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German Pages [224] Year 2010
Kréol Blouz
MUSIK – KULTUR – GENDER Herausgegeben von Annette Kreutziger-Herr, Dorle Dracklé, Dagmar von Hoff und Susanne Rode-Breymann
Band 7
Kultur ist Kommunikation: Wörter, die gelesen werden, ein literarisches oder filmisches Werk, das interpretiert wird, hörbare und unhörbare Musik, sichtbare oder unsichtbare Bilder, Zeichensysteme, die man deuten kann. Die Reihe Musik – Kultur – Gender ist ein Forum für interdisziplinäre, kritische Wortmeldungen zu Themen aus den Kulturwissen schaften, wobei ein besonderes Augenmerk auf Musik, Literatur und Medien im kultu rellen Kontext liegt. In jedem Band ist der Blick auf die kulturelle Konstruktion von Geschlecht eine Selbstverständlichkeit.
Kréol Blouz Musikalische Inszenierungen von Identität und Kultur
von Carsten Wergin
2010 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Mariann Steegmann Foundation.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Réunionesischer Musiker auf einem Roulèr. Foto: Carsten Wergin im Dezember 2003. Umschlaggestaltung unter Verwendung eines Entwurfs von Thomas Jung © 2010 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Druck und Bindung: Beltz Druckpartner, Hemsbach Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier. Printed in Germany ISBN 978-3-412-20442-6
Inhalt Vorbemerkungen......................................................................................... VII
0
Einleitung: Über kreolische Musikkultur
0.1 0.2
Kréol Blouz ..........................................................................................1 Aufbau des Buches: Von der Institution zur Artikulation ....................6
1
Kultur, Identität, Musik: La Réunion lé la?
1.1 1.2 1.2.1 1.2.2 1.3 1.3.1 1.3.2 1.4 1.5
Eingrenzen der Fragestellung: Gibt es eine Einheit musikkultureller Vielheit? ...............................................................................................8 Der Forschungs(gegen)stand kreolische Musikkultur ........................ 11 Kreolische Kultur ............................................................................... 11 Kreolische Musik................................................................................ 14 „Krike! Krake!“: Der Ethnologe als Geschichtensammler ................. 17 Methoden- und Forschungsentwicklung im Feld ............................... 19 20 Désamn à La Réunion: „A Day in the Life“ eines Feldforschers .. 27 Zusammenführung und Überleitung................................................... 32 Hinweise zu Material und Interviews ................................................. 33
2
Maloya
2.1 2.2 2.2.1 2.2.2 2.3 2.4
Die Institutionalisierung kreol-réunionesischer Musikkultur ............. 34 Momente des Umbruchs..................................................................... 35 1960–80, Viry und Waro: Musik, Politik ........................................... 38 1980–…, Château Morange und PRMA: Musik, Professionalität...... 44 Zwischen Vermarktung, Verpflichtung und Vorlieben ...................... 52 Überleitung: La Réunion und die Harfe ............................................. 64
3
Séga
3.1 3.2 3.3
Identitätskonstruktionen mit Musik.................................................... 70 Séga vs. Maloya: Exotik vs. Bataille Coq? ........................................ 72 Séga vs. Séga: Legras vs. Guimbert?.................................................. 76
VI
Inhalt
3.4 3.5
Authentischer Séga und authentische Ségatiés................................... 81 Die Konstruktion musikkultureller Authentizität ............................... 89
4
Musik im Verhältnis zur lokalen Sprache
4.1 4.2 4.3 4.4
Zwei Labels im Vergleich .................................................................. 99 Kréol-Réunionnais und Musik als „Poetik der Vielheit“.................. 109 Der musikalische Autre Regard........................................................ 116 Kreolisierung als Basis von Musik und Sprache .............................. 120
5
Musik im Zwischen
5.1 5.2 5.3
Zwischen globaler Kulturproduktion und lokaler Verortung ........... 123 Die Konstruktion von Identität im Zwischen ................................... 136 Das Erhalten réunionesischer Tradition im Zwischen ...................... 143
6
Theoriegenerierung
6.1 6.2 6.3 6.4
Musikkultur jenseits der Postkolonie................................................ 152 Von der Kulturkritik zur Intersektionalität ....................................... 154 Neue Erfahrungen, neues Capital Culturel ....................................... 162 Ursprünge und Widersprüche live .................................................... 172
7
Ausblick
7.1 7.2
Die Zukunft kreol-réunionesischer Musikkultur .............................. 181 Der Anderen World Music ............................................................... 188
Literaturverzeichnis .................................................................................... 192 Glossar ........................................................................................................ 201 Personen...................................................................................................... 210 Abbildungen / CD Kréol Blouz .................................................................. 212
Vorbemerkungen Von der Insel La Réunion hörte ich erstmals während meiner Studienzeit in London. Eine Freundin hatte sich dort in einen Réunionesen verliebt, der mir hin und wieder Musik aus seiner Heimat vorspielte. Außerdem besuchte ich Seminare bei Françoise Vergès, die auf La Réunion aufgewachsen ist. Bald war mir klar, dass Geschichte und Musik La Réunions sich nicht auf einen Ort beschränken, sondern sich mit den Menschen über viele Orte verteilen. Deren Besonderheiten wollte ich in einer ethnografischen Forschung auf den Grund gehen. Zurück in Deutschland fand ich hierfür eine Betreuerin in Professorin Dr. Dorle Dracklé. Ohne ihre Unterstützung hätte ich im Januar 2003 nicht in den Flieger auf die Insel steigen können. Über viel kaltes Wasser nach La Réunion hineingesprungen, empfang mich ein scheinbar unüberschaubares Wirrwarr an Geschichten, Menschen und Sounds. Das vorliegende Buch ist so angelegt, nachvollziehbar zu machen, wie ich mir mittels empirischer Methoden dieses Wirrwarr erschloss, als etwas, das, obwohl es weit entfernt im Indischen Ozean passiert, sich irgendwann ganz nah anhört. Ich möchte an dieser Stelle allen danken, die mich während meiner Forschung und dem Schreiben dieses Buches unterstützt haben. Für die finanzielle Unterstützung bedanke ich mich beim Evangelischen Studienwerk Villigst e.V. und der Universität Bremen sowie bei der Mariann Steegmann Foundation für die finanzielle Hilfe zur Veröffentlichung dieses Buches. Mein besonderer Dank gilt meiner Betreuerin Dorle Dracklé für ihr Interesse, ihre aktive Unterstützung und stete Ermunterung. Ich danke weiterhin den Teilnehmenden des Doktorandenkollegs Prozessualität in Transkulturellen Kontexten: Dynamik und Resistenz an der Universität Bremen für praktische Hilfe, Kritik und Anregungen. Mein besonderer Dank gilt hier Andrea Lilge und Jochen Bonz sowie den UniversitätsprofessorInnen Gisela Febel, Maya Nadig und Christoph Auffarth. Weiterhin erwähnen möchte ich Claire Fayon, die mir aufopferungsvoll bei den Interviewtranskriptionen geholfen hat. Auf La Réunion danke ich zunächst Françoise Vergès, Axel Gauvin und Alain Courbis sowie den übrigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Pôle Régional des Musiques Actuelles. Besondere Unterstützung erfuhr ich durch Serge Hoareau, der mich so herzlich in seine Assoziation Jazzami aufnahm. Weiterhin danke ich den Mitgliedern der Band Jazz à Six Pôtes, den zwei Brunos, Dave, Nono und Pascal, stellvertretend für alle Musikerinnen, Musiker und anderen Kulturschaffenden der Insel, auf deren Arbeit dieses Buch beruht. Mein abschließender Dank gilt Uli Beisel, die mir auf dieser langen Reise immer eine gute Freundin geblieben ist. Dieses Buch ist meinen Eltern gewidmet, Ilse und Klaus Wergin.
0 Einleitung: Über kreolische Musikkultur “Music’s deep connection to social identities has been distinctively intensified by globalization. […] Our era is increasingly dominated by fantasies and realizations of sonic virtuality.” (Steven Feld 2000: 145)
0.1
Kréol Blouz
Der Titel dieses Buches, Kréol Blouz, benennt zwei Faktoren, die für die Entwicklungsgeschichte der Musikkultur La Réunions von besonderer Bedeutung sind. Erstens ist sie in einem kreolischen Kontext entstanden. Die Ursprünge der Musik liegen in der Vermischung unterschiedlicher Einflüsse, über deren Wurzeln lebhaft spekuliert wird, die jedoch unwiederbringlich verloren sind. Zweitens ist die Entstehungsgeschichte réunionesischer Musik wie der Blues mit Sklaverei und Unterdrückung verknüpft: mit der Vorstellung von Menschen, die bei schwerer, körperlicher Arbeit, unter unmenschlichen Bedingungen singen. Weil diese Menschen nicht alle die gleiche Sprache sprechen, wird Musik zu ihrem Bindeglied. Aus ihr wächst ein Gemeinschaftsgefühl. In bestimmten Regionen, so auch der Insel Réunion, setzen sich diese Vermischungsprozesse fort. In diesem Buch beschreibe ich somit, wie sich mittels Musik die Wahrnehmungen réunionesischer Identität und Kultur entwickelt haben. Ich gebe diesem musikkulturellen Prozess deshalb einen kreol-réunionesischen Namen: Kréol Blouz. Spielort des Kréol Blouz ist eine kleine Insel im Indischen Ozean mit hohen Bergen im Innern, die täglich auf mehrspurigen Straßen von unzähligen Autos umkreist werden. La Réunion ist eine Vulkaninsel und ein ehemaliger Zufluchtsort von Piraten mit Lagunen und Stränden von weißem und schwarzem Sand. Menschen auf La Réunion benutzen ihre Musik, um auf sich und ihre Heimat aufmerksam zu machen. Sie finden dafür Wege ihre Sounds jenseits der Strände ihrer Insel zu verbreiten. Damit machen sie den Kréol Blouz zu einem Bestandteil vieldiskutierter kulturpolitischer Bewegungen, in denen versucht wird, nationale, ethnische und kulturelle Grenzen aufzulösen oder auch neu zu formieren. Dafür auf Musik als Verbindungsstück und Medium dieser Bewegungen zurückzugreifen, ist kein neues Phänomen, sondern in vielen Kontexten wiederzuerleben, in der Klassik und im Jazz ebenso wie auf großen Festivals, sei es die Erin-
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Einleitung
nerung an Woodstock oder das gemeinsame Singen in der Kirche am Heiligen Abend.1 Solche musikalischen Inszenierungen bleiben Momentaufnahmen. Sie sind sonic virtualities, um den im Eingangszitat gebrauchten Begriff Steven Felds aufzugreifen. Sie sind die Grundlage für das Gefühl von Gemeinschaft, das diesen Inszenierungen Bedeutung gibt. Im Moment ihres Entstehens ist der Klang der Musik allerdings schon wieder verloren. Er muss wiederholt werden, aber dies kann niemals erneut auf die gleiche Art passieren. Dieser Aspekt des Musikmachens ist grundlegend für ein Verständnis kreol-réunionesischer Kultur, denn Musiker La Réunions haben ihr Medium genau aus diesem Grund gewählt. Es gibt ihnen die Möglichkeit, ihre lokale Gemeinschaft als ein sich ständig veränderndes Netz kultureller Besonderheiten zu beschreiben. Im Kréol Blouz erschaffen Musiker eine sonic virtuality réunionesischer Kultur und Identität. Die unterschiedlichen Entstehungsgeschichten einiger dieser Klangwelten werde ich auf den folgenden Seiten nachzeichnen. Mein Ansatzpunkt hierfür ist nicht, komplexe musikwissenschaftliche Analysen einzelner Songs, ihrer Strukturen, Harmonien oder Instrumentierungen zu liefern. Die vorliegende Ethnografie beruht vielmehr auf den Geschichten, die mir Musiker über sich und ihre Kultur erzählt haben, und auf einigen persönlichen Erlebnissen bei Konzerten und als Musiker in réunionesischen Bands. Meine Hoffnung ist, dass sich beim Lesen der Geschichten über Musiker und ihre Musik das Bedürfnis einstellt, die Musik nicht erklärt zu bekommen, sie aber hören zu wollen, um sich selbst ein Klangbild davon zu machen, wie die Musiker ihre Geschichten vertont haben. Dafür dient die beigefügte CD. Musiker auf La Réunion erzählten mir von sich, ihrer Insel und ihrer Musik. Im Kréol Blouz machen sie diese Geschichten hörbar. Sie beziehen sich darin auf ihre Heimat La Réunion, die mit ihrer gewaltvollen Vergangenheit kein Ort ist, mit dem seine Bewohner sich problemlos verwurzelt fühlen. In der gegenwärtigen kulturpolitischen Situation als französisches Département Outre-Mer (DOM) bleibt hierfür die koloniale Vergangenheit zu präsent. Mit dem Status als DOM hat sich die politische und wirtschaftliche Situation der Bevölkerung La Réunions zwar geändert, ihre politische und wirtschaftliche Abhängigkeit von KontinentalFrankreich ist jedoch geblieben.2 Das zumindest belegen regelmäßig erhobene 1
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In diesem Zusammenhang gibt es zahlreiche Veröffentlichungen, die Verwendungen von Musik als kulturpolitisches Medium diskutieren (vgl. u. a. Eyerman und Jameson 1998, Feld und Keil 2005, Frith 1989, Frith und Goodwin 1990, Hebdige 1987). Das französische Territorium auf dem europäischen Kontinent nenne ich im Folgenden Kontinental-Frankreich, da die Bezeichnung La Métropole, wie sie im Französischen sowohl umgangssprachlich als auch offiziell verwendet wird, für die Argumentation ähnlich irreführend wäre, wie der Gebrauch des Äquivalents La Périphérie als Bezeichnung für La Réunion. Diese abstrakten Begriffe konstruieren eine auf Europa als Zentrum ausgerichtete Perspektive (vgl. Ang 1998: 93), doch das Zentrum des musikalischen Netzwerks, das ich darstelle, ist La Réunion.
Einleitung
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Statistiken der französischen Regierung (vgl. INSEE 2003). Frankreich ist die Grande Nation und La Réunion ein Teil von ihr. Doch La Réunion ist auch anders. Die Insel war vor ihrer Entdeckung und späteren Kolonialisierung durch die Franzosen menschenleer. Sie ist Heimat einer besonderen Kultur, einer kreolischen, die aus einer Vielheit kultureller Einflüsse entstanden ist. Das versuchen Musiker hörbar zu machen. Im Kréol Blouz beschreiben sie keine nationale Identität, sondern inszenieren spezifische Bilder musikkultureller Eigenständigkeit. Als Konsequenz der voranstehenden Ausführungen ist das „going native“ für den Ethnologen unmöglich, denn es gibt keine „native population“. Bedeutend schwieriger ist es allerdings für die lokale Bevölkerung sich heimisch zu fühlen. Von politischer Seite werden ihr keine Hilfsmittel angeboten, sich mit La Réunion zu identifizieren, denn in ihren Pässen steht „La France“ als Herkunftsort und nicht „La Réunion“. Mittels der Musik machen Menschen allerdings deutlich, dass La Réunion zwar kein Ursprung, aber ein starker Referenzrahmen und eine Heimat für sie sein kann. Musikerinnen und Musiker nutzen die Vielheit kreolréunionesischer Kultur auf kreative Weise, um ihre individuelle Verbundenheit mit ihrer Heimat zu inszenieren. Musik ist zwar nicht das einzige Medium, mit dem sie diesem Gefühl der Verbundenheit Ausdruck verleihen. Doch lässt sich La Réunion darin als jenen Ort erschaffen, an dem Musikerinnen und Musiker sich heimisch fühlen können. Um Homi K. Bhabhas berühmtes Buch zu paraphrasieren, sind ihre sonic virtualities ihre musikalische Art „Verortung der Kultur“ (Bhabha 2000). Der Kréol Blouz ist eine Musik, die réunionesische Wege der kulturellen Verortung hörbar macht. Wie dies geschieht und welche Wahrnehmungen kreolischer Identität und Kultur in diesen musikalischen Inszenierungen hörbar werden, ist Thema dieses Buches. Die Île de La Réunion liegt auf der Höhe des 21. Grades südlicher Breite, etwa eine halbe Flugstunde westlich von Mauritius, dem von Traumschiffreisen und Schaufensterdekorationen bekannteren Nachbarland. La Réunion ist ein Département Frankreichs inmitten des Indischen Ozeans (Abbildung 1). Die Insel ist zudem Teil der so genannten Europäischen Ultraperipherie, wie die Regionen entsprechender Entfernung in offizieller EU-Terminologie bezeichnet werden.3 Dank ihres vulkanischen Ursprungs hat sich La Réunion nach dem Aus3
Der Status La Réunions als Région Ultrapériphériques Européen (RUP) beruft sich auf den Artikel 299.2 des Amsterdamer Vertrags. Genauere Informationen sind zugänglich unter der URL: http://www.regionreunion.com/fr/spip/modelerup.php3?id_article=942 (Datum des letzten Besuchs: 25.04.2009). Eine Kritik am ökonomischen Abhängigkeitsverhältnis zwischen Kontinental-Frankreich als Zentrum und den Ultraperipherien La Réunion, Guadeloupe, Martinique und Französisch Guayana findet sich im Artikel „La décolonisation de l’Outre-Mer n’a pas eu lieu ...“, erschienen in der réunionesischen Tageszeitung Le Témoignages (14.10.2004), zugänglich unter der URL: http://www.temoignages.re/article.php3?id_article=5859 (Datum des letzten Besuchs: 25.04.2009).
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Einleitung
bruch des Piton de la Fournaise im August 2004 erneut um die Fläche von etwa sechs Fußballfeldern vergrößert. La Réunion verschiebt und verändert sich somit stetig von innen heraus und in unkontrollierbarem Maße. Mit diesem Bild des Vulkans, der immer wieder ausbricht und die Energie einer in sich brodelnden Gemeinschaft ausspuckt, beschrieb mir auch ein Interviewpartner die Bevölkerung La Réunions. Sie sei aus sich heraus wachsend, voller Energie und in stetigem Wandel begriffen (Mazaka 30.04.03: 53). So gesehen ist die réunionesische Gemeinschaft nicht auf ein Außen angewiesen, um sich weiterzuentwickeln. Sie trägt ihr Potenzial in sich, es muss nur ans Licht gebracht werden. Doch diese Auffassung widerspricht der réunionesischen Historizität. Erst um 1507 durch portugiesische Seefahrer entdeckt, wurde La Réunion 1649 vom französischen König unter dem Namen „Île Bourbon“ annektiert und erst dann kolonialisiert (vgl. Chane-Kune 1993). Vorher war La Réunion, wie bereits erwähnt, im wahrsten Sinne des Wortes menschenleer. Die Landwirtschaft der Insel diente bis zur Abschaffung der Sklaverei 1848 vornehmlich dem Kaffeeanbau, der in einem fließenden Übergang vom Zuckerrohr abgelöst wurde, gefördert durch die etwa 15 Jahre zuvor einsetzende Phase des engagisme. Spezialisierte Kontraktarbeiter aus dem Süden Indiens, vornehmlich der Region Tamil Nadu, wurden hierfür „engagiert“. Die französische Regierung lockte sie mit Wohlstandsversprechen auf die Insel. Später wurden sie mit unterschiedlichen Begründungen daran gehindert, wieder in ihre Heimat zurückzukehren. Die Bevölkerung La Réunions war zu dieser Zeit auf ca. 100.000 Menschen angewachsen. 1946 erklärte Charles De Gaulle La Réunion zum DOM (Maestri 1999, 2001). Damals waren es bereits 240.000 Einwohner. Auf einer Fläche von 2510 Quadratkilometern lebten im Jahr 2003 mittlerweile etwa 800.000 Menschen, von denen 39% unter 20 Jahre alt und 33% arbeitslos waren (vgl. INSEE 2003). Zuckerrohr bleibt die größte Einnahmequelle der Insel, wird jedoch in absehbarer Zukunft von Tourismus, Fischfang und den Subventionen aus KontinentalFrankreich überholt werden. La Réunion ist seit ihrer Annektierung durch den französischen König Teil Kontinental-Frankreichs. Dies umfasst einen Zeitraum von mittlerweile mehr als 350 Jahren, der lediglich zur Zeit der Napoleonischen Kriege von einer vierjährigen Herrschaft der Briten unterbrochen wurde. Politisch gab es demnach niemals eine eigenständige Culture Réunionnaise. Aber die Musiker La Réunions erzählen eine andere Geschichte. Sie diskutieren unterschiedliche Versionen des kulturpolitischen Stellenwerts der Insel für sich und ihre Bevölkerung. La Réunion erklären sie darin zu ihrer Heimat und zum Ursprung der von ihnen weitergeführten Musiktraditionen. Aus ihren musikalischen Inszenierungen lässt sich jedoch weder ein Gesamtbild erschaffen, noch ein „Patchwork von Identitäten“ zusammensetzen (Keupp et al. 1999: 7ff.). Ihre kreolische Kultur bietet kein geeignetes Fundament, auf dem sich die einzelnen „Identitätsflicken“ zusammenfügen ließen. Auch das Bild einer „Regenbogennation“, wie es die Nachbarinsel
Einleitung
5
Mauritius für sich beansprucht, ist auf La Réunion nicht anwendbar, weil La Réunion keine eigenständige Nation ist.4 Trotzdem ist La Réunion als Ort einer kreolischen Kultur real, die sich mittels unterschiedlicher theoretischer Konzepte beschreiben lässt. Was ist kreolréunionesische Kultur: Heterogenität, Métissage, Mélange oder gesellschaftspolitisches Konstrukt in steter Bewegung aus flux and flow?5 Helfen diese vieldiskutierten Theoriekonstruktionen dabei, diese Frage zu beantworten? Sicherlich geben sie wichtige Anhaltspunkte, nicht zuletzt, weil meine Interviewpartner in Gesprächen immer wieder mit diesen und ähnlichen Begriffen gearbeitet haben. Doch ein Réunionese, der sich als Métis bezeichnet, beschreibt nicht das Gleiche, wie eine französische Sprachwissenschaftlerin in einem interdisziplinären Kolleg. Mein methodischer Ansatz war deshalb darauf ausgerichtet, aus dem Inselkontext heraus Begriffe zu generieren, mit denen sich beantworten lässt, was die musikkulturelle Gemeinschaft La Réunions auszeichnet. Mit Blick auf kulturelle Veränderungen, deren Bedeutung weit über die geografischen Grenzen La Réunions hinausreicht, liefert dieser Weg zahlreiche Anknüpfungspunkte. So lässt sich im Bezug auf die Definition einer Europäischen Gemeinschaft vieles von der „Réunionesischen Gemeinschaft“ lernen. La Réunion als Teil Europas inmitten des Indischen Ozeans hat unter besonderen Bedingungen eine Musikkultur hervorgebracht, die einzigartig ist und trotzdem offen für kulturelle Einflüsse bleibt. Dies beschreibt einen réunionesischen Weg, das Motto der Europäischen Union zu verwirklichen, in varietate concordia. Auf den folgenden Seiten werde ich aufzeigen, inwiefern die Menschen auf La Réunion tatsächlich „in Vielfalt geeint“ sind.6 Diese ersten Überlegungen bilden die Grundlage meiner empirischen Arbeit über die musikalischen Inszenierungen von Identität und Kultur réunionesischer Musiker. Ich habe hierfür einen Forschungsgegenstand gewählt, der ebenso 4
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Das Bild eines friedvollen Nebeneinanders gleichberechtigter Unterschiede, das die Farben des Regenbogens auf der mauritischen Nationalflagge symbolisieren, wird auf internationaler Ebene immer wieder positiv hervorgehoben. So heißt es in einem offiziellen Statement des United Nations High Commissioner for the Human Rights: “Mauritius has aptly been called a ‘cultural laboratory’ and a ‘rainbow nation’, in which a variety of religious and cultural groups and communities live together peacefully in a spirit of mutual respect and tolerance.” Zugänglich unter der URL: http://www.unhchr.ch/tbs/doc.nsf/0/b865704a7a53f070c12563e90031984f?Opendocument (Datum des letzten Besuchs: 25.04.2009). Aus der Verbindung von postkolonialer Forschung und Poststrukturalismustheorie entstanden eine Vielzahl von Arbeiten, die sich mit Möglichkeiten der Überwindung dualistischer Konzeptionen von Wirklichkeit beschäftigen (vgl. u. a. Bhabha 1990, 2000, Deleuze und Guattari 1988, Derrida 1976, 1978a, 1978b, 1982, Hannerz 1992, Latour 1991, Law 1994, 1999, 2004). Darauf beruht auch der theoretische und methodische Rahmen dieses Buches. Diese deutsche Übersetzung und weitere Informationen zum Motto der Europäischen Union „United in Diversity“ finden sich unter der URL: http://europa.eu/abc/symbols/motto/index_de.htm (Datum des letzten Besuchs: 22.10.08).
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Einleitung
Vielheit und Einheit ist und ohne komplexe Ausdrücke auskommt, um erkennbar und um hörbar zu sein: Musik. Wie die deutsche Band Kante es in einem Lied beschreibt, ist sie „in bestimmten Momenten, für eine Weile, mehr als die Summe der einzelnen Teile“.7 Mein Ziel ist es, diese musikalische Polyphonie auf La Réunion zu beschreiben: den Kréol Blouz.
0.2
Aufbau des Buches: Von der Institution zur Artikulation
Der erste Teil dieses Buches beginnt mit der Vorstellung von Fragestellung, theoretischem Rahmen und Stand der Forschung. Daran schließt ein Abschnitt über den Prozess meiner empirischen Datenerhebung an, in dem ich meine Forschungsmethoden und deren Umsetzung im Feld beschreibe. Die darauf folgende Materialauswertung gliedert sich in fünf Themenbereiche: (1) Musik innerhalb kulturpolitischer und wirtschaftlicher Institutionen. (2) Musik zur persönlichen Identitätskonstruktion. (3) Musik im Verhältnis zur lokalen Sprache. (4) Musik zur kulturellen Verortung im Zwischen. (5) Theoriegenerierung und Ausblick auf eine andere World Music. Der zweite Teil meiner Arbeit beginnt demnach mit einer Beschreibung musikkultureller Institutionen und deren Weiterentwicklung auf La Réunion seit der Departmentalisation 1946. Zentrale Fragen sind, wie mit Musik auf institutioneller Ebene umgegangen wird, welche Musik besonders gefördert wird und welche Bilder La Réunions darin konstruiert werden. Ein Schwerpunkt liegt auf der Diskussion überregionaler Kriterien, die von Musikern in der Darstellung ihrer lokalen Kultur charakteristische Zeichen von Exotik, Besonderheit und „otherworldliness“ einfordern (Haynes 2005: 372). In den daran anschließenden Kapiteln thematisiere ich, was Musik für réunionesische Akteure zu einer besonderen Möglichkeit der persönlichen Identitätskonstruktion macht. Ich werde zeigen, dass die Verwendung unterschiedlicher Musikstile in direkter Beziehung zur Familiengeschichte der Kulturschaffenden steht. Im Zuge ihrer Professionalisierung entstehen dabei Konflikte zwischen der Herstellung eines marktwirksamen, kulturpolitischen Images und der Bedeutung, die Musik für sie während ihres Heranwachsens und innerhalb ihrer Familien einnimmt. Musik hat weiterhin eine besondere, mediale Funktion, die ich im darauf folgenden Kapitel durch einen Vergleich mit der lokalen Sprache, dem Kréol-Réunionnais, deutlich machen werde. Inwieweit halten Kulturschaffende Musique Traditionnelle für besonders geeignet, ein authentisches Bild réunione7
Aus dem Song „Die Summe der einzelnen Teile“, erschienen auf Kante (2001) Zweilicht. Berlin: Goebel-Müller-Thiessen-Vogel-GbR.
Einleitung
7
sischer Kultur wiederzugeben? Welchen Beitrag leisten solch affirmative Inszenierungen des „typisch Réunionesischen“ zur Anerkennung des KréolRéunionnais als eigenständige Sprache, als Langue Régionale? Im fünften Teil dieses Buches bringe ich zunächst die bis dahin aufgeführten Schwerpunkte (Institutionen, Identitätskonstruktionen und Musik als Medium) unter dem Gesichtspunkt der Erfindung von Traditionen zusammen (vgl. Hobsbawm und Ranger 1983). Zentrale Erkenntnis wird sein, dass réunionesische Musique Traditionnelle keine geschlossene, lokale Gemeinschaft repräsentiert, sondern zunehmend individuell, als Medium für Identitätskonstruktionen und Inszenierungen kreolischer Kultur im Dazwischen verwendet wird (vgl. Dracklé 2005: 4). Kulturschaffende La Réunions, die Musik in den 1980er Jahren zur Inszenierung einer eigenständigen kulturellen Gemeinschaft gegenüber der Grande Nation Frankreich kennenlernten, müssen unter dem Einfluss des World MusicLabels nicht allein ihre Heimat, sondern auch sich selbst als besonders, anders oder auch exotisch darstellen. Als World-Musiker liegt ihr Schwerpunkt nicht mehr auf der musikalischen Inszenierung einer réunionesischen Kultur insgesamt, sondern einer Besonderheit als individuelle Akteure, die mit einem einzigartigen Ort und einer einzigartigen Musiktradition verbunden sind. Diesen Schritt verdeutliche ich im theoriegenerierenden letzten Teil am Beispiel dreier Musiker, die mit ihrer Musik entsprechend andere Ziele verfolgen als ihre Vorgänger. Die Analyse wird zeigen, dass diese Akteure in ihrer Arbeit Glissants Thesen zu einer aus der Kreolisierung entstehenden culture composite in eine musique composite überführt haben (vgl. Glissant 1997). Den Schluss des Buches bilden Überlegungen zur Frage, inwieweit diese Musiker letztlich eine andere Form von World Music produzieren, als eine tiefgreifende musikalische Auseinandersetzung mit dem Eigenen und Fremden.
1 Kultur, Identität, Musik: La Réunion lé la? 8 1.1
Eingrenzen der Fragestellung: Gibt es eine Einheit musikkultureller Vielheit?
Diese Frage beschäftigt nicht nur mich als Forscher, sondern auch viele Musiker auf La Réunion. Wenn sie ihrem Publikum, wie so oft von mir während eines Konzertes erlebt, La Réunion lé la?, „Bist du da, La Réunion?“, zurufen und auf Antwort warten, scheinen sie sich nicht immer sicher, dass eine kommt. Zwar fühlen sich alle Bewohner La Réunions ihrer Insel zugehörig, ebenso wie die Musiker sind sie sich aber uneinig, wie sie deren kreolischen Ursprung, ihre „plural society […] with conspicuously heterogeneous population“, fassbar machen sollen (Hannerz 1987: 551). Obwohl das Bedürfnis nach kultureller Einheit besteht, müssen Kulturschaffende deshalb Wege erfinden, sich und ihrem Publikum diese Einheit zu verdeutlichen. Doch eine Unsicherheit bleibt. La Réunion lé la? ist kein Ausruf, kein: „Das ist La Réunion!“, sondern eine Frage, die bei jedem Konzert verdeutlicht, dass die musikalische Suche nach den kulturellen Wurzeln der réunionesischen Gemeinschaft nicht abgeschlossen ist. Die französische Assimilationspolitik versprach Réunionesen soziales Ansehen und persönliches Wohlbefinden. Anpassung statt Abgrenzung von der MèrePatrie war nach der Departmentalisation die Devise, doch damit allein ließ sich für die lokale Bevölkerung keine kulturelle Einheit herstellen. Denn die Assimilationsprojekte des französischen Staates sahen keine Einbindung lokaler Traditionen in überregionale Kontexte vor. Seit 1980 hat sich durch die Dezentralisierungsmaßnahmen der Regierung Mitterrand die französische Kulturpolitik geändert. 1983 wurde La Réunion Sitz eines eigenständigen Regionalrates. Somit rückte die Bedeutung der Insel als Teil Europas, ebenso wie als Teil des überregionalen Kontextes Indischer Ozean und als kreolische Gemeinschaft stärker in den Vordergrund. Ihre lokale Kultur basiert auf der Vielheit afrikanischer, indischer und asiatischer Einflüsse. Die Einheit dieser Vielheit aufzuzeigen setzt voraus, die réunionesische Form der Kreolisierung, die KréolisationRéunionnaise der sich überschneidenden kulturellen Systeme zu berücksichtigen. Diese Aufgabe teilt der Ethnologe mit den réunionesischen Musikern. Denn die Geschichten, die ihr Kréol Blouz über die Insel erzählt, ob im Indischen Ozean, in der Europäischen Ultraperipherie oder im Kontext von Globalisierung, sind ebenso von der Suche, vom La Réunion lé la? geprägt, wie diese Ethnografie.
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Kreol-Réunionesischer Ausspruch, der oftmals während eines Auftritts von Musikern ihrem Publikum zugerufen wird: „La Réunion lé la?“ („Bist du da, La Réunion?“).
Kultur, Identität, Musik
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Diese Suche begann für mich mit der Frage, ob sich réunionesische Musik unter dem World Music-Label kategorisieren lässt.9 Aber was ist World Music? John Connell und Chris Gibson beschreiben sie als: “… both a metaphor for, and agent of, global cultural-economic change. ‘World Music’ defines both a subject category and branding exercise, intended to increase the appeal of certain commodities: consequently, through World Music, discourses of the ‘global’ and ‘local’ are produced and disseminated. […] World Music is simultaneously a means of mobility and a cultural expression that has constructed unchanging places and people, so meeting the needs of the west for new sounds, sources of creativity and expressions of authenticity.” (Connell und Gibson 2004: 344)
Die Musik La Réunions als eine solche „expression of authenticity“ zu konstruieren, ist schwierig, denn kulturpolitisch ist die Insel ein Teil Frankreichs innerhalb Europas, mit entsprechenden Symbolen wie Euro, französische Autokennzeichen und besonderen Einreisebestimmungen für EU-Mitglieder, die nur Personalausweis statt Reisepass vorweisen müssen.10 La Réunion liegt zwar geografisch abseits, im „Süden“, ist aber kulturpolitisch Teil des „Nordens“, als sowohl Région als auch Département der Grande Nation. Wenn es réunionesische Musiker jedoch schaffen, sich mit ihrer Musik unter dem World Music-Label zu etablieren, gelingt ihnen ebenso die Anerkennung der Besonderheit ihrer kreolischen Kultur jenseits einer Zugehörigkeit zu Frankreich. Gegenüber der Einheit mit Kontinental-Frankreich beschreiben Kulturschaffende es deshalb als ihre fundamentale Aufgabe, Unterschiede zwischen La France und La Réunion deutlich zu machen. In diesem Sinne ist La Réunion zwar keine autonome Insel, der
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Der Begriff World Music entstand 1987 in London als zunächst rein kommerzielle Kategorie, entwickelt von Repräsentanten verschiedener Plattenfirmen, Journalisten und Produzenten, „that sought new means for marketing ‚our kind of materia‘ through a unified, generic name“ (Connell und Gibson 2004: 349). 10 La Réunion hat zudem Anspruch auf hohe europäische Fördersummen. Die Insel wird ebenso eingestuft, wie die Bundesländer auf dem Gebiet der ehemaligen DDR. Sie verzeichnet die höchste Arbeitslosenquote der EU, gefolgt von Halle an der Saale. (Welch weiteren Gemeinsamkeiten La Réunion mit Halle an der Saale hat, bleibt herauszufinden.) Beide Regionen fallen unter das Ziel-1-Programm zur wirtschaftlichen Angleichung innerhalb der Europäischen Union. Nähere Informationen sind zugänglich unter der URL: http://europa.eu.int/comm/regional_policy/objective1/regions_de.htm (Datum des letzten Besuchs: 25.04.2008). Ein weiteres Beispiel sind die zahllosen Städte auf La Réunion, die den Titel „Ville Fleurie“ tragen. Sie wurden von der französischen Regierung für besonders schönes Stadtgrün ausgezeichnet. La Réunion, als Insel in den Subtropen mit wildwachsenden Orchideen und einer Vielzahl seltener Pflanzen, hat in diesem Wettbewerb natürlich Vorteile. Dies mag unbedeutend erscheinen, veranschaulicht jedoch abermals die weitverzweigten Widersprüche, die sich beim Versuch ergeben, kontinental-französische und europäische Werteordnungen unreflektiert nach La Réunion übertragen zu wollen.
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Kultur, Identität, Musik
innerhalb des politischen Systems Frankreichs ein Sonderstatus zugesprochen wird. Lokale Sprache, Musikstile, kreolische Küche, religiöse und kultische Zeremonien, Hahnenkämpfe, Marches sur le Feu oder Trancezustände von Tänzerinnen bei der Zeremonie des Servis Kabaré verdeutlichen jedoch nicht nur dem Ethnologen, dass die réunionesische Gemeinschaft eine Sonderstellung einnimmt. Dafür liefert das kulturpolitische Masternarrativ der Grande Nation aber keine adäquaten Artikulationsspielräume. Das Ziel réunionesischer Musiker ist deshalb, die kulturellen Besonderheiten ihrer Insel auf charakteristische Weise zu vertonen. Musik bietet hierfür wie kein anderes Medium die Möglichkeit, einerseits die Komplexität der réunionesischen Gemeinschaft erkennbar werden zu lassen und andererseits auf dem World Music-Markt mit diesen Inszenierungen einen Lebensunterhalt zu verdienen. Jo Haynes formuliert in diesem Zusammenhang: “Once blurred or hybridized, the normative and descriptive function of difference within World Music becomes more complex. This tension operates at varying levels (symbolic, structural and interpersonal) and has different implications and outcomes that are dependent upon the stake or role individuals have within the World Music industry (as musician, producer/executive or consumer) and within different social contexts (whether commercial, national or ethnic).” (Haynes 2005: 366)
Ihre kreolische Kultur und Lebenswelt wird von réunionesischen Musikern hörund nachvollziehbar gemacht. Ihr Kréol Blouz erschafft überregionale Soundscapes, Klangwelten, in denen transmusikale Bezüge zwischen Orten und Kulturen jenseits der Strände La Réunions entstehen. Doch die Insel ist auch in sich bereits ein solch transmusikales Feld. Der Kréol Blouz hat im kulturpolitischen Kontext La Réunions deshalb eine wichtige Funktion. In ihm werden Traditionen wiederentdeckt, verankert und artikuliert. Musiker inszenieren sich als Experten und Vermittler kulturellen Wissens. Damit beeinflussen sie, wie die weiterhin ungeklärte kulturpolitische Situation La Réunions im Verhältnis zu KontinentalFrankreich außerhalb und innerhalb der Insel wahrgenommen wird. In ihren Soundscapes treten sie überregional mit anderen Akteuren in Beziehung. Die zentrale Frage bleibt, welche Beziehungen Musiker La Réunions zwischen sich, ihren Stilen, ihrer Heimat und anderen Regionen sehen und sie dazu bringen, diese zu einer für sie charakteristischen World Music zu verbinden. Wie stellen sie diese Beziehungen in ihrer Musik dar? La Réunion lé la? – „Bist du da, La Réunion?“ Von wem bekommen sie ein „Ja“ zugerufen, wenn sie diese Frage stellen? Von ihrem Publikum auf La Réunion, im World Music-Kontext oder von beiden? Musiker inszenieren unterschiedliche Bilder ihrer Heimat. Réunionspezifische Traditionen werden in diesem Prozess verändert. Sie sind Bestandteil fortlaufender Diskussionen über Werte und Traditionen der lokalen Gemeinschaft. Das Musikmachen hat für die Definition einer kreol-réunionesischen Kultur so-
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mit eine fundamentale Bedeutung. Andererseits wollen Musiker auch davon leben. Dafür müssen sie wahrnehmbar sein und sich gemäß bestimmter Kriterien vermarkten. Die Musikgeschichte des Kréol Blouz wird von ihnen deshalb mit Rücksicht auf globale Austauschmechanismen, Marketingstrategien und Richtlinien nachgezeichnet. Réunionesische Musikproduktion entpuppt sich als Mittel und Methode einer wirtschafts- und kulturpolitischen Vernetzung unterschiedlicher Regionen unter dem World Music-Label. Kulturschaffende verwerfen darin ihre Traditionen nicht, sondern verwenden sie als Bausteine zur Konstruktion transkultureller Musiklandschaften. Der Kréol Blouz ist demnach wie kaum ein anderes Medium Teil des „continous ‚play‘ of history, culture and power“ (Hall 1994: 394). Er bietet réunionesischen Musikern die Möglichkeit, Traditionen nicht statisch, sondern flexibel einzusetzen. Wie machen sie das? Wie sieht diese Wahrnehmung ihrer Kultur aus? Was erzählt der Kréol Blouz?
