Verunsicherungen bezüglich der Sprechsituation fuhrt, ist die Vermischung direkten und zitierenden Sprechens sowie direkter und über ein Medium vermittelter Beobachtungen. So scheinen in einer Replik des Boxers zunächst dessen Wahrnehmungen referiert zu werden; Einschübe, die an Regieanweisungen erinnern,659 deuten jedoch alsbald an, dass sich die Aussagen des Boxers auch auf Einstellungen eines Filmes beziehen könnten.660 Weder anhand der Replik selbst noch anhand des Kontextes kann der Rezipient entscheiden, ob der Boxer einen (bereits existierenden) Film beobachtet oder ob er selbst seine Wahrnehmungen zu einem Film montiert. Im ersten Fall gäbe er eine Beobachtung zweiter Ordnung, im zweiten eine (ästhetisierte) Beobachtung erster Ordnung wieder.661 Vielfach gewinnen Rhythmus und Klang der Wörter die Oberhand über ihre semantische Verwendung, besonders in Verbindung mit einer Wiederholung syntaktischer Strukturen. Klangliche Verweise (Echoeffekte) zwischen Satzfetzen lenken die Aufmerksamkeit auf die Materialqualität der Sprache. Dementsprechend sind viele Textblöcke versartig angeordnet. Immer wieder erfolgen litaneiartig monotone Aufzählungen z. B. der Boxernamen (P: 215) oder der Mozartopern (P: 226f.), in denen die Rezeption zwischen der kognitiven Erfassung grundlegender Themen des Textes (Wort als Zeichen) und der Wahrnehmung eines stakkatohaften Rhythmus (Wort als Material) hin- und herpendeln kann. An einer Stelle wird gar zweiundzwanzigmal das Wort „Okey" wiederholt (P: 220). Dass der Text nicht in willkürliche Sprachfragmente zerfällt, liegt an rekurrenten Themen wie .Boxkampf, ,Oper' und ,Krieg' und an .lokalen Zusammenhängen wie den Sebastian-Darstellungen. An vielen Stellen können schemenhaft
659 Vgl. das Vokabular, das an die Sprache eines Drehbuchs erinnert: „Close-up de miles de/labios" (P: 210); „Corte a pequeño salón del/inmueble", „Corte/a la habitación principal", ,,Corte/a cuarto de baño", „El asistente de cámara", „el segundo ayudante", „Narración,/Sonido directo, Voz Ojf (P: 213-215). 660 So kann etwa die Beschreibung einer Frau im Spiegel sowohl eine Direktwahrnehmung als auch ein Bericht über einen Film sein: „ - En el espejo del baño/todavía empañado/una Forma/Silueta de mujer/[...]/- en el espejo, confusa, una/silueta de mujer joven/en el vaho la cámara no hace/foco. Narración,/Sonido directo, Voz Offilla figura del espejo desaparece" (P: 214f.). 661 Beobachtungen erster Ordnung, die ebenfalls Beobachtungen zweiter Ordnung sein könnten, finden sich auch an anderen Textstellen. So wird z. B. der Krieg als ein mediatisiertes Ereignis evoziert, wenn der Boxer sagt: „Hay una cola de/víctimas de/guerra/para pintarse frente al/espejo/del baño. Son/las víctimas de la revista del/periódico del domingo./Jamás/las víctimas de la tierra/de la batalla,/pinturas negras" (P: 211).
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zusammenhängende Erzählungen erahnt werden. Partielle Ordnungsstrukturen bleiben damit erkennbar. Manchmal werden umrisshaft Geschichten deudich, etwa wenn in einer Replik u. a. von Betäubungsmitteln, einem Balkon, einem „golpe seco" und einem „cerco de curiosos" die Rede ist (P: 225f.) — skizzenhaft schält sich aus der Zusammensetzung dieser Fragmente die Beschreibung eines Selbstmordes heraus. Da der Kontext diese Geschichte nicht wieder aufnimmt, bleibt es bei der vagen Andeutung.662 Ein Leitmotiv des Textes ist der Boxkampf, auf den sich durchgehend zwei Figurennamen (Boxeador und Speaker) beziehen. Auch wird wiederholt mit Fachvokabular darauf angespielt.663 An einigen Stellen erfolgen nur lange Aufzählungen wie etwa die der verschiedenen Gewichtsklassen (P: 201), 664 während andere Textblöcke Begebenheiten aus dem Ring berichten.665 Wieder andere Repliken befassen sich mit dem Sport aus wissenschaftlicher Sicht, etwa wenn das Innere eines menschlichen Gehirns und die Wirkungen von Schlägen beschrieben werden (P: 207f.).666 Die einzelnen Verweise nehmen nicht aufeinander Bezug; vielmehr erhält der Rezipient nach Art einer schlaglichtartigen enzyklopädischen Wissensvermittlung Informationsfetzen zu einem konkreten Thema, ohne dass eine Kon-
662 So ist zwischen die Beschreibung eines jungen Boxers und die Beschreibung des Verhaltens eines Boxers im Allgemeinen der Satz eingeschoben: „Hace dos o tres años te habría encontrado fácilmente, sentado en la terraza de un café en el barrio latino, tomando un vermú rojo, con una mujer" (P: 201). Handelt es sich hier um den beschriebenen Boxer? Einen anderen Boxer? Ein anderes Individuum? In die kohärenter strukturierten Textblöcke werden oft Sätze eingeschoben, die völlig aus dem Zusammenhang gerissen scheinen und daher im Kontext beliebig wirken. Auch finden sich verstreut viele aphorismenartige Sätze, die ebenfalls keinen erkennbaren Zusammenhang mit dem Kontext aufweisen, so dass sie nur weitere (willkürliche) Gedanken sind. 663 Viele Anspielungen wirken wie Auszüge aus einem Handbuch des Boxsports. Die zweite Replik des Textes enthält z. B. die Maße eines Menschen mit Hilfe der Angabe „pulgadas" und beschreibt Boxer abstrakt-allgemein: „El boxeador no es un hombre, es un welter. El boxeador no camina de prisa ni con lentitud, lo hace como un super ligero. El boxeador no tiene la mente en blanco durante un instante, piensa como un peso pesado. El boxeador no tiene un plato favorito, come como un peso gallo. Mira como un super welter. Respira como un mosca. Ríe como un peso medio" (P: 20l). Einige Repliken reden über den Boxsport, z. B. „Nadie elige ser boxeador./Después nadie quiere dejar de serlo" (P: 216). 664 An anderer Stelle werden 24 Namen und Spitznamen von Boxern genannt (P: 215) sowie Daten, Orte und Anzahl von rounds, also offensichtlich Ergebnisse von berühmten Kämpfen (P: 217f.). Ähnlich werden wenig später Daten, Sieger und Anmerkungen zu einzelnen Boxchampions aufgezählt (P: 228). 665 Eine Replik handelt davon, wie ein Boxer während einer Pause in der Ecke des Rings versorgt wird („La verdadera pelea está en la esquina"); neun Sätze beginnen mit den Worten „AI mismo tiempo" (P: 203). 666 Der Speaker beschreibt das Innere eines Schädels und die Wirkungen eines Boxschlages (P: 207f.).
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textualisierung angestrebt würde. Die Aufzählungen, die sich auf den Boxsport beziehen, arbeiten mit einer Fülle parallel gebauter Sätze, Anaphern, Wiederholungen und Aufzählungen, sind also rhythmisch aufgebaut; da die semantische Relevanz dieser Listen gering ist, tritt ihr klanglicher Aspekt in den Vordergrund, so dass die Rezeption zwischen dem zeichenhaften und dem materiellen Aspekt der Wörter hin- und herpendelt. In die allgemeinen Ausführungen zum Boxsport wird eine konkrete Lebensgeschichte eingeschrieben, die aber nur aus Bruchstücken besteht, deren Verbindungen assoziativ und spekulativ bleiben, da der Kontext sie nicht präzisiert. Die Konturen der Geschichte lassen sich wie folgt umreißen: Ein junger Mann wird aus wirtschaftlicher Not Boxer und verlässt sein Heimatdorf;667 er ist mit dem Verlauf seines Lebens unglücklich, die Kämpfe sind hart und die Verletzungen z. T. schwer.668 Mit den Jahren entfremdet er sich seiner Heimat und versteht seine Familie und seine früheren Bezugspersonen nicht mehr.669 Der in dieser Geschichte thematisierte Boxer ist nicht zwangsläufig mit der Figur Boxeador aus Prometeo identisch; vielmehr handelt es sich um eine ,prototypische' Boxer-Geschichte, deren Stationen nicht unbedingt einer konkreten Figur zugerechnet werden müssen und deren Grenzen nicht genau abgesteckt sind.670 Der Lebenslauf ist auch für allgemeinere Interpretationen offen, etwa als Beispiel flir die Zwangslage, in der sich ein Mensch befindet, wenn er seinen eigenen Körper verkaufen muss.
667 Am Anfang des Textes wird ein auf das Jahr 1928 datierter Steckbrief eines sechzehnjährigen jungen Mannes gegeben, dessen Körpermaße im Hinblick auf den Boxsport beschrieben werden, wobei jedoch auch zweimal das Wort „Hambre" fallt (P: 200). Vgl. dazu Anspielungen auf teures Restaurantessen (P: 208) sowie auf Tortilla und Tapas (P: 215f.) — der Boxer hat durch seinen Beruf ofifensichdich die existentielle Not überwunden. 668 Vgl. eine längere Replik des Boxers: „Las luces./La sombra del águila./El hook al hígado./La cuenta de diez./Un nuevo hígado./Los gritos./La camilla./Las luces./No veo nada./[...] El peso de mi cuerpo./Toneladas de piedra./La caída./Los gritos./La luz" (P: 208f.). In einer Replik äußert der Boxer den Wunsch, sich eine Hand zu durchschießen (P: 204), was auf den Wunsch, mit dem Sport Schluss zu machen, verweisen könnte. Vgl. auch eine andere Stelle, an der schlaglichtartig, aber in groben Zügen verständlich, davon erzählt wird, wie ein Boxer (dieselbe Person?) zusammengeschlagen wird, aber später in einem teuren Restaurant sitzt und ein opulentes Essen vor sich stehen hat (P: 232). 669 Vgl. die Replik der Anderen Frau: „Dijiste que esa casa había que venderla, que teníamos que salir de aquel pueblo miserable. Hablabas como si no hubieras conocido allí a tus primeros amigos. Como si no supieras el nombre de cada calle. [...] ¿Cómo te atreves tú a regresar después de cuatro años y hablar así? [...] En tu primer viaje de regreso te conocimos. De tu visita recordamos el desprecio. No quisiste ocupar tu antigua habitación" (P: 205f.). Offensichtlich ist dieses ,Du' ein Boxer, denn es fallt der Satz: „Eras insensible en la mesa igual que en un ring" (P: 205). 670 So könnten auch die am Textende stehenden Gedanken zum Alter auf den Boxer bezogen werden. Der Textblock beginnt mit den Worten: „Ser viejo/una tarde de sol" (P: 232) und endet mit dem Satz: „Ser viejo/Una tarde de sol./No pido tanto" (P: 233).
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Eng verbunden mit dem Boxsport ist das Thema ,Oper',671 zwei Bereiche, die auf den ersten Blick wenig miteinander gemeinsam haben. Die Verbindung ergibt sich über die Figur eines Boxers (ob es sich um ,den Boxeador handelt, wird nicht präzisiert), der ein Opernliebhaber ist.672 Uber ihn wird die harmonische, ästhetische Welt der Mozartarien mit der gewalttätigen eines Kampfsports verbunden. Das Thema ,Oper' steht dem Thema .Sebastian-Darstellungen in der Malerei' (über Fragen zur Ästhetik) nahe, ist mit diesem aber nirgendwo direkt verbunden. Ein weiteres rekurrentes Thema ist,Krieg', wobei nicht deutlich wird, ob es sich um einen konkreten Krieg oder allgemeine Ausführungen handelt, weil Ortsund Zeitangaben sowie logische Verbindungen zwischen den Aussagen fehlen.673 Auch eine schmerzliche Liebesgeschichte klingt wiederholt in Repliken der Frau an (P: 202; 204f.). Keines der Themen hat indes eine deutlich strukturierende Funktion im Text. Übergreifend ist lediglich der Bezug auf das Wortfeld .Erinnerung und Vergessen'.674 Viele Textblöcke aus unzusammenhängenden Sätzen oder Satzfetzen können als schlaglichtartig auftauchende Bruchstücke von Erinnerungen angesehen werden. Prometeo spricht also nicht nur über Erinnerung, sondern reflektiert auch den Vorgang des Erinnerns, indem er das Auftauchen von Bildern fühlbar macht, die ihre Authentizität nur bewahren, wenn sie als Fragmente erhalten bleiben. Jede logische oder auch nur chronologische Verbindung ist bereits verfälschende Manipulation. So heißt es in einer längeren Replik des Speaker: Reconstrucción. Reconstitución. Montaje y desmontaje de la memoria. Fragmentos. Imágenes inacabadas. Secuencias sin final. Recordar un trayecto íntegro. Y después otro más largo. Pero un trayecto completo. Recordar en el tiempo real de lo sucedido. Invadir el tiempo real de lo sucedido con el tiempo real de recordar. Basta de traer a la memoria fragmentos de pasado. [...] No recuer-
671 Neben allgemeinen Anspielungen auf Musik und Gesang erscheinen insbesondere Mozart und die Sängerin Elisabeth Schwarzkopf mehrfach. Vgl. P: 207; 222; 226f.; 228. Bei der Beschreibung der Stimme Elisabeth Schwarzkopfs nähert sich der Stil wissenschafdichen Ausfuhrungen an (P: 222). 672 So erläutert der Speaker: „Disfruta viendo combates suyos en vídeo con arias, duetos y quintetos de óperas de Mozart./Apenas sabe leer y escribir pero eso sí: distingue perfectamente una frase mal cantada de un momento conseguido" (P: 207). 673 So erzählt die Frau von einem Dorf im Krieg und von Bombardierungen (P: 203f., 217, 223). Der Satz „A la pregunta de adonde vas, la mayoría responde: no lo sé" (P: 217; 223) wird dabei wiederholt, so dass zwei Textblöcke durch ihn miteinander verknüpft sind. 674 Mehrere Aussagen beziehen sich direkt auf plötzlich auftauchende Bilder der Vergangenheit. Der Boxer evoziert z. B. die Angewohnheit des Vaters, Wein in die Suppe zu gießen (P: 233). Vgl. auch zahlreiche Wiedersehensszenen, die ein nostalgisch verklärtes „Früher" heraufbeschwören (P: 205f.; 217; 228). Vergessen erscheint an mehreren Stellen als Neuanfang (z. B. P: 202; 230).
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des la idea de la conversación de una tarde. Recuerda cada palabra de la conversación de esa tarde. Un paso. Y después el siguiente. Reconstrucción. Reconstitución. Montaje y desmontaje. [...] Une los fragmentos con precisión. Hazlo poco a poco. Y descansa. No te inventes escenarios, no completes con la imaginación. La moral pertenece al pasado. La memoria como única moral. {P: 2 2 4 ) Die Erinnerung erscheint wie eine freie Assoziation im Freudschen Sinne, ein Aneinanderreihen von Eingebungen, ohne vorab bekanntes Ziel und ohne Plan. 675 D a Erinnerungen immer auch von Wünschen, Hoffnungen, Ängsten usw. geprägt sind, welche die ursprüngliche Wahrnehmung verzerren, können die einzelnen Fragmente nicht klar nach M o d i getrennt werden: Jedes erinnerte Element ist potentiell von Affekten beeinflusst. Die assoziative Form der Darbietung von Erinnerung kann auch auf die Konstruktion des gesamten Textes Prometeo übertragen werden, besteht dieser doch aus bruchstückhaften Kommunikationsfragmenten, deren Verbindungen nicht vorgegeben sind und deren Fiktionsebenen nicht deudich voneinander unterschieden werden. Die zitierte Replik des Speaker ist also zugleich eine Aussage des Textes (zum T h e m a ,Erinnerung') und eine Meta-Aussage über den Text (zu dessen Struktur). Zwischen diesen beiden Ebenen kann der Rezipient hin- und herspringen. Auch die Assoziationen des Mythos um den im Titel genannten Prometheus haben eine strukturierende Funktion. Besonders die Ambivalenz dieser mythologischen Figur bewirkt, dass der Text auf keine eindeutige Aussage festzulegen ist. Prometheus ist auf der einen Seite ein Schöpfer: Als Sohn des Uranos dem Zeus ebenbürtig, formt er Menschen, denen Athene götdichen Atem einhaucht, und bringt ihnen das Feuer, damit sie sich des Götterfunkens auch bedienen können. D a die Götter daraufhin Pandora mit ihrer Büchse des Unheils ausschicken, ist Prometheus' Geschenk zugleich der Anfang menschlicher Mühsal. Andererseits ist Prometheus aber auch ein Betrüger: Er stiehlt das Feuer und versucht, Zeus bei einer Opfergabe zu überlisten; für seine Auflehnung gegen die Götter wird er damit bestraft, dass ein Adler an seiner Leber frisst, die sich täglich erneuert. 676 Prometheus ist also zugleich ein Rebell gegen die Götter und deren Opfer, Schöpfer und Betrüger, Wohltäter und Dieb, Urheber von Fortschritt und Quelle der N o t des Menschengeschlechtes. Auf zentrale Punkte dieses Mythos spielt kein Textelement 675
So nennt der Speaker als mögliche Erinnerungsfetzen: „Recortes de periódico. Pedazos de tela. Manchas en la ropa. Cicatrices en el cuerpo. Arrugas nuevas" (P: 224) — heterogene Elemente ohne logischen Zusammenhang. García sagt dementsprechend in einem Interview: „[...] una historia es una gran mentira [...] las historias al final lo que hacen es buscar nexos entre las cosas donde no hay nexos, no existen esos nexos" (Gabriele/Leonard 1996b: 42). 676 Vgl. Schwab 1975, erster Teil: 9-13. Vgl. zur Doppelgesichtigkeit der Figur auch Pötscher 1979.
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in Garcías Prometeo direkt an. Doch wird die Leber des Boxers als Ort eines Martyriums im Text mehrfach thematisiert, was auf Prometheus als Sinnbild für den duldenden, unerlösten Menschen hinweist. Der Boxer symbolisiert also den Opferstatus des Menschen im Allgemeinen. Auch über den ,neuen Prometheus' Frankenstein (über den der Speaker einmal spricht; P: 218)677 werden Mythos und Boxsport miteinander parallelisiert, sind doch Frankenstein und Boxer gleichermaßen unglückliche Kreaturen einer künstlichen Umwelt, die aus Menschenteilen Monster erschafft. Indirekt können auch andere Textelemente auf den Mythos bezogen werden, wobei diese Bezüge jedoch nur assoziativ sind.678 Der Heilige Sebastian ist die zweite Symbolfigur, die der Text mehrfach nennt, wobei jedoch nicht auf gängige Attribute des Heiligen angespielt,679 sondern lediglich beschrieben wird, wie dieser in Kunstwerken dargestellt ist. Dabei wird besonders die Frage nach dem Umgang des Menschen mit seinem Leid wichtig.680 Die Beschreibungen der Sebastiandarstellungen erscheinen zusammenhängend an zwei Stellen des Textes und werden abwechselnd allen vier Sprechern zugeordnet. Sie beziehen sich auf Bilder von der Früh- bis zur Spätrenaissance, aus dem Barock und aus der Neuzeit.681 Außerdem wird eine Mozart-Oper erwähnt, deren Bezug zum Heiligen nur metaphorisch bleibt. 677 Der Film Frankenstein - The Man Who Made a Monster (USA 1931, Regie: James Wahle) basiert auf dem Roman Frankenstein, or The Modern Prometheus (1818) von Mary Wollstonecraft-Shelley und erzählt davon, wie ein Wissenschaftler namens Henry Frankenstein aus den Gliedmaßen Toter einen menschlichen Körper zusammensetzt (vgl. Giesen 1995). 678 So sagt die Frau etwa an einer Stelle: „Con tu/Sacrificio no/cambiará nada./Ni el árbol/ni el cuchillo/ni la ventana./Cambiará, sí,/la mirada de los demás" (P: 223). Aus dem Kontext wird nicht ersichtlich, ob sich die Anrede auf den Boxer bezieht oder ob die Frau ein Selbstgespräch fuhrt. Da das Wort sacrificio nicht näher spezifiziert wird, ist die Deutung, es handle sich um eine Anspielung auf Prometheus, spekulativ. 679 Die historische Gestalt lebte im 3. Jahrhundert n. Chr. Der Christ Sebastian wurde unter Diokletian an den Pfahl gebunden und von Pfeilen durchbohrt, überlebte dies und wurde daraufhin im Circus Maximus zu Tode geprügelt. San Sebastiano wurde zu einer der sieben frühchristlichen Pilgerkirchen Roms (vgl. Schauber/Schindler 1985: 39-41). Als einer der meistdargestellten Märtyrer gilt Sebastian als Schutzpatron der Soldaten und genießt besondere Verehrung als Pestpatron. Ursprünglich waren die Sebastianbilder als Dank für Rettung aus oder als Bitte um Schutz vor Seuchen gedacht - diese Konnotationen klingen in Garcías Text nicht an. 680 Dabei scheint in vielen Bezeichnungen der Verletzungen und der Teile des menschlichen Körpers der ,Blick eines Boxers' durch; vgl. z. B. die Kommentare zu Mantegnas Gemälde („Una [flecha] entra por la frente y la segunda, como un upper, por debajo de la mandíbula"; P: 206) oder zu dem RafFaels („[El santo lleva] una túnica negra con adornos dorados que recuerda a la bata del peso welter Jorge .maromero' Páez"; P: 207). Auch erscheinen teilweise medizinische Beschreibungen der Verwundungen (P: 219; 200). 681 Die Künstler sind Andrea de Mantegna, Sandro Botticelli, Raffael, Carreño de Miranda, Guido Reni, Bruce Nauman und Allan McCollum. Nach der Beschreibung der Bilder erfolgt eine Angabe dazu, in welchen Museen die Kunstwerke zu sehen sind. Damit wird die Kommunikation explizit als Beobachtung zweiter Ordnung ausgewiesen.
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Die zehn Kunstwerke zeigen verschiedene Haltungen Sebastians im Angesicht des schmerzvollen Todes, deren Beschreibungen stark subjektiv gefärbte, z.T. unzusammenhängende Eindrücke wiedergeben: Mantegnas Sebastian-Gemälde wird etwa als ein Bittgebet um Vendetta interpretiert, Botticellis Sebastian erscheint in der Pose eines Tangotänzers, und Raffaels Sebastian wird mit einer Hausfrau beim Markteinkauf verglichen (P: 206f.). In der Darstellung El Grecos werden Ironie und Humor und bei Carreno de Miranda das rebellische Moment eines Märtyrers hervorgehoben, der im Augenblick der Marter entdecke, dass sein Gott nicht existiert (P: 220). Guido Renis Darstellung wird mit der El Grecos unter der Fragestellung verglichen, welcher Moment des Martyriums eingefangen wurde (P: 221). Metaphorisch erscheint der Heilige bei Mozart, Bruce Nauman und Allan McCollum: als Frau, als Karrussell, als sich drehender Mann und als ein von der Asche in Pompeji getöteter Hund.682 Hier wird deutlich, dass es nicht mehr um Darstellungen der konkreten Figur des Heiligen Sebastian, sondern um Symbole der conditio humana allgemein, besonders aber den Aspekt,Martyrium' geht. Das tertium comparationis, welches Mozarts Frauenfigur, Naumans Karrussell/Projektionen sowie den Hund von Pompeji verbinden könnte, ist schwer formulierbar und bleibt vage und abstrakt. Denn die beschriebenen Reaktionen Sebastians angesichts seines Schicksals reichen von Frömmigkeit über Resignation, Ironie und Rebellion hin zu Gleichgültigkeit; Mozarts Oper und Naumans Karrussell beziehen sich indes gar nicht direkt auf den Tod und werden doch über die Bezeichnung ,Sebastiandarstellung' zum Martyrium in Beziehung gesetzt. Die Beschreibungen der Sebastiandarstellungen in Prometeo oszillieren damit zwischen der Thematisierung eines konkreten Todeskampfes, der Beurteilung der ästhetischen Darstellung dieses Todeskampfes, der metaphorischen Übertragung auf das Thema ,Kampf zwischen Gott und Mensch' und neuen, noch unbekannten symbolischen Aspekten der Sebastian-Figur. Die Verweise auf die Sebastiandarstellungen haben damit keine eindeutige Lesart; eine allen gemeinsame Perspektive und eine mit dieser verbundene Leitdifferenz sind nicht erkennbar. Gegen Ende des Textes wird der sieben Tage andauernde Zersetzungsprozess eines Katzenleichnams geschildert (P: 231 f.). Jeder Tageswechsel geht mit einem Sprecherwechsel einher, wobei jede Replik monoton mit einer Ordinalzahl beginnt. Die scheinbar unmotivierte Aufzählung der verschiedenen Stadien der Ver-
682 Vgl. die Kommentare: „El San Sebastián de Mozart es una mujer espléndida que pisa la tierra cantando: porgi adore" (P: 207); „El San Sebastián de Bruce Nauman es un tío vivo con animales de bronce colgados del cuello o de las patas" (P: 219f.); „El San Sebastián de Bruce Nauman son tres proyecciones de un hombre girando sobre sí mismo durante horas que grita: Okey" (P: 220); „El San Sebastián de Alian McCollum es el perro de Pompeya retorciéndose por las quemaduras de la lava, el collar de acero al cuello, la cadena" (P: 221).
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wesung enthält einen einzigen konkreten Verweis auf die beiden zentralen Symbolfiguren des Textes, Sebastian und Prometheus.683 Die Verbindung zwischen Katze, Heiligem und mythologischer Figur ist jedoch so vage, dass es unzählige Möglichkeiten gibt, sie über ein abstraktes tertium comparationis kohärent aufeinander zu beziehen. Die Verknüpfung der Kommunikationsbeiträge über Themen und Wortfelder ist allgemein vage und funktioniert meist nur über Assoziationen. In einer Replik wird beispielsweise erst das Boxerleben thematisiert, und nach und nach fallen dann Stichwörter, die auf die anderen Themenbereiche des Textes hindeuten: „dos santos" (.Sebastian'), „la ofrenda del cuerpo desnudo" (.Prometheus'), „La guerra" (,Krieg'), „Nuevos märtires" (.Sebastian'), „Frankenstein social o el/moderno Prometeo" (.Prometheus') sowie „La opera de Mozart" (.Oper') (.P: 217f.). Keinem Sprecher können indes durchgehend bestimmte Themen zugeordnet werden. Wie die mythische Figur des Prometheus widersprüchlich bewertet werden kann (als Segen oder als Fluch der Menschheit), so sind auch die Kommunikationsbeiträge in Prometeo verschieden deutbar. Die Textstrukturen lenken die Bedeutungskonstruktion nur in geringem Maße und zeichnen keine Parteinahme oder Wertung vor.684 Denn Widersprüche werden generell nicht aufgelöst. So stellt Garcia beispielsweise in einer Replik zwei Aussagen, die sich widersprechen, kontrastiv nebeneinander,685 ohne dass der Kontext eine der beiden als glaubwürdiger kennzeichnete. Die Aussagen stehen nebeneinander als widersprüchliche Angebote fiir Anschlusskommunikationen, wodurch die Bedeutungskonstruktion offen gehalten wird. Gegen Ende des Textes heißt es in einer Replik des Boxers dementsprechend:
683 Dieser lautet: „El poco pelo que le queda está de punta hacia el cielo. Las flechas del próximo San Sebastián, un erizo, el iracundo. La piel de Prometeo encadenado" (P: 232). Auch kann man sich fragen, ob diese Verfallsgeschichte invers zu den sieben Tagen der Schöpfungsgeschichte, also auch zu Prometheus' Menschenschöpfung, gelesen werden kann. Der letzte Tag des Katzenleichnams wird nur noch mit einem Satz beschrieben: „Séptimo día de un gato muerto atropellado" (P: 232) - der siebte Tag als Ruhetag. 684 So wird etwa die Ambivalenz der Erinnerung nicht zu einer Seite hin aufgelöst. Zum einen wird Erinnerung als für die individuelle Entwicklung unerlässlich ausgewiesen, zum anderen macht sie verletzlich. Ein aphorismusartiger Satz des Speaker gibt diese Ambivalenz wieder: „El que pierde sus recuerdos está metido en una rueda para entretener ratas blancas. [...] El recuerdo nos hace vulnerables, capaces de sufrir" (P: 217). 685 Es handelt sich offensichtlich um die Aussage einer Privatperson und um eine offizielle Aussage über das Verhalten des Militärs in einem Krieg: Auf den Satz „Más del cincuenta por ciento de las víctimas fueron civiles", der im Zusammenhang mit den kriegerischen Angriffen auf eine Stadt fällt, folgen Berichte über das Verhalten und den Zustand der Bevölkerung, und die Replik schließt mit den Worten: „Un comandante dice: mis hombres no mataron civiles" (P: 204).
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Rencor y risa y sobre todo rencor y risa. {P: 229) Der Satz kann als paradigmatisch fïir die Struktur des gesamten Textes angesehen werden: Er evoziert Unvereinbares (zwei inkompatible Gemütslagen), kündet eine Hierachisierung und damit eine Präzisierung an („sobre todo"), wiederholt dann allerdings lediglich den Widerspruch und trifft keine Entscheidung darüber, welcher der beiden Pole wichtiger ist. Garcia sagt über seine Texte: [...] no quiero tener ideas fijas. Eso me hace escribir contradicciones y ponerlas en boca (o en el cuerpo) de una misma persona. En lo posible me gusta que ese discurso contradictorio (tan rico) esté en boca de una misma persona. Lo más cruel y lo más bondadoso, todo, en una misma persona. (Henríquez/Mayorga 2000: 17) Die verschiedenen Bezugsfelder des Textes können nicht ineinander integriert werden, weisen aber Familienähnlichkeiten untereinander auf.686 Mit Prometheus hat die Figur des Boxers z. B. gemeinsam, dass beide ihren Leib buchstäblich ,zum Fraß' anbieten. Doch ist das Moment des Rebellischen, das Prometheus anhaftet, in der Figur des Boxers nicht enthalten, wohl aber in einigen Darstellungen des Heiligen Sebastian.687 Boxer und Heiliger werden wiederum über die Art ihrer Verwundungen parallelisiert. Über Attribute wie ,Einsamkeit' und ,Verlassenheit' sind Märtyrer, Boxer, Kriegsopfer und Katzenleichnam miteinander verbunden.688 Zwischen den Bezugsfeldern besteht kein übergreifender metaphorischer, sondern lediglich ein metonymischer Zusammenhang: Sie sind nur über Kontiguität miteinander verknüpft, verweisen jedoch nicht durch umfassende Vergleichsmomente aufeinander. Doch kann Prometeo nicht als zufällige Ansammlung von Kommunikationsbeiträgen mit beliebigen Anschlussmöglichkeiten angesehen werden, denn Ansätze von Ordnungen sind erkennbar. Die Themen lassen sich nicht zu einer Gesamtbedeutung synthetisieren, denn sie schränken gegenseitig ihr Bedeutungsspektrum nur unzureichend ein.689
686 Auch haben die Repliken kein systematisches Verhältnis zu rekurrenten Themen (wie , Boxen, ,Oper\ ,Sebastiandarstellungen', .Prometheus-Gestalten'), wie diese auch keine Leitdifferenzen für eventuelle Einteilungen in Konsens oder Dissens vorgeben. 6 8 7 Über die Parallele zu Prometheus wird die rebellische Seite des Martyriums hervorgehoben. 688 Z u m Boxer vgl. die Aussage: „La apabullante soledad del boxeador, repito" (P: 218). Durch das Wortfeld .Krankenhaus' werden auch der Boxsport (P: 219) und das T h e m a .Krieg' (P: 203f.) miteinander parallelisiert. 6 8 9 Vielmehr erinnert die Struktur von Prometeo an eine von der Dekonstruktion beschriebene Technik, nämlich „in ein und demselben Text heterogene Kodes, Motive, Register, Stimmen zu benachbarn oder aufeinander zu propfen" (Derrida 1998: 380).
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Der Text als Ganzes bildet daher kein kohärentes System, die einzelnen Textblöcke stehen vielmehr parataktisch nebeneinander, und jede Ordnung wird in ihrer Konstruiertheit und Vorläufigkeit erkennbar. Aus den Kommunikationsbeiträgen lassen sich indes einige kleine Geschichten und rekurrente Themen herausfiltern, so dass der Text weder einen klaren Zusammenhang hat noch aus zufällig zusammengewürfelten Einzelteilen besteht; er gleicht eher einer Skizze „zwischen vollendeter Zeichnung und bloßen Flecken" (Hartwig 2001: 43). An vielen Stellen oszillieren die Sätze zudem zwischen Symbolfunktion und reinem Klang. Intertextuelle Verweise lassen Ästhetiken anderer Texte als Vergleichsfolie fiir Prometeo anklingen. So ist eine Replik des Boxers, die wie die Beobachtung eines Filmes gelesen werden kann, durch den Verweis auf die Stadt Rom690 eine Anspielung auf den italienischen Regisseur Pier Paolo Pasolini und dessen Filmästhetik, die Garcia selbst als großes Vorbild nennt (2002a: 29). Pasolinis frühe Filme werden dem neorealistischen italienischen Kino der 60er Jahre zugerechnet, welches über die Darstellung sozialer Milieus hinaus ein „Kino der Poesie" anstrebt (vgl. Kiefer 1995:456), da es keinen reinen Abbild-Realismus aufweist, sondern ausdrucksvolle Bilder schafft. Einer ähnlichen Ästhetik folgen die schlaglichtartigen Impressionen, von denen der Boxer in Prometeo berichtet. Die Anspielung auf Pasolini wird indes nur angedeutet, so dass über eine assoziative Verbindung hinaus keine eindeutige Parallele entsteht, mit der sich etwa die gesamte Textstruktur von Prometeo kohärent lesen ließe. Andere Filmverweise sind expliziter. An einer Stelle zitiert der Boxer z. B. einen Satz aus Andrej Tarkovskijs Film Stalker (UdSSR 1979),691 wobei der Verweis keinen deutlichen Bezug zu Prometeo aufweist; er wirkt wie ein weiterer rätselhafter Kommunikationsbeitrag, der keine integrierende Funktion hat, ebenso wenig wie der an anderer Stelle zitierte Satz aus Shakespeares Hamlet über die Machtlosigkeit des Individuums angesichts der providencia (P: 231). Die Nennung des Namens Jean-Luc Godard (P: 209) verbindet die Struktur von Prometeo auch mit der Nouvelle Vague. In der Tat existieren einige Parallelen: Godards Filme (und allgemein die der Nouvelle Vague) zeichnen sich durch ihre Schnitttechnik aus, nämlich harte Montagen bruchstückhafter, autonomer
690 Vgl. „calles de Roma" (P: 209), „Via del Corzo" (P: 213). Pasolinis frühe Filme, die vom Subproletariat der römischen Vorstädte handeln und das Elend der Vorstädte Roms zeigen, sind z. B. Accattone (Italien 1961), Mamma Roma (1962) oder II Vangelo secondo Matteo (1964). 691 „Que se cumpla lo que se ha pensado: que crean. Y que se rían de sus pasiones. Porque eso que ellos llaman pasión no es la energía del alma, sino el roce entre el alma y el mundo. Y lo más importante: que crean. Porque la debilidad es grande y la fuerza no significa nada" (P: 225). Das Schlüsselwort creer und die Gegenüberstellung von fiierza und debilidad lassen sich auf vielfältige Weise mit Garcías Text verbinden. Der Film Stalker ist dem Science-fiction-Genre zuzuordnen und handelt von der Reise dreier Männer zu einem Ort der Sehnsucht.
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Sequenzen, 692 ihr Desinteresse an klassischen Erzählstrukturen sowie ihre z u m Teil surrealistisch anmutenden Bilder (Charakteristika, die auch für Prometeo gelten). 6 9 3 Der so genannte J u m p - C u t , 6 9 4 ein Schnittstil, der bei Godard u n d Malle der optischen Provokation dient, zeigt sich auch in den fragmentarischen K o m munikationsbeiträgen von Prometeo. A n einer Stelle des Garcia-Textes werden Elemente aus Godards Film Nouvelle vague ( 1 9 9 0 ) sogar explizit beschrieben und als solche gekennzeichnet (P: 2 0 9 ) . Godards Film zeichnet sich durch eine Z u s a m menstellung a u t o n o m e r Bruchstücke aus: 695 Szenen und Bilder, die teilweise widersprüchliche Inhalte aufweisen, lassen sich nicht zu einem stimmigen Ganzen zusammenfiigen. A u c h verwischt Godard die Grenze zwischen Illusion und W i r k lichkeit. 696 A u f ähnliche Weise zeigt Prometeo diskontinuierliche K o m m u n i k a tionsfragmente, bei denen nicht geklärt werden kann, a u f welchen Fiktionsebenen sie anzusiedeln sind. In d e m Verweis a u f Godard liegt also eine Selbstreflexion des Textes Prometeo über seine eigene Struktur, die jedoch - wie bei allen anderen Zitaten und intertextuellen Verweisen - nur angedeutet wird. D a verschiedene rekurrente Textelemente unterschiedlich aufeinander bezogen werden können, enthält Garcías Text Material fiir mögliche Geschichten. Daher kann der Text nicht interpretiert, wohl aber .gebraucht', d. h. mit je indivi-
692 Nouvelle Vague ist die Bezeichnung fur eine Stilbewegung, die im Frankreich der späten 50er Jahre erstmals auftaucht und in der ersten Hälfte der 60er Jahre ihren Höhepunkt erreicht. Regisseure wie François Truffaut, Louis Malle, Jean-Luc Godard, Jacques Rivette und Eric Rohmer wenden sich gegen die formale wie inhaltliche Vorhersehbarkeit der Geschichten des damaligen Kinos. 693 Die Filme werden nicht in gut ausgestatteten Studios gedreht, sondern mit Handkameras auf der Straße. Über Godard schreibt Albersmeier: „Heterogenstes Montagematerial steht ihm zu virtuoser Kombinatorik zur Verfugung: Zitate aus dem alten Hollywood-Kino, Anschlußverfahren à la Eisenstein, ausgedehnte Einstellungssequenzen [...], ,screen-splitting', Schriftinserts, Stehkader, in den Colorstreifen einmontierte Schwarz-Weiß-Filmpassagen und vieles mehr" (1993: 210f.). Die neuartigen Geschichten verlangen vom Rezipienten aktive Mitarbeit (vgl. dazu Albersmeier 1993: 211). 694 Zum Jump-Cut vgl. auch Monaco 2000: 219. Er gehört mittlerweile zum Standardrepertoire von Kino und Werbung. 695 So schreibt Grob: „Jedes Bild bleibt Fragment; es zeigt nur einen Ausschnitt des Geschehens, beharrt aber auf der eigenen Kontur" (1995: 326). 696 Grob nennt als Godards Devise: „Alles ist möglich, und alles ist wirklich, wichtig ist nur, was vor der Kamera erscheint und was dazwischen evoziert wird" (1995: 327). Vgl. auch Peter Brook: „Wo Generationen von Filmemachern Kontinuitätsgesetze und Folgerichtigkeitsregeln aufgestellt hatten, um ja nicht die Realität einer fortgesetzten Handlung zu unterbrechen, hat Godard gezeigt, daß die Realität nur eine weitere falsche und rhetorische Konvention war. Dadurch, daß er eine Szene fotografierte und sogleich ihre scheinbare Wahrheit zerstörte, ist er in die Illusion eingebrochen und hat einen Strom widerstreitender Eindrücke freigesetzt" (1997: 117). Die Nouvelle Vague versteht ihre Arbeit als Akt des Zitierens (vgl. Grob 1995: 327f.), ein Charakteristikum auch von Garcías Prometeo.
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d u e l l e n A s s o z i a t i o n e n g e f ü l l t werden. 6 9 7 G a r c i a selbst sagt, w e l c h e R e z e p t i o n s h a l t u n g er b e v o r z u g t : N o pretendo compartir opiniones, puntos de vista con el espectador. Jamás he intentado que alquien „entre en mi m u n d o " . Pero sí pongo unos temas sobre la mesa (con las cartas que el destino y la genética y mi educación me dieron), que espero sean el comienzo de un debate interior. (Henríquez/Mayorga 2 0 0 0 : 16)®8 In d i e s e m S i n n e d e u t e t Prometeo s c h e m e n h a f t viele G e s c h i c h t e n an, o h n e d u r c h d i e T e x t s t r u k t u r e n eine b e s t i m m t e z u privilegieren. D i e A n a l y s e k a n n d a h e r n u r v e r s c h i e d e n e L e s a r t e n skizzieren.
4.2.2
RODRIGO GARCÍA, COMPRÉ UNA PALA EN IKEA PARA CAVAR MI TUMBA N o aceptes explicaciones arguméntales: una obra de teatro no explica nada. El espacio teatral debe sugerir. Sugerencia es lo contrario a orientación. („Cretinos de Velázquez") 695
Compré una pala en Ikea para cavar mi tumba w u r d e a m 2 . M a i 2 0 0 2 in d e r Sala Teatro u r a u f Cuarta Pared ( M a d r i d ) v o n R o d r i g o G a r c í a s G r u p p e La Carnicería 7 0 0 geführt. D e r T e x t b e s t e h t a u s Einzelsätzen, G e d a n k e n f r a g m e n t e n , k u r z e n E r zählungen u n d nonverbalen Sequenzen sowie Projektionen von V i d e o f i l m e n u n d
697 Die anklingenden Themen können zu verschiedenen Geschichten zusammengesetzt werden. In diesem Sinne spiegelt sich die Organisation des Textes in einer Replik über die Sängerin Schwarzkopf wider: „Ella sabía que un gran lied de Mozart o de Wolf no se agota en una sola interpretación sino que admite otros enfoques y siempre está en un plano superior a cualquiera de ellos" ( P : 223). Zu Prometeo schreiben Gabriele/Leonard: „No es el propósito de García que el receptor busque un símbolo constante entre la serie de imágenes desconectadas que caracterizan su texto. Lo que propone más bien es presentar referencias personales y socioculturales de las cuales algunas tendrán significado para sus espectadores" (1996c: 11). 698 Einem anderen seiner Texte, Acera Derecha, schickt García entsprechend als Motto voraus: „... busca tus imágenes, haz tu propia función..." (1991a: 85). 699 Abgedruckt in Diago 1997: 269. 700 Autor und Regisseur: Rodrigo García; Beleuchtung: Carlos Marquerie; Video: Javier Marquerie; Schauspieler: Patricia Lamas, Juan Loríente, Rubén Escamilla; Sängerin: Ana María Hidalgo. Mehr als 3000 Menschen kamen in den ersten vier Wochen in die Sala Cuarta Pared, wo Ikea dem Publikum Madrids präsentiert wurde (Caruana 2002a: 66). Ein Bericht über die Proben findet sich bei Caruana 2002. Die Textauszüge beziehen sich, wenn nicht näher angegeben, auf ein Manuskript, das der Autor der Verfasserin dieser Arbeit fiir die deutsche Übertitelung der Auffuhrung an der Berliner Schaubühne (15./16. Januar 2003) überlassen hat. Eine Kurzcharakteristik von Garcías Theater findet sich bei Diago 2000, Hartwig 2001; 2005.
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Texten auf die Hinterwand der Bühne. Die Elemente sind weder durchgehend übergreifenden Kategorien subsumierbar noch setzen sie sich zu einer logisch aufeinander aufbauenden Handlung zusammen, obwohl es zwischen den Einzelteilen keine (etwa durch Dunkelmomente hervorgerufene) raumzeitlichen Brüche gibt und obwohl die Sequenzen bisweilen visuell und thematisch miteinander verschmelzen. Sie gehen ineinander über, nicht jedoch auseinander hervor. Ikea ist ein komplexer Text mit zahlreichen SI, dessen Organisation anhand einiger markanter Elemente skizziert werden soll, damit die spezifische Dynamik einer Rezeption dieser „obra de aluvión fragmentario" (Caruana 2002a: 65) deutlich wird. Die von den Figuren evozierten und szenisch dargestellten Situationen sind so heterogen, dass die Angabe eines konkreten Raumes oder eines allgemeinen Kommunikationsrahmens für den gesamten Text nicht möglich ist. Die Bühne zeigt einen fahrbaren Kleiderständer mit gelben T-Shirts (links am Rand), ein Sofa (links hinten), zwei Sessel (hinten Mitte), ein weiteres Sofa (hinten rechts), einen Weihnachtsbaum (hinten rechts in der Ecke) sowie ein Tischchen mit alkoholischen Getränken (rechts vorne an der Seite); vorn liegt in der Bühnenmitte zu Beginn der Aufführung ein Tiefkühlgericht im Tetrapack. D a die Wände nicht verkleidet sind, haben die Elemente des Bühnenbildes keinen übergreifenden Rahmen, so dass sie wie zufällig zusammengewürfelt erscheinen. Die Bühne ist buchstäblich entgrenzt: Der Zuschauer weiß nicht, wo genau der Spiel-Raum beginnt und wo der echte Raum aufhört. 701 Sofa, Sessel und Weihnachtsbaum lassen sich zu einem heimischen Wohnzimmer zusammensetzen; dass die drei Schauspieler der Aufführung (Juan, Patricia und Rubén) an eine Kernfamilie (Vater, Mutter, Kind) erinnern, dass Juan von seinen früheren Weihnachtsfesten in der Familie erzählt und dass er und Rubén auf dem Sofa an eine Szene zwischen Vater und Sohn denken lassen, unterstreichen diese Interpretation. Doch obwohl ,Wohnzimmer' immer wieder anklingt, suggerieren die Sprechsituationen wiederholt auch andere Räume. Denn die Bühne verwandelt sich in verschiedene Schauplätze: In einer stilisierten Ermordungsszene etwa wird sie zu einem Ort der Illusion; in einem Ranking der vierzig größten hijos de puta des 20. Jahrhunderts zu einem Ort der Präsentation (mit Anklängen an eine Oscar-Verleihung); eine abgewandelte Kreuzigungsszene macht sie zu einem nahezu transzendenten Ort, Rubéns Erzählung von seinen Lebensplänen zu einer Kanzel oder zumindest zu einem Fernsehbildschirm (Position und Beleuchtung des Schauspielers erinnern an eine filmische Großaufnahme) und eine blutüberströmte, am Tropf hängende Patricia zu einem Krankenzimmer. Variationen von Rettungsszenen einer Ikea-Mitarbeiterin (sie trägt
701 Die schmutzige, unregelmäßige Betonwand der Sola Cuarta Pared lässt die Bilder der Videos z. B. verschmiert erscheinen, und es wird nicht deutlich, ob es sich um einen gewollten Effekt handelt oder nicht.
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die Anstecknadel dieses Einrichtungshauses) durch Spiderman (er trägt den unverkennbaren blau-roten Anzug) lassen die Bühne schließlich gar wie das Element eines Comic-Strips erscheinen.702 In drei Sequenzen wirkt die Szene durch blaues Licht und die /ü>e-Darbietung einer Opernarie unwirklich-traumhaft. An anderen Stellen lassen surrealistisch anmutende Sequenzen nicht einmal mehr vage Anklänge an Alltagssituationen erkennen.703 Das Bühnenbild ist also dynamisch, denn es enthält,bewegliche' Räume und verweist auf wandelbare und verschieden konnotierte Orte, die sich nur hin und wieder konkretisieren lassen. Doch erfolgen nur geringfügige Modifikationen der Bühnenobjekte: Der Spielort ist damit statisch (in seinem Aussehen) und dynamisch (in seinen Konnotationen) zugleich. Umfunktionalisierungen machen die Requisiten zu Spiel-Elementen ohne stabilen Zeichencharakter, die ständig neue Kontexte schaffen. Zudem tragen die drei Schauspieler wiederholt neue Objekte in Plastiktüten auf die Bühne, ohne die alten fortzuräumen: So verwandelt sich das Aussehen der ,Spielfläche' kontinuierlich. Welchen konkreten Raum die Bühne darstellt, kann nicht allgemein, sondern nur für je einzelne Sequenzen angegeben werden. Der Raum ist damit ,lokal stabil'.704 Viele Sequenzen bestehen aus einer längeren statischen Position der Schauspieler auf der Bühne. Deren Anordnung und individuelle Haltungen wirken mitunter posenhaft, meist jedoch neutral, d. h. die drei kommentieren den gesprochenen Text nicht durch Gesten oder Körperhaltung. Damit fehlt ein Kontext zur Beurteilung des Modus (ernst, ironisch, tragisch o. ä.) der einzelnen Kommunikationsbeiträge.705 Die Schauspieler reden in gleichbleibendem Tempo
7 0 2 Die Rettungsszenen werden pantomimisch dargestellt als freeze-Momente, was sie aus dem Rahmen des Spiels heraushebt und wie dreidimensionale Comicbilder erscheinen lässt. 7 0 3 Dies ist der Fall, wenn Patricia und Juan sich auf Sofa und Boden konvulsiv wälzen und dabei aufgeschlagene Bücher in verkrampften Posen vor ihr Gesicht halten, während Rubén mit Helm und Knieschonern, ebenfalls mit einem Buch vor der Nase, über die Bühne robbt. An einer Stelle schleudert Rubén einen gerupften Hahn über die Bühne und zieht ihn dann an einem Seil wieder zu sich. 7 0 4 Z u Notas de cocina schreibt Villan (1994): „La esencia del teatro de Rodrigo García es la creación de un espacio escénico en continua mutación." 7 0 5 In der ersten Sequenz stehen beispielsweise Rubén, Patricia und Juan nebeneinander in der Mitte der Bühne in unauffälliger Allerweltskleidung. Ihre Anordnung lässt an Kind-MutterVater-Aufstellungen in Kinderbildern denken. Ein Hinweis auf eine Familienzusammengehörigkeit findet sich indes weder in ihrem Aussehen noch in dem, was sie sagen. Jeder hat eine blutende Wunde, die von einer in den Körper hineingestoßenen Visakarte herrührt: Rubén steckt eine Visakarte im rechten Bein, Patricia in der rechten Wange und Juan in der linken Schläfe. Diese Verletzung wird indes von den Figuren ignoriert. Jede spricht ihren (z. T. aphorismusartigen) Textabschnitt deklamierend zum Publikum hin. Schließlich entfernen Juan, Patricia und Rubén die Visakarte aus ihrem Körper, die damit als Attrappe kenntlich wird. Was die Verwundung (oder die Vortäuschung einer Verwundung) mit dem gesprochenen Text zu tun hat, wird weder an der Diktion noch an der Körperhaltung der Fi-
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und mit gleicher Lautstärke sowie ausdrucksarmer, monotoner Stimme selbst bei abrupten Themenwechseln, so dass es scheint, als spräche der Text durch sie hindurch und als wäre jede körpergebundene individuelle Einstellung zu dem Gesagten ausgelöscht. Nur gelegentlich werfen sie einander Blicke zu, und nur selten kommt ein kurzer Dialog zustande. Die Textabschnitte sind überwiegend in sich abgeschlossene Gedankengänge, die meist auch durch Pausen voneinander abgesetzt sind. All dies unterstreicht den Fragmentcharakter des gesprochenen Textes und die Entindividualisierung der Figuren. In einer anderen Sequenz sitzt Juan im Sessel und erzählt von verschiedenen Weihnachtsfeiern in der Familie. Währenddessen taucht Rubén, der neben ihm mit Helm und Knieschonern steht, einen gerupften Hahn an einer Schnur in einen mit Wasser gefüllten Eimer, zieht das Tier heraus und schleudert es quer über die Bühne; die ruckartige Bewegung lässt Rubén zu Boden fallen, der aufsteht und den Hahn an der Schnur wieder zu sich hinzieht. Der Vorgang wiederholt sich etliche Male stereotyp. Juan nimmt nur gelegentlich und ohne Ausdruck von Erstaunen Notiz davon, indem er den Jungen kurz anblickt. Patricia steht rechts am Rand und schaut teilnahmslos zu. Eine scheinbar alltägliche Situation (jemand erzählt vom Sessel aus Familienerinnerungen) wird durch eine völlig zwecklose Handlung verfremdet (wobei der Hahn, pollo, das traditionelle Weihnachtsessen darstellt und damit eine Verbindung zu Juans Erzählung andeutet, obwohl die Handlung wegen ihrer Zwecklosigkeit willkürlich erscheint) und durch eine Zuschauerin auf der Bühne (Patricia) aus der Distanz betrachtet. Welcher Zusammenhang zwischen den Haltungen der drei Schauspieler besteht, wird nicht ersichtlich. Wie in dieser Sequenz fuhren die drei Figuren auch an anderen Stellen Handlungen mit großer Natürlichkeit und Selbstverständlichkeit aus, die offensichtlich gänzlich der Alltagslogik entbehren, z. B. Routinehandlungen, die durch Übertreibung, Substitution eines adäquaten durch ein inadäquates Requisit oder Kontextverwirrung derart verfremdet werden, dass ihnen keine konkrete Bedeutung zugesprochen werden kann.706 Verletzen Handlungen gewohnte Wahrnehmungsschemata in grober Weise, ist eine Bedeutungszuschreibung über Schemata und frames blockiert. Bei grotesken Vorgaben ist jede Anschlusskommunikation und Anschlusshandlung möglich. So uneindeutig die räumliche Situierung ist, so vage sind auch der fiktive Status der Schauspieler und die charakteristischen Merkmale, die ihnen zugeordnet
guren erkennbar. Sprachliche und visuelle Informationen verweisen auf keine auch nur annähernd konkretisierbare alltägliche Kommunikationssituation. Weder der R a u m noch die Schauspieler können charakterisiert oder individualisiert werden. 7 0 6 Mit ernster Miene drücken z. B. Patricia und Rubén jeweils fünf Ketchup- und Senfflaschen über zwei Hotdogs aus, die Juan in den Händen hält; Rubén reicht Patricia Honig, den diese sich wie eine Creme ins Gesicht schmiert; Patricia und Rubén begießen die Sitzflächen zweier Sessel mit Salatsauce.
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werden können. Patricia, Juan und Rubén sind die echten Namen der Schauspieler und die, mit denen sie sich auf der Bühne anreden, so dass bereits durch die Namensgebung ein Oszillieren zwischen der Ebene der Realität und der Ebene der Bühnenfiktion beginnt. Dementsprechend wechseln die drei nicht nur zwischen verschiedenen Rollen, sondern auch zwischen ihrem Status als Figur, Schauspieler und Person. Alle drei sind durchgängig auf der Bühne; wenn sie nicht in die Handlung involviert sind, stehen oder sitzen sie am Rand und schauen zu: In diesen Momenten sind sie zugleich Schauspieler, die zuschauen und Personen, die ausruhen. In vielen Sequenzen sprechen Juan, Patricia und Rubén zum Publikum hin nach Art einer lockeren Plauderei. Hier erscheinen sie als Figuren, die Alltagsgespräche simulieren: Sie spielen nicht-gespielte Konversation. Der unklare Status, den sie dabei als Figuren (oder Schauspieler? oder Personen?) gewinnen, wird besonders deutlich, wenn sie den Zuschauer mit scheinbar improvisierten Anekdoten unterhalten und ihn in ihr Gespräch einbeziehen (wie z. B. in der Sequenz des Ranking).707 Für den Zuschauer ist dann nicht ersichtlich, wo die einstudierte Rolle aufhört und wo das spontane Reden beginnt. Der lockere Plauderton lässt ihn über die Einschätzung der Fiktionsebene im Unklaren: Die eingeübte Improvisation ist ein Paradoxon, bei dem der Zuschauer nicht weiß, an welcher Seite (Präsentation oder Repräsentation) er mit seiner Bedeutungskonstruktion anschließen soll. Nahtlos gehen die Schein-Improvisationen wieder in deutliche Repräsentationen von Handlungen über, in denen die ,vierte Wand' konstitutiv ist, etwa wenn bei Dialogen die Illusion einer theatralen Situation entsteht oder wenn dramatische Aktionen vorgeführt werden (wie z. B. eine Ermordungs- oder eine Verfiihrungsszene). Manchmal sind die Schauspieler ganz und gar Figuren, etwa wenn Juan ein Spiderman-Kostüm anzieht und die als Ikea-Verkäuferin verkleidete Patricia rettet. Keiner der drei Schauspieler ist indes durchgehend eine Figur im Sinne eines Merkmalbündels oder eines Schnittpunktes von Rollenzuweisungen.708 Einteilungen nach stark vs. schwach oder aktiv vs. passiv gelten nur innerhalb begrenz-
707 Das Ranking, das wie eine lockere Improvisation wirkt, ist in Wirklichkeit fast wortwörtlich festgelegt, lässt aber Spielraum für kleine textliche Varianten des Schauspielers sowie für Stimmmodulationen. Daher muss Comago widersprochen werden, wenn er zu Garcías Aufführungen schreibt: „[Focaliza] su condición de proceso en movimiento e imperfecto por encima del resultado concluso y acabado, su condición de escritura antes que de texto terminado, de presentación antes que representación" (2001c: 51). Zum anekdotischen Erzählen auf dem Theater vgl. auch Brandstetter 1999. 708 In einer Szene fordert das Kind Rubén den Erwachsenen Juan zu pädophilen Handlungen auf, womit der Text die durch Pädophilie zugeschriebenen Rollen von Erwachsenen und Kindern auf den Kopf stellt; eine anschließende Textprojektion verweist indes wieder auf die erwartbare Rollenverteilung.
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ter Abschnitte der Auffuhrung, bleiben aber nicht über den gesamten Text k o n stant, d e n n Dominanzverhältnisse zwischen den Figuren wechseln beständig. 7 0 9 D i e Darsteller (oder besser: Textträger) deuten ebensowenig eine Distanzierung v o n ihrer Rolle an, d. h. sie wechseln nirgends a u f eine Metaebene, u m über die Spielsituation als solche zu sprechen u n d sich als ,Schauspieler, die spielen
zu
erkennen zu geben. Sie sind weder ganz Figur n o c h ganz Schauspieler u n d zugleich sowohl Figur als auch Schauspieler. 710 D i e W a h r n e h m u n g schwankt wiederholt zwischen d e m Zur-Schau-Stellen v o n N i c h t - T h e a t r a l e m u n d der theatralen ,Pose der Nicht-Theatralität'. D e r K ö r p e r der Schauspieler wird an vielen Stellen wie ein Objekt ausgestellt u n d dabei wie lebloses ästhetisches Material o d e r wie ein Gebrauchsgegenstand behandelt. H i e r findet sich das, was Sánchez die „sustitución de la representación p o r la exhibición" ( 1 9 9 7 : 6 0 ) nennt, für ihn ein Charakteristikum des Gegenwartstheaters allgemein. 711 In einigen M o m e n t e n .frieren' die Figuren in Posen ein, so dass sie wie Skulpturen erscheinen. Als Dreierkonstellation werden J u a n , Patricia u n d R u b é n wiederholt zu entindividualisierten E l e m e n t e n einer C h o r e o graphie, etwa w e n n sie genau aufeinander abgestimmte, teilweise v o n Musik u n termalte Bewegungen
im
R a u m vollfuhren. 7 1 2
Durch
Inkonsistenzen
in
der
709 In einer Sequenz wird Rubén brutal zwangsgefuttert: Er muss sich mit einem durchsichtigen Plastik-Suppenteller vor dem Mund (ein .Nürnberger Trichter'?) vorbeugen, den Patricia und Juan immer wieder mit Suppe füllen, die Rubén ausschlürft. An anderer Stelle ist es aber Rubén, der die beiden Erwachsenen misshandelt: Er schlägt ihnen mehrfach brutal auf den Rücken, so dass sie in den Knien einknicken. 710 Patricia deklamiert z. B. an vielen Stellen neutral, fast maschinell ihren Text; dann ist sie wieder Schauspielerin (z. B. in der Ermordungsszene) oder improvisiert (z. B. in der RankingSequenz). Bisweilen fuhrt sie sehr ungewöhnliche Handlungen mit Natürlichkeit und nahezu ohne mimische Regungen aus: In diesen Momenten stellt sie nichts dar, sondern wirkt eher wie eine Bühnenarbeiterin, die beim Aufbau einer Installation hilft (z. B. in der Kreuzigungsszene). García erläutert: „Cuando en una obra mía alguien dice sus propios textos trato, generalmente, de que esos textos sean insignificantes, de que no tengan relevancia. Yo no quiero que escuchen esos textos, quiero que entren en ese momento, en una dimensión poco acostumbrada: hay un actor que habla naturalmente de cosas poco teatrales... ese es el efecto teatral" (Henríquez/Mayorga 2000: 18). 711 Wird in Patricias Gesicht z. B. Popcom geklebt, erscheint es entmenschlicht wie ein Spielzeug. Monieon spricht bezüglich anderer Szenen von .desnudos dolorosos' „en los que se profana la conciencia sacra o poética del propio cuerpo humano, entendido como objeto de la Creación, como sujeto de una Dignidad, o como expresión de la Belleza" (2002: 69). Zur inneren Antinomie zwischen Ding und dramatischer Person auf der Bühne vgl. Schmid 1992: 41. 712 Mit solchen Choreographien zielt Garcia indes auf keinen rein ästhetischen Effekt ab. In einer Szene zu Beginn bzw. am Ende der Aufführung vollziehen Patricia auf der linken und Juan auf der rechten Bühnenseite z. B. ähnliche Bewegungen zu Musik, die aber nicht synchron, sondern zeitlich versetzt und mit leichten Variationen erfolgen. Zu diesen beiden Szenen wird die gleiche, eine Melodie monoton in crescendo und decrescendo wiederholende Musik gespielt. Garcia sagt über das Theater im Allgemeinen: „Cuando el teatro está bien hecho, despídete
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Choreographie (z. B. kleine Verstöße gegen den Rhythmus) bricht jedoch in die ästhetische Gestaltung der Bewegung wieder der unberechenbare Körper in seiner Menschlichkeit ein. In anderen Fällen wird der Körper zum Symbol stilisiert, z. B. wenn Patricia und Rubén Firmenlogos auf Juans nackten Körper kleben, so dass dieser zum Sinnbild für die Vermarktung des Menschen wird. Dann wieder erscheint der Körper in theatralen Posen, etwa wenn Juan mit einer CornflakesPackung auf der Brust erstochen wird. In diesen verschiedenen .Gebrauchsweisen' wird der menschliche Körper zum Schnittpunkt von Lebendigkeit und Authentizität einerseits und gesellschaftlicher Zuschreibung, Pose, Rolle und Maske andererseits, wodurch er zugleich innerhalb und außerhalb des szenischen Kontextes steht. Während gängigerweise eine der beiden Seiten markiert wird (im klassischen Theater z. B. der fiktive, im Happening z. B. der reale Körper), oszilliert in Ikea der Zuschauer zwischen der Wahrnehmung des Körpers als Zeichen und als Leib. Juan, Patricia und Rubén sind weder durchgehend reine Textträger noch durchgehend von ihren Rollen distanzierte Schauspieler noch durchgehend Figuren mit fiktiven Identitäten, sondern das eine oder das andere jeweils in zeitlich begrenzten Abschnitten der Auffuhrung. Nur ihre konkrete Präsenz, ihr sichtbar auf der Bühne anwesender Körper, ist ein konstantes Element der Inszenierung. Durch die immer wieder wechselnde Positionierung der Schauspieler auf verschiedenen Realitäts- und Fiktionsebenen wird Identitätsstabilisierung vermieden. Unsicherheit herrscht auch an vielen Stellen hinsichtlich der Frage „Wer spricht?", vor allem bei Textprojektionen.713 Es gibt keinen Hinweis darauf, in welchem Verhältnis diese zu dem Geschehen auf der Bühne stehen. Keiner der Schauspieler schaut sie sich an, so dass sie wie ein der Bühnenhandlung fremdes Element wirken: Erklärung? Kommentar? Wunsch? Zusatzgedanke? Neubewertung? Dass sie nur als Schriftzug erscheinen, dass also keine Stimme wenigstens einen Anhaltspunkt ftir die Beurteilung der Sprechinstanz gibt, erhöht ihre Mehrdeutigkeit. In einer der Videoprojektionen (Super 8) werden gelbe T-Shirts mit aufgedruckten schwarzen Satzfetzen an Passanten vor einem Einkaufszentrum in Madrid verteilt. Die wahllos auf der Straße angesprochenen Leute ziehen sich das Kleidungsstück über und werden damit gefilmt. Die Passanten liefern auf diese Weise
del arte. En cambio, cuando la cosa está mal, cuando los ritmos no son los adecuados, los espacios incómodos para ver, la actuación poco teatral, la voz demasiado baja o demasiado alta, la luz pone a los actores verdes o amarillos ...es que hay esperanza" (Galán 1998). 7 1 3 Die erste Projektion weist Sätze in der ersten Person Singular auf (Kommentar zur vorausgegangenen Sequenz des Rankings!), die sich schließlich an ein „tú" wenden; die Projektion endet mit dem Satz:,Ahora, a ti, por ejemplo, no consigo oírte" (García 2 0 0 2 : 62). Weder die Instanz, die hinter der Aussage steht (eine Figur? der Autor? eine zitierte andere Person?), noch der Adressat derselben (die Figuren? die Zuschauer?) werden präzisiert.
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,authentische' Körper ohne jede theatrale Wirkung, die in die Fiktion eingebunden werden, so dass auch hier wieder die Grenze zwischen Realität und Fiktion verwischt.714 Die Satzfetzen auf den T-Shirts sind nicht beliebig: Wenn am Ende des Videos die Passanten mit den T-Shirts der Reihe nach aufgestellt werden, ist erkennbar, dass die Worte zusammenhängende Sätze und aufeinander aufbauende Gedanken bilden. Wer jedoch .spricht' diese Sätze? Die Passanten? Der Autor selbst? Oder .sprechen die T-Shirts? Sie wirken wie ein Zitat, dessen Ursprung sich über die Delegierung an fremde Körper verliert. Auch bleibt unklar, an wen sich die Sätze auf den T-Shirts wenden: an deren Träger? an den Zuschauer? an den abstrakten Konsumenten?715 Die Überlagerung unterschiedlicher inkongruenter Kontexte und die daraus sich ergebende Schwierigkeit, kohärente frames zu benutzen, zeigt sich auch auf anderen Ebenen des Biihnentextes. So verwendet Garcia Bilder mit hohem Wiedererkennungswert, die zum kulturellen Repertoire gehören (etwa die christliche Ikonographie) oder die dramatische ,Standardsituationen darstellen (etwa ,Mord'). In die bekannten Bilder schleust er indes neue Wahrnehmungselemente ein und konfrontiert so zwei inkompatible frames miteinander.716 In einer Sequenz stellt sich Juan beispielsweise, nur mit einem Lendenschurz bekleidet, auf die Zehenspitzen und breitet die Arme aus, wobei geistliche Musik erklingt. Die Haltung ist als Anspielung auf die biblische Kreuzigungsszene unverkennbar. Unerwartete Elemente sind indes zwei Hot-dog-Brötchen, die Juan in der linken und der rechten Hand hält, und auf die Rubén links mehrere Ketchuptuben, Patricia rechts mehrere Senftuben ausdrückt. Kreuzigung und Hot-dogs, gregorianische Gesänge und fast food-Geruch evozieren inkompatible frames. Das Bild wird zum Kipp-Bild ohne feste Figur-Hintergrund-Unterscheidung: Desakralisierung eines christlichen Bildes oder Sakralisierung einer Konsumhaltung? Keine der beiden Lesarten setzt sich als dominant durch.717 Zwei frames sind nicht in einer einheit-
7 1 4 O b das eingeblendete Video, in dem T-Shirts an Passanten verteilt werden, die Realität oder selbst ästhetisierte Fiktion darstellen soll, bleibt unklar. Die medial vermittelten Bilder sind ebenso arrangiert wie die Bühnenhandlungen, ebenso als reales wie als fiktives Geschehen lesbar. 715 Zwei T-Shirts tragen z. B. den Text „Esperamos" und „volver a veros pronto!" 716 Bilder mit hohem Wiedererkennungswert sind auch mit standardisierten Emotionen verbunden. Kulturabhängige Konventionen geben Richtlinien vor für die Art, wie solche Bilder zu verstehen sind (vgl. zu Ikonologien Straßner 2002: 14). 7 1 7 An anderer Stelle bindet Rüben dem in der Bühnenmitte stehenden Juan eine CornflakesPackung mit Klebeband auf den Bauch und Patricia eine Milchtüte vor die Brust; auch gibt er Patricia ein Metzgermesser in die H a n d . Sie erhebt dieses gegen Juan, beide stehen sich nun wie in einem Zweikampf gegenüber. Scheinwerfer werden auf sie gerichtet, die drei rote Schatten werfen: Der an der linken Wand zeigt Patricia, wie sie das Messer erhebt, der Schatten in der Mitte, wie sie zusticht, der Schatten rechts, wie sie das Messer in Juans Brust versenkt imaginäre Vorwegnähme einer hochdramatischen Handlung. Auf der Bühne verharrt Patricia
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liehen Sichtweise synthetisierbar.718 Hier geht es weniger um die Entweihung eines Symbols oder um Provokation (mit einer Entmystifizierung christlicher Bilder können im 21. Jahrhundert kaum noch Schockwirkungen erzielt werden) als vielmehr um die Uberlagerung von gleichberechtigten Wahrnehmungskontexten, von denen keiner dominiert und bei denen das Oszillieren zwischen Lesarten das eigentlich Wichtige ist. Garcia gibt weder in der Sequenz selbst noch im Gesamtkontext Hinweise darauf, wie solche Bilder zu lesen sind und nach welcher Seite hin die Ambivalenz aufzulösen wäre. Die Zeitdimension des Bühnentextes ist nicht durchgehend konstruierbar. Innerhalb der Aufführung können zwar einzelne Sequenzen voneinander unterschieden werden, weil Figurenkonstellationen im Raum eine Zeit lang homogen sind oder weil das Medium wechselt (Video, Projektionen), doch bilden die Sequenzen vom Sprechtext her keine Einheit.719 Andere enthalten hingegen einen regelrechten dramatischen Spannungsbogen oder haben einen unverkennbaren thematischen Zusammenhalt. 720 Kausale Anschlüsse oder deutliche Bezüge gibt es zwischen den
mit dem erhobenen Messer in höchster Anspannung zu einer dramatischen Musik, die immer lauter wird. Dann sticht Patricia in die Cornflakespackung, deren Inhalt auf die Bühne rieselt; als Juan zusammenbricht, sticht sie in den Tetrapack vor ihrer Brust und spritzt die Milch über den am Boden liegenden ,Leichnam', über dem sie schließlich zusammenbricht. Es handelt sich um eine Szene, die wie der Höhepunkt einer dramatischen Handlung wirkt und durch Milch und Cornflakes eine lächerliche Note erhält. Komik in einer tragischen oder Tragik in einer komischen Situation? Die Szene erinnert an Pop-Art. 718 In den Zusammenhang der Kontextüberlagerung gehören auch Handlungen, welche kontradiktorische Empfindungen hervorrufen. So schmiert sich Patricia in einer Szene Honig ins Gesicht, auf das die beiden Männer Popcorn pappen, so dass Patricia mehr und mehr einem Monster gleicht. Die Mischung wirkt grotesk: Popcorn ins Gesicht zu kleben, erinnert an alberne Kinderspiele, Monster durch Entstellungen zu erzeugen indes nicht, und so ist nicht entscheidbar, ob der komische oder der makabre Aspekt der Handlung betont wird. Die sukzessive Entstellung des Körpers wird nicht symbolisch funktionalisiert, da sie ohne entsprechenden Kontext als eine zwecklose Handlung erscheint. Die Sequenz erhält in der Folge einen Schwenk ins Albtraumhaft-Groteske, wenn Patricia zu einer stark rhythmisierten Musik wie ein Roboter tanzt, das Popcorn wieder vom Gesicht fallt und auf der Wand der Kommentar eingeblendet wird: „Argentina: devuelvan el dinero a la gente." Pichon 1991 nennt Komik allgemein im Zusammenhang mit kognitiver Dissonanz: Die sinnhafte und sinnreduzierte Welt ermögliche ein Oszillieren zwischen Rationalem und Emotionalem. 719 Zwei Sequenzen sind beispielsweise eine Aneinanderreihung heterogener Aphorismen und Kurzgeschichten bei gleich bleibender Position der Figuren. Die erste Sequenz dauert z. B. so lange, wie die drei Schauspieler Visakarten im Leib tragen. Nur die Anordnung ,Rubin links/Patricia Mitte/Juan rechts' und die gleichbleibende Sprechhaltung (Wendung zum Publikum) verbürgen Zusammenhalt; das, worüber die drei sprechen, ist ohne ersichtlichen inhaltlichen Zusammenhang. 720 Vgl. z. B. das Ranking, die Ermordungsszene und das festliche Essen am Ende bzw. die Erzählung von den Weihnachtsfeiern.
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Einzelteilen jedoch nicht, weshalb ihre Relationierung nicht eindeutig ist. Obwohl der Text nämlich keine zeitlichen Brüche aufweist (es gibt keinen Dunkelmoment oder sonstige markierte Einschnitte),721 wirken die Verbindungen zwischen den Sequenzen stets zufällig oder rein assoziativ, und es entsteht kein erkennbares zeitliches Gefuge. Kohärenz wird auch nicht über den Aufbau von Erwartungen konstruiert.722 Die Bühne verändert sich während der gesamten Auffuhrung nur insofern, als sie sich langsam mit den Abfällen fiillt, die jeweils in den Bühnenhandlungen anfallen und vornehmlich aus Nahrungsmitteln bestehen.723 Die Schauspieler behalten ihre sich immer stärker verschmutzende Kleidung nahezu die gesamte Zeit über an. Die Besudelung von Körper und Bühnenboden markiert eine Zeitspur, die auf die Irreversibilität des Ablaufs von Handlungen und damit eine zeitliche Sukzession verweist. Die Sequenzen sind durch den Abfall miteinander verbunden, und auch die rein körperliche Präsenz der Schauspieler verbürgt Kontinuität. In ganz wörtlichem Sinne ist der Zeitverlauf von Ikea also realistisch: Die Zeit der Aufführung (die Echtzeit) entspricht der dargestellten Zeit. Dieser Zeitdimension wird indes die Zeit anderer Wirklichkeits- und Fiktionsebenen zur Seite gestellt. Wie sich aber z. B. die eingeblendeten Projektionen und Videos chronologisch auf das Bühnengeschehen beziehen, bleibt unklar {bevor, nachdem, aber, wenn, deshalb, weil, denn...?). So verweist zwar der genannte Videofilm, in dem sich Passanten T-Shirts überziehen, auf den Kleiderständer mit gelben T-Shirts auf der Bühne, doch ist der zeitliche Bezug anhand des Kontextes nicht feststellbar. Garcia arbeitet zudem mit einer Fülle szenischer Bilder (oft ohne Sprechtext, aber mit Bewegungen und Handlungen), die an Installationen der bildenden
721 Entweder wird ein Übergang musikalisch untermalt, so dass zumindest Kohäsion zwischen zwei Sequenzen entsteht, oder es werden Stichwörter übernommen. Dies ist z. B. der Fall, wenn Juan sich bei seinen Erzählungen von Weihnachtsfeiern in Schimpfereien über „hijos de puta" ergeht und Patricia, die zuvor unbeteiligt am Rand der Bühne zugehört hat, dieses Stichwort aufgreift, u m ein Ranking der ,hijos de puta' anzukündigen. Auch weist der Bühnentext einige an Kinoästhetik erinnernde ,Überblendungen auf, z. B. wenn in einem Teil der Bühne eine Handlung weiterläuft, während in einem anderen eine neue Sequenz (etwa eine Videoprojektion) beginnt. 7 2 2 Bei vielen Sequenzen ist es unmöglich, eine Wahrscheinlichkeitsaussage über den weiteren Verlauf des Textes zu machen, weil Sequenzen, die mit alltagslogischen frames nicht in Verbindung gebracht werden können, ohne konkrete Anschlussfähigkeit sind: Logisch gesehen kann aus Beliebigem alles folgen. Eine Entwicklung der Figuren ist schon deshalb nicht feststellbar, weil ihnen keine festen Identitäten zugeschrieben werden können. 7 2 3 So schreibt Caruana: „El panorama del escenario tras la función - una vomitona de leche, vino, lechuga, cereales, restos de pavo estallado, mahonesa, salchichas, ketchup, mostaza, pan y miel se extendía por todo el espacio — era una buena radiografía de lo que ahí había pasado" (2002a: 63).
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Kunst erinnern und ein eigenständiges, in sich abgeschlossenes Ganzes sind.724 Als Darstellungen ohne augenscheinliche Repräsentations- oder Verweisfunktion sind diese Sequenzen autonom. 725 Sie ,sagen nichts ,aus\ sondern werden wie ästhetische Objekte präsentiert,726 deren konnotativer Reichtum nicht auf Bedeutungen reduzierbar ist. Die Bilder lösen undifferenzierte Empfindungen aus, die auf einer vorverbalen Ebene bleiben. Da sie sehr viel mehr an Installationen als an theatrale Momente erinnern, verwischen sie die Grenze zwischen Raum- und Zeitkunst. 727 Subtile, kognitiv nicht fassbare Wahrnehmungen werden auch durch Licht und Ton hervorgerufen. So arbeitet die Aufführung mit Frontalbeleuchtung, Ober-, Unter- und Seitenlicht sowie Spots, um Körperteile der Figuren hervorzuheben oder überdimensionale Schatten zu erzeugen.728 Einige Sequenzen werden mit Musik untermalt, die lauter wird und in schrille Töne übergeht. Immer wieder werden die Ubergänge zwischen Lauten und Klängen, zwischen Stimme, Geräusch und Musik, zwischen Harmonie und ungeordnetem Tonmaterial fiihl-
724 Zu Garcías Installations-Bühnenbildern vgl. auch Puchades 2002: 126f. 725 Der ästhetische Eindruck kann in keine mehr als spekulative Beziehung zu den übrigen Sequenzen gebracht werden. Vgl. z. B. die Sequenz, in der sich Juan und Patricia zu Musik in konvulsiven Drehungen vom Sofa hinunter auf den Boden wälzen und dabei aufgeschlagene Bücher vor sich halten. Ihre zuckenden Bewegungen wirken, als seien sie von starken emotionalen Impulsen gelenkt. Deutungen wie „konvulsives Lesen" oder „Wirkung des Buches" sind am Kontext nicht überprüfbar. Hier zeigen sich Anklänge an den modernen Tanz (vgl. zu letzterem Sánchez 1999a; 2000; 2002, Sánchez/Conde-Salazar 2003). An anderer Stelle steckt Juan dicke weiße Kerzen in eine alte Matratze, durch die Patricia ihre Beine hindurchstreckt. Juan und Rubén bauen weitere Kerzen um ihren Körper auf, als ob sie den Umriss einer Leiche nachzeichneten. Abschließend zündet Juan die Kerzen an. Weder auf die Matratze noch auf die Kerzen wird im Verlaufe des Stückes noch einmal Bezug genommen. Eine Konnotation von ,Tod' erhält die Szene dadurch, dass an einem anderen Ort der Bühne der Schlussteil einer Videoprojektion mit Gräbern zu sehen ist. 726 Damit erinnert er an Wilsons „optische Musik", zu der Wilson schreibt: „Ich fragte mich, ob das Theater die gleichen Dinge tun könnte wie der Tanz, ob es einfach ein architektonisches, ein zeitliches und räumliches Arrangement sein könnte. Also machte ich zuerst Stücke, die hauptsächlich optisch waren. Ich begann meine Arbeit mit verschiedenen Bildern, die auf eine bestimmte Weise arrangiert waren. Später fugte ich Wörter hinzu, aber mit den Wörtern wurde keine Geschichte erzählt. Sie wurden vielmehr architektonisch verwendet - je nach der Länge des Wortes oder des Satzes, nach ihrem Klang. Sie wurden wie Musik konstruiert" (1998a: 372). 727 Pavis macht auf diesen fundamentalen Unterschied aufmerksam, wenn er schreibt: „L'installation est contradictoire, dans son principe, avec le flux ininterrompu de la représentation théâtrale vivante, le renouvellement constant des signes convoqués sur la scène" (1996: 174). Vgl. auch Garcías Aussagen über seine Entwicklung als Regisseur (Hartwig 2001a: 192f.). 728 Die Grundfarben überwiegen: In den Sequenzen mit der Opernsängerin wird die Bühne in intensives blaues Licht getaucht. Gelb und Rot dominieren in der Farbgebung der Kleidung und finden sich in anderen Bühnenelementen wieder wie Senf, Ketchup, Rotwein, Weißwein, Honig und Blut.
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bar; der Wechsel der Musik steht mit dem Bühnengeschehen in keinem erkennbaren Zusammenhang.729 Intensive Farben, Klänge und Gerüche (Senf und Ketchup, Wein, Zündkörper) bilden einen durchgehenden, unmittelbar den Körper des Zuschauers affizierenden Untergrund der Rezeption jenseits von Symbolhaftigkeit.730 Über die rhythmische Gestaltung vieler Sequenzen wird die Aufmerksamkeit des Zuschauers von deren möglichem zeichenhaften Inhalt abgezogen. Wenn Rubén z. B. einen gerupften Hahn in einen Eimer taucht und über die Bühne schleudert, gilt die Aufmerksamkeit zunächst dem (Bedeutungs)Zusammenhang dieser Handlung mit dem Kontext; da diese Handlung ediche Male wiederholt wird, wandelt sie sich von einem semantischen zu einem rhythmischen Element.731 Wiederholungen können den Rezipienten also dazu bringen, zwischen bloßer Wahrnehmung und symbolischer Deutung hin- und herzupendeln. In manchen Sequenzen .springt' die Gesamtbedeutung abrupt, d. h. ohne logischen Ubergang, um. Dies wird besonders deutlich an einer Stelle der Aufführung, an der Rubén vorne rechts am Bühnenrand steht und dem Publikum erzählt, wie er sein weiteres Leben gestalten will. Er schließt seinen Bericht mit seinem Tod in noch jungen Jahren und breitet seine Arme aus, wobei die Handinnenflächen nach oben zeigen. Diese Geste kann im Kontext gedeutet werden als Zeichen von Ratlosigkeit oder Resignation (stellvertretend etwa für den Satz „Eso es lo que hay"). Patricia tritt hinzu und legt in Rubéns linke Hand einen Turnschuh, in seine rechte eine Nadel, auf der ein Logo der Sportmarke Nike steckt. Jetzt sieht Rubén so aus, als sei er mitten in der Handlung ,Nähen eingefroren. Er bleibt so stehen, bis Juan im Hintergrund seine Kleidung auszieht und die Haltung ,Christus am Kreuz' einnimmt. Rubén wirkt nun wie der Räuber, der zur
7 2 9 Zudem mischen sich unterschiedliche musikalische Stilrichtungen, u. a. klassische Musik (Giacomo Puccini, Vincenzo Bellini, Johannes Brahms) und harte Rockmusik. Die Sängerin, die drei Opernarien vorträgt, steht beim erste Mal direkt neben Juan, Patricia und Rubin, die mit Essen herumspielen, beim zweiten Mal begleitet sie die Rettungsszenen der IkeaAngestellten und beim dritten Mal die Verzierung von Juans nacktem Körper mit Logos von Sportmarken. Die drei Sequenzen haben keine augenscheinlichen Gemeinsamkeiten. 7 3 0 Karbusicky spricht in Zusammenhang mit Musik von Zeichen in spe, „in die jeder Perzipient nach Belieben Repräsentanzen hineinprojizieren kann" (1990: 152). 731 Vgl. zum Rhythmus Gumbrecht 1995 und darauf Bezug nehmend Wellbery 1996: 380. Gumbrecht spricht davon, dass Rhythmus ein Phänomen „ohne primäre RepräsentationsDimension" sei (1995: 715). Für Gumbrecht gibt es eine konstitutive Spannung zwischen dem Rhythmus und dem Sinn der rhythmisierten Elemente (Verhaltens- oder Laut-Sequenzen). Daher rühre der Zwischenstatus gebundener Sprache: „Als .Sprache' käme ihr der Status eines konsensuellen Bereichs zweiter Ordnung zu, in dem semantische Beschreibungen (.Bedeutungen') konstituiert werden; als .Rhythmus' hätte gebundene Sprache aber zugleich den Status eines konsensuellen Bereichs erster Ordnung (ohne eine Ebene semantischer Beschreibung)" (1995: 726).
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Linken des Heilands gekreuzigt wurde. Rubens Haltung wechselt also mehrfach die Konnotation: von einer Geste der Resignation über ein Bild von Kinderarbeit732 bis hin zu einem christlichen Symbol. Je nach Kontextbeziehung erhält also die gleiche Geste unterschiedliche Bedeutungen. Der Ubergang zwischen den Lesarten erfolgt als Sprung der Wahrnehmung. 733 Anders ausgedrückt: Das Bild des beide Arme seitlich ausstreckenden Rüben wird durch Kontexte (die Lebensgeschichte, den Schuh, den Gekreuzigten) in begrenzten Zeiträumen vereindeutigt. Das heißt, seine Bedeutung ist nicht beliebig, aber auch nicht eindeutig. Zeitliche Verbindungen zwischen solchen ,umspringenden Bildern sind nicht konstruierbar.734 Auch die Sozialdimension des Textes ist nicht kohärent. Auf die Frage, welches die Bezugsfelder oder Themen in Ikea sind, kann nur auf einer sehr hohen und damit wenig aussagekräftigen Abstraktionsebene geantwortet werden mit Schlagwörtern wie .Befindlichkeit des Menschen der kapitalistischen westlichen Welt im 21. Jahrhundert'. 735 Aufgrund der Heterogenität der Kommunikationsbeiträge werden auch Positionierungen und Relationierungen von Sprechern schwierig. Viele Sequenzen sind nicht allgemein charakterisierbar, sondern können nur in Form einer unstrukturierten Aufzählung wiedergegeben werden. Die gesamte erste Sequenz z. B. dauert kaum länger als zehn Minuten und wechselt dennoch
7 3 2 Caruana interpretiert: „[...] las imágenes de Rubén Escamilla con un símbolo de Nike por coser en una zapatilla - explotación laboral de la infancia - , suponen un giro a lo explícitamente político" (2002a: 63). 7 3 3 Die Veränderung der Bedeutung des jeweiligen visuellen Eindrucks ist nicht kontinuierlich, sondern erfolgt plötzlich. Dominante Assoziationen haben hier den Charakter von Attraktoren, d. h. von Ordnern, welche die visuellen Eindrücke zu einem Bild zusammenzufügen erlauben. Die Veränderungen der Gestalten erscheinen dann als „Bruch im Systemverhalten oder als Umklappen von einem Attraktorbereich in einen anderen" (Kießling 1998: 104f.), als abrupter Ubergang von einer Form der Stabilität zu einer anderen (vgl. dazu Luhmann 1992: 48). Zum plötzlichen Emergieren von Gestalten aus scheinbar unstrukturierten visuellen Vorgaben vgl. Peschl 1994: 204. 7 3 4 Man kann hier an so genannte Kipp- oder Vexierbilder denken wie an jenes berühmte, auf dem bald eine Vase, bald zwei sich anblickende Gesichter zu sehen sind. Für solche Bilder gilt: „Without any stimulus change two or more different phenomena are experienced" (Stadler/Kruse 1995a: 5). Wie bei einem Kippbild sieht man Bild A oder Bild B, nicht jedoch ein beliebiges Bild X. 735 Den Fragmentcharakter seines Textes unterstreicht Garcia bei der Publikation in Primer Acto dadurch, dass er nicht von „texto", sondern von „algunos textos" spricht, die er in drei Rubriken einteilt: „Escenas de los actores con tarjetas de crédito incrustadas", „Aforismos" und „Textos proyectados en pantalla" (2002: 59-62). Caruanas Zusammenfassung (2002a: 66) von Ikea erwähnt dementsprechend disparate Teile und bringt den Text nicht auf einen Begriff. Garcia selbst bleibt vage: „No hay una idea muy clara, muy definida. Hay todo un discurso como de alienación anti consumista" (Caruana 2002: 45f.).
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mehrfach die Themen und Sprachregister (ernst, komisch, poetisch, vulgär).736 Die Aussagen lassen sich nicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen: Die drei Schauspieler sprechen Sätze, die einen idealistischen Standpunkt verraten, und solche, die nicht der political correctness entsprechen, solche, die mit Zynismus auf Missstände aufmerksam machen, und solche, die grotesk-komische Grundsituationen auskosten. Die Textblöcke tragen alle Sprecher in der gleichen Stimmlage vor; damit werden die erheblichen inhaltlichen Unterschiede klanglich nicht markiert, so dass Diskrepanzen zwischen Inhalt und Art des Vortragens entstehen. Rekurrente Themen sind z. B. Essen, Konsumhaltung,737 Paar-/Familienbeziehung und Pädophilie/Inzest.738 Sie bilden einen Kontext, ohne sich jedoch wechselseitig zu präzisieren. Auch verteilen sie sich unsystematisch über die gesamte Aufführung und werden unter verschiedenen Blickwinkeln abgehandelt.739 Viele Sequenzen scheinen auch kein konkretes Thema zu behandeln. Wenn Rubén z. B. in Schutzkleidung das traditionelle Weihnachtsessen über die Bühne wirbelt, Juan von unerfreulichen Weihnachtsfeiern erzählt und Patricia den Weihnachtsbaum in die Luft sprengt, sind diese Aktionen nurmehr diffuse Verweigerungshaltungen - aber von was? Welche Aspekte werden kritisiert, welche Stellungnahme wird deutlich? Anhand welcher Leitdifferenzen könnten sich Konsens und Dissens konstituieren? Der Kontext gibt keine Antworten. Viele visuelle Eindrücke sind ähnlich ambivalent und lassen kontradiktorische Deutungen zu.740 Ein roter Faden, der sich durch die Aufführung zieht, ist z. B. die Manipulation von Nahrungsmitteln, die kurz vor Ende in einer alle Regeln des Anstands verletzenden Sequenz gipfelt.741 Das ständige Spielen mit Essen 7 3 6 Caruana qualifiziert dieses Sammelsurium als „aforismos cortos que pasan rápidamente de lo cotidiano a la brutalidad, de la brutalidad a la ternura, de la ternura al humor, del humor a la profundidad" (2002a: 65). 7 3 7 Auf die Konsumhaltung verweist z. B. der Titel der Aufführung. Dennoch hat dieser keine Leitfunktion: Er ist nur ein Element unter anderen. 7 3 8 So erscheint das T h e m a .Partnerschaft' in einigen Aphorismen zu Beginn und am Ende der Aufführung sowie in Rubéns Lebenslauf. Die Inzestthematik wird in dem Vergleich zwischen einer Kindheit in Paris und auf Kuba angesprochen, zeigt sich in der Beschimpfung von Janis Joplin (im Ranking) und wird thematisiert in der Szene mit Rubén und Juan auf dem Sofa, kommentiert von der anschließenden Projektion, die von Pädophilie redet. 7 3 9 Das Thema .Familie' wird z. B. unter der Fragestellung behandelt, wie Kinder in Restaurants zu behandeln sind, wie Weihnachtsfeiern gestaltet werden, welche Verwandten Kindern Vorschriften machen oder was Erwachsene den Kindern eintrichtern (Rubéns ,Zwangsfiitterung'). 7 4 0 Die Schwierigkeiten bei der Deutung vieler visueller Elemente erinnern an Probleme, die aus der klassischen Traumdeutung Sigmund Freuds bekannt sind: Einzelne Elemente können für eine Aussage und auch für die genau entgegengesetzte Aussage stehen (vgl. Pongratz 1983: 155-162, Mertens 1999: 53-62). 741 Patricia und Juan stecken sich in dieser Szene Nahrungsmittel, die eher auf gehobenere gesellschaftliche Anlässe verweisen, buchstäblich ,in den Hintern' und .begießen diese Handlung, buchstäblich, mit Wein.
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ist jedoch mehrdeutig: Verweis auf die Entweihung des Essens und zugleich Darstellung der Konsumhaltung des Essenden der ,Mikrowellengeneration'. Wenn Juan, Patricia und Rubén am Anfang des Stückes Tiefkühlkost ausspeien — rebellieren sie dann gegen das Tiefkühlessen oder gegen das selbstzufriedene Vollfressen des Wohlstandsbürgers? Wird ein Objekt (das Essen) despektierlich behandelt oder eine despektierliche Haltung gegenüber einem Objekt angeprangert (wodurch diesem Objekt wieder Respekt gezollt wird)? Die Mehrdeutigkeit ist nicht auflösbar. In vielen Sequenzen werden simultan widersprüchliche Konnotationen erzeugt. So spielen Juan, Patricia und Rubén (wie erwähnt) in der zweiten Sequenz unappetitlich mit einem Fertiggericht herum,742 doch singt eine Sängerin rechts neben ihnen eine Opernarie Puccinis. Obwohl alle vier Personen nah beieinander stehen, evozieren sie zwei höchst unterschiedliche Kontexte, die mit abstoßend vs. ästhetisch umschrieben werden können.743 Zusammengenommen ergeben die Gegensätze kein stimmiges Bild: Der Zuschauer kann nur zwischen ihnen hin- und herspringen, sie jedoch nicht ineinander überfuhren. Die Auffuhrung spielt buchstäblich mit der Auslösung unvereinbarer Empfindungen.744 Auf ähnliche Weise enthält auch das Ranking der hijos de puta unauflösliche Widersprüche. Angekündigt wird eine ,Hitliste' der vierzig schlimmsten .Scheißkerle' des 20. Jahrhunderts, womit die Erwartung in Richtung auf Menschen gelenkt wird, die im common sense der Gesellschaft unter diese Kategorie fallen. Vorgeführt werden indes (illustriert jeweils anhand eines Diapositivs) Personen, die gänzlich andere Kategorien (z. B. .Humanität') repräsentieren. Als Gründe flir die Auswahl nennen Juan, Patricia und Rubén Kriterien, die größtenteils über Schlagwörter und populäre Vorurteile nicht hinausgehen.745 Hier wird das Gefühl der political correctness grob verletzt. Auswahl und Charakterisierung der hijos de puta sind indes doppelbödiger als es zunächst den Anschein hat. Zwar
7 4 2 Sie stopfen es sich in den Mund, spucken es auf den Boden, nehmen das Erbrochene vom Boden wieder auf und stecken es sich erneut in den Mund oder beschmieren sich gegenseitig damit. 7 4 3 Nach dem Schlusston geht die Sängerin seitlich ab, während Juan, Patricia und Rubén mit ihrem ,Ess-Spiel' einige Minuten fortfahren. So lösen sich die beiden unpassenden Elemente des Gesamteindrucks (Fressorgie und Opernarie) wieder voneinander, nachdem sie kurzzeitig ein Amalgam gebildet haben. Monieon assoziiert die Stimme der Sängerin an dieser Stelle unterschwellig mit der „buena sociedad" und sieht sie damit als „contrapunto irónico y grotescamente solemne de las situaciones más crueles" (2002: 68) an. 7 4 4 Durch yñzw-Inkongruenzen zeichnet sich auch die bereits beschriebene Sequenz kurz vor Ende der Aufführung aus, in der ein feierliches Abendessen anklingt, Patricia und Juan sich jedoch mit dem Essen den Körper einreiben. 7 4 5 Genannt werden Elvis Presley, Marilyn Monroe, Paul Bocuse, Andy Warhol, Pablo Picasso, Sigmund Freud, der Heilige Jakobus, Pier Paolo Pasolini, Mahatma Gandhi, Nelson Mandela, Janis Joplin, Oscar Wilde, Ärzte ohne Grenzen und, auf den Plätzen drei bis eins, Che Guevara, John Lennon und Diego Maradona. Vgl. dazu Caruana 2 0 0 2 : 56f.; 2002a: 66.
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sind viele der erwähnten Persönlichkeiten gerade Symbole für große Menschlichkeit oder haben auf wissenschaftlichem bzw. künstlerischem Gebiet Bedeutendes geleistet, so dass die vorgetragenen Vorurteile ausschließlich dumm und verleumderisch wirken,746 aber einige Kommentare enthalten auch einen Kern gesunden (ironischen) Menschenverstandes.747 Nach dem Diapositiv, das den ,Sieger Maradona zeigt, wird dieser Aspekt der Mehrdeutigkeit noch verstärkt, indem auf die Wand ein Text projiziert wird, der die genannten Persönlichkeiten verteidigt, indem er ihnen eine ungewöhnliche „intensidad de vivir" bescheinigt, und zugleich seine Bedenken gegenüber Tugend und Maßhalten äußert.748 Die Hitliste wird damit in einen neuen Kontext gestellt: Der Behauptung des Ranking wird durch die Behauptung der Projektion widersprochen, ohne dass eine der beiden Aussagen privilegiert wäre. Die Gesamtbewertung der Sequenz wird damit widersprüchlich, da auch die Provokation ihrerseits wieder denunziert wird.749 Ein subtiles Hinübergleiten von scheinbar eindeutigen Symbolen in mehrdeutige Bilder findet sich auch in der ersten Videoprojektion: Verschiedene mit einer wackligen Handkamera aufgenommene Bilder werden einige Sekunden eingeblendet, bevor dann von unten eine zur Faust geformte Hand ins Bild schnellt, aus der nur der Mittelfinger herausstakt: unmittelbar verständlicher vulgärer Ausdruck von Protest („Fuck!"). Er erscheint im Video vor Konsum-Emblemen wie Modehäusern, Schnellimbissketten und Werbetafeln, aber auch vor Szenen wie
746 Die Genannten seien Drogenabhängige, Juden, Weichlinge, Betrüger oder noch schlimmer: Schwule. García kommentiert: „El punto de partida era hablar mal de la gente que tú admiras" (Caruana 2002: 56). Monleón (2002: 69f.) sieht die Ranking-Sequenz im Kontext einer profanación, die für ihn das Leitmotiv von Ikea darstellt. 747 Dies ist der Fall, wenn Juan und Patricia kritisieren, dass die Nouvelle cuisine Unsummen an Geld für halb gefüllte Teller verlange, dass es ein Unding sei, wenn ein Heiliger den Beinamen matamoros trage („un santo racista") oder wenn Che Guevaras Bild über Souvenirartikel kapitalistisch ausgeschlachtet werde. Die Kritik am ,Ranking-Sieger' Diego Maradona lautet: Statt ein vorbildlicher Fußballer zu sein, nehme Maradona Drogen und widme sich der dolce vita. 748 Vgl. den Wortlaut: „Pienso que estos son algunos ejemplos de vidas que tú no vas a vivir jamás. Ni de cerca. Pienso que ante esa intensidad de vivir, deberías replantearte algunas cosas. Al menos yo lo hago ahora. Pienso que la virtud, como algo relacionado con la mesura, es una idea repelente y peligrosa, ya que los totalitarismos siempre están al acecho. Pienso que vivir como un animal doméstico no debería ser tu máxima aspiración y que en el exceso y el fuego hay latidos que se escuchan. Ahora, a ti, por ejemplo, no consigo oírte" (García 2002: 62). 749 Zu Afier Sun schreibt Monleón: „[...] en las obras de Rodrigo García hay siempre textos bellísimos o llenos de ingenio, que el propio autor destruye con la desesperada necesidad de evitar toda retórica, todo perfume de literatura correcta y digerible - , pero que, a su vez, las degrada sistemáticamente, con giros e interpolaciones contrarios a toda compostura" (2000: 24). García bewertet die Bewertung und oszilliert dabei zwischen ethischen Imperativen und ethisch inakzeptablen Aussagen; er selbst sagt: „Creo que lo más importante es la entrada sin pudor en lo más profundo de la ambigüedad. A veces soy fascista. A veces soy moralista. A veces humanista" (Caruana 2002: 54).
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einem Strafzettel schreibenden Polizisten. Die Aussage wirkt in ihrer Eindeutigkeit beinahe naiv. Nach einiger Zeit wechseln aber die Bilder: Nun werden Gräber und Monumente auf einem Friedhof eingeblendet; zweimal wird in die Schwärze eines frisch ausgehobenen Grabes gezoomt. Wogegen wird jetzt protestiert, gegen den Tod? Dann aber wäre das gesamte Videoband ein undifferenzierter Protest ,gegen alles' und höbe seine eigene Differenzierung {protestwürdig vs. nicht protestwürdig) selbst auf. Die Videoprojektion lässt den Antworten auf diese Frage freien Spielraum.750 Inkongruente Kontexte und die übersteigerten Provokationen stellen oftmals eine Gratwanderung zwischen Humor und Entsetzen, zwischen Komik und Tragik dar (wie etwa in der Idee, Kinder und Hunde vor Restaurants anzuleinen). Wie eine Karikatur wirkt das pointierte Porträt des Durchschnittsspaniers, der immer nur ans Essen denkt, das indes auch einen tragischen Kern enthält (im indirekten Verweis auf die innere Leere des Menschen).751 Da die Stillage wiederholt wechselt (manche Episoden gleiten ins grob Vulgäre ab, andere ins Poetische oder Moralische), entsteht in manchen Sequenzen Verunsicherung betreffs der Einschätzung der Kommunikationsbeiträge als Spaß oder als ernsthafte Aussage.752 Jede Sprechinstanz (einschließlich die der Textprojektionen) nimmt Haltungen ein, die von ethischen Standpunkten bis zu blankem Zynismus reichen.753 Auch die visuellen und akustischen Elemente schwanken zwischen den un-
750 Die Aussage „Protest gegen Konsum" wechselt zu „Protest gegen staatliche Autorität" und wird schließlich zu einem fast schon metaphysischen Protest gegen die conditio humana. Oder ist es ein Protest gegen die Art, wie in der spanischen Kultur mit dem Tod umgegangen wird? Als weiteres Beispiel für das Umschlagen von Stimmungen und Bewertungen sei die Sequenz erwähnt, in der eine Ikea-Verkäuferin in verschiedenen Situationen von Spiderman gerettet wird: Am Ende hält dieser die leblos wirkende Frau in seinen Armen. Das Bild des happy end scheint perfekt, da lässt der Held die Gerettete achtlos wie ein Objekt fallen, wirft sich in Pose und reißt seine Arme wie ein Sieger nach oben. Triumphiert er über die Frau? Wird der Held zum Bösewicht? Patricia erhebt sich, zieht sich das Ikea-Hemd aus und hält die Luft an. Zweimal tritt Spiderman nun hinzu und hilft ihr zu atmen. Die Gesamtaussage bleibt ambivalent. 751 Monleón (2002) verweist auf eine tragische Dimension der Provokation, da diese von einer schizophrenen Gesellschaft geradezu erzwungen werde. Er spricht von „una dolorosa conciencia de esa profanación. No al modo de una denuncia, de un acto de liberación orgiástica o de una formulación ácrata, sino con la morosidad y la conciencia de quien construye la ceremonia de la profanación; es decir, de quien teatraliza lo que, en la vida cotidiana de nuestros días, es hábito en penumbra o enmascarado por un aparato retórico que lo justifica" (Monleón 2002: 68). 752 Patrica erzählt z. B. einen Witz (García 2002: 60) und lässt diesen von Rubén wiederholen. Beim ersten Mal greift die Komik der Überraschung, beim zweiten Mal wirkt der Witz, zumal mit Rubéns Kinderstimme vorgetragen, nicht mehr komisch. 753 So plädiert eine Textprojektion fíir die Intensität des Lebens, eine andere für Pädophilie. In letzterer erzählt ein nicht näher präzisierter Sprecher von seinen (missglückten) Versuchen, sexuelle Erfahrungen mit Kindern zu sammeln, was er für .modisch' hält (Garcia 2002: 62).
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terschiedlichsten Konnotationen. Damit ist eine Zuordnung der Textelemente zu Leitdifferenzen nicht möglich.754 Die Anhäufung verschiedenster Konnotationen ohne strukturelle Ordnung zeigt sich in kondensierter Form in Rubéns Lebenslauf. Wie ein global zapper akkumuliert dieser wahllos widersprüchliche Lebensentwürfe, ohne sie in irgendeiner Form stringent aufeinander zu beziehen.755 Wiederholt entstehen auch Diskrepanzen zwischen dem, was zu sehen ist, und dem, was die Figuren sagen, etwa wenn diese seelenruhig Anekdoten vortragen, während eine blutige Wunde von einer Visakarte in ihrem Körper klafft.756 Viele scheinbar zielgerichtete Handlungen des Textes sind nicht identifizierbar als Kommunikation, die angenommen oder abgelehnt werden könnte. In einer Sequenz etwa kippt Patricia einen Sessel langsam um, in dem Juan mit einem Weinglas in der Hand sitzt, bis der Rotwein in seinen Mund läuft; bis hierhin kann noch von einer zielgerichteten Handlung die Rede sein. Dann aber lässt Patricia den Sessel abrupt fallen, und die Flüssigkeit ergießt sich über Juans Gesicht. Juan steht auf und zieht sich um. Seine Handlung drückt weder Zustimmung noch Ablehnung aus, sondern ist keine Reaktion auf Patricias Handlung, so als habe diese gar nicht stattgefunden. Das Verhältnis zwischen den beiden Figuren bleibt unklar: Hat Juan Macht über Patricia, weil diese ihn bedient? Hat Patricia Macht über Juan, weil sie ihn fallen lässt? Geht es überhaupt um Macht?757 Die Nicht-Festlegbarkeit von Bedeutung wird indes nicht ihrerseits zum durchgehenden Strukturprinzip des Textes, denn an vielen Stellen sind sehr klare Ubereinstimmungen zwischen Text und Visuellem auf symbolischer Ebene konstruierbar. Nach einer Projektion der Sätze „Argentina: devuelvan el dinero a la gente" und „Dejen vivir" hängen Juan und Rubén z. B. Patricia an einen Tropf, 754
Besonders die bereits erwähnten .autonomen Bildsequenzen lassen sich auf keinen Begriff bringen. 7 5 5 Der Junge erklärt, er wolle Wunderkind und Bauarbeiter, Seneca-Experte und Buchverächter, Asket und Drogenabhängiger, fettleibig und magersüchtig, homo- und heterosexuell, workoholic und arbeitslos werden und außerdem in Spanien, Nord- und Südamerika leben, das Ganze gekrönt von einem willkürlichen (Frei?)Tod mit 4 6 Jahren, dessen lapidare Begründung lautet: ,,[p]orque me da la gana." 756 Es ist unmöglich, genau zu benennen, inwiefern die Anekdoten und die Visakarte sich gegenseitig kommentieren. Der Mensch des Visa-Zeitalters, der seine Verstümmelung gar nicht mehr bemerkt? Der Mensch des simulacre-Z.tnúttts, der weiß, dass die Visakarte sowieso nur eine Attrappe ist? In einem Interview von 1998 äußert Garcia: „[...] mi problema ha sido siempre cómo puedo crear ambientes, generar otro tipo de imágenes, que no estén siempre dependiendo de la palabra, de la palabra, de la palabra..." (Matteini 1998: 11). 7 5 7 Eine Szene aus Afier Sun (2000), in der eine Person von einem Stuhl fällt, während eine andere dahinter bewegungslos stehen bleibt, kommentiert Garcia mit den Worten: „Esta escena se repite veinte veces. ¿Esto es conflicto? Llámale como quieras, yo diría que sí. Puedo imaginar, como espectador, ocho, diez relaciones entre estos dos. Puedo pensar si el que cae, cae por culpa del otro o simplemente por sus pensamientos, que hacen que su cabeza pese demasiado" (Henríquez/Mayorga 2000: 17).
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aus dem eine rote Flüssigkeit fließt: Bild und Text vereinen sich zu der Bedeutung ,am Tropf hängen, d. h. ,lebensbedrohlich in seinen Körperfunktionen eingeschränkt und auf äußere Hilfe angewiesen sein. An anderer Stelle malen Rüben und Patricia Logos bekannter Sportfirmen auf Juans nackten Körper und erzeugen damit eine .Skulptur', die als ,Vereinnahmung des lebendigen Menschen durch die Embleme der Konsumwelt' verstanden werden kann. 758 Durch verschiedene Konnotationen und Bewertungen von Textelementen, aber auch durch die fundamentale Mehrdeutigkeit vieler Sequenzen und das beständige Schwanken zwischen Symbol- und Materialwert der sinnlich wahrgenommenen Bühnenelemente ist es unmöglich, eine kohärente Sozialdimension des Textes zu konstruieren. Eine Blockierung von eindeutigen Bedeutungskonstruktionen beginnt schon beim Titel, welcher besagt, dass jemand bei Ikea ein Werkzeug kauft, das er nur für seine eigene Beerdigung nutzt. Den durch das Warenhaus Ikea propagierten positiven Werten wie ,Heim' oder ,Lebensqualität' wird grob widersprochen durch die Konnotation ,sein eigenes Grab schaufeln'. Es wird aber nicht deutlich, worauf dieses Amalgam hinausläuft: Ist der Satz als Ganzer ironisch, fatalistisch, pessimistisch, optimistisch oder naiv zu deuten? Auch nach zweieinhalb Stunden gibt es keine Antwort auf diese Frage. Die Analyse eines komplexen Textes wie Ikea kann nicht mittels einer Beschreibung von Einzelelementen geleistet werden: Diese sind überwiegend klischeehaft oder eher unbedeutend, trivial, bisweilen auch penetrant symbolisch. Erst ihr Zusammenspiel zeigt die oszillierenden und unsteten Bedeutungen, die den Gesamttext kennzeichnen. 759 Nicht dieses oder jenes Detail macht Garcias Theater aus, nicht diese oder jene Bedeutungszuschreibung, sondern das Zusammenspiel heterogenster Wahrnehmungsangebote, die beständige Relativierung von Aussagen, das unstete Hin- und Herspringen zwischen emotionalen und kognitiven Kommunikationsangeboten und die Erzeugung von Dissonanzen, Inkongruenzen und Brüchen. Der Text richtet sich gegen hierarchisch-logisches Denken und dessen Konstruktion von Bedeutungsdominanten. Garcia erklärt als oberstes Ziel seines Theaters, die Einbildungskraft des Zuschauers zu stärken. 760 Der Bühnentext regt in diesem Sinne höchst unter758 Am Ende der Aufführung rasiert Juan sich ungerührt weiter, während Patricia und Rubén einen Totenkranz an die Stelle des Spiegels hängen - moderner Ausdruck des vanitas-Motives. García kommentiert: „No desarrollo cosas, son formatos muy resumidos, muy poéticos, muy poéticos en cuanto a lo conciso; son muy directos; esto es muy publicitario: no hay rodeos" (Caruana 2002: 49). 759 Daher wirken die Schrifttexte für sich genommen völlig anders als in der Aufführung. Caruana urteilt: „Cómic, danza novísima, recuerdo pedofílico e ironía social del superhéroe se mezclan, mientras al fondo se escucha a una potente cantante de ópera, Ana María Hidalgo. Aislada, la escena quedaría coja, llana" (2002a: 66). 760 Vgl. z. B. Garcías Aussagen in Henríquez/Mayorga 2000: 17 oder Caruana 2002: 57. „Sus sentidos están primero que sus razonamientos", heißt es im Manifest der „Cretinos de Velázquez" (Diago 1997: 268), das García mitentworfen hat.
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schiedliche Assoziationen an und wird damit zur Projektionsfläche für die je individuellen Bedeutungszuweisungen des Zuschauers. 761 Die realen Publikumsreaktionen sind dementsprechend heterogen. 762 Die Mischung aus chaotischen Elementen und lokal geordneten Zusammenhängen, in denen (begrenzt) Sach-, Zeit- und Sozialebenen eines (Teiltext) Systems konstruiert werden können, ist von einer systematischen übergreifenden Geschichte ebenso weit entfernt wie von einer Collage. Die Struktur von Ikea kann vielmehr mit,Verstörung von Strukturprinzipien beschrieben werden, eine paradoxe Beschreibung. 763 Ordnungsangebote werden verletzt, sobald sich eine kohärente Lesart einzustellen scheint. Wird diese Ordnung aufgegeben, durchläuft die Wahrnehmung eine Phase von Instabilität, bis sich eine neue Ordnung herausschält. 764 Jede globale Deutung des Textes ist unmöglich, so wie sich Garcia allgemein gegen jede fixierende Stellungnahme ausspricht, wenn er fordert: „La doctrina es: no tengamos doctrinas. Son acciones pequeñas, locales, lo que no es p o c o " (Galán 1998). 765 Das dem Satz inhärente Paradox verweist darauf, dass grundsätzlich alles
761 Was diesem am Ende im Gedächtnis bleibt, wird in hohem Maße von seinem Fokus der Aufmerksamkeit und letztlich von seiner Affektlage und seinem Vorwissen bestimmt. Ciompi weist darauf hin, dass die Affekte als Energielieferanten den Fokus der Aufmerksamkeit regeln, d. h. mitbestimmen, wie jemand aus der Umgebung auswählt und das Ausgewählte .einfärbt' (vgl. 1997: 95-99). Werden z. B. die Aspekte Globalisierung und Konsum bei der Interpretation hervorgehoben, lässt dies mehr auf den Interessensschwerpunkt des Interpreten schließen als auf ein fundamentales Strukturmerkmal des Textes. Genauso ist es möglich, Familie, Missbrauch, Partnerschaft oder Ähnliches zu fokussieren. 762 Caruana sammelt Reaktionen aus dem Publikum (2002: 55f.), dem das Stück mehrheitlich gefallt. Während der Uraufführung verließen indes mehr als zwanzig Personen den Saal vorzeitig. Pérez-Rasilla (2002: 37) spricht im Zusammenhang mit Ikea von Nihilismus, einer Art „autoparodia" und leerlaufender Provokation. 763 Oder wie Garcia es ausdrückt: „Yo no sirvo para contar historias. Y sin embargo pretendo que mi obra, al acabar, se haya transformado en una historia" (Henríquez/Mayorga 2000: 17). 764 García selbst beschreibt seine Ästhetik wie folgt: „[...] el arte formal no me interesa. Evidentemente, el didáctico, el que tiene un mensaje y todo eso, tampoco: es horrible. Entonces, hay que navegar entre los dos. [...] me siento muy seguro en la mezcla de forma, poesía y contenido" (Caruana 2002: 46). Vgl. auch Monieons Urteil: „De ser eso el teatro de Rodrigo García, de no vertebrar sus elementos en un determinado pensamiento, en lo que él mismo no duda en calificar de compromiso ideológico, la verdad es que no pasaría de ser un residuo del dadaísmo, de consecuencias dudosas en la legión de quienes andan hoy detrás de sus pasos" (2002: 68). Die jeweils dominanten Assoziationen gewinnen den Charakter von BedeutungsAttraktoren, welche die Textdaten zu plötzlich erkennbaren Ordnungen zusammenfügen. Daher erfasst Caruana nur einen Teil der Struktur, wenn er von einer „[escritura] de acumulación y encuentros insospechados" (2002a: 66) spricht. 765 García sieht in der Gesellschaft vor allem die Einengung des Individuums durch soziale Strukturen und nennt als adäquate Antwort auf globale Machtstrukturen in Anlehnung an Deleuze und Foucault „respuestas locales, contrafuegos, defensas activas y a veces preventivas" (Galán 1998).
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hinterfragbar ist, sogar das Hinterfragen selbst, denn jede Form von Eindeutigkeit läuft auf eine totalisierende Weltsicht und verfestigte Ideologien hinaus. In einem Bühnentext, der immer wieder die Grenze zwischen Material und Symbol, Affirmation und Negation, Ordnung und Chaos kreuzt, wird die Aufmerksamkeit abwechselnd auf die Bedeutung der Textelemente und auf den Prozess der Wahrnehmung selbst gelenkt. Der Rezipient muss entweder die Inkohärenz des Gesamttextes ertragen oder versuchen, nur eine Ansammlung von Lauten, Geräuschen und visuellen Stimuli ohne Gesamtbedeutung wahrzunehmen. 766 Damit werden die Grenzen zwischen ästhetischem System und Chaos ausgelotet: Gerade diese Mischung — weder ganz Happening noch Performance noch Texttheater noch Bildtheater 767 — und die Art, mit Wahrnehmungsangeboten zu spielen, sind das Charakteristikum des Textes. Garcia formuliert seinen compromiso social dementsprechend wie folgt: „Estamos en ese mundo de intentar, tímidamente, ensanchar la percepción vuestra" (Caruana 2 0 0 2 : 57). 768 Nicht nur was der Text verstört, ist wichtig: dass er konsequent Wahrnehmungsmuster verstört, ist das eigentlich Neuartige.
766 Die Verlegenheit, in die ein Rezipient solcher Texte gerät, kann mit Hofstadters Beschreibung des Bildes Relativität yon M. C. Escher (einer Litographie von 1953, die ein .unmögliches' Treppenhaus darstellt) verglichen werden: „Diese Treppen sind ,Inseln der Gewißheit', auf die wir unsere Interpretation des Gesamtbildes stützen. Nachdem wir sie dann identifiziert haben, versuchen wir, unser Verständnis zu erweitern, indem wir ihre Beziehung zueinander festzustellen suchen. In diesem Stadium kommen wir in Schwierigkeiten. Aber wenn wir versuchten, unseren Weg zurück zu verfolgen, d. h. die .Inseln der Gewißheit' in Frage zu stellen, kamen wir ebenfalls in Schwierigkeiten, wenn auch anderer Art. Es besteht keine Möglichkeit, zurückzugehen und zu ,un-entscheiden['], daß es sich um Treppen handelt. Es sind keine Fische, keine Finger, keine Hände, - es sind einfach Treppen. (Es gibt tatsächlich einen einzigen anderen Ausweg - nämlich, daß man alle die Striche des Bildes vollständig uninterpretiert läßt, wie die .bedeutungsleeren Symbole' eines formalen Systems [...])" (Hofstadter 1985: 108). Das bedeutet, dass der Rezipient durch die hierarchische Natur des Wahrnehmungsprozesses gezwungen ist, „entweder eine verrückte Welt oder einfach ein Bündel sinnloser Striche zu sehen" (1985: 108). Vgl. zu Reaktionen von Versuchspersonen bei der Betrachtung eines Vexierbildes auch Kuhn 1967: 154f. 767 Ikea zeichnet sich gerade durch Anleihen an verschiedene Kunstrichtungen aus, die nicht vermischt, sondern nebeneinander gestellt werden. Garcia spricht zwar davon, dass seine Inszenierungen das Format einer performance zu haben scheinen, fugt aber hinzu: „[...] mis obras no tienen nada que ver con ella [la performance; Anm. S. H.] [...] tampoco es plan de ponerse a hacer un teatro donde se representen personajes, ni se cuenten historias [...]" (Caruana 2002: 53). Über Garcías Meinung zu Filmen, Regisseuren und audiovisuellen Künstlern sowie zur Beziehung zwischen Kunst und Kino vgl. Garcia 1997a: 22. 768 Vgl. eine andere Aussage Garcías: „[...] insisto en que nuestra acción política, socialmente útil, consiste en aumentar la sensibilidad, ensanchar las percepciones con obras nuevas y complejas, engrandecer la calidad de la información [...]" (2002a: 34).
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4.3
CHAOS IN DER ORDNUNG
4.3.1
MARIANO GRACIA RUBIO, ORLÉANS
¡Qué lejos estamos de nosotros mismos! (O: 214) Der Text Orléans von Mariano Gracia Rubio (1990; Accésit Premio Marqués de Bradomln 1989) 76 ' umfasst zwanzig mit einer Überschrift versehene Sequenzen, in deren Mittelpunkt die Protagonistin Chantal steht. Wie über den Titel bereits angedeutet, ist Orléans vor dem Hintergrund eines populären Mythos, der Lebensgeschichte der Jungfrau von Orléans, Jeanne d'Arc,770 zu lesen, ein Bezug, den der Autor durch die Figurenangaben und eine kurze Zusammenfassung der Lebensgeschichte der Heiligen zu Beginn des Textes hervorstreicht ( 0 : 194). Dass Orléans sich gerade dadurch auszeichnet, dass der Text im Schnittpunkt bereits bekannter Geschichten steht, deutet ein einleitendes Motto von William Burroughs an: „¡Abajo L'originalité!" (O: 190). 771 Gracia Rubio nutzt den Jeanne d'AreMythos einerseits, um den über weite Strecken zusammenhanglos wirkenden Elementen seines Textes Kohärenz zu verleihen, andererseits als Grundlage einer Vermischung von Kontexten, die den Mythos pointiert und verändert. Die neuen Kontexte klingen in den Eingangsmotti an: das Spannungsfeld zwischen Kindheit und Erwachsensein, der lächerliche Aspekt des Heldentums und das Wechselspiel von Schein und Sein.772 Durch die Motti wird insbesondere hervorgehoben, dass sich in der Figur Jeanne d'Arc männliche und weibliche, menschliche und göttliche Attribute überlagern. Die Muchacho(s) perdido(s) m verweisen mit ihrem Namen und in ihrem 769 Der Schauspieler Mariano Gracia Rubio studierte Interpretación in der Escuela Municipal de Teatro y de Filosofía und Letras in der Universidad de Zaragoza. 770 Die im 20. Jahrhundert heilig gesprochene Jeanne d'Arc, ein lothringisches Bauernmädchen aus der Zeit des Hundertjährigen Krieges (1339-1453), das 1431 als Hexe verbrannt wurde, steht metaphorisch fiir Reinheit, Gewissenhaftigkeit, Tapferkeit, Mut, Durchhaltevermögen und Opfertum, aber auch für das Scheitern an einer unreinen Welt. Zur Jungfrau von Orléans als ,Stoff der Welditeratur' vgl. Frenzel 1992: 405-411. 771 Vgl. das gesamte Zitat: „Los escritores trabajan con palabras, lo mismo que los pintores trabajan con colores: ¿de dónde provienen esas palabras y esas voces? De numerosas fuentes: conversaciones oídas a medias, películas y emisiones de radio, periódicos y revistas, sí señor, y de otros escritores... (...) ¡Abajo L'oríginalité!" (O: 190). 772 Gracia Rubio zitiert eine Textstelle aus Sir James Matthew Barries Peter Pan, or the boy who would notgrow up (Theaterstück in fünf Akten; UA: London 1904), aus Azorin („Las mujeres son ya las únicas que sienten el atavismo de esta cosa ridicula que llamamos heroísmo...") und Jean Genet („Retenme si quieres, amor mío, pero guárdame en tu corazón. Y espérame"; O: 190). 773 Da Gracia Rubio nicht festlegt, ob Muchacho(s) auf eine oder mehrere Figuren verweist, soll im Folgenden durchgängig von den Muchacho(s) die Rede sein, wobei die Klammer andeutet, dass es sich jeweils auch nur um einen einzigen Sprecher handeln könnte.
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Verhalten auf Berries Theaterstück Peter Pan, auf das auch andere Textelemente hindeuten,774 besonders die Präsenz des Themas eines schmerzhaften Ubergangs von der Kindheit zum Erwachsenenalter.775 Wie der Roman Peter Pari mit der Figur Wendy, erzählt auch Orléans von der Initiationsgeschichte einer weiblichen Figur, Chantal. Diese hat Angst vor der Vergänglichkeit der Jugend.776 Dementsprechend sagt sie in ihrer letzten Replik: „Mi elección es la divina juventud" (O: 216), eine Entscheidung, die offensichtlich durch ihren Tod in jungen Jahren eingelöst wird. Uber das Zitat aus Jean Genets Le balcón (1956/1962) und den Namen der Protagonistin Chantal verweist Gracia Rubio auf einen Text, der ein Verschwimmen der Grenzen zwischen Schein und Sein, zwischen Rolle und Authentizität thematisiert. Im Zentrum von Genets Theaterstück steht nämlich ein ,Haus der Illusionen', ein Bordell, das seinen Kunden ermöglicht, ihre persönlichen Wünsche und Phantasien auszuagieren, indem es ihre Illusionen inszeniert.777 Wie Genets Protagonisten errichtet sich Gracia Rubios Chantal ihre eigene Illusionswelt, in der sie ihre Rolle als Märtyrerin spielt. Aufgrund dieser Inszenierung ihres Lebens können oft weder ihre eigenen noch die Aussagen anderer Figuren eindeutig einer bestimmten Fiktionsebene zugeordnet werden. Viele Kommunikationsbeiträge Chantals oder der Muchacho(s) könnten z. B. reine Phantasien sein. Über ihren Beruf als Schauspielerin wird Chantal schließlich als Kind ausgewiesen („Una actriz es una mutación peligrosa del niño"; O: 197). Das verbindende Moment zwischen Theaterwelt und Kindheit ist das Spiel, also die Konstruktion einer eigenen Welt, die nach internen Regeln funktioniert.778 Dass es in Orléans hauptsächlich um die Unentwirrbarkeit von (Schau-)Spiel und Wirklichkeit geht, unterstreicht ein weiteres Zitat, das dem Text vorausgeht,
774 Peter Pan ist der Anführer „verlorener Jungen"; Erwachsene können sein Land ( N e v e r l a n d ) nicht wahrnehmen: die Welt der Wunsch- und Albträume, die der Realität nie zu nahe kommen darf. 775 In Gracia Rubios Text erscheint Alex als das Kind, das sich gegen das Erwachsenwerden wehrt, und Max als sein Mentor. Szene 11 wird mit „rumbo a nunca jamás" betitelt (Peter Pans Land heißt Neverland). Entsprechend will Alex niemals erwachsen werden ( 0 : 198), was Peter Pans Hauptwunsch ist. Auch sieht er seinem beginnenden Bartwuchs mit Angst entgegen ( 0 : 1 9 7 ) . Die Erwähnung von Feen ( 0 : 204) ist ein allgemeiner Verweis auf eine Märchenwelt, in der auch Peter Pan situiert ist. 776 Das Alterwerden wird mit dem Verlust von Illusion und Idealen assoziiert. So mündet Chantals Darstellung ihres Lebenslaufes in die Feststellung: „Ahora que los venitiún años son mis venitiún/años,/veo ante mí un pozo/y nada más" (O: 201). Chantal thematisiert an anderen Stellen ihr faltiges Gesicht ( 0 : 200; 206). 777 Die Besucher (und die Zuschauer) verlieren dabei das Bewusstsein dafür, wo die Illusion endet; schließlich wirkt die Scheinwelt wirklicher als die Realität. 778 Hinzu kommt, dass Gracia Rubio nur fiir einige Sequenzen konkrete Orte angibt, so dass die Sprechsituation in vielen Fällen ,ortlos' bleibt.
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welches von Marguerite Duras stammt {Los ojos azules pelo negro) und das Verhalten eines Schauspielers zum Gegenstand hat, der in seiner Rolle lebt. Gracia Rubio überschreibt dieses Zitat mit dem Titel „(No exactamente) indicaciones para el uso del texto" (O: 191).779 Dieser Kommentar und weitere intertextuelle Verweise zeigen an, dass die Kommunikationen in Orléans auf zwei Ebenen lesbar sind: der eines Individuums und der eines Schauspielers. Sie verdeutlichen auch, dass gerade die Ambivalenz möglicher Bedeutungskonkretisierungen ein Kennzeichen des Textes ist. Orléans steht durchgehend unter Verdacht, nur theatrale Kommunikationen ,in Szene zu setzen780 oder nur ein Kinderspiel zu beschreiben.781 Selbst die Martyriums-Szene und der Autounfall werden wie ein Spiel beschrieben ( 0 : 216).782 Die „Folterungen" durch die Muchacho(s) werden mit „objetos [...] del simulacro" (O: 212) vollzogen. So lautet der Text: Vas a beber de mi sangre. (Ketchup, cocacola.) Vas a comer de mi carne. (Chiclé, palomitas.) Vas a beber de mi leche. (Yogurt, cerveza.) Voy a cegarte. (Flash.) (O: 212)
Kommentiert wird die Handlung mit den Worten „¡Pasión de una Barbie en la noche de los zombies!" ( 0 : 212), wodurch der (unernste) Spielcharakter betont wird. Die weiteren Szenenanweisungen und Kommentare der Muchacho(s) sind
779 Durch die Klammern zieht Gracia Rubio seine eigene Aussage wieder in Zweifel, und es bleibt dem Rezipienten überlassen, das Duras-Zitat als Leitfaden fiir die Lektüre aufzufassen oder nicht. 780 Vgl. auch die Doppeldeutigkeit des Wortes actuar in dem Satz: „Hacer algo. Actuar. ,Vete, y sobre la tierra da de mí testimonio...'" (O: 210). Ob hier actuar als ,handeln oder als .schauspielern' aufgefasst werden muss, bleibt unklar. Orléans' Kommentare lassen an ein großangelegtes Theaterstück denken (Max ist immerhin Besitzer eines „teatro de revista"; vgl. (O: 192). In Chantals Ansprache an die „Compañeros" entlarvt sie deren Verhalten als theatralisch und fragt: „¿Para cuándo la actuación completa?" (O: 213). 781 Der spielerische Aspekt wird z. B. betont, wenn ein Sequenztitel (5) „Orléans, Orléans" (in Anlehnung an das bekannte Revue-Lied New York, New York) lautet, so als handle es sich um eine Revue-Einlage. 782 Schon Chantals Gefangennahme durch die Muchacho(s) wird wie ein Verkleidungsspiel dargestellt (O: 211). Einerseits wird in einer Didaskalie vermerkt, dass Chantal nackt und blutverschmiert an einen Baum gebunden ist ( 0 : 212), andererseits wirken die Torturen wie Kinderspiele. In der Didaskalie wird sowohl auf eine ernsthafte Handlung als auch auf ein Spiel verwiesen: „Preludio de una humillación. Parodia" (O: 212). Das parodistische Element hat eindeutig einen spielerischen Akzent.
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jedoch mehrdeutig: Es ist möglich, dass sie das Spiel fortsetzen oder dass es zu einer wirklichen Vergewaltigung kommt. 783 Der Rezipient springt beständig zwischen der Beurteilung der Kommunikationsbeiträge als .eigentliches' oder .uneigentliches' Sprechen hin und her. Unklarheit bezüglich der Fiktionsebene(n) entsteht bereits bei der Figurencharakterisierung zu Beginn des Textes. Gracia Rubio macht zwar Angaben zu Namen, Alter und Beruf (O: 192), doch lässt er offen, ob die Muchacho(s) perdido(s) eine oder mehrere Personen sind,784 und gibt an, dass sie ,unsichtbar' seien und auch ihr Auto nur ein .fantasma' (O: 193). Dies wirft die Frage auf, ob die Figuren Phantasiegebilde sind.785 Außerdem verbindet Gracia Rubio Chantal und Orleans so eng miteinander, dass der Eindruck entsteht, es handle sich um eine einzige Figur.786 Schon in der Figurenbeschreibung wird also ein Paradox angelegt: Chantal könnte Orléans' .Medium' sein, durch das hindurch Orleans sich ausdrückt, was an die Geschichte der historischen Jeanne d'Are erinnert, welche ebenfalls Stimmen zu hören
783 Die Didaskalie lautet: „CHANTAL, proyecto de muñeca hinchable: tres agujeros, tres bocas, tres contenedores", und die Muchacho(s) sagen: „Abrirá la boca y desolará./Abrirá las bocas y tragará./Tres bocas, tres sacos de pus./Y una piel suavizada de esperma" (O: 212). In der folgenden Sequenz (17) erscheint Chantal dann als Predigerin, die sich an nicht näher gekennzeichnete „Compañeros" wendet (die Muchacho(s)T). Sie sagt u. a.: „[...] seguid jugando a ser salvajes. Sois la Sal de la Tierra: ¿cómo podéis contentaros con una parodia de la rebeldía? ¿Para cuándo la actuación completa? ¿Qué esperáis? ¿Otra vida?" (O: 213). Ist mit „parodia de la rebeldía" das Martyrium gemeint? 784 Die Didaskalie lautet: „[...] una tribu que no es ninguna. [...] Ellos mismos son hombres invisibles. Silenciosos. Desérticos. [...] Todos chicos. Su texto está, en principio, despersonalizado. Un grupo sin individualidades textuales. Un texto puede ser dicho indiferentemente por uno u otro" (O: 193). 785 Aber um wessen Phantasievorstellung handelt es sich? Die von Chantal, Alex oder Max - oder die des Autors? Weitere Angaben im Verlauf des Textes könnten ebenfalls dahingehend ausgelegt werden, dass die Muchacho(s) auf einer anderen Fiktionsebene zu situieren sind als die Haupthandlung des Textes. So lautet eine Szenenanweisung: „En el coche, los MUCHACHOS PERDIDOS./Nadie les oye./Nadie les ve" (0:204). Ist die Szenenanweisung metaphorisch oder wörtlich zu verstehen? Ihr Auto ist zugleich ein Spielzeug von Alex: „ALEX juega con un coche teledirigido, reproducción exacta del coche de los MUCHACHOS" (O: 196) - Verweis darauf, dass auch die Muchacho(s) sein .Spielzeug', also seine Phantasiegestalten sind? 786 In der Didaskalie heißt es z. B.: „CHANTAL Y ORLEANS podrían ser la misma actriz. Sería igulamente aceptable que fuesen actrices distintas. O una joven y una niña. Quizá también una joven y una adulta./Incluso es más admisible un off de la voz de ORLEANS en boca de CHANTAL, un doblaje./También una voz tan sólo, sin cuerpo, para ORLEANS./Pero la opción más real, a mi juicio, sería que los dos papeles fueran interpretados por dos actrices gemelas de una juventud magnética y con la niñez apagada" (O: 193). Doch ist Orléans nicht durchgängig mit Chantal verschmolzen. Am Ende des Texts erscheinen Chantal und Orléans beispielsweise als zwei getrennte Figuren, wenn die Szenenanweisung lautet: „CHANTAL muerta, en los brazos de ORLEANS" (O: 216).
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glaubte, die ihr den Weg wiesen.787 Der Sprecherangabe ,Orléans' sind nur an wenigen Stellen einzelne Wörter zugeordnet, die wie Überschriften wirken788 und Orléans als eine Art Spielleiterin erscheinen lassen, welche die Geschehnisse lenkt. An einer Stelle spielt Chantal indes mit einer sprechenden Puppe, deren mechanische Stimme der Orléans' ähnelt, so dass sich das Hierarchieverhältnis umkehrt.78' Orléans könnte auch nur eine Rollenfigur sein, denn immerhin ist Chantal Schauspielerin und spricht für die Rolle der Johanna aus Friedrich Schillers Die Jungfrau von Orleans vor.790 Diese 1800/1801 entstandene „romantische Tragödie in 5 Aufzügen" konzentriert sich vor allem auf die Diskrepanz zwischen Reinheit (des Ideals) und Unreinheit (der Welt), eine Idee, die auch in Orléans immer wieder anklingt. Es ist möglich, dass Chantal Orléans (und ihr Martyrium) nur als Rolle spielt. An vielen Stellen scheint sich Chantal auch mit einer Joggerin zu identifizieren, die Opfer eines Gewaltverbrechens wurde, wovon die Medien berichten.791 Die Joggerin, so wird in einer Didaskalie vermerkt, sieht wie Orléans aus.792 Angesichts dieser Ähnlichkeit und aufgrund der Tatsache, dass Orléans' Stimme Gewalt über Chantals Gedanken erlangt, drängt sich die Frage auf, ob Chantals Erlebnisse der Gewalt, die im Laufe des Textes beschrieben werden und die denen
787 So ist in einer Sequenz Orléans' Stimme zu hören, während sich Chantals Lippen bewegen ( 0 : 1 9 8 ) . Durch diese .Verdopplung' entsteht Unsicherheit darüber, wer spricht: Chantal oder die (fremde? eigene?) Stimme? 788 In Sequenz 7, 8, 9, 10 und 12 sagt sie jeweils zu Beginn „Percepción" (O: 200), „Reflexión" (O: 200), „Decisión" (O: 201), „Primer round" (O: 201) und „Knock Out" (O: 205). In Sequenz 14 spricht sie gegen Ende die Worte: „Una hoguera. ¡No! Un gajo de sandía enorme. La luna está roja esta noche" (O: 209). In Sequenz 15 und 16 sagt sie jeweils am Ende die Wörter „Prendimiento" (O: 211) und „Bautismo" (O: 212). 789 Die Didaskalie lautet: „CHANTAL juega con su muñeca: alguien con quien hablar. ORLEANS juega, CHANTAL: alguien en quien influir. El juguete tiene voz propia: un disco con mensajes infantiles grabados; parece la voz de ORLEANS. La ilusión del muñeco y el ventríloquo como dos hablantes distintos. ¿Qué es la ventriloquia sino la sincronía entre unos labios con voz y otros mudos? ¿Quién es el muñeco de quién?" (O: 209f.). 790 Schillers Jungfrau von Orleans thematisiert vor allem die Opferung des weiblichen Glücks. Zweimal zitiert Chantal Schillers Text, wobei die Referenz jeweils in einer Fußnote eigens vermerkt wird ( 0 : 196; 213). Der Boxer kommt später noch einmal auf Chantals Rolle zurück, wenn er fragt: „[...] quieres compartir conmigo el triunfo de un papel protagonista en el Teatro Nacional de la Consagración?" (O: 203). 791 Vgl. O: 199. Gracia Rubio gibt an, die Beschreibung beruhe auf einer Nachricht aus El País aus dem Jahr 1989 (O; 217) — hier liegt also eine direkte Verbindung zwischen der Fiktionsebene des Textes Orléans und der Realitätsebene des Rezipienten vor. 792 Die Didaskalie lautet: „En pantalla, la mujer del reportaje, intentando hacer footing, rehúye las cámaras. Su parecido con ORLEANS es rotundo" (O: 199). Das Opfer ist jedoch nicht identisch mit Chantal, denn es wird im Fernsehen als „una mujer católica de 28 años, graduada universitaria, bailarina de ballet, [...] ejecutivo en una firma de inversiones" beschrieben (O: 199).
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der Joggerin gleichen, echt, inszeniert oder nur phantasiert sind. Wird Chantals Martyrium als (eigene, phantasierte) Inszenierung angesehen, so bleibt unklar, ob sie damit Jeanne d'Arc oder die Joggerin imitiert. Doch sind Chantals Erlebnisse weder eine Wiederholung des Verbrechens noch des Mythos; vielmehr wirken sie wie deren Parodie. Jeanne d'Arc ist aber nicht nur eine Figur aus Schillers Theaterstück und eine Identifikationsmöglichkeit für Chantal, sie erscheint auch in den Träumen der Muchacho(s): Die Traumgestalten, von denen diese berichten, könnten alle drei einen Bezug zu Chantal haben, die als Kriegerin, Liebesgöttin und Königin erscheint.793 Am Ende des Textes wird Chantal selbst als „lider de los MUCHACHOS" bezeichnet (Realisierung des Traumes?); ihre Worte erklingen synchron zu denen der Muchacho(s), so dass die vorherigen Gegenspieler {Muchacho(s) als Peiniger vs. Chantal als Opfer) stimmlich miteinander verschmelzen. Sind die Muchacho(s) und Chantal auf einer Fiktionsebene situiert? Erfinden die Muchacho(s) Chantal oder erfindet Chantal die Muchacho(s)i Alle drei Möglichkeiten sind nicht ausgeschlossen. Mit den Beziehungen der Figuren zueinander werden auch die Anzahl und die Hierarchie der Fiktionsebenen fraglich. Da Chantal die Figur mit der größten Präsenz im Text ist, scheint es möglich, dass alle Kommunikationen ihrer Vorstellungswelt (Wunschwelt? Erinnerung?) entspringen. So sagt Chantal in der ersten Szene: La necesidad que tengo es narrar — depositar lo recordado — en unos oidos nuevos. Rehacer el pasado como ha sido segun mi recuerdo. (O: 195) Die Sprecherangabe zu dieser Replik sieht „Chantal/Juana de Arco" vor, also die Protagonistin und ihre Rolle, und es wird nicht deutlich, wem von beiden die Aussage zuzuordnen ist. Wird die Replik Chantal zugerechnet, ist es möglich, alle Kommunikationen des Textes als deren subjektive Erinnerungsfragmente aufzufassen; wird sie Juana de Arco zugerechnet, erscheint der gesamte Text als Fiktion. So unklar wie der Bezug der einzelnen Fiktionsebenen zueinander bleibt, so mehrdeutig ist auch die Zeitdimension des Textes. Laut einer Didaskalie ist er
793 Die Muchacho(s) erzählen von einem Traum, in dem eine Frau erscheint, die an Jeanne d'Arc erinnert: „La vi en un sueño. A caballo, una armadura de tiempos pasados. La misma confusión: es una niña" (O: 196). Ein weiterer Traum beinhaltet die Venus von Botticelli ( 0 : 204), ein dritter eine nicht näher charakterisierte „Reina del Cielo" (O: 211). Über die Sätze „Recuerdo que su aparición fue precedida de otro sueño" (O: 2 0 4 ) bzw. „AI final, la vi irse en un sueño distinto" (O: 211) sind die drei Träume miteinander verbunden.
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strikt chronologisch als Tagesablauf angelegt.794 Leitmotivisch durchzieht den Text zudem die Erwartung einer Mondfinsternis, die über das Radio angekündigt und wiederholt von Chantal erwähnt wird.795 Eine lineare Abfolge verbürgen ebenfalls die zahlreichen Anspielungen auf die kausallogisch miteinander verbundenen Stationen des Martyriums. 796 Einen Handlungsfaden bildet schließlich die unglückliche Liebesgeschichte zwischen Chantal und dem Boxer: Offensichtlich war Chantal eine Zeitlang fort gewesen und kann nun nicht mehr mit dem einstigen Geliebten zusammen sein. Eine Liebesszene zwischen ihnen wird mit „via crucis" betitelt ( 0 : 205). Wie jedoch die Liebesgeschichte mit Chantals Schauspielerei und ,Berufung' zusammenhängt, wird aus den hochlyrischen Erläuterungen nicht ersichtlich. Außerdem ist die Liebesgeschichte nur im mittleren Teil des Textes thematisiert und verleiht dem Text keinen durchgehenden Handlungsfaden. Trotz verbindender Strukturelemente ist das zeitliche Verhältnis der einzelnen Teile des Textes insgesamt unklar. Die erste Szene trägt die Überschrift „el recuerdo" und beinhaltet die Anweisung „Sola, tras el accidente al final de la obra" ( 0 : 195), welche die erste Sequenz als Epilog des gesamten Textes ausweist, obwohl diese von ihrer Position her aber eher ein Prolog ist. Ist der gesamte Text von Orléans damit eine Erinnerung, so dass alle Kommunikationen zeitlich vor der ersten Sequenz zu situieren wären?797 Oder handelt es sich um Phantasien, die zeitlich nach der ersten Sequenz liegen? Ist das zentrale Ereignis des Textes Chantals
794 Vgl. die Didaskalie „Todas las secuencias se suceden. El clima avanza con la noche. Desde el anochecer al amanecer" (O: 194). Vgl. auch Verweise im Text: Offensichtlich haben die Szenen 3 (das Vorsprechen) und, 1 Obis' am gleichen Tag stattgefunden, denn Chantal erinnert sich in der späteren Szene daran ( 0 : 203). 795 Vgl. die Erwähnungen der Mondfinsternis in einer Szenenanweisung zu Beginn des Textes (0:194), im Radio ( 0 : 196), in Orléans Rede ( 0 : 209), in Chantals Beschreibung des Mondes ( 0 : 210) sowie in einer Bemerkung der Muchacho(s) während der Szene des Martyriums (O: 212). 796 Die Überschriften einiger Sequenzen lauten dementsprechend: „la decisión" (9), „una via crucis de cuatro estaciones" (12), „sangre, sudor y lágrimas, no por este orden" (13), „anuncio de la gloria" (14), „el prendimiento" (15), „el bautismo" (16; mit der Anmerkung „O la Pasión según Sarduy"), „el martirio" (19), in denen die Passion Christi anklingt. Vgl. vor allem die .Berufung' im Theater (0: 195f.), die mit Schillers Worten „Vete, y sobre la tierra da de mí testimonio" beginnt. Chantals Aussage: „Estoy preparada. Confórtame" (O: 203) erinnert an die biblische Szene in Getsemani. Auch spricht Chantal von „Resurrección" (O: 195). Uber den Namen des kubanischen Schriftstellers Severo Sarduy erfolgt ein Verweis auf eine ,neobarocke' Ästhetik des Disparaten. 797 Auch die zweite Sequenz scheint noch zu diesem Epilog zu gehören (vgl. die Überschrift „el recordatorio"). Sie ist überschrieben mit dem Wort „Irrealidad" und besteht aus einer einzigen Replik (O: 195) - Verweis auf Zeitlosigkeit nach einem tödlichen Unfall? In der die zweite Sequenz abschließenden Szenenanweisung heißt es: „Una Juana de Arco guerrera [...] muere abrasada en un accidente de coche" (O: 195) - das Ereignis am Ende des Textes wird hier vorweggenommen. Die Muchacho(s) singen in der zweiten Sequenz das gleiche Lied, das sie auch in der 19. Sequenz kurz vor dem Unfall singen (O: 216).
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Martyrium oder der Autounfall, an dessen Folge sie (angeblich) stirbt? Eine eindeutige logische Verbindung zwischen erster und letzter Sequenz ist nicht angedeutet. Die teilweise abrupten Übergänge zwischen den Sequenzen erinnern an filmische Schnitte, wobei vielfach Verbindungen über räumliche Kontiguität oder Assoziationen gebildet werden.798 Ein unmittelbar sichtbarer Bruch in der linearen zeitlichen Abfolge liegt nur in den beiden Simultansequenzen 10 und lObis vor, die sich widersprüchlich zueinander verhalten.799 Ist die eine real, die andere ein Wunsch? Die eine Erinnerung, die andere Realität? Oder sind beide auf der gleichen Fiktionsebene situiert? Der zeitliche Bruch ist logisch nicht auflösbar. Auch bei der Beschreibung thematischer Zusammenhänge und Leitdifferenzen des Textes gerät die Bedeutungskonstruktion ins Oszillieren. Der Titel und die beständigen Verweise auf Jeanne d'Arc lassen zunächst vermuten, dass der Gegenstand des Textes entweder die Heldentaten oder der tragische Tod der historischen (oder einer anderen, parallel zu ihr gestalteten) Person sind. Doch könnte Chantals Martyrium auch der Autounfall sein,800 an dessen Folgen sie stirbt. Immerhin ist Max derjenige, der ihn provoziert,801 und sein abschließender Kommentar ist identisch mit dem, den ein Vergewaltiger der Joggerin im Fernsehen über das Verbrechen macht: „Era algo que había que hacer. Fue divertido" (O: 2 0 0 ; vgl. Max' Worte O: 216). Aber stirbt Chantal? In einer Didaskalie heißt es, das Unfallopfer sei eine „Juana de Arco guerrera" (O: 195). Stirbt sie nur als Rollenfigur?
798 Die Sequenzen 7, 8 und 9 spielen z. B. im Badezimmer, wobei in der Ortsangabe jeweils ein anderes Detail erwähnt wird („el bano", „el water", „Gran ducha"; O: 200f.). In der neunten Sequenz wünscht sich Chantal, zu Eis zu werden, und die zehnte Sequenz beginnt damit, dass Max und Alex ein Lied über ein Herz aus Eis singen ( 0 : 202). 799 Die Sequenz lObis ist mit „simultànea" überschrieben und stellt offensichtlich eine Variante zu Sequenz 10 dar. Die Anfangsdialoge sind in beiden gleich. Während die erste Variante vorsieht, dass Max und Alex verschwinden, als Chantal und der Boxer sich küssen ( 0 : 202), bleiben sie in der anderen Variante auf der Bühne und sprechen mit Chantal ( 0 : 203). Während sich das Liebespaar in der ersten Variante auf eine lange Nacht vorbereitet, schickt sich der Boxer in der zweiten Variante an, die Nacht über allein auszuruhen, um fiir einen Kampf vorbereitet zu sein. 800 Die 19. Sequenz, in der der Unfall geschildert wird, trägt den Titel „el martirio" ( 0 : 2 1 6 ) . Der Autounfall könnte dann im Zusammenhang mit der Geschichte um Jeanne d'Arc als Scheiterhaufen interpretiert werden. Vgl. auch die Verweise auf die intensiv rote Farbe des Mondes, welcher zudem ein Zeichen der Jungfrau ist (vgl. Frenzel 1992a: 547): Als Orléans von der bevorstehenden Mondfinsternis redet, sagt sie: „Una hoguera. [...] La luna està roja està noche" ( 0 : 209); vgl. auch Chantals Worte, als sie feststellt, wie rot der Mond ist: „Una hoguera" ( 0 : 210). 801 Vgl. die Didaskalie: „MAX dirige el lanzamiento del Sol. Amanecer ràpido. CHANTAL, rodeada de chupas de cuero, es deslumbrada por el Sol y muere abrasada en un accidente de coche" ( 0 : 216).
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Eine wichtige Unterscheidung des Textes ist die zwischen Kindern und Erwachsenen. Die konstanten Verweise auf Peter Pan lassen vermuten, dass gerade Kindheit und Jugend idealisiert werden; dies trifft aber nur für einen Teil des Textes zu, denn die Jugendlichen (z. B. die Muchacho(s)) erscheinen vielfach als gewalttätig. Der Angriff auf die Joggerin wurde z. B. von Dreizehn- und Fünfzehnjährigen verübt ( 0 : 199).802 Aber auch die Erwachsenen erscheinen in schlechtem Licht: Der vierzigjährige Max lässt sich von dem Kind Alex sexuell befriedigen, nachdem er zuvor den Zynismus der Erwachsenen angeprangert hat ( 0 : 198). Der Text gibt also keine eindeutige Bewertung der beiden Lebensalter. Klare Bewertungen bestehen ebensowenig bezüglich des Martyriums und der Suche nach Reinheit.803 Die Eigen- und Fremdcharakterisierungen der Figuren sind zudem meist metaphorisch verrätselt und daher unauflöslich mehrdeutig. Der Kontext präzisiert sie ebensowenig wie die Didaskalien die Bezüge der Kommunikationen untereinander klären, da sie selbst durch verdunkelnde Metaphern gekennzeichnet sind.804 Viele Repliken sind versförmig angeordnet, was ihnen einen poetischen Charakter verleiht. Doch werden angesichts der lyrischen Sprache die Bezüge der Anschlusskommunikationen nicht klar, und oft kann nicht festgestellt werden, worauf sich die Figuren in ihren Dialogen beziehen. Eine der letzten Sequenzen ist mit „arenga" überschrieben und scheint zunächst die moralische Überhöhung der Geschichte darzustellen: Chantal kündet eine Endzeit an.805 Sie präzisiert jedoch nicht, wen sie meint, wenn sie von „Os buscan, es seguro" spricht. Wer sich hinter der 3. Person Plural verbirgt, bleibt im Dunkeln. Chantals Rede endet mit Worten, die weder eine klare Quintessenz des Vorgefallenen noch eine Handlungsanweisung darstellen: „Yo os digo: una generación entera surgirá por inseminación artificial, que nunca haya visto la cara de una mujer ni oído su voz" (O: 214). Mit dem Verweis auf künstliche Befruchtung spricht Chantal ein völlig neues Thema an und bringt statt einer Weiter-
802 Vgl. auch die Radiomeldung über die Festnahme von „cuatro adolescentes con edades comprendidas entre los 13 y 15 años, acusados de la violación y el asesinato de la joven china..." (O: 196). 803 Chantals Suche nach Reinheit stellt sich als Oxymoron der Suche nach Feuer und Eis dar. Ihre Unempfindlichkeit gegenüber der Liebe des Boxers drückt Chantal in folgendem Bild aus: „Mi corazón, un iceberg flotando en el mar de la cobardía. Tú, una lengua entre muchas que lame sus bordes. Que la pluma de un águila pase rozando una vez cada diez siglos un mundo de granito, y será una erosión mayor que tu lengua ardiendo en la nieve que soy, que tus besos" (O: 206). Immer wieder spricht Chantal auch von der Verwandlung ihres Körpers in Eis (O: 200; 201; 202). 804 Vgl. z. B. den Satz: „La noche que viene será un congelador abierto. Fin: nieve sobre las llamas" (O: 194). 805 Vgl. z. B. den Satz: „Dentro de unos días, unas horas la argamasa os cubrirá hasta la cintura. No habrá cementerio ni refugio para vosotros" (O: 213).
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fiihrung und logischen Schlussfolgerung der Grundgedanken des Textes unerwartet einen neuen Gedanken, ohne ihn mit dem Kontext zu verbinden. Leidensweg und Martyrium wirken dadurch ziel- und motivationslos. Der Text wirft die Frage nach der Grenze zwischen Spiel/Rolle und Ernst/ Authentizität auf. Offensichtlich sucht Chantal nach letzterem,806 doch verschwimmen die Grenzen zwischen Seinsbereichen, Bewertungen und Zeitabfolgen angesichts der Fülle von Fiktionsebenen und der Vagheit der Leitdifferenzen. Die Kommunikationsbeiträge lassen sich nicht zu einem kohärenten System zusammensetzen; die altbekannte Geschichte um Jeanne d'Are erscheint wie eine mögliche strukturierende Interpretationsfolie von Orléans, die jedoch so verzerrt wird, dass sie als intertextuelle Stütze nur sehr bedingt brauchbar ist.
4.3.2
A N G É L I C A L I D D E L L , TRÍPTICO DE LA AFLICCIÓN
O s lo ruego, aprended el nombre de todas las cosas porque inventaréis lo indecible. Y solo [sic] en lo indecible encontraréis la verdad. (OT: 129)
Ein eigener Zyklus mit dem Titel „Perfil" ist auf dem Festival Escena Contempóranea (III Festival alternativo de las artes escénicas, Madrid, 2 0 . 0 1 . - 2 3 . 0 2 . 2 0 0 3 ) Angélica Liddell gewidmet,807 in dessen Rahmen die Madrider Autorin und Schauspielerin drei Inszenierungen und eine acción vorstellt, eine Art ,szenische Installation'.808 Das Programmheft kündigt Liddell mit dem Satz an, sie sei „una de las autoras más inquietantes del panorama teatral actual" („Escena Contemporánea 2 0 0 3 " : 2 4 ) . Die Beunruhigung, von der die Rede ist, wird nicht allein durch die Themenwahl der Texte erzielt — handeln diese doch von Inzest, Tod, täglichem Terror in der Familie und der Unmöglichkeit menschlichen Glücks —; sie entsteht auch durch einen nahezu schizophren-kontrapunktischen Gebrauch visueller und sprachlicher Mittel, wie im Folgenden anhand des Tríptico de la
806 Vgl. Chantals Aussagen: „No quiero máscaras. Quiero ser pura" (O: 206); „[...] empiezo a ser yo misma" (O: 207); „No lucho: quiero mirarme en un espejo y que mi voz sea mi voz" (O: 209; ähnlich 210); „¿Cuándo podremos tener contacto con el propio corazón?"; „¡Qué lejos estamos de nosotros mismos!" (O: 214). 807 Zu Lebensdaten und Werdegang der 1966 in Figueres geborenen Angélica González Cano mit dem Künstlernamen Angélica Liddell vgl. Hormigón 2000: 388-392. Zum gesamten Tríptico vgl. de Francisco 2002, López Mozo 2003 und Víllora 2004. Liddell erhält den ersten „Premio Festival Escena Contemporánea - Casa de América de dramaturgia Innovadora 2002" mit dem Text Monólogo necesario para la extinción de Nubila Wahlheim y Extinción. Vgl. Caruana 2003: 97. 808 Zur Ästhetik der Installation allgemein vgl. Rebentisch 2003.
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Aflicción verdeutlicht werden soll.809 Von der Grundstruktur her sind die drei Texte ähnlich: Sie weisen eine dramatische Geschichte im traditionellen Sinne mit Konflikt und Lösung auf. SI entstehen vor allem im Wechselspiel zwischen sprachlichem Text und szenischen Mitteln, durch das inkompatible Konnotationen erzeugt werden.
Das Triptychon
Der Name des Werkes versteht sich als Anspielung auf die christliche Ikonografie: „Es un tríptico a la manera de las tablas medievales, con historias de martirio y sufrimiento", erläutert die Autorin („Tríptico": 4). Im Zentrum steht die Institution Familie „como territorio de la aflicción" (Programmheft „Escena Contemporánea 2003": 24), die für Liddell den Grundwiderspruch erzwungener Liebe verkörpert: Ein eigentlich spontanes Gefühl werde im familiären Kontext zwanghaft eingefordert, weshalb die Familie Monster hervorbringe.810 Diese präsentiert Liddell in ihrem Tríptico. Der erste Teil trägt den Titel El matrimonio Palavraki?n und handelt von Elsa und Mateo, die beide auf eine unglückliche Kindheit mit gewalttätigen und inzestuösen Eltern zurückblicken. Als sie einen Tanzwettbewerb verlieren, zeugen sie ihre Tochter Chloé auf einem Friedhof und heiraten, doch ist ihre Ehe ebenfalls von Gewalt, Hass und Inzest geprägt. Chloé, eine Kinder-Schönheitskönigin, wird mit sieben Jahren von ihrem Vater ermordet. Nach ihrem Tod wird das Eheleben gespenstisch: Elsa strickt für ihre Hündchen Anzüge, und Mateo stellt Schulmädchen nach. Nachdem das Ehepaar endlich doch den Tanzwettbewerb gewonnen hat, verunglückt es bei einem Verkehrsunfall tödlich.
Im zweiten Teil, Once upon a time in West Asphixia o Hijos mirando al
infierno,812 lernen sich zwei Mädchen, Rebeca und Natacha, bei der Beerdigung 809 Zu Liddells Tríptico auf dem Festival Alternativo 2003 vgl. auch de Francisco 2003a. 810 Liddell erläutert: „[...] en la familia amamos pero también estamos obligados a amar. Esto último origina relaciones tenebrosas, desquiciadas, que desembocan en camuflajes dolorosos" („Tríptico": 4). Zu einer Darstellung der drei Texte unter dem Aspekt des Monsters vgl. Hartwig 2003d; 2005. 811 Die Uraufführung erfolgt am 22. Februar 2001 im Rahmen des Festivals Escena Contemporánea in der Sala Pradillo (Madrid). Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf diese Aufführung. Darsteller: Gumersindo Puche, Angélica González; Stimme im Off: Concha Guerrero; Regie, Bühnenbild und Kostüm: Angélica González; Beleuchtung: Oscar Villegas; Ton: José Carreiro; Fotografie: Jaime Ortin. Produktion: Atra bilis teatro. Dauer: lh 30 min. Zu El matrimonio Palavrakis im Kontext des Festival alternativo 2001 (Madrid) vgl. Hartwig 2002a und Hartwig 2003a. 812 Die Uraufführung fand am 19. September 2002 in der Sala Pradillo (Madrid) statt. Darsteller: Gumersindo Puche, Angélica González, Leonardo Fuentes; Videodarsteller: Elisa Sanz, Jesús Barranco, Alvaro Alcalde, Mateo Feijóo, Pilar Blasco; Bühnenbild: Angélica González; Kostüm: Gabriela Hilario; Licht: Oscar Villegas; Ton: José Carreiro; Video: Salva Martínez; Regie: Angélica González; Produktion: Atra bilis teatro. Dauer: lh 15 min.
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ihres Schulkameraden Simón kennen. Dieser hat seine Eltern getötet und beging anschließend Selbstmord. Ihn verehren die Mädchen wie einen Schutzpatron, wobei sie sich immer mehr in sozial unangepasste Menschen verwandeln, die mit Grausamkeiten gegen die Grausamkeiten der Erwachsenenwelt rebellieren, und deren Gedankenwelt an Wahnsinn grenzt. Ihr Verhalten beeinflusst auch die Menschen in ihrer Umgebung.813 Rebeca und Natacha verwandeln sich schließlich in Prophetinnen einer neuen Ethik und planen schreckliche Taten. Als Rebecas Eltern tödlich verunglücken, ziehen sie zusammen und versuchen, auch Natachas Stiefeltern zu töten. Doch die Mutter überlebt, und die Mädchen erhängen sich vor der Mauer des örtlichen Irrenhauses. Im letzten Teil der Trilogie, Hysterica Passio,su erzählt der Protagonist Hipólito, wie sich seine beiden Eltern, die Krankenschwester Thora und der Zahnarzt Senderovich, kennenlernten und ihn zeugten. Thora steht unter dem Einfluss ihrer verhassten Mutter, ist in ihrer Ehe sexuell frustriert und misshandelt ihr Kind; Senderovich widmet sich der Gartenpflege und hat überzogen hohe moralische, stark religiös gefärbte Ansprüche an die Familienmitglieder. Nach der Beerdigung von Thoras Mutter werden im Garten des Ehepaares plötzlich vom Wind zwei Leichen freigelegt: Thora erkennt, dass ihr Ehemann der Mörder seiner vorherigen Frau und seiner Tochter ist. Offensichtlich fasziniert davon, gibt sie sich von nun an ganz ihren sexuellen Phantasien mit Senderovich hin, wobei Hipólito zum Zeugen und zum Instrument perverser Handlungen wird. Mit zwölf Jahren rächt er sich, indem er seine Mutter eifersüchtig macht, so dass diese den Vater bei der Polizei denunziert. Senderovich erhängt sich, die Mutter endet im Gefängnis. Eine zentrale Gemeinsamkeit der drei Texte ist die Präsentation monströser Menschen. Auch sind Teile des Triptychons über die Altersstufen der Opfer zeitlich aufeinander bezogen (Kindheit, Jugend, Adoleszenz)815 und über rekurrente Themen miteinander verklammert: Todessehnsucht und Todesverfallenheit der 813 Sie verfuhren ihren Lehrer, verunsichern einen Psychiater, spielen mit Simóns Großmutter und einem Schulkameraden namens Jonas; alle diese Menschen fühlen sich von der Lebendigkeit der Mädchen angezogen und werden von deren Schamlosigkeit und Grausamkeit allmählich destabilisiert. 814 D a s Stück wird am 22. Februar 2 0 0 3 im Rahmen des Festivals Escena Contemporánea in der Sala Pradillo (Madrid) uraufgeführt. Darsteller: Leonardo Fuentes, Gumersindo Puche, Angélica González; Bühnenbild und Kostüm: Angélica González; Licht: Oscar Villegas; Ton: José Carreiro, Regie: Angélica González; Produktion: Atra bilis teatro. Dauer: l h 45 min. 815 Liddell erläutert, der erste Teil stelle die „infancia masacrada" dar, der zweite „la adolescencia como un territorio sensible y sembrado de inteligencia", der letzte schließlich die „figura del superviviente" (vgl. „Tríptico": 12). Im Mittelpunkt aller drei Texte stehen also Kinder. Während die Hauptdarstellerin des ersten Teils, Chloé, in keinem M o m e n t in persona erscheint oder spricht, ist im zweiten Teil das Verhältnis zwischen dem Text der Kinder und dem der Erwachsenen ausgewogen; der dritte Teil schließlich rückt textlich das Kind in den Mittelpunkt.
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Protagonisten zeigen sich vor allem im ersten und im letzten, die Faszination des Wahnsinns nur im mittleren Teil.816 Das Thema .Religion wird nur im zweiten und dritten Teil relevant. Auf dem Festival 2003 leitet Liddell die Trilogie mit einer acción ein, die den Titel Lesiones incompatibles con la vida (L.I.C.L. V) trägt,817 und in der sich plastische Kunst, Performance und ein gesprochener Text mit autobiographischen Anklängen mischen. Zu Beginn sitzt die Künstlerin an einer der schmalen Wände eines rechteckigen Saales, ist nur von einer groben braunen Wolldecke umhüllt und wird von einem Spot angeleuchtet. Sie trägt eine Maske vor dem Gesicht, die ein vergrößerter Ausschnitt ihres eigenen Kindergesichtes ist, das auch auf dem Schwarz-Weiß-Familienfoto erscheint, welches im Zentrum aller im Verlauf der acción gezeigten Diapositive steht.818 Ihre Füße stecken in quaderförmigen Zementblöcken. Um sie herum sind Sand und einige bunte Plastikfiguren aufgebaut. In der Mitte des Raumes befinden sich Objekte, die an eine Baustelle erinnern: Eimer mit angetrockneter weißer Farbe, Schachteln, Zementsäcke, Staub, außerdem ein Trolleywagen, wie man ihn zum Einkaufen benutzt. Die acción hat eine zeitliche Erstreckung: Links auf die Wand werden nacheinander Diapositive projiziert, zu denen über Lautsprecher ein von Liddell gesprochener Text ertönt, der mit den Sätzen beginnt: „A los hijos que no voy a tener./No quiero tener hijos", die alle weiteren Sätze kommentieren und untermauern.819 Außerdem bewegt sich die Künstlerin kontinuierlich aus ihrer Position rechts an der Wand immer weiter nach links, Sand und Kieselsteine verstreuend, wobei ihr der Spot nicht folgt. Als sie etwa in der Mitte der Wand angelangt ist, schreibt Liddells Partner
816 In Once upon a time wird den Mädchen von den Zeugen wiederholt Wahnsinn attestiert, ihr Lieblingsplatz ist die Mauer der Psychiatrie. Im ersten und letzten Teil des Tríptico sind ein Friedhof bzw. ein Grab, im mitderen Teil ein Irrenhaus ständig präsenter Bezugspunkt der Handlungen. Entsprechend sind Hauptbezugsfelder von El matrimonio und Hysterica Passio der Tod, von Once upon a time der Wahnsinn. 817 Ort: La Casa Encendida (Madrid), 15. Februar 2003; Dauer: ca. 30 min. Der Kommentar lautet: ,Antes de presentar el tríptico, la autora nos invita a un recorrido fotográfico y confesional que profundiza en la derrota de la perpetuación. Ya no hay personajes, ni ficción" (Programmheft „Escena Contemporánea 2003": 24). Die acción ist, so Liddell, „la filactería que remata el Tríptico", „la firma bajo los pies de los vencidos" („Tríptico": 13). Der Text liegt bislang nur in Manuskriptform vor. 818 Links ist der Vater zu sehen, in der Mitte die Künstlerin im Alter von etwa fünf Jahren und rechts die Mutter; keiner lächelt. 819 Die Begründung der Entscheidung gegen Kinder liegt in der Familie und im desolaten Zustand der Welt. Die letzten beiden Sätze lauten: „Siempre está a punto de empezar una guerra./El mundo es maravilloso." Viele Wörter, Sätze und Gedanken werden dabei mehrfach wiederholt, so dass der Text insgesamt wie ein ,Thema mit Variationen, fast wie eine Litanei wirkt. Der in der 1. Person Singular verfasste Text enthält zahlreiche Selbstanklagen und Ausdrücke von Schmerz. Die Sprecherin bezeichnet sich als gescheiterte Hoffnung der Eltern. Immer wieder bricht aber auch vitale Selbstbehauptung durch.
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auf die Zementsteine an ihren Füßen einen Kommentar. Der Stift wird durch die Zuschauerreihen weitergereicht, so dass jeder, der möchte, einen Kommentar hinzufügen kann. Die Dias zeigen das Familienfoto Liddells in heterogenen Kontexten.820 Auf dem letzten erscheint eine junge Frau, die das nunmehr eingerahmte Foto vor einem weihnachtlich geschmückten Kaufhaus Corte Inglés präsentiert. Nur an dieser Stelle ertönt Musik, „What a wonderful world", gesungen von Louis Armstrong. Da Liddell eine Fotografie von sich selbst als fünfjährigem Kind zum Zentrum der acción macht, wird ihre eigene Geschichte zum Kunstobjekt, so dass die Grenze zwischen Realität und Fiktion verschwimmt.821 Ästhetik des Widerspruchs Die Bühnenbilder des Triptychon erinnern jeweils an Installationen plastischer Kunst mit eigenständiger Bedeutung auch jenseits des Sprechtextes. In El matrimonio ist eine rechteckige Spielfläche mit Gliedmaßen und Köpfen von Plastikpuppen ausgefüllt. Alle weiteren Elemente der Bühne verweisen auf eine Spielwelt und auf einen Kindergeburtstag: eine Schaukel, Tischchen mit bunten Süßigkeiten, später auch Luftballons, Plüschtiere und Spielautos. Auch Once upon a time erscheint auf den ersten Blick wie ein Kinderzimmer: Auf der Bühne stehen ein Westernfort aus Plastik, Indianer- und Cowboy-Figuren sowie ein Steckenpferd.822 Die Spielfläche ist mit Kreide eingegrenzt wie bei einem Kinderspiel; unter dem weißen Strich steht als Endlossatz immer wieder der Stücktitel. Vom Schnürboden hängen allerdings mehrere Dutzend Teddybären an roten Bändern herab, die wie Erhängte wirken, und an der Hinterwand baumeln zwei Bären an allen Vieren. Weniger kontrastreich präsentiert sich schließlich das Bühnenbild in Hysterica Passio. Es enthält zahlreiche Elemente, die auf das Weihnachtsfest verweisen.823 Rechts hinten in der Ecke sieht man eine Kerze und einen Grabhügel.
820 Am Anfang erscheint es an verschiedenen Orten einer Wohnung (auf dem Frühstückstisch, im Kühlschrank, vor Wandpostern, unter einem Anti-Kakerlaken-Spray, neben einem marmeladenverschmierten Streichmesser), dann an unterschiedlichen Orten in der Stadt (bisweilen ist Madrid eindeutig identifizierbar). U. a. wird es neben Schilder gehalten („Prohibido fijar carteles", „Alta tensión, peligro de muerte", ein Baustellenzeichen), vor einen Briefkasten (unter der Aufschrift „otros destinos"), vor ein Werbefoto, welches das Bühnenbild eines klassischen Theaterstückes zeigt, in einen Mülleimer. Am Ende liegt es auf verschiedenen Grabsteinen (vor Schriftzügen wie „La familia de", „Propiedad de", „No olvidamos"). 821 So sagt die Künstlerin selbst: „Y yo siento cada vez más deseos de mostrarme como ejemplo de miseria humana, deseo que mi proyecto sea mi propia catástrofe vital" (Liddell 2002d: 135). 822 Natacha und Rebeca tragen passend dazu Federschmuck, Cowboyhüte und -Stiefel. 823 Gleich als der Zuschauer den Saal betritt, tönen ihm metallene Klänge von Jingle bells und We wish you a merry Christmas entgegen. Vorne links stehen eine Herdplatte, Kerzen und aufziehbare Weihnachtsmänner aus Plastik, hinten links ein Kühlschrank und ein beleuchteter Küchenschrank, und dazwischen ist ein Heer von weiteren Weihnachtsmännern aus Plastik zu sehen. Von der Decke hängen weihnachtliche Lichtgirlanden. Hipólito trägt Kleidungsstücke
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In der Mitte der Bühne befindet sich ein großer Kreis aus weißem Pulver, in welchem Thora und Senderovich stehen, ganz in weite schwarze Gewänder gekleidet, die über rote, mit Christbaumkugeln versehene Girlanden am Schnürboden befestigt sind; sie werden wie Jahrmarktsattraktionen den Blicken des Zuschauers dargeboten: Der Kreis erinnert an eine Zirkusmanege.824 Immer wieder erklingende Jahrmarktsmusik unterstreicht die Atmosphäre von Budenzauber. Eine Herdplatte und ein Kühlschrank verweisen auf das Heim der Familie, ein Grabhügel lässt die Bühnenhandlungen sub specie mortis ablaufen. In allen drei Auffiihrungen erfolgt die Störung eines harmlosen, eher positiv konnotierten Kontextes durch Elemente, die entgegengesetzte Konnotationen hervorrufen. Die bunte, an einen Kindergeburtstag erinnernde Bühne von El matrimonio erscheint auch als Schlachthof, das Spielzimmer mit Wild-WestThematik aus Once upon a time ist ein immenser Galgen825 und der Jahrmarkt in Hysterica Passio zugleich eine Gräberstätte, welche an die mörderische Seite aller Familienmitglieder gemahnt.826 Im Verlauf der Auffiihrungen werden wiederholt widersprüchliche Konnotationen erzeugt. Als z. B. in El matrimonio Mateos schreckliche Kindheitsgeschichte über einen Lautsprecher erzählt wird, wirft Elsa Konfetti und Luftschlangen ins Publikum; als Elsas nicht weniger furchtbare Geschichte an der Reihe ist, brennt Mateo Wunderkerzen ab.827 Once upon a time beginnt mit einem Gebet an
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in den Farben des Weihnachtsmannes, jedoch wirkt er wie dessen groteske Verzerrung. Er hat den entblößten Oberkörper mit Mullbinden umwickelt und trägt ein langes, nach unten weitschwingendes rotes Kleid, an dem Christbaumkugeln und rote Luftballons befestigt sind (die Hipólito gleich zu Beginn zersticht). Seine Augen sind schwarz umrandet, und er hat eine Glatze. Liddell spricht von einer „parodia de Papá Noel" („Tríptico": 11). Damit verweist das Bühnenbild auf Ophüls' Film La vie extraordinaire de Lola Montés (1955), auf den Liddell in ihrem Presse-Informationsblatt explizit hinweist. Liddell erklärt, Hipólito erzähle seine Geschichte „desde la bella sordidez de la feria, escaparate universal de los monstruos" auf der Suche nach einer Erklärung „que le permita seguir viviendo junto a su cuerpo masacrado por las heridas" („Tríptico": 11). Die Beziehung zwischen Hysterica Passio und Max Ophüls' Film liegt vor allem in dem Ambiente des Zirkus, welcher die Menschen wie Attraktionen ausstellt (vgl. zu dem Film Bongers 2000: 138). Der Kreidestrich, welcher um die Spielfläche in Once upon a time verläuft, ist analog zu den Kreidestrichen zu sehen, mit denen Umrisse ermordeter Personen auf den Boden gezeichnet werden (an einer Stelle der Aufführung zieht Natacha entsprechend einen Kreidestrich um die am Boden wie leblos daliegende Rebeca); Spielfläche und Leichen werden dadurch parallelisiert. Liddell weist explizit darauf hin: „Un escenario delimitado con tiza, con la misma tiza que se emplea para delimitar la silueta de los cadáveres, remata la atmósfera asfixiante" („Tríptico": 9). Thora erläutert ihrem Sohn: „[...] mientras seas un niño tendrás asegurado el cobijo", und Hipólito erwidert: „¡Un cobijo! ¿Cómo este cementerio?" {HP: 156). An einer anderen Stelle ist über Lautsprecher die Unterhaltung zweier Kinder über menschenfressende Erwachsene zu hören; derweil stecken sich Mateo und Elsa auf der Bühne herumliegende Puppenteile in Unterhose und Strümpfe, hüpfen hin und her, spielen ,Pferd und
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einen Elternmörder, wozu Westernmusik erklingt.828 An anderer Stelle spielt Natacha mit einer Barbiepuppe, deren Hosen heruntergelassen sind, so dass sie zugleich an eine Kinderwelt und an Pornographie denken lässt. In Hysterica Passio erklingt zwischen Sequenzen, in denen von Untaten in der Familie berichtet wird, Jahrmarktsmusik.829 Die Weihnachtsmänner verweisen auf das Fest der Liebe und des Friedens, die Handlung des Stückes ist indes eine Zeremonie des Hasses.830 Solch alptraumhaft mehrdeutige Bilder erzeugen eine gespannte Atmosphäre. In allen Texten ästhetisiert Musik mehrfach Wahrnehmungsangebote, die eher abstoßend sind. Am Ende von El matrimonio etwa steht Mateo nackt in der Bühnenmitte, und Elsa bestreicht seinen Penis mit Tortencreme, während das „Halleluja" aus Händeis Messias ertönt. In Once upon a time werden Fallgeschichten von wahnsinnigen Menschen zum Klang eines Cembalos über Lautsprecher berichtet,831 in Hysterica Passio Thoras Leiden in der Ehe zu Menuettmusik erzählt.832 Die Inkongruenz der Elemente der Sprechsituation ruft widersprüchliche Gefühle hervor. Zur Asthetisierung des Bühnentextes trägt auch die Sprache bei: Immer wieder fallen die Figuren in rhythmisches Sprechen, erzeugen Echoeffekte durch Wiederholungen von Syntagmen und ganzen Sätzen sowie durch kehrreimartige Satzanfänge oder -schlüsse. Lyrische Momente und poetische Bilder bilden einen
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Reiter und .Schubkarre' miteinander, jagen sich und bewerfen sich ausgelassen mit den Puppenteilen: Antropophagie neben heiterem Kinderspiel. Es handelt sich um die berühmte Filmmusik zu dem Western C'era una volta el tuest (Italien/ USA 1969) unter der Regie von Sergio Leone. Uber Hysterica Passio schreibt die Autorin: „[...] nace de un circo y de un coro griego, como si la Lola Montes de Max Ophüls y el Hipólito de Eurípides hubieran fornicado imitando a las fieras del día de Navidad" („Tríptico": 12). Entsprechend steht links auf der Bühne ein Topf auf einer tragbaren Herdplatte mit überkochender Milch, in der ein Weihnachtsmann liegt: .Babynahrung' und ,Tod durch Ertrinken' sind hier die naheliegenden inkompatiblen Kontexte. Liddell hat genau diesen Effekt angestrebt: „La iconografía navideña queda pervertida a cada instante. Los motivos navideños sirven de contrapunto sangriento a la dureza de las relaciones" („Tríptico": 12). Liddell sagt über ihre Ästhetik allgemein: „Lo que yo busco son oposiciones. Quiero que las cosas tengan potencia porque contrastan con otras cosas [...] las tensiones escénicas las encuentras en los contrarios. Me refiero a una imagen absolutamente... lírica con una frase absolutamente cruel" („Entrevista"). Natacha stützt ihre Arme auf die Teddybären, die an allen Vieren vom Schnürboden baumeln, während Rebeca ihr zu jeder neuen Krankengeschichte eine neue Maske aufsetzt (die letzte ist ein Totenkopf) und in der Zwischenzeit das Füllmaterial aus einem Teddybären herausrupft. Die Geschichten der internierten Verrückten sind hochverschlüsselte Metaphern fiir tiefes inneres Leid. Vgl. auch in Hysterica Passio die Marsch- oder Tanzmusik, welche die leidenden Figuren zu Jahrmarktsfiguren macht, oder die Orgelmusik (Bachs Toccata und Fuge), welche dem monströsen Geschehen eine sakrale Überhöhung verleiht.
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Kontrapunkt zu den Berichten von Gewalt und Perversion.833 Immer wieder taucht indes auch vulgäres und pornographisches Vokabular auf, so dass die gewählte Stillage nicht einheitlich ist.834 Alle drei Geschichten werden aus der Retrospektive geschildert, nur die erste indes mit chronologischen Umstellungen. In El matrimonio ist die Erzählerin anonym, ihre Stimme ertönt über einen Lautsprecher;835 in Once upon a time berichten unterschiedliche .Zeugen über einen Fernsehbildschirm nach Art eines Dokumentarfilms;836 in Hysterica Passio schließlich gibt der körperlich präsente Erzähler Hipólito eine Art Lebensbeichte. Die Verquickung des Erzählers mit dem Erzählten wird also immer enger: Spricht in El matrimonio noch eine außenstehende Instanz, werden in Once upon a time Personen befragt, die in die Ereignisse involviert waren; in Hysterica Passio redet dann jemand, der im Mittelpunkt seiner eigenen Geschichten steht.837 Alle Kommunikationen auf der Bühne hängen damit von einer Perspektive ab, die von Text zu Text subjektiver wird. Unklar bleibt dabei, ob das Dargestellte eine Erinnerung des Erzählers ist, die er so objektiv wie möglich darstellt, oder ob es sich um eine subjektive Rekonstruktion von phantasievoll rearrangierten Ereignissen handelt. Die Texte oszillieren damit beständig zwischen der Darstellung einer inneren und einer äußeren Welt.838 833 Dies ist der Fall besondern in Once upon a time, wohl weil dies der einzige der Texte ist, der explizit von Liebe (wenn auch in pervertierter Form) handelt. Ein poetischer Höhepunkt liegt in den Briefen, die Natacha und Rebeca sich schreiben. Zu Menuettmusik und einem Oberlicht, das lange Schatten erzeugt, stellt Rebeca Popcorn her - dessen süßer Duft den Saal durchzieht - , welches sie in rote Briefumschläge fiillt. Diese wirft sie in eine Ecke der Bühne, wo Natacha sie auffangt und das Popcorn wie Schnee über ihren Kopf rieseln lässt. Vgl. auch die Evokation magischer Begebenheiten, etwa des seltsamen Windes in El matrimonio nach Chloés Tod oder des unsichtbaren Zuges in Once upon a time. Liddell kommentiert: „La locura es ese lugar en el que se convoca lo terrible y lo mágico" („Tríptico": 10). 834 Die Texte enthalten viele Beschreibungen vulgärer oder brutaler Szenen, etwa des Selbstmordversuches des Kindes in El matrimonio, der Ermordung der Stiefeltern in Once upon a time oder der Sexspiele der Eheleute in Hysterica Passio. 835 Sie stellt oftmals (z. T. rhetorische) Fragen, gibt wertende Kommentare, erläutert die verschiedenen Zeitsprünge und schafft Kohärenz zwischen den Einzelszenen. 836 Liddell erläutert: „[Once upon a time] se rige por las leyes del falso documental. Un caleidoscopio de opiniones se congrega para explicar, o al menos intentar esclarecer, el comportamiento de las niñas asesinas [...]" („Tríptico": 9). Interviewt werden Natachas Mutter, ein Lehrer, der Psychiater, ein Schulfreund der Mädchen sowie Simóns Großmutter. 837 Der Titel des Textes wird in El matrimonio auf einer kleinen Leinwand, in Once upon a time auf einem Fernsehbildschirm zu Beginn eingeblendet. Hysterica Passio beginnt mit dem Satz: „Os voy a contar un cuento de Navidad" (HP: 135). Der Standpunkt der Erzähler ist ungewiss; auch bleibt unklar, aus welchem Zeitabstand heraus erzählt wird. Damit erhalten die Texte einen zeitlosen Aspekt. 838 Besonders in Hysterica Passio mischen sich die Zeitebene des Erzählens und die Zeitebene der Erzählung, da Hipólito mehrfach in seiner eigenen Erzählung mitspielt. Für den Rezipienten ist es an diesen Stellen unmöglich, die Handlungen auf der Bühne Hipólitos Innen- oder Außenwelt zuzuordnen.
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Jeweils am Ende der Texte erfolgt ein Illusionsbruch. In El matrimonio wirft Elsa die Photos ihres Ehemannes ins Publikum und fotografiert dann die Zuschauer; in Once upon a time verstreut der weiß gekleidete Simón Bonbons, und in Hysterica Passio zielt Senderovich mit einer Sektflasche auf einzelne Personen im Publikum, als gebrauche er eine Waffe. Der Zuschauer wird als voyeur zu einem Element des Stückes, wodurch die Trennlinie zwischen zwei Seinsbereichen (Wirklichkeit und Spiel) aufgehoben wird.839 Der zeitliche Ablauf aller drei Texte ist im Großen und Ganzen systematisch konstruierbar. Die Erzählungen halten sich zwar nicht immer streng an die Chronologie, erläutern aber explizit die zeitlichen Zusammenhänge zwischen den meisten Einzelepisoden. Dennoch entstehen auf der Bühne wiederholt mehrdeutige Bilder, deren Zusammenhang mit der linearen Geschichte über die Erzeugung einer diffusen albtraumartigen Atmosphäre nicht hinauszugehen scheint. Once upon a time beginnt beispielsweise damit, dass Simón, der ganz in weiße Laken gewickelt ist und einen roten Schal trägt, ein Spielzeugpferd aufzieht und vorne am Rand der Bühne endanglaufen lässt. Während sich das Pferd, mechanisch wiehernd, roboterartig vorwärts bewegt, verfolgt Simón es mit dem Lauf einer Pistole. Das Spielzeugtier fällt mehrfach um, und Simón richtet es jedes Mal wieder auf. Am Ende nähert er sich ihm jedoch mit der Pistole: Wie ein auf den Rücken gefallener Käfer schlägt das Plastiktier mit den Hufen in die Luft. Schließlich setzt Simón sich auf einen Stuhl an den rechten Bühnenrand, legt das Pferd wie ein Kind auf seinen Schoß und faltet die Hände darüber. Die gesamte Sequenz ist im Kontext auf sehr unterschiedliche Weise interpretierbar, je nachdem, wie das Spielzeug symbolisch gedeutet und welche Rolle Simón zugewiesen wird. Ein dem Zeitfluss enthobenes, mehrdeutiges Element stellen die Kostüme der Figuren dar, welche nur in Once upon a time einmal gewechselt werden. Elsa und Mateo tragen in El matrimonio die gesamte Zeit über die frivole Kleidung des Tanzwettbewerbes.840 Diese bildet wiederholt einen starken Kontrast zu den berichteten Geschehnissen (z. B. zur schrecklichen Kindheit, zur Desillusion der Ehe oder zum Tod des Kindes) und verweist zugleich auf die Lebensgier zweier Figuren, die ständig vom Tod reden. In Once upon a time zeigt die leichte Bekleidung der beiden Kinder in der ersten Hälfte des Stückes ihren Status als Lolitas an, während der Kleidungswechsel in der zweiten Hälfte ihre Verwandlung in Pro-
839 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die vergleichende Darstellung der Nutzung des Zuschauerblicks in verschiedenen Inszenierungen des Gegenwartstheaters in Hartwig 2003a. Die Monster werden zu dem, was sie sind, weil der Zuschauer sie als Monster anstarrt. 840 Auf diese Weise entsteht ein Verweis darauf, dass die Geschichte der Ehe nach einem solchen Wettbewerb beginnt (Elsa und Mateo zeugen ihr Kind und heiraten) und nach einem solchen endet (sie verunglücken tödlich). Elsa trägt einen weißen BH, ein blaues Ballettröckchen und schwarze Netzstrümpfe, Mateo einen Anzug.
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phetinnen verdeutlicht; stets wird die Spannung zwischen Kind und Erwachsenem deudich;841 da die Kleidung immer auch wie die Verkleidung eines Kinderspiels wirkt, wird beständig der Ernst der Darstellung in Frage gestellt. Thora und Senderovich erscheinen schließlich in Hysterica Passio wie eine Mischung aus Drakula und Jahrmarktsfigur, so dass die Wahrnehmung zwischen dem unheimlichen und dem grotesken Aspekt der Figuren oszillieren kann.842 Die Farbe Schwarz legt zudem den Gedanken nahe, dass beide sich permanent auf einer Beerdigung befinden - selbst (oder gerade) bei der Schilderung ihrer Hochzeit.843 Die allen drei Texten zugrunde liegende übergreifende Thematik wird unmittelbar veranschaulicht: Horrorszenarien aus dem Bereich des familiären Zusammenlebens. Die Familie wird anhand elementarer Leitdifferenzen wie gut vs. böse, glücklich vs. unglücklich und normal vs. pervertiert/monströs beurteilt. Doch neigen diese scheinbar klaren Gegensatzpaare zur Auflösung, weil die Unterschiede zwischen ihnen eingeebnet werden, denn in jedem Text wird auf eine Pervertierung der Sprache hingewiesen, die Antonyme wie Synonyme benutze. Vor allem ein zentrales Wort der Texte, Liebe, wird mit Konnotationen versehen, die es mit Hass zusammenfallen lassen.844 Die Liebesbeziehungen, die in El matrimonio und Once upon a time beschrieben werden, beginnen beispielsweise auf einem Friedhof (Elsa und Mateo bzw. Natacha und Rebeca), enden im Tod (Unfall bzw. Selbstmord) und sind von Schmerz und Gefühllosigkeit geprägt. In El matrimonio und Hysterica Passio werden zudem Leben und Tod explizit gleichgesetzt.845 Begründet wird dies an einigen Stellen damit, dass es keine Alternative zum Tod gibt.
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Die Mädchen haben z. B. als Lolitas kindliche Zöpfe, tragen aber auch aufreizend knappe Kleidung; als Prophetinnen erscheinen sie in Priesterkostümen mit Wasserpistolen am Gürtel. A m Anfang haben die Mädchen zwei dünne weiße Kleider vor ihren Körper gebunden und tragen ansonsten nur weiße Unterwäsche und Cowboystiefel. In der Mitte des Textes legen sie jeweils eine weinrote Tunika an, u m die sie einen Gürtel binden, der aus d e m Schriftzug S I M O N besteht. Thora trägt die ganze Zeit über ein bis über die Knie reichendes schwarzes Kleid, schwarze Strümpfe und schwarze Schuhe sowie ein rotes Kreuz vor der Brust, Senderovich einen schwarzen Talar mit einem roten Bäffchen. Z u Beginn des Textes spucken beide eine rote Flüssigkeit in die Hand ihres Sohnes, so dass sie wie Vampire wirken. Die beiden haben stehende Attribute („la famélica enfermera", „el pálido dentista"), welche an Skelette oder Geister denken lassen. Das Bühnenbild und die Kostüme in Hysterica Passio sind durchgängig in den Farben Schwarz, Weiß und Rot gehalten, was Verweise auf die Grundthemen und -elemente des Textes, .Unreinheit', .Reinheit' und ,Blut', impliziert. In Once upon a time etwa lautet die Philosophie der Mädchen, dass Liebe Hass erzeuge und Hass Wunder bewirke. Ein durchgehendes Motiv aller drei Teile des Triptychons ist der Hass zwischen den Geschlechtern. Mateo sagt zu seiner Frau: „Créeme, ya estamos muertos" (MP: 14), und Senderovich erläutert seinem Sohn: „La muerte no es algo distinto de la vida" {HP: 154). Die Geburt der Tochter
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Besonders in Once upon a time wird das Problem der coincidentia oppositorum im Gebrauch der Wörter virulent. Zu Beginn des Textes bittet Natacha beispielsweise ihren Schutzpatron Simón: „[Protégenos d]e los que dicen que nos aman porque son esos los que más nos odian" {OT: 103). Was die Wörter im Munde der Eltern und was sie wirklich bedeuten, ist so weit auseinander getreten, dass die Sprache keine verlässliche Orientierung für Handeln und Fühlen der Kinder mehr darstellt.846 Die Pervertierung der Sprache erscheint in Hysterica Passio indirekt in der kontrastierenden Gegenüberstellung des Gezeigten und dessen (sprachlicher) Bewertung. In ihren Dialogen erscheinen Thora und Senderovich tief unglücklich, mordlüstig, gewalttätig und gefühllos, doch ihr Sohn Hipólito nennt sie wiederholt felices und normales.847 Auch die Differenz zwischen culpable und inocente verwischt, wenn Hipólito behauptet: „Todos aquellos donde creció la maldad eran inocentes [...] Thora y Senderovich son ¡nocentes. La maldad crece en los inocentes" {HP: 161). Auch krank und gesund sind keine Antonyme, wenn ,Krankheit' in den Augen der Gesellschaft auf einen Rest Authentizität (.geistige Gesundheit') des noch nicht ganz von seiner Rolle vereinnahmten Menschen verweist. Auch die Unterscheidungen zwischen normal und wahnsinnig, unschuldig und pervertiert, Opfer und Täter werden eingeebnet.848 Lösen sich derart deutlich die Grenzen zwischen Antonymen auf, wird die Sprache insgesamt kontingent. Wenn Hipólito die Zuschauer am Ende „buenos" und „inocentes" nennt {HP: 169), könnte damit auch „malos" und „culpables" gemeint sein, und seine Eingangsfrage, ob sie „felices" seien {HP: 135), kann nicht beantwortet werden - was sollte feliz im Kontext des Werkes bedeuten?
Chloé wird wie ein Todeskampf dargestellt (MP: 7), und Elsa sagt zu ihrer Tochter: „Desde que naciste te imaginé muerta" (MP: 14). Vgl. auch die Träume der Eheleute von ihrem noch ungeborenen Kind: „MATEO. - Mi hija se muere, una y otra vez. [...] ELSA. - Mi hijo se muere, una y otra vez" (MP: 7). In El matrimonio stehen Elsa und Mateo für zwei unterschiedliche Haltungen gegenüber dem Tod. Vgl. Mateos Aussage: „Los muertos no son nada. Son la imaginación de los vivos" und Elsas Antwort: „Los muertos son todo. Todo lo que no son los vivos" (MP: 9). 846 Der Schulkamerad Jonás soll z. B. „el nombre de todas las cosas" (OT: 110) lernen, wobei die Dinge immer zwei Namen haben: den, mit dem die Eltern zufrieden sind und mit dem gute Schulnoten erzielt werden, und der, den Natacha und Rebeca für den Zugang zur Wahrheit halten. Wörter wie „buenas intenciones" sind durch die missbräuchliche Nutzung durch die Elterngeneration derart pervertiert, dass sie nurmehr auf das Gegenteil ihrer ursprünglichen Bedeutung verweisen. 847 Vgl. die Aussagen aus Hysterica Passio: „Fueron terroríficamente felices" (HP: 135); „¿Por qué tuvieron que encontrarse dos seres tan normales?" (HP: 139). 848 Natacha sagt: „Somos hijas de la enfermedad, porque la enfermedad es necesaria para alcanzar la lucidez" (OT: 128). Der .Normale' ist der an den Wahnsinn der Gesellschaft Angepasste, der .Unschuldige' Opfer des generell pervertierten gesellschaftlichen Lebens, und Opfer werden unausweichlich eines Tages zu Tätern.
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Auch strukturell sind Umdeutungen ins Gegenteil (Pervertierungen) erkenn-
bar. So zeigt Once upon a time die Struktur einer Heilsgeschichte, deren telos
allerdings der Tod und nicht die Erlösung ist. Der Text beginnt mit einem Gebet an einen Elternmörder, der wie ein Deus absconditus die Handlungen auf der Bühne als theatrum mundi beobachtet. 849 D i e beiden Mädchen finden auf einem Friedhof zusammen, müssen Prüfungen überstehen und werden schließlich zu Prophetinnen, die „el tiempo de la perversión" (OT: 124) verkünden und Wunder bewirken.850 Schließlich wird Rebeca von tiefer Müdigkeit befallen, und sie nimmt eine Pose ein, die an den Leichnam Christi bei der Kreuzabnahme erinnert; Natacha wiegt sie, einer mater dolorosa gleich, in den Armen. Am Ende des Textes steht der Tod: Die Heilsgeschichte ist eine Unheilsgeschichte. 851 Hysterica Passio zeigt die Pervertierung des religiösen Diskurses. So predigt Senderovich Liebe und Familientugenden und ist selbst ein Mörder, Thora Enthaltsamkeit und ist selbst sexuell zügellos.852 Das durch Religion und Glauben gepredigte Gute manifestiert sich in keiner Handlung, so dass es de facto kein Gegenbegriff zum Bösen ist. Das Gegenteil von böse ist demnach ebenfalls böse. Die gesamte grausame Geschichte beschreibt, laut Hipólito, eine Bewegung „de blanco a blanco" (HP: 157) - eigentlich konnotiert diese Farbe ,Unschuld' - , von der (lieblosen) Hochzeit bis zur (blutigen) Weihnacht: Die Konnotationen von .Unschuld' und ,Schuld' fallen in dieser Darbietung zusammen. 853 Eine ähnliche Auflösung von Oppositionen findet sich im Einsatz von Kinderspielzeug. Eigentlich Zeichen einer unschuldigen Kinderwelt, wird es in den
849 Er sitzt das ganze Stück über rechts am Bühnenrand auf einem Stuhl, von Kopf bis Fuß in ein weißes Tuch gehüllt, mit dem Gesicht dem Bühnengeschehen zugewandt, während auf ihn ein Spot gerichtet ist. So ist er durchgängig anwesender Referenzpunkt der Geschehnisse, interveniert jedoch nie. Die Mädchen bekräftigen im Laufe des Textes immer wieder, dass Simón ihr Gott sei, und „Piensa en Simón" wird ihr Schlachtruf. 850 Der Text besteht aus einem preludio und sieben Teilen, was die Schöpfungsgeschichte anklingen lässt. Alle Zeugen betonen das Ubernatürliche, das den Mädchen anhaftet, und die Faszination, die von ihnen ausgeht. Natacha gibt sich als Simóns Medium aus, durch das hindurch er spreche. 851 Als Natacha und Rebeca den Kindern den Anbruch einer neuen Zeit predigen, fragen sie sich kurz darauf selbst, warum sie so sehr lügen: Es scheint hier so, als sei auch ihr Gegenentwurf nicht ernst gemeint. 852 Dies wird an einer Stelle unmittelbar bildlich umgesetzt: Thora sagt den Satz „Hay que rezar", hebt dann ihren Rock und entblößt Strapse. 853 Hipólito erläutert: „De blanco a blanco/de blanco enfermera a blanco dentista a blanco sudario a blanco fantasma/de blanco a blanco, hasta la blanca Navidad" (HP: 157). Entsprechend ist die Racheszene mit der Überschrift „NAVIDAD ABSOLUTAMENTE BLANCA: VENGANZA" versehen (HP: 162). Als auf den Brautschleier von Thora Pinguine gestellt werden, erhält die Farbe Weiß die Konnotation von Eis. Für Hipólito lehrt die Religion Hass und Rachsucht: „He rezado tanto que he aprendido perfectamente el significado de la ira y la venganza" (HP: 164).
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drei Texten mit Konnotationen von Gewalt und sexueller Perversion versehen. In Liddells Stücken entsteht das Grauen aus dem scheinbar Harmlosen:854 In El matrimonio Palavrakis kämmt Elsa beispielsweise das lange blonde Haar einer Barbiepuppe und lässt diese dann von der Bürste wie Ungeziefer herabhängen.855 In Once upon a time ordnet Rebeca Plastikfiguren auf Natachas nacktem Po an, während diese Pornohefte liest. Der Protagonist von Hysterica Passio drückt eine brennende Zigarette an einem Weihnachtsmann aus und wiegt eine Puppe im Arm, die er zugleich mit einem riesigen Fleischermesser bedroht. Die Spielzeugpuppen wirken in allen drei Texten immer auch wie Leichen, wie umgekehrt die Menschen wiederholt wie Puppen behandelt werden. Die Unterschiede zwischen Mensch und Objekt werden damit aufgehoben.856 In Hysterica Passio etwa erscheinen Thora und Senderovich wie Jahrmarktsfiguren, wie überhaupt der Installationscharakter des Bühnenbildes die agierenden Figuren wie Spielsteine eines von fremder Hand gelenkten Mechanismus wirken lässt. Kindliche Attribute werden durchgängig von sexuellen Konnotationen begleitet und erscheinen in einem Kontext von Gewalt.857 Hier zeigt sich deutlich Ambivalenz: Unschuld der Kindheit und Perversion sind zugleich sichtbar, z. B. wenn das von Lippenstift verschmierte Gesicht Natachas an ein Verkleidungsspiel von Kindern und zugleich an Prostitution erinnert.858 Widersprüchliche Konnotationen, Unschuld und Perversion, Spiel und Ernst, sind hier zugleich wirksam. Viele Objekte auf der Bühne sind Kitsch in der Definition von Eco, „Kommunikation, die auf die Auslösung eines Effekts zielt" (1999: 252): Plüschhunde
854 Liddell erläutert: „Lo que quería era buscar este contraste entre lo infantil y... cómo se puede degradar lo infantil. Como algo absolutamente relacionado con la pureza, con la infancia, con la bondad... cómo se puede pervertir" („Entrevista"). 855 Vgl. auch folgende Szene: „Mateo bebe leche de un orinal y Elsa chupa lujuriosamente un biberón al tiempo que sobre sus cuerpos se proyecta una película del pato Donald" (MP: 13). An anderer Stelle wird eine Barbie-Puppe im Schoß getragen, gekämmt und schließlich enthauptet. 856 In El matrimonio werden Kinder wie Hunde oder wie Puppen behandelt; so gibt Elsa z. B. einem Plüschhund die Brust. Vgl. auch Elsas Aussage: „Mi hija es un perro" (MP: 3). Die Kinder sagen über sich selbst: „Somos una especie de conejos" {MP: 6). Uber ihren Sohn sagt Thora: „[...] para mí es como un perro [...]" (HP: 152). 857 Besonders in Hysterica Passio wird Kindesmisshandlung thematisiert, am nachdrücklichsten im wiederholten Verweis auf Hipólitos zweiundreißig Knochenbrüche. Kinderwelt und Inzestthematik vermischen sich z. B., wenn Natacha und Rebeca Spiele andeuten, die stark den Aspekt der sexuellen Verfuhrung haben. Z. B. rufen sie nach dem „papaito" (OT: 108) oder nach der „Abuelita, abuelita" (OT: 121), wenn es um sexuelle Verführung geht. 858 Die Aufhebung von Differenzen zwischen Kindheit und Erwachsen sein zeigt sich in Once upon a time in der physischen Erscheinung der Figuren: Angélica Liddell und Gumersindo Puche stellen Rebeca und Natacha dar, zwei Erwachsene zwei Kinder, davon ein Mann ein Mädchen.
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und Barbiepuppen in El matrimonio, Teddybären mit Schleifchen in Once upon a time und Weihnachtsmänner und Weihnachtsschmuck in Hysterica Passio zitieren auf rührselige Weise eine ,heile Welt'.859 Diese wird durch das monströse zwischenmenschliche Geschehen grotesk verfremdet, wobei Grausiges und Komisches ein unlösbares, paradoxes Amalgam bilden. Denn die monströse Seite des Textes wird bisweilen so überzogen, dass sie lächerlich wirkt, wie etwa die Spiele mit den Puppengliedmaßen, mit denen Mateo und Elsa sich in El matrimonio bewerfen, oder Elsas Dialog mit einem Puppenkopf, der an den berühmten Dialog Hamlets mit dem Totenschädel erinnert.860 Auch der unpathetische Umgang der Figuren mit dem Monströsen trägt die Komik des Grotesken, vor allem in Hysterica Passio, wo Hipólito seine Lebensgeschichte wie ein Showmaster vorfuhrt. Ausdrücke von Trauer oder Entsetzen fehlen vollständig. Vielfach wirken visueller Eindruck und Sprechtext kongruent, etwa wenn ein Bild einen Gedanken metaphorisch umsetzt: Elsa Palavrakis' Verzweiflung, als sie versucht, aus den um sie herum verstreuten Gliedmaßen eine vollständige Puppe zusammenzustecken und dabei ihren Mann um ein Kind anfleht; Rebecas und Natachas Freude nach dem tödlichen Unfall von Rebecas Eltern, als sie von einem Totenkranz Blumen abzupfen, diese in einem Mixer zu einer Creme verrühren und sich gegenseitig damit lustvoll einreiben (zu den Klängen von Edith Piafs La vie en rose); Thoras und Senderovichs Sehnsucht nach Reinheit, als sie sich mit ihren schwarzen Kleidern in weißem Puder wälzen, so als könnten sie dadurch ihre Unschuld zurückerlangen.861
859 Grundlegende Absicht des Gebrauchs von Kitsch ist, so Eco, den Rezipienten einen vorgesehenen Effekt empfinden zu lassen (1999: 251): Auslösung von Effekten und Popularisierung abgenutzter Formen scheinen die beiden Pole zu sein, zwischen denen die Definition des Midcult oder des Kitsches schwankt" (1999: 262). 860 In Hysterica Passio heben Thora und Senderovich einmal ihre schwarzen Gewänder, und vor ihren Geschlechtsteilen hängen kleine Weihnachtsmänner. Vgl. auch die Beschreibung der Leiche der kleinen Chloé als „tarta de frambuesas" (MP: 12) oder Hipólitos Gedanken daran, dass er Weihnachtspostkarten mit dem Bild seines erhängten Vaters verschicken könnte. Hipólito gibt sich selbst als Produkt einer groteskkomischen Mischung aus: „Igual que algunos son gestados en un muslo/mi gestación depende del tigre y el payaso/bajo tierra infectada/mis colmillos rechinan" (HP: 139). Skurril wirkt auch Thoras Eifersucht darauf, dass ihr Mann seine vorherigen Frauen, nicht jedoch sie ermordet hat. 861 Die Vergeblichkeit dieses Versuchs zeigt sich darin, dass das Puder bis zum Ende der Vorstellung nahezu vollständig von der Kleidung abbröckelt. Vgl. auch die Visualisierung von Thoras mörderischen Impulsen, als sie sich das Gesicht mit Graberde wäscht oder ein Grab mit roter Flüssigkeit,futtert'; oder von den abgestorbenen Gefühlen, als Thora und Senderovich nach ihrer Hochzeit wie aufgebahrte Leichen nebeneinander in der Mitte der Bühne liegen. Kurz bevor in El matrimonio von der Ermordung des Kindes erzählt wird, umgreift Mateo eine Puppe, die mit einem weißen wehenden Kleid schaukelt, und seine Hände färben es blutrot.
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Andere Bilder sind nur bedingt symbolisch lesbar und rufen sehr vage Konnotationen hervor, etwa wenn beim Bericht über Elsas Niederkunft in El matrimonio die beiden Eltern Eier und Mehl in eine Schüssel werfen und das Ganze miteinander verquirlen oder an anderer Stelle Reis in einen Kochtopf schütten, aus dem ein Puppenkopf hervorschaut (Verweis auf den antropophagen Charakter der Eltern?); wenn Natacha und Rebeca in Once upon a time zwei Spielzeugpferde gegeneinander kämpfen lassen, die mittels gepumpter Luft bewegt werden (Parallelisierung von Kindheit und Kampf?); oder wenn Senderovich und Thora sich in Hysterica Passio ein Weihnachtsmannkostüm anziehen, während Hipólito zwei Müllsäcke in der Hand hält (Familienfest als wertloser Abfall?). Was aber drückt das Bild aus, das entsteht, wenn Hipólito sich eine Puppe mit dem Kopf nach unten vor den Leib bindet — ahmt er eine Kreuzigung nach?862 Solche Bilder bleiben unauflöslich mehrdeutig und erzeugen nur diffuse Empfindungen. Mehrfach wird der Bezug zwischen visuellen Eindrücken und Sprechtext nicht deutlich. Als beispielsweise die Eltern Palavrakis eine Aufschrift auf Plastiktüten lesen, dass diese für kleine Kinder lebensgefährlich seien, stopfen sie Puppenköpfe hinein und binden sie wie Müllsäcke zu. Dies könnte die unterschwellige Mordlust der Eltern visualisieren, die hysterische Wiederholung der Handlung und der entsetzte Gesichtsausdruck aber auch ihre Angst, die ihnen die Aufschrift auf der Plastiktüte einflößt; ihr Verhalten wirkt dann wie der Versuch einer ritualisierten Bannung der Gefahr. Die Puppenköpfe in der Tüte könnten also sowohl auf den Wunsch nach einer Mordtat als auch auf den Wunsch nach Verhinderung eines Unfalls verweisen. Beide Bedeutungen zusammen werden zu einem Ausdruck der Zerrissenheit der Protagonisten.863 In vielen Fällen wirkt das visuell Vermittelte wie ein eigenständiges Kunstwerk ohne erkennbaren symbolischen Verweis. Als z. B. in El matrimonio über Lautsprecher das Leben der Eltern nach dem Tod der Tochter berichtet wird - sie fiihlen sich ständig beobachtet - , sieht man Elsa und Mateo einen Fernsehbildschirm mit einer cremigen Masse einreiben. In Hysterica Passio besprühen sich
862 In Hysterica Passio sieht man hinten rechts an der Wand ein Strichmännchen und darunter den Schriftzug „Recién nacido"; hinten links hängt ein roter Boxsack, zu dem passend an einer Stelle Senderovich Boxhandschuhe trägt. Weder Funktion noch Symbolwert dieser Bühnenelemente werden im Laufe der Aufführung deutlich. 8 6 3 Vgl. auch andere Stellen der Bühnentexte: Als über Lautsprecher von Elsas und Mateos Albträumen berichtet wird, bläst Mateo mit einem Strohhalm in ein Glas in seiner Hand, aus dem Seifenschaum aufsteigt, der über Elsas Hände zu Boden läuft — Kommentar zum Inhalt der Träume oder zur Einstellung der Eltern zu diesen Träumen? Bei der Erzählung der Beerdigung von Thoras Mutter stürzen Thora und Senderovich je einen Caramelpudding auf den Boden und stecken ein Kreuz hinein, greifen in die süße Masse und beschmieren sich das Gesicht damit - der Tod wird mit einer Süßigkeit konnotiert, aber auch mit .Befleckung'.
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Mutter und Vater zur Hochzeit mit Sahne, die ihr Sohn von ihrem Kopf löffelt.864 Durch den zweckentfremdenden oder schlicht unverständlichen Gebrauch von Objekten entsteht ein Gefühl von Orientierungslosigkeit und Unbehagen. In solchen Sequenzen der Aufführungen wird zwischen symbolischen Darstellungen und vorsemantischen Wahrnehmungsangeboten unstet hin- und hergewechselt. Das Wort Triptychon verweist auf einen zentralen Ort des christlichen Gottesdienstes, den Altar, vor dem der Priester die Eucharistie feiert. Ein Triptychon ist ein dreigeteilter Altaraufsatz, auf dem normalerweise heilsgeschichtliche Zusammenhänge dargestellt werden.865 In der Regel ist das Bild in der Mitte das gedankliche Zentrum, auf das die Seitenbilder ausgerichtet sind, was sie mitunter auf den Rang schmückenden Beiwerks reduziert. Die Geschichten, die im Tríptico de la aflicción dargestellt werden, erinnern in ihrem grotesken Charakter an Hieronymus Bosch (ca. 1450-1516), insbesondere dieTriptycha Weltgericht, Der Garten der Lüste und Der Heuwagen.866 Die Ambivalenz zwischen Lust und Übel, Vergnügen und Sünde, Versuchung und Strafe, die Bosch mit der Darstellung des menschlichen Körpers verbindet, findet sich auch in Liddells Tríptico wieder. Während jedoch bei Bosch neben der Hölle auch das Paradies erscheint, findet sich bei Liddell nur die Hölle.867 864 Am Anfang von El matrimonio zünden die beiden Schauspieler Kerzen an, balancieren diese in ihrem Gesicht und wälzen sich in den Puppengliedmaßen, während über Lautsprecher Barockmusik ertönt. In Once upon a time regnet es Wasser aus einigen der von der Decke herabhängenden Teddybären. In Hysterica Passio kämmt Hipólito das Haar seiner Mutter mit einer Gabel, hängt auf eine Wäscheleine eine Miniaturausgabe der Kleidung eines Weihnachtsmannes, und Senderovich begießt diese Kleidung mit einer roten Gießkanne. An anderer Stelle stellt sich Hipólito, der einen Hut mit Kerzen trägt, in der Bühnenmitte auf rote Ski, und Thora vertäut ihn mit roten Bändern jeweils mit verschiedenen Ecken der Bühne und des Zuschauerraums, so dass Hipólitos Körper der Ausgangspunkt sternförmig auseinandergehender roter Linien wird. Dazu ertönt geistliche Musik mit den wiederkehrenden Worten „Erbarme dich". 865 Dargestellt werden vor allem das Leben Jesu, Heiligenviten oder die Trias Himmel-HölleJüngstes Gericht; oft stellt ein Triptychon daher eine Art Mikrokosmos dar. 866 In diesen Werken zeigt der Maler menschliche Abgründe, dämonische Wesen und surreale Szenen. Der Garten der Lüste weist als ein Paradies der Sinne erotische Szenen auf und stellt Menschen im Bann ihrer zügellosen Wollust dar. Der Heuwagen zeigt einen Wagen, der von Dämonen in die Hölle (die rechte Tafel) gezogen wird. Im Weltgericht schließlich stellt Bosch eine albtraumhafte Apokalypse dar, allerdings unter den Augen des in heller Glorie thronenden Weltenrichters. 867 Ihr Triptychon ist der pervertierten Familie als Mikrokosmos gewidmet, dem in den drei Texten .gehuldigt' wird. Im Zentrum steht die Predigt der beiden Mädchen Natacha und Rebeca an die kommende Generation, welche (im Gegensatz zum christlichen Triptychon) keine Heilsbotschaft enthält: Sie fordert zu Leiden und Hass auf. Liddell erläutert, die Familie sei ein Modell gesellschaftlicher Missstände: „La familia es una reproducción en miniatura del odio universal, del precario funcionamiento del mundo, es una miniatura del fracaso de la humanidad" (Presseblatt „Escena Contemporánea 2003").
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In Liddells Ästhetik ist das Monströse nicht der Widerpart des Menschlichen; vielmehr wird die Antithetik zwischen Monster und Mensch aufgehoben.868 Bei Liddell gibt es dementsprechend keine Antagonisten: Alle Figuren sind gleichermaßen pervertiert. El matrimonio zeigt eine ,normale' Ehe, Once upon a time die ,normale' Ausbeutung der Kinder durch Erwachsene869 und Hysterica Passio eine ,normale' glückliche Familie. Die scheinbar unschuldigen Figuren - etwa Natacha und Rebeca oder Simóns Großmutter - entpuppen sich früher oder später auch als gewalttätig und pervertiert,870 denn die Generationen lernen nichts voneinander: Monster bringen in einer unerbittlichen Reproduktion des Gleichen nur wieder Monster hervor. So fasst Hipólito zusammen: „Las preguntas entre los padres y los hijos son siempre las mismas. [...] ¿Por qué?" {HP: 166). Die Täter waren selbst Opfer, die Opfer werden zwangsläufig zu Tätern.87' Einen Ausstieg aus dem Teufelskreis zeigt Liddell nur in der Verweigerung, die sie in ihrer Installation L.I.C.L. V. in Szene setzt und als Unterschrift' am Ende des Triptychons versteht: keine Kinder zu haben. Diese Lösung löscht allerdings mit den Monstern auch zugleich die Menschen aus. Der Mensch wird als eine nur mühsam in Schach gehaltene Bestie dargestellt, und Senderovich erläutert: Hay que esforzarse tanto para seguir siendo razonable de la mañana a la noche. Hay que esforzarse tanto para no ser uno mismo, para no ser atroz, verdaderamente atroz, porque en el fondo todos somos salvajes, absurdos. (HP: 166f.) 868 Das Anormale existiert indes nur vor dem Hintergrund des Normalen - dies erscheint aber in Liddells Texten nicht. Wenn Perversion definitionsgemäß die Abweichung vom Normalen ist, gerade die Monstrosität des Menschen aber als der Normalfall dargestellt wird, hebt sich der Unterschied zwischen Normalität und Perversion selbst auf. 869 So wirft Natacha ihrem Lehrer vor: „Tú, y tantos otros como tú, metidos en los colegios, entre los niños, arruinando sus mentes y sus corazones, volviéndoles mezquinos, ignorantes y miserables, convirtiéndoles en un calco de vuestro fracaso, convirtiéndoles en esclavos, negándoles la inteligencia, negándoles la capacidad de ser amados, la capacidad de amar" (OT: 116). Ähnlich steht es um den Arzt der Psychiatrie, der von sich selbst sagt: „Yo había empezado a fracasar como psiquiatra" (OT: 116). Simóns Großmutter macht mit ihrem Enkel und später mit den Mädchen sexuelle Spielchen und schenkt ihnen pornographische Postkarten; Natachas Vater ist ein heimlicher Voyeur und lässt sich am Ende von Rebeca sexuell befriedigen; auch der Lehrer nimmt Natacha als seine sexuelle Gespielin. 870 Natacha und Rebeca wollen eine bessere Welt, sind aber ihrerseits grausam. Die Großmutter ist einerseits klarsichtig („Los padres disfrutan atormentando a sus hijos [...]"; OT: 111), andererseits hat sie selbst ihren Enkel missbraucht. Die Unschuldigen treten nicht in persona auf (Chloé in El matrimonio, Jonás in Once upon a time, das Kleinkind Hipólito in Hysterica Passio). 871 Mateos Eltern waren brutal und abwesend, Elsas Eltern inzestuös wie Rebecas und Natachas Eltern, Thoras Mutter gehässig. Senderovichs Eltern haben den Sohn allein gelassen. Sogar Hipólito entpuppt sich seinerseits als Monster. So heißt es auch in der acción L.I.C.L. V: „Los niños no se convierten en buenos adultos". Mateos Rat an eine Zwölfjährige lautet dementsprechend: „Nunca tengas hijos, ¡nunca!" (MP: 2).
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Die Vernunft erscheint in dieser Sichtweise nur als eine andere Ausdrucksform von Wahnsinn, die Normalität nur als andere Erscheinungsform von Perversion. Das Monströse lauert selbst in harmlosen Objekten, und nichts wird auch nur ansatzweise zum Gegenentwurf des Pervertierten. Selbst das Publikum wird in Hipólitos Schlusstirade als monströs ausgewiesen: „Quién se siente diferente a Thora y Senderovich? ¿Quién se cree mejor?" {HP: 161).872 Doch bleibt es nicht bei der Aussage, dass Schmerz und Leid die universelle Lebensgrundlage sind. Denn Hipólito beendet das Triptychon mit einer Direktansprache an die Zuschauer, in der er sie auffordert: Acercaos, acercaos, correctísimos de la tierra, acercaos a tocar a los monstruos. (HP: 168)
Das Gesehene wird als Budenzauber ausgewiesen: „Esto es un circo,/Es todo mentira/Este monólogo es mentira" {HP: 169). Damit wird wieder in Zweifel gezogen, ob die Darstellung der allumfassenden Monstrosität der Welt ernst gemeint ist oder nicht. Aber auch wenn Hipólito das Publikum entsühnt „vosotros/tan buenos/tan limpios/tan sanos/tan cuerdos/vosotros decentes míos,/seguiréis siendo inocentes" {HP: 169) - , bleibt diese Handlung mehrdeutig: Bezeichnet er die Zuschauer als inocentes im Sinne der Alltagssprache oder als inocentes im Sinne der Verwendung dieses Wortes in Hysterica Passiói Dann wäre inocente allerdings ein Synonym von culpable. Der Zuschauer wird im Unklaren darüber gelassen, wie seine eigene Position eingeschätzt wird. Liddells Ästhetik ist in erster Linie durch Spannung zwischen den einzelnen szenischen Elementen charakterisiert. Die Autorin verbindet mehrdeutige, oft wie autonome Kunstwerke wirkende Bilder873 und traditionelles Texttheater auf der 872 So sagt Hipólito: „[...] sus crímenes les convierten en algo más cerca de lo humano,/el exceso es humano,/el odio es humano,/el amor es humano,/pero vosotros queridísimos míos,/tan correctos,/tan insertados en la sociedad,/tan tibios,/en nombre de la ideología/quién sabe qué crímenes nauseabundos seriáis capaces de cometer [...]" (HP: 170). 873 Liddell sagt selbst: „El espacio lo concibo como algo simbólico. Creo que los espacios pueden ser autónomos, tener sentido sin los actores y sin el texto. Y también muchas de las acciones de los actores podrían tener sentido independientemente del texto, como expresión de un concepto" (de Francisco 2002: 134). Ihre Bühnenbilder entwirft Liddell als eigenständige Kunstwerke, wobei sie vor allem von der Conceptual Art beeinflusst wird (Jenny Holzer), der minimalistischen Ästhetik Bruce Naumans und von Videokünstlern wie Gary Hill und Bill Viola. Die geometrische Aufteilung ihrer Bühne erinnert an das .modulare' System der Werke Sol Le Witts, die Liddell auch als eine ihrer Inspirationsquellen nennt. Liddell erläutert: „Generalmente trabajo con las imágenes, siempre primero. Y generalmente [...] es una imagen lo que me conmueve, que me hace reflexionar" („Entrevista"). Inspiriert wurde Liddell z. B. beim Entwurf des Bühnenbildes zu El matrimonio von Cindy Sherman und Diane Arbus („Tríptico": 7).
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Grundlage einer Geschichte mit klar erkennbarer Handlung miteinander. Damit löst sie die Grenze zwischen Raum- und Zeitkunst (plastischer Kunst und Theater) auf, so dass ihre Texte stets eine Grundspannung zwischen Statik und Bewegung charakterisieren. Sprachliches und Visuelles erlauben oft widersprüchliche Lesarten, zwischen denen unaufhörlich hin- und hergependelt werden kann, die jedoch nicht in eine Synthese münden. Der Verlust an Stabilität und Identität der Verweisfunktion von Sprache und deren Konnotationen, aber auch die widersprüchlich konnotierten Objekte gemahnen an psychotische oder schizophrene Weltbilder, in denen jedes Objekt sowohl gut als auch schlecht sein kann, und in denen die Umwelt grundsätzlich als feindlich wahrgenommen wird. Psychotisch mutet die Auflösung von Eigenund Fremdzuschreibungen an; wie in der Schizophrenie verwischen sich Material- und Symbolgehalte der Objekte, und Gegensätze existieren gleichzeitig.874 Entsprechend sagt Liddell über ihre Texte: Aunque el espacio experimentado por los psicóticos sea imposible de codificar, nos sugiere que el espacio material no es el único existente. También existen espacios de la imaginación. Son estos espacios los que quiero traducir en ,espacios poéticos', así fue como Bachelard describió la locura, ,espacio poético'. („Tríptico": 9) Dadurch dass Liddell keine Beobachterposition bietet, von der aus eine Gegenwelt konstruiert werden könnte, blockiert sie einen rein intellektuellen Zugang zu den Themen, die sie behandelt. 875 Stattdessen erzeugt sie eine psychotische Atmosphäre. So wird einerseits der Schrecken des Traumas fiihlbar,876 andererseits bleibt durch die logische Grundstruktur der Geschichte immer auch die kritische Beurteilung des Gezeigten möglich.
8 7 4 Vgl. Benedetti: „Im schizophrenen Erleben hat alles den Anschein eines Symbols, weil jedes Ding seine Bedeutung verliert und eine andere annimmt [...]" (2002: 19). Vgl. auch Benedetti 2 0 0 2 bezüglich des Zusammenexistierens der Gegensätze in der Schizophrenie. Die Psychose ist eine Bedrohung und eine existentielle Verunsicherung des Wirklichkeitsgefühls. 875 So erläutert die Autorin: „La inteligencia no es suficiente, no es suficiente, la inteligencia no acepta el misterio, no se nutre del misterio" (Liddell 2002d: 134). „Creo que la emocionalidad y la inteligencia van unidas. N o tiene porque buscarse el compromiso intelectual... porque a través de la emoción puedes provocar reflexiones sobre la vida" („Entrevista"). „Para llegar a una reflexión es imprescindible que haya una conmoción" (Liddell in de Francisco 2002: 132). 876 Das Trauma kann nicht in Sprache gefasst werden, sondern ist „das .Reale an sich' und hat keine Repräsentation" (Mahler-Bungers 2001: 173). Vgl. auch Bohleber 2001: 53, der von .eingefrorenen Gefühlen spricht.
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CHAOS UND SYSTEM: STUDIEN ZUM SPANISCHEN GEGENWARTSTHEATER
4.4
CHARAKTERISTIKA
4.4.1
SINN?
Ja, kann man ein unscharfes Bild immer mit Vorteil durch ein scharfes ersetzen? Ist das unscharfe nicht oft gerade das, was wir brauchen? (Wittgenstein 2001: 790)
Ein grundlegendes Strukturprinzip der in diesem Kapitel vorgestellten Texte ist die konsequente Verstörung von Bedeutungs-Attraktoren: Konstruktionen werden immer wieder unterlaufen, und Ordnungen sind nur lokal. Nach Phasen von Instabilität und Unordnung entsteht immer wieder plötzlich Kohärenz, und in einer scheinbar stabilen Ordnung tauchen plötzlich Instabilitäten auf. In beiden Fällen sind nur bedingt Beziehungen zwischen den Textelementen konstruierbar, die Bedeutungs-Attraktoren sein könnten. Damit wird zwischen systemhafter Struktur und Chaos hin- und hergependelt. Die Texte sind nicht nur verschlüsselt oder rätselhaft, sondern enthalten widersprüchliche und/oder kontingente Strukturen, ohne allerdings Zusammenhänge ganz aufzugeben. Die Erstellung einer die verschiedenen Lesarten integrierenden Gesamtbedeutung ist nicht möglich; der Rezipient kann nur zwischen den Lesarten hin- und herspringen. Auch durch genauere Berücksichtigung von Details ist keine Vereindeutigung zu erreichen.877 Ein ,Theater der Grenzgänge' impliziert den Wechsel von Struktur und Strukturlosigkeit in Form von lokalen Ordnungen, die aus chaotischen Strukturen emergieren ( P r o m e t e o ; Iked), oder in Form von Verstörungen übergreifender Ordnungen {Orléans-, Tríptico). Es zeigt also Ordnung, die vom Chaos vereinnahmt wird, und Chaos, aus dem Ordnung entsteht, kurz: einen dynamischen Prozess, bei dem das eine aus dem anderen hervorgeht. Über die Analyse der Verstörungen von Textstrukturen werden allgemeine epistemologische Prämissen der Wahrnehmung beobachtbar: die Integrationskraft von Schemata und frames, die Widerstandsfähigkeit von Bedeutungskonstruktionen gegenüber Änderungen sowie kritische Punkte, an denen Bedeutungskonstruktionen ineinander ,umschlagen'. SI verstören Komplettierungsdynamiken, mittels derer der menschliche Intellekt seine Umwelt strukturiert.878 Jedes benutz-
877 Denn eine generelle Zerstörung von Bedeutungs-Attraktoren führte, wie bereits erwähnt, zu dem Bedeutungs-Attraktor Abwesenheit von Bedeutungs-Attraktoren' - in unserem Zusammenhang zu dem .chaotischen' Theater, welches im Grunde nur ex negativo die Spiegelung eines systemischen Theaters ist. 878 Zu „Komplettierungsdynamiken", die wahrgenommenes Material zu Attraktoren verarbeiten, vgl. Kriz 1999: 141. Hier stellt der Wahrnehmende anhand weniger Elemente mit Schemata und frames komplette Szenarien, Handlungen usw. her, setzt also Daten zu Systemen zusammen. Zu diesem Vorgang vgl. Kriz 1999: 139-142. Z u m Bedürfnis des Menschen, die Umwelt
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te Schema und jeder frame sind damit zugleich Produkt und Produzent der Gesamtordnung: Produkt, weil sie aus Textdaten konstruiert wurden, Produzent, weil sie wie Filter auf die weitere Beobachtung des Textes wirken. Denn Komplettierungsdynamiken ignorieren Abweichendes, so dass sie eine Tendenz zur Selbstbestätigung haben: Neue Daten werden auf Stabilisierung der vermuteten Ordnung hin überprüft.879 Dabei wird möglichst nur die Wahrnehmung zugelassen, die das Selektionsmuster bestätigt, und andere Ordnungsmöglichkeiten werden unterdrückt. So bilden sich Bedeutungs-Attraktoren über Rückkopplung aus.880 Indem sie die Komplettierungsdynamik verstören, machen SI die Bedeutungskonstruktion wieder offen für neue Lesarten, da sie den Text in einem ,Ubergangszustand' festhalten. Dabei sind die durch SI hervorgerufenen Verstörungen unspezifisch, d. h. nicht instruktiv: Sie verstören nicht auf ein Ziel (eine neue Bedeutung) hin, sondern unterbrechen lediglich die Bildung eines stabilen Bedeutungs-Attraktors. Gerät die Bedeutungskonstruktion ins Oszillieren oder sind
sowohl die eine als auch die andere Lesart möglich (bzw. weder die eine noch die andere zwingend), erinnert die Rezeption an die Wahrnehmung von multistabilen Bildern. Diese sollen im Folgenden als Modelle ftir ein .Theater der Grenzgänge' dienen, da sie prägnanter als sprachliche Beschreibungen auszudrücken vermögen, wie Bedeutungskonstruktionen im Falle unentscheidbarer Lesarten funktionieren.881
zu vereinfachen, vgl. Simon 1 9 9 9 : 4 8 . Zu Assimilation und Akkomodation bei Wahrnehmungen vgl. Kießling 1 9 9 8 : 1 1 1 . So zeigte Frederick Bartlett 1 9 3 2 , dass die Rekonstruktionen von Geschichten und Bildern in Richtung auf eigene Überzeugungen und Erwartungen zugeschnitten werden. Die Versuchspersonen sind sich nicht bewusst, dass sie Informationen erzeugen (und nicht wahrnehmen) (vgl. Wessells 1 9 9 4 : 204f.). .Verstehen' ist in dieser Sichtweise immer zugleich .Komplettieren. Musterbildung und Mustererkennung sind dabei die „zwei Seiten derselben Medaille" (1999: 79f.). Böhringer beschreibt die Arbeit des menschlichen Geistes als unter einem „Anschlußzwang der Vorstellungen" stehend, „durch die sich die Vorstellungswelt unaufhörlich verkettet und zusammenschließt" (1998: 25). Zu Mustervervollständigung und Fehlertoleranz bei der Wahrnehmung allgemein vgl. Kriz 1 9 9 2 : 153; 1 9 9 9 : 150, Peschl 1 9 9 4 : 1 9 1 . Zu Mustererkennung bei emotionalen Schemata vgl. Ulich/Mayring 1 9 9 2 : 93. 8 7 9 Eine solche Ergänzung von Datensätzen bei der Konstruktion von Gestalten wird z. B. bei der Computererkennung genutzt (vgl. Haken 1996: 184). „Ein assoziatives Gedächtnis bedeutet [...] die Ergänzung eines unvollständigen Satzes von Daten zu einem vollständigen Satz" (Haken/Haken-Krell 1 9 9 2 : 155). 8 8 0 Rückkopplung bedeutet, dass die Produkte im Prozess ihrer Entstehung vorausgesetzt sind. Ein Bedeutungs-Attraktor beeinflusst damit auch rückwirkend die Analyse von Textdaten. 8 8 1 Da die sprachliche Darstellung der Textkonstruktion aufgrund von dessen Komplexität schwierig ist, muss sie buchstäblich veranic^aalicht werden. Einen expliziten Vergleich zwischen textueller und visueller Multistabilität zieht Wildgen: „A text is ambiguous if two different plots can be associated with the text. This corresponds to the bistability of a Necker-cube. In a different sense a text may be ambiguous, if it either has a stable plot or is thematically chaotic" (1995: 237).
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Multistabile Bilder (Kippbilder, Vexierbilder) sind mehrdeutige Reizmuster, die sich dadurch auszeichnen, dass die Eigenschaften ihrer Elemente spontan wechseln können und daher je nach Globalmuster verschieden sind. Sie enthalten zwei Lesarten, die nicht ineinander überführt werden können: „Ambiguity can be defined as the coevolution or coexistence of two mutually incompatible aspects of a same reality inside a single structure" (Caglioti 1995: 477). 882 Die Bilder haben keine stabile Figur-Grund-Trennung. Tritt eine Figur in den Vordergrund, bildet die andere einen ungeformten Hintergrund, der aber selbst wieder nach einiger Zeit in den Vordergrund drängt.883 Zu einem konkreten Zeitpunkt ist daher immer nur eine Interpretation zulässig,884 doch ist der Wechsel zur anderen Interpretation zu einem anderen Zeitpunkt zwingend: „Haben wir einen für uns relevanten Teil einer Szene erkannt, so erlischt die Aufmerksamkeit, und wir können dann einen anderen Teil der Szene erkennen" (Haken 1996: 192). 885 Multistabile Bilder zeichnen sich also durch die Instabilität jeder Lesart aus, so dass sie in einem potentiell unendlichen Oszillieren wahrgenommen werden, was zur Folge hat, dass stabile Wahrnehmungen immer vorläufig sind. Jedes Bild fiir sich ist in sich kohärent in einem bestimmten Zeitraum; Paradoxie entsteht erst, wenn eine Synthese der oszillierenden Hin- und Herbewegung hergestellt werden soll. Abstrakter formuliert: Wenn man Zeit einführt, kann etwas, das erst A ist, später nicht-A sein,886
882 Am bekanntesten sind wohl das Bild der Vase („Rubins Vase"; vgl. Block 2002: 8), das auch als zwei sich anblickende Gesichter gelesen werden kann, und der als dreidimensional wahrgenommene Neckerwürfel, bei dem jeweils verschiedene Ecken als nach vorne oder nach hinten zeigend interpretiert werden können. Zur Multistabilität vgl. Peschl 1994: 195f., Zimmer 1995: 101, Block 2002: 15-41 sowie den Sammelband Kruse/Stadler 1995. Calabrese (1989: 129) spricht von Formen ohne strukturelle Stabilität. „Multistable perception is switching between attractors in the neural network" (Stadler/Kruse 1995a: 5). Vgl. zu bi- oder multistabiler Wahrnehmung auch Stadler/Kruse 1986: 84f.; 91, Haken/Haken-Krell 1992: 154. 883 Vgl. dazu Goldstein 1997: 166f.; 176f. Zur grundlegenden Figur-Grund-Unterscheidung bei geistigen Prozessen vgl. Bateson 1983: 254f. Elemente können so hervorgehoben sein, dass eine Lesart wahrscheinlicher wird als andere (zu Techniken der Hervorhebung vgl. Goldstein 1997: 176f.). 884 Hier machen die Gestaltgesetze der Figurbildung jeweils eine Version wahrscheinlicher. Normalerweise ist es schwer, beide Bilder simultan zu sehen, die Symmetriebrechungen also als solche zu erleben (Stadler/Kruse 1986: 91). 885 Stadler/Kruse/Carmesin sprechen davon, „daß die jeweils realisierte kognitive Struktur mit der Zeit durch Sättigung instabil wird und dann in den jeweils benachbarten Attraktor fällt" (1996: 336). Vgl. auch Haken/Haken-Krell 1992: 205. 886 Es stimmt also nicht, dass es unmöglich ist, „das zu definieren oder zu identifizieren, was vorab als undefinierbar und nichtidentifizierbar gekennzeichnet wurde" (Zima 1989: 195): Wird der Zeitfaktor eingeführt, können sich Sachverhalte zu zwei verschiedenen Zeitpunkten sowohl als definierbar als auch als undefinierbar erweisen. So lassen sich auch basale Lebensprozesse wie Ein- und Ausatmen paradox beschreiben als Oszillation zwischen zwei sich gegenseitig ausschließenden Zuständen (vgl. dazu Simon 1992a: 78f.).
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denn beide können nacheinander gültig sein.887 Dies verweist auf die zentrale Bedeutung des zeitlichen Aspektes bei der Interpretation von multistabilen Phänomenen. Huber (1992) unterscheidet noch einmal Kippbilder und optische Paradoxa wie die so genannten .unmöglichen Figuren' oder .unmöglichen Objekte'.888 Während das Vexierbild zumindest in zeitlichen Abständen vereindeutigt werde, könne bei einem optischen Paradox zu keinem Zeitpunkt eine Gesamtbedeutung hergestellt werden.889 In unserem Zusammenhang interessieren beide Formen von Reizmustern, da es allgemein um instabile Bedeutungen geht. In der Sprache der Chaostheorie formuliert, konkurrieren in Kippbildern und .unmöglichen Objekten' „für eine gegebene Reizstruktur zwei sich gegenseitig ausschließende und gleichberechtigte Attraktoren struktureller oder semantischer Art" (Stadler/ Kruse/Carmesin 1996: 336). Mit Hilfe des Attraktor-Modells soll auch die Konstruktion von Textbedeutung modelliert werden. So wie in Kippbildern (und .unmöglichen Objekten) alle Wahrnehmungsalternativen gleich wahrscheinlich sind, so sind im .Theater der Grenzgänge' die verschiedenen Bedeutungskonstruktionen gleichberechtigt. Stadler/Kruse nennen semantische Multistabilität „ein altbekanntes Rätsel der kognitiven Psychologie", etwa wenn Worte bei häufigem Aussprechen ihre Bedeutung wechseln (1992: 141).890 Das liegt vor allem daran, dass die Bedeutung von Wörtern und Sätzen nur scheinbar stabil ist, denn sie wird im je aktuellen Sprechakt festgelegt. Ist der Kontext indes unterspezifiziert oder mehrdeutig, sind auch die einzelnen Wörter und Sätze in ihren Aussagen unbestimmt. Multistabilität zeigt sich besonders deutlich in ambigen Sätzen, in denen verschiedene Tiefenstrukturen nachgewie-
887 Laut Simon entstehen Paradoxien insgesamt erst durch die Abstraktion von Zeit: „Alle Schwierigkeiten, welche die Paradoxien bereiten, resultieren aus der stillschweigenden Annahme, man müsse eine statische Welt beschreiben, in der ein Satz .wahr' oder .falsch' bleibt, wenn er einmal als ,wahr' oder .falsch' erkannt worden ist" (1992a: 77). 888 Bei .unmöglichen Figuren' handelt es sich um „zweidimensionale Linienzeichnungen, die die Wahrnehmung eines kohärenten, dreidimensionalen Objekts andeuten. Physikalisch wäre es unmöglich!,] dieses Objekt zu bauen" (Seckel 2002: 160). Beispiele sind .Haemakers Würfel' (vgl. 49) oder das .unmögliche Dreieck' (vgl. 76). 889 Vgl. Huber: „Während das Paradox etwas Widersprüchliches, Unlösbares enthält, zeigt das Vexierbild lediglich zwei miteinander nicht vereinbare Bedeutungen; zwei Bilder, die einander ausschließen sollten, ohne es immer zu tun. Zum Wesen des Paradoxen scheint ein mentaler Prozeß zu gehören, der ähnlich wie ein Computerprogramm in einer Schleife hängen bleibt, während das Vexierbild einer Funktion f gleicht, die für dasselbe x zu verschiedenen Zeiten verschiedene Werte liefert, so daß f(x) zum Zeitpunkt tl nicht gleich f(x) zum Zeitpunkt t2" ist (1992: 140). Huber übersieht allerdings, dass ein Vexierbild, wie ein Paradoxon, insgesamt auch „etwas Widersprüchliches" ist und dass optische Paradoxa auch sukzessiv, also ,in der Zeit' von der Wahrnehmung erfasst werden. 890 Zur semantischen Ambiguität vgl. Kruse/Stadler 1995: 221-254, Deppermann 2002: I4f. Zur Ambiguität aus linguistischer Sicht vgl. Wildgen 1995.
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sen werden können. Eine Entscheidung fiir die eine oder andere semantische Interpretation ist nur in einem hinreichend vereindeutigenden Kontext möglich. Fehlt dieser, bleibt der Satz mehrdeutig.891 Das bedeutet, dass die Privilegierung einer bestimmten Lesart (Bedeutung) das oszillierende Spiel zwischen den Lesarten, den ,perpetuierten Phasenübergang', gewaltsam stillstellt.892 Im .Theater der Grenzgänge' ist Bedeutung entsprechend nur zeitlich begrenzt gültig. Die Frage, was die Bedeutung eines Textes ist, wird damit sinnlos — vielmehr ist danach zu fragen, was sie zu verschiedenen Zeitpunkten sein kann. Verstören SI die Konstruktion der Sach-, Zeit- oder Sozialdimension eines Textes, kann sich der Rezipient zwar fiir eine Lesart entscheiden, aber wie bei optischen Täuschungen oder in Kippbildern bleiben latent andere Lesarten vorhanden, die er nicht integrieren kann. SI dynamisieren damit die Bedeutungskonstruktion eines Textes. Die Ambivalenz bringt keinen dialektischen Prozess in Gang; vielmehr muss - tertium datur — das Sowohl-als-auch verschiedener Lesarten anerkannt werden. Der Text wird in dem Augenblick ,vor der Synthese' auf der Grenze zwischen verschiedenen Lesarten gehalten, und die Spannung löst sich nur in begrenzten Zeitabschnitten, nicht jedoch generell auf. Stadler/Kruse betrachten prinzipiell jede Wahrnehmung als multistabil, da Multistabilität für den Prozess kognitiver Selbstorganisation allgemein kennzeichnend sei (1992: 154).893 Bedeutungskonstruktion erscheint in dieser Sichtweise immer als eine Auswahl aus konkurrierenden Möglichkeiten und als aktive Festlegung von mehrdeutigen Wahrnehmungsangeboten. Einen Text zu verstehen kommt also einem Prozess kontinuierlicher Disambiguierung gleich, der sich an Kontexten orientiert. Ein .Theater der Grenzgänge entautomatisiert entsprechend diesen Vorgang und rückt ihn damit ins Zentrum der Aufmerksamkeit.894
891 Vgl. konstruktionelle Homonymien (syntaktische Mehrdeutigkeiten) in Sätzen wie „Ich empfahl/Peter ein Bild zu malen"/,,Ich empfahl Peter/ein Bild zu malen" oder in Sätzen wie „Wrestling gorillas can be dangerous" bzw. „Changing theories can be difficult", die gemäß der Generativen Grammatik Noam Chomskys zwei unterschiedliche Tiefenstrukturen aufweisen (vgl. "Wessells 1994: 303). 892 Kippbilder sind zwangsläufig instabil und pendeln sich nicht auf eine Bedeutung ein; vgl. Haken/Haken-Krell 1992: 202. 893 „Every stimulus pattern allows more than one interpretation. Thus, every percept has more than one state of stability" (Stadler/Kruse 1995a: 5). Sätze einer natürlichen Sprache haben z. B. stets viele potentielle Lesarten, aus denen der Rezipient die im gegebenen Kontext wahrscheinlichste auswählt (vgl. Huber 1992: 141). 894 In diese Richtung geht auch Poschmanns Urteil, wenn Poschmann auch eine andere Terminologie benutzt: „Die Dramaturgie der Zuschauerverunsicherung und der Offenheit fuhrt dazu, daß Bühnenvorgänge nicht mehr als Präsentation einer präexistenten, vom Zuschauer definitiv aufklärbaren (fiktionalen) .Wirklichkeit' zu verstehen sind, sondern daß der Prozeß dieses Verstehens als eigenverantwortliche Konstruktion von .Wirklichkeit' reflektiert wird, wobei sich der Zuschauer im Idealfall selbst beobachtet" (1997: 142).
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Der ,multistabile Effekt', den SI hervorrufen, erhält eine besondere Funktion, wenn er mit dem Sinn-Begriff der Systemtheorie Luhmannscher Prägung in Verbindung gebracht wird. Diesem zufolge ist Sinn ein Medium, nämlich die Einheit der Differenz von Aktualität und Möglichkeit des Erlebens und Handelns von Systemen,895 da alles Aktuelle, laut Luhmann, Sinn nur im Kontext anderer Möglichkeiten hat. Sinn ist damit keine Eigenschaft des Textes, sondern ein Möglichkeitsraum, in dem mittels eines Auswahlprozesses aus gleichwertigen Unterscheidungsalternativen Information ausgewählt wird und damit eigentlich erst entsteht. Potentielle Information (Sinn) wird also durch konkrete Entscheidungen realisiert (vgl. Küppers/Krohn 1992: 173): Im Medium des Sinns, in den lose gekoppelten Sinnverweisungen, hat man es mit der Gleichwahrscheinlichkeit von Möglichkeit und Wirklichkeit, von Affirmation und Negation zu tun. Die Kontingenz des Sinns im Sinne der jederzeit möglichen Modalisierung aller Wirklichkeiten und Möglichkeiten beschreibt die Einheit des Mediums Sinn. (Baecker 1992: 249) Sinn ist also eine differenzlose Kategorie (es gibt kein Gegenteil von Sinn), die Wirkliches, Mögliches und sogar Negiertes in sich einschließt. 896 Die nichtgewählten Möglichkeiten werden bei der Aktualisierung einer bestimmten Möglichkeit nicht vernichtet, sondern nur außer Kraft gesetzt, so dass alles aktuell Gegebene immer auch auf alles prinzipiell Mögliche verweist.897 Damit erlaubt Sinn zugleich Reduktion und Erhaltung von Komplexität.
895 Vgl. Trabant 1975: 2 7 9 - 2 8 1 , Krause 1999: 180. Auf die Streitfrage, ob Sinn tatsächlich als Medium aufgefasst werden und damit auch zeichenlos sein könne, sei hier nur verwiesen: Nach Luhmann geht Sinn aller Zeichenfestlegung voraus, weshalb er zwischen Bewusstseinssystemen, „die Sinn in Form eines rein innerlichen, vorkommunikativen (und demnach vorsemiotischen) Gedankenflusses prozessieren", und Sozialsystemen, „die Sinn in der Form von Kommunikationen prozessieren", unterscheidet (Krieger 1996: 74f.). Krieger ist hingegen der Auffassung, dass Sinn ohne semiotische Organisation nicht denkbar ist (1996: 76), weshalb Sinn nicht von Kommunikation unterschieden werden könne. 8 9 6 Sinn ist nach Luhmann (1985: 93) ein differenzloser Begriff, da er nicht durch seinen Gegensatz definiert werden kann, weil er ihn enthält. Denn Sinn geht auch durch Negierung nicht verloren (1975a: 201). Vgl. die Erläuterung bei Krieger: „Es ist somit eine Eigenart von Sinngrenzen, daß sie all das, was sich außerhalb befindet, in sich einschließen. ,Unsinn' also macht auch Sinn, denn sonst könnten wir gar nicht darüber nachdenken oder sprechen" (1996: 65). 897 Sinn ist nach Luhmann ein Medium, „das eine bestimmte Gestalt von Formung zulässt: Die Form, aktuell Gegebenes als etwas auszuweisen, das andere Gegebenheiten, andere Möglichkeiten nicht vernichtet, sondern nur als momentan inaktuell ausweist" (Gripp-Hagelstange 1997: 54). Nur diejenige Seite der Unterscheidung, die im Fokus der Aufmerksamkeit steht, ist klar umrissen.
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Innerhalb von Sinnsystemen ist, systemtheoretisch gesehen, das Beobachten (Unterscheiden) notwendigerweise von einem .Bezeichnen' begleitet, denn Unterscheidungen, die nicht bezeichnet werden, sind keine sinnhaften Unterscheidungen.898 Dabei kann nur eine der beiden Seiten einer Unterscheidung bezeichnet werden. SI verstören aber gerade diesen Vorgang des Bezeichnens, da sie grundlegende Unterscheidungen eines Texts in Innen vs. Außen, Vorher vs. Nachher und Konsens vs. Dissens nicht mit der eindeutigen Markierung einer der beiden Seiten verbinden. Wo SI vorliegen, kann nicht angegeben werden, was Aktualität und was Möglichkeit ist. Ein durch SI als Konstruktionsprinzip charakterisierter Text zeigt daher nicht klar die Auswahl vor dem Hintergrund nicht akttialisierter Möglichkeiten an. SI lassen Beobachtung zu, blockieren aber die Selektionen (d. h. die Auswahl eines marked Space) und halten damit beide Seiten der Unterscheidung präsent (Aktualisiertes und Mögliches).899 Über SI wird damit das Ausgegrenzte wieder in den Text einbezogen, so dass der Selektionsvorgang sichtbar bleibt. Damit machen SI Sinn als die Einheit von realisierten und ausgeschlossenen Möglichkeiten bewusst.900 SI ermöglichen ein Oszillieren zwischen Manifestem und Latentem, da sie nicht vorschreiben, an welcher Seite von Unterscheidungen angeschlossen werden muss: Sie halten damit die Einheit des Differenzierten und das Differente in der Einheit fest. Auf das Medium Sinn greifen aber, gemäß der Ausführungen Luhmanns, sowohl Bewusstsein als auch Kommunikation zurück, weshalb die Funktion der SI als Verweis auf die Kopplung dieser beiden Sinnsysteme verstanden werden kann. Dies soll im folgenden Kapitel erläutert werden.
898 So schreibt Luhmann: „Beobachten ist demnach das Bezeichnen der einen (und nicht der anderen) Seite einer Unterscheidung" (1998: 84). Beobachten ist also eine paradoxe Operation: „Unterscheiden und Bezeichnen sind zwei Operationen und zugleich eine Operation. Insofern zu einer Unterscheidung konstitutiv zwei Seiten gehören, muß gelten, daß bei der Operation Beobachten gleichzeitig zwei Seiten gegeben, aber nicht gleichzeitig benutzbar sind [...]" (Gripp-Hagelstange 1997: 98). 899 Nach Spencer-Browns mathematisch-logischem Kalkül hat jede Beobachtung zwei Seiten, „eine Innenseite, einen marked State, die bezeichnet, was bezeichnet wird, und eine Außenseite, einen unmarked State, die unbezeichnet bleibt, als diese unbezeichnete Seite aber bei allen Unterscheidungsoperationen mitgefuhrt wird" (Baecker 1996: 95).
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GRENZGÄNGE
4.4.2
TERTIUM
DATUR?
Dreißig Speichen treffen sich in einer Nabe: Auf dem Nichts daran (dem leeren Raum) beruht des Wagens Brauchbarkeit. Man bildet Ton und macht daraus Gefäße: Auf dem Nichts daran (seiner Leere) beruht des Gefäßes Brauchbarkeit. Man durchbricht die Wand mit Türen und Fenstern, damit ein Haus entstehe: Auf dem Nichts daran beruht des Hauses Brauchbarkeit. Darum: das Sein gibt Besitz, das Nichtsein Brauchbarkeit. (Laotse)901 Bei der Frage nach der kommunikativen Funktion von SI ist Luhmanns Konzept der Sinnsysteme Bewusstsein und Kommunikation vielversprechend. Luhmann unterscheidet drei unterschiedliche Systemtypen, organische, psychische und soziale Systeme,902 die je ihre eigenen Leitdifferenzen haben. Die Strukturen der drei Systeme sind unterschiedlich, d. h. Ereignisse werden von ihnen jeweils anders identifiziert. Psychische und soziale Systeme greifen dabei auf Sinn als Medium zurück. Elemente sozialer Systeme sind kommunikative Handlungen, Elemente psychischer Systeme Bewusstseinsprozesse, „die als eine Einheit aus .Wahrnehmen, Denken, Fühlen, Wollen oder .Prozessieren von Aufmerksamkeit' beschrieben werden können" (Berghaus 2003: 56). Die beiden Systemtypen bilden reziprok füreinander Umwelt (Luhmann 1993: 124), d. h. sie erzeugen füreinander nur Rauschen, denn soziale und psychische Systeme operieren operational geschlossen.903 Bewusstsein und Kommunikation sind nicht ineinander überführbar,
900 Nach Spencer-Brown, auf dessen Überlegungen die Luhmannsche Systemtheorie basiert, kann immer nur die bezeichnete Seite einer Unterscheidung, der marked state, beobachtet werden, nie dagegen beide Seiten der Unterscheidung bzw. die Unterscheidung selbst (die „Form"). Vgl. dazu Baecker: „Spencer Brown unterscheidet entsprechend zwei Formen des Umgangs mit Unterscheidungen, die form ofcondensation, die dadurch zustande kommt, daß eine Unterscheidung wieder und wieder getroffen wird, und die form ofcancellation, die durch die Operation des crossing zustande kommt. Die erste Form bestätigt die eine Unterscheidung, die getroffen wird, und läßt sich daher auf sie reduzieren. Die zweite Form hebt die Unterscheidung auf, die getroffen wurde, und konfrontiert mit nichts als dem unmarked state" (1992: 223f.). 901 Zitiert nach Watzawick/Weakland/Fisch 1975: 62, Anm. 2. 902 Die Systeme verweisen auf die drei Bereiche Leben (Gesamtheit aller biologischen Vorgänge), Bewusstsein (Gesamtheit aller intrapsychischen Vorgänge) und Kommunikation (Psyche, Organismus und soziales System); vgl. Luhmann 1998: 11-67. 903 Erstere können nur kommunizieren, und letztere können nur wahrnehmen; vgl. Baecker 1996: 97. Krieger wendet ein, dass unterhalb der Sprachgrenze kein Bewusstsein möglich sei, denn bewusstseinsmäßige Kontingenz könne nur durch Sprache reduziert werden (1996: 82f.). Diese Argumentation ist nicht zwingend, da Bewusstsein durchaus möglich ist, ohne
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d. h. sie können dem jeweils anderen System keine Information übertragen, doch können sie sich .strukturell koppeln : Bewusstsein kann Kommunikation, Kommunikation kann Bewusstsein stören, reizen und irritieren. 904 Kommunikation kann Bewusstseinszustände daher zwar nicht repräsentieren, wohl aber beobachten mittels systemeigener Unterscheidungen, wodurch es möglich wird, Wahrnehmungen sozial zu verarbeiten. Sobald die Kommunikation die Wahrnehmung mittels Unterscheiden und Bezeichnen beobachtet, handelt es sich nicht mehr um Wahrnehmung, sondern um Kommunikation. Kommunikation ist dann ein Bericht über Wahrnehmungen: [...] Wahrnehmungen können auf diese Weise, ohne je Kommunikation werden zu können, Kommunikation stimulieren und ihr die Wahl des einen oder anderen Themas nahelegen. Wahrnehmungsberichte sind keine Wahrnehmungen, die Kommunikation operiert insofern blind [...] (Luhmann 1995: 893)905 A u f die Textanalyse übertragen heißt das, dass eine Bedeutungskonstruktion Bewusstsein (des Rezipienten) und Kommunikation (Text) strukturell koppelt. 906
dass es kommunikativ beobachtet wird, wie etwa das Phänomen der Empathie zeigt. Vgl. dazu Abel: „[...] es gibt welt-erschließende, jedoch nicht-sprachliche Symbolsysteme und nichtsprachliche Weisen der Konstruktion, des Erfassens und des Ausdrucks von Wirklichkeit, z. B. die musikalische oder die bildliche. Und es gibt Wirklichkeiten für uns, die nicht auf den Rahmen einer Sprache im engeren Sinne reduziert werden können" (1995: 168). Daher kann Kriegers Folgerung nicht zugestimmt werden, die Unterscheidung zwischen den Sinnsystemen psychisch und sozial sei sinnlos (1996: 84). 904 Es gibt kein .Supersystem, das Bewusstseins- und Kommunikationssysteme integriert; „Statt dessen sind Bewußtseinssysteme fähig, kommunikative Systeme zu beobachten, aber auch umgekehrt: kommunikative Systeme fähig, Bewußtseinssysteme zu beobachten" (Luhmann 1995: 895). Vgl. Baecker 1992; 1996, Gripp-Hagelstange 1997: 72. Zur Gleichzeitigkeit von Bewusstsein und Kommunikation vgl. Luhmann 1998: 43. 905 Die Sprache hat die Funktion der strukturellen Kopplung von Kommunikationsereignissen und Bewusstseinsereignissen (vgl. Luhmann 1998: 53); „Ein Kommunikationssystem .beeindruckt' ein Bewußtseinssystem" (58). Luhmann präzisiert: „Kommunikation ist nur durch Bewußtsein mit ihrer Systemumwelt verbunden. Es gibt keine direkten Einwirkungen physischer, chemischer oder biologischer Tatsachen auf kommunikative Systeme. [...] Zur Aufnahme von Einflüssen der Umwelt unter Erhaltung der Autopoiesis des Kommunikationssystems ist die Vorfilterung durch Bewußtsein erforderlich" (1998: 45). Zu den Selbstbeobachtungen des Bewusstseins vgl. auch Fuchs: „Die unbeobachtete Einheit des psychischen Systems ist die Erregung, die Energie, die Kraft, der Trieb. Sie ist keiner Hermeneutik zugänglich, ist sinn- und sprachfrei" (1998: 43). Wenn Schweigen auf das Unsagbare (arrätos, aporrätos, inenarrabilis, ineffabilis) verweist, zeigt es eine Wahrnehmung an, die keine Kommunikation anregt. 906 Vgl. Jahraus: „Interpretation ist die strukturelle Kopplung von Kommunikation und Bewußtsein, oder, enger gefaßt: Mit Interpretation läßt sich das sinnkonstituierende prozessuale Moment dieser strukturellen Kopplung bezeichnen" (1999: 268).
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Innerhalb von Kommunikation kann aber auch auf die Differenz zwischen Wahrnehmung und Kommunikation angespielt werden, dann nämlich, wenn die Kommunikation nicht reibungslos abläuft.907 Genau an diesem Punkt setzen SI an: Sie verstören die Kommunikation, verweisen auf das Medium Sinn und lassen so in der Kommunikation selbst die Wahrnehmung durchscheinen, denn sie erzeugen einen Zustand der Dififerenzlosigkeit, der an (unterschiedslose) Wahrnehmung erinnert. Damit markieren sie die Unterscheidung zwischen Bewusstsein und Kommunikation im Text selbst,908 wodurch etwas zum Vorschein kommt, was nicht auf den Begriff gebracht werden kann. Es beginnt ein Oszillieren, das weder der Kognition noch der Wahrnehmung ganz verpflichtet ist: Rezeption wird zu einer integrativen Erfahrung. SI halten den Moment der Kopplung von Bewusstsein und Kommunikation fest und ermöglichen Grenzerfahrungen auf einer Ebene vor der Erfassung der Wahrnehmung durch die Kommunikation im Medium Sinn, ein Festhalten der Textverarbeitung an der Grenze zwischen Wahrnehmung und Kommunikation, vor und unterhalb der Konstruktion einer konkreten Bedeutung.909 Baecker bringt das Oszillieren zwischen Wahrnehmung und Kommunikation mit dem Begriff des Erhabenen in Verbindung (1996: 96, Anm. 11). Dieser geht auf Kant zurück und ist mit der Idee der Begriffslosigkeit verbunden. Das Erhabene verweist nämlich auf den Moment, in dem der Geist die Materie als etwas erfasst, was sich von ihm nicht ergreifen lässt. Bei Lyotard ist es die ästhetische Ausdrucksform des Widerstreits „zwischen dem von der Vernunft Denkbaren und dem sinnlich, im Rahmen einer Form Vorstellbaren" (Zima 1997: 213). 910 Da SI nur im Textganzen, nicht jedoch als isolierbare oder lokalisierbare Elemente beschreibbar sind, können sie keine Zeichen sein, doch haben sie eine 907 Vgl. Baecker: „[...] das Bewußtsein [profitiert] von immer neuen und immer raffinierteren kommunikativen Optionen, die genau dort das Bewußtsein als den Fluchtpunkt jeder Kommunikation setzen und fordern, wo es um den .Witz' der Kommunikation geht, um den Sprung von der einen zu einer anderen" (1992: 217). 9 0 8 Der Text erfasst damit beide Hemisphären des menschlichen Gehirns, sowohl die logischanalytisch arbeitende (Sprache: Grammatik, Syntax, Semantik) als auch die ganzheitlich erfassende (Muster, Konfigurationen, Strukturen; vgl. dazu Watzlawick 1991: 22). Vgl. auch Ostens Verweis auf eine „holographische Gehirnfunktion", d. h. ein ganzheitliches Erfassen und Verknüpfen von Wahrnehmungen (1995: 178). 9 0 9 Die Grenze, auf die SI anspielen, ist vergleichbar mit der .Ebene unterhalb der Beobachtung ersten Grades', von der Gumbrecht spricht: „.Unterhalb' der Beobachtung ersten Grades wird eine Koppelung angesetzt, die keine ,neuen Systemzustände hervorbringt, mithin sich selbst gegenüber,blind bleibt und also auch nicht die (Einheit der) Differenz zwischen den die Koppelung konstituierenden Systemen .sehen' kann" (1991: 475). Nothdurft nennt die vorsymbolische, nicht propositionale Erfahrung embodiment (2002: 63). Zur ,uninterpretierten (somatischen) Erfahrung vgl. auch Shusterman 1996. 910 Eben dieses Erhabene sieht auch Lyotard in einer ,postmodernen' Kunst; vgl. Lyotard 1989: 173; 233, 1989a: 82, 1993: 47 und dazu Reese-Schäfer 1995: 57. Lyotard fordert, das Undarstellbare zum Gegenstand der Künste zu machen (vgl. dazu Zima 1997: 210-216).
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Verweisfunktion: Sie zeigen die Einheit von Bewusstsein und Kommunikation an. Baecker sieht die Aufgabe der Kunst in der modernen Gesellschaft allgemein darin, mit der Unterscheidung Kommunikation vs. Wahrnehmung zu arbeiten (1996: 93), indem sie diese wieder in die Kommunikation einfuhrt. 911 D a m i t sei Kunst ein paradoxes Unterfangen, nämlich kommunikativ rekonstruierte Wahrnehmung: Die Kommunikation der Kunst versucht [...] immer, jenen Punkt der eigenen Gefährdung zu erreichen, in dem sie sich als Kommunikation aufs Spiel setzt, das heißt alle Arten von Anschlußkommunikation entmutigt, und statt dessen so tut, als könne sie selbst, als Kommunikation, nur innerhalb der adressierten Bewußtseinssysteme und dort in der Form von Wahrnehmung fortgesetzt werden. (Baecker 1996: 99) A u f genau diese Paradoxie verweisen auch SI, indem sie die Differenz zwischen Bewusstsein und Kommunikation in der Kommunikation erfahrbar machen. D i e Kommunikation reflektiert also die Unterscheidung, durch die sie allererst im unmarked State abgegrenzt wurde: „Die Beobachtung beobachtet die Operation der Beobachtung; sie beobachtet sich selbst als Objekt und als Unterscheidung [...]" (Luhmann 1992: 75). Das bedeutet, dass eine Unterscheidung zugleich affirmiert und negiert wird, was ein Paradox ist, 912 konkret die Paradoxie des eingeschlossenen ausgeschlossenen Dritten. 913 Daher legen SI ein spezifisches Konzept der Textanalyse bzw. der Interpretation nahe.
911 Vgl. Baecker: „Die Funktion der Kunst besteht darin, Formen der Kommunikation zu entwickeln und zu erproben, in denen der in aller Kommunikation mitlaufende Ausschluß bewußtseinsmäßiger Operationen als dieser Ausschluß mitkommuniziert werden kann" (1996: 96). Zum re-entry allgemein vgl. Luhmann 1998: 84. 912 Nach Baecker gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten, die Einheit der Differenz von Bewusstsein und Kommunikation zu reflektieren: Angst und Ironie (1992: 239-246). Nach Baecker bringt die Ironie „die Einheit der Differenz, das heißt die Differenz als solche, zum Einsatz", indem sie „den einen markedState gegen den andern" ausspiele (1992: 243). Daher entstehe der Eindruck, „daß das, was die ironische Beobachtung besser weiß, obwohl sie nichts weiß, das Wissen um die Unterscheidung selbst ist" (1992: 245). 913 Wenn die System-Umwelt-Unterscheidung indes im Inneren eines Systems erscheint, entsteht immer ein Paradox, welches zu Situationen der Unentscheidbarkeit fuhrt, „zu Situationen der Oszillation zwischen zwei Polen" (Esposito 1991: 37). Selbstbeobachtung ist immer schon ein paradoxes Unterfangen, denn es ist unmöglich, „die Einheit eines Systems durch eigene Operationen in das System wiedereinzuführen; denn eine solche Operation würde ja das System, das sie beobachten will, durch den Vollzug der Beobachtung verändern" (Luhmann 1993: 129). Vgl. Luhmann: „Man sieht, was man mit bestimmten Unterscheidungen, die beide Seiten spezifizieren (zum Beispiel gut/böse; mehr/weniger; vorher/nachher; manifest/ latent) bezeichnen kann. Man sieht nicht, was im Kontext des Unterscheidens weder als die eine noch als die andere Seite fungiert, sondern als das ausgeschlossene Dritte. Der Beobachter selbst ist immer das ausgeschlossene Dritte" (1992: 64).
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GRENZGÄNGE
4.4.3
INTERPRETATION?
Es geht nicht darum, das, was hinter den Masken verborgen ist, zutage zu fördern; vielmehr gilt es, das zu erkennen, was durch das Maskieren produziert worden ist. (Pfaller 1 9 9 7 : 20)
Textanalysen und Interpretationen vereinfachen Texte, weil sie nur bestimmte Relationen zwischen Textdaten berücksichtigen können. Systemtheoretisch betrachtet handelt es sich um Symmetriebrüche: die Entscheidung für eine Alternative/Bedeutung (und nicht fiir eine andere). Die Analyse von SI in Texten rückt hingegen nicht die Konstruktion von Bedeutungs-Attraktoren, sondern deren Verstörung ins Zentrum des Interesses. Dies zieht auch einen Wandel der Art von Textanalyse nach sich, die einen Text nicht auf Bedeutungen festlegt, sondern dessen Komplexität als Netz möglicher Bedeutungskonstruktionen und deren Verstörungen modelliert.914 Es geht um die Einsicht in Verfahren: Ziel der Textanalyse ist nicht das hermeneutische Erschließen von Sinn, sondern das Verstehen des Prozesses der Bedeutungskonstruktion und die Beschreibung seines Funktionierens.915 Dadurch wird Textanalyse selbstreflexiv: Sie fragt, wonach sie fragt, wenn sie analysiert. Wie ist aber das Modellieren von Bedeutungsmöglichkeiten so formulierbar, dass es weder der Textimmanenz noch der Beliebigkeit der Rezeption das Wort redet und dabei sowohl systemhafte als auch ,chaotische Texte' sowie ,Texte als Grenzgang' ins Blickfeld bekommt? Ein Rückgriff auf das Attraktor-Modell ist hier vielversprechend, weil es Bedeutung als Zusammenspiel zwischen textgelenkten Strukturen und dem vom Rezipienten an den Text herangetragenen Vorwissen miteinander verbindet: Der Rezipient fasst Daten stimmig (d. h. kongruent zum Vorwissen) zu Bedeutungen zusammen,916 welche ihrerseits als Attraktor angesehen werden können. Sie sind vorläufig stabil, innerhalb gewisser Grenzen fehlertolerant, können aber plötzlich in den Bereich anderer Bedeutungs-Attraktoren geraten und dabei u. U. sogar aufgelöst werden. Wird Textrezeption als Konstruktion von Bedeutungs-Attraktoren konzipiert, ist auch verständlich, warum eine Analyse einen Text nie ausschöpfen kann und weshalb sich Interpretationen historisch ändern: Das Vorwissen des Rezipienten, wichtiger Bestandteil der Komplettierungsdynamiken, ändert sich stetig. Da914 Dies erinnert an eine Aussage Barthes', derzufolge man eine écriture multiple nur entwirren {démêler), nicht jedoch entziffern (déchiffrer) könne (1994a: 494). 915 Zu Problemen der Paradoxien und Aporien der Interpretation vgl. den Sammelband Jahraus/ Scheffer 1999, und darin besonders Görnitz' (1999) Ausfuhrungen zum schwierigen Aspekt der Adäquatheit' von Interpretation. 916 So schreiben Stadler/Kruse zur Wahrnehmung allgemein: „This means, as we have pointed out, that the interpretation of a percept is already part of the process of finding its attractor" (1995a: 17).
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her ,generieren' Texte Bedeutung: Aus einer Menge von Textdaten kann eine Fülle verschiedener Bedeutungen nach immer wieder neuen Bezugsrahmen konstruiert werden, die zueinander sogar in Widerspruch treten können. Zudem wird deutlich, warum es trotzdem so etwas wie .passendere/stimmige' und ,unpassendere/unstimmige' Analysen gibt: Die kulturelle Umwelt der Rezipienten ist auf strukturelle Kopplungen von Kommunikationen ausgerichtet, und Vorwissen (Schemata und frames) ist ein im Laufe der Sozialisation erworbenes Instrument dieser Kopplung. Je deutlicher Merkmale eines Schema s!frames im Text anklingen, desto wahrscheinlicher ist die Komplettierung der Textdaten anhand ähnlicher SchemzxaJframes durch mehrere Rezipienten. In diesen Fällen gilt bei der Konstruktion von Bedeutungs-Attraktoren das starke Kausalitätsprinzip917 trotz der prinzipiellen Unvorhersagbarkeit des individuellen Moments der Rezeption. Da ein Attraktor ein Zustand ist, auf den ein Prozess mit bestimmten Transformationsregeln auch von verschiedenen Ausgangszuständen her zuläuft (vgl. Kriz 1992: 27), erklärt sich die relative Homogenität der Rezeption. Auch sehr verschiedene Ausgangsvoraussetzungen (z. B. das je individuelle Voraussetzungssystem jedes einzelnen Rezipienten) zeitigen auf Dauer ähnliche Resultate, da ähnliche Schemata und frames benutzt werden. Außerdem können äußere Zielvorgaben (vorgegebene ,Lese-Schemata' - etwa ein feministisches oder dekonstruktivistisches Lese-Schema - bzw. Rezensionen) die selbstorganisierende Dynamik zwischen Textdaten und Nutzung von Vorwissen massiv beeinflussen.918 Unstimmigkeiten zwischen den Textelementen oder zu große Vagheit der Verweise auf Vorwissen, also SI, verstören entsprechend die Konstruktionen von Bedeutungs-Attraktoren. Keine Textanalyse ist unabhängig von den Schritten, die der Beobachter unternimmt, um zu ihr zu gelangen, und jede Interpretation ist Ausdruck einer Rezipient-Text-Beziehung.919 Beobachter und Beobachtetes können nicht getrennt werden, denn der Rezipient erzeugt den Text durch seine Konstruktion(en).920 Dies
9 1 7 Dieses besagt: „Gleiche Ursachen, gleiche Wirkung, ähnliche Ursachen, ähnliche Wirkungen" (vgl. dazu an der Heiden 1996: 100). 918 Chaostheoretisch formuliert, bieten solche Vorgaben mögliche Bedeutungs-Attraktoren an, damit die Textelemente in ihrem Sinne organisiert werden. Dadurch wird aber nicht eigentlich Wissen über den Text erzeugt, sondern vielmehr Wissen über die jeweils von Außen vorgegebenen Attraktoren. 919 Scheinbare Identität und Invarianz von Objekten sind Eigenschaften der Beschreibung und nicht des beobachteten Objekts (vgl. Simon 1999: 154; 156); Ordnung ist eine SubjektObjekt-Relation und nicht die (statische) Eigenschaft von Dingen (Foerster 1996: 198). 920 Die Phänomene, die ein Beobachter beobachtet, sind durch ihn selbst induziert; vgl. in diesem Zusammenhang Foerster 1985: 81; 1996: 116, Glasersfeld 1993: 91, Bischof 1995: 25, Foerster/Pörksen 1999: 130, Görnitz 1999: 7, Simon 1999: 58, Maturana 2 0 0 0 : 190. Vgl. auch das Kapitel „Der Unterschied zwischen Pfeifen und Gesang als Beobachtungsartefakt" bei Rotheimer (1999: 70-75).
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ist ein weiteres Paradox — der Rezipient steht zugleich innerhalb und außerhalb seiner Analyse — was wieder beobachtet werden kann und muss. Gerade SI machen darauf aufmerksam, dass Bedeutungen immer nur zeitweilig stabil sind, da sie dynamische Ergebnisse eines Prozesses sind (was in einem kohärenten Textsystem nicht weiter auffällt, sondern gewissermaßen ,im Hintergrund' unbewusst ,mitläuft')- Weil das Attraktorkonzept dynamisch ist, kann es gerade oszillierende Textstrukturen in ihrem zeitlichen Aspekt modellieren und damit Vergleichen zugänglich machen. Bei Textstrukturen, die multistabilen Bildern ähneln, zeigt sich die Beschreibungskraft des Konzeptes .Bedeutungs-Attraktor' am Klarsten. Es ist umfassender als traditionelle literaturwissenschaftliche Kategorien wie Mehrdeutigkeit und Collage, aber auch genauer als Termini der Ästhetik des Films wie Montage und Uberblendung. Der Begriff Mehrdeutigkeit ist statisch und erfasst nicht die abrupten Ubergänge von einer stabilen Wahrnehmung zu einer anderen (also das .Umkippen' einer Lesart in eine andere). Mehrdeutigkeit bietet sich nur bei mindestens zwei gleichzeitig wirksamen Bedeutungskonstruktionen an, erfasst aber auch dann nicht eventuelle partielle Vereindeutigungen, die das Modell eines Attraktorbereichs hingegen berücksichtigen kann (in abgrenzbaren Phasen). Attraktoren erfassen zudem auch den Zusammenhang zwischen ,Inseln der Stabilität'. Der Begriff Collage01 modelliert keinen zeitlichen Aspekt von Wahrnehmungen und kann daher nicht beschreiben, dass es möglicherweise dasselbe Element ist, das je nach Kontext unterschiedlich interpretiert werden muss. 922 Ein und dieselbe Geste z. B. kann in bestimmten Zeiträumen konkret funktionalisiert und damit zeitweilig eindeutig sein — der Begriff Collage kann jedoch nur ein zur gleichen Zeit beobachtbares Nebeneinander heterogener Elemente erfassen. Der Begriff Montage m greift nicht bei der Beschreibung z. B. von Kippbildern. In diesen werden ja gerade nicht verschiedene Bilder durch raumzeitliche Brüche (.Schnitte') voneinander abgesetzt und über Kontrast- und Korrespon-
921 Als Text-Collage bezeichnet Schestag die „montierende Integration von unterschiedlichen Materialien", u. a. auch in literarischen Texten, bei „Betonung des Heteronomen, des Bruches und des Widerspruchs qualitativ unterschiedlicher Textmaterialien" (1997: 47). Zur Collage vgl. auch Wilpert 1989: 155, Schweikle/Schweikle 1990: 83f. Materialien des Bühnentextes sind die visuellen und akustischen Elemente. 9 2 2 Im Falle von Rodrigo Garcías Compré una pala en Ikea para cavar mi tumba ist dies z. B. Rubéns Armhaltung, die in drei verschiedenen Kontexten interpretiert werden kann. 923 Wilpert bezeichnet die Montage als „verfremdende Zusammenfiigung und Nebeneinanderstellung verschiedener] Wirklichkeitsebenen oder Wort-, Gedanken- und Satzfragmente unterschiedlicher] sprachl[icher], stilistischer], inhaltlicher] und raumzeitlicher] Herkunft nach rein formalen Grundsätzen zur Erzielung von Diskontinuität, Verfremdung, Uberraschungseffekten, Provokation oder zum Durchlässigmachen für assoziative Parallelen und Kontraste [...]" (1989: 588). Vgl. auch Schweikle/Schweikle 1990: 310. Zur Montage in Bühnentexten vgl. auch Seibel 1988, Fritz 1993.
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denzrelationen miteinander verbunden. Vielmehr wird demselben visuellen Eindruck durch eine andere Interpretation des Kontextes eine neue Bedeutung verliehen. Kippbilder gleichen damit auch nicht der Überblendung: Der Übergang von einer Wahrnehmung zur anderen erfolgt abrupt und muss als .Umkippen und nicht als langsames Auflösen eines Bildes und allmähliches Aufbauen eines anderen angesehen werden. Die vom Begriff des Attraktors implizierte Nichtlinearität des Wahrnehmungsvorgangs (die Gestalt verändert sich nicht proportional zur Zeit, sondern plötzlich bei Überschreitung einer Schwelle) ist für die Beschreibung vieler Phänomene des Gegenwartstheaters also wesentlich besser geeignet als Begriffe, die Statik implizieren. Die Umschreibung einer Sequenz mit .mehrfacher Wechsel des Attraktorbereichs' legt den Akzent auf den Wahrnehmungsvorgang: Bedeutung wird buchstäblich von Attraktoren ,angezogen. Beschriebe man den Vorgang nur als ,Kontextwechsel\ wäre das Moment des .Umschlagens' der Wahrnehmung nicht erfasst. Das Attraktor-Modell hat weitere Vorteile bei der Beschreibung literarischer Texte: 1) Es impliziert die Wechselwirkung zwischen Stabilität und Wandel, Struktur und Prozess. Attraktoren tragen dem dynamischen Aspekt der Bedeutungskonstruktion eines Textes Rechnung. Bedeutungen sind in dieser Sichtweise nicht im Text enthalten, sondern ergeben sich aus der spezifischen Dynamik, mit der ein Rezipient Bedeutung konstruiert. .Dynamische Bedeutung' heißt, dass die Stabilität einer Ordnung durch weitere Textdaten so lange erhalten bleibt, bis diese zu stark verstört und durch eine andere ersetzt wird.924 Jede Bedeutung ist damit ein vorläufig stabiler Endpunkt, das Fließgleichgewicht eines (theoretisch unaufhörlichen) Prozesses. Bedeutungszuweisung zu einem Gesamttext ist dann ein Vorgang, der u. U. viele und verschiedene Attraktoren ausbildet. 2) Der Attraktor macht Phänomene der Emergenz und der Selbstorganisation bei der Textbeschreibung beobachtbar, weshalb der vexierende Effekt vieler Bedeutungsstrukturen besser in den Blick gerät. Mit Attraktoren wird erfasst, dass Textelemente im Laufe der Rezeption nicht immer gleichbleibende Funktionen haben und mittels verschiedener Bedeutungs-Attraktoren in unterschiedliche Ordnungen/Muster integriert werden können. 3) Der Prozesscharakter der Konstruktion wird dadurch betont, dass die Textorganisation und nicht die Textstruktur beschrieben wird. Ein Attraktor ist dabei nicht mit der Autorintention gleichzusetzen und postuliert auch nicht so etwas wie eine Textintention. Immerhin fußt er auf den Konstruktionen, die der Rezi-
924 Vgl. Küppers: „Die Strukturen, die durch Selbstorganisationsprozesse erzeugt werden, sind dynamisch. Sie bestehen, solange die sie tragenden Prozesse erhalten werden. Sie unterscheiden sich fundamental von statischen Strukturen, für die Kristalle ein Beispiel sind. Deren Ordnung wird bestimmt durch lokale Eigenschaften der sie bildenden Atome" (1996a: 133).
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pient mit seinem eigenen Vorwissen errichtet. Texte sind in dieser Sichtweise weder eine bloße Ansammlung von Sätzen, in die ein Rezipient beliebige Konstruktionen hineinprojizieren kann, noch vorgefertigte Strukturen, die der Rezipient nur erraten muss, sondern Anregungen zu einem Organisationsprozess, der bestimmte stark oder schwach vorgebildete Bedeutungs-Attraktoren ausnutzt. 4) Mit Hilfe des Attraktormodells wird der Blick auf die Schwelle zwischen zwei Attraktorbereichen gerichtet, auf der viele Gegenwartstexte .wandern', indem sie weder den Bereich diesseits noch jenseits der Schwelle markieren. Vexierende Effekte in Texten können als Wirksamwerden zweier gleichberechtigter Attraktoren verstanden werden. 5) Durch das Hinzuziehen des Begriffes Attraktor kann auch mit dem Begriff Verstörung gearbeitet werden, der in seiner spezifischen Funktion (Attraktoren aufzulösen) und seiner unspezifischen Wirkung (er ist ohne konkrete Zielvorgabe) unvorhersehbare Bedeutungskonstruktionen in Gang bringen kann. 6) D a ein Attraktor nicht das Gleiche wie Signifikat oder Referenz ist, verschiebt sich der Akzent von ontologischen auf funktionale Beschreibungen. Der Unterschied zwischen den Resultaten eines Generierungsprozesses (Bedeutung) und der Struktur des Generierungsprozesses selbst (Hervorbringen von Bedeutungen) wird aufgehoben, denn ein Attraktor ist immer beides zugleich: der Prozess und das Resultat. 7) Das Attraktor-Modell schärft das Verständnis fiir sprunghafte nichtlineare Bedeutungsänderungen. Gerade in hochgradig komplexen Texten des Gegenwartstheaters ermöglicht es die Beschreibung des Rezeptionsvorgangs als Konstruktion von .Gestalten, also plötzlich erkennbaren Gesamtzusammenhängen. Statt einen Text in Teile zu zerlegen (wie Raum, Zeit, Figuren o. ä.) und statt die Eigenschaften des Systems durch die Eigenschaften seiner Elemente zu erklären, wird die Textorganisation immer als Ganzes beschrieben. 8) Die Anwendung des Attraktor-Modells ist eine Anerkennung von Komplexität. Viele Wechselwirkungen zwischen Daten sind nur unscharf erfassbar. Auch muss Rezeption von Textdaten u. U . derartig viele Variablen berücksichtigen, dass die Gesamtbedeutung nicht linear bestimmbar ist.925 D e n n in komplexen Texten hat das je individuell verschiedene Vorwissen eines Rezipienten in der Zeit unvorhersehbare Wirkungen bei der Bedeutungskonstruktion (entsprechend ist C h a o s in den Naturwissenschaften als Empfindlichkeit gegenüber Anfangsbedingungen definiert). Der Attraktor bietet hier einen Beschreibungsvorteil, da er mit Wahrscheinlichkeiten und nicht mit Festschreibungen
925 Ein lineares System liegt vor, wenn die durch die Wechselwirkungen hervorgerufenen Änderungen der Systemvariablen in der Zeit zu den Systemvariablen direkt proportional sind. Für nichtlineare Systeme gilt entsprechend, dass kleine Veränderungen große Auswirkungen auf das Ganze haben können.
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arbeitet. 926 Während lineare Modelle bei niedrigdimensionalen (also eher auf eine einheitliche Bedeutung ausgerichteten) Textsystemen unproblematisch sind, eignen sich zur Beschreibung hochdimensionaler Systeme (also mit variablen Bedeutungen) nichtlineare Modelle besser. 9) Legt m a n der Textanalyse Begriffe wie Selbstorganisation und Attraktoren zugrunde, wird auch das Verhältnis zwischen Form und Inhalt als Beobachterphänomen greifbar. 927 Die Frage, wie ein Text Bedeutung erzeugt (Strukturen), legt den Fokus auf die dynamische Stabilität von Bedeutungen, die Frage danach, was ein Text bedeutet, entsprechend auf die dynamische Stabilität von Bedeutung. 10) Der Begriff des Attraktors schafft, last but not least, einen interdisziplinären Beschreibungszusammenhang. Attraktor-Konzepte sind in der Medizin und der Psychologie allgemein auf die Organisation von Affekten und Kognition übertragen worden: C i o m p i modelliert beispielsweise menschliche Affekte konsequent nach dem Attraktor-Modell (1997: 154), Kriz wendet chaostheoretische Konzepte auf den Bereich der Psychosomatik an (vgl. 1999: 175-191). Auch i m Bereich der Kognitionstheorie, insbesondere bei der Modellierung von Wahrnehmungsvorgängen, werden Attraktoren zur Darstellung von Gestaltbildungsprozessen genutzt (vgl. Peschl 1994), so dass eine Anwendung auf die Bedeutungskonstruktion in literarischen Texten nahe liegt. H e r m a n n Haken, der ,Vater der Synergetik', stellt sich sogar vor, „ein Wissenschaftsgebiet ins Leben zu rufen, das die Vorgänge der Selbstorganisation in den verschiedensten Disziplinen von einem einheitlichen Gesichtspunkt aus behandelt" (1996: 176). 928 Einen einheit-
926 Hier kann eine Parallele zu den Naturwissenschaften gezogen werden: „Die allermeisten Systeme in der Natur kann [...] die Wissenschaft nur beschreiben in Form einer Mischung aus deterministischen (gesetzmäßigen) Mechanismen und stochastischen Einflüssen (in zufälliger Abfolge stattfindenden Einwirkungen) von außen oder von innen. Dies liegt allein schon daran, daß zu einer vollständigen Beschreibung eine Beschreibung der ganzen Welt erforderlich wäre, die aber unmöglich ist" (an der Heiden 1996: 119). 927 Die jeweilige Betonung eines Aspektes (z. B. sozialhistorische Interpretationen bei Betonung der Inhaltsseite, strukturalistische bei Betonung der Formseite) lässt den jeweils anderen in den Hintergrund treten. Nur zu Beobachterzwecken können beide Aspekte aber überhaupt getrennt werden. Eine betont inhaltliche Interpretation beobachtet den Text, als zähle die Form bei der Sinnbildung nicht, eine betont strukturelle, als sei Sinn kurzerhand ein Effekt der Struktur (vgl. zu dem Themenkomplex Münker/Roesler 2000: 31). Zum Verhältnis zwischen Inhalts- und Ausdrucksebene vgl. Zima 1995. Die Abgrenzung von Form und Inhalt erinnert an die Schwierigkeiten der Linguistik bei der Abgrenzung von Syntax und Semantik in der Transformationsgrammatik. An dieser Stelle sei nur darauf verwiesen, dass syntaktische Abhängigkeitsbeziehungen für allgemeine Bedeutungsrelationen stehen und damit syntaktische Strukturen semantisch zu interpretieren sind. 928 Küppers spricht davon, dass die Selbstorganisationstheorie „zu einer Natur- und Gesellschaftswissenschaften umfassenden Einheitswissenschaft" (1996a: 146) werde. Kriz ist der Meinung, dass „alle Strukturen und Ordnungen, die wir in der Welt beobachten können, als Manifestationen solcher vorübergehend [...] stabilen Dynamiken verstanden werden können" (1999: 41).
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liehen Rahmen bei der Darstellung von Bewusstseins- und Kommunikationsprozessen könnte in diesem Sinne das Attraktor-Modell liefern. Dabei ist von Vorteil, dass es unterschiedliche Typen von Attraktoren gibt: den (Fix-) Punkt (einen Konvergenzpunkt, auf den sich z. B. ein Pendel einschwingt), die regelmäßige Schwingung ( limit cycles, d. h. zyklisch wiederkehrende Aktivierungsmuster/ Eigenschwingungen) sowie den so genannten seltsamen oder chaotischen Attraktor ( stränge attractor). m Letzterer entsteht, wenn die Trajektorien eines Systems nicht regelmäßig sind, keine stabilen Perioden zeigen und sich nirgendwo schneiden, insgesamt aber klar strukturiert sind (also eine Gestalt bilden), weil sie stets einen genau beschreibbaren begrenzten Bereich des Phasenraums ausfüllen, dessen Ausdehnung und Form angegeben werden kann. 930 M a n kann davon ausgehen, dass ein Rezipient während der Textrezeption meist (tentativ) verschiedene Bedeutungs-Attraktoren konstruiert, u m diese am Textende zu einem stimmigen Gesamt-Attraktor zu vereinen. Ist dies möglich, so kann der Text unter einem Fixpunkt-Attraktor organisiert werden. Hält der Rezipient hingegen eine begrenzte Anzahl nicht ineinander integrierbarer Attraktoren fest, so dass er zyklisch zwischen ihnen hin- und herwechseln kann (Kippbildern vergleichbar), erinnert dies an limit cycles. Erhält er indes ein begrenztes ,Feld' unzähliger möglicher Bedeutungen, erinnert die Bedeutungskonstruktion an einen stränge attractor.931 Dies ist möglich, wenn die Bedeutungs-Attraktoren ver-, aber nicht zerstört werden, da in diesem Fall die Bedeutungskonstruktion zugleich
929 Vgl. Prigogine/Stengers 1993: 100-104. Stadler/Kruse übertragen diese Attraktor-Modelle auf Wahrnehmung und Verhalten: „In psychophysics we usually find fix-point attractors in pereeption [...] and periodic attractors in behavior [...]" (1995a: 10). 930 Die Verteilung konkreter Punkte (oder einzelner Trajektorien, d. h. Kurven im Raum) hängt indes von Kleinsteinflüssen ab, ist also nicht prognostizierbar und erscheint daher willkürlich. Vgl. zu chaotischen Attraktoren Kriz 1992: 131, an der Heiden 1996: l l 4 f . , C i o m p i 1997: 142, Wrobel 1997: 188f. Goldschweer beschreibt .chaotische Attraktoren' als „Figuren von scheinbarem Ebenmaß, die eine sich niemals schließende und niemals wiederholende Kurve beschreiben" (1998: 70). Als Beispiel kann der Henon-Attraktor genannt werden, der einen Bereich umfasst, in dem sich Trajektorien einpendeln, dort aber chaotisch herumspringen; ein Hdnon-Attraktor hat eine klare Form mit unberechenbaren Verteilungen von Punkten innerhalb dieser Form (vgl. Kriz 1992: 132). Auch beim Lorenz-Attraktor findet sich „eine klare Struktur und nicht ein beliebiges Bahngewirr im R a u m " (Kriz 1992: 140). 931 Feld wird hier metaphorisch verstanden als spezifischer Bedeutungsbereich, der dadurch gekennzeichnet ist, dass er anzeigt, welche Bedeutungen noch zulässig sind und welche nicht mehr. Ein ,Feld' hat damit die Eigenschaften eines .seltsamen Attraktors, der nach außen eine Form aufweist, innen aber beliebig viele Zustände zulässt. Der Bedeutungs-Attraktor ist permissiv und restriktiv, d. h. er erlaubt bestimmte Ordnungen der Textdaten und blockiert andere, ohne vorzuschreiben, wie innerhalb der Grenzen (eben im Feld) die Ordnung konkret aussieht. Die Textorganisation, die auf Bedeutungsfelder verweist, kann als „Möglichkeitsraum der Strukturvarianz eines autopoetischen Systems" (wie Fischer 1993b: 22 mit Maturana bezüglich .seltsamer' Attraktoren formuliert) angesehen werden.
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Chaos und System erfasst.932 Sind die Bedeutungs-Attraktoren zu zahlreich und zu heterogen, wird der Text indes als gänzlich ungeordnet empfunden. Das Konzept des Attraktors verweist darauf, dass es einen pragmatischen Regress-Stop bei der Bedeutungskonstruktion gibt;933 Unstimmigkeiten können in begrenztem Maße toleriert werden, und Kommunikation funktioniert reibungslos auch mit ungefähren Bedeutungen. Wie weit Texte kohärent sind, hängt zu großen Teilen vom Beobachter und dessen Abstraktionsniveau ab. Beim Erkennen der Sprechsituation konstruiert ein Kommunikationsteilnehmer (Beobachter) zunächst grobe Grundstrukturen, die er, falls nötig, später präzisiert.934 Der die Kommunikation konstituierende Kontext kann dabei selbst in Alltagskommunikationen nie definitiv angegeben werden; seine genaue Bestimmung würde zu einem unendlichen Regress von Metaebenen fuhren. Details werden daher in der Regel zunächst nicht präzisiert.935 Dass Kommunikation nicht zusammenbricht, liegt daran, dass ihr ein hinreichend spezifischer Kontext,unterstellt' wird, der solange als funktionstüchtig angesehen werden kann, wie er Kohärenz der Kommunikation verbürgt.936 Mehr noch: Überpräzisierung ist sogar hinderlich, weil sie Zeit verbraucht und weil sie das Vertrauen in die Sprechsituation untergräbt statt es zu stärken.937 Ebenso ist es mit der Bedeutung eines Textes: Je genauer der Rezipient sie zu erfassen versucht, desto mehr weicht sie zurück, je
932 Chaotische Texte unterscheiden sich dann von,Texten der Grenzgänge' darin, dass bei ersteren alle Beziehungen zwischen Textelementen gleich wahrscheinlich sind, während in letzteren mehrere, aber nicht beliebig viele Beziehungen der Textelemente wahrscheinlich sind. 933 Wird der Analyseprozess abgebrochen, entsteht als Resultat eine konkrete Bedeutung. Diese könnte aber im Prinzip wieder dynamisiert werden. Zu Sinn und Bedeutung aus der Sicht der Gesprächsanalyse vgl. den Sammelband Deppermann/Spranz-Fogasy 2002; Tenor ist, dass Vagheit der Bedeutungen von Wörtern stets in der Zeit aufgelöst wird und dass immer nur lokale Wortbedeutungen produziert werden. 934 Kriz zeigt dies anhand der Erstellung eines Charakterbildes von Personen (1999: 42). 935 Denn um zu bestimmen, ob jemand z. B. .ironisch' oder ,nicht ironisch' spricht, müsste es einen Kommentar geben, der dann wieder nach .ironisch' oder ,nicht ironisch' zu beurteilen wäre, der dann wieder eines Kommentars bedürfte usw. Eco spricht von ökonomischen Regeln der Implikation, um „eine potentiell unendliche Liste von faktischen Eigenschaften abzukürzen" (1987: 174). Vgl. auch Ecos Enzyklopädie-Begriff: In einer Enzyklopädie werde vermieden, diejenigen Eigenschaften der Stichwörter zu explizieren, welche die Enzyklopädie bereits unter Stichwörtern von hyperonymischem Charakter verzeichnet hat; so wird etwa bei Droschke nur auf Kutsche verwiesen, nicht aber noch einmal explizit auf die Merkmale von Kutschen (1987: 174). 936 Treten in einem konstruierten Kontext dann wiederholt Ungereimtheiten auf, muss er modifiziert werden, wozu u. U. eine genauere Betrachtung von Details nötig ist. 937 „Quand on lit trop vite ou trop doucement on n'entend rien", heißt das Zitat Pascals, welches Paul de Man seinem Buch Allegories of Reading (1979) voranstellt. Das zu tiefe Nachdenken über .wirkliche' Bedeutungen wird im Volksmund auch als Grübelei bezeichnet (die letztlich durch ihre Sterilität gekennzeichnet ist).
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genauer Details berücksichtigt werden, desto uneindeutiger wird sie, so dass Unklarheit nicht eine Folge unterlassener, sondern gerade eine Folge angewandter Interpretation ist. Die minutiöse Untersuchung des Zusammenhaltes der Textdaten macht deren prinzipielle Unbestimmtheit umso deutlicher. Verstehen arbeitet immer mit Unschärfen, und jede Bedeutungskonstruktion abstrahiert von als vernachlässigenswert erachteten Aspekten, um funktionsfähig zu sein.938 In Texten, deren Struktur von SI dominiert wird, wirken sich diese ,Vernachlässigungen' am Ende jedoch gravierend aus: Was welcher Beobachter hervorhebt oder weglässt und welche Komplettierungen er anhand eigenen Vorwissens durchfuhrt, kann mit der Zeit zu völlig verschiedenen Bedeutungskonstruktionen führen. Auch die jeweilige konkrete physisch-psychische Befindlichkeit des Rezipienten, dessen individuelles Vorwissen und der Rahmen der Textanalyse werden für das Ergebnis ausschlaggebend - sie sind dann dessen Randbedingungen, die unvorhersehbare Wirkungen haben können. Diese werden in eher systemischen Texten ausgeglichen, finden in nicht-systemischen Texten indes mit der Zeit in völlig verschiedenen Bedeutungskonstruktionen ihren Niederschlag.939 Wie jeder individuelle Rezipient einen Text interpretiert, ist nicht prognostizierbar. Es können jedoch Grenzen angegeben werden, innerhalb derer wahrscheinlich die Bedeutungen liegen werden. Oder anders gesagt: Die Unvorhersehbarkeit der Interpretation kann gesetzmäßig modelliert werden. Eine probabilistische Textanalyse legt dar, was der Rezipient strukturieren wird, wenn er bestimmte Textdaten aufeinander bezieht — sie sagt nicht voraus, ob der Rezipient diese Daten tatsächlich aufeinander beziehen wird. Denn es gilt: Aus Kontingenzen werden durch Verknüpfungen Konditionierungen: Daß etwas geschieht, mag völlig zufällig oder unwahrscheinlich sein und in jedem Falle davon abhängen, daß vorher bereits etwas anderes passiert ist. Aber wenn
938 Dieses Abstrahieren erfolgt schon beim täglichen Kommunizieren, etwa durch das, was in der Gestalttheorie (Karl Bühler) ,abstraktive Relevanz' genannt wird, dass nämlich ein Hörer automatisch z. B. dialektale Einschläge eines Sprechers nicht mithört. 939 Was in systemischen Texten vernachlässigt werden kann — die Freiräume der Interpretation in Texten wie Las manos oder Imagina (Fernändez/Pallin/Yagüe 2001; 2002) können unterschiedlich ausgefüllt werden, fuhren aber doch mehr oder weniger zur Konstruktion ähnlicher Textsysteme —, wirkt sich in SI-Texten .katastrophisch' aus: Kleine Ursachen haben große Wirkungen, d. h. große Veränderungen der Gesamtinterpretation, zur Folge. Die Zusammenhänge zwischen Umgebungsbedingungen und Systemzustand sind nichtlinear. Auch die Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Textelementen sind nicht steuerbar. Vgl. Cramer: „Potentiell chaotische Strukturen sind immer nichtlineare, rückgekoppelte Strukturen, die ganz stark von den Ausgangsbedingungen abhängen; die im Verlauf des Prozesses entstehende Globalstruktur wird durch Details der Ausgangssituation in nicht vorhersagbarer Weise beeinflußt" (1989: 160).
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das passiert ist [...], dann kann das Anschlußereignis höchstwahrscheinlich oder notwendig werden. (Hahn 1998: 519) 940 E s steht j e d e m Rezipienten frei, eine beliebige Interpretation v o r z u n e h m e n ; Vorwissen u n d allgemein die kulturelle E i n b e t t u n g v o n Texten m a c h e n aber n u r bes t i m m t e Interpretationen wahrscheinlich.941 E i n Feld möglicher B e d e u t u n g e n , also eine Art .potentieller R a u m ' u m f a s s t d a n n verschiedene Verläufe, die konkrete B e d e u t u n g s k o n s t r u k t i o n e n n e h m e n k ö n n e n . In einer Analyse w e r d e n Gesetzmäßigkeiten der Beschreibung und Unvorhersehbarkeit der individuellen E r f a h r u n g zugleich berücksichtigt. 9 4 2 D a b e i zeigt sich a u c h der U n t e r s c h i e d zwischen e i n e m .Theater der Grenzgänge' u n d c h a o t i s c h e m T h e a t e r : Ersteres ist probabilistisch beschreibbar, letzteres nicht. D a s P r o b l e m bei der Interpretation v o n Texten a n h a n d der S I - T h e o r i e ist, dass es nicht u m d i e B e d e u t u n g s f e s d e g u n g gehen k a n n . Vermutlich m u s s d i e Vorstellung v o n Interpretation f ü r ,Texte als Grenzgänge' insgesamt g e ä n d e r t werden, so dass es nicht m e h r d a r u m geht, Bedeutungs-Attraktoren zu suchen, s o n d e r n d a r u m , Analysestrategien wie ,Gebrauchsanleitungen' zu entwerfen, d i e kein fertiges O b j e k t , sondern H a n d l u n g s a n w e i s u n g e n geben, also präskriptiv sind. 9 4 3 E i n
940 Eine probabilistische Analyse kann, etwa durch den Verweis auf Redundanzen oder aufmerksamkeitslenkende Elemente, wahrscheinlich machen, dass der Rezipient Textelemente so aufeinander bezieht, wie sie es beschreibt, denn Textdaten legen jedem Konstruktionsprozess klare Randbedingungen auf und beschränken damit seinen Bedeutungsspielraum. Vgl. Wrobel zur Quantenmechanik: „[Sie sagt] nicht in Eindeutigkeit voraus, was innerhalb der einzelnen Elementarprozesse geschehen wird, sondern Gegenstand ihrer Vorhersage ist, wie etwas ablaufen wird, wenn es eintritt. Mit anderen Worten: Die Quantenmechanik trifft Voraussagen über die Korrelationen von Messungen, ohne dabei jedoch festzulegen, welche Ergebnisse Einzelmessungen erbringen werden" (1997: 96). 941 Vgl. auch das Kapitel „Unbegrenzte und pragmatische Semiose" bei Eco (1987: 53-56). Eco unterscheidet den „freien Gebrauch eines Textes [...] als imaginärer Stimulus" von der „Interpretation eines offenen Textes" (1987: 72), also das Benutzen vom Interpretieren eines Textes (1999a: 54f.). 942 Dass sich Ordnung auch bei zufälligen Ereignissen in Form einer invarianten Wahrscheinlichkeitsverteilung zeigen kann, wird beim Würfelwurf deutlich: Jeder Einzelwurf ist zufällig, im Ganzen folgt das Würfeln aber den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit, so dass die Wahrscheinlichkeit für jede einzelne Zahl 1/6 beträgt (vgl. weitere Ausfuhrungen bei an der Heiden 1996: 116f.). 943 Die Textanalysen verstehen sich dabei nicht als traditionelle Interpretationen; vielmehr sind sie als Gebrauchsanweisung anzusehen, wie mit den Texten oszillierende Bedeutungsangebote erfahren werden können. Dies erinnert an essayistische Verfahren, die Scheffer wie folgt charakterisiert: „Essayistisch verfahrende Beobachter geben mit ihrem Text einen phänomenerzeugenden Mechanismus (eine Art ,Rezept') an, aufgrund dessen sich andere Hörer und Leser selber die betreffenden Phänomene gleichsam ein zweites Mal in einer parallelen Hervorbringung erzeugen könnten" (1999: 236). Vgl. auch Gumbrechts Ausführungen zum .Beschreiben als „Evozieren ohne Deuten" (1995a: 915).
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solches injunktives Vorgehen sagt dem Rezipienten, wie er Erfahrungen mit einem Text machen kann; es sagt ihm nicht, welche Erfahrungen er machen wird oder machen soll.'44 Die Analyse benennt dann Bedingungen und Möglichkeiten der Ordnungsbildung in einer Textstruktur und bewahrt deren Ambivalenzen. Wie eine Gebrauchsanweisung ist sie generativ: Sie gibt dem Interpreten ein Instrument, mit dem er eigene Erfahrung hervorbringen kann. Damit wird auch die Spezifik eines literarischen im Gegensatz zu einem nichtliterarischen Text deutlich: Ein literarischer Text benennt nicht nur einfach Sachverhalte (warum täte er dies nicht auf die einfachste Art?),945 sondern ermöglicht Erfahrungen. Dass diese auch verweigert werden können, dass also ein Rezipient die Bedeutungskonstruktion abbricht, ist eine von vielen Möglichkeiten. Bei einer als Gebrauchsanweisung verstandenen Textanalyse gerät die Be-
obachtung
zweiter
Ordnung in den Blick. Nicht der Text allein wird beobachtet,
sondern vor allem die Möglichkeiten des Umgangs mit dem Text durch den Rezipienten, wobei die zentrale Frage lautet: Mit welchen Unterscheidungen wird dieser möglicherweise arbeiten? Die Beobachtung zweiter Ordnung (die Analyse der Textkonstruktion durch den Rezipienten) beobachtet, was der Beobachter erster Ordnung (der Rezipient) nicht beobachten kann: die von ihm benutzten Unterscheidungen.946 Eine solche Analyse möglicher Bedeutungskonstruktionen fuhrt nicht zu besserem, sondern zu anderem Wissen über den Text als es in einer traditionellen Interpretation hervorgebracht wird.
944 Zur Injunktion vgl. Simon: „Die Form der mathematischen Methode ist nicht die Beschreibung, sondern die der .Injunktion' (d. h. der Vorschrift, der Instruktion, des Befehls, der Anweisung). Sie ist in dieser Hinsicht vergleichbar mit der Musik oder der Kochkunst. Weder der Komponist noch der Koch versuchen, ihre Werke zu beschreiben. Sie geben vielmehr Anweisungen und Rezepte, aus denen hervorgeht, was der Leser dieser Anweisungen zu tun hat. Wenn er den Anweisungen gehorcht, so kann er eine analoge Erfahrung machen wie derjenige, der die Anweisung gegeben hat. Wenn Wittgenstein sagt: .Worüber man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen', so bezieht er sich allein auf den deskriptiven Gebrauch der Sprache. Die Mathematik und die genannten Künste verwendet sie hingegen präskriptiv" (1999: 57). 945 Wenn man einen Text a priori als Ordnung im Hinblick auf seine Umwelt auffasst, „warum bedarf es dann einer Auslegung, die insofern eine sekundäre Ordnung darstellt?" fragt Goldschweer (1998: 40) zu Recht. 946 In diesem Sinne erfüllt die hier vorgeschlagene Form der Textanalyse Roland Barthes' Forderung nach einer science de la littérature als „une science des conditions du contenu" (1966: 57). Die Beobachtung zweiter Ordnung beobachtet die Rückwirkungen des Beobachtens auf das beobachtete Untersuchungsobjekt und kann dabei sehen, „daß eine Unterscheidung, von der die eine Seite bezeichnet wurde und nicht die andere, der Grund dafür ist, daß das Objekt ist, was es ist" (Gripp-Hagelstange 1997: 90), dass also Sach-, Zeit- und Sozialebene durch Unterscheidungen generiert werden.
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Über die Analyse von SI in literarischen Texten wird auf Nahtstellen zwischen Kommunikation und Bewusstsein hingewiesen.947 Uber das Konzept der SI kann das Wechselspiel zwischen Chaos und System ins Blickfeld geraten sowie das Zusammenspiel aus Gesetzmäßigkeit und Zufall bei der Bedeutungskonstruktion. In diesem Punkt ähneln die Textanalysen mathematischen Modellen, die sich mit Systemen beschäftigen, die chaotischen Dynamiken unterliegen: Sie stellen präzise Gleichungen auf für die Entwicklung chaotischer Zustände. Auch für .chaotische Strukturen' in literarischen Texten gibt es also eine systematische Darstellung: in Form einer Generierungsregel, die angibt, wie Bedeutungs-Attraktoren verstört werden.948
4.5
TYPEN SPANISCHEN GEGENWARTSTHEATERS
Ich meine - wenn wir die ganze Zeit beide logisch sprechen würden, würden wir nie zu was kommen. Wir würden nur die alten Klischees aufwärmen, die seit Hunderten von Jahren ständig wiederholt werden. (Bateson 1983: 46) Gattungen sind eine funktionale Differenzierung des Systems Literatur, wie Subgattungen wiederum eine funktionale Differenzierung der Gattungen sind.949 Neue literarische Texte entstehen unter Rückgriff auf Vorwissen über Literatur,950 so dass man sagen kann, dass Literatur explizit über intertextuelle Verweise und implizit über Strukturen und Themen immer wieder selbstbezüglich auf sich selbst angewendet wird und dabei eine interne Dynamik ausbildet.951 Das Her-
9 4 7 Vgl. eine weitere Parallele zur essayistischen Schreibweise, über die Scheffer schreibt: „Selbstverständlich trifft auch der Essay unvermeidlich Unterscheidungen und prozessiert diese als Sinn (der .Sache'), aber dies geschieht gebremst und versehen mit mindestens impliziten Signalen (in Stil und Habitus), daß es nicht u m .zutreffende' Unterscheidungen nach immer nur zwei Seiten geht, sondern vorrangig u m die Einsicht, daß sich alles, was interessant ist, genau auf der Grenze, genau im .Niemandsland', in der .Leere', in .blinden Flecken, in .Zwischenräumen' ereignet" (1999: 238). 948 „ D a ß mit mathematischer Genauigkeit die Unvorhersehbarkeit der Entwicklung gesetzmäßiger Prozesse modelliert werden kann — das ist im Kern die Revolution unserer Weltsicht durch die Chaosforschung" (Küppers 1996b: 171). 949 D e n n „Systeme entstehen durch die operationale Ausgrenzung einer Dynamik aus einem umfassenderen Operationszusammenhang" (Küppers 1996a: 141). 950 Weitere Faktoren sind Umweltereignisse und Publikumserwartungen sowie ökonomische Gesetze des Literaturmarktes als .Randbedingungen. 951 Daher ist Literatur keine bloße Abbildung einer Umwelt, denn sie gehorcht immer auch (positiv oder ex negativa) einer systemspezifischen Dynamik (die wiederum die Möglichkeiten der Umweltbeschreibung einschränkt), mit denen sie auf ihre spezifische Weise die Umwelt beschreibt.
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vortreten neuer Typen in der Literatur erfolgt entsprechend in rekursiven und sich selbst verstärkenden Prozessen. Neue Subgattungen oder Texttypen werden sichtbar, wenn die Literaturtheorie klassifizierend in diese Entwicklung eingreift und über begriffliche Festlegungen dort Trennlinien einzieht, wo dieser dynamische Prozess ein zeitlich (relativ) stabiles Ordnungsmuster zeigt. Klassifizieren bedeutet dann, Schwellen in einem Kontinuum der Literaturproduktion zu konstruieren.952 Dabei ist jeder neue Typus weder eine Widerlegung noch eine Ersetzung der bereits bestehenden Typen, sondern eine interne funktionale Ausdifferenzierung des Literatursystems als Ganzem mit dem Ziel eines Komplexitätsgewinns der Kommunikation.953 Texte zu klassifizieren bedeutet, Grenzen zwischen Organisationsformen zu ziehen, was dann die Möglichkeit eröffnet, das Ausgeschlossene auf einer Seite der Unterscheidung wieder einzuführen. Dies ist der aus der Systemtheorie bekannte Mechanismus des re-entry, die rekursive Wiederanwendung von Differenzen auf das Differenzierte.954 Diese Möglichkeit kann zu einem neuen Typus werden, wie im Folgenden an drei Typen des spanischen Gegenwartstheaters zu zeigen sein wird. Bei der Vorstellung verschiedener Formen der Verstörung von Textstrukturen durch SI im spanischen Gegenwartstheater kann es dabei nicht um eine quantifizierende Analyse gehen, denn SI sind keine kategorialen Einheiten, sondern beschreiben das In-Beziehung-Setzen von Kommunikationsbeiträgen. Vielmehr müssen ,eher sporadische' von ,eher dominierenden SI unterschieden werden, wobei die Grenze fließend ist und vermutlich auch von Rezipient zu Rezipient variiert. Das liegt daran, dass Chaos und Systemhaftigkeit auf dieselben allgemeinen Prinzipien der Textanalyse zurückgeführt werden und derselben Grunddynamik der Bedeutungskonstruktion entspringen. Dennoch können die Texte auf
952 Luhmann bezeichnet eine Schwelle als „eine künstliche Diskontinuität, die den Erlebnisbereich vor und nach der Schwelle egalisiert und dadurch vereinfacht. Eine Fülle möglicher Verschiedenheiten wird dadurch zu einem einzigen krassen Unterschied zusammengezogen und im übrigen in eine unterschwellige Latenz weggedrückt" (1989: 81). Neue Subgattungen entstehen also infolge diskontinuierlicher Veränderungen des nicht-linearen dynamischen Systems Literatur aufgrund der Veränderung von Einflussgrößen aus der Systemumgebung (soziokulturelle Faktoren). 953 In systemtheoretischer Formulierung handelt es sich um einen Symmetriebruch (bestimmte Textorganisationen werden wahrscheinlicher als andere), und Symmetrieverluste sind „Bedingungen des evolutionären Aufbaus komplexer Systemstrukturen" (Luhmann 1992: 68). Der ,Text der Grenzgänge' lässt sich mit den Worten charakterisieren, mit denen Sánchez einen Typus des Gegenwartstheaters beschreibt: „Frente a la búsqueda de montajes armónicos, se indaga mucho más en los límites del caos y la forma, que da lugar a la construcción de ,collages inestables' o estructuras que se hacen y deshacen durante el propio espectáculo" (2000: 123). 954 Das re-entry auf der Systemseite (nicht auf der Umweltseite der Ausgangsunterscheidung) „beschreibt den Wiedereintritt der Unterscheidung von System und Umwelt in das System" (Luhmann 1992: 74).
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einem Spektrum zwischen zwei Polen verortet werden, dem ,systemischen Theater mit dominanten Ordnungsstrukturen und dem .chaotischen Theater ohne dominante Ordnungsstrukturen'. Der erste Typus markiert in einer Unterscheidung System vs. Chaos das System, der zweite das Chaos. Ein neuer Typus fiührt nun die eine Seite dieser Unterscheidung in die andere ein, d. h. er oszilliert zwischen beiden Polen: Er erzeugt mit der Unterscheidung selbst Bedeutung. .Theater der Grenzgänge' ist damit ein nicht-periodischer Begriff: Der Typus löst nicht alte Organisationsformen ab, sondern differenziert sie aus und ist damit eine Komplexitätssteigerung dramatischer Strukturierungsmöglichkeiten. Eine Einteilung des spanischen Gegenwartstheaters in drei Typen fragt nach dem Organisationsprinzip des Textes, auf das der Rezipient wahrscheinlich zurückgreift (also nach Unterscheidungen, die ein Beobachter am Text vornimmt) und nicht nach konkreten Formen oder Inhalten der Texte. Wo ein Typus zum anderen übergeht, kann nicht allgemein bestimmt werden, doch gibt es vermudich Schwellen, an denen SI einen Text derart prägen, dass diesem qualitativ neue Eigenschaften zugesprochen werden, indem der Eindruck geordneter Strukturen in den chaotischer Datenanhäufung umschlägt (oder umgekehrt). Dabei ist die individuelle .Belastbarkeit' bei der Rezeption zu berücksichtigen. Systemischer und .chaotischer' Typus sind durch wechselseitige Negation aufeinander bezogen und konnotieren sich damit ex negativo. Der .Text der Grenzgänge' ist dagegen das tertium datur, das weder den einen noch den anderen Typus verneint oder bejaht. Damit enthält dieser dritte Typus neue Informationsmöglichkeiten. 955 Der .Text als Grenzgang' zeichnet sich außerdem durch eine neue Form der Spannung aus, die sich aus dem Oszillieren zwischen verschiedenen Möglichkeiten der Konstruktion von Textsystemen ergibt, während systemisches Theater primär über den Aufbau von Erwartungen innerhalb einer Systemkonstruktion, .chaotisches' Theater über den Schock zwischen unvereinbaren Möglichkeiten der Systemkonstruktion Spannung erzeugt. Die nahe liegende Frage ist nun, ob ein .Theater der Grenzgänge' dramatisch ist oder nicht, denn die Repräsentationsfunktion und die Handlungskomponente werden weder strikt beibehalten noch insgesamt aufgegeben. Bei Texten wie Compré una pala en Ikea oder Hysterica Passio ist es schwierig zu entscheiden, ob sie nach Lehmanns Kriterien dramatisches oder postdramatisches Theater sind (vgl. dessen Definition 1999: 89): Einerseits stehen die Theatermittel in beiden Bühnen texten gleichberechtigt neben dem Sprechtext (für Lehmann ein Zeichen .postdramatischen' Theaters), doch weisen diese auch Handlungen (oder zumindest zusammenhängende Se-
955 Diese gehen über den Gegensatz .Bejahung oder Verneinung der Systemhaftigkeit' hinaus. Vgl. auch Barthes' Ausführungen zum „subvertir la langue": „Le sens ne peut s'attaquer de front, par la simple assertion de son contraire; il faut tricher, dérober, subtiliser (dans les deux acceptions du mot: raffiner et faire disparaître une propriété) [...]" (1984: 86).
Grenzgänge
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quenzen) und einen klaren Bezug auf einen vorab existierenden Text auf (nach Lehmann also .dramatisches' Theater).' 56 Hier wird deutlich, dass die Rückbindung des Begriffes dramatisch an Handlungen im Gegenwartstheater problematisch ist. An Trennschärfe gewinnt der Begriff, wenn er nur auf solche Situationen bezogen wird, die eine Zeitkomponente dadurch implizieren, dass sie instabile Zustände (Unstimmigkeiten) enthalten, die nach Auflösung (Stimmigkeit) streben.957 In dieser Sichtweise sind Garcías und Liddells Texte beispielsweise dramatisch; nicht-dramatisch wäre die Präsentation rein ästhetischer Stimmungen. Anhand der drei Texttypen kann ein Profil des spanischen Gegenwartstheaters erstellt werden, das folgende Charakteristika aufweist: 1) Die meisten spanischen Gegenwartstexte können als geordnete Textsysteme rezipiert werden, d. h. sie weisen keine sonderlich störenden SI auf. Zwar enthalten sie oft symbolische oder poetische Verschlüsselungen (z. B. die Texte der Gruppe El Astillero), doch haben diese vor allem die Funktion der Aufmerksamkeits- und Komplexitätssteigerung innerhalb eines in sich kohärenten Textsystems. Wenige systemische Texte sind traditionell durch Akte strukturiert,958 von denen einige (meist Kurztexte) sogar die Einheiten von Raum, Zeit und Handlung aufweisen.959 Festzuhalten ist jedoch auch, dass es kaum Texte gibt, die keine raumzeitlichen Brüche und keine bemerkenswerten SI aufweisen.960
956 Nach Lehmann ist Handlungstheater dramatisches Theater (1999: 114). 9 5 7 Als Bedeutung des Wortes dramatisch nennt Wilpert neben „Handlungsreichtum" auch „Erregung, Spannung, Konflikt" (1989: 212). In Spannungszuständen lassen sich z. B. die „dramatischen Situationen" Etienne Souriaus (1950) ausdrücken, da deren Grundlage Protund Antagonisten, Helfer und Gegner sind (vgl. dazu G ó m e z García 1997: 781). Vgl. den Ausdruck .eine dramatische Szene' bei der Beschreibung eines Gemäldes, bei der dramatisch mit spannend gleichgesetzt wird. 958 Traditionelle Akteinteilungen finden sich etwa in Leopoldo Alas' (1992) La Pasión de Madame Artú, García Mays (1992) Operación ópera, Emeterio Diez' (1996) Ostras (eine Plautus nachgebildete Komödie), Carmen Dolerás (1996) Secreto de Estado, Iker Ibáfiez' (1996) Matrona Uni Viro, C h e m a Cardefias (1999) La puta enamorada (Premio de la Critica de Barcelona al mejor texto de 1998) oder Juan Carlos Rubios Esta noche no estoy para nadie (1999) sowie El bosque es mío (2001). Mit nur wenigen rein elliptischen Unterbrechungen arbeitet z. B. Jordi Galceráns (1999) Palabras encadenadas (die Geschichte einer Geiselnahme). Die zwei Akte in Antonio Alamos Los borrachos (Premio Tirso de Molina 1993) zeigen den Tag vor bzw. nach dem Abwurf der ersten Atombombe. 9 5 9 Viele Kurzstücke sind .Fingerübungen junger Autoren, in denen eine einzige dramatische Situation dargestellt wird. Vgl. zu den Kurztexten der Autorinnen z. B. die jeweiligen Inhaltsangaben in Hormigón 2000. 960 Einige der wenigen Ausnahmen sind Toni Mescalinas (1993) Text El Agujero del Carmen (Accésit Premio Marqués de Bradomln 1992), der einen Mord in der Metro Madrids zum Gegenstand hat. Vgl. auch Antonio Onettis (1991) La puñalá (ein Schlaglicht auf das Klein-
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Schaut man sich die Texte gerade der jüngsten Autoren an, so bestätigt sich dieses Bild: Die mit dem Premio Marqués de Bradomin ausgezeichneten Texte bzw. die Abschlussarbeiten der Absolventen des Studiengangs Dramaturgia der RESAD (Madrid) lassen sich mehrheitlich als insgesamt kohärente Systeme beschreiben. Besonders auffällig ist die in den letzten Jahren beobachtbare Tendenz zu elliptischen Texten, die nach Art von soap opéras und Videoclips anhand von kurzen Schlaglichtern (meist unterhaltsame) Geschichten erzählen.961 Auch das Programm einer der kommerziell erfolgreichsten Alternativbühnen Madrids, der Sala Cuarta Pared, zeigt in den Spielzeiten 2000/2001 und 2001/2002 überwiegend systemisches Theater.962 2) Viele Texte gehen von einer abstrusen, bisweilen grotesken Grundsituation aus, so dass die Schwierigkeit der Bedeutungskonstruktion in diesen Fällen darin besteht, die eigenständige Logik der fiktionalen Welt zu konstruieren, die dann aber meist als kohärentes System beschrieben werden kann. .Skizzenhafte' Texte lassen dem Rezipienten große Freiheiten in der Bedeutungskonstruktion, geben aber in groben Zügen ein Textsystem vor.963 3) Auffallend häufig wird zur kohärenten Darstellung komplexer Sachverhalte eine Erzählerfigur benutzt: Diese kommentiert alle Handlungen und Kommunikationsbeiträge, die teilweise von einer oder mehreren Figuren szenisch dargestellt werden und deren potentielle Vieldeutigkeit damit beschnitten wird. Der Erzähler erleichtert dem Rezipienten die (ansonsten mühsame) Konstruktion von Verbindungen zwischen den Textelementen. Informationslücken bezüglich Zeit, Raum und Thema werden vom Erzähler geschlossen, der oft auch eine Bewertung vorzeichnet. Die Erzählung dient in diesen Fällen der Zeitraffung und der Klar-
gaunermilieu in Sevilla), Garcia M a y s ( 1 9 9 9 ) Porträt von f ü n f Kriegsberichterstattern, Los vivos y los muertos (wie klar die strukturierenden Leitdifferenzen dieses Textes sind, zeigt Trancóns Analyse 1999a: 81 f.), Laila Ripolls ( 2 0 0 1 ) Geschichte einer Totenwache von drei Schwestern, Atra bilis, sowie González Cruz' ( 2 0 0 1 ) moderne Ödipus-Geschichte Thebas Motel. 9 6 1 Viele Autoren sind auch Drehbuchschreiber, was sich in einer durch kurze Szenen charakterisierten Schreibweise niederschlägt, die Montage, Kameraschwenks u n d Uberblendungen textlich nachzuahmen versucht. Die E n d e der siebziger Jahre a u f k o m m e n d e Kunst des Videoclips ist eine neue mediale Form, „die strikt an einen S o n g gebunden ist und versucht, diesen in etwa 3 bis 5 Minuten visuell umzusetzen" (Straßner 2 0 0 2 : 87). Z u m Videoclip vgl. auch Sánchez Noriega 2 0 0 3 . Z u Einflüssen des Videoclips auf die Schreibweise junger spanischer Autoren vgl. Hartwig 2 0 0 4 b . 9 6 2 Diese Tendenz zeigt sich deutlich auch in den Produktionen der hauseigenen Theatergruppe, der Compañía Cuarta Pared, etwa in d e m Publikumserfolg Trilogia de la Juventud (Pallín/ Fernández/Yagüe 2 0 0 1 ; 2 0 0 2 ; 2 0 0 2 a ) . Vgl. dazu Hartwig 2 0 0 4 d . 9 6 3 In diese Kategorie fallen viele Texte, die im Umkreis der Sala Beckett in Barcelona u n d unter d e m Einfluss José Sanchis Sinisterras entstanden sind. Als Autoren sind vor allem Francisco Zarzoso u n d Lluisa Cunillé zu nennen.
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heit der Darstellung. Sprechort und Sprechanlass werden meist nicht präzisiert, so dass die Ebene des Erzählers so rudimentär wie nur möglich strukturiert ist.964 ,Erzähltheater' wahrt daher eine Systemhaftigkeit des Gesamttextes, da immer zumindest auf der Ebene des Erzählers Kohärenz der Sach-, Zeit- und Sozialebene gewährleistet ist.'65 Nur selten wird ,Erzähltheater' zur nachhaltigen Verunsicherung des Rezipienten bezüglich der Zuordnung von Kommunikationsbeiträgen zu Fiktionsebenen genutzt, indem Ebene und Metaebene ineinander fließen oder indem Darstellung und Dargestelltes nicht stimmig aufeinander beziehbar sind.966 So erzählt etwa der Protagonist Miguel in Luis Garcia-Araus' (2003) Adiós a todos den tragischen (szenisch dargestellten) Zerfall seiner Familie aus einer (heiteren) kindlich-naiven Sicht.967 Manche Texte nehmen eine Zwischenstellung zwischen .dialogisiertem Roman' und .narrativiertem Theatertext' ein. Der Nebentext enthält in diesen Fällen
964 Vgl. z. B. die Lebensgeschichte eines Kleingauners in Rafael González' (1996) Bienvenidos a Diablo (Accésit Premio Marqués de Bradomín 1995), welcher in einem Monolog die Vorgeschichte seiner eigenen Ermordung erzählt, in die er Reflexionen über sein gesamtes Leben einwebt. Zahlreiche Unterbrechungen dienen (wie im Fortsetzungsroman) der Spannungssteigerung. Ähnlich ist Natalia Menéndez' (1999) Aquí, allí, allá... eine monologisch erzählte Geschichte. Vgl. auch Salvatierras (1998) Calisto, eine Nacherzählung des berühmten Prätextes. 965 Beliebt ist auch, den Erzähler in die szenischen Darstellungen seiner Erzählungen selbst eingreifen zu lassen, wodurch er auf zwei Fiktionsebenen zugleich erscheint, was aber meist deutlich erkennbar bleibt. Meist präzisiert der Erzähler genau die Fiktionsebenen, wann er etwa Begebenheiten erzählt und wann er eigene Empfindungen und Gedanken einfließen lässt. Erzählungen direkt zum Publikum hin sind gerade in Kurztexten beliebt, wohl weil wenig Raum für szenische Darstellungen und komplexe Kommunikationen zur Verfugung steht. Vgl. etwa den Monolog eines außergewöhnlichen Ereignisses in González' (1998) El penalty de Panenka. Vgl. zum Erzähltheater auch Trastoy 1996. Vgl. Weber 2001 zum „Geschieh tenerzählspieler". 966 Erzähltheater umfasst eine Erzählung und zugleich den Vorgang des Erzählens, so dass eine Ebene der .Beobachtung zweiter Ordnung' entsteht. Vgl. zu letzterer Luhmann: „Beobachten zweiter Ordnung läßt - und das ist ein weiteres Beispiel für Komplexitätssteigerung - die Wahl offen, ob man bestimmte Bezeichnungen dem beobachteten Beobachter zurechnet und ihn dadurch charakterisiert oder sie als Merkmale dessen ansieht, was er beobachtet. Beide Zurechnungen, Beobachterzurechnung und Gegenstandszurechnung, bleiben möglich; ihre Ergebnisse können deshalb als kontingent aufgefaßt werden" (1992: 101). Zum Wechselspiel von récit und drame vgl. auch Engelberts 2001: 12. Vgl. auch die beiden Kapitel „Narrative Strukturen in nicht-narrativen Texten" und „Elementare Bedingungen einer narrativen Sequenz" bei Eco (1987: 132-139). 967 In Ley Fancellis (1991) Paisaje sin casas (Premio Marqués de Bradomín 1990) berichtet eine Figur Erlebnisse zweier in der Stadt herumstreunender gewalttätiger Menschen; die erzählten Ereignisse treten in starken Kontrast zu der Unbeweglichkeit, in der der Erzähler verharrt, da das einzige Ereignis auf der Erzählebene das Hinzutreten einer dritten Person ist. So präzisiert der Autor: „Las acciones que realizan son siempre mínimas, intrascendentes, y contrastan con las acción [sic] que se narra" (1991: 11).
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eigene literarische Qualitäten und wichtige Informationen, die über Szenenanweisungen weit hinausgehen und meist auch durch Bühnenmittel nur schwer ausgedrückt werden können (z. B. bei Beschreibungen von Gefühlen, rhetorischen Fragen o. ä.). Es handelt sich um den Einbezug von Techniken anderer Gattungen, der die Systemhaftigkeit des Textes stützt. 968 4) Eine andere, viel genutzte Möglichkeit, Kohärenz eines mit zahlreichen raumzeitlichen und gedanklichen Sprüngen arbeitenden Textes zu gewährleisten, ist der deutliche Verweis auf einen bereits existierenden Text (Intertextualität) oder eine bekannte Gattungs- oder Diskursstruktur (Systemreferenz). 969 Bei Verständnisschwierigkeiten kann der Rezipient Informationen aus den Prätexten zu Rate ziehen, so dass andere Textsysteme zum kohärenzstiftenden Moment des aktuellen Textes werden. 5) Die Mehrzahl der Texte weist auffällige SI nur in einer Sinndimension auf. Dabei dominieren SI der Zeit- vor denen der Sachdimension, denen erst in größerem Abstand die der Sozialdimension folgen. 970 In Fällen ,eindimensionaler' SI ist meist trotz Unstimmigkeiten noch ein System rekonstruierbar. Das Vorliegen von SI erklärt sich hier wohl vor allem daraus, dass Störungen aufmerksamkeitssteigernd sind.971 Insgesamt gibt es zwei generelle Tendenzen: Zeitkritische, teils in den Bereich privater Empfindungen spielende Texte mit einem Hang zur impressionistischen Auflösung von Ordnungsstrukturen auf der einen, ins Varieté
968 In José Ramón Fernández' (2000) La tierra sind Figurenaussagen und Beschreibungen typographisch nicht voneinander abgesetzt: Figurenrede und Kommentarebene gehen nahdos ineinander über. Dadurch ist an vielen Stellen nicht deudich, ob Kommunikationsbeiträge den Figuren oder dem Nebentext zuzuordnen sind. In Chumilla Carbajosas Una acera en la pared (Accésit Premio Marqués de Bradomin 1986) erzählt ein Gemälde die Umstände seiner eigenen Entstehung. Die Didaskalien sind aus der Sicht des Bildes geschrieben. Vgl. die Texte García Larrondos Mariquita aparece ahogada en unacesta (1993; Premio Marqués de Bradomin 1992) und Noche de San Juan (2002; Premio Hermanos Machado de Teatro 1998, Sevilla). Vgl. auch die ausufernden Didaskalien in Martínez Vallejos En tres noches Babel (Accésit Premio Marqués de Bradomin 2000), Juli Dislas (1999) Al anochecer (Premio de teatro de autor „Ciudad de la laguna" 1998) oder die romanesken Erzählungen im Nebentext in Conejero López' (2003) Húngaros (Premio de la Universidad Politécnica de Madrid 2002). Dialoge und Prosapassagen mischen sich auch in Lucía Sánchez' (1994) Lugar común (Posesión en doce tiempos) (Accésit Premio María Teresa León 1994). Vgl. auch Hernández Garridos (1999) Kurztext Internegativos. 969 Als Systemreferenz gilt der Bezug eines Textes auf bereits existierende semiotische Systeme wie Genres oder Diskurstypen (vgl. dazu Rajewsky 2002: 60; 205f.). 970 Die Nutzung von SI der Zeitdimension erinnert oft an einen Revuestil, da die Texte in assoziativ gereihten Teiltexten Aspekte eines gemeinsamen Themas darstellen. Viele Texte enthalten auch eine traditionelle Geschichte mit einer Konfliktdarstellung und einer Konfliktlösung, die mit zeitlich nicht bestimmbaren Einzelszenen aufgelockert wird, was gerade im Bereich des Unterhaltungstheaters häufig der Fall ist. 971 Nach Ciompi leistet sich der Mensch den Luxus einer bewussten Aufmerksamkeitszuwendung vor allem zur Verarbeitung von Störungen (1988: 254).
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und Unterhaltungstheater spielende Texte auf der anderen Seite. Wie sich im Konkurrenzkampf um Marktanteile die Darbietungen des Fernsehens immer mehr in Shows mit dem alleinigen Ziel der Unterhaltung verwandeln und durch raschen, abrupten Szenen- und Themenwechsel bereits das Zappen vorwegnehmen, so wird auch im Theater immer mehr zwischen kurzen, stimulusartigen Sequenzen hin- und hergezappt. Verstörungen von Bedeutungskonstruktionen sind keine Ausnahmeerscheinung der Kommunikation, die es zu beseitigen gilt, sondern hochwillkommene Mittel der Bindung von Aufmerksamkeit. Doch auch hier stellt sich ein Sättigungseffekt ein, der zur Abstumpfung führt.972 6) Formen ,chaotischer Texte sind selten, erfreuen sich aber vor allem bei den sehr jungen Autoren großer Beliebtheit. Meist sind deren Texte eine lose Aneinanderreihung von impressionistischen Sätzen, die bei der Umsetzung auf der Bühne durch Tanz, Bewegungen und kleine, inkongruent wirkende Handlungen ergänzt werden. Kennzeichnend für diese Texte sind die Ortlosigkeit der Darstellung und die Vermischung unterschiedlichster Thematiken. Ein großer Anteil der Bühnentexte, die auf dem Festival Escena Contemporánea in Madrid in den Jahren 2001-2003 präsentiert wurden, gehen z. B. in Richtung auf ein solches Theater, das den Sprechtext als nur ein Element neben vielen anderen oftmals auf bloße Stimuli oder gar reine Klangqualitäten reduziert und eine starke Beeinflussung durch den modernen Tanz zeigt. Wie weit Verstörungen gehen dürfen, um noch nicht in Chaos .umzukippen, hängt vom individuellen Rezipienten ab und von den jeweiligen gesellschaftlich eingeübten und sanktionierten Wahrnehmungsformen zu einem historischen Zeitpunkt. Der Prozentsatz eines .chaotischen Theaters an der Gesamtheit des spanischen Gegenwartstheaters ist jedoch, selbst bei Einbezug strittiger Fälle, gering. 7) Am seltensten sind Texte, die ein mehrfaches Uberschreiten der Grenze zwischen Ordnung und Chaos zum Strukturprinzip erheben, ,Texte als Grenzgänge', die komplexeste Form der Nutzung von SI. Vor allem Rodrigo Garcías Bühnentexte haben hier stilbildend gewirkt, da sich viele Texte und Inszenierungen des Alternativtheaters an seiner Ästhetik orientieren. Ahnliche Strukturen wie Garcías Theater zeigen beispielsweise Otoño (1990), El rey de los animales es idiota (2001) und 120 pensamientos por minuto (2002) von Carlos Marquerie,973
972 Verrätselung, schneller Wechsel von Einzelsequenzen und Perspektiven sowie die Mischung von erzählenden und darstellenden Sequenzen erinnern stark an Strukturen von Film, Werbung und Videoclip. 973 Carlos Marqueries 120 pensamientos por minuto arbeitet mit zwei Fiktionsebenen: dem Spiel auf der Bühne und Videoprojektionen. Beide Ebenen sind die meiste Zeit autonom und verweisen gedanklich höchstens assoziativ aufeinander; nur an wenigen Stellen zeigen die Projektionen Aufnahmen von dem, was gerade live auf der Bühne zu sehen ist. Diese Technik ist aus so genannten Close-circuit-Installationen bekannt, bei denen eine Kamera Bilder aufzeichnet und diese gleichzeitig oder geringfügig zeitversetzt auf dem Monitor erscheinen (vgl.
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Proyecto Van Gogh (1989) und Mátame, abrázame (2002) von Antonio Fernández Lera sowie Llamad
a cualquier puerta
(2002) und Accidente esperando a ocurrir
(2003) von Carlos Fernández López,974 wobei die genannten Texte eine starke Tendenz zum Wegfall jeglicher Ordnungsstrukturen aufweisen. Insgesamt zeigt das spanische so genannte alternative Gegenwartstheater der nach 1960 geborenen Autoren bezüglich seiner Konstruktionsformen stark konservative Züge und eine Tendenz, die Texte nach dem Vorbild von Kino und Fernsehen als unterhaltsames Konsumgut mit leicht verständlichen Ellipsen und immer wieder neuen aufmerksamkeitserregenden Wechseln zu gestalten.975 Untersucht man die Texte anhand der SI-Theorie, wird deudich, dass viele scheinbare Innovationen (Fragmentierung, Depersonalisierung, Verrätselung) nur der Auflockerung einer in ihren Grundzügen traditionellen (systemischen) Textstruktur dienen. Da nimmt es nicht wunder, dass die größten Kassenerfolge in Madrid das kommerzielle Theater mit Komödien und die Musicals erzielen. Von einer spezifischen Nutzung der SI gerade im spanischen Gegenwartstheater kann man nur insofern sprechen, als die kulturelle Umwelt Spaniens charakteristische Randbedingungen der Textproduktion und -rezeption schafft, die in anderen europäischen Ländern andere Akzentsetzungen erfahren, wie etwa die gezielte Förderung von alternativen Theaterproduktionen auf Festivals (was in den letzten Jahren vor allem eine fragmentierte Darstellungsweise förderte), die Besonderheiten des jeweils angesprochenen Theaterpublikums (auf dem Alternativsektor vor allem jüngere Leute), die Fernseh- und Kinogewohnheiten (die vor allen Dingen einen hohen Unterhaltungsfaktor - kurze Sequenzen, Wortwitz,
Reißer/Wolf 2 0 0 3 : 205). Bei Marquerie gibt es keine dominante Lesart, weil immer wieder T h e m e n gewechselt werden und keine kohärenten Figurenrelationen erkennbar sind. Vielfach handelt es sich bei den Bewegungen der Schauspieler nicht mehr u m Tanz oder gar Choreographie, sondern u m reines Ausagieren: Schütteln, Beißen, Kämpfen u. ä. Der im Handzettel angegebene intertextuelle Bezug zu Shakespeares Titus Andronicus klingt nur sehr vage an. Vielmehr ist die Auffuhrung eine wirre Bilderflut mit kaum erkennbaren Ordnungsmustern. 974 Accidente esperando a ocurrir (2003; Regie: Carlos Fernández López) hat zwei dominante Strukturelemente: Projektionen von Videos auf eine große Leinwand und Bewegungen zu Musik, die die Grenze zwischen Tanz und bloßen Zuckungen ausloten. Etwa die Hälfte der Aufführung besteht aus zum Publikum hin vorgetragenen teils lyrischen, teils vulgär-derben Texten. Die gesamte Aufführung ist eine Wahrnehmungserfahrung, die keine konkreten Leitdifferenzen nahelegt. 975 Heras kritisiert einen antiquierten Z u g im spanischen Theater: „Lo que ocurre es que en España no ha habido una verdadera renovación teatral, no sólo por culpa del franquismo, sino también por nuestra burguesía teatral pacata, conservadora y reaccionaria. Además nuestro teatro ha estado anclado en formas falsamente naturalistas. [...] El teatro naturalista que ha triunfado en España no ha pasado de ser más que un sainete o, en todo caso, sigue el modelo televisivo de estructura tradicional" (Galán Font 1989: 26).
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Plauderton — aufweisen)'76 oder die Erwartungen, die mit einem Theaterbesuch verbunden sind (etwa dass ein Text entweder eine ^Aussage/Botschaft' enthalten oder reine Unterhaltung sein soll). Ansonsten lässt eine globalisierte Publikumsstruktur' Kulturhorizonte entstehen, die nationalitätenübergreifend und ortlos sind,977 so dass das spanische Theater ein Spiegel fiir Gegenwartstheater im westlichen Kulturkreis insgesamt ist. Abschließend seien einige Anmerkungen zu dem bei der Beschreibung spanischen Theaters so häufig gebrauchten Begriff realismo angeführt, die zeigen sollen, dass und wie ein Konzept ,systemisches Theater' nicht mit ,Realismus' gleichzusetzen ist. Soll innerhalb von Analysen, die auf die SI-Theorie zurückgreifen, überhaupt der Begriff realistisch benutzt werden, kann dies nicht referenztheoretisch sein, weil die Beurteilung des Realitätsgehaltes einer Referenz Aussagen über Realität an sich impliziert, die aus konstruktivistischer Sicht nicht möglich sind: Dazu müsste Realität jenseits von menschlicher Sprache und menschlichem Bewusstsein kommunizierbar sein - was ein Widerspruch in sich wäre.978 Neurobiologische, insbesondere hirnphysiologische und hirnanatomische Studien weisen indes darauf hin, dass sich dem menschlichen Gehirn die Umwelt in Form unspezifischer Reize darbietet, welche von diesem verrechnet werden, was bedeutet, dass Realität nicht abgebildet wird.979 Küppers nennt Wirklichkeit eine „Eigen976 Zum Anstieg seichten Humors und zum verstärkten Rückgriff auf das Nummernprinzip im aktuellen spanischen Theater vgl. Carratalá 2003, der diese Ästhetik aus dem Strukturprinzip des Fernsehens ableitet: „Hace algunas temporadas proliferaron los programas protagonizados por chistosos, que salieron de debajo de las piedras e incluso resucitaron para apuntarse a una supuesta gracia nacional, nacionalista o autonómica en torno al chiste" (2003: 48). 977 Im Zuge der Globalisation sind kulturelle Phänomene nicht mehr lokal, innerhalb von Nationengrenzen, beschreibbar. Featherstone/Lash sprechen von einem „framework in which global flows - in mediascapes, ethnoscapes, finanscapes and technoscapes - are coming to assume as much, or greater, centrality than national institutions" (1995: 2). Vgl. auch Giddens 1995: 72, Waters 1995: 3, Beck 1997: 18; 28,Tomlinson 1999: 106. 978 Vgl. Mersch: „Der Zeichenprozeß qua Repräsentation unterstellt, daß Zeichen und Wirklichkeit Verschiedenes sind, die gleichwohl mittels des Zeichens verbunden werden können" (1993: 87). Vgl. Glasersfeld 1993: 86, Kießling 1998: 277. Auf den schillernden Begriff Mimesis soll hier nur verwiesen werden; vgl. dazu z. B. Bode 1988: 56-60, Wellbery 1998, Zipfel 1998: 180. Auch auf die Unterscheidung Realität-Wirklichkeit (vgl. Stadler/Kruse 1986: 78; 1990: 134) soll an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. 979 Das Prinzip der undifferenzierten Enkodierung besagt, dass die Nervenzellen lediglich die Intensität eines Erregungszustandes codieren (vgl. Roth 1985, Euler 1990, Stadler/Kruse 1986; 1990; 1992: 136, Peschl 1994: 296). Zum internen Interpretationssystem neuronaler Prozesse und zur Reizunspezifik vgl. Roth (1986), der folgert: „Die Welt wird nicht so, wie sie ist, dargestellt, sondern so, wie das Gehirn und der Organismus am besten damit umgehen können" (1986: 173). Im Falle der Realitätswahrnehmung liegt also kognitive Selbstreferenz vor: „Wir haben keine Erkenntnis von einer objektiven Wirklichkeit, sondern immer nur von unserer Erfahrungsorganisation" (Bolz 1994a: 143). Auf der Ebene des menschlichen Hirns ist die Unterscheidung von internen und externen Reizauslösern, also von Wahrnehmung und Illusion, unmöglich.
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lösung neuronaler Selbstorganisationsprozesse ohne Korrelat in der externen Welt" (1996a: 148). Die Grenze zwischen Vorstellung und Erfahrung ist demnach nicht a priori vorgegeben, und zwischen ,echten Wahrnehmungen und Halluzinationen gibt es „keinen intrinsischen Unterschied" (Morin 1993: 100). Mit anderen Worten: Wo subjektive Wahrnehmung aufhört und objektive beginnt, kann nicht angegeben werden, weil keine beobachterunabhängige Realität kommunizierbar ist.980 Wird dennoch der Begriff realistisch gebraucht, so bezieht er sich zwangsläufig auf einen Beobachter. Die Unterscheidung zwischen realistisch und nicht-realistisch ist eine systemeigene und innerhalb einer Gesellschaft das Ergebnis eines Konsenses von Individuen; Luhmann spricht von einer „Konvergenz von Beobachtungen" (1998: 78).981 Realitätsbegriffe sind also dynamisch und historisch bedingt: Die jeweilige Gesellschaft entscheidet, welche Sachverhalte und Darstellungsweisen als realistisch gelten. Auch bei der Frage danach, was als realistisch im Theater gilt, geht es demnach nicht um Wirklichkeit ,an sich', sondern um konsensuelle Wirklichkeit, d. h. eine gesellschaftlich-kulturelle Leistung.982 Wird ein Text als realistisch eingestuft, so geht es weniger um eine Referenz als vielmehr um eine Zurechnung: Die aus dem Text konstruierbaren Sach-, Zeitund Sozialdimensionen ermöglichen es dem Rezipienten, Textdaten auf die umgebende Außen(Alltags)Welt zu beziehen und nicht auf die (Phantasie) Inne «weit seines Autors. Ein Rezipient benutzt dann den Code möglich (d. h. „x könnte ein Element der Umwelt des Autors sein") vs. unmöglich (d. h. „x müsste ein Element der Phantasiewelt des Autors sein"), mit dem er einen Text als realistisch oder unrealistisch einstuft.983 Statt von Referenz soll also von Zurechnungen der Texte
980 Nach Luhmann liegt der Realitätsbezug des Wissens in dessen Operativität (1998: 147). Vgl. Luhmann: „Die Realität ist mit dem Vollzug der Operation gegeben, und insofern sind alle beobachtenden Systeme reale Systeme mit entsprechenden Realabhängigkeiten. Aus der Realität des operativen Vollzugs von Beobachtungen kann man jedoch nicht auf deren Objektivität schließen" (1998: 78). 981 Für Luhmann gibt es schon deshalb keine Referenz, weil sich ein „operativ geschlossenes, Sprache verwendendes System [...] auf der Ebene seiner Operationen nicht mit der Umwelt in Verbindung setzen kann" (Krieger 1996: 73). 982 Für welche Zeichen eine Referenz in der Realität angenommen wird, hängt von der jeweiligen Kultur ab, wie man etwa an dem Begriff Hexe sehen kann, der im Mittelalter als Verweis auf Reales angesehen wurde (vgl. dazu Sottong/Müller 1998: 96). Zu Referenzpostulaten und Realitätskonzeptionen einer Kultur vgl. Sottong/Müller 1998: 97f. Zu Faktoren, die Wirklichkeitscharakter verleihen, vgl. Stadler/Kruse 1990: 149-152. 983 Vgl. Hartwig 2002. Die Schwellen, die beide Begriffe trennen, sind mentale Konstrukte. Nach Bode ist Realismus weniger eine Eigenschaft des Inhalts als vielmehr eine Korrelation von Darstellungs- und Wahrnehmungssystemen (1988: 148f.). Zum fehlenden substantiellen Unterschied zwischen historischer und fiktionaler Darstellung vgl. White 1986. Vgl. auch die Anwendung des Begriffes realismo auf so unterschiedliche Ästhetiken des Gegenwartstheaters wie die Texte Cunillés, Mayorgas und Rodrigo Garcías bei Puchades 2002.
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zu Autor oder Umwelt die Rede sein.984 Unter Zugrundelegung dieses Begriffes realismo kann gesagt werden, dass statt von einer Rückkehr realistischer Erzählweisen im spanischen Gegenwartstheater des 2 1 . Jahrhunderts eher von einem Boom systemischer Darstellungsweisen gesprochen werden muss.
984 Plumpe formuliert diesen Sachverhalt so: „Dominiert die Umweltreferenz, hat man mit Literatur des Typs .Realismus', dominiert die Systemreferenz, hat man mit Literatur des Typs Ästhetizismus' zu rechnen" (1985: 256). Außerdem darf ein Text weder allzu geordnet noch allzu ungeordnet erscheinen, denn eine zu geringe oder zu große Ordnung verweisen auf den (auswählenden) Eingriff des Autors. Vgl. Zipfel 1998: 175; 184, Anm. 22. Vgl. auch Barthes' Ausführungen zum vraisemblable als ästhetische, nicht referentielle Komponente (1994: 481484) oder zum e f f e t de réel (1994: 479). Zum Realismus vgl. auch den Sammelband Willaschek 2000. Vgl. zum Problemkomplex des Realismus unter Berücksichtigung konstruktivistischer Prämissen auch die Monographie von Villanueva (1992), die indes einen .„lector implícito' también realista" innerhalb des realistischen Textes entwirft (1992: 162) und damit hinter die eigenen radikal konstruktivistischen Forderungen zurückfällt.
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Welt erweist sich lediglich als ein Spiel von Deutungen, welche an nichts festgemacht sind, sondern sich gleichsam gegenseitig abstützen — ähnlich dem Torbogen, der stets einzustürzen droht und gerade darum hält. (Mersch 1993: 25) Literarische Texte beschreiben ihre Umwelt und machen als .kulturelle Manifestationen'985 beobachtbar, „was eine Gruppe oder Gesellschaft als Muster der Selbstdeutung produziert, begreift und verwertet" (so die Definition von Kultur bei Harth 1996: 320).986 Kunst- und Literaturformen sind in dieser Sichtweise miteinander vergleichbar, weil sie als Subsysteme durch Differenzierung aus demselben System (der Gesellschaft) hervorgegangen sind.987 Kommunikationsgemeinschaften konstruieren Interaktionsformen und Wirklichkeitsauffassungen konsensuell. Luhmann spricht davon, dass Wissen „als Resonanz auf strukturelle Kopplungen des Gesellschaftssystems entsteht" und dass es als „Kondensierung von Beobachtungen" bezeichnet werden kann (1998: 122f.). Wahrnehmungen eines Individuums und Interpretationen derselben sind damit durch Kommunikation vorgeprägt. Systemtheoretisch formuliert, stabilisieren sich Weltbilder und Verhaltensweisen, indem Kommunikation immer wieder auf sich selbst angewendet wird, d. h. es bilden sich .Eigenwerte' aus: Auch wenn die Selbstbeschreibung der Gesellschaft sich nur noch aus einem rekursiven Netzwerk der Beobachtung von Beobachtungen oder der Beschrei-
985 Hier wird von einem bedeutungsorientierten und konstruktivistischen Kulturbegriff ausgegangen, welcher Kultur als „einen symbolischen und textuell vermittelten Prozeß der Selbstauslegung und Bedeutungskonstruktion" ansieht, „als der von Menschen erzeugte Gesamtkomplex von kollektiven Sinnkonstruküonen, Denkformen, Empfindungsweisen, Werten und Bedeutungen [...], der sich in Symbolsystemen materialisiert" (Nünning 1998a: 301). Vgl. auch Lüsebrink 1995: 25, Böhme/Scherpe 1996a: 10, Lenk 1996: 18, Aguirre Baztän 1999: 48f., Arlt 1999: 50f., Nünning/Nünning 2003. Kultur ist in dieser Sichtweise u. a. gekennzeichnet durch eine bestimmte Gebrauchsweise symbolischer Elemente. Vgl. auch das Kapitel „Kultur als semiotisches Phänomen" bei Eco (1999: 41-43). 986 Gesellschaft wird im vorliegenden Zusammenhang im Sinne Luhmanns verstanden als „Gesamtheit der füreinander erreichbaren oder aufeinander bezugnehmenden Kommunikationen" (Krause 1999: 114). Kommunikation ist die grundlegende Operation sozialer Systeme, laut Luhmann (vgl. z. B. 1993: 122). Kultur wiederum ist als „Programm der Thematisierung des Wirklichkeitsmodells einer Gesellschaft" nicht gleichzusetzen mit kulturellen Manifestationen, die ihrerseits Instanzen sind, „über die Kultur beobachtbar werden kann" (Schmidt 2000: 39). 987 Vgl. Luhmann: „Bei aller Verschiedenheit bleiben Funktionssysteme vergleichbar. Dies kann nur dadurch erklärt werden, daß es sich um Subsysteme eines Gesellschaftssystems handelt, die durch dessen Differenzierungsform ihre eigene Form erhalten" (1992: 41).
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bung von Beschreibungen speist, wäre zu erwarten, daß sich beim Betrieb dieser Operationen Eigenwerte ergeben, das heißt Positionen, die sich bei weiterem Beobachten des Beobachtens nicht mehr verändern, sondern stabil bleiben. (Luhmann 1992: 46)988 Bilden sich in kommunikativen Selbstorganisationsprozessen Wirklichkeitskonzepte als zeitlich begrenzte Gleichgewichtszustände (.stabile Dynamik') aus, 989 dann können diese als Attraktoren angesehen werden, welche aufgrund der internen Organisation von Kommunikationen und der jeweiligen Randbedingungen (Bewusstsein, materielle Umweltbedingungen u. ä.) emergieren und sich verändern, wenn sie stark verstört werden. Sind die Attraktoren stabil, wirken sie als Ordnungsinstanzen, die Abweichungen ausgleichen. [...] das System interpretiert die Welt selektiv, überzieht die Information, die es erhält, reduziert die äußerste Komplexität der Welt auf einen Umfang, an dem es sich sinnvoll orientieren kann, und gewinnt dadurch erste strukturierte Möglichkeiten eigenen Lebens und Verhaltens. Die Reduktion kann intersubjektiv übereinstimmend erfolgen und fuhrt dann zu Erkenntnissen, die sozial garantiert sind und deshalb als ,wahr' erlebt werden. (Luhmann 1989: 33) Literatur ist eine Form (paradoxer, weil in Form von Kommunikation erfolgender) 990 Selbstbeobachtung der Kommunikation, die solche ,Wahrheits'-Attraktoren nutzen und zugleich verstören kann. 988 „Man kann dann davon ausgehen, daß ein [...] rekursives, Beobachtungen an Beobachtungen anschließendes Operieren .Eigenwerte' erzeugt oder, wenn es keine finden kann, aufhört zu operieren und begonnene Systembildungen zerfallen läßt" (Luhmann 1998: 113f.). Von Foerster spricht davon, dass die soziale Struktur „aus den unendlichen Möglichkeiten des Verhaltens gewisse stabile Werte und vorhersehbare Formen der Interaktion" entstehen lässt wie Sprache, Sitten und Gebräuche (Foerster/Pörksen 1999: 61). 989 Wirklichkeitskonzepte geben Unterscheidungen (und deren Hierarchisierungen) vor, die Kommunikationspartner für sich als konstitutiv oder wichtig ansehen; sie besdmmen, welche Fragestellungen als sinnvoll gelten und welche Methoden erlaubt sind, um Aussagen über Wirklichkeit zu treffen. Zu Wirklichkeitskonstruktionen und Konsensgemeinschaften vgl. Stadler/Kruse 1986: 83, Hejl 1992: 270-276, Röcke 1992, Ort 1993: 276, Osten 1995: 71, Sottong/Müller 1998: 85, Morin 2000: 75, Schmidt 2000: 34. Zu Luhmanns Auffassung vom „Prozeß der kommunikativen Konstruktion von Wirklichkeit" vgl. Gripp-Hagelstange 1997: 78f. Zu Weltbildern und „Eigenwahrheiten" vgl. auch Ciompi 1988: 243; 1997: 237251. Zur Literatur als Attraktor innerhalb von Kultur vgl. Hartwig 2004a. 990 Es ist einem System unmöglich, sich selbst vollständig zu beobachten. Denn dies wäre gleichbedeutend damit, „die Einheit eines Systems durch eigene Operationen in das System wiedereinzuführen"; eine solche Operation würde aber „das System, das sie beobachten will, durch den Vollzug der Beobachtung verändern" (Luhmann 1993: 129). Kunstwerke sieht Luhmann als Programm für Kommunikationen: „[...] die Gesellschaft besteht aus Kommunikationen (nicht etwa: aus Texten), und Kommunikationen sind Ereignisse, nicht Objekte [...]. Folgt man dieser Anregung, dann kann man das Kunstwerk allenfalls als Kompaktkommu-
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Ein Typus des spanischen Gegenwartstheaters basiert auf SI als Organisationsprinzip, das sich durch ein Oszillieren zwischen chaotischen und systemischen Strukturen auszeichnet. Wenn man davon ausgeht, dass neue Textstrukturen und Anforderungen an die Verstehensleistung des Rezipienten mit allgemeinen Veränderungen von Wahrnehmungs- und Denkmustern einhergehen, ergibt sich die Frage, welche Eigenwerte der gegenwärtigen Gesellschaft eine Zunahme von SI in aktuellen Texten provozieren, welche .Irritationen' aus der Umwelt also literarische Texte mit SI verarbeiten.991 .Irritation bedeutet, dass es sich nicht um kausale Beeinflussung handelt, sondern um Selbstorganisationsprozesse geschlossener Systeme.992 Da SI in Schrift- und Bühnentexten auf Umweltbedingungen reagieren, insbesondere auf gesellschaftliche Kommunikationsarten, können an Organisationsformen von literarischen Texten gesellschaftliche Organisationsformen allgemein beobachtet werden. Es zeigen sich in gesellschaftlicher Kommunikation Oszillationsphänomene, die an die SI der drei Sinndimensionen im Theater denken lassen: 1. die Multiplikation von .Wirklichkeiten, 2. die Fragmentierung der Kommunikation und 3. die Aufhebung von Bedeutungsdifferenzen in der Kommunikation. 1) Entwicklung und Präsenz der Medien lassen im 21. Jahrhundert das Problem der Hierarchisierung von Wirklichkeitsebenen zentral werden. Menschliche Sinnesorgane allein können zwischen Authentizität und Fiktionalität medialer Inhalte nicht unterscheiden und brauchen daher explizite Markierungen, die oftmals jedoch selbst im Verdacht stehen, manipuliert zu sein. Die zunehmende Kommerzialisierung und Theatralisierung der Kommunikation993 fuhrt zudem zu einer generellen Verunsicherung im Hinblick auf deren Authentizität. Auch wannikation oder auch als Programm fiir zahllose Kommunikationen über das Kunstwerk ansehen. Nur so wird es soziale Wirklichkeit" (Luhmann 1996: 386f.). Vgl. auch Ecos Ansicht von Kulturphänomenen als Kommunikationsphänomene (1994: 33-36). 991 Vgl. auch Batesons (1983; 1993) .ökologische Erkenntnistheorie', die nach der Wechselbeziehung zwischen Erkenntnis- und Umweltstrukturen fragt. Im vorliegenden Fall wird von Analogien zwischen psychischen, sozialen und semiotischen Selbstorganisationsprozessen ausgegangen: Jedes Mal handelt es sich um Systeme, die in Rückkopplungsprozessen dynamische Stabilität schaffen. Vgl. dazu auch Simon 1999: 83. 992 Morin formuliert die Wechselwirkung so: „Offensichtlich besteht eine sehr weit reichende Beziehung zwischen der Art, in der wir unser Erkennen organisieren, und der Weise, in der sich die Gesellschaft organisiert" (1993: 106; vgl. auch Morin 2000: 75). Betrachtet man Literatur als System in der Gesellschaft, dann kann man mit Krieger sagen: „Systeme werden immer als Lösungen zu Problemen betrachtet und nicht als Zustände, die durch äußere Ursachen mechanistisch verursacht werden. Komplexität ist weder eine Ursache noch eine Wirkung von Systembildung, sondern ein Problem, das verschiedene Systeme auf verschiedene Weise zu lösen versuchen" (1996: 18). 993 Villegas spricht von theatralischen Subsystemen in Politik, Sport usw. (vgl. 2000: 50f.). Vgl. auch die Detailstudien bei Fischer-Liehte/Horn/Warstat 2 0 0 1 , Fischer-Lichte/Horn/ Umathum/Warstat 2001 und vor allem den Komplex „Inszenierung von Authentizität"
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delt sich das Gefühl fiir natürliche Kommunikation an sich: D e r Benutzer audiovisueller Medien lernt beispielsweise, Schnitt- und Uberblendungstechniken als natürliche W a h r n e h m u n g und Simulationen der Virtual reality als neue F o r m echten Weltzuganges anzusehen. 994 Die Medien vervielfältigen also nicht nur R a u m und Zeiterfahrungen, sondern verändern diese auch qualitativ und schaffen so ein neuartiges Wirklichkeitsgefiihl. 995 D o c h ist es nicht damit getan, schlichtweg alles zur Fiktion oder zum Simulakrum zu erklären, 996 denn dadurch werden Möglichkeiten zur Differenzierung und damit zum Gewinn von Orientierung verspielt. Bei Diskussionen u m die .Wirklichkeit der Wirklichkeit' sollte es daher weniger u m die Frage nach der Beschaffenheit von Fiktionsebenen als vielmehr u m M ö g lichkeiten zur Unterscheidung und Abstufung von Wirklichkeits- und Fiktionsebenen gehen, damit pragmatische Entscheidungsgrundlagen gewonnen werden können (vgl. L u h m a n n 1 9 9 6 a ) . Daher wird es zunehmend wichtig, den .Wirklichkeitsgehalt' von Daten unbestimmt zu lassen, u m mehrere Möglichkeiten offen zu halten, sich bei persönlichen Wirklichkeitskonstruktionen darauf zu beziehen. 2 ) Aufmerksamkeit als „Prozeß der Verteilung kognitiver Ressourcen" (Wessells 1 9 9 4 : 8 9 ) wird zu einem neuen „Rohstoff" des 2 1 . Jahrhunderts (Schmidt 2 0 0 0 : 2 6 2 ) , 9 9 7 Aufmerksamkeitsbindung entsprechend zu einem primären Ziel
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(Fischer-Lichte/Pflug 2000). Zur Manipulation in der Werbung vgl. Willems 2000, Schmidt/Zurstiege 2000: 103-106. Insofern sind Urteile über .Wirklichkeit' und .Fiktionalität' vorsichtig zu formulieren, da es sich um relationeile Begriffe handelt: Was sich auf einer Ebene als mediatisierte Wahrnehmung erweist, kann auf einer anderen als direkte Wahrnehmung angesehen werden. Schmidt nennt den ontologisch gedeuteten Dualismus von Lebenswirklichkeit und Medienwirklichkeit obsolet (2000: 273). Vgl. Sobchack: „Wir müssen anerkennen, daß das interface zwischen dem Menschen und elektronischer Berechnung, Darstellung, Bedeutungsstiftung und Simulation ein ontologisch neuer Modus des ,In-der-Welt-Seins' ist und sowohl neue Felder der Erfahrung als auch neue Verdinglichungen des .Seins' und der .Welt' sichtbar werden läßt" (1991: 810). Nach Lyotard sind Datenbanken allgemein die .Natur' für den postmodernen Menschen (1986: 151). Bekanntester Verfechter dieser Haltung ist Baudrillard (1976), welcher von dem Problem des „Zeichens ohne Wirklichkeit" spricht. Das Hyperreale ist nach Baudrillard das, was keine Trennung zwischen Realem und Imaginärem zulässt und Differenzen nur simuliert (vgl. dazu Münker/Roesler 2000: 106). „Die Hyperrealität kommt dadurch zustande, daß die Simulakra, aus denen sie sich zusammensetzt, auf keine Wirklichkeit mehr bezogen werden können" (Zima 1997: 97). Die hinter dem Gedanken der Wirklichkeitsreferenz stehende Auffassung von Realität ist jedoch aus konstruktivistischer Sicht sinnlos; zu Recht weist Lyotard darauf hin, dass Baudrillards Begriff des simulacre „dem Glauben zu nahe steht, daß die Wirklichkeit in sich selbst existiert" (1991: 297f.). Aus systemischer Sicht ist Aufmerksamkeit ein Symmetriebruch: Aus neutralen (symmetrischen) Wahrnehmungsofferten schälen sich einige wenige heraus. Die fundamentale Bedeutung der Aufmerksamkeit wird vor allem bei der Bilderkennung unmittelbar einsichtig (vgl. dazu Haken/Haken-Krell 1992: 197). Zur Aufmerksamkeit als aktive Zuwendung vgl. auch Goldstein 1997: 132.
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der Kommunikation. Ein Kennzeichen vieler Medien ist in diesem Sinne die Bevorzung von kurzen, aussagekräftigen Stimuli, die einen geringen Konzentrationsaufwand erfordern.998 So wird der zunehmenden Fähigkeit, Reize zu übersehen,999 begegnet. 3) Durch seine mediale Umwelt, Kino, Fernsehen und vor allem Werbung, ist der Zuschauer an eine hohe Frequenz wechselnder Stimuli gewöhnt, an die Omnipräsenz der Unterhaltung und an Redundanz in den Kommunikationen. Die Massenmedien überschwemmen ihn mit leicht zu Bedeutungs-Attraktoren montierbaren Stimuli, und mögliche Anstrengungen bei der Bedeutungskonstruktion werden ihm weitgehend abgenommen, 1000 damit die Kommunikation konkurrenzfähig bleibt. Manipulative Strategien (aufgrund von stetigem Innovationsdruck) verändern den Gebrauch der Sprache zudem in Richtung auf eine Neutralisation von Bedeutungsdifferenzen. Müller/Sottong bescheinigen der Kommunikation insgesamt eine Tendenz zum synonymisierenden oder tautologisierenden Gebrauch von Zeichen, der Neuheit des Signifikats vortäuschen soll (1993: 181).1001 998
So beschreibt Schulze die Veränderungen der Medieninhalte wie folgt: „Verkürzung der durchschnittlichen Dauer von Episoden, Bildeinstellungen u n d Gesprächsbeiträgen; Intensivierung visueller Reize (Multiperspektivität der Sportberichterstattung, computeranimierte T r i c k a u f n a h m e n , u n g e w o h n t e B i l d k o m p o s i t i o n e n , raffinierte B e l e u c h t u n g , schnelle Schnitte); Intensivierung kulturell geprägter Reize (so genannte - aber eigentlich k a u m noch mögliche - Provokationen u n d Tabubrüche, Sexualisierung, Darstellung von Aggression u n d Perversion); Vereinfachung (dramaturgische Schematisierung, Rückgang komplexer Sprachkonstruktionen, A b n a h m e des Ambivalenten zugunsten des Eindeutigen); Vereinheitlichung der Inhalte (sowohl innerhalb eines Senders als auch i m Vergleich mit anderen Anbietern); die A b n a h m e des Anteils sprachlicher u n d die Z u n a h m e des Anteils rein visueller u n d akustischer Inhalte" ( 2 0 0 3 : 67f.). Vgl. Straßners Aussage zu Videoclips: „In modernen Bildern oder speziell auch in Musikvideos geht es oft darum, den Betrachtern keine visuell informierende Botschaft z u k o m m e n zu lassen, sondern in ihm ästhetische Gefühle, in i h m in privater Weise vorkommunikative Wahrnehmungen auszulösen" ( 2 0 0 2 : 15). Laut Postman macht das Fernsehen Unterhaltung z u m natürlichen R a h m e n jeder Darstellung ( 1 9 8 8 : 110).
9 9 9 Aus systemtheoretischer Sicht erklärt sich dies wie folgt: „ D a s System hat nicht die Kapazität, u m auf alles, was in der Umwelt geschieht, einen eigenen Z u s t a n d draufzusetzen, eine eigene Operation dagegenzuhalten, sei es u m zu fördern oder zu verhindern, was geschieht, sondern es muss bündeln oder auch ignorieren, es muss Indifferenz aufbringen oder Spezialeinrichtungen für ein Komplexitätsmanagement schaffen" ( L u h m a n n 2 0 0 2 : 168). Vgl. auch Bolz 1994a: 98, Schmidt 2 0 0 0 : 2 7 7 . 1000 N a c h Schmidt bedienen sich etwa Fernsehnachrichten „aller geeigneten kulturellen Schemata, u m Erkennens- u n d Verstehensprozesse zu erleichtern und zu beschleunigen" ( 2 0 0 0 : 2 2 2 ) . Auch weist Schmidt d a r a u f h i n , dass Fernsehserien gezielt (über Pretests und Einschaltquoten) das vorherrschende Welt- u n d Gesellschaftsverständnis bekräftigen und die Zuschauer nur die Bestätigung ihrer Weltanschauungsstereotypen erhalten ( 2 0 0 0 : 2 1 9 ) . Selektions- u n d Verwertungskriterien der Massenmedien sind dabei Emotionsweckung, Auffälligkeit u n d Zustimmungsbereitschaft. Z u redundanten Strukturen in der Werbung vgl. Eco 1994: 278f. 1001 D a s aus den Kommunikationswissenschaften bekannte Konzept der Neutralisation von Bedeutungsdifferenzen besagt, dass Wörter u n d Konzepte sich abnutzen und inhaldich anein-
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Bei einem .Theater der Grenzgänge' ist der Zuschauer hingegen gezwungen, Unklarheiten eines Textes bestehen zu lassen und nur mit Teilspezifikationen zu hantieren, statt klaren, übergreifenden Organisationsstrukturen bloß zu folgen. Dies gibt ihm die Möglichkeit, so etwas wie ein ,gleichschwebendes Interesse' zu entwickeln, das Aufmerksamkeit nicht sofort bindet und mehrere Möglichkeiten von Bezügen zwischen Textdaten nebeneinander bereit halten kann.1002 Der Umgang mit Texten ähnelt dann einem Chaosmanagement, für das gilt, was Baecker zum Management allgemein schreibt: Management ist in seinen besten Momenten nichts anderes als die Fähigkeit, Irritationen in Ordnungen und Verfahren umzusetzen, die für weitere Irritationen empfänglich und empfindlich bleiben. Management ist die Fähigkeit, mit Ungewißheit auf eine Art und Weise umzugehen, die diese bearbeitbar macht, ohne das Ergebnis mit Gewißheit zu verwechseln. (Baecker 1994: 9) Chaosmanagement sähe Kommunikation nicht als kontrollierbar an und erhöbe probabilistische Schlüsse zu einem zentralen Bestandteil des Problemlösungs(d. h. Bedeutungskonstruktions-)prozesses. Ahnlich setzt ein .Theater der Grenzgänge' die Fähigkeit zum Dahingestelltseinlassen von Zuschreibungen (bei der Beurteilung von Fiktionsebenen, von Zeitverhältnissen oder von LeitdifFerenzen) voraus und macht die Kontextabhängigkeit und Manipulierbarkeit von Wahrnehmung und Bedeutung bewusst. Damit erhöhen sich das Komplexitätsbewusstsein des Rezipienten, d. h. dessen bewusstes Wissen um die Vorläufigkeit von Bedeutungen, sowie seine Fähigkeit, Vorhandenes als kontingent und Verschiedenes als vergleichbar zu erfassen. Ein ,Theater der Grenzgänge' tritt aus jeder partiellen Perspektive heraus, die durch Unterscheidungen und Konstruktionen von Systemen entsteht, und rückt den Vorgang des Unterscheidens selbst ins Zentrum, weshalb es eine neue Form des Umgangs mit Komplexität darstellt. Texte, die Bedeutungs-Attraktoren stark steuern, sind manipulativ (das beste Beispiel ist die Werbung) und fördern eine bloß reproduktive Konsumenten-Haltung; Texte mit ander annähern. Dadurch werden Grenzen aufgehoben, „die semiotischen Systemen inhärent sind und denen gemeinhin strukturbildende Funktionen zukommen" (Müller/Sottong 1993: 183). D a s Neue entsteht somit nur auf der Äußerungsebene, während die Sachverhalte, auf die verwiesen wird, gleich bleiben. Während Differenziertheit, Vielfalt und Komplexität nur vorgespiegelt werden, ist die Äußerung tatsächlich von geringem semantischem Gehalt (1993: 118). 1002 U m mit Lyotard zu sprechen, handelt es sich u m die Aufmerksamkeit für das Ereignis, nämlich wahrzunehmen, dass etwas geschieht und nicht, was geschieht. Lyotard spricht von „Empfänglichkeit fur das Ereignis" als Grundlage der kritischen Vernunft: „[...] keine Vorurteile (préjugés), Suspension der Urteile, Aufnahmebereitschaft, dieselbe Aufmerksamkeit fur alles, was geschieht, und zwar so, wie es geschieht" (1989: 61). D e n n Kontingenzprobleme lassen sich nicht mit einer einfachen Sein-Nichtsein-Differenz bewältigen, sondern fordern als dritten Wert Unbestimmbarkeit (Luhmann 1992: 96f.).
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zahlreichen Interferenzen regen indes aktive, kreative Bedeutungskonstruktionen an, und die Wahl einer Interpretation erfolgt als individuelle Entscheidung. Die Funktion eines ,Theaters der Grenzgänge' ist paradox zu konzipieren: kritisch gegenüber der Kommunikation und affirmativ zugleich, wobei der eine Pol in den anderen eingebettet ist.1003 Die durch SI hervorgerufenen Eindrücke von Paradoxie und Kontingenz werden als Ressource genutzt und nicht als Störfaktor unterdrückt. Texte mit zahlreichen SI in den Sinndimensionen erinnern damit an schizophrene Kommunikationsweisen, in denen oftmals der Modus der Aussage nicht markiert ist, Kommunikationsofferten widersprüchlich bewertet werden, unspezifische (kontingente) Assoziationen erfolgen, Selbst- und Fremdzurechnungen (inneres Erleben und Vorgänge in der Umwelt) vermischt werden, uneinsichtige Wechsel des Aufmerksamkeitsfokus vorliegen sowie mangelnde Kohärenz und Kongruenz der Kommunikationsbeiträge.1004 Die Folge ist, dass das Bemühen um eine stimmige, stabile Bedeutung misslingt.1005 In schizophrenen Spannungszuständen steckt aber immer aufgrund der gesteigerten Flexibilität des Denkens auch kreatives Potential, und in einem destabilisierten Zustand sind Veränderungen wahrscheinlicher als in einem stabilen. Ambivalenz erscheint damit als Gefahr und als Chance, als Drahtseilakt zwischen Kreativität und Pathologie, als riskante Verheißung.1006 Da zu einer Diagnose der gegenwärtigen Gesellschaft umfangreiche Studien vonnöten wären, die an dieser Stelle nicht geleistet werden können, sei nur auf die Vermutung verwiesen, dass ein ,Theater der Grenzgänge' Analogien zu schizophrenen Oszillationen in der Kommunikation im 21. Jahrhundert aufweist. Diese entwickelt vor allem auch ein neues (selbstreflexives) Verhältnis zur Kontingenz, wozu sie schon aufgrund der zahlreichen Differenzierungs- und Ent-
1003 Vgl. dazu Lyotard aus philosophischer Sicht: „Die Metaphysik muß in ihrem Sturz begleitet werden, wie Adorno sagte, ohne deshalb in den gängigen positivistischen Pragmatismus zu verfallen, der unter dem Vorwand der Liberalität nicht weniger nach Hegemonie strebt als der Dogmatismus. Eine Widerstandslinie gegen beide ziehen. Die Verwirrungen angreifen, ohne erneut wieder eine .Front' [zu] errichten. Fürs erste ist der Widerstreit in der Vernunft durch ,Mikrologien zu verteidigen" (1987: 90). 1004 Zu Arten schizophrener Kommunikation vgl. Laing 1964: 73; 1974: 50, Bateson et al. 1969a: 14, Haley 1969: 91-93, Searles 1969: 136, Bateson 1983: 262, Fischer 1987: 161, Watzlawick 1991: 46, Simon 1991: 98; 139-145; 1999: 209; 400f.; 1992a: 72, Kriz 1999: 146, Benedetti 2002: 19. 1005 Vor allem dass schizophrene Kommunikationen rasch zwischen verschiedenen Bedeutungen hin- und herwechseln, ist ihnen mit der Wirkung der SI in literarischen Texten gemeinsam. Zum schizophrenen schnellen Wechsel zwischen Attraktorzuständen vgl. Stadler/Kruse/ Carmesin 1996: 350. Vgl. auch Kruse/Strüber/Stadler 1995: 80. 1006 Vgl. dazu auch das Kapitel „Das Gleichgewicht von Stabilität und Instabilität: Kreativität und Psychopathologie" bei Stadler/Kruse/Carmesin (1996: 339-351). So bewerten z. B. Deleuze und Guattari (1976) Schizophrenie positiv als Freiheitsgewinn. Vgl. Bateson 1983: 361, Fischer 1987: 169-171, Simon 1992a: 74.
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KULTURELLE KONTEXTE
differenzierungsprozesse im Gefolge der Globalisierung gezwungen ist. Das Entstehen einer globalen Informations-, Kommunikations- und Mediengesellschaft führt zu Bereicherung und zu Verdummung, zu Rationalität und zu Irrationalität, zu Komplexitätssteigerung und zu Simplifizierung, zu ,kleinen Erzählungen wie zu weltweiter Vereinheitlichung. Dabei tritt mehr und mehr ins Bewusstsein, dass es dieselben Mechanismen sind, die, je nach Kontext, konstruktiv oder destruktiv wirken, Differenz oder Indifferenz hervorbringen, Chance oder Risiko sind. Diese Janusköpfigkeit wird im 21. Jahrhundert immer bewusster bei Kommunikationen mitreflektiert. Hahn schreibt zum Bewusstsein der Kontingenz: D e r e n t s c h e i d e n d e U n t e r s c h i e d scheint [...] zu sein, d a ß d i e m o d e r n e G e s e l l schaft
Kontingenz
selbstreferentiell
e r f ä h r t , als R e s u l t a t
eigener
Struktur-
entscheidungen, wohingegen vormoderne Gesellschaften Kontingenzen
eher
fremdreferentiell z u g e s c h r i e b e n h a b e n [...] ( 1 9 9 8 : 5 2 1 ) .
Gegenüber einer Außenweltsicherheit' muss in der (post) modernen Gesellschaft die Eigenkomplexität erhöht werden, da äußere Komplexität durch interne Strukturen und Prozesse reduziert wird (vgl. Luhmann 1989: 87): ,,[D]ie Leichtigkeit und Dirigiertheit des Übergangs zum Gegenteil macht ein höheres Risiko der Systemfestlegung tragbar" (Luhmann 1989: 99).1007 Ein adäquater Umgang mit Kontingenz (die sich pragmatisch in widersprüchlichen Handlungsanforderungen ausdrückt) ist weder die radikale Verneinung einer der genannten Pole - denn dies unterschlüge einen wesentlichen Aspekt des Sachverhaltes - noch die Verweigerung der Wahl — denn sie machte handlungsunfähig —, sondern das Pendeln (in kurzen oder langen Perioden) zwischen den Polen. Widersprüche werden damit in der Zeit ausgeglichen und können sich damit nicht gegenseitig blockieren.1008 Im Umgang mit Kontingenz geht es also nicht um Synthesen, sondern um die Fähigkeit zur Oszillation, welche die Einheit der Gegensätze bewahrt. Aufgrund seiner Eigenschaft, das Textsystem nicht festzulegen, ähnelt ein .Theater der Grenzgänge einem „Diskurs, der sein Regelsystem sucht; der infolgedessen nicht weiß, was er sagt, und der also keine Regel hat, um sicherzustellen, daß es so ist, wie es gesagt wurde oder wie es gesagt werden soll."1009 Da die Ver-
1007 Kontingenz ist ein Komplexitätsproblem, „das nur durch Aufbau interner Komplexität, das heißt Systembildung, gelöst wird" (Krieger 1996: 169). „Die innere Ordnung der Erlebnisverarbeitung tritt so an die Stelle einer umweltbezogenen Begründung der .Richtigkeit' der Komplexitätsreduktion" (Luhmann 1989: 28). 1008 Dies illustrieren die Bewegungen eines Seiltänzers, die Simon (1992a: 86) als Beispiel nennt, u m zu zeigen, wie Widersprüche in der Zeit aufgehoben werden: Die Balance impliziert das Schwanken zur einen und zur anderen Seite ohne Synthese. 1009 So lautet eine Definition, die Lyotard bei van Reijen/Veerman (1995: 160) von der Philosophie gibt.
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Störung unspezifisch ist (d. h. keine Ziele vorgibt) kann Neuartiges entstehen (das eben keine Synthese ist), so dass SI die Kreativität der Rezeption fördern. 1 0 1 0 Unterscheidungen zu treffen bedeutet, sich in ein Verhältnis zu d e m Beobachteten zu setzen, i n d e m m a n es als O b j e k t konstituiert; das Gegenteil wäre umittelbares, ,unterschiedsloses' Wahrnehmen. Insofern erinnern Blockierungen durch SI an die Verstörung des rationalen D e n k e n s i m zen-buddhistischen K o a n , bei d e m A n schlussmöglichkeiten v o n K o m m u n i k a t i o n e n u n m ö g l i c h g e m a c h t u n d ein Z u s t a n d intellektueller K o n f u s i o n herbeigeführt wird. 1011 A u c h , G r e n z g ä n g e ' schulen die „Fähigkeit, das zu e m p f a n g e n , was zu denken das D e n k e n nicht vorbereitet ist" (Lyotard 1 9 8 9 : 133) - neue Erfahrungen als orderfrom noise.wn N e b e n den Reaktionen des Vereinfachens (Unterdrückung/Vereindeutigung von SI) u n d des Verweigerns (Abbruch der Rezeption), gibt es bei der Rezeption eines ,Theaters der Grenzgänge' das Mitspielen. ,Spiel' wird z u m M o d e l l für die Rezeption gerade solcher .Literatur der Grenzgänge', weil diese „die Vereinigung von gesetzmäßigen u n d zufälligen Prozessen" ( L o t m a n 1 9 9 3 : 102) darstellt. I m Spiel wird Kontingenz als Möglichkeit, dass alles auch anders gelesen werden könnte, z u m P r o g r a m m erhoben: Der Mechanismus des spielerischen Effekts beruht nicht auf einer statischen gleichzeitigen Existenz verschiedener Bedeutungen, sondern auf dem ständigen Bewußtsein der Möglichkeit anderer Bedeutungen als der, die gerade wahrgenommen werden. Der spielerische Effekt besteht darin, daß die verschiedenen Bedeutungen eines Elements nicht unbeweglich koexistieren, sondern „flimmern". Jedes Erfassen des Sinns bildet für sich einen synchronen Schnitt, be-
1010 Vgl. Luhmann: „Die Paradoxie macht frei - oder wie man heute zu sagen bevorzugt: schizophren; in jedem Falle: autonom" (1998: 119). Über die Fähigkeit, rasch zwischen Attraktorzuständen zu wechseln, schreiben Kruse/Strüber/Stadler: „[...] the readiness to change in multistable perception should be correlated to cognitive flexibility, creativity, originality in thinking, and imagination" (1995: 80). 1011 Das Raffinement des Zen ist darauf ausgerichtet, „den momenthaften Kontakt zwischen den Bewußtseinssystemen nicht zum Ansatzpunkt der Emergenz von Kommunikation werden zu lassen - und genau dies dann zu kommunizieren" (Baecker 1992: 263, Anm. 89). In der Betrachtung des Koan wird eine widersprüchliche oder kontingente Spannung ausgehalten. Ziel derselben ist der Sprung in die Leere jenseits aller Begriffe, den unmarked State. Satori (Erleuchtung) ist dann das gleichzeitige Erleben von Gegensätzlichkeiten jenseits aller Unterscheidungen. Vgl. Immoos 1992, Luhmann 1992: 89, Fuchs 1997a: 49f., Gripp-Hagelstange 1997: 141, Suzuki 1998: 54; 102-104. Zum Paradoxon des Nichtverstehens als spezielle Art des Verstehens im Zen vgl. Fuchs 1997: 64. 1012 Das Prinzip order from noise ist besonders von den Chaoswissenschaften immer wieder hervorgehoben worden (vor allem im Zusammenhang mit so genannten ,dissipativen Strukturen; vgl. dazu Kießling 1998: 98f., Simon 1999: 84). SI fördern eine Art .nichtbegrifflicher Kommunikation', die keineswegs ,Nicht-Kommunikation' ist. Ihre Rezeption ist dementsprechend eine ästhetische Empfindung der „Unmöglichkeit zu synthetisieren" (Lyotard 1989a: 82).
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wahrt aber dabei die Erinnerung an die voraufgegangenen Bedeutungen u n d das Bewußtsein, daß künftig weitere möglich sind. ( L o t m a n 1993: 107) 1013
Ein Konzept des Spielens mit dem Text (und dessen möglichen Bedeutungen) respektiert dessen letztliche Unkontrollierbarkeit. Abschließend sei skizziert, welchen Stellenwert ein ,Theater der Grenzgänge' in diachroner Sicht hat. Denn dass in der Literatur der Fokus auf Kontingenz und Paradoxie gelegt wird, ist keine Erfindung des 21. Jahrhunderts, sind doch gerade .chaotische Strukturen' von der so genannten .klassischen Avantgarde', vor allem Dada und Surrealismus,10'4 zum Programm erhoben worden. SI finden sich auch gehäuft in Texten des so genannten absurden Theaters der 50er und 60er Jahre des 20. Jahrhunderts, um nur zwei Epochen der Theatergeschichte hervorzuheben.1015 Jeder scheinbar neutrale Rückgriff auf schon Bekanntes ist jedoch immer mit dem Index des Neuen versehen, denn immerhin ist der Rückgriff selbst neu, und der Kontext hat sich geändert. Jeder „Vollzug eines [...] Zurück wäre im Ausgang von dem System, das sich damit operativ reproduziert, ein weiterer Schritt voran" (Luhmann 1997: 7). Ubertragen auf den vorliegenden Kontext bedeutet das: Während .chaotische' Strukturen und SI zur Zeit der historischen Avantgarde einem Widerstand gegen die kulturellen Institutionen gleichkommen, einer Uberfuhrung der Kunst ins Leben gelten und an die Idee des Fortschritts geknüpft sind,1016 und während die gleichen Strukturen im absurden Theater (in der Art Becketts, Ionescos, Pinters, Stoppards oder Dürrenmatts) primär der Darstellung einer ontologischen Verlassenheit des Individuums dienen und damit den Akzent auf die Blockade legen, erhalten sie im 21. Jahrhundert einen neuen Stellenwert: Sie implizieren ein janusköpfiges und proteushaftes Spiel mit Kommunikatio-
1013 Zu Spieltheorien vgl. Ryan 2001. Zur semiotischen Relevanz von Spiel vgl. Wenz 2001. Zum Verhältnis „texte" und „jeu" vgl. auch Barthes 1984: 72. 1014 Man denke nur an .chaotische' Strukturen etwa in Luis Bunuels Filmen Un Chien andabu (Frankreich 1929) oder L'Age d'or (Frankreich 1930). 1015 So erzeugt etwa Bertolt Brecht durch sein Verfahren der Distanzierung eine Vermischung von Fiktionsebenen und eine Auflösung von Leitdifferenzen. Keller spricht von Zeichen, die sich ständig wieder auflösen (1984: 512). Brecht funktionalisiert SI in seinem .epischen Theater' im Hinblick auf eine Bewusstwerdung des Zuschauers. Vielfach fuhren SI auch im so genannten Dokumentartheater zu Wahrnehmungserschwerungen, welche die Eigentätigkeit des Rezipienten anregen; bei Piscator etwa hat die Montage eine Entlarvungsfunktion zum Ziel und nötigt den Zuschauer, immer wieder neue Funktions- und Bedeutungsattributionen zum Dargestellten vorzunehmen (vgl. Fischer-Lichte 1997: 166-171). 1016 Hier sei auf Benjamins Beschreibung der Kunstwerke der Avantgarde als „Schock" verwiesen, der „von der Zusammenfuhrung zweier unvereinbarer Werte in der extremen Ambivalenz bewirkt wird. Sie gehört dem Repertoire der Avantgarde an, die darauf aus ist, die harmonische Totalität der Klassik durch Dissonanzen zu sprengen" (Zima 1995: 141).
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nen1017 durch Rezipienten, die sich tagtäglich in der Rolle des Nutzers von Netzwerken sehen.1018 Widersprüchliche Interaktions- und Kommunikationsformen können im Gegenwartstheater unter dem Aspekt der Identitätsbildung gesehen werden, wodurch sich ein ,Theater der Grenzgänge' vom Theater der klassischen Avantgarde unterscheidet. Sie dienen desgleichen der Komplexitätssteigerung der Kommunikation in Form innerer Ausdifferenzierung (und eben nicht in Form stetiger Evolution) mit dem Ziel der Bewältigung von Umweltkomplexität. Der mundus inversus des Karnevals ist nicht mehr möglich in einer Gesellschaft, die ohnehin Inkongruentes und Widersprüchliches als eines ihrer Konstituenten ansieht und die an mehrdeutige Lesarten gewöhnt ist. Komplexe Gesellschaftssysteme können nicht ohne neuartige Formen der Kommunikation integriert und erhalten werden, denn diese erbringen spezifische Leistungen für ihr Bestehen und ihre Weiterentwicklung. Die zunehmende Komplexität der Gesellschaft hängt geradezu „von der Möglichkeit der Generierung zusätzlicher Kommunikationsstrukturen ab" (Krallmann/Soeffner 1973: 85).1019 SI und ein ,Theater der Grenzgänge' stellen in diesem Sinne eine neue Form von Kommunikation dar, nämlich jene, die ihre eigene Unterscheidung mitbeobachtet, indem sie das von der Kommunikation Ausgeschlossene in der Kommunikation reproduziert. Die Innovation liegt hier in der Rekursivität der Operation (Unterscheidungen werden auf sich selbst angewendet) und nicht in der Negation von Ordnung oder der Hervorhebung von Ordnungslosigkeit. Die Definition von SI als „Mehrdeutigkeiten und Widersprüche bei der Kombinatorik von Textteilen, die verhindern, dass der Text als ein einheitliches System organisiert werden kann" (s. o.) ist von einem hohen Allgemeinheitsgrad. Das Konzept Systeminterferenz ist damit grundsätzlich auf andere kulturelle Systeme übertragbar. Jedes Kunstwerk, aber auch andere kulturelle Manifestationen, die prinzipiell als System mit einer Sach-, Zeit- und Sozialdimension beschreibbar sind, können auf SI hin befragt werden. Das Oszillieren zwischen verschiedenen Strukturierungsmöglichkeiten wird zum „Muster, das verbindet".1020 1017 Die mythologischen Figuren Janus und Proteus versinnbildlichen die Einheit von Gegensätzen und die Kohärenz trotz Wandel. 1018 Vgl. Luhmann: „Ältere Gesellschaften waren hierarchisch und nach der Unterscheidung von Zentrum und Peripherie organisiert. [...] Die Differenzierungsform der modernen Gesellschaft zwingt dazu, diese Strukturprinzipien aufzugeben, und entsprechend hat diese Gesellschaft eine heterarchische und eine azentrische Welt. Ihre Welt ist Korrelat der Vernetzung von Operationen und von jeder Operation aus gleich zugänglich" (1997a: 156f.). 1019 Nach Luhmann sind die Hauptphasen der gesellschafdichen Evolution markiert durch Veränderungen in den jeweils dominierenden Kommunikationsweisen; vgl. dazu Krause 1996: 106. 1020 Der Ausdruck „Muster, das verbindet" stammt von Bateson, welcher schreibt: „Das Muster, das verbindet, ist ein Metamuster. Es ist ein Muster von Mustern. Und genau dieses Metamuster definiert die weitreichende Verallgemeinerung, daß es in der Tat Muster sind, die verbinden (1993: 19).
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Es versteht sich von selbst, dass ein ,Theater der Grenzgänge' auch in anderen Literaturen zu finden ist1021 und dass SI auch in anderen Gattungen und Kunstformen (insbesondere im modernen Tanz oder in der Installation)1022 auftreten. Die strukturellen Ähnlichkeiten implizieren indes nicht auch funktionale Äquivalenz: Bei einer Funktionsbestimmung müssen selbstverständlich der Kontext in seinen vielfältigen Schattierungen und die Eigendynamik des jeweiligen kulturellen Systems berücksichtigt werden. So ist zu vermuten, dass manipulative Kontexte — wie Werbung, insbesondere Videoclips — SI lediglich zur Aufmerksamkeitssteigerung einsetzen, während experimentelle Literaturformen durch SI neue Erfahrungen des Rezipienten ermöglichen.
1021 Im englischen Theater sind dies z. B. Texte Sarah Kanes (1971-1999), um eine Autorin zu (22.1.nennen, der auf dem II Festival Alternativo de las artes escénicas/Escena Contemporánea 24.2.2002) in Madrid ein eigener Ciclo gewidmet war; vgl. dazu „Teatro de la Violencia", in: Primer Acto 293 (2002): 7-46. Zum französischen Gegenwartstheater vgl. z. B. die Einzeltextstudien in Pavis 2002, die belegen, dass auch in Frankreich von einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, d. h. einem Nebeneinanderstehen von systemischen und stark durch SI geprägten Texten die Rede sein kann. Vgl. auch Darstellungen von Texten des deutschen Theaters bei Poschmann 1997. 1022 Zum modernen Tanz vgl. z. B. Sánchez 1999a; 2000: 131-135, zur Installation z. B. Marin Prada 2001 und Rebentisch 2003.
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LEISTUNGEN DES KONZEPTES SYSTEMINTERFERENZ
Begriffe sind nicht das Medium eines sich selbst begreifenden Geistes, sondern Schlüssel, die weggeworfen werden, wenn andere besser schließen. Und welches andere Kriterium gäbe es noch für eine gute Theorie als die Frage: Siehst Du jetzt mehr als vorher? (Bolz 1999: 41 f.) 6.1
BESONDERHEITEN DES ANSATZES
Ziel der vorliegenden Arbeit war, eine Beschreibung von Texten des spanischen Gegenwartstheaters auf der Grundlage von allgemeinen Theorien zu Textverarbeitungsprozessen zu erstellen. Die Grundfrage der Textanalysen war entsprechend die nach der Modellierung von Bedeutungskonstruktion. Die Systemtheorie gab dabei die Terminologie und den Argumentationstypus vor, den Ansatzpunkt bildete ein Konzept von .Interferenzen, die eine kohärente Konstruktion des Textsystems verstören. Das Konzept der SI führte zu der Frage, welche Wirkungen SI haben und wie ihr gehäuftes Auftreten im spanischen Gegenwartstheater im kulturellen Kontext zu verorten ist. Aufgrund dieser Fragestellungen ist der Ansatz dieser Arbeit genuin semiotisch.1023 Der Differenzierungsgewinn durch die SITheorie bei der Textbeschreibung liegt darin, dass sie verschiedene Formen von Fragmentierung, Fiktionsebenenwechseln und Kommunikationsofferten (und deren Ablehnung oder Annahme) unterscheidet. Die Theorie zeigt zudem, dass ,chaotische' Texte von .Texten der Grenzgänge' unterschieden werden müssen und macht dabei die .Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen' verschiedener Textorganisationen sichtbar. Ziel einer Anwendung der SI-Theorie ist dabei weder eine möglichst umfassende oder gar vollständige Erfassung des Materials (Texte des spanischen Gegenwartstheaters) noch der Nachweis von Repräsentativität ausgewählter Texte, sondern die Ubertragbarkeit auf möglichst viele und heterogene .kulturelle Texte'. Die Theorie legt den Schwerpunkt darauf, wie ein Rezipient Bedeutung hervorbringt,'024 weshalb ihre Leistung nicht in der Präsentation einer bestimmten Lesart liegt. Auch gehen die Analysen nicht speziell auf thematische Besonderheiten ein, da ihr Gegenstand allgemeine Organisationsprinzipien von Texten (d. h. Relationen und Zurechnungen) und nicht konkrete Selektionen sind.1025 Eine histo1023 Nach Lotman macht „die Erforschung dessen, was .Bedeutung haben bedeute, was der Kommunikationsakt sei und welche gesellschaftliche Rolle er spiele, [...] das eigentliche Wesen des semiotischen Ansatzes aus" (1993: 56). 1024 Hier zeigt die SI-Theorie Ähnlichkeiten mit der Transformationsgrammatik (im Stile Noam Chomskys), die Wessells mit Theoremen der Gestaltpsychologie in Verbindung bringt (1994: 37). 1025 Die Textelemente werden als Variablen angesehen, da nicht ihre Bedeutung an sich, sondern ihre Funktion bezüglich anderer Variablen untersucht wird.
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SYSTEMINTERFERENZ
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risch-soziologische Komponente fließt aber insofern in die Textanalysen ein, als Schemata und frames, welche zur Modellierung von SI hinzugezogen werden, immer auf einen konkreten geschichtlichen und kulturellen Kontext verweisen.1026 So können etwa SI und das Oszillieren zwischen Chaos und System mit einem .schizophrenen' Grundzug der westlichen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts in Verbindung gebracht werden. Der vorliegenden Arbeit ging es nicht darum, Luhmanns Systemtheorie anzuwenden, sondern Aspekte ihrer Theoreme in einem literarischen Kontext umzusetzen, was sich schon daraus erklärt, dass sie insgesamt andere Zielsetzungen hat als der soziologische Ansatz Luhmanns. Die SI-Theorie zeigt, wie Bedeutung (Ordnung) und Verstörung von Bedeutung (Unordnung/Chaos) in Textstrukturen generiert werden und welche Formen man dabei unterscheiden kann. Die drei Sinndimensionen erscheinen als je spezifische Reduktion von Komplexität und damit je spezifische Möglichkeit der Ordnungsbildung. Damit werden neue Differenzierungen möglich, die von der traditionellen Dramen- und Theaterforschung bislang nicht erfasst wurden.1027 Der Rückgriff auf die Systemtheorie ermöglicht es, differenztheoretische Konzepte und den Begriff Selbstorganisation in Textanalysen einzubauen. Textverstehen als selbstorganisierenden Prozess von Bedeutungs-Attraktoren zu modellieren heißt, von Funktionen der Textdaten und nicht von Kausalitäten zu sprechen, also keine Reihenfolge in der Beeinflussung der Daten untereinander nennen zu müssen. 1028 Merkmale wie ,depersonalisierte Figuren und .Zusammenbruch kohärenter Kommunikation' werden z. B. als zwei Seiten ein und desselben Mechanismus einer durch SI verstörten Bedeutungskonstruktion (d. h. Konstruktion von Attraktoren) sichtbar. Das Bedingungsverhältnis ist dabei zirkulär Der Zerfall der Identität der Figuren ist eine Funktion der nicht mehr aufeinander bezogenen Kommunikationsbeiträge, und die Tatsache, dass die Kommunikationsbeiträge nicht mehr aufeinander bezogen sind, ist eine Funktion des Zerfalls der Figurenidentität. Auch Figur und Handlung erscheinen als zwei Aspekte eines einzigen Vorgangs: Werden aus Textdaten Bedeutungen konstruiert, dann ist die Figur das Konstrukt, Handlung der Konstruktionsvorgang; die Eigenschaften, die
1026 D e r Z u s a m m e n h a n g zwischen Textstrukturen u n d kontextuellen frames verweist a u f die individuelle, kulturelle u n d historische Variabilität einer Textinterpretation, denn frames sind geschichtlich u n d kulturell codiert (vgl. in diesem Z u s a m m e n h a n g Zerweck 2 0 0 2 : 2 3 8 ) . 1027 M i t ihren .Regeln zur Erzeugung ungeordneter Strukturen ü b e r n i m m t die SI-Theorie eine wichtige Eigenschaft der Chaostheorie: „ D a ß mit mathematischer Genauigkeit die Unvorhersehbarkeit der Entwicklung gesetzmäßiger Prozesse modelliert werden kann - das ist i m Kern die Revolution unserer Weltsicht durch die C h a o s f o r s c h u n g " (Küppers 1 9 9 6 b : 171). 1028 Liegt einer Bedeutungskonstruktion das Prinzip der Selbstorganisation zugrunde, wird die geradlinige Auffassung einer A n o r d u n g aller Textelemente in einer Ursache-Wirkungs-Bezieh u n g aufgegeben. Stattdessen werden nicht-lineare Einflüsse der Elemente aufeinander beobachtet.
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der Rezipient der Figur zurechnet, gewinnt er aus der Beobachtung der Textelemente, und wie er diese Textelemente anordnet, entscheidet er im Hinblick auf die Erstellung konsistenter Figuren.1029 Ahnliches gilt für das Verhältnis zwischen textgelenkter und durch Vorwissen gelenkter Rezeption: Die Textdaten lenken die Aktualisierung von Vorwissen durch den Rezipienten, und die Aktualisierung von Vorwissen wirkt als Filter auf die Wahrnehmung von Textdaten. So ist die Verbindung derselben zugleich Voraussetzung und Effekt der Bedeutungskonstruktion. 1030 Keiner der beiden Pole in den genannten Beispielen kann im Grunde ausschließlich für sich betrachtet werden (indem die eine Seite einer Wechselwirkung als Ursprung einer kausalen Abfolge bestimmt wird). Dies käme dem Versuch gleich, den Selbstorganisationsprozess künstlich stillzustellen, während die zirkuläre Kausalität der Selbstorganisation doch bewirkt, dass Ursachen immer auch Wirkungen sind. Das SI-Modell trägt daher der zirkulären Natur aller Bedeutungskonstruktion Rechnung. Im Unterschied zum hermeneutischen Zirkel, der ebenfalls einen Selbstorganisationsprozess beschreibt,1031 sucht eine auf der SI-Theorie basierende Textanalyse gerade Brüche und Inkonsistenzen der Bedeutungskonstruktion. Während der hermeneutische Zirkel auf der „induktiven Antizipation des Ganzen aus den Teilen" (Antor 1998: 211) 1032 basiert, interessiert sich die SI-Theorie dafür, welche Textstrukturen gerade die Bildung dieses „Ganzen" verhindern und legt den Akzent auf Ambivalenzen, Widersprüche und Paradoxien. Die Wahl der
1029 Die Figur kann als Struktur, die Handlung als Operation angesehen werden, und dann gilt für beide, was Luhmann für .Wissen vs. Erkennen formuliert: „Die Struktur (Wissen) leitet die Operation (Erkennen), die die Struktur bestätigt oder modifiziert. Zur Auflösung des Zirkels dient dann nicht ein metaphysisch vorausgesetzter Wesensunterschied, sondern das Nacheinander in der Zeit" (1998: 79). Nach dieser Auffassung gibt es keine Trennung zwischen Erkenntnisverfahren und Erkenntnisgegenstand. 1030 Mit dem Begriff der Selbstorganisation über Attraktoren können also sowohl Textobjektivismus als auch Subjektzentrismus vermieden werden, ohne dass eine .skeptische Normativität' (so Bodes Vorschlag 1988) postuliert werden müsste. 1031 Der rekursive Prozess des hermeneutischen Zirkels lässt sich wie folgt beschreiben: Die Ursache (Textdaten) zeitigt eine Wirkung (vorläufige Interpretation), die wieder auf die Ursache einwirkt (Textdaten) usw. Der hermeneutische Zirkel beschreibt damit den Verstehensprozess als ein Hin und Her zwischen Verstehensentwurf und Text: „Die Elemente werden nach dem Raster eines vermeinten Kodes geordnet, der, wenn er sich als unzureichend erweist, entsprechend modifiziert wird" (Bode 1988: 115). 1032 „Nach Ast läßt sich das Zirkelproblem nur durch die Anerkennung der ursprünglichen] Einheit des Besonderen und des Allgemeinen], und d. h. durch das Voraussetzen einer Sinneinheit von Einzelnem und Ganzem, auflösen" (Antor 1998: 211). Der hermeneutische Zirkel orientiert sich am Konsens (also ähnlichen Bedeutungszuschreibungen durch verschiedene Rezipienten; vgl. z. B. Hamacher 1988: 19). Statt nach hermeneutischer Tradition auf die Stimmigkeiten einer Interpretation abzuzielen (wie etwa Ricceur dies vorschlägt; vgl. 1996: 64), wird in der SI-Theorie nach Brüchen im Textsystem gesucht. Zur Hermeneutik vgl. auch Kimmich 1996, Bertram 2002.
L E I S T U N G E N DES K O N Z E P T E S
SYSTEMINTERFERENZ
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Fragestellung zielt auf Erhaltung von Komplexität statt auf deren .Bewältigung' (also Reduktion). Die SI-Theorie hat damit ein höheres Kontingenz-Bewusstsein als die Hermeneutik. 1033 Auch berücksichtigt sie zeitlich begrenzte neben übergreifenden Konstruktionen. Da Wahrscheinlichkeitsaussagen über das komplexe System Text konkrete Bedeutungszuweisungen ersetzen, ändern sich nicht nur die Fragestellungen, anhand derer ein Text analysiert wird, sondern auch der Typus der Fragestellungen.1034 Die Beobachtung zweiter Ordnung (die Reflexion der Bedeutungskonstruktion) impliziert sowohl eine Gegenstands- als auch eine Problemorientierung, Literaturtheorie und Interpretationstheorie. 1035 Gerade der Verweis darauf, dass Textanalyse als .Beobachtung zweiter Ordnung' konzipiert werden kann, legt nahe, dass auch diese Beobachtung wieder Gegenstand neuer Beobachtungen werden muss, weil auf jeder neuen Beobachtungsebene neue Unterscheidungen sichtbar werden. 1036 Eine rekursive Vernetzung von Beobachtungen ist im Design der SI-Theorie daher bereits angelegt.1037 Das Modell des Attraktors deckt das prozesshafte Geschehen der Textverarbeitung nicht zugunsten einer statischen Betrachtung von stabilen Relationen zwischen Textdaten zu. Es veranschaulicht vielmehr, dass Bedeutungen spontan erzeugt, aber ebenso schnell auch wieder aufgegeben werden können. Sein Allgemeinheitsgrad erlaubt, Selbstorganisationsprozesse der Bedeutungskonstruktion allgemein mit Wahrnehmungs- und Kommunikationsprozessen zu verbinden.
1033 SI können den Glauben an die Verlässlichkeit .eigentlichen' Sprechens und an die Einschränkung der Bedeutungsvielfalt durch den Kontext erschüttern, denn durch SI werden Kommunikationen in ihrer prinzipiellen Kontingenz erfahrbar. 1034 So wird nicht eine neue Strukturierungsmöglichkeit von Texten vorgeschlagen, sondern ein neuer Typus von Strukturierungsmöglichkeiten: solche, die das Beobachten des Textes beobachten. In einem probabilistischen Verständnis geht es nicht darum zu untersuchen, wie Texte mittels Bedeutungskonstruktionen, sondern wie Bedeutungskonstruktionen selbst gruppiert werden können. 1035 Damit wird die SI-Theorie explizit dem Anspruch gerecht, dass Literaturtheorie immer auch Interpretationstheorie ist (vgl. Jahraus 1999: 247). Zymner (2001) weist daraufhin, dass die Allgemeine Literaturwissenschaft nach Prinzipienwissen und nicht nach Einzelfallkenntnissen fragt. 1036 So schreibt Luhmann: „Auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung, auf der man Beobachter beobachtet, bezieht man keine hierarchisch höhere Position. Auch im Beobachtungsschema wahr/unwahr liegt keine Geste der Überlegenheit und kein Anspruch auf Beherrschung und Kontrolle, sondern nur ein spezifisches Interesse an einer spezifischen Unterscheidung" (1998: 87). 1037 Die Möglichkeit der Selbstbeobachtung entsteht, wenn eine Theorie konsequent auf dem Vorgang des Unterscheidens basiert (vgl. Luhmann 1992: 169). Dabei gilt: „Jede Beobachtung braucht ihre Unterscheidung und also ihr Paradox der Identität des DifFerenten als ihren blinden Fleck, mit dessen Hilfe sie beobachten kann. Ein anderer Beobachter kann auch dies noch beobachten — aber nur bei anderen, nicht bei sich selber" (Luhmann 1991: 63).
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Der Akzent liegt dabei auf der Dynamik des Rezeptionsprozesses und der dialogischen Beziehung zwischen Texten und kulturellen Kontexten. Die SI-Theorie als .Muster, das verbindet', oder als Denkstil im Sinne von Foersters1038 kann als Baustein fiir die Untersuchung von ,kultureller Bedeutungskonstruktion allgemein verstanden werden. Chaos erscheint in diesem Blickwinkel wahrscheinlicher als Ordnung, mehr noch: Ordnung als ein „Spezialfall von Unordnung" (Fischer 1993: 11). Kohärenz und Bedeutung eines Textes werden in dieser Sichtweise zu ,ganz normalen Unwahrscheinlichkeiten'.1039 Zu einigen literaturwissenschaftlichen Strömungen weist die SI-Theorie eine besondere Affinität auf, von denen sie sich aber auch durch ihr spezifisches Erkenntnisinteresse unterscheidet. Wie der Strukturalismus klassischer Prägung (vgl. dazu Lieske 1998: 51 lf.) basiert sie z. B. auf der Beschreibung von Beziehungen zwischen Textelementen, doch fasst sie diese als Kommunikationen auf, wodurch das Wechselspiel zwischen Textdaten und Rezipient konstitutiv fur die Textbeschreibung ist. Die SI-Theorie erforscht also nicht textimmanente Strukturen,1040 sondern Phänomene der Selbstorganisation bei der Bedeutungskonstruktion durch einen Rezipienten, nicht feste Strukturen, sondern im Rezeptions/>rozeii konstruierte Unterschiede. Interpretationen, die auf eine atemporale Beschreibung des Textes zielen, gehen hingegen von drei stillschweigenden Annahmen aus: dass a) die Strukturen des Textes fest sind, dass b) die Strukturen des Textes in der Zeit stabil sind und c) dass a) und b) das Gleiche sind - diese Annahmen gibt die SI-Theorie gerade auf. Die deutlichste Abweichung vom klassischen Strukturalismus besteht darin, dass die SI-Theorie die Gleichzeitigkeit von System und Umwelt berücksichtigt.1041 Die SI-Theorie weist desgleichen Anklänge an Deleuzes/Guattaris Theorie der rhizomatischen Lektüre auf, welche ein endloses Vernetzen von „chaînons
1038 Insofern ist die SI-Theorie nicht auf das Theater beschränkt, kann jedoch am Theater als einem komplexen semiotischen System veranschaulicht werden. Vgl. von Foerster: „Ein Denkstil ist nichts Inhaltliches oder Thematisches, sondern eine Art und Weise des Argumentierens" (Foerster/Pörksen 1999: 146). 1039 Die moderne Physik lehrt, dass instabile dynamische Systeme die Regel sind. Vgl. Prigogine: „Aus klassischer Sicht waren stabile Systeme die Regel, instabile Systeme die Ausnahme. Diese Perspektive kehren wir jetzt um" (1995: 84). 1040 Der Strukturalismus sucht Regelmäßigkeiten, Ordnungen und Gesetzmäßigkeiten innerhalb von Zeichensystemen in einer im Idealfall kontextfreien Analyse. ,Werkimmanenz' kann es hingegen nach der SI-Theorie schon deshalb nicht geben, weil der Beobachter (Interpret) für die Bedeutungskonstituierung entscheidend ist. 1041 Vgl. Luhmann: „Stärker als der Begriff des Diskurses betont der Begriff des Systems die unaufhebbare Gleichzeitigkeit von System und Umwelt" (1997: 13). Dabei gilt:,Alles, was als .Einheit' fungiert, fungiert nur durch einen Beobachter als Einheit" (Luhmann 1995: 896), der durch seine Unterscheidungen das Textsystem und dessen Umwelt schafft.
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semiotiques" impliziert,1042 die nicht hierarchisch angeordnet oder in einer .höheren Einheit' aufgehoben werden. Doch statt immer neue netzwerkartige Verbindungen von Textelementen zu konstruieren, fokussiert die SI-Theorie auf Bedeutungs-Attraktoren, die bestimmte stabile Bedeutungskonstruktionen wahrscheinlicher machen als andere (wobei diese sich auch wieder auflösen können). Während Deleuze/Guattari also vor allem die Freiheit der Interpretation betonen, legt die SI-Theorie den Akzent auch auf den gesetzmäßigen Aspekt der Bedeutungskonstruktion. Damit trägt sie zugleich der Offenheit und der Stabilität menschlicher Wahrnehmung und Kognition Rechnung.1043 Der Rückgriff auf das Konzept des Attraktors erlaubt eine Sichtweise, die lokale Stabilitäten mit globalen Instabilitäten vereint. Auch Umberto Ecos (1962; 1968) Semiotik-Konzept legt den Akzent auf die Offenheit der Semiose und die Unendlichkeit der Interpretation. Diesen Gedanken nimmt die SI-Theorie auf und ergänzt ihn um den Aspekt des Oszillierens zwischen verschiedenen Bedeutungskonstruktionen und die Betonung des Zusammenspiels von zeitweiliger Bedeutungsfestlegung und prinzipieller Offenheit der Rezeption. Die Betonung des dynamischen und selbstreferentiellen Aspektes der Bedeutungskonstruktion hat die SI-Theorie schließlich auch mit dekonstruktivistischen Ansätzen (Derrida 1972, de Man 1988) gemeinsam. Für diese gilt, was Heinen über die ,postmoderne Narratologie' allgemein sagt, dass sie nämlich Fragen und nicht Antworten gibt, d. h. nicht nach der Bedeutung eines Textes, sondern nach Mechanismen der Bedeutungsaufschiebung (und deren Bedeutung) sucht (2002: 253). Weil SI konträre Möglichkeiten von Textlektüren offen halten, sind sie Instrumente der Dekonstruktion, wie Derrida sie theoretisch konzeptualisiert: Sie demontieren feste Oppositionen und weisen darauf hin, dass es keinen Ursprung gibt, der Bedeutungen fixieren könnte.
1042 Vgl. Deleuze/Guattari: „Un rhizome ne cesserait de connecter des chaînons sémiotiques [...]. U n chaînon sémiotique est c o m m e un tubercule agglomérant des actes très divers, linguistiques, mais aussi perceptifs, mimiques, gestuels, cogitatifs [...]" (1976: 20); „Contre les systèmes centrés (même polycentrés), à communication hiérarchique et liaisons préétablies, le rhizome est un système acentré, non hiérarchique et non signifiant, [...] uniquement défini par une circulation d'états" (1976: 62). Eco beschreibt ein Rhizom wie folgt: „Niemand kann eine globale Beschreibung des ganzen Rhizoms liefern; nicht nur, weil das Rhizom multidimensional kompliziert ist, sondern auch, weil seine Struktur sich in der Zeit ändert; darüber hinaus gibt es in einer Struktur, in der jeder Knoten mit jedem anderen Knoten verbunden werden kann, auch die Möglichkeit widersprüchlicher Schlüsse [...]" (1999: 106). 1043 Sie ist damit einer ,Wissenschaft von der Welt' verpflichtet, „die sowohl Gesetze als auch Ereignisse, das Sein ebenso wie das Werden einschließt" (Prigogine/Stengers 1993: 70).
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SI implizieren zudem paradoxe und kontingente Bedeutungskonstruktionen, die auch in der Dekonstruktion eine zentrale Stellung einnehmen. 1 0 4 4 D e n n die Dekonstruktion zeigt Aporien literarischer Texte auf, indem sie widersprüchliche Lektüren zusammenfuhrt, die nicht in einer höheren Synthese aufgehoben werden können, sondern sich gegenseitig zerstören, weil ihre Wahrheitsansprüche unentscheidbar sind ( Z i m a 1 9 9 4 : 2 3 7 ) : Der klassischen Interpretation von Literatur, die eine möglichst einheitliche Deutung anstrebte, stellen die Dekonstruktivisten die Suche nach dieser Aporie entgegen, die wiederum eine einheitliche Deutung gerade nicht erlaubt, sondern prinzipiell unmöglich macht. (Münker/Roesler 2 0 0 0 : 141 f.)1045 Die Gegensätze werden als Ambivalenz, als Koexistenz des Widerstreitenden aufrechterhalten. Die Dekonstruktion und die SI-Theorie stimmen in der A n n a h m e überein, dass Identität von Bedeutungen in keinem archimedischen Punkt a priori festgestellt werden kann. Mit der Dekonstruktion teilt die SI-Theorie außerdem den Verweis auf den (nur) theoretisch infiniten Regress, a u f den das wechselseitige Determinieren von Textelementen verweist. 1046 Die SI-Theorie betont aber - abweichend von dekonstruktivistischen Ansätzen —, dass Bedeutung als (instabiles)
1044 Nach Bruder versucht die Dekonstruktion, „Positionen des Dazwischen, des Auf-der-Grenze einzunehmen, die für .Paralogien' (Lyotard) offen sind, für Wissenszusammenhänge, die das Paradoxe in sich aufnehmen, ohne es durch den gewaltsamen Ausschluß von Alternativen zu beseitigen, die sich gegen den Zwang zur Systematik sperren, für das .Heterogene' (Bataille), das sich den Imperativen der Nützlichkeit widersetzt, das die .Souveränität' des Subjekts gegen seine (Selbst-)Vernichtung durch die .instrumenteile Vernunft' verteidigt" (1993: 107). Ein Zusammendenken von paradoxen Bedeutungen strebt auch die SI-Theorie an. 1045 In dekonstruktivistischen Interpretationen wird das Kollabieren der Bedeutungsfunktion der Sprache dargestellt. Hamacher schreibt in seiner Einfuhrung zu Paul de Mans Allegorien des Lesens: .„Lesen ist eine Allegorie der Unlesbarkeit. Und zwar eine Allegorie, die die Aporie ihrer Operation nicht zur Einheit eines Aktes aufheben kann, in dem sich das Verstehen seiner Unmöglichkeit gewiß sein und auf dieser Gewissheit eine neue, eine negative Hermeneutik des .freien' Spiels der Assoziationen errichten könne, sondern diese Aporie als fortgesetzte Diskrepanz zwischen dem notwendigen Projekt und dem unmöglichen Akt des Lesens artikuliert - eine ironische" (1988: 17). Derrida verdeutlicht an dem Wort Pharmakon (1972: 113), wie in Begriffen zugleich zwei nicht nur inkompatible, sondern widersprüchliche Bedeutungen (,Heilmittel' und ,Gift') anklingen können, ohne dass eine privilegiert wäre. Daneben nennt Derrida auch Hymen (.Vereinigung', .Trennung', .Vollzug', .Unberührtheit') oder Gramma (.Signifikant', .Signifikat'). Vgl. Derrida: „Worte dieser Art [Hymen, Pharmakon; Anm. S. H.] zeigen vielleicht besser als andere jene Stellen auf, wo der Diskurs nicht mehr beherrschen, beurteilen und zwischen dem Positiven und Negativen, dem Guten und Schlechten, dem Wahren und Falschen entscheiden kann" (1998: 95). Vgl. Zima 1995: 320 und Culler 1999: 158; 236-238. 1046 Die Dekonstruktion geht von einer unendlichen Substitution des Sinns aus. Da jedes Element der Sprache die Spur der anderen Elemente der Signifikantenstruktur in sich trage, existiere
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Resultat eines Selbstorganisationsprozesses (über die Ausbildung von Attraktoren) entsteht,1047 und legt damit den Akzent auf das Wechselspiel von Bestimmtheit und Unbestimmtheit, von Struktur undC.haos.1048 Dieselben Dynamiken können also unter bestimmten Bedingungen Chaos, unter anderen Systemhaftigkeit zeitigen. Die Auffassung der Dekonstruktion vom Signifikat, das nie still gestellt werden kann, wird von der SI-Theorie also um den Zeitfaktor ergänzt. Die Frage nach Bedeutungen ,an sich' von Texten wird damit sinnlos, denn Bedeutungskonstruktion erscheint nunmehr als zeitlich begrenzte Kopplung von Kommunikationbeiträgen. Die Folgerungen der SI-Theorie sind damit anders: Während die Dekonstruktion betont, dass Bedeutungen sich gegenseitig durchkreuzen und aufheben, weshalb Sinn niemals eindeutig, sondern immer flüchtig und unkontrollierbar bleibe, hebt die SI-Theorie den pragmatischen Aspekt der Bedeutungskonstruktion hervor: Bedeutung entsteht im Wechselspiel der Textelemente untereinander, nicht weil es archimedische Punkte gibt, von denen aus sie ihren Ausgangspunkt nehmen könnte, sondern weil Textverstehen als Selbstorganisation in konkreten Kontexten Eigenwerte ausbildet.1049 Im Gegensatz zur Dekonstruktion, welche die Feststellbarkeit von Textbedeutungen grundsätzlich verneint, betont die SI-Theorie also die lokale Präzisierung von Bedeutungen. Die Dekonstruktion lenkt die Aufmerksamkeit auf die Instabilität von Zeichen und Kontext, die SI-Theorie auf die Selbstorganisation, die in jeder Alltagskommunikation dazu fuhrt, dass sich Kommunikationspartner eben doch verstehen und nur in besonderen Fällen Paradoxien oder Kontingenz nicht auflösen kön-
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kein archimedischer Punkt des Sinns: Sinnverschiebungen statt Sinnpräsenz. Vgl. dazu Zima 1994: 45; 2000: 207. Laut Derrida erfolgt „ein unaufhörliches Verschwinden der festen Bedeutung und des schreibenden Subjekts in einem fortlaufenden Akt substituierender Verschiebung" (Hagenbüchle 1992: 30). Vgl. auch de Man 1988: 38, Frank 1993: 90, Zima 1994: 53, Münker/Roesler 2000: 47. In Bedeutungskonstruktionen zeige sich, laut SI-Theorie, weniger - wie in Derridas difffrance - das unendliche Aufschieben des Signifikats, als vielmehr Rückkoppelung und Selbstorganisation von Textelementen, die Bedeutungs-Attraktoren ausbilden. Allgemeine Wahrnehmungs- und Kognitionsprozesse verlaufen nach dem Modell der SITheorie in Attraktorbahnen, mit deren Hilfe das Wechselspiel zwischen Ordnung und Chaos sowie sprunghafte nicht-lineare Veränderungen beschrieben werden können, so dass „Ordnungsbildung in der Balance von Stabilität und Instabilität" (Stadler/Kruse/Carmesin 1996: 351) erkennbar wird. Auch Wissenschaftler sind in ihrem Konstruktivismus eingeschränkt, insofern sie handlungsfähig sein müssen: „Gerade durch die Verknüpfung von Wissen und Handeln sind der Beliebigkeit erhebliche Grenzen gesetzt" (Kriz/Lück/Heidbrink 1996: 71). Zima weist darauf hin, dass Redundanz und Rekurrenz die semantische und syntaktische Kohärenz der Kommunikation stärken und dass Derrida „die semantischen Hindernisse, die das Aussagesubjekt eines Diskurses zu überwinden hat", übertreibe (1994: 63). Vgl. zum Umgang mit Paradoxa und Unbestimmtheiten im literarischen Text in der dekonstruktivistischen Literaturtheorie allgemein Münker/Roesler 2000.
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WEITERFÜHRENDE FRAGESTELLUNGEN
Wissenschaftliche Arbeiten sind in der Regel selbstbestätigend, weil sie Zielsetzung, Begründung und Kontext der Argumentation vorgeben und ihnen die im Hinblick auf ihre eigenen Konstruktionen ausgewählten Zitate zwangsläufig immer Recht geben.1051 Das ist unvermeidlich, weil Theorien, um arbeiten zu können, immer bestimmte Aspekte des Textes als relevant ansehen und alle anderen ignorieren müssen, wodurch die untersuchten Texte als das erscheinen, als was sie untersucht worden sind.1052 Die Strukturen, die unter Zuhilfenahme der SI-Theorie in Texten des spanischen Gegenwartstheaters sichtbar gemacht wurden, sind daher kein Beweis für die Richtigkeit der Theorie. Doch geht es darum auch gar nicht. Über den Wert einer Theorie entscheidet ihr Anwendungspotential, also die Möglichkeiten, die sie eröffnet, um weiterzuarbeiten. Denn Viabilität einer Theorie zeigt sich gerade darin, dass sie Anregungen zu weiteren Studien geben kann, in ihrer Produktivität und ihrer Fähigkeit, Anschlusskommunikationen zu provozieren. Die zentrale Frage zum Abschluss der Theorie lautet also nicht: Gibt es SI? sondern: Wozu kann ein Konzept von SI dienen? Der hohe Abstraktionsgrad der SI-Theorie erleichtert ihre Übertragbarkeit auf andere kulturelle Gebiete. Die Systemtheorie kann dabei eine gemeinsame Grundlage fiir die Beschreibung von Phänomenen bilden, die in verschiedenen Disziplinen getrennt untersucht werden. SI-Theorien können, weil sie auf der Systemtheorie fußen, prinzipiell mit anderen Literatur- und Kulturtheorien verbunden werden, die auch auf diese Theorie zurückgreifen. In der Allgemeinheit ihrer Formulierung liegt ihr epochen- und disziplinenübergreifendes Anwendungspotential. 1053 Die SI-Theorie erfasst Gemeinsamkeiten von Textstrukturierungsverfahren und macht Paradoxie- und Kontingenzerzeugung unter einer einheitlichen Fra-
1051 Vgl. Küppers/Krohn 1992: 180, Bateson 1993: 105, Bruder 1993: 212, Rotheimer 1999: 81, Scheffer 1999: 228. Simon verweist darauf, dass sich allgemein alle Realitätskonstruktionen nach dem Muster von Tautologien bestätigen (1999: 97). So schreibt auch Kuhn: „Wissenschaftliches Faktum und wissenschaftliche Theorie sind nicht ohne weiteres trennbar [...]" (1967: 25). 1052 Das Postulat, eine Theorie habe dem Gegenstand angemessen zu sein, wird damit hinfällig: Es führt zu einer zirkulären Argumentation. So schreibt Scheffer: „Der Primärtext, das Primäre wird eigendich fingiert. Beobachtung konstituiert Primäres sekundär" (1999: 229). Vgl. auch Jahraus: „Das Objekt der Interpretation ist vielmehr selbst das Ergebnis eben dieses Interpretationsprozesses und geht diesem weder kausal noch logisch voraus" (1999: 241). 1053 Vgl. auch Hakens Ziel, mit der Synergetik „ein Wissenschaftsgebiet ins Leben zu rufen, das die Vorgänge der Selbstorganisation in den verschiedensten Disziplinen von einem einheidichen Gesichtspunkt aus behandelt, das ihre gemeinsamen grundlegenden Prinzipien aufsucht" (1996: 176).
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gestellung beschreibbar und Einzelphänomene damit vergleichbar. Der Vorteil des Allgemeinheitsgrades der SI-Theorie ist, dass sie rekurrente Ordnungsmuster im Gegenwartstheater mit Theorien über Bedeutungsbildung in anderen literarischen Gattungen sowie in der plastischen bzw. darstellenden Kunst zueinander in Verbindung setzen kann. Literaturtheorie kann so in einer allgemeinen Kulturtheorie verankert werden. Denn wenn sich Kulturwissenschaft als einheitliche, integrierende Disziplin versteht, dann ist ihre primäre Aufgabe, nach Mustern, Funktionen und Programmen und nicht nach Einzelphänomenen in den jeweiligen kulturellen Bereichen zu fragen. In diachroner Sicht können das Auftreten von und der Umgang mit SI zum Mittel der Beschreibung von Entwicklungen in je spezifischen kulturellen Kontexten werden und Erklärungsmodelle für die Entstehung neuer Subtypen innerhalb von Gattungen liefern.1054 Aus einem diachronen Blickwinkel wird dabei besonders die Frage interessant, welche Funktionalisierungen SI zu unterschiedlichen Zeitpunkten erfahren und wie sie in unterschiedlichen kulturellen Kontexten zu beschreiben sind. Die SI-Theorie greift nicht auf Konstrukte wie den ,idealen Leser' zurück, weil sie den konkreten Rezeptionsakt zur Grundlage von Bedeutungskonstruktion macht.1055 Durch die Berücksichtigung des pragmatischen Aspektes der Textanalyse werden Probleme formulierbar, die bei allgemeinen Theorien zur Bedeutungskonstruktion zu bedenken sind. Traditionelle Interpretationen behandeln z. B. Texte wie eine langue (vor allem in Konstruktionen von ,idealen Lesern, die auch in ,idealen frame-Renutzerri versteckt sein können); literarische Texte manifestieren sich aber immer als parole, weil sie außerhalb der Rezeption nichts bedeuten.1056 Zwar ist es nicht möglich, eine Grammatik der parole zu erstellen (dies wäre ein Widerspruch in sich), doch kann eine Texttheorie (die als Kommunikationstheorie zu konzipieren ist) allgemein Schwierigkeiten beschreiben, die bei konkreten Bedeutungskonstruktionen wahrscheinlich entstehen, und deren
1054 Im Zusammenhang mit der Literaturentwicklung ist der Gedanke des re-entry der Unterscheidung interessant, wie im vorliegenden Fall das,Theater der Grenzgänge' als Wiedereinführung chaotischer in systemhafte bzw. systemhafter in chaotische Strukturen beschrieben werden kann. 1055 Der ideale verhält sich zum realen Leser wie die Kompetenz zur Performanz. Kompetenzzentrierte Kommunikationstheorien machen aus dem konkreten Text indes ein virtuelles Konstrukt. Zu Recht kritisiert Krämer: „Selbst also die Sprechakttheorie und die universalpragmatische Kommunikationstheorie idealisieren das Kommunikationsgeschehen auf eine Weise, die mit der Kontingenz, der Undurchsichtigkeit und Unbeherrschbarkeit, der Materialität und der Zeitlichkeit endlicher menschlicher Kommunikationsereignisse wenig gemein hat" (1998: 37). Zum „intellektualistischen" Sprachbild, das nach Kompetenz und Performanz unterscheidet, vgl. Krämer 2001: 98-103. 1056 Zu dem Gedanken, dass der Kommentar den Text erzeuge, vgl. Fish 1980 und Fohrmann 1988.
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mögliche Rückwirkungen auf individuelle Rezeption als Wahrscheinlichkeitsaussagen formulieren.1057 So wird aufgezeigt, was bei Bedeutungskonstruktionen weder ,nur möglich' noch ,schon sicher', sondern eben .wahrscheinlich' ist. Die SI-Theorie kann aber auch allgemein auf literaturtheoretischem Gebiet angewendet werden etwa bei der Frage nach spezifisch literarischer (oder sogar allgemein: ästhetischer) Informationsverarbeitung. Als Bestimmungsmerkmal literarischer Texte könnte in diesem Sinne das Kriterium .Umgang mit SI' gelten: Während in nichtliterarischen Texten Interferenzen zielorientiert zu beseitigen sind, können sie im literarischen Text gerade beibehalten und ästhetisch funktionalisiert werden. Eine weitere lohnende Fragestellung wäre in diesem Zusammenhang, wie SI die Illusionsbildung verstören oder neue Typen von Spannung erzeugen. In der SI-Theorie wurden allgemeine Kognitions- und Kommunikationstheorien auf einen spezifischen Bereich, Drama und Theater, angewendet. Die SITheorie impliziert biologisch-neurowissenschaftliche (Maturana, Varela), kybernetische (von Foerster), philosophisch-soziologische (Luhmann, von Glasersfeld) sowie psychologische (Simon, Schlippe/Schweitzer) Zugangsweisen zur Textverarbeitung. Als Element von Literaturtheorie ist die SI-Theorie damit ein Baustein fiir allgemeine Theorien der Bedeutungsentstehung und für eine kognitiv ausgerichtete Textwissenschaft: Weil die Literatur die Grenzen der Intelligibilität erforscht, verfuhrt sie zu bzw. provoziert sie theoretische Diskussionen, die sich auf die allgemeinsten Fragen der Rationalität, der Selbstreflexivität und des Bedeutens erstrecken. (Culler 1999: 12)1058 Die Ansatzpunkte — Sinndimensionen, Attraktoren, Selbstorganisation — haben einen so hohen Allgemeinheitsgrad, dass sie mit Erkenntnissen anderer Bereiche der Geistes- und Naturwissenschaften kombinierbar sind und insbesondere mit der Wahrnehmungspsychologie, welche die Beziehung zwischen Reizmustern und Wahrnehmung allgemein untersucht.1059 Die SI-Theorie versteht sich damit als Teil einer Wissenschaft der Informationsgewinnung auch und besonders aus lückenhaften Wahrnehmungsdaten. Zugleich bestehen zahlreiche Verbindungen der SI-Theorie zur pragmatischen Narratologie (vgl. dazu Strasen 2002) und zu den Kognitionswissenschaf-
1057 Die umweltabhängigen Variablen (die Individualität des Rezipienten und sein kulturelles Umfeld sowie die Berücksichtigung historischer Faktoren) bleiben erhalten. 1058 Gumbrecht zufolge stellen die Geisteswissenschaften allgemein die Frage nach den Bedingungen fiir die Entstehung von Sinn (1995a: 919). 1059 Vgl. z. B. Stadler/Kruse: „Meaning ist constituted in a neural network by relations between attractors. Meaning does not refer to external things, but it is generated within the system" (1995a: 5).
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ten, vor allem wenn es um die Frage geht, wie Texte Aufmerksamkeit binden. Die Frage ist in diesem Zusammenhang: „[...] wie konstruiert ein Beobachter, was er konstruiert, um weitere Beobachtungen anschließen zu können" (Luhmann 1998: 63)? In diesem Zusammenhang ist vor allem eine stärkere Einbindung der Gestalttheorie in die Beschreibung allgemeiner kognitiver Prozesse, also auch von Bedeutungskonstruktionen eines Textes, vielversprechend; Kindt ist beispielsweise der Auffassung, dass Gestaltprinzipien und Erwartungskontrolle „zwei grundlegende Mechanismen der Bedeutungskonstitution bilden und maßgeblich zur Erklärung dynamischer Phänomene in der Semantik beitragen" (2002: 36). 1060 Als kulturwissenschaftliche Frage bietet sich schließlich die nach dem Umgang einer Kultur mit Ambivalenz an, etwa ob diese ,domestiziert' als Negation oder im Gegenteil als mitgeführte Möglichkeit in Form eines re-entry erscheint. Die Art, wie Kommunikationsmuster mit Paradoxieerzeugung und Paradoxiebeseitigung umgehen, kann dabei geistesgeschichtliche Entwicklungen (als fortschreitenden funktionalen Differenzierungs- und Entdifferenzierungsprozess) konstruieren. Hier ergeben sich zahlreiche Berührungspunkte zu diskursanalytischen Theorien (etwa Stanley Fishs „interpretative communities"; vgl. Fish 1980) und sozialwissenschaftlichen Themen, wobei besonders die Frage interessant ist, ob und wie sich die Toleranz gegenüber SI im 21. Jahrhundert erhöht. Immerhin ist die Kulturwissenschaft selbst reflexiv, da sie zugleich Bestandteil und Vollzug der Kultur ist, die sie beschreibt. In ihr ist Selbstbezug also immer schon angelegt. Auf der Theorieebene fuhrt das Konzept der SI entsprechend auf eine umfassende Weise Reflexivität ein: Bei ihr geht es um das Wahrnehmen des Wahrnehmens, um Aussagen über Aussagen, und Fragen zu Fragen zum Text. Damit zeigt sie eine Affinität zur „Wissenschaft, die für das Erkennen des Erkennens zuständig" ist, einer ,Neologie', wie Morin (1993: 104) sie nennt. Hier lauten dann die Fragen: Welche Art von Wirkungen haben Textstrukturen? Oder noch allgemeiner: Wie funktioniert Kommunikation?
1060 Darauf scheint auch Krämer abzuzielen, wenn sie fordert, bezüglich der Sprache nicht zwischen Kompetenz und Performanz zu unterscheiden, sondern von exemplarischen Formen auszugehen: „Muster und Formen, die als allgemeine Muster und allgemeine Formen einzelnen Fällen .zugrunde liegen, gibt es nicht. Was es gibt, sind raum-zeitlich situierte Phänomene, die als exemplarisch bzw. paradigmatisch in unserer Praxis ausgezeichnet werden [...]" (2001: 264). Kindt verweist darauf, dass „Bedeutungskonstruktionen teilweise dieselben Verknüpfungsprinzipien zugrunde liegen, die in der Wahrnehmungspsychologie als Gestaltgesetze" bekannt sind (2002: 36).
SCHLUSSBETRACHTUNG
Wenn man alles Unklare ausgemerzt hat, bleiben wahrscheinlich nur völlig uninteressante Tautologien übrig. (Heisenberg)1061 Die vorliegende Theorie zur Beschreibung von Texten des spanischen Gegenwartstheaters ist ein Vorschlag, wie Differenztheorien, kybernetische Modelle und Elemente der Chaostheorie in eine Textanalyse eingebracht werden können und wie sich damit Chaos und System, Logik und ,Paralogie' (Lyotard) 1062 in einem Modell vereinen lassen. Das Konzept Systeminterferenz modelliert damit allgemeine Probleme der Textanalyse am Beispiel des Theaters auf einer neuen theoretischen Ebene. Anhand der Differenzierung verschiedener Typen des Gegenwartstheaters wird literarische Entwicklung als Komplexitätssteigerung beschreibbar. Jede Theorie erzählt ihre eigene Geschichte über literarische Texte und ist dabei ein Produkt ihrer Umwelt, denn alle Wahrnehmungs- und Erfahrungsprozesse sind kulturrelativ. 1063 Problemlösungen wiederum sind von der Theorie abhängig, in deren Rahmen sie formuliert wurden. Jede Textanalyse arbeitet entsprechend mit Differenzen, die etwas sichtbar und damit etwas anderes unsichtbar machen, weil nämlich „jede neue Brille neue Felder des Nichtgesehenen erzeugt" (Schmidt 1988: 151). 1064 „Man publiziert - nicht um zu belehren, sondern um beobachtet zu werden", schreibt in diesem Sinne Luhmann (1992: 83), und auch im Falle der SI-Theorie wird es darum gehen, deren ,blinde Flecke' ihrerseits wieder kreativ zu nutzen. Die vorgeschlagenen Textmodelle sind damit Konstrukte, mit denen weitergearbeitet werden muss. U n d dabei gelten Lotmans Sätze: „Wie stets in der echten Wissenschaft, kann man auf diesem Wege nur vorangehen. Zuendegehen kann man ihn nicht. Aber das ist nur in den Augen derer ein Mangel, die nicht begreifen, was Wissen ist" (1993: 121). Das Grunddesign der Theorie der SI impliziert die Aufrechterhaltung von Unbestimmtheit und plädiert für eine Textanalyse, die mit Wahrscheinlichkeiten arbeitet. Nicht zuletzt sollen SI zu einem Spiel mit den Texten verleiten, welches im individuellen Aufnehmen von Wahrnehmungen und Kommunikationen die Fähigkeit schult, widersprüchliche und kontingente Strukturen nicht begrifflich
1061 Zitiert nach Kriz 1997: 103. 1062 Die Suche nach dem noch Ungedachten nennt Lyotard Paralogie, ein Denken zwischen der Logik geregelter Systeme, das auf der Suche nach anderen, möglicherweise den geltenden Regeln widerstrebenden Regeln ist (1986: 52). 1063 Vgl. das Kapitel „Die Kulturabhängigkeit wissenschaftlicher Erfahrung" in Kriz/Lück/ Heidbrink (1996: 78-82) und Morin 1993: 102. 1064 Zur Generierung neuer Typen von Unwissen durch Wissen vgl. auch Foerster 1985: 29, Bode 1988: 385, Stanitzek 1992: 650, Nünning 1995a: 3 und Ceruti 2000: 42f.
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zu vereinnahmen, sondern in „Zweifel und Ungewißheit" (Keats) zu leben.1065 Denn Textanalyse anhand von SI zielt immer auch auf ein spielerisches Talent des Erkenntnisvermögens ab, das sich vom Unbekannten und Verblüffenden bereitwillig affizieren lässt. Der Beobachter von Texten gelangt dabei immer nur zu vorläufigen Bedeutungen und kann den ,blinden Fleck' seiner Unterscheidungen nur verschieben, nicht aufheben. Die Theorie der SI entwickelt ein Analysekonzept, das auf sie selbst wieder anwendbar ist: Die Beobachtungen, die sie ermöglicht, sind mittels neuer Unterscheidungen ihrerseits wieder zu beobachten. Denn ihre eigenen grundlegenden Unterscheidungen kann die Theorie selbst nicht bearbeiten - aber sie weiß, dass sie das nicht kann. „Man kann zwar nicht sehen, was man nicht sieht, aber vielleicht kann man wenigstens sehen, daß man nicht sieht, was man nicht sieht", schreibt Luhmann (1992: 84). Und dann kann man auch noch versuchen zu sehen, dass man nicht sieht, dass man nicht sieht, was man nicht sieht. Und so weiter ad infinitum. The rest is silence.
1065 Vgl. die Aussagen bei Briggs/Peat 1992: 3 3 9 über schöpferische Menschen.
ABKÜRZUNGEN
AP BM C D HP MH MP MT OT O P R S U UT
Mariano Anós, El Aire entre las páginas Pedro Manuel Víllora, Bésame macho Francisco Ortuño, Corre Antonio Morcillo, Despedida II Angélica Liddell, Hysterica Passio Pedro Manuel Víllora, La misma historia Angélica Liddell, El matrimonio Palavrakis Borja Ortiz de Gondra, Mujeres: tomas Angélica Liddell, Once upon a time in West Asphixia Mariano Gracia Rubio, Orléans Rodrigo García, Prometeo Llui'sa Cunillé, Rodeo Roberto García, Scout Paco Zarzoso, Umbral Leopoldo Alas, Ultima toma
BIBLIOGRAPHIE 1
INSZENIERUNGEN
Folgende Inszenierungen werden in der vorliegenden Arbeit angesprochen: A cuestas con Murphy: Text: Ander Elizondo, colectivo de creación. Regie: Santiago Sánchez. Vaivén Producciones. 15.11.2003. Paraninfo Universidad (Alicante). XI Muestra de Teatro Español de Autores Contemporáneos (Alicante). A quien madruga: Text und Regie: Carlos Sarrio. Cambaleo Teatro. 13.2.2003. Sala Ensayo 100. III Festival Alternativo de las artes escénicas/Escena Contemporánea 2003 (Madrid), Rubrik „Obras". 16.11.2003. C.S. „Gastón Castellò" (Alicante). XI Muestra de Teatro Español de Autores Contemporáneos (Alicante). Accidente esperando a ocurrir: Text und Regie: Carlos Fernández López. 19.2.2003. El Canto de la Cabra (Madrid). III Festival Alternativo de las artes escénicas/Escena Contemporánea 2003 (Madrid), Rubrik „Obras". Aeropuertos: Text und Regie: Alejandro Jornet. Compañía Malpaso. 24.11.2001. Paraninfo Universidad (Alicante). Muestra de Teatro Español de Autores Contemporáneos (Alicante). After sun: Text und Regie: Rodrigo García. Compañía La Carnicería Teatro. 15.2.2001, Sala Cuarta Pared. Festival Alternativo de las artes escénicas/Escena Contemporánea 2001 (Madrid), Rubrik „Nuevas Dramaturgias". Alicia se murió de un susto: Text: Moro Anghileri, Mariana Chaud. Leiter: Juan Branca. Produktionsleitung: Leo Granulles, Regie und Inszenierung: Moro Anghileri. Führung vom 14.2.2003, 21:30h, Casa de América. III Festival Alternativo de las artes escénicas/Escena Contemporánea 2003 (Madrid), Rubrik „Otras actividades". 120 pensamientos por minuto: Text und Regie: Carlos Marquerie. Compañía Lucas Cranach. 22.2.2002. Sala Cuarta Pared. II Festival Alternativo de las artes escénicas/Escena Contemporánea 2002 (Madrid), Rubrik „Obras". Compré una pala en Ikea para cavar mi tumba: Text und Regie: Rodrigo García. Compañía La Carnicería Teatro. 2.5.2002. Sala Cuarta Pared. Cuaderno de bitácora: Text: Dámaris Matos. Regie: Carlos Alvarez-Ossorio. Compañía Centro Andaluz de Teatro, Andalucía. 16.10.2001. Círculo de Bellas Artes. Muestra de Teatro de las Autonomías, Villa de Madrid. 21.11.2001. Teatro Arniches (Alicante). Muestra de Teatro Español de Autores Contemporáneos (Alicante). Del otro lado: Text und Regie: Borja Ortiz de Gondra. Compañía Taller 3 Producciones. 20.2.2001. Sala Cuarta Pared. III Festival Alternativo de las artes escénicas/Escena Contemporánea 2003 (Madrid), Rubrik „Nuevas Dramaturgias". El hueco: Compañía Proyecto Sur. 14.2.2003. Kellerraum der c/Cabeza (Madrid). III Festival Alternativo de las artes escénicas/Escena Contemporánea 2003 (Madrid), Rubrik „Otras Actividades". Estudio sobre la (b)risa: Idee und Regie: Fernando Renjifo. La República compañía de teatro. 3.3.2002. Teatro Pradillo. II Festival Alternativo de las artes escénicas/Escena Contemporánea 2002 (Madrid), Rubrik „Obras".
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CHAOS U N D SYSTEM: STUDIEN ZUM SPANISCHEN GEGENWARTSTHEATER
Hamlet Garcia: Text und Regie: Miguel Morillo. Compañía Teatro de Acción Candente. 31.1.2002. Sala Triángulo. II Festival Alternativo de las artes escénicas/Escena Contemporánea 2002 (Madrid), Rubrik „Obras". K.O.S.: Gestaltung und Regie: Marta Galán. Compañía La Vuelta. 25.1.2002. Sala Triángulo. II Festival Alternativo de las artes escénicas/Escena Contemporánea 2002 (Madrid), Rubrik „Obras". La herida en el costado: Text: Pilar Campos Gallego. Regie: José Bornás. 22.11.2002. Gimnasio I.E.S. Figueras Pacheco (Alicante). XMuestra de Teatro Español de Autores Contemporáneos (Alicante). La historia de Ronald, elpayaso de McDonald's: Text und Regie: Rodrigo García. Compañía La Carnicería Teatro. 21.2.2003. Sala Cuarta Pared. III Festival Alternativo de las artes escénicas/Escena Contemporánea 2003 (Madrid), Rubrik „Obras". La pecera: Text: Yolanda Dorado. Regie: Ana Sala. Compañía Sintalento Teatro. 2.10.2001. Círculo de Bellas Artes. Muestra de Teatro de las Autonomías. Las voces de Penèlope: Text: Itziar Pascual; Regie: Charo Amador. Compañía Teatro Sur, 4.3.2001. Sala Ensayo 100. Festival Alternativo de las artes escénicas/Escena Contemporánea 2001 (Madrid), Rubrik „Nuevas Dramaturgias". Los cabeza-globo (son felices en su parque eòlico): Text und Regie: Rafael Ponce. Compañía Esteve y Ponce. 23.11.2002. Aula CAM (Alicante). XMuestra de Teatro Español de Autores Contemporáneos (Alicante). Mala leche: Text und Regie: Rafael Ponce. Compañía Esteve y Ponce. 10.2.2002. Sala Cuarta Pared. II Festival Alternativo de las artes escénicas/Escena Contemporánea 2002 (Madrid), Rubrik „Obras". Mátame, abrázame: Text und Regie: Antonio Fernández Lera. Compañía Magrinyana. 28.2.2002. El Canto de la Cabra (Madrid). 23.11.2002. I.E.S. Jorge Juan (Alicante). Muestra de Teatro Español de Autores Contemporáneos (Alicante). País llamado Julio: Auf der Basis von Texten Julio Cortázars. Regie: Mario Vedoya. Koordination: José Sanchis Sinisterra. Compañía Axolotl. 25.1.2001. Casa de América. Festival Alternativo de las artes escénicas/Escena Contemporánea 2001 (Madrid), Rubrik „Experiencias". Pan con pan: Text: Creación colectiva. Regie: Miguel Muñoz. Compañía Zanguango und Trapu-Zaharra. 7.2.2002. Sala Ensayo 100. II Festival Alternativo de las artes escénicas/Escena Contemporánea 2002 (Madrid), Rubrik „Obras". Quince peldaños: Text: Gracia Morales. Regie: Rafael Torán. Compañía Centro Andaluz de Teatro, Andalucía. 19.10.2001. Círculo de Bellas Artes. Muestra de Teatro de las Autonomías, 22.11.2001. Teatro Arniches (Alicante). Muestra de Teatro Español de Autores Contemporáneos (Alicante). Sanedrín 54: Regie: Vanessa Martínez Navas. 12.2.2003. El Canto de la Cabra. III Festival Alternativo de las artes escénicas/Escena Contemporánea 2003 (Madrid), Rubrik „Nuevos creadores". Sexo: Gestaltung und Regie: Juan Carlos Montagna. Compañía Interno. 23.2.2003, 17:00h. Madragoa, c/Pez (Madrid). III Festival Alternativo de las artes escénicas/ Escena Contemporánea 2003 (Madrid), Rubrik „Otras Actividades". Si un día me olvidaras: Text: Raúl Hernández Garrido. Regie: Carlos Rodríguez. Coproducción Teatro del Astillero/Centauro Teatro. 18.11.2001. Teatro Arniches (Alicante). Muestra de Teatro Español de Autores Contemporáneos (Alicante).
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TEXTE DES SPANISCHEN GEGENWARTSTHEATERS
Die folgenden Titel sind als (unvollständiges) Inventar des spanischen Gegenwartstheaters (Stand: Juli 2004) zu verstehen; nicht alle angeführten Texte wurden in der Arbeit analysiert. Bei den mit [K] versehenen Texten handelt es sich um Kurztexte. Carmen. ( 1 9 9 9 ) . .Adictos a la luz (El maleficio)", in: Piezas breves y bocetos. Teatro. Departamento de escritura y ciencias teatrales. Curso 1998-99. Madrid:
ABIZANDA LOSADA,
R E S A D , S. 9 - 1 5 . [K]
Carmen. ( 2 0 0 0 ) . „Veo, veo", in: Teatro Promoción Espiral/Fundamentos, S. 9-32.
ABIZANDA,
1996-2000. Madrid:
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