Crossing: Über Inszenierungen kultureller Differenzen und Identitäten 9783839435380

In theatre, inequalities are often staged, in order to establish differences, mark out territories or produce identities

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German Pages 230 Year 2017

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort. Über Inszenierungen kultureller Differenzen und Identitäten
Crossing Gender. Transvestismus im römischen Kaisertum als Strategie zur Konstruktion von Ungleichheit
Crossing Genres & Cultures in der alexandrinischen Literatur
Crossing Genres in römischen Fachtexten
Literarische Crossings
Inszenierung durch Stilisierung fremder Stimmen
„Shice auf Hiphop“
Bewegtes Crossing
Crossing im Recht
Autorinnen und Autoren
Abbildungsverzeichnis
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Crossing: Über Inszenierungen kultureller Differenzen und Identitäten
 9783839435380

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Antje Dresen, Florian Freitag (Hg.) Crossing

Edition Kulturwissenschaft | Band 107

Antje Dresen, Florian Freitag (Hg.)

Crossing Über Inszenierungen kultureller Differenzen und Identitäten

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3538-6 PDF-ISBN 978-3-8394-3538-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort. Über Inszenierungen kultureller Differenzen und Identitäten

ANTJE DRESEN/FLORIAN FREITAG | 7 Crossing Gender. Transvestismus im römischen Kaisertum als Strategie zur Konstruktion von Ungleichheit

FILIPPO CARLA-UHINK | 11 Crossing Genres & Cultures in der alexandrinischen Literatur. Theokrits 15. Idyll als Crossing-Experiment

ANNEMARIE AMBÜHL | 39 Crossing Genres in römischen Fachtexten. Zu den Lehrdichtungen in den Agrarhandbüchern von Columella und Palladius

MARION GINDHART | 67 Literarische Crossings. Sprachliche Kreuzungen in der amerikanischen Dialektliteratur des 19. Jahrhunderts

FLORIAN FREITAG/ANNIKA ROSBACH | 89 Inszenierung durch Stilisierung fremder Stimmen. Sprachliches Crossing am Beispiel einer hispanophonen Migrantengrupppe in Nürnberg

SONJA HIGUERA DEL MORAL/SILKE JANSEN | 117 „Shice auf Hiphop“. RechtsRap als Crossing?

THORSTEN HINDRICHS | 159 Bewegtes Crossing. Über inszenierte Ungleichheiten im Sport

ANTJE DRESEN | 177 Crossing im Recht. Auf Spurensuche nach Begriffsbildungen im öffentlichen Recht

SEBASTIAN KLAPPERT | 201 Autorinnen und Autoren | 223 Abbildungsverzeichnis | 227

Vorwort Über Inszenierungen kultureller Differenzen und Identitäten

Wer Kultur und Gesellschaft verstehen, beschreiben, deuten oder erklären möchte, kann dies aus unterschiedlichen Perspektiven und mit Blick auf verschiedene Erscheinungsformen tun. Eine ganz besonders schöpferische Kraft erwächst aus dem Phänomen des Crossings. Von der Forschung bislang vergleichsweise vernachlässigt, beschreibt dieser Begriff soziale Handlungen und kulturelle Artefakte, bei denen Grenzen überschritten werden, um Differenzen zu schaffen und Identitäten zu inszenieren. Diese produzierten Ungleichheiten können sowohl Ausgangspunkte als auch Effekte diskursiver Praktiken, sozialer Strukturen, Wahrnehmungen, Kommunikationen und Interaktionen sein. Mit Crossing-Phänomenen hat sich zunächst der britische Soziolinguist Ben Rampton im Rahmen einer Studie zur Verwendung von Sprachen oder Sprachvarietäten bestimmter regionaler, sozialer und ethnischer Gruppen auseinandergesetzt. Damit hat er wichtige Deutungsimpulse geliefert. Ramptons Konzept baut auf „the use of language varieties associated with social or ethnic groups that the speaker does not normally ‚belong‘ to“:1 A inszeniert exemplarisch eine ‚fremde Stimme‘, spricht also in einer ‚fremden‘ Varietät, die mit einer Gruppe B assoziiert wird, der aber A nicht angehört. Ziel des Sprechers ist dabei nun gerade nicht, seine Zugehörigkeit zur Gruppe B darzustellen, sondern eine Differenz zu dieser Gruppe zu markieren bzw. konstruieren. Ramptons Ansatz wurde innerhalb der Linguistik breit rezipiert.2 Gleichzeitig wurde aber auch wiederholt auf das intermediale und interdisziplinäre Potential des Crossing-Konzepts hingewiesen.3 Denn Übernahmen ‚fremder‘ Codes

1

RAMPTON, 1995, S. 14.

2

Vgl. etwa BODDEN, 2011; CUTLER, 1999; HINNENKAMP, 2000; NORTIER, 2001.

3

Vgl. z.B. ANDROUTSOPOULOS, 2002, S. 31.

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zur Markierung und Konstruktion von Differenzen finden sich etwa auch zahlreich in Literatur, Historie, Musik, Sport, Recht etc. Vor diesem Hintergrund werden innerhalb des vorliegenden Bandes diverse Crossing-Fallbeispiele in ihren vielfältigen und unterschiedlichen Bedeutungszuweisungen erörtert. Mittels einer systematischen Zusammenschau wird dazu das Spektrum von Crossing-Prozessen erkundet: Wann, wie, warum und von wem werden bestimmte ‚Codes‘ wie Dialekte, Bilder, Textgattungen, Habitus, Körper, Bewegung, Kleidung etc. kommunikativ und symbolisch relevant gemacht? Wann und warum benutzt wer welche ‚Sprache‘? Die beitragenden Autorinnen und Autoren lösen hierfür den Crossing-Begriff aus seinem ursprünglichen soziolinguistischen Kontext im Sinne einer Aneignung ‚fremder‘ Sprachvarietäten in der mündlichen Kommunikation heraus und weiten ihn auf ‚fremde‘ kulturelle Codes jeglicher Art aus – von Dialekten und Textgattungen bis hin zu musikalischen Stilrichtungen, Bildern, Kleidung, Bewegungsmustern etc. In insgesamt acht Beiträgen aus unterschiedlichen Fachrichtungen – von Angewandter Sprachwissenschaft, Alter Geschichte, Klassischer Philologie, Amerikanistik und Romanistik bis hin zu Rechtswissenschaft, Sportsoziologie und Musikwissenschaft – werden so Crossing-Phänomene explorativ und interdisziplinär diskutiert. Einerseits werden so die vielfältigen sozialen und kulturellen Funktionen der jeweiligen Codes für die Inszenierung von Ungleichheiten und Machtverhältnissen zwischen bestimmten sozialen Gruppen sichtbar gemacht. Andererseits wird die Produktion von Differenzen innerhalb verschiedener sozialer Gegebenheiten auf den Prüfstand gestellt und hinterfragt. So ist das Crossing oftmals an liminale, also mehrdeutige Kontexte gebunden und damit an Momente, in denen die Annahmen und Regelungen sozialer Ordnung aufgeweicht oder gänzlich aufgehoben sind.4 Die Autorenschaft des Sammelbandes weist jene disziplinäre Breite aus, die nötig ist, um die Komplexität von Crossing mehrperspektivisch und tiefenscharf zu ergründen. Indem in allen Beiträgen aufbereitet wird, wer sich warum in welcher Situation und in welchem sozialen Kontext ‚fremde‘ Codes aneignet und welche Folgen daraus resultieren, kann dies bedeutend zum Verständnis von Kultur und Gesellschaft beitragen. Zugleich liefert dieser Band vielfältige theoretische wie methodologische Anknüpfungspunkte und Impulse für die weitere Crossing-Forschung.

4

Vgl. RAMPTON, 1998, S. 298f.

V ORWORT

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Der vorliegende Sammelband ist aus der Arbeitsgruppe „Diskurs – Macht – Wissen. Konstruktionen von Ungleichheit“ des Sozial- und Kulturwissenschaftlichen Forschungszentrums SoCuM an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz entstanden. Die Herausgeber und Mitglieder der AG danken dem SoCuM-Koordinierungsausschuss für die ideelle und finanzielle Unterstützung des vorliegenden Bandes sowie der internationalen Workshops und der universitären Ringvorlesung, auf denen er aufbaut. Großer Dank gebührt auch Tobias König für seine stets zuverlässige Mitarbeit bei der Entstehung dieses Bandes. Antje Dresen und Florian Freitag, im September 2016

L ITERATUR ANDROUTSOPOULOS, JANNIS: jetzt speak something about italiano. Sprachliche Kreuzungen im Alltagsleben, in: Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie 65 (2002), S. 5-35. BODDEN, M.C.: Language as a Site of Revolt in Medieval and Early Modern England, New York 2011. CUTLER, CECILIA A.: Yorkville Crossing. White Teens, Hip Hop and African American English, in: Journal of Sociolonguistics 3, 4 (1999), S. 428-442. HINNENKAMP, VOLKER: ‚Gemischt sprechen‘ von Migrantenjugendlichen als Ausdruck ihrer Identität, in: Der Deutschunterricht 5 (2000), S. 96-107. NORTIER, JACOMINE: Murks en straattaal. Vriendschap en taalgebruik onder jongeren, Amsterdam 2001. RAMPTON, BEN: Crossing. Language and Ethnicity among Adolescents, London 1995. DERS.: Language Crossing and the Redefinition of Reality, in: Code-Switching in Conversation, hg. von PETER AUER, London 1998, S. 290-320.

Crossing Gender Transvestismus im römischen Kaisertum als Strategie zur Konstruktion von Ungleichheit F ILIPPO C ARLA -U HINK

1. E INLEITUNG ‚Transgender‘-Handlungen wie etwa Crossdressing setzen in unserer westlichen Kultur immer die Überschreitung einer Grenze voraus, und zwar der klar definierten Grenze, welche die beiden Gender ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ samt ihrer Erwartungsstrukturen voneinander trennt.1 Während sich in den letzten 25 Jahren eine ‚transgender Identität‘ herausgebildet hat, kannten frühere Epochen lediglich ‚transgender Handlungen‘ (selbst wenn ihnen dieser Begriff fehlte), die in verschiedenen Kontexten verschiedene Bedeutungen haben konnten. Dies führte jedoch weder zur Entwicklung einer spezifischen ‚transgender‘ Identität noch zu einer ‚Auflösung‘ der Gendergrenzen.2 Nichtsdestotrotz lohnt eine Untersuchung solcher Handlungen in vergangenen Epochen, insbesondere aus der Perspektive dieses Bandes. Versteht man nämlich solche Überschreitungen wie jede Form von Gender-Konstruktion als

1

Der Begriff ‚transgender‘ entstand in den 1990er Jahren und ist äußerst umstritten. Ich verwende ihn in diesem Beitrag, um Handlungen zu beschreiben, durch die Menschen vorübergehend oder dauerhaft charakteristische Elemente (Kleidung oder auch anatomische Elemente) übernehmen, die üblicherweise einem Geschlecht zugeschrieben werden, das nicht ihrem Geburtsgeschlecht entspricht.

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VALENTINE, 2007, S. 154f.

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Performanzen,3 so stellt sich die Frage, wer sie praktizieren kann bzw. darf, wie das ‚Publikum‘ (die Gesellschaft) darauf reagiert und welche Machtdiskurse im jeweiligen sozialen, politischen und kulturellen Kontext mit ihnen verwoben sind. Der Crossing-Begriff, wie er in der Soziolinguistik entwickelt worden ist, trägt dabei zum besseren Verständnis von Machtmechanismen bei, die sich in Handlungen äußern, welche die Konstruktion der Ungleichheit innerhalb einer Gesellschaft bezwecken. Der Akteur, der transgender handelt, beansprucht für sich selbst die Fähigkeit, die Geschlechtergrenzen zu überschreiten. Dies stellt jedoch keine Subversion dieser Grenzen dar, sondern bewirkt vielmehr deren Verstärkung und Hervorhebung. Denn im Zentrum der Handlung steht nicht die Abschaffung der Differenz, sondern vielmehr die Legitimität des Akteurs, etwas zu tun, was anderen Menschen unmöglich bzw. verboten ist. Daher werde ich in diesem Beitrag transgender Handlungen aus dem Zeitalter des römischen Kaisertums vor seiner Christianisierung untersuchen, um die in diesen Handlungen implizierten Machtdiskurse einerseits zu identifizieren und um zu zeigen, dass Transvestismus als Strategie zur Konstruktion von Ungleichkeit konzipiert werden muss. Zunächst werde ich dabei die Geschlechtergrenzen in der römischen Antike thematisieren. Denn nur wenn klar ist, wie und wo die Grenze verläuft, kann man ihre Überschreitung untersuchen und verstehen. Dies gilt insbesondere im Kontext der klassischen Antike, von der oft vermutet worden ist, dass sie bezüglich der Geschlechtergrenze eine größere Durchlässigkeit gekannt habe. In der Antike, so die gängige Vorstellung, seien ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ eher die Pole eines Spektrums als zwei klar voneinander getrennte Bereiche gewesen.4 In einer sehr erfolgreichen Monographie aus dem Jahr 1990 hat z.B. Thomas Laqueur argumentiert, dass der sexuelle Dimorphismus modern sei – die Antike habe die weiblichen Genitalien als „introvertierte“ männliche Genitalien interpretiert und sei daher nur von einem Geschlecht mit verschiedenen Äußerungsformen ausgegangen.5 Diese Annahme wurde in den letzten Jahren zu Recht heftig kritisiert – vor allem, weil die Idee der Antike als solche bereits eine grobe Vereinfachung darstellt.6 So hat King argumentiert, dass Laqueurs Modell nicht akzeptabel sei und dass „one-“ und „two-sex“ Modelle schon immer koexistierten, in einem viel

3

BUTLER, 1999, S. 9-12.

4

Vgl. FOUCAULT, 1984, S. 170f.

5

LAQUEUR, 1990, S. 25-62.

6

Laqueur muss etwa zugeben, dass Aristoteles „deeply committed to the existence of two radically different and distinct sexes“ war; vgl. EBD., S. 28-31.

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komplexeren kulturellen Kontext als denjenigen, von dem Laqueur ausging.7 Laqueur selbst gibt durchaus zu, dass sich das „one-sex model“ und GenderDualismus nicht grundsätzlich ausschließen.8 Selbst wenn man jedoch seine Grundannahme akzeptiert, laut der Geschlecht ein kulturelles Konstrukt auf der Basis von Gender ist und nicht umgekehrt,9 gibt es keinen Grund zu der Folgerung, dass die Antike eine Welt war, in der „there existed many genders, but only one adaptable sex“.10 Es gab immer zwei Gender mit zwei ‚Erscheinungsformen‘, wenn auch nicht immer in der Physiognomie, so doch in den Verhaltensweisen und sozialen Erwartungen.11 In einer neueren Studie hat Andrew Corbeill dies mit Bezug auf die römische Antike nochmals bestätigt. Durch eine Analyse der Geschlechter in der lateinischen Grammatik und ihrer kultureller Bedeutung konnte er zeigen, dass die Grammatik (trotz der Existenz des Neutrums) eine klare Trennung der Welt in zwei (männliche und weibliche) Felder widerspiegelte.12 Die Römer sahen die zwei Geschlechter somit als eindeutig getrennt. Die Stärke und Klarheit der Geschlechtergrenzen bei den Römern wird, wie ich zeigen werde, durch die Verwendung von „transgender“ Redewendungen, häufig mit beleidigender Absicht, bestätigt. Auf dieser Grundlage aufbauend werden im zweiten Teil dieses Beitrags Beispiele von Crossdressing aus der römischen Kaiserzeit vorgestellt und interpretiert.

7

Vgl. KING, 2013, insbesondere S. 31-48.

8

LAQUEUR, 1990, S. 61f.: „the paradox of the one-sex model is that pairs of ordered contrarities played off a single flesh in which they did not themselves inhere.“

9

EBD., S. 8.

10 EBD., S. 35. 11 Zusätzlich muss man betonen, dass Laqueur die Möglichkeit einer diachronen Entwicklung nicht betrachtet, die jedoch von anderen Wissenschaftlern herausgearbeitet worden ist: SKINNER, 2005, S. 151-154 etwa stimmt Laqueur zu, aber erst für die Zeit ab dem 4. Jahrhundert v.Chr. und nicht für die archaische und klassische Zeit. FABRICIUS,

2001, S. 58-63 und DERS., 2007, S. 67-72 hat darüber hinaus hervorgehoben,

dass, selbst wenn die Antike eine andere Vorstellung von Geschlechtern hatte, die weniger von ‚natürlichen Merkmalen‘ geprägt war, dennoch ein klarer Dimorphismus vorhanden war, auch in der Skulptur. Eine progressive Annährung der Darstellungen von Männern und Frauen in der Bildhauerei, die für die hellenistische Zeit vermutet wurde, existiert jedoch nicht und muss nur als stilistische Änderung verstanden werden; vgl. DERS., 2001, S. 43-46. 12 CORBEILL, 2015, insbesondere S. 2-8.

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2. G ESCHLECHTERGRENZEN

IN DER RÖMISCHEN

A NTIKE

Wie bereits Foucault gezeigt hat und wie heute allgemein bekannt, ist der Begriff des Homosexuellen ca. 150 Jahre alt. Davor wurden homosexuelle Akte nicht als Handlungen wahrgenommen, die die gesamte Person definieren konnten. Falls solche Handlungen in einer als übertrieben wahrgenommenen oder exklusiven Art und Weise praktiziert wurden, d.h. in Situationen, in denen aus der Perspektive der Zeitgenossen Geschlecht und sexuelle Orientierung nicht übereinstimmten, so fehlte eine zusätzliche Kategorisierung. Homosexuelle Männer wurden deshalb etwa als Produkt einer „weiblichen Psyche“ erklärt und ihre Beschreibung wurde generell ins Feld des Weiblichen geschoben.13 Sexuelle Handlungen helfen uns auch, die Geschlechterfelder der römischen Kultur zu definieren. Nicht jede Form des homosexuellen Geschlechtverkehrs wurde in Rom als mit der männlichen Natur nicht übereinstimmend angesehen. Denn die Devianz besteht wie immer nicht in der Handlung selbst, sondern in deren sozialer Zensur.14 Daher gilt es zu erkunden, welche Normen die römische Gesellschaft einer ‚normalen‘ Sexualität zuschrieb. Wie bereits erwähnt führte die Kritik ‚abweichender‘ Handlungen keinesfalls zum Entstehen einer neuen Kategorie,15 sondern zu einer Verschiebung vom einen zum anderen Geschlecht. Der deviante Mann wurde als Frau definiert, die deviante Frau als Mann, selbst wenn weder Transvestimus noch konkrete Handlungen oder Formen der Selbstdarstellung involviert waren.16 Ein Mann konnte etwa als weiblich gelten, wenn er zu emotional aussah, zu verliebt war (auch in eine Frau), wenn er sich zu sehr pflegte oder zu weiche und luxuriöse Kleidung trug.17 So schreibt Athenaeus, dass Luxus zu einem „weibli-

13 FOUCAULT, 1984, S. 27-29; HALPERIN, 1990, S. 8f. (Halperin sieht aber eine erste Verschiebung in diesem Sinne in der Spätantike und im Frühmittelalter); VALENTINE, 2007, S. 236. 14 HALPERIN, 1990, S. 23f. 15 Handlungen, die als abweichend empfunden wurden, wurden zwar angegriffen und kritisiert, aber in der Regel und anders als im spätantiken Reich und im Mittelalter nicht juristisch bestraft; vgl. VEYNE, 1978, S. 38f. 16 So kann eine Entwicklung im Diskurs selbstverständlich auch rückwirkende Konsequenzen haben. Die Verweiblichung im Diskurs des homosexuellen Mannes kann z.B. zu einer situationalen ‚Verweiblichung‘ (etwa bei der Verwendung weiblicher Adjektiven zur Selbstbeschreibung) von Männern führen, die homosexuelle Handlungen praktizieren; vgl. VALENTINE, 2007, S. 51. 17 WILLIAMS, 2010, S. 137-176.

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chen Leben“ führt.18 Es handelt sich hier somit nur um Redewendungen, die jedoch bereits durch ihre Existenz demonstrieren, wie stark die Geschlechtergrenze war. Die zentrale Norm, die Sexualität unter römischen Männern definierte, war die Hierarchisierung nach sozialem Status und Rang. Ein ‚vollständiger‘ Mann, d.h. ein erwachsener, freier, römischer Vollbürger, durfte mit anderen Männern Geschlechtsverkehr haben. Jedoch wurde von ihm erwartet, dass er beim Verkehr die aktive Rolle spielt, während sexuelle Passivität sozial niedrigeren Menschen – etwa Sklaven, Freigelassenen oder Fremden – zugeschrieben wurde.19 Durch die verstärkte Hellenisierung der Sitten konnte ab dem späten 1. Jahrhundert v.Chr. auch das Alter (das in Griechenland in diesem Kontext maßgeblich war) als relevantes Element gelten, wie es die Dichtung im Zeitalter Cäsars und Augustus’ demonstriert.20 Von der Norm abweichende Handlungen konnten nach dem Edikt des Prätors zur Unfähigkeit führen, einen Prozess zu initiieren.21 Offenbar war eine passive sexuelle Rolle für einen freien erwachsenen Mann nach der lex Scatinia sogar strafbar. Dieses Gesetz wurde aber wohl kaum oder nie angewandt und war zudem nicht ausschließlich gegen homosexuelle Handlungen gerichtet, sondern gegen alle Formen von stuprum (deviantem sexuellen Verhalten).22 Solche Handlungen führten jedoch nicht zur Ausbildung einer besonderen Identität. Die mentale Zuschreibung der Römer entschied schlicht nach der sehr einfachen (und noch heute teilweise weit verbreiteten) Gleichung, derzufolge das, was der normativen Männlichkeit nicht entspricht, notwendigerweise weiblich sein müsse. Diese Schiebung fand aber nur im Diskurs statt und entspricht keinesfalls Praktiken z.B. des Transvestismus.23 Die passive Rolle beim Geschlechtsverkehr wird so in der lateinischen Literatur mehrfach mit dem Ausdruck muliebria pati („weibliches Erleiden“) beschrieben.24 Eines der Gedichte

18 SEN., Ben. 7.9; ATHEN. 12.515f. Noch in der Renaissance wurde in England Männern, die ihr Aussehen ekzessiv pflegten, Effeminiertheit vorgeworfen; vgl. GARBER, 1992, S. 27f. 19 WALTERS, 1997, S. 30; SKINNER, 2005, S. 195-197. 20 VEYNE, 1978, S. 50f.; WILLIAMS, 2010, S. 69. 21 D 3.1.1.6. Vgl. DALLA, 1987, S. 53f.; ausgenommen sind Männer, die von Feinden oder Räubern vergewaltigt wurden. 22 DALLA, 1987, S. 71-99; CANTARELLA, 2007, S. 141-152; WILLIAMS, 2010, S. 130136. 23 WALTERS, 1997, S. 33. 24 Z.B. SALL., CAT. 13.3; TAC., Ann. 11.36. Vgl. WALTERS, 1997, S. 30f.

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Martials etwa ist einem Mann gewidmet, dessen männliches Aussehen und männliches politisches Engagement der Meinung des Dichters (und der vieler Römer) zufolge seinen sexuellen Praktiken widersprächen – sie werden daher mit dem Verb nupsit umschrieben („heiraten“, aber nur für Frauen).25 Es überrascht somit nicht, dass eine ‚diskursive Verweiblichung‘ im Zusammenhang mit realen oder imaginierten abweichenden sexuellen Praktiken auch Teil der politischen Invektive ist – z.B. bei Cicero, der seinen Lesern Catilina, Antonius und deren Freunde und Angehörige häufig auf diese Weise vorstellt.26 Dasselbe gilt für die ‚männlichen Frauen‘, die häufig als Produkt verdorbener Sitten – und als Mittel zur Verschmähung ihrer verweiblichten Männer – gelten. Laut Seneca dem Jüngeren etwa haben die Frauen seiner Zeit (üble) männliche Sitten übernommen: Sie saufen, feiern und übergeben sich. Letztendlich übernehmen sie auch männliche Luststrukturen und selbst körperliche Eigenschaften wie etwa den Haarverlust.27 Schon dieses letzte Beispiel zeigt eindeutig, dass die Schiebung in das Feld des anderen Geschlechts keinesfalls nur als Konsequenz sexueller Handlungen zu verstehen ist. Die Verweiblichung der Männer ist eine diskursive Strategie zur Bezeichnung der Verdorbenheit der ‚heutigen Zeiten‘ im Vergleich zur tugendhaften Vergangenheit.28 Daher werden z.B. auch solche Männer als weiblich und effeminiert dargestellt, die sich in der Öffentlichkeit abergläubisch zeigen oder in einer als exzessiv empfundenen Form selbst demütigen, etwa gegenüber einer politischen Autorität.29 Pompeius wurde sogar als verweiblicht dargestellt, weil er zu verliebt in seine junge Frau war.30 Irrationale sowie zu große Lust und Liebe gehörten in der römischen Kultur immer zur weiblichen Sphäre.31 Diese Schiebungen dürfen somit keinesfalls als Zeichen einer größeren Flexibilität der Geschlechtergrenzen in der römischen Welt empfunden werden. Sie zeigen gerade das Gegenteil, indem sie eine Opposition zwischen zwei Feldern konstruieren, die klar zu unterscheiden sind und zu denen es keinerlei Alternati-

25 MART. 1.24. 26 Z.B. CIC., CAT. 2.10.22-23; Phil 2.44-45. Vgl. DALLA, 1987, S. 28f.; EDWARDS, 1993, S. 64f. 27 SEN., Ep. Luc. 95.20-21. 28 Z.B. SEN., Contr. 1.pr.8-9; GELL. 1.5.2-3. Vgl. EDWARDS, 1993, S. 77. 29 Vgl. POLYB. 30.18.5; 32.15.7-9 über Prusias, König Bithyniens, der sich vor dem römischen Senat und den Göttern exzessiv demütigte, „wie eine Frau“. 30 PLUT., Pomp. 48.5-7. Vgl. EDWARDS, 1993, S. 85. 31 KEULS, 1985, S. 82-86.

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ven gibt.32 Der Ursprung jeder Form von Alterität wird so von Phaedrus durch einen Fehler des Prometheus erklärt, der bestimmte Glieder falsch verteilt habe.33 Zwar galt laut Polemon „in masculino femininum et in feminino masculinum est“,34 doch ist dies Teil einer anatomischen Beschreibung und bezieht sich dazu auf Tiere. Polemon sagt nur, dass es gemeinsame Elemente gebe, die sich bei Männern und Frauen unterschiedlich entwickelten. Die diskursive Vereinfachung, die alles auf diese Polarität zurückführt, ist eine Form der Naturalisierung und Objektivierung von Machtdynamiken, denn „cultural conceptions of the sexes are intimately and systematically linked to the organization of social inequality“.35 Die antike Vorstellung ähnelt damit modernen Theorien von „sex-roles“, die durch einen diskursiven Verweis auf die biologischen Charaktere letztlich die biologische Kategorie des Geschlechts erfinden, um die unzureichende Betrachtung der Struktur zu verschleiern.36

3. T RANSVESTISMUS

UND

G ESCHLECHTERGRENZEN

Die oben beschriebene diskursive Schiebung konnte sich auch in Formen der Bestrafung äußern, die das Opfer zu ‚Crossdressing‘ zwangen. Ziel dieses ‚erzwungenen Transvestismus‘ war keine Geschlechtsumwandlung, sondern vielmehr die öffentliche Zurschaustellung des ‚Verrats‘ am (in der Regel männlichen) Geschlecht: Die Perser von Surena hatten Carrhae zufolge etwa einen Doppelgänger von Crassus in Frauenkleidern gezeigt.37 Die so bestraften Männer wurden materiell und performativ aus dem männlichen Feld geschoben. Es handelt sich dabei um ein öffentliches Entsagen der eigenen Männlichkeit, die in diesem polaren Konstrukt automatisch die Annahme von Weiblichkeit bedeutet. Ähnlich konnten Ehebrecher, die in Rom in flagranti erwischt wurden, dazu gezwungen werden, in der Öffentlichkeit eine aktive Rolle beim Oralverkehr oder eine passive beim Analverkehr mit ‚legitimen‘ Männern zu übernehmen.38 Nach demselben Prinzip (Weiblichkeit als deviante oder nicht-Männlichkeit) wurde ‚Crossdressing‘ auch barbarischen Kulturen zugeschrieben, die nicht in

32 EDWARDS, 1993, S. 78. 33 PHAEDR. 4.16. Vgl. KUNST, 2007, S. 255. 34 POLEM., De Physiogn. (arab. vers.), 1.192 Foerster. 35 COLLIER/ROSALDO, 1981, S. 275. 36 CONNELL, 1987, S. 47-54. 37 PLUT., Crass. 32.2. 38 Val. MAX. 6.1.13; HOR., Sat. 1.2.44-46; MART. 2.60.2. Vgl. WALTERS, 1997, S. 39.

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der Lage seien, zwischen Mann und Frau zu unterscheiden. Dies findet sich in verbreiteten ethnischen Stereotypen. Die Römer schrieben dies u.a. etwa den Etruskern, den Griechen und den kleinasiatischen Völkern zu.39 Gerade in Verbindung mit den ‚orientalischen‘ Völkern war mit Transvestimus weniger der Vorwurf entsprechender sexueller Handlungen als der eines dekadenten und unsittlichen Lebensstils gemeint. Wie bereits gezeigt ist es ein als zu luxuriös und zu ‚gepflegt‘ empfundener Geschmack, der als ‚unmännlich‘ definiert wird. Eine entsprechende Art sich zu kleiden wird so als ‚Crossdressing‘ bezeichnet. In den Quellen gibt es in der Tat mehrere Verweise auf Praktiken des Transvestismus, die wahrscheinlich nichts mit einer Überschreitung von Geschlechtergrenzen zu tun haben und nur auf ästhetische Vorlieben hinweisen. Seidenkleider wurden z.B. im alten Rom für Männer verboten, weil sie als ungeeignet empfunden wurden. Unabhängig vom Schnitt des Kleidungsstücks wäre ein Mann im Seidenkleid automatisch als ‚Crossdresser‘ identifiziert worden.40 Seneca der Ältere schreibt, dass man problemlos Frauen- und Sklaventracht tragen könne; der Prätor, der vor Gericht erscheinen muss, dürfe dies jedoch nicht tun, da er ansonsten Majestätsbeleidigung begehe.41 Ulpian unterscheidet weiter in der Rechtssprechung zwischen Kleidern für Männer, Kinder, Frauen und Sklaven.42 Zuvor hatte aber bereits Pomponius einen juristischen Fall behandelt, in dem ein Senator zum Mittagessen Frauenkleider trug. Als er jedoch in seinem Testament Frauenkleider vererben wollte, stellte sich die Frage, ob dies auch diejenigen betraf, die er getragen hatte, als ob sie Männerkleider gewesen wären.43 Pompeius nimmt kein Werturteil vor, stattdessen scheint das Problem darin zu bestehen, dass die Geschlechterzuschreibung der Kleider eher subjektiv war. Jedenfalls deutet nichts auf die sexuellen Vorlieben des Senators hin.44 So ist auch Senecas Aussage zu verstehen, laut der Transvestismus „wider die Natur“ sei.45 Seneca meint damit nicht, dass homosexuelle Handlungen „na-

39 U.a. ATH. 12.528f-529a und generell das zwölfte Buch der Deipnosophistai des Athenaeus. 40 TAC., Ann. 2.33.1; die Verwendung von Seidenkleidern wird so Caligula vorgeworfen: SUET., Calig. 52. 41 SEN., Contr. 9.2.17. 42 D 34.2.23.2. 43 D 34.2.33. 44 DALLA, 1987, S. 20-23. 45 SEN., Ep. 122.7: „non videtur tibi contra naturam vivere qui commutant cum feminis vestem? Non vivunt contra naturam qui spectant, ut pueritia spendeat tempore alieno?“

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turwidrig“ seien – eine solche Argumentation war der antiken Welt komplett fremd. „Natur“ (eine kulturelle Kategorie) ist für den (stoischen) Philosophen Seneca eher ein Topos, dessen er sich zur moralistischen Verurteilung bestimmter Handlungen bedient. Diese Handlungen würden zeigen, dass die Menschen die ‚Einfachheit‘ des natürlichen Lebens verloren haben. Und so konzentriert sich der Text auf Feste und das Nachtleben, ebenfalls eine Form der ‚Inversion‘ der Natur. Der erwähnte Transvestismus hat keinerlei sexuelle Bedeutung und nichts mit der Passivität beim Geschlechtsverkehr zu tun.46 Auch die anderen Beispiele, die erwähnt werden, haben keinerlei sexuellen Bezug; hier geht es etwa um Rosen im Winter oder Bäume auf einem Dach. An anderer Stelle berichtet Seneca von einem Sklaven, der rasiert und als Frau verkleidet wird, der stetig gegen das Altern kämpft und wie ein puer aussehen soll – aufgrund der geschilderten Nähe zwischen jungen Männern und Frauen. Und dennoch ist er im Schlafzimmer der vir seines Herrn.47 Nochmals kritisiert Seneca die ‚Unnatürlichkeit‘ dieses Lebensstils, die hier aber im Kampf gegen die Zeit verortet wird und nicht in einem eventuell transgender Lebensstil, welcher nicht existiert. Es ist der Herr, der für sein sexuelles Verhalten kritisiert wird und in das Feld des Weiblichen rutscht, obgleich dieser gar kein Crossdressing praktiziert. In diesem Sinne ist auch eine andere Stelle bei Seneca dem Älteren zu lesen: Ein Junge, der sich als Frau verkleidete, wird von zehn anderen Jungen vergewaltigt und sie werden alle verurteilt. Interessant ist, dass Seneca den Fall moralistisch betrachtet, um die ‚Verwirrung‘ der Geschlechtergrenzen zu kritisieren, ohne es jedoch juristisch in Frage zu stellen, dass es sich bei allen Akteuren um Männer handelt.48 Eine Handlung ‚in Drag‘ ist somit nicht automatisch mit dem Entsagen der eigenen Männlichkeit und der Überschreitung der Geschlechtergrenze gleichzusetzen. Diese Stellen zeigen nicht, dass ein Transgender-Leben in der römischen Antike verbreitet war, sondern vielmehr, dass das Gender-Feld durch eine bipolare Opposition gekennzeichnet war und dass viele Römer, wie etwa Seneca der Ältere und der Jüngere, ein essentialistisches Verständnis von Geschlechtern hatten. Die Geschlechtergrenzen bleiben selbstverständlich auch bei funktionalistischem Transvestismus bestehen, d.h. in solchen Fällen, wo Crossdressing dazu benutzt wurde, um bestimmte Verbote und Sitten zu umgehen und bestimmte

46 So fälschlicherweise WINKLER, 1990, S. 175. 47 SEN., Ep. 47.7. Vgl. WILLIAMS, 2010, S. 183. 48 SEN., Contr. 5.6. Vgl. DALLA, 1987, S. 55 für eine ausführliche Analyse der juristischen Aspekte.

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Ziele zu erreichen. So verkleidete sich Clodius als Frau, um zum Fest der Bona Dea, an dem nur Frauen teilnehmen durften, zu gehen und dort Cäsars Frau treffen zu können.49 Ähnlich einzuordnen sind militärische Stratagemata, in denen sich Soldaten als Frauen verkleideten.50 Unter die Kategorie des funktionalistischen Transvestismus fällt auch das, was Marjorie Garber „progress narrative“ nennt, d.h. eine Verkleidung (normalerweise Frauen, die sich als Männer verkleiden), die es erlaubt, Möglichkeiten und Ressourcen zu nutzen, die ansonsten unerreichbar wären.51 Einem symbolischen und funktionalen Transvestismus entspricht schließlich auch eine weitere römische Sitte: Prostituierte mussten die Toga (eigentlich ein männliches Kleid) tragen. Ähnliche Beispiele sind auch aus anderen Epochen bekannt, z.B. aus dem Venedig der frühen Neuzeit. Prostituierte brechen mit der normativen Rolle der Frau in der Gesellschaft und müssen dies symbolisch signalisieren, indem sie durch das Tragen von Männerkleidern in das Feld des anderen Geschlechts rutschen.52 Auch diese Sitte bestätigt und verstärkt deshalb die Geschlechtergrenze. Letztlich sind somit alle angesprochenen Beispiele Fälle von Transvestismus, die das ‚echte‘ Geschlecht der Akteure zu keinem Zeitpunkt in Frage stellen. Auch der Mythos von Hercules und Omphale, der Königin Lydiens, mit der Hercules die Kleider tauschte, ist zumindest in den Versionen Ovids so zu interpretieren.53 Ovid schreibt in den Fasti, dass „der Grund derjenige war, dass sie dem Finder der Weinrebe eine heilige Handlung vorbereiteten, die sie am nächsten Morgen rein begehen wollten“.54 Die Geschichte taucht in den Heroides wieder auf, hier in Form eines Briefs von Hercules’ Frau Deianeira an den Held. Sie ist nicht besonders angetan und wirft ihrem Mann vor, dass er von einer Frau unterworfen wurde. Deianeira behauptet aber nie, dass es zu einer Geschlechtsumwandlung gekommen oder dass Herakles im sexuellen Verhältnis mit Omphale nicht männlich gewesen sei.55 Nicole Loraux schreibt folgerichtig, dass „Herakles loses nothing of his masculinity when wearing a peplos“ (mit Omphale zeugt

49 IUV., Sat. 6.314-341. 50 Vgl. z.B. POLYAIN. 5.1.4. 51 GARBER, 1992, S. 67-71. 52 EBD., S. 141. Dies steht nicht im Widerspruch zu der Interpretation von Anne Duncan, derzufolge männliche Kleidung die Prostituierten als Schauspielerinnen identifizieren würde; vgl. DUNCAN, 2006, S. 157-159. 53 Zum Mythos, seiner Geschichte und früheren Erscheinungen vgl. CYRINO, 1998, S. 215-226. 54 OV., Fast. 2.317-330. 55 OV., Her. 9.53-110. Vgl. auch PROP. 4.9.50.

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er sogar ein Kind).56 Wie Monica Cyrino gezeigt hat, „certain super-virile figures are capable of performing, or absorbing, femininity without the risk of becoming feminized. In fact [...], the female costume can serve to camouflage, cover, protect, and thereby ultimately reinforce the power of the male hero“,57 wenn „the secure reality of maleness must re-emerge as an expected product of the transvestitism for the episode of drag to be considered a success“.58 Wiederum eine Episode, die die Geschlechtergrenzen letztlich nicht gefährdet, sondern bestätigt. Die Erwähnung von „Riten“ in den Fasti Ovids ist jedoch kein Zufall. Um eine so feste Grenze zu überschreiten wie diejenige zwischen den Geschlechtern in der römischen Kultur, die den Alltag aller Menschen so stark regulierte, bedurfte es in der Tat übermenschlicher Fähigkeiten. Im folgenden Verlauf dieses Beitrags wird sich zeigen, dass es in der Tat nur übermenschliche Wesen waren, d.h. Gottheiten, die unter Umständen jene Normen und Regeln missachten konnten, die die Menschen banden. Es ist daher keine Überraschung, dass die Antike auch eine besondere Form des Transvestismus kannte, die als Überschreitung der Geschlechtergrenzen gelten kann, und dass diese besondere Form von Crossdressing unter dem Einfluss einer Gottheit stattfindet. Es handelt sich um den rituellen Transvestismus, der besonders in Griechenland verbreitet, aber auch in Rom nicht unbekannt war, und der in bestimmten Regionen des Mittelmeers bis in die Spätantike praktiziert wurde. Auf Zypern gab es etwa religiöse Feste, bei denen sich Männer als Frauen und Frauen als Männer verkleideten, und zwar bei dem Kult einer androgynen Gottheit, die später mit Aphrodite identifiziert wird. Diese ist auf Zypern gleichzeitig Gott und Göttin, wie laut Macrobius Calvus und Levius schrieben.59 Transvestismus fand sich vor allem bei ‚Übergangsriten‘ als symbolischer Übergang von einem früheren Status mit ‚unbestimmterem‘ Geschlecht (dem puer) zu einem späteren, in dem ein klarer Habitus und eine klare Rolle übernommen werden müssen.60 Der Transvestimus markiert dabei den ‚Gefahrenpunkt‘, an dem junge Menschen und insbesondere junge Männer in das falsche Geschlechterfeld rutschen können. Nicht umsonst nennt Plinius der Jüngere dieses Alter „rutschig“ (in hoc lubrico aetatis).61

56 LORAUX, 1990, S. 37-39. 57 CYRINO, 1998, S. 209. 58 EBD., S. 210. 59 MACROB., Sat. 3.8.4; SERV., Aen. 2.632. 60 CYRINO, 1998, S. 211. 61 PLIN., Ep. 3.3.4. Vgl. WILLIAMS, 2010, S. 81f.

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Etwas anders gelagert ist der Fall der Saturnalien im Dezember. Hier haben wir es mit einem Kontext ähnlich dem des Karnevals zu tun, in dem ein kontrolliertes ‚Umkippen‘ existierender, fester Strukturen und Hierarchien diese letztlich wieder bestätigt. Es handelt sich um Praktiken, die außerhalb dieser Riten gar nicht akzeptabel wären.62 Insgesamt gilt jedoch: „in Roman society, the transvestite, as the negotiator of boundaries, can be seen as an essential agent in the formation and organization of gender identity itself.“63 Eine gängige zeitgenössische Klassifizierung unterscheidet zwischen einem performativen Transvestismus (ohne Bedeutung für Sex, Identität oder Lust),64 einem erotischen (im Zusammenhang mit sexuellen Praktiken, nicht jedoch mit sexueller Identität)65 und einem Transvestismus, der Ausdruck einer transgender Identität ist.66 Noch heute bleiben die Geschlechtergrenzen durch die beiden ersten Praktiken eher unberührt und werden vielmehr weiter verstärkt. Und die dritte Form schien die Antike kaum zu kennen. Ein einziges Beispiel lässt sich anführen, aus dem fünften Dialog der Hetairen Lukians. Leaina muss ihrer Freundin Clonario erzählen, dass sie Sex mit zwei ‚männlichen‘ Frauen hatte, Demonassa und Megilla. Als alle drei im Bett waren, zog Megilla ihre Perücke aus, zeigte, dass sie kahl war wie „der männlichste der Athleten“ und erklärte der verzweifelten Leaina, dass sie kein Mann sei, weil sie keinen Penis habe. Aus demselben Grund sei sie auch kein Hermaphrodit. Aber, so fügte sie hinzu: „Nenn mich nie Frau. Mein Name ist Megillos und vor langer Zeit habe ich diese Demonassa geheiratet, und sie ist meine Frau.“67 Megillos ist auch der Name des Spartaners in den Gesetzen Platons. Handelt es sich etwa um eine Parodie? Leaina fragte, ob sie dieselbe Erfahrung wie Teiresias gemacht habe, der berühmteste Transsexuelle der antiken Mythologie,68

62 VERSNEL, 1993, S. 146-163. 63 CYRINO, 1998, S. 213. 64 VALENTINE, 2007, S. 90. Vgl. auch GARBER, 1992, S. 96f. und S. 128-131. 65 GARBER, 1992, S. 3f. 66 VALENTINE, 2007, S. 87f. und S. 94. 67 LUKIAN, Hetärengespräche 5.3. 68 Laut der berühmtesten Variante hatte Teiresias zwei Schlangen während der Paarung geschlagen und dadurch sein Geschlecht umgewandelt – die Schlangen sind als symbolische Tiere zu verstehen, die in engem Zusammenhang mit dem Göttlichen stehen und insbesondere mit den Kulten der Gea und der Themis in Griechenland. In anderen Varianten erlebte Teiresias mehrere Umwandlungen (bis zu sechs), die immer durch göttliche Interventionen eingeleitet werden (vgl. unten). Zu Teiresias vgl. auch BRIS-

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worauf Megillos antwortete: „Nein, Leaina, sondern ich wurde genauso wie ihr anderen geboren, aber mein Verstand und meine Begierde und alles Andere ist bei mir wie bei einem Mann.“69 Wir haben es also tatsächlich mit einem ‚Butch‘ zu tun, der aber nur im Privaten ein solcher ist. In der Öffentlichkeit trägt er eine Perücke und ist eine Frau. Doch selbst wenn Lukian, anders als Seneca, hier einen konstruktivistischen Ansatz vertritt (trotz seiner Ironie scheint es keineswegs so, dass Lukian Megillos kritisieren will, ganz im Gegenteil), so hat Megilla keine Umwandlung erlebt. Es ist ihr eigener Wille, der nur im Privaten geäußert wird, und nicht in der Öffentlichkeit, wo sie sich der gesellschaftlichen Zensur von weitaus weniger toleranten Menschen als Lukian aussetzen würde. Megillas ‚Geschlechtsumwandlung‘ ist in diesem Sinne kein Crossing, weil sie keinem Publikum gezeigt wird und keine Fragen nach der Legitimität einer Überschreitung sozial anerkannter Grenzen aufwirft. Insgesamt scheint es deshalb in Bezug auf die römische Antike sehr schwierig, Judith Butler zuzustimmen, wenn sie schreibt, dass Drag als Pastiche „fully subverts the distinction between inner and outer psychic space and effectively mocks both the expressive model of gender and the notion of a true gender identity“.70 Die oben beschriebenen Fälle unterlaufen weder die Geschlechtergrenzen noch die Idee einer „natürlichen Identität“ an sich. Der Transvestimus impliziert keine Überschreitung der Geschlechtergrenzen und hat häufig einen anderen Sinn und eine andere Funktion. Nur in bestimmten Fällen kann er auf einen Wunsch nach Alterität hinweisen, der jedoch nicht (in) der Öffentlichkeit gezeigt wird.71 Wenn aber der Transvestismus keine Umwandlung zeitigt, lässt sich dann in der römischen Antike überhaupt eine Geschlechtsumwandlung performativ inszenieren? Durchaus, aber unter einer klaren Bedingung: Wie bereits erwähnt bedarf es einer übermenschlichen, und zwar göttlichen Kraft, um eine Grenze zu überschreiten, die alle Menschen bindet.

SON,

1976, selbst wenn der rein strukturalistische Ansatz des Buches heute als über-

holt gilt. 69 LUKIAN, Hetärengespräche 5.3. 70 BUTLER, 1999, S. 187. 71 EBD., S. xxiii: „If one thinks that one sees a man dressed as a woman or a woman dressed as a man, then one takes the first term of each of those perceptions as the ‚reality‘ of gender: the gender that is introduced through the simile lacks ‚reality‘, and is taken to constitute an illusory appearance. In such perceptions […] we think we know what the reality is, and take the secondary appearance of gender to be mere artifice, play, falsehood, and illusion.“

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4. „Y OU A RE

A

W OMAN N OW “

Eine chirurgische Geschlechtsumwandlung war in der Antike nicht möglich; die ersten bekannten Operationen dieser Art fanden erst 1930 statt, als Rudolf („Dora R.“) und Lili Elbe behandelt wurden. Möglich war nur die Kastration. Wenige Quellen behandeln Eunuchen wie Frauen, und sie fallen alle in die Kategorie des rein beleidigenden Diskurses. Das eigentliche Ziel der Kastration war, wie Seneca schrieb, eher pueri perpetui als Frauen zu schaffen.72 Daher finden sich auch Beschreibungen von Eunuchen mit langen Haaren und selbstverständlich mit einer passiven Rolle beim Geschlechtsverkehr:73 Eunuchen waren auf ewig jung.74 Zwar gehörten laut Galen kastrierte Schweine und sterilisierte Sauen einem dritten Geschlecht an.75 Dies kann jedoch nicht einfach auf Menschen und generell auf die antike römische Mentalität übertragen werden. Weder bekommen Eunuchen ein neues Geschlecht noch wird ihre ‚ursprüngliche‘ Zugehörigkeit zum männlichen Geschlecht angezweifelt und dies unabhängig von den teilweise sehr kritischen Verweisen zu dieser Praxis als z.B. Verstümmelung.76 Viele Eunuchen waren nämlich durchaus in der Lage, beim Sex eine aktive Rolle zu übernehmen, weil sie, so Juvenal, spät kastriert wurden, was es ihnen erlaubte, eine Erektion zu bekommen. Juvenal zufolge waren sie auch besonders bei tugendlosen römischen Frauen beliebt.77 Favorinus von Arles, der als Hermaphrodit geboren wurde, danach zum Eunuchen wurde und wegen Ehebruch angezeigt wurde, ist ebenfalls mit Sicherheit nie als Frau angesehen worden.78 Die Kastration als Strafe für Ehebrecher in Rom und für Homosexuelle in der Spätantike (im 6. Jahrhundert)79 stellt ebenfalls keine Geschlechtsumwandlung dar, sondern nur eine symbolische Bestrafung des Körperteils, der das Verbrechen begangen

72 SEN., Ep. 122.7; ps.-Luc., Am. 21. 73 PETR. 119. 74 DERS. 23.3. 75 GALEN. 4.569. MONTSERRAT, 2000, S. 157f. überträgt jedoch diese Stelle auf die kastrierten Priester und auf die Vestalinnen. Beide würden einem „dritten Geschlecht“ angehören, weil sie auf jede Fortpflanzung verzichtet haben. Dies scheint jedoch wenig überzeugend: Die Vestalinnen bleiben eindeutig Frauen; zu den Priestern vgl. unten. Zum „dritten Geschlecht“, das gar kein „drittes“ ist, sondern die Überwindung einer dichotomischen Struktur darstellt; vgl. GARBER, 1992, S. 11-13. 76 Z.B. QUINTIL., Inst. Or. 5.12.19. 77 IUV., Sat. 6.366-378. 78 PHILOSTR., V. Soph. 489. 79 CANTARELLA, 2007, S. 234-236.

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hat. Die Verbrecher werden wie auch bei den anderen oben genannten Formen der Bestrafung symbolisch ‚entmännlicht‘. Hinweise auf Geschlechtsumwandlungen von Menschen, die sich mitunter als ‚Post OP‘-Transsexuelle einordnen lassen, finden sich jedoch in der antiken Literatur, etwa in den Metamorphosen des Apuleius. Selbstverständlich handelt es sich bei diesem Roman lediglich um ein Produkt der Phantasie. Dennoch spiegelt er die damalige Mentalität wider und kann deshalb aus einer kulturhistorischen Perspektive genutzt werden. Im Roman wird Lucius, der ein Esel geworden ist, an eine Gruppe von kastrierten Priestern der syrischen Göttin verkauft, die sogenannten Galli. Der Autor definiert sie abwertend als cinaedi, deviante Männer.80 Diese sind aber in ihrer Performanz sowie in ihrer Selbstdarstellung echte Frauen: Wenn sie von sich selbst reden, benutzen sie ausschließlich weibliche Adjektive.81 Wenn dagegen Apuleius über sie redet, sind die Adjektive männlich. Dies ist der Schlüssel zum Verständnis der ganzen Episode: In ihrer Wahrnehmung sind die Priester Frauen geworden, und sie sind Frauen geworden, weil die Göttin diese Umwandlung erlaubt hat. Hier liegt der zentrale Unterschied zwischen dem „generischen Eunuchen“ und dem „Eunuchen-Priester“, wie Lynn Roller ihn definiert hat.82 Auch eine Inschrift aus Kyzikos aus dem Jahr 46 v.Chr. zeugt von einem Gallus, der die Magna Mater in Frauenkleidern verehrt und sich selbst als Frau darstellt.83 Eine solche Umwandlung ist jedoch nur dann relevant, wenn das Publikum sie erkennt. Sie ist das Produkt einer sozialen Aushandlung, in der ein Individuum oder eine Gruppe die Legimität beansprucht, normative Grenzen überschreiten zu können, in diesem Fall durch den Verweis auf einen göttlichen Willen. Die Transgender-Performanz ist Ausdruck einer Subjektivität, die mit den Worten von Rosi Braidotti als „a process of auto-poiesis or self-styling“ beschrieben werden kann, ein Prozess „which involves complex and continuous negotiations with dominant norms and values and hence also multiple forms of accountability“.84 Apuleius dagegen, der die religiösen Riten und den Glauben der ernannten Priester als „orientalisch“ kritisiert und die Macht ihrer Göttin nicht anerkennt,

80 WILLIAMS, 2010, S. 193-214. 81 APUL., Met. 8.24-30. 82 ROLLER, 1998, S. 118. Mit Sicherheit waren daher solche Priester nicht „androgyn“ (so DELCOURT, 1961, S. 31f.). 83 ROLLER, 1998, S. 120. 84 BRAIDOTTI, 2013, S. 35.

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kann die Umwandlung nicht sehen.85 Daher sind die Galli für den Erzähler weiterhin Männer, und zwar perverse. Zwischen Performanz und Rezeption entsteht eine enorme Kluft. Ähnliche Beschreibungen der Priester der Kybele gibt es zuhauf – als Männer wie als Frauen, je nachdem ob ihre religiöse Einstellung akzeptiert und die Macht der Göttin anerkannt wird oder nicht. In der Anthologia Palatina finden wir sowohl solche Epigramme, die den Priester als verkleideten männlichen Eunuchen darstellen (und dies bereits im 2. Jahrhundert v.Chr.),86 als auch solche, die sie als Priesterinnen bezeichnen.87 Laut Valerius Maximus durfte ein Priester der Kybele, Genucius, im Jahr 77 v.Chr. eine Hinterlassenschaft nicht erhalten, weil er rechtlich weder Mann noch Frau war – wiederum fehlte die soziale Anerkennung der von ihm performierten Geschlechtsumwandlung.88 Das Göttliche als Autor der Grenzenüberschreitung bedarf der Akzeptanz des ‚Publikums‘, der Gesellschaft. Wenn sich das Publikum oder ein Teil davon weigert, diese Intervention zu erkennen, hat die Umwandlung gar nicht stattgefunden – und man fällt wieder in soziale Zensur und einen beleidigenden Diskurs. Aus dieser Perspektive lässt sich auch Catullus Carmen 63 neu interpretieren. Attis kastriert sich selbst und viele Kommentatoren meinen, dass er dies „aus Hass gegenüber der Venus“ getan habe, um puer zu bleiben und auf die volle Männlichkeit zu verzichten.89 Vielmehr scheint die Episode Apuleius’ Priestern näher zu stehen. Die Gallae (sic) werden im Carmen von Attis mit weiblicher Adjektivierung angesprochen.90 Attis selbst ist notha mulier und nach der Kastrierung werden auch für ihn weibliche Adjektive verwendet. Attis jedoch will sich nicht akzeptieren – die Kluft zwischen Performanz und Rezeption findet hier innerhalb ein- und derselben Person statt. Wenn er mit sich selbst redet, bestätigt er sowohl seine Tat als auch seine Verzweiflung und schwankt dabei kontinuierlich zwischen den Geschlechtern:

85 Dieser Mangel an Akzeptanz überrascht nicht: Nicht nur wurden diese Kulte immer als ‚orientalisch‘ empfunden, die Galli waren auch immer eine „ideological scarefigure“ für die Ideale der römischen Männlicheit (vgl. WILLIAMS, 2010, S. 195f.). 86 Anth. Pal. 6.217-220; 234; 237. Vgl. ROLLER, 1998, S. 123f. 87 Anth. Pal. 6.222; 233. 88 Val. MAX. 7.7.6. S. Vgl. DALLA, 1978, S. 204-207; GARDNER, 1998, S. 145f.; ROLLER,

1998, S. 125.

89 SKINNER, 1997, S. 136f. 90 CAT. 63. Vgl. auch IUV., Sat. 6.511-541; Juvenal verwendet eine männliche Adjektivierung, denn er will weder den Kult noch den Geschlechterwandel anerkennen.

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„Welche Art von Gestalt noch gibt es, die ich noch nicht gewesen bin? Ich bin Weib – ich war früher Jüngling, war Ephebe, war kleines Kind, […] Jetzt soll ich sein Mänade, nur ein Teil meiner selbst, entmannt? […] Schon schmerzt mich, was ich machte, schon reut mich, was ich getan!“91

Nun muss Cybele selbst eingreifen, um den jungen Attis, der sich von ihr befreien will, zu verwirren. Catull scheint hier nicht nur einer postmodernen Dekonstruktion des Subjekts nahe zu kommen, sondern sich auch emphatisch mit Attis zu identifizieren, der eine von der Göttin gewollte und durchgesetzte Umwandlung erlebt hat, sie aber eher als unvermeidlich denn als erwünscht sieht. Doch selbst in dieser Verzweiflung bleibt die Adjektivierung des Attis immer weiblich.92 Die Fähigkeit, eine Geschlechtsumwandlung herbeizuführen (bei sich selbst oder bei anderen) ist etwas, was in engem Zusammenhang mit der göttlichen Sphäre steht. Die Göttin Syria kann ihre Priester – ihnen selbst zufolge – zu Frauen machen und Kybele kann Attis zu einer Frau machen. Aber der Gott kann selbstverständlich auch sich selbst transformieren: Wie Corbeill hervorgehoben hat, sind Gottheiten „androgyn“ im Sinne von „a choice of one sex or the other, and not the simultaneous possession of both“.93 Dem Gott Vertumnus schreibt Properz, auch aus etymologischen Gründen, folgende Aussage zu: „[Ich] hülle mich in Seide von Kos, und ich bin ein leichtes Mädchen; wer wollte leugnen, dass ich ein Mann bin, sobald ich die Toga anlege?“94 Selbst der Gott Priapus, der männliche Gott schlechthin, wurde seit der hellenistischen Zeit in weiblichen Formen bzw. mit weiblichen Kleidern dargestellt. Angesichts seines riesigen Phallus (das wichtigste Merkmal dieses Gottes) mag dies widersprüchlich erscheinen. Die alten Römer konnten jedoch darin keinen Widerspruch sehen. Die Verweiblichung deutet in der Tat auf der einen Seite auf den bereits erwähnten Mangel an Kontrolle innerhalb der sexuellen Sphäre hin, der typischerweise Frauen zugeschrieben wurde, andererseits auf seine (göttliche) Fähigkeit, Konventionen zu brechen und Grenzen zu überschreiten. Diese ‚Weiblichkeit‘

91 CAT. 63.62-73. 92 Dies bedeutet, dass Attis jetzt eine Frau ist und nicht, wie MILLER, 1998, S. 183 vermutete, dass der Mann „constantly threatens to become woman“. Vgl. auch ROLLER, 1998, S. 127f., die eher den symbolischen Wert des Eunuchen (und des Dichters) als isolierten und einsamen Menschen hervorhebt. 93 CORBEILL, 2015, S. 118. 94 PROPERT. 4.2.23-24.

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macht, wie Oehmke betont, Priapus nicht zu einem „halben Mann“, sondern einem „Supermann“.95 In der antiken Kultur und Mythologie folgen alle Geschlechtsumwandlungen diesem Muster. Keni, die von Poseidon vergewaltigt wurde, will zu einem Mann werden, und dies geschieht;96 Kenis Feinde finden dies lächerlich, aber nur, weil sie die Macht des Gottes nicht verstehen. Keneus (so der neue Name), der dank Poseidon nun auch unverletzlich ist, tötet sie alle und stirbt am Ende unter dem Gewicht der Bäume und Steine, mit denen er beworfen wird.97 In Ovids Geschichte der Iphi wird das Mädchen nach langen Gebeten (und einem lesbischen Abenteuer) durch eine direkte Intervention der Isis zum Mann.98 Exakt dieselbe Geschichte ist auch bei Antoninus Liberalis zu finden. Im Zentrum steht hier jedoch Leukippos, der Sohn der Galatea, und die Göttin ist Letho.99 Gerade bei Antoninus Liberalis finden sich viele ‚transexuellen Mythen‘, und alle kreisen um die Intervention einer Gottheit. Geschlechtsumwandlungen, auch unter Tieren, wurden immer als prodigia verstanden, also als Wunder bzw. Erscheinungen, die wider der Natur als Zeichen der Götter und insbesondere ihrer Wut interpretiert wurden. Sie stehen deshalb immer im Zusammenhang mit der göttlichen Sphäre, entweder als direkte göttliche Intervention, wie in den oben angeführten Beispielen, oder als Zeichen einer gestörten pax deorum. Auf diese Weise interpretierten etwa die Römer die Sibyllinischen Bücher, z.B. als im zweiten punischen Krieg ein Hahn zur Henne wurde und eine Henne zum Hahn,100 als eine Frau in Spoleto zu einem Mann wurde101 oder als in Alexandria ein Eunuch entdeckt wurde, der schwanger war.102 Bis hierhin kann festgehalten werden, dass in der römischen Welt eine sehr klar definierte Grenze zwischen Männlichem und Weiblichem verläuft. Anders als in der christlichen Welt impliziert diese Grenze kein Verbot von homosexuellen Handlungen, dafür jedoch verschiedene und klar definierte Erwartungsstrukturen an Männer und Frauen. Weder ersetzt die Opposition aktiv-passiv die Op-

95 OEHMKE, 2007, S. 266-274. 96 OV., Met. 12.190-207. 97 OV. Met. 12.459-535. Vgl. auch VERG., Aen. 6. 447-449. 98 OV., Met. 9.666-797. 99 ANT. LIB. 17. 100 LIV. 22.1.13. 101 LIV. 24.10.10. 102 Phleg. Trall. 36.26.

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position Mann-Frau103 noch war die antike Welt ‚flexiber‘ als die mittelalterliche und neuzeitliche – die Normen und Erwartungen waren schlicht anders. Die Geschlechtergrenze ist grundlegend für die Definition des Menschlichen, konzipiert als normative Konvention, die Normalität definiert, einen transzendenten Wert übernimmt und Praktiken der Diskriminierung und der Ausschließung begründet.104 Diese Grenze kann nur dann überschritten werden, wenn eine Gottheit interveniert, die die Überschreitung unterstützt und letztendlich durchführt, weil das Göttliche die Normativität des Menschlichen unterlaufen kann. Diese Mentalität, die die Überschreitung nur als übermenschliche Fähigkeit konzipiert, bestätigt letztlich die Grenze selbst und konzipiert die Legitimation zur Überschreitung als eine Frage der Macht. In diesem Kontext erscheint der Crossing-Begriff als überaus passend: Die Priester des Apuleius überschreiten die Grenze auf der Basis einer Autorität, die von der Göttin stammt. Deren Legitimität wird jedoch nicht von allen anerkannt, und insbesondere nicht von Apuleius, woraus ein Legitimitäts- und Machtkonflikt entsteht. Folgt man diesem Ansatz, lassen sich eine ganze Reihe von Episoden neu interpretieren, die bisher in ihrer Tiefe nicht verstanden worden sind: Die Rede ist von den durch die Quellen überlieferten Transgender-Performanzen römischer Kaiser. Diese Performanzen sind weder erfunden noch Zeichen von Wahnsinn oder tyrannischer Willkür, wie kritische Stimmen oft behauptet haben. Vielmehr müssen diese Episoden im Zusammenhang mit der Übernahme von Formen der hellenistischen monarchischen Selbstdarstellung gelesen werden, insbesondere mit dem Anspruch der Kaiser, als göttliche Figur oder als besondere Schützlinge bestimmter Gottheiten gesehen zu werden. Varner hat gezeigt, dass viele Porträts von römischen Kaisern sie in einer „assimilative“ Form zeigen, d.h. in einer Art und Weise, die „unequivocally asserts the transcendence of imperial authority over prescribed gender roles“ und die folglich „an identity for the emperor that is not beholden to traditional gender categories“ fördert.105 Dies bedeutet keineswegs, dass Laqueur Recht hat und dass es keinen sexuellen Dimorphismus gab, denn nur die Kaiser hatten Anspruch auf solche Porträts, um ihre Autorität und/oder religiöses Charisma dar-

103 Wie z.B. DOVER, 1978, S. 102f.; VEYNE, 1978, S. 52f.; FOUCAULT, 1984, S. 64f. und S. 115; MONTSERRAT, 1996, S. 16-20; SKINNER, 2005, S. 77 vermuteten. Vgl. DAVIDSON, 2001 für eine Rekonstruktion von Geburt und Entwicklung dieses „penetration model“. 104 BRAIDOTTI, 2013, S. 26. 105 VARNER, 2008, S. 185-189.

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zustellen.106 Die Kaiser haben nicht nur Gesichtszüge, die weder eindeutig männlich noch weiblich sind, auch Göttinnen können mit den Gesichtszügen von Kaisern versehen werden. Domitian etwa, der bekannterweise Ansprüche auf göttliche Ehre hatte und dominus et deus sein wollte, wurde in einer Skulptur als Minerva dargestellt, mit seiner eigenen Physiognomie und einer weiblichen Frisur.107 Minerva war in der Tat die besondere Schutzgöttin des Domitian, der auch die aegis (ein typisches Attribut der Athena-Minerva) in der Öffentlichkeit trug.108 In der Performanz war er deshalb die Göttin. Auf Münzen ähnelte er auch Vesta und Ceres.109 Domitian war jedoch nicht der erste Römer, der eine transgender Handlung zur Selbstdarstellung benutzte. Schon von Julius Cäsar, der Formen der hellenistischen königlichen Selbstinszenierung übernommen hatte, wissen wir, dass er häufig mit weiblichen Namen begrüßt wurde. Dies bezog sich u.a. auf sein Verhältnis mit König Nikomedes IV von Bithynien.110 Laut Curio war er „ein Mann für alle Frauen und eine Frau für alle Männer“.111 Diese Formen eines ‚transgender Diskurs‘ waren natürlich im politischen Disput als Form des Angriffs und der Beleidigung gang und gäbe.112 Ungewöhnlich ist jedoch, dass dies Cäsar anscheinend nicht störte. Als ein Senator ihn „Frau“ nannte, habe er sich selbst mit Semiramis und den Amazonen verglichen.113 Cantarellas Erklärung jedoch, derzufolge Cäsar durch seine militärischen Erfolge einen so eindeutig männlichen

106 VARNER, 2008, S. 193-196 denkt eher, dass solche Formen der Selbstdarstellung von breiteren Gruppen angenommen werden konnten. Die Beispiele, die er erwähnt, stehen aber alle, soweit sie nachvollziehbar sind und sich nicht auf Kaiser beziehen, im Zusammenhang mit Kulten und Priestern. 107 EBD., S. 187f. 108 MART. 9.20. 109 VARNER, 2008, S. 188. 110 SUET., Iul. 49. S. Vgl. EDWARDS, 1993, S. 91f. 111 SUET., Iul. 52.3. 112 Cäsar wurde in der Tat häufig von seinen Gegnern als ‚weiblich‘ dargestellt, z.B. von Sulla: SUET., Iul. 45.3. Vgl. EDWARDS, 1993, S. 91f. 113 SUET., Iul. 22.2. DIO 43.20.4 sagt, dass es die Gerüchte über sein Verhältnis mit Nikomedes waren, die Cäsar störten, nicht die Gerüchte über seine sexuellen Handlungen allgemein, wie WILLIAMS, 2010, S. 378 die Stelle versteht. Vgl. CORBEILL, 2002, S. 205-208, der vermutet, dass Cäser durch eine „verweiblichte Performanz“ das Ziel gehabt haben könnte, „to align himself with modes of behavior contrary to those of the dominant political class“. Cäsars Selbstdarstellung war jedoch noch viel radikaler und implizierte einen Anspruch auf eine göttliche Natur.

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Ruhm erworben hatte, dass ihn solche Bemerkungen nicht berührten,114 scheint unzureichend. Wahrscheinlicher ist die Annahme, nach der Cäsar hellenistische Formen der Selbstdarstellung übernahm. Cäsar könnte den transgender Diskurs als Anspruch auf seine göttliche Natur akzeptiert haben, was auch mit seinen Plänen im Einklang steht, die Natur zu ‚ändern‘ – etwa durch den gewünschten Schnitt des Isthmus von Korinth oder eine Änderung des Verlaufs des Tibers115 sowie mit seiner Abstammung, als Mitglied der gens Iulia, der Göttin Venus. Als Mitglied derselben Familie hatte auch der Kaiser Caligula eine besondere Verbindung zu Venus. Sueton berichtet, dass er sich als Frau verkleidete, womit gemeint ist, dass er sich zu luxuriös kleidete (s.o.), aber auch, dass er einen echten Transvestismus praktizierte und damit eine Form der TransgenderIdentifikation. Caligula kleidete sich nämlich als Venus und dies wird von Sueton folglich als Teil einer Inszenierung dargestellt, in der Caligula sich auch in den Kleidern anderer Gottheiten zeigte.116 Caligula stellte sich damit selbst als göttliche Figur dar, die sich nicht nur einer Gottheit (der Familiengottheit Venus) angleichen, sondern dabei sogar sein Geschlecht wechseln konnte. Genau wie im Fall von Apuleius’ Priestern wird beim Crossing eine Grenze überschritten und dadurch die eigene Legimität als göttliche Figur betont; diese Legitimität wird jedoch von Sueton und von der senatorischen Aristokratie nicht anerkannt und der Transvestismus als lächerlich beschrieben. Cassius Dio bestätigt dies, wenn er sagt, dass Caligula „tatsächlich […] vorher schon verlangt [hatte], als ein Übermensch zu gelten“ und die Götter auflistet, mit denen er sich identifizierte: Jupiter, Neptunus, Hercules, Bacchus, Apollo, aber auch Iuno, Minerva und Venus.117 In Bezug auf Kaiser Nero, dessen hellenistische (und übermenschliche) ‚Neigungen‘ in der Selbstdarstellung ebenfalls sehr bekannt sind,118 weiß man von zwei homosexuelle Ehen: zum einen mit Sporus, zum anderen mit Pythagoras.119 Da die homosexuelle Ehe im römischen Recht jedoch nicht vorgesehen war,120 musste einer der Beteiligten das Geschlecht wechseln. Im ersten Fall wird

114 CANTARELLA, 2007, S. 200-203. 115 PLUT., Caes. 58.8-10. 116 SUET., Cal. 52. 117 DIO 59.26.5-6. Vgl. ROSENBACH, 1958, S. 38-40. 118 Vgl. VAN OVERMEIRE, 2012, insbesondere S. 776f. 119 SUET., Ner. 28; 39; TAC., Ann. 15.37.4; DIO 62.28.2-3; AUR. VICT., Caes. 5.5. 120 Entgegen u.a. VEYNE, 1978, S. 40 demonstrieren dies DALLA, 1987, S. 63-69 sowie CANTARELLA, 2007, S. 225. Vgl. auch WILLIAMS, 2010, S. 279-286, laut dem eine

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Sporus, der laut den Quellen der ehemaligen Frau des Kaisers, Poppaea, sehr ähnlich war und deshalb die Liebe Neros geweckt hatte,121 zur Frau. Einer Quelle zufolge hatte der Kaiser demjenigen viel Geld versprochen, der Sporus in eine Frau umwandeln würde.122 Im zweiten Fall ist es Nero selbst, der sich zur Frau macht. Wiederum versucht Nero, seine göttliche Natur unter Beweis zu stellen, indem er einerseits zeigt, dass er selbst die Geschlechtergrenze überschreiten kann. Die Inszenierung bestand laut Sueton z.B. in einem sehr lauten ersten Geschlechtsverkehr nach der Hochzeit, bei dem Nero sich selbst als Frau addressierte. Oder er demonstriert andererseits, dass er die Fähigkeit hat, bei anderen Menschen eine Geschlechtsumwandlung zu verursachen. Wie immer beim Crossing gibt es auch hier Widerstand etwa bei Sueton oder Tacitus, der dies als Zügellosigkeit, Perversion und Korruption bezeichnet. Am Ende des 2. Jahrhunderts n.Chr. trat Commodus laut der Historia Augusta als Amazone verkleidet in der Arena auf.123 Er nahm sogar den Namen Amazonius in seine offizielle Titulatur auf und gab diesen Namen dem Monat Dezember. In anderen Kontexten praktizierte er nicht nur Crossdressing in der Öffentlichkeit,124 sondern zeigte sich auch als Hercules in weiblichen Kleidern – entsprechend seiner göttlichen Selbstdarstellung als Hercules Romanus.125 Der Kaiser Elagabal, der Priester des östlichen Gottes der Sonne war und auf dieser (den Römern fremden) religiösen Rolle seine Legitimität gründete, verkleidete sich ebenfalls häufig als Frau und wollte Bassiana genannt werden.126 Zwei Episoden scheinen jedoch besonders relevant zu sein: In der ersten lässt der Kaiser, der sich in Aurelius Zoticus verliebt hat, diesen nach Rom bringen. Er trifft Zoticus und teilt ihm mit sehr weiblichen Bewegungen mit, dass er keinesfalls dominus genannt werden will, da er „eine Dame“ sei. Es handelt sich hier nicht um Transvestismus, sondern vielmehr um eine diskursive Neukonstruktion und eine Aussage, die eine bereits durchgeführte Umwandlung ver-

solche Ehe „was inconceivable; if two males were joined together, one of them had to be ‚the woman‘“. 121 Die Frage, ob Sporus dazu „of imperial descent“ war und ob auch dies ein Grund für die Eheschließung war, die eventuell auch die Beleidigung und ‚Ausschaltung‘ des Sporus bezweckte, wie WOODS, 2009 vermutet, ist hier völlig irrelevant (vgl. die begründeten Kritiken von CHARLES, 2014). 122 DIO CHRYS., Or. 21.7. Vgl. auch SUET., Ner. 28.1. 123 Hist. Aug., Comm. 11.8-9. 124 Hist. Aug., Comm. 13.4. 125 Hist. Aug., Comm. 9.6. 126 Epit. Caes. 23.3.

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deutlicht und verwirklicht.127 Die zweite Episode ist noch interessanter: Elagabal befiehlt den Hofärzten, ihm weibliche Genitalien zu schaffen, um so die Geschlechtsumwandlung zu Ende zu bringen, und verspricht ihnen dafür viel Geld.128 Ob diese Geschichte nun wahr ist oder nicht; es handelt sich um eine wichtige Form der kaiserlichen Selbstdarstellung. Gleichzeitig wird deutlich, dass die Darstellung stets ausgehandelt werden muss und dass das Zielpublikum das Recht hat, diese nicht zu akzeptieren. Bisher wurden hier jedoch nur literarische Quellen angeführt, die die Kaiser für ihre Exzesse stark kritisieren. Es ließe sich daher einwenden, dass solche Episoden gar keine Form der kaiserlichen Performanz und Selbstdarstellung, sondern nur Beispiele für polemische Schmähliteratur darstellen. Dass dem nicht so ist, zeigt ein letztes Beispiel, das nicht durch literarische Quellen, sondern durch Münzen überliefert ist, welche wiederum Typen und Ikonographien trugen, die vom kaiserlichen Hof abgesegnet wurden und klar der ‚kaiserlichen Propaganda‘ entsprachen.129 Kaiser Gallienus wird auf Münzen mit der Legende Galliena Augusta in der Tat als Frau oder besser als Göttin dargestellt. Bart und Porträt sind klar erkennbar, aber eine Ährenkrone und die Legende zeigen eindeutig, dass der Kaiser sein Geschlecht wechseln kann. So kann er sich als übermenschlich darstellen. Die Annahme, dass diese Darstellung auf die eleusinischen Mysterien hindeute – so habe Gallienus „die Gestalt der Mysteriengottheit Demeter angenommen“ und „die Münze mit der Aufschrift GALLIENAE AUGUSTAE stelle dem Imperium die neue Reichsgottheit vor“,130 ist ebenso falsch wie jene Hypothesen, die die Legende einfach als fehlerhaft interpretieren. Auch irren jene, die darin eine Spottmünze gegen den Kaiser sehen, wogegen nämlich schon die hohe Anzahl an Typen und Prägeeisen spricht.131 De Blois schlägt eine Identifizierung mit Minerva vor, und zwar mit der Minerva, die als interpretatio der palmyreni-

127 DIO 80.16.1-6. 128 DIO 80.16.7. 129 Zur Rolle der Münzen in der kaiserlichen Propaganda vgl. insbesondere CHEUNG, 1998. 130 ALFÖLDI, 1928; ROSENBACH, 1958, S. 28-36 (Zitate auf S. 29 und S. 32). Laut Rosenbach wurde jedoch, anders als Alföldi behauptet (s.u.), die Münze Demeter mit dem neuen Beinamen Galliena, „der Gallienischen“, gewidmet: „der Kaiser nimmt die Göttin für sich in Anspruch, indem er ihr seine Züge gibt“ (ROSENBACH, 1958, S. 34). Tatsächlich jedoch handelt es sich um die exakt entgegengesetze Transformationsrichtung. 131 So KENT, 1973.

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schen Göttin Allath gilt.132 Allath ist eine Friedensgöttin, die ebenfalls Ähren als Symbol trägt und die Interpretation überzeugt auch im Zusammenhang mit Odenathus’ Siegen über die Parther.133 MacCoull bestätigt diese Identifizierung,134 doch bleibt die Frage, warum nicht einfach die Göttin dargestellt wird, sondern der Kaiser, der sich mit der Göttin identifiziert. MacCoull schreibt lediglich, dass „Gallienus was placing himself astride a shifting boundary that was seen as fluid and not necessarily determined, the better to embody his being in contact with the supernatural force that had helped bring victory and peace to the endangered East“.135 Im Zuge dieser Ungereimtheiten scheinen vielmehr die hier beschriebenen Legitimierungsdynamiken und Crossing-Formen eine zentrale Rolle zu spielen. Gallienus inszeniert eine Nähe zur göttlichen Welt und seine eigene göttliche Natur. Alföldi sah in dieser Münze eine falsche Gottheit und eine falsche Polemik gegen das Christentum, hatte aber Recht, als er betonte, dass der Kaiser sich der Göttin angleiche und sich zur Göttin mache.136

5. F AZIT Geschlechtsumwandlungen gab es in der antiken Welt, zumindest in der Sphäre der Performanz, die – wie Judith Butler gezeigt hat – letztlich Gender selbst konstruiert. Es handelt sich aber um eine Performanz, die eine direkte und enge Verbindung mit der Welt der Gottheit voraussetzt und demonstrieren will, denn nur Götter können sie durchführen, an sich selbst oder an ihren Günstlingen. Wollte man sein Geschlecht wechseln, musste man die anderen davon überzeugen, dass man göttlicher Natur sei. Ansonsten wurde man dafür verspottet und die Reaktion war wieder die beleidigende Ebene eines Diskurses, der letztlich aus Herrenwitzen bestand (vgl. Apuleius). Wie in jedem Fall von Crossing beanspruchte man eine Legitimität, die jedoch jederzeit aberkannt werden konnte. Aber wie bei jedem Crossing ist die beanspruchte Legitimität nur individuell und die Grenze, die überschritten werden soll, wird nicht gelöscht, sondern im Gegenteil hervorgehoben und verstärkt. Das Ergebnis ist eine Territorialisierung, eine stär-

132 Gallienus hatte dazu eine besondere Beziehung zu Minerva; vgl. ROSENBACH, 1958, S. 35. 133 DE BLOIS, 1976, S. 157. 134 MACCOULL, 1999, S. 235-238. 135 EBD., S. 238. 136 ALFÖLDI, 1928, S. 174f.

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kere Definition von Sphären und Grenzen.137 Transexuelle Dynamiken sind letzten Endes keine transkulturellen Dynamiken138 und anders als diese kein Zeichen einer größeren Öffnung oder einer notwendigen Mischung. Damals wie heute sind sie eine Form und eine Verschleierung eines Prozesses der Fossilisierung und der Verstärkung von (Gender-)Stereotypen. Judith Butler fragt in der Einleitung zur zweiten Auflage von Gender Trouble: „what will and will not constitute an intelligible life, and how do presumptions about normative gender and sexuality determine in advance what will qualify as the ‚human‘ and the ‚livable‘?“139 Damals wie heute, to the extent the gender norms (ideal dimorphism, heterosexual complementarity of bodies, ideals and rule of proper and improper masculinity and femininity, many of which are underwritten by racial codes of purity and taboos about miscegenation) establish what will and will not be intelligibly human, what will and will not considered to be ‚real‘, they establish the ontological field in which bodies may be given legitimate expression.140

Die normativen Genderdefinitionen und die normative Sexualität schaffen und betonen die Grenzen des Menschlichen. Über diese Grenzen hinaus öffnet sich die transgender Welt des Übermenschlichen und des Göttlichen.

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137 DE LANDA, 2006, S. 12-14. 138 ERNST/FREITAG, 2015. 139 BUTLER, 1999, S. xxiii. 140 EBD., S. xxiv-xxv.

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Crossing Genres & Cultures in der alexandrinischen Literatur Theokrits 15. Idyll als Crossing-Experiment A NNEMARIE A MBÜHL

1. E INLEITUNG Am Anfang des hier vorgestellten Experiments, das diesem Band zugrunde liegende moderne Konzept des Crossing auf einen Text der antiken Literatur anzuwenden, muss gefragt werden: Kann Ben Ramptons soziolinguistisches Instrumentarium, das zur Analyse von verbalen Interaktionen zwischen verschiedenen Gruppen innerhalb einer modernen multikulturellen Gesellschaft entwickelt und anhand von Tonaufnahmen von ethnisch geprägten verbalen Auseinandersetzungen auf englischen Schulhöfen getestet wurde, überhaupt auf eine antike Situation übertragen werden?1 Denn für diese sind uns ja keinerlei empirische Daten einer lebendigen Sprachgemeinschaft von Muttersprachlern zugänglich, sondern lediglich konservierte schriftliche Zeugnisse in Form von Inschriften, Papyri und insbesondere literarischen Texten, deren Realitätsgehalt zudem jeweils im Einzelfall einer kritischen Prüfung unterworfen werden muss. Ein Transfer von Ramptons Crossing-Modell auf einen antiken poetischen Text scheint dennoch möglich und fruchtbar, einerseits aufgrund der darin bereits angelegten Ansätze zu einer Erweiterung hin auf Sprachkunstwerke und andererseits aufgrund der spezifischen Konstellation des hellenistischen Alexandria und seiner literarischen Produktion. Bevor dies anhand eines spezifischen Textbeispiels gezeigt wird, soll daher zunächst ein kurzer Überblick zum ‚multi-

1

RAMPTON, 2005 und DERS., 2006. Zu DERS., 2009 vgl. unten.

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kulturellen‘ Charakter dieser hellenistischen Metropole folgen. Ein weiterer Anknüpfungspunkt liegt darin, dass auch in der Klassischen Philologie, insbesondere in der Diskussion der hellenistischen Literatur, der Begriff des Crossing eine wichtige Rolle spielt – wenn auch in einem ganz anderen Sinn, nämlich dem problematischen Konzept einer ‚Kreuzung der Gattungen‘ bzw. eines ‚crossing of genres‘. Nach einer Abgrenzung der dadurch evozierten Assoziationen von dem hier vorausgesetzten Crossing-Modell wird sich der Hauptteil dieses Beitrags mit Theokrits 15. Idyll (‚Die Syrakusanerinnen‘ oder ‚Die Frauen beim Adonisfest‘) einem Textbeispiel widmen, das sich gleich auf mehreren Ebenen für eine Interpretation im Zeichen des Crossing anbietet. Sowohl inhaltlich als auch bezüglich der sprachlich-mimetischen Struktur dieses in Alexandria spielenden Gedichtes lassen sich nämlich Reflexe von Crossing als „interaction ritual“ und „contest“ einerseits und als „artful performance“ andererseits erkennen.2

2. D AS PTOLEMÄISCHE A LEXANDRIA 3. J AHRHUNDERT V .C HR .

IM

Die im Jahr 331 v.Chr. von Alexander dem Großen gegründete Stadt Alexandria wurde nach der Aufteilung des eroberten Gebiets unter seinen Nachfolgern zur Hauptstadt des Reichs der Ptolemäer; der von einem der makedonischen Generäle Alexanders begründeten Dynastie, die quasi als griechische Kolonialmacht Ägypten beherrschte. Die durch die militärische Expansion implementierte griechische Kultur stand dabei in einem Spannungsverhältnis zur alten ägyptischen Kultur, für die die Griechen seit Jahrhunderten durchaus eine große Bewunderung hegten.3 In der Forschung wird denn auch sehr kontrovers diskutiert, inwieweit die Ptolemäer eine aktive Verschmelzungspolitik zwischen der griechi-

2

Vgl. RAMPTON, 2009. In seiner Einleitung grenzt Rampton das Konzept des Crossing vom verwandten Begriff der „stylization“ ab: „Stylization involves reflexive communicative action in which speakers produce specially marked and often exaggerated representations of languages, dialects, and styles that lie outside their own habitual repertoire […]. Crossing is closely related, but it involves a stronger sense of social or ethnic boundary transgression, the variants being used are more likely to be seen as anomalously ‚other‘ for the speaker, and questions of legitimacy and entitlement can arise“ (EBD., S. 149). Zu einem möglichen Beispiel aus Theokrit s.u. 4.1.

3

Zur griechischen Wahrnehmung Ägyptens und den kulturellen Interaktionen schon vor der Zeit Alexanders vgl. VASUNIA, 2001 und MOYER, 2011.

C ROSSING G ENRES & C ULTURES IN DER ALEXANDRINISCHEN L ITERATUR

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schen und der ägyptischen Kultur betrieben oder ob sie nur diejenigen Elemente der Pharaonenideologie übernahmen, die ihrer Legitimation gegenüber der einheimischen Bevölkerung dienten. Gregor Weber hat dafür plädiert, statt von einem hierarchischen Modell lieber von einer Koexistenz auszugehen und von Kulturbegegnungen zu sprechen. Doch muss auch er anerkennen, dass es sich bei den Ptolemäern letztlich um eine Fremdherrschaft mit einer griechischen ‚Leitkultur‘ handelte, was zu wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten zwischen Griechen und Ägyptern führte.4 Die Frage des Umgangs mit den verschiedenen Kulturen stellte sich dabei nicht nur für die regierende makedonische Elite und die ägyptischen Priester, sondern generell für die bunt gemischte Bevölkerung von Alexandria. In dieser antiken Metropole lebten Immigranten aus allen Teilen der griechischen Welt, einheimische Ägypter und eine große jüdische Gemeinschaft, die sich aber nicht durchgängig und strikt entlang ethnischer Trennlinien definierten, sondern je nach Kontext ihre ursprüngliche oder ihre hellenisierte Identität betonten. Auch wenn es in der frühen hellenistischen Zeit, um die es hier geht, anders als später unter der römischen Herrschaft und vor allem im zunehmend christlich dominierten, spätantiken Alexandria noch nicht zu offenen gewaltsamen Zusammenstößen zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen gekommen zu sein scheint, waren sozial oder auch ethnisch motivierte Spannungen vermutlich latent bereits vorhanden.5 Insofern bietet gerade das ptolemäische Alexandria ein ideales Modell, um mögliche Crossing-Phänomene in einem antiken multikulturellen Umfeld aufzuspüren. Beispiele wären etwa die Verwendung ägyptischer Monatsnamen in griechischsprachigen Urkunden oder die ägyptisierenden bildlichen Darstellungen des ptolemäischen Herrscherpaars als Pharaonen.6 In diesem

4

Vgl. WEBER, 2010, darin insbesondere DERS., 2010a und DERS., 2010b. Zu Alexandria in soziologischer und kulturhistorischer Perspektive vgl. auch die Beiträge in HAMMA, 1996 und in HARRIS/RUFFINI, 2004, insbesondere die demographischen Schätzungen von SCHEIDEL, 2004 (bis zu 300.000 Einwohner in ptolemäischer Zeit), sowie in GEORGES/ALBRECHT/FELDMEIER, 2013, insbesondere ZANGENBERG, 2013. Zur Kulturgeschichte des ptolemäischen Alexandria siehe auch die monumentale Synopse von FRASER, 1972. Zu Ägypten insgesamt unter der persischen, ptolemäischen und römischen Fremdherrschaft vgl. PFEIFFER, 2007; BAGNALL, 1997 evaluiert die Anwendbarkeit des Kolonialismus-Paradigmas auf das ptolemäische Ägypten kritisch.

5

FISCHER-BOVET, 2015 argumentiert, offene ethnische Konflikte seien durch eine erfolgreiche Integrationspolitik im Ptolemäer- und Seleukidenreich verhindert worden.

6

Zur Umsetzung ptolemäischer Repräsentationsformeln in ägyptische Ausdrucksformen vgl. z.B. MÜLLER, 2009, S. 300-335.

42 | A MBÜHL

Beitrag wird nun ein Fallbeispiel aus der alexandrinischen Literatur analysiert, bei dem das Phänomen des Crossing auf den ersten Blick weniger offensichtlich zutage tritt, bei näherer Betrachtung aber durchaus facettenreiche Beobachtungen zulässt.

3. D IE

L ITERATUR UND DIE ‚K REUZUNG DER G ATTUNGEN ‘

ALEXANDRINISCHE

SOGENANNTE

Die Produktions- und Rezeptionsbedingungen der alexandrinischen Literatur waren ähnlich komplex wie die Gesellschaftsstruktur Alexandrias überhaupt: Die erste Generation der alexandrinischen Dichter bestand ja meist aus Immigranten, die ihre eigenen Traditionen mitbrachten. Zwar spielten der ptolemäische Königshof und das von ihm gesponserte Museion eine zentrale Rolle für die dort tätigen Dichter, die die gesamte bekannte Literatur sammelten, wissenschaftlich aufbereiteten und in ihrer eigenen Produktion kreativ umsetzten. Jedoch beschränkt sich die alexandrinische Literatur keineswegs auf reine Hofdichtung.7 Vielmehr erstreckte sich die Spannbreite der Rezeptionsträger von einer höfischen Elite bis zu einer breiteren Öffentlichkeit und umfasste Rezeptionsformen von Aufführungen bis hin zu individuellen Lesepraktiken. Auch die Funktionen der alexandrinischen Literatur sind in der Forschung kontrovers diskutiert worden. Einigen Forschern zufolge sicherte sie die Selbstvergewisserung des griechischen kulturellen Erbes und die Abgrenzung von der als ‚Kulturschock‘ empfundenen ägyptischen Umwelt und trug so zur Legitimation und Identitätsstiftung einer kolonialen Elite bei.8 Andere dagegen betonten die gezielte Integration ägyptischer kultureller Paradigmata durch die griechischen Dichter in Interaktion mit der Politik der Ptolemäer.9 Nach einer interessanten Hypothese von Daniel L. Selden schließlich spiegeln sich in der für die hellenistische Literatur charakteristischen Individualisierung und Fragmentierung der Texte auch die Erfahrungen der Mobilität und ‚Globalisierung‘ und da-

7

Vgl. WEBER, 1993.

8

So u.a. GRAHAM ZANKER, 1987, insbesondere S. 19-24; vgl. aber die differenzierten Bemerkungen von SHIPLEY, 2000, S. 235-270 zur Rolle der alexandrinischen Literatur als Mittel der sozialen Distinktion auch innerhalb des griechischen Publikums.

9

So besonders SUSAN STEPHENS, 2003. Vgl. auch den unten diskutierten Aufsatz von DANIEL SELDEN, 1998; und speziell zu Theokrits 15. Idyll REED, 2000.

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mit Gefühle von Selbstzweifel, Entwurzelung und der psychologischen Entfremdung des Individuums.10 Eng mit den Charakteristika der alexandrinischen Literatur verbunden wird auch das bereits erwähnte Konzept eines ‚crossing of genres‘, das in der Forschung zur hellenistischen und der sie rezipierenden römischen Literatur seit langem eine wichtige Rolle spielt. Geprägt wurde der zugrunde liegende Begriff der ‚Kreuzung der Gattungen‘ von dem deutschen Altertumsforscher Wilhelm Kroll in seinen 1924 erschienenen Studien zum Verständnis der römischen Literatur, wo als Beispiel unter anderem Ovids Heroides als „Kreuzung des rhetorisch stilisierten Briefes und der Elegie“ angeführt werden.11 Sowohl die inhaltlichen als auch die terminologischen Implikationen dieses Konzepts sind in jüngerer Zeit auf Kritik gestoßen.12 Auch wenn Kroll selbst dies nirgends explizit erwähnt, liegt dem Begriff der Kreuzung ein bereits in der Antike angelegtes, aber vor allem seit der Romantik beliebtes biologistisches Modell zugrunde, das die Entstehung und Entwicklung literarischer Gattungen mit dem Wachstum und Verfall von Organismen gleichsetzt.13 Im modernen Horizont lässt sich die ‚Kreuzung‘ von Gattungen etwa mit Mendels botanischen Vererbungsregeln assoziieren. Noch problematischer wird es, wenn Ideen der Rassenlehre ins Spiel kommen. Zwar steht Wilhelm Kroll selbst keineswegs im Verdacht der Verbrei-

10 SELDEN, 1998. 11 KROLL (1924, Nachdruck 1964), S. 218. Zur Gattung der Bukolik, die er vereinfachend als „Kreuzung mit dem Mimos“ definiert (EBD., S. 203f.), s.u. Zu Vorläufern von Krolls Konzept vgl. HALPERIN, 1983, S. 203. 12 Vgl. BARCHIESI, 2001. 13 EBD., S. 145-148, vgl. auch die kurzen Bemerkungen in HARRISON, 2007, S. 13f. zu biologistischen Gattungstheorien des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Wie BARCHIESI,

2001, S. 146 betont, müssten die möglichen Analogien von Aristoteles’ Gat-

tungsklassifikationen zu seinen biologischen und zoologischen Studien näher untersucht werden. In der Poetik wird Dichtung öfter mit der Natur assoziiert (Nachahmung als natürliche Anlage und Entwicklung der Tragödie bis zur Verwirklichung ihihrer eigentlichen Natur [Kap. 4]; ‚organische‘ Einheit und Größe von Tragödie [Kap. 7] und Epos [Kap. 23]); zum zugrunde liegenden Naturbegriff, der nicht immanente Determinanten, sondern Möglichkeiten der Verwirklichung impliziert, vgl. SCHMITT, 2008, S. 275-278. Ein weiteres antikes Modell vergleicht Gattungen mit natürlichen Lebensstadien, so etwa Seneca der Ältere die Entwicklung der römischen Rhetorik mit Aufstieg, Höhepunkt und Verfall (Controversiae, Praefatio 1.6-7; vgl. schon CICERO, Tusculanae disputationes 2.5); vgl. dazu HELDMANN, 1982, S. 38f. und S. 60-97.

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tung nationalsozialistischen Gedankenguts, da er sich als Herausgeber von Paulys Realencyclopädie der Classischen Altertumswissenschaft gerade für die jüdischen Mitarbeiter einsetzte.14 Doch kommen etwa in späteren Anwendungen des Kreuzungskonzepts auf den antiken Roman in dessen Bezeichnung als ‚Bastard‘ Vorstellungen von Unreinheit und Minderwertigkeit zum Vorschein, die latent im Begriff der Kreuzung angelegt sind.15 Vor allem in der anglophonen Forschung ist er daher durch neutralere Bezeichnungen abgelöst worden, wie etwa Stephen Harrisons „generic enrichment“, also die Bereicherung einer Gattung durch Elemente einer anderen.16 Das Phänomen einer Gattungsmischung muss daher nicht zwangsläufig komplett verworfen werden, doch lässt sich die hellenistische Literatur nicht auf quasi-wissenschaftliche Experimente gelehrter Dichter reduzieren, die im Elfenbeinturm unter provokativer Überschreitung der Gattungsregeln – die sie ja als Literaturhistoriker selbst gerade erst (re-)konstruiert hatten – neue Gattungen zur Belustigung eines kleinen exklusiven Leserkreises geschaffen hätten.17 Eher las-

14 BARCHIESI, 2001, S. 145. Vgl. HUMAR, 2012, S. 672. 15 So in der bemüht humorvollen Umschreibung von Otto Weinreich, einem ehemaligen Mitglied der NSDAP (JUNGINGER, 1999, S. 151 Fn. 26): „Der griechische Liebesroman war die Frucht einer Liaison, die das gealterte Epos mit der kapriziös reizvollen hellenistischen Historiographie einging. Der Bastard wurde ein anziehendes und von der jungen Mutter her auch sehr vitales Geschöpf […]. Aber der Makel seiner Illegitimität war doch so stark, dass keine antike Ars poetica es wagte, den munteren Bankert in die vornehme Gesellschaft des alten literarischen Adels aufzunehmen. Kein antiker Philologe stellte ihm eine Carte d’identité aus […]“ (WEINREICH, 1962, S. 30). Vgl. dazu BARCHIESI, 2001, S. 147. 16 HARRISON, 2007, S. 15f. definiert „generic enrichment“ als „generic interaction“ und „the intergeneric form of intertextuality.“ Vgl. auch den italienischen Begriff der „intersezione die generi“ (FEDELI, 1989). In einem stimulierenden Aufsatz zur römischen Literatur (die trotz der evidenten historischen und soziopolitischen Unterschiede durchaus Gemeinsamkeiten mit der alexandrinischen Literatur aufweist) und deren produktiver Rezeption identifiziert CHRISTINE WALDE „hybridization“ und „amalgamation“ (2009, S. 20) als interkulturelle Vermittlungsstrategien sowohl zwischen der griechischen und der römischen als auch zwischen der elitären und der populären Kultur, zwischen Mythos und Geschichte und generell zwischen Kunst und Leben. 17 Gegen das Bild vom Elfenbeinturm wendet sich RUDOLF PFEIFFER (1955, S. 73/1960, S. 158) in seinem (durchaus immer noch aktuellen) Plädoyer gegen die Anwendung klassizistischer Vorurteile, romantischer Verfälschungen und aus dem 19. Jahrhundert stammender poetischer Theorien auf die hellenistische Dichtung.

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sen sich die Charakteristika der alexandrinischen Literaturproduktion dadurch erklären, dass alte Gattungen wie etwa das Drama, die im klassischen Griechenland fest an bestimmte formale Merkmale und Aufführungssituationen gebunden waren, durch ihre Übertragung in neue geographische und gesellschaftliche Kontexte frei wurden für neue Funktionen und insbesondere eine Literarisierung und Fiktionalisierung.18 Die traditionellen Kategorien und Grenzen konnten somit in einer intensiven Auseinandersetzung mit den Dichterkollegen und dem Publikum neu ausgehandelt werden. Dazu zählt durchaus auch das Entstehen innovativer Textsorten aus formalen und inhaltlichen Elementen verschiedener Herkunft, deren Klassifikation als Gattung sich aber in vielen Fällen als ein nachträgliches Produkt der Rezeptionsgeschichte erweist, wie etwa im Fall der Bukolik, der wir uns nun zuwenden wollen.19

4. T HEOKRITS 15. I DYLL (‚D IE S YRAKUSANERINNEN ‘ ODER ‚D IE F RAUEN BEIM A DONISFEST ‘) Der Archeget, auf den sich die späteren Bukoliker in ihren idiosynkratischen Konstruktionen einer Gattungsgeschichte berufen, ist der wohl aus Sizilien stammende Dichter Theokrit, der in der ersten Hälfte des 3. vorchristlichen Jahrhunderts in Alexandria lebte. Sein poetisches Werk zeigt indes ein viel breiteres Spektrum als bukolische Hirtengedichte, denn seine Eidyllia – was nicht im modernen Sinne von ‚idyllisch‘, sondern annäherungsweise als ‚kurze Gedichte in kleinen Gattungen‘ zu verstehen ist – umfassen auch städtische und mythologische Themen.20 Das 15. Gedicht, das hier betrachtet wird, zählt zu den städtischen Eidyllia oder Mimen/Mimepen, da es in 149 Hexametern den Besuch zweier aus Syrakus eingewanderter Einwohnerinnen von Alexandria beim jährlichen Adonisfest im Palastkomplex schildert. Seine Form weist nun in der Tat

18 Vgl. dazu etwa FANTUZZI, 1980; weitere Literatur findet sich in AMBÜHL, 2005, S. 13f. 19 Zu Gattungsgeschichte als Rezeptionsgeschichte am Beispiel der Bukolik vgl. NAUTA,

1990.

20 Den sogenannten städtischen Mimen Theokrits, zu denen das 15. Idyll zählt, widmet sich BURTON, 1995. Auf die komplexen Probleme der Entstehung und Rezeption des theokriteischen Werks kann im Rahmen dieses Beitrags nicht näher eingegangen werden, ebensowenig auf die Gattungsgeschichte des Mimos und den oft gezogenen Vergleich mit den Mimiamben des Herondas; vgl. dazu etwa STANZEL, 1998 und DERS., 2010; KUTZKO, 2007/2008.

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Elemente verschiedener Gattungen oder eben eines ‚crossing of genres‘ unter den genannten Vorbehalten auf. Darin setzt Theokrit den aus Sizilien stammenden, ursprünglich prosaischen und eher mit ‚niedrigen‘ Schichten und alltäglichen Stoffen assoziierten Mimos in ‚hohe‘ epische Hexameter, die aber wiederum nicht in der hauptsächlich an den ionischen Dialekt angelehnten homerischen Kunstsprache verfasst sind, sondern in einem dorischen literarischen Dialekt, der eher mit der Chorlyrik und dem Drama verbunden war. Überdies ist Theokrits städtischen und bukolischen Mimen gemeinsam, dass nach Art eines Dramas Dialoge direkt wiedergegeben werden. Es liegt somit eine mimetisch-dramatische Textsorte ohne Intervention einer Erzählerstimme vor.21 Allerdings sind der Realitätsgehalt und die Funktion dieser mimetischen Nachahmung in Theokrits 15. Idyll schwierig einzuschätzen.22 Will der Text ein realistisches Abbild des kleinbürgerlichen Lebens in Alexandria liefern, das wir heute geradezu als Quelle für die Rekonstruktion der dortigen Lebensverhältnisse und insbesondere der angeblich ‚emanzipierten‘ Stellung der Frau verwenden können?23 Oder setzt der Text eine andere Art von mimesis voraus, nämlich die Erschaffung einer künstlichen, fiktionalen Welt in Nachahmung, Adaptation und Transformation literarischer Modelle, reine l’art pour l’art, die nach ErnstRichard Schwinge gerade durch ihre bewusste Distanzierung von der Realpolitik auch subversive Töne anschlage?24

21 KREVANS, 2006 spricht sich gegen eine strikte Trennung der städtischen von den bukolischen Gedichten innerhalb des theokriteischen Werks aus. Zu dem im 15. Idyll vorliegenden Typus des mimetischen Gedichts mit einer Szenerieveränderung vgl. ALBERT, 1988, insbesondere S. 79-88. 22 AUERBACH, 2001, S. 34 geht in seiner Untersuchung zur Mimesis ganz kurz auf Theokrits 15. Idyll ein, dessen „Realistik“ in Bezug auf „den soziologischen Unterbau“ er als „spielerischer und auch stärker sprachlich stilisiert“ einschätzt als etwa den Roman Petrons. Auch ZANKER, 1987, S. 9-18 verwendet Theokrits 15. Idyll als Testfall für seine Untersuchung zum Realismus in der alexandrinischen Dichtung. 23 Vgl. den Titel von Griffiths’ Aufsatz von 1981: „Home Before Lunch. The Emancipated Woman in Theocritus“. Die am Ende geäußerten Bedenken, dass „that sense of emancipation may derive less from new social realities than from the poetic project of liberating literature […] from its direct relationship to life“ (EBD., S. 271), werden von SHIPLEY, 2000, S. 257 ausgebaut. 24 Vgl. den programmatischen Titel seiner Monographie Künstlichkeit von Kunst (SCHWINGE, 1986). Zu den verschiedenen Ebenen von mimesis im 15. Idyll vgl. HUNTER, 1996a; eine erweiterte Version findet sich in DERS., 1996, S. 110-138. In seiner Studie zur Erschaffung einer fiktionalen Welt durch Theokrit unterscheidet

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Auch jenseits dieser Extrempositionen bleiben offene Fragen, die für die Interpretation des Gedichts von entscheidender Bedeutung sind: Wie ist der soziale Status der Protagonistinnen zu definieren und welche Haltung nimmt der implizite Autor ihnen gegenüber ein, der ja aber selbst gar nicht als Erzählerstimme in Erscheinung tritt? Welche Intention soll damit dem historischen Autor Theokrit unterstellt werden und welches Publikum spricht er mit seinem Text primär an? Diese eng miteinander verknüpften Fragen haben eine Spaltung in der modernen Forschung provoziert, die bemerkenswerterweise häufig gerade entlang der Geschlechtergrenzen verläuft.25 Während Interpretinnen wie insbesondere Joan Burton die Meinung vertreten, dass Theokrit sich in diesem Gedicht mit ernstzunehmender Absicht in die weibliche Perspektive hineinversetze, und dies als Hommage an die Königin und Patronin der Künste Arsinoe II. verstehen,26 sind ihre meist männlichen Kollegen eher dazu geneigt, zur Pauschalerklärung der Parodie zu greifen und die beiden Protagonistinnen durch herablassend-misogyne Bemerkungen als kleinbürgerliche Hausfrauen und ungebildete Klatschbasen abzuqualifizieren, um sich zusammen mit Theokrits vorgeblich rein elitärem (männlichem) Publikum über sie lustig zu machen.27 Diese Dichotomie lässt

PAYNE, 2007, S. 1-23 zwischen mimetischen Fiktionen als Abbild der Realität in den städtischen Mimen und (meta-)fiktionalen Fiktionen als Alternative zur Realität in den bukolischen Gedichten. Auch KIRICHENKO (im Druck) grenzt die realisierte Utopie des städtischen Idylls 15 von der bukolischen Utopie ab, misst aber meines Erachtens der darin angeblich repräsentierten Harmonie des globalisierten Alexandria eine zu große Bedeutung bei. 25 Im Folgenden sind einige repräsentative Beispiele ausgewählt, ohne einen vollständigen Forschungsüberblick anzustreben. 26 BURTON, 1995, insbesondere S. 133-154. 27 Vgl. die bei BURTON, 1995, S. 107f. und S. 219 Fn. 54 angeführten Beispiele aus der deutschsprachigen und anglophonen Forschung. Zur ‚Froschperspektive‘ vgl. etwa GRIFFITHS, 1979, S. 116, der allerdings auch die Assoziation der weiblichen Perspektive mit Arsinoe in Betracht zieht (EBD., S. 119f.); noch klischeehafter DERS., 1981, S. 249; vgl. auch ZANKER, 1987, S. 9-18. Auch HORSTMANN, 1976, S. 18-57 betont die durch die „Überlegenheit der Betrachterrolle“ (EBD., S. 49) von Dichter und Leser erzeugte ironische Distanz zu den Figuren, obwohl er einräumt, dass es falsch wäre, Praxinoa in ihrer Charakterisierung als „einigermaßen ‚gebildeter‘ Griechin“ (EBD., S. 38) „lediglich als ‚naive Kleinbürgerin‘ einzustufen“ (EBD., S. 39). Vgl. aber auch KREVANS, 2006, S. 124, die diesen Eindruck als Teil der literarischen Strategie interpretiert: „[…] their reaction to the art provokes in its turn the same reaction from the elite reader: ‚you would say that was a real housewife talking‘.“

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sich exemplarisch noch an zwei zeitgleich im Jahr 2001 erschienenen Artikeln von Marilyn Skinner („Ladies’ Day at the Art Institute“) und Michael Lambert („Prattling Tourists at the Adonia“) demonstrieren, die in der Frage, ob die Kommentare der beiden Frauen zu den Kunstwerken im Palast als metaliterarische Reflexe zeitgenössischer rezeptionsästhetischer Theorien oder als auf einen Lacheffekt zielende Parodie zu beurteilen seien, zu diametral entgegengesetzten Resultaten gelangen (wie sich schon an den plakativen Titeln ablesen lässt).28 In den letzten zwei Jahrzehnten ist aber auch gewissermaßen ein ‚Crossing‘ zwischen diesen ‚männlich‘ respektive ‚weiblich‘ geprägten Lektüren zu beobachten, da zuvor eher marginalisierte Themen wie die Polyphonie und die durch eine weibliche Perspektive geprägte Beschreibung von Kunstwerken vom Mainstream der Forschung aufgegriffen worden sind.29 Ausgehend von diesen philologischen Forschungsansätzen wird hier nun versucht, Ramptons soziolinguistisches Crossing-Modell auf Theokrits Text anzuwenden und dabei die beiden von ihm genannten Varianten von Crossing als „interaction ritual“ oder „contest“ und als „artful performance“ zu kombinieren.30 Ziel ist dabei nicht, eine endgültige Antwort auf die notorischen Interpretationsprobleme des 15. Idylls zu geben, sondern eher die oft getrennt voneinander untersuchten Fragen, die dieser vielschichtige Text aufwirft, gemeinsam unter dem Begriff des Crossing zu betrachten und damit aus einem neuen Blickwinkel zu beleuchten. Zu diesem Zweck werden zunächst zentrale formale und inhaltliche Merkmale von Theokrits 15. Idyll mit Bezug auf den Crossing-Begriff analysiert und an kurzen Textbeispielen illustriert, um anschließend eine Kernszene des Gedichts zu diskutieren, in der das Phänomen des Crossing in einer verbalen Auseinandersetzung um die Dialekte der Sprecher geradezu exemplarisch inszeniert wird. Das Fehlen einer zentralen Erzählperspektive im Sinne eines dialogischen, offenen Genres nach Bachtin erhält gerade im 15. Idyll eine zentrale Bedeutung. Die verbalen Interaktionen zwischen den verschiedenen Sprechern in-

28 SKINNER, 2001 sieht darin die innovative, spielerische Adoption einer spezifisch weiblichen poetischen Tradition der Ekphrasis durch die alexandrinischen Dichter, wohingegen LAMBERT, 2001 dieselbe Strategie als eine gezielte Parodie dieser weiblichen Perspektive aus der überlegenen männlichen Perspektive des Dichters in ironischer Komplizenschaft mit seinem kultivierten Publikum (inklusive Arsinoe) interpretiert. 29 Zur Polyphonie vgl. GOLDHILL, 1991, insbesondere S. 272-278; zur Kunsttheorie DERS., 1994, insbesondere S. 216-223; MANAKIDOU, 1993, S. 40-50 und S. 83-91; BURTON, 1995, S. 93-122 und MÄNNLEIN-ROBERT, 2007, S. 261-301. 30 RAMPTON, 2009; s.o. und Fn. 2.

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szenieren die von Joan Burton identifizierten Brennpunkte wie Gender, Ethnizität, Migration, soziale Klasse und die Kommunikation zwischen Herrscherhaus und alexandrinischer Bevölkerung und tragen die daraus entstehenden Konflikte mittels sprachlicher Äußerungen in einem höflichen oder agonalen Austausch auf der Textebene aus.31 Diese Dimension des Textes lässt sich mit Crossing als „interaction ritual“ und als „contest“ verbinden.32 4.1 Crossing als „interaction ritual“ und „contest“ in Theokrits 15. Idyll Die Eingangsszene des Gedichts, in der Gorgo im Haus ihrer Freundin Praxinoa eintrifft, um sie für den gemeinsamen Besuch des Adonisfests im Palast abzuholen, wurde oft als belangloses Vorgeplänkel und reiner Hausfrauenklatsch abgetan. Doch werden bereits hier Strategien der Kommunikation antizipiert, die im ganzen Gedicht eine zentrale Rolle spielen werden. Wie Nita Krevans gezeigt hat, entspricht das Eingangsgespräch, in dem sich die beiden Frauen mit ihren Klagen über ihre Ehemänner gegenseitig hochschaukeln, dem typisch agonalen Element des Hirtenwettstreits in Theokrits bukolischen Gedichten; der spielerisch-rivalisierende Austausch von Sprichwörtern und Aphorismen konstituiere eine weibliche ‚Kunstsprache‘ als Gegenstück zu derjenigen der Hirten.33 Die Beobachtung, dass Gorgo jeweils die von Praxinoa vorgegebenen Themen aufnimmt, reflektiert demnach gerade nicht ihre unterwürfige Haltung gegenüber der dominanteren Praxinoa, sondern ihr Bestreben, die Freundin verbal zu übertrumpfen. Aus soziologisch-ökonomischer Perspektive hatte bereits John Whitehorne vorgeschlagen, die Klagen der Frauen über die Fehleinkäufe ihrer jeweiligen Ehemänner als versteckte Prahlerei mit ihrer Kaufkraft zu interpretieren und daraus einen beträchtlichen Wohlstand der beiden Haushalte abzuleiten.34 Statt sparsamer kleinbürgerlicher Hausfrauen hätten wir somit eher privilegierte ‚desperate housewives‘ aus der alexandrinischen Suburbia vor uns, die sich selbst-

31 BURTON, 1995, S. 7-92 und S. 123-154. Zur sozialen Mobilität und ethnischen Diversität der hellenistischen Metropole als Kernthemen von Idyll 14 und 15 vgl. auch STEPHENS, 2006, S. 107-112. 32 Zum Begriff des „interaction ritual“ nach Erving Goffman und dessen Unterkategorie „contest“ vgl. RAMPTON, 2009, S. 150f. und S. 159-164. 33 KREVANS, 2006, S. 137-140. Auch BURTON, 1995, S. 52-62 liest die verschiedenen verbalen Interaktionen im Gedicht im Kontext eines Machtstreits zwischen den Geschlechtern. 34 WHITEHORNE, 1995.

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bewusst den Luxus eines Ausflugs in das Stadtzentrum leisten und hinter deren vordergründiger weiblicher Solidarität gegen die inkompetenten Ehemänner sich auch gegenseitige Rivalität um sozialen Status und Prestige verbirgt. Dass sich Praxinoa je nach Adressaten ganz unterschiedlicher sprachlicher Register bedienen kann, zeigt sich an der Kommunikation mit ihrem kleinem Sohn, bei der sie erst über den Kopf des Kindes hinweg über dessen Vater schimpft (Verse 8-10), dann aber zu verniedlichender ‚Babysprache‘ greift, als sie von Gorgo darauf aufmerksam gemacht wird, dass das Kind viel mehr versteht, als sie dachte (Verse 11-17: 13 [Gorgo]: „οὐ λέγει ἀπφῦν“ [„Sie meint nicht Papa“] – 14 [Gorgo]: „καλὸς ἀπφῦς“ [„Guter Papa“] – 15 [Praxinoa]: „ἀπφῦς µὰν τῆνός“ [„Dieser Papa jedenfalls[…]“]).35 In der darauf folgenden Interaktion mit ihrer Sklavin Eunoa markiert sie ihr gegenüber sprachlich durch barsche Kommandos und Schelten dann wiederum die Herrin (Verse 27-33). Diese Strategie der raschen Sprachregisterwechsel wird im weiteren Verlauf des Gedichts noch deutlicher. Auf ihrem Weg zum Palast begegnen die beiden Frauen in Begleitung ihrer Sklavinnen einer Reihe von Personen, mit denen sie implizit oder explizit in eine verbale Auseinandersetzung treten. Zunächst sehen sie sich als Individuen mit einer anonymen und bedrohlichen Masse von Menschen, Soldaten und Pferden konfrontiert, was sie mit entrüsteten, ängstlichen und aufmunternden Kommentaren begleiten. In einer Äußerung Praxinoas erhält die Großstadterfahrung dabei eine spezifisch ethnische Note: ὦ θεοί, ὅσσος ὄχλος. πῶς καὶ πόκα τοῦτο περᾶσαιχρὴ τὸ κακόν; µύρµακες ἀνάριθµοι καὶ ἄµετροι. πολλά τοι, ὦ Πτολεµαῖε, πεποίηται καλὰ ἔργα, ἐξ ὧ ἐν ἀθανάτοις ὁ τεκών· οὐδεὶς κακοεργός δαλεῖται τὸν ἰόντα παρέρπων Αἰγυπτιστί, οἷα πρὶν ἐξ ἀπάτας κεκροτηµένοι ἄνδρες ἔπαισδον, ἀλλάλοις ὁµαλοί, κακὰ παίχνια, πάντες ἀραῖοι.

35 Der griechische Text folgt der kommentierten Ausgabe von GOW, 1952, die deutsche Übersetzung (manchmal leicht adaptiert) EFFE, 1999. Zu den sprachlichen Signalen von ,Babysprache‘ im Text vgl. GOW, 1952, Bd. 2, S. 270; generell zu den damit verbundenen methodologischen Problemen GOLDEN, 1995, insbesondere S. 19 und S. 31 zu unserer Stelle. Allerdings handelt es sich gerade bei dem von Praxinoa in einer von ihr zitierten Anrede an ihren Mann verwendeten Kosenamen „πάππα“ („Vati“) in Vers 16 um eine von den meisten Herausgebern akzeptierte Konjektur von Wilamowitz; YOUNG, 1992 verteidigt dagegen den überlieferten Text „πάντα“ („alles“, „immer“).

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(Verse 44-50; „Ihr Götter, was für eine Masse! Wie und wann soll man durch dieses Übel durchkommen? Ameisen, ohne Zahl und ohne Maß. Viele herrliche Taten, Ptolemaios, hast du vollbracht, seit dein Vater unter den Unsterblichen ist. Kein Halunke schleicht sich mehr nach ägyptischer Art an den Passanten heran und setzt ihm zu, wie früher Männer, aus Trug geschmiedet, ihr Spielchen trieben: einer wie der andere, üble Trickdiebe, verfluchtes Pack sie alle!“)

Die sich hier manifestierenden ethnischen Vorurteile der Griechin gegenüber den Ägyptern sind nicht direkt an einen Vertreter dieser Gruppe gerichtet, die ja anscheinend aus dem Straßenbild verschwunden ist, sondern als Kompliment an den ebenfalls nicht anwesenden König Ptolemaios formuliert. In diesem Fall wird der Konflikt somit nicht in einer direkten Interaktion ausgetragen. Doch werden gleich in mehrerer Hinsicht Differenzen verhandelt und Ungleichheiten inszeniert, wenn Kleinkriminelle pauschal mit Ägyptern identifiziert und Ptolemaios II., der ja sowohl über griechische als auch über ägyptische Untertanen herrscht, als Befreier von dieser Plage apostrophiert wird.36 Ob hier reale soziale Spannungen oder koloniale Klischees der griechischen Elite abgebildet werden und ob sich die externen Rezipienten mit der Perspektive der Frauen identifizieren oder sich im Gegenteil davon ironisch distanzieren sollen, ist schwer zu sagen.37 Die folgenden direkten Begegnungen spielen sich alle mit Griechen ab, sind aber von ganz unterschiedlicher Natur. Zunächst kommt den beiden eine alte Frau vom Palast her entgegen. Die Griechinnen nutzen die Gelegenheit, um zu fragen, ob man leicht hineingelangen könne. Die Greisin entgegnet mit einem Vergleich mit dem Trojanischen Krieg und einem Sprichwort (Verse 61f.): „ἐς

36 WEBER, 2010a, S.21 zitiert (ohne Bezug zu Idyll 15) einen Brief eines griechischen Siedlers aus Memphis, der sich beim Gaustrategen über einen „Schlägertrupp ägyptischer Mitbewohner“ beschwert, die ihn wiederholt bedrängt und bestohlen hätten, und dies – strategisch geschickt – damit begründet: „Weil ich Grieche bin!“ 37 Vgl. GOW, 1952, Bd. 2, S. 281 zu Vers 48: „[…] possibly reflects not only the familiar Greek contempt for foreigners but also some tension which necessarily underlay the relations between the dominant Greeks and Macedonians and the under-privileged native population.“ BURTON, 1995, S. 14 betont den Gender-Aspekt: „This passage shows how immigrant Greek women can (temporarily) suppress feelings of alienation and insignificance by elevating themselves as ‚colonials‘ over natives.“ WEBER, 2010b, S. 55f. impliziert eine gewisse Distanzierung des „höfischen Publikum[s]“ von den „chauvinistische[n]“ „Vorurteile[n] bzw. Erfahrungen kleinbürgerlicher Zuwanderinnen“.

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Τροίαν πειρώµενοι ἦνθον Ἀχαιοί, / κάλλισται παίδων· πείρᾳ θην πάντα τελεῖται“ („Nach Troja versuchten’s die Achaier, und sie kamen rein, schönste Kinder. Mit einem Versuch kriegt man alles hin“). Daraufhin verschwindet sie wieder, ohne die Frage wirklich beantwortet zu haben, was die Frauen zu leicht genervten Kommentaren über den ‚Orakelspruch‘ veranlasst (Verse 63f.). Da sie aber selbst ebenfalls gerne sprichwortartige Sentenzen verwenden (z.B. eben in Vers 64: „πάντα γυναῖκες ἴσαντι, καὶ ὡς Ζεὺς ἀγάγεθ’ Ἥραν“ [„Alles wissen die Frauen, auch wie Zeus Hera heimgeführt hat“]), soll hier vielleicht eine typisch weibliche Kommunikationsform imitiert werden, die bei der alten Frau nur ausgeprägter zum Vorschein kommt. Mitten im größten Gedränge vor dem Palasteingang, bei dem sogar Praxinoas Mantel zerreißt, folgt ein weiterer kurzer Dialog, diesmal mit einem Mann (Verse 69-77). Man könnte nun erwarten, dass Praxinoa irritiert reagiert und ihre Wut und Frustration an dem Mann auslässt (Verse 70f.: „ποττῶ Διός, εἴ τι γένοιο / εὐδαίµων, ἄνθρωπε, φυλάσσεο τὠµπέχονόν µευ“ [„Beim Zeus, wenn dir dein Glück am Herzen liegt, Mensch, pass auf meinen Mantel auf!“]). Jedoch entwickelt sich gerade im Gegenteil ein höflicher Wortwechsel. Dank der freundlich-hilfsbereiten Reaktion des fremden Mannes (Vers 72: „οὐκ ἐπ’ ἐµὶν µέν, ὅµως δὲ φυλάξοµαι“ [„Liegt nicht an mir, trotzdem will ich aufpassen“]; Vers 73: „θάρσει, γύναι· ἐν καλῷ εἰµές“ [„Keine Angst, Frau, wir sind okay“) wird die angespannte Situation, die leicht in einen Konflikt hätte ausarten können, entschärft, und Praxinoa passt sich in ihrem sprachlichen Register an ihn an (Vers 74: „κἠς ὥρας κἤπειτα, φίλ’ ἀνδρῶν, ἐν καλῷ εἴης“ [„Für immer und ewig, lieber Mann, sollst du okay sein“). Dies ist typisch für einen sozialen Austausch, ein „interpersonal verbal ritual“, das sich symbolischer Formeln wie Entschuldigungen, Dankesäußerungen oder sprichwörtlicher Ausdrücke bedient.38 Das dadurch hergestellte temporäre Bündnis bekräftigt Praxinoa mit einer abfäl-

38 Vgl. RAMPTON, 2009, S. 160: „So ‚interpersonal verbal rituals‘ occur in sequences of increasing/increased interactional uncertainty. […] they turn up the ritual aspects through a range of inherited symbolic formulae – farewell and greeting routines, apologies, thanks, expletives, expressions of dismay or surprise, even proverbs […] and […] they display an orientation to perduring social bonds and collectivities capable of overriding the temporary disturbance immediately at hand.“ Vgl. EBD., S. 172 zu „interaction ritual“ definiert als „politeness“. Vgl. Burtons Analyse der Szene (1995, S. 54f.: „The stranger’s courteous manner changes Praxinoa’s behavior and affects her use of language. […] Praxinoa’s expression of gratitude exceeds his in politeness, as well as in elevation of language: […] Harmony now characterizes this encounter, not the eristics of power.“

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ligen Bemerkung über die Anderen, die „wie Schweine drängeln“ (Vers 73: „ὠθεῦνθ’ ὥσπερ ὕες“). Das gemeinsam durchgestandene Erlebnis mündet sogar beinahe in einen kleinen Flirt (Vers 75: „χρηστῶ κοἰκτίρµονος ἀνδρός“ [„Was für ein guter und sympathischer Mann!“]), der in der Menschenmenge aber gleich wieder abgebrochen wird. Praxinoa besiegelt das Ganze zum Abschluss erneut mit einem erotisch gefärbten Sprichwort (Vers 77: „κάλλιστ’· ‘ἔνδοι πᾶσαι’, ὁ τὰν νυὸν εἶπ’ ἀποκλᾴξας“ [„Herrlich! ‚Alle drinnen‘, sagte der, der die Braut einschloss“]). Ganz anders gestaltet sich die Kommunikation mit einem Mann in der dritten und letzten Interaktionsszene, die sich in dem für das Adonisfest hergerichteten Raum im Palast abspielt. Gorgo und Praxinoa kommentieren die auf den Wandteppichen eingewebten Bilder und die Götterstatuen und loben ausführlich deren lebensechte Qualität. Diese Szene hat die strukturelle Funktion, eine im mimetischen Genre nicht mögliche auktoriale Beschreibung der Kunstwerke zu ersetzen, und weist überdies deutliche Anklänge an den hellenistischen Diskurs über die ästhetische Rezeption von Kunst auf. Eine Textfigur, einen weiteren Griechen, kümmert dies allerdings nicht: Brüsk und ziemlich unhöflich unterbricht er die Frauen, was manche Interpreten zum Vorwand genommen haben, diese vereinzelte Stimme kurzerhand mit dem Autor Theokrit gleichzusetzen und sich gemeinsam mit ihm über den angeblich mangelnden Kunstverstand und die ‚altklugen‘ Kommentare der Frauen lustig zu machen.39 Noch mehr als der Inhalt ihres ‚Geschwätzes‘ stört den Mann allerdings der Dialekt, in dem die beiden ursprünglich aus Syrakus stammenden Frauen sich unterhalten, was im griechischen Text durch onomatopoetische Effekte hervorgehoben wird: {ΕΤΕΡΟΣ ΞΕΝΟΣ} παύσασθ’, ὦ δύστανοι, ἀνάνυτα κωτίλλοισαι, τρυγόνες· ἐκκναισεῦντι πλατειάσδοισαι ἅπαντα. {ΠΡ.} µᾶ, πόθεν ὥνθρωπος; τί δὲ τίν, εἰ κωτίλαι εἰµές; πασάµενος ἐπίτασσε· Συρακοσίαις ἐπιτάσσεις. ὡς εἰδῇς καὶ τοῦτο, Κορίνθιαι εἰµὲς ἄνωθεν, ὡς καὶ ὁ Βελλεροφῶν. Πελοποννασιστὶ λαλεῦµες, Δωρίσδειν δ’ ἔξεστι, δοκῶ, τοῖς Δωριέεσσι. µὴ φύη, Μελιτῶδες, ὃς ἁµῶν καρτερὸς εἴη, πλὰν ἑνός. οὐκ ἀλέγω. µή µοι κενεὰν ἀποµάξῃς.

39 So etwa HORSTMANN, 1976, S. 36. Vgl. die Kritik bei BURTON, 1995, S. 62 und S. 107f. mit S. 219 Fn. 55f. sowie bei SKINNER, 2001, S. 212f.

54 | A MBÜHL (Verse 87-95; „Anderer Mann: Hört auf, ihr Unseligen, mit eurem endlosen Gackern, ihr Turteltauben! Sie richten einen noch zugrunde, wie sie alles in die Breite ziehen. Praxinoa: Mein Gott, wo kommt der Kerl her? Was geht’s dich an, wenn wir gackern? Wo du Herr bist, da gib Befehle! Syrakuserinnen willst du Befehle geben! Dass du auch dieses weißt: Wir sind Korintherinnen von Abstammung, wie auch Bellerophon. Peloponnesisch sprechen wir. Dorisch reden wird doch wohl, denk ich, den Dorern erlaubt sein. Möge es keinen geben, gütige Göttin, der über uns Herr ist, außer einem! Bist mir egal; streich mir nicht einen leeren Topf ab!“)

Vordergründig dreht sich die Auseinandersetzung um die Frage des Dialektes oder der Aussprache bestimmter Vokale im Speziellen – etwas vereinfacht ausgedrückt insbesondere des dorischen langen ā gegenüber dem ionischen langen ē, das in der hellenistischen griechischen Koine zunehmend als langes ī ausgesprochen wurde. Diese auf den ersten Blick simple Differenz erweist sich bei näherer Analyse allerdings als viel komplexer. Richard Hunter und Andreas Willi haben diese Passage im Kontext linguistischer Analysen zur Kunstsprache Theokrits und dem Transfer einer ‚kolonialen‘ Literatur von Sizilien nach Alexandria eingehend untersucht.40 Das Hauptproblem ist, dass der Nörgler seine Kritik in genau demselben ‚breiten‘ Dialekt vorbringt wie die Frauen, an deren Aussprache er sich ja gerade stört.41 Nun ist zwar nicht grundsätzlich auszuschließen, dass Theokrits Text im Lauf der handschriftlichen Überlieferung verändert wurde. Dies ist ein Prozess, der auch bei den anderen im dorischen Dialekt geschriebenen Gedichten zu beobachten ist, wo standardisierte Formen seltenere dialektale Varianten verdrängt haben. Signifikanter ist aber, dass auch die beiden Frauen nicht in einem spezifisch syrakusanischen Dorisch sprechen, sondern in einem literarischen Kunstdorisch, dessen sich im Übrigen alle Figuren des Mimos bedienen. Eine mimetische Unterscheidung verschiedener Stimmen ist allerdings durchaus wahrnehmbar, jedoch nicht so sehr aufgrund des Dialektes als vielmehr auf der Ebene des Wortgebrauchs, der Stilistik und der Metrik. Der signifikanteste Unterschied besteht dabei zwischen den Dialogpartien und dem eingelegten Adonis-Hymnos, auf den wir noch zurückkommen werden. Hier scheint allerdings die stillschweigende Konvention der einheitlichen Sprache aller Figuren dadurch außer Kraft gesetzt zu sein, dass ausnahmsweise

40 HUNTER, 1996, S. 28-45 und S. 119-123; vgl. DERS., 1996a, S. 149-157; weitere Versionen in FANTUZZI/HUNTER, 2004, S. 371-377 und HUNTER, 2005. Vgl. auch WILLI, 2012. 41 Zum Interpretationsproblem vgl. die Kommentare von GOW, 1952, Bd. 2, S. 200 und DOVER, 1971, S. 207.

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die Existenz verschiedener Dialekte im Text explizit thematisiert wird. Dafür ließe sich mit Hilfe des Crossing-Modells eine Erklärung finden, die unabhängig davon auch in der Theokrit-Forschung in ähnlicher Form vorgebracht worden ist: Der Sprecher würde dabei bewusst den Dialekt der Frauen imitieren, um sie durch Nachäffen oder Übertreibung zu verspotten.42 Der Kontext gibt ja deutlich an, dass der Sprecher einer anderen Sprach- oder jedenfalls Dialektgemeinschaft angehört und somit in einer für ihn eigentlich fremden Stimme spricht.43 Form und Inhalt seiner Botschaft setzt er als gezielte Provokation ein. Hinzu kommt, dass er im zweiten Satz in die dritte Person wechselt und die Frauen damit als Subjekte negiert (Vers 88: „Sie richten einen noch zugrunde, wie sie alles in die Breite ziehen“). Praxinoa nimmt die Herausforderung an und lässt sich auf die Spielregeln eines verbalen Wettstreits ein:44 Sie nimmt den Begriff „Gackern“ auf, mit dem der Mann sie beleidigt hatte (Vers 87: „κωτίλλοισαι“), jedoch ohne dessen pejorative Konnotation (Vers 89: „κωτίλαι“).45 Um ihn definitiv zu übertrumpfen, wechselt sie daraufhin mit dem Hinweis auf den mythischen Ahnherrn Bellerophon in ein hohes Stilregister. Sie betont jedoch gleich, dass er so viel Aufwand ja gar nicht wert sei (Vers 95: „Bist mir egal“), und kehrt am Ende zu

42 So HUNTER, 1996a, S. 157: „Whether or not we are to imagine that the stranger is himself a Dorian, ὦ δύστανοι, ἀνάνυτα [Vers 87, Hervorhebung im Original] is presumably intended to mock the sounds the women are making.“ Ähnlich BURTON, 1995, S. 58: „The bystander’s use of Doric here is sufficiently exaggerated to seem sarcastic rather than simply incongruous.“ Vgl. auch KUTZKO, 2007/2008, S. 144 mit Fn. 11 unter Verweis auf HELMBOLD, 1951, der diese Hypothese zugunsten des einheitlichen Kunstdialekts von Idyll 15 verworfen hatte, was sich allerdings gerade im Rahmen des Crossing-Modells nicht ausschließen muss (s.u. Fn. 50). 43 Ähnlich auch HUNTER, 1996, S. 122 (1996a, S. 154): „[…] mimesis of speech-forms – particularly for the purposes of humour or some other marked effect – is unlikely to be linguistically ‚accurate‘ or consistent; it is ‚difference‘ which is important for the reception of the represented speech.“ 44 Vgl. BURTON, 1995, S. 60: „Praxinoa […] responds to the bystander’s challenge, with its underlying presumption of a speech code that excludes women, by appropriating the male heroic strategies of a verbal duel. […] Her street tactics include cleverly recasting her opponent’s insults. […] Praxinoa’s retort […] shows that she not only understands, but can also appropriate the rhetoric of the dominant male world.“ 45 Zu den verschiedenen Konnotationen, die von Vogellauten wie Zwitschern oder Gurren bis zu weiblicher Geschwätzigkeit reichen, vgl. GOW, 1952, Bd. 2, S. 200. SKINNER, 2001, S. 213 Fn. 44 führt Belege dafür an, dass die Vokabel „may be appropriated by a woman to characterize her own utterances positively“.

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ihrem eigenen Idiolekt zurück, was sie wieder mit einem typisch weiblichen Sprichwort unterstreicht. Im Gegensatz zu der freundlichen Interaktion mit dem ersten Mann findet hier also ein feindseliger „contest“ statt, der die Rivalität im spezifischen Sinne des Crossing auch und gerade über die sprachliche Identität austrägt.46 Zwar fungieren die verschiedenen griechischen Dialekte hier keineswegs als Soziolekte in dem Sinn, dass sie eine Elite von einer Unterschicht abgrenzen würden – Praxinoa versteht sich ja global als Griechin und somit den Ägyptern überlegen. Doch werden dialektale Differenzen gleichwohl eingesetzt, um Ungleichheit zu konstruieren und daraus resultierende Konflikte auszutragen.47 Dem griechischen Kosmopolitismus als Identitätssicherung nach außen steht eine von sozialen Empfindlichkeiten geprägte Differenzierung innerhalb der griechischen Gemeinschaft gegenüber. Praxinoa wirft dem Kritiker vor, er führe sich ihr gegenüber wie ein Herr über Sklaven auf (Vers 90: „Wo du Herr bist, da gib Befehle!“), nur um den Spieß gleich umzudrehen und dem namen- und herkunftslosen Fremden (Vers 89: „wo kommt der denn her?“)48 ihre eigene noble Abkunft von Korinth, der Mutterstadt von Syrakus, unter die Nase zu reiben und sich damit hierarchisch über ihn zu stellen. Der von der ionisch-alexandrinischen Koine abweichende dorische Dialekt wird hier gerade als die elitär markierte Variante präsentiert (Vers 92f.: „Peloponnesisch sprechen wir. Dorisch reden wird doch wohl, denk ich, den Dorern erlaubt sein“) – umso mehr, als die ptolemäischen Herrscher (mit dem ‚einen‘ Herrn in Vers 95 ist wohl Philadelphos gemeint) sich ebenfalls gerne auf ihre dorische Abkunft via Herakles beriefen.49 Der Fremde scheint dadurch mundtot gemacht zu werden, jedenfalls antwortet er nicht mehr.

46 Vgl. RAMPTON, 2009, S. 152: „The crucial difference between stylization and crossing lies in the extent to which the speaker’s use of another voice turns the participants to wider issues of entitlement“ (Hervorhebung im Original). Siehe auch das Zitat in Fn. 2. 47 Ramptons Ergebnisse zur Verwendung von Soziolekten und Ethnolekten im zeitgenössischen Englischen ließen sich mutatis mutandis auf unsere Passage übertragen: „[…] cross-ethnic uses […] where race and ethnicity were often controversial matters, the performance of other-ethnic styles could actually be rather risky, eliciting strong criticism from the style’s owners/inheritors“ (2009, S. 150). 48 Zum Anklang an homerische formelhafte Fragen nach der Herkunft eines Fremden vgl. KUTZKO, 2007/2008, S. 144. 49 So GOW, 1952, Bd. 2, S. 201 zu Vers 95: „the king, rather than her husband […].“ Vgl. auch FANTUZZI/HUNTER, 2004. S. 371-377.

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Obwohl diese Szenen nun in der Tat direkt aus dem Leben gegriffen zu sein scheinen, wie in der antiken Literaturtheorie der Mimos und die Komödie gerne als eine Imitation des Lebens oder ein Spiegel der Wirklichkeit bezeichnet wurden,50 müssen wir uns Theokrit doch wohl kaum als einen antiken Vorgänger von Rampton vorstellen, der mit einer Wachstafel bewaffnet durch die Straßen Alexandrias streift, um authentische verbale Crossing-Phänomene zu dokumentieren. Als Schöpfer des Gedichts ist er derjenige, der die verschiedenen Stimmen ja überhaupt erst erschafft und sie zu einem literarischen Kunstwerk orchestriert. Folglich nimmt auch er die Rolle eines Sprechers ein, der in einer oder sogar mehreren fremden Stimmen spricht und zwischen verschiedenen Codes ‚switcht‘.51 Gerade im 15. Idyll, in dem die weiblichen Stimmen klar dominieren, überschreitet er die Geschlechtergrenzen. Doch speziell in der Auseinandersetzung um den Dialekt verhandelt er im ‚Anderen‘ auch das Eigene, da er wie seine Protagonistinnen offenbar selber aus Syrakus stammte.52 Wie Hunter und Willi argumentieren, inszeniert Theokrit hier auf einer weiteren Ebene in einer Art selbstreflexiver Allegorie die Einführung seines dorisch-sizilianischen Mimos als einer neuen Gattung in Alexandria und legitimiert diese gleichzeitig gegenüber realen oder fiktiven Kritikern, eine beliebte Strategie der Selbstdarstellung in der alexandrinischen Literatur.53

50 Vgl. die Belegstellen bei VOGT-SPIRA, 2007, S. 22. KUTZKO, 2007/2008, insbesondere S. 142-144, argumentiert dafür, gerade die vorliegende Passage des 15. Idylls nicht als direkte Imitation des wirklichen Lebens, sondern als Imitation von Drama in einem metatheatralischen Sinn zu interpretieren, die die Rezipienten auf die Illusion der künstlichen Einheitlichkeit des Sprachkunstwerks aufmerksam machen solle. 51 Zum Begriff des ‚code-switching‘ vgl. RAMPTON, 2009, S. 152. 52 In Theokrit Idyll 11.7 bezeichnet der Sprecher den in Sizilien beheimateten Kyklopen Polyphem als seinen ‚Landsmann‘, ebenso in Idyll 28.16-18 eine Syrakusanerin, und das ‚autobiographische‘ 16. Idyll ist an Hieron II. von Syrakus gerichtet. 53 HUNTER, 1996, S. 117-119 (1996a, S. 150f.); WILLI, 2012, S. 280-288, insbesondere S. 280: „Like his women, Theocritus’ poems are ‚intruders‘ into a closed society, trying to blend in, but scorned and frowned upon because of their rough ways and their linguistic foreignness. But again like the Syracusan women, Theocritus’ poems ‚protest‘ […].“ Vorläufer dieser Interpretation finden sich bereits bei HORSTMANN, 1976, S. 114f.; GRIFFITHS, 1979, S. 84 und S. 109 sowie BURTON, 1995, S. 62. Eine Verteidigung seiner innovativen dichterischen Prinzipien gegen anonyme mythisierte Kritiker inszeniert auch Theokrits Dichterkollege Kallimachos in seinem Aitienprolog.

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4.2 Die Dimension von Crossing als „artful performance“ in Theokrits 15. Idyll Diese metaliterarische Deutung leitet zum zweiten Aspekt des Crossing über, der „artful performance“.54 Trotz der durch den Text erzeugten Illusion einer spontanen Interaktion der verschiedenen Sprecher erweist sich Theokrits Mimos als ein bis in die kleinsten Details durchkomponiertes Sprachkunstwerk, in dem der Dichter in die Rollen verschiedener Figuren schlüpft. In diesem Sinne stellt Theokrits Imitation verschiedener ‚fremder‘ weiblicher und männlicher Stimmen eine regelrechte künstlerische Performance dar. Leider können wir nicht mehr rekonstruieren, ob und in welcher Form seine Gedichte am Hof oder vor einem breiteren Publikum rezitiert oder sogar szenisch aufgeführt und auf welche Weise die verschiedenen Stimmen dabei voneinander abgegrenzt wurden.55 Die performative Dimension ist jedoch stellvertretend im Text selbst gespiegelt, sozusagen in einer artful performance innerhalb der artful performance, indem dieser den fiktiven Vortrag eines Adonis-Hymnos durch eine professionelle Sängerin inszeniert, der ‚wörtlich‘ zitiert (Verse 100-144) und vom internen Publikum kommentiert wird. Gorgo und Praxinoa zeigen sich beeindruckt von der Virtuosität der Performance (Verse 96-99 und 145f.). Doch letztlich stehen wir als externe Interpreten wieder vor demselben hermeneutischen Dilemma. Kritiker, die die Frauen als naiv und lächerlich einstufen, werten dementsprechend auch den Hymnos und das ganze Festival als geschmacklose Massenunterhaltung ab, was Theokrit durch eine Parodie entlarve.56 Dagegen wollen Interpreten, welche die Kommentare der Frauen als Mittel zur Rezeptionssteuerung ernst nehmen, in den subtilen intertextuellen Anspielungen auf Homer eine panegyrische Strategie des Hymnos und eine kongeniale Hommage an die Neuinterpretation des Adoniskults durch die Königin Arsinoe II. erkennen. Mit dieser

54 RAMPTON, 2009, S. 153 definiert die „artful performance“ nach Richard Bauman als „‚a specially marked way of speaking‘“; „performance involves ‚a special interpretive frame‘ in which speakers assume ‚responsibility for a display of communicative competence‘ and produce language designed for ‚enhancement of [the] experience‘ of their audience“ (EBD., S. 150). 55 Daher können nicht alle von RAMPTON, 2009, S. 154 nach Nikolas Coupland erwähnten Dimensionen von Performance an dem vorliegenden Textbeispiel untersucht werden. Vgl. jedoch Fn. 59. 56 So etwa LAMBERT, 2001, S. 97-100. Kritik an solchen Interpretationen üben BURTON, 1995, S. 118f., S. 134f. mit S. 229 Fn. 74f. und S. 146 mit S. 236 Fn. 130 sowie HUNTER, 1996, S. 123-125.

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habe sie sowohl mit der griechischen als auch der ägyptischen Bevölkerung Alexandrias kommuniziert und ihre Herrschaftsideologie ausgehandelt.57 Interessant ist jedoch auf jeden Fall, dass die Performance des Hymnos textintern in einen agonalen Rahmen eingebunden ist. Die Sängerin hatte schon im Jahr zuvor mit ihrem Klagelied den ersten Preis gewonnen (Vers 98: „ἅτις καὶ πέρυσιν τὸν ἰάλεµον ἀρίστευσε“), was möglicherweise auch Rückschlüsse auf eine analoge textexterne Aufführungssituation des Gedichts im Rahmen eines Anlasses am Hof oder eines Dichterwettbewerbs zulässt.58

5. S CHLUSSBETRACHTUNGEN Wie andere Deutungsversuche kann auch das Crossing-Modell letztlich keine eindeutigen Antworten auf die umstrittenen Fragen nach der Interpretation des ganzen Gedichtes in seinem historischen Entstehungskontext liefern. Aufgrund der Vielfalt der Stimmen dominiert weder die bottom-up noch die top-down Perspektive und kann das Sprachkunstwerk nicht als eindeutiger Beleg für Affirmation oder Subversion, für die Bestätigung oder das Aufbrechen von sozialen und politischen Hierarchien in Anspruch genommen werden. Innerhalb des Textes jedoch kann das Crossing-Modell den Blick für Theokrits virtuose Mimesis verbaler Interaktionen schärfen, die sich von einer rassistischen Herabwürdigung der Ägypter über die kurzen sozialen Wortwechsel mit der alten Frau und dem freundlichen Mann bis zu der agonalen Auseinandersetzung mit dem unhöfli-

57 Zu den Anspielungen auf Homer vgl. FOSTER, 2006; zur griechischen und ägyptischen Ideologie REED, 2000; zum ptolemäischen Kontext des Adoniskults vgl. auch BURTON, 1995, S. 133-154; HUNTER, 1996, S. 123-138 und DERS., 1996a, S. 158-166. 58 So GOW, 1952, Bd. 2, S. 292; zu einem möglichen höfischen Aufführungskontext von Idyll 15 vgl. auch WEBER, 1993, S. 170f. Vgl. RAMPTON, 2009, S. 154 nach COUPLAND, 2007, S. 148 insbesondere zu den Dimensionen „achievement focusing“ („‚Stakes‘ […] are involved, with potential for praise or censure for good performance.“) und „repertoire focusing“ („Innovative interpretation can be commended.“). Der nicht vollständig überlieferte Schluss von Theokrits 24. Idyll suggeriert eine Aufführung dieses Gedichts in einem Wettbewerbskontext (vgl. GOW, 1952, Bd. 2, S. 436). PAUSCH, 2011, insbesondere S. 28f., identifiziert eine vergleichbare „Spiegelung der Aufführungssituation der Dichtung im Text selbst“ anhand von Theokrits 14. Idyll, einem mimetischen Gedicht aus der Perspektive zweier Söldner, und gelangt ebenfalls zu einer metapoetischen Deutung.

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chen Griechen steigern. Diese entzündet sich bezeichnenderweise gerade an einer dialektalen Differenz und wirft anhand der Sprachform Fragen der Identität und des Status auf. Theokrit, selbst ein Immigrant, inszeniert somit im künstlerischen Medium der Dichtung soziale und politische Spannungen, die vermutlich die multikulturelle Gesellschaft Alexandrias auch im realen Leben prägten. Er transferiert diese aber in das künstlich-künstlerische Medium der Dichtung und hebt sie darin auf. Die verbalen Interaktionen werden damit ähnlich wie die Bildteppiche und der Hymnos zum selbstreflexiven Medium einer mise en abyme, das Theokrits ‚code-switching‘ zwischen verschiedenen Stil- und Gattungsebenen abbildet. Die hier vorgelegte Lektüre dieses experimentellen TheokritGedichts im Zeichen des Crossing stellt ihrerseits ein Experiment dar, das nun um eine breitere Basis (nicht nur) alexandrinischer Texte erweitert und gegengeprüft werden müsste.

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C ROSSING G ENRES & C ULTURES IN DER ALEXANDRINISCHEN L ITERATUR

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xandreia und das ptolemäische Ägypten. Kulturbegegnungen in hellenistischer Zeit, hg. von DEMS., Berlin 2010, S. 55-83. [2010b] WEINREICH, OTTO: Der griechische Liebesroman. Umgearbeiteter und erweiterter Neudruck des Nachworts zu der in der Bibliothek der Alten Welt des Artemis-Verlags Zürich und Stuttgart 1950 unter dem Titel ‚Die Abenteuer der schönen Chariklea‘ erschienenen, von Rudolf Reymer besorgten Übersetzung der Aithiopica Heliodors, Zürich 1962. WHITEHORNE, JOHN: Women’s Work in Theocritus, in: Hermes 123 (1995), S. 63-75. WILLI, ANDREAS: ‚We Speak Peloponnesian‘. Tradition and Linguistic Identity in Post-classical Sicilian Literature, in: Language and Linguistic Contact in Ancient Sicily, hg. von OLGA TRIBULATO, Cambridge 2012, S. 265-288. YOUNG, DAVID C.: Praxinoa’s Speech and the Text of Theocritus 15.15-17, in: Classical Philology 87 (1992), S. 134-137. ZANGENBERG, JÜRGEN K.: Fragile Vielfalt. Beobachtungen zur Sozialgeschichte Alexandrias in hellenistisch-römischer Zeit, in: Alexandria, hg. von TOBIAS GEORGES/FELIX ALBRECHT/REINHARD FELDMEIER, Tübingen 2013, S. 91107. ZANKER, GRAHAM: Realism in Alexandrian Poetry. A Literature and Its Audience, London 1987.

Crossing Genres in römischen Fachtexten Zu den Lehrdichtungen in den Agrarhandbüchern von Columella und Palladius M ARION G INDHART

1. E INLEITUNG In diesem Beitrag soll Ben Ramptons Crossing-Konzept1 an zwei Fallbeispielen aus dem Bereich der antiken römischen Fachliteratur erprobt werden: an agronomischen Prosahandbüchern, die Lehrgedichte als unabhängige und genuine Bestandteile enthalten. Diese spezielle Textkonstellation ist für Aspekte von crossing und stylization gerade deshalb interessant, da in einem Werk jeweils zwei didaktische Textsorten, die bei der Auswahl, Aufbereitung und Vermittlung von Wissen spezifische Unterschiede aufweisen, nebeneinander gestellt und in Relation wie auch in Spannung zueinander gesetzt werden. Es handelt sich hier also um eine andere Form literarischen crossings als z.B. bei dem von Annemarie Ambühl analysierten 15. Idyll Theokrits,2 wo diverse Kreuzungen literarischer und sprachlicher Modelle eine kunstvoll komponierte Kleindichtung bilden. Die beiden Beispiele, die vor allem in Hinblick auf die Inszenierung der Lehrdichtungen und ihrer Verfasser hin untersucht werden sollen, stammen aus der frühen und der späten Kaiserzeit. Zunächst wird das zeitlich jüngere „Opus agriculturae“ des spätantiken Schriftstellers Palladius (5. Jahrhundert n.Chr.) in

1

Vgl. exemplarisch RAMPTON, 1995 und DERS., 2009.

2

Vgl. den Beitrag von ANNEMARIE AMBÜHL in diesem Band.

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den Blick genommen.3 Das Werk besteht aus 14 übersichtlichen Büchern in Prosa, die als ‚Zugabe‘ von einem kurzen Lehrgedicht über die Pflanzenveredelung, dem „Carmen de insitione“, begleitet werden. Als zweites Beispiel folgt eine der Hauptquellen des Palladius, Columellas Schrift „De re rustica“ aus dem 1. nachchristlichen Jahrhundert.4 Von ihren zwölf Büchern sind elf in Prosa geschrieben, das 10. Buch ist als hexametrisches Lehrgedicht gestaltet. Thema dieses als „Carmen de cultu hortorum“ betitelten 10. Buches ist der Gartenbau. Der jeweils in Versen vermittelte Stoff – die Veredelung mittels Pfropfung bzw. Okulation und der Gartenbau – wird in beiden Werken auch in Prosa behandelt: bei Palladius vor der Dichtung, unter anderem in Buch 3 als eigenes technisches Kapitel, bei Columella danach, im dritten Kapitel des Folgebuchs 11. In beiden Fällen wird somit ein und dasselbe Thema von einem Autor sowohl in Vers als auch in Prosa dargestellt. Dieser Befund ist bekannt; gleichwohl steht ein systematischer Vergleich der Fassungen mit ihren spezifischen Strategien der Stoffauswahl und der Wissensvermittlung bislang noch aus. Den Lehrgedichten beider Autoren sind Prosavorreden als Paratexte vorgeschaltet, die in Interaktion mit den (expliziten wie impliziten) Adressaten die folgenden Dichtungen als crossing im Sinne einer – von Bescheidenheitstopik überlagerten – kunstvollen literarischen Performanz inszenieren: Der ProsaAutor wechselt in die persona eines Lehrdichters und somit in die distinguierte Gruppe der Poeten. Durch dieses – paratextuell deutlich markierte – Eindringen in ‚fremdes‘ literarisches Terrain eröffnet der Autor einen zweifachen Wettstreit und zwar (1) zwischen seinem ‚Alltagsgeschäft‘ Fachbuchprosa und der literarisch höher stehenden ‚Sonderbetätigung‘ Lehrdichtung und (2) zwischen der Lehrdichtung und deren einflussreichen Vorläufern, mit denen sie sich als autoritativen Mustern misst und die sie zu überbieten sucht. Diesen agonalen Prozessen, die zu bemerkenswerten literarischen Ergebnissen führen, soll im Folgenden nachgegangen werden. Vorausgeschickt werden zunächst einige Überlegungen zur Textsorte des Lehrgedichts, das sich durch eine bisweilen als problematisch empfundene Kreuzung von Dichtung (carmen) und Lehre (res) sowie durch eine evolutionäre Dynamik auszeichnet, die sich einer starren Gattungstypologie entzieht.

3

Zur Einführung: DIEDERICH, 2007, S. 69-76, S. 258-270 und S. 395-399; BRODERSEN,

4

2016, S. 9-34 mit Blick auch auf die Rezeptionsgeschichte des Werkes.

Zur Einführung: REITZ, 2006, S. 121-128; DIEDERICH, 2007, S. 53-68, S. 209-258 und S. 368-395; FÖGEN, 2009, S. 152-200 mit Literatur; eine Bibliographie zu antiken Fachtexten und Fachsprachen EBD., S. 296-303.

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2. D AS L EHRGEDICHT

ALS

„P ROBLEM

DER

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P OETIK “

Das Lehrgedicht, das mit Hesiod im späten 8. Jahrhundert v.Chr. seinen Anfang nimmt und so mit den Epen Homers am Beginn der griechischen Literatur steht, erscheint in einem Sammelband von Hans Robert Jauß als „Grenzphänomen des Ästhetischen“ und wird dort von Bernhard Fabian in diachroner Perspektive als „Problem der Poetik“ behandelt.5 Tatsächlich mag das Format Lehrgedicht den modernen Rezipienten auf den ersten Blick irritieren, offenbart sich in ihm doch ein gewisses Spannungsverhältnis zwischen Form und Inhalt: Das Lehrgedicht vermittelt Wissen, tut dies allerdings anders als sachorientierte Prosatexte mit den Mitteln der gebundenen Sprache. Die dichterische Form mit all ihren Implikationen mag damit einerseits als ein der Fachprosa gegenüber unangemessenes Medium anmuten, weil sie sich nicht auf stringente Argumentation und Faktenvermittlung beschränkt. Andererseits mag das Lehrgedicht als Dichtung zu sehr von einer didaktischen Fokussierung auf den Stoff dominiert sein, dessen systematische Vermittlung eine bestimmte Struktur, Darstellungsweise und auch Inszenierung der Lehrinstanz vorgibt und daher eine volle Entfaltung des Poetischen einschränken könnte.6 So sieht etwa Goethe in seiner kurzen Betrachtung „Ueber das Lehrgedicht“ (1827) die „diaktische oder schulmeisterliche Poesie als Mittelgeschöpf zwischen Poesie und Rhetorik, deßhalben sie sich denn bald der einen bald der andern nähert, auch mehr oder weniger dichterischen Werth haben kann“.7 Gerade aus der Spannung zwischen Form und Stoff resultiert jedoch das Potential des Lehrgedichts als wissensvermittelndes Format, das sich durch poetischen Anspruch und didaktische Effizienz, durch ein ausgeprägtes literarisches Gruppenbewusstsein sowie eine lange Gattungsgeschichte auszeichnet. In der Antike wurde das Lehrgedicht je nach poetologischem System ganz unterschiedlich kategorisiert: Aufgrund ihres a-mimetischen, nicht-fiktionalen Charakters spricht Aristoteles in seiner „Poetik“ der Lehrdichtung die Zugehörigkeit zur Dichtung ab,8 sie wird bei ihm regelrecht zu einem „Musterfall einer unpoeti-

5

FABIAN, 1968.

6

Vgl. EFFE, 1977, S. 9.

7

GOETHE, 1999, S. 317. Dabei würdigt Goethe durchaus die anspruchsvolle Leistung, ein „Werk aus Wissen und Einbildungskraft“ zu schaffen (EBD., S. 318).

8

Vgl. etwa ARISTOTELES, „Poetik“ 1447b 17-20: „Nichts aber haben Homer und Empedokles gemeinsam außer dem Versmaß, weswegen man zu Recht den einen Dichter (ποιητής) nennt, den anderen aber besser Naturforscher (φυσιολόγος) als Dichter.“ Dieser rein inhaltlich begründeten Scheidung widerspricht nicht, dass Aristoteles die

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schen Gattung“.9 Demgegenüber weist die von Aristoteles kritisierte und nicht am Inhalt, sondern am Metrum orientierte sophistische Poetik das Lehrgedicht zusammen mit der Epik der Dichtung in daktylischen Hexametern zu – dem Versmaß also, in dem die Lehrdichtung bis in die frühe Kaiserzeit ausschließlich verfasst wurde.10 Diese Zuordnung finden wir später auch bei römischen Autoren, etwa bei Cicero und Quintilian, welche die an das Epos angelegten Maßstäbe auf das Lehrgedicht übertragen.11 Bei der poetologischen Bewertung der Lehrdichtung herrscht somit eine denkbar große Divergenz, je nachdem, ob die Dichtungstheorie inhaltlich oder formal ausgerichtet ist. Wahrscheinlich führte die große Beliebtheit der Lehrdichtung in hellenistischer Zeit in der Schule des Aristoteles zu einer Revision des Dichtungsbegriffes. Der „Tractatus Coislinianus“ zumindest bezeugt die Kategorie einer amimetischen Dichtung, in der das Lehrgedicht seiner Funktion entsprechend der „erziehenden Dichtung“ zugewiesen wird.12 Ein eigener Terminus ist erst in der Spätantike belegt,13 wo dann auch einige wenige Gattungsspezifika benannt werden wie die dominante Autor-persona,14 die Apostrophierung einer ansonsten stummen Schüler- und/oder Gönnerfigur15 oder – implizit – die Natur als vornehmlicher Gegenstand.16

Dichtkunst des Empedokles schätzt und ihn als Ὁµηρικός sogar in die Nähe Homers rückt („De poetis“ Fr. 1 ed. Ross). 9

Vgl. PÖHLMANN, 1973, S. 816-818, das Zitat S. 816; s. auch FABIAN, 1968, S. 68-70; EFFE, 1977, S. 19f.

10 Vgl. PÖHLMANN, 1973, S. 816 und S. 820; FUHRER, 2008, Sp. 1035. 11 Z.B. QUINTILIAN, „Institutio oratoria“ 10,1,55 über Arat oder CICERO, „Ad Quintum fratrem“ 2,10,3 über die Qualität der lukrezischen Dichtung; dazu PÖHLMANN, 1973, S. 821-825. 12 Comicorum Graecorum Fragmenta ed. Kaibel 1,1,50; vgl. FABIAN, 1968, S. 71. 13 Die „Ars grammatica“ des Diomedes rekurriert im Kapitel „De poematibus“ auf die platonische Dreiteilung der Dichtung und führt die Lehrdichtung unter der „species διδασκαλική“ (Grammatici Latini ed. Keil 1,483,1). Vgl. PÖHLMANN, 1973, S. 828-831, der die These vertritt, dass Diomedes hierbei auf eine bereits hellenistische, von der römischen Literaturkritik rezipierte Theorie zurückgreift. Zur Wirkungsgeschichte des Diomedes vgl. FABIAN, 1968, S. 72. 14 DIOMEDES, „Ars grammatica“ (Grammatici Latini ed. Keil 1,482,20-23). 15 SERVIUS, „Praefatio in Vergilii Georgica“ (129,9-12 ed. Thilo). 16 DIOMEDES, „Ars grammatica“ (Grammatici Latini ed. Keil 1,483,1-3).

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3. V ON

DER

G ATTUNG

ZUR

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L ITERARISCHEN R EIHE

In der modernen Forschung gab es immer wieder Versuche, das antike Lehrgedicht als Gattung bzw. Texttyp systematisierend in den Griff zu bekommen. Dies erfolgte zum einen phänomenologisch über die Festschreibung bestimmter Charakteristika im Sinne einer impliziten Gattungspoetik,17 zum anderen – wie im Modell von Bernd Effe18 – über die Festlegung einer idealtypischen Ordnung mit drei Grundformen, die von der Intention des Autors abhängig sind: sachbezogen, formal und transparent. Neben der Gefahr des intentionalen Trugschlusses hat Effes typologischer Ansatz jedoch mit selbstgeschaffenen Ausnahmen, Mischoder Sonderformen zu kämpfen. Und auch wenn man das Modell als „Koordinatensystem“ betrachtet,19 kann je nach Interpretation der Texte deren Positionierung im Raster stark variieren. Bei einer Gattungsdefinition qua Kriterienkatalog laufen je nach Auswahl und Kanonisierung der Charakteristika Werke bzw. ganze Werkgruppen Gefahr, aus dem Kreis der Lehrdichtungen ausgeschlossen zu werden. Zudem gelingt es nicht, die spezifische Dynamik der Lehrdichtung und ihrer Freiheiten zu fassen. Die historische Variabilität der Lehrdichtung verweigert sich dem systematisierenden Zugriff einer normativen Gattungstheorie. Zielführender scheint es daher, die Lehrgedichte als Bestandteile einer Literarischen Reihe zu betrachten,20 in die sie sich einordnen und die sie in einer sich selbst fortschreibenden Bezugnahme bilden – etwa durch verbindende, aber durchaus variable Merkmalsbündel oder andere intertextuelle Bezüge.21 Mit dem Blick auf die Lehrdichtung als Literarische Reihe beschreibt man ihre „literarische Evolution“ (Jurij Tynjanov), aber diese eben nicht im Sinne einer chronolo-

17 Z.B. bei PÖHLMANN, 1973; VOLK, 2002. 18 Vgl. EFFE, 1977 und apologetisch DERS., 2005. 19 DERS., 2005, S. 27. 20 Begriff und Konzeption der Literarischen Reihe gehen auf den Russischen Formalismus zurück; der Schlüsseltext („Über die literarische Evolution“) stammt von Jurij Tynjanov (TYNJANOV, 1927/1971). In der westlichen Philologie setzte die Rezeption der Russischen Formalisten erst mit den 1970er Jahren ein. Das Modell der Literarischen Reihe stieß jedoch – abgesehen von ihrer Rolle für die Begründung der Rezeptionsästhetik – auf relativ wenig Resonanz (vgl. FLEISCHER, 2000). In neuester Zeit wurde es allerdings in der Altgermanistik gewinnbringend eingesetzt, so wiederholt von Klaus Grubmüller bezüglich der Frage nach Gattungskonstitution im Mittelalter, vgl. exemplarisch GRUBMÜLLER, 2006, S. 11-16. 21 Zu solchen typischen, aber nicht in ihrer Gesamtheit obligatorischen Merkmalen vgl. FUHRER, 2008, Sp. 1040-1043.

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gischen Gattungsreihe mit einer strikt linearen Entwicklung. Vielmehr eruiert man diverse Verknüpfungen, die als reihenbildende Kräfte das Werk mit anderen (vorgängigen und auch nachfolgenden) Exemplaren der Reihe offen oder verdeckt verbinden, und man erfasst damit eben auch Freiheiten und Leerstellen und somit Anpassungen, Veränderungen und ‚Ausbruchsversuche‘, die dann freilich als Beispiele für den Normalfall historischer Abläufe anzusehen sind. Für die antike wie die mittelalterliche Literatur ist eine Orientierung an literarischen Vorbildern konstitutiv; ein Rückgriff auf das Modell der Literarischen Reihe erscheint aus gattungspoetischer Perspektive nur konsequent. So können Dynamik und Variabilität der Lehrdichtung auf der Folie ihres ausgeprägten und durchaus auch agonalen literarischen Gruppenbewusstseins (imitatio und aemulatio) vergegenwärtigt werden. Und man kann einem Lehrgedicht wie dem des Columella gerecht werden, zumal wenn man es zusätzlich in die Reihe der zeitgenössischen, ‚neronischen‘ Literatur einordnet22 und es dementsprechend als Kreuzungsphänomen betrachtet.

4. P ALLADIUS ’ „O PUS AGRICULTURAE “ POETISCHE V EREDELUNG

UND SEINE

Das Agrarhandbuch des Rutilius Taurus Aemilianus Palladius ist in die Spätantike, sehr wahrscheinlich in das 5. Jahrhundert n.Chr. zu datieren.23 Trotz des Umfangs von 14 Prosabüchern ist es ein relativ kompaktes Kompendium, welches das bereits existente, umfangreiche agronomische Material (vor allem Co-

22 Zur „Literatur im Zeitalter Neros“ vgl. die gleichnamige Einführung von REITZ, 2006; zu den Limitationen, denen eine umfassende, kritische Annäherung an die neronische Literatur und ihre Kontexte ausgesetzt ist, vgl. MAES, 2013. Bei aller Vorsicht gegenüber einer Kategorie ‚neronische Literatur‘ lassen sich jedoch, so DINTER, 2013, S. 6-12, bei zentralen Autoren der Zeit (Seneca, Lucan, Petron) Übereinstimmungen und Vorlieben für gewisse Motive und ihre literarische (hyperrealistische wie hyperbolisch-drastische) Ausgestaltung mit einem Faible für eine „Ästhetik der Verkehrung“ (CASTAGNA/VOGT-SPIRA, 2002) feststellen, die man als ‚neronisch‘ bezeichnen könnte, sowie eine ausgeprägte agonale Dynamik mit einem programmatischen Streben nach rhetorisierter Neu- und Über-Schreibung vorgängiger Literatur(modelle). Vgl. dazu auch MAES, 2013, S. 311-325. 23 Zur Datierung DIEDERICH, 2007, S. 69; BRODERSEN, 2016, S. 11.

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lumellas Handbuch)24 in gekürzter und vereinfachter Form und mit aktuellem Praxisbezug handlich und luzide gegliedert präsentiert. Das Werk hat einen programmatisch schlichten Stil, angeblich um frei von rhetorischer Kunst (was so freilich nicht der Fall ist) den einfachen Bauern zu erreichen.25 Auch dies ist wohl schwerlich der Fall, bedenkt man die Kaufkraft und Lesefähigkeit der freien Kleinbauern im 5. Jahrhundert.26 Vielmehr dürfte sich das Werk in erster Linie an senatorische Grundbesitzer als eigentliche Adressaten wenden.27 Die vorgebliche „pura rusticitas“ des „opus agricolare“28 ist hierbei, wie Silke Diederich betont,29 ein Hinweis auf die seit Cato dem Älteren („De agri cultura“, ca. 150 v.Chr.) zum Topos gewordene moralische Reinheit des Landlebens sowie des darüber schreibenden Autors, dessen Werk und Stil seine Integrität spiegeln.30 Das „Opus agriculturae“ schlägt als letzter agronomischer Traktat der Antike somit einen großen Bogen zurück in die römische Republik und an die Anfänge der Agrarschriftstellerei.31

24 BRODERSEN, 2016, S. 12f. verweist neben den agronomischen Quellen auch auf die Architekturschrift des M. Cetius Faventinus, die Palladius für Fragen des Bauwesens beizieht. 25 PALLAD. 1,1,1: „Neque enim formator agricolae debet artibus et eloquentiae rhetoris aemulari, quod a plerisque factum est, qui dum diserte locuntur rusticis adsecuti sunt ut eorum doctrina nec a disertissimis possit intellegi.“ („Ein Ausbilder eines Bauern darf nämlich nicht der Kunstfertigkeit und der Beredsamkeit eines Redelehrers nacheifern, was von gar manchen praktiziert wurde. Indem diese sich für Bauern eloquent ausdrücken, haben sie erreicht, dass selbst die Eloquentesten ihre Anweisungen nicht verstehen können.“). Eben diese Einschätzung teilt Cassiodor in Bezug auf Columella: „Columella […] per diversas agriculturae species eloquens ac facundus illabitur, disertis potius quam imperitis accomodus“ (CASSIODOR, „Institutiones divinarum et humanarum litterarum“ 1,28,6). 26 Vgl. DIEDERICH, 2007, S. 261. 27 EBD., S. 396. Der vir illustris Palladius hatte selbst Besitzungen in der Nähe von Rom und auf Sardinien, vgl. EBD., S. 69 mit Belegen aus dem „Opus agriculturae“. 28 Vgl. PALLAD. 15,3-6. 29 DIEDERICH, 2005, S. 284. Eine Kontextualisierung des antirhetorischen Programms und eine Stilanalyse des „Opus agriculturae“ bei DERS., 2007, S. 259-264. 30 Zum literaturtheoretischen Gemeinplatz talis oratio qualis vita vgl. MÖLLER, 2000 und DIES., 2004. 31 Vgl. auch PALLAD. 15,35f.: „Incipiam: quidquid veteres scripsere coloni / sacraque priscorum verba labore sequar.“ („Ich will also beginnen: Allem, worüber die alten

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Das erste Buch enthält eine allgemeine Einführung in den Komplex Landwirtschaft sowie eine Sammlung von Einzelvorschriften, etwa zur Anlage eines Taubenschlages oder zur richtigen Ortswahl für einen Garten oder für Bienenstöcke. Die Bücher 2-13 folgen dem Aufbau eines sogenannten Bauernkalenders: Beginnend mit dem Monat Januar ist jedes Buch den Arbeiten eines Monats gewidmet und führt diese nach Sparten getrennt auf. Buch 14 besteht aus einer eigenen Abhandlung über Veterinärmedizin und ist als praktisches Nachschlagewerk nach einzelnen Tierarten gegliedert. Abgeschlossen wird das Werk durch das bereits erwähnte „Carmen de insitione“.32 Dieses ist eine recht kleine Dichtung, 170 Verse bzw. 85 elegische Distichen lang. Die Wahl des Versmaßes (der Hexameter war bis zu Ovids crossing von Lehrdichtung und Elegie, etwa in der „Ars amatoria“, kanonisch) ist nicht ungewöhnlich für die Spätantike, wo sich im Bereich der Lehrdichtung ganz unterschiedliche Metren finden.33 Das „Carmen“ wird durch eine Prosavorrede eingeführt, die über Gehalt und Form der Dichtung reflektiert und sie in Beziehung zum Lehrbuch, zum Stoff und zu einem expliziten Adressaten setzt. Das Thema der Lehrdichtung ist bezeichnenderweise die Veredelung von Reben und Gehölzen, die durch die Technik des Pfropfens bzw. Okulierens, also des Applizierens eines Edelreises oder Edelauges auf eine geeignete Unterlage, erfolgt. Diese Veredelungstechniken und ihre Ergebnisse – etwa eine qualitativ oder auch ästhetisch höherwertige Pflanze oder ein Mehrfruchtbaum – sind als metapoetische Bilder für das Phänomen crossing geradezu prädestiniert: ‚Aufgepfropft‘ auf die 14 Prosabücher veredelt die kleine Dichtung als zweite bzw. andere Stimme des Autors die ‚Un-

Bauern schrieben, und den ehrwürdigen Worten der Vorfahren werde ich mich zu folgen bemühen.“). 32 Zum „Carmen de insitione“ vgl. FORMISANO, 2005 und DIEDERICH, 2007, S. 264270. 33 So etwa in den Lehrdichtungen des Terentianus Maurus. In „De metris“ werden zunächst die Versfüße in trochäischen Tetrametern und Sotadeen abgehandelt, im Anschluss dann diverse Metren im jeweiligen Versmaß. In Hinblick auf das „Carmen de insitione“ vermerkt DIEDERICH, 2007, S. 267f., dass die Verwendung der Distichen stimmiger für die kurze Dichtung sei als der heroische Hexameter der Großformen. Zudem, so Diederich, passten die elegischen Distichen als Metrum der Liebeselegie insofern zum verhandelten Thema, als für den Akt der Veredelung mehrfach das Bild der Liebesvereinigung aufgerufen werde.

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terlage‘ Handbuch und tritt mit den vorausgegangenen Prosapassagen zum Thema34 in Wettstreit wie in Symbiose. In der Prosavorrede, die das Gedicht begleitet, wird dieses ganz im Rahmen der Bescheidenheitstopik als ephemere Spielerei abgetan und als Verzugszins deklariert. Mit ihm möchte die Autor-persona einen „vir doctissimus“ namens Pasiphilus dafür entschädigen, dass er aufgrund der langsamen Arbeit des Schreibers unerträglich lange auf seine Kopie des Handbuchs warten musste. Da dieser die als „wertlose Worte“ („vilia dicta“) heruntergespielten Prosabücher schon kenne und schätze, erhofft sich nun die zum Dichter ‚veredelte‘ Autorinstanz auch Beifall für ihr Gedicht: Nunc ideo modicum crescens fiducia carmen obtulit arbitrio laetificanda tuo. (PALLAD. 15,9f.) („Und daher hat nun mein wachsendes Selbstvertrauen, das durch Dein Urteil ‚gedüngt‘ gedeihen soll, ein bescheidenes Gedicht mit sich gebracht.“)

Dieses „bescheidene Gedicht“ besitzt jedoch durchaus den Anspruch, das Ländliche und die Landwirtschaft (rusticitas) in städtisch-eleganter Weise zu vermitteln. Inhalt und Form stehen mithin in einem gewissen Spannungsverhältnis: Est nostrae studium non condemnabile Musae urbanum fari rusticitatis opus. (PALLAD. 15,11f.) („Es ist das nicht verwerfliche Bestreben unserer Muse, ein ‚städtisches‘ [d.h. elegantes] Werk über Ländliches zu künden.“)

Durch dieses switching als Hinwendung zur Verskunst soll also die rusticitas als Stoff und die rusticitas des Stoffes eine gewisse urbanitas erhalten. Dies gelingt Palladius, indem er den Veredelungsarten, die zuvor bereits ‚prosaisch‘ mit technischen Details behandelt wurden, nun eine ganz andere, eben eine der Literarischen Reihe ‚Lehrgedicht‘ mit ihren Spezifika entsprechende Würdigung zukommen lässt: In getragenem Ton feiert er die Bedeutung der Pflanzenverede-

34 PALLAD. 3,17 „De insitionibus“ etwa ist ein relativ umfangreiches Kapitel zu den Veredelungstechniken, die in den Versen 15,37-44 aufgegriffen werden; daneben werden Pfropfen und Okulation mehrfach für einzelne Pflanzen in verschiedenen Monaten beschrieben, etwa in 4,1 (Weinstock); 5,2 (Olivenbaum); 2,15; 3,25; 4,10; 5,4; 6,6; 7,5; 8,3; 9,6; 10,14; 11,12; 12,7 (diverse andere Obstbäume). Ähnlich folgt im Gedicht auf einen kurzen Passus zur Veredelung von Weinstöcken und Olivenbäumen (15,45-54) eine lange Reihe von Obstbäumen (15,55-164).

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lung als Kulturtechnik von göttlich-schöpferischer Dimension.35 Er anthropomorphisiert die Pflanzen, indem er die Applikation als Akt der Hochzeit, der Gastfreundschaft oder auch der Adoption36 inszeniert, sodass der Leser auf einer Gefühls- wie auch Identifikationsebene für den Stoff gewonnen werden kann. Durch die Verwendung zahlreicher schmückender Beiwörter, durch mythologische Anspielungen und gutgefügte Verse37 wird der Stoff auf eine epische Sprach- und Stilebene gehoben und dadurch mit besonderer Bedeutung aufgeladen. Gleichzeitig werden die unüberbietbaren, ‚auswuchernden‘ Ausdrucksformen Columellas (s.u.) von Palladius deutlich ‚zurückgeschnitten‘. Der Epilog reflektiert in Rekurs auf Vergils „Bucolica“ (und in Relativierung des zu Beginn formulierten urbanitas-Anspruchs der Dichtung) über die dem Stoff angemessene Form sowie das Verhältnis von Dichter und Stoff.38 Das Gedicht fügt sich so in seiner etwas zurückhaltenderen Poetik gut in den Duktus des Gesamtwerks.39 Die folgende Passage mag dies exemplifizieren. Beim Pfropfen geht es darum, sub thalami specie felices iungere siluas, ut suboli mixtus crescat utrimque decor,

35 PALLAD. 15,21-26. 36 Z.B. PALLAD. 15,13-20. 37 Vgl. die metrische Analyse von DI LORENZO, 2001. 38 PALLAD. 15,167-170: „Haec sat erit tenuem uersu memorasse poetam / quem iuuat effossi terga mouere soli. / carmina tu duros inter formata bidentes / aspera sed miti rusticitate leges.“ („Es wird genügen, dass dies im Vers der schlichte Dichter erzählt hat, der gerne die Oberfläche der umgegrabenen Erde beackert. Du sollst das Gedicht, das gestaltet wurde zwischen den harten, zweizinkigen Karsten und das rau, aber von gelinder Ländlichkeit ist, lesen.“). Der poeta schreibt sich hier also in die Welt ein, über die er dichtet, und zwar als Bauer, der das Land bearbeitet und aus dieser Arbeit heraus (und von ihr inspiriert) den Stoff angemessen literarisch formen kann. Diese poetische Stilisierung hat Tradition: Am Ende der „Bucolica“, in der 10. Ekloge, inszeniert Vergil die Dichterfigur als Hirten, der ein Eibischkörbchen flicht („Haec sat erit, divae, vestrum cecinisse poetam, / dum sedet et gracili fiscellam texit hibisco.“ 10,70f.; man beachte die deutlichen intertextuellen Verweise des Palladius auf die Stelle). So bleibt das decorum gewahrt, Stoff und Dichtung bilden eine Einheit. Die Dichterinstanz im „Carmen de insitione“ ist ein „poeta tenuis“, der ein „carmen modicum“ verfasst; gleichwohl ein gelehrtes Gedicht, das zwar rau ist, aber immerhin über eine „rusticitas mitis“ verfügt. Vgl. dazu auch FORMISANO, 2005, S. 303. 39 So auch die Einschätzung von DIEDERICH, 2007, S. 269.

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connexumque nemus uestire adfinibus umbris et gemina partum nobilitare coma, foederibus blandis dulces confundere sucos et laeta duplicis fruge saporis ali. (PALLAD. 15,13-18; Hervorhebungen der Autorin) („wie in einer Ehe fruchtbringende Bäume zu verbinden, damit dem Nachwuchs von beiden Seiten vereinte Schönheit [mixtus decor] erwächst, eine zusammengefügte Baumpflanzung mit durch Heirat anverwandtem Blattwerk zu bekleiden [vestire] und den Abkömmling mit doppeltem Laub zu veredeln [nobilitare], in zärtlicher Vereinigung fruchtbare Säfte zu mischen und sich mit üppiger Frucht von zweifachem Geschmack zu beleben.“)

Hochpoetisch wird in dieser Passage die Vereinigung von Unterlage und Edelreis umschrieben, die das jeweils Beste von sich in eine neue, fruchtbare Verbindung einbringen. Zugleich geht diese plastische Schilderung aber auch über das eigentliche Thema hinaus und lässt unter der Sachoberfläche die Reflexion über das eigene Werk durchscheinen, eben die kunstvolle Veredelung des Prosawerkes durch die applizierte Dichtung, die durch die Applikation selbst Teil eines neu geschaffenen Artefaktes wird. Es ist sicherlich nicht überinterpretiert, die hervorgehobenen Begriffe mixtus decor, vestire („schmückend einkleiden“), nobilitare metapoetisch zu lesen, zumal eine derartige Autoreferentialität wenige Verse später explizit gemacht wird:40 Cur non arbor inops pinguescat ab hospite gemma et decus externi floris adepta micet? Incipiam. […] (PALLAD. 15,33-35) („Warum sollte nicht ein dürrer Baum stärker werden durch ein aufgenommenes Edelauge und warum sollte er nicht erstrahlen mit der Zier fremder Blüten? Ich will also beginnen.“)

Das eigentliche Sachthema setzt ab Vers 37 mit einer kurzen Charakterisierung der drei Veredelungsarten ein, die bereits in den Prosakapiteln detailliert behandelt wurden. Danach folgt bis zum Epilog ein über 120 Verse umfassender Katalog von Pflanzen, den (theoretischen) Kombinationsmöglichkeiten und den bemerkenswerten Ergebnissen der Veredelung.41 Für seine Lehrdichtung hat Palladius einen ‚sperrigen‘ Stoff gewählt. Geleitet haben dürfte ihn – neben der dichterischen Herausforderung und dem damit

40 Vgl. auch die Inszenierung der Veredelung als zweiten Schöpfungsakt der menschlichen ars (PALLAD. 15,25f.). 41 S. Fn. 34.

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verbundenen Renommee – sicherlich das skizzierte metaphorische Potential des Themas Veredelung, das im „Carmen“ (anders als in den auf technische Details und Anweisungen fokussierten Prosapassagen) ausgeschöpft und auch in der Folgezeit immer wieder metapoetisch genutzt werden wird.42 Seine durchaus gekonnte Umsetzung in Verse wird zumindest in der neueren Forschung gewürdigt, die zugleich darauf verweist, dass Palladius mit der artifiziellen Lehrdichtung seine elitäre peer group, den Landadel, bedient und sich mit dieser von den einfachen Bauern absetzt.43 So äußert sich Marco Formisano: „Diese Verse sollen nicht den Bauern belehren, wie er mit den verschiedenen Pflanzarten beim Pfropfen umzugehen hat, sondern vielmehr den Gelehrten mit Hilfe mythischer Epitheta und erudierter Hinweise unterhalten.“44 Etwas anders fiel die Beurteilung noch Ende der 1970er Jahre bei Bernd Effe aus, der Palladius wie Columella, eine seiner Hauptquellen und -modelle, gleichermaßen als Dichter kritisiert: „Der dilettierende Dichter vermag hier ebensowenig den Fachschriftsteller zu verleugnen, wie das im Gartenbaugedicht des Columella der Fall ist.“45

5. C OLUMELLAS „C ARMEN

DE CULTU HORTORUM “

Lucius Iunius Moderatus Columella hatte vier Jahrhunderte vor Palladius, wohl zwischen 60/61 und 65 n.Chr.,46 erstmals – soweit bekannt – ein Prosalehrbuch mit einem selbständigen Lehrgedicht verbunden. Sein 436 Hexameter umfassendes „Carmen de cultu hortorum“ nimmt das 10. Buch in „De re rustica“ ein.47 Die Dichtung findet sich also nicht wie bei Palladius am Ende des Werkes (auch

42 Vgl. WINKELMANN, 1975 zu Gottfrieds von Straßburg literarischem Exkurs im „Tristan“ und zu Geoffrois de Vinsauf „Poetria nova“; RÖDER, 2013, S. 258-262 zu du Bellays imitatio-Theorie. Für die Hinweise danke ich Joachim Hamm, Würzburg. 43 Vgl. dazu PALLAD. 1,1,1 (Anm. 25) mit dem (stilisierten) Hinweis, dass die Anweisungen sprachlich möglichst einfach gehalten sein sollten, damit sie die Bauern verstehen. 44 FORMISANO, 2005, S. 303. 45 EFFE, 1977, S. 105. 46 Zur Datierung s. DIEDERICH, 2007, 54. 47 Zum „Carmen“ ausführlich DIEDERICH, 2007, S. 227-258; vgl. auch FÖGEN, 2009, S. 182-185 mit Literaturüberblick (S. 182 Fn. 94), darunter wichtig GOWERS, 2000 u.a. mit konzisen Beobachtungen zum vergilischen Prätext („Georgica“ 4,116-148). Eine kritische Edition mit Einleitung, italienischer Übersetzung und Kommentar gibt BOLDRER, 1996.

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wenn dies eventuell der ursprüngliche Plan war),48 sondern ihr folgen noch zwei weitere Bücher. Buch 11 gibt dabei in einem ausführlichen dritten Kapitel Anweisungen an den Verwalter zum Gartenbau in Prosa (11,3,1-65). Man kann also – wenn auch nicht im Rahmen dieses Beitrages – en detail verfolgen, was Dichtung und Prosa jeweils aus demselben Thema machen, wie sich die Texte in der Auswahl des Stoffes, in seiner Disposition, in Schwerpunktsetzungen, Reduktionen und Ausweitungen sowie in ihrer Faktur, ihren Vermittlungsverfahren und -interessen sozusagen über Kreuz gegenseitig ergänzen bzw. voneinander absetzen. Beide Bücher werden durch Prosavorworte eingeleitet, welche Inhalt und Genese der folgenden Ausführungen erläutern und legitimieren. Zunehmend launig und nach allen Regeln der Bescheidenheitstopik inszeniert Columella (respektive die Autorinstanz) in der Praefatio zu Gedichtbuch 10 nun einen Rollentausch vom gestandenen Prosaautor zum (vorgeblichen) Dichternovizen: Diese Metamorphose sei ihm quasi von außen aufoktroyiert worden, von Publius Silvinus, dem Adressaten des Gesamtwerkes.49 Er habe sich auf dieses Wagnis eingelassen, da zum einen der von den veteres agricolae wie auch von der Literatur vernachlässigte Gartenbau mittlerweile aus ökonomischen Gründen von größter Relevanz sei und er dieses Thema trotz seiner ‚Unansehnlichkeit‘ ohnehin in Prosa darstellen wollte.50 Zum anderen habe der große Vergil, der in seiner Lehrdichtung über den Landbau, den „Georgica“, den Gartenbau aussparen musste, dessen dichterische Behandlung selbst ausdrücklich der dazu berufenen Nachwelt überantwortet.51 Dadurch ermuntert werde er ebendiese Lücke nun also zu füllen versuchen und – so könnte man ergänzen – die Literarische Reihe ‚Lehrdichtung‘ im Auftrag Vergils weiterschreiben. Die Praefatio dreht sich somit einerseits um die Legitimierung der Themenwahl (das Thema ist relevant

48 COLUM. 11,1,2. 49 Vgl. auch EBD. Am Ende von Buch 9 (9,16,2) wird neben Silvinus als Anreger für das Gartenbaugedicht Gallio genannt, bei dem es sich um den älteren Bruder Senecas d.J. handeln könnte (zu Gallio vgl. FÖGEN, 2009, S. 154f.). Wie die beiden Brüder stammt auch Columella aus Spanien. Er besaß Ländereien in der Umgebung Roms und brachte auch eigene agronomische Kenntnisse in sein Lehrwerk ein (vgl. z.B. DIEDERICH, 2007, S. 54-56 und S. 61-63). Zu Silvinus als stilisiertem paradigmatischen Leser vgl. FÖGEN, 2009, S. 185-189. 50 COLUM. 10, praef. 1-4. 51 COLUM. 10, praef. 3f.; vgl. VERGIL, „Georgica“ 4,147f. Zum „Neoaugusteertum“ in der neronischen Zeit vgl. REITZ, 2006, S. 17; MAES, 2013, S. 309-311.

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und wurde bisher vernachlässigt) und andererseits um die Legitimierung ihrer aus dem Rahmen des Werkes fallenden poetischen Formung. Diese Grenzüberschreitung wird quasi mit dem Publikum ausgehandelt, und die Praefatio beantwortet dabei exakt die Fragen, die sich nach Rampton bei einem derartigen code- oder role-switching seitens der Adressaten stellen:52 Was passiert, warum passiert dies und warum gerade an dieser Stelle? Und was genau ist das, was passiert, also: Wie ist das unerwartete, hier: poetische Produkt einzuordnen? Rampton fügt diesen Fragen noch eine weitere hinzu: „What next?“. Diese beantwortet die Prosavorrede zum 11. Buch: Ein gewisser Claudius Augustalis habe den Verfasser – auf Drängen verschiedener Gelehrter, vor allem aber seitens der Bauern – gebeten, den Gartenbau nun auch in Prosa darzustellen53 und so die von ihm erwartete Rolle als Handbuchautor wieder einzunehmen. Dem Werk wird damit, wie zuvor auch an anderen Stellen, der Charakter eines work in progress verliehen, dessen Verlauf von Rezipientenfiguren gesteuert wird. Nach dem von Publius Silvinus initiierten Ausflug in die Dichtung folgt nun die Rückkehr zum Tagesgeschäft, da die poetische Vermittlung des Stoffes als für den Praktiker nicht adäquat bzw. ausreichend erscheint. Was Columella mit seiner Lehrdichtung leistet und wie er das „unansehnliche, kleine“ Thema Gartenbau poetisch gestaltet, wird in der Forschung höchst unterschiedlich bewertet: Die Beurteilungen reichen von „Dilettantismus“ und „ästhetischer Indezenz“54 bis zum überschwänglichen Lob des unterschätzten Dichters und seiner innovativen, komplexen Dichtung, wie es Silke Diederich Columella in ihrer Maßstäbe setzenden Monographie zu den römischen Agrarhandbüchern zollt.55 Fakt ist: Columella überbietet und übersteigert mit seiner Dichtung, dem Wagnis seiner Bilder, seinen metapoetischen Reflexionen und mit einer ordentlichen Prise an understatement und Ironie die bisherigen Lehr-

52 RAMPTON, 2009, S. 152. 53 COLUM. 11,1,1. 54 EFFE, 1977, S. 98f. 55 Eine Mittelposition vertritt Emily Gowers, die Columellas „Carmen“ als durchschnittliches, wenn auch durchaus ambitioniertes Gedicht bewertet und ausgezeichnet analysiert: „Why is this forgettable poem worth another look? Partly because it exists and is average: it tells us how Virgil himself was read in antiquity, and how one middling writer responded to a particular task with his own set of rules. But it is also a surprisingly ambitious poem, a showpiece in which Columella concentrates all his resources, to give his immediate readers Silvinus and Gallio a ‚taste‘ […] of his poetic gifts. He takes an unpromising subject and overcompensates by making something new and monstrous out of it“ (GOWERS, 2000, S. 127).

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dichtungen, in deren Literarischer Reihe er sich durch den expliziten Rekurs auf die vergilischen „Georgica“ fest verankert. Dabei kreuzt er die Topoi und Charakteristika der Lehrdichtung gekonnt mit einer „Ästhetik der Verkehrung“, wie sie in zeitgenössischen Werken etwa in Form eines artifiziellen Hyper-Realismus und einer hyperbolischen Drastik, einer Poetik des Unerwarteten und Grotesken begegnet,56 und schafft so – trotz oder gerade wegen der dominanten Vorgänger – ein Lehrgedicht von kleinem Umfang, aber revolutionärer Dimension. Zwei exemplarisch herausgegriffene Textstellen sollen diese Einschätzung belegen: Nachdem die Dichterinstanz zunächst Empfehlungen für die Wahl des geeigneten Gartenortes (10,6-26) und dessen Schutz (10,27-34) sowie eine Stoffgliederung mit dem obligatorischen Musenanruf gegeben hat (10,35-40), widmet sie sich zunächst der Bodenbearbeitung und der Vorbereitung für die Aussaat in der herbstlichen Nacherntezeit (10,41-91). Mit dem Herbstäquinox beginnt der labor anni, der am Ende des Gedichtes sein Ende im Spätsommer darauf mit der Weinlese und dem Keltern finden wird. Wie in den „Georgica“ ist die harte Mühe des Landmannes, der labor durus, ein Leitmotiv des „Carmen“. Auch die Arbeit im Garten ist ein ständiger Kampf gegen die Unbilden der Natur – gegen die man sich allerdings mit einigen speziellen Maßnahmen rüsten kann, welche das Gedicht an die Hand gibt. Der labor durus wird hier aitiologisch mit der spezifischen Entstehung des Menschengeschlechtes nach der Deukalionischen Flut verknüpft, wie sie aus den „Metamorphosen“ Ovids bekannt ist: Die postdiluvialen, ‚jetzigen‘ Menschen entstanden aus Steinen, die das einzig überlebende Paar Deukalion und Pyrrha hinter sich warf. Ein, so Ovid,57 wahrhaft „hartes Geschlecht und erfahren in Mühsal“ („genus durum […] experiensque laborum“). Durch diese steinerne Neuschöpfung nach der Flut wurde die Erschaffung der ersten Menschen aus Erde bzw. Lehm durch Prometheus überschrieben. Nicht der Erdboden, so Columella, sei also unsere wahre Mutter, sondern der Fels, aus dem Deukalion die Gesteinsbrocken erhielt. Und deswegen gelte: […] matri ne parcite falsae! (COLUM. 10,58) („Schont nicht eure vermeintliche Mutter!“)

56 Vgl. MAES, 2013, S. 311-325. 57 OVID, „Metamorphosen“ 1,414. Zu dieser Aitiologie auch VERGIL, „Georgica“ 1,60-63.

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Das heißt: Die Erde kann, ja muss mit allem möglichen Gerät bearbeitet werden – soweit auch Vergil.58 Allerdings, und das hat bei einigen Interpreten Unbehagen hervorgerufen, greift Columella in seiner Dichtung zu recht drastischen Bildern: Er lässt die anthropomorph gestaltete Erde von den Bauern und ihren Geräten regelrecht und mitleidslos zerfleischen: […] heia age segnis pellite nunc somnos, et curvi vomere dentis iam viridis lacerate comas, iam scindite amictus. Tu gravibus rastris cunctantia perfode terga, tu penitus latis eradere viscera marris ne dubita, et summo ferventia cespite mixta ponere, quae canis iaceant urenda pruinis. (COLUM. 10,68-74) („Auf jetzt, verjagt die träge Schläfrigkeit und zerreißt bald mit der gekrümmten Pflugschar das grüne Haar, bald zerschneidet den Mantel. Du durchstoße mit schweren Hacken den noch Widerstand leistenden Rücken, Du zögere nicht, tief im Inneren mit breiten Hacken die Eingeweide auszukratzen und sie dampfend mit dem obersten Rasen vermischt auszubreiten, so dass sie bereit liegen, um durch den weißgrauen Reif auszudörren.“)

In den deszendenten Weltalterlehren, etwa bei Ovid, finden wir ähnlich drastische Bilder von der Erde, die durch den Pflug verletzt wird und deren Eingeweide von den degenerierten und der luxuria verhafteten Menschen nach Rohstoffen durchwühlt werden.59 Ein starkes Bild mithin für die gewaltsame Grenzüberschreitung menschlicher Habgier. Bei Columella liegt jedoch eine Kontrastimitation vor: Der Bauer wird durch die drastischen Bilder der gemarterten Erde nicht etwa kritisiert, er wird vielmehr aufgefordert, im Spätherbst die Erde ordentlich umzugraben und im Winter auswittern zu lassen, um sie für die Aussaat im Frühling vorzubereiten. Indem Columella mit dem literarischen Wissen der Leser spielt, erzeugt er eine kalkulierte Irritation. Dieses irritierende Moment, die morbid-makabre Bildhaftigkeit sowie der gesamte gelehrte Überbau (Flutereignis, Schöpfungsakte, labor-Motiv) fehlen in der entsprechenden Passage im 11. Prosa-Buch. Die Anweisungen zur Vorbereitung des Bodens im Herbst für die Bestellung im Frühjahr erfolgen hier knapp, luzide und vollkommen undramatisch:

58 Z.B. VERGIL, „Georgica“ 1,43-46. 63-68. 94-99. 160-175 (Katalog der bäuerlichen arma). 59 OVID, „Metamorphosen“ 1,101f. und 137-142.

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Sed curabimus, ut ager, quem vere conseri oportet, autumno circa Kalendas Novembres pastinetur; […] Igitur solum, quod conserere vere destinaverimus, post autumnum patiemur effossum iacere brumae frigoribus et pruinis inurendum. (COLUM. 11,3,11. 13) („Man soll aber dafür sorgen, dass Land, das im Frühjahr bestellt werden soll, im Herbst, etwa am 1. November, umgegraben wird; […] Man soll also den Boden, den man im Frühjahr bestellen möchte, nach dem Herbst umgegraben liegen lassen, damit er im Winter durch Kälte und Frost auswittert.“)

So drastisch wie das Bild der zerfetzten „mater falsa“, deren Inneres in einem Akt der Gewalt nach außen gekehrt wird, um an der Oberfläche auszuwittern, so überbordend ist die Frühlingsschilderung, die Columella gut 100 Verse später in Übersteigerung des vergilischen Prätextes als inzestuös-pornographische Orgie der Vereinigung, als Explosion der Fruchtbarkeit inszeniert.60 Nun kann der sakrale Inzest sicherlich als archetypisches Motiv der Fruchtbarkeit und der zyklischen Erneuerungsvorgänge in der Natur fungieren; und der „spiritus orbis“, der sich in die Arme der Venus stürzt und seine eigenen Geschöpfe schwängert, kann als Pneuma und somit als stoische Mythenallegorese für die unversiegbare Schöpferkraft der Natur gelesen werden.61 Allerdings sind die Bilder bei Columella von einer derartigen Drastik, dass sie die Vermählung, den hieros gamos, zwischen Vater Himmel und Mutter Erde, wie er von Vergil gestaltet wird,62 durch ein mit überbordender sexueller Metaphorik aufgeladenes Szenario der Extase, Vereinigung und Fertilität kühn überformen. Neben solchen Höhenflügen des dichterischen ingenium konfrontiert (bzw. crosst) Columella auch in teilweise krassen Brüchen hochpoetische Bilder mit ausnehmend prosaischen Momenten. So wird etwa eine idyllische Frühlingsminiatur abrupt beendet – durch die detaillierte Schilderung des Ausbringens von Dung: Post ubi Riphaeae torpentia frigora brumae candidus aprica Zephyrus regelaverit aura sidereoque polo cedet Lyra mersa profundo, veris et adventum nidis cantabit hirundo, rudere tum pingui, solido vel stercore aselli, armentive fimo saturet ieiunia terrae

60 COLUM. 10,194-214; VERGIL, „Georgica“ 2,323-345; vgl. dazu DIEDERICH, 2007, S. 235-238. 61 Vgl. dazu DIEDERICH 2007, S. 236f. 62 VERGIL, „Georgica“ 2,325-327, vgl. auch LUKREZ, „De rerum natura“ 1,250-261.

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pabula nec pudeat fisso

praebere novali

immundis quaecumque vomit latrina cloacis. (COLUM. 10,77-85) („Sobald dann der helle Zephyr die starren Fröste des riphäischen Winters mit sonnigem Lufthauch zum Tauen bringt, das Sternbild Leier in die Tiefe versunken den Himmel verlässt und die Schwalbe die Ankunft des Frühlings in den Nestern verkündet, soll der Gärtner mit fettem Kalk oder dem trockenen Mist des Esels, oder mit dem Dung des Rindes die Dürftigkeit des Bodens sättigen, indem er selbst die Körbe trägt, die durch das Gewicht gesprengt werden, und er soll sich nicht zu gut dafür sein, dem aufgehackten neuen Acker als Nahrung zu geben, was auch immer die Fäkalgrube aus den dreckigen Kloaken hervorspeit.“)

Bernd Effe unterstellt Columella hier eine „auch vor ästhetischer Indezenz nicht zurückschreckende, an der gärtnerischen Praxis orientierte Ausbreitung fachwissenschaftlicher Einzelheiten“.64 Die Motivation dürfte jedoch eine andere sein, nämlich eine bewusste Inszenierung der Spannung zwischen Form und Stoff, ein gewolltes, spielerisches Durchbrechen des hohen Stils durch die ‚Niederungen‘ des Gartenbaus. Dass diese Spannung durchaus auch einen punktuell komischen Aspekt besitzen soll, wird durch die Wortwahl deutlich: Der prosaische Ausdruck „cloaca“ ist in der Dichtung vor Columella nur in der Komödie und der Satire belegt.65 Als Höhepunkt einer Klimax von Düngemitteln bilden die menschlichen Fäkalien einen denkbar größten Gegensatz zur poetischen Beschreibung der ersten Spuren des Frühlings. Der Leser, der gerade noch das milde Sonnenlicht, das Zwitschern der Schwalben und die sanfte Brise imaginierte, wird abrupt entzaubert und von einer ganz anderen ländlichen Realität eingeholt. „Das Sublime und das Banale, das Kosmische und das Komische halten sich die Balance“, so Silke Diederichs resümierender Blick auf das Gedicht.66 Mit dieser höchst artifiziellen und gelehrten, mit Spannungen und ästhetischen Extremen spielenden Dichtung, die man als eine Antwort der neronischen Zeit auf die Literarische Reihe ‚Lehrdichtung‘ lesen kann, dürfte Columella

63 BOLDRER, 1996, S. 163 spricht sich für die Variante „fesso“ aus („novale fessum“ – „ausgelaugter Boden“). 64 EFFE, 1977, S. 99. Tatsächlich ist die Qualität der verschiedenen Naturdünger (ohne Kalk) Bestandteil von Buch 11 (11,3,12); menschliche Fäkalien seien zwar ganz hervorragend, müssten aber nicht unbedingt verwendet werden, außer für ganz karge Böden. 65 Vgl. BOLDRER, 1996, S. 163f. 66 DIEDERICH, 2007, S. 255.

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exakt die anspruchsvolle, elitäre Leserschaft bedient haben, die als primärer Adressatenkreis von „De re rustica“ gilt: die Landaristokratie, zu der er selbst zählt.67 Auch die Prosabücher zeichnen sich durch einen eleganten Sprachstil aus und sind mit zahlreichen Zitaten aus der antiken Dichtung versehen, darunter über 50 Stellen aus den Werken Vergils.68 Zugleich wird, etwa im Proöm des ersten Buches, der traditionell hohe Stellenwert der römischen Landwirtschaft betont und das Ideal eines umfassend gebildeten agricola perfectus entwickelt, mit dem sich die Rezipienten identifizieren können. Durch seinen gecrossten Werkverbund erweist sich Columella als „urbane(r) Intellektuelle(r) auf der Höhe seiner Zeit“.69 Indem er in den Prosabüchern aber auch Archaismen sowie Vokabeln und Sentenzen aus dem bäuerlichen Sprachschatz einstreut und Werte wie den mos maiorum hochhält, wechselt er zugleich in die Rolle eines konservativen Römers in der Tradition des älteren Cato, der eine Leserschaft mit einem ähnlich gelagerten Wertehorizont zu gewinnen weiß.70 Zu diesen Werten zählt freilich auch, dass die Rentabilität des Gutshofes gewahrt bleibt, die wiederum nicht unmaßgeblich von der gescholtenen luxuria der Städter profitieren kann und soll. Crossing findet hier auf allen Ebenen statt.

6. F AZIT Ben Ramptons soziolinguistisches Modell kann den analytischen Blick auf die soeben vorgestellten Kreuzungsphänomene zweifelsfrei schärfen, auch wenn diese nicht alle Kriterien des language crossing im engeren Sinn erfüllen. Mit dem Wechsel von der Fachprosa zur Lehrdichtung liegt zwar eine eindeutige code-alternation vor; dass die Autorinstanz damit aber nun die „Stimme“ respektive das literarische Sujet einer Gruppe usurpiert, der sie (normalerweise) nicht angehört,71 ist in beiden Fallbeispielen ein literarisches Spiel. Die Autoren inszenieren sich in den Prosavorreden als Dichter-Novizen und die dichterische Betätigung als unbekanntes Terrain, tatsächlich jedoch sind beide versierte Poe-

67 EBD., S. 368-372. 68 EBD., S. 225-227. 69 DIES., 2005, S. 282. 70 EBD., S. 285; vgl. dazu ausführlich DIEDERICH, 2007, S. 372-395; FÖGEN, 2009, S. 158-165 und S. 189-200. 71 Vgl. RAMPTON, 1995, S. 14.

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ten.72 Durch ihre kunstvolle literarische Performanz bekräftigen die Autoren die Zugehörigkeit zu ihrer peer group. Diese, Großgrundbesitzer der römischen Oberschicht, dürften in erster Linie auch die Adressaten der Agrarfachbücher sein. Durch die gelehrte Dichtung versichert man sich – als Produzent wie Rezipient – der eigenen Gruppenzugehörigkeit mit ihren Standards und grenzt sich ab, etwa von den neureichen Latifundienbetreibern oder den Kleinbauern. Anders als in den von Rampton untersuchten Fällen geschieht die Abgrenzung jedoch nicht, indem subversiv die Sprache dieser Anderen verwendet wird, sondern indem ein vertikaler Sprung von der Prosafachsprache zur Dichtersprache vollzogen und somit die sprachliche und intellektuelle Distanz noch weiter vergrößert wird. Der Sprung ist paratextuell markiert und besitzt in mehrfacher Hinsicht kompetitiven Charakter. Dieser resultiert zum einen aus der Kreuzung zweier didaktischer Formate, die mit unterschiedlicher Sprache und auf unterschiedliche Arten Wissen auswählen, arrangieren, aufbereiten und vermitteln. Zum anderen positionieren sich die Dichtungen bewusst und bewusst agonal in der Literarischen Reihe ‚Lehrgedicht‘. Im Fall Columellas ist zudem eine bemerkenswerte Aufladung und Kreuzung des Werks mit einer Ästhetik der Verkehrung und der Extreme zu konstatieren, wie man sie in der zeitgenössischen Literatur verstärkt findet.

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72 Die vorliegenden Dichtungen sprechen für sich, vgl. aber auch den Hinweis Columellas, Silvinus habe hartnäckig von ihm eine Probe seiner Verskunst („versificationis nostrae gustus“, 11,1,2) gefordert.

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1. „N EGER -E NGLISCH “

FÜR DEUTSCHE

L ESER

Harriet Beecher Stowes Uncle Tom’s Cabin; Or, Life among the Lowly hatte bereits während seiner Veröffentlichung als Fortsetzungsroman in der amerikanischen Anti-Sklaverei-Zeitschrift The National Era von Juni 1851 bis April 1852 immensen Erfolg.1 Dies führte dazu, dass noch im Jahr der Erstveröffentlichung als Buch (1852) zahlreiche Übersetzungen in andere Sprachen angefertigt wurden, darunter Französisch, Italienisch, Spanisch, Niederländisch und Bulgarisch. Eine erste deutsche Version erschien ebenfalls bereits 1852 unter dem Titel Onkel Tom’s Hütte oder Negerleben in den Sclavenstaaten des freien Nordamerika.2 Wie jedoch schon der aus heutiger Sicht recht kurios anmutende Untertitel – „In deutscher Auffassungsweise f[ür] deutsche Leser bearb[eitet] v[on] Dr. Ungewitter“ – nahelegt, handelt es sich hierbei keineswegs um eine wortgetreue Übertragung des englischen Originaltexts ins Deutsche. So schreibt der Übersetzer, eben jener Dr. Ungewitter, in seinem Vorwort:

1

Vor allem dank Stowes Roman gelang es der wöchentlich erscheinenden Zeitschrift, ihre Auflage von 15.000 Exemplaren (1850) auf 19.000 Exemplare (1852) zu steigern. Vgl. HARROLD, 2011, S. 67. Zur Publikationsgeschichte des Romans allgemein vgl. PARFAIT, 2007.

2

Zur Rezeption von Uncle Tom’s Cabin in Deutschland vgl. PAUL, 2005, S. 127-185.

90 | F REITAG /R OSBACH Das englische Original […] ist 329 enggedruckte Octavseiten stark; und eine getreue und vollständige Uebersetzung desselben würde dem deutschen Leser schwerlich sehr behagen; schon wegen der vielen und langen, im Provinzialdialekt und Neger-Englisch geführten Gespräche, die freilich dem nordamerikanischen und englischen Leser sehr zusagen mögen, weil er nordamerikanisch oder englisch denkt und fühlt […], die aber für den deutschen Leser ermüdend sind, indem sie ihn in einen Ideenkreis führen, der ihn durchaus nicht interessieren kann. Sie würden, vollständig wiedergegeben, auf ihn ungefähr den nämlichen Eindruck machen, wie auf den Engländer oder Nordamerikaner plattdeutsche Gespräche zwischen Bauern in den deutschen Marschländern der Nordseeküste bei Abschließung eines Mastochsen- oder Pferdehandels. […] Er [der deutsche Leser] erhält demnach das englische Original in einer abgekürzten deutschen Bearbeitung, in der jedoch nichts Wesentliches ausgelassen ist, und die dem deutschen Leser im deutschen Sinne und in deutscher Auffassungsweise genau wiedergibt, was das Original mit vielem Wortschwall und häufigen Abschweifungen erzählt.3

Während Ungewitters deutsche „Bearbeitung“ von Stowes Roman in manchen Gesichtspunkten auch überaus pedantisch erscheinen mag (so übersetzt er den Vornamen der Autorin von „Harriet“ in „Henriette“), verfährt sie in anderen Fällen geradezu sorglos und unbekümmert. Letzteres trifft insbesondere auf die „Wortschwälle“ zu, die zahlreichen Dialogpassagen in Uncle Tom’s Cabin, die nicht bzw. nur teilweise im Standardenglischen verfasst sind. Sie werden vom Übersetzer entweder im Standarddeutschen wiedergegeben oder schlichtweg durch kurze Zusammenfassungen des Erzählers (ebenfalls im Standarddeutschen) ersetzt. Dabei ist durchaus fraglich, ob Ungewitter tatsächlich die von Stowe im „Provinzialdialekt“ und im „Neger-Englisch“ verfassten Gespräche als für deutsche Leser ermüdend und uninteressant erachtete oder ob er sich nicht vielmehr außer Stande sah, das nicht-standardsprachliche Englisch in einen deutschen Kontext zu übertragen und seine Lösung dieses translatorischen Problems im Nachhinein zu rechtfertigen suchte. Jene „Wortschwälle“ in nicht-standardsprachlichen Varietäten des Englischen, an denen sich Ungewitter in Uncle Tom’s Cabin so störte, sollten jedoch im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts eine immer bedeutendere Rolle in der amerikanischen Literatur spielen: „Late-nineteenth-century America was crazy about dialect literature,“4 konstatiert der amerikanische Philologe Gavin Jones in seinem Buch Strange Talk. The Politics of Dialect Literature in Gilded Age America. Die Verwendung von Lekten jedweder Art – Jones verwendet „Dia-

3

STOWE, 1852, S. 6f.

4

JONES, 1999, S. 1.

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lekt“ als eine Art Oberbegriff für Regio-, Sozio-, Ethno- und Chronolekte5 – beschränkte sich dabei keineswegs auf Romane bzw. Prosa; auch in Kurzgeschichten, in der Lyrik und auf der Bühne erfreuten sich nicht-standardsprachliche Varietäten und insbesondere Dialekte zunehmender Beliebtheit. Neben Stowes „Provinzialdialekt“ (womit Ungewitter vermutlich die in den Südstaaten der USA gesprochene Sprachvarietät meinte) und ihrem „NegerEnglisch“ fanden u.a. auch die regionalen Varietäten des Englischen in Kalifornien (z.B. in den Kurzgeschichten von Bret Harte), in Neuengland (in den Romanen und Kurzgeschichten von Sarah Orne Jewett) und im Mittelwesten (bei Hamlin Garland) Eingang in die Literatur. Hinzu kamen die von den eigentlich frankophonen Kreolen und Cajuns in Louisiana gesprochenen Varietäten des Englischen (etwa in den Werken von Kate Chopin, Grace E. King oder George Washington Cable). Ähnlich wie im Fall von Uncle Tom’s Cabin waren Diaund andere Lekte vor allem auf die direkte Rede von Charakteren beschränkt. Da jedoch manche Werke wie z.B. Joel Chandler Harris’ „Uncle Remus“-Geschichten (ab 1880) oder Thomas Nelson Pages Gedicht „Uncle Gabe’s White Folks“ (1877) (nahezu) ausschließlich aus direkter Rede bestehen, verschwindet hier die Standardsprache völlig. Nichtsdestotrotz spielte selbst in den zuletzt genannten Texten das Standardenglische als Referenzpunkt eine wichtige Rolle. Ausgehend von den dazugehörigen Orthographie- und Aussprachekonventionen versuchten die Verfasser von Dialektliteratur nämlich, nicht-standardsprachliche Varietäten lautmalerisch und durch kreative Abwandlungen der Rechtschreibung darzustellen.6 Sie bauten somit auf die im 19. Jahrhundert nicht unübliche Praxis, Texte laut zu lesen. Wenn sie die Texte (zumindest in Gedanken) laut vorlasen und dabei den Aussprachekonventionen der Standardsprache folgten, so konnten die Leser, so das implizite Versprechen der Texte, den Klang der jeweils dargestellten Varietät zumindest erahnen. Bei der Lektüre von Dialektliteratur wurden Leser im 19. Jahrhundert – zumindest jene, die den im Text transkribierten Lekt sonst nicht verwendeten – somit zu einer Art Sprachkreuzung gezwungen.7 In seinem Buch Crossing. Language and Ethnicity among Adolescents definiert der britische Linguist Ben Rampton language crossing als die Verwendung von Sprachen oder Sprachvari-

5

EBD., S. 12.

6

Vgl. ROSENWALD, 2008, S. 9f.

7

Für das von Rampton beschriebene language crossing verwenden wir nach Hinnenkamp die Lehnübersetzungen „Sprachkreuzung“ bzw. „sprachliche Kreuzung“. Vgl. HINNENKAMP, 1998, S. 150-153.

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etäten, die mit bestimmten regionalen, sozialen und/oder ethnischen Gruppen assoziiert werden, denen der Sprecher – bzw. hier der Leser – weder angehört noch als zugehörig empfunden wird.8 Für Leser, denen es dazu gelang, den für sie fremden Lekt gedanklich in die eigene Sprache zu übersetzen und damit die encodierten Inhalte zu verstehen, dürfte die Lesefreude ungleich höher gewesen sein als für Leser, die an der Entzifferung des Lekts scheiterten und sich deshalb aus der fiktiven Welt ausgeschlossen gefühlt haben dürften. Ob die Leser jedoch tatsächlich den Klang des betreffenden Lektes auf der Grundlage der Transkriptionen zumindest annähernd reproduzieren konnten, ist äußerst fraglich. Denn zum einen geht dem Crossing bei der Lektüre literarischer Lekte zumeist auch ein Crossing des Autors voraus. Die Mehrzahl der Verfasser von amerikanischer Dialektliteratur des 19. Jahrhunderts hatte nämlich zwar persönlichen Kontakt mit Sprechern der jeweiligen Varietät, gehörte jedoch selbst nicht dieser Sprechergruppe an. So imitierte beispielsweise Stowe als weiße, in Connecticut im Nordosten der heutigen Vereinigten Staaten geborene Schriftstellerin das Southern White English weißer Plantagenbesitzer ebenso wie das von den Sklaven in den südlichen Staaten gesprochene Black English. Und George Washington Cable, der zwar in New Orleans geboren wurde und aufwuchs, jedoch anglo-amerikanischer Abstammung war, stellte in seinen Werken Black English, das Englische der Kreolen und Cajuns sowie das Kreolfranzösische und viele Zwischenformen dar. Zum anderen hing die Qualität der Transkriptionen auch mit deren Funktion in den Texten zusammen, die ihnen die Autoren (bewusst oder unbewusst) zuschrieben. Während sich etwa Cable um eine akribische Nachahmung möglichst vieler lexikalischer, phonologischer und grammatikalischer Lektspezifika bemühte, griff Stowe gezielt auf Einzelmerkmale zurück, die für den Leser von hohem Widererkennungswert waren, weil sie stereotyp mit den Sprechern der Varietät assoziiert wurden. In diesem Kontext möchten wir uns im Folgenden zunächst allgemein mit der Dialektliteratur als Form der sprachlichen Kreuzung auseinandersetzen und wesentliche Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu Ramptons ursprünglichem Konzept und dessen Rezeption durch andere Forscher beleuchten. Danach soll insbesondere unter Rückgriff auf die Arbeiten von Gavin Jones und Brian Hochman zur amerikanischen Dialektliteratur des späten 19. Jahrhunderts die Multifunktionalität von literarischen Lekten herausgearbeitet werden. Hier wird sich zeigen, dass, wie Jones schreibt, „[d]ialect satisfied a vast range of motivations“.9 Im Anschluss diskutieren wir zwei Fallbeispiele: Harriet Beecher Stowes

8

RAMPTON, 1995, S. 14; DERS., 1998, S. 291.

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JONES, 1999, S. 7.

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Uncle Tom’s Cabin (1852) sowie George Washington Cables The Grandissimes (1880) – zwei Dialektromane also, die beide in den Südstaaten der USA spielen und jeweils mehrere der dort gesprochenen Varietäten des Englischen darstellen. Obwohl sowohl Stowe als auch Cable in ihren Romanen Lekte gezielt einsetzen, um gegen die Sklaverei (Stowe) und für die Anerkennung der Rechte von Afroamerikanern im Süden in der Zeit nach dem Bürgerkrieg (Cable) zu schreiben, so tun sie dies, wie wir zeigen werden, auf höchst unterschiedliche Weise. Abschließend werden wir darauf eingehen, welche weiteren Sprachkreuzungen die Crossings in Stowes und Cables Romanen zeitigten.

2. L ITERARISCHES C ROSSING Eine Analyse von Dialektliteratur als Sprachkreuzung setzt eine signifikante Modifikation bzw. Ausweitung von Ramptons Crossing-Konzept voraus. Die Fälle von Sprachkreuzungen, die Rampton in seinem Buch untersucht, sind ausschließlich dem Bereich der gesprochenen Sprache zuzuordnen; Androutsopoulos spricht folgerichtig vom „konversationellen Gebrauch von einer Sprache oder Sprachvarietät, die dem Sprecher ethnisch bzw. sozial nicht eigen ist“.10 Nun kann man festhalten, dass nicht-standardsprachliches Englisch in der amerikanischen Dialektliteratur ausschließlich in der direkten Rede einzelner Charaktere verwendet wird. Dennoch stellt die Verwendung natürlich eine verschriftlichte Form des Crossings dar, noch dazu im ästhetischen Kontext der Literatur (statt in Alltagsgesprächen), weshalb wir hier von literarischem Crossing sprechen. Hieraus ergibt sich ein weiterer Unterschied zu Ramptons Begriff der sprachlichen Kreuzung. Anders als beim mündlichen Crossing ist der Gebrauch der nicht-standardsprachlichen Varietät bei der literarischen Sprachkreuzung etwa nicht nur auf einzelne sprachliche Einsprengsel oder „Sprachfetzen“ – in Ramptons Beispielen oftmals nur einzelne Worte – beschränkt. Stattdessen werden Standardsprache und nicht-standardsprachliche Varietäten klar bestimmten Rollen im Text zugeordnet, z.B. dem Erzähler und individuellen Charakteren, die jeweils ausschließlich die entsprechende Sprache bzw. Sprachvarietät in vollem Umfang verwenden. Während „mündliche“ Kreuzungen, wie Androutsopoulos feststellt, somit „mit einer minimalen Kompetenz auskommen, die vor allem Routineformeln und Wortschatzelemente, aber auch lautliche und prosodische Merkmale umfasst“,11 mussten Verfasser von Dialektliteratur daher die einschlä-

10 EBD., S. 9; Hervorhebung der Autoren. 11 EBD., S. 30.

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gige Sprache weitaus umfassender beherrschen (oder zumindest diesen Anschein erwecken). Andererseits lassen sich jedoch auch Parallelen zwischen Ramptons „klassischem“ Konzept des Crossing und dem literarischen Crossing ausmachen. So geht etwa Androutsopoulos im ersten Falle generell von einem „ambivalenten Verhältnis von Sprecher und Code bzw. Stimme“ aus.12 Häufig seien Sprecher und Stimme hier klar voneinander getrennt, Androutsopoulos spricht gar von einer „Dissoziation von Sprecher und Stimme“. Dies bedeute jedoch nicht, dass der Sprecher die fremde Stimme nicht auch als Teil der eigenen Identität annehmen könne.13 Bei der literarischen Sprachkreuzung lässt sich eine ähnliche Ambivalenz ausmachen. So argumentiert der Literaturwissenschaftler Bill Hardwig am Beispiel der amerikanischen Autoren Mary Noailles Murfree und Charles Chesnutt, dass die Lektüre von Dialektliteratur ihren Reiz zumindest zum Teil aus der implizierten Annahme zog, „that one was reading the work of a writer who has emerged from the culture about which s/he wrote“ – eine Annahme, der etwa Murfree, die über das raue Leben in der Appalachenregion schrieb, durch die Wahl eines entsprechenden Pseudonyms Rechnung trug.14 Tatsächlich jedoch handelte es sich bei den Verfassern in den wenigsten Fällen um der jeweiligen Sprechergruppe Zugehörige, sondern bestenfalls um kenntnisreiche oder interessierte „Experten“. Einen interessanten Fall stellt Hamlin Garland dar, der zwar auf einer Farm im mittleren Westen der USA aufwuchs, in seiner berühmten Kurzgeschichte „Up the Coulee. A Story of Wisconsin“ (1891) jedoch mit der Figur des Rückkehrers die allmähliche Entfremdung von den eigenen regionalen kulturellen Wurzeln (und damit auch von der regionalen Sprache) literarisch verarbeitete.15 Ferner stellt Rampton fest, dass Sprachkreuzungen an bestimmte Erscheinungskontexte gebunden sind: „language crossing was located in moments when the ordered flow of social life was loosened and normal social relations could not be taken for granted.“16 Androutsopoulos erläutert, dass es sich hierbei insbesondere um liminale Momente wie „Übergangsphasen, in denen die Rollen und Aufgaben der Beteiligten nicht klar definiert sind, Spiele und künstlerische Performance, rituelle Beschimpfungen, der Bruch normativer Erwartungen und der

12 EBD., S. 23. 13 EBD. S. 23f. 14 HARDWIG, 2013, S. 45. 15 Vgl. GARLAND, 1918, S. 67-129. 16 RAMPTON, 1995, S. 193.

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Ausdruck starker Gefühle“ handelt.17 Nun lassen sich das Verfassen und die Lektüre (insbesondere das laute Vorlesen) von Dialektliteratur durchaus als „künstlerische Performance[s]“ auffassen. Wichtiger und aufschlussreicher erscheint jedoch ein anderer Kontext: Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts – der Zeitraum also, in dem die Dialektliteratur besondere Erfolge feierte – stellte in den USA eine Epoche weitreichender wirtschaftlicher und sozialer Umbrüche dar. Die Abschaffung der Sklaverei nach dem Bürgerkrieg, zunehmende Industrialisierung und Urbanisierung sowie die massive Einwanderung insbesondere aus Europa stellten die amerikanische Gesellschaft vor enorme Herausforderungen, im Zuge derer auch die Verhältnisse zwischen verschiedenen sozialen Gruppen, u.a. zwischen Schwarz und Weiß, Einheimischen und Immigranten, ländlicher und urbaner Bevölkerung, neu austariert werden mussten. Wie die Forschung zur amerikanischen Dialekt- und local color-Literatur seit den frühen 1990er Jahren in mehreren Schritten herausgearbeitet hat, sind es exakt diese Konflikte, die in den Texten mittels der Darstellung von interkulturellen Begegnungen zwischen „regionalen“ und „kosmopolitischen“ Charakteren auf imaginativer Ebene ausgehandelt werden.18 Ähnlich wie das mündliche Crossing auf der Mikroebene des Gesprächs zwischen Einzelpersonen lässt sich somit auch die literarische Sprachkreuzung, hier jedoch auf der gesamtgesellschaftlichen Makroebene, mit liminalen Situationen des Übergangs und der Neuverteilung von sozialen Rollen verbinden. Die weitaus wichtigste Parallele zwischen „klassischem“ und literarischem Crossing stellt jedoch deren Multifunktionalität dar. So schreibt Androutsopoulos mit Bezug auf „klassisches“ Crossing: Im Hinblick auf die Beweggründe für Kreuzungen deutet die Diskussion auf ein komplexes Motivationsgeflecht hin. [...] Kreuzungen können je nach Konstellation als integrierend oder ausgrenzend, „emanzipatorisch“ oder „reaktionär“ erscheinen.19

Ein ähnlich vielschichtiges „Motivationsgeflecht“ bzw. eine ähnliche Multifunktionalität lassen sich auch bei der Verwendung nicht-standardsprachlicher Varie-

17 ANDROUTSOPOULOS, 2002, S. 9. Androutsopoulos merkt jedoch auch an, dass „Liminalität mehr als empirisch nützliche Generalisierung für präferierte Erscheinungskontexte und weniger als ein Definitionsmerkmal für Crossing“ verstanden werden sollte (EBD., S. 10). 18 Vgl. FREITAG, 2013, S. 409-412. 19 ANDROUTSOPOULOS, 2002, S. 31.

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täten in der Dialektliteratur beobachten, wie im Folgenden unter Rückgriff auf die Arbeiten von Jones und Hochman gezeigt werden soll.

3. Z UR F UNKTIONALISIERUNG IN DER D IALEKTLITERATUR

VON

L EKTEN

Die Grundfunktion von Dialekten in fiktionalen Texten besteht in einer „Simulation nähesprachlicher Kommunikation“20. Die dazugehörigen Funktionen literarischer Dialektverwendung reichen sodann vom rein mimetischen Anspruch authentischer Sprachwiedergabe im Dienste eines gesteigerten Realismus-Effekts über den Einsatz als ästhetisches Element zur Verlebendigung des literarischen Stils bis hin zur symbolträchtigen Bedeutungsträgerschaft für den Text als werkimmanent. Sie können sich auch auf seinen Entstehungskontext als kommentatorisch und/oder auf die Rezeption und Wirkung des Textes durch bzw. auf den Leser als rezeptionsästhetisch beziehen. Werkimmanent dienen Dialekte in der Regel der Charakterisierung und Kontrastierung von Figuren; vor allem insofern diese sich durch den Grad ihrer Dialektintensität zu Sprachgemeinschaften bekennen oder sich von diesen abgrenzen bzw. abzugrenzen versuchen. In kommentatorischer Funktion können Dialekte Perspektiven (des Autors/der Figuren) auf sprachliche Konventionen, Normen und Hierarchien – und damit freilich auf die Kultur, deren Teil die Sprache ist – zum Ausdruck bringen. Rezeptionsästhetisch erzeugen Dialekte je nach ihrem Wiedererkennungswert für den Leser emotionale Nähe oder Distanz zum bzw. vom Text. Diese Funktionen literarischer Dialekte lassen sich in Texten der amerikanischen Dialektliteratur aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schwerlich voneinander trennen. Dennoch stellen Brian Hochman21 und Gavin Jones22 vor dem Hintergrund der bereits angesprochenen politischen und gesellschaftlichen Ereignisse und Themen des Gilded Age – Rassenpolitik, Westexpansion, fortschreitende Industrialisierung, Zuwanderung aus Europa – zwei unterschiedliche Tendenzen fest; zum einen ein gesteigertes Interesse an einer möglichst realitätsgetreuen schriftlichen Aufzeichnung von Dialekten (Hochman), zum anderen einen kreativen Umgang bzw. die spielerische Abwandlung von Dialekten aus politischen, moralischen und nationalistisch-ideologischen Motivationen (Jones).

20 FREUNEK, 2007, S. 116. 21 HOCHMAN, 2010. 22 JONES, 1999.

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Hochman etwa liest George Washington Cables The Grandissimes im Kontext zeitgenössischer Versuche, Sprachvarietäten und Gesänge mittels audiotechnologischer Erfindungen – allen voran Edisons 1877 entwickeltem Phonographen – phonetisch exakt zu erfassen. The Grandissimes, so Hochman, sei als experimentelle Antwort Cables auf die Frage nach den Grenzen der auditiven Wahrnehmung und der schriftlichen Erfassbarkeit gesprochener Sprache durch Nichtmuttersprachler zu lesen. Damit habe Cable aktuelle wissenschaftliche Diskussionen zur interkulturellen „Taubheit“ verarbeitet, d.h. der Unfähigkeit, sprachliche Phänomene über die Grenzen des eigenen Sprachsystems hinaus zu verstehen, woraus nicht nur Verständigungs-, sondern auch interkulturelle Verstehensprobleme resultierten.23 Die Grenzen einer vollkommen realistischen Reproduzierbarkeit von Dialekten in literarischen Texten, so Hochman, waren für Cable somit schon dadurch gegeben, dass er als Autor niemals alle Merkmale eines von ihm nicht muttersprachlich beherrschten Dialektes würde darstellen können, weil er nicht alle von ihnen hören konnte. Während die Auswahl bestimmter Dialektmerkmale in The Grandissimes für Cable somit ein quasi unvermeidbarer Vorgang war, selektierten und beschränkten sich andere amerikanische Autoren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bewusst auf Dialektcharakteristika mit hohem Wiedererkennungswert für den Leser. Dies mag einerseits den Einfluss des Realismus in der amerikanischen Literatur des 19. Jahrhunderts und das für diese Strömung charakteristische Bemühen um die Glaubwürdigkeit des Fiktionalen widerspiegeln. Denn durch die Schaffung einer Illusion linguistischer Authentizität werden die Leser eher geneigt sein, zu glauben, das Erzählte habe sich genau so in einer bestimmten Region oder einem bestimmten Milieu zu(ge)tragen (können). Und die Leser nehmen diese Illusion umso bereitwilliger an, je eher sich die Darstellung mit ihren Erwartungen deckt – so lässt sich hier von einer ‚wahrgenommenen Authentizität‘ sprechen. Andererseits eröffneten sich durch selektive Merkmalsetzung und deren kreative Abwandlungen, insbesondere in Form sprachlicher Kreuzungen ebenso wie in realsprachlichen Kontexten, Möglichkeiten der „purposeful symbolic evocation“,24 d.h. einer über dialektale Nuancierungen aufgespannten symbolischen Dimension. Genau diese bewusste Merkmalsetzung beschreibt Gavin Jones als herausragendes Merkmal der US-amerikanischen Dialektliteratur nach dem Bürgerkrieg. Aus einem sprachpolitischem Betrachtungswinkel ordnet Jones den literarischen Vernakularkult nach dem Bürgerkrieg in die politische, wissenschaftliche

23 HOCHMAN, 2010, S. 529-534. 24 RAMPTON, 1995, S. 158.

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und öffentliche Debatte über die Art und den Status der in den Vereinigten Staaten gesprochenen Dialekte vs. einer mittels Standardisierungsversuche angestrebten amerikanischen Nationalsprache ein. „Celebrations of the democratic realism and rugged raciness of subaltern speech met anxieties that dialect signaled the cultural fragmentation and deterioration of the nation.“25 Vor jenem Hintergrund der Zelebrierung dialektaler Diversität einerseits und der Angst vor linguistischer Fragmentierung andererseits seien literarisch verwendete Dialekte das Medium für politische, moralische und ideologische Positionierungen gewesen: Autoren schrieben „for the sake of dialect“.26 Das gesteigerte Interesse weißer Autoren an der Darstellung des Afroamerikanischen in den 1880er Jahren sei zudem Ausdruck der Auseinandersetzung mit rassenbasierten Sprachtheorien gewesen, welche die Sprachen und damit die ‚Rassen‘, denen sie zugeordnet wurden, gemäß ihrer ‚Entwickelt- und Zivilisiertheit‘ hierarchisch anzuordnen versuchten. So schufen sie ein „racially based manifest linguistic destiny“.27 Dabei dienten vor allem ethnische Stereotypen als Ausgangspunkt für die literarische Darstellung ethnischer Lekte. Dass gerade die Sprache der ehemaligen schwarzen Sklaven ganz unten in der sprachlichen und gesellschaftlichen Hierarchie anzuordnen war, versuchten weiße Autoren der in den Südstaaten populären Plantagenliteratur durch eine Überzeichnung des Black English zu belegen.28 Der Lekt schwarzer Figuren ist in diesen Romanen oftmals nur schwer entzifferbar und durch extreme Merkmalsdichte, fehlerhafte Formen des Standardenglischen und Vulgarismen gekennzeichnet. Durch die bewusste Fehlrepräsentation und damit die Exotisierung der von der weißen Gesellschaft ohnehin als fremdartig empfundenen afroamerikanischen Sprache wurden nicht nur gesellschaftlich verankerte rassistische Stereotypen bezüglich der angeblichen Naivität, Dummheit, Clown- und Tölpelhaftigkeit der Schwarzen bestätigt, sondern auch die gesellschaftliche Nichtintegrierbarkeit jener ehemaligen Sklaven propagiert. Im Gegensatz dazu schuf Stowe mit Uncle Tom’s Cabin bereits Jahrzehnte vor dem von Jones betrachteten Zeitraum ein Beispiel par excellence für die hochpolitische Verwendung regional und ethnisch markierter Lekte. Durch multiple, den gängigen ethnischen Stereotypen ihrer Zeit zuwiderlaufende sprachli-

25 JONES, 1999, S. 209. 26 EBD., S. 2. 27 EBD., S. 23. 28 Vgl. z.B. THOMAS NELSON PAGE, In Ole Virginia (1887) sowie THOMAS DIXON mit seiner Romantrilogie The Leopard’s Spots (1902), The Clansman (1905) und The Traitor (1907).

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che Kreuzungen auf Figurenebene begründet der Roman eine Form des Antirassismus, wie ihn Rampton auch für realweltliche Kreuzungssituationen festgestellt hat.29

4. W EISSE S PRACHE – SCHWARZE S PRACHE ? S PRACHKREUZUNGEN IN U NCLE T OM ’ S C ABIN Dass viele der Dialoge in Harriet Beecher Stowes 1852 erschienenem Roman Uncle Tom’s Cabin das Produkt sprachlicher Kreuzungen der Autorin sind, merkt man dem Text an. So werden verschiedenste Merkmale sowohl des Black English als auch der weißen Südstaatenvarietät nicht konsistent verwendet; und das obwohl Stowe für die Aufbereitung der The National Era-Version für die Buchpublikation zahlreiche Änderungen vornahm, um eben jene Merkmalsvariationen zu reduzieren.30 Besonders schwer getan zu haben scheint sich Stowe in puncto Konsistenz mit dem afroamerikanischen Ethnolekt. Sprachliche Inkonsistenzen fallen in der Sprache einzelner Figuren auf, z.B. wird das standardamerikanische Pronomen you alternierend mit seiner Lektform ye verwendet. Vor allem aber sind sie beobachtbar im Vergleich der Sprache verschiedener schwarzer Charaktere: Uncle Toms direkte Rede ist stärker lektifiziert als die der Mulattenund Quadronenfiguren,31 aber weniger merkmalsgeprägt als beispielsweise die der Aufsehersklaven auf der Plantage von Simon Legree. Im recht übersichtlichen Korpus akademischer Beschäftigung mit der Sprache der Dialoge in Uncle Tom’s Cabin wird ausschließlich auf diese Ungenauigkeiten fokussiert und der Autorin eine „notably faulty“,32 „crude“33 und im Fazit unrealistische Verwendung des Black English bescheinigt. Die Mängel hinsichtlich Realismus und Konsistenz werden dabei mal mit Stowes fehlendem sprachlichen Insiderwissen34 – Stowe stammte aus den Nordstaaten, lebte aber fast zwei Jahrzehnte an der Grenze zum Sklavenstaat Kentucky –, mal mit einem angeblichen Desinte-

29 RAMPTON, 1995, S. 21. 30 Vgl. KIRKHAM, 1977, S. 161 und S. 233-244. 31 Die Begriffe Mulatte/Mulattin und Quadrone/Quadronin gelten heute als diskriminierend, waren aber zur Entstehungszeit von Uncle Tom’s Cabin und bis ins 20. Jahrhundert gebräuchliche Bezeichnungen für Sklaven mit einem schwarzen und einem weißen Elternteil bzw. mit zu einem Viertel afrikanischer Herkunft. 32 MCDOWELL, 1931, S. 325. 33 FLOREY, 1986, S. 20. 34 MCDOWELL, 1931, S. 325; FLOREY, 1986, S. 21.

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resse der Autorin an einer präzisen Darstellung begründet.35 Der Vorwurf, Stowe hätte fernab jedweder Realität und unsauber gearbeitet, ist inzwischen in verschiedenen Publikationen widerlegt worden.36 Hartnäckig hält sich in der UncleTom-Forschung jedoch die Ansicht, dass die Sklavenfiguren im Roman u.a. aufgrund ihrer Sprache zum Stereotyp des lüsternen, clownhaften, kindlich-naiven und vor allem dummen Schwarzen degradiert worden seien.37 Allen Studien zur Authentizität und Stereotypisierung der Sprachgebung in Uncle Tom’s Cabin ist gemein, dass sie Stowes Roman als realistischen Text lesen – und damit genau so, wie er inhaltlich nicht zu verstehen ist. Zwar verorten realistische Details wie Haus- und Landschaftsbeschreibungen und eben auch die Verwendung realweltlicher Lekte das Romangeschehen im Amerika der 1850er Jahre. Doch die Geschichte von Uncle Tom transzendiert die Realität insofern, als sie eine Analogie zwischen der Sklaverei in Amerika und dem Sündenfall der Menschheit zieht.38 In diesem allegorischen Narrativ kommt den Lekten eine Schlüsselfunktion zu: Die bislang als Inkonsistenzen kritisierte Variation in der Intensität der Lektfärbung ist eine bewusste Nunancierung, die auf einem an moralischen Werten orientierten anti-stereotypen Sprachgebungskonzept basiert, das den Zustand der Nation spiegelte. Denn die gravierendsten Folgen der Sklaverei für die amerikanische Gesellschaft waren nach Auffassung Stowes die Zerstörung von Familien und Gemeinschaften als Orte, an dem moralische Werte gelebt und weitergegeben werden, und damit die moralische Verrohung des amerikanischen Volkes. Im Hinblick auf diese Botschaft leserlenkend wirken für die implizierte weiße Leserschaft unerwartete sprachliche Kreuzungen: Sklaven sprechen Standardenglisch, Sklavenhalter kreuzen ins „Neger-Englisch“. Dazu im Folgenden drei Beispiele. Über Szenen in Sklavenunterkünften (Onkel Toms Hütte auf der ShelbyPlantage) und in von Sklaven dominierten Räumen (die Küche in Augustine St.Clares Haushalt) wird eine spezifische Black identity skizziert, die sich neben

35 MCDOWELL, 1931, S. 325; HOLTON, 1984, S. 70. 36 Vgl. MEYER, 1994 und BURKETTE, 2001. Beide Autoren kommen durch den Abgleich der von Stowe verwendeten Merkmale mit soziolinguistischen Studien zu dem Ergebnis, dass Stowe realweltliche Charakteristika des Afroamerikanischen und verschiedener Südstaatenlekte verwendete. Die Nuancen in der Sprache der Charaktere führen sie auf Bildungsunterschiede und die natürliche Variabilität innerhalb von Sprachen wie auch Lekten zurück. 37 Vgl. FURNAS, 1956, Rückeinband; YARBOROUGH, 1986, S. 47; CANTAVE, 2007, S. 196. 38 Vgl. HOVET, 1989.

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traditionellen Gesängen und Speisen vor allem über das Black English als gemeinschaftsstiftender und -erhaltender Sprache konstruiert. Grundsätzlich nicht präsent sind in diesen Szenen Sklaven mit gemischtethnischer Vorfahrenschaft. Diese Mulatten- und Quadronenfiguren unterscheiden sich nicht nur durch ihre hellere Hautfarbe von den anderen Sklaven. Anders als die Sklaven dunklerer Hautfarbe weigern sie sich, die Unterjochung durch ihre weißen „Herren“ anzuerkennen. Unterstrichen wird die Verschiedenheit dieser Charaktere durch ihre standardenglische Sprache, in der etwa George Harris, kurz bevor er gen Norden flieht, seine Unzufriedenheit artikuliert: „‚My Master! And who made him my master? That’s what I think – what right has he to me? I’m as much a man as he is. […W]hat right has he to make a dray-horse of me?‘“39 Harris verweist hier auf die von Stowe im gesamten Roman postulierte Gleichheit von Schwarz und Weiß auf der Ebene des Menschseins; eine Gleichheit, die ihm trotz seiner weißen Sprache und trotz seines weißen Vaters allein aufgrund seiner nur halbweißen Hautfarbe unter der Sklaverei nicht zugestanden wird. Somit steht Harris exemplarisch für den „tragischen Mulatten“, der qua biologischer Herkunft zwei ethnische Identitätsgruppen vereint und doch von beiden ausgeschlossen bleibt; von der weißen aufgrund seiner Hautfarbe; von der schwarzen aufgrund seiner Verschiedenheit qua Sprache, Hautfarbe und Beziehung zu den weißen Sklavenhaltern.40 Schuld daran war, so Stowe, die Sklaverei. Die massenhafte Vergewaltigung schwarzer Frauen durch weiße Männer – nebst der Destruktivität dieser Praxis für weiße Familien – verursachte für gemischtethnische Sklaven eine Identitäts- und Zugehörigkeitsproblematik. Dazu wurde ihnen die Teilnahme an Gemeinschaft, die Stowe als Fundament der moralisch funktionierenden Gesellschaft ansah, verwehrt. Mag das sprachliche Crossing von George Harris für Stowes weiße Leser noch mit ihrem Weltbild vereinbar gewesen sein, denn immerhin ist er halbweiß, dürften die Schwarz/Weiß-Kreuzungen in der Sprache des Protagonisten Uncle Tom und der seines letzten Masters Simon Legree für Irritation gesorgt haben. So spricht Tom als einziger der dunkelhäutigen Sklaven ein relativ merkmalsschwach ausgeprägtes Afroamerikanisch. Auf die Frage, weshalb er angesichts der grausamen Praktiken der Sklaverei nie den Glauben an Gott verloren hat, antwortet Uncle Tom:

39 STOWE, 2010, S. 14. 40 Die Außenseiterschaft gemischtethnischer Sklaven in der schwarzen Gemeinschaft beruhte weniger auf Selbstabgrenzung als auf der Tatsache, dass andere Sklaven ihnen aufgrund ihrer biologischen Nähe zu den weißen Sklavenhaltern häufig mit Misstrauen begegneten. Vgl. BLASSINGAME, 1979, S. 211.

102 | F REITAG /R OSBACH [W]hen I was sold away from my old woman and children, I was jest a most broke up. I felt as if there warn’t nothin’ left; and then the good Lord, he stood by me, and he says, ‚Fear not, Tom;‘ and he brings light and joy into a poor feller’s soul, – makes all peace; and I’s so happy, and loves everybody, and feels willin’ jest to be the Lord’s, and have the Lord’s will done, and be put jest where the Lord wants to put me.41

Die wenigen Lektmerkmale in Toms direkte Rede sind vor allem phonetischer Natur, wie u.a. der Wegfall einzelner Laute und die Nasalisierung von ing-Endungen (nothin’, willin’). Darüber hinaus finden sich Formen des sogenannten Augendialekts (jest, feller)42 sowie, charakteristisch für das Afroamerikanische, Doppelnegativkonstruktionen (warn’t nothing) und die Nichtunterscheidung zwischen Singular und Plural bei Personalformen von Verben (I’s, [I] loves). Als Einziger der Nicht-Mulatten bzw. Quadronenfiguren kreuzt Tom in das Standardenglisch der weißen Romanfiguren. Dadurch konstruiert sich auch sprachlich Toms Funktion als Mediator- und Vorbildfigur. Denn in seiner Jesusähnlich gelebten selbstlosen Nächstenliebe, selbst für die, die ihm Leid zufügen, ist Tom von seinem mundanen Minderheitenstatus entbunden und kann somit als Vorbild für Schwarz und Weiß gelten. Die moralische Katastrophe, die die Sklaverei für Stowe darstellte, konnte ihrer Ansicht nach nur durch eine Rückkehr Amerikas auf den moralisch tugendhaften Weg christlicher Nächstenliebe behoben werden. Zum direkten Gegenspieler Toms und zur Verkörperung der von Stowe angeprangerten moralischen Verrohung der amerikanischen Gesellschaft wird in der zweiten Romanhälfte der brutale Plantagenbesitzer und Sklavenhalter Simon Legree. Gerne brüstet Legree sich mit der brutalen Geschäftsmäßigkeit, mit der er seine Sklaven als ersetzbare Waren behandelt: Stout fellers last six or seven years; trashy ones gets worked up in two or three. I used to, when I fust begun, have considerable trouble fussin’ with ’em […] – doctorin’ on ’em when they’s sick, and givin’ on ’em clothes and blankets, and what now, tryin’ to keep ’em all sort o’ decent and comfortable. Law, ’t wasn’t no sort o’ use; […] Now, you see, I just put ’em straight through, sick or well. When one nigger’s dead, I buy another; and I find it comes cheaper and easier, every way.43

41 STOWE, 2010, S. 276. 42 Abweichungen von der standardmäßigen Schreibung, die in der Regel die Aussprache nicht verändern. 43 EBD., S. 310.

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Legrees rohe Ausdrucksweise weist wie die Sprache anderer weißer Sklavenhalter im Roman Kreuzungen sowohl in Varietäten der Südstaaten als auch ins Afroamerikanische auf. Diese unbewusste sprachliche Annäherung an seine Sklaven geht ironischerweise mit seinem Beharren auf der Primitivität und Subhumanität eben jener Sklaven einher. Noch deutlicher wird die auch sprachliche Entlarvung der weißen Sklavenhalter als die wahrhaft primitiven Glieder der amerikanischen Gesellschaft in einem Kommentar des Erzählers zum Gesprächsverhalten eines anderen Sklavenhalters: „His [Mr. Haley’s] conversation was in free and easy defiance of Murray’s Grammar.“44 Aus den angeführten Bespielen lässt sich jedoch mitnichten schlussfolgern, alle weißen Figuren in Uncle Tom’s Cabin seien per se Barbaren wie Legree, während alle schwarzen grundsätzlich Toms Güte zeigten. So zeigt die direkte Rede gutmütiger – aber freilich dennoch am Bestehen der institutionalisierten Sklaverei mitschuldhafter – Sklavenbesitzer Mr. Shelby und Augustine St.Clare im Gegensatz zu der Sprache von Legree keine lektalen Färbungen. Die Sprache von Sambo und Quimbo, die beiden brutalen schwarzen Aufseher auf der Plantage von Simon Legree, ist wiederum ob ihrer Merkmalsdichte schwer entzifferbar. Das brutale Duo repräsentiert eine Gruppe von Sklaven, die sich opportunistisch mit ihren weißen Herren und damit gegen ihre schwarzen Schicksalsgenossen verbünden. Ihre Sprache schlägt aber, als sie ihr Fehlverhalten einsehen und Tom vor dessen Tod reuig um Vergebung bitten, in beinahe lektfreies Standardenglisch um. Hierin wird einmal mehr der den gesamten Roman durchziehende Zusammenhang zwischen Sprache und Moral(losigkeit) deutlich. Durch sprachliche Kreuzungen und die feine Nuancierung der Lektintensität der schwarzen und weißen Sprecher schuf Stowe auch sprachlich ein Mittel zur Identifizierung moralischer Bewertungsstandards im Roman. Mit wenigen Ausnahmen einer anderweitigen Funktionalisierung des Black English sprechen, unabhängig von der Hautfarbe, tendenziell moralisch schlechte Charaktere merkmalsdichteren Lekt als moralisch gute.45 Da höhere Merkmalsdichte in Uncle Tom’s Cabin aufgrund der überwiegend lautmalerischen Darstellung der Lekte und der Abwandlung realweltlicher Lektspezifika auch mit erschwerter Lesbar-

44 EBD., S. 1. 45 Während das sehr merkmalsdichte Afroamerikanisch von Toms gutherziger Ehefrau, Tante Chloe, sowie der selbstbewussten Köchin Dinah in Augustine St.Clares Haus deren Funktion als Dreh- und Angelpunkt in der häuslich-familiären Gemeinschaft der Sklaven identifiziert, ist die stark lektifizierte Sprache des Sklavenmädchens Topsy Teil einer komisch-grotesken Darstellung, mit der Stowe stereotypen Vorstellungen von Schwarzen als von Natur aus wild und nicht zivilisierbar begegnete.

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keit einhergeht, entsteht beim Leser Empathie eher mit Charakteren, deren Sprache er mühelos verstehen kann, d.h. mit jenen schwarzen und weißen Figuren, die Stowe als moralisch vorbildhaft zeichnete. Gleichzeitig postulierte Stowe mit ihrem Sprachgebungskonzept die Nichtexistenz einer typisch schwarzen und einer typisch weißen Sprache. Damit konterkarierte sie zum einen das Stereotyp des ob seiner inferioren Geisteskapazitäten grundsätzlich nur zu primitivem „Neger-Englisch“ fähigen Sklaven. Zum anderen unterstrich sie ihre Überzeugung von der menschlichen Gleichheit von Schwarz und Weiß mit deren sprachlicher Gleichheit.

5. „U N DIGNE PENDANT DE ‚U NCLE T OM ’ S C ABIN ‘“: S PRACHKREUZUNGEN IN T HE G RANDISSIMES Eine derart eindeutige lektale Markierung von moralisch guten und schlechten Charakteren lässt sich im Falle von George Washington Cables The Grandissimes kaum feststellen. Zwar spricht die mahnende moralische Stimme im Roman, der in den USA geborene Sohn deutscher Einwanderer Joseph Frowenfeld, merkmalsfreies Standardenglisch, aber dies gilt auch für Agricola Fusilier, den eigentlich frankophonen Patriarchen des Grandissimes-Clans und standhaften Vertreter des ancien régime.46 Dagegen ist das Englisch seines Neffen Honoré Grandissime, der sich im Verlauf des Romans immer deutlicher auf die Seite Frowenfelds schlägt, zumindest in der Erstveröffentlichung von Cables Text in der Zeitschrift Scribner’s Monthly relativ stark dialektal eingefärbt, wenn auch nicht gar so intensiv wie bei Honorés anderen Verwandten, die an der Seite Agricolas stehen. In anderer Hinsicht jedoch ist The Grandissimes dem 47 Jahre zuvor erschienenen Werk Stowes nicht unähnlich. Wie Uncle Tom’s Cabin muss auch Cables Roman als politisches Werk gelesen werden, mit dem sich der Autor für die Rechte der Afroamerikaner in den Südstaaten der USA einsetzte (hier zur Zeit der Rekonstruktion, also der Epoche nach dem Bürgerkrieg und der offiziellen Abschaffung der Sklaverei). Anders als Stowe jedoch kleidet Cable seine politisch-moralische Botschaft nicht in eine religiöse, sondern eine historische Allegorie: The Grandissimes spielt im New Orleans des frühen 19. Jahrhunderts, genauer: in den Jahren 1803/1804, als sich die überwiegend französischstämmigen

46 Rosenwald argumentiert, Cable behalte das Standardenglische einem „inneren Zirkel“ von Hauptfiguren vor, zumindest für die Zeitschriftenversion trifft dies jedoch nicht zu. Vgl. ROSENWALD, 2008, S. 73.

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Einwohner der Stadt, die sogenannten Kreolen, in der Folge des Louisiana Purchase mit einer als feindlich empfundenen Übernahme durch die US-amerikanische Administration und mit einer wachsenden Zahl von anglo-amerikanischen Einwanderern konfrontiert sahen und um ihre traditionelle Gesellschaftsform bangten. Bereits zeitgenössische Rezensenten erkannten die Analogie zur Situation New Orleans’ bzw. der Südstaaten allgemein nach dem Ende des Bürgerkriegs und der Besatzung der ehemaligen konföderierten Staaten durch Militärgouverneure aus dem Norden. So schrieb etwa Hjalmar Hjorth Boyesen in seiner im November 1880 anonym erschienenen Rezension anlässlich der Buchveröffentlichung des Romans: In fact, the state of affairs in Louisiana in 1804 is so nearly parallel with the state of affairs to-day, or at all events previous to 1876, that to all intents and purposes the book is a study (and a very profound and striking one) of Southern society during the period of reconstruction. Accordingly, we cannot help suspecting Mr. Cable of a benevolent intention to teach his countrymen some fundamental lessons of society and government, while ostensibly he is merely their dispassionate historian.47

Es waren jedoch nicht nur Cables im damaligen Kontext geradezu radikale politische Positionen – seine ebenfalls aus New Orleans stammende Schriftstellerkollegin Grace King sollte ihm später vorwerfen, er sei der Stadt in den Rücken gefallen48 –, sondern auch seine Darstellung der Kreolen und insbesondere von deren Sprache(n), die ihn, wie es sein späterer Illustrator Joseph Pennell formulierte, zum „most cordially hated little man in New Orleans“ machten.49 Wie in The Grandissimes, aber auch in anderen, nicht-fiktionalen Texten des Autors deutlich wird, sah Cable die Darstellung von Lekten in der Literatur als komplexes, sowohl ästhetisches als auch politisches Problem. Im Roman selbst äußert sich dies zum einen an mehreren Stellen, an denen sich der Erzähler über die Unzulänglichkeit des Mediums der gedruckten Sprache zur authentischen Wiedergabe von mündlicher Rede beklagt. So heißt es z.B. zu Beginn von Kapitel XXV: Alas! the phonograph was invented three-quarters of a century too late. If type could entrap one-half the pretty oddities of Aurora’s speech, – the arch, the pathetic, the grave, the earnest, the matter-of-fact, the ecstatic tones of her voice, – nay, could it but reproduce the

47 BOYESEN, 1880, S. 160. Vgl. EKSTRÖM, 1966, S. 155 Fn. 6. 48 KING, 1971, S. 60. 49 ROBINS, 1930, S. 56.

106 | F REITAG /R OSBACH movements of her hands, the eloquence of her eyes, or the shapings of her mouth, – ah! but type – even the phonograph – is such an inadequate thing!50

Hochman nimmt diese Stelle zum Anlass für seine Diskussion der zeitgenössischen Diskurse rund um Edisons Erfindung (s.o.), doch Cable erachtet selbst den Phonographen als unzureichend. Zum anderen wird in The Grandissimes Agricola Fusilier als Verfechter einer Sprachtheorie dargestellt, die streng nach Rassen und Ethnien hierarchisiert. „‚[S]he has picked up as many negro dialects as I know European languages‘“,51 sagt Agricola über eine Quadrone und unterscheidet damit grundlegend zwischen weißen und schwarzen Sprachformen, von denen Erstere das Etikett „Sprache“ verdienen, während Letztere lediglich als „Dialekte“ und damit als ‚minderwertig‘ bezeichnet werden. Doch auch innerhalb der Sprachen gelte es zu differenzieren: „‚English is not a language, sir; it is a jargon! [...] [Y]ou must not expect an old Creole to like anything in comparison with la belle langue.‘“52 Die generelle Darstellung Agricolas im Roman als hoffnungslos aus der Zeit gefallener „aged high-priest of a doomed civilization“53 lässt Cables eigene Ansicht hierzu erahnen. In seinen nicht-fiktionalen Texten wandte sich Cable noch weitaus expliziter gegen rassistische Tendenzen in der Dialektliteratur; 1885 sprach er sich etwa in der Zeitschrift Critic vehement gegen die Praxis des Augendialekts aus: „Why is it that [writers such as Thomas Nelson Page] spell phonetically words which a Negro pronounces exactly the same as a white man does?“54 Mögen Aussagen wie diese auch darauf hindeuten, dass Cable an einer möglichst authentischen und antirassistischen Darstellung von Dialekten gelegen war, so bekannte er jedoch 1897 in Current Literature: „It is probably always best that dialect should be sketched rather than photographed.“55 Brian Hochman vermutet, Cable habe hier eher die Notwendigkeit der Lesbarkeit von Dialektliteratur betonen als Kritik an möglichst authentischen Transkriptionen üben wollen.56 Doch vielleicht reflektiert Cables Aussage auch seine Erfahrungen mit der Rezeption von The Grandissimes. Zwar waren die zeitgenössischen Rezensionen zu Cables Werken überwiegend positiv ausgefallen, auch und gerade hinsichtlich

50 CABLE, 1879/1880, S. 698 [19, 5]. Vgl. auch EBD., S. 197 [20, 2]. 51 EBD., S. 849 [19, 6]. 52 EBD., S. 257 [19, 2]. 53 EBD., S. 818 [20, 6]. 54 Zit.n. HOCHMAN, 2010, S. 528. 55 Zit.n. EVANS, 1971, S. 217f. 56 HOCHMAN, 2010, S. 527.

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seiner Transkriptionen von Lekten. Der Atlantic Monthly z.B. schrieb über die Kurzgeschichtensammlung Old Creole Days (1879): French and Spanish creoles, negroes, half-breed Indians, and Américains of every grade circulate gayly through his pages, meet and part with immense evolution of electricity; and „we hear them speak each in his own tongue,“ for the author’s mastery over mongrel dialects is something marvelous. Surely never before were such novel and varied vocal effects represented by the twenty-six letters of the English alphabet and a few italics and apostrophes.57

Kritisiert wurde allenfalls die mangelnde Lesbarkeit von Cables Dialekten, wie z.B. in Harper’s Magazine: „The dialect dialogues with which the story is profusely garnished have often little to commend them beyond their singularity, and although sufficiently novel and curious to amuse the reader at first, finally become tedious by their excess.“58 Ungleich heftiger fielen jedoch die Reaktionen zu The Grandissimes aus New Orleans aus, insbesondere seitens der Kreolen. Neben zahlreichen kritischen Artikeln in der frankophonen Zeitung L’Abeille de la Nouvelle-Orléans stechen insbesondere zwei Publikationen heraus.59 Im Jahr 1880 veröffentlichte der Abbé Adrien Roquette die Schmähschrift Critical Dialogue between Aboo and Caboo on a New Book or a Grandissime Ascension, in der er Agricola Fusilier unter dem Namen „Aboo“ wiederaufleben lässt und Cables Roman als „an unnatural, Southern growth, a bastard sprout, un digne pendant de ‚Uncle Tom’s Cabin‘“ bezeichnet.60 Aboos Dialogpartner Caboo fällt ein vernichtendes Urteil über Cables Lekte: Had we but the hissing, whistling, howling drunken „mob“ of tortured English words, it might be tolerable; but we have also the worst patois that ever grated the human ear, in savage discord of sounds. Never before were verbs, nouns and adjectives so multitudinously disallied, tied together, whipped into forced union.61

57 N.N., 1880a, S. 44. 58 N.N., 1880b, S. 153. 59 Vgl. TINKER, 1934, S. 324. 60 ROQUETTE, 1880, S. 18. 61 EBD., S. 12.

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Fünf Jahre später brachte der bekannte kreolische Historiker Charles Gayarré die kreolische Kritik an Cables Dialektliteratur auf den Punkt. In The Creoles of History and the Creoles of Romance schreibt er: If Mr. Cable has represented the most distinguished of our creole families as having forgotten to speak French, and as using only the jargon which the negroes had constructed out of that language, this invention would have far exceeded the limits of those liberties which fancy in its wildest flights may be permitted to take with common sense. But when he makes them prefer, not the French, not the creole negro patois, but the broken English of the negroes of Virginia, the Carolinas, Georgia, etc. the perversion of his intellect becomes overpowering and incomprehensible.62

Stein des Anstoßes ist für Gayarré somit die Tatsache, dass die im Roman von den kreolischen Charakteren verwendeten Varianten des Englischen und Französischen von afroamerikanischen Einflüssen zeugten – einerseits das z.T. sehr merkmalsdichte Englisch, das William Evans in einer Studie treffend als „French-English literary dialect“ bezeichnet hat,63 andererseits das selbst für Frankophone beinahe gänzlich unverständliche „patois“. Hatten einige Kritiker die Verwendung dieser Sprachvarianten vor allem als dem sozialen Stand der Charaktere unangemessen erachtet,64 stand für Gayarré der Aspekt der Rasse im Vordergrund. Cable, so der generelle Vorwurf Gayarrés, stelle die Kreolen als linguistisch, kulturell und letztlich auch bezüglich ihrer Abstammung hybrides Volk dar. Damit lag Gayarré nicht gänzlich falsch. In Kapitel IV des Romans schreibt Cable etwa zum Stammbaum der Familie Grandissime, die stellvertretend für alle Kreolen steht: „But the true, main Grandissime stock [...] has kept itself lilywhite ever since France has loved lilies – as to marriage, that is; as to less responsible entanglements, why, of course.“65 Zahlreiche kreolische Charaktere, darunter insbesondere Aurora de Grapion, übernehmen kulturelle Praktiken der Sklaven wie z.B. den Voodoo-Kult. Und das Black English der Sklaven und freien Quadronen stellt, wie Evans bemerkt, zumindest eine der Quellen für den „French-English literary dialect“ der Kreolen im Roman dar.66

62 GAYARRE, 1885, S. 18f. 63 EVANS, 1971. 64 Vgl. EBD., S. 216f. 65 CABLE, 1879/1880, S. 106 [19, 1]. 66 EVANS, 1971, S. 215.

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Im offen rassistischen Kontext der Südstaaten des späten 19. Jahrhunderts kam eine solche Darstellung der Kreolen – ob historisch fundiert oder nicht – jedoch einem Affront gleich. Mit der Abschaffung der Sklaverei nach dem Bürgerkrieg und insbesondere mit dem Wegfall der Unterscheidung zwischen Sklaven und freien Afroamerikanern hatten sich die sozialen Fronten in Louisiana neu zu formieren begonnen. Dazu wurde die alte Rivalität zwischen FrankoAmerikanern (Kreolen jedweder Abstammung) und Anglo-Amerikanern zunehmend durch den rein auf Rasse basierenden Konflikt zwischen Schwarz und Weiß ersetzt. Um ihren ohnehin verminderten ökonomischen, politischen und sozialen Stand nicht noch weiter zu gefährden, insistierten die Kreolen auf eine rein europäische Identität: „By the end of the nineteenth century Creole and American judges and lawmakers alike were vigorously policing the racial boundaries of Louisiana with a one-drop rigor unimaginable at the time of the Louisiana Purchase.“67 Cables Roman, noch dazu ein nationaler Bestseller, schien ohnehin schon virulente Gerüchte, nach denen es sich bei den Kreolen eben nicht um rein weiße Abkömmlinge französischer Siedler handelte, nur noch weiter zu befeuern und wurde gerade deshalb von den Kreolen so heftig attackiert.68 Interessanterweise wurde Cable häufig als Südstaatler charakterisiert, der lediglich aus Gier nach Ruhm und Geld den Nordstaaten nach dem Munde schrieb, so etwa von der bereits erwähnten Grace King (s.o.). Gayarré dagegen warf Cable vor, „one accidentally born“ in Louisiana zu sein und „claiming by virtue of that accident the right, not only to speak in the name of Louisiana, but also of the whole South“.69 Für Gayarré war Cable ein Außenseiter, der böswillig und ohne jegliche Legitimation über die Geschichte, den Charakter und die Bräuche der Kreolen schrieb und sich deren Sprache aneignete; er war, kurzum, ein Kreuzer. Cables Rezeption durch Gayarré und andere Kreolen bestätigt letztlich, was verschiedene Forscher über Crossing allgemein sagen: Die Verwendung eines fremden Codes kann, so schreibt etwa Androutsopoulos, „Einschränkungen unterliegen, da sie situationsspezifisch als diskriminierend empfunden [...] werden kann“.70 Die Kreolen, und allen voran Gayarré, sahen sich durch The Grandissimes diskriminiert und kämpften daher gegen Cables Crossing an.

67 POWELL, 2008, S. 21. Vgl. DOMINGUEZ, 1986, S. 134-147. 68 Vgl. HANDLEY, 2000, S. 63. 69 GAYARRE, 1885, S. 18f. 70 ANDROUTSOPOULOS, 2002, S. 31.

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6. V ON K REUZUNG ZU K REUZUNG : D IALEKTLITERATUR ALS MEDIALE Q UELLEN FÜR C ROSSINGS Uncle Tom’s Cabin und The Grandissimes stellen nun nicht nur selbst Fälle von sprachlichen bzw. literarischen Kreuzungen dar. Als zu ihrer Zeit überaus erfolgreiche Romane fungierten sie auch als Quellen für weitere, z.T. „klassische“ und literarische Crossings.71 So wird etwa von Mark Twain und William Dean Howells berichtet, sie hätten sich bei einem Treffen nach der gemeinsamen (lauten) Lektüre von The Grandissimes den Rest des Tages auf „Creole“ unterhalten.72 Howells selbst schrieb Cable, er spreche nur noch „Creole“ mit seiner Frau.73 Im Falle von Uncle Tom’s Cabin kam es sogar zu weiteren literarischen – oder besser: medialen – Kreuzungen. In den zahlreichen deutschsprachigen Übersetzungen von Stowes Klassiker werden zwar bis heute im Stile des eingangs zitierten Dr. Ungewitter sämtliche den englischen Text auszeichnenden sprachlichen Kreuzungen durch Wiedergabe der Sprache der Dialoge im Standarddeutschen praktisch zurückgenommen. Dadurch ist in den deutschen Übersetzungen nicht nur die Unterscheidung zwischen Schwarz und Weiß zumindest sprachlicherseits aufgehoben, sondern auch die beschriebenen Effekte der von Stowe vorgenommenen sprachlichen Nuancierung auf der Grundlage moralischer Prinzipien und der abolitionistischen Botschaft des Romans. Weitaus interessanter im Hinblick auf language crossings ist dagegen die bislang einzige Spielfilmadaption des Romans;74 eine deutsch-italienische Produktion, die 1965 in deutscher Sprache unter dem Titel Onkel Toms Hütte Premiere feierte.75 Wie in der englischsprachigen literarischen Vorlage sprechen die

71 Medientexte gelten neben persönlichen Kontakten als Hauptressource für sprachliche Kreuzungen; Androutsopoulos spricht etwa von einer „Gleichzeitigkeit direkter und medialer Ressourcen“ (2002, S. 20). Das Besondere an den vorliegenden Fällen ist, dass es sich bereits bei den Medientexten selbst um Kreuzungen handelt. 72 Vgl. TURNER, 1966, S. 122. 73 Vgl. ROSENWALD, 2008, S. 9. 74 Obschon Uncle Tom’s Cabin mit mindestens neun bekannten Produktionen zwischen 1903 und 1927 zu den am meisten verfilmten literarischen Stoffen der Stummfilmära gehörte, wurde der Roman in den Vereinigten Staaten seither nie wieder filmisch adaptiert. Nur einmal, 1946, gab es konkrete Pläne für eine Verfilmung, die aber nach massiven Protesten der National Association for the Advancement of Colored People fallen gelassen wurden. 1987 wurde eine von der britischen BBC produzierte TVFassung ausgestrahlt, die jedoch nie ins Deutsche synchronisiert wurde. 75 Onkel Toms Hütte, 1965.

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Charaktere unterschiedliche Lekte bzw. Akzente, die ihnen jedoch anders als bei Stowe eindeutig aufgrund ihrer Hautfarbe zugeordnet werden. So sprechen die Sklaven um Onkel Tom ein mehr oder weniger stark amerikanisch akzentuiertes Deutsch. Dieses stellt keinen ethnischen Bezug her, da Deutsch-Muttersprachler, würde man die Sprecher nicht sehen, assoziieren würden, es handele sich um einen qua Hautfarbe beliebigen Deutsch sprechenden Amerikaner. Vielmehr lässt der Film die schwarzen Figuren in eine „Lernersprache“76 kreuzen, die nämlich des Deutsch lernenden Amerikaners. Im Zusammenspiel mit den Szenen, in denen Lese- und Schreibdefizite schwarzer Charaktere exponiert werden – Onkel Tom liest die Bibel so stockend wie ein Grundschüler – wird dadurch mehr als die in der Tat bildungsmäßige Benachteiligung der Sklaven auf den Baumwollplantagen in den Südstaaten des 19. Jahrhunderts konnotiert. Demnach erscheint die Sprache der schwarzen Figuren neben dem prävalierenden Deutsch der weißen Südstaatler exotisch; ein Eindruck, der verstärkt wird durch die Tatsache, dass der Film das Schicksal der Sklaven ohnehin nur marginal behandelt. Im Mittelpunkt stehen – ganz im Stile der deutsch-österreichischen Heimatfilme à la Sissi der 1950er Jahre – heimelige Familien- und kitschige Liebesszenen in den feudalen Anwesen der weißen Sklavenhalter, die ein verklärtes Bild der Antebellumzeit zeichnen. Nur folgerichtig erscheint vor diesem inhaltlichen Hintergrund die sprachliche Kreuzung, die der Film auf Seiten der weißen Sprecher vornimmt: O.W. Fischer leiht dem im Roman Standardenglisch sprechenden, patriotischen Südstaatler Augustine St.Clare im Film seinen österreichischen Akzent. Dadurch entsteht, wie Der Spiegel kurz nach der Erstaufführung des Films urteilte, „die Illusion, der Mississippi fließe im Donautal“,77 und damit über die sprachliche Kreuzung hinaus eine geographische und kulturelle Crossing-Situation.

7. F AZIT Zu Beginn des 20. Jahrhunderts geriet die Dialektliteratur in den USA zusehends aus der Mode. Mit dem makrohistorischen Schwellenkontext, den zahlreichen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Umbrüchen des Bürgerkriegs, der Reconstruction und des Gilded Age, schien auch der Einsatz von Lekten, wie sie von Autoren wie Cable und Stowe verwendet wurden, als ästhetische Strategie

76 Vgl..HUNEKE/STEINIG, 2013, S. 40-48. 77 N.N., 1965.

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zur literarischen Verhandlung der sich durch diese Umbrüche ergebende Neuverteilung von sozialen Rollen zu verschwinden. Die Verwendung in diesem liminalen Kontext stellt jedoch nur eine der zahlreichen Parallelen zwischen „klassischen“ und literarischen Kreuzungen dar. So können die Romane von George Washington Cable und Harriet Beecher Stowe exemplarisch als die Pole jener für die amerikanische Dialektliteratur des 19. Jahrhunderts charakteristischen multifunktionalen Verwendung von regional, sozial und ethnisch markierten Lekten gelten: Während sich in beiden Romanen Kreuzungen mit politischen Botschaften verbinden, war Cable in The Grandissimes darum bemüht, Lekte möglichst exakt zu verschriftlichen. Damit wandte er sich insbesondere gegen die selektive Praxis des Augendialekts. Stowe dagegen setzte in Uncle Tom’s Cabin von ihren Vorbildern stark abgewandelte lektale Merkmale gezielt zur Leserlenkung ein. Dadurch sind die hier vorgestellten literarischen Kreuzungen hinsichtlich ihrer über den Sprech- bzw. Schreibakt hinausgehenden Konnotationen dem „klassischen“ Crossing nicht unähnlich. Wie die Rezeption beider Werke schließlich ebenfalls gezeigt hat, stellen literarische Kreuzungen, ähnlich wie „klassische“ Kreuzungen, aber immer auch sprachliche Minenfelder dar. Stowe löste mit ihrem Roman – so wird jedenfalls Abraham Lincoln in einer berühmten Anekdote zitiert – den Bürgerkrieg aus.78 Cable sorgte mit seinem Buch (sowie seinen später publizierten politischen Essays) in seiner Heimatstadt und in den Südstaaten generell für solche Kontroversen, dass er es 1885 vorzog, nach Northampton in Massachusetts zu ziehen. Wer in welchem Kontext welche (fremde) Sprache verwendet, ist folglich auch und gerade in der Literatur von Belang.

L ITERATUR ANDROUTSOPOULOS, JANNIS: jetzt speak something about italiano. Sprachliche Kreuzungen im Alltagsleben, in: Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie 65 (2002), S. 5-35. BLASSINGAME, JOHN W.: The Slave Community. Plantation Life in the Antebellum South, New York/Oxford 1979 (1940). BOYESEN, HJALMAR H.: Cable’s „Grandissimes“, in: Scribner’s Monthly 21, 1 (1880), S. 159-161. BURKETTE, ALLISON: The Use of Literary Dialect in Uncle Tom’s Cabin, in: Language and Literature 10, 2 (2001), S. 158-170.

78 Vgl. VOLLARO, 2009.

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Inszenierung durch Stilisierung fremder Stimmen Sprachliches Crossing am Beispiel einer hispanophonen Migrantengrupppe in Nürnberg S ONJA H IGUERA D EL M ORAL /S ILKE J ANSEN

1. C ROSSING UND ANDERE E RSCHEINUNGSFORMEN VON C ODEWECHSEL Globalisierung, transnationale Migrationsströme und die Entwicklung und Verfügbarkeit digitaler Kommunikation haben die soziale, kulturelle und sprachliche Diversität von Gesellschaften seit den frühen 1990er Jahren weltweit radikal verändert. In den ethnisch heterogenen urbanen Räumen sind seither Sprachpraktiken beobachtet worden, die vorher – wenn überhaupt – nur am Rande Gegenstand der Forschung waren. Dies gilt insbesondere für das sogenannte ‚Language Crossing‘ oder ‚Code-Crossing‘, ein in der Soziolinguistik weit verbreiteter Begriff, der aber aufgrund zahlreicher unterschiedlicher Auffassungen in der Fachliteratur insgesamt weitgehend unbestimmt bleibt. Als Pionier der Crossing-Forschung gilt Ben Rampton, der das Konzept am Beispiel von komplexen sprachlichen Praktiken in einer gemischtethnischen Peergroup im südlichen Mittelengland entwickelte.1 Dort verwendeten schwarze Jugendliche karibischer und weiße Jugendliche englischer Herkunft bisweilen Panjabi, asiatische Jugendliche mit Panjabi-Hintergrund und weiße Jugendliche englischer Herkunft afrokaribisches Kreol, und alle drei Gruppen ein stilisiertes ‚Indian English‘. Nach Ramptons Definition, die die Forschung bis heute prägt,

1

Vgl. RAMPTON, 1995a.

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handelt es sich hier um Crossing als „code alternation by people who are not accepted members of the group associated with the second language they employ“ bzw. „the use of language varieties associated with social or ethnic groups that the speaker does not normally ‚belong to‘“.2 Nach Rampton umfasst Crossing also den Gebrauch von Sprachen und Varietäten, die sozialen oder ethnischen Gruppen zugeschrieben werden, denen der Sprecher von sich selbst und/oder anderen nicht zugeordnet wird und die nicht als Bestandteil seines ‚normalen‘ Sprachrepertoires gelten.3 Da der Sprecher laut Rampton keinen uneingeschränkten und leichten Zugang zu diesen Codes hat,4 wird allgemein angenommen, dass diese ihm nicht ‚gehören‘. Ramptons Crossing-Konzept hat die Forschungen zu mehrsprachigen Kommunikationspraktiken, insbesondere zur Jugendsprache, nachhaltig beeinflusst. Viele Arbeiten, darunter auch die frühen Publikationen von Rampton, betrachten Crossing so als eine Form des Code-Switchings, d.h. des Gebrauchs verschiedener Sprachen durch ein und denselben Sprecher in ein und derselben Interaktion.5 Dabei wird in der Regel hervorgehoben, dass es sich nicht um eine Form des situativen Code-Switchings handelt, bei dem der Sprachwechsel erwartbar ist und mit einer Veränderung der Gesprächssituation einhergeht, sondern um sogenanntes metaphorisches Code-Switching, das unabhängig von der Situation eine veränderte Gefühlslage, Absicht oder Einstellung des Sprechers in Bezug auf seine Äußerung anzeigen soll.6 Im Fall von Crossing wird als zentrale Funktion häufig die Solidarisierung und Identifikation mit einer Gruppe genannt, der der Sprecher nicht angehört, insbesondere wenn es sich um den alternierenden Gebrauch der Muttersprache (L1) und einer zu einem späteren Zeitpunkt erworbenen Sprache oder Varietät (L2) handelt.7 Als Beispiele für diese Form der Sprachalternanz finden sich in

2

EBD., S. 280 und S. 14.

3

Vgl. auch RAMPTON, 1996, S. 14; DERS., 2001a, S. 323; DERS., 2001b, S. 49; DERS., 2009, S. 295.

4

Vgl. DERS., 1998, S. 298 sowie DERS., 2009, S. 287 und S. 291.

5

Vgl. z.B. DERS., 1995a, S. 276-280; DERS., 1995b, S. 485; DERS., 1998, S. 299-311; DERS., 2001b, S. 50.

6

Vgl. BLOM/GUMPERZ, 1972, S. 424f.

7

In der Spracherwerbsforschung wird die als erste erworbene Sprache (die sogenannte ‚Muttersprache‘) als L1 bezeichnet, alle später (und damit in der Regel unvollständig) erworbenen Sprachen als L2, L3 etc. Wir werden im Folgenden die Bezeichnung L2 generell für solche Sprachen verwenden, mit denen der Sprecher erst nach erfolgtem Erstsprachenerwerb in Berührung gekommen ist, unabhängig von der Anzahl und

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der Literatur u.a. der verkaufsstrategische Einsatz des Türkischen durch einen deutschen Gemüsehändler,8 die Verwendung des afroamerikanischen Englisch unter weißen europäischstämmigen Jugendlichen in New York und in Kalifornien,9 der ungesteuerte Erwerb und rudimentäre Gebrauch des Italienischen und Türkischen als L3 unter Jugendlichen mit türkischem, italienischem, spanischem und jugoslawischem Migrationshintergrund in einem multiethnischen Stadtteil in Mannheim10 oder der gesteuerte Erwerb und spontane Gebrauch der Sprache des jeweils Anderen unter griechischen und türkischen Zyprern.11 In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach der Abgrenzung des Crossing von einer Kommunikationspraxis, die in der Soziolinguistik seit den 1980er Jahren als ‚emblematisches Code-Switching‘ beschrieben wird.12 Dabei streuen Sprecher isolierte Elemente wie Interjektionen, Diskursmarker oder kurze Versatzstücke aus einer anderen Sprache in ihren Diskurs ein, um positive Einstellungen zu der anderen Sprechergruppe zum Ausdruck zu bringen. Da dafür minimale bilinguale Kompetenzen ausreichen, ist diese Form des CodeSwitchings insbesondere bei heritage speakers13 oder Fremdsprachenlernern zu beobachten, die sich mit einer Gruppe identifizieren, ohne deren Sprache vollständig zu beherrschen. Der Gebrauch einer L2 aus identitären oder rein praktischen Gründen kann insbesondere im Migrationskontext eine alltägliche, unmarkierte Wahl darstellen, die keinesfalls automatisch Fragen von Legitimität aufwirft.14 Dieser Umstand erschwert die Unterscheidung zwischen Crossing und ‚gemischten‘ Varietäten bzw. Verwendungsweisen der Mehrheitssprache, d.h. Multiethnolekten und gruppenspezifischen multiethnischen Sprachstilen, in denen lexikalisch-phraseo-

Reihenfolge der gesprochenen Sprachen. Bezeichnungen wie L3, L4 etc. verwenden wir nur dann, wenn die Angabe der Erwerbsfolge für die Argumentation von Bedeutung ist. 8

Vgl. HINNENKAMP, 1998.

9

Vgl. CUTLER, 1999; DIES., 2002; DIES., 2008; DIES., 2014; BUCHOLTZ, 1999; DIES., 2011.

10 Vgl. BIRKEN-SILVERMAN, 2004. 11 Vgl. RAMPTON/CHARALAMBOUS, 2012. 12 Vgl. POPLACK, 1980, S. 589f. und S. 614. 13 Als heritage speakers bzw. Herkunftssprecher bezeichnet man simultan oder sukzessiv zweisprachige Kinder von Immigranten (die sog. zweite Generation), die nur einem geringen Input in ihrer Erst- bzw. Familiensprache ausgesetzt sind, sodass sie die Umgebungssprache als ihre dominante Sprache besser beherrschen. 14 Vgl. RAMPTON, 1995b, S. 490-492.

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logische Elemente einer oder mehrerer Migrantensprachen mit einer gewissen Regelmäßigkeit und Unauffälligkeit vorkommen. Darunter fallen beispielsweise die Ausbreitung des Türkischen in einigen multiethnischen Stadtteilen Hamburgs15 und rudimentäre Kompetenzen im Arabischen in einer multiethnischen Peergroup im französischen Grenoble,16 das Straattaal („Straßensprache“) als ein auf dem Niederländischen basierender Multiethnolekt in Utrecht aus kreolischen (Sranan Tongo), englischen und arabischen Komponenten17 sowie das Rinkebysvenska („Rinkeby-Schwedisch“), ein Multiethnolekt auf schwedischer Grundlage, der eine vereinfachte schwedische Grammatik aufweist und zahlreiche Lehnwörter aus dem Türkischen, Arabischen, Griechischen, Spanischen, Finnischen und dem Romanes bzw. Romani (Sprache der Roma) enthält.18 Angesichts dieser Abgrenzugsschwierigkeiten ist es naheliegend, die Zugehörigkeit zwischen Sprache und Sprecher, die den Kern aller gängigen Auffassungen von Crossing ausmacht, kritisch zu hinterfragen. Insbesondere scheint es nicht sinnvoll, diese mechanisch aus dem biographischen Status der beteiligten Sprachen abzuleiten, wie es in der Forschungsliteratur zum Teil geschieht.19 Ausgehend von einem sozialkonstruktivistischen Ansatz soll im Folgenden argumentiert werden, dass Crossing sich nicht über den Erwerbskontext oder den Grad der Beherrschung der beteiligten Codes bestimmen lässt, sondern ausschließlich anhand der Einbettung in die Gesprächssituation. Es handelt sich um einen außergewöhnlichen Interaktionsprozess, bei dem mangelnde Erwartbarkeit, Inkongruenz und Widersprüchlichkeit zentrale Aspekte darstellen und der deshalb besonders reich an situativen Inferenzen ist.20 Beim Crossing macht sich der Sprecher eine fremde Stimme zu eigen, um sich gleichzeitig von ihr zu distanzieren und dabei eine soziale bzw. ethnische Grenze hervorzuheben, indem

15 Vgl. z.B. AUER, 2003; AUER/DIRIM, 2000a; DIES., 2000b; DIES., 2003; DIRIM/AUER, 2003; DIES., 2004 sowie DIRIM, 2005. 16 Vgl. BILLIEZ, 1993 sowie DABENE/MOORE, 1995. 17 Vgl. NORTIER, 2000; DIES., 2001 sowie NORTIER/DORLEIJN, 2013. 18 Vgl. KOTSINAS, 1992; DIES., 1998. 19 Abgesehen von der Problematik der Abgrenzung zu anderen Erscheinungsformen von Sprach- und Varietätenkontakt klingt hier auch eine essentialistische Sichtweise an, nach der ein Individuum nur dann mit Fug und Recht als Sprecher eines Codes gelten kann, wenn es diesen vollständig und im Rahmen seiner Erstsozialisation erworben hat. Auch die Möglichkeit, einen Code flexibel als eigenen oder fremden zu verwenden, wird dabei nicht in Betracht gezogen. 20 Vgl. RAMPTON, 1995a, S. 278; DERS., 2001b, S. 49; DERS., 2009, S. 295; RAMPTON/ CHARALAMBOUS, 2012, S. 484f. und S. 489.

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sie (vermeintlich) übersprungen wird (vgl. den Begriff des Vari-directional Double-Voicing; s.u. 2.). Diese Ambiguität macht den ludischen Charakter von Crossing aus und erklärt, weshalb es häufig in liminalen Situationen zur Anwendung kommt (s.u. 3.) und vor allem der Scherzkommunikation dient (s.u. 4.). Angezeigt wird das Vorliegen von Crossing häufig durch die Stilisierung der fremden Stimme unter Bezug auf gängige Sprachideologien (s.u. 5.). Für unsere Argumentation greifen wir auf Daten aus einer laufenden ethnographischen Studie zu den kommunikativen Praktiken von Migranteninnen und Migranten aus einer internationalen, gemischt-ethnischen Kirchengemeinde in Nürnberg zurück. Es handelt sich dabei um 25 Informanten (12 Männer und 13 Frauen) zwischen 18 und 53 Jahren mit überwiegend hispanophonem Hintergrund und unterschiedlichen Graden an und Konstellationen von Mehrsprachigkeit. Das Repertoire der Sprecher umfasst Varietäten des Spanischen und Deutschen, darüber hinaus aber auch mehr oder weniger umfangreiche Kenntnisse des Englischen, Kroatischen, Italienischen und Portugiesischen. Dabei sind Nationalitäten wie Peru, Venezuela, Ecuador, Kuba, Dominikanische Republik, Kolumbien, Mexiko und Spanien vertreten. Die Gemeinde wird nicht nur von Spaniern und Hispanoamerikanern besucht, sondern auch von Kroaten, Italienern und Brasilianern. Die Studie basiert auf qualitativen ethnographischen Verfahren, wobei Tonbandaufnahmen authentischer Interaktionen sowie offene und teilstrukturierte Interviews (Einzel- und Gruppeninterviews) die Grundlage bilden. Diese Daten werden sowohl durch teilnehmende Beobachtung als auch durch Einträge und Nachrichten in sozialen Medien und Netzwerken ergänzt. Bei einigen der aufgezeichneten Interaktionen ist Sonja Higuera Del Moral (S.H.) als Ethnographin anwesend oder beteiligt. Um die Authentizität der Daten zu gewährleisten, wurden die Gespräche häufig verdeckt aufgenommen. Im Nachhinein wurde dann das Einverständnis der Probanden bezüglich der wissenschaftlichen Nutzung der Audio-Dateien eingeholt. Durch diese teilnehmernahe Perspektive erhält die Forscherin Einblicke in sonst sehr schwer zugängliche Lebensbereiche und Sprachpraktiken und kann ein besseres Verständnis von Bedeutungen und Funktionen von Handlungen sowie zugrunde liegende Ideologien in ihren lokalen Kontexten gewinnen.21

21 Vgl. DURANTI, 1997; HAMMERSLEY/ATKINSON, 2007; AGAR, 2008.

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2. C ROSSING

ALS

D OUBLE -V OICING

Obwohl Rampton den Begriff im Vergleich zu späteren Arbeiten relativ eng fasst, unterscheidet er dennoch zwei Spielarten von Crossing.22 Ausgangspunkt dafür ist Bakhtins Konzept des Double-Voicing, welches die Koexistenz zweier Diskurse oder Stimmen innerhalb einer Äußerung bezeichnet.23 Beim Varidirectional Double-Voicing sind Stimme und Sprecher klar voneinander getrennt, ja sogar entgegengesetzt, sodass die Äußerung als „an act of alterity, [...] antagonistic, i.e., aimed at maintaining or reinforcing group boundaries“ gelten muss.24 Rampton nennt als Beispiel für die Opposition von Selbst und Stimme den Gebrauch des ‚Stylised Asian English‘ bzw. ‚Indian English‘, das Jugendliche aller beteiligten Gruppen zur Stilisierung eines Migrantentypus verwenden, der mit sprachlicher Inkompetenz sowie unbeholfener Ehrerbietung assoziiert wird.25 Insbesondere für die asiatischen Jugendlichen mit Panjabi-Hintergrund verkörpert diese Figur eine historische Übergangsphase, die sie hinter sich lassen wollen und mit der sie sich daher gerade nicht identifizieren. Im Rahmen des Unidirectional Double-Voicing hingegen nimmt der Sprecher die fremde Stimme als Teil seiner eigenen kontextuell relevanten Identität an und vollzieht dadurch „an act of identity, [...] accommodating, i.e., aimed at camouflaging or making irrelevant group boundaries, or even establishing new social categories and ideological alliances“.26 In Ramptons Studie erwerben weiße Jugendliche mit englischem und schwarze Jugendliche mit karibischem Hintergrund rudimentäre Kenntnisse des Panjabi durch freundschaftliche Beziehungen mit Gleichaltrigen indischer und pakistanischer Herkunft und verwenden dieses ausschließlich in deren Gegenwart, vor allem um ihre Verbundenheit und Vertrautheit auszudrücken.27 In unserem Untersuchungskorpus lassen sich als Beispiele für dieses sprachliche Verhalten in erster Linie einfache Sprechhandlungen auf Kroatisch oder

22 Vgl. RAMPTON, 1995a, S. 221-224; DERS., 1995b, S. 505f.; DERS., 1997a, S. 74; DERS., 1998, S. 304f.; DERS., 1999, S. 105f.; DERS., 2009, S. 294f. 23 Vgl. BAKHTIN, 1984, S. 181-204. 24 AUER, 2006, S. 490. 25 Vgl. RAMPTON, 1995a, S. 52, S. 57 und S. 223f.; DERS., 1995b, S. 505; DERS., 1997a, S. 74; DERS., 1997b, S. 14; DERS., 1998, S. 305; DERS., 2009, S. 295; DERS., 2010, S. 138. 26 AUER, 2006, S. 490. 27 Vgl. RAMPTON, 1995a, S. 42-45 und S. 60; DERS., 1996, S. 21; DERS., 2001a, S. 323; DERS., 2009, S. 292.

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Portugiesisch, z.B. Grußformeln bzw. Segenswünsche (z.B. kroatisch Dobro jutro [„Guten Morgen“], Božji blagoslov [„Gottes Segen“], Laku noć [„Gute Nacht“], portugiesisch Deus abençoe. Tudo bem? [„Gottes Segen. Alles gut?“]) sowie Danksagungen (kroatisch Hvala und portugiesisch Obrigado [„Danke“]) finden, die von den hispanophonen Informanten benutzt werden, um sich mit den kroatischen und brasilianischen Gemeindemitgliedern zu solidarisieren. In einer Reihe von Arbeiten wurde bereits darauf hingewiesen, dass Formen von Crossing, die dem Unidirectional Double-Voicing zuzurechnen sind, kaum von lokalen, multiethnischen Kommunikationspraktiken unterschieden werden können.28 Dies gilt in Ramptons Studie besonders für den Gebrauch des Kreols durch Jugendliche nicht-karibischer Herkunft, denn dieses steht für bestimmte Eigenschaften jener Jugendkultur, die von den Sprechern positiv bewertet werden. Die Sprecher schufen sich damit eine neue Identität, die sich einen festen Platz in ihrer alltäglichen Realität behaupten konnte.29 Im Rahmen der hier vorgestellten Studie zum Sprachgebrauch unter hispanophonen Migranten aus unterschiedlichen Herkunftsländern findet sich Unidirectional Double-Voicing darüber hinaus auch in Form sprachlicher Akkommodationsstrategien, wie sie im Varietätenkontakt beschrieben werden.30 In Kontexten, in denen Personen mit unterschiedlichen dialektalen Hintergründen aufeinandertreffen, übernehmen Sprecher häufig Merkmale aus anderen Dialekten, um im Sinne einer positiven Höflichkeitsstrategie kommunikative Nähe auszudrücken. Im Extremfall können dialektale Unterschiede durch gegenseitige Anpassung langfristig nivelliert werden, sodass sich eine neue Varietät herausbildet. Ansätze zum Dialektausgleich finden sich auch in unserem Korpus, beispielsweise in der folgenden Interaktion zwischen einer Venezolanerin, die zehn Jahre in Spanien gelebt hat, und einem Andalusier:

28 Vgl. HEWITT, 1986, S. 147 und S. 151; DERS., 1992, S. 32; RAMPTON, 1995b, S. 506; DERS., 1998, S. 305; DERS., 2009, S. 290 und S. 295; DERS., 2010, S. 138; RAMPTON/CHARALAMBOUS, 2012, S. 485. 29 Vgl. RAMPTON, 1995a, S. 223 und S. 279; DERS., 1995b, S. 506; DERS., 1997a, S. 74; DERS., 1997b, S. 14; DERS., 1998, S. 304f.; DERS., 1999, S. 105; DERS., 2001c, S. 284; DERS., 2009, S. 294; DERS., 2010, S. 137f. 30 Vgl. TRUDGILL, 1986.

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Beispiel (1)31 Gloria: venezolanisch, 37 Jahre, weiblich Pablo: mexikanisch, 40 Jahre, männlich Carlos: spanisch, 26 Jahre, männlich S.H.: deutsch, 28 Jahre, weiblich ((Gloria, Pablo, Carlos und S.H. planen einen gemeinsamen Abend und besprechen mittels schriftlicher Nachrichten über WhatsApp, was jeder zu Essen mitbringen soll.)) 01

Gloria:

Yo puedo hacer pan de jamón y torta quesillo que a todos les gustó. O preferís comida comida? Ich kann Schinkenbrot und Käsetorte machen, die allen geschmeckt hat. Oder bevorzugt ihr richtiges Essen?

02

((...))

03

((Pablo und S.H. machen sich über Carlos lustig.))

04

Gloria:

Jsjssjjsjs hay que ver como sois con el Quillo. Hahaha, man muss zusehen, wie ihr mit dem Jungen seid.

05

S.H.:

¿Qué es quillo? Was ist ‚quillo‘?

06

Gloria:

Así se dicen en Andalucía a los chiquillos, muchachos So sagt man in Andalusien zu den

31 Alle Eigennamen sind anonymisiert; die Transkriptionskonventionen folgen GAT 2 (SELTING et. al., 2009), vgl. auch Anhang. Statt der empfohlenen Schriftgröße 10 (Courier) wird aus Gründen der Übersichtlichkeit die Schriftgröße 9 gewählt. Die spontansprachlichen Äußerungen werden – wenn nötig – abweichend von der spanischen Standardlautung und Orthographie möglichst lautgetreu wiedergegeben. Schriftliche Interaktionen in sozialen Medien sowie Netzwerken werden der Vorlage entsprechend samt Tipp- und Rechtschreibfehlern notiert.

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kleinen Jungen, Jungen 07

chamo Junge

Gloria benutzt hier Verbformen der zweiten Person Plural (preferís [Zeile 01] und sois [Zeile 04]), die im amerikanischen Spanisch inexistent sind (dort wird die dritte Person und das Pronomen ustedes verwendet, die in Spanien als Distanzform fungieren), ebenso wie das Lexem quillo – eine apokopierte Form von chiquillo (‚kleiner Junge‘). Im Gegensatz zu Beispielen wie (10) und (11), in denen fremde spanische Varietäten als fremde Stimme imitiert werden, solidarisiert sich die Sprecherin hier mit ihrem spanischen Freund, indem sie Eigenheiten seiner Sprechweise verwendet. Zwar wird auch bei der Akkommodation ein Code gewählt, der vom Sprecher weder komplett beherrscht noch regelmäßig verwendet wird – allerdings gerade nicht im Sinne von Distanzierung und Abgrenzung. Da das Unidirectional Double-Voicing zu einer so starken Identifikation von Sprecher bzw. Selbst und Stimme führen kann, dass es zu einer Verschmelzung der Stimmen kommt und folglich nicht mehr ein zweistimmiger Diskurs, sondern ein direkter, unvermittelter Diskurs vorliegt,32 ist es fraglich, ob hier tatsächlich eine Distanznahme zum verwendeten Code vorliegt. Wir schlagen daher vor, Sprachpraktiken, die unter das Unidirectional Double-Voicing fallen, nicht als Fälle von Crossing zu betrachten, sondern in Abhängigkeit von ihren jeweiligen Erscheinungsformen als Multiethnolekte bzw. multiethnische Sprachstile, Akkommodation oder auch emblematisches Code-Switching. Nur solche Fälle, in denen eine Distanznahme erfolgt und sprachliche (und damit auch soziale) Grenzen und Unterscheide relevant gemacht werden, sollen im Folgenden unter dem Begriff Crossing diskutiert werden. Dabei ist prinzipiell irrelevant, welchen lebensweltlichen Status die verwendeten Sprachformen für den ‚Crosser‘ haben. Beispielsweise werden in der Literatur unter dem Begriff Code-Switching Fälle beschrieben, die Affinitäten zu Crossing aufweisen, obwohl alle beteiligten Sprachen sehr wohl einen integralen Bestandteil des Repertoires der Sprecher darstellen. So finden sich in einer Studie, welche die Sprachpraktiken zweier Jugendgruppen in Barcelona untersucht, neben unmarkiertem, meist situativ bedingtem Code-Switching zwischen Spanisch und Katalanisch auch Beispiele, in denen über die Sprachwahl spielerisch eine Gruppe stilisiert wird, zu der sich der Sprecher in diesem Augenblick gerade nicht zugehörig

32 Vgl. BAKHTIN, 1984, S. 199.

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fühlt. Katalanisch kann dabei unmännliche, naive, kindische, autoritäre, gehorsame oder versnobte personae repräsentieren.33 In einer weiteren Studie wird die Verwendung eines stilisierten ‚Gastarbeiterdeutsch‘ unter jugendlichen Migrantinnen türkischer Herkunft der zweiten Generation in Mannheim beschrieben. Dieses dient dazu, sich gleichermaßen von der sprachlich und kulturell nur rudimentär an die Mehrheitsgesellschaft angepassten Generation ihrer Eltern sowie den vorurteilsbehafteten Deutschen zu distanzieren.34 Da der Codewechsel hier eine Distanznahme im Sinne des Vari-directional Double-Voicing impliziert, ist es legitim, in diesen Fällen von Crossing zu sprechen – insbesondere auch deswegen, weil die ‚fremde‘ Stimme in diesen Kontexten auch mit sprachlich-stilistischen Mitteln wie einer übertriebenen Intonation (Katalanisch) oder stereotypen grammatischen Merkmalen (‚Gastarbeiterdeutsch‘) angezeigt und explizit als Scherzkommunikation gerahmt wird. Die Daten aus unserem Korpus zeigen, dass bei Crossing-Praktiken, je nach Gesprächskonstellation und -situation, diverse ethnische oder soziale Grenzen hervorgehoben werden. Diese lassen sich zwischen Sprachen (z.B. Verwendung von Elementen aus dem Portugiesischen oder Kroatischen, aber auch PseudoChinesisch und Pseudo-Griechisch) und Dialekten (z.B. das peninsulare, kubanische, dominikanische, venezolanische, mexikanische und argentinische Spanisch) beobachten, ebenso wie zwischen ‚korrekter‘ und ‚falscher‘ Sprachverwendung (vgl. die Verwendung von Lernervarietäten und Foreigner Talk,35 z.B. bei der Stilisierung von Indern, die Deutsch sprechen sowie US-Amerikanern, Haitianern und anderen Ausländern, die Spanisch sprechen). Auch gibt es Grenzziehungen zwischen ethnisch (z.B. stilisiertes Türkendeutsch) oder anderweitig durch soziale Zugehörigkeiten gefärbten Sprachformen (z.B. Stilisierung von ‚Männer-, Homosexuellen- und Frauensprache‘, Sprache der ‚NichtChristen‘ oder anderer christlicher Gruppierungen). Als ein charakteristisches Beispiel für die hier vertretene Auffassung von Crossing kann die folgende Interaktion gelten:

33 Vgl. PUJOLAR, 2001, S. 247, S. 275 und S. 306; s.u. 5. 34 Vgl. KEIM, 2001, S. 72 und S. 82; DIES., 2002, S. 154f.; DIES., 2007, S. 420-434; DIES., 2008, S. 208-217. 35 Unter Foreigner Talk versteht man ein stilisiertes Ausländerregister, dessen zentrales Kennzeichen in der Verwendung von Subjektpersonalpronomen und Infinitiven sowie dem Ausfall von Kopulaverben besteht.

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Beispiel (2) Sergio: dominikanisch, 22 Jahre, männlich Raúl: dominikanisch, 21 Jahre, männlich Javier: dominikanisch, 41 Jahre, männlich S.H.: deutsch, 28 Jahre, weiblich ((S.H. isst nach dem Gottesdienst mit Sergio und Raúl an einem Tisch und spricht mit ihnen über Haiti. Sergio besucht die Kirchengemeinde zum ersten Mal. Plötzlich stößt Javier dazu und stellt sich neben den Tisch. Hoher Geräuschpegel im Hintergrund.)) 01

Javier:

eso varón buen prove:cho, genau Mann guten Appeti:t,

02

Raúl:

ese es mi nuevo amigo aquí; das ist mein neuer Freund hier;

03

Javier:

ESO GENAU SO

04

(---)

05

hablá dominiken?= sprecht ihr Dominikanisch?=

06

=, =,

07 08

((Raúl und Sergio lachen)) S.H.:

estábamos hablando ahora sobre los haitianos. wir haben gerade über die Haitianer gesprochen.

09

Javier:

tú no tené palecido de haití, du schaust nicht haitianisch aus,

10 11

((Raúl und Sergio lachen)) S.H.:

y él ((sieht zu Raúl herüber)) quiere negar que tiene familia de – und er ((sieht zu Raúl herüber))

128 | H IGUERA D EL M ORAL /J ANSEN will bestreiten, dass er

Familienmitglieder hat– 12

(--)

13

quiere negarlo. er will es bestreiten.

14 15

((Sergio lacht)) Raúl:

pero tú sabes que eso no es así; aber du weißt, dass das nicht so ist;

16

((Sergio lacht))

17

((...))

Javier spricht hier mit der Stimme eines haitianischen Migranten, erkennbar an lexikalischen Anleihen an das Haiti-Kreol (vgl. dominiken [Segmente 05 und 06]), am Gebrauch von für den Foreigner Talk typischen Infinitivformen statt finiter Verbformen (hablá statt hablan bzw. hablo [Segmente 05 und 06], tené statt tienes [Segment 09]), sowie an lautlichen Besonderheiten, die einen haitianischen Akzent imitieren sollen (Lambdazismus bei palecido statt parecido [Segment 09]; Ausfall von finalem /-r/ bei hablá und tené). Er spielt dabei mit gängigen sprachlichen Stereotypen, die in der Dominikanischen Republik über Haitianer kursieren,36 und appelliert auf diese Weise an gemeinsames kulturelles Hintergrundwissen der Anwesenden. In Anlehnung an Hill stellt sich hierbei die Frage, inwiefern die Reproduktion dieser Stereotype einem verdeckten Alltagsrassismus gleichkommt.37 Entscheidend für unsere Zwecke ist allerdings die Solidarisierung zwischen den anwesenden Gesprächsteilnehmern, die dadurch erreicht wird, dass die sprachlichen Unterschiede zwischen Dominikanern und Haitianern relevant gemacht und zur Konstruktion einer In- und Outgroup herangezogen werden. Durch den parodistischen Effekt kann die Befangenheit der Situation (Vorstellung eines neuen Gemeindemitglieds) überspielt werden. Die Bewältigung von Schwellenzuständen, in denen die soziale Ordnung unklar oder aufgehoben ist (sogenannten liminalen Situationen), das scherzhafte Element sowie der Rekurs auf sprachliche Stereotype durch Stilisierung sind typische Begleiterscheinungen des Vari-directional Double-Voicing. Sie sollen im

36 Vgl. JANSEN, 2015. 37 Vgl. HILL, 1995; DIES., 1998; DIES., 2008.

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Folgenden anhand weiterer Beispiele aus unserem Untersuchungskorpus illustriert werden.

3. L IMINALITÄT

UND

C ROSSING

Crossing ist potentiell „a socially dangerous act“,38 denn die ‚Eigentümer‘ der Sprache bzw. Varietät können auf die Transgression mit Sanktionen reagieren, sofern diese anwesend bzw. am Gespräch beteiligt sind.39 Die sprachliche Überschreitung einer ethnischen oder sozialen Grenze und das unbefugte Betreten ‚fremder‘ sprachlicher Territorien wirft daher stets Fragen der Legitimität auf, die die Gesprächsteilnehmer im Laufe der Interaktion verhandeln müssen.40 Rampton sowie Rampton und Charalambous stellen in diesem Zusammenhang fest, dass Jugendliche mit Panjabi-Hintergrund und weiße Jugendliche mit englischem Hintergrund generell den Gebrauch des afrokaribischen Kreols in Anwesenheit schwarzer Freunde vermeiden, genauso wie weiße und schwarze Jugendliche kaum ‚Stylised Asian English‘ verwenden, um sich an Gleichaltrige indischer und pakistanischer Herkunft zu wenden, weil dieses Verhalten als riskant betrachtet wird.41 Da das Aushandeln von Grenzen eine heikle Angelegenheit ist, tritt Crossing typischerweise in sogenannten ‚liminalen‘ oder ‚liminoiden‘ Kontexten auf.42 In Anlehnung an Turners Konzept der ‚Liminalität‘ (‚Schwellenphase bzw. -zustand‘) versteht Rampton darunter Situationen,43 in denen die normalen Erwartungen, Strukturen und Regelungen bezüglich der sozialen Ordnung gelockert bzw. aufgehoben oder die Rollen und Aufgaben der Beteiligten nicht klar definiert sind, insbesondere „at the boundaries of interactional enclosures, in the vicinity of delicts and transgressions, in self-talk and response cries, in games,

38 AUER, 2003, S. 75. 39 Vgl. HEWITT, 1982, S. 226; DERS., 1986, S. 135, S. 151 und S. 153; RAMPTON, 1995b, S. 498f.; PUJOLAR, 2001, S. 300; AUER, 2003, S. 75; QUIST/JØRGENSEN, 2009, S. 372; RAMPTON/CHARALAMBOUS, 2012, S. 484f. 40 Vgl. RAMPTON, 1995a, S. 280; DERS., 1995b, S. 485; DERS., 1998, S. 291; DERS., 2009, S. 287; RAMPTON/CHARALAMBOUS, 2012, S. 482. 41 Vgl. RAMPTON, 1995b, S. 500; DERS., 1996, S. 20f.; DERS., 1998, S. 298; DERS., 2009, S. 291; RAMPTON/CHARALAMBOUS, 2012, S. 484f. 42 Vgl. RAMPTON, 1995a, S. 193-197; DERS., 1995b, S. 500f.; DERS., 1997a, S. 65-71; DERS., 1997b, S. 15; DERS., 1998, S. 298; DERS., 2001c, S. 286. 43 Vgl. TURNER, 1982, S. 20-60.

130 | H IGUERA D EL M ORAL /J ANSEN

cross-sex interaction and in the context of performance art“.44 Dabei kann Crossing entweder durch solche Grenzsituationen ausgelöst werden oder auch die Situation erst als liminal definieren.45 Wie Auer bemerkt,46 ist dies ein Punkt, in dem sich Crossing klar von Formen des Code-Switchings unterscheidet. Aus diesem Grund betrachten Auer und Dirim im Einklang mit der hier vertretenen Sichtweise beispielsweise den Wechsel zwischen Deutsch und Türkisch unter Hamburger Jugendlichen ohne türkischen Hintergrund nicht als Crossing:47 Da die türkische Sprache nicht in liminalen Situationen verwendet wird und der Wechsel kein soziales Risiko birgt, sondern eher Teil eines unmarkierten Sprachstils, eines „ethnic, but not Turkish, and sometimes not even ethnic but just fashionable, street-wise youth style“ ist,48 plädieren sie dafür, diese Sprachpraktiken als Code-Switching bzw. Code-Mixing zu beschreiben. In unserem Korpus bestätigt sich, dass Vari-directional Double-Voicing typischerweise in liminalen Situationen zur Anwendung kommt. Hier sind z.B. Kontexte zu nennen, die „an agreed relaxation of routine interaction’s rules and constraints“ bieten,49 darunter die ungezwungene Kommunikation im Rahmen von Spielen (z.B. Monopoly, Wissensspiele und PlayStation) und künstlerischer Betätigung (z.B. gemeinsames Singen). Die folgende Sequenz zeigt das Auftreten von Crossing während eines PlayStation-Spiels: Beispiel (3) Carlos: spanisch, 26 Jahre, männlich Tomislav: kroatisch, 22 Jahre, männlich ((Carlos und Tomislav spielen mit venezolanischen und kroatischen Freunden FIFA 16 auf der PlayStation und sind gemeinsam in einem Fußballteam. Hoher Geräuschpegel im Hintergrund.)) 01

Carlos:

por qué tú tan lento? (--) [sí,] warum du so langsam? (--)

44 RAMPTON, 1995a, S. 281. 45 Vgl. EBD., S. 196; DERS., 1995b, S. 500; DERS., 1998, S. 291. 46 Vgl. AUER, 2003, S. 75. 47 Vgl. AUER/DIRIM, 2000b, S. 110f.; DIRIM/AUER, 2003, S. 58. 48 AUER, 2003, S. 77. 49 RAMPTON, 2009, S. 291.

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[ja,] 02

Tomislav:

[men]tira (.) juega,

03

Carlos:

bueno (-) ;=

[Qua]tsch (.) spiele, gut (-) ;= 04

Tomislav:

=no (.) porque tú solo allí no puedes hacer nada. = nein (.) weil du alleine da nichts tun kannst.

05

Carlos:

y tú qué saber? (.) und du was wissen? (.)

06

; ;

07

sí? (.) – ja? (.) –

08

Tomislav:

[con] suerte;= [mit] Glück;=

09

Carlos:

=bueno,= =gut,=

10

Tomislav:

=yo no jugar con suerte. =ich nicht spielen mit Glück.

Carlos und Tomislav verwenden hier Merkmale des Foreigner Talk (Segmente 01, 05, 06, 07 und 10). Indem unter Rückgriff auf verbreitete Stereotype über Fremdsprachenlerner scherzhaft ein ‚falsches‘ Spanisch in Szene gesetzt wird, bekräftigen die beteiligten Sprecher ihre Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die in der Lage ist, diese Sprache korrekt zu verwenden. Die Grenzziehung erfolgt in diesem Beispiel unabhängig vom sprachbiographischen Status des Spanischen, das für Carlos eine L1, für Tomislav dagegen eine auf hohem Niveau beherrschte L2 darstellt. Häufig erscheint Crossing auch in solchen liminalen Situationen, in denen die soziale Ordnung durch einen erfolgten oder drohenden Gesichtsverlust in Gefahr gerät. Indem Crossing-Praktiken die laufende Interaktion (oder Teile davon) auf eine spielerische Ebene heben, reduzieren sie das gesichtsbedrohende Potenzial von verbalen Angriffen oder allzu direkten Aufforderungen, insbeson-

132 | H IGUERA D EL M ORAL /J ANSEN

dere wenn diese einen obszönen oder anzüglichen Charakter haben. Durch den Wechsel in eine ‚fremde‘ Stimme bleibt der propositionale Gehalt bzw. die illokutionäre Kraft der Äußerung erhalten, ohne dass diese dem Sprecher direkt angelastet werden könnte.50 In den folgenden Beispielen wird eine peinliche Situation durch Crossing neu als Scherzkommunikation gerahmt, wodurch der Gesichtsverlust abgewendet und die Situation entschärft werden kann: Beispiel (4) Santiago: venezolanisch, 31 Jahre, männlich Jorge: venezolanisch, 26 Jahre, männlich Diego: kubanisch, 52 Jahre, männlich Rosa: mexikanisch, 41 Jahre, weiblich S.H.: deutsch, 28 Jahre, weiblich ((Santiago spricht in Anwesenheit von S.H., Diego, Rosa und weiteren Gemeindemitgliedern mit Jorge über dessen Pläne, in Deutschland zu bleiben. Santiago rügt ihn, da er zu wenig Deutsch lernt und das Deutschbuch, das er ihm geliehen hat, bislang kaum zum Einsatz kam.)) 01

Santiago:

[dime la verdad-] (---) [sag mir die Wahrheit-] (---)

02

Diego:

[escucháme (.) [hör

03 04

] escucháme;

mir zu (.)] hör mir zu;

((S.H. lacht)) Santiago:

dime la verdad; (--) sag mir die Wahrheit; (--)

05

cuántas veces has abrido el (.) el [el] wie oft hast du das (.) das [das] (Deutschbuch) geöffnet

06

S.H.:

? ?

07

Rosa:

abierto.=

50 Vgl. SCHWITALLA, 1988, S. 172f.; SEBBA, 1993, S. 107f.; HILL, 1999, S. 552; PUJOLAR, 2001, S. 181, S. 199f. und S. 203; ANDROUTSOPOULOS, 2003, S. 98.

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aufgemacht.= 08

Diego:

=.=

09

Santiago:

=.

=.=

[olβiðaɻ] =. 10

((Gelächter der Anwesenden))

Der Gesprächsausschnitt zeigt eine gesichtsbedrohende Situation, in der Santiago seinem Freund Jorge vorwirft, sich zu selten mit seinem Deutschbuch zu beschäftigen, dabei aber selbst einen groben Fehler in seiner Muttersprache begeht (in Form einer nicht normgerechten analogen Partizipform abrido statt abierto von dem Verb abrir „öffnen“ [Segment 05]). Auf seinen Fehler hingewiesen verfällt Santiago in eine stilisierte Lernervarietät, deren wesentliches Charakteristikum die Verwendung von Infinitiven anstelle finiter Verbformen darstellt (hier: olvidar statt olvidé [Segment 09]). Die retroflexe Aussprache des [r]Lautes in olvidar suggeriert dabei, dass ein US-amerikanischer Lerner des Spanischen repräsentiert wird.51 Im Gelächter der Zuhörer löst sich die Spannung der liminalen Situation. Im folgenden Beispiel dient die Verwendung von Leitmerkmalen aus einer anderen Varietät des Spanischen dazu, einen Gesichtsverlust abzuwenden: Beispiel (5) Carlos: spanisch, 26 Jahre, männlich Mateo: mexikanisch, 28 Jahre, männlich ((Carlos und Mateo sind bei einem Freund zu Hause. Jemand lässt im Laufe des Abends immer mal wieder eine Darmblähung entweichen. Nach einer besonders geräuschvollen Entweichung fällt der Verdacht auf Carlos.)) 01

Mateo:

ya ves como si eras tú? siehst du nun dass du es warst?

51 Bei der Bildung dieses Lautes biegt sich die Zungenspitze nach oben zurück. Der spanischen Norm hingegen würde hier die Aussprache eines stimmhaften alveolaren Taps [ɾ] entsprechen, bei dem eine einmalige schlagende Bewegung der Zungenspitze gegen den Zahndamm erfolgt.

134 | H IGUERA D EL M ORAL /J ANSEN 02

Carlos:

lo hice con la boca pinche puto, (---) ? hast du das etwa nicht mitbekommen Mann>?

Mithilfe der Intonation, der für das amerikanische Spanisch typischen Bevorzugung des einfachen statt des zusammengesetzten Perfekts (oístes [Segment 03])52 sowie der Verwendung von pinche (eigentlich ‚Küchenjunge‘, im vulgären Register des mexikanischen Spanischen attributiv verwendet im Sinne von ‚Scheiß…‘ [Segment 02]) und dem in Mexiko verwendeten Diskursmarker güey (Segment 03), inszeniert Carlos in seiner Äußerung einen mexikanischen Sprecher und dämpft durch den komischen Effekt das gesichtsbedrohende Potential sowohl von Mateos Anschuldigung als auch seiner Entgegnung darauf. Die fremde Stimme ermöglicht es ihm, seinem Ärger durch einen hochgradig vulgären Kraftausdruck (pinche puto) Luft zu machen, ohne Sanktionen oder eine Eskalation der Situation befürchten zu müssen.

4. C ROSSING

ALS

S CHERZKOMMUNIKATION

In seiner Untersuchung zur medialen Stilisierung von Türkendeutsch stellt Androutsopoulos fest, dass fast allen Vorkommen von Crossing eine scherzhafte, expressive, unernste Modalität gemein ist.53 Gemäß eigener Aussagen verwenden die Sprecher Türkendeutsch „aus Spaß, als Witz, just for fun“.54 Durch kreative Sprachkreuzungen profilieren sie sich als rhetorisch gewandte Entertainer,

52 Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass die normgerechte Form hier oíste lauten würde. In einem informellen, niedrigen Sprachregister wird in einigen Varietäten des Spanischen an die Perfektform der zweiten Person Singular in Analogie zum Präsens (in diesem Fall: oyes) jedoch ein finales -s angehängt. 53 Vgl. ANDROUTSOPOULOS, 2001, S. 332. 54 EBD.

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wobei das Hervorbringen eines fremdsprachigen Effekts meist wichtiger zu sein scheint als die Vermittlung einer konkreten Proposition bzw. Illokution.55 Anstelle der referentiellen Funktion dominieren in diesen Interaktionen also die poetischen sowie die ludischen Funktionen von Sprache.56 Die Gegensätzlichkeit von Sprecher und Stimme ist dabei neben der Stilisierung (s.u. 5.) das zentrale Element, aus dem die Komik resultiert.57 Der Zusammenhang zwischen Crossing und Scherzkommunikation bestätigt sich ausnahmslos in den von uns untersuchten Beispielen, in denen stets der Spaß am Spiel mit der Sprache und an der Parodie im Vordergrund steht. Die poetische und ludische Funktion treten beim Crossing in ‚Pseudosprachen‘ besonders deutlich zutage: Beispiel (6) Santiago: venezolanisch, 31 Jahre, männlich Carmen: venezolanisch, 24 Jahre, weiblich Markus: deutsch, 34 Jahre, männlich Dario: kroatisch, 23 Jahre, männlich ((Santiago, Carmen, Markus und Dario spielen in einer ethnisch bunt gemischten Gruppe Bingo. Die Buchstaben-Zahlen-Kombinationen werden immer auf Spanisch und auf Deutsch vorgelesen, was sich als ziemlich verwirrend herausstellt. Ein kurzes, im Hintergrund parallel stattfindendes Nebengespräch bleibt im vorliegenden Transkript unberücksichtigt.)) 01

Santiago:

O fünfundsechzig;=

02

Carmen:

=O sesenta y cinco.

03

Markus:

mach einfach auf (--) griechisch.

04 05

((Santiago und Markus lachen)) Markus:

.

06 07

Santiago:

O diaponetschi. ((Markus lacht))

55 Vgl. DERS., 2003, S. 92. 56 Vgl. auch RAMPTON, 1999, S. 107; DEPPERMANN, 2007, S. 339 und S. 343. 57 Vgl. auch die sogenannte Inkongruenztheorie als eine der einflussreichsten Humortheorien; MARTIN, 2007.

136 | H IGUERA D EL M ORAL /J ANSEN 08

((...))

09

Dario:

das war jetzt auf griechisch.

10

Markus:

echt?

11

Santiago:

ah,

12 13

((Santiago und Carmen lachen)) Dario:

14

und jetzt auf indisch; ((Carmen und S.H. lachen))

15

Dario:

,

16

Santiago:

auf chinesisch oder indisch?

17

Dario:

chinesisch.

18

Santiago:

inatschajo tschojo–

19 20

((Carmen lacht)) Santiago:

I veintiséis. I sechsundzwanzig.

Auch im folgenden Beispiel tragen die Anleihen ans Kroatische bzw. argentinische Spanisch wenig zum inhaltlichen Fortgang der Interaktion bei, wohl aber zur Belustigung der Gesprächsteilnehmer (ebenso wie zur Klärung einer liminalen Situation) durch das Spiel mit Sprachen und Varietäten: Beispiel (7) Yanet: venezolanisch, 29 Jahre, weiblich Santiago: venezolanisch, 31 Jahre, männlich Ivan: kroatisch, 26 Jahre, männlich Carmen: venezolanisch, 24 Jahre, weiblich ((Yanet, Santiago, Ivan und Carmen sind mit Freunden im Ski-Urlaub in Tschechien und besprechen den Tagesablauf. Die Situation ist angespannt, da die Beteiligten schon seit längerer Zeit über die Tagesplanung diskutieren, ohne sich einigen zu können. Ein kurzes, im Hintergrund parallel stattfindendes Nebengespräch bleibt im vorliegenden Transkript unberücksichtigt.)) 01

Yanet:

; ;

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02

Santiago:

| 137

ne razumem (.) [ne razumem] ich verstehe nicht (.) [ich verstehe nicht]

03

Dario:

[ne razumem] [ich verstehe nicht]

04

Carmen:

[ne razumem] (.) ne razumem= [ich verstehe nicht] (.) ich verstehe nicht=

05

Santiago:

=ne razumem ništa– (--) =ich verstehe nichts– (--)

06

[niš]ta; [nichts];

07

Ivan:

[ich] habe jetzt verstanden dass wir heute zu äh (-) die Städte äh (--) be[sichtigen] wollen.=

08

Carmen:

09

Santiago:

[anschauen] =ne (.) šta radiš ivan? =ne (.) was machst du Ivan?

10 11

((Yanet und Carmen lachen)) Ivan:

ich habe so verstanden (.) ich weiß nicht.

12

Carmen:

; ;

13

Santiago:

da– ja–

14 15

((Yanet und Carmen lachen)) Santiago:

da che. ((lacht)) ja che. ((lacht))

Santiago, der mit Yanet normalerweise Spanisch und mit Ivan Spanisch oder Deutsch spricht, benutzt in diesem Gesprächsausschnitt kroatische Versatzstücke (Segmente 02, 05, 06 und 09), um sich über die mühevolle Tagesplanung seiner

138 | H IGUERA D EL M ORAL /J ANSEN

Freunde lustig zu machen. Die Fragmente erfüllen keine darstellende Funktion, sondern sollen die angespannte Situation aufbrechen. Als Carmen sich über Santiagos Aussprache mokiert und meint, diese klinge wie Kroatisch mit argentinischem Akzent, greift Santiago die Bemerkung auf, indem er die kroatische Bejahungspartikel da mit der Interjektion che (Segment 15) kombiniert, die das stereotypischste lexikalische Charakteristikum des argentinischen Spanisch darstellt. Die fremde Stimme markiert hier für alle sichtbar den Wechsel auf eine nicht-referentielle Ebene der Kommunikation. Durch die Wendung ins Scherzhafte wird der drohende Streit abgewendet.

5. C ROSSING , S TILISIERUNG

UND

E NREGISTERMENT

Die hier vorgestellten Beispiele, aber auch die Fälle von ‚echtem‘ Crossing in der Literatur verbindet eine Tendenz zur Stilisierung, bei der bestimmte soziale und ethnische Typen (im Sinne von personae) effektvoll in Szene gesetzt werden. Rampton zeigt dies am Beispiel von Jugendlichen karibischer, englischer und asiatischer Herkunft, die ein stilisiertes ‚Asian English‘ verwenden,58 sowie von Londoner Jugendlichen, die ‚ultra-posh‘ und ‚Cockney‘ stilisieren.59 Weitere Beispiele in der Literatur sind texanische Frauen, die ‚extra-Southern‘ agieren,60 afroamerikanische Schüler, die das Standardenglische überspitzen,61 sowie ein Discjockey aus Cardiff, der ‚hyper-Welsh‘ imitiert.62 Diese Beispiele lenken den Blick weg von dem Status, den bestimmte Codes in der Sprachbiographie der Akteure haben, hin zur Funktion von Crossing: Der Sprecher mimt einen bestimmten Typus, will aber in der aktuellen Sprechsituation verstanden wissen, dass er mit einer fremden Stimme spricht und der anvisierten Gruppe nicht angehört. Strenggenommen erfolgt also gar kein Wechsel in einen anderen Code (im Sinne einer fremden Sprache oder Varietät), sondern in einen anderen Stil.63

58 Vgl. RAMPTON, 1995a. 59 Vgl. DERS., 2003; DERS., 2006. 60 Vgl. JOHNSTONE, 1999. 61 Vgl. CLARK, 2003. 62 Vgl. COUPLAND, 2001. 63 Vgl. auch die Abgrenzung, die AUER, 1989, S. 29 zwischen Stil und Varietät vornimmt: „Stil ist […] immer als Stil-von-x-interpretiert-von-y zu verstehen; es gibt linguistische Variation als solche, aber Stil immer nur in Beziehung zu einem interpretie-

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Dass der Begriff des Stils für das Crossing eine wichtigere Bezugsgröße darstellt als der der Sprache wird insbesondere anhand der Studie von Pujolar zum spanisch-katalanischen Code-Switching unter Jugendlichen in Barcelona deutlich: Selbst wenn diese beim Crossing in die jeweils andere Sprache wechseln, verfallen sie dabei immer auch in ein stilistisch markiertes Register. So greifen sowohl muttersprachliche als auch kompetente L2-Sprecher des Katalanischen auf ein breites Spektrum an Stilisierungsformen für verschiedene stereotype personae zurück, wenn sie im Vari-directional Double-Voicing ins Katalanische wechseln. Sie setzen etwa durch eine affektierte Intonation Sprecher in Szene, deren Verhalten unter den Jugendlichen als unmännlich gilt.64 Auch Bilinguale mit geringen Kompetenzen im Spanischen oder Katalanischen werden häufig zur Zielscheibe des Spottes, indem ihr Akzent sowie typische spanisch-katalanische Interferenzen parodiert werden.65 Schließlich werden einige Äußerungen so stark phonetisch und lexikalisch verfremdet, dass lediglich der Lauteindruck des Katalanischen entsteht.66 Der unmittelbare Zusammenhang zwischen ‚fremder‘ Stimme und Stilisierung, den wir der hier vertretenen Auffassung von Crossing zugrunde legen, zeigt sich auch in der Verwendung von spanischen Soziolekten in Pujolars Korpus: So zeichnen sich die Jugendgruppen der Trepas und Rambleros durch jeweils eigene Gruppensprachen aus, die phonetische Merkmale des andalusischen Spanischen (Rambleros) und lexikalische Elemente des sogenannten inner city argot (Trepas) aufweisen. Stilisierte Komponenten des Soziolektes der jeweils anderen Gruppe erscheinen dabei ausschließlich im Vari-Directional DoubleVoicing, während die eigene Gruppensprache als ‚eigene‘ Stimme verwendet wird.67 In diesen und den hier präsentierten Beispielen aus unserem Korpus spielen die ‚Crosser‘ stets mit stereotypen Zuschreibungen von Sprechweisen zu ethnischen und sozialen Gruppen, die im gemeinsamen Hintergrundwissen der Inter-

renden Teilnehmer der Kultur und in Beziehung zu einem Anderen, den dieser ihm zuschreibt.“ 64 Dazu gehören „non-drinkers, non-swearers, non-slang speakers, non-rough people, naive or plainly stupid characters, people close to mainstream values, with proper manners and so on“ (PUJOLAR, 2001, S. 196). 65 Z.B. un altre golp („ein anderer Schlag“, nach span. golpe) statt un altre cop im normgerechten Katalanisch; vgl. EBD., S. 197. 66 Vgl. EBD., S. 194 sowie die oben genannten Beispiele von Crossing in ‚Pseudosprachen‘. 67 Vgl. EBD., S. 157, S. 167, S. 302 und S. 304.

140 | H IGUERA D EL M ORAL /J ANSEN

aktionsteilnehmer verankert sind. Gleichzeitig werden dabei auch außersprachliche Eigenschaften bzw. Werturteile aufgerufen, die mit diesen Gruppen assoziiert werden. Wie aus den bisher analysierten Beispielen hervorgeht, bedienen sich die Sprecher beim Wechsel in ein haitianisch, mexikanisch oder ‚homosexuell‘ (vgl. Beispiel 11) markiertes Spanisch nicht wirklich einer fremden Varietät – im Sinne eines Subsystems der spanischen Sprache.68 Sie greifen wohldosiert auf Merkmale zurück, die für die Adressaten einen hohen Wiedererkennungswert haben. Entscheidend ist dabei nicht, ob die intendierte Gruppe die verwendeten Merkmale tatsächlich systematisch aufweist, sondern lediglich, ob diese für die Adressaten sozial interpretierbar sind: Ist dies der Fall, so sind sie geeignet, einen bestimmten Typus sprachlich in Szene zu setzen. Damit verliert auch die Frage ihre Relevanz, ob der ‚Crosser‘ die verwendete Sprache oder Varietät als L1 oder L2 spricht (vgl. insbesondere auch Kreuzungen in ‚Pseudosprachen‘, s.o.). Die Aufladung sprachlicher Merkmale mit sozialer Bedeutung – in der Soziolinguistik unter dem Terminus enregisterment (Registrierung) bekannt69 – dient dabei der Konstruktion sozialer Differenz. Das ideologische Element,70 das der Stilisierung zugrunde liegt, lässt sich unmittelbar aus der sprachlichen Gestaltung der inszenierten Varietäten ablesen. Wir greifen zu ihrer Beschreibung auf die semiotischen Prozesse der Ikonisierung (iconization) und der Löschung (erasure) aus der Sprachideologieforschung zurück.71 Bei der Ikonisierung werden sprachliche Varietäten, Merkmale und Praktiken als ihren Sprechern in ‚natürlicher‘ Art und Weise zugehörig verstanden, so dass Bilder (‚images‘) von Menschen (z.B. ‚der Migrant‘ etc.) und ihrer vermeintlich inhärenten Sprechweise aufgerufen werden (z.B. ‚der Migrant spricht gebrochen Deutsch‘ bzw. auf der Ebene der sprachlichen Merkmale: ‚der Migrant spricht in Infinitiven‘). Bei der Löschung werden Fakten, die nicht mit der Sprachideologie in Einklang zu bringen sind, ausgeblendet – z.B. die Tatsa-

68 Vgl. schon AUER, 1989. 69 Vgl. AGHA, 2005, S. 38: „[P]rocesses whereby distinct forms of speech come to be socially recognized (or enregistered) as indexical of speaker attributes by a population of language users.“ 70 Wir beziehen uns hier auf Sprachideologien im Sinne von „ideas with which participants and observers frame their understanding of linguistic varieties and map those understandings onto people, events, and activities that are significant to them“ (IRVINE/GAL, 2000, S. 35). 71 Vgl. EBD., S. 37f.; vgl. auch das Konzept der „indexical order“ nach SILVERSTEIN, 2003.

I NSZENIERUNG DURCH S TILISIERUNG FREMDER S TIMMEN

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che, dass etliche Migranten ein unauffälliges Deutsch sprechen, oder aber dass L2-Deutsch typischerweise neben nicht normgerechten Verbformen noch weitere Charakteristika aufweist. Ikonisierung und Löschung äußern sich beim ‚Performen‘ einer fremden Stimme darin, dass einige wenige sprachliche Charakteristika als Leitmerkmale ausgewählt und in exzessiver Form verwendet werden, andere dagegen ausgeblendet werden, so etwa die Koronalisierung des ich-Lauts [ç] > [ʃ], z.B. ich > isch im medialen Türkendeutsch, unter weitgehender Vernachlässigung weiterer Merkmale des ethnolektalen Deutschen.72 Dadurch kommt es zu einer Verfremdung der inszenierten Stimme im Vergleich zur soziolinguistischen Realität, die aber den Wiederkennungseffekt in keiner Weise beeinträchtigt, sondern gerade hervorbringt. Der Rückgriff auf saliente, ikonisierte Merkmale und der damit einhergehende Stilwechsel fungieren dabei als Kontextualisierungshinweise,73 d.h. als interpretationsleitende Indikatoren, die uns signalisieren, dass in dieser spezifischen Gesprächssituation mit einer fremden Stimme gesprochen wird. Angesichts der Zusammensetzung der hier untersuchten Gruppe ist es nicht verwunderlich, dass die sprachliche Variation in der Hispanophonie immer wieder zum Gegenstand von Stilisierung wird, insbesondere die als stark idiosynkratisch wahrgenommenen Varietäten der Antillen (Kuba und Dominikanische Republik), Mexikos und – aus hispanoamerikanischer Sicht – Spaniens. Im folgenden Beispiel wird ein typisches Merkmal des Antillenspanischen, nämlich der Lambdazismus (d.h. die Realisierung des Vibranten /r/ als Lateral [l]), zum Ausgangspunkt für ein Sprachspiel zwischen Hispanophonen, deren Varietäten sich nicht durch dieses Charakteristikum auszeichnen: Beispiel (8) Rosa: mexikanisch, 41 Jahre, weiblich Pablo: mexikanisch, 40 Jahre, männlich Gloria: venezolanisch, 37 Jahre, weiblich S.H.: deutsch, 28 Jahre, weiblich

72 Vgl. ANDROUTSOPOULOS, 2010, S. 197; DERS., 2011, S. 95 und S. 107f. 73 Vgl. GUMPERZ, 1982, S. 131: „[A] contextualization cue is any feature of linguistic form that contributes to the signalling of contextual presuppositions“ sowie AUER 1992, S. 35: „These were defined as non-referential signantia which have to be related to the verbal message by processes of inferencing in order to provide these with the contexts in which they can be interpreted“.

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((Rosa, Diego, Gloria und S.H. spielen mit venezolanischen und spanischen Freunden ein Wissensspiel, bei dem man farbige Plastikkäsestücke sammeln muss. Hoher Geräuschpegel im Hintergrund.)) 01

Rosa:

verde. grün.

02

Pablo:

[velde] (.) se dice [velde;] [grün] (.) es heißt [grün;]

03

Gloria:

[vale;] [in Ordnung;]

04

S.H.:

[qué di]ce el azul en realidad? [was sa]gt der Blaue eigentlich?

05 06

((...)) S.H.:

entonces (--) un verde. also (--) einen Grünen.

07

Gloria:

? (---) ah; ? (---) ah;

08

((greift nach Objekt auf dem Tisch))

09

mira (.) la catira ya tiene un velde. na sieh mal einer an (.) die Blondine hat schon einen Grünen.

10 11

((...)) Pablo:

no (.) no tengo queso. nein (.) ich habe keinen Käse.

12

Rosa:

ese (-) el tuyo es [éste;] der da (-) dieser hier ist [deiner;]

13

Gloria:

[no man]ches (.) no tengo ni idea. [erzähl] keinen Mist (.) ich habe keine Ahnung.

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14

Pablo:

| 143

entonces me voy es acá;74 also gehe ich hier hin;

15

((geht mit der Spielfigur einige Felder weiter))

16

amarillo (-) . gelb (-) .

17

((...))

Der Lambdazismus kommt in vielen standardfernen Varietäten des Spanischen vor, ist aber in der hispanophonen Welt vor allem als Erkennungszeichen des kubanischen Spanisch registriert. Ikonisierung und Löschung manifestieren sich in diesem Beispiel einerseits darin, dass das Leitmerkmal auch in Kontexten erscheint, in denen es im Antillenspanischen nicht verwendet wird (nämlich in intervokalischer Stellung im Beispiel amalillo statt amarillo [Segment 16]). Andererseits werden zahlreiche weitere lautliche Merkmale wie der weit verbreitete Ausfall von silbenschließendem [-s], die das Spanische im karibischen Raum auszeichnen, nicht aufgegriffen. Das Antillenspanische ist ebenfalls Gegenstand der im Folgenden dargestellten Sprachkreuzungen: Beispiel (9) Diego: kubanisch, 52 Jahre, männlich Juana: peruanisch, 28 Jahre, weiblich Lucía: kolombianisch, 51 Jahre, weiblich ((Diego und Juana sprechen nach der Silvesterparty in der Kirchengemeinde darüber, wer einen Teller Pasta, der übrig geblieben ist, essen soll. Lucía stößt mit einem weiteren Gericht in der Hand dazu.))

74 An dieser Stelle kommt es zu einer weiteren Sprachkreuzung, bei der Pablo das venezolanische Spanisch durch den Gebrauch einer fokussierenden ser-Konstruktion (me voy es acá [me.CL voy.gehen.1SG.PRS es.sein.3SG.PRS acá.hier]) parodiert. Die Struktur wird nur in wenigen Gebieten der Hispanophonie (Venezuela, Kolumbien, Ekuador, Panama, Dominikanische Republik) verwendet und ist für Sprecher anderer Varietäten stark auffällig.

144 | H IGUERA D EL M ORAL /J ANSEN 01

Diego:

yo no quiero pasta (.) yo quiero comida de verdad. ich will keine Pasta (.) ich will echtes Essen.

02

Juana:

tú quieres calne;= ((lacht)) du willst Fleisch;= ((lacht))

03

Diego:

=y arroz (.) arroz y carne;= =und Reis (.) Reis und Fleisch;=

04

Juana:

05

Diego:

=; =; y caine- (--) und Fleisch- (--)

06

caine (-) [como dicen los dominica]nos. Fleisch (-) [wie die Dominika]ner sagen.

07

Lucía:

[mira (.) pero esto sí

] [te sirve,

]

[schau mal (.) aber das] [taugt dir doch,] 08

Juana:

[calne pula;] [reines Fleisch;]

09

Lucía:

o tampoco? oder auch nicht?

Diego, dessen Aussprache von Juana karikiert wird (calne statt carne [Segmente 02 und 08], moldel statt morder [Segment 04] und pula statt pura [Segment 08]75), nimmt diese Situation selbst zum Anlass zu einer weiteren Sprachkreuzung. Diese wird angezeigt durch die Vokalisierung des implosiven /r/ zu [j] (caine statt carne [Segmente 05 und 06]), die das volkstümliche Spanisch in der Region Cibao auszeichnet und die traditionell als Leitmerkmal des Spanischen der Dominikanischen Republik gilt.76 75 Ähnlich wie in Beispiel (8), in dem Pablo amarillo durch amalillo ersetzt, wird hier der Vibrant /r/ in intervokalischer Stellung als Lateral [l] realisiert, d.h. in einem lautlichen Kontext, in dem der Lambdazismus im Antillenspanischen nicht vorkommt. 76 Vgl. JANSEN, 2015.

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| 145

Eine weitere Varietät des Spanischen, die häufig für Crossing-Praktiken herangezogen wird, ist die peninsulare: Beispiel (10) Pablo: mexikanisch, 40 Jahre, männlich Carlos: spanisch, 26 Jahre, männlich ((Pablo spricht mit Carlos über WhatsApp, um ihr nächstes Treffen zu planen und zu vereinbaren, was jeder Einzelne mitbringt. Die beiden kommen ins Gespräch über ihre landestypischen Gerichte.)) 01

Pablo:

oye tío (.) pero no sé cuales son los churros con chile ni cítricos ni qué– (---) hör mal Mann (.) aber ich weiß nicht was das für churros (spanisches Fettgebäck) sind weder mit Chili noch mit Zitrusfrüchten oder sonst was– (---)

02

de de qué habláis tío?= wovon redet ihr Mann?=

03

=vamos vamos (.) vamos tío (.) vamos (.) eh (-) por favor eh (-) de qué habláis? =los los (.) los Mann (.) los (.) äh (-) bitte äh (-) wovon redet ihr?

04

vamos tío (.) que que también eh (--) eh estabámos pensando hacer un pollito con mole; los Mann (.) wir haben auch äh (--) äh überlegt ein Hühnchen mit Mole zu machen;

05

qué os paracéis tío?

[oθ] [pareθei̯ s] was haltet ihr davon Mann? 06

queréis eh eh queréis pollo con mole?

[kerei̯ θ]

[kerei̯ θ]

146 | H IGUERA D EL M ORAL /J ANSEN wollt äh äh wollt ihr Hühnchen mit Mole? 07

((Carlos schreibt eine Nachricht, in der er mitteilt, dass ihm Mole nicht schmeckt))

08

Pablo:

pues lástima (.) porque nosotros también odiamos la paella; ((lacht)) na schade (.) weil auch wir Paella nicht ausstehen können; ((lacht))

09

((Carlos wirft Pablo vor, dass er noch nie Paella probiert hat und fragt ihn, was noch mal genau Mole ist. Als dieser ihn aufklärt, dass es sich hierbei um eine Soße aus Schokolade und Chili handelt, erinnert sich Carlos, dass dieses Gericht das einzige war, das ihm in Mexiko nicht geschmeckt hat.))

10

Pablo:

pero es es solamente es para para (.) éste (.) paladares muy exigentes (.) éste (.) estómagos finos (.) porque para estómogos corrientes como que no. (--) aber das ist ist nur etwas für für (.) äh (.) sehr anspruchsvolle Gaumen(.) äh (.) feine Mägen (.) weil für gewöhnliche Mägen irgendwie nicht. (--)

11

para los

estómogos corrientes

existe la paella; für gewöhnliche Mägen gibt es Paella; 12

Carlos:

? dass sie einen gewöhnlichen Magen hat oder was Mann>? 13

Pablo:

pero eh yo no critico a a vuestra esposa ves, (.)

[espoθa] aber ich äh kritisiere doch nicht eure Ehefrau siehst du, (.) 14

sino sino a vuestro estómago. sondern sondern euren Magen.

Im vorliegenden Gesprächsausschnitt stilisiert Pablo die Sprechweise der Spanier mithilfe einer Reihe von Leitmerkmalen, darunter Verbformen (Segmente 02, 03, 05 und 06) und Possessivdeterminanten (Segmente 13 und 14) der zweiten Person Plural, die im amerikanischen Spanischen inexistent sind (dort werden stattdessen Verbformen der dritten Person Plural mit dem entsprechenden Subjektpronomen ustedes und der Possessivdeterminante su verwendet, die in Spanien als Distanzform fungieren). Typisch für Ikonisierung ist der exzessive Gebrauch auch in Kontexten, in denen die Form der zweiten Person Plural normalerweise nicht erscheinen würde (vgl. den Gebrauch zur Referenz auf eine einzige Person in den Segmenten 02, 03 und 06 und anstelle einer unpersönlichen Verbform in Segment 05: os parecéis statt os parece). Eine weitere sprachliche Ebene, auf der in diesem Beispiel Sprachkreuzungen angezeigt werden, ist die Prosodie und Phonetik. Carlos parodiert die mexikanische Intonation und Pablo verwendet den stimmlosen interdentalen Frikativ /θ/ als Leitmerkmal für die Inszenierung der Stimme eines Spaniers. Dieser ist in der Hispanophonie als das Erkennungszeichen schlechthin für Sprecher des europäischen Spanischen registriert. An seinem Beispiel lässt sich die Funktionsweise von Ikonisierung und Löschung besonders gut illustrieren: Einerseits trifft es sehr wohl zu, dass der Laut /θ/ typisch für das peninsulare Spanisch ist, da er in keiner hispanoamerikani-

148 | H IGUERA D EL M ORAL /J ANSEN

schen Varietät existiert. Andererseits handelt es sich auch nicht um den einzigen lautlichen Unterschied zwischen dem europäischen und dem mexikanischen Spanisch, und nicht alle Spanier verwenden den Interdental – dies betrifft gerade auch Carlos, der aus einer Region in Andalusien stammt, wo /θ/ und /s/ ebenso wie in Hispanoamerika zu /s/ zusammengefallen sind. Bei seinen Kreuzungen verwendet Pablo den Interdental zudem auch in Positionen, wo auch im Spanischen der Iberischen Halbinsel ein [s] realisiert werden würde (os in Segment 05, queréis in Segment 06 und esposa in Segment 13). Neben Lautung und Grammatik ist darüber hinaus auch die Lexik Gegenstand von Ikonisierung (vgl. die Diskursmarker tío [Segmente 01, 02, 03, 04 und 05] sowie die Interjektion vamos [Segmente 03 und 04] für das peninsulare und esposa sowie güey [Segment 12] für das mexikanische Spanisch).77 Die Stilisierung des peninsularen Spanisch fand im Untersuchungskorpus in mehreren Fällen auch im schriftlichen Medium statt: Beispiel (11) Pedro: venezolanisch, 29 Jahre, männlich Carlos: spanisch, 26 Jahre, männlich ((Pedro schreibt Carlos über Facebook eine Nachricht, in der er ihm zum Geburtstag gratuliert.)) Olé pepinillo!!!! Un año más de vida hostia! Pues que la paséis bien cariño! Un abrazo y Feliz Cumpleaños majo! Hey saure Gurke!!!! Noch ein Lebensjahr, verdammt! Also habt eine gute Zeit, Schatz! Eine Umarmung und alles Gute zum Geburtstag, Hübscher!

Neben der Verbform der zweiten Person Plural (paséis) wird die fremde Stimme hier vorwiegend durch die Lexik angezeigt, denn die Interjektionen olé und hostia sowie der Gebrauch von majo als Anrede sind in Hispanoamerika nicht üblich und gelten als typisch für den Sprachgebrauch von Spanien. Hier wird nicht

77 Man beachte auch die stereotype Gegenüberstellung von Mole und Paella, die hier gemeinsam mit den sprachlichen Merkmalen Mexiko und Spanien verkörpern sollen, ebenso wie die Anspielung auf die Mariachi-Musiker, die mit ihren großen Hüten als Vorbild für stereotype Vorstellungen von Mexikanern dienen.

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| 149

nur eine ethnische bzw. dialektale Grenze übersprungen, sondern es wird durch die Anredeformen cariño und majo auch eine als feminin bzw. (unter Männern) homosexuell konnotierte Sprechweise stilisiert.

6. F AZIT : C ROSSING ALS INSZENIERTE G RENZÜBERSCHREITUNG Seit den Pionierarbeiten von Rampton versteht man unter Crossing den Wechsel in Sprachen oder Varietäten, die dem Sprecher nicht ‚gehören‘. Unklar bleibt, nach welchen Kriterien die Zugehörigkeit eines Sprechers zu einem Code bestimmt werden kann, zumal die lebensweltliche Verwendung von mehreren Sprachen mit unterschiedlichem Grad der Beherrschung ebenso wie Dialektkontakt und Akkommodation im Zuge von Globalisierung und Sprechermobilität heute einen Normalfall darstellen. Aus einer sozialkonstruktivistischen Perspektive wird in diesem Beitrag argumentiert, dass (schon um essentialistische Auffassungen des ‚kompetenten‘ Sprechers zu vermeiden) der sprachbiographische Status des entsprechenden Codes für den ‚Crosser‘ nicht als maßgeblich für das Vorliegen von Crossing angesehen werden kann. Entscheidend ist vielmehr, ob signalisiert wird, dass der Sprecher nicht mit seiner eigenen, sondern mit einer fremden Stimme spricht (vgl. den Begriff des Vari-directional Double-Voicing). Dies geschieht meist in liminalen Gesprächssituationen und im Kontext von Scherzkommunikation. Der ‚Crosser‘ appelliert dabei an gemeinsames Hintergrundwissen bezüglich der Existenz sozialer personae und ihrer (vermeintlichen) Sprechweisen, wie sie in der betreffenden Sprachgemeinschaft registriert sind (im Sinne von enregisterment). Im Gegensatz z.B. zum emblematischen CodeSwitching und zur Akkommodation im Varietätenkontakt handelt es sich beim Crossing um eine Performance, in der Regel in Form einer Parodie, bei der ein bestimmter Typ Sprecher effektvoll in Szene gesetzt wird. Strenggenommen erfolgt also kein Wechsel in eine andere Sprache oder Varietät, sondern in einen mehr oder weniger artifiziellen Stil, bei dessen sprachlicher Gestaltung die sprachideologischen Prozesse Ikonisierung und Löschung wirksam werden. Die Verwendung von Merkmalen, die in der Sprachgemeinschaft als Indikatoren für bestimmte Varietäten registriert sind, fungiert dabei als Kontextualisierungshinweis im Bezug auf das Vorliegen von Vari-directional Double-Voicing. Indem eine sprachliche Grenze überschritten wird, wird diese nicht etwa nivelliert, sondern im Gegenteil gerade affirmiert und relevant gemacht.

150 | H IGUERA D EL M ORAL /J ANSEN

A NHANG : T RANSKRIPTIONSKONVENTIONEN 78 Fettdruck

für die Analyse relevante Okkurrenzen von Crossing

Kursivdruck

Übersetzung ins Deutsche

GROSSBUCHSTABEN

Starke Betonung

[ ]

Simultansprechen; die innerhalb der Klammern stehenden Äußerungen überlappen sich

[ ] ((hustet))

para- und außersprachliche Handlungen und Ereignisse

sprachbegleitende para- und außersprachliche Handlungen und Ereignisse mit Reichweite

interpretierende Kommentare mit Reichweite

=

schneller, unmittelbarer Anschluss neuer Sprecherbeiträge oder Segmente (latching)

((...))

Auslassung im Transkript

(.)

Mikropause, geschätzt, bis ca. 0.2 Sek. Dauer

(-)

kurze geschätzte Pause von ca. 0.2.-0.5 Sek. Dauer

(--)

mittlere geschätzte Pause von ca. 0.5-0.8 Sek. Dauer

(---)

längere geschätzte Pause von ca. 0.8-1.0 Sek. Dauer

78 Nach SELTING et al., 2009.

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| 151

:

kurze Dehnung, Längung um ca. 0.2.-0.5 Sek.

?

hoch steigende Tonhöhenbewegung am Ende von Intonationsphrasen

,

mittel steigende Tonhöhenbewegung am Ende von Intonationsphrasen



gleichbleibende Tonhöhenbewegung am Ende von Intonationsphrasen

;

mittel fallende Tonhöhenbewegung am Ende von Intonationsphrasen

.

tief fallende Tonhöhenbewegung am Ende von Intonationsphrasen

forte, laut; hohe Lautstärke; mit Extension

lento, langsam; niedrige Sprechgeschwindigkeit; mit Extension

hohes Tonhöhenregister; mit Extension

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I NSZENIERUNG DURCH S TILISIERUNG FREMDER S TIMMEN

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DERS.: Crossing into Class: Language, Ethnicities and Class Sensibility in England, in: Language and Identities, hg. von CARMEN LLAMAS/DOMINIC WATT, Edinburgh 2010, S. 134-143. RAMPTON, BEN/CHARALAMBOUS, CONSTADINA: Crossing, in: The Routledge Handbook of Multilingualism, hg. von MARILYN MARTIN-JONES et al., London 2012, S. 482-498. SCHWITALLA, JOHANNES: Die vielen Sprachen der Jugendlichen, in: Kann man Kommunikation lehren? Konzepte mündlicher Kommunikation und ihrer Vermittlung, hg. von NORBERT GUTENBERG, Saarbrücken 1988, S. 167-176. SEBBA, MARK: London Jamaican. Language Systems in Interaction, London 1993. SELTING, MARGRET, et al.: Gesprächsanalytisches Transkriptionssystem 2 (GAT 2), in: Gesprächsforschung – Online-Zeitschrift zur verbalen Interaktion 10 (2009), S. 353-402. SILVERSTEIN, MICHAEL: Indexical Order and the Dialectics of Sociolinguistic Life, in: Language & Communication 23, 3/4 (2003), S. 193-229. TRUDGILL, PETER: Dialects in Contact, Oxford 1986. TURNER, VICTOR: From Ritual to Theatre. The Human Seriousness of Play, New York 1982.

„Shice auf Hiphop“ RechtsRap als Crossing?

1

T HORSTEN H INDRICHS

So wenig der Terminus RechtsRock als musikalischer Genrebegriff verstanden werden darf (dazu ist das Spektrum der popmusikalischen Stile in diesem Bereich spätestens seit Mitte der 1990er Jahre viel zu disparat), so tauglich – und gerade im Hinblick auf politische Bildungsarbeit auch notwendig – ist er als Sammelbegriff für Musik der rechtsradikalen Szene(n). Demnach markiert RechtsRock „ein von der organisierten extrem rechten Politik zu unterscheidendes kulturpolitisches Spektrum, das nach den gängigen Mechanismen jugendkultureller Selbstorganisation funktioniert“.2 Die RechtsRockszene hatte sich in Deutschland Mitte der 1980er Jahre – von Liedermachern wie Frank Rennicke abgesehen – zunächst abseits parteipolitischer Strukturen herausgebildet.3 In der Tat begegnete die zumeist parteipolitisch organisierte radikale Rechte dem Rock Against Communism (RAC) als rechtsradikaler Spielart des Oi!-Punk und später auch dem (NS)Black Metal lange Zeit mit einer gewissen Skepsis. Erst um die Jahrtausendwende wandte sich die NPD unter der Führung ihres damaligen Parteivorsitzenden Udo Voigt der RechtsRockszene zu und ‚entdeckte‘ die – aus NPD-Sicht als vorteilhaft angesehene – vorgebliche ‚Wirkung‘ von Musik zu Propaganda- und vor allem Rekrutierungszwecken:

1

Für ihre freundliche Unterstützung möchte ich Jan Raabe, Christoph Schulze und den Menschen von MOBIT e.V. herzlichst danken.

2

DORNBUSCH/RAABE, 2002, S. 10.

3

Vgl. STEIMEL, 2008.

160 | H INDRICHS Die Musik transportiert Meinung, Musik transportiert Kultur und das ist für uns ein wichtiges Bindeglied zur Jugend. Weil über Musik sprechen wir die Jugend an, und sind dann in der Lage, wenn wir ihre Herzen über die Musik geöffnet haben, ihnen auch letztendlich schulisch unsere Ideen beizubringen.4

Dieser Programmatik zum Trotz schien die etablierte und auf ideologische Linientreue ausgerichtete rechtsradikale Parteipolitik der Dynamik der als eigenen Nachwuchs verstandenen rechtsradikalen Jugendszene(n) allerdings zunächst weiter hinterherzuhinken: Diese Jugendszene(n) lassen sich – hier bewusst verkürzend – für den Moment unter dem Oberbegriff ‚rechtsradikale Subkultur‘ subsumieren und in Opposition zu den ideologisch orientierten „Scheiteln“ der NPD setzen;5 als 2004 ein loser Verbund Freier Kameradschaften mit der CD Anpassung ist Feigheit – Lieder aus dem Untergrund eine erste sogenannte „Schulhof-CD“ auf den Markt zu bringen versuchte (die CD wurde noch vor der Veröffentlichung sowohl als jugendgefährdend indiziert als auch als strafrechtlich einschlägig beschlagnahmt), zog die NPD wenige Monate später mit einer eigenen Schulhof-CD nach.6 Im Gegensatz zum breiten musikalischen Spektrum der ‚freien‘ Schulhof-CD, das zweifelsohne den zeitgenössisch aktuellen Geschmack rechtsradikaler Subkultur(en) in Deutschland inklusive Hatecore (NSHC) als rechtsradikaler Spielart des Hardcore abbildete, beschränkte sich diese (erste) NPD-Schulhof-CD auf Songs, die musikalisch entweder RAC oder der rechten Liedermacherszene zuzuordnen sind. In etwa zur gleichen Zeit bildete sich mit der Szene der Autonomen Nationalisten (AN) eine neue, junge rechtsradikale Szene in Deutschland, die weder mit rechter Parteipolitik noch mit jenen bereits als alt wahrgenommenen Teilen der eher subkulturell ausgerichteten Szenen der ‚Freien Kameradschaften‘ allzu viel zu tun haben wollte und eigene Ausdrucksformen rechtsradikaler Haltungen und Einstellungen entwickelte:7 Bekleidung, Rituale und Aktionen der AN sind aus verschiedenen Jugendkulturen gesampelt und mit neuen Deutungsmustern aufgeladen. Viele Stilelemente der Bekleidung und Symbolik der AN wurden der autonomen Antifa entlehnt. Das bisher bei Nazis verpönte Sprayen, das sich in Kreisen der AN zunehmender Beliebtheit erfreut, wurde durch die Hip-Hop-Szene popularisiert.8

4

VOIGT, 2004, zit.n. STEIMEL, 2008, S. 160.

5

Vgl. u.a. SCHULZE, 2016, S. 8f.

6

NPD, 2004.

7

Zu AN vgl. PETERS/SCHULZE, 2009 und SCHULZE, 2016.

8

RAABE, 2009, S. 28f.

„S HICE AUF H IPHOP “

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Nur auf den ersten Blick scheinen Hip-Hop und Rechtsradikalismus indessen unvereinbar. Bereits 2002 haben Hannes Loh und Murat Güngör auf eine zunehmende Verwendung von „Nazi-Metaphern im [deutschen] Battle-Rap“ als „letzte Stufe der Krassheit“9 hingewiesen.10 Überdies finden sich im Deutschrap seit etwa Mitte der 2000er Jahre immer mehr Acts, die sich wahlweise als ‚Patrioten‘ (King Bock) oder ‚stabile Deutsche‘ (Fler) inszenieren bzw. inszeniert werden.11 In beiden (und etlichen weiteren, ähnlich gelagerten) Konstellationen werden rechte sowie rechtsradikale Einstellungen und Haltungen jedoch stets außerhalb der rechtsradikalen Szene(n) in Deutschland artikuliert. Von rechtsradikalem Hip-Hop, der innerhalb der rechtsradikalen Szene(n) erstens selbst und zweitens planmäßig gemacht wird, lässt sich hingegen erst ab dem Jahr 2010 sprechen.12 Sprachgesang zum Untergang (SzU) ist ein Nebenprojekt der thüringischen NSHC-Band Eternal Bleeding und verdeutlicht bereits durch die Namenswahl sowohl des Projekts als auch der gleichnamigen, 2010 bei der Gjallarhorn Klangschmiede erschienenen CD das Ringen der rechtsradikalen Szene(n) um eine als angemessen verstandene Genrebezeichung: ‚Sprachgesang‘ und ‚NRap‘ verweisen auf das musikalische Genremodell Hip-Hop, markieren jedoch gleichzeitig die als offenbar notwendig erachtete Distanz sowohl zu dessen afroamerikanischen Ursprüngen als auch zu den zugehörigen jugendkulturellen Kontexten. Im Gegensatz zum SzU, deren Tracks sowohl musikalisch als auch mit Blick auf technische Skills wenigstens ungeübt und vor allen Dingen ungeschickt, mithin zur „musikalischen Öffnung der Herzen“ von Hip-Hop-Fans kaum tauglich klingen, nähern sich zwei weitere RechtsRap-Projekte, die 2011

9

LOH/GÜNGÖR, 2002, S. 292.

10 In diesem Zusammenhang berichten sie vom seinerzeit zunehmenden Phänomen einer nur vordergründig widersprüchlichen Vereinbarkeit von beispielsweise „Störkraft und Ice-T“ auf Seiten der Rezipierenden (vgl. LOH/GÜNGÖR, 2002, S. 282). 11 Vgl. beispielsweise SOOKEE, 2015, S. 7-9. 12 Zwar veröffentlichten 2003 drei selbsternannte ‚Rapper‘ aus Dessau unter dem Namen Dissau Crime eine erste CD (Zyklon D – Frontalangriff) mit explizitem RechtsRap. Die Akteure hinter Dissau Crime waren jedoch nicht Teil der organisierten radikalen Rechten, weshalb die CD für die folgende Argumentation vernachlässigt werden kann. Der vermutlich erste Rap-Track, der aus der radikalen Rechten heraus produziert wurde, war „Wer rettet uns?“ des Liedermachers Jan-Peter Kersting, der 2005 sein Album Schwertzeit (unter dem Projekttitel Veritas Invictus) veröffentlichte. Allerdings ist dieser Song der einzige Rap-Track des Albums und Kersting ist weder zuvor noch danach durch eine nennenswerte Nähe zu Hip-Hop aufgefallen, so dass auch dieser Track vernachlässigt werden kann.

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je eine eigene CD auf den Markt brachten, der Sprache des Hip-Hop bereits deutlich überzeugender an. Sowohl Natürlich als auch N’Socialist Soundsystem (NSS) sind ihrerseits Nebenprojekte bereits etablierter RechtsRockbands,13 wobei sich Natürlich auf der EP Lebe jeden Tag vorrangig der musikalischen Sprache der Fantastischen Vier bedienen, wohingegen es NSS – wie noch zu zeigen sein wird – von allen drei Projekten am ehesten gelungen ist, die für Hip-Hop zentralen Codes und Styles scheinbar ‚authentisch‘ umzusetzen.

1. R AP

UND DIE RADIKALE

R ECHTE

Zwar war sich die rechtsradikale Szene hinsichtlich der Aneignung von Rap als eigener popmusikalischer Ausdrucksmöglichkeit im Frühjahr 2012 noch recht uneins, wie der Screenshot einer entsprechenden Umfrage im (seit Juni 2012 verbotenen) Internetportal thiazi.net verdeutlichen mag (vgl. Abb. 1). Abbildung 1: thiazi-Umfrage zu RechtsRap, März 2012

Quelle: Screenshot des Verfassers

13 Hinter Natürlich steckt die Potsdamer RechtsRockband Cynic, hinter NSS die NSHCBand Häretiker, die im Großraum Karlsruhe zu verorten ist.

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Doch Malte Redeker, der mit seiner in Ludwigshafen ansässigen Gjallarhorn Klangschmiede als einer der einflussreichsten Produzenten der rechtsradikalen Musikszene(n) gelten kann, schrieb in einer szeneinternen Mail dazu deutlich: „Man mag vom Phänomen ‚Sprechgesang‘ halten was man möchte – ich persönlich kann damit eigentlich gar nichts anfangen, allerdings darf die Propagandawirkung nicht unterschätzt werden.“14 Damit knüpfte er an die eingangs zitierte Sichtweise Udo Voigts an. Es ist insofern nur auf den ersten Blick irritierend, dass sich – bei aller Uneinigkeit – ‚ausgerechnet‘ bei genuin rechtsradikalem Hip-Hop zeitgleich eine zumindest vorsichtige Annäherung von ‚völkischen Scheiteln‘ und ‚rechtsradikaler Subkultur‘ beobachten lässt, wie die Ankündigung eines Auftritts von NSS beim Sommerfest der NPD-Naheland 2011 nahelegt (vgl. Abb. 2). Abbildung 2: Werbeplakat Sommerfest NPD-Naheland, 22. Juni 2011

Quelle: NPD

14 N.N., 2011, S. 27.

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Mehr noch: Trotz seiner offenkundigen Abneigung gegenüber Hip-Hop versuchten sowohl Redeker als auch Henry8, der strategische Kopf von NSS, ‚nationalen Sprechgesang‘ innerhalb der rechtsradikalen Szene(n) in Deutschland weiter zu etablieren. Redeker veröffentlichte auf seinem Label im Herbst 2012 den Sampler Legion N-Rap – Ein.Stand als „Projekt diverser ‚Rechtsrap‘-Künstler. Sind praktisch alle bekannteren Musiker auf der Platte“, wie es am 31. Oktober 2012 in der entsprechenden Ankündigung auf der Homepage der Gjallarhorn Klangschmiede heißt.15 Henry8 wiederum brachte 2012 und 2013 zwei weitere EPs auf den Markt, beide zwar unter eigenem Namen, doch jeweils mit werbendem Verweis auf NSS. Seitdem allerdings sind weder Redeker noch Henry8 (bzw. NSS) in irgendeiner Weise erkennbar weiter mit RechtsRap in Erscheinung getreten. Der Versuch, Hip-Hop seit dem Jahr 2010 aus der radikalen Rechten selbst heraus als RechtsRap zu etablieren – sei es aufgrund der Annahme einer angenommenen Propagandawirkung von Musik oder einer Aktualisierung jugendkultureller Praktiken für eine szeneeigene Anhängerschaft – reiht sich beinahe nahtlos ein in die rechtsradikale Tradition der strategischen sukzessiven Übernahme von Codes und Styles, einschließlich deren rechtsradikaler Umdeutung ‚anderer‘ popmusikalischer Zusammenhänge. Gleichgültig, ob Oi!-Punk zu RAC, BlackMetal zu NSBM, Hardcore zu NSHC oder das Code- und Handlungsrepertoire der linksautonomen Szene zu AN umgedeutet wurde: In der wissenschaftlichen Diskussion wurden solche Phänomene bislang recht einhellig – und durchaus aus guten Gründen – als Strategien der Übernahme, der Entwendung oder der Aneignung gewertet. Zumindest das Phänomen RechtsRap lässt sich möglicherweise jedoch auch als Crossing, als „the use of language varieties associated with social or ethnic groups that the speaker doesn’t normally ‚belong‘ to“ lesen.16 Denn nicht nur die kontinuierlichen Prozesse der Aneignung ‚anderer‘ popkultureller Praktiken durch die radikale Rechte beruht auf Übernahmestrategien. Auch Hip-Hop selbst lebt sui generis von Sampling und Bricolage als wesentlichen Konstituenten seiner ihn konstruierenden kulturellen Praktiken. Und schließlich: Als ursprünglich soziolinguistisches Konzept verweist Crossing auf jene als gegeben angenommen strukturellen Gemeinsamkeiten der beiden Kommunikations- bzw. Äuße-

15 Neben SzU und NSS sind auf dem Cover offiziell MCDerrick, Mic Revolt, Ricky R. und Riot Lutz genannt; höchstwahrscheinlich handelt es sich hier jedoch um wechselnde Kollaborationen der zentralen Akteure von SzU und NSS, nicht um eigenständige RechtsRap-Acts. 16 RAMPTON, 2005, S. 28.

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rungssysteme Musik und Sprache, die in vielleicht keinem anderen (pop-)musikalischen Genre derart eng zusammenzuhängen scheinen wie im ‚Sprechgesang‘ des Rap. So verführerisch eine solchermaßen lineare Lesart von RechtsRap als Crossing auf den ersten Blick erscheinen mag, so schwierig liegen die Dinge jedoch spätestens dann, wenn es gilt, das soziolinguistische Konzept Crossing auf Popmusik zu übertragen.

2. M USIK

UND ‚ DOING SOCIETY ‘

Udo Voigts (und etlicher anderer) Idee, über Musik die Herzen der Jugend öffnen zu wollen, verweist auf mitteleuropäische Konzepte der Frühromantik, denen zufolge Musik erstens mehr und zweites wirkmächtiger sei als Sprache.17 Hatte beispielsweise Ende des 18. Jahrhunderts Jean-Jacques Rousseau in seinem Essai sur l’origine des langues (1781)18 noch einen gemeinsamen anthropologischen Ursprung von Sprechen und Singen als Formen menschlichen SichÄußerns postuliert, so ist mit und vor allem nach Immanuel Kants Kritik der Urteilskraft – von Forkel und Herder über Hoffmann und Hegel bis hin zu Hanslick und Adler – eine zunehmende kategoriale Differenzierung von Singen einerseits und Musik andererseits zu beobachten, in deren Folge ‚Musik‘ als Kunst sui generis verstanden wird.19 Eine Musikwissenschaft jedoch, die erstens ihren akademischen Ursprung in genau dieser Überzeugung genommen und zweitens ihr Selbstverständnis als Geisteswissenschaft aus genau diesem Paradigma abgeleitet hat, hat zu Crossing eigentlich wenig bis gar nichts zu sagen. Zugleich würde jeder Denkansatz, der Hip-Hop bzw. Popmusik generell wieder auf eine Kategorie des Singens zurückführte, die kategoriale Trennung von Singen und Musik nicht nur nicht aufheben, sondern nurmehr verstärken; mithin wäre (beispielsweise) Popmusik weiterhin nicht Musik. Statt also so oder so die Unterscheidung zwischen Kunst und Nicht-Kunst fortzuschreiben, dürfte eine Verschiebung der Perspektive auf einen Musikbegriff, der Musik in erster Linie als Handeln versteht, deutlich zielführender sein: „There is no such thing as music. Music is […] an activity, something that people do. The apparent thing ‚music‘ is a figment, an abstraction of the action.“20

17 Eine Idee, die sich bemerkenswerterweise auch in der vielfach verwendeten Wendung von ‚Musik als Einstiegsdroge‘ wiederfindet. 18 Insbesondere in den Kapiteln XII-XIX. 19 Vgl. TOMLINSON, 2003. 20 SMALL, 1998, S. 2.

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Musik als Handeln zu verstehen, hat vordergründig sehr viel mit dem im Grunde genommen recht simplen Verständnis zu tun, dass Menschen Musik machen, indem sie entweder bestimmte klangliche Ereignisse selbst erzeugen, indem sie ein Instrument spielen und/oder indem sie solche bestimmten klanglichen Ereignisse als Musik wahrnehmen. Musik ‚an sich‘ ist nichts, nicht gut oder böse, nicht blau oder grün, nicht schön oder hässlich. Musik ist schlicht ein klangliches Ereignis und zugleich doch mehr als bloß ein klangliches Ereignis, denn nicht jedes klangliche Ereignis ist auch Musik, sondern einem bestimmten klanglichen Ereignis muss die Bedeutung Musik zugeschrieben werden, damit es Musik sein kann. Diese Bedeutungszuschreibung wird immer von Menschen vorgenommen: „Nicht ‚Musik‘ muss untersucht werden, sondern die klangliche Ebene und die sich auf dieser Basis entfaltenden Begriffe, welche um die Deutungsansprüche über diese Musik ringen“.21 Unter ‚Musik als Handeln‘ sind also sämtliche Handlungen zu verstehen, in denen Menschen mit Klang umgehen, indem sie Musik machen, Musik hören, miteinander über Musik reden, bestimmte Vorlieben oder Abneigungen entwickeln usw. Durch den so oder so gestalteten Umgang mit Musik ordnen sich Menschen sozialen Gruppen zu oder grenzen sich von anderen Menschen bzw. anderen sozialen Gruppen ab. Dementsprechend ist Musik zugleich immer weit mehr als bloß menschliches Handeln. Musik ist vor allem ein sozialer Prozess, denn „musical meaning is socially constructed“.22 Damit ist Musik sowohl Vollzug durch Gesellschaft („something that people do”)23 als auch von Gesellschaft („music is itself a social process”).24 Nach diesem Verständnis ist Musik folglich in erster Linie diskursive Praxis: Wenn sich zudem die […] Idee des objektiv bestehenden, wert- wie gehaltvollen Werks, des Songs oder Tracks überwinden lässt hin zu einer Sicht auf die speziellen Prozesse der Bedeutungszuweisungen an Klang, kann es gelingen, Analyse als ein Instrument zu (be-) nutzen, das nicht das Verstehen von der Musik im Sinn hat, sondern hilft, das Verstehen des — vielfältigen und doch diskursiv geformten — Musikverstehens voranzutreiben.25

Damit ist ein Song unbedingt als wechselwirksames System verschiedener medialer Ebenen zu verstehen, die erst in ihrer Gesamtheit genommen ein ‚Stück‘

21 DOEHRING, 2012, S. 30. 22 FRITH, 1996, S. 270. 23 SMALL, 1998, S. 2. 24 FRITH, 1996, S. 270. 25 DOEHRING, 2012, S. 39.

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Popmusik konstruierbar machen. Diskursiv geformte Bedeutungszuweisungen werden auf der klanglichen Ebene ebenso vorgenommen wie auf der literarischen und der visuellen sowie auf der Ebene der Inszenierung. Diese Einteilung unterscheidet sich prinzipiell zwar nicht von derjenigen, die Allan Moore vorschlägt.26 Allerdings ist der Fokus hier auf die strukturell unterschiedlichen, notwendigerweise jedoch einander ergänzenden medialen Ebenen und deren zugehörige Zeichensysteme ausgerichtet, anhand derer diskursive Bedeutungszuweisungen überhaupt erst vorgenommen werden können. Einen Popsong und insbesondere einen Hip-Hop-Track als ein Phänomen des Crossings zu denken setzt dementsprechend voraus, Klangtext, Sprachtext, Bildtext und Inszenierungstext sowohl je als eigenen ‚Text‘ je eigener Struktur als auch deren wechselwirksame Summe als dessen mithin ‚multimediales‘ Inventar zu verstehen: „Crossing-Ressourcen [sind] in Form von Inventaren beschreibbar, die von einem individuellen bzw. gruppenspezifischen Kernbestand ausgehen und in ihrer Extension variieren können“.27

3. „S CHICE

AUF

H IPHOP “ – R ECHTS R AP

ALS

C ROSSING

Mit weit über 150.000 Klicks auf YouTube gehört „Shice auf Hiphop“ von NSS ohne Zweifel zu den populärsten RechtsRap-Tracks. Vordergründig scheint „Shice auf Hiphop“ die notwendigen Bedingungen eines Raptracks – DJing, Graffiti, Breakdance und Rap28 – geradezu beispielhaft zu erfüllen. Bei einem Grundtempo von 110 bpm werden inklusive des Raplayers insgesamt elf Layer übereinandergeschichtet: zwei Basslayer, vier Drumlayer und vier Synthesizerlayer.29 In der rhythmischen Binnengestaltung organisieren die beiden Basslayer sowie ein Drumsetlayer Viertel- und Achtelbeats, ein Synthesizerlayer ausschließlich Achtelbeats; alle übrigen Layer, wiederum einschließlich des Raplayers, sind als Sechzehntelbeats organisiert. Besonders mit Blick auf den Raplayer wird durch das vergleichsweise rasche Tempo der Eindruck erweckt, hier würde auf technisch hohem Niveau gerappt. Allerdings wird der Sechzehntelbeat des Raplayers über die komplette Dauer des Tracks (4 Minuten 58 Sekunden) konsequent durchgehalten und im ‚eigentlichen‘ Rap als erstrebenswert geltende

26 Vgl. MOORE, 2012. 27 ANDROUTSOPOULOS, 2003a, S. 93. 28 Vgl. z.B. ROSE, 1994 und GÜLER SAIED, 2012. 29 Hinsichtlich dieser Analyse orientiere ich mich am Modell von ADAM KRIMS (2000).

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Skills wie Double- oder gar Tripletimes30 fehlen vollständig. Verstanden als primär auf den Beat ausgerichteter Sprechgesang wird hier also zwar gerappt, essentielle Rap-Skills wie beattechnische Varianz hingegen finden sich nicht. Hinsichtlich der Organisation der übrigen Layer fällt fernerhin auf, dass in „Shice auf Hiphop“ nicht mit Samples gearbeitet wird bzw. Samplingtechniken lediglich suggeriert werden. Mit Ausnahme des Raplayers bestehen sämtliche Layer aus synthetisch erzeugten Loops, die zu einem größeren Teil auf vorgefertigten Elementen handelsüblicher Home-Recording-Programme beruhen dürften. Bereits mit Blick auf die beiden klingenden Hauptelemente des Hip-Hop, Rap und DJing, gilt hinsichtlich des Crossing also: „In allen Fällen ist die für Kreuzungen erforderliche Kompetenz recht gering: Es genügt der Erwerb von ‚minimal skills.‘“31 Während auf die Umsetzung von „minimal skills“ auf der klanglichen Ebene offenbar noch vergleichsweise viel Mühe verwandt wurde, stellt sich die inszenatorische Umsetzung von Breakdance und Graffiti eher als satirische Anverwandlung von Hip-Hop-Kultur dar. Auf Graffiti wird im zugehörigen Video erstens via allerlei Betonwände verwiesen, vor denen der Protagonist des Videos (möglicherweise Henry8?) posiert, zweitens greift die NSS-‚Gang‘ in Vorbereitung eines nächtlichen Zugs durch ihre ‚Hood‘ zu etlichen ins Bild gesetzten Spraydosen – tatsächlich gesprüht wird im Video allerdings nicht. Auf Breakdance wird ebenfalls auf zwei narrativen Ebenen verwiesen: Bei Minute 1.01-1.04 schubst ein nach AN-Dresscode gekleidetes ‚Gangmitglied‘ einen mit blauer Trainingsjacke und Basecap ausgestatteten, als ‚Möchtegern‘-Gangster markierten ‚Anderen‘ von der ‚Tanzfläche‘ einer Dachterrasse, auf der später zweitens eine als NSS-‚Gang‘ zu lesende Gruppe zum zweiten und dritten Refrain des Tracks einen eigenen Tanz aufführt, der wiederum wie eine eigentümliche Mischung aus Breakdance und Pogo wirkt. Dies erinnert unweigerlich an Ramptons Beobachtung der Funktion des „mocking“32 bei Crossing-Phänomenen, was Androutsopoulos präzisiert: Kreuzungen können die laufende Interaktion als spielerisch-unernst rahmen und es den Interaktionspartnern ermöglichen, Dinge zu sagen bzw. Handlungen durchzuführen, die in ihrer eigenen Stimme einer Gesichtsverletzung oder einem Tabubruch gleich kämen und

30 Bei gleichbleibenden Grundmetrum wird der Text im doppelten bzw. dreifachen Tempo gerappt. 31 ANDROUTSOPOULOS, 2003a, S. 93. 32 RAMPTON, 2005, S. 55.

„S HICE AUF H IPHOP “

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daher unmöglich wären […]. Durch den Code-Wechsel kann sich der Sprecher vom propositionalen Gehalt bzw. der illokutionären Kraft der Aussage distanzieren.33

Dermaßen gestaltete Distanzierungen finden sich über die bereits genannten Aspekte hinaus in „Shice auf Hiphop“ zuhauf. So wird im Text mit Fler einer der zentralen Protagonisten der (mehr oder weniger) aktuellen Deutschrapszene direkt angegangen („Fler’s ein schlechter Witz, Pseudoghettokids, Fler is wieder’n guter fetter Witz!“). Mit Peter Fox, Seed, Freundeskreis und Joy Denalane wird aber auch eine als „Multikulti“ gesetzte deutsche Popszene aus den Anfängen des neuen Jahrtausends unmittelbar benannt und je herabgewürdigt („und ich ermahne mit dem Diss auch Denalane, denn sie ist behindert wie der Rest vom Freundeskreis, der Esperanto spricht!“). Nun sind derlei als ‚Disses‘ verpackte Distanzierungen im Hip-Hop alles andere als ungewöhnlich. Sie lassen sich im vorliegenden Zusammenhang aber dennoch auch als Crossing verstehen: [D]ie evozierten Stereotype und die Art und Weise ihrer Verarbeitung in der Interaktion können mitunter als ideologische Stellungnahme gedeutet werden. Dass dies auf Kosten anderer Gruppen gehen kann, trägt zur pragmatischen Komplexität des Phänomens bei. Kreuzungen können je nach Konstellation als integrierend oder ausgrenzend, „emanzipatorisch“ oder „reaktionär“ erscheinen.34

Besonders deutlich wird dies durch den indirekten, nur mittelbar dekodierbaren Verweis auf Sido und dessen „Arschficksong“ (2002). „Die Vaselinetube is[t] dicht, euch steht das Flunkern ins Gesicht geschrieben: Präventiv die Ärsche eingeschmiert, jetzt kommt die Fist in weiß vom Skrewdrivercover…“ heißt es im Text, während im Video (allerdings an anderer Stelle) eine kurze Einstellung aus dem Video zu „Ansage 4“ (2004) von Fler, B-Tight und Sido nachinszeniert wird, in der Sido Zeitung lesend auf der Toilette sitzt und vom Rest der ‚Gang‘ gestört wird: „Typisch [für Crossing] ist ein umfangreiches Repertoire an Routineformeln.“35 Mit Sido ausgerechnet auf den neben Bushido prominentesten Vertreter des Labels Aggro Berlin zu verweisen, ist einerseits gleichsam routiniert naheliegend, markiert jedoch andererseits eine gewisse Kennerschaft der – sich selbst als authentisch inszenierenden – deutschen Rapszene und verweist zugleich auf den Aspekt des „Erwerbs von ‚minimal skills‘“36 zurück.

33 ANDROUTSOPOULOS, 2003a, S. 102. 34 EBD., S. 109. 35 EBD., S. 94. 36 EBD., S. 93.

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Jannis Androutsopoulos37 weist auf die Bedeutung vertikaler Intertextualität im Hip-Hop hin. Sofern sich mediatisierte Performances – wie beispielsweise ein Musikvideo – als Texte bzw. vielmehr als Skripte verstehen lassen,38 wäre „Shice auf Hiphop“ das Primärskript, das erstens auf das Sekundärskript des ‚eigentlichen‘ Hip-Hop verweist und das sich zweitens zugleich jedoch erst durch den Gebrauch von „language varieties associated with social or ethnic groups that the speaker doesn’t normally ‚belong‘ to“39 als Primärskript vollziehen kann. Als Primärskript muss RechtsRap eine doppelte Rezeptionserwartung erfüllen können: Zum einen muss das Sekundärskript des ‚eigentlichen‘ Hip-Hop durch Ausstellung des Beherrschens von „minimal skills“ erkenn- und vor allem authentifizierbar sein.40 Zum anderen darf das System an Normen und Werten der eigenen ‚social group‘ der radikalen Rechten nicht grundsätzlich in Frage gestellt werden (hieraus erklärt sich dann, gleichsam als sozialer Anker, beispielsweise auch das auffallend häufige Zeigen der schwarz-weiß-roten deutschen Reichsflagge im Video). Beide Rezeptionserwartungen bedient „Shice auf Hiphop“ geradezu mustergültig. Denn jene Aspekte, die den Track als Raptrack authentifizierbar machen, erfüllen – wie gezeigt – gerade eben so den erforderlichen Mindeststandard des ‚Ausgangstexts‘ Hip-Hop. Viel mehr bedarf es allerdings auch überhaupt nicht: „Insofern reicht der Sinn der Kreuzung weit über die propositionale Bedeutung der fraglichen Äußerung hinaus, er liegt vielmehr in der ‚purposeful symbolic evocation‘, die mit dem Codewechsel stattfindet.“41 Zugleich wird das Primärskript des gecrossten RechtsRap dem Sekundärskript Hip-Hop als hierarchisch überlegen inszeniert („Wer hat den Überrap bestellt?“).

4. M AKSS D AMAGE

ALS

R ECHTS R APPER

Wenn Musik sowohl Vollzug durch Gesellschaft als auch von Gesellschaft sei und Musik als „the performance of social processes“42 und damit in letzter Konsequenz als ‚doing society‘ aufgefasst werden kann, wäre Ben Ramptons Kurzdefinition des Crossing notwendigerweise zu modifizieren und müsste verstanden werden als „the use of language varieties associated with social or ethnic

37 DERS., 2003b. 38 Vgl. COOK, 2003. 39 RAMPTON, 2005, S. 28. 40 Vgl. MOORE, 2012, S. 269. 41 ANDROUTSOPOULOS, 2003a, S. 99f. 42 HINDRICHS, 2016, S. 118.

„S HICE AUF H IPHOP “

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groups that the actor doesn’t normally ‚belong‘ to“.43 Auf dieser Grundlage ließen sich die am eben exemplarisch diskutierten Beispiel gemachten Beobachtungen mit prinzipiell gleichem Ergebnis auch an allen anderen Tracks der bereits genannten RechtsRap-Akteure vornehmen. Eine wesentliche (und daher bislang noch ungenannte) Ausnahme stellt allerdings Makss Damage dar. Ab etwa Mitte der 2000er Jahre trat Julian Fritsch in stalinistisch geprägten Kontexten der radikalen Linken als Rapper Makss Damage in Erscheinung44 und veröffentlichte zwischen 2008 und 2010 drei Alben: Alarmstufe Rot (2008), Stalins Way (2009) und Makssismus (2010). Sie zeichnen sich inhaltlich durch etliche antisemitische, sexistische und (als Antiimperialismus verbrämte) nationalbolschewistische Texte aus. Hinsichtlich ihrer Musikalisierung sowie der unbestreitbaren Skills Fritschs belegen sie jedoch dessen ‚Rap-Kompetenz‘. Von den für den Crossing-Kontext notwendigen „minimal skills“ kann hier keine Rede sein. Anfang 2011 allerdings erklärte sich Fritsch in einem Online-Interview mit dem (2013 angeblich ausgestiegenen) Kölner Neonazifunktionär Axel Reitz ab dato der radikalen Rechten zugehörig45 und legte kurz darauf mit der EP Sturmzeichen (2011) sein RechtsRap-Debut vor. Deren Texte gestalten sich wesentlich radikaler und eindeutiger als die meisten RechtsRock- und RechtsRap-Texte jener Zeit, ganz so als ob Fritsch sein Überlaufen zur radikalen Rechten durch dieses Ausstellen rechtsradikaler street credibility zusätzlich habe glaubhaft machen wollen.46 Zumindest in Teilen der radikalen Rechten dürfte Fritsch tatsächlich als glaubwürdig anerkannt worden sein. Immerhin durfte er auf dem Cover der Nachfolge-EP Hausdurchsuchung (2012) für den von der Gjallarhorn Klangschmiede veröffentlichten Sampler Legion N-Rap – Ein.Stand Werbung machen. Spätestens das Vollalbum 2033 (2015), für das Fritsch (wohl selbst) mit Reconquista Records ein eigenes Label gründete, belegt, dass der RechtsRap von Makss Damage nicht nur ideologisch mit der radikalen Rechten gänzlich auf Linie ist, sondern auch klanglich-musikalisch dem Vergleich mit im Mainstream etablierten Deutschrap-Acts in weiten Teilen ohne Weiteres standhält: Die beattechnische Varianz der Raps ist hoch, es finden sich Double- und Tripletimes, Samples aus nicht vorgefertigten Loops, Skits, geschickt eingesetzten Breaks

43 RAMPTON, 2005, S. 28; Hervorhebung des Autors. 44 FRÜHAUF, 2011. 45 Vgl. EBD. 46 Wegen des zunehmenden Repressionsdrucks von staatlicher und zivilgesellschaftlicher Seite geben sich die meisten RechtsRockbands bereits seit etwa Mitte der 1990er in ihren Songtexten deutlich weniger explizit.

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und hin und wieder auch Scratching-Parts, wie etwa bei „Reconquista Anthem“, dem Eröffnungstrack seines aktuellen Albums Reconquista Mixtape – Vol. 1 (2016).47 Zugleich ist mittlerweile deutlich, dass Fritsch sich spätestens, seit er im Gefolge des altgedienten Dortmunder Neonazis Siegfried Borchardt („SSSiggi“) am 1. Mai 2016 an einem rechtsradikalen Aufmarsch in Erfurt teilnahm,48 in der radikalen Rechten auch sozial positioniert und etabliert hat.

5. R ECHTS R AP – C ROSSING – A NEIGNUNG Während SzU, Natürlich, NSS und andere als RechtsRap-Projekte zu klassifizieren sind, deren Akteure ‚eigentlich‘ aus der radikalen Rechten heraus handeln und sich mit Rap einer popmusikalischen Langue bedienen, der sie ‚normalerweise‘ nicht zugehören, verhält es sich bei Makss Damage auf den ersten Blick genau entgegengesetzt: Als ‚eigentlicher‘ Rapper spricht er seit 2011 in der ideologischen Sprache der radikalen Rechten eine Sprachvarietät, die ‚normalerweise‘ nicht mit der soziokulturellen Gruppe des Hip-Hop assoziiert wird. Mithin ‚crossen‘ SzU, Natürlich, NSS usw. die popmusikalische Sprache. Makss Damage hingegen ‚crosst‘ den soziokulturellen Kontext. Zugleich verweisen beide Phänomene auf die von Rampton angesprochene Frage des Verhältnisses von Crossing und Subkulturen: Several commentators suggest that the most important CCCS contribution was to interpret the distinctive activities and ‚focal concerns‘ of youth as a form of ideological contestation. Considerable weight was attached to the symbolic significance of style, dress, argot, ritual, activity and music, and it was through these that youngsters were seen as partially interrupting, adapting, resisting (but finally coming to terms with) the possibilities and meanings offered to them by the dominant society.49

Indes ist das Subkulturkonzept der Birmingham-Schule (CCCS) mittlerweile als zu hermetisch einerseits und zu sehr auf Devianz konzentriert andererseits kritisiert und dahingehend weiterentwickelt worden, dass der weitaus dynamischere und offenere Begriff der ‚Szene‘ dem der ‚Subkultur‘ unbedingt vorzuziehen ist,

47 Bei aller technischen und künstlerischen Finesse bleibt die Aussageseite der Tracks schlicht widerwärtig. 48 Freundlicher Hinweis von MOBIT e.V. 49 RAMPTON, 2005, S. 139.

„S HICE AUF H IPHOP “

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wenn es gilt, popkulturelle Realtitäten einigermaßen angemessen erfassen zu wollen.50 Trotz der größeren Offenheit des Konzepts verfügt jedoch auch jede Szene über ein gemeinsam geteiltes Repertoire an Einstellungen, Haltungen, Codes und Wissensbeständen und formiert damit eine soziale Gruppe mit eigener Sprache, die ‚normalerweise‘ mit ihr assoziiert wird. Spätestens seit Makss Damage sich in der radikalen Rechten als der eigenen Gruppe zugehörig positioniert hat, lässt sich RechtsRap nicht weiter als ‚Crossing‘-Phänomen denken, sondern muss als ihr eigener Teil der rechtsradikalen Szene verstanden werden, zumal sich aktuell mit Driugan, offenbar ein Protegé von Julian Fritsch, ein weiterer RechtsRapAct zu etablieren scheint, der ebenfalls nicht ‚crosst‘ – wohingegen es um SzU, Natürlich, NSS usw. seit etwa 2013 ausgesprochen ruhig geworden ist. „[I]n many of the code-switches that have been examined, there was an obvious contradiction between the speaker’s usual self-presentation and the particular persona that they momentarily projected.“51 Rampton weist selbst völlig zu Recht auf den für Crossing zentralen Aspekt des ‚Moments‘ hin. Mit Blick auf RechtsRap (sowie vermutlich auf Popmusik generell) kann Crossing mithin notwendig einzig als temporäres wie formales Momentum innerhalb eines Prozesses des Übergangs verstanden werden. Sobald ein solches Momentum des Crossings nicht episodisch bleibt, weil sich eine gewisse Stabilität ausbildet und die zuvor gecrosste Sprache in den Wissensbestand der jeweiligen Szene eingegliedert (und damit einhergehend angeeignet) wird, kann von Crossing nicht mehr die Rede mehr sein. Hier liegt dann bereits eine genuine Aneignung vor.

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50 Vgl. z.B. BENNETT/KAHN-HARRIS, 2004. 51 RAMPTON, 2005, S. 141.

174 | H INDRICHS

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„S HICE AUF H IPHOP “

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SZU: Sprachgesang zum Untergang, ohne Label, 2010. VERITAS INVICTUS: Wer rettet uns?, auf: Schwertzeit, Wewelsburg Records WWRex 005, 2005.

Bewegtes Crossing Über inszenierte Ungleichheiten im Sport A NTJE D RESEN

1. E INLEITUNG Wenn Menschen kommunizieren und wechselseitig orientiert handeln, dann tun sie dies gemeinhin vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen soziokulturellen Kontexte. Dazu gehören Differenzen und Ungleichheiten in Einkommen, Bildung, Beruf, Alter, Geschlecht, Ethnie, Lebensstil etc. Die Soziologie macht sich unter anderem zur Aufgabe, die Wirkmacht dieser sozialen Bedingungen zu untersuchen. Dazu bettet sie menschliches Handeln auch in Funktionszusammenhänge ein und fragt: Wie kommuniziert und organisiert sich eigentlich unsere moderne Gesellschaft? Diese beispielhaften soziologischen Herangehensweisen laufen zuvorderst darauf hinaus, die um Crossing-Phänomene gruppierte Kommunikation und Interaktion in Verbindung mit gesellschaftlichen Stellgrößen und in ihrer Bedeutung für soziale Ordnung bzw. Unordnung zu betrachten. So handeln Akteure über ihren soziokulturellen Hintergrund hinaus zugleich als Rollenträger und Konstellationsgeflechte in spezifischen Kommunikationszusammenhängen wie z.B. Medien, Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Sport etc.1 Die soziale Zugehörigkeit zu diesen Deutungsstrukturen, die situativ oder dauerhaft institutionell angelegt sein kann, gibt die jeweils normative Leitorientierung vor. Ein Journalist etwa agiert vor dem Hintergrund medialer Logiken. Weil das Mediensystem sich entlang der Leitdifferenz Information/Nicht-Information organisiert, entscheidet er also in seiner Berufsrolle, welche Nachrichten sich als Information

1

Vgl. SCHIMANK, 2007, S. 9-24; DERS., 2010, S. 202-206.

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für die Leser, Zuhörer und Zuschauer als Publikum verwerten lassen und was ihm nicht berichtenswert, also kommunikativ nicht verwertbar erscheint. Ähnlich verhält es sich auch in der Wirtschaft, die ökonomisch in Zahlen/NichtZahlen differenziert. Möchten wir etwas kaufen oder verkaufen, entscheiden wir entlang dieses sogenannten Codes. In der Politik geht es um Macht/Nicht-Macht, in der Wissenschaft um Wahrheit/Unwahrheit und im Sport um Sieg/Niederlage bzw. Leisten/Nicht-Leisten. Diese Grenzziehungen geben vor, ob und wie gehandelt bzw. kommuniziert wird.2 Nun lassen sich jedoch Menschen beobachten, die gerade diese Grenzziehungen überschreiten, d.h. crossen, um ‚neue‘ Differenzen zu schaffen und Ungleichheiten zu inszenieren. Die Codes werden sozusagen nicht mehr top-down und je nach spezifischem Sinnzusammenhang als Orientierung relevant gemacht. Die Sprechenden und Handelnden kommunizieren stattdessen über Beteiligungsrollen und Situationsschemata hinaus. Dabei bedienen sie sich ‚fremder Codes‘ und switchen metaphorisch zwischen diesen, wie die zahlreichen Beispiele in diesem Band zeigen. Nicht mehr ‚undoing differences‘, sondern ‚doing differences‘ wird so zur sozialen Programmatik. Im gesellschaftlichen Mikrokosmos des Sports zeigen sich solche CrossingProzesse auf unterschiedliche Weise. Die körperliche Kommunikation durch Bewegung und Symbolik verdeutlicht, dass sich Akteure in und um den Sport in verschiedenen Situationen und Zusammenhängen einer fremden Sprache bedienen, um sich abzugrenzen und ihre eigene (Sport- bzw. Bewegungs-)Geschichte zu schreiben. Dies kann durchaus befremdlich wirken. So nutzen insbesondere Fußballfans religiöse Elemente, um sich zu ihrem Verein als für sie einzige Wahrheit zu bekennen. Frauen im Bodybuilding modellieren ihren Körper nach üblicherweise männlich-stereotypen Zuschreibungen, um genau dadurch individuell empfundene Weiblichkeit zu demonstrieren. Und im Cross-over-Sport zeigt sich ein Spiel der Bewegungskulturen, wo über unterschiedliche CrossingVerwendungsmuster der eigene Stil als besonders herausgestellt wird. Für die zwischen „Handeln und Strukturen“3 operierende Soziologie auf ihrer Suche nach Zusammenhängen, Mustern und Typologien sind diese kommunikativen Formen ein recht ungewöhnliches und gerade deshalb hochinteressantes Terrain. Denn hier werden symbolische Formen der Interaktion sichtbar, die zeigen, wie Menschen zu Gestaltern ihrer soziokulturellen Wirklichkeit werden und sich so gleichsam Identität verschaffen. Vor diesem Hintergrund wird mit

2

Vgl. LUHMANN, 1975; DERS., 1987; DRESEN/KLÄBER, 2013, S. 52f.

3

SCHIMANK, 2010.

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diesem Beitrag forschungsleitend gefragt: Wie, warum und mit welchen Folgen crossen Akteure in Sport und Bewegung? Auf der Suche nach Antworten auf diese Frage wird über differenzierungstheoretische Schemata hinaus eine sozialkonstruktivistische Perspektive eingenommen, die eben jene Gestaltungsprozesse als soziale Produkte in den Blick nimmt. Diese Strömung in der soziologischen Theoriebildung ermöglicht es, die Formen gesellschaftlicher Konstruktion von Wirklichkeit zum zentralen Gegenstand zu machen.4 In Verbindung mit dem diesem Sammelband zugrunde liegenden Konzept des Crossings von Rampton5 und seiner Rezeption durch Androutsopoulus6 werden dafür fünf Vorannahmen getroffen: • Crossing als sprachliche Kreuzung bezeichnet den konversationellen Gebrauch

• •





einer Sprache oder Sprachvarietät, die dem Sprecher ethnisch bzw. sozial nicht eigen ist.7 Crossing ist an den interaktiven und assoziativen Einsatz ‚fremder‘ Codes als Switching angelehnt und bedarf der dazugehörigen Interpretation.8 Crossing erscheint als Grenzsituation (Liminalität) in Momenten, in denen die normalen Annahmen und Regelungen sozialer Ordnung aufgeweicht oder aufgehoben sind.9 Kreuzungen verweisen auf stereotype Werte und Eigenschaften jener Gruppe, der die Sprache oder Varietät eigen ist, und tragen so identitätsstiftende Züge.10 Kreuzungen ermöglichen wiederum kulturelle Hybridität und Synkretismus als neue Vermischungen und Sozialitäten – teils auch gestützt durch Medienformate.11

Diese Kernelemente des Crossings dienen im Folgenden als analytische Schablone für die Fallbeispiele des Sports als ‚Quasi-Religion‘, der Weiblichkeit im Bodybuilding und der Praktiken des Cross-over bzw. Crossings in Sportspielen

4

Vgl. BERGER/LUCKMANN, 2000.

5

RAMPTON, 1995; DERS., 1998.

6

ANDROUTSOPOULUS, 2002.

7

Vgl. RAMPTON, 1995, S. 14f.; DERS., 1998, S. 291; ANDROUTSOPOULUS, 2002, S. 9f.

8

Vgl. RAMPTON, 1995, S. 266-269; DERS., 1998, S. 299-320; ANDROUTSOPOULUS, 2002, S. 10-12.

9

Vgl. RAMPTON, 1998, S. 299; ANDROUTSOPOULUS, 2002, S. 9f.

10 RAMPTON, 1998, S. 299; ANDROUTSOPOULUS, 2002, S. 10-12 und S. 21-27. 11 RAMPTON, 1995, S. 60; ANDROUTSOPOULUS, 2002, S. 12-14.

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und Bewegungskulturen Heranwachsender. In kapitelweiser Abfolge und in einer abschließenden vergleichenden Zusammenschau wird dargelegt, ob und wie sich Crossing-Phänome im Sport zeigen und soziologisch verorten lassen.

2. R ELIGIÖSE S YMBOLIK

IM

S PORT

Besonders bei Sport-Großveranstaltungen wie der Fußball-Europameisterschaft in Frankreich oder während der Olympischen Spiele in Brasilien im Sommer 2016 lässt sich relativ leicht beobachten, wie Sport und Religion einander durchdringen können bzw. wie religiöse Symbolik dem Sport innewohnt. So bekreuzigen sich manche Athleten vor dem Startschuss im Sprint, vor dem Fußballspiel, dem Elfmeter-Schießen oder nach einem Tor und fallen auf die Knie. Vor laufenden Kameras danken einige Gott für den erfolgreichen Saison- und Turnierverlauf. Die gemeinschaftlichen Gesänge auf den Fantribünen erinnern oftmals an Choräle in den Gottesdiensten und Sieger werden wie Heilige verehrt. Typische sportliche Leistungsprinzipien und religiöse Symbolik werden also in Beziehung gesetzt, obwohl Sport und Religion als gesellschaftliche Teilbereiche für sich genommen nicht viel gemeinsam haben. Sie sind sich eigentlich sogar wechselseitig fremd. Vor diesem Hintergrund könnte man augenscheinlich also direkt von Crossing-Prozessen sprechen. Doch angesichts der formulierten Annahmen auf der Folie Ramptons12 bedürfen die Kreuzungen zwischen Sport und Religion einer differenzierenden Aufbereitung, denn sie bewegen sich zwischen Formen der strukturellen Koppelung als wechselseitige Anpassung einerseits und Crossing im hier verstandenen Sinne andererseits: Zunächst einmal ist – systemtheoretisch betrachtet – dem Sport die Religion nicht zu eigen, genauso wie die Religion keine Sporttypologien programmatisch verankert hat. Im Sport werden gemeinhin körperliche Leistungen erzielt und kommuniziert. Über seinen Wettkampfcharakter hat er Spannungselemente, ein sportliches Regelwerk und einen moralischen Wertekodex, der sich weitestgehend auf die Olympischen Ideen von Pierre de Coubertin zurückverfolgen lässt. Dazu sind unter dem Dachverband des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) rund 91.000 Sportvereine mit ca. 28 Millionen Mitgliedschaften organisiert. Dagegen stehen im gesellschaftlichen Teilbereich Religion gerade nicht Leistungen und ihre spannende Inszenierung im Zentrum. Im Christentum beispielsweise, das unter den Weltreligionen die meisten Anhänger hat, geht es um Gott und das Evangelium, um biblische Gleichnisse und dazugehörige Botschaf-

12 RAMPTON, 1995; DERS., 1998.

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ten der Liebe, um Einkehr, Vergebung, Versöhnung, Buße und Besinnung. Die Kirchen haben eine dazugehörige institutionelle Gestaltungsfunktion, indem sie unter anderem die Gemeindearbeit stützen, sich als Moralinstanzen zu wesentlichen Fragen zwischen Leben und Tod positionieren sowie die frohe Botschaft des Neuen Testaments, inklusive damit verbundener moralisch-ethischer Prinzipien, ritualisiert in Erinnerung rufen und weitertragen.13 Wenn sich nun Athleten vor einem Spiel bekreuzigen, dann bedienen sie sich einer Sprache, die im Moment des Wettkampfes nicht der sporttypischen entspricht. Ebenso nutzen sie auch einen fremden, nämlich religionsspezifischen Code. Im hier verstandenen Sinne stellt dies jedoch kein Crossing dar, weil die Athleten assoziativ nicht so in Interaktion treten, dass die Interpretation durch andere bedeutsam wird. Auch der dazugehörige metaphorische Rückgriff auf entsprechende Stereotype aus dem Kreise der religiösen Anhänger, um sich als besonders hervorzuheben, bleibt aus. Dies sind im Sinne von Rampton14 und Androutsopoulos15 allerdings notwendige Verwendungsmuster, um von Crossing sprechen zu können. Es bedarf der interaktiven Arbeit mit „Beteiligtenstereotypen“ und einem dazugehörigen „Assoziationsfeld, in das der Sprecher, der Adressat oder der Gegenstand der Rede platziert wird“.16 Die Anwendungsformen religiöser Symbolik im Sport etwa in Form von Bekreuzigungen lassen sich also eher abseits der hier verstandenen CrossingProzesse als eine strukturelle Koppelung zwischen Sport und Religion einordnen. Sport- und Religionssystem gehen sozusagen gerade aufgrund ihrer Unterschiede eine Kreuzung als Leistungsbeziehung ein, wenn diese ihrem jeweiligen Selbsterhalt dienlich ist. Sie sind dementsprechend offen oder geschlossen im Kontext gesellschaftlicher Ordnung:17 Der Sport kommuniziert entlang der Semantik Sieg/Niederlage bzw. Leisten/Nicht-Leisten. Sämtliche systeminterne Operationen richten sich an dieser Leitdifferenz des Gewinnens oder Verlierens aus. Aus diesem Grund „strukturiert der Spitzensport seine Kommunikationen auch nicht beliebig, sondern operiert unter einem binären Code – dem von Sieg und Niederlage oder, übersetzt in die Leitsemantik des Systems, dem von überlegener/unterlegener Leistung“.18 „In der Einheit des Codes setzen beide Werte

13 Vgl. DRESEN, 2016, S. 157f. 14 RAMPTON, 1995, S. 158. 15 ANDROUTSOPOULOS, 2002, S. 21f. 16 EBD., S. 21. 17 Vgl. LUHMANN, 1987; DERS., 2002; SCHIMANK, 2007. 18 BETTE, 1999, S. 36.

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einander wechselseitig voraus.“19 Es kann nur Sieger geben, wenn es auch Verlierer gibt. Dennoch ist Gewinnen der positive Wert, nach dem der Sport abwägt, ob er z.B. in Leistungsbeziehungen zu anderen Systemen wie Wirtschaft und Medien oder eben auch Religion tritt. Das soziale Teilsystem der Religion hingegen organisiert sich durch seine Leitsemantik immanent/transzendent. Luhmann spezifiziert: „Man kann dann auch sagen, dass eine Kommunikation immer dann religiös ist, wenn sie Immanentes unter dem Gesichtspunkt der Transzendenz betrachtet.“20 Auch hier gilt, dass die Einheit des binären Codes beide Werte einander wechselseitig voraussetzt. Ähnlich wie im Verhältnis von Sieg und Niederlage erhält also erst von der Transzendenz aus gesehen das Geschehen in dieser Welt zwischen sakral/profan und außeralltäglich/alltäglich einen religiösen Sinn.21 Zwei völlig unterschiedlich selbstorganisierende Teilsysteme können nun angesichts der eingangs skizzierten Phänomene um Sport als Religion Leistungsbeziehungen als Interpenetrationen eingehen. Gemeint ist damit, dass im Sport nicht mehr nur ausschließlich entlang seiner Leitdifferenz Sieg/Niederlage gehandelt und kommuniziert wird. Wenn religiöse Elemente dem Selbsterhalt des Sportssystems, also etwa dem Gewinnen der Athleten zuträglich sind, wird die Leitsemantik des Religionssystems in die sportliche Logik überführt. Göttlicher Beistand wird für Erfolge erbeten und auf diese Weise Immanenz durch Transzendenz gesucht (vgl. Abb. 1).22 Insbesondere im Fußball geht es so um Bestimmungen des Unbestimmbaren. Selbst wenn der Favorit eindeutig feststeht, kann das Spiel anders enden als erwartet. Für diese Fälle „rufen die Zuschauer und Spieler eine höhere Macht an, eine Macht, von der sie glauben, dass sie über den Spielverlauf entscheidet.“23 Manchmal wird Glaube auch einfach in sportliche Felder getragen, um dort christliche Botschaften zu streuen. Einige Fußballprofis wie der Österreicher David Alaba und Trainer wie Jürgen Klopp bekennen sich über den Sport offen zu ihrem christlichen Glauben. Alaba twitterte einst: „Leben ohne Gott ist wie Fußball ohne Ball.“24

19 LUHMANN, 2002, S. 77. 20 EBD. Dabei steht Immanenz für den positiven Wert, der Anschlussfähigkeit für psychische und kommunikative Operationen bereitstellt, und Transzendenz für den negativen Wert, von dem aus das, was geschieht, als kontingent gesehen werden kann. 21 Vgl. EBD., S. 83. 22 Vgl. DRESEN, 2016, S. 163. 23 ZYBER, 2012, S. 2; vgl. Abb. 1. 24 Neue Kirchenzeitung vom 8.8.2013.

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Abbildung 1: Ein gläubiger Fußballfan

Quelle: Pressemeldung von MDR Figaro zur Sendung „Fußball und Religion“ am 10.8.2013

Weiterhin zeigt sich Religion ihrerseits häufig systemisch aufgeschlossen, um das Mega-Event Sport gemeinschaftsstiftend zu nutzen. „Religiöse Funktionen werden zunehmend von nicht-religiösen Strukturen getragen“,25 erklärt Luckmann. Religionssoziologen wie z.B. Gebhardt deuten dies als „Trend zur Eventisierung von Religion“.26 Perfekt organisierte und zumeist monothematisch zentrierte Veranstaltungsformen wie katholische Weltjugendtage oder europäische Jugendtreffen von Taizé trügen dazu bei, das zur Aufrechterhaltung von Gemeinschaft notwendige ‚Wir-Gefühl‘ herzustellen, zu aktualisieren und zu intensivieren. Sportliche Großereignisse wie Olympische Spiele oder Weltmeisterschaften bringen diese Massenbegeisterung ebenfalls hervor und können dementsprechend im Zuge der religiösen Leitsemantik genutzt werden.27 Diese Koppelungen sind also zwar Kreuzungen, aber im konkreten Sinne keine Crossing-Prozesse, weil sie eben nicht interaktiv mit Rückgriff auf „fremde Codes“ relevant gemacht werden. Sie können es aber dann werden, wenn sie sich sozusagen als ein identitätsstiftendes Spiel mit Stereotypen formieren. Fündig wird man im Besonderen in den Fankulturen. Dazu wird der Sport durch alltägliche Handlungspraxen immer wieder neu gestaltet – d.h. gecrosst –, indem zwischen sportlichen und religiösen Elementen und abseits der „üblichen“ sozialen Ordnung in Sport und Religion geswitcht wird. Dort finden auf der Ebene der Kommunikation und Interaktion die im Crossing-Sinne typischen „Formen des metaphorischen Wechsels“28 als Abgrenzungen im doppelten Sinne statt –

25 LUCKMANN, 1991, S. 28. 26 GEBHARDT, 2010, S. 400. 27 Vgl. DRESEN, 2016, S. 164. 28 ANDROUTSOPOULOS, 2002, S. 9.

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unmittelbar gegenüber der gegnerischen Mannschaft und mittelbar gegenüber der Institution Kirche. Der Sport wird so identitätsstiftend als Quasi- bzw. Ersatzreligion zelebriert, wie das folgende Fan-Gebet illustriert: Schalke unser im Himmel, Du bist die auserkorene Mannschaft, verteidigt werde Dein Name, Dein Sieg komme, wie zu Hause so auch auswärts, unseren üblichen Heimsieg gib uns immer und gib uns das „Zu Null“, so wie wir Dir geben die Unterstützung. Und niemals vergib denen aus der Nähe von Lüdenscheid, wie auch wir ihnen niemals vergeben werden, und führe uns stets ins Finale, denn Dein ist der Sieg und die Macht und die Meisterschaft in Ewigkeit. Attacke!

29

Diese, an das Vaterunser angelehnten Zeilen werden crossing-typisch für die Darstellung der eigenen privatisierten Sinnsuche und als Bindung an den eigenen Verein bedeutsam gemacht. Mit dazugehörigen Schlachtchören als „Lobpreisung der eigenen Mannschaft und Beschimpfung der feindlichen“30 sowie Trikots, Fahnen und Schals demonstrieren Fans ihre Zugehörigkeit zu einem Verein, einer Mannschaft oder einem Athleten nach außen und stabilisieren sich so nach innen. Dieser „rituelle Lärm“31 mit religiösen Elementen wird auch an Begräbnis-, Trauer- und Gedenkritualen in der Fußballszene deutlich. Die „Sepulkral- und Memorialkultur“32 kennzeichnet vor allem die Ultra-Fanszene, deren Anhänger sich durch überaus hohe Vereinsidentifikation und stark identitätsstiftendes Traditionsbewusstsein auszeichnen. Zu deren symbolischen Riten als Crossing-Typologien gehören z.B. fingierte Todesanzeigen, die das Hinscheiden des Gegners als sportliche Niederlage bereits vor dem Spiel medial ankündigen sowie Verunglimpfungen des Gegners mit Transparenten im Stadion, auf denen Totenköpfe, Särge oder Grabmale zu sehen sind. Üblich sind aber auch Trauerund Abschiedsrituale, um sich den Tod eines nahestehenden Menschen zu vergegenwärtigen. Dafür werden Plakate angefertigt, Todesanzeigen und Nachrufe in Fanmagazinen geschaltet oder der ehemalige Stammplatz des Vereinskollegen mit persönlichen Utensilien wie Schal oder Trikot geschmückt.33

29 Das sogenannte „Schalke unser“ fungiert gleichzeitig als Titel der gleichnamigen Fanzeitung des Gelsenkirchener Fußball-Bundesliga-Clubs. Text abrufbar z.B. über http://www.magistrix.de/lyrics (Stand vom 18.08.2016).

30 GIRTLER, 1995, S. 113. 31 EBD. 32 HEBENSTREIT, 2012, S. 141. 33 Vgl. EBD., S. 149-155; DRESEN, 2016, S. 169.

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Derartige Ritualisierungen sorgen für notwendigen kollektiven Zusammenhalt. Sie sind im Crossing-Sinne sozusagen Formen sozialer Positionierung als „Solidarisierung oder Abgrenzung – gegenüber Individuen und Gruppen in polyglotten urbanen Milieus“.34 Dies kommt unter Fankulturen deshalb zur vollen Entfaltung, weil „zwischen allen ihren Mitgliedern eine genügende Ähnlichkeit besteht, d.h. dass sie alle, zwar in verschiedenem Grad, die wesentlichen Züge desselben Ideals, nämlich des Kollektivideals, nachbilden“.35 Und dieses ist unter anderem ausgerichtet in einer jahrelang und kollektiv gewachsenen ‚Liebe zum Verein‘, die in guten wie in schlechten Tagen gelebt wird. So kursiert auch unter Fans der Spruch: Man verlässt eher seine Frau als seinen Verein.36 Gleichzeitig finden Rituale mit „religiösen Symbolen einen relativ gleichlautenden Ausdruck“, nämlich das „göttliche Element unserer Natur und dieses Element müssen wir pflegen. Damit ist der menschliche Wille an ein überindividuelles Ziel gebunden“.37 In Crossing-Manier wird so die übliche soziale Ordnung aufgeweicht. Der Glaube an die eigene Mannschaft hebt den Einzelnen über sich hinaus. „Er lässt den Zuschauer an einer überpersönlichen Ordnung teilhaben, an einer Ordnung, die durch die Gruppe getragen und zuweilen als göttlich hypostasiert wird.“38 Diese Crossing-Verwendungsmuster ziehen in ihrem doppelten Sinne der Abgrenzung gegenüber der gegnerischen Mannschaft einerseits und indirekt als private Sinnsuche gegenüber der konventionellen Religion andererseits Folgen nach sich. Nicht nur die sportlichen Gegner reagieren entsprechend, gerade praktizierende Christen sind häufig irritiert. Damit greift auch die für Crossing so wichtige Interpretation jener assoziierten Prozesse. Für Skepsis bei Christen sorgt beispielsweise, wie ‚ihr Gott‘ und entsprechende Glaubensbekenntnisse Einzug in die ‚heiligen Stätten des Fußballs‘ erhalten haben, vor allem seitdem auch Kapellen in Fußballstadien errichtet wurden. In Barcelona, GelsenkirchenSchalke, Frankfurt, Berlin und Nürnberg beispielsweise gibt es solche Andachtsräume, in denen sich immer häufiger Fußballfans trauen oder ihre Kinder taufen lassen.39 Der Theologe und Psychiater Manfred Lütz moniert die symbolische Welt des Fußballs dazu als „gefälschte Welt“:

34 ANDROUTSOPOULUS, 2002, S. 31. 35 DURKHEIM, 1984, S. 136. 36 Vgl. DRESEN, 2016, S. 169. 37 Vgl. DURKHEIM, 1984, S. 150f. 38 ZYBER, 2012, S. 1. 39 Vgl. DRESEN, 2016, S. 161.

186 | D RESEN Zugegeben, es ist ein humaner Fortschritt, dass identitätsstiftende Gruppenrivalitäten zwischen Nationen und Städten nicht mehr militärisch ausgetragen werden, sondern auf dem Fußballfeld, so dass in der Regel keine Toten, sondern nur mitunter Verletzte zu beklagen sind. Doch für den einzelnen Fußballfan kann die Übertreibung der Begeisterung dazu führen, dass er ganz und gar in der falschen Fußballwelt lebt und dadurch in Wahrheit sein eigentliches Leben verpasst. Für ihn ist der Sinn des Lebens am Ende rund wie ein Fußball.40

Die Vorbehalte und Befürchtungen der Fußball-Gegner lauten weiterhin, der christliche Glaube würde instrumentalisiert, wenn Kerzen für den Sieg der eigenen Mannschaft angezündet und Gebete für den Klassenerhalt zum ‚Fußballgott‘ geschickt werden. Vereinslogo statt Kreuz und Pokale auf dem Altar sind für viele eine beängstigende Zukunftsvorstellung.41 Vor dem Hintergrund dieser vergleichsweise aktuellen Kritik sind jedoch Rückgriffe auf ‚fremde Codes‘ bereits seit der Wiederbegründung der Olympischen Spiele durch Pierre de Coubertin im Jahr 1896 zu beobachten. Damals wurde der Sport gar in Form einer Religion ins Leben gerufen. Innerhalb einer am alten Griechenland angebundenen neu-heidnischen Ersatzreligion sollten Sportler Priester sein, die sich in schweißtreibender Tätigkeit im Dienste der neuen Athletenreligion verzehrten. Coubertin sprach angesichts einer entsprechenden Sportmoral um die olympischen Ideen zu „citius, altius, fortius“ (schneller, höher, stärker) von einem „sportlichen Evangelium“. Dieses sei Ergänzung und Ersetzung eines an Tod und Jenseits orientierten Christentums.42 Der Fußball mit seinem Zeichensystem tut sich damit als identitätsstiftende und „symbolische Sinnwelt“43 und so als Nährboden für Crossing-Prozesse besonders hervor. Unter dem Motto „Helden des Heiligen Rasens“ fand beispielsweise im September 2009 ein Fußballturnier am Millerntor in Hamburg statt. Hierfür wurden Rudi Völler, Felix Magath und Sergej Barbarez als heilige Ikonen inszeniert (vgl. Abb. 2). Der bewusste Rückgriff auf die fremde, religiöse Sprache weicht hier abermals die ‚normale‘ soziale Ordnung auf. Es geht um ein besonderes Ereignis, bei dem im Spiel mit Stereotypen „prestigevolle soziale Identitäten“44 kommuniziert werden. Bei der gemeinnützigen Veranstaltung kickten letztlich über 60 ehema-

40 LÜTZ, 2012, S. 132. 41 Vgl. LEISSER, 2006. 42 Vgl. COUBERTIN, 1966; WEIS, 2008, S. 79-82. 43 BERGER/LUCKMANN, 2000, S. 98. 44 ANDROUTSOPOULOS, 2002, S. 14.

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lige Fußballstars für einen „guten Zweck“.45 Für eine Interpretation als Crossing spricht außerdem die Inszenierung zu Werbezwecken. Denn „neben lokalen Kontakten können auch Medientexte als Ressourcen für Kreuzungen dienen“.46 Sie streuen sozusagen die Assoziationen mit dem fremden Code abseits des lokalen Raums. Abbildung 2: Die inszenierten „Helden des Heiligen Rasens“

Quelle: Offizielles Plakat im Hamburger Abendblatt vom 31.8.2009

Solche Illustrationen als Werbung verweisen weiter auf das Phänomen der Heldenverehrung, welches – ähnlich wie der Starkult in der Musik – tragender Bestandteil des sportlichen Geschehens ist. Die Inszenierungen werden wiederum mit der Heiligenverehrung in der christlichen Kirche assoziiert, aber nicht adaptiert. Trikots und Autogramme werden gehandelt wie Reliquien, jedoch nicht, um die Kirche nachzuahmen, sondern um sich eben als eigene symbolische Sinnwelt von dieser abzugrenzen. Profispieler leben wie Heilige in einer ‚eigenen, ganz anderen Wirklichkeit‘ und diese verkörpern sie auch. Fans als ‚Gläubige‘ versprechen sich durch Berührung oder den Besitz von Fanartikeln als Re-

45 Die Erlöse sind der Jugendinitiative NestWerk e.V. zu Gute gekommen, die Projekte für Integration und Gewaltprävention in sozial schwachen Stadtteilen Hamburgs organisiert. 46 ANDROUTSOPOULOS, 2002, S. 19.

188 | D RESEN

liquien Teilhabe an genau dieser Welt und nicht an etwa der Christlichen. Das, was die konventionelle, moralische Kirche inklusive ihrer Heiligen auszeichnet, wird im Sport bewusst als Freudereligion gesellig und unbeschwert zelebriert und zum Lebenselixier erklärt. Wie auf dem Weg zum Gottesdienst putzen sich Menschen auf dem Weg zu ihrer Kultstätte heraus, um den Alltag hinter sich zu lassen. Es werden spezifische, eingängige und somit wiedererkennbare Lieder gesungen und fest stehende Texte gesprochen. Der Ablauf ist immer derselbe, inhaltlich passiert – leicht angepasst an einem absehbaren Sieg oder eine Niederlage – selten etwas anderes. Der Spieltag wird zum Festtag, der Saisonverlauf löst den üblichen Jahresablauf ab. Der Dezember steht als Ende der Hinrunde der Meisterschaft im Mittelpunkt, während der Advent eigentlich den Anfang des Kirchenjahres markiert.47 Das sportliche Erlebnis von Gemeinschaft kann so ohne Religiosität, ohne Verpflichtungen und ohne bedeutungsschweren moralischen Überbau erlebt werden. Mit Luckmann48 gesprochen ermöglichen diese Formen der Vergesellschaftung also einen vergleichsweise unbeschwerten Umgang mit Transzendenz, sozusagen eine ‚Transzendenz für den Hausgebrauch‘. Menschen planen, sich zeitweilig außer sich zu begeben – und damit ist eben nicht der sonntägliche, charakteristisch kontemplative Gottesdienst gemeint, sondern das wöchentliche, ekstatische Stadionerlebnis. „Die Besuche in anderen Wirklichkeiten können auf regelmäßige Wiederholungen hin angelegt sein. […] Dann begibt man sich aus einem Alltag in einen anderen, außerordentlichen, aber nicht unvertrauten und unbestimmten Wirklichkeitsbereich.“49 Durch diese besondere Gemeinschaftsorientierung zeigt sich Crossing hier letztlich als eine „prägnante Manifestation kultureller Hybridität“,50 die dem Sport ein quasi-religiöses Gewand verleiht.

3. W EIBLICHKEIT

IM

B ODYBUILDING

Der sportaffine Setting des Bodybuildings bietet sich insofern als Schauplatz für Crossing-Prozesse an, als dass hier optisch aufpolierte Sportlerkörper per se dadurch gesellschaftliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen, indem man sie gegen hoch gehandelte Werte wie Gesundheit, Schönheit, Natürlichkeit und stereotype

47 Vgl. LEISSER, 2010. 48 LUCKMANN, 1985. 49 EBD., S. 32. 50 ANDROUTSOPOULUS, 2002, S. 12.

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Geschlechterschemata verstoßen lässt. Differenzen werden besonders umfänglich inszeniert, indem gesamtgesellschaftliche normative Rahmungen, Körperbilder und vermeintliche Grenzen überschritten werden. Dies geschieht in den kommerziellen Fitness-Studios der (westlichen) Industriestaaten in vielfacher Weise. Speziell im modernen Bodybuilding lässt sich beobachten, dass ab einem überdurchschnittlichen Leistungsniveau das Körperpanorama einer Bodybuilderin oder eines Bodybuilders in eine für externe Beobachter stark hypertrophierte Monstrosität abdriftet und der daran gekoppelte Lebensstil oftmals als der Gesundheit nicht mehr zuträglich erachtet wird. Das äußere Erscheinungsbild, das man umgangssprachlich als Figur bezeichnet, wird überaus zeit- und energieintensiv mit Hilfe neuester Trainingsgeräte sowie konspirativer Erkenntnisse aus dem Bereich der Ernährungs- und Diätgestaltung, aber auch nicht selten diverser Pharmazeutika aufpoliert und neudimensioniert.51 Bei Frauen und Männern wird der Körper zum Fetisch, an dem wie an einem hochgezüchteten Rennwagen der Formel 1 unaufhörlich herumgebastelt bzw. herumexperimentiert wird. Die Jurys bei den Bodybuilding-Wettkämpfen bewerten Frauen- und Männerkörper schließlich gleichermaßen nach Kriterien, die sich auf möglichst definierte und wohlproportionierte Muskeln beziehen.52 Vor diesem Hintergrund crossen nun besonders Frauen im Sinne ihres biologischen und sozialen Geschlechts, indem sie Geschlechterdifferenzierungen als Zuschreibungen von vermeintlich biologischen Besonderheiten und Eigenschaften von Frauen und Männern konterkarieren. Mit ihren Körperpraktiken rütteln sie sozusagen an der sozialen Ordnung der „Zweigeschlechtlichkeit als Wissenssystem“,53 gehen deutlich über gesamtgesellschaftliche Stereotype hinaus und formen zusätzliche Wahrnehmungen gerade von Weiblichkeit. Frauen im Bodybuilding crossen in erster Hinsicht, indem sie sich an vornehmlich maskulinen Körperidealen und dazugehörigen Markern orientieren. Wie bei Männern findet dabei zur Legitimation der physiologischen Normvorstellung des Bodybuildings häufig ein Rückgriff auf das Schönheitsideal des antiken Griechenlands statt, das durch unzählige Artefakte – bemalte Vasen, Skulpturen etc. – überliefert ist. Das Körperideal des Bodybuildings konvergiert

51 Vgl. KLÄBER, 2010, S. 89-126. 52 Vgl. DERS., 2013, S. 7-10. Dies sind Bewertungsmuster, die sich von jenen bei MissWahlen unterscheiden. Zwar ist auch dort wenig Körperfett gefragt. Muskelmassen weichen jedoch Vorstellungen von zuvorderst „nur“ schlanken Körpern und jugendlichem Aussehen, was wiederum den soziokulturellen Vorstellungen von weiblicher Schönheit und einer daran anhängigen immensen Anti-Aging-Industrie entspricht. 53 HIRSCHAUER, 1996, S. 240.

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mit diesen antiken Vorstellungen in eklatanter Weise, da es sich durch archaische, vormoderne, oft „hypermaskuline“ und z.T. sakrale Züge auszeichnet.54 Ein für Bodybuilderinnen (und Bodybuilder) erstrebenswerter Körper weist dazu einen minimalen Körperfettanteil von ca. sechs Prozent und eine mehr als überdurchschnittliche Muskelmasse auf.55 Dabei ist erstens die Muskulosität wichtig. Sie meint zum einen Muskelmasse und -dichte und zum anderen die sogenannte „Härte“ als Teilung der einzelnen Muskelgruppen. Als optimal wird die Verbindung von viel Muskelmasse mit einer guten „Definition“ verstanden. Die eine Muskelgruppe soll sich von der anderen klar abgrenzen lassen und die Details innerhalb einer Muskelgruppe sollen erkennbar werden. Zweitens spielt die Symmetrie als harmonische und gleichmäßig verteilte Entwicklung aller Muskelgruppen eine hervorgehobene Rolle. Drittens ist schließlich die Vaskularität als Sichtbarkeit der Venen zentral. Wenn diese erkennbar sind, wird dies als ein Indiz für einen entsprechend niedrigen Körperfettanteil angesehen. Intendiert ist eine Hautschicht, die so dünn ist wie Pergamentpapier. Der mit Venen überzogene Athlet ist das Musterbeispiel eines makellosen Körpers für Frauen und Männer.56 Mit Rückgriff der Frauen auf vornehmlich männlich konnotierte Körpercodes bringen diese assoziierten Körperideale crossing-typisch soziale Ordnungen durcheinander und dazugehörige Interpretationen mit sich. Es scheint, als sollten Frauen und Männer in der modernen Gesellschaft gerade anhand einer „dichotomen Optik“57 selbstverständlich und unhinterfragt unterscheidbar sein. Da muskulöse Frauen – außer im Kampf- und Kraftsport – gesellschaftlich eher unterrepräsentiert sind, geht einher, dass besonders ausgeprägte Muskelberge irritieren. Muskelbepackte Frauen gelten üblicherweise schnell als unweiblich. Zwar darf und soll der weibliche Körper sportiv, fit und gerne auch besonders fettarm sein. Zugleich solle er aber freibleiben von sichtbarer, voluminöser und damit kraftvoll wirkender Muskulatur. Äußerst trainierte Frauen werden so vor allem von einigen Männern nicht mehr als Frauen, sondern als „Mannsweiber“ wahrgenommen.58 Sophie, eine professionelle Bodybuilderin, 35 Jahre alt, 168 cm groß und 80 Kilo schwer, äußert sich:

54 Vgl. MÖHRING, 2005, S. 244f. 55 Vgl. STRZELETZ, 1982, S. 81. 56 Vgl. KLÄBER, 2013, S. 63-67. 57 HIRSCHAUER, 1996, S. 241. 58 Vgl. MÖHRING, 2005, S. 243f.

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Ich wundere mich immer, dass Frauen mir gegenüber positiver teilweise sind als Männer. Auf was das zurückzuführen ist, weiß ich nicht. […] Die finden das ganz toll, dass das alles so fest ist und bewundern die Disziplin, die man da an den Tag legt. Die Männer wissen nicht so richtig was damit anzufangen, weil da eine kleine Frau kommt, die stärker ist als man selbst.59

Bea ergänzt: „Ich bin jetzt nicht unbedingt die, die jeder als Frau haben möchte, man sieht mich mehr als Kumpel-Typ.“60 Diese besondere Körperarbeit der Athletinnen verweist so auf soziale Wahrnehmungen, durch die sich Gesellschaften etwa mittels Körperbildern eine Ordnung geben. „Durch die Zuschreibung von Tätigkeiten, Eigenschaften und Positionen an Frauen und Männer werden Handlungsspielräume, Machtressourcen und Verhaltensmöglichkeiten je nach Geschlechtszugehörigkeit abgesteckt.“61 Auch in dieser Hinsicht crossen die Bodybuilderinnen, indem sie mit Stereotypen spielen und sich auf diese Weise weibliche Identität verschaffen. Dabei ist den Frauen weniger wichtig, mit der Modellierung des eigenen Körpers dem anderen Geschlecht zu gefallen, wie das bei Männern umgekehrt oft der Fall ist.62 Bodybuilderinnen geht es primär um die ich-zentrierte Ausgestaltung ihrer Weiblichkeit. Bea spitzt zu: Wenn du dich mit deinem Körper beschäftigst, du einen gewissen Bezug zu deinem Körper entwickelst und dich selber anfängst, schön zu finden, dann hast du auch diese Ausstrahlung und das ist das, was ich so besonders weiblich finde. Wenn du anfängst, dich schön zu finden, egal, ob bei Männern oder Frauen, die bewegen sich nur anders. Wir haben unsere Art, uns zu bewegen und zu präsentieren und das ist das, was ich so besonders weiblich finde. Wenn du anfängst, deinen Körper zu lieben und zu schätzen, was du dir da erarbeitet hast. Die Ausstrahlung, die du dann rüberbringst, das ist absolut sexy, das ist absolut weiblich.63

Bodybuilderinnen grenzen sich mit diesem Körper-Crossing von dem ‚durchschnittlichen (Frauen-)Körper‘ und damit für sie ‚schwachen Geschlecht‘ ab.

59 Zit.n. OTTERSBACH, 2012, S. 24. Aus dieser Studie entstammen die Äußerungen der Bodybuilderinnen als Ankerbeispiele. Ihre Namen sind anonymisiert worden. 60 EBD., S. 28. 61 HIRSCHAUER, 1996, S. 240. 62 Vgl. POPE/PHILIPS/OLIVARDIA, 2001, S. 103. 63 Zit.n. OTTERSBACH, 2012, S. 33.

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Selbst sportliche Frauen aus dem Fitnessmilieu werden kritisch beäugt, wie Emma, seit sieben Jahren Bodybuilderin, konstatiert: Ich als Bodybuilderin belächle diese Fitness-Frauen. Die müssen nicht wirklich schwer an sich arbeiten, was draufzupacken oder sonst was. Die müssen einfach nur hungern, um schlank zu werden und das war’s. Das finde ich, ist irgendwie ein bisschen an dem Sport vorbei. Aber gut, der Trend geht dahin, vielleicht werden die Leute auch bequemer.64

Ein untrainierter Frauenkörper, der nach Ansicht vieler Bodybuilderinnen für die Majorität der heutigen Frauen Usus sei, lässt sich auch mit den Emanzipationsbestrebungen der Frauenbewegung nicht sonderlich gut vereinbaren.65 Die Muskelarbeit der Frauen als Crossing durch die Muskelarena der Männer wird so häufig als ein probates Emanzipations-Instrument zum Einsatz gebracht, um sich von traditionellen Rollenbildern abzugrenzen. Nach Heywood bringt gerade Bodybuilding Möglichkeiten mit sich, mit traditionellen Rollenbildern zu brechen, sich mit sich selbst zu beschäftigen und sich selbst zu verwirklichen: Women’s bodybuilding is an unequivocal self-expression, an indication of women’s right to be, for themselves, not for children, partners, fellow activists, not for anyone else. In a culture that still mostly defines women’s purpose as service for others, no wonder female bodybuilding is so controversial.66

Durch Annika, die ihren Sport seit über 20 Jahren betreibt, wird deutlich, wie stark hier die Selbstverwirklichung zum handlungsleitenden, identitätsstiftenden Ziel wird: In der heutigen Zeit ist es halt so, dass das Idealbild einer Frau, dass die Frau sehr groß ist und sehr dünn sein muss. Man sieht’s ja auch in der Modelwelt. Natürlich passt bei Bodybuilding das Bild der Frau nicht dazu, aber […] es ist mir eigentlich auch egal, was das Bild der Frau ist. Ich habe ein eigenes Bild über meinen Körper und finde das so gut.67

Differenz-Setzung durch hypertrophe Körperlichkeit wird also von nicht wenigen Frauen explizit genutzt, um sich von weiblichen Stereotypen zu emanzipieren und sich vom in der Bodybuilding-Szene häufig als weich, schwach und

64 EBD., S. 27. 65 Vgl. KLÄBER, 2013, S. 222f. 66 HEYWOOD, 1998, S. 30. 67 Zit.n. OTTERSBACH, 2012, S. 47.

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degeneriert geltenden, durchschnittlichen Frauenkörper klar abzugrenzen. Mittels Crossing durch männlich-konnotierte Muskelarenen sowie den damit einhergehenden Selbstwahrnehmungen und Zurschaustellungen von Weiblichkeit werden gesamtgesellschaftliche Stereotype aufgebrochen und weitere (sub-) kulturelle Modalitäten von Frau-sein produziert.

4. C ROSS - OVER & C ROSSING

IN

S PIEL

UND

B EWEGUNG

Mit dem „Cross-over-Sport“68 findet sich ein drittes Phänomen, an dem sich Crossing-Verwendungsmuster mitsamt ihrer Implikationen und Folgen aufzeigen lassen. Dabei ist Cross-over allerdings nicht mit Crossing im hier verstandenen Rampton’schen Sinne gleichzusetzen. Zwar haben beide Begriffe eine enge etymologische Beziehung, Cross-over meint aber im Unterschied zum Crossing eine stärkere Überlappung, „einen Prozess und ein Produkt, in dem Elemente und Merkmale systematisch oder zufällig miteinander in Kontakt gebracht und vermischt werden, mit dem Ziel, eine Synthese zu schaffen und ggf. ein Produkt neuer Qualität entstehen zu lassen“.69 Im Besonderen geht es dabei also um Verschmelzungsprozesse, im Zuge derer sich verschiedene Sportarten mischen.70 In Bezug auf neue Produkte als Trends sprechen Autoren wie Schwier auch vom „Sampling“.71 So können sich beispielsweise Bestandteile von Spielidee und Spielfeld zu etwas vergleichsweise Neuem wie Beach-Volleyball formieren. Diese Cross-over-Formen bedeuten das vermeintliche Gegenteil von Differenzsetzung, die wiederum für Crossing auf der Folie Ramptons so typisch ist. Bei genauerer Betrachtung kann jedoch der vielfältige Bereich des Crossover-Sports sehr wohl als Rahmung für Crossing-Prozesse dienlich sein. Denn erstens bedeutet nicht jedes Cross-over unmittelbar eine Mischung, die beispielsweise jene Beach-Varianten wie Beach-Volleyball, Beach-Handball oder Beach-Fußball hervorbringt. Cross-over kann auch „durch Übernahme sportspezifischer Elemente in eine andere Sportart entstehen“.72 Und dies muss nicht gleich Verschmelzung bedeuten, sondern kann auch crossing-typischer als kommunikative Aneignung von fremden Codes verstanden werden. Schlobinski, Kohl und Ludewigt sprechen gerade im Rahmen jugendlicher Kommunikation

68 BRANDL-BREDENBECK/PFLEGER, 2007, S. 164. 69 EBD., S. 164f. 70 Vgl. PAPE-KRAMER, 2004, S. 6. 71 SCHWIER, 2003. 72 PAPE-KRAMER, 2004, S. 165.

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von der sogenannten Bricolage,73 welche die spielerische Aneignung und Verfremdung kultureller Ressourcen meint. Bei vielen expressiven jugendkulturellen Stilen um Bewegung und Musik geht es um eben diese Praktiken der (körper-)sprachlichen Mischung und Kreuzung, die zur Differenzsetzung genutzt werden, um prestigevolle, soziale Identitäten zu kreieren und zu legitimieren. Zweitens erweitert die Vielfalt an Cross-over-Varianten Deutungsmöglichkeiten für Crossing-Prozesse. So finden sich Kreuzungen zwischen Spielidee und Spielfeld (wie der Beach-Sport) oder Bewegungsform und Spielobjekt (wie die Rhythmische Sportgymnastik) sowie Bewegungsform und Gelände (wie Parkour oder Freerunning).74 Hinzu kommen die Kreuzungen zwischen Spiel, Bewegung und Musik. In Bezug auf die formulierten Voraussetzungen für die Einordnung als Crossing haben gerade die Cross-over-Ausprägungen Parkour und die Verbindung von Sport-/Bewegungsspiel und Musik großes Potential. Während sich etwa Beach-Volleyball und Rhythmische Sportgymnastik als Olympische Sportarten etabliert haben, die Kreuzungen also nicht mehr interaktiv als besondere Differenzsetzung beispielsweise zu den traditionellen Sportarten relevant gemacht werden, ist dies bei den vornehmlich jugendlichen Bewegungsformen und im Bereich des musikaffinen Sports anders. Parkour beispielsweise konterkariert den verbandlich organisierten Orientierungslauf, der auf leichtathletischer Basis Orientierungsaufgaben stellt. Parkour wird gerade von Heranwachsenden genutzt, um sich vom organisierten Sport abzugrenzen, Ordnungen aufzuweichen und in Eigenrealisation ihre Geschichte im wörtlichen Sinne als Parkour zu schreiben. So steht bei dieser besonderen Bewegungsform der zurückzulegende Weg im Mittelpunkt. Es geht darum, eine „selbst bestimmte Strecke im Freien möglichst effektiv und schnell zurückzulegen und die Hindernisse, die auf diesem Weg liegen, mit geringem Aufwand, also ohne Verschwendung von körpereigenen Ressourcen, zu überwinden. Parkour kann sowohl im urbanen wie auch im natürlichen Gelände praktiziert werden“.75 Mittels Rückgriff auf turnerische Elemente ist bei Parkour zudem die Rückeroberung des urbanen Raums entscheidend. Regeln der Architektur werden aufgebrochen, umgedeutet und neu interpretiert. Dieses Aufbrechen von festgelegten Strukturen, die eigenständige Auseinandersetzung mit sich und seiner Umwelt sowie das Uminterpretieren scheinbar festgelegter Regeln ist zudem ein typisches Prinzip von Jugendkulturen.76 Nicht ohne Grund sehen Pädagogen dort

73 SCHLOBINSKI/KOHL/LUDEWIGT, 1993, S. 112. 74 Vgl. auch BRANDL-BREDENBECK/PFLEGER, 2007, 165f. 75 PAPE-KRAMER/HEINLIN, 2007, S. 169. 76 Vgl. FERCHHOFF, 1999; PAPE-KRAMER/HEINLIN, 2007, S. 169.

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auch das besondere, bildungspolitische Potential. Parkour fördere selbsttätige Weltaneignung, selbständiges Tun, Handlungskompetenz und Selbständigkeit.77 Crossing-typisch wird innerhalb dieser Bewegungsform wiederum zwischen ,fremden Codes‘ aus dem Turnen und Orientierungslauf geswitcht und damit abermals soziale Ordnung aufgeweicht. So sind „Lauf-, Sprung-, Hangel-, Kletter-, Stütz-, Roll- und Kriechbewegungen, je nach Hindernis- und Streckenprofil“78 üblich. Es sind aber, anders als beim Turnen, „alle Bewegungs- und Fortbewegungsformen erlaubt, sie müssen nur die geforderte Effizienz, Schnelligkeit und Flüssigkeit aufweisen“.79 Damit ist nun nicht immer ein Spiel mit Stereotypen aus dem Turnen und dem Orientierungslauf verbunden, aber dennoch werden diese beiden Referenzen metaphorisch assoziiert, um sich abzugrenzen und sich Identität zu verleihen. Als Besonderheit im Crossing-Kontext tritt außerdem zu Tage, dass hier Medientexte bzw. Tonträger und Videoclips als Ressourcen für Kreuzungen besonders umfänglich genutzt werden.80 Dies geschieht einerseits durch Künstler, die sich mit den Sportlern als sogenannte ‚Traceure‘ schmücken. So wirken unter anderem bei Madonnas Musikvideos Traceure mit. Auch in „Stirb langsam 4.0“ sowie im James-Bond-Film „Casino Royale“ sind diese Bewegungskünstler in der einleitenden Filmsequenz zu sehen.81 Weitaus häufiger und crossingrelevanter ist jedoch die mediale Darstellung der Bewegungsaktionen durch die Jugendlichen selbst. Im Besonderen im Parkour-ähnlichen Freerunning werden mit weniger Fokus auf die Strecke noch deutlicher die Kreativität der Bewegung als spektakuläre Moves und die eigene Selbstdarstellung in den Vordergrund gerückt.82 Über die Brücke der Musik lassen sich sodann weitere Crossing-Varianten beobachten. In Brasilien arbeiten beispielsweise Fußballschulen eng mit Sambaschulen zusammen, um die Spielerinnen und Spieler motorisch und koordinativ besonders zu fördern. Diese Schulung hat zur Folge, dass „Spieler und Mannschaften eigene nationale, regionale und auch lokale Stile entwickeln, d.h. je besondere, über die unmittelbaren motorischen Erfordernisse des Spiels hinausgehende Weisen, die von den Regeln des Spiels eingeräumten Möglichkeitsfelder

77 Vgl. z.B. BRANDL-BREDENBECK/PFLEGER, 2007, S. 166. 78 PAPE-KRAMER/HEINLIN, 2007, S. 170. 79 EBD. 80 Vgl. ANDROUTSOPOULUS, 2002, S. 19. 81 Vgl. PAPE-KRAMER/HEINLIN, 2007, S. 170. 82 Vgl. WITFRIED/GERLING/PACH, 2010.

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praktisch zu nutzen und zu interpretieren“.83 Damit passiert die crossing-typische Abgrenzung durch das metaphorische Switchen zwischen den Rhythmik-Codes weniger im Verhältnis zum Samba, sondern wie bei der religiösen Symbolik in Relation zu ‚anderen‘ Spielern und Mannschaften. So bilden die durch Schulen, Trainingsmodelle und Lehrgänge geformten Körpertechniken und Spielstile eine eigene „soziale Motorik“, die Gemeinsamkeiten herstellt und gegenüber anderen als begrenzendes Merkmal fungiert.84 Im Zuge dieser Symbolik und ihrer lokalen Aneignung zeigen sich ebenso vergleichsweise neue importierte Praktiken des Körpers wie die Integration asiatischer Körpertechniken in die Fitness- und Wellness-Kulturen sowie die Rezeption von Tanzpraktiken wie Tango, Salsa, Mambo, Capoeira, Street-Dance, Hiphop etc.85 Letztere verbreiten sich u.a. deshalb global, weil besonders Tanz-Elemente in die kommerziellen Fitnessstudios und deren Kursprogramm um Kraftund Athletiktraining, Aerobic-Varianten etc. eingeschrieben werden. Doch trotz dieser im Fitness-Milieu vermeintlichen Crossing-Bezüge ist bei der entsprechenden Einordnung Vorsicht geboten. Die Verwendungsmuster werden vornehmlich nicht relevant gemacht, um soziale Unterschiede identitätsstiftend zu produzieren und kulturelle Hybridität entstehen zu lassen. Vielmehr werden nach ökonomischen Gesichtspunkten besondere Formate kreiert, um sie marktfähig zu machen und um mit speziellen, innovativen Angeboten die stets steigende Nachfrage nach Neuem zu befriedigen. Und so bedarf es vor allem bei Trends in Sport, Spiel und Bewegung immer einer genauen Betrachtung, inwieweit sie „zur Inszenierung kultureller Differenzen und Identitäten“ eingesetzt werden.

5. S CHLUSSBETRACHTUNG Die hier aufgezeigten Crossing-Bezüge in der Verbindung von Sport und Religion, in der Produktion von muskulöser Weiblichkeit im männlich konnotierten Bodybuilding sowie in den Cross-over-Sportarten und daran anhängiger Spielund Bewegungskulturen liefern vielfältige Beispiele für die Produktion von Differenzen und Identitäten. Wer im Fußball die Liebe zu seinem Verein und einen entsprechend abgestimmten und erfüllten Alltag lebt, also einen fußballaffinen Lebensstil pflegt, bedient sich nicht selten auch religiöser Elemente. Ritualisiert und gemeinschaftsstiftend wird besonders die Welt des Fußballs als vergleichs-

83 ALKEMEYER, 2006, S. 268. 84 Vgl. ALKEMEYER, 2006, S. 268; GEBAUER, 2006, S. 121. 85 Vgl. BRÖSKAMP, 2008, S. 224.

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weise unbeschwert in Relation zum moralischen Überbau der Kirchen erlebt. Mit Chorälen wird das ‚Wir-Gefühl‘ zum Ausdruck gebracht und die Monstranz in Form eines Pokals geküsst. Dies geschieht in doppelter Abgrenzung – zur konventionellen Religion und zu den sportlichen Gegnern als Mannschaft und Fans. Bodybuilderinnen lösen sich mit ihrem muskulösen Körper von externen Attribuierungen von Weiblichkeit und dem damit einhergehenden (medial) suggerierten Schönheitsideal. Sie brechen so stereotype Geschlechterdifferenzierungen auf und kreieren Weiblichkeit auf ihre sehr persönliche Art und Weise. Und im Cross-over-Sport geht es nicht nur um Mischungen von verschiedenen Sportarten oder Spielideen in neuen räumlichen Kontexten. Wer sich etwa im Parkour Bewegungselementen aus der Leichtathletik und dem Turnen bedient, grenzt sich von diesen Sportarten bewusst ab. Es geht um verstärkte Eigenregie, Kreativität, das Durchdringen urbaner Räume und nicht zuletzt um die Etablierung von Trends. Demzufolge wird auf der analytischen Folie von Rampton abermals deutlich, dass es auch und vor allem im Sport um „Unterscheidungskämpfe“86 geht. Zwar wird dem Sport häufig ein gemeinschaftsstiftender Charakter mit entsprechenden Möglichkeiten der Integration und Inklusion von Menschen unterschiedlicher Herkunft zugeschrieben. Doch mit dieser Crossing-Abhandlung zeigt sich letztlich das, was den Sport als gesellschaftlichen Mikrokosmos ebenso ausmacht: Er ist im Zuge einer modernen pluralistischen Gesellschaft ein „zentraler Schauplatz der körperlichen Repräsentationsarbeit verschiedener sozialer Milieus“87 – inklusive daran anhängiger Gemeinsamkeiten und inszenierter Differenzen.

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86 SCHMIDT, 2009, S. 162. 87 EBD.

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Crossing im Recht Auf Spurensuche nach Begriffsbildungen im öffentlichen Recht S EBASTIAN K LAPPERT

1. D IE SOZIOLINGUISTISCHE A USGANGSLAGE B EGRIFF DES C ROSSINGS

ZUM

Das in der soziolinguistischen Forschung seit Anfang der 1990er Jahre diskutierte Phänomen der Sprachkreuzung, das oft auch mit dem aus dem Lateinischen für Überschreitung abgeleiteten Begriff der Transgression bezeichnet wird, meint den Gebrauch einer dem Sprecher nicht zugeordneten und für ihn nicht identitätsstiftenden Sprachvarietät.1 Sprachkreuzung bedeutet somit das sprachliche Überschreiten einer ethnisch-sozialen Grenze durch das ‚Hineinwandern‘ eines Sprechers in ein für ihn fremdes sprachliches Territorium.2 Im Englischen spricht die soziolinguistische Forschung in diesem Zusammenhang von Crossing. Es wird definiert „as the use of language varieties associated with social or ethnic groups that the speaker does not normally belong to“.3 Sprachkreuzungen werden regelmäßig als Ergebnis sozialer Kontakte in einem ethnisch gemischten städtischen Alltag verstanden.4 Phänomene von Sprachkreuzungen, die stets auf

1

Vgl. dazu grundlegend HEWITT, 1986, und RAMPTON, 1995. Einen Überblick über den Forschungsstand bietet ANDROUTSOPOULOS, 2002, S. 5ff.

2

Vgl. ANDROUTSOPOULOS, 2002, S. 5.

3

RAMPTON, 1995, S. 14.

4

ANDROUTSOPOULOS, 2002, S. 18.

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stereotypische Eigenschaften einer Gruppe verweisen, denen die übernommene Sprachvarianz zu eigen ist, erscheinen typischerweise in Momenten, in denen die normalen Annahmen und Regelungen sozialer Ordnung aufgeweicht oder aufgehoben sind. Dazu gehören Übergangsphasen, in denen Rollen und Aufgaben der Beteiligten nicht klar definiert sind, Spiele und künstlerische Performance, rituelle Beschimpfungen, der Bruch normativer Erwartungen und der Ausdruck starker Gefühle.5

Das Spektrum der Sprachkreuzungen, die insbesondere in der Jugendsprache untersucht werden, reicht von minimalen stereotypischen Elementen wie Akzentnachahmungen, Wortschatzelementen und festen Routineformeln bis zu längeren, zum Teil auch freien Äußerungen, die regelmäßig formal durch verändertes Tempo, Lautstärke, Tonhöhe, veränderte Artikulation oder durch Zitatmarker von der angestammten Rede bewusst abgesetzt werden.6 Die Motive für sprachliche Kreuzungen sind vielfältig und komplex. Crossing kann sowohl als eine das Fremde akzeptierende Höflichkeitsgeste oder aber als Alternative für die Routine der Alltagskommunikation benutzt werden. Crossing kann zudem eine Ressource für eine ästhetische und exotisierende Kommunikation bilden.7 Bei dem Phänomen der Transgression kann es aber auch um die bewusste Inszenierung von Ungleichheit als Mittel zur eigenen Identitätsstiftung gehen. Sprachliche Kreuzungen verweisen so auf die soziale Positionierung und Distanz gegenüber sozialen und ethnischen Individuen und Gruppen in multiethnischen urbanen Milieus. Durch die bewusste Schaffung von Differenzen kann das Phänomen der sprachlichen Kreuzung somit auch als Instrument sozialethnischer Abgrenzung und damit gleichzeitig eigener Identitätsvergewisserung verstanden werden.

2. D ER C ROSSING -B EGRIFF AUS RECHTSLINGUISTISCHER P ERSPEKTIVE Soweit gesichtet ist das Phänomen des Crossings in der Rechtswissenschaft bislang nicht wissenschaftlich untersucht worden. Es kann sich daher bei den nachfolgenden Ausführungen allenfalls um eine erste Spurensuche handeln. Die Fra-

5

EBD., S. 9f.

6

Vgl. EBD., S. 16.

7

Vgl. EBD., S. 31.

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ge nach dem Phänomen des Crossings im Recht ist dabei in erster Linie der Rechtslinguistik als einem noch jungen Teilbereich der Rechtswissenschaften zuzuordnen.8 Für eine rechtswissenschaftliche Perspektive muss der soziolinguistische Begriffsinhalt des Crossings so zunächst in den spezifischen Sinnzusammenhang des Rechts übertragen werden. In diesem Zusammenhang sind fünf Bemerkungen voranzustellen: 1. Ausgangspunkt aller juristischen Interpretation ist das Recht, das grundsätzlich das durch den Gesetzgeber in Worte gefasste geschriebene Recht meint. Die Frage, was Recht ist, kann aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen beantwortet werden. Auch innerhalb der Rechtswissenschaft lassen sich vielfältige Annäherungen finden. So kann der Zugang zu dem, was Recht ist, beispielsweise aus rechtsphilosophischer, rechtssoziologischer oder rechtspolitischer Perspektive erfolgen. Recht kann rechtstheoretisch oder rechtsdogmatisch durchdrungen, aber auch rechtsgeschichtlich oder rechtsvergleichend betrachtet werden. Jenseits dieser spezifischen Besonderheiten der Fachdisziplinen kann Recht als die Gesamtheit von Normen, die intersubjektiv verbindlich Geltung beanspruchen, definiert werden. Recht hat dabei die Aufgabe, soziale Ordnung normativ herzustellen und Konflikte verlässlich, unvoreingenommen, wirksam und wiederholbar zu lösen.9 2. Recht ist weiterhin nicht etwas, das im außersprachlichen Bereich lokalisiert und nur noch in Sprache auszudrücken wäre.10 Vielmehr ist Recht notwendigerweise an Sprache gebunden. Das gilt für die Schaffung von Rechtsnormen, die Auslegung des Rechts und die juristische Bewertung und Entscheidung gleichermaßen. Die Rechtssprache ist eine Fachsprache und als solche stets Gruppensprache; sie ist Herrschaftssprache, die durch Institutionen und Verfahren das geltende Recht auslegt.11 Die Rechtsordnung wird dazu als eine „riesenhafte Umwälzanlage für Sprache“ verstanden, hinter der eine ebenso riesige Ansammlung von Staatsgewalt steht, die durch argumentative Rechtsarbeit und damit durch Sprache in symbolische Gewalt zur Lösung von sozialen Konflikten übertragen wird: durch Gesetzeskraft in der Legislative, durch Bestandskraft in der Exekutive und durch Rechtskraft in der Judikative.12 Auch wenn die Rechtssprache durch Fachtermini bereichert und spezialisiert ist, so ist sie doch natürliche

8

Vgl zu den wesentlichen rechtslinguistischen Forschungen MÜLLER, 2013, S. 191 Fn. 8 mit weiteren Nachweisen.

9

Vgl. MUTHORST, 2011, S. 4ff., Rn. 1ff.

10 MÜLLER, 2013, S. 200. 11 Vgl. DERS., 2008, S. 84. 12 DERS., 2013, S. 191.

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Sprache in dem Sinne, dass einzelne Worte und Sätze oft zwei- und mehrdeutig sind.13 Jeder Rechtssatz ist somit interpretationsbedürftig;14 und Rechtserkenntnis steht so stets vor dem Problem des Verstehens. Trotz der erwähnten Mehrdeutigkeit des Rechts knüpft das Recht an ein der Sprachgemeinschaft bekanntes und durch Konvention gebildetes, wenn auch sich ständig wandelndes Begriffsverständnis an.15 3. Recht entsteht nicht aus sich selbst. Es hängt von äußeren Bedingungen wie Krieg oder Frieden, den wirtschaftlichen und kulturellen Ressourcen, der geographischen Lage, dem ethnischen Zuschnitt der Bevölkerung oder herrschenden Mentalitätsstrukturen ab und unterliegt dem historischen Wandel. Kontingenz, Relativität, Veränderlichkeit und bloß vorübergehende Bedeutung sind so Kennzeichen des Rechts.16 Dies gilt in besonderer Weise für das Verfassungsrecht als dem „politischen Recht“,17 das einerseits bei seiner Entstehung auf die bestehende Rechtskultur aufbaut, andererseits durch gelebte Verfassungswirklichkeit offen für Anfragen der Rechtsgestaltung bleibt. Recht zu setzen ist das Ergebnis der Fähigkeit des Menschen, vorauszudenken, zu gestalten und verbindlich zu regeln, was normative Grundlage der verfassten Gemeinschaft sein soll. Die Rechtsgemeinschaft erkennt das Recht in seiner Überzeugungskraft und vertrauensstiftenden Allgemeinheit an, weil dessen Autorität letztlich im Menschen selbst begründet liegt.18 4. Aus rechtshistorischer Perspektive sind zudem grundlegende Transformationsprozesse zu beobachten, wie auch das Recht selbst andere Lebensbereiche zu prägen vermag. Aus der Geschichte der Rechtssymbolik ist beispielsweise der aus dem Lehnsrecht bekannte Handgang als Vorbild für die christliche Gebetshaltung der gefalteten Hände, insbesondere im Zusammenhang mit der Vereh-

13 Vgl. EBD., S. 192. 14 Vgl. ISENSEE/KIRCHHOF, 2014, Bd. XII, § 273 Rn. 84. Noch heute sind zur Interpretation des Gesetzes vier weitgehend auf Friedrich Carl von Savigny zurückgehende Auslegungskanons maßgeblich: die vom Wortsinn ausgehende grammatikalische Auslegung; die systematische Auslegung, die die Stellung der auszulegenden Norm im Normenkontext berücksichtigt; die historische Auslegung, die die Geschichte des Normeninhaltes berücksichtigt sowie die nach der Zwecksetzung des Gesetzgebers fragende teleologische Auslegung. 15 SAUER, 2013, S. 178 Rn. 16. 16 Vgl. MAHLMANN, 2012, S. 336 Rn. 5. 17 Vgl. dazu ISENSEE/KIRCHHOF, 2014, Band XII, § 273 Rn. 45. 18 Vgl. EBD., § 273 Rn. 38.

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rung Gottes und der christlichen Heiligen, zu erwähnen.19 Im weltlichen Recht des Sachsenspiegels heißt es: „Nach des Vaters Tod komme der Sohn binnen Jahr und Tag zu seinem Herrn und biete ihm mit gefalteten Händen seine Mannschaft an.“20 Als sichtbares Zeichen gegenseitiger Treue und Ausdruck der Ergebenheit faltet der Vasall seine Hände und legt sie in die Hände des Lehnsherrn, der sie umschließt. Im Mittelalter hält dieser lehnsrechtliche Vorgang der vasallitischen Kommendation dann in die liturgischen Riten der Kirche Einzug. In karolingischer Zeit ist der Ritus der gefalteten Hände bereits fester Bestandteil des Gehorsamsversprechens bei der Priesterweihe und dem Mönchsgelübde. Im Spätmittelalter schließlich sind die gefalteten Hände der Gestus, mit dem der Gläubige in feierlicher Selbstversprechung einem Heiligen oder Gott gegenüber ein Gelübde ablegt.21 5. Das Recht hat im Laufe seiner Geschichte einen hohen Grad an Professionalisierung und Verwissenschaftlichung erfahren.22 Zum Selbstverständnis der nach Abstraktion, Vollständigkeit und Präzision in der Begriffsbildung strebenden Rechtswissenschaften gehört, die zu ordnenden sozialen Phänomene in einer eigenen Fachsprache auszudrücken. So werden Drehkreuze und Personenschleusen in der rechtlich-institutionellen Verwaltungssprache als „Personenvereinzelungsanlagen“ bezeichnet; der von der Polizei verwendete Schlagstock, der in der Alltagssprache als Gummiknüppel bekannt ist, firmiert im Recht als „Räumund Abdrängstock“. Auch die jedem Examenskandidaten bekannte verwaltungsrechtliche Regelung in § 80 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO), wonach „Rechtsbehelfe keine aufschiebende Wirkung haben“, wird für einen Rechtsunkundigen kaum aus sich heraus verständlich sein. Dass der im Strafrecht bekannte „Erlaubnistatbestandsirrtum“, welcher die irrige Annahme der sachlichen Voraussetzungen eines anerkannten Rechtfertigungsgrundes meint, ist dem Nicht-Juristen sowohl als funktionalstilistischer Fachbegriff als auch in seiner konzisen und abstrakten Definition nicht auf Anhieb verständlich.23 Anhand dieser Beispiele wird die Intertextualität der Rechtssprache erkennbar, hinter der sich ein ganzes System vernetzter Rechtssätze verbirgt und so das Textverständnis relativ schwierig erscheinen lässt. Vor diesem Hintergrund ist aus rechtslinguistischer Perspektive dem Phänomen der Sprachkreuzung nachzuspüren. Crossing in einem rechtlichen Sinne

19 Vgl. ANGENENDT, 1994, S. 210. 20 Zit.n. EBD., S. 211. 21 Vgl. EBD., S. 210f. mit weiteren Nachweisen. 22 Vgl. ausführlich BERMAN, 1991, S. 144ff. 23 Vgl. ausführlich EBERT, 2010, mit weiteren Nachweisen.

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wird dabei als sprachliche Abweichung von der typisch rechtlich-institutionellen Fachsprache verstanden. Es geht um Beispiele, wo der Gesetzeswortlaut von der etablierten normierenden und präskriptiven Rechtssprache abweicht, wo der juristische Sprachgebrauch durch Formulierungen aus der Alltagssprache oder einer anderen Fachsprache modifiziert wird oder wo der Gesetzeswortlaut einer anderen Rechtstradition oder einem fremden ideologischen Ordnungskonzept folgt. Darüber hinaus soll ein erster Antwortversuch unternommen werden, warum das Gesetz eine „fremde“ Rechtssprache wählt. Dazu wird sich die nachfolgende Spurensuche ausschließlich auf das geschriebene Recht und hier auf das öffentliche Recht, insbesondere auf das Verfassungsrecht und das kanonische Recht, konzentrieren. Anwaltliche Schriftsätze, rechtswissenschaftliche Gutachten, verwaltungsbehördliche Schreiben oder gerichtliche Entscheidungen werden dagegen nicht Gegenstand der Untersuchung sein.

3. C ROSSING

IM R ECHT . B EISPIELE AUS DEM ÖFFENTLICHEN R ECHT

3.1 Die Präambel des Grundgesetzes Ein erster rechtslinguistischer Zugang zum Phänomen sprachlicher Kreuzungen findet sich in der Präambel zum Grundgesetz. Dort heißt es: Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.

In der deutschen Staatsrechtslehre wird die Präambel nicht als eine dem eigentlichen Verfassungstext bloß vorgelagerte Deklamation ohne rechtliche Relevanz, sondern als integraler Bestandteil des Grundgesetzes verstanden.24 So dokumentiert die Präambel kollektive Erinnerung in zukunftsgewandter Perspektive und bekundet die aus geschichtlicher Schuld erwachsene Sehnsucht nach einer Rückkehr in die europäische Staatengemeinschaft.25 Gleichwohl stellt die Präambel das narrative Fundament der deutschen Nachkriegsordnung dar und fabu-

24 HERDEGEN, in: MAUNZ/DÜRIG, GG-Kommentar, 74. Lfg. Mai 2015, Präambel Rn. 9f. 25 EBD., Rn. 3.

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liert märchengleich vom deutschen Volk, das sich in seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen das Grundgesetz gegeben hat. Die historische Realität sah hingegen anders aus.26 Das Crossing-Phänomen drückt sich im Text der Präambel durch die Verwendung einer pathetischen, erzählerisch-narrativen Sprache aus, mit der die Identität des Gemeinwesens gestiftet werden soll. Aus rechtslinguistischer Perspektive ist die einleitende Verantwortungsformel „im Bewusstsein vor Gott und den Menschen“ eine der nüchternen und normierenden Rechtssprache höchst fremde und pathetische Demutsfloskel. Mit dem Gottesbezug der Präambel wird nicht Gott als Quelle und Ursprung der Verfassung festgelegt. Es handelt sich bei der Formulierung nicht um eine invocatio Dei, also eine Anrufung Gottes als verfassungsgebender Autorität, sondern um eine bloße Gott erwähnende nominatio Dei. Der Geltungsgrund der Verfassung bleibt die souveräne Selbstbestimmung des Volkes in Ausübung seiner verfassungsgebenden Gewalt und ist damit rein säkularer Natur.27 Unzählig sind die rechtswissenschaftlichen Ansätze, die den Gottesbegriff der Präambel auszulegen versuchen. Während sich die allein durch den christlichen Glauben geprägten Mitglieder des Parlamentarischen Rates in ihrer kulturhistorischen Stunde eindeutig auf den christlichen Gott bezogen, bemüht sich die zeitgenössische Staatsrechtslehre zu betonen, dass der Parlamentarische Rat kein dezidiert christliches Gottesbild in der Verfassung verankern wollte.28 In einer von religiösem Pluralismus geprägten Gegenwart wird unter Berufung auf die religiöse Neutralität des Staates der ehemals trinitarische Gott des Grundgesetzes zu einer bloß höheren Instanz degradiert, zu einem exemplarischen „Untergrund einer Verantwortungsrelation, die auf Menschenwürde und einer dienenden Funktion der staatlichen Ordnung aufbaut“.29 Der Gottesbezug der Präambel verweist somit allein auf die Selbstbeschränkung des Verfassungsgebers, der volkssouveränen Allmachtsphantasien und Selbstherrlichkeit abschwört.30

26 Vgl. DEPENHEUER, 2011, S. 24: „An dieser Selbstbeschreibung des parlamentarischen Rates ist indes so ziemlich alles unzutreffend. [… Die] historische Realität wäre weniger geeignet gewesen, das neue Gemeinwesen normativ zu fundieren; dazu bedurfte es der erzählerischen Überhöhung durch die mythische Figur der verfassungsgebenden Gewalt.“ 27 HERDEGEN, in: MAUNZ/DÜRIG, GG-Kommentar, 74. Lfg. Mai 2015, Präambel Rn. 33. 28 Vgl. nur EBD. 29 EBD., Rn. 38. 30 Vgl. ISENSEE, 2006, S. 176f.

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Unabhängig von der Frage nach der richtigen Auslegung des Gottesbegriffs im Grundgesetz ist er aus rechtslinguistischer Perspektive ein der Rechtssprache fremder Begriff. Dabei ist zu beachten, dass die Verwendung dieses höchst komplexen metaphysischen Begriffs mit einem zumindest auch theologisch auszufüllenden Begriffsinhalt nicht nur als säkulare Narration identitätsstiftend, sondern vielmehr angesichts theologischer Wahrheits- und Absolutheitsansprüche auch ausgrenzend wirken kann. Allerdings scheint der Gottesbezug gegenwärtig nicht als ein Begriff der theologischen Sprache interpretiert zu werden. Vielmehr ist der Gottesbegriff staatsrechtlich als bloßer Verweis auf eine der Willkür des Menschen entzogene metaphysische Größe narrativ zu verstehen und insoweit – wie auch der fabulierende Stil der Präambel insgesamt – funktional auf die Herstellung einer Identifikation mit dem Gemeinwesen gerichtet. Die eigentümlich erhabene und narrative Sprache der Präambel zeigt jedoch: So sehr der säkulare moderne Verfassungs- und Rechtsstaat Ausdruck rationaler Gestaltung im Geiste einer den Mythos entzaubernden Aufklärung ist, so steht doch an seinem Anfang ein „säkularer Verfassungsmythos“31 von der märchengleichen Selbstbestimmung des Volkes, friedensdienenden Herrschaft des Rechts und der Unantastbarkeit der Menschenwürde. 3.2 Art. 1 Abs. 1 GG: Garantie der Menschenwürde Ebenso erzählerisch pathetisch und damit rechtssprachlich höchst ungewöhnlich ist die Formulierung in Art. 1 Abs. 1 GG, in der es verheißungsvoll heißt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Für „lapidar, feierlich, geheimnisvoll“ wird diese Regelung gehalten.32 Aus rechtssprachlicher Perspektive fehlt der Formulierung der Normbefehl. Es handelt sich dabei nicht um einen Rechtssatz, unter den der Rechtsanwender subsumieren kann, sondern vielmehr um eine ratio iuris, ein Rechtsprinzip, die „Regel der Regeln“.33 Die deskriptiv-feststellende Sprachform macht das Absolute der Norm besonders deutlich: Unter der Herrschaft des Rechts ist die Unantastbarkeit der menschlichen Würde trotz aller Bedrohungen in der Verfassungswirklichkeit Wahrheit – allerdings „keine empirische, sondern eine geglaubte und zu glaubende Wahrheit, damit doch ein Sollen.“34 Der um Konkretisierung bemühte Verfassungsjurist erkennt in der besonderen Normstruktur des Art. 1 Abs. 1 eine „modal ausgerichtete Generalklau-

31 DEPENHEUER, 2009, S. 22. 32 ISENSEE, 2006, S. 173. 33 EBD., S. 211f. 34 EBD., S. 174.

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sel“ von besonderer normativer Offenheit, da das Prinzip von der Unantastbarkeit der Menschenwürde auf jeden denkbaren Lebenssachverhalt anzuwenden ist.35 Nicht erst die deskriptive Redeweise von Art. 1 Abs. 1 GG, sondern bereits der Begriff der Würde selbst ist aus einem rechtslinguistischen Blickwinkel problematisch. Die Würde als vom Grundgesetz emporgehobenes Wesensmerkmal des Menschen ist kein originär rechtlicher Terminus. Gerade die vielfältigen kulturgeschichtlichen Implikationen und die feierliche Unbestimmtheit, die die Würdeformel kennzeichnen, bereiten dem zur Auslegung berufenen Juristen Schwierigkeiten. Die These von Carl Schmitt, nach der alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre säkularisierte theologische Begriffe seien,36 erweist sich auch für den Begriff der Menschenwürde als treffend. So gründet die alle staatliche Gewalt der säkularen Verfassungsordnung bindende Menschenwürde in der christlichen Schöpfungs- und Erlösungsordnung. Die Würde des Menschen folgt aus der Gottesebenbildlichkeit seiner Erschaffung und der neutestamentarischen Menschwerdung Gottes zur Rettung der Menschheit.37 Die Menschenwürde ist somit ein aus der christlichen Lehre von der dignitas humana abgleiteter sakral-transzendentaler Begriff und gehört zu den nicht-säkularen Voraussetzungen unserer Verfassungsordnung. „Das Absolute, das in der Menschenwürde aufscheint, ist ein Abglanz des Religiösen.“38 Aus der hier allein maßgeblichen rechtslinguistischen Perspektive des Crossings ist der Begriff der Würde ein Begriff der Metaphysik, der zur identitätsstiftenden Metaregel aller staatlicher Gewalt erklärt wird, wie aus der anschließend präskriptiven Fortsetzung des Art. 1 klar wird: „Sie [die Menschenwürde] zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Der Begriff der Menschenwürde ist nicht nur ein der Rechtssprache fremder, sondern auch ein höchst unscharfer Terminus, der sich nicht abschließend juristisch definieren lässt.39 So kann sich die juristische Interpretation mit ihren tradierten Ausle-

35 HÖFLING, 1995, S. 858. 36 SCHMITT, 1934, S. 49. 37 ISENSEE, 2006, S. 202. 38 EBD., S. 209. 39 Vgl. EBD., S. 214: „Menschenwürde ist ein offener Begriff ohne Randschärfe. Er lässt sich nicht definitorisch erfassen. Die Definitionsversuche tendieren zu Tautologien. Die „nicht interpretierte These“, die sich der Verfassungsgeber zu eigen gemacht hat, wird auch nicht nachträglich mit den Mitteln juristischer Hermeneutik genau und abschließend erschlossen. Die Exegese kann sich dieser Idee nur annähern und aus wechselnden Perspektiven einzelne Aspekte erfassen. Die Menschenwürde als Idee ist abstrakt, also inhaltsarm, doch nicht inhaltsleer. Die Feststellungen sind deutlicher in

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gungsmethoden ihm bestenfalls annähern: In der Rechtswissenschaft war bei der Auslegung lange die sog. Objektformel maßgeblich, wonach die Menschenwürde dann betroffen sei, wenn der Mensch zum bloßem Mittel und Objekt degradiert werde.40 Zunehmend seiner christlich sakralen Herkunft entkleidet, gilt die Formel von der Unantastbarkeit der Menschenwürde in einer säkulareren Lesart als „Dogma einer bürgerlichen Religion“41 oder als „Glaubensartikel einer Zivilreligion“.42 Trotz zahlreicher neuer Ansätze, die Würde des Menschen zu begründen,43 gibt es angesichts der fehlenden normativen Eindeutigkeit jedoch auch immer wieder Stimmen in der Forschung, die den Grundrechtscharakter der Garantie der Menschenwürde in Frage stellen.44 Die dargestellten Crossing-Beispiele einer narrativen Sprache und metaphysischer Termini veranschaulichen das Problem besonderer inhaltlicher Offenheit und fehlender Bestimmtheit, weil sie sich der rechtssprachlichen Genauigkeit entziehen und nicht in jenes Geflecht einer Rechtssystematik einbinden lassen, die sich wiederum aus juristischen Fachbegriffen zusammensetzt. 3.3 Art. 102 GG: Abschaffung der Todesstrafe Anders gestaltet sich das Phänomen des Crossings im Zusammenhang mit Art. 102 GG. Dort heißt es lapidar: „Die Todesstrafe ist abgeschafft.“ Bei dem absoluten Verbot der Todesstrafe handelt es sich aus verfassungsgeschichtlicher Perspektive trotz einiger inhaltlich begrenzter Vorbilder in der PaulskirchenVerfassung und einzelner vorkonstitutioneller Landesverfassungen um eine Neuerung.45 Normen sind grundsätzlich Sollens-Sätze, die nicht beschreiben, was ist, sondern präskriptiv festlegen, was sein soll.46 Von daher ist die in Art.

der negativen Bestimmung, was der Würde widerstreitet, als in der positiven, was sie bedeutet.“ 40 So grundlegend DÜRIG, in: MAUNZ/DÜRIG, GG-Kommentar, Stand 1958, Art. 1 Abs. 1 Rn. 28. 41 ISENSEE, 2006, S. 187. 42 EBD., S. 179. 43 Vgl. nur HERDEGEN, in: MAUNZ/DÜRIG, GG-Kommentar, 55. Erg. Lfg. Mai 2005, Art. 1 Abs. 1 Rn. 5 und Rn. 17; weitere Ansätze einer Neubegründung nennt thesenartig ISENSEE, 2006, S. 195ff. mit weiteren Nachweisen. 44 Vgl. HÖFLING, 1995, S. 857 mit weiteren Nachweisen. 45 GERMELMANN, in: KAHL/WALDHOFF/WALTER, Bonner Kommentar, 176. Aktualisierung, Dez. 2015, Art. 102 Rn. 103. 46 Vgl. MUTHORST, 2011, S. 54 Rn. 1.

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102 GG gewählte Formulierung wegen ihrer deskriptiven und auf den ersten Blick regelungslosen Formulierung rechtssprachlich ungewöhnlich. Für diese ausdrückliche Feststellung des Verfassungsgebers ist letztlich die Bestürzung über den nationalsozialistischen Missbrauch der Todesstrafe maßgeblich gewesen.47 Die Frage nach der Aufnahme des vollständigen Verbots der Todesstrafe in das Grundgesetz wurde im Parlamentarischen Rat kontrovers diskutiert und selbst in der jungen Bundesrepublik wurden in den 1950er Jahren mehrfach Anträge zur Änderung des Art. 102 GG gestellt, die jedoch erfolglos blieben. In der heutigen Praxis spielt Art. 102 GG keine Rolle. Rechtslinguistisch mit Blick auf sprachliche Kreuzungen ist die normativ zu lesende Feststellung von der Abschaffung der Todesstrafe als eine ausdrückliche Zurückweisung jener Ansätze in der Rechtswissenschaft zu verstehen, welche die Todesstrafe als Sanktionsmittel befürworten. Die Verfassungsnorm hat somit auch klarstellenden Charakter für die Gegner dieser Auffassung. Denjenigen, die in der öffentlichen Meinung oder in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung die Todesstrafe verteidigen, entgegnet der Verfassungsgeber: „Die Todesstrafe ist abgeschafft!“ Sühne- und Vergeltungsgedanken, die regelmäßig als Strafzwecke für die Todesstrafe angeführt werden, haben in der bundesdeutschen Verfassungsordnung keinen Platz.48 Kein Verbrechen ist schwerwiegend genug, um einem Täter das Lebensrecht abzusprechen. Die Rechtsordnung kann nicht derart erschüttert werden, dass sie nur durch die Tötung des Täters wiederhergestellt wird. Ein ius talionis, das in der Spiegelung von Opferschädigung und Täterstrafe ein Gleichgewicht anstrebt, wird zurückgewiesen. Art. 102 GG, der selbst zwar kein eigenständiges Grundrecht darstellt, aber in einem engen Bezug zum Grundrecht auf Leben nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG steht, ist somit eine grundsätzliche Entscheidung und besonderer Ausdruck der normativen Wertordnung. Er wird auch mit Blick auf die Frage nach einer möglichen Wiedereinführung der Todesstrafe für endgültig gehalten.49 Der abgrenzende und identitätsstiftende Charakter der Norm erweist sich ebenso vor dem Hintergrund, dass das deutsche Verfassungsrecht das Verbot der Todesstrafe bereits unabhängig von Art. 102 GG als Teilaspekt des Grundrechts auf Leben

47 Vgl. BADURA, 2015, S. 828. 48 Vgl. GERMELMANN, in: KAHL/WALDHOFF/WALTER, Bonner Kommentar, 176. Aktualisierung, Dez. 2015, Art. 102 Rn. 128 mit weiteren Nachweisen. 49 Vgl. EBD., Art. 102 Rn. 132 und Rn. 180. In einer der wenigen Leitentscheidungen zu Art. 102 GG hat auch das Bundesverfassungsgericht formuliert: „Der Wortlaut der Norm deutet […] an, daß hier eine grundsätzliche Entscheidung von besonderer, endgültiger Bedeutung getroffen werden sollte.“ (BVerfGE 18, 112, 116).

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nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleistet, ebenso als Ausfluss der Menschenwürdegarantie aus Art. 1 Abs. 1 GG, durch das Sozialstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 1 GG und das Rechtsstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 3 GG. Somit bliebe das Verbot der Todesstrafe selbst bei einer Streichung des Art. 102 GG weiterhin verfassungsrechtlich abgesichert.50 3.4 Art. 5 Abs. 1 Satz 3 GG: Zensurverbot Vergleichbar ist auch die in Art. 5 Abs. 1 Satz 3 GG im Rahmen der Kommunikationsgrundrechte festgehaltene Mitteilung: „Eine Zensur findet nicht statt.“ Aus rechtslinguistischer Perspektive erscheint die Formulierung ungewöhnlich, lässt sie doch ihren präskriptiven Sprachstil vermissen. Rechtssprachlich ist sie eine „Proklamation der Freiheit der Geistes“,51 die klar- und feststellt statt vorschreibt. Gleichwohl ist in Rechtsprechung und Schrifttum anerkannt, dass es sich inhaltlich um ein Zensurverbot handelt, das zwar kein selbständiges Freiheitsrecht darstellt, aber als zusätzliche Schranke für die Meinungsfreiheit und die drei in Art. 5 GG genannten Medienfreiheiten gilt. Ob damit nur die Abhängigkeit einer Veröffentlichung von vorheriger staatlicher Genehmigung (sog. Vorzensur) verboten ist oder auch eine sog. Nachzensur, bleibt jedoch in der Rechtswissenschaft umstritten.52 3.5 Art. 3 GG: Verbot der Diskriminierung wegen der ‚Rasse‘ Ein weiteres Beispiel für das Phänomen sprachlicher Kreuzung als Crossing im Recht stellt das Kriterium der Rasse im Zusammenhang mit dem Benachteiligungsverbot aus Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG dar. Dort heißt es: „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.“ Der Begriff der Rasse wird im Grundgesetz nicht legal definiert. Auch die Kommentarliteratur verwendet wenig Raum für die Auslegung des Begriffs der Rasse. Im juristischen Sprachgebrauch meint der Begriff der Rasse eine Personengruppe mit zumeist unveränderlichen, wirklich oder vermeintlich vererbbaren phänotypischen

50 Vgl. GERMELMANN, in: KAHL/WALDHOFF/WALTER, Bonner Kommentar, 176. Aktualisierung, Dez. 2015, Art. 102 Rn. 179. 51 BETHGE, in: SACHS, GG-Kommentar, Art. 5 Rn. 130. 52 Zum Streitstand vgl. BADURA, 2015, S. 251; BETHGE, in: SACHS, GG-Kommentar, Art. 5 Rn. 131f.

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Merkmalen des äußeren Erscheinungsbildes. Zu diesen äußerlichen körperlichen Merkmalen werden insbesondere Hautfarbe, Gesichts- und Augenform oder eine spezifische Haartracht gezählt.53 Ein Teil der gängigen verfassungsrechtlichen Kommentarliteratur belässt es bei diesen knappen definitorischen Ausführungen.54 Dieser Definitionsansatz ist jedoch zu kurz gefasst. So weist die überwiegende Anzahl der Kommentatoren darauf hin, dass es sich bei der Aufnahme des Merkmals der Rasse um eine Reaktion auf das nationalsozialistische Unrecht handelt.55 Das Verbot der Diskriminierung aufgrund der Rasse richtet sich gegen die nationalsozialistische Rassepolitik, die zukünftig verhindert werden soll.56 Der Rassebegriff umfasst neben dem vermeintlich biologisch vererbten äußeren phänotypischen Merkmalen somit stets auch die nach heutiger Auffassung pseudowissenschaftliche und irrationale Verknüpfung dieser phänotypischen Kategorisierungen von Menschen mit bestimmten charakterlichen Eigenschaften, aus denen sich letztlich eine soziale Hierarchisierung der unterschiedlichen Rassen und damit eine spezifische Rassenideologie ergibt. In der Nachkriegsordnung der Bundesrepublik Deutschland soll eine rasseideologische Benachteiligung von Menschen angesichts der rechtlichen Entgleisungen des Nationalsozialismus ausgeschlossen werden. Dies ergibt auch der historische Befund, wenn man die spärlichen Äußerungen im Zusammenhang mit der Entstehung des Grundgesetzes und die politischen Debatten würdigt. Mit der Aufnahme des Rassebegriffs in das Grundgesetz verwendet der Gesetzgeber gerade einen Terminus, den er seinem definitorischen Begriffsinhalt nach ablehnt. Es handelt sich dabei insoweit um Crossing, als im Gesetz ein Begriff verwendet wird, dem ein spezifisches ideologisches Konzept zugrunde liegt, das der Verfassungsgesetzgeber entschieden zurückweist. Vor diesem Hintergrund ist auch erklärlich, warum es Stimmen in der Literatur gibt, die dazu raten, den Rassebegriff aus der Rechtssprache zu verbannen und in Gesetzestexten einen anderen Begriff zu verwenden.57

53 Vgl. LANGENFELD, in: MAUNZ/DÜRIG, GG-Kommentar, Art. 3 Rn. 45. 54 So beispielsweise STARCK, GG-Kommentar, Art 3. Abs. 3 Rn. 387. 55 Vgl. nur RÜFNER, in: KAHL/WALDHOFF/WALTER, Bonner Kommentar, Art. 3, Rn. 830. 56 Vgl. EBD. 57 Vgl. CREMER, 2010, S. 3. Vgl. EBD., S. 7: „Der Gebrauch des Begriffs Rasse im Diskriminierungsverbot des Grundgesetzes kann rassistisches Denken fördern, da er suggeriert, dass es unterschiedliche menschliche Rassen gebe.“

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3.6 Beispiele aus dem kanonischen Recht Zahlreiche Beispiele für sprachliche Kreuzungen finden sich im kanonischen Recht. Unter dem Begriff des kanonischen Rechts ist die Gesamtheit der durch die katholische Kirche kraft ihrer Selbstbestimmung für ihre Angelegenheiten gesetzten Rechtsnormen zu verstehen. Es ist jenes Recht, das die Kirche aufgrund der in Jesus Christus geschehenen Offenbarung als ihre verbindliche Lebensordnung versteht und entsprechend ihrem Glaubens- und Selbstverständnis frei ausgestaltet.58 Zu den Regelungsgegenständen des kirchlichen Rechts gehören unter anderem das Verfassungsrecht der Kirche, die Regelung kirchlicher Amtshandlungen, die Verwaltung des kirchlichen Vermögens, das Sakramentenrecht, insbesondere das kirchliche Eherecht, die kirchliche Gerichtsbarkeit oder das Strafrecht der Kirche.59 Die lateinische Kirche verfügt über ein eigenes kirchliches Gesetzbuch, den Codex Iuris Canonici von 1983 (CIC), der eine Hauptquelle des kirchlichen Rechts darstellt. Beim Kirchenrecht handelt es sich um verbindliches und geltendes Recht. Kirchliches Recht ist seinem Wesen nach jedoch lex imperfecta: Es ist in erster Linie ein gewissensgelenktes Sollensrecht, dessen Verbindlichkeit und Befolgung in weiten Teilen nicht zwanghaft durchgesetzt werden kann. Es ist vielmehr allein vor Gott verbindlich und damit letztlich um des Heils Willen gewissensverpflichtend. Demnach führen allein der Glaube und das Bewusstsein der eigenen Verantwortung vor Gott zu einer sittlichen Verpflichtung, kirchliches Recht zu befolgen. Die fehlenden Zwangselemente zur Rechtsdurchsetzung und der im Gewissen verpflichtende Sollenscharakter ändern jedoch nichts an der Geltung und Verbindlichkeit des kirchlichen Rechts.60 Bei der Auslegung des kirchlichen Gesetzbuches gelten die aus dem staatlichen Rechtsbereich gängigen Auslegungsregeln; die Methode der Gesetzesauslegung ist im kirchlichen Recht nicht beliebig.61 So sind kirchliche Gesetze nach der im Text und Kontext wohl erwogenen eigenen Wortbedeutung zu verstehen. Erst wenn der Wortlaut zweifelhaft bleibt, ist auf Parallelstellen, auf Zweck und Umstände des Gesetzes und die Absicht des Gesetzgebers zurückzugreifen.62

58 Vgl. AYMANS, 2004, Sp. 515. 59 DE WALL/MUCKEL, 2014, S. 4. 60 KLAPPERT, 2014, S. 95f. mit weiteren Nachweisen. 61 Dies ist nicht ganz unumstritten, vgl. EBD., S. 40f. mit weiteren Nachweisen der Gegenauffassung. 62 Vgl. can. 17 CIC.

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Gleichwohl weist das kanonische Recht enge Verbindungen nicht nur zur Rechtswissenschaft, sondern vor allem zur Theologie auf. So wird in der kanonistischen Forschung um die theologische Grundlegung und die spezifische Funktion des Rechts in der Kirche gerungen. Bis heute wird darüber diskutiert, ob es sich bei der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem kanonischen Recht um eine juristische oder eine theologische Disziplin handelt. Die Kanonistik des 19. Jahrhunderts verstand die Kirche als eine dem Staat vergleichbare vollkommene Gesellschaft (sog. Lehre des Ius Publicum Ecclesiasticum von der societas perfecta), deren Recht auf dem sozialphilosophischen Grundsatz „ubi societas, ibi ius“ beruhte und allein damit begründet wurde, dass Jesus Christus die Kirche auch als Rechtsgemeinschaft gewollt habe.63 Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) wurde jedoch für eine spezifisch theologische Begründung des kirchlichen Rechts geworben: Die mit hierarchischen Organen ausgestattete Gesellschaft und der geheimnisvolle Leib Christi, die sichtbare Versammlung und die geistliche Gemeinschaft, die irdische Kirche und die mit himmlischen Gaben beschenkte Kirche sind nicht als zwei verschiedene Größen zu betrachten, sondern bilden eine einzige komplexe Wirklichkeit, die aus menschlichem und göttlichem Element zusammenwächst.64

Das in diesem Sinne verstandene spezifische Wesen der Kirche und ihre transzendentale Zielsetzung erfordern eine am katholischen Glaubensverständnis selbst orientierte Grundlegung des kirchlichen Rechts, die genuin theologisch ist.65 Gleichwohl ist es nach dem Selbstverständnis der korrekten Kanonisten, die sich durch Wissenschaftlichkeit und Bindung an die kirchliche Autorität und die nüchternen Normen des Kirchenrechts auszeichnen, richtig, dass es sich bei der Kanonistik nicht bloß um eine theologische Disziplin mit juristischer Methode, sondern um „echte Rechtswissenschaft“66 handelt. Die Kanonistik betreibt keine Theologie. Sie befasst sich vielmehr mit der Auslegung, der systematischen und begrifflichen Durchdringung dessen, was für die Kirche als sichtbare Gemeinschaft Recht ist. Wenn das Kirchenrecht vielfach als geistliches Recht verstan-

63 Grundlegend zur societas-perfecta-Lehre des 19. Jahrhunderts vgl. LISTL, 1978, S. 134ff. und insbesondere S. 164. 64 Art. 8 Dogmatische Konstitution „Lumen Gentium“. 65 Vgl. DE WALL/MUCKEL, 2014, S. 102. 66 REISINGER, 2012, S. 168.

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den wird, ändert dies aus juristischer Perspektive nichts an seiner Rechtstruktur.67 Dennoch lassen sich zahlreiche Crossing-Phänomene auffinden. Im kanonischen Recht liegen diese darin begründet, dass die normierende und präskriptive Rechtssprache um eine theologische (Bilder-)Sprache ergänzt wird. So findet sich beispielsweise im kirchlichen Verfassungsrecht im Zusammenhang mit der Rechtsstellung des Bischofskollegiums, das die Gesamtheit der Bischöfe mit dem Papst meint, die rechtssprachlich auffallende Vorschrift des can. 330. Darin heißt es: „Wie nach der Weisung des Herrn der heilige Petrus und die übrigen Apostel ein einziges Kollegium bilden, so sind in gleicher Weise der Papst als Nachfolger des Petrus und die Bischöfe als Nachfolger der Apostel untereinander verbunden.“ Nach dieser Norm wird die Verbundenheit zwischen Papst und Bischöfen als der kollegialen Verbindung zwischen Petrus und den übrigen Aposteln entsprechend beschrieben. Es handelt sich bei dieser Formulierung jedoch in erster Linie um eine theologische Aussage, deren kirchenrechtliche Bedeutung sich in der Beschreibung des Verhältnisses von Apostel- und Bischofskollegium als verhältnisgleich erschöpft.68 Auch im Zusammenhang mit der Rechtsstellung des Papstes wird der in der Heiligen Schrift und der Tradition der Kirche zu suchende Ursprung der päpstlichen Vollmacht im Gesetzbuch in der Sprache der Theologie festgehalten, bevor die eigentliche rechtliche Normierung durch eine Umschreibung der päpstlichen Gewalt erfolgt. So heißt es im ersten Halbsatz des can. 331 CIC im Hinblick auf die ekklesiologisch-sakramentale Herkunft des Papstamtes: „Der Bischof der Kirche von Rom, in dem das vom Herrn einzig dem Petrus, dem Ersten der Apostel, übertragene und seinen Nachfolgern zu vermittelnde Amt fortdauert, ist Haupt des Bischofskollegiums, Stellvertreter Christi und Hirte der Gesamtkirche hier auf Erden.“ Sodann schließt sich im zweiten Halbsatz die kirchenrechtlich relevante Formulierung zum Umfang der päpstlichen Gewalt an: „[D]eshalb verfügt er kraft seines Amtes in der Kirche über höchste, volle, unmittelbare und universale ordentliche Gewalt, die er immer frei ausüben kann.“ Sprachliche Kreuzungen im Kirchenrecht, also die Aufnahme theologischer Aussagen in das Rechtsbuch der Kirche und damit die Ergänzung der kirchlichen Rechtssprache um eine theologische (Bilder-)Sprache, haben, wie das vorgenannte Beispiel veranschaulicht, die Aufgabe, aus feststehenden theologischen Grundannahmen kanonistische Folgerungen zu ziehen. Es wird zunächst theolo-

67 KLAPPERT, 2014, S. 17. 68 Vgl. EBD., S. 108ff.

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gisch argumentiert und anschließend rechtlich normiert.69 Gerade für das kirchliche Recht, das als lex imperfecta zwar Verbindlichkeit beansprucht, aber regelmäßig keine zwangsweise Durchsetzung des Rechts gewährleisten kann, kommt den theologischen Aussagen auch die Funktion zu, die rechtliche Normierung zu begründen und bei den rechtsunterworfenen Gläubigen damit um Einsicht und Annahme der rechtlichen Anordnungen zu werben. Deutlich wird dies an der theologischen Aussage zum Sonntagsgebot in can. 1246 § 1 CIC, wonach es eingangs heißt: „Der Sonntag, an dem das österliche Geheimnis gefeiert wird, ist aus apostolischer Tradition in der ganzen Kirche als der gebotene ursprüngliche Feiertag zu halten.“ Erst im Anschluss schreibt can. 1247 CIC vor, dass „die Gläubigen zur Teilnahme an der Messfeier verpflichtet“ sind. Der theologischen Grundlegung des Sonntagsgebotes nachgeordnet erfolgt so die gesetzliche Anordnung für die Gläubigen, womit die Akzeptanz und damit die Rechtsbefolgung erleichtert werden soll.70 Eine weitere theologische Aussage erhält der Einleitungs-Canon zur Missionstätigkeit der Kirche. Dort heißt es: „Die ganze Kirche ist ihrer Natur nach missionarisch, und das Werk der Evangelisierung ist als grundlegende Aufgabe des Volkes Gottes anzusehen.“71 Diese Formulierung lehnt sich stark an Art. 35 des Konzilsdekrets über die Missionstätigkeit der Kirche an. Zentrale Lehraussagen des Zweiten Vatikanischen Konzils, das für das gegenwärtige Selbstverständnis der Kirche besonders prägend ist, finden auf diese Weise Eingang in das Gesetzbuch. Der besondere Charakter des CIC als ein an die theologischen Lehraussagen gebundenes Gesetzbuch erfordert es, dass diese theologischen Vorgaben ausdrücklich genannt werden, „damit die theologische Legitimität der kirchenrechtlichen Regelung ersichtlich wird“.72 Der Codex wird daher nicht ohne Grund vielfach als „das letzte Konzilsdokument“ verstanden.73 Ein bedeutsames Beispiel für sprachliche Kreuzung findet sich im letzten Canon des Gesetzbuches. Während der Vorgängercodex von 1917 mit den Buchstaben A.M.D.G. „ad maiorem Dei gloriam“ schloss und damit die Zielsetzung allen Kirchenrechts zur größeren Ehre Gottes klarlegen wollte, verzichtet der CIC von 1983 auf eine Schlussformel. Allerdings findet sich am Schluss des letzten Canon mit großem theologischem Pathos die Aufforderung zur „Beach-

69 Vgl. MÜLLER, 1986, S. 39. 70 Vgl. EBD. 71 Vgl. can. 781 HS 1 CIC. 72 MÜLLER, 1986, S. 41. 73 Vgl. EBD., S. 35 mit weiteren Nachweisen. Diese These ist inhaltlich jedoch nicht unumstritten, vgl. KLAPPERT, 2014, S. 53ff. und S. 61ff. mit weiteren Nachweisen.

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tung des Heiles der Seelen, das in der Kirche immer das oberste Gesetz sein muss“.74 Inhaltlich eingebettet ist diese Formulierung in die prozessrechtliche Regelung der Versetzung von Pfarrern. Dennoch wird in der Kanonistik der theologische Begriff des Heils der Seelen als „Prüfstein allen kirchlichen Rechts“75 für fundamental erachtet. Er ist über den systematischen Standort der Norm hinaus oberster Rechtsgrundsatz im Kirchenrecht und zeigt, dass dem Recht in der Kirche keine absolute Geltung zukommt.76 Die Kirche existierte zur Heiligung der Menschen als Vorbereitung auf das Reich Gottes. Daher muss sich auch das Kirchenrecht vor dieser Zielsetzung verantworten.77 Mit der Inkorporation eines theologischen Begriffs als obersten Rechtsgrundsatz in das kirchliche Gesetzbuch wird das Besondere des Kirchenrechts als geistliches Recht unterstrichen. Sprachliche Kreuzungen im Sinne einer Übernahme theologischer Sprache in die Rechtssprache des Gesetzes, die auch bei der juristischen Auslegung des Gesetzes zu berücksichtigen sind, haben somit gerade im Kirchenrecht die Funktion, zur theologischen Grundlegung des kirchlichen Rechts beizutragen und einen juridischen Triumphalismus mit dem Hang zur Verrechtlichung, wie es vielfach dem Vorgängercodex von 1917 vorgeworfen wurde, zurückzuweisen.

4. F AZIT Das Phänomen sprachlicher Kreuzungen ist im weltlichen Recht eher selten anzutreffen. Das mag in erster Linie an dem hohen Grad der Professionalisierung, Wissenschaftlichkeit und Verselbständigung des Rechts liegen. Zu den Merkmalen der zu einem System von fachterminologischen Einzelbegriffen verwobenen Rechtssprache gehören gerade ihre Abstraktheit, Genauigkeit und Vollständigkeit. Der Jurist, sei es der an der Schaffung der Gesetze beteiligte Ministerialbeamte, der mit der Gesetzesanwendung betraute Verwaltungsjurist oder der an der Rechtspflege beteiligte Rechts-, Staatsanwalt oder Richter, ist darin geübt und aufgrund seines Standesbewusstseins auch regelmäßig darum bemüht, die regelungsbedürftigen Materien des Alltags in der eigenen juristischen Fachsprache auszudrücken und sich damit gleichsam von der Alltags- und der Fachsprache

74 Vgl. can. 1752 CIC. 75 LÜDICKE, in: Münsterischer Kommentar zum CIC, 17. Erg.-Lfg. April 1992, nach can. 1752. 76 Vgl. DE WALL/MUCKEL, 2014, S. 103 Rn. 17. 77 LÜDICKE, in: Münsterischer Kommentar zum CIC, 17. Erg.-Lfg. April 1992, nach can. 1752.

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anderer Disziplinen abzugrenzen. Demzufolge dominiert im Recht der juristischinstitutionelle Sprachgebrauch. Die aufgeführten Beispiele zeigen jedoch, dass auch im Recht Sprachkreuzungen nicht ganz auszuschließen sind. Crossing hat hier unterschiedliche Funktionen: Am Beispiel der Verwendung des ideologisch besetzten Begriffs der Rasse, der sich einer rein funktionalen, juristisch neutralen Begriffsausfüllung entzieht und dessen implizites ideologisches Konzept der Gesetzgeber entschieden ablehnt, zeigt sich das Bemühen des Gesetzgebers um bewusste Zurückweisung und Distanz. Crossing-Phänomene, die sich durch eine deskriptive statt präskriptive Rechtssprache beschreiben lassen, wie die Feststellung des Verbots der Todesstrafe oder die Feststellung, dass eine Zensur nicht stattfindet, haben in erster Linie eine klarstellende Funktion. Soweit sich das Recht für einen der Rechtssprache fremden narrativen Sprachstil mit zum Teil kulturgeschichtlich interpretationsbedürftigen Termini entscheidet, hat es identitätsstiftenden und integrativen Charakter. Dies gilt insbesondere für den säkular-aufgeklärten Verfassungsmythos, wie er in der Präambel des Grundgesetzes und der Erklärung von der Unantastbarkeit der Menschenwürde zum Ausdruck kommt. Identitätsbildend sind auch die zahlreichen Beispiele der sprachlichen Kreuzungen aus dem kanonischen Recht, soweit theologische Aussagen in das kirchliche Gesetzbuch aufgenommen werden. Dies gilt namentlich für die Zurückweisung einer Verabsolutierung des Rechts durch die Bindung allen kanonischen Rechts an das Heil der Seelen. Hier dienen die sprachlichen Kreuzungen aus der theologischen Bildersprache dazu, das Wesen und den Geltungsgrund des kirchlichen Rechts, das ein auf das transzendentale Ziel hin ausgerichtetes „geistliches Recht“ ist, zu bekräftigen. Abgrenzung, Klarstellung oder Identitätsstiftung sind somit die Funktionen, die bei einer ersten Spurensuche dem Crossing-Phänomen im Recht zugrunde liegen.

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Autorinnen und Autoren

ANNEMARIE AMBÜHL ist Privatdozentin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Arbeitsbereich Klassische Philologie des Instituts für Altertumswissenschaften an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Ihre Forschungsinteressen richten sich auf die hellenistische und die römische Dichtung und deren interkulturelle Beziehungen sowie auf die Rezeption der antiken Literatur und Kultur bis in die Gegenwart; einer der thematischen Schwerpunkte sind literarische Kriegsdarstellungen. Kontakt: [email protected] FILIPPO CARLA-UHINK ist Lecturer für Alte Geschichte an der University of Exeter (Großbritannien). Seine Forschungsschwerpunkte sind die Sozial-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte des antiken Roms sowie die Antikenrezeption in der modernen Populärkultur und im modernen politischen Diskurs. Kontakt: [email protected] ANTJE DRESEN ist Juniorprofessorin für Sportsoziologie am Institut für Sportwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und Sprecherin der Arbeitsgruppe „Diskurs – Macht – Wissen. Konstruktionen von Ungleichheit“ am dortigen universitären Forschungszentrum SoCuM. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Kinder- und Jugendsoziologie (insbesondere Sport, Körper und Bewegung), Doping und Substanzkonsum in Sport und Gesellschaft sowie Gesundheitsförderung und Prävention. Kontakt: [email protected] FLORIAN FREITAG ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsbereich Amerikanistik am Fachbereich Translations-, Sprach- und Kulturwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Seine Forschungsinteressen liegen im Bereich der amerikanischen Populärkultur des 19. und 20. Jahrhunderts. Derzeit be-

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fasst er sich vor allem mit Zeitschriften aus dem 19. Jahrhundert und mit Themenparks. Kontakt: [email protected] MARION GINDHART vertritt als Juniorprofessorin (Latinistik) den Arbeitsbereich „Paradigma Alte Welt“ am Institut für Altertumswissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und gehört dem Trägerkreis des DFGGraduiertenkollegs „Frühe Konzepte von Mensch und Natur“ an. Zu ihren Forschungsgebieten zählen die Wissensliteratur der Antike und der Frühen Neuzeit, Naturphänomene in ihren diskursiven Formungen, frühneuzeitliche Disputationsgeschichte und Antikenübersetzungen sowie historische Narratologie. Ab 2017 ist sie im DFG-Projekt „Opera Camerarii“ an der Julius-MaximiliansUniversität Würzburg tätig. Kontakt: [email protected] SONJA HIGUERA DEL MORAL ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Romanistik der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und promoviert bei Frau Prof. Dr. Silke Jansen mit einer Arbeit über mehrsprachige Praktiken hispanophoner Migranten und Migrantinnen in Nürnberg. Ihre Forschungsinteressen liegen in den Bereichen Varietätenlinguistik, Sprachkontakt und Mehrsprachigkeit sowie Syntax und Pragmatik. Kontakt: [email protected] THORSTEN HINDRICHS ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Musikwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Seit 2012 ist er dort für das Forschungsprojekt „Musik und Jugendkulturen“ verantwortlich. Darüber hinaus arbeitet er als freier Autor und Fachreferent für Musik und Jugendkulturen, insbesondere mit Blick auf Musik der rechtsradikalen Szene(n). Kontakt: [email protected] SILKE JANSEN ist Professorin für Romanistik (spanische und französische Sprachwissenschaft) an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Ihre Forschungsinteressen liegen im Bereich der Sozio- und Kontaktlinguistik, mit besonderem Fokus auf dem karibischen Raum. Kontakt: [email protected]

A UTORINNEN UND A UTOREN

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SEBASTIAN KLAPPERT ist Referent im Bundesministerium des Innern und Lehrbeauftragter für Kirchenrecht und kirchliche Rechtsgeschichte an der Universität Köln. Seine Forschungsschwerpunkte sind das staatliche und kirchliche Verfassungsrecht sowie die Grundlegung und Geschichte des katholischen Kirchenrechts. Kontakt: [email protected] ANNIKA ROSBACH ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Arbeitsbereich Amerikanistik am Fachbereich Translations-, Sprach- und Kulturwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und arbeitet zudem als freiberufliche Übersetzerin. Ihre Forschungsinteressen liegen im Bereich (afro)amerikanischer Literatur und ihrer Übersetzung ins Deutsche. Kontakt: [email protected]

Abbildungsverzeichnis

„S HICE AUF H IPHOP “. R ECHTS R AP ALS C ROSSING ? (T HORSTEN H INDRICHS ) Abbildung 1: thiazi-Umfrage zu RechtsRap, März 2012. Screenshot: T. Hindrichs. Abbildung 2: Werbeplakat Sommerfest NPD-Naheland, 22.06.2011. NPD.

B EWEGTES C ROSSING . Ü BER

INSZENIERTE

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(A NTJE D RESEN ) Abbildung 1: Ein gläubiger Fußballfan. Pressemeldung von MDR Figaro zur Sendung „Fußball und Religion“ am 10.08.2013. Abbildung 2: Die inszenierten „Helden des Heiligen Rasens“. Offizielles Plakat im Hamburger Abendblatt vom 31.08.2009.

Edition Kulturwissenschaft Stefan Krebs, Gabriele Schabacher, Heike Weber (Hg.) Kulturen des Reparierens Dinge – Wissen – Praktiken September 2017, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3860-8

Birgit Rommelspacher Wie christlich ist unsere Gesellschaft? Das Christentum im Zeitalter von Säkularität und Multireligiosität März 2017, ca. 400 Seiten, Hardcover, ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3496-9

Nikola Langreiter, Klara Löffler (Hg.) Selber machen Diskurse und Praktiken des »Do it yourself« Februar 2017, ca. 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3350-4

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Ursula Gross-Dinter, Florian Feuser, Carmen Ramos Méndez-Sahlender (Hg.) Zum Umgang mit Migration Zwischen Empörungsmodus und Lösungsorientierung Juni 2017, ca. 250 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-3736-6

Burcu Dogramaci, Katja Schneider (Hg.) »Clear the Air« – Künstlermanifeste seit den 1960er Jahren Interdisziplinäre Positionen Mai 2017, ca. 360 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3640-6

Michael Gamper, Ruth Mayer (Hg.) Kurz & Knapp Zur Mediengeschichte kleiner Formen vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart April 2017, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3556-0

Felix Hüttemann, Kevin Liggieri (Hg.) Die Grenze »Mensch« Diskurse des Transhumanismus März 2017, ca. 230 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3193-7

Gabriele Brandstetter, Maren Butte, Kirsten Maar (Hg.) Topographien des Flüchtigen: Choreographie als Verfahren März 2017, ca. 340 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2943-9

Solvejg Nitzke Die Produktion der Katastrophe Das Tunguska-Ereignis und die Programme der Moderne

Markus Ender, Ingrid Fürhapter, Iris Kathan, Ulrich Leitner, Barbara Siller (Hg.) Landschaftslektüren Lesarten des Raums von Tirol bis in die Po-Ebene

Mai 2017, ca. 384 Seiten, kart., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3657-4

Februar 2017, ca. 480 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3553-9

Marcus Maeder (Hg.) Kunst, Wissenschaft, Natur Zur Ästhetik und Epistemologie der künstlerisch-wissenschaftlichen Naturbeobachtung

Sebastian Schinkel, Ina Herrmann (Hg.) Ästhetiken in Kindheit und Jugend Sozialisation im Spannungsfeld von Kreativität, Konsum und Distinktion

Mai 2017, ca. 250 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3692-5

Januar 2017, 340 Seiten, kart., zahlr. z.T. farbige Abb., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-3483-9

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