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Der Forschungs(gegen)stand kreolische Musikkultur
1.2.1 Kreolische Kultur In Kulturwissenschaften und Ethnologie bleiben Fragen nach Identitätskonstruktionen und kulturellen Verortungen von Menschen in unterschiedlichen Lebenswelten von fortdauerndem Interesse. Zur Frage was Identität und Kultur sind, wurden deshalb in der Vergangenheit eine Vielzahl von Sammelbänden, Einzelund Langzeitstudien hervorgebracht, die sich dieser Problematik aus unterschiedlichen Perspektiven nähern.11 Musik spielt in diesem Zusammenhang von Beginn an eine wichtige Rolle (vgl. Lindner 2000). Ende der 1970er Jahre wurde sie noch als Artikulationsinstrument von Subkulturen interpretiert, deren Codes es zu verstehen galt (vgl. Hebdige 1979). Zwanzig Jahre später wurde Subkultur zur Club Culture und zu einem Bestandteil der Industriegesellschaft, deren unterschiedliche Sparten aus Kleidung, Sound und vermitteltem Lebensgefühl identitätsstiftende Referenzen produzieren (vgl. Thornton 1996). Der Begriff der Subkultur hat mittlerweile an Bedeutung verloren (vgl. Hutnyk and Sharma 2000: 58). Konflikte mit einer scheinbar dominanten Kultur bleiben jedoch für Musiker von Bedeutung. Im Musikgeschäft muss die Frage gestellt werden, wer in einem globalen Gefüge Macht über Produktion und Artikulation identitätsstiftender Codes und ihrer Bedeutungszuschreibungen hat. Musiksoziologische Arbeiten zum World Music-Konzept eröffnen Möglichkeiten, in diesem Zu-
11 Vgl. u. a. Braziel und Mannur 2003, Cheah und Robbins 1998, Chrisman und Parry 2000, Cohen 1997, Dirks 2001, Enwezor 2002, Eriksen 1993, Gellner 1999, Göller 2000, Landry und MacLean 1996, Morley und Chen 1996, Robertson et al. 1994, Storey 1993, Wiesing 2002.
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sammenhang wissenschaftliche Erkenntnisse zu liefern, deren Bedeutung bisher unterschätzt worden ist:12 “World Music represents a form of re-packaging of particular differences into a totalizing cultural phenomenon. It is also promoted in a way that accentuates the potential benefits of cultural flows and exchange and thus its cosmopolitan appeal. Music, however, like food, tourism, literature and clothing are considered to be the ‘easy faces of cosmopolitanism’ […] while most of the complexities associated with historical entanglements and cultural ambivalences that underpin multicultural nation states are beyond such packaging. Therefore, the tendency to reify difference to explain creativity and to justify specific musical preferences and affinities, despite the potential benefits of cultural flows and exchange, reflects an unresolved understanding of the relational and situated aspects of identities.” (Haynes 2005: 381–2)
Ein wichtiger Bestandteil dieses Buches ist es, die von Haynes beschriebene Frage nach den Abhängigkeitsverhältnissen, die unterschiedliche musikkulturelle Identitätskonstruktionen beeinflussen, am Beispiel La Réunions zu diskutieren. Ich folge dafür Geschichten musikkultureller Akteure über réunionesische Tradition und Musikkultur. Traditionen begreife ich als Erfindungen.13 Sie dienen dem Zweck sich mittels des Verweises auf imaginierte Ursprünge zu positionieren. Die musikalischen Inszenierungen dieser Ursprünge werden von réunionesischen Musikern soweit ausgearbeitet, dass deren Allgemeingültigkeit vom World Music-Publikum nicht hinterfragt wird. Frantz Fanon hat aufgezeigt, dass der Konstruktionsversuch eines Nationalbewusstseins in der Postkolonie aus unterschiedlichen Gründen scheitern kann.14 Ein entscheidender Unterschied zum algerischen Kontext, mit dem Fanon sich beschäftigte, ist, dass La Réunion nicht den Status einer Postkolonie hat. Die Insel ist im Besitz ihres Kolonisators Frankreich geblieben. Dieser ist auf kulturpolitischer Ebene bemüht, die lokale Bevölkerung zu „franzisieren“, francisé, wie es einer meiner Interviewpartner ausdrückte. Deshalb werden Ursprungsmythen kreolischer Kultur und Identität von Musikern nicht allein in Diskurse ü12 Im Bereich der Musikethnologie und kulturwissenschaftlichen Musikforschung sind mittlerweile zahlreiche Arbeiten entstanden, die auf einer Kombination von Fragestellungen aus Popularmusik-, Postkolonialismus- und Diasporaforschung beruhen (vgl. Born und Hesmondhalgh 2000, Clayton et al. 2003, Connell und Gibson 2003, Dawe 2004, Hutnyk et al. 1996, Lipsitz 1999, Meintjes 2003, Mitchell 1996, Phleps 2002, Shepherd und Wicke 1997, Steingress 2002, Titon et al. 1996). 13 Zur Erfindung von Traditionen, Geschichte und Mythologien vgl. u. a. Hobsbawm und Ranger 1983, Sahlins 1981, White 1978, 1999. 14 Fanon schreibt hierzu: „Die mangelnde Vorbereitung der Eliten, das Fehlen einer organischen Verbindung mit den Massen, ihre Trägheit und, sagen wir es offen, die Feigheit im entscheidenden Moment des Kampfes sind der Ursprung tragischer Missgeschicke“ (Fanon 1966: 127).
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ber die Konstruktion eines eigenständigen Nationalbewusstseins eingebettet. Musikalische Inszenierungen schildern vielmehr das Entstehen eines réunionesischen Kulturbewusstseins. Damit ist eine erste Kategorie der Ungleichheit beschrieben, nämlich die politische Vormacht Frankreichs innerhalb der kreolischen Kultur. Zahlreiche weitere Kategorien kommen im Verlauf meiner Ausführungen hinzu. Ich greife im theoriegenerierenden Teil dieses Buches deshalb auf das Konzept der Intersektionalität zurück. Die Gender Studies haben sich damit weg von der Fokussierung auf Geschlecht bewegt. In meiner Analyse der Musikkultur La Réunions möchte ich mich weg von der angesprochenen Fokussierung auf die neokoloniale Vormacht Frankreichs bewegen. Sara Ahmed schreibt in diesem Zusammenhang, dass „how we inhabit a certain category depends on how we inhabit others“ (2007: 159). Interaktion und Intersektionalität – die Art in welcher verschiedene soziale Kategorien miteinander verwoben sind (vgl. Crenshaw 1989, McCall 2005: 1771) – nehmen grundlegenden Einfluss darauf, wie Musiker La Réunions ihre Identität und Kultur inszenieren. Die Intersektionalität von Klasse, Religion, Ethnie, Hautfarbe, Einkommen positioniert sie. Die Verwobenheit mit unterschiedlichen Ungleichheiten führt zu ebenso unterschiedlichen Wahrnehmungen réunionesischer Identität und Kultur. Die Intersektionalität kulturell konstruierter und Kultur konstruierender Kategorien bringt eine große Zahl an Erfahrungen mit sich, die in Musik verarbeitet werden. Das lässt Musiker einzelne dieser Kategorien auf besondere Art in ihrer Musik hervorheben. Sie greifen dabei auf eine bereits angesprochene Vielzahl von Begriffen zurück, um diese Kategorien zu benennen, etwa Kreolität, Métissage oder Batarsité. Geschlecht spielt als Kategorie der Ungleichkeit im musikkulturellen Kontext La Réunions hierbei im Vergleich zu Klasse (Gros Blanc, Ti Blanc oder Kréol Noir), dem ethnischen Hintergrund (Sinwa, Zarab oder Komor) oder der neokolonialen Vormacht Frankreichs eine weiterhin weniger beachtete Rolle. Doch sind Frauen in Anbetracht ihrer Präsenz auf dem internationalen Musikmarkt bedeutend sichtbarer geworden. Ihre musikalischen Inszenierungen nehmen deshalb größeren Einfluss auf die Musikszene als zuvor. Die World Music schafft jedoch auch ihr eigene Kategorien der Ungleichheit. Dazu gehören Andersartigkeit, Exotik und Besonderheit, die grundlegend für musikkulturelle Akteure sind, um erfolgreich zu sein. Aufgewachsen in einem Umfeld, in dem kulturpolitische Unterschiede lange Zeit vom Credo Liberté, Égalité, Fraternité überspielt worden sind, ob in der Familie, der Schule oder im Alltag, arbeiten réunionesische Musiker nun daran, sich von Kontinental-Frankreich zu distanzieren. Denn würden sie im World Music-Kontext als Franzosen wahrgenommen, hätten sie auf diesem Markt wenige Chancen. Deshalb müssen sie sich selbst exotisieren.15 15 Ich verwende den Begriff der Selbstexotisierung in Anlehnung an Edward W. Saids Konzept des Orientalismus (vgl. Said 1979, 2001). Für den réunionesischen Kontext ist er mir
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Diese Selbstexotisierungen réunionesischer Musiker finden im Kréol Blouz ihren Ausdruck, dem réunionspezifischen Artikulationsinstrument von „Kultur“: “The space of signifying practice, the semantic ground on which human beings seek to construct and represent themselves and others – and hence, society and history … It has form as well as content; is born in action as well as thought; is a product of human creativity as well as mimesis; and, above all, is empowered. But it is not all empowered in the same way, or all of the time.” (Comaroff und Comaroff 1991: 21)
1.2.2 Kreolische Musik Was réunionesische Widerstandskämpfe von anderen unterscheidet, ist ihre charakteristische, musikkulturelle Inszenierung. Musiker stellen darin sowohl ursprüngliche (rooted) als auch richtungsweisende (routed) Szenarien zur Definition ihrer kreolischen Kultur dar. Der Kréol Blouz ist demnach eine bestimmte Art von World Music: „Das akustische Korrelat eines völlig neuartigen, geographisch dezentrierten Systems von sozialen und moralischen Relationen“ (Erlmann 1995). Zusätzlich ist er ein Prozess kritischen (Wieder-)Entdeckens, Dekonstruierens und Nutzbarmachens lokaler Traditionen. Die Darstellungskraft des Kréol Blouz demonstriert, wie réunionesische Musiker sich der Komplexität ihrer Gemeinschaft über viele Jahre bewusst geworden sind und ihre Besonderheiten in einem überregionalen Kontext für sich nutzbar machen. In meiner Analyse gibt es drei ineinander verwobene Arten, kreol-réunionesische Musik zu verstehen: (1) als Stil, (2) als Medium, (3) als Darstellungsinstrument kultureller Besonderheiten. Musikalische Inszenierungen von Identität und Kultur sind in weitreichende und komplexe Diskurse um politische Aussagekraft, Wirtschaftlichkeit und Macht verstrickt, was nach einer ebenso weitreichenden und komplexen Analysemethode verlangt. Das internationale Musikgeschäft liefert die Grundlage für zahlreiche und oft widersprüchliche Erfahrungen von Ungleichheit. Die Verwobenheit dieser Erfahrungen analysiere ich unter Verwendung des bereits angesprochenen Konzepts der Intersektionalität. Mit Musik können unterschiedliche Identifikations- und Repräsentationsformen von Kultur hörbar gemacht werden. Réunionesische Musiker bewegen sich als Kulturschaffende im steten Konflikt zwischen der Affirmation einer réunionesischen Tradition und ihrer Zugehörigkeit zu einer Grande Nation. Regeln, die es zu befolgen gilt, wenn man international erfolgreich sein will, werden hierbei nicht allein im weit entfernten „Zentrum“ Kontitreffender, denn das internationale Interesse von Musikfans und auch Touristen ist nicht die Suche nach dem Orient, sondern nach exotischen Paradiesen.
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nental-Frankreich gemacht. Auch in der World Music gibt es die erwähnten Kategorien wie Andersartigkeit und Exotik, denen Musiker oder zumindest ihre Musik entsprechen muss, um innerhalb dieses Labels erfolgreich zu sein. Somit setzen sich die Kategorien der Ungleichheit außerhalb geografischer und nationaler Grenzen fort. Am Anfang dieser Kategorien steht im réunionesischen Kontext der Kolonialismus. Er setzte die universale Bedeutung eurozentristischer Standards voraus, um eine uneingeschränkte wirtschaftliche und politische Expansion des Nordens betreiben zu können (vgl. Ang 1998, Ashcroft 1989, 2001, Fanon 1971, Gilroy 1992, Spivak 1999, 2003). In der Politik Frankreichs setzt sich dieser Universalismusanspruch des Nordens fort: “February 2005, a law was passed by the French parliament stating that the ‘positive aspects of French colonization’ be taught in schools. It contradicts the 2001 law about slave trade and slavery […] but in a way, both are in line with French universalism, which sees itself as exceptional. In other words, the 2001 law is a declaration to the world of how much France remains faithful to its commitment to human rights and its tradition of protecting the oppressed (the heritage of the French Revolution, revised through French republicanism) and the 2005 law declares that French colonization cannot be separated from this commitment.”16 (Vergès 2006: 40)
La Réunion ist eine der Regionen, in denen eine neokoloniale Politik, wie sie von Vergès beschrieben wird, vorherrschend bleibt (vgl. Vergès 2001). Definitions- und Artikulationsversuche einer réunionesischen Kultur stehen unter dem Druck eines homogenisierenden Masternarrativs Frankreichs. Doch ist die hörbare Kritik an Kontinental-Frankreich (der Mère-Patrie als Unterdrückerin einer lokalen Kultur) auch ein wirksames Mittel, um sich als réunionesische Musiker im World Music-Kontext zu positionieren. Kulturpolitische Akteure machen sich die Kritik am französischen System zunutze. Sie inszenieren sich als traditionsbewusst, um damit einer eurozentristischen Weltsicht zu widersprechen: Einer von unkontrollierbaren Risiken durchzogenen „Orientierung nach vorn, Antizipation einer unbestimmten, kontingenten Zukunft (und) Kult des Neuen […], die Verherrlichung einer Aktualität, die immer von neuem subjektive Vergangenheiten gebiert“ (Habermas 1988: 179). Musikethnologinnen und -ethnologen haben lang darauf hingewiesen, dass eine Untersuchung, die nach der Bedeutung von Musik fragt, nicht getrennt von
16 Im Gesetz von 2001 erkennt die Französische Regierung Sklaverei erstmals als „crime contre l’humanité“ an, als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Zugänglich ist dessen Text unter der URL: http://www.legifrance.gouv.fr/WAspad/UnTexteDeJorf?numjo=JUSX9903435L (Datum des letzten Besuchs: 04.11.06).
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den sozialen Kontexten unternommen werden kann, in denen diese Musik entsteht, auf die Musiker reagieren und in denen Musik an jüngere Generationen weitergegeben wird (vgl. McClary 1991a: 21). Musik ist für die Kritik eines „Kult des Neuen“ deshalb besonders geeignet. Der Kréol Blouz stellt nicht mehr allein Kontinental-Frankreich, sondern die vielschichtigen Ebenen, Verstrickungen und Überlappungen eines Netzes kultureller Differenzen in den Vordergrund, das auf La Réunion seinen Mittelpunkt hat. Die kreolische Musikkultur La Réunions gibt somit einen Einblick in den aktiven Prozess kultureller Übersetzung (vgl. Asad 1999). Sie zeigt Musiker als Individuen, die sich an sozialen und politischen Prozessen des Kulturtransfers beteiligen. Dies unterstreicht die Forderung Veit Erlmanns, sich in „musikalischen Ethnographien […] mit den Entscheidungen und ihren Bewegungen in den Zwischenräumen des Systems und seinen multiplen Umgebungen zu beschäftigen“ (Erlmann 1995). Im heterogenen Feld kreol-réunionesischer Musik vernetzen, verlieren und erfinden Musiker ihre Traditionen. Sie vertonen sie im Kréol Blouz zu einem für sie charakteristischen Soundscape. Ihre Musiktraditionen entstehen somit in der Gegenwart, ob nun auf La Réunion oder anderswo. Die Musiker erzählen Geschichte nicht nach, sondern produzieren in ihrer Musik eigene Formen der Geschichtsschreibung. Sie verankern ihre Vorstellung lokaler Kultur an historischen Momenten, in denen sich für sie eine Veränderung in ihrer lokalen Gemeinschaft konkretisiert. Sie stellen Bezüge zwischen diesen Momenten her und verarbeiten sie zu einer réunionesischen Musikkultur. Réunionesische Geschichtsschreibung wächst somit aus dem Bemühen um ein Verständnis einer musikkulturellen Situation, für die sich aus der bildungs- und kulturpolitisch dominanten Position Kontinental-Frankreichs keine adäquaten Hilfsmittel zur Durchdringung und Zusammenführung anbieten. In der Analyse von Ungleichheit steht deshalb nicht die Festschreibung, sondern die Bewegung im Vordergrund (vgl. Ahmed 2007: 162). Für Musiker geht es etwa konkret um die Frage, wer reisen darf und wer nicht, wer réunionesische Musikkultur auf internationalen Bühnen repräsentieren darf und wer nicht. Letztendlich wird sich zeigen, welchen Musikern die Möglichkeit gegeben wird ihre Soundscapes jenseits La Réunions zu inszenieren und damit einer fortdauernden Verstrickung in Widerstandskämpfe gegen die neokoloniale Vormacht Kontinental-Frankreichs zu entkommen. Dabei wird sich auch zeigen, dass Musikmachen einigen Musikern neue Räume eröffnet, die für andere verschlossen bleiben. Alle Musiker haben ein Interesse an der Verortung ihrer Musik in einer bestimmten Musikkultur. Auf La Réunion bleibt Kultur jedoch ein unvollendeter Prozess. Mit ihren Geschichten, ihren entsprechend „disputed historicities“ (Clifford 1992: 101), beeinflussen Musiker daher die Vergangenheit, ihr Publikum in der Gegenwart und nachfolgende Generationen. Im Kréol Blouz inszenieren sie Vorstellungen einer réunionesischen Kultur, Vorstellungen von deren Beginn und Zukunft. Der Kréol Blouz unterscheidet sich deshalb von anderen Musikstilen, die unter dem World Music-Label vermarktet werden, weil seine Akteure ih-
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re Inszenierungen nicht im Glauben an eine sie verbindende rootedness verankern. Kreol-réunionesische Kultur bietet Musikern ausschließlich die Möglichkeit der routedness als Verortung ihrer Musik: die fortdauernde Suche nach einem kulturellen Ursprung (vgl. Geertz 1973).
1.3
„Krike! Krake!“: Der Ethnologe als Geschichtensammler
„Krike!“ rufen die réunionesischen Erzähler, Musiker oder Schauspieler und „Krake!“ antwortet ihr Publikum, wenn es aufmerksam ist und gespannt darauf, was ihm vorgetragen wird. Bevor ich diesen Ausruf kennenlernte und auch bevor ich La Réunion kennenlernte oder mir bewusst wurde, eine Geschichte des Kréol Blouz erzählen zu wollen, musste ich mir überlegen, was angemessene Methoden sind, die Insel empirisch zu erforschen. Das Ziel einer Feldforschung ist der „Mitvollzug kultureller Ereignisse“ (Lüders 2000: 391), in meinem Fall musikkultureller. Auf welche Art ist also mein Zugang ins Feld verlaufen? Wie habe ich gelernt, „Krike!“ zu rufen und auch „Krake!“ zu verstehen? Meine Datenauswertungen beruhen zunächst auf den sich wandelnden Musikstilen La Réunions, die ich als Zeichen soziokultureller und politischer Veränderung verstehe. Mit Musik, so meine These, lassen sich unterschiedliche kulturelle Einflüsse hörbar machen und dabei im Verweis auf andere eigene Traditionen schaffen. Über lokale Musik erreichte ich den Zugang zu persönlichen Erfahrungen einzelner Akteure, die Grundlage zur Konstruktion und Verortung ihrer Identität. Meine ethnografische Forschung basiert auf einer Methodentriangulation von „Teilnehmender Beobachtung“ (Berg und Fuchs 1999: 24ff.), „Problemzentrierten Interviews“ (Witzel 2000) und „Temporärer Mitgliedschaft“ (Honer 2000: 198), gepaart mit einem reflexiven Analyseverständnis und die Forschungsarbeit begleitende, qualitative Begriffsdefinitionen (vgl. Clifford 1988: 147). In Anlehnung an Pierre Bourdieus Logik der alltäglichen Praxis habe ich nicht versucht, Gegensätze und Widersprüche zu überwinden, sondern aufzuzeigen und ihre Problemstellung produktiv zu nutzen (vgl. Bourdieu 1977). Sie begleiteten die Erhebungsphase, führten zu bestimmten Kontakten und schärften die Themenschwerpunkte im Verlauf der Forschungsarbeit. Nach dem Ansatz der multi-sited ethnography setzte ich bestimmte Orte, Situationen, Personen und ihre Geschichten zueinander in Beziehung (vgl. Marcus 1995). In Musik inszenierte Wahrnehmungen von Identität und Kultur wurden somit prozessual erschlossen. Zum Material gehören Daten über kreol-réunionesische Musiker und Bands, deren Weiterentwicklung ich im Laufe meines Forschungsjahres dokumentierte. Meine Informanten lernte ich an unterschiedlichen Orten und auf unterschiedlichen Ebenen kennen, an unterschiedlichen sites, zum Beispiel bei Konzerten, auf privaten Feiern, Konferenzen oder durch ihre Präsenz in den Medien (vgl. Marcus 1998).
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Ein weiterer Eindruck von der Musikszene der Insel entstand durch meine temporäre Mitgliedschaft in der Band Jazz à Six Pôtes. Hierdurch ergab sich für mich ein unmittelbarer Bezug zur Realität als Musiker auf La Réunion. Um das prinzipielle Problem zu kompensieren, dass das subjektive Wissen der Akteure niemals direkt zugänglich gemacht werden kann, es aber trotzdem eine zentrale Datenbasis der Untersuchung darstellt, wurde ich beim Musikmachen, bei gemeinsamen Konzerten und Bandproben Teil der Gemeinschaft und musikkulturellen Praxis (vgl. Honer 2000: 197–8). Der daraus resultierende Analyseschritt beinhaltet die „projection of these affinities from the realm of the more personal to the delineation of more generic social-cultural problems and issues“ (Marcus 1998: 15). Was innerhalb der musikkulturellen Gemeinschaft La Réunions passierte, wurde auf vielfältige Weise interpretativ verfügbar. Erlebnisse nahmen Einfluss auf die Weiterentwicklung meiner Interviewleitfäden. Diese nach der Methode des problemzentrierten Interviews geführten Gespräche sind Sammlungen von Erzählungen, in denen Kulturschaffende persönliche Erlebnisse mit gesellschaftlichen Entwicklungen auf La Réunion verbanden und damit ihre individuell gefärbten Denfinitionen lokaler Kultur und Musik darstellten. Zur „kommunikativen Validierung“ entwickelte ich mittels der „Strukturlegetechnik“ Grafiken, die den Gesprächsverlauf und dessen Inhalte dokumentierten und die ich bei einem zweiten Treffen mit meinen Gesprächspartnern diskutierte (Flick 2000, Flick et al. 2000). In meiner Datenauswertung konzeptionalisierte ich aus den Relationen zwischen den gewonnenen Materialien ein Bild réunionesischer Musikkultur, einen Kréol Blouz. Mein Ziel war nicht, einzelne Untersuchungsergebnisse auf einer bestimmten Ebene zu vergleichen, sondern unterschiedliche Perspektiven auf die Musikkultur La Réunions sichtbar zu machen, die sich im Idealfall ergänzten. Meine Datenauswertung begreife ich deshalb als einen vielschichtigen Erfahrungsbericht, der Einblicke in die Strukturen eines musikkulturellen Feldes gibt und aufzeigt, wie Kulturschaffende Traditionen in einer sich stetig wandelnden Lebenswelt erfinden und dabei unterschiedliche musikkultureller Strömungen zusammenführen. Ich wollte musikalische Inszenierungen von Identität und Kultur mit den Augen réunionesischer Kulturschaffender sehen und mit ihren Ohren hören. Der subjektiv gemeinte Sinn dieser Erfahrungen wurde mittels der beschriebenen Methode rekonstruierbar und gleichzeitig diese Rekonstruktion zum Teil der Methode (vgl. Hitzler und Eberle 2000: 117). Für mich blieb die Gefahr, selbst Widerstände zu konstruieren, eigene Ideologien einzubeziehen und Akteuren meine Wahrnehmung buchstäblich anzudichten. Dagegen habe ich kein zufriedenstellendes Hilfsmittel gefunden. Unvoreingenommenheit gegenüber dem Feld, dem Material und den Informanten ist kein realistisches Ziel einer ethnologischen Forschung. Im Gegenteil: Voreingenommenheit ist unverzichtbarer Bestandteil eigener Identitätskonstruktionen, Schutzmechanismus gegen Einflüsse von außen sowie Bestandteil einer aktiven kulturellen Verortung (vgl. Hume und Mulcock 2004: xi). Wichtiger Bestandteil
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meiner Erhebungs- und Auswertungsphase war deshalb, diese Voreingenommenheit zu reflektieren und in die Analyse einzubeziehen. In diesem Buch erzähle ich Geschichten einiger musikkultureller Akteure und die Akteure erzählen Geschichten über sich, ihre Insel und ihre Musik. Einiges an Geschichten und Musik hat mir gefallen, anderes nicht. Mir war wichtig, dies zu berücksichtigen und die Geschichten der Akteure nicht durch meine „Autorität“ zu überschreiben (vgl. Clifford 1988). Musik bleibt jedoch ein emotionales Medium, weshalb diese Arbeit auch meine Version des Kréol Blouz wiedergibt, wie nur ich sie erzählen werde. 1.3.1 Methoden- und Forschungsentwicklung im Feld Mein Aufenthalt im Feld war in drei Phasen gegliedert: (1) eine dreimonatige Orientierungsphase und das damit verbundene Leben in St. Denis, der Hauptstadt La Réunions; (2) zwei insgesamt siebenmonatige Phasen Leben in St. Pierre, der „alternativen Hauptstadt“ der Insel; (3) eine zweimonatige Endphase, deren Höhepunkt die Feiern zum 2 0 Désamn darstellen, dem réunionesischen Feiertag zur Abschaffung der Sklaverei. St. Denis, die Hauptstadt La Réunions mit etwa 150.000 Einwohnern, einem vierspurigen Barachois (der von Kanonen, Flaggen und herrschaftlichen Regierungsgebäuden gesäumten Strandpromenade) und einem Mix aus kreolischer Villenarchitektur, kontinental-französischen bidonvilles, Hochhaussiedlungen und muslimischen Gebetsrufen, war der erste Ort meiner Recherche. St. Denis liegt an der nördlichen Küste La Réunions und vereint etwa ein Viertel der Gesamtbevölkerung der Insel. Im Süden grenzt die Stadt an die Felsketten des Cirque de Mafate, einer der drei Felskessel, die als ehemalige Vulkankrater und neben dem Plateau zwischen Piton des Neiges und Piton de la Fournaise das Inland La Réunions bilden (Abbildung 1). Als einziger dieser cirques ist der Mafate noch immer nicht für den Autoverkehr erschlossen. Die Versorgung der dort lebenden Menschen, teilweise Nachfahren entflohener Sklaven, die im abgeschiedenen Inselinnern Zuflucht gesucht hatten, geschieht zu Fuß oder per Helikopter. Im Westen, hinter dem Rivière St. Denis, schließt die Stadt schroff an steilen Felsmassiven ab, an denen sich in zahllosen Serpentinen eine Straße nach La Montagne hinaufschlängelt. Der in einem merklich kühleren Klima gelegene Ort ist mit versteckt in die Hänge eingepflanzten Villen übersät. Bereits zur Kolonialzeit lebten dort vornehmlich Familien von Großgrundbesitzern und höheren Verwaltungsangestellten der französischen Kolonialmacht, im KréolRéunionnais als Gros Blancs bezeichnet. Dieser kleine Ort, der mit seinen zahlreichen Widersprüchen so herrschaftlich den Blick über St. Denis freigibt, wird im späteren Verlauf meiner Datenauswertung noch von Bedeutung sein (Abbildung 2).
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Im Osten ist St. Denis mit der Stadt St. Clotilde und den Bezirken Moufia und Le Chaudron zusammengewachsen. In Moufia befindet sich auf einer Anhöhe die in den letzten Jahren erheblich modernisierte Universität. Darunter liegt Le Chaudron, ein in den 1960er Jahren am Reißbrett entstandenes Sozialbauwohnungsprojekt, in dem es im Jahre 1991 zu schweren Unruhen kam. Diese wurden durch Demonstrationen gegen das von der Regierung verordnete Verbot des kreolischen Privatsenders FreeDOM ausgelöst. Der Name des immer noch sehr populären Senders verbindet die Begriffe „freedom“ und DOM (Département Outre-Mer). Er ist vor allem ein Talkradio, in dem Menschen ihre Meinungen zu unterschiedlichen Themen abgeben. Oftmals gehen sie dabei dem La Di La Fé, der allseits anerkannten kreolischen „Lieblingsbeschäftigung“ des Hörensagens, nach. Hinter Le Chaudron, am noch weiter östlich gelegenen Flughafen Roland Garros, starten und landen drei- bis viermal täglich Flugzeuge von und in Richtung Kontinental-Frankreich. Außerdem gibt es Flüge nach Australien, Madagaskar, Mauritius, Mayotte, Südafrika sowie auf die Komoren und Seyschellen. Als Jahrhunderte altes, urbanes Zentrum La Réunions ist die Innenstadt St. Denis im Gegensatz zu Le Chaudron durch französische Verwaltungs- und Repräsentationsbauten geprägt. Im Stadtkern und entlang der Prachtstraße Rue de Paris stehen alte kreolische Kolonialvillen. Die Fußgängerzone beherbergt Boutiquen, Juweliere und zahlreiche Restaurants und Imbisse. Mitten an der Haupteinkaufsstraße Rue Maréchal Leclerc liegt die größte Moschee der Insel. Die meisten Anwohner des Stadtzentrums sind muslimischer Herkunft, im KréolRéunionnais als Zarab bezeichnet. Hier befand sich der erste musikkulturelle Ort, an dem ich forschte, der Pôle Régional des Musiques Actuelles (PRMA). 1997 mit finanziellen Mitteln der Conseils Régional und Général ins Leben gerufen, arbeiten Kulturschaffende dort an der Repräsentation, Dokumentation, Vermarktung und Weiterbildung lokaler Musik und Musiker für den World Music-Kontext. Im Zeitungsarchiv des PRMA finden sich viele Geschichten über réunionesische Musikgruppen und deren Auftritte auf Festivals, auf der Insel und andernorts. In informellen Gesprächen erzählten mir die Mitarbeiter über Musikstile sowie Ursprünge und Veränderungen in der lokalen Szene. Einige Musiker sind ihrer Meinung nach besonders an den Entwicklungen der letzten Jahre beteiligt und können berichten, wie die als traditionell geltenden Stile, allen voran Séga und Maloya, in der réunionesischen Musikkultur entstanden sind.17 Wenn ich im PRMA recherchierte, ging ich in der Mittagspause in einen Imbiss Chinoi. Chinoi ist der kreol-réunionesische Ausdruck für die Nachfahren Anfang des 20sten Jahrhunderts aus Südostasien auf die Insel migrierter Men-
17 Im zweiten Teil „Maloya“ thematisiere ich ausführlich die Arbeit des PRMA. Aktuelle Informationen darüber sind zugänglich unter der URL: http://www.runmusic.com (Datum des letzten Besuchs: 22.04.2009).
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schen. Manchmal kamen ein paar verirrte Touristen in diesen Imbiss, die „authentisch réunionesische Küche“ suchten. Mein Weg zur Recherche beim PRMA und zurück in mein Zimmer auf dem Campus der Universität in Moufia, wo ich in den ersten Monaten untergekommen war, führte mich noch weiter durch die Stadt. Mit dem Bus fuhr ich von der Universität im Osten, durch Le Chaudron und die Innenstadt bis zur Endstation an der Rue de Paris, von der sich eine freie Sicht auf die Serpentinenstraße nach La Montagne bietet. Ich durchquerte St. Denis auf diesem Wege mehrmals wöchentlich. Mein zehnminütiger Fußmarsch zum Imbiss Chinois war eine zusätzliche Gelegenheit, mich durch die Stadt zu bewegen. Ein beträchtlicher Teil meiner ethnologischen Arbeit passierte in diesen Bewegungen zwischen Orten, an denen ich beobachtete und recherchierte. Diese Wege sind deshalb ebenso ein Teil meiner Forschung, wie die Recherche an Orten wie dem PRMA. Sie sind meinem Forschungs(gegen)stand, der Musik La Réunions, sogar näher, weil sie ebenso in Bewegung sind wie er. Die Fahrten durch die Stadt hielten auch meine Gedanken in Bewegung, was meine Offenheit für das Beobachtete und auch meine Arbeit in den Musikarchiven beeinflusste. In der Universität und beim PRMA hatte ich Gelegenheit, meine Beobachtungen immer wieder mit vorhandenem Material abzugleichen. Ich konkretisierte sie, in dem ich réunionesische Besonderheiten, Namen von Musikstilen, Bands, Institutionen oder Musikern einarbeitete. In der Bewegung wiederum war ich nicht ein Wissenschaftler, der sich in Bibliotheken informierte, Texte exzerpierte und nach bestimmten Methoden anordnete, Sinnzusammenhänge produzierte und Fragenkataloge entwarf. Als neugieriger Beobachter ließ ich mich von spontanen Eindrücken reizen. Fragen an Musiker an einem Ort entstanden durch Informationen von Musikern an einem anderen, ebenso wie Antworten, die an einem Ort gegeben wurden, Beobachtungen am anderen verständlicher machten. Mit „Archive“ meine ich Bücher, Zeitungsbestände und CD-Kataloge. Während der ersten Monate meiner Feldforschung kamen nach und nach Geschichten von Menschen hinzu, die im PRMA oder an der Universität arbeiteten. Meine Gesprächspartner waren Quellen, Experten und Kritiker für die Weiterentwicklung meiner ethnografischen Forschung. Zu ihnen gehörte besonders Axel Gauvin. Als Schriftsteller setzt er sich in der Assoziation Tangol für einen Schulunterricht in Kréol-Réunionnais ein (vgl. Gauvin 2003). Er betreut auch Seminare an der Universität, in denen er die lokale Sprache anhand von Musik und Texten vorstellt. An einem dieser Seminare nahm ich teil und hörte dort erstmals vom „Bato Fou“. So betitelte Gauvin in einem Gedicht La Réunion, als „verirrtes
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Schiff“ (CD Titel 3 und 17).18 Das Gedicht wurde 1980 von der Gruppe Ziskakan vertont. Ein paar Tage später begegnete mir Gilbert Pounia, der Sänger dieser Band, beim PRMA. Nach und nach erschloss sich die réunionesische Musikkultur für mich somit als ein Netzwerk aus Menschen, Geschichten und Orten. Musiker, Schriftsteller und andere Kulturschaffende beschäftigen, unterstützen und verweisen darin aufeinander. Meine Feldforschung fand als ein „Deep Hanging Out“ zwischen ihnen statt (Geertz 1998). Ich bewegte mich zwischen musikkulturellen Ebenen und Darstellungsformen. Das kreative Schaffen der Musiker hinterließ „Spuren“, denen ich folgte (Dracklé 2005: 54). Es machte eine vielschichtige, ineinander verflochtene kreol-réunionesische Musikszene sichtbar. Nach drei Monaten beendete ich die Archivarbeit an meinen zwei bis dahin zentralen sites, dem PRMA und der Universität. Auf Anraten vieler Informanten entschied ich mich in den Süden der Insel nach St. Pierre zu ziehen. In den ringsum liegenden Zuckerrohrfeldern und darin versteckten kleinen Orten propagierten Musiker und Bands erstmals den Maloya als authentischen Musikstil La Réunions. St. Pierre gilt deshalb als „alternative Hauptstadt“ La Réunions. So jedenfalls beschrieben es die meisten meiner Interviewpartner, ob nun Studenten, Musiker oder Mitarbeiter des PRMA. Die Stadt schien mir demnach ein geeigneter Ort, die Forschungsarbeit zu vertiefen. 1996 war St. Pierre als mögliche Hauptstadt eines südlichen Departments im Gespräch, was jedoch in einem Referendum von der Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt wurde. Zu dieser Zeit gab es von Seiten der französischen Regierung Bestrebungen, die Insel in zwei Departments zu teilen. Konservative Stimmen auf La Réunion schürten jedoch erfolgreich Befürchtungen, die Insel würde in einem darauffolgenden Schritt in die Unabhängigkeit abgestoßen und damit maßgebliche wirtschaftliche Unterstützungen einbüßen (vgl. Maestri 1999).19 St. Pierre bleibt mit dem Ruf behaftet, „réunionesischer“ als St. Denis zu sein. Die Gebäudelandschaft der Stadt mit ihren etwa 75.000 Einwohnern ist stärker durch Wohnhäuser und kreolische Villen aus der Kolonialzeit denn militärisch/administrative Bauten geprägt. Zahlreiche Bars, Restaurants und Clubs ziehen zudem Partygäste von der ganzen Insel an, und tagsüber lockt der an einer Lagune gelegene Stadtstrand Touristen und Einheimische. Im Westen führt eine Mitte der 1990er Jahre vierspurig ausgebaute Schnellstraße nach St. Louis und 18 Bato Fou ist ebenso eine Anlehnung an das Bateau Ivre („Das trunkene Schiff“) Arthur Rimbauds. Das Gedicht beschreibt die Fahrten eines Schiffs in unbekannten, exotischen Gewässern, dessen Ich-Erzähler(in) sich nach der Heimat Europa sehnt. 19 Die Beschreibung St. Pierres als alternative Hauptstadt der Insel bleibt aktuell. So war auch der Jahrtausendwechsel politisch durch die Diskussion um eine Bi-Departmentalisation La Réunions bestimmt, die St. Pierre als Hauptstadt des südlichen Departments vorsah. Nachdem die dafür plädierenden Parteien Parti Communiste Réunionnais (PCR) und Parti Socialiste (PS) jedoch drastische Einbrüche bei den Regionalwahlen im März 2001 hinnehmen mussten, distanzierten sie sich erneut von den Teilungsplänen (Maestri und NomdedeuMaestri 2001: 167ff.).
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weiter die Küste entlang Richtung Norden und zur Route des Tamarins, der im Juli 2009 eröffneten, vierspurigen Verbindungstraße zwischen den Gemeinden St. Paul im Norden und L’Étang Salé im Süden. In St. Louis befindet sich eine der zwei noch in Betrieb stehenden Zuckerfabriken. Als ehemaliges Herzstück der Zuckerrohrproduktion bleibt die Stadt durch die Nachfahren der engagés tamilisch geprägt. Im Osten wird die Schnellstraße kurz hinter St. Pierre zweispurig und verläuft von dort in zahllosen Kurven durch kleine Dörfer entlang der schroffen Küste aus Vulkangestein. Nördlich und damit oberhalb St. Pierres liegt Le Tampon, mit etwa 40.000 Einwohnern die zweitgrößte Stadt im Süden der Insel. Die dahin ansteigende Straße setzt sich über die Hochebene, der Plaine des Kafres, bis nach St. Benoit an der Nordostküste La Réunions fort.20 Meine Wohnungssuche in St. Pierre verlief unkompliziert und verschlug mich in die Nähe des Dreiecks kurz oberhalb der Stadt, an dem die Schnellstraßen Richtung Westen, Osten und Norden sich treffen. Die kleine, in Zuckerrohrfeldern gelegene Siedlung Bassin Plat wurde zu meiner neuen Heimat und Ausgangspunkt zur Erkundung zahlreicher hinzukommender sites. Konkrete Anlaufstellen der ersten drei Feldforschungsmonate waren Universität und PRMA. Diese wurden in St. Pierre durch vielerorts stattfindende Konzerte ergänzt. In den Bars und Clubs der Stadt gibt es unglaublich viel Live-Musik und dementsprechend zahlreiche Orte, die sich zur Teilnehmenden Beobachtung der lokalen Musikszene eignen. Es findet beinahe täglich eine Auswahl an Konzerten réunionesischer Bands statt. Mit kleinem Notizbuch, Bleistift und Fotoapparat in der Tasche, verbrachte ich in den ersten Wochen viele Abende bei Auftritten bekannterer Bands wie Ziskakan, Ousanousava oder Bastèr, um als Teil ihres Publikums ein Gefühl für ihre Musik zu bekommen. Ich fuhr immer mit dem Auto, weil es nach 19.00 Uhr keine Möglichkeit mehr gab, auf öffentliche Verkehrsmittel zurückzugreifen.21 Bei einem Konzert zu beobachten, ist anstrengender als es klingen mag. Wenn um einen herum Menschen ausgelassen feiern, sitzt du auf deinem Barhocker und denkst darüber nach, was das alles zu bedeuten hat. Eine Vielzahl weiterer Fragen gingen mir dabei durch den Kopf: Wieviel Réunionesen im Publikum sind, ob die Musik sich schon immer so angehört hat, wieviel die Musiker verdienen, warum die Konzerte oft keinen Eintritt kosten, ob sich die Besetzung
20 2003 setzte der Bürgermeister Le Tampons eine Diskussion in Gang, ob die Hochebene in Plaine du Volcan umbenannt werden sollte, weil dies im Tourismuskontext attraktiver klänge. Nach einer umfangreichen Protestwelle der ansässigen Bevölkerung, in der als Gegenargument die kulturhistorische Bedeutung des Begriffs Kafre eine zentrale Rolle spielte, wurde die Idee verworfen. 21 Der Kauf eines Autos am Ende meiner ersten drei Feldforschungsmonate in St. Denis kam durch eine Mitarbeiterin des PRMA zustande. Er brachte einen weiteren Kontakt zu zwei Musikerinnen, von denen ich Informationen für die Forschung und einen günstigen Preis für das Auto bekam.
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der Bands über die Jahre verändert hat, ob alle die Texte noch von früher kennen, was für eine unglückliche Figur ich abgeben muss, wenn ich mit meiner Cola an der Theke sitze und langsam daran nippe, während die anderen mit ihren Freunden feiern … Manchmal hatte ich auch keine Lust. Dann war die Musik langweilig, es gab kaum Publikum und es störte mich, dass das Konzert mal wieder eineinhalb Stunden später anfing als angekündigt. Dann war Teilnehmende Beobachtung anstrengend, weil es unmöglich war, dabei unbeteiligt zu sein. Der einzige Rückzugspunkt war mein Auto und die Bewegungsfreiheit, die es mir erlaubte. Durch mein Auto konnte ich nicht nur abends spät auf Konzerte gehen, sondern auch an Wochenenden und Feiertagen zu über die Insel verstreuten Festen in kleine Dörfer fahren, bei denen immer eine Bühne mit Musik aufgebaut war.22 Es ermöglichte mir zudem, trotz einer Wegstrecke von über 80 Kilometer, was sich aufgrund des teilweise immensen Verkehraufkommens in bis zu zweieinhalb Stunden Fahrzeit übertrug, Verbindung zu meinen sites in St. Denis zu halten, mich flexibel mit meinen Interviewpartnern zu verabreden, sie zu Hause, in teilweise entlegenen Winkeln der Insel zu treffen oder ihnen beim Transport ihrer Instrumente zu helfen.23 Kurz vor dem Wiederverkauf identifizierte ein Interviewpartner den Wagen als den eines seiner Freunde, der diesem vor Jahren gestohlen worden war. Er erkannte ihn an einem mir bis dahin unverständlichen, orangeroten, den ausbrechenden Piton de la Fournaise darstellenden Aufkleber auf der Heckscheibe. Sein Freund wäre wie er Mitglied im damit symbolisierten Mouvement pour la Reconnaissance de l’Identité Culturelle Réunionnaise (MRICR) gewesen, erklärte er mir. Und mir erklärte sich damit auch, warum ich separate Tür- und Zündschlüssel besaß. An einem Abend bewegte ich mich also oftmals schnell zwischen zahlreichen musikkulturellen Orten. Ich fing an, mich zu fragen, wo trotz der Vielfalt und Kontrastreiche zwischen diesen sites Verbindungen bestehen und sich Beziehungen nachzeichnen lassen. Die Antwort darauf suchte ich bei den Kulturschaffenden. In ihren musikalischen Inszenierungen konfrontierten sie mich mit unterschiedlichen Geschichten über ihre Kultur. Zusätzlich zur Teilnehmenden Beobachtung gelang es mir, dabei einen Ort für das zweite Element meiner Methodentriangulation zu finden, der Temporären Mitgliedschaft. In Le Tampon knüpfte ich auf einem Spaziergang Kontakt mit dem Leiter der Assoziation Jazzami, die Musikunterricht, Proberäume und die Vermittlung von Auftrittsmöglichkeiten für Musiker anbot. Über sie lernte ich Musiker kennen und wurde
22 Zur entsprechenden Erntezeit wird scheinbar jedes lokale Gewürz, jedes Obst und jede Blume mit einem gleichnamigen Fest gefeiert. Dazu gehörten etwa Fête Pêche, Fête Gingembre, Fête Piment oder Fête Framboise. 23 Auf La Réunion werden jährlich etwa 20.000 neue Autos zugelassen (vgl. INSEE 2003).
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selbst Mitglied einer Band, den Jazz à Six Pôtes.24 Nachdem die Musik mir auch auf diesem Weg den Einstieg in lokale Lebenswelten erleichtert hatte, ich auf ihren Spuren an bestimmte Orte gelangt war und Akteure kennengelernt hatte, gab sie mir nunmehr eine Basis für meine Interviews. Was ich bei Konzerten beobachtet hatte, verwendete ich als Vorbereitung hierfür. Musikstücke, die mir besonders in Erinnerung geblieben waren, Bemerkungen aus dem Publikum oder die Präsentation auf der Bühne waren einige der Punkte, die ich mit Musikern und anderen Kulturschaffenden thematisierte. Außerdem machte ich die Erfahrung, dass es für Musiker einfacher war über sich und ihre Musik zu sprechen, wenn ich ihnen glaubhaft erklären konnte, dass ich ihre Musik kannte oder sie gar beim Musikmachen erlebt hatte. Im gleichen Zusammenhang stand, nach dem Interview an andere Musiker weiterverwiesen zu werden oder im Verlauf des Gesprächs gemachte Verweise auf die Musik anderer zuordnen zu können. Viele Musiker La Réunions definieren sich und ihre Musik durch solche Verweise auf andere, der Fortführung ihrer Stile und von ihnen geprägter Musiktraditionen. 2002 etwa gab es ein Projekt der Hip-Hop-Formation Mouvmon La Kour (MLK) mit dem Sänger der Band Bastèr, Thierry Gauliris. Ich führte mit beiden längere Gespräche, und in beiden Interviewsituationen wiesen die Musiker mich auf diese Verbindung hin. Die Gründe dafür interessierten mich. Somit konkretisierten Musiker mittels der Darstellung ihrer Beziehungen zueinander – durch ihre Texte und die Art wie sie sich präsentieren oder präsentiert werden, ob nun auf der Bühne, im Interview oder im Begleitheft ihrer CD – meine Vorstellung réunionesischer Musikkultur. Ich führte meine Interviews in zwei Blöcken. Während ich im ersten Block allgemeine Fragen zur musikkulturellen Szene und ihrer Weiterentwicklung stellte, vertiefte ich im zweiten mein bereits gewonnenes Wissen und wendete es an, um mich besser in die Gesprächssituationen einzubringen. Ich versuchte nicht, meine Gesprächspartner in bestimmte Richtungen zu lenken, sondern ihnen mit einem anderen Verständnis zu begegnen. Zwischen dem ersten und zweiten Interviewblock lagen mehrere Monate, in denen ich meine Leitfäden hierfür gemäß der Vielzahl hinzugewonnener Informationen anglich und somit meinen Forschungsschwerpunkt immer stärker konkretisierte. Durch Erlebnisse bei Konzertbesuchen, durch Zeitungsberichte und das Anhören ihrer CDs bereitete ich mich auf Interviews mit Musikern vor. Zusätzlich konnte ich durch meine Temporäre Mitgliedschaft in der Assoziation Jazzami und der von ihr unterstützten Band Jazz à Six Pôtes konkrete Fragen basierend auf eigene Erfahrungen als Musiker formulieren. Während der Proben blieb Zeit mit den anderen Musikern über Aspekte meiner Arbeit zu sprechen. Die Band und die Assoziation wurden auch zu einer Freizeitbeschäftigung, wie es das Musikmachen schon 24 Um einen möglichst direkten Zugang zur musikkulturellen Szene der Insel zu bekommen, wollte ich selbst darin aktiv sein und hatte mir mein Saxofon auf die Insel mitgebracht.
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immer für mich gewesen ist. Ich war präsent, besuchte gemeinsam mit den anderen Bandmitgliedern Konzerte und plante Auftritte.25 Der Unterschied zur Teilnehmenden Beobachtung ergab sich hierbei aus meinem bewussten Eingreifen in die inhaltliche Gestaltung der Musik. Ich sehe mein Verhältnis zur Assoziation Jazzami aus der Perspektive des Akteurs, der die Möglichkeiten der Gemeinschaft für seine eigenen Interessen nutzt und entsprechend beeinflusst. Durch meine Mitgliedschaft in dieser Gruppe und der Band Jazz à Six Pôtes wurde mir deutlich, dass nicht allein die unterschiedlichen Institutionen die Fundamente der um einzelne Musikstile wie Jazz, Hip-Hop, Séga oder Maloya gegliederten Gemeinschaften bilden, sondern die Netzwerke zwischen den Akteuren selbst. Meine Rolle als Ethnograf verstehe ich deshalb in diesen Zusammenhängen als Teilnehmender an „Produktionen des Originals und nicht nur reiner Interpretationen“ (Asad 1999: 326). Ich schließe diese Ausführungen zu meiner Methoden- und Forschungsentwicklung im Feld mit einem Erlebnisbericht vom 20 Désamn. Am „20. Dezember“, dem einzigen allein réunionesischen Feiertag, finden auf der Insel unzählige Feste, Umzüge und Aufführungen im Gedenken an die Abschaffung der Sklaverei im Jahre 1848 statt.26 So begannen für mich am Vorabend des 20 Désamn, und drei Tage vor meiner Rückreise nach Deutschland, 36 Stunden, in denen mir noch einmal viele Menschen, Eindrücke und Themen begegneten, die in den vorangegangenen Monaten Teil meiner Forschungsarbeit waren. Im Folgenden werde ich einige meiner Erlebnisse dieser 36 Stunden beschreiben, um daran zum einen die komplexen Verschachtelungen meines Forschungsfeldes zu veranschaulichen. Zum anderen bildet dieser Text den Übergang von dem Teil dieses Buches, der dem theoretischen Hintergrund, der Methode und ihrer Weiterentwicklung im Feld gewidmet ist, hin zur Materialdiskussion und Theoriegenerierung. Dieser Gang ins Feld ist für mich zum einen eine „Dichte Beschreibung“ der réunionesischen Musikkultur (Geertz 1999). Zum anderen möchte ich damit die Kultur des Feldforschens beschreiben, wie sie sich für mich mittels der Methodentriangulation am Ende meines Aufenthaltes auf La Réunion darstellte und an einigen Orten veranschaulichen, wie und wohin mich meine Fragestellungen und Methoden geführt hatten.
25 Abgesehen von der Bedeutung der Jazz à Six Pôtes für meine Forschung, ergaben sich auch zahlreiche, teilweise sehr persönliche Vorteile aus der Mitgliedschaft in dieser Band und Freundschaft zu den Bandmitgliedern. Sie ließen mich etwa an ihrem Familienleben teilhaben, luden mich zum Essen oder zu Feiern ein, machten mir eine neue Füllung in einen Zahn oder halfen mir beim Verkauf meines Autos. Sie begleiteten mich in der zweiten Phase meiner Feldforschung bis zum Schluss und gaben mir einen Ort, dem ich mich zugehörig fühlen konnte. 26 Für ausführliche Arbeiten zum 20 Désamn vgl. Bessière 2001, Eve 2000 und Treuthardt 1998.
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1.3.2
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20 Désamn à La Réunion: „A Day in the Life“ eines Feldforschers
Zeitgleich finden am 20 Désamn dermaßen viele Veranstaltungen auf La Réunion statt, dass sie von einer Person allein nicht besucht werden können. Gelenkt von bestimmten Kriterien habe ich an diesem Tag deshalb eine Auswahl treffen müssen, die nicht repräsentativ für die musikkulturelle Vielfalt der Insel sein kann, aber einen Einblick in einige der Orte gibt, an die ich durch meine Fragestellung nach der musikalischen Inszenierung kreol-réunionesischer Identität und Kultur geführt worden bin. Der daraus entstandene Erlebnisbericht basiert auf einer stilistisch nur leicht überarbeiteten Zusammenfassung unterschiedlicher Feldprotokolle (vgl. Lüders 2000: 396). Er beschreibt einen Tag, der das lebendige Chaos eines Forschungsfeldes widerspiegelt, das sich ständig verändert, das nicht an einem Ort seinen Ursprung hat und auch nicht als ein geschlossener Kulturraum dargestellt werden kann: ein Feld der Kreolisierung.27 Kabar vs. Gartenparty Am Abend des 19. Dezember veranstaltet Firmin Viry auf dem gerodeten Zuckerrohrfeld vor seinem Haus sein alljährliches Kabar. Er ist einer der ältesten Maloyamusiker La Réunions und wohnt in der Ravine de Cabris, unweit von St. Pierre. Kabar ist in diesem Fall die allgemeine Bezeichnung für ein réunionesisches Fest oder Konzert. Auf dem stoppeligen Feld vor seinem Haus sind eine Bühne mit Palmendekorationen, Lautsprechern, Mikrofonen und Instrumenten aufgebaut. Gegenüber der Bühne, am anderen Ende der Ackerfläche in etwa 100 Meter Entfernung, steht ein weißer Pavillon, unter dem eine Ausstellung über die weiter nördlich gelegenen Orte Dimitile und Entre-Deux eingerichtet ist. Sie wurden zur Kolonialzeit von entflohenen Sklaven gewählt, um sich im Schutz ihrer damaligen Unzugänglichkeit eigene Existenzen aufzubauen. Die Ausstellung thematisiert mit Texten, Grafiken und Fotomaterial Veränderungen an diesen Orten der Flucht, der Marronage, seit Beginn des Jahrhunderts. Das Fest, der Kabar, beginnt mit einem katholischen Gottesdienst, der in Kréol-Réunionnais abgehalten wird. Ich stehe etwas abseits, sehe der Zeremonie eine zeitlang zu und gehe dann zum Rand des Feldes. Am Getränkestand treffe ich einen Mann, der mir erstmals bei einem Konzert in einer nahegelegenen Bar begegnet war. Er erkennt mich wieder und erzählt, dass die Bar, in der ich mit den Jazz à Six Pôtes spielte, nach drei Monaten wieder geschlossen wurde. Es gab Ärger mit den Anwohnern. Ein paar Gäste hatten am selben Abend, an dem auch unser Konzert stattfand, in unmittelbarer Nähe einen Einbruch begangen. Ich bin über diese Geschichte nicht sonderlich verwundert. Nono, unser Bassist, hatte mir den Barbe27 Um dieser Tatsache Rechnung zu tragen, ist dieser Abschnitt im Präsens verfasst.
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sitzer als jemanden vorgestellt, der ständig neue Projekte verfolgt, weil es immer wieder zu Problemen mit den alten kam. Der Mann am Getränkestand stellt mir seine Frau und seine Tochter vor. Der Gottesdienst ist mittlerweile zu Ende und das Fest stockt, denn es sind noch keine Musiker auf der Bühne. Ich werde ungeduldig, und nach etwa zwei Stunden, in denen es langsam dunkel geworden ist und sich der Platz etwas gefüllt hat, setze ich mich ins Auto und fahre zu jenem Nono, dem Bassisten unserer Band. Er wohnt nicht weit von Firmin Virys Kabar und veranstaltet eine Gartenparty. Deren einziger Bezug zum 20 Désamn besteht darin, dass es sich vor einem Feiertag ausgelassener feiern lässt. In seinem großen Haus mit Palmengarten, Pool und Blick über den Ozean, auf dessen weitläufiger Terrasse wir hin und wieder mit der Band geprobt haben, sind in einer Ecke Schlagzeug, Boxen und Musiker installiert. In einer anderen werden gegrillte Fleischspieße angeboten. Ringsum stehen große Tische mit Tabletts voll Obst und Appetizern. An der Bar gibt es gezapftes Bier, alle Arten von alkoholischen Getränken und auffallend viel Champagner. Nono hat viele der Musiker eingeladen, mit denen ich über das Jahr gespielt habe und die in der Assoziation Jazzami organisiert sind. Auch ich hatte ihm versprochen mein Saxofon mitzubringen. Gemeinsam mit den anderen Mitgliedern der Jazz à Six Pôtes spielen wir ein paar Stücke. Später kommt ein weiterer Freund von Nono hinzu, ein Profimusiker, den ich durch einen seiner Séga-Hits aus dem Radio kenne. Er hat ein tragbares Keyboard um den Hals hängen, doch als ich noch mit dem schlimmsten Kitsch rechne, spielt er bereits großartige Improvisationsläufe darauf. Serge Hoareau, Gründer und Leiter von Jazzami, ist mit einem Gast da, der sich dafür interessiert, auf La Réunion Konzerte mit internationalen Künstlern zu organisieren. Hierfür möchte er Jazzami als Anlaufstelle nutzen. Schließlich treffe ich den Barbesitzer, der auf meine Frage nach seiner nun geschlossenen Bar nicht viel zu sagen hat, sondern mir von einem neuen Projekt erzählt. Nono, dessen Bruder und er planen einen Hotelkomplex auf einer kleinen Insel vor Madagaskar. Einziges Problem, sagt er, sind die unvorstellbar vielen Mücken, über die sie erst Herr werden müssen. Ich bleibe länger auf Nonos Party als ich geplant hatte, weil die Unterhaltungen und die Musik mir Spaß machen und ich mir nach meinem ersten Eindruck nicht mehr viel vom Kabar bei Firmin Viry verspreche. Den hatte ich mir ähnlich einer Servis Kabaré-Zeremonie vorgestellt, mit Essen, viel Tanz, lauter Maloyamusik und Gesang von Punkt 18.00 Uhr bis 6.00 Uhr morgens. Dies hätte bedeutet, dass die ganze Nacht hindurch und eingebunden in die Inszenierung kultischen Gesangs und Tanzes Musik gespielt worden wäre. Aber als ich gegen 2.00 Uhr nochmals vorbeischaue, ist bereits alles vorbei. Also fahre ich wieder zu Nonos Feier zurück und bleibe dort noch eine knappe Stunde, wohl wissend, dass ich am folgenden Tag rechtzeitig aufstehen muss, um noch vormittags ins 60 Kilometer entfernte Belmène zu fahren, auf die Feier von Danyèl Waro.
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Chez Danyèl Der 20 Désamn ist ein heißer, sonniger Tag. Aufgeregt und etwas stolz fahre ich gegen 11.00 Uhr zu Danyèl Waro. Er ist der bei weitem bekannteste réunionesische Musiker, berühmt nicht nur als bedeutender Repräsentant des Maloyastils, sondern ebenso für seinen Einsatz um die Anerkennung kulturpolitischer Eigenständigkeit La Réunions von Kontinental-Frankreich. Als Mitbringsel kaufe ich auf dem Weg zu ihm an der Straße ein großes Bündel Litchis. Als ich ankomme, sind viele meiner Interviewpartner der vergangenen Monate anwesend. Danyèl Waro wirkt sehr glücklich und begrüßt mich mit einem seiner Kinder auf dem Arm und zwei Küssen auf die Wange. Ich wünsche ihm eine „bonne fête“. An einer Seite des Gartens ist ein großes Buffet mit kreolischem Essen aufgebaut. Man isst wahlweise mit Besteck oder den Händen. Es gibt Reis mit und ohne Mais beigemischt, Hühnchen in verschiedenen Soßen mit und ohne Piment, Maniok- und andere Kuchen, Limonaden, Bier, Likör, der zu den verschiedenen Kuchen als Nachspeise getrunken wird, und viele Früchte, Litchis, Bananen, Orangen und Kiwi. Etwa eine viertel Stunde nach meiner Ankunft fahren drei große dunkle Limousinen vor. Paul Vergès, der Präsident des Conseil Régional steigt in Begleitung des stellvertretenden Kultusministers von Mosambik aus. Sie erzeugen etwas Aufruhr. Die Anwesenheit der dazugehörigen Sicherheitspersonen und Sekretäre lässt die Situation unwirklich erscheinen. Eben war es noch familiär und jetzt wird es offiziell. Danyèl Waro begrüßt die Ehrengäste und beginnt mit einer Zeremonie, bei der er einen von ihm modellierten Kopf enthüllt und auf einem dazu aufgebauten Altar mit Obst Räucherstäbchen verbrennt. Er setzt sich auf einen Roulèr, eines der traditionellen Instrumente des Maloya, und beginnt zu singen und zu spielen. Das Lied begleiten einige der Gäste mit leisem Summen. Die Zeremonie dauert etwa zehn Minuten. Danach ist das Buffet eröffnet und die Ehrengäste setzen sich in den hinteren Teil des Gartens, während vorn begonnen wird Maloyamusik zu spielen und zu tanzen (Abbildung 4). Während sich die Ehrengäste zurückgezogen haben, wird vorn mit drei und mehr Roulèrs und anderen traditionellen Instrumenten (Kayambs und Pikèrs), aber auch einfachen Blechdosen und Eimern Musik gemacht. Wenn der Gastgeber einstimmt, bringt dies besondere Bewegung in die tanzende und musizierende Menge. Ich sehe bekannte Gesichter, Schauspieler, Musiker und andere Kulturschaffende wie die Sängerin Nathalie Natiembé, den Fotografen Karl Kugel und den Schriftsteller Patrice Treuthardt. Axel Gauvin, dessen Seminar ich in den ersten Monaten an der Universität besucht hatte, trifft kurz nach mir mit seinen Töchtern ein. Später baut Luc Joly, ein ehemaliges Mitglied der in den 1980er Jahren bekannt gewordenen réunionesischen Fusionformation Caroussel, sein Saxofon zusammen und spielt mit. Mein Thema, réunionesische Musikkultur, ist auf dieser Feier im Zentrum des Geschehens. Musik und vor allem der Maloya werden als Symbol der Befreiung in Szene gesetzt. Wichtig ist nicht die Musik allein, sondern die Tatsa-
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che, sie öffentlich spielen, bei einem Kabar sein und mit Menschen tanzen zu können, die sich mittels des Maloya mit ihrer Heimat La Réunion identifizieren. Danyèl Waros Feier ist ein Ort, an dem musikkulturelle Akteure aus Politik, Wissenschaft, Kunst, Literatur und Theater um die Maloyamusik versammelt sind und eine lokale Kultur darstellen, auf der sie die Inhalte ihrer Arbeit begründen und die sie mit ihren musikalischen Inszierungen als Militants Culturels geprägt haben. In der Erinnerung an die Abschaffung der Sklaverei feiern sie sich ausgelassen selbst. Hahnenkämpfe Gegen Abend fahre ich die 60 Kilometer von Bèlmene zurück nach St. Pierre. In der Nähe meiner Wohnung findet ein Bataille Coq statt. Seit meinem Gespräch mit der Maloyasängerin Nathalie Natiembé, in dem sie die Rededuelle der Maloyasänger mit Hahnenkämpfen verglich, möchte ich einen solchen sehen. Ich hatte aber bisher keine Gelegenheit dazu und nun wird ganz in der Nähe meiner Wohnung ein Pokalkampf ausgetragen, ausgerechnet am 20 Désamn. Die neu errichtete Halle, in der der Kampf stattfindet, gleicht in Ausmaß und Geruch einer Lagerhalle für Tierfutter. Im Quadrat umschließen vier aus Stahlgerüsten und einfachen Holzplatten konstruierte Tribünen eine mit grobem Sand bestreute Fläche (Abbildung 5). Die Besitzer feuern ihre an Kopf und Beinen roten und kahl gestutzten Tiere an, die um die Vorherrschaft auf dieser Fläche kämpfen, sich mit vorgestreckten Krallen anspringen und picken. Die Kämpfe sind offiziell verboten, doch die Veranstalter geben sich keine Mühe, die Halle und die zahlreichen davor geparkten Autos zu verbergen. An der einfachen Holztheke kosten alle Getränke einen Euro. Dort arbeitet die einzige anwesende Frau. Sie ist mit dem Besitzer verheiratet, dessen Söhne ebenfalls Getränke ausschenken und der selbst vor der Tür grillt. Bei einem Pokalkampf geht es oftmals um mehrere tausend Euro. Im Kampf werden die Hähne von ihren Besitzern wiederholt aufgehoben, mit einem Arm am Körper gehalten und mit feuchten Tüchern an einem in einer Ecke angebrachten Wasserhahn erfrischt und vom Blut gereinigt. Ein Kampf dauert solange, bis sich einer der Hähne behauptet und der andere die Fläche verlässt. Nathalie Natiembé hatte die Hahnenkampfszenarien in unserem Gespräch zwar mit früheren Aufführungspraxen der Maloyamusik verglichen. Doch als ich mir dieses blutige, stinkende Treiben anschaue wird klar, dass seit dem eine lange Zeit vergangen ist. Die für mich einzige Parallele liegt darin, dass früher die Servis Kabarés auch nachts und an inoffiziellen Orten stattfanden, geduldet aber nicht genehmigt. Die Halle, ihre Besucher und das Szenario haben jedoch nichts mit der Art und Weise gemein, wie Natiembé, Waro und andere mittlerweile Maloyamusik aufführen. Während die Hahnenkämpfe im Verborgenen geblieben sind, wird der Maloya in der Öffentlichkeit aufgeführt und ist zu einer anerkannten Referenz für die réunionesische Kultur geworden.
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Servis Kabaré vs. Soundsystem Gegen ein Uhr fahre ich von der Halle ins unweit gelegene Lokal Trois Brasseurs. Bruno und Pascal von den Jazz à Six Pôtes spielen dort gemeinsam mit einem Gitarristen und einem Saxofonisten. Hier haben jeden Freitag die von Jazzami organisierten Konzerte stattgefunden, bei denen wir als Band oftmals aufgetreten sind. Als ich ankomme, sind sie bereits fertig. Im Restaurant ist nicht mehr viel los und nichts weist auf den 20 Désamn hin. Ich gehe zur Bühne und berichte in etwas ungläubige Gesichter von meinen Ausflügen der letzten Stunden, während Bruno und Pascal ihre Instrumente einpacken. Der Feiertag ist ähnlich wie für Nono auch für sie kein bedeutungsvoller Kontext, sondern eine Auftrittsmöglichkeit unter vielen, ganz entgegen seiner Bedeutung und Symbolkraft für die Gäste auf der Feier von Danyèl Waro. Eine halbe Stunde später bin ich auf einem Servis Kabaré, fünf Minuten vom Trois Brasseurs entfernt. Eine Bekannte hatte mir einige Tage zuvor erzählt, dass ihre Freundin den Servis an diesem besonderen Tag bei sich veranstaltet. Es ist sicherlich der letzte Servis Kabaré in diesem Jahr, denn normalerweise finden sie im November statt. Doch die Familie kam gerade erst aus ihrem Urlaub auf Madagaskar zurück und feiert deshalb mit Verspätung. Sie sind sehr gastfreundlich, erzählen und bieten mir Essen und Getränke an. Zu einem Zeitpunkt gibt es Probleme mit der Musik. Sie wird entgegen der Zeremonie nicht mehr gespielt. Einige jüngere Musiker ergreifen daraufhin schnell die Instrumente und fangen an zu singen. Einer von ihnen gehört zu einer professionellen Maloya-Formation, was an der Qualität seines Spiels hörbar ist und worauf ich auch sofort von der Gastgeberin hingewiesen werde, die Stolz darauf ist, ihn an diesem Abend bei sich zu haben. Nach einer dreiviertel Stunde entschließe ich mich noch einen Abstecher an den 15 Kilometer entfernten Strand von Grand Anse zu machen, wo ein Soundsystem aufgebaut sein soll. Als ich ankomme, steht nah am Meer ein kleiner, offener, weißer Pavillon. Es wird Reggaemusik aufgelegt. Sie ist eher gedämpft, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. An einem Tisch werden Quiches, Kaffee und Limonaden verkauft. Unter den etwa 50 verstreut stehenden Gästen treffe ich eine Französin, die ich von der Universität kenne, und ein paar deutsche Erasmus-Studenten. Ich unterhalte mich etwas mit ihnen. Sie sind noch nicht lange auf der Insel und hatten sich an diesem Abend per Autostopp bis hierher vorgearbeitet. Da sie sich von der Nacht allerdings mehr versprochen hatten, wollen sie gern nach Hause fahren, statt am Strand zu schlafen. Sie sind enttäuscht, dass die Veranstaltung so klein und relativ schlecht besucht ist. Außerdem haben sie Angst, sich zu weit von der Gruppe zu entfernen, weil ihnen andere erzählt hatten, dass es nachts öfters zu Angriffen von einheimischen Jugendlichen kommen soll. Es ist nach vier Uhr als ich wieder beim Servis Kabaré eintreffe und die meisten Gäste sind betrunken. Auch die Gastgeberin sitzt müde in einer Ecke.
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Jugendliche, die zunächst mit ihren Motorrollern vor dem Haus auf und ab gefahren waren, haben das Musikmachen übernommen. Dass die Qualität der Musik darunter hörbar gelitten hat, scheint den Familienangehörigen mittlerweile egal. Sie machen einen erschöpften Eindruck. Bei Sonnenaufgang komme auch ich zurück in meine Wohnung. Ruhe ist eingekehrt. Es ist der 21. Dezember und übermorgen fliege ich zurück nach Deutschland.
1.4
Zusammenführung und Überleitung
Die Ereignisse des 20 Désamn stehen auf unterschiedliche Weise miteinander in Beziehung. Zum einen durch Akteure, die mit ihrem Wissen die Orte miteinander verknüpfen, mich auf diese Orte hinweisen, sie mir beschreiben und erklären, mich dort willkommen heißen, meine Anlaufstellen sind und meine Referenzen. Es sind Menschen, zu denen ich mich hingezogen fühle und Menschen von denen ich mich distanziere. Zum anderen verbinden sich die Orte in der Musik, die als Medium und Artikulationsinstrument die Kulturschaffenden miteinander in Beziehung setzt: Firmin Viry, der als junger Musiker Danyèl Waro dazu bewegte selbst Maloyamusik zu machen; der Graffeur und Hip-Hop-Fan Jace, der mir auf Danyèl Waros Feier zum 20 Désamn vom Soundsystem in Grand Anse erzählte, bei dem ich schließlich Studierende aus meiner Anfangszeit in St. Denis wiedersah; der Mann, den ich auf dem Feld vor Firmin Virys Haus traf und der mir vom Barbesitzer berichtete, den ich kurze Zeit später auf Nonos Party traf; das Trois Brasseurs, der Servis Kabaré und der Bataille Coq, die nur fünf Autominuten von meiner Wohnung in Bassin Plat entfernt lagen. Diese Liste aus Verknüpfungen, Verweisen und Anhaltspunkten lässt sich weiterführen. Ich habe sie zur Einführung in dieses Buch gemacht, weil sie verdeutlicht, wie in der Ethnografie die Verbindungen zwischen Orten, Akteuren und Musik trotz ihrer Komplexität eine überschaubare Bedeutung haben. Ein umfassendes Bild der lokalen Musikkultur kann damit zwar nicht wiedergegeben werden. Aber das ist auch nicht mein Ziel. Ich bin während der Forschung auch von persönlichen Vorlieben geleitet worden, die sich in der Wahl der von mir am 20 Désamn besuchten Orte widerspiegeln. Ähnliches gilt für die kulturellen Besonderheiten, die von Musikern inszeniert werden. Ihnen nachzugehen ist wichtiger, als der unbedingte Versuch ein komplettes Bild des Forschungsfeldes wiederzugeben. George Marcus formuliert in diesem Zusammenhang: “The affinities themselves that motivate research, their exploration, and then projection, are all part of a process that inevitably leads to a multi-sited frame that should be treated ethnographically, whether the whole space is actually investigated or not.” (Marcus 1998: 15)
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Auf den folgenden Seiten beschreibe ich diesen „multi-sited frame“, der sich mir während meiner Feldforschung eröffnet hat. Als Einstieg baue ich darin zunächst ein auf lokale und überregionale Institutionen bezogenes Grundgerüst. Daran anschließend diskutiere ich die sich verändernden Repräsentationen réunionesischer Kultur im Bezug auf einige musikkultureller Akteure, wie sie am 2 0 Désamn zum Beispiel bei der Feier Danyèl Waros oder dem Kabar Firmin Virys teilnahmen. Damit sind auch bestimmte Orte verbunden, wie etwa die Hahnenkämpfe oder das Soundsystem am Strand von Grande Anse. Sie erfahren einen Zusammenhang in der Musik und den Geschichten, die von Musikern erzählt werden. Musiker, die sich zwischen Orten bewegen, und deren Geschichten, auf denen die nachstehenden Kapitel beruhen.
1.5
Hinweise zu Material und Interviews
Meine Feldforschung auf La Réunion dauerte vom 8. Januar bis 23. Dezember 2003. In dieser Zeit legte ich mit meinem Auto etwa 17.000 Kilometer zurück. Ich konnte 84 Konzerte besuchen und an 21 von ihnen als Musiker selbst teilnehmen sowie 37 Interviews führen, zum Teil über mehrere Stunden und in mehreren Sitzungen. Interviewzitate sind von mir im Text ähnlich der Literaturangaben gekennzeichnet (Name, Datum: Zeile in der Transkription). Meine Gesprächspartner waren sehr aufgeschlossen und mitteilungsbereit, weshalb es oftmals zu langen Erzählungen kam, in die ich bis auf wenige Verständnisfragen nicht eingriff. Ich habe auf die Darstellung besonderer Transkriptionstechniken im Text bewusst verzichtet, um den Lesefluss weitestgehend zu erhalten. Interviewauszüge wurden von mir ins Deutsche übersetzt. Bei meinen Gesprächspartnern handelte es sich nahezu ausschließlich um Menschen, die durch ihre Arbeit und in ihrem Alltag daran gewöhnt waren, in der Öffentlichkeit zu stehen. Bis auf den ausdrücklichen Wunsch einer Person war eine Anonymisierung des Materials deshalb nicht notwendig. Die Stücke auf der beigefügten CD stammen von im Text erwähnten Musikern und Kulturschaffenden. Sie sind an den entsprechenden Stellen mit einem Verweis auf die Titelnummer auf der CD gekennzeichnet. Hiermit möchte ich die Möglichkeit geben, selbst einen Höreindruck von der Musik der Menschen zu bekommen, die Grundlage dieser Geschichte des Kréol Blouz ist.
2 Maloya “We need to identify what constitutes the inside (the local, inland, onshore?) and the outside (the global, international, mainland, off-island, offshore?) of our island music cultures, who defines these, and for what reasons.” (Kevin Dawe 2004: 3)
2.1
Die Institutionalisierung kreol-réunionesischer Musikkultur
In diesem Kapitel thematisiere ich Institutionen, Parteien und Anhänger kulturpolitischer Bewegungen, die für die Musikkultur La Réunions von besonderer Bedeutung sind. Im Verweis auf das voranstehende Zitat Kevin Dawes sind die in diesen Gruppen verwobenen insider auch outside réunionesischer Musikkultur aktiv. Denn sie orientieren sich in ihrer Arbeit an bestimmten marktstrategischen Mechanismen und Vorstellungen von Exotik, dem Besonderen, dem Revolutionären oder auch Multikulturellen. Mein Ziel ist es aufzuzeigen, wie aus einer kulturpolitischen Verwendung réunionesischer Musik durch die Parti Communiste Réunionnais (PCR) auf diesem Weg eine auf den World Music-Markt ausgerichtete, kulturindustrielle wurde.28 Dieser Teil trägt den Titel „Maloya“, weil ich hierbei vor allem diesen Musikstil vorstellen werde. Denn mit Unterstützung der PCR wurde der Maloya zu einem zentralen Bestandteil überregionaler Inszenierungen réunionesischer Musiktradition.29 Die musikalischen Wurzeln dieses Stils sind jedoch so ungeklärt, wie die der Inselbevölkerung. Der fortdauernde Prozess der Kreolisierung macht diese Ungewissheit zur Grundlage der musikalischen Arbeit. Zum einen werde ich deshalb die Geschichten, die über den Maloya und seine Entstehung erzählt werden, wiedergeben. Zum anderen werde ich darstellen, wie Musiker und andere Kulturschaffende mit dieser Ungewissheit umgehen. So bewege ich mich in diesem Kapitel zwischen zwei Ebenen. Einerseits beschreibe ich Kulturschaffende, die in Institutionen mit Blick auf den globalen World Music-Markt einen Rahmen schaffen, in dem réunionesische Mu28 World Music ist ein Label, das beim Publikum oftmals Vorstellungen von Andersartigkeit und Exotik weckt (vgl. Hutnyk 1998). Als eine Kulturindustrie wirkt World Music in diesem Sinne homogenisierend (Adorno und Horkheimer 1969: 128ff.), weil etwa Musik einer subtropischen Insel wie La Réunion, die unter diesem Label vermarktet wird, bei einem World Music-Publikum zwar Bilder von weißen Sandstränden hervorruft, nicht jedoch unbedingt von 3000 Meter hohen Bergen und Felskesseln. 29 Um einen Eindruck vom Maloya zu bekommen, stehen unterschiedliche Inszenierungsweisen dieses Stils auf der beigefügten CD zur Verfügung. Ich möchte mich, statt einer näheren Beschreibung dieser Stils zu geben, an dieser Stelle den Worten Elvis Costellos anschließen, der gesagt haben soll: “Talking about music is like dancing about architecture”.
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sikkultur dargestellt wird. Andererseits erzähle ich Geschichten einiger Musiker, die sich innerhalb dieser Rahmenbedingungen positioniert haben. Zunächst gilt es zu beantworten, welche Vorgaben réunionesische Musiker erfüllen müssen, um für ihre musikalischen Inszenierungen réunionesischer Identität und Kultur die Unterstützung der Institutionen zu erhalten. Daran anknüpfend werde ich zeigen, wie Musiker diese Rahmenbedingungen mit den kleinen musikkulturellen Milieus, Bars und Konzerten ihrer Heimat verbinden.
2.2
Momente des Umbruchs
Mein Forschungsfeld erstreckt sich über ganz La Réunion, von den großen Städten am Meer bis in entlegene Winkel im Inland. Es verknüpft eine Vielzahl von Orten, an denen Musik gespielt wird: Konzertsäle, Vereinsräume, Theaterveranstaltungen, Straßenecken, Strandpartys und Berghütten. An einigen dieser Orte sind mittlerweile einflussreiche Institutionen entstanden, der größte Konzertsaal der Insel etwa, das Bato Fou in St. Pierre oder die großen Freilichtbühnen in St. Leu und St. Gilles. Einen ersten bedeutenden Schritt zur Anerkennung einer réunionesischen Musiktradition machten jedoch die Fêtes de Témoignages. Auf ihnen förderte in den 1960er Jahren die Parti Communiste Réunionnais (PCR) eine bestimmte lokale Musik, den Maloya.30 Ab den späten 1970er bis frühen 1990er Jahren, als das politische Interesse an der Musik abklang, organisierten sich Musiker in eigenen Initiativen, etwa dem Mouvmon Kiltirel de Basse-Terre (MKBT), aus dem die Gruppe Bastèr hervorging, über die ich auf den folgenden Seiten noch ausführlich berichten werde. Seit 1997, zehn Jahre nach der Etablierung des World Music-Labels, hat der Pôle Régional des Musiques Actuelles (PRMA) den überwiegenden Teil der Betreuung und Vermarktung réunionesischer Musiker übernommen. Die folgende Darstellung dieser musikkulturellen Entwicklung der letzten 40 Jahre basiert auf Recherchen in dieser Institution, dem PRMA, auf Interviews mit damit assoziierten musikkulturellen Akteuren, aber auch mit Musikern, die bereits in der Zeit der Fêtes de Témoignages aktiv waren, sowie auf eigenen Erfahrungen als Mitglied in der Assoziation Jazzami. Aus diesen unterschiedlichen Perspektiven werde ich bedeutende Momente in der Entwicklungsgeschichte réunionesischer Musikkultur herausarbeiten. Meine zentrale These ist, dass neue Vereine nicht willkürlich, sondern im Zusammenhang mit erkennbaren Zeichen des Umbruchs in der Kulturpolitik La Réunions und Frankreichs entstanden sind. Diese Zeichen werden von Musikern zu einer Geschichte über die lokale Musiktradition verarbeitet. 30 Zu Beginn dieser kulturpolitischen Bewegungen um den Maloya gab es auf La Réunion keine auf das Lokale konzentrierte Kulturarbeit. Die zentralistische Ausrichtung der Inselpolitik, mit einem stetigen Blick von der Peripherie nach La Métropole, sah das nicht vor.
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Ein wichtiger Moment des Umbruchs war die Wahl François Mitterrands zum französischen Staatspräsidenten im Jahr 1981. Die anschließenden Maßnahmen zur Denzentralisierung Frankreichs wurden auf La Réunion von einer aus genannten Gründen kulturpolitisch sehr aktiven Musikerszene aufgegriffen.31 Akteure nutzten die neu zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel, um sich und ihre Musik als eigenständig sicht- und hörbar zu machen. Sie inszenierten Bilder ihrer lokalen Kultur, die teilweise noch immer vom politischen Leitmotiv der 1960er und 70er Jahre, dem Mot d’Ordre „Autonomie“, beeinflusst waren. Es ging den Akteuren fortan jedoch weniger um politische, als um kulturelle Autonomie. Diesen Wandel von einer politisch zu einer kulturell motivierten Verwendung der Musik als Beginn eines friedvollen Zusammenwirkens von französischer Administration und réunionesischer Kulturproduktion zu stilisieren, würde dem Phänomen dieses Umbruchs allerdings nicht gerecht. Paul Gilroy schreibt hierzu: “Diverse political interests have tried without success to claim the price of multiculturalism exclusively for themselves, but that overloaded, pivotal concept does not refer to some readily identifiable philosophical or political stance. Its meaning is still being determined in a wide-ranging, conflictual, and, at present, open process.” (Gilroy 2000: 243)
Die kreolische Kultur La Réunions als multikulturell darzustellen findet bei marktstrategisch agierenden Institutionen viel Anklang. Der PRMA unterstützt deshalb vor allem Musiker, die sich unter dem Label World Music im wahrsten Sinne des Wortes einsortieren lassen. Für die Vermarktung ihrer Musik verspricht dies den größten Erfolg. Réunionesische Musiker müssen in einem „Kaufhaus des Westens“ schnell aufzufinden sein, und das sind sie in der Sparte World Music. Der PRMA schult sie deshalb auf unterschiedliche Weise darin, ihre Musiktradition nach marktstrategischen Grundsätzen zu inszenieren. Die Institution PRMA wird somit nicht von den Interessen réunionesischer Musiker oder lokaler Gruppen bestimmt. Sie ist überregional ausgerichtet.32 Trotzdem bestreitet kein Musiker die Bedeutung des PRMA oder kritisiert ihn als Fortsetzung 31 Die Denzentralisierungsreformen unter François Mitterrand gaben La Réunion 1982 neben dem Status eines Département den einer Überseeregion (Région d’Outre-Mer). So wurde am 2. März 1983 als erster Regionalrat Frankreichs jener La Réunions direkt von der lokalen Bevölkerung gewählt. Mit dem 1. Januar 1996 wurde unter dem neuen Staatspräsidenten Jacques Chirac das Sozialsystem auf La Réunion endgültig an KontinentalFrankreich angeglichen. Der 1997 geschlossene Vertrag von Amsterdam schließlich garantierte La Réunion innerhalb der Europäischen Union einen Sonderstatus als „Region in äußerster Randlage der Union“ (Région Ultra-Périphérique). 32 Dieser Zusammenhang wird zum Beispiel im realen und virtuellen Auftritt des PRMA deutlich, auf der World Music-Messe WOMEX (Abbildung 6) und auf ihrer Webseite: www.runmusic.com
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von außen ausgeübter Dominanz. Worin besteht also die besondere Attraktivität dieser Institution? Wie bereits erwähnt, wurde Musikern auf La Réunion seit der Denzentralisierung 1981 verstärkt die Möglichkeit gegeben, mit finanzieller Unterstützung der französischen Regierung eigene Institutionen zu gründen. Dadurch konnten sie sich von kulturpolitisch verpflichtenden, kontinental-französischen Kontrollmechanismen, Rechenschaftserklärungen und Genehmigungsverfahren lösen. Seit 1981 ist eine Vielzahl kleiner Vereine entstanden, eine Entwicklung, die sich fortsetzt. In einem Gespräch erzählte mir die Kulturbeauftragte der Stadt St. Pierre, dass in ihrem Verwaltungsbereich im Jahre 2003 bei einer Einwohnerzahl von etwa 72.000 Menschen mehr als 300 Vereine existierten, davon allein 40 mit einem Schwerpunkt auf lokale Kulturförderung (Anne Marie Denys 30.10.03: 423). Vorläufer dieser Vereine waren in den 1960er und 70er Jahren die Fêtes de Témoignages, organisiert von der PCR. Während auf diesen Veranstaltungen die Musik als politisches Symbol gebraucht wurde, brachten Veranstalter des Festivals Château Morange, das in den 1980er Jahren die Fêtes in ihrer musikkulturellen Bedeutung ablöste, erstmals ein überregionales Fachpublikum aus Journalisten und Produzenten auf die Insel. Mit dem PRMA und dessen Schwerpunkt auf der Repräsentation réunionesischer Musik für ein World Music-Publikum haben sich diese Bemühungen noch stärker in Hinblick auf ein globales Interesse verlagert. An dieser Stelle fasse ich zusammen, dass verschiedene Institutionen auf La Réunion durch Musikförderung eine kontrollierende Wirkung auf die Wahrnehmung réunionesischer Kultur ausüben. Sie stellen Strukturen zur Verfügung, die musikkulturelle Akteure beeinflussen (vgl. Negus 1999: 16). Doch die Musiklandschaft La Réunions ist komplexer, als sie für den globalen Markt dargestellt wird. Seit den Fêtes de Témoignages ist es auf lokaler Ebene zu einer Zersplitterung des Kulturbetriebes in unzählige kleine Vereine gekommen. Die Musikkultur La Réunions liefert damit ein Beispiel für das, was Édouard Glissant mit dem Begriff der „Zersplitterten Welten“ beschreibt: das Aufbrechen einer umfassend gedachten Kultur in eine Vielheit (vgl. Glissant 1986). Auf globaler Ebene versucht der PRMA jedoch mit seiner wirtschaftlichen Ausrichtung auf den World Music-Markt der zersplitterten Musikkultur der Insel einen multikulturellen Rahmen zu geben. Die Reaktionen auf diese institutionellen Rahmenbedingungen bieten einen Einstieg in die Entwicklungsgeschichte einer kreolischen Musikkultur, die nicht abgeschlossen ist. Ich habe im vorangegangenen Abschnitt bereits angedeutet, wie diese Rahmenbedingungen entstanden sind. Nun gilt es aufzuzeigen, wofür sie eingesetzt werden, oder, um mit der Frage aus dem einleitenden Zitat Kevin Dawes abzuschließen: “Who defines these, and for what reasons?”
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2.2.1 1960–80, Viry und Waro: Musik, Politik Natürlich finden Musiker auf La Réunion nicht erst seit der Wahl Mitterrands zum französischen Präsidenten zusammen. Ihre kulturpolitischen Interessen formulieren sie auch nicht erst mit dem Vokabular, das ihnen durch die Maßnahmen der Dezentralisierung zur Verfügung gestellt worden ist. Doch wie bereits ausgeführt, boten die politischen Veränderungen außerhalb La Réunions ihnen neue Möglichkeiten, auf die Besonderheit ihrer kreolischen Kultur aufmerksam zu machen. Inszenierungen einer alternativen, réunionspezifischen Geschichtsschreibung konnten nunmehr umgesetzt werden. Bisher fehlten hierfür sowohl die offizielle Legitimation vom französischen Staat, als auch die finanziellen Mittel. Konkret ging es Akteuren in den 1960er bis 80er Jahren um die Affirmation réunionesischer Musiktradition. Diese diente als Grundlage einer lokalen Kulturarbeit und deren Repräsentation in einem überregionalen Kontext. Die Militants Culturels erzählten ihre musikkulturelle Geschichte des Widerstands gegen eine neokoloniale Kulturpolitik jedoch zunehmend nicht mehr mit dem Ziel, politische Autonomie von Kontinental-Frankreich zu erkämpfen, sondern um lokal und später auch überregional Aufmerksamkeit für sich als Künstler zu erregen.33 Mit réunionspezifischen Bildern und Sounds grenzten sie sich von einem kontinental-französisch dominierten Kulturverständnis ab. Hierfür griffen sie in ihren Liedern politische Zielsetzungen auf. In Titeln wie „Mon Liberté“ (Meine Freiheit), „Batarsité“, „Reyon Zordi“ (La Réunion heute), „Zenfan Kreol“ (Kreolische Kinder) oder „Bato Fou“, auf die ich im Verlauf noch genauer eingehen werde, beschrieben sie die ungewisse kulturelle Ausgangssituation ihrer Heimat. Sie forderten die lokale Bevölkerung auf, sich zur eigenen Vergangenheit zu bekennen und setzten sich für einen Sonderstatus réunionesischer Kultur innerhalb einer kontinental-französisch dominierten Kulturpolitik ein. Die Militants Culturels-Bewegung begann mit Auftritten von Maloyamusikern auf den erwähnten Fêtes de Témoignages. Die 1959 von Paul Vergès gegründete PCR war Initiator dieser Fêtes.34 Die Parteigenossen stellten damit die Verbindung eines lokalen Musikstils zur Politik her. Die PCR benutzte den Maloya als symbolträchtiges Instrument für die Artikulation ihres Wunsches nach einer autonomen Gesellschaft. Elie Hoareau, in den 1970er Jahren Präsident der PCR und Bürgermeister der „alternativen Hauptstadt“ der Insel, St. Pierre, argumentierte mit dem Verweis auf die Besonderheiten des Maloya für die Anerkennung einer réunionesischen Kultur und gegen die konservative Regierungsvor33 Ich habe diesen Namen übernommen, weil er von all meinen Interviewpartnern für die hier beschriebene Gruppe wie selbstverständlich verwendet wurde. Parallelen zu dieser Mischung aus Widerstand und Bemühen um Anerkennung finden sich in einer Vielzahl von Musikstilen, von Hip-Hop, Punk, Reggae bis Rock’n’Roll. 34 Paul Vergès legte 2004 sein Amt als Parteivorsitzender der PCR nieder, blieb aber in seiner Funktion als Präsident des Conseil Régional.
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macht in St. Denis, die sich an kontinental-französischen Werten orientierte. Hoareau lud den Maloyasänger Firmin Viry ein, auf den Fêtes de Témoignages aufzutreten. Die regelmäßigen Zusammenkünfte, benannt nach der gleichnamigen, der PCR nahestehenden Tageszeitung Le Témoignages, brachten Maloyamusik an die Öffentlichkeit und verschafften den Musikern erstmals Auftritte vor einem größeren Publikum. Bis dahin beschränkte sich die Verbreitung des Stils auf private Orte, Hinterhöfe und Feste sowie nur in unmittelbarer Nachbarschaft bekannt werdende kultische Zeremonien, die erwähnten Servis Kabarés. Trotz der Bemühungen ihrer Vertreter gelang es der PCR in den 1970er Jahren nicht ihr politisches Interesse an einem Autonomiestatus für La Réunion umzusetzen (vgl. Vergès 1999b: 234). Die lokale Bevölkerung war von konservativen Stimmen verunsichert, unter anderem durch Verweise auf die sozioökonomische Entwicklung der Nachbarinsel Mauritius, die nach ihrer Unabhängigkeit von Großbritannien 1968 nur schleppend verlief. Zudem hatte eine Mehrzahl zwar 1946 für den politischen Statuswechsel zu einem DOM-TOM gestimmt. Es ging den Menschen jedoch um Gleichberechtigung und nicht um Autonomie. Obwohl nach der Statustransformation zu einem Département fundamentale Differenzen zwischen Kontinental-Frankreich und La Réunion bestehen blieben, die zum Beispiel im Schulunterricht, im Umgang mit der lokalen Sprache oder in den öffentlichen Medien weiterhin sichtbar sind, versiegte die Autonomiebewegung (vgl. Bancal et al. 2004). Ihr Verdienst bleibt es, diese Differenzen zwischen Zentrum und Peripherie auf den Fêtes de Témoignages erstmals öffentlich problematisiert zu haben. Die Militants Culturels, als Nachfahren der damit verbundenen Musikergeneration, die La Réunion als erste als zentralen Austragungsort ungeklärter kulturpolitischer Kämpfe darstellte, führen diese Kämpfe fort. Sie benutzen Musik, wie Philip V. Bohlman argumentiert, „(to) problematize the gap separating the image of the nation from its political reality“ (Bohlman 2003: 52). Im Folgenden werde ich dies am Beispiel der Maloyamusiker Firmin Viry und Danyèl Waro verdeutlichen. Firmin Viry, Maloyamusiker und Symbolfigur der Fêtes de Témoignages, ist mit mittlerweile über 80 Jahren einer der letzten Vertreter seiner Generation. Abbildung 5 zeigt Viry mit einer Kayamb auf einer der Fêtes singend und rechts neben ihm eine Hand, die ein Mikrofon hält, um seine Musik aufzuzeichnen. Diese erste Maloya-Platteneinspielung wurde als „Document No. 1 Aout 1976“ von der PCR finanziert. Neben Virys Musik findet sich auf der Platte auch eine Ansprache von Paul Vergès. Er ruft die Réunionesen darin zu Geschlossenheit und Eigenständigkeit auf. Sie sollen sich zu ihrer lokalen Kultur bekennen und auf diesem Weg die symbolisch weitergetragenen Fesseln der Sklaverei ablegen. Dieses Bild wird durch den Kontrast zwischen dem geknebelten Sklaven und dem frei in ein Mikrofon singenden Musiker auf dem Plattencover veranschaulicht. Als ich erstmals versuchte, mit Firmin Viry einen Termin für ein Interview zu vereinbaren, wurde ich an seinen Manager verwiesen. Viry gab an jenem A-
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bend mit seiner Gruppe, bestehend zu 90 Prozent aus Familienangehörigen, ein Konzert in Entre-Deux, einem Ort im Süden La Réunions, an der Einfahrt in den Cirque de Cilaos. Einziges Nicht-Familienmitglied auf der Bühne war ein Mann Anfang 30, der Triangel spielte. Er war großgewachsen, mit langen, gelockten, schwarzen Haaren und, wie sich herausstellte, besagter Manager. In einem späteren Gespräch erzählte er mir von Zukunftsplänen für sich, Firmin Viry und dessen Musik, von Konzertreisen und Marketingideen, Workshops zum Bau traditioneller Musikinstrumente gemeinsam mit dem renommierten Maloyamusiker als Experten. Der Manager war im Begriff, um die Person Firmin Viry eine Institution zu gründen. Erzählungen über die Zusammenkünfte der 1960er Jahre auf den Fêtes de Témoignages lassen noch nichts von einem solchen zukünftigen Marktwert einer Kayamb-Bastelstunde mit Viry erahnen. Bei unserem Treffen erzählte der Musiker mir die Geschichte, wie er zu diesen Orten reiste. Damals sang er: „La Troupe Résistance larivé“, „Die Troupe Résistance ist da“ (CD Titel 16). Parallel zu den politischen Texten zeigte sich damit die réunionesische Musikkultur der Nacht, des Servis Kabaré, erstmals an öffentlichen Orten. Er und seine Musiker wurden unter Lkw-Planen auf die Fêtes geschmuggelt. Es sei öfter vorgekommen, dass sie von der Polizei angehalten ihre Instrumente abgeben mussten oder eingesperrt wurden (Firmin Viry 16.10.03: 278–99). Kamen die Musiker unversehrt auf den Fêtes an, war die Bühne bereits aufgebaut und ihr Konzert konnte beginnen. Diese Auftritte inspirierten eine gesamte Generation junger Maloyamusiker, die Militants Culturels. Als deren bekanntester Vertreter gilt der Sänger Danyèl Waro, der wie er mir sagte, den Maloya verhältnismäßig spät, im Alter von 18 Jahren für sich entdeckte. Fasziniert vom Auftritt Virys begann er selbst Musik zu machen. Er schrieb eigene Texte und nahm an Kabars in der Ravine de Cabris teil, dem Ort nordwestlich von St. Pierre, in dem Viry noch immer mit seiner Familie lebt. Danyèl Waro bleibt ein besonderer Musiker, der sich bis heute öffentlich der Institutionalisierung von sich und seiner Musik widersetzt. Diese offen ausgelebte Widerstandsmentalität trägt mittlerweile zu seinem überregionalen Erfolg bei. Denn der Mythos des gelebten Widerstands macht ihn international bekannt (vgl. Erlmann 1991). Firmin Virys Manager möchte deshalb ihn und seine Familie nach Waros Vorbild inszenieren. Doch natürlich ist auch er nicht der Erste, der das darin verborgene Potential erkennt. Als ich für mein Interview zu Firmin Virys Haus kam, saßen seine Frau, Töchter und Enkeltöchter im Hof und putzten Gemüse. Auf meine Frage, ob ich richtig war, ich suchte das Haus von Firmin Viry, weil ich mit ihm über seine Musik reden wollte, antworteten sie im Scherz: „Nein, hier gibt es keinen Viry, keine Musik und schon gar keinen Maloya, falls ich auch danach suche.“ Mit dieser kurzen Begegnung wird bereits deutlich, dass die Musikerfamilie an das Interesse vieler Menschen an der Person Firmin Viry und seiner Musik gewöhnt ist. Wer von außerhalb zu ihnen kommt, um über den Maloya zu sprechen, sucht das Besondere, wie etwa Danyèl Waros Wider-
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standsmentalität oder Firmin Virys Vergangenheit in der PCR. Widerstand positioniert beide Musiker im überregionalen Kontext des World Music-Markts gewinnbringend. Waro wird dort eben als ein „Waro“ gehandelt, ein „Warrior“, ein Krieger, der sich für die kreolische Bevölkerung einsetzt. Deren Ursprung beschreibt er mit einem eigenen Begriff, der Batarsité. Er findet damit einen Weg, die réunionesische Kultur zu charakterisieren. In seinem gleichnamigen Lied von 1987 heißt es (CD Titel 7): Mwin pa blan, non mwin pa nwar, Tarz pa mwin si mon Listwar, Sinwa Zarab Zorèy Komor, Mwin nasyon bann fran batar. Ich bin nicht weiß, Nein, ich bin nicht schwarz, Das bin nicht ich noch meine Geschichte, Chinese, Araber, Zoreil, Komore, Meine Nation sind die batar.35
Während die PCR den auf unheimlichen Wegen einer nächtlichen Zeremonie des Servis Kabaré erhalten gebliebenen Maloya als Nachweis réunionesischer Autonomie institutionalisierte, ging Waro seinen eigenen Weg. La Réunion ließ sich für ihn mit der Musik als kulturell eigenständig darstellen. Die lokale Bevölkerung hatte ein nachweislich eigenes kulturelles Gut hervorgebracht, das trotz jahrhundertelanger kulturpolitischer Dominanz durch Kontinental-Frankreich erhalten geblieben war. Aber es gab auch andere Musik, die durch den beginnenden Erfolg des Maloya und die wachsende Bedeutung der Militants Culturels zunehmend ins Abseits geriet. Der Séga, dessen populäre Mischung aus bekannten Einflüssen des Variété Française, des französischen Schlager, mit afrikanischen Rhythmen und Percussions war bis dahin in der réunionesischen Musikszene tonangebend. Jean-Pierre La Selve, Verfasser der bisher einzigen musikwissenschaftlichen Monographie über die Musique Traditionnelle La Réunions (vgl. La Selve 1984), bewegte diese Musik in einem Interview mit der réunionesischen Tageszeitung L e Témoignages zu folgender Schilderung seiner ersten musikalischen Eindrücke, als er 1970 auf die Insel migrierte: „Vom ersten Tag, an dem ich einen Typ Séga spielen hörte, war ich begeistert. […] Das war in der großen Zeit der Sänger mit zwei Seiten, die auf 45tours [Schallplatten] auf einer Seite einen Séga und auf der anderen einen Slow Créole aufnahmen. […] Es
35 Danyèl Waro (1987). Batarsité. Label: Piros. Übersetzung C.W.
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gab gute Musiker auf der Insel, die Stücke spielten, die in La Métropole etwas aus der Mode gekommen waren – die Platten kamen mit dem Schiff – und die Ségas, schön intoniert mit Blechbläsern und Streichern.“ «Dès le premier jour j’ai entendu un gars jouer du Séga et j’ai flashé. […] C’était la grande époque des chanteurs deux faces, qui enregistraient des 45tours avec d’un côte un Séga et de l’autre un slow créole. […] Il y avait de bons musiciens sur l’île, qui jouaient des morceaux un peu passé de mode en métropole – les disques arrivaient par bateaux – et des Ségas bien balancés avec cuivres et violons.» (Le Témoignages 11.05.1998. Übersetzung C.W.)
In seinen Ausführungen ist von Institutionen und kulturpolitischen Organen, die sich zur damaligen Zeit bereits für die lokale Musik engagierten, nicht die Rede. Es gab sie in den 1970er Jahren zwar, ein Beispiel sind die Fêtes de Témoignages, für La Selve existierten sie aber nicht. Seine ersten Eindrücke konzentrierten sich auf Séga, der für ihn den Reiz der Vermischung widerspiegelte und wissenschaftliche Anknüpfungspunkte lieferte. Mit Séga verband er seine persönlichen musikkulturellen Erfahrungen und seine mitgebrachten Vorstellungen dessen, was réunionesische Musikkultur ausmachte. La Selves Beobachtungen lassen den Maloya unerwähnt, denn eine Diskussion dieser Musik der Nacht, der PCR und der Militants Culturels hätte bedeutet, die für ihn apolitischen und exotischen Stilvermischungen des Séga hinterfragen zu müssen. Erst in seinem Buch beschäftigt La Selve sich, wenn auch nur kurz, mit dem Zusammenhang von Maloya und PCR und dessen Auswirkungen auf die musikkulturelle Entwicklung nach 1981: „Durch einen befreienden Ruck vom ‚Séga-Variété‘, der sich durch die Originalität und Authentizität der behandelten Themen auszeichnet, zeugt der neue Maloya vom Überleben einer populären Ausdrucksform mit Qualität, die einerseits typisch réunionesisch ist, wenn man die Vektoren Sprache, Instrumentation und Rhythmus betrachtet, und andererseits offen für universelle Musikstile. Diese Bewegung wird momentan [1984] durch die Rückkehr der Gesellschaftstänze wiederbelebt und den Erfolg afrikanischer oder afro-amerikanischer Rhythmen: ‚Soul‘, ‚Reggae‘, ‚Funky‘ etc.“ «Dans une rupture délibérée avec le ‹séga-variété›, qui se marque surtout dans l’originalité et l’authenticité des thèmes traités, ce nouveau maloya témoigne de la survie d’une expression populaire de qualité à la fois typiquement réunionnaise par ses vecteurs (langue, instruments et rythme) et ouverte à des courant musicaux universels. Ce mouvement se trouve renforcé actuellement [1984] par le retour de la notion de danse collective et par le succès des rythmes d’origine africaine ou afro-
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américaine: ‹soul›, ‹reggae›, ‹funky› etc.»36 (La Selve 1984: 130. Übersetzung und Zusätze C.W.)
Séga ist für La Selve der etablierte, authentisch réunionesische Musikstil. Der Maloya kommt hinzu, zum einen typisch réunionesisch, andererseits offen für Vermischung mit anderen Stilen. Wiederum thematisiert La Selve den politischen Gehalt der Musik nicht. Doch Maloyamusiker und Militants Culturels legen Wert auf eine konfliktreiche Repräsentation La Réunions, die sich von der engen Verknüpfung mit einer kontinental-französischen Kultur lossagt. Solche kulturpolitischen Ziele sind von der Musik nicht zu trennen. Während La Selve die Verknüpfungsmöglichkeiten des Maloya mit anderen Musikstilen fasziniert, ignoriert er dessen kulturpolitische Aussagekraft. John Hutnyk macht die Bedeutung dieser Art von Interpretation, die sich auf Vermischung, Offenheit und Ästhetik konzentriert, an anderer Stelle deutlich: “To focus on hybridity, and culture, and aesthetic questions, while ignoring (or as an excuse for ignoring) the contextualising conditions in which these phenomena exist (commodity system, political relations, telematics) is to limit rather than extend our project.” (Hutnyk 2000: 49)
La Selves musikwissenschaftliche Analyse réunionesischer Musik, die Authentizität des Séga gegenüber der Offenheit des Maloya, ist von seiner Suche nach kultureller Vermischung und seiner Konzentration auf ästhetische Fragen bestimmt. Den Einfluss kulturpolitischer Institutionen thematisiert er nicht. Diese sind jedoch maßgeblich für die von Hutnyk vorausgesetzten „contextualising conditions“ verantwortlich, in denen Konflikte zwischen Kulturpolitik und Ästhetik ausgetragen werden. Gründe, aus denen La Selve in seiner Arbeit Institutionen weniger Bedeutung beimisst, liegen in seiner musikwissenschaftlich ausgerichteten Fragestellung. Er arbeitet mit einem Fokus auf Musik als ästhetische Praxis. Doch bis zum Ende der 1970er Jahre war die einzige Institution zur Förderung einer lokalen Musiktradition die PCR. Denn erst mit der Wahl Mitterrands und der einsetzenden Dezentralisierung gab die PCR ihr Mot d’Ordre „Autonomie“ auf und zog sich aus der Förderung des Maloya zurück. Dementsprechend ist es unmöglich, eine politische Sicht aus der Entwicklungsgeschichte réunionesischer Musiktraditionen auszublenden, weder vor 1984 noch danach. Mit dieser Kritik schließe ich den Teil meiner Darstellung réunionesischer Musikkultur, der sich mit den Jahren 1960 bis 80 beschäftigt. La Selves Buch 36 La Selves Definition des Reggae als afrikanischen oder afro-amerikanischen Rhythmus ist simplifizierend und Zeugnis einer in den 1980er Jahren und selbst heute keineswegs unüblichen, eurozentristischen Perspektive auf die Musik La Réunions und anderer „peripherer“ Regionen.
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steht am Ende dieses zeitlichen Abschnitts. Seitdem haben sich die lokale Musik und auch die Ansprüche, die an Musiker und Musikerinnen gestellt werden, maßgeblich weiterentwickelt. Wie an den Beispielen Waro und Viry deutlich geworden ist, bleiben politischer Widerstand und Authentizität hierbei zwar von Bedeutung, die Musik ist jedoch zunehmend nicht mehr allein politisches Medium, sondern auch ein zu vermarktendes Gut. Dies führte unter anderem zur Gründung einer Vielzahl neuer Vereine und einer Institution von herausragender Bedeutung, weil deren Akteure réunionesische Musik auf dem World MusicMarkt verankert haben, der PRMA. Mit dieser Weiterentwicklung von der Politisierung zur Professionalisierung der Musik beschäftige ich mich im folgenden Abschnitt. 2.2.2 1980–…, Château Morange und PRMA: Musik, Professionalität Ab den 1980er Jahren nahmen auf La Réunion die Anzahl an Musikern und deren Ansprüche an einen lokalen und überregionalen Musikmarkt zu. Doch erst in den 1990er Jahren passte sich die Verfügbarkeit von Instrumenten und Aufnahmetechnik dem europäischen Standard an. Musiker konnten sich danach auch Platten kaufen, ohne auf zeitaufwendige Lieferungen per Boot aus KontinentalFrankreich warten zu müssen, was die Suche der Akteure nach neuen Stilen und Stilvermischungen vereinfachte. Die lokale Plattenproduktion hatte bereits seit den 1980er Jahren drastisch zugenommen. Ein Trend, der sich weiter fortsetzte. So wurden im Jahr 2000 auf La Réunion 130 CDs von lokalen Künstlern produziert und 300.000 davon auf der Insel verkauft. 2001 waren es bereits 230 Aufnahmen und 700.000 verkaufte CDs, nahezu eine CD pro Einwohner, 43% davon Séga und Maloya (Le Témoignages 09.02.2002). Insgesamt gab es im Januar 2002 auf La Réunion zudem etwa 500 aktive Musikgruppen (Le Journal de l’Île 05.01.2002). Was die musikalische Ausbildung betrifft, waren die meisten réunionesischen Musiker bis Anfang der 1980er Jahre noch Autodidakten. Sie hatten ihre Instrumente in ihren Familien gelernt und dort erste und für sie prägende musikalische Erfahrungen gesammelt. Das Festival Château Morange, das erstmals 1983 stattfand, steht in diesem Zusammenhang für einen Richtungswechsel, einen weiteren Moment des Umbruchs. Dieser mündete in der Eröffnung des ersten Conservatoire Nationale de Région (CNR) im Jahre 1987 in St. Denis. Musikmachen fand damit auf La Réunion nicht mehr ausschließlich eigenverantwortlich statt, etwa als Teil einer Familientradition, sondern wurde eine institutionalisierte Ausbildungsform. Ein weiterer Schritt zur Professionalisierung der Musik war die Wahl Eric Boyers zum Präsidenten des Conseil Général 1989. Er entwickelte ein Kulturprogramm zur Förderung des „Homme Réunionnais“. Dieses Konzept war auf die Affirmation von Vermischung und Multikulturalität ausgerichtet und wird von kritischen Stimmen rückblickend als „vision francisée d’être kréol“ definiert (Marimoutou 15.09.06: 602). Paul Mazaka wurde anschließend an seine
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Arbeit für das Festival Château Morange Kulturbeauftragter der maîrie von St. Denis und so mit der Umsetzung des Konzepts „Homme Réunionnais“ betraut. Alain Courbis, der heutige Direktor des PRMA, wies mich erstmals auf Paul Mazaka und das Château Morange hin. Er arbeitete zu dieser Zeit als Journalist für den Quotidien und machte durch seine Reportagen die Musik La Réunions in weiten Teilen Kontinental-Frankreichs bekannt. Dadurch entstanden Kontakte mit dem Printemps du Bourges, dem bekanntesten Festival für frankophone Musik, und mit Africolor in Paris. Dessen Direktor gründete sein eigenes Label, Cobalt, und nahm erstmals réunionesische Musiker unter Vertrag, darunter Danyèl Waro und die Gruppe Salem Tradition. Deren Sängerin, Christine Salem, wird im Kapitel über die neue Generation Maloyamusiker noch eine wichtige Rolle spielen. Um im Rahmen dieser vielschichtigen und rasant voranschreitenden Veränderungen einen Überblick zu behalten und weitere Entwicklungen zu koordinieren, gründeten kulturpolitische Verantwortliche den PRMA. 1997 vom Ministre de la Culture und dem Conseil Régional de La Réunion ins Leben gerufen, sollen darin réunionesische Musik und Musiker gefördert und auf ihrem Weg zur Professionalität begleitet werden. Insgesamt gibt es neun solcher Institutionen in Frankreich. Der PRMA auf La Réunion ist jedoch der einzige in einem DOMTOM. Seine Aufgabenbereiche sind wie folgt formuliert: (1) La Patrimoine: Die Erhaltung des musikkulturellen Erbes der Insel. (2) La Formation: Die Organisation von Workshops für musikkulturelle Akteure (Musiker, Manager, Techniker etc.). (3) L’Information: Die Gestaltung einer Webseite und des vierteljährlich erscheinenden Musikmagazins Muzikalité. (4) L’Exportation: Die Vermarktung und Repräsentation réunionesischer Musik auf Festivals und Messen. (5) L’Observation: Das Begleiten musikkultureller Entwicklungen und deren Dokumentation in einem eigenen Archiv. Im Gegensatz zu anderen PRMAs, die sich aufgrund etablierter Musikindustrien auf den ersten Punkt konzentrieren können (den Erhalt eines musikkulturellen Erbes in ihrer Region), steht der PRMA auf La Réunion für alle Arten lokal produzierter Musik offen. Auf La Réunion ist das Patrimoine demnach nicht eine der Vergangenheit zugeschriebene und schützenswerte Folklore, sondern ein zentraler Bestandteil aktueller Musikproduktionen, sichtbar etwa am Maloya und dessen Hauptabsatzmarkt, der World Music. Alain Courbis Aufgabe als Direktor des PRMA ist es dafür zu sorgen, dass mehr réunionesische Musik exportiert wird. Aber dies zu verwirklichen bleibt schwierig. Lokale Künstler geben immer mehr Konzerte im Ausland, aber diese Reisen sind teuer. Wenn sie eine internationale Karriere anstreben, müssen sie sich deshalb nach wie vor dauerhaft in Paris oder an anderen strategisch günstigeren Orten als La Réunion niederlassen. Es sei notwendig, La Réunion zu verlassen, erklärte mir Courbis, weil ein Musikerleben ansonsten von der Suche nach finanzieller Unterstützung bestimmt
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bleibe, was Akteuren die Möglichkeit nehme, sich auf ihre künstlerische Arbeit zu konzentrieren (Courbis 15.04.03: 550). Aus der somit beschriebenen, vom PRMA eingenommenen Doppelfunktion, der Steigerung der Exportation und dem Schutz des Patrimoine, resultieren Missverständnisse und Konflikte. Der PRMA bietet zunächst eine Starthilfe. Dafür wird erwartet, dass Musiker mit konkreten Vorstellungen und vorbereiteten Materialien im Büro erscheinen, zum Beispiel eigenständig eine Demo-CD und Pressemappen erarbeitet haben. Anschließend werden sie in organisatorischen Fragen, zu Tourneen, Urheberrechten oder bei Vertragsverhandlungen, vom PRMA unterstützt. Dies geschieht vor allem durch die Vermittlung überregionaler Kontakte, etwa zur IRMA, der französischen Informationsbörse für Musikmagazine, Produzenten und Musiker.37 Alain Courbis und seine Mitarbeiter haben eine verantwortungsvolle Aufgabe. Über den Schreibtisch seiner Assistentin Nadège Nagès laufen täglich eine Vielzahl an Informationen, Demo-Platten, Ankündigungen und Band-CVs réunionesischer Musiker. Ihre Vorauswahl trägt maßgeblich zu der Entscheidung bei, welche Musik unter dem Label Musique Réunionnaise mit Hilfe des PRMA angeboten wird. Dabei gibt es eine auffallende Diskrepanz zwischen dem Erfolg lokaler Musikstile auf der Insel und deren Nachfrage in überregionalen Kontexten, vor allem in Kontinental-Frankreich. Die Verantwortlichen des PRMA müssen in beiden Bereichen aktiv sein, im Lokalen und im Überregionalen. Sie dürfen nicht voreingenommen agieren und betonen deshalb, eine professionelle Distanz zu Akteuren und deren Musik zu halten. Das jedoch ist aus unterschiedlichen Gründen schwierig, nicht zuletzt, weil die Mitarbeiter des PRMA oftmals selbst Musik machen, mit Musikern befreundet sind oder schlichtweg keinen Hip-Hop, dafür aber Rock mögen. In der Interaktion zwischen PRMA und Musikern treffen zudem marktstrategische Vorgaben auf individuelle Wünsche, etwa wirtschaftliches auf kulturpolitisches Interesse. Auf diesen persönlichen Bezug zur Musik, der bei der eben angesprochenen Entscheidungsfindung von zentraler Bedeutung ist, werde ich deshalb am Beispiel des Hauptverantwortlichen Alain Courbis und seiner Assistentin Nadège Nagès näher eingehen. Obwohl er erst in den 1980er Jahren nach La Réunion gezogen war, identifiziert sich Alain Courbis mit der Insel und sprach mir gegenüber immer wieder von „unserer“ Musik (Courbis 15.04.03: 538). Nadège Nagès erklärt auf ähnliche Weise, das „wir Kreolen“ eigene Stile fördern müssen und innerhalb der lokalen Bevölkerung eine Bereitschaft vorhanden sein müsse, sich um die Weiterentwicklung réunionesischer Musik zu bemühen:
37 IRMA ist die Abkürzung für den französischen Centre d’Information et de Ressources pour les Musiques Actuelles mit Sitz in Paris. Nähere Informationen sind zugänglich unter der URL: www.irma.asso.fr (Datum des letzten Besuchs: 24.08.08).
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„Danyèl Waro, Granmoun Lélé (neben Firmin Viry einer der ältesten und bekanntesten Maloyamusiker [2004 verstorben]) begannen auch außerhalb La Réunions aufzutreten. Und seitdem sagte man sich: unsere Musik ist außerhalb anerkannt, also warum erkennt man sie nicht auf La Réunion an? Deshalb muss man alles tun, damit unsere Musik zunächst hier anerkannt wird, bevor man sie exportiert. Denn sollten wir, als Kreolen, unsere lokalen Bands nicht hören wollen … Wie willst du deine Musik bekannt machen, wenn du dich nicht ein bisschen bewegst, wenn du nicht zu den Konzerten gehst? Nein, nur so habe ich die Musik La Réunions kennengelernt: Man muss sich bewegen! Man muss sich die Gruppen anhören gehen.“ «Danyèl Waro, Granmoun Lélé commençaient à sortir de La Réunion pour aller se produire à l’extérieur. Et à partir de là on se dit: notre musique, elle est reconnue ailleurs et pourquoi elle est pas reconnue ici à La Réunion? Donc, il faut tout faire pour que on reconnaisse d’abord notre musique ici avant de l’exporter! Parce que si nousmêmes, nous en tant que Créoles, si on va pas écouter nos groupes locaux … Comment tu veux connaître ta musique, si tu bouges pas un peu, si tu vas pas sur les lieux de concert? Non, c’est comme ça que moi j’apprends la musique à La Réunion. Il faut se bouger! Il faut aller voir les groupes dès qu’ils jouent. Il faut vraiment se déplacer.» (Nagès 09.09.03: 365–377. Zusatz von C.W.)
Nadège Nagès, die seit dessen Gründung, also seit mehr als 10 Jahren, im PRMA arbeitet, ist sich des internationalen Erfolges réunionesischer Musik bewusst. Umso erstaunlicher ist es für sie, dass Menschen auf La Réunion noch immer nicht bereit sind, zu den zahlreichen, über die Insel verstreuten Konzerten lokaler Künstler zu kommen. Es gibt zahlreiche Auftrittsorte, Konzerthäuser und Freilichtbühnen mit vorinstallierten PAs und Lichtanlagen. Die Bevölkerung hat entsprechend ausreichendes Angebot, lokale Musik live zu hören und damit Musiker zu unterstützen. Das erwartet Nagès und erklärt damit ihre persönliche Motivation, mittels der Musik und durch ihre Arbeit im PRMA die Weiterentwicklung réunionesischer Kultur fördern zu wollen. Doch bei einer Gesamtdistanz von etwa 100 km von der Nord- bis zur Südspitze der Insel ist die Tournee eines Musikers schnell wieder vorbei. Bei dieser kurzen Entfernung und gleichzeitig relativen Dichte an Veranstaltungsorten, die es ermöglichen, Musiker in unmittelbarer Nachbarschaft zum eigenen Wohnort zu erleben, gibt es wenig Gründe ihnen hinterherzureisen, jedenfalls wenn man nicht gerade als Musikethnologe unterwegs ist. Der Anspruch, den Nadège Nagès an die lokale Bevölkerung richtet, ist demnach hoch. Die Marketingstrategien des PRMA richten sich deshalb notwendigerweise auf World Music-Kontexte, auch wenn Akteure wie Nadège Nagès ihre Berufung in der Förderung der lokalen Musikkultur auf La Réunion sehen. Überregionale Auftrittsmöglichkeiten sind für réunionesische Musiker zudem nicht allein aus ökonomischer Sicht notwendig, denn dadurch lernen sie auch andere Musikstile kennen und sich im Austausch mit anderen Musikern zu positionieren. Deshalb bleibt die Suche nach Finanzierungsmöglichkeiten für Konzertreisen eine der zentralen Aufgaben des PRMA. Festivals und Messen wie
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Africolor, Printemps de Bourges oder die World Music-Expo WOMEX sind dafür wichtige Anlaufstellen. Denn diese Veranstaltungen nehmen jedes Jahr auch Künstler aus La Réunion in ihr Programm auf und verschaffen lokalen Musikern damit einen Zugang zum europäischen Markt und von dort aus zu anderen internationalen Bühnen, etwa auf Festivals in Kanada und den USA. Die Präsenz des PRMA auf Musikmessen in Europa bereitet diese Auftritte von réunionesischen Musikern vor. Die Inszenierung des Réunionesischen, wie es der PRMA dort vorgibt, bestimmt dabei auch die Erwartungen, die später an die Musik und Musiker der Insel gerichtet werden. An ihrem Stand machen die Mitarbeiter Veranstalter deshalb nicht allein mit réunionesischer Musik bekannt, sondern auch mit der Insel selbst, ihrer Menschen und Geschichte. Während vor dem Stand des PRMA auf der WOMEX 2004 junge réunionesische Musiker spielten, war der Stand selbst von den Verantwortlichen des PRMA mit Karten von La Réunion und einem Film über die Musik und die Insel dekoriert (Abbildung 6). Wie am rechten Bildrand auf Abbildung 6 zu erkennen ist, tauschten sie zudem mit den Nachbarständen auch lokale Köstlichkeiten, etwa mit Vanille oder Litchi verfeinerten Rum gegen Rotwein. Der PRMA vertritt bei solchen Messeauftritten eine Vielzahl marktwirksamer Besonderheiten der Insel. Was die Musik betrifft, bleibt die Vermischung unterschiedlicher Stile zentral. Das sollen auch die mitgebrachten Musiker zeigen, wie jene der auf dem Foto abgebildeten Tambour Malbar. Die Herkunft ihrer Instrumente wurde sowohl mit Afrika (Kayamb, links) als auch Indien (Tambour, rechts) beschrieben. Zudem machten sie ausreichend Krach, sodass die Messebesucher nicht anders konnten, als auf den réunionesischen Stand aufmerksam zu werden. Entwicklung und Verbreitung eines solchen Marketingkonzepts musikkultureller Vermischung und Besonderheit bestimmten Alain Courbis Arbeitsinhalte von Anfang an. Seine zentrale Aufgabe bleibt, das Interesse an der lokalen Musik und damit an La Réunion zu erhöhen: „Der PRMA erwartet zum Start des MIDEM 1998, dass er eine enorme Informationsarbeit zu La Réunion und dem Indischen Ozean leisten muss. ‚Wir gehen davon aus, dass die Menschen außerhalb der französischsprachigen Zone noch nie etwas von La Réunion gehört haben. Wir müssen die Insel vorstellen, zusammen mit ihrem regionalen Umfeld, bevor man überhaupt von den traditionellen, vermischten Musikstilen sprechen kann. […] Es gibt eine wirkliche Erwartungshaltung gegenüber unseren Vermischungen. Die Métissage réunionesischer Musik ist etwas Besonderes. Die Mélange der Kulturen zieht ein großes Interesse nach sich, aber die Produzenten müssen die Qualität noch steigern‘, schlussfolgert Alain Courbis, bevor er einen weiteren Journalisten begrüßt – einer der 700, die auf der Messe vertreten sind –, der einen Stand besucht, welcher sich besonders durch seine kreolische Dekoration und Identität auszeichnet.“ «Le PRMA estime, à la lumière du MIDEM 1998, qu’il y a à faire un énorme travail d’information par rapport à La Réunion et à l’Océan Indien. ‹On constate qu’en de-
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hors de la zone francophone les gens n’ont jamais entendu parler de la Réunion. Nous devons la présenter y compris dans son environnement géographique, avant même de parler des courants musicaux traditionnels métissés. […] Il y a une réelle attente sur nos métissages. Le métissage de la musique réunionnaise est quelque chose qui marque. Le mélange des cultures suscite un réel intérêt, mais les producteurs devront développer la qualité›, conclut Alain Courbis avant d’aller saluer un énième journaliste – parmi les 700 présents au salon – en visite sur un stand particulièrement remarqué par sa décoration créole et son identification.»38 (Témoignages 23.01.1998. Übersetzung C.W.)
Alain Courbis entwirft in diesem Zeitungsinterview ein Bild der Besonderheiten La Réunions unter den Gesichtspunkten eines World Music-Interesses. Im Zitat verwendet er den Begriff Métissage synonym mit Mélange. Er beschreibt La Réunion als einen Ort der Vermischung, von dem große Teile der Welt noch nie gehört haben. Die Musikstile mixen sich an diesem Ort, sind Teil der lokalen Kultur und aktiv an der Gestaltung des Zusammenlebens ihrer Akteure beteiligt. Dieses Bild réunionesischer Musikkultur hat zwei Ursprünge. Zum einen entstand es aus dem persönlichen Interesse von Alain Courbis, der bei seiner Ankunft auf La Réunion glaubte, etwas Besonderes vorgefunden zu haben. Ob dem so war, ist in diesem Zusammenhang unerheblich. Da er mittlerweile eine entscheidende Rolle bei der Vermarktung réunionesischer Musik spielt, hat er die Möglichkeit, seine eigene Wahrnehmung von damals auf internationaler Ebene als allgemeingültig zu manifestieren. Unterstützt wird er dabei durch eine Neugierde des World Music-Publikums, die seinem Interesse von damals ähnelt. Allerdings ist er mittlerweile der Experte für réunionesische Musik. Bezeichnender Weise wird La Réunion von ihm deshalb als ein Ort entworfen, der musikalisch noch unentdeckt ist. Die World Music-Szene muss La Réunion entdecken wie einst er selbst. Zentrale, zu entdeckende musikkulturelle Produkte der Insel sind in Courbis Augen Maloya und Séga. Auch wenn sich darin nicht alle Réunionesen gleichermaßen wiedererkennen, lassen diese Stile sich als charakteristische Musique Métissé vermarkten. Courbis beschreibt La Réunion entsprechend als unerforschte kulturelle Vermischung, als Culture Métissé. Entgegen der Kritik aus den Reihen junger réunionesischer Musiker, die sich anderer Stile bedienen, etwa Hip-Hop, und diese als tatsächlich aktuelle Musik La Réunions verstehen (Di Frey 26.05.03: 989), fördert der Pôle Régional des Musiques Actuelles deshalb vornehmlich Séga und Maloya. Diese Musik beschreibt Courbis im Verhältnis zu anderen Stilen als besonders wertvoll. Vor allem aber stößt sie auf Nachfrage,
38 MIDEM wird auf dessen Webseite als die weltweit größte Musikfachmesse beschrieben. Sie findet jährlich im Januar im französischen Cannes statt. Nähere Informationen sind zugänglich unter der URL: www.midem.com (Datum des letzten Besuchs: 13.09.09).
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weil sie für ein überregionales Publikum außerhalb La Réunions tatsächlich eine Musique Actuelle ist. In den vorangegangenen Abschnitten ist deutlich geworden, inwiefern Courbis Arbeit durch die World Music-Szene geprägt ist. Gleichzeitig beeinflusst Courbis die Musiktraditionen La Réunions, denn er fördert vor allem jene Musiker, die diesen Ansprüchen genügen. Andere Kulturschaffende haben es schwerer sich zu etablieren. Die Auseinandersetzung mit Kritikern wie etwa jungen Hip-Hop-Musikern mag Courbis ernst nehmen, zentrales Kriterium bei seiner Auswahl bleibt jedoch, dass im World Music-Kontext vor allem Musik Aufmerksamkeit erregt, die das exotische Image einer Tropeninsel transportiert. Daran muss Courbis sich orientieren: „Es ist eine tropische Insel, also erwarten die Menschen auch tropische Musik. Es stimmt, dass man einfacher Maloya und Séga exportieren kann, als réunionesische Gruppen, die andere Musik spielen, die man überall findet. Es ist zum Beispiel sehr schwierig für eine réunionesische Gruppe sich zu exportieren, die Rock oder Jazz oder Hip-Hop spielt, denn in der ganzen Welt macht man Rock, macht man Jazz, macht man Hip-Hop. Aber Séga und Maloya sind Musiken, die man nur hier findet. Deshalb stimmt es, dass auf den Festivals und generell außerhalb besonders Séga und Maloya gefragt sind.“ «C’est une île tropicale donc le public attend une musique tropicale. C’est vrai qu’on va plus facilement exporter le Maloya et le Séga que les groupes réunionnais qui pratiquent d’autres musiques qu’on trouve partout. C’est très difficile, par exemple, pour un groupe réunionnais qui fait du rock ou du jazz ou du hip-hop de s’exporter parce que dans le monde entier on fait du rock, on fait du jazz, on fait du hip-hop. Mais le Séga et le Maloya c’est des musiques qu’on ne trouve qu’ici. Donc déjà dans les festivals et sur les scènes à l’extérieur en général, c’est vrai que c’est surtout le Séga et le Maloya qui sont demandés.» (Courbis 15.04.03: 83–90)
Alain Courbis betont, dass La Réunion regional in den tropischen Breiten des Indischen Ozeans verankert ist. Politisch ist die Insel jedoch ein Teil Frankreichs. Produzenten und Konsumenten müssen deshalb auf ihre musikkulturelle Besonderheit aufmerksam gemacht werden. La Réunion braucht dafür bestimmte Markenzeichen, Séga und Maloya, die ihre Musikkultur als etwas ausweisen, das sich jenseits kontinental-französischer Maßstäbe entwickelt hat. Bei der Verbreitung réunionesischer Musik auf dem World Music-Markt geht es um das Geschäft. Musik provoziert jedoch auch eine Öffnung und Verknüpfung der lokalen Musikkultur mit anderen musikkulturellen Kontexten und damit eine Repräsentation La Réunions als kulturell eigenständig. Entsprechend häufig betont Courbis in unseren Gesprächen die „dix mille kilomètres“, die La Réunion von Kontinental-Frankreich trennen und ein Grund dafür seien, dass es schwer bleibe, sich auf der Insel als Franzose zu fühlen. Gerade die in vielerlei Kontexten sonst für ihre „Universalität“ hervorgehobene
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Musik macht in diesem Fall die kulturellen Unterschiede deutlich.39 Im World Music-Kontext geht es zwar nicht um eine politische Differenz zwischen Kontinental-Frankreich und La Réunion. Das Problem ist jedoch nicht minder existenziell. Als Musikkultur muss La Réunion eigenständig erscheinen, damit ihre Akteure auf internationaler Ebene konkurrieren können. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass La Réunion von anderen Musikern im Indischen Ozeans, etwa aus Mauritius, Madagaskar oder den Komoren, vornehmlich als Teil Europas wahrgenommen wird (Courbis 15.04.03: 244). Durch ihre besondere wirtschaftliche Situation, die umfassende ärztliche Versorgung und das Bildungsangebot ist die Insel mit keinem anderen Ort dieser Region vergleichbar. Daraus ergibt sich, dass der PRMA nicht allein mit Anfragen an Orte und Produzenten in Kontinental-Frankreich beschäftigt ist, um réunionesischen Musikern Auftrittsmöglichkeiten zu vermitteln. Auch Musiker aus der Region Indischer Ozean versuchen über La Réunion und den PRMA bekannt zu werden. In diesem abschließenden Punkt wird nochmals deutlich, welche Anforderungen die Arbeit im PRMA an die Verantwortlichen stellen. Nagès, Courbis und andere entscheiden, was überregional als erhaltenswerte musikkulturelle Tradition gilt und was nicht, und dies nicht allein für Musik aus La Réunion, sondern darüber hinaus aus anderen Teilen der Region Indischer Ozean. Weiterhin ist es ihre Aufgabe réunionesische Kultur als eigenständig darzustellen, damit Musiker auf einem überregionalen World Music-Markt mit anderen Künstlern erfolgreich konkurrieren können. Das persönliche Interesse von Nadège Nagès und Alain Courbis an der Musikkultur La Réunions, an bestimmten Musikern und ihren Geschichten, vermischt sich hierbei mit den Anforderungen an ihre Institution und den genannten überregionalen Kriterien von Besonderheit und Exotik. Auf diese musikalische Vermischung von lokalem, teilweise persönlichem Interesse mit überregionalen Kriterien und den daraus resultierenden Konflikten werde ich im Folgenden eingehen. Ich betrachte hierfür unterschiedliche Darstellungsweisen jener zwei bereits erwähnter Musikstile, die überregional als Referenzen für die Besonderheit réunionesischer Musikkultur dienen, Séga und Maloya. Nagès und Courbis haben eigene Wege gefunden, sich mit réunionesischer Kultur im Verweis auf diese Stile zu identifizieren. Für beide ist die Musik sowohl Arbeit, als auch identitätsstiftendes Medium. Was also vermitteln ihrer Ansicht nach Séga und Maloya? Was ist ihrer Ansicht nach das Besondere an réunionesischer Musiktradition?
39 Was Universalität betrifft, erklärte etwa der damalige FIFA-Präsident Sepp Blatter in einem ZDF-Interview zur WM 2006: „Es gibt nur ein Einziges, was in Bezug auf Universalität mit dem Fußball konkurrieren kann. Das ist die Musik.“
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Zwischen Vermarktung, Verpflichtung und Vorlieben
Im vorangegangenen Abschnitt habe ich deutlich gemacht, dass der in den 1980er Jahren einsetzende kulturpolitische Wandel in Frankreich entscheidende Auswirkungen für Musiker auf La Réunion nach sich zog. Ein Ergebnis waren eine Vielzahl neuer Vereine und Institutionen, die sich die Weiterentwicklung réunionesischer Musik zur Aufgabe machten, allen voran der PRMA. Von diesem werden Musiker zunehmend angeleitet, sich und ihre Musik entsprechend internationaler Kriterien darzustellen. Nadège Nagès entwirft in diesem Zusammenhang idealisierende Geschichten über eine vergangene réunionesische Kultur, in denen sie ihre Aufgabe beim PRMA mit persönlichen Erinnerungen verknüpft: „Ich hatte noch meine Großeltern, die immer viel Musik im Radio hörten, im l’O.R.T.F.! Heute R.F.O. (Radio France Outre-Mer). Im O.R.T.F. spielten sie die alten, alten Ségas: André Maurice, glaube ich, gab es bereits. Für uns war das normal. Wenn wir bei den Großeltern waren, war das Radio bereits um 5.00 Uhr morgens eingeschaltet. Man stand mit der Musik auf. Um halb sechs waren alle Kinder wach. Versuch mal heute deine Kinder um sechs aufzuwecken. Das schaffst du nicht! Warum? Weil sie schlapp sind. Sie sind müde. Wir wurden vom Radio und vom Duft des Café Grillée geweckt. Mittlerweile weiß ich was mich an diesen alten Ségas berührt hat: Es war sehr tanzbare Musik. Man bewegte sich. Sobald man einen Rhythmus hörte, bewegte man sich dazu. Doch heute finde ich diesen Charme nicht wieder!“ «J’avais encore mes grands-parents qui écoutaient aussi beaucoup de musique à la radio, à l’O.R.T.F.! C’est maintenant donc R.F.O.. À l’O.R.T.F. ils passaient des vieux vieux Ségas: André Maurice, je pense qu’il était déjà là. Nous on avait l’habitude. Quand on était chez les grands-parents la radio était allumée à partir de cinq heures du matin. On se réveillait avec la musique! À cinq heures et demie tous les enfants étaient debout. Aujourd’hui, va faire réveiller ton gamin à six heures, tu ne peux pas. Pourquoi? Parce qu’ils sont nazes. Ils sont fatigués. Nous on était réveillés par la radio et par l’odeur du café grillée! Maintenant, je peux pas te dire vraiment ce qui m’interpellait là-dedans, dans les Ségas d’avant. Mais c’était une musique très dansante! On bougeait. Dès qu’il y avait un rythme on arrivait à bouger dessus et aujourd’hui non! Je n’arrive pas à retrouver ce charme!» (Nagès 09.09.03: 174–190. Zusatz von C.W.)
Nagès Kindheitserinnerungen prägen ihr Empfinden kultureller Veränderungen auf La Réunion. Sie beschreibt musikalisch, was eine vergangene réunionesische Gemeinschaft von der heutigen unterscheidet. Musik war für sie in ihrer Jugend rhythmischer, hatte einen anderen Charme und somit eine andere Wirkung auf die Menschen. Es sei normal gewesen, von früh bis spät Ségamusik im Radio zu hören. Musik war damals bereits Teil ihres Alltags. Sie lieferte eine Energie, die Kinder und Jugendliche um 5.00 Uhr morgens aus den Betten holte.
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Diese musikalischen Erinnerungen sind mit einem friedvollen, gemeinschaftlichen Bild La Réunions verknüpft, das in den Augen Nagès verloren gegangen ist, ebenso wie die Musik, die ihren damaligen Alltag begleitete. Eine solch melancholische Haltung teilt Alain Courbis nicht, denn er hat keine Kindheitserinnerungen an La Réunion. Sein Wunsch die réunionesische Musikkultur zu fördern, hat für ihn einen anderen Grund: „Ich kam 1980 an. Ich hatte vorher fünf Jahre in Afrika verbracht. Ich kam aus Afrika direkt nach La Réunion. Ich wollte Richtung Asien weiterreisen, Richtung Indien, doch sofort bei meiner Ankunft auf La Réunion hatte mich diese Mélange afrikanischer, asiatischer, europäischer Kulturen erwischt. Das ist schwer zu erklären. Es ist nicht leicht La Réunion zu verstehen, wenn man gerade ankommt. Die réunionesische Gesellschaft ist sehr kompliziert, mit all dieser Mélange … die Funktionsweise der Gesellschaft. Man ist Franzose, aber 10.000 Kilometer von Paris entfernt, mit dieser Mélange von Kulturen … und das hat mir sehr gefallen.“ «Je suis arrivé en 1980. J’avais passé cinq ans en Afrique avant. Je venais d’Afrique directement à La Réunion. Je voulais continuer de voyager vers l’Asie, vers l’Inde et puis j’ai été frappé en arrivant à La Réunion par ce mélange des cultures africaine, asiatique, européenne … Il y avait quelque chose qui m’a retenu à La Réunion. C’est très difficile à expliquer. C’est pas facile de comprendre La Réunion au début quand on arrive. C’est très compliqué la société réunionnaise avec tout ce mélange … le fonctionnement de la société. On est Français, mais à 10.000 kilomètres de Paris avec ce mélange des cultures … Et ça m’a beaucoup plu.» (Courbis 15.04.03: 190–198)
Alain Courbis bewegte seine Suche nach musikkulturellen Phänomenen dazu auf La Réunion zu bleiben, ähnlich wie Jean Pierre La Selve. Courbis sah jedoch die Verbindung der lokalen Musik mit den gesellschafts- und kulturpolitischen Problemen der kreolischen Insel, den Konflikt zwischen Frankreich als Zentrum und Réunion als Peripherie. Dieser faszinierte ihn ebenso wie die Musik. Eine Gegenüberstellung von Nagès und Courbis Erzählungen macht sichtbar, dass seit den 1980er Jahren eine Vielzahl an Lebenserfahrungen, Lebensentwürfen, Lebensgeschichten Einzug in die lokale Musikkultur hielten. Courbis ist ein Beispiel dafür, inwiefern seit 1980 das Interesse an réunionesischer Musik gewachsen ist. Ihn hält dieses Interesse seit über 25 Jahren auf der Insel. Es hat ihn zu einem ihrer zentralen musikkulturellen Akteure gemacht. Seitdem er nach La Réunion gekommen ist, hat Courbis seine Erlebnisse der Besonderheiten der lokalen Kultur mit seinen Erfahrungen als Journalist und seinem Verständnis überregionaler Musikszenen in Einklang gebracht und daraus ein Bild und sich selbst einen Beruf geschaffen, mit dem er die Musik überregional vermarktet. Er repräsentiert nicht nur die réunionesische Musik, sondern trifft eine Auswahl, die seine Identifikation mit ihr widerspiegelt. Die Gründe für seine intensive Beschäftigung mit réunionesischer Musik belegt der Direktor des
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PRMA mit persönlichen Attributen: Neugierde, dem Wunsch zu reisen und unabhängig zu sein und eine lokale Musik schützen zu wollen. Courbis persönliche Geschichte, als Musiker und Journalist auf der Suche nach dem Besonderen, ist demnach mit seiner Arbeit verwachsen. Heute verändert er réunionesische Musiktradition, denn, wie weiter oben bereits ausgeführt, unterstützt er einige Musikstile und Musiker, andere aber nicht. Er trifft eine Auswahl, die er mit persönlicher Erfahrung und stets beeindruckenden Geschichten über für ihn wichtige réunionesische Musiker belegt. Von diesen Geschichten werde ich nachstehend eine wiedergeben. Sie handelt vom Auftritt Firmin Virys vor Abgesandten der französischen Regierung. Viry und die Funktionäre Als 1974 das Office Départemental de la Culture (ODC) kontinentalfranzösische Kulturfunktionäre nach La Réunion einlud, gab Firmin Viry ihnen zu Ehren ein Maloya-Konzert im neu entstandenen Théâtre de Plein Air in St. Gilles, der größten bestuhlten Freilichtbühne La Réunions mit etwa 1200 Sitzplätzen. Die PCR hatte noch nicht den Popularitätsgrad erreicht, den sie sich für die Verbreitung ihres Mot d’Ordre „Autonomie“ wünschte. Deshalb unterstützte sie François Mitterrands erste Präsidentschaftskandidatur, in der Hoffnung auf Dezentralisierungsmaßnahmen, die der Region mehr Eigenverantwortung übertragen hätten. So kam es, dass Firmin Viry seine politischen Texte („La Troupe Résistance larivé“, CD Titel 16) auf einer großen Bühne und vor einem Publikum von Regierungsvertretern aus Kontinental-Frankreich vortrug. Glücklicherweise verstanden die Funktionäre kein Kréol-Réunionnais. Diese Geschichte ist zu einem musikkulturellen Mythos geworden. 25 Jahre nach Virys Auftritt saßen Alain Courbis und ich in seinem Büro, vollgestellt mit CD-Regalen, Katalogen, Postern und anderem Informationsmaterial. Bevor er seine Position hinter dem imposanten Schreibtisch eingenommen hatte, arbeitete er als Berichterstatter für kontinental-französische Zeitungen, L’Observateur und Le Monde. Mittlerweile ist er der wichtigste Vertreter réunionesischer Musik in überregionalen Kontexten. Er fliegt zu World Music-Messen, trifft Journalisten und schafft Kontakte zu internationalen Festivals. Für diese Kontexte ist seine Geschichte gemacht. Sie positioniert die Musik La Réunions und ihre Musiker in einem lukrativen Bild musikkulturellen Widerstands. Mit ihr erläutert Courbis Ziele, die er sich und dem PRMA gesetzt hat. Dazu gehört die Erhaltung der réunionesischen Musiktradition und was an ihr seiner Ansicht nach so bedeutsam ist, dass sie sich zu erhalten lohnt. Firmin Virys Geschichte ist in diesem Zusammenhang reizvoll. Sie erzählt von Unterdrückung und Widerstand, die Grundlage eines Images sind, das sich in World Music-Kontexten gut vermarkten lässt. Courbis führt die Geschichte réunionesischer Musiktradition im Verweis auf Firmin Viry fort. Bei unserem Treffen berichtete er mir, wie dieser unter Lkw-Planen auf die Fêtes de
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Témoignages geschmuggelt worden sei, ganz wie zuvor Viry es mir selbst erzählt hatte. Durch solche Verweise verändert sich die réunionesische Musiktradition. In ihr gewinnt der Widerstand, repräsentiert durch Maloyamusik an Bedeutung, während die friedvolle Stimmung des Séga, an die Nagès sich erinnert, in Vergessenheit gerät. Maloyamusik war, wie die Geschichte von Virys heimlichen Wegen zu seinen Konzerten es belegen sollen, in den 1970er Jahren zwar nicht offiziell verboten, doch die damals ausschließlich staatlichen Radiostationen der Insel spielten keinen Maloya. Erst nach 1980 kam es zu einer Öffnung. Konzerte wie Virys Auftritt im Théâtre de Plein Air waren nicht mehr die Ausnahme, und Maloyamusik war vermehrt im Radio zu hören: „All die Kreativität réunionesischer Musik der 1980er Jahre war auf den Maloya konzentriert, denn das war wie eine Befreiung.“ «Toute la création musicale réunionnaise des années 80 a été concentrée sur le Maloya, parce que c’était comme une liberation.» (Courbis 15.04.03: 148–149)
In den folgenden Jahren nahmen Plattenproduktionen drastisch zu. Musiker begannen, Maloya mit anderen Stilen zu vermischen. Vor allem Fusion-, Jazz- und Rock-Elemente waren populär. Die traditionelle Maloyamusik von Firmin Viry und Danyèl Waro wurde durch Stilkreationen erweitert, etwa den Maloya Électrique. Beeinflusst von Gruppen wie Led Zeppelin, The Who und Jimi Hendrix vermischte der Sänger und Gitarrist Ti Fock darin traditionelle Instrumente mit Schlagzeug, E-Bass und E-Gitarre (vgl. Ladauge 1997: 28ff.). Entgegen dieser Entwicklung des Maloya zum World Music-Stil und réunionesischen Genre, wurde der Séga in seiner traditionellen Variante zunehmend für Touristen gespielt oder für den réunionesischen Markt mit dem Variété Française zusammengeführt. Es entstand eine im Lokalen erfolgreiche kreolréunionesische Schlagermusik mit einem exotischen Image, das La Selve im weiter oben angeführten Zitat beschreibt. Darin ist die Musik von kontinentalfranzösischen Verweisen durchsetzt und die gesungene Sprache, das KréolRéunionnais, nach französischer Wortwahl, Satzbau und Aussprache ausgerichtet. Courbis kritisiert, dass Akteure dieses Stils, des Séga Variété, nicht an einer Weiterentwicklung lokaler Stile interessiert gewesen seien: „Es gab die Folkloregruppen, die in Hotels spielten und dort ein exotisches Bild des Séga wiedergaben. Aber es gab keine wirkliche Kreativität, keine wirkliche Forschung.“ «Il y avait les troupes folkloriques qui jouaient dans des hôtels, qui entretenaient une
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image exotique du Séga, mais pas tellement de création, pas tellement de recherche.» (Courbis 15.04.03: 161–163)
Doch Kreativität und Suche nach Besonderheiten sind unter World MusicKriterien interessant und förderungswürdig. Einerseits unterstreicht Courbis in seinen Ausführungen deshalb das unausgeschöpfte Potenzial réunionesischer Musikkultur. Andererseits bemängelt er, Traditionen würden im Séga vernachlässigt, weil Musiker darin kontinental-französische Maßstäbe bevorzugen oder bewusst exotische Bilder für Touristen produzierten. Für die überregionale Ausrichtung des PRMA ist Ségamusik deshalb uninteressant. Das Besondere im World Music-Kontext ist das Andere und Exotische. Die lokale Musikkultur muss bei all ihrer Besonderheit jedoch ausreichend Identifikationsfläche für ein Publikum auf der Suche nach alternativen Lebenswelten bieten. Auf La Réunion ist dies die Musikgeschichte des erfolgreichen Widerstands. Herausragender Vertreter der kreativen Weiterentwicklung dieser réunionesischen Musiktradition bleibt für Alain Courbis einer der sich selbst ernannten Militant Culturel, Danyèl Waro. Courbis Geschichte über Viry, der auf den Fêtes de Témoignages kulturpolitische Kreativität in Musik bündelte und einen Darstellungswillen bei jungen Zuhörern provozierte, braucht musikalische Belege. Sie braucht Musiker, die diese Tradition fortsetzen. Zu diesen zählt Danyèl Waro. Er trägt das Image desjenigen fort, der réunionesische Kultur besonders eigenwillig, ungeschönt, mit politischen Anspruch und revolutionärer Energie verkörpert. Danyèl Waros Geschichte schließt an Firmin Virys Auftritte an. So wurde mir gegenüber nicht nur immer wieder betont, dass Waro ein Wehrdienstverweigerer gewesen sei, der deshalb ins Gefängnis nach Kontinental-Frankreich ging und dort, inspiriert von der Musik George Brassens, begann, eigene Texte in Kréol-Réunionnais zu schreiben. Eine andere Geschichte ist, dass Waro nach der Wahl Mitterrands ein spontanes Freudenkonzert in St. Denis gab, bei dem er wegen Ruhestörung verhaftet wurde. Damit ist Waro ein direkter Nachkömmling der Fêtes de Témoignages, und er ist es nicht. Die PCR unterstützte mit ihren Fêtes in den 1960er Jahren die musikkulturelle Suche nach authentisch réunionesischer Tradition. Dies besetzte den Maloya mit einer, wie der Historiker Michel-Rolph Trouillot es in seiner Arbeit über die haitische Revolution es nennt, „retrospective significance“ (Trouillot 1995: 59). Die traditionelle Bedeutung des Musikstils wurde durch die Arbeit der Partei umgeschrieben. Dieser von der PCR begonnene Prozess der Affirmation einer lokalen Kultur durch Musik wurde nach der Wahl Mitterrands von réunionesischen Militants Culturels weitergeführt und später von einer globalen Kulturindustrie aufgegriffen, der World Music. Waro hat sich zwar immer dagegen gewehrt, von der PCR als Symbolfigur für ihre politischen Interessen benutzt zu werden. Da jedoch im World Music-Kontext nicht mehr ein politisches Ziel durchgesetzt, sondern réunionesische Musikkultur marktwirksam dargestellt
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werden soll, ist er trotzdem zu einem solchen Symbol geworden. Wie Steven Feld formuliert, waren es … “… the turbulence of independence movements, anti-colonial demonstrations, and the powerful nationalist struggles of the late 1950s and early 1960s in Africa, Asia, and Latin America that fuelled this marketplace creation of and commercial desire for authentic (and often nostalgic) musical elsewheres.” (Feld 2000: 148)
Es wird deutlich, warum Maloyamusik in überregionalen Kontexten besser zu vermarkten ist als Séga. Der Stil wirkt revolutionärer, eine Erkenntnis, die Alain Courbis Prognosen über die musikkulturelle Weiterentwicklung La Réunions nachhaltig beeinflusst. Seine Aufgabe ist es, in World Music-Kontexten auf die Musik der Insel aufmerksam zu machen. Dafür eignet es sich, jene turbulenten Momente herauszustellen, die Steven Feld beschreibt. Doch die Bevölkerung und Geschichte La Réunions haben sich unter dem Einfluss der Assimilationspolitik Frankreichs entwickelt. Es hat auf der Insel keine Revolution gegeben, deren Bedeutung herausgearbeitet werden könnte, wie etwa für die Entwicklung Haitis (vgl. Trouillot 1995).Die Suche nach einer marktwirksamen musikkulturellen Identität für die Insel und ihre Musiker bleibt deshalb zentrales Anliegen von Kulturschaffenden in Institutionen wie dem PRMA. Sie sind im wahrsten Sinne des Wortes „Kulturschaffende“, denn sie unterstützen auch musikkulturelle Identitätskonstruktionen von Künstlern, deren Geschichten nicht unbedingt für La Réunion kulturpolitisch relevant sind, sich aber überregional gut vermarkten lassen. Das Interesse eines World Music-Publikums an Exotik, Andersartigkeit und Widerstand unterstützt Musiker, die auf der Suche nach réunionesischen Besonderheiten in Abgrenzung von Kontinental-Frankreich sind. Während ein Image generiert wird, dass ein Interesse an musikkultureller Kreativität in den Vordergrund stellt, wirkt sich diese überregionale Ausrichtung auf die historische Wahrnehmung der Insel aus. Was als réunionesische Geschichte dargestellt wird, bestimmen nicht mehr allein die Musiker mit ihrem Wissen um die Musiktradition, aus der sie kommen, sondern auch der Markt. Marktwirksames Musizieren im Château Morange Der Wandel von der kulturpolitischen zur marktstrategischen Inszenierung réunionesischer Musiktradition begann Anfang der 1980er Jahre. Die als herausragend dargestellte musikkulturelle Kreativität La Réunions, die „création populaire“, wurde damals vom französischen Kultusminister Jack Lang unterstützt.40 Er 40 Eine Darstellung dieser Entwicklung der kulturpolitischen Arbeit in Frankreich findet sich unter der URL: http://enfa.mip.educagri.fr/agri-culture/esc@les/1gap/Cult&Terr/etatculture.html (Datum des letzten Besuchs: 24.08.2008).
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war für die Umsetzung des Dezentralisierungsprojekts zuständig und gab den 1977 gegründeten Directions Régionales des Affaires Culturelles (DRAC) mehr Freiraum zum Ausbau der lokalen Kulturarbeit. Kulturpolitische Institutionen auf La Réunion profitierten von den Ideen junger Musiker, die ihre Suche nach der eigenen Identität musikalisch vertonten. Ihre Themen basierten nicht allein auf politischen Ideologien und dem Ausloten kultureller Differenzen zwischen La Réunion und Kontinental-Frankreich. Regierungen nutzt Musik auch in der Jugend- und Sozialarbeit. Zudem geriet die réunionesische Musikproduktion mit dem Aufkommen des World Music-Labels unter den Einfluss marktstrategischer Ideologien des Nordens. Joceline Guilbault bemerkt in diesem Zusammenhang und bezogen auf eine andere kreolische Musik, den Zouk der Antillen: “The ways in which the new category (World Music) is constructed tells us little about what it actually ‘contains’ and far more about the orientations of the people making up this category, and how their positions of power are informed by a EuroAmerican (post)colonial centric vision.” (Guilbault 1996. Zusatz von C.W.)
Im vorangegangenen Abschnitt wurde deutlich, wie eng Alain Courbis mit dem Aufkommen des World Music-Labels auf La Réunion verbunden ist. Eine weitere Person, die mit ihm gemeinsam die kulturpolitische und marktstrategische Weiterentwicklung der Musikszene geprägt hat, ist Paul Mazaka. Unter seiner Führung entstand das erste réunionesische Festival von überregionaler Bedeutung, das Festival Château Morange. Mit der von Guilbault beschriebenen „(post)colonial centric vision“ von Produzenten und Journalisten aus Kontinental-Frankreich entwickelte sich auf diesem Festival Anfang der 1980er Jahre ein überregionales Interesse an réunionesischer Musik. Courbis sieht Château Morange deshalb als einen Schlüsselmoment in der réunionesischen Musikgeschichte. Nicht allein, weil es das überregionale Interesse an der lokalen Musikproduktion geweckt habe, sondern zudem erstmals Jugendlichen einen Raum lieferte, sich musikalisch auszudrücken – ein Bedürfnis, das seiner Ansicht nach weiter bestehe: „Die Bevölkerung La Réunions ist sehr jung. 50% sind unter 25 Jahre alt. Die Jugend hat keine Arbeit. 40% der aktiven Bevölkerung sind arbeitslos. Die Jugend braucht etwas um sich auszudrücken, denn es ist sehr schwer auf einer Insel französisch zu sein, die 10.000 Kilometer von Paris entfernt, nah an Afrika liegt – mit Indern, Chinesen, Afrikanern. Eine Mélange von Kulturen, die selbst die Réunionesen nicht immer verstehen. Deshalb diese Notwendigkeit sich auszudrücken, diese Notwendigkeit seine Identität zu finden, seine Kultur zu erforschen. Und das erklärt, glaube ich, die enorme Entwicklung der Musik in den 90er Jahren.“
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«La population de La Réunion est très jeune. 50% de la population a moins de 25 ans. Les jeunes n’ont pas de travail. 40% de la population active est au chômage. Les jeunes ont besoin de s’exprimer parce que c’est vrai, c’est très difficile d’être français sur une île a 10.000 kilomètres de Paris près de l’Afrique – avec des Indiens, des Chinois, des Africains. Un Mélange des cultures que même les Réunionnais ne comprennent pas toujours. Donc, un besoin de s’exprimer, un besoin de trouver son identité, de rechercher sa propre culture. Et donc tous ça explique, je pense, le gros développement de la musique dans les années 90.» (Courbis 15.04.03: 365–373)
Der von Courbis beschriebene Wunsch Jugendlicher sich auszudrücken, wurde Mitte der 1980er Jahre dafür genutzt, musikkulturelle Projekte ins Leben zu rufen, darunter Château Morange. Das Festival fand im gleichnamigen Jugendzentrum in Camelias statt, einem Sozialwohnungsviertel im nördlichen St. Denis. Paul Mazaka gab dort Anfang der 1980er Jahre Gitarrenunterricht und gründete es, um seinen Schülern und anderen jungen réunionesischen Musikgruppen eine Auftrittsmöglichkeit zu bieten. In den folgenden Jahren lud Mazaka Künstler aus der Region Indischer Ozean und Afrika hinzu. Es entwickelte sich ein alle zwei Jahre stattfindendes internationales Festival. Alain Courbis beschrieb mir Château Morange als den Beginn einer Suche nach réunionesischen Musiktraditionen. Diese sei von der Idee angestoßen worden, Jugendlichen eine Möglichkeit zu bieten, sich einer Aufgabe zu widmen, die ihre Persönlichkeit fördern sollte. Sie sollten ihre lokale Kultur bei Auftritten vertreten und sich dadurch in ihrer Identität gestärkt fühlen. Die überregionale Bekanntheit Château Moranges ist ein Indiz für den Erfolg dieser kulturpolitisch motivierten Jugendarbeit. Die Bedeutung des Musikmachens als Kreativpol und Organ einer lokalen Jugendbewegung wuchs weiter, denn das Festival wurde zum Ausgangspunkt für eine sich schnell entwickelnde Musikszene jenseits kulturpolitischer Kämpfe gegen Kontinental-Frankreich. Es entstanden weitere Projekte, die ihren Höhepunkt in der Schaffung und Finanzierung eines Contrat Emploi Solidarité (CES) fanden: „Wir haben eine Ausbildungsstätte eingerichtet, die sich CES Musique nannte und 400 jungen Réunionesen die Möglichkeit gab, sich für zwei Jahre musikalisch weiterzubilden. Viele Gruppen sind damals entstanden, 1990, 91, 92. Das hat drei Jahre angedauert. Es war einzigartig in Frankreich. Und es war damals, dass eine neue Musikrichtung entstand, der Maloggae: eine Mélange Maloya/Reggae, die vom Séggae inspiriert war. Auf Mauritius entstand Ende der 1980er Jahre mit Kaya der Séggae als Mélange aus Séga und Reggae […] und auf La Réunion wurde daraus Maloggae, der den Anfang einer sehr populären Musikrichtung auf La Réunion machte, die den Aufnahmestudios Arbeit gab und dazu führte, dass sich eine kleine Plattenindustrie entwickelte. Discorama, die einer der großen Produzenten auf La Réunion war, gründete sich in dieser Zeit Dank der Entwicklung des Maloggae-Stils. Das waren die ersten CDs nach den Langspielplatten.“
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«On a mis en place une formation musicale qui s’appelait le CES Musique, qui a permis à 400 jeunes Réunionnais de se former dans la domaine de la musique pendant deux ans. Et beaucoup des groupes ont été crées à ce moment-là 1990, 91, 92. Ca a duré pendant trois ans. C’était unique en France. Et c’est à partir de ce moment là qu’est né un nouveau courant musical qu’on a appelé le Malloggae: une Mélange Maloya/Reggae qui était inspiré lui même du Séggae. À Maurice, à la fin des années 80, il a eu le Séggae Mélange Séga/Reggae avec Kaya […] et c’est devenu à La Réunion le Maloggae, qui était le début d’un courant très populaire à La Réunion. Qui a permis à des studios de travailler, de créer une petite industrie du disque. Discorama, qui était un des gros producteurs à La Réunion, est né à cette époque-là, qui se développait grâce au courant du Maloggae. C’étaient les premiers CDs après les 33tours, après les disques vinyle.» (Courbis 15.04.03: 290–302)
Courbis beschreibt in diesem Interviewauszug abermals das zentrale Ergebnis der Jugendarbeit auf Château Morange: die beginnende, überregionale Vernetzung der lokalen Musikkultur. Mit dem CES brachten Jugendliche auch andere Musikstile nach La Réunion. Der Einfluss des mauritischen Séggae auf den réunionesischen Maloya etwa, verknüpft die lokale Musikgeschichte mit einem ebenfalls kreolischen Kontext, dem der Nachbarinsel. Initiiert durch den Erfolg des Sängers Kaya, ähneln sich Séggae aus Mauritius und Malloggae aus La Réunion im revendikativen Image ihrer Musiker gegenüber kulturpolitischen Machtmechanismen einer mauritischen beziehungsweise kontinentalfranzösischen Regierung. Die Beweggründe zur Förderung einer solchen Musik hatten sich Ende der 1980er Jahre verändert. Réunionesische Musiker, die dieses Image verkörperten, wurden gesucht. Die Vorstellung von einer réunionesischen Musik, die sich aus der Kreolisierung entwickelt hatte, nunmehr jedoch als abgeschlossen galt, wurde von Jugendlichen durchkreuzt. Denn sie setzten die Kreolisierung der Musik fort, indem sie den Maloya mit Séggae aus Mauritius vermischten. Während Château Morange einerseits die Kreativität réunionesischer Musiker freisetzte, musste die existierende Kreativität einer bestehenden Maloya- und Ségatradition nunmehr geschützt werden. Denn im Übergang von einer kulturpolitischen zu einer marktstrategischen Ausrichtung der Musikszene ist fortwährende Vermischung und damit Veränderung, so kreativ sie auch sei, nur so lange gewollt, wie sie für einen überregionalen Musikmarkt attraktiv bleibt. Wenn Musiker die Bedeutung lokaler Traditionen neu verhandeln, sie mit anderen Stilen mischen oder auch verwerfen, hat dies unterschiedliche Konsequenzen. Zum einen entstehen andere musikkulturelle Grenzen, die trotz des Interesses an Vermischung hervorgehoben werden, um die lokale Musiktradition weiterhin als authentisch inszenieren zu können. Zum anderen werden buchstäblich „verlorene Schätze“ der Musikkultur La Réunions in die Gegenwart zurückgeholt. Lokale Musiktradition wird für den World Music-Markt nicht allein erfunden und beschützt, sondern umgeschrieben. Geschichte wird nach überregio-
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nalen Kriterien neu erzählt. Dieser tiefgreifende Einfluss marktstrategischer Faktoren auf die Musikkultur La Réunions wird im folgenden Beispiel ersichtlich, der Geschichte des réunionesischen Sängers Alain Peters (CD Titel 1). Alain Peters: Das wiederentdeckte Genie Einige réunionesische Musiker erfahren im World Music-Kontext posthum eine Wertschätzung, die ihnen zeitlebens von der lokalen Bevölkerung niemals entgegengebracht wurde. Der réunionesische Sänger Alain Peters ist ein Beispiel dieser wiederentdeckten Musiker. Seine „retrospective significance“ macht deutlich, dass weiterhin nicht nur die Geschichte réunionesischer Musik, sondern auch die der Musiker umgeschrieben werden. Während meiner Feldforschung wurde mir Alain Peters als réunionesischer Sänger und Songwriter vorgestellt – ein vergessenes Genie, das vom PRMA wiederentdeckt und in einer CD-Produktion mit dem Titel Parabolèr: Hommage à Alain Peters einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. Nadège Nagès verbrachte in der Zeit von Alain Peters ihre Teenagerjahre. Sie beschrieb sie mir voller Gemeinschaft und Abenteuer mit Freunden, die dazu beitrugen, dass sie immer in Bewegung gewesen wäre und viele kleine, teilweise inoffiziell und versteckt stattfindende Konzerte besuchte (Nagès 09.09.03: 334). Zu diesen Konzerten gehörten auch Auftritte des Sängers Alain Peters mit seiner Band Caroussel. Nagès erzählte mir, dass diese Auftritte, die Inhalte seiner Texte und die poetische Wahl seiner Worte für sie und viele andere ihrer Generation prägend gewesen seien. Das vom PRMA in Erinnerung an Peters veröffentlichte Album Parabolèr spiegelt ihrer Meinung nach deshalb nicht nur seine, sondern einen Teil der Geschichte vieler Bewohner La Réunions wider. Allerdings wird Nagès dies erst rückwirkend, mit der Arbeit an der Platte bewusst: „Als man anfing, mir von ihm zu erzählen sagte ich: ‚Aber wer ist das?‘ Ich kannte ihn nicht. Auch wenn ich ihn vielleicht schon mal gehört hatte. Aber ich wusste nicht wirklich, wer er war! […] Er sang mit Carrousel und meine Freunde ließen mich Carrousel entdecken. Ich kannte sie nicht und damit war es genauso: als ich die Band hörte, sagte ich: ‚Aber das ist ja unglaublich!‘ Ich sagte: ‚Man kann ja wirklich gute Musik hier auf La Réunion machen. Es gibt wirkliche Bands!‘ Aber man sollte hinzufügen, dass das die Gruppen von damals waren. Das sind die Gruppen von früher! […] Das war, man könnte sagen, noch sehr poetisch! Wenn sie sangen, waren das sehr einfühlsame Texte. Heute nicht mehr! Das macht es mir etwas schwer.“ «Quand on a commencé à me parler de mec j’ai dit: ‹Mais c’est qui?› Je le connaissais pas. Même si je l’avais écouté avant. Mais je savais pas vraiment qui c’était! […] Il chantait avec Carrousel et c’étaient mes copains qui m’avaient découvert Carrousel. Je connaissais pas et c’est pareil quand j’ai écouté ce groupe j’ai dit: ‹Mais c’est incroyable!› J’ai dit: ‹Mais on peut faire de la très bonne musique ici à La Réunion. Y’a vraiment des groupes.› Mais on va dire que c’est les groupes d’antan! C’est des grou-
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pes d’avant! […] C’était encore, on va dire, très poétique! Quand il chantait c’était des paroles sensées! Aujourd’hui non! J’ai un peu de mal.» (Nagès 09.09.03: 778–800)
Alain Peters symbolisiert eine vergangene Musikergeneration, mit der Nagès sich identifiziert, an die sie sich jedoch erst erinnert, als ihr Jahre später davon erzählt wird. Nun schwärmt sie von der Poesie in Peters Texten und schildert ihre damalige Begeisterung und ihr Erstaunen darüber, was für großartige Musik auf La Réunion gemacht werden könne. Zur Zeit Château Moranges, der Austauschbörse für Produzenten aus Kontinental-Frankreich mit Musikern aus La Réunion, existierte demnach eine musikkulturelle Parallelwelt, die durch den Mythos „Alain Peters“ wieder in Erinnerung gerufen wird. Rückblickend symbolisiert Peters für Nagès jene besondere Kreativität, die es auf La Réunion gibt, die Château Morange hervorgebracht hat und die beschützt werden muss. Die Musik Peters ist für Nagès ein besonderer Teil der musikkulturellen Entwicklung La Réunions. Dass sie in Vergessenheit geraten konnte, ist für sie eine Warnung. Andere Bands aus der Zeit Alain Peters existieren weiter. Zwei von ihnen, Ziskakan und Bastèr, werde ich später ausführlicher beschreiben. Ihre Musik hat sich jedoch verändert. Die Lieder von Alain Peters sind gleich geblieben, nicht zuletzt weil er 1995 gestorben ist und sich bereits Jahre zuvor aus dem aktiven Musikgeschäft zurückgezogen hatte. Der Wandel, den Bands aus dieser Zeit mittlerweile vollziehen, ist für Nagès daran zu erkennen, dass ihre Musik nicht die gleiche Poesie ausdrückt, wie zuvor. Alain Peters bleibt in diesem Sinn mit ihrer Erinnerung verhaftet, während die gesellschaftspolitische Entwicklung die Poesie anderer Bands eingeholt hat. Der Soziologe Norbert Elias schrieb in diesem Zusammenhang über einen anderen Künstler und die Verknüpfung seiner musikalischen Entwicklung mit dem Entwicklungsstadium der Gesellschaft, in der er lebte: „Mozarts Tragödie hatte ihren Grund nicht zuletzt darin, dass er persönlich, aber auch in seinem Schaffen versuchte, ganz allein und für sich die Schranken des Machtgefüges seiner Gesellschaft zu durchbrechen […] und dass er das in einer sozialen Entwicklungsphase tat, in der die herkömmlichen Machtverhältnisse noch so gut wie intakt waren.“ (Elias 1993: 24)
Auch Alain Peters war seiner Zeit voraus. Es lässt sich darüber spekulieren, ob er ebenso durch „die Schranken des Machtgefüges seiner Gesellschaft brechen“ wollte. Seine „Tragödie“ ähnelt jedoch Mozarts, denn seine wirklichen Qualitäten wurden ebenso erst posthum erkannt, weil sie nach seinem Tod, unter dem World Music-Label, kategorisierbar wurden. Peters Geschichte des zeitlebens unverstandenen, alkoholkranken, einsamen Künstlers ohne Geld macht ihn berühmt. Sein Mythos ist weitere Referenz für eine konfliktreiche réunionesische Musikkultur. Die kulturpolitischen Machtverhältnisse auf La Réunion haben sich
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somit nach Château Morange abermals verändert. Auch réunionesische Besonderheit, wie sie der Mythos Alain Peters verkörpert, hat einen künstlerischen Stellenwert erhalten. Während Musik und Auftreten Alain Peters einst wertlos waren, werden sie für ein World Music-Publikum wiederbelebt. Château Morange gab jungen Musikern auf La Réunion die Möglichkeit, sich auf einem Festival nach kontinental-französischen Standards zu inszenieren. Die Veranstalter sorgten für einen Sound und eine Beleuchtung, die einen professionellen Konzertauftritt entsprach. Sie sorgten nicht für eine Rückbesinnung auf lokale Traditionen, sondern deren Nutzbarmachung in der Jugendarbeit. Das Festival bleibt Ausgangspunkt für viele, die im Kulturbereich und in der Musikszene La Réunions aktiv sind: „Alle schulden dem Festival Château Morange viel, weil es wirklich das erste Ereignis war, das Musikern erlaubte, unter professionellen Bedingungen zu spielen, mit einer sehr guten Tonqualität, Beleuchtung … Und sie konnten auch vor Professionellen auftreten, sich ein bisschen der Welt öffnen, Künstler anderer Kulturen kennen lernen, anderer Länder. Für mich war das der Beginn von vielem. Und viele Menschen wie ich, die heute in der Musik arbeiten, haben damit angefangen, für das Festival Château Morange zu arbeiten.“ «Tous le monde doit beaucoup au festival de Château Morange parce que c’était vraiment le premier évènement à permettre aux musiciens de jouer dans des conditions professionnelles: avec une très bonne qualité de son, de lumière … Et de jouer aussi devant des professionnels, de s’ouvrir un peut au monde, de rencontrer des artistes d’autres cultures, d’autres pays. Pour moi ça a été le départ de beaucoup des choses. Et beaucoup des gens comme moi, qui travaillent aujourd’hui dans la musique, ont commencé à travailler avec le festival de Château Morange.» (Courbis 15.04.03: 259–265)
Als Institution hat Château Morange die Standards musikkultureller Produktion auf La Réunion nachhaltig verändert. Für einen Künstler wie Alain Peters, mit seiner Mischung aus Maloya, Séga und Folk, begann die damit initiierte Entwicklung zu spät. Die Geschichten des Festivals und des PRMA Direktors Alain Courbis sind miteinander verknüpft. Der Musiker Alain Peters ist damals noch von ihnen ungeachtet gestorben. Aus der Perspektive Courbis schulden alle musikkulturellen Akteure La Réunions Château Morange etwas, weil mit dem Festival professionelle lokale Musikproduktion erst entstand. Diese Einsicht ist sowohl von persönlichen Erfahrungen wie von einem eurozentristisch geführten World Music-Diskurs geprägt. Die Entscheidung welche réunionesischen Musiker als Künstler gefeiert werden und welche nicht, liegt weder in der Hand von Nagès oder Courbis, noch in der eines réunionesischen Publikums. Die Geschichte ihrer kreolischen Musikkultur ist heute vielmehr in einem überregionalen Netzwerk verwoben, dessen Akteure sich gegenseitig beeinflussen. Sie ma-
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chen mit Musik Politik, erarbeiten sich Anerkennung, verwirklichen ihre Ziele und schaffen auf ihrem Weg dorthin Verbindung zwischen sich, ihrer Kultur und anderen Orten. Wobei die Weiterentwicklung dieses musikkulturellen Netzwerks ebenso unabgeschlossen bleibt, wie die Geschichte der kreolischen Musikkultur La Réunions.
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Überleitung: La Réunion und die Harfe
Zu jeder Zeit haben Kulturschaffende eine Auswahl an Stilen als besonders réunionesisch inszeniert. Nach der ersten öffentlichen Darstellung einer réunionspezifischen Musikkultur auf den Fêtes de Témoignages liegen die Musik, ihre Rezeption und Geschichte nunmehr in der Verantwortung musikkultureller Akteure, deren Ziel es ist, sie außerhalb La Réunions als besonders zu etablieren. Sie verwenden hierfür nicht lokal-politische, sondern überregional-marktstrategische Kriterien, um zu entscheiden, wer und wer nicht Teil der réunionesischen Musiktradition war, ist und sein wird. Wie von der PCR iniziiert, bleibt réunionesische Musiktradition auch nach Château Morange Sinnbild einer eigenständigen kulturellen Entwicklung der Insel. Diese Darstellungsweise ist mittlerweile jedoch nicht mehr politisch motiviert, sondern marktwirksames Produkt einer sich weiterentwickelnden Kulturindustrie, die lokale Musik durch den Verweis auf bestimmte Charakteristiken ihres imaginierten Ursprungs in Szene setzt. Dazu gehören: Revolution, Exotik, Vermischung von Aktualität und Tradition, kulturelle Komplexität, Unbekanntheit, Besonderheit. Solche Charakteristiken sind nicht fix, sondern flexibel. Sie entstehen in den Köpfen Kulturschaffender wie Alain Courbis, die entlang institutionalisierter Ästhetiken arbeiten, die auf einen überregionalen Markt zugeschnitten sind und sie lokale Identitäts- und Kulturwahrnehmungen verändern lässt. Wenn Musik verwendet wird, sei es um politische Mots d’Ordre vorzugeben oder eine réunionesische Band gewinnorientiert mit dem World Music-Label zu etablieren, sind demnach weitverzweigte, komplexe Prozesse jenseits politischer Machtmechanismen zwischen Zentrum und Peripherie aktiv. In einem überregionalen Kontext ist es „far from clear where and what these might now be, and who is imposing what on whom“ (Stokes 2003: 301). Gemäß der Kriterien des World Music-Marktes ist es für Musiker wichtig, dass nicht alle Kulturen ebenso exotisch darstellbar sind, wie ihre eigene. Damit bleibt zumindest für einige Musiker La Réunions ein überregionaler Erfolg garantiert. Eine lokale Institution wie der PRMA entwickelt sich darauf aufbauend zu einem Verwaltungsorgan, das musikkulturelle Themen vorgibt und die Geschichte der Musikkultur damit beeinflusst. Denn ihre Mitarbeiter suchen jene Musiker heraus, die ihrer Ansicht nach am besten dafür geeignet sind, die Musikkultur La Réunions auf einem globalen Musikmarkt zu repräsentieren. Eine solche Auslese hat die PCR bereits in den 1970er Jahren begonnen. Doch auf La Réunion geht es nicht mehr darum,
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für einen politischen Anspruch auf Authentizität zu kämpfen, sondern Authentizität zu simulieren. Dass zentrale Inhalte des Maloya (Widerstand und Exotik) im World Music-Kontext „hip“ sind, sagt nichts über ein tatsächliches Interesse am revolutionären Gehalt der Musikkultur La Réunions aus. Maloyamusik, anfänglich ein Medium der Militants Culturels, ist mittlerweile zu einem „Capital Culturel“ geworden (Bourdieu 1987a: 411ff.). Der Status „Maloyamusiker“ ist ein erstrebenswertes Identitätskonstrukt, dessen sich zunehmend viele Akteure bedienen. Musiker inszenieren sich dadurch als Träger ihrer lokalen Tradition, was ihnen unter dem World Music-Label zugute kommt. Steven Feld schreibt in diesem Zusammenhang: “Into and through the 1990s, […] distinct models of the inspiration and collaboration mix also emerged, revealing more of the political and aesthetic possibilities for promoting both artistic equity and wealth distribution. […] World Music was no longer dominated by academic documentation and promotion of traditions. Rather, the phrase swept through the public sphere first and foremost signifying a global industry, one focused on marketing danceable ethnicity and exotic alterity on the world pleasure and commodity map.” (Feld 2000: 149–51)
World Music ist kein Label, das Musiker mit Traditionsbewusstsein auszeichnet. Es unterstützt Musiker, die sich traditionell und authentisch inszenieren. Wie Tradition und Authentizität dabei dargestellt werden, bestimmt der Markt. Denn Musiker haben erkannt, umso erfolgreicher sein zu können, je authentischer sie erscheinen. Nicht was authentisch ist, aber was nach World Music-Standards als authentisch gilt, gibt auf La Réunion die Institution des PRMA vor. Das musikkulturelle Netzwerk der Militants Culturels, wie es seit den ersten Fêtes de Témoignages gesponnen worden ist, setzt sich damit zwar fort. Sein politischer Anspruch ist jedoch lediglich marktwirksame Fassade. So schrieb die Tageszeitung Le Témoignages 1998 in einem Artikel zur Fête de la Musique: «Séga, maloya, rock, variétés … La cuvée 98 de la Fête de la Musique respectera la tradition de mélange et d’échange qui prévalait lors de sa création.» (Le Témoignages 16.06.98)
Kulturpolitische Institutionen, Medien und überregionale parteipolitische Organe schneiden die Entwicklungsprozesse réunionesischer Musikkultur auf ihre Interessen und Ziele zu. Sie definieren Vermischung und Austausch als grundlegend für die réunionesische Musiktradition. Das daraus konstruierte Abbild einer kreolischen Kultur, ist an überregionalen Erwartungen orientiert. Wenn diese Erwartungen sich ändern, ändern sie die musikalischen Inszenierungen von Identität und Kultur. Momentan lassen sich Attribute wie Mélange, Métissage oder Kreolisierung in einem globalisierten World Music-Gefüge gut vermarkten. Das muss nicht immer so bleiben. Kulturschaffende sind deshalb stets auf der Suche.
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Institutionen liefern für den Markt entsprechende Überblicksversionen einer musikkulturellen Szene La Réunions, Musiker liefern das Material. So beeinflussen World Music-Kriterien nachhaltig die Konstruktion eines musikkulturellen Erbes, einer Patrimoine, die eine bestimmte Art réunionesischer Musik bekannt macht: „Ich denke, dass die Öffnung nach außen nicht die lokalen Traditionen tötet. Es stimmt, dass man heute alle Musiken praktiziert: Hip-Hop, Elektronik, Ragga, Rock, Jazz etc. Aber trotzdem, von den 300 Alben, die im Jahr 2002 auf La Réunion produziert worden sind, ist die Hälfte Séga und Maloya. Die Tradition bleibt sehr stark und vielleicht heute sogar noch reicher. Vielleicht ist es sogar eine gute Sache für die musikalische Kreativität, diese Öffnung nach außen zu haben, die uns erlaubt, auch Séga und Maloya mit anderen Einflüssen und Forschungen weiterzuentwickeln, zu bereichern.“ «Je croix que l’ouverture à l’extérieur ne tue pas les traditions locales. C’est vrai qu’aujourd’hui on pratique toutes les musiques: Hip-Hop, Electronique, Ragga, Rock, Jazz etc. Mais quand même, sur les 300 albums produits sur l’année 2002 à La Réunion, il y a la moitié des albums qui reste du Séga et du Maloya. La tradition reste très forte, et même peut-être plus riche aujourd’hui. C’est peut-être aussi une bonne chose pour la création musicale d’avoir cette ouverture vers l’extérieur qui nous permet aussi de développer, enrichir le Séga et le Maloya avec d’autres influences, d’autres recherches.» (Courbis 15.04.03: 413–423)
Neue Vermischungen réunionesischer Musiktradition mit Hip-Hop, Ragga oder Jazz treiben für Alain Courbis die Entwicklung von Séga und Maloya an. Sie unterstützen die überregionale Verbreitung dieser Stile, solange sichergestellt bleibt, dass sie als Ursprung réunionesischer Musik zu erkennen bleiben. Denn nur das Image eines in sich vermischten Fundus an lokalen Traditionen, das Séga und Maloya transportieren, hebt réunionesische Musiker aus der Masse anderer World-Musiker heraus. Sie müssen deshalb geschult werden, Séga und Maloya mit anderen Musikstilen so zu vermischen, dass ihre Herkunft, La Réunion, stets hörbar bleibt. Die Vermischung ist in diesem Zusammenhang nicht der Garant für das Auflösen musikkultureller Grenzen, sondern für deren fortlaufendes Bestehen. Von unterschiedlichen Erfahrungen motiviert entwirft Alain Courbis im PRMA ein Bild typisch réunionesischer Musik, das er auf Festivals, in CDProduktionen oder auf Musikmessen vertritt. Dieses Bild gibt nur einen Teilaspekt réunionesischer Musikkultur wieder. Als Konsequenz bleiben andere Teile der musikkulturellen Entwicklung der Insel unerwähnt, oder aber sie werden erst entdeckt. Ein Beispiel für Letzteres ist die Geschichte von Alain Peters. Dieses Kapitel schließt mit einer weiteren Geschichte, die ein Beispiel von dem gibt was unerwähnt bleibt. Sie spielt außerhalb des World Music-Business, in einer anderen Musikkultur mit ebenso überregionalem Anspruch, einer demnach anderen
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World Music, die von den Kriterien, nach denen Courbis arbeitet, nicht erfasst wird. Die Geschichte dreht sich um das Musikinstrument einer Zeichentrickfigur, eine Harfe. Die Tochter von Nadège Nagès hatte lange Jahre Harfe gespielt, musste ihr Instrument aus Platz- und Kostengründen aber auf La Réunion lassen, als sie für ihre Ausbildung nach Kontinental-Frankreich zog: „Und ich sagte: ‚Aber wieso wolltest du Harfe lernen?‘ Sie sagte mir: ‚Weil ich schon immer das Harfenspiel bewundert habe!‘ ‚Aber weshalb? Wie hast du davon gehört?‘ ‚Aber Mama, die Zeichentrickserie Rémi sans Famille.‘ Dieser kleine Junge lief immer mit seiner Harfe umher, und seinem Affen und seinem Hund. Meine Tochter war davon begeistert und sie sagte sich: ‚Das gefällt mir.‘ So musste man einen Harfenlehrer finden, weil es das hier nicht gab. Und tatsächlich, wir haben einen Lehrer gefunden, der Kurse anbot, per Zufall, in den Kleinanzeigen. Und sie hat sich da reingehängt und sie hat gespielt, gespielt, gespielt … Sie hatte Auftritte. Sie hat für die Prinzessin von Monaco gespielt, die nach La Réunion kam. Sie war wahnsinnig stolz. Sie hat sogar ein Foto mit der Steph. Wie auch immer, hinterher, weißt du, wenn du erwachsen wirst, dann ist es eine andere Entwicklung. Heute ist sie fast zwei Jahre weg und ihre Harfe fehlt ihr.“ «Et j’ai dit: ‹Mais pourquoi t’as voulu apprendre à jouer de la harpe?› Elle me dit: ‹Parce que j’ai toujours adoré la harpe!› ‹Mais comment? Où est-ce que t’as entendu ça?› ‹Mais maman, le dessin animé Rémi sans Famille.› Et ce petit garçon il se baladait toujours avec sa harpe et son singe et son chien. Et ma fille a flashé là-dessus et elle s’est dit: ‹Ça me plaît.› Et il a fallu aller trouver le prof de harpe, parce qu’il y avait pas ça ici. Donc, effectivement on a trouvé un prof particulier, tout à fait par hasard, dans les annonces gratuites, qui donnait des cours. Et elle s’est lancée là-dedans et elle a joué, elle a joué, elle a joué … elle a fait des représentations, elle a joué pour la princesse Stéphanie de Monaco qui est venue à La Réunion. Elle était hyper contente. Elle a même une foto avec la Steph. Mais bon, après tu sais quand tu grandis c’est une autre évolution. Aujourd’hui ça fait deux ans qu’elle est partie bientôt et sa harpe lui manque.» (Nagès 09.09.03: 1040–62)
Das Fernsehen brachte Nagès Tochter auf die Idee, Harfe lernen zu wollen. Es brachte ihr Bilder nach La Réunion, die mit der Musique Traditionnelle der Insel nichts zu tun hatten. Auch wenn es zunächst mühevoll war, einen Harfenlehrer oder eine Lehrerin auf La Réunion zu finden – und damit einen Zugang zu dieser anderen Welt zu bekommen –, schaffte es die Tochter und trat schließlich sogar bei einem wichtigen Ereignis auf, dem Besuch der Prinzessin von Monaco.41 41 Weshalb wird der Prinzessin zu ihrem Besuch auf La Réunion eigentlich Harfenmusik vorgespielt? Weigern sich Militants Culturels vor ihr zu spielen? Soll gezeigt werden, dass auch La Réunion so weit entwickelt ist, Harfenspielerinnen hervorzubringen? Oder spielen die Organisatoren mit einem exotisierenden Verständnis der Aristokratie: Dass Adlige sich lieber von Harfen als von Maloya-Percussions unterhalten lassen?
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Diese Geschichte verdeutlicht einen Aspekt musikkultureller Vermischung und Vielfalt, der in Alain Courbis Darstellung nicht vorkommt. Denn öffentliche Medien vermitteln Jugendlichen unabhängig vom World Music-Kontext Musik, die sie begeistert. Die Zeichentrickfigur Rémi sans Famille verweist auf eine Identität, die aus vielen kulturellen Einflüssen besteht. Eine japanische Zeichentrickserie, ins Französische synchronisiert, animiert ein kreolisches Mädchen aus La Réunion so gut Harfe spielen zu lernen, dass sie vor der Prinzessin von Monaco auftreten darf. Warum passt dieses Bild nicht zu den Attributen von Métissage und Mélange, wie sie Alain Courbis über La Réunion verbreitet? Der Grund dafür liegt abermals darin, dass Courbis Aufgabe in der Förderung réunionspezifischer Besonderheiten unter World Music-Kriterien besteht. Eine Besonderheit wie das Harfespiel von Nagès Tochter kann er nicht fördern, weil es nicht dem Image entspricht, das réunionesische Musik im Kontext des PRMA verkörpern muss. Wie John Hutnyk formuliert: “Celebration of multicultural diversity and fragmentation is exactly the logic of the mass market. A twisted version of unity in diversity where the unity is alienated and abstracted away from real relations between people and becomes relations between things.” (Hutnyk 2000: 135)
Réunionesische Musik wird im World Music-Geschäft zu einem der von Hutnyk beschriebenen abstrakten Gegenstände, die Gemeinschaft symbolisieren. Ihr gewinnbringendes Image muss im Kontext eines überregionalen Marktes bestehen. Die Mitarbeiter des PRMA suchen deshalb aus der Masse an lokalen Akteuren einige aus und inszenieren sie und ihre Musik als Referenzen für eine besondere Qualität lokaler Kulturproduktion. Zu diesen besonderen Kulturschaffenden gehören etwa Firmin Viry, Danyèl Waro oder Alain Peters. So entsteht ein von der Realität abstrahiertes Bild der musikkulturellen Gemeinschaft La Réunions, das reale Konsequenzen nach sich zieht. Denn neue Musikergenerationen nehmen es sich entweder zum Vorbild oder sie haben Schwierigkeiten, ihre Musik, wenn sie diesem Bild nicht entspricht, zu vermarkten. Für lokale Akteure wird das Berücksichtigen von World Music-Kriterien zur Voraussetzung. Wer sich als réunionesischer Musiker nicht daran orientiert, hat kaum Chancen, auf internationaler Bühne wahrgenommen zu werden. In diesem Teil wurden von mir eine Vielzahl grundlegender Sachverhalte zum Verständnis der Musikgeschichte La Réunions miteinander in Beziehung gesetzt. Zunächst ging es um die Entwicklung von einer kulturpolitischen zu einer marktstrategischen Orientierung der lokalen Musik, von der PCR zum PRMA. Zahlreiche Schnittstellen machen diesen Prozess deutlich, eine herausragende ist die Dezentralisierung Frankreichs nach 1981. Weiterhin behandelte das Kapitel Geschichten, die von musikkulturellen Akteuren benutzt werden, um die Authentizität réunionesischer Musiktradition zu belegen. In diesem Zusammenhang wur-
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de deutlich, inwieweit das World Music-Label entscheidenden Einfluss darauf nimmt, wie réunionesische Musiktradition inszeniert wird. Dies wiederum ist ein zentraler Faktor nach dem Kulturschaffende bestimmen, welche Musiker und Musikstile auf einem internationalen World Music-Markt erfolgreich sein können und sich dem Label „Réunionesischer Musiker“ bedienen dürfen. Sowohl fortwährende politische Umbrüche als auch sich verändernde Kriterien des Musikmarktes provozieren seit den 1960er Jahren immer neue Darstellungsweisen einer réunionesischen Musique Traditionnelle. Wie ich im folgenden Teil zeigen werde, können diese Veränderungen für Musiker existenzielle Folgen haben, denn ihre Identität wird dadurch fortwährend in Frage gestellt. Sie müssen Strategien entwickeln, mit dieser Unsicherheit zu leben. Während ich im vorangegangenen Teil den Wandel der réunionesischen Musikkultur von der Politisierung zur Institutionalisierung aufgezeigt habe, thematisiere ich deshalb anschließend am Beispiel dreier Musiker den Einfluss dieser stetig wechselnden Kriterien auf die Identitätskonstruktionen réunionesischer Künstler. Einige von ihnen sind nicht allein Darsteller, sondern persönliche Verfechter einer bestimmten Darstellungsweise réunionesischer Musiktradition, denn erst deren Anerkennung liefert ihren Identitätskonstruktionen eine Basis.
3 Séga 3.1
Identitätskonstruktionen mit Musik
Im Mittelpunkt dieses Kapitels stehen Ségamusiker. Der Grund dafür ist nicht, dass ihre Musik bedeutungsvoller ist als der Maloya. Im Gegenteil. Gerade deren zunehmende Bedeutungslosigkeit, vor allem auf World Music-Bühnen, hat entscheidende Auswirkungen auf die Identitätskonstruktionen der Musiker. Die beigefügte CD bietet Hörproben einiger Ségamusiker und ihrer Inszenierungen réunionesischer Kultur. Der hörbare Unterschied zum Maloya wird im Folgenden durch einige Begriffe unterstützt, deren Definitionen von Bedeutung sein werden. Wie bereits ausgeführt, benutzen Alain Courbis und andere Métissage und Mélange, um im World Music-Kontext charakteristische Merkmale kreol-réunionesischer Kultur zu beschreiben. Ségamusiker, die sich aus ihrer persönlichen Geschichte und Familientradition heraus ein musikalisches Bild ihrer Kultur konstruieren, erweitern diesen Begriffskanon durch Kréolité oder Petite Bourgeoisie. Ich werde diese Begriffe behandeln, um zu verdeutlichen, dass Kategorisierungen wie sie von Institutionen wie dem PRMA vorgenommen werden, bestimmte Aspekte réunionesischer Identität und Kultur „hermetisch“ ausblenden (vgl. van Reijen 2004: 107). So verwenden Ségamusiker ihren Musikstil nicht im Gegensatz zu Maloyamusikern, auch wenn dieser Eindruck in den Geschichten Alain Courbis und anderer geweckt wird. Solch musikalische Dichotomien werden aus marktstrategischen oder politischen Gründen zwar immer wieder konstruiert (vgl. Bohlman 2003: 47). Wie ich zeigen werde, widersprechen sie aber komplexeren Realitäten und Kategorien der Ungleichheit, jenseits allein kultureller Differenzen. Séga und Maloya werden von Musikern unterschiedlich verwendet, sie deshalb als in sich geschlossene kulturelle Güter gegenüberzustellen, wird den Stilen nicht gerecht. Vielmehr ist die Wahl des Musikstils und damit der Prozess der musikalischen Verortung mit einer besonderen Kompetenz kreolréunionesischer Musiker verbunden. Ihre Musiktradition und ihre Identität entwickeln sie im Zwischen. Dieses Zwischen war schon immer die Grundlage von réunionesischem Séga und Maloya. Die Stile sind aus musikalischen Einflüssen unterschiedlicher Regionen entstanden. Dieser Prozess setzt sich fort. Denn réunionesische Musiker reisen (in die Vergangenheit – auf der Suche nach ihren musikalischen Wurzeln in Afrika oder Europa – und in der Gegenwart – auf Tourneen) in unterschiedliche musikalische Kontexte, in denen sie sich bewegen und die sie mit ihrer Heimat vergleichen. Gleichzeitig schauen sie aus einer so gewonnenen Perspektive von außen auf ihre Kultur. In der Gegenüberstellung von Séga und Maloya dienen die Stile als Referenzen für bestimmte musikkulturelle Bilder. Der Séga war vor der Departmentalisation 1946 ein Medium, das im überregionalen Kontext als typische Musik La
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Réunions galt.42 In Tourismusbroschüren und Urlaubsdokumentationen symbolisiert er La Réunion weiterhin als Stereotyp einer Insel in den subtropischen Breiten des Indischen Ozeans. Er repräsentiert eine Folklore, eng verbunden mit Bildern von bunten, weiten Kleidern und barfuß am Strand tanzenden Frauen und Männern, die Gitarre spielen und französische Texte mit kreolréunionesischer Eigenart vortragen.43 Mit Séga wird ein Bild La Réunions inszeniert, das eine Insel im Süden darstellt wie sie von Menschen im Norden erträumt wird: Weit weg von der Hektik des Alltags und nahe an Natur, Schönheit und Emotion. Der Maloya demgegenüber, der „dérangeur“ wie ihn Danyèl Waro bezeichnet (Waro 26.09.03: 546), stellt das idyllische Bild des Séga infrage. Über ihn findet gesellschaftspolitische Kritik, die im Séga nicht behandelt wird, Zugang in den öffentlichen Diskurs. Er schafft eine andere musikalische Kommunikationsebene, in der La Réunions Mélange zur Batarsité wird. Waro erklärt mit dem Begriff der Batarsité, dass eine réunionesische Gemeinschaft in einer affirmativen Haltung zu den leidvollen Erfahrungen der Kreolisierung entstehen muss. Im Lied „Batarsité“ (CD Titel 7) und auf der gleichnamigen Platte von 1987 beschreibt er kulturelle Konflikte, die in harmonischen Ségabildern nicht gezeigt werden. Er und andere Militants Culturels erzählen im Maloya von einer gewaltvollen Vergangenheit, die nachhaltig auf die réunionesische Bevölkerung einwirkt. Dieser Teil der Entstehungsgeschichte réunionesischer Kultur, eng verbunden mit Sklaverei und Unterdrückung, hinterlässt Blutflecken auf den bunten Röcken und beigeweißen Leinenhosen der Ségatänzer und -tänzerinnen.44 Die Militants Culturels inszenieren sich demnach im Streben nach musical empowerment. Sie wollen die ungleichen Machtverhältnisse zwischen La Métropole und La Périphérie zur Diskussion stellen und formulieren hierfür in ihrer Musik Konflikte, die aus dem ungeklärten Verhältnis zur Kolonialzeit resultieren. Sie singen, was bisher nicht gesagt worden ist. Demgegenüber betonen Ségamusiker die Bedeutung ihres Stils als Musique Folklorique. Im Séga werden réunionesische Traditionen mit dem Ziel verarbeitet, sie unverändert zu lassen. Im Maloya werden réunionesische Traditionen mit dem Ziel verarbeitet, ihre Schattenseiten sichtbar zu machen. Doch Musiker entscheiden sich nicht einfach für den einen oder den anderen Stil, sondern spielen mit diesen gegensätzlichen Entwürfen. Abseits der Hotels und kulturpolitischen 42 Der bekannteste Ségatié der 1920er Jahre, der den Stil bis in einige Salons KontinentalFrankreichs brachte, ist George Fourcade. Seine Erzählungen, erschienen unter dem Titel „Z’histoires la Caze“ (Fourcade 1976), sind gleichzeitig Grundlage für heutige Recherchen über die Entwicklung und Verbreitung des Kréol-Réunionnais. 43 Zur Illustration dienen Bilder und Texte auf zahlreichen Internetplattformen von Reiseanbietern, wie etwa zugänglich unter der URL: http://www.itravel.de/La-R%FDunion/La-Reunion/ (Datum des letzten Besuchs 25.09.09). 44 Diese bunten, touristischen Südseemythen des Séga werden etwa auf der Nachbarinsel Mauritius in ähnlicher Weise stilisiert (vgl. Schnepel und Schnepel 2004, 2005).
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Festtage präsentieren sie Vielfalt als Grundlage réunionesischer Kultur. Aus einer Musikerperspektive lassen sich Séga und Maloya nicht in zwei Lager trennen, denn sie haben lokale Musik im vielbeschworenen Kontext des „Vivre au Pluriel“ kennengelernt (Alber 1990). Sie finden nicht aus ideologischen Gründen zu einem Musikstil, sondern wachsen in ihn hinein. Ihre Musik ist von persönlichen Erfahrungen fundamental beeinflusst. Hinter scheinbar ähnlicher Musik verbergen sich deshalb grundlegende Wahrnehmungsunterschiede von dem was réunionesische Kultur ausmacht und welche Funktion lokale Musik darin übernimmt. Einige dieser Wahrnehmungsunterschiede werde ich im Folgenden beschreiben. Ich beginne mit einer Geschichte der Entstehung der lokalen Musik La Réunions wie sie mir Bernadette Ladauge erzählte, die seit über 50 Jahren die Groupe Folklorique de La Réunion leitet. Im späteren Verlauf werde ich Ladauges Darstellung durch die ihres Neffen Guillaume Legras ergänzen. Er ist Sänger, Arrangeur und Gitarrist der Groupe Folklorique, außerdem Solokünstler und Studiomusiker. Schließlich beschreibe ich mit den Ausführungen der réunionesischen Sängerin Françoise Guimbert eine dritte Möglichkeit, wie réunionesische Musik als Referenzrahmen für die eigene Identitätskonstruktion dienen kann. In der abschließenden Zusammenführung dieser Perspektiven wird deutlich, wie sich die Bedeutung traditioneller Musikstile im Heranwachsen weiterentwickelt und warum bestimmte Traditionen weitergereicht werden und andere nicht. Wie Musiker ihre Musiktradition darstellen, ist abhängig von der Lebenswelt, der sie sich zugehörig fühlen. Musik ist ihre Heimat, innerhalb und über die politischen Grenzen La Réunions hinaus. Ihr fundamentaler Bezugspunkt bleibt die Insel, mit der sie sich durch ihre Musik verbunden fühlen. Wie inszenieren sie diese Zugehörigkeit?
3.2
Séga vs. Maloya: Exotik vs. Bataille Coq?
Zunächst also zu Bernadette Ladauge, der Tante Guillaume Legras. Sie wohnt in La Montagne und ist Autorin mehrerer Bücher, Bildbände und CDVeröffentlichungen, die die Geschichte der Musik La Réunions illustrieren (vgl. Ladauge 1994, 1997). Ihr zufolge entwickelte sich der Séga im zwanzigsten Jahrhundert zur Musik der liberalen Linken, einer Gesellschaftsschicht, die zwischen der Insel als ihrer Heimat und Frankreich als ihrem Mutterland, ihrer Mère-Patrie, unterscheidet. Diese réunionesische Petite Bourgeoisie nahm in zahlreichen Musik-, Kunst- und Theateraktivitäten Einfluss auf das intellektuelle Leben La Réunions. Séga war zu dieser Zeit der meist verbreitete Musikstil. Er entstand nicht allein durch das musikalische Zusammentreffen von französischen Kolonialherren und afrikanischen Sklaven. Neben Frankreich kamen auch aus anderen europäischen Ländern Handwerker, Seeleute, Bauern oder kleinere Angestellte nach La Réunion. Sie spielten Akkordeon oder andere Instrumente und
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nutzten die Musik als Medium und Methode, um sich, wie viele andere auch, in der Fremde eine vertraute Atmosphäre und ein Gefühl von Heimat zu schaffen (vgl. Kokot et al. 2000: 198). Afrikanische Sklaven, die aus unterschiedlichen Regionen über Mosambik und Madagaskar nach La Réunion gebracht wurden, bauten ihrerseits Instrumente aus ihrer Heimat mit lokalen Materialien nach. Sie spielten darauf ihnen bekannte Musik, aber auch solche, die sie neu entdeckten, etwa europäische Polkas und Quadrillen. Solche Imitationen provozieren damals wie heute Vermischungen, in deren Prozess etwas Neues entsteht. Musikstücke werden nicht auf die gleiche Art wiedergegeben wie ihre Originale, sondern bereichern durch eine Form von gelungener Übersetzung den jeweiligen musikkulturellen Kontext (vgl. Benjamin 1977). Diese musikalischen Übersetzungsprozesse haben unterschiedliche, teilweise sehr praktische Gründe. Manchmal fehlt es an Originalinstrumenten, weshalb Nachbauten zwar eine ähnliche Spielweise zulassen, aber den Gesamtklang eines Stückes verändern. Mit der Zeit werden auch die Rhythmen abgewandelt, Melodien und Texte geraten in Vergessenheit – die Musik wird kreolisiert. Auf La Réunion führte dies zur Bildung des vom mosambikischen T’shéga begrifflich abgeleiteten réunionesischen Séga (vgl. Wergin 2009).45 Für Bernadette Ladauge besteht dieser Stil, den sie als Séga Traditionnel bezeichnet, aus drei Elementen, die sie unterschiedlichen regionalen Ursprüngen zuordnet: (1) Harmonien und Emotionen aus Madagaskar. (2) Intellekt und Instrumentierung aus Kontinental-Frankreich (Europa). (3) Rhythmus und Sex aus Afrika. Für untrainierte Ohren, ob von Musikern, Tänzern oder Zuhörern, hört sich diese Musik wie eine sehr tanz- doch schwer imitierbare Mischung aus binären und ternären Rhythmuselementen an. Wie in einer Grafik von Ladauge dargestellt, ist dieser Séga Traditionnel für sie das Herzstück réunionesischer Musiktradition und klar von der Musik anderer Regionen unterscheidbar, ob innerhalb oder jenseits des Indischen Ozeans, in Europa oder Kontinental-Frankreich (Abbildung 7). Parallel zum Séga Traditionnel existierte auf den Plantagen ein weiterer Musikstil, der Séga Primitif. Während die Vermischung mit europäischer Musik im Séga Traditionnel weit fortgeschritten war, dominierten im Séga Primitif weiterhin madagassische und andere afrikanische Elemente. Konserviert wurde diese Musik durch Sklaven, die in den über 150 Jahren bis zur Abschaffung der Skla-
45 Auch auf anderen Inseln im Indischen Ozean ist es zur Entwicklung eines typischen Ségastils gekommen, etwa auf Mauritius oder den Seychellen. In jüngster Zeit machen Kulturschaffende des Chagos Archipels auf sich Aufmerksam, indem sie ihre kulturelle Identität mit dem Verweis auf einen typischen Ségastil stärken wollen. Ihre Argumentation geht soweit, dass sie diesen als den Ursprung aller Ségamusik im Indischen Ozean darstellen (Ich danke Steffen Johannessen für diesen Hinweis).
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verei 1848 regelmäßig von neuem auf der Insel eintrafen.46 In Ladauges Ausführung verlor der Séga Primitif nach 1848 an Bedeutung. Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts verschwand er im Untergrund. Ladauge erklärte mir, Menschen auf La Réunion hätten die Musik fortan weder spielen noch hören wollen, weil sie Erinnerungen an die Sklaverei transportierte. Der Séga Traditionnel existierte weiter und entwickelte sich zu einer charakteristisch réunionesischen Folklore, einer Musique Folklorique. Die réunionesische Musikgeschichte, wie sie Bernadette Ladauges erzählt, macht den Séga Traditionnel, der auf Grund seiner musikalischen Vermischungen auch Séga Kréol genannt wird, zu einer lokalen Tradition von besonderer Bedeutung. Die Musik ist ein Beispiel dafür, wie kontinental-französische Strukturen in ein an die Zeit der Sklaverei anknüpfendes, réunionesisches Gesellschaftsmodell übertragen wurden. Séga Kréol wurde demnach im Verlauf zu réunionesischer Unterhaltungsmusik, eine Musik für alle: Sklaven und Plantagenbesitzer. Er bildete den Grundstein einer neuen Tradition und lieferte den Soundtrack zu einem Neuanfang für eine durch Gewalt, Unterdrückung und Verschleppung entstandene Gemeinschaft, die diese Vergangenheit hinter sich lassen wollte. Diese Geschichte über die Anfänge einer kontinental-französisch dominierten, musikalischen Inszenierung friedvoller Vermischung suggeriert Touristen bis heute eine heile réunionesische Urlaubswelt. Eine solche Verwendung erfundener Traditionen während der Kolonialzeit ist nicht allein ein réunionspezifisches Phänomen: “There were two very direct ways in which Europeans sought to make use of their invented traditions to transform and modernize African thought and conduct. One was the acceptance of the idea that some Africans could become members of the governing class of colonial Africa, and hence the extension to such Africans of training in a neo-traditional context. The second – and more common – was an attempt to make use of what European invented traditions had to offer in terms of a redefined relationship between leader and led.” (Ranger 1983: 221. Hervorhebung im Original)
Auf La Réunion wurde das von Ranger beschriebene Verhältnis zwischen Leader und Led mit Hilfe des Séga Kréol umdefiniert. Für Ladauge versinnbildlicht die Musik deshalb das Wir-Gefühl einer réunionesischen Gemeinschaft, weil sie aus ihrer Sicht in der glücklichen musikkulturellen Verbindung von Kréol Noir und Kréol Blanc entstand, von Nachfahren ehemaliger Sklaven (Kréol Noir) und Kindern einer kreol-réunionesischen Petite Bourgeoisie (Kréol Blanc). Mit Séga Primitif beschreibt sie demgegenüber eine Musik, die sich im Verhältnis zum 46 Ausführliche Informationen über die wirtschaftspolitische Entwicklung Réunions vor und nach der Abschaffung der Sklaverei finden sich in Payet (1990).
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Séga Kréol auf den Blick zurück zu afrikanischen Wurzeln und die Artikulation eines Entschädigungsanspruchs für die Verbrechen der Sklaverei beschränkt. Diese Musik hat seit den 1960er Jahren unter einem anderen Namen zunehmend an Bedeutung gewonnen, Maloya. Maloyamusiker bleiben deshalb ihrer Ansicht nach rückständig, denn mit ihrer Musik tragen sie nicht zur friedvollen Vermischung von Kréol Blanc und Kréol Noir bei. Ladauge setzt diese gesellschaftspolitische Trennung voraus, die in der für sie einzig progressiven réunionesischen Musikkultur, dem Séga Kréol, überwunden wird. In ihrer Erzählung weist Ladauge den fundamentalen Bestandteilen des Séga Kréol (Harmonie, Instrumentierung, Rhythmus) bestimmte Regionen zu. Auch sie identifiziert sich mit diesen Ursprüngen. Die Musikgeschichte ist Teil ihrer persönlichen Identitätskonstruktion. Séga Kréol ist für sie ein réunionesisches Gemeinschaftsprodukt, aber die Vordenker der Musik bleiben wie sie die Angehörigen der Petite Bourgeoisie. Denn Intellekt und Instrumentierung der Musik haben in ihrer Darstellung ihre Ursprünge in Kontinental-Frankreich und Europa. Mit der Musik beansprucht Ladauge demnach für sich und ihre Familientradition eine dominierende Position innerhalb der Kulturgeschichte La Réunions. Dazu passend schreibt Philip Bohlman über die Bedeutung von Musik in kolonialen Zusammenhängen: “New practices of inscription and transcription […] were crucial to the acts of possession that transformed colonial encounter into forms of domination, for they allowed the colonizer to map unknown cultural terrains by expanding music’s cartographic power.” (Bohlman 2003: 47)
Bernadette Ladauge identifiziert sich mit dem Séga Kréol. Die Musik rechtfertigt den Erhalt ihrer Familientradition als Vordenker einer réunionesischen Gemeinschaft. Kontinental-französisch dominierte Werteordnungen finden im Séga Kréol eine Legitimation. Die „cartographic power“ dieser Musik schreibt La Réunion kulturpolitisch auf der neokolonialen Landkarte Frankreichs fest. Zwar erzählt Ladauges Geschichte des Séga Kréol von einem Bedürfnis der Bevölkerung La Réunions nach Souveränität, doch Basis der lokalen Kultur bleibt ein vorrangig kontinental-französischer Ursprung. Die Tradition des Séga Kréol verankert die réunionesische Kultur in einer Vermischung, die von kontinentalfranzösischen Werten getragen wird. Für Maloyamusiker ist dies nach Aussage Ladauges anders. Ihre Identität bleibt vom fortdauernden Kampf um Anerkennung bestimmt, wie auch jene Danyèl Waros, der gegen das Bild der friedvollen Vermischung seinen Begriff der Batarsité entwirft. Ladauge benutzt Waro als Gegenmodell, um ihrer Bemühungen zu legitimieren, den Séga Kréol zu erhalten wie er ist. Für sie hat die Bevölkerung La Réunions nach der Sklaverei von neuem angefangen. Sinngemäß bedeutet dies für sie: Wer den Maloya vorzieht, den Séga Primitif, verschließt sich gegen diese Neuerung und bleibt „primitif“. Aber ist das so? Antwort darauf gibt der folgende Vergleich dieser Art der Trennung
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lokaler Stile, mit den Geschichten von Guillaume Legras und Françoise Guimbert, zweier Musiker aus unterschiedlichen Regionen der Insel, die beide auf ihre Art versuchen, mit Musik ihren Lebensunterhalt zu verdienen.
3.3
Séga vs. Séga: Legras vs. Guimbert?
Guillaume Legras und Françoise Guimbert fühlen sich beide der Ségatradition verbunden. Legras ist langjähriger musikalischer Partner Bernadette Ladauges in der Groupe Folklorique und bezeichnet den Séga wie sie als herausragende Musique Traditionnelle La Réunions. Er wuchs in La Montagne auf, lebt aber mittlerweile mit seiner Tochter in einer nahegelegenen Neubausiedlung unweit der Serpentinenstraße, die hinauf in die Berge führt.47 Dichte Bewaldung und die Höhenlage sorgen in La Montagne im Verhältnis zu der Heimatstadt Françoise Guimberts, St. Benoit, für ein kühles, beinahe mitteleuropäisches Klima. Mir wurde St. Benoit als heiß, schmutzig und arm und La Montagne als erfrischend, sauber und reich beschrieben. Diese Erzählungen decken sich mit den unterschiedlichen Geschichten dieser Orte (vgl. Chane-Kune 1993, Eve 2003). St. Benoit ist eine vom Zuckerrohranbau und Fischfang geprägte Arbeiterstadt, vornehmlich bewohnt von Nachfahren tamilischer engagés. La Montagne ist einer der bevorzugten Wohnorte der reicheren Bewohner La Réunions, die zum Arbeiten hinunter in die Stadt fahren, ansonsten aber das angenehmere Klima der Höhenregion vorziehen. Diese Unterschiede nehmen Einfluss auf den Umgang der Kulturschaffenden mit ihrer lokalen Musik. Legras fordert einen Schwerpunkt auf die Erhaltung der Tradition des Séga Traditionnel. Guimbert ist demgegenüber offen für externe Einflüsse. Der eine möchte, dass mittels der Pflege der Musik die Traditionen so bleiben wie sie sind, die andere, dass sich durch die Musik etwas verändert. So möchte Guimbert Musik für Jugendliche attraktiv machen, um die Ausbildung von Kindern aus ihrer Region zu fördern. Demgegenüber ist Legras bereits oben und will dort bleiben. Séga versteht Legras als Darstellungsinstrument réunionspezifischer kultureller Güter, die erhalten werden müssen. Er sieht sich als Hüter dieser Musiktradition und wirft stets einen Blick zurück auf die Geschichte der Insel, um den Séga, seine Instrumentierung und Aufführungspraxis so authentisch wie möglich zu rekonstruieren: „Es gab einen europäischen Zustrom, einen Zustrom von alle dem. Also musste man die europäischen Musiken studieren. Wie ich sagte: die Menuette, die Gavotten, die Kontertänze, die Quadrillen, die Mazurkas. Es geht um all diese Vermischung, die unsere Musik ausmacht. Aber wenn du diese Musiken nicht studiert hast, kannst Du
47 Abbildung 2 ist von dieser Straße aufgenommen.
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Deine Musik nicht verstehen. Und der Großteil der Musiker beschäftigt sich sofort mit ihrer Musik, ohne zu versuchen, die Regeln zu verstehen, die Grundlagen. Deshalb hakt es später. Es klingt komisch.“ «On a eu un apport européen, un apport tout ça quoi. Donc, il a fallu étudier les musiques européennes. Comme j’ai dit: les Menuets, les Gavottes, les Contredanses, les Quadrilles, les Mazurkas. C’est tout ce Mélange-là qui a fait notre musique. Mais tant que tu n’as pas étudié ces musiques-là, tu ne peux pas comprendre ta musique. Et la plupart des musiciens, ils vont directement dans leur musique sans essayer de comprendre les règles, les bases. Ce qui fait que c’est bancal après. Ça tient pas la route.» (Legras 11.11.03: 320–327)
Guillaume Legras macht in diesem Zitat deutlich, dass die Basis seiner Musik in europäischen Stilen liegt. Der hörbare Bezug zum Vergangenen diktiert für ihn die Qualität der musikalischen Darbietung. Als Akteur verfolgt er nicht das Ziel mit seiner Musik etwas Eigenes darzustellen, sondern eine bestimmte Folklore zu konservieren (CD Titel 10). Dafür ist es seiner Ansicht nach nötig, europäische Musikstile studiert zu haben, die in der Kolonialzeit auf La Réunion verbreitet waren. Für Experimente mit lokaler Musik ohne eine entsprechende Ausbildung in deren Geschichte hat er kein Verständnis. Alles Hörbare muss sich für ihn auf den europäischen Ursprung zurückführen lassen, denn Legras ist in einer Familie aufgewachsen, die sich als Kréol Blanc über diesen europäischen Ursprung definiert. Für seine Tante Bernadette Ladauge beschreibt der Begriff, dass sie sich La Réunion als ihrer Heimat zugehörig fühlt, von anderen Réunionesen aber in ihrer Verbindung mit Kontinental-Frankreich unterscheidet. Blanc meint demnach nicht eine hellere Hautfarbe, sondern eine Herkunft, die mit der Geschichte der Petite Bourgeoisie verknüpft ist. Ladauges Vorfahren waren weder Plantagenbesitzer noch Sklaven, sondern Beamte, Regierungsangestellte und Lehrer. Auf La Réunion nehmen diese Menschen von jeher eine vermittelnde Position ein, wobei ihnen ihr berufliches und kulturelles Handwerkszeug von Kontinental-Frankreich vorgegeben wird. Auch Legras begreift es als seine Aufgabe, die Geschichte réunionesischer Musikkultur im Sinne dieser Familientradition weiterzuführen. Wenn diese Rolle von anderen nicht mehr gewünscht wird, verlieren er und seine Familie ihre Grundlage. Sie geraten in eine Krise der eigenen Repräsentation (vgl. Foucault 1974). Françoise Guimberts Geschichte beschreibt das Gegenteil. Gemäß ihrer Erzählungen scheint ihre Familientradition für ihre musikalische Laufbahn keine Bedeutung zu haben. Es geht ihr in ihrer Musik nicht darum, etwas zu erhalten, sondern sie möchte kommunizieren, mit Jugendlichen in ihrem Viertel und mit ihrem lokalen und überregionalen Publikum. Hierfür gründete sie eine Assoziation, in der sie Musikunterricht anbietet, Kindern Klavier, Perkussion und Tanz beibringt und mit ihnen Theaterstücke einstudiert. Sie will mit Musik verändern
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und widerspricht somit dem Ziel der Erhaltung einer Musique Traditionnelle, wie es Legras formuliert. Zur Bedeutung kontinental-französischer Einflüsse betont sie lediglich deren konkreten Nutzen für ihr persönliches und berufliches Weiterkommen: „Meine Fähigkeit zu sprechen, meine Fähigkeit ein französisches Kreol zu sprechen, kommt von da, durch meine Arbeitgeber, durch all jene Leute, mit denen ich in Berührung kam. Und natürlich gebe ich mir auch Mühe! Wenn ich mit meinen Jugendlichen spreche, bin ich dermaßen stolz, dass meine Jungen im Alter von 3 Jahren, 4 Jahren, 5 Jahren, 6 Jahren, dass sie sich gut auf Französisch ausdrücken können. Es gibt sogar einen, der Englisch spricht! Wir, als wir klein waren, selbst meine Schwestern, zumindest meine Mutter, zitterten, wenn wir in ein Amt gehen mussten, weil sie nicht wussten, sich auszudrücken. Sie hatten Angst! Sie wussten nicht zu sprechen. Und heute gehen unsere Jungen in die Schule und wissen zu sprechen! Das darf man ihnen nicht aberkennen. Sie sprechen zu Hause Kreol. Wenn sie nicht zu Hause sind, ist es so wie bei dir, auf Französisch. Und ich bewundere die Kinder, die auf Französisch im Fernsehen reden oder auf der Straße oder auf dem Schulhof – ich bewundere das!“ «Mon savoir parler, mon parler créole francisé ça vient de là, à cause de mes patronnes, à cause de tous les gens que je côtoyais. Et puis je fais aussi des efforts! Quand je parle avec mes jeunes, je suis tellement fière que mes jeunes aujourd’hui, à l’âge de 3 ans, 4 ans, 5 ans, 6 ans, eux ils se défendent bien en français! Y’en a même un qui parle anglais! Nous quand on était petits, même mes sœurs, bon peut-être ma mère, tremblaient en allant devant un bureau, parce qu’ils savaient pas parler. Ils avaient peur! Ils savaient pas parler et aujourd’hui nos jeunes vont à l’école ils savent parler! Faut pas les priver de ça. Ils parlent créole dans la case, en dehors de la case, c’est comme toi, en français! Et j’admire les enfants qui parlent en français à la télé, ou dans la rue, ou dans la cour d’école – j’admire ça!» (Guimbert 03.11.03: 658–669)
Guimbert hat die Erfahrung gemacht, dass es ihr Vorteile bringt, sie stolz macht und ihre Zukunftschancen verbessert, wenn sie Französisch sprechen kann. Sie erkennt diese Bedeutung des Französisch für ihr persönliches Weiterkommen an. An „ihre Kinder“ gibt sie diese Erfahrung weiter und lobt, dass sie gutes Französisch sprechen. Im Heranwachsen hat sich Guimbert an Vorbildern aus Kontinental-Frankreich orientiert, die ihr den Nutzen „französischer“ Fähigkeiten vor Augen führten. Für sie ist es kein Problem, ihre Familientradition gegen kontinentalfranzösische Ideale ausgetauscht zu haben. Stattdessen erzählte sie mir, durch die Arbeit bei einer „dame blanche“ geprägt worden zu sein, einer Lehrerin und Teil dessen, was Bernadette Ladauge als Petite Bourgeoisie beschreibt (Guimbert 03.11.03: 82). Bei ihr begann sie mit 14 Jahren als Hausmädchen. Erst durch Freunde und Nachbarn habe sie erfahren, dass ihre Urgroßväter und -mütter aus Afrika und Indien stammten. In unserem Gespräch verwies sie stolz auf diese
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Mischung, erzählte, dass sie heute gern Sari trage, betonte aber auch, dass es zahlreiche „ordentliche kreolische Namen“ (Guimbert 03.11.03: 302) in ihrer Familie gäbe, die ihre Verbindung mit der kontinental-französischen Kultur deutlich machten.48 So spielt Guimbert auf professionelle Weise mit unterschiedlichen kulturellen Referenzen. Dies geschieht bei ihr nicht als Projekt zur Erhaltung lokaler Traditionen, wie Guillaume Legras seine Aufgabe darstellt. Anders als Legras hat Guimbert keine familiäre Beziehung zu Frankreich, der Mère-Patrie. Was in der fortlaufenden Veränderung lokaler Musiktradition mit vermeintlichen kontinental-französischen Grundlagen passiert, ist ihr deshalb egal. Séga interpretiert sie auf eigene Art. Kontinental-französische Einflüsse spielen darin eine Rolle, solange sie ihr von Nutzen sind. Denn während früher das Französische für sie unabdingbar war, entdeckt sie mittlerweile den besonderen Reiz, sich als réunionesische Musikerin auch in einer indischen oder afrikanischen Tradition zu inszenieren. Das Geschick, ihre Identität entsprechend offen zu halten, hat Guimbert durch ihr Heranwachsen in einer kreolischen Kultur erworben, in der sie sich stets mit einem französischen Ideal vergleichen musste. Entgegen der Militants Culturels schaltete sie dabei nicht auf Widerstand. Die kulturpolitischen Maßstäbe Kontinental-Frankreichs akzeptiert sie als Capital Culturel einer „legitimen Kultur“ (Bourdieu 1987a: 129). Guimbert erwarb solches Capital Culturel zunächst während ihrer Arbeitszeit bei der Dame Blanche. In ihrer Jugend hatte sie deshalb Zugang zum kontinental-französischen Bildungswissen und lernte die dazugehörigen Umgangsformen (vgl. Bourdieu 1987a: 159). Mittlerweile gibt sie dieses Wissen an Jugendliche in ihrem Viertel weiter. Es hängt von deren persönlichem Einsatz ab, es sich ebenfalls zunutze zu machen. Gleichzeitig widersetzt Guimbert sich damit einer kulturpolitischen Dominanz aus KontinentalFrankreich, denn in ihrer Darstellung formt sie das Capital Culturel zum Ursprung ihrer eigenen Identität um. Sie setzt den Kreolisierungsprozess fort, in dem sie es öffentlich und veränderbar macht. Demgegenüber wollen Guillaume Legras und Bernadette Ladauge nicht verändern, sondern erhalten. Mit ihrer Definition des Séga als Musique Traditionnelle beschreiben sie eine lokale Musikkultur, die sich ihrem Anschein nach seit 48 Neben der Verbreitung der französischen Sprache ist die Durchsetzung einer „Ordnung der Namen“ ein weiterer Aspekt der französischen Assimilationspolitik (Waltz 1993). Die französische Regierung erhielt bis in die 1970er Jahre Gesetze, die es Eltern auf La Réunion vorschrieben, dass der erste Vorname ihrer Kinder ein französischer sein musste. Das hat gesellschaftspolitische Konsequenzen, denn der Andere sieht seine(n) Gegenüber mittels des Namens mit einem vom System provozierten Blick: „Auffällig ist das, wenn dieser Name dem Subjekt eigentlich gleichgültig ist – so zwingt die Begegnung mit dem Antisemiten den assimilierten Juden, sich wieder als Jude zu fühlen; das Subjekt, das seinen Namen bejaht hat, ist normalerweise dieser Name, es schaut nicht auf ihn, sondern durch ihn auf die anderen und die Welt“ (Waltz 1993: 104–5).
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der Kolonialzeit auf La Réunion etabliert und auch nach der Abschaffung der Sklaverei nicht gewandelt hat. Legras und Ladauge interpretieren Séga auf Basis in Kontinental-Frankreich entstandener musical geographies. KontinentalFrankreich steht im Zentrum ihrer musikalischen Lebenswelt und das soll sich nicht ändern, denn ihr Séga Kréol ist mit ihrer persönlichen Familientradition verbunden. Ihre Heimat ist La Réunion, doch Frankreich bleibt die Mère-Patrie. Mit Guimbert verbindet die beiden Musiker trotzdem etwas. Denn auch sie nutzen Musik aus einem persönlichen Interesse heraus. Musik ist ihr identitätskonstituierendes Medium, mit dem sie die Besonderheiten ihrer selbst und ihrer Kultur ausdrücken. Die Musik repräsentiert auch ihr réunionspezifisches Capital Culturel. Das gleiche Capital Culturel, die angeblich gleiche Musik, ermöglicht demnach unterschiedliche Inszenierungen von Identität und Kultur. Wobei Kulturschaffende Musik strategisch einsetzen, so traditionsbewusst sie sich auch darstellen mögen. Laut Guillaume Legras ist Séga eine Folklore, die eine bestimmte Spielweise voraussetzt, die von älteren Ségatiés an ihn weitergegeben wurde. Indem er sich solch technischen Aspekten der Musik verschreibt, macht er sich zum Experten für diese Tradition, weil bis auf wenige noch lebende Musiker nur er diese Techniken noch beherrscht. Legras musikalisches Ideal ist demnach eine möglichst authentische, technisierte Konservierung des Alten. Demgegenüber erklärt Françoise Guimbert die Bedeutung ihrer Musik anhand ihrer Texte. Darin erzählt sie nostalgische Geschichten aus dem kreolréunionesischen Alltag: „Ich spreche über das alltägliche Leben. In jedem Fall von der Liebe! Ich singe sehr gern über die Liebe, die Natur, weil ich für den Schutz der Natur bin! […] Ich höre nicht auf zu beobachten, zu verstehen und aufzunehmen! Und hinterher erschaffe ich meine kleine Welt. […] Ich nehme nur das was schön ist! […] Was schlecht ist, was negativ ist, olala, das lass ich außen vor. Und hop! Das werfe ich hinter mich (lacht). Ich stelle sicher, dass mir das nicht über den Weg läuft und darum sage ich dir, wenn ich den Leuten sage, dass ich 60 Jahre alt bin, glauben sie mir nicht. Ich bin 60 Jahre alt! Also, warum bin ich 60 Jahre und mache das? Weil ich mir nicht den Kopf über irgendwelche Sachen zerbreche. (Pause) Das Leben muss positiv sein, wir haben es in der Hand.“ «Je parle de la vie de tous les jours. Surtout de l’amour! J’adore chanter l’amour, la nature parce que je suis pour la protection de la nature! […] J’arrête pas de regarder, de comprendre et de captiver! Et après je fais mon petit monde à moi […] Je prends juste ce qui est beau! […] Ce qui est méchant ce qui est négatif, ho la la, je laisse tomber. Allez hop! J’envois ça derrière (lacht). Je fais en sorte de ne pas marcher dessus et c’est pourquoi je te dis: quand je dis aux gens que j’ai 60 ans ils me croient pas. J’ai 60 ans! Alors pourquoi j’ai 60 ans et que je fais ça? Parce que, je me prends pas la tête avec quoi que ce soit. (Pause) La vie doit être très positive, c’est nous qui l’a(vons).» (Guimbert 03.11.03: 341–355)
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Guimbert erklärt die Wahl der Inhalte ihrer Musik auf Basis ihrer Lebenseinstellung: „La vie doit être très positive“. Ein persönliches Glücksgefühl entstehe für sie im Einklang mit Natur und Umwelt. Sie will Einfluss auf die Identitätskonstruktionen ihrer Mitmenschen nehmen, indem sie sich als Verfechterin der Bedeutung von Umweltbewusstsein und Naturverbundenheit inszeniert.49 Mit diesen Idealen von Liebe, Schönheit und Naturschutz wendet sich Guimbert an ein zunehmend internationales Publikum, das sich La Réunion unter diesen Gesichtspunkten vorstellt, wünscht, erträumt. Für Legras ist Séga eine traditionelle Musik, auf konkreten Regeln beruhend und deshalb als Folklore erhaltenswert. Guimbert benutzt die Musik hingegen als ein Instrument, mit dem sich ein réunionesisches Lebensgefühl inszenieren lässt. Legras spielt Musik mit einem Blick in die Vergangenheit, Guimbert orientiert sich an der Zukunft. Zusammenfassend wird deutlich, dass die Lebenswelten, in denen beide Musiker ihre Kindheit verorten und denen sie sich zugehörig fühlen, sie zu unterschiedlichen Ansichten über die Charakteristiken eines authentischen Séga, seiner Bedeutung und Interpretationsweise führen. Ihre Auffassungen berufen sich auf ihre Art des Erlernens der Musik und prägen ihre Art des Weiterreichens der Musiktradition. Der Konflikt entsteht hierbei in der Frage, wer von beiden den größeren Anspruch darauf hat, seine oder ihre Musik als authentischen Séga zu bezeichnen. Was jedoch tatsächlich ins Wanken gerät, und damit beschäftige ich mich im folgenden Abschnitt, ist die Anwendbarkeit des Begriffs Authentizität an sich.
3.4
Authentischer Séga und authentische Ségatiés
Bis in die 1970er Jahre wurde Séga vor allem bei Tanzveranstaltungen an Wochenenden von so genannten Orchestres de Bals aufgeführt. Das réunionesische Publikum verlangte regelmäßig nach neuen Stücken, die durch das Radio oder als mitgebrachte Platten aus Kontinental-Frankreich auf der Insel bekannt wurden. Lokale Musiker waren deshalb beschäftigt, sich ein stets wechselndes Repertoire zu erarbeiten. Dabei interpretierten sie Musik des Variété Française auf eigene Art. Réunionesischer Séga blieb in ihren Interpretationen hörbar. Auf diesem Weg Musikmachen zu erlernen, neue Stücke auszuprobieren und dabei lokale Musiktraditionen weiterzuentwickeln, war typisch für die Zeit. Mittlerweile 49 Umwelt, Natur und deren Bedeutung für die Menschen sind im Zusammenhang mit der kreolischen Kultur La Réunions ein interessantes, aber bisher unbehandeltes Thema, das sich in zahlreiche wissenschaftliche Diskurse einfügt (vgl. Ingold 2000, Latour und Weibel 2005, Szerszynski et al. 2003, Wynne 2005). Obwohl viele Bewohner der Insel mich stolz auf die Schönheit der Natur aufmerksam machten, kam ich auf Wanderungen häufig an Orten vorbei, an denen illegal verschrottete Kühlschränke, Heizungen und alte Autos vor sich hin rosteten.
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wird Séga in Einzelstunden oder Workshops an den staatlichen Musikschulen (CNR) in St. Benoit, St. Paul, St. Denis und St. Pierre unterrichtet. Die Flexibilität, die Musikern in den Orchestres de Bals abverlangt wurde, kann auf diese Weise nicht vermittelt werden. Für Guillaume Legras läuft der Stil deshalb Gefahr, in seiner Ursprünglichkeit verloren zu gehen, denn es reiche ihm zufolge nicht, Séga ausschließlich nach einem festgeschriebenen Schema zu erlernen: „Die Musik, die wir machen, kann man nicht mit Leuten machen, die Musik studiert haben. Das hat nichts miteinander zu tun. Die brauchen Noten. Bei dieser Art von Musik, wenn man da Noten auflegt … Es ist eine lebendige Musik, die leben muss und … (C.W.: Ja, ein bisschen wie der Jazz.) Ja genau, der Jazz […] Du musst zeigen, was in deinem Kopf los ist, die Akkorde verändern, mit der Melodie spielen. Aber wenn du das wiedergibst, was in den Noten steht, aber nein! Das könnte jeder. Dann machst du Klassik. Das hat nichts miteinander zu tun. Da habe ich verstanden, dass man üben muss. Und früher übte man automatisch unsere Musik, dank des Trainings für die Bälle, all diese Sachen, einen bestimmten Stil einüben und so. Es kam vor, dass man mit bestimmten Musikern spielte und die sagten: ‚Ah nein, ein Séga, da gibt es vielerlei Variationen, das hier wird so begleitet.‘ […] Dann verstehst du, dass es viele unterschiedliche Rhythmen gibt. Doch jetzt sagt man dir, es gibt nur einen Rhythmus, Schluss aus. Aber nein, es gibt unterschiedliche Stile, Arten Musik zu machen.“ «La musique qu’on fait on peut pas la faire avec des gens qui ont étudié la musique et tout ça. Ça n’a rien à voir. Il leur faut la partition. Ce genre de musique, tu mes une partition, c’est une musique vivante qui doit vivre et c’est … (C.W.: Oui, un petit peu comme le jazz.) Oui exactement, le jazz. […] Tu dois justement faire voir ce que tu as dans la tête, changer tous les accords, jouer avec la mélodie. Mais si tu refais ce qu’il y a sur la partition, mais non! Ça, n’importe qui peut le faire. Là tu fais du classique, là. Ça n’a rien à voir. Et c’est là que j’ai compris qu’il fallait travailler. Et avant, ce travail ce faisait automatiquement sur notre musique, grâce aux formations de bals, à tous ces trucs-là, en travaillant un style et tout ça. Il paraît que tu joues avec certains musiciens, ils disent ‹Ah non un Séga, il y a plusieurs variantes, ça s’accompagne comme ça.› […] Et c’est là que tu réalises qu’il y a plein de rythmes différents. Or maintenant on te dit qu’il y a un rythme, point final. Or non, il y a plusieurs styles; des manières de faire.» (Legras 11.11.03: 512–529)
Legras schärfster Kritikpunkt ist, dass Séga zu einer kreolischen Form des Variété Française, eine Art „französischen Schlagers“ vereinheitlicht werde. Sein Anspruch auf den Erhalt der Ségatradition bedeute nicht, dass in der Musik kein Platz für Variationen oder unterschiedliche Rhythmen seien dürfe. Allerdings beruhten diese Spielmöglichkeiten auf einer langjährigen Ausbildung, die Musiker nicht mehr durchliefen, weil sie nicht in die Musik hineinwüchsen, sondern Rhythmen imitierten, ohne deren Ursprünge zu kennen. Ein Beispiel für die Homogenisierung des Stils als kreol-réunionesisches Variété Française ist Legras Ansicht nach die Gruppe Analyse. Sie zeichne sich in Stücken wie „Mon Idylle“
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(CD Titel 2) durch den Mangel aus, den er in seiner Wertschätzung der Ségatradition offen lege. Ihr Séga transportiert für ihn keine regionalbezogene Besonderheit, keine Geschichte oder Tradition. Die Musiker verwenden darin lokale Stilelemente, ohne etwas über deren Herkunft zu wissen. Im Gegensatz zu seiner Tante arbeitet Legras sich in einer solchen Kritik nicht an einer Differenz zwischen Séga und Maloya ab. Größere Probleme für den Erhalt des Séga Traditionnel entstehen in seiner Darstellung durch schlechte Ségamusiker. Denn inwieweit der Séga Kréol als Produkt réunionesischer Kultur erkennbar bleibt, ist für Legras abhängig von der Qualität der Musiker, die sich aus ihrer Herkunft ergibt. Nur wer in der Tradition des Séga aufgewachsen ist, kann seiner Meinung nach den Stil auf eine Weise spielen, die entscheidende Grundlagen dieser Musik hörbar macht und sie damit erst zum authentischen Séga werden lässt. Mit dieser Kritik inszeniert Legras sich und seinen Séga als rettende Alternative zu Gruppen wie Analyse. Seine Qualität belegt er im Verweis auf seine Vergangenheit und seine Ausbildung durch Ségatiés der „alten Schule“. Guillaume Legras berichtete mir zum Beispiel davon, wie er als Kind Tanzformationen der Groupe Folklorique nachspielte: „Wir waren dabei, soll heißen, wenn die Großen ihre Quadrillen machten, tanzten wir und das war lustig für das Publikum. Und wir … Ohne es zu wissen, hat uns das ausgebildet. Es war das Original und tatsächlich kam ein Großteil der Kinder von jenen Tänzern und Musikern dieser Gruppe. Und der Großteil von ihnen macht heute auch Musik.“ «On étaient sur le point, c’est à dire pendant les grands faisaient leur quadrilles, nous on dansait et c’était amusant pour le public. Et nous … Sans le savoir, ça nous formait. Et c’était le truc original. Et c’était en fait la plupart des enfants des danseurs ou des musiciens qui jouaient dans ce groupe-là qui venaient. Et d’ailleurs la plupart aujourd’hui sont dans la musique aussi.» (Legras 11.11.03: 38–43)
Mittels der Musik bleibt Legras Identität und seine Familientradition in einem Gefüge von links-liberaler Bourgoisie verankert, wie Ladauge es in ihrer Beschreibung der Petite Bourgeoisie zusammenfasst. Legras und Ladauges Geschichten sind eng verknüpft. Während er als kleiner Junge vor der Bühne tanzte, organisierte sie das Geschehen darauf. Bei meinem Besuch in Ladauges Haus fand ich seinen Namen in einem Stammbaum, der von Hand gemalt in ihrem Flur hing und nachzeichnete, welche musikkulturellen Akteure im Laufe der Zeit aus dem Bündnis der Familien hervorgegangen sind. Demgegenüber sind musikkulturelle Veränderungen für Françoise Guimbert eine Chance für junge Musiker sich zu schulen und mit ihren Talenten eine Öffentlichkeit zu erreichen. Die Gruppe Analyse ist für sie deshalb vielleicht musikalisch nicht interessant, doch trotzdem bemerkenswert, weil sie mit ihrer Musik
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erfolgreich ist. Für Guillaume Legras aber ist deren Séga eine Gefahr, die seine persönliche Identitätskonstruktion angreift – ein für ihn existenzielles Problem. Legras und Guimbert verbindet, dass sich beide nicht mit dem Label der Militants Culturels charakterisieren lassen. Stattdessen sind sie auf unterschiedliche Weise kontinental-französischen Vorbildern treu, die ihren Umgang mit der lokalen Musik nachhaltig beeinflussen. Sie nutzen diese Vorbilder für eigene Zwecke, zur Identitätskonstruktion und Inszenierung als Repräsentanten réunionesischer Musiktradition. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass selbst Legras, als mittlerweile strenger Verfechter einer réunionspezifischen Musiktradition, nicht immer Ségamusik gemacht hat. Bevor er sich endgültig dem Séga Folklorique verschrieb, spielte er Gitarre in einer Schülerrockband, die er zusammen mit seinen Freunden gründete und mit der er eine Zeit lang auf Gartenpartys und anderen privaten Festen auftrat. Öffentliche Veranstaltungen und größere Konzerte blieben der Band jedoch verschlossen. Erst später fand er wieder zurück in die Groupe Folklorique: „Es war 1987, und ich ging zu der Zeit mit einer der Tänzerinnen aus und deshalb verfolgte ich ein bisschen die Groupe Folklorique. Und da fand ich, dass es musikalisch ein Desaster war. Es hatte nichts mehr mit dem zu tun, was ich von früher kannte. Natürlich war es familiärer. […] Es hatte nicht die gleiche Mentalität. Die Musik war überhaupt nicht die gleiche. Und selbstverständlich waren die Leute nicht bei der Sache. Die Leute kamen, sie kamen nicht, und eines Tages fand ich mich als Ersatz für einen Musiker, der nicht da war. Ein Typ, der Banjo spielte. Wir waren in einem Theater. Ich, der bei kleineren Veranstaltungen in einer Rockband spielte, fand mich in einem großen Theater. […] Von diesem Moment an sagte ich mir, dass ich zumindest die Folklorestücke lernen werde. […] Nun gut, es kam das zweite Mal […] und Bernadette beschloss, dass ich besser spielte, als der andere. Weil ich die Stücke geübt hatte und natürlich die Tatsache, dass ich früher gesehen hatte wie das ablief … Deshalb fand sie, dass ich diesen anderen ersetzen sollte. Und sie sagte mir: ‚Das trifft sich gut, denn kommende Woche fahren wir in die Vereinigten Staaten. Wir spielen auf einem Festival, alles war arrangiert.‘ […] Und anschließend sind wir dahin.“ «C’était en 1987, et j’étais sorti avec une danseuse et donc là je suivais un peu le Groupe Folklorique. Et là je trouvais que c’était désastreux musicalement. Ça n’avait rien à voir avec ce que j’avais connu avant. Bien sûr avant ç’était plus familial. […] Ça n’avait pas la même mentalité. La musique n’avait pas du tout ça. Et donc à force les gens n’étaient pas sérieux. Des gens venaient, venaient pas et un jour je me suis retrouvé à remplacer un musicien qui n’était pas là. Un gars qui jouait du banjo. On était dans un théatre. Moi qui jouait dans des petites soirées, un groupe de rock, je me retrouve à jouer dans un grand théatre. […] À partir de ce moment je me suis dit, je vais quand même apprendre les morceaux du folklore. […] Bon, la deuxième fois se présentait […] et Bernadette a décrété que je jouais mieux que la personne. Parce que moi j’avais travaillé et moi effectivement le faîte que j’ai vu avant comment ça se passait … Et donc elle avait déclaré que c’était moi qui allais remplacer cette personnelà. Et elle me dit: ‹Ça tombe bien parce que la semaine prochaine on va aux Etats-
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Unis. On a un festival, tout était prévu.› […] Et puis on est parti là-bas.» (Legras 11.11.03: 152–177)
Seine erste Reise in die USA zeigte Legras, welche Erfolge mit réunionesischer Musique Traditionnel erzielt werden können. Eine solche Erfahrung hatte er als Musiker auf La Réunion bisher nicht gemacht. Sein Erfolg setzte ein, als er bewusst begann, an die musikkulturelle Arbeit der Menschen anzuknüpfen, in deren Umfeld er aufgewachsen war. Als einer der wenigen Banjospieler, füllte er musikalisch eine große Lücke und etablierte sich aus seiner Familientradition heraus als Ségamusiker. Françoise Guimberts Jugend und ihr Berufsleben hatten zunächst nur indirekt etwas mit Musik zu tun. Vermittelt durch einen Priester, der ihr versprach bei der „dame blanche“ ein gutes Leben zu haben, blieb sie bis zu deren Tod, für 18 Jahre, in der Anstellung als Haushaltshilfe. Sie tat dies gegen die Meinung ihrer Freunde, die sie davor gewarnt hätten, bei „Mme Desbassyns“ anzufangen.50 Tatsächlich beschrieb Guimbert mir ihr Verhältnis zur „dame blanche“ immer als sehr distanziert. Obwohl sie sich zum Beispiel nie die Hand gegeben hätten, bliebe ihr die Zeit jedoch positiv in Erinnerung: „Als die Leute mir sagten: ‚Ja, du trägst sie, du schiebst sie überall hin und sie hat dir nichts hinterlassen …‘ sagte ich: ‚Nein!‘ […] Sie hat mir […] diese kleine Chance gegeben, das zu werden, was ich bin! Anerkannt. Gott hat mir die Hoffnung gegeben Sängerin werden zu können. Und zudem hatte sie Vertrauen in mich! Ich hatte den Schlüssel in der Hand. […] Für mich ist Vertrauen mehr wert als Geld.“ «Quand les gens me disent: ‹Ouais, tu la […] portes tu la pousses (partout) elle t’a rien laissé cette …› J’ai dit: ‹Non!› […] Elle m’a donné […] cette petite chance de devenir ce que je suis! Reconnue. Dieu m’a accordé l’espoir de devenir chanteuse. Et en plus, elle avait confiance en moi! J’avais la clef dans ma main alors […] pour moi la confiance vaut plus que de l’argent.» (Guimbert 03.11.03: 149–155)
50 Mme Desbassyns war eine auf La Réunion für ihre Härte und Grausamkeit bekannte Plantagenbesitzerin, deren Name synonym für die Zeit der Sklaverei verwendet wird (CD Titel 15). Ihr koloniales Anwesen ist mittlerweile ein Museum. Bei meinem Besuch wurde ich immer wieder eingeladen, hinter die Absperrungen zu treten und Dinge zu berühren. Mein Führer benutzte ein altes hölzernes Fernrohr als Zeigestock, mit dem er etwa auf Details in Ölgemälden tippte. Einerseits war ich überrascht, wie sorglos mit den ausgestellten Gegenständen im Haus umgegangen wurde, andererseits verdeutlichte es für mich den Widerspruch zwischen einem Museum als Erinnerungsort, an dem das Ausgestellte mit Respekt behandelt wird, und der Ausstellung selbst, die an einen Reichtum erinnert, der auf Sklaverei aufgebaut war. Bilder und Informationen zum Musée de Villèle sind zugänglich unter der URL: http://www.rando-reunion.com/pages/musee/villele.htm (Datum des letzten Besuchs: 07.02.08).
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Guimbert beschreibt eindrücklich das Vertrauensverhältnis zwischen ihr und der „dame blanche“. Sie gab ihr buchstäblich den Schlüssel in die Hand – für ihr Haus und für Guimberts Zukunft. Für sie hat die „dame blanche“ ihr einen Weg aufgezeigt, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Sie gab ihr Selbstvertrauen und eine Ausbildung, lernte sie lesen und sich auf Französisch ausdrücken. Dieses Umfeld ermöglichte es Guimbert, sich in einem bestimmten Maße selbst zu verwirklichen. Das Vertrauensgefühl, das ihr entgegengebracht wurde, versucht sie nunmehr an Jugendliche in ihrer Assoziation zu vermitteln: „Sie erzählen mir Sachen, die sie in der Schule gemacht haben, auf dem Schulhof, einen Film und so weiter. Ich finde das schön. Es ist sicher, dass sie das nicht mir ihrer Mutter machen, weil Mutter und Vater arbeiten. Sie sind sehr glücklich bei mir zu sein, sehr stolz! Ich sehe das in ihren Augen […] und das liegt daran, dass ich mir Zeit nehme. […] Wenn die Leute versuchen Zeit zu finden, finden sie sie auch! Aber heute sind die Leute in Eile. Man wird von anderen umhergehetzt, sie selbst hetzen sich ab.“ «Ils me racontent des trucs qu’ils ont fait à l’école dans la cour, un film et tout ça. Je trouve ça beau et c’est sûr qu’ils font pas ça avec leur mère parce que papa maman ils travaillent. Et ils sont très contents d’être avec moi, très fiers! Je vois ça dans leurs yeux […] et ça parce que je prends le temps. […] Si les gens essayent de trouver le temps, ils trouvent! Mais les gens maintenant sont bousculés. On est bousculé par les autres mêmes, eux-mêmes ils se bousculent.» (Guimbert 03.11.03: 383–391)
Die réunionesische Kultur hat sich nach Meinung Guimberts gewandelt. Ihre Jugend erinnert sie in engem Kontakt mit den Nachbarn gelebt zu haben. Alle trafen sich regelmäßig am Abend. Es gab zwar keine Bürgersteige, kein fließend Wasser, keine Kanalisation und nur eine Toilette für die unmittelbare Nachbarschaft, doch dafür bestimmten Geschichten, Versteckspielen und Ausflüge mit Freunden ihre Lebenswelt. Das ist mittlerweile vorbei und auch nicht wiederzubringen, aber die Erinnerung bleibt eine Orientierung für Guimberts musikkulturelle Arbeit. Das Selbstvertrauen, sich als Kulturschaffende verwirklichen zu wollen, hat sie durch die „dame blanche“ gewonnen. Ihre Botschaft, die Inhalte ihrer Texte, bezieht sie auf die angesprochenen Kindheitserinnerungen. Musik ist für sie demnach authentisch, wenn sie ein besonderes Gefühl der Verbundenheit mit ihrer Lebenswelt transportiert. Diese Verbundenheit hat für Guimbert nicht mit einer bestimmten Familientradition zu tun, sondern mit Lebenserfahrung. Sie erkennt einen guten Roulèr-Spieler etwa an der Art, wie er sein Instrument „aus dem Bauch“ beherrsche, ohne eine bestimmte Schule besucht zu haben (Guimbert 03.11.03: 591). Demgegenüber sieht Legras die Qualität réunionesischer Musiker, wenn sie Séga auf eine Weise spielen, die seiner Vorstellung des Originals entspricht. Qualität und Authentizität resultieren für ihn aus einer intensiven Beschäftigung mit réunionesischer Musikgeschichte:
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„Heute gibt es die Maloyagruppen, es gibt die Ségagruppen. Maloya ist vor allem Percussions und Gesang, und Séga ist der gleiche Rhythmus, aber mit Instrumenten, Harmonien und Gesang. (C.W.: Mit einem europäischen Einfluss?) Nicht mal mehr europäisch, man könnte sagen global. […] Vorher war es europäisch. […] Heute ist das Problem, dass es nicht mehr europäisch ist, es hat nicht mehr die gleiche Natur. Das tut uns nicht gut, weil wir vorher etwas hatten, das wirklich unser war. Wir hatten einen Stil, der wirklich unser war und jetzt sind wir auf dem Weg aus diesen Gründen all das zu verlieren. Wir sind auf dem Weg in der Masse zu verschwinden. […] Und die Musiker haben den Eindruck, dass es uniform werden muss, um Erfolg zu bringen. Sie haben nicht verstanden, dass man im Gegenteil originell, einzigartig sein muss, um aus dem Ganzen herauszukommen. Denn wenn du das Gleiche machst wie Analyse, für mich ist das schlecht gemachter Schlager. Damit hast du niemals in Kontinental-Frankreich Erfolg (lacht) … Das sind die Stars, wir produzieren niemals einen Goldman. Dieses Niveau erreichen wir nicht. (C.W.: Und warum ist das hier auf La Réunion so erfolgreich?) Also, das ist die Gehirnwäsche der Medien. Soll heißen, manchmal wenn du das Radio anmachst und du dich fragst wieso sie dir das immer wieder vorsetzen. Und hier, wenn das einmal im Radio gespielt wird, egal ob es gut oder schlecht ist, […] die Tatsache, dass das läuft und läuft und läuft … Da kauft man halt. Hinterher kauft man wieder und man sagt sich ‚ah, das ist es was ich im Radio höre‘, und selbst wenn du es nicht magst. […] Tja, das ist die Gehirnwäsche.“ «Maintenant tu as les groupes de Maloya, tu as les groupes de Séga. Maloya ça va être que percussion et chant et Séga c’est le même rythme mais avec des instruments, de l’harmonie et du chant. (C.W.: Avec une influence européenne?) Même plus européenne maintenant, on pourrait dire mondiale. […] Avant c’était européen. […] Maintenant le problème c’est que ce n’est plus européen et donc ça a beaucoup dénaturé. Ça nous fait beaucoup de mal parce qu’on avait quelque chose qui était à nous vraiment avant. On avait un style à nous vraiment et que maintenant on est en train de perdre à cause de tout ça. On est en train de se fondre dans la masse. […] Et les musiciens ont l’impression c’est que ça doit devenir uniforme pour pouvoir sortir. Ils n’ont pas compris qu’il faut être, au contraire, original, unique pour pouvoir sortir du lot. Parce que si tu fais la même chose comme Analyse, pour moi c’est de la variété mal faite. Tu ne pourras jamais marcher en métropole, parce que la variété en métropole [lacht]… Il y a des pointures, on fera jamais du Goldman. On arrive pas à ce niveau là. (C.W.: Et pourquoi ça marche, ici à La Réunion, aussi bien?) Ben écoute, c’est le bourrage de crâne des médias. Je veux dire, des fois tu allumes la radio et tu te demandes pourquoi ils te passent ça en boucle. Et ici, une fois que ça passe à la radio, que ce soit bien, que ce soit faux, […] le fait que ça passe, ça passe, ça passe… Et bien on achète. Après on rachète et tu dis ‹ah c’est ça que j’entends› même si tu n’aimes pas. […] Et puis c’est le bourrage de crâne.» (Legras 11.11.03: 406–433)
Viele Musiker La Réunions machen Legras Meinung nach Musik, mit der sie lediglich andere Stile kopieren. Sie schaffen Uniformität, statt die Besonderheiten der lokalen Musik zu pflegen. Dies tun sie seiner Ansicht nach, weil sie den Eindruck haben, nur dann außerhalb La Réunions erfolgreich sein zu können, wenn sie sich mit ihrer Musik anpassen. Mit der Groupe Folklorique seiner Tante hat
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Legras die gegenteilige Erfahrung gemacht. Der Séga, den er aus seiner Familientradition heraus gelernt hat, ist für ein überregionales Publikum reizvoll, und somit ist es erfolgversprechend, nicht zu kopieren, sondern die Besonderheiten der lokalen Musik nach außen zu tragen. Doch in einem weltumspannenden „bourrage de crâne“, einer Gehirnwäsche, bleibt für ihn die Befürchtung, dass der Séga Traditionnel auf Dauer jene besondere Qualität verliert. Denn keine/r, außer ihm, inszeniert die Musik noch in einer Art, die an die Traditionen erinnert, aus denen diese Qualität hervorgegangen ist. Das bedeutet nicht, dass Andersartigkeit kein bedeutender Faktor zur Vermarktung réunionesischer Musik bleibt. Die Erfolge von Maloyamusikern im World Music-Kontext zeigen das. Doch je erfolgreicher der Maloya wird, desto mehr muss Legras sein Bild réunionesischer Ségatradition, das sich an der Erhaltung vergangener Traditionen orientiert, uminszenieren. Denn réunionesische Musikgeschichte, die in der Vergangenheit zur Herausbildung des Séga Traditionnel geführt hat, wird mittlerweile anders erzählt. Es sind Stimmen hinzugekommen, etwa die eines Alain Courbis oder einer Françoise Guimbert. Legras bedenkt in seiner Kritik nicht, dass viele Musiker La Réunions nicht auf eine Familientradition wie die seine zurückblicken. Seinen Séga Traditionnel verortet Legras im Stammbaum einer Petite Bourgeoisie, der für alle Gäste sichtbar in Bernadette Ladauges Hausflur hängt. Legras Wurzeln sind eindeutig. Sie tragen französische Namen und sind in réunionesische Erde gepflanzt. Der Séga Kréol einer Band wie Analyse hat für Legras deshalb nichts mit réunionesischer Musik zu tun. Für einen beträchtlichen Teil der lokalen Bevölkerung ist diese Musik jedoch gefällig und unterhaltend. Einerseits ist sie nichts Besonderes, andererseits gerade deshalb wichtig. Denn darin geht es nicht mehr um eine kontinental-französische Vormacht, sondern um Musik als Geschäft, das für alle Réunionesen zugänglich ist. Für Legras ist réunionesische Musikkultur mit seiner Familientradition verbunden und somit existenziell. Deshalb kämpft er für sie und begründet dies mit seinen positiven Erfahrungen auf Konzertreisen außerhalb La Réunions, wo er und seine Band ihr „truc traditionnel“ machen. Der Erfolg liefert ihm die Bestätigung, mit seinem Bemühen um den Schutz der Musiktradition das Richtige zu tun. Von einem réunionesischen Publikum erfährt er diese Bestätigung nicht. Legras Bemühungen zeigen, dass es in der lokalen Musikproduktion nicht allein um das Erfüllen von Erwartungen anderer geht. Dafür sind einige Akteure durch ihre persönlichen Geschichten zu eng mit der Musik verbunden. Sie arbeiten für den Erhalt eigener Familientraditionen und um sicher zu stellen, dass das von ihnen Erlernte, worauf sie ihre Identität stützen, nicht an Bedeutung verliert. Deshalb versucht Legras, sich mit seinem Séga Traditionnel gegenüber anderen Stilen zu behaupten. Seine Musik ist aus der Vermischung entstanden, die einzigartig für einen Teil der réunionesischen Bevölkerung ist, der Petite Bourgeoisie, für andere Teile jedoch nicht. Der Grund dafür führt mich am Ende dieses Teils
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zurück zur Arbeit von Institutionen wie dem PRMA und deren Orientierung an überregionalen Kriterien.
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Die Konstruktion musikkultureller Authentizität
Im Verweis auf den Maloya vermarktet Alain Courbis ein réunionesisches Image musikkultureller Authentizität. Er erzählt Geschichten über Firmin Viry und Danyèl Waro, über Militants Culturels und musikkulturellen Widerstand. Vom Séga Traditionnel Guillaume Legras und Bernadette Ladauges erzählt er nicht, obwohl deren Musik ebenso authentisch ist. Sie verbindet eine réunionesische Familientradition mit La Réunion als ihrer Heimat und Kontinental-Frankreich als ihrem Mutterland. Doch damit erfüllen Legras und Ladauge nicht die World Music-Kriterien von Widerstand und Revolution. Françoise Guimbert hat ein ähnliches Problem. Sie wuchs in einer langjährigen Anstellung als Haushaltshilfe bei einer „dame blanche“ auf. Deshalb wurden kontinental-französische Traditionen, Aussehen, Sprache und Umgangsformen für sie zu einem erstrebenswerten Capital Culturel. Doch mittlerweile ist es als réunionesischer Musiker nicht mehr notwendig, sich kontinental-französischen Werten, Musikstilen oder Darstellungsweisen anzupassen, denn für einen überregionalen World Music-Markt gilt: Je exotischer desto besser. Die kulturpolitische Vormacht KontinentalFrankreichs ist aus dieser Sicht beendet. Militants Culturels, die einst Widerstand gegen diese Vormacht leisteten und deshalb unterdrückt wurden, sind mittlerweile im Vorteil. Andere, wie Guillaume Legras oder ehemals erfolgreiche Musiker der Orchestres de Bals, müssen kämpfen – um den Erhalt ihrer Musik, ihrer Familientradition und ihre Identitätsgrundlage. Eine dritte Gruppe dieser Generation bewegt sich dazwischen. Während Ladauge ihre Familientradition verteidigt und Waro Widerstand leistet, bedient sich Guimbert an den Inszenierungen beider Akteure. So erzählte sie mir in Tarnfleck-Bluse und mit französischem Barette von der „dame blanche“, die ihr soviel beigebracht hätte, und im nächsten Satz von den Zuckerrohrfeldern oberhalb St. Benoits, in denen sie als Kind erlebt hätte, wie der „vrai kaf“, der echte Kafre, Roulèr spielte und Maloya sang. Musique Traditionnelle wird von Musikern auf unterschiedliche Weise verwendet, ob als Hilfsmittel bei der persönlichen Identitätskonstruktion, als kulturpolitisches Artikulationsinstrument, zur Erhaltung der eigenen Familientradition, als Referenzrahmen in der Jugendarbeit oder Marketing-Tool für das Bild eines exotischen La Réunion. Gleichzeitig stehen Musiker unter dem Einfluss neuer Musikstile, die über unterschiedliche Medien nach La Réunion importiert werden. Seit der Departmentalisation 1946 hat dieser letzte Punkt stark an Bedeutung gewonnen. Überregionale Musik wird nunmehr durch eine Vielzahl an Radio- und Fernsehstationen verbreitet. Dabei handelt es sich nicht allein um Mu-
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sikstile aus Kontinental-Frankreich. Bereits Mitte der 1960er Jahre gewann mit dem Zouk auch die Musik der Antillen an Bedeutung. Selbst der Séga Mauricien, neben dem Variété Française die bis dahin erfolgreichste Musik von außen, konnte dagegen nicht bestehen. Wie in den vorangegangenen Kapiteln ausgeführt, ist seit den 1980er Jahren das überregionale Interesse an lokaler Musik bedeutungsvoller geworden. Eine Konsequenz daraus ist zum Beispiel, dass die réunionesische Raggaloya Band El Diablo, die in ihrer Musik Percussion des Maloya mit Gesangstechniken und Rhythmen des Ragga verbindet, mittlerweile in Kontinental-Frankreich erfolgreicher ist, als in ihrer Heimat. Erfolge außerhalb La Réunions haben konkrete Auswirkungen auf die Akteure und die Inhalte ihrer Musik. Dies veranschaulicht das folgende Zitat aus einem Interview mit Françoise Guimbert, in dem sie schildert, wie ihr musikalischer Erfolg ermöglichte, Familienangehörige in Kontinental-Frankreich wiederzutreffen: „Meine Nichten, die dort drüben geboren sind, die ich niemals gesehen hatte! […] Sie sind schön, sie sind … nun, nicht wie wir, weil sie Kinder sind, die mit Métropolitains gemacht wurden. Oder den Magrebinern, ich weiß nicht, aber sie sind sehr schön. Ich habe Nichten zwischen 25 und 30 Jahren in Frankreich! Neffen, sie kommen um mich singen zu sehen, zu diesem Anlass lerne ich sie kennen.“ «Mes nièces qui sont nées là-bas, que j’ai jamais vues! […] Elles sont belles, elles sont … bon pas comme nous parce que c’est des enfants faits avec des métropolitains. Ou des maghrébins, je sais pas, mais elles sont très belles. J’ai des nièces de 25–30 ans en France! Des neveux, ils viennent me voir chanter, par la même occasion je fais leur connaissance.» (Guimbert 03.11.03: 690–696)
Guimbert lernte ihre Nichten bei einem Konzert in Kontinental-Frankreich kennen. Sie entsprachen scheinbar ihrem Schönheitsideal: Weniger Kréol und mehr Métropole. Ähnlich der Gründe aus denen ihr ein gutes Französisch viel bedeutet, sieht sie Schönheit pragmatisch, als Aneignung eines weiteren kontinentalfranzösischen Capital Culturel. Ihre Hautmetaphorik transportiert das Bild eines Standes, dem ihre Nichten und Neffen nunmehr entsprechen. Ein Traum, den sie seit ihrer Kindheit und Arbeit als Haushaltshilfe gehabt hat. Auf La Réunion hat sie Kontinental-Frankreich idealisiert und ihre Nichten sind buchstäblich mit Haut und Haaren in diesem Ideal aufgegangen. Dieses Ziel konnte sie trotz der professionellen Aneignung musikkultureller Ideale Kontinental-Farnkreichs niemals erreichen. Guillaume Legras demgegenüber entspricht diesem Idealtypus seit seiner Geburt. Er gehört zur Petite Bourgeoisie. Seine Familie ist freiwillig nach La Réunion gekommen und bleibt Kontinental-Frankreich traditionell verbunden. Ihn interessiert eine Anpassung an kontinental-französische Vorbilder nicht. Vielmehr möchte er den musikalischen Beweis erbringen, auf La Réunion im Séga Kréol etwas Eigenes geschaffen zu haben. Doch marktstra-
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tegische Faktoren einer World Music-Szene fördern mittlerweile die Wertschätzung einer anderen Art von lokaler Musik, des Maloya. Musik muss Künstlern zwar weiterhin das Image einer besonderen, authentischen Kulturproduktion geben. Doch nicht mehr friedvolle Vermischung, sondern Widerstand und Revolution sind gefragte Bestandteile dieser Besonderheit geworden. Ihr gesteigerter Marktwert führt dazu, andere Versionen réunionesischer Musikgeschichte zu produzieren: “The romance of resistance in World Music discourse leads World Music celebrities to stress their antiestablishment credentials, feeding a variety of misleading views of how specific genres emerged and circulated.” (Stokes 2004: 61)
Diese romance of resistance, sei sie nun „misleading“ oder nicht, wird von Musikern wie Danyèl Waro verkörpert. Guillaume Legras Séga erzählt nichts davon. Dementsprechend erfolgreicher ist Danyèl Waro. Hierbei geht es nicht darum, ob er seine Musik vorsätzlich verfälscht, sondern um die Tatsache, dass das Image, das er verkörpert, im World Music-Kontext momentan stärker gefragt ist. Seine Musik ist deshalb nicht authentischer als die Guimberts oder Legras. Letzterer identifiziert sich schließlich mit der Erhaltung eines authentischen Séga, weil seine Familientradition darauf beruht. Als Stil, der ursprünglich aus der Vermischung und Imitation anderer Stile hervorging, ist dieser Séga Kréol für Legras zu einer traditionellen Musik mit charakteristischen Sounds, Melodien und besonderen Inhalten geworden. Während er deshalb auf technische Besonderheiten des Séga beharrt, verwendet Françoise Guimbert zunehmend Geschichten aus der Vergangenheit, um die Originalität ihrer Musik darzustellen: „Ich war auf den Höhen des Rivière des Roches, Beau Vallon, bei den Wurzeln, die wahren Wurzeln des Maloya, des Kaf’, des echten Kaf’ […] Wir, als ich mit meinem großen Bruder in die Felder ging und die Leute sangen! Wenn ich manchmal die Reportagen auf Antenne 2, Tempo sagt man mittlerweile, sehe (réunionesisches Fernsehen), ich begeistere mich für die Reportagen über Afrika, über die ganze Welt! Und es passiert mir, dass ich bestimmte Gesten sehe, die unsere Alten auf den Feldern machten. Man sang! […] Ich habe das Glück, das miterlebt zu haben! Ein Miteinander durchs Fenster: […] ‚Heute abend haben wir einen Kabar in meinem Haus, komm.‘ […] Und da sind alle, man isst, man trinkt zusammen! Im nächsten Monat bin ich dran und du kommst. Und keine Erstkommunion oder eine einzige Taufe wo es nicht ein Schwein oder eine Ente gab. All die Nachbarn rundherum haben den Maloya getanzt! Aber ich hab nicht viel Séga gesehen, … jetzt sieht man den Séga.“ «J’étais dans les hauts de la Rivière des Roches, Beau Vallon, là où y’a le trou, vraiment le trou maloya, le trou des Kaf’ des vrais Kaf’! […] Nous, quand j’allais dans les champs avec mon grand frère et les gens chantaient! Comme je vois des fois des reportages sur Antenne 2, Tempo plutôt on dit maintenant, j’adore regarder les reportages sur l’Afrique, sur le monde entier! Et il m’arrive de voir certains gestes que faisai-
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ent nos vieux dans les champs. On chantait! […] Moi j’ai eu la chance d’avoir vécu ça! Un partage par la fenêtre: […] ‹Ce soir on a un Kabar ma case, viens› […] Et là tout le monde est là, on mange, on boit ensemble! Le mois prochain c’est moi et c’est toi qui viens. Et pas une seule première communion ou un seul baptême où y’avait pas un cochon un canard! Tous les voisins autour là encore on crase le Maloya! Mais moi j’ai pas trop vu le Séga … maintenant on voit le Séga.» (Guimbert 03.11.03: 173–192. Zusatz von C.W.)
Guimbert sieht im Fernsehen Teile Afrikas und verbindet sie mit Kindheitserinnerungen an Maloyamusik und Tanz auf La Réunion. Sie verknüpft damit Erinnerungen an ihre Jugend mit anderen Teilen ihrer kreol-réunionesischen Identität. Dass ihre Musik etwas Ursprüngliches transportiert, belegt Guimbert mit Berichten aus dem Fernsehen. Diese geben ihr ihre musikalischen Wurzeln zurück, Erinnerungen, die der Maloya transportiert. „Rest’là Maloya“, erklärte sie mir romantisierend (Guimbert 03.11.03: 865) und zitierte damit den Titel eines Stückes von Alain Peters (CD Titel 1), der durch die 2003 erschienene Platte Parabolèr ebenfalls wieder in Erinnerung gerufen worden war (siehe S. 61). Guimbert weiß um den Erfolg dieser Veröffentlichung des PRMA. Sie weiß auch um den überregionalen Erfolg des Maloya, der den Séga verdrängt hat. Deshalb verweist sie auf Peters und den Maloya als Teil ihrer wiederentdeckten réunionesischen Vergangenheit. Die Frage nach Herkunft und Verortung lokaler Traditionen bekommt in Guimberts Darstellung somit eine andere Dimension. Sie inszeniert ihre Identität gemäß ihrer Eindrücke aus unterschiedlichen musikkulturellen Kontexten. Dabei macht sie sich auch kontinental-französische Maßstäbe zunutze. Gleichzeitig gibt es für sie mindestens zwei lokale Musikformen, denen sie traditionsstiftende Funktionen einräumt: Den Séga, der sich besonders zur Adaption kontinental-französischer Einflüsse eignet, und den Maloya, der dazu dient, sich als réunionesische Musikerin zu inszenieren, die in einer Tradition des Widerstands aufgewachsen ist. Guimbert instrumentalisiert beide Stile für sich, um ihrer Musik ein Image von Authentizität zu geben. Diese Möglichkeit hat Guillaume Legras nicht. Im bleibt nichts als der Kampf um die Erhaltung seines Séga Traditionnel, doch dafür tritt er nicht allein gegen eine réunionesische Bevölkerung an, der Séga und Orchestres de Bals egal geworden sind, sondern auch gegen musikkulturelle Institutionen, die den Maloya bevorzugen, weil dessen Marktwert höher ist. Legras sieht ein entscheidendes Problem darin, dass Funktionäre, Produzenten und Veranstalter, die aus Kontinental-Frankreich nach La Réunion kommen, nicht in der Lage seien, gute von schlechter réunionesischer Musik zu unterscheiden (Legras 11.11.03: 1055). Sie seien oftmals nicht wie er mit den Musiktraditionen der Insel vertraut, weshalb sie nicht wüssten, was lokale Traditionen ausmache: „Heute spielt der Bass nicht mehr …, jetzt macht der Bass (singt) … Aber da bist du nicht mehr im Traditionellen. Da bist du dabei etwas anderes zu machen. Und wenn
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du nicht die alten Rhythmen geübt hast, kannst du das nicht verstehen. […] Wenn man mit den Alten spielt, die spielten vor den, man nennt das Karussells. Weißt du, die Manegen, die Kinder, die man darauf anschob. Und sie machten die Blechblasmusik davor. Sie spielten Ségas und wenn das Ding anhalten sollte, machten sie ‚coupe la corde‘. ‚Coupe la corde‘ heißt (singt) … Aber das ist eine Art Ende einer Polka. Und das, wenn du es als Séga spielst, ist etwas Traditionelles. Und wenn du das heute spielst, sagen die Leute: ‚Ah, was ist das denn da?‘ ‚Also das ist so und so … Das kommt da her.‘ Es gibt viele solch kleiner Verbindungen, die daraus ‚unsere Musik‘ machen und die man heute nicht mehr hat. Deshalb sage ich, dass ich es vorziehe mit den Alten zu spielen. Weil sie mir ständig etwas beibringen. […] Und das bringt die Sache voran. […] Heute wird die Musik nicht mehr weitervermittelt, man muss sie aufschreiben. Ich hatte noch diese Chance, weil Bernadette Ladauge eine traditionelle Folkloregruppe hatte. Deshalb war ich, seit ich sehr klein war, mit diesen Leuten konfrontiert. Aber ich würde sagen, wenn ich nicht in dieser Familie gewesen wäre, dann wäre ich genau wie alle anderen. Meine einzige Grundlage wäre das Radio, deshalb hätte ich heute wie alle anderen verloren, ich hätte die gleiche Mentalität wie alle anderen.“ «Aujourd’hui la basse ne te fait plus de pompe, maintenant la basse te fait … (singt). Mais là tu n’es plus dans le traditionnel. Là tu es en train d’essayer de faire autre chose. Et si tu n’as pas travaillé sur les rythmes anciens, tu ne peux pas comprendre tout ça. […] Quand on joue avec ces anciens-là, il jouaient avant, on appelle ça, des carrousels. Tu sais: les manèges, les enfants qu’on poussait comme ça. Et eux, ils faisaient la musique en cuivre devant. Ils jouaient des Ségas et quand le truc devait s’arrêter, ils faisaient ‹coupe la corde›. ‹Coupe la corde› c’est quoi: C’est … (singt) Mais ça c’est genre ‹fin d’une Polka›. Et ça, quand tu le fais en Séga c’est un truc traditionnel. Et quand tu joues ça aujourd’hui, les gens te disent: ‹Ouah … c’est quoi ce truc là?› ‹Bien ça c’est, ça … Ça vient de là.› C’est plein de petits apports comme ça qui donnent le côté ,notre musique’ et qu’on n’a plus du tout aujourd’hui. C’est pour ça que je te dis, moi je préfère jouer avec tous ces anciens-là. Parce que eux, ils m’apportent tout le temps. […] Et c’est ça qui fait avancer. […] Aujourd’hui, la musique n’est pas encore transmise et il faut l’écrire. Moi j’ai eu cette opportunitélà parce que Bernadette Ladauge avait un groupe folklorique traditionnel. Donc, étant très jeune, j’ai été confronté à ces gens-là. Mais je dirais, si j’avais pas été dans cette famille-là, j’aurai été comme tout le monde. Ma seule base aurait été la radio, donc j’aurais été perdu comme tout le monde et j’aurai la même mentalité que tout le monde.» (Legras 11.11.03: 807–841. Zusatz von C.W.)
Legras erzählt andere Geschichten als Courbis oder Guimbert. Er spricht nicht von Widerstand, sondern von Technik und Begeisterung. Musik bedeutet für ihn Kindheitserinnerungen, die durch die Besonderheit gekennzeichnet sind, auf La Réunion aufgewachsen zu sein. Die alten hölzernen Karussells, wie sie früher auf Jahrmärkten Verwendung fanden, sind Teil einer Tradition, die für ihn in ihrer Begleitmusik erhalten bleibt, im Séga Traditionnel. Mit solchem Wissen über lokale Musik begründet Legras seine Position als einer der letzten Experten für
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réunionesischen Séga. Diese Fähigkeit sich zur Entwicklung der lokalen Musik äußern zu können, fehlt seiner Ansicht nach einem Großteil kulturpolitischer Funktionäre. Deshalb geraten Musiker und Musik in Vergessenheit oder werden erst entdeckt, wenn sie bereits tot sind, so geschehen mit Alain Peters oder dem Liedermacher Henri Madoré (vgl. Legros 1990). Guillaume Legras erzählt eine entsprechende Geschichte, in der er seine Frustration darüber zum Ausdruck bringt, wie mit der Erinnerung an Musiker, die Einfluss auf die Entwicklung réunionesischer Musiktradition genommen haben, umgegangen wird: „Ich arbeitete mit dem ODC (Office Départemental de la Culture). Soll heißen, mit der größten Organisation was die Kultur hier auf La Réunion angeht. Man hat mich gefragt, eine Veranstaltung für Jules Arlanda zu organisieren, ein alter Akkordeonist, und man hat mir gesagt: ‚Ja, das ist toll wenn wir die Akkordeonisten zusammenbringen‘ und so. Ich sagte, das ist super. Und was stellt man mir für eine Frage: ‚Wird Loulou Pitou da sein?‘ Loulou Pitou ist jemand, eine Persönlichkeit, er machte die Quadrillen, er hat viel gemacht. Nun gut, er ist seit sechs Jahren tot. […] Ich hab sie angeschaut und ich hab gesagt … Und das sind die Leute, die etwa 60.000 Francs im Monat verdienen, das sind die großen Bosse! Und sie sind es, die die Musik machen. Sie sind es, die die Türen für die Musik öffnen. Sich entscheiden. Und wenn du auf einen von denen triffst, denkst du dir: warte. Ich hab gesagt: ‚O.K. hört zu, ich werde Luc Donat anrufen, und wenn Luc Donat‘ – er ist seit noch längerer Zeit tot – ‚Loulou Pitou nicht braucht, sag ich bescheid …‘ Und sie haben mich angesehen, sie haben es nicht verstanden. Sie haben es nicht verstanden und ich bin gegangen und in solchen Momenten wird dir klar: was sollst du machen?“ «Je travaillais avec l’ODC (Office Départemental de la Culture). C’est à dire c’est le plus gros poste au niveau de la culture ici à La Réunion. On me demande de monter un spectacle pour Jules Arlanda, c’est un ancien de l’accordéon, et on me dit: ‚Oui, c’est bien qu’on réunissent les accordéonistes’ et tout ça. Je dis que c’est super. Et qu’est-ce qu’on me pose comme question: ‹Est-ce que Loulou Pitou sera là?› Loulou Pitou c’est quelqu’un, c’est une figure, il a fait des quadrilles, il a fait plein de trucs. Bon il est mort il y a six ans. […] Et je regarde et je dit … Mais, ça c’est des bouts qui touchent 60.000 francs par mois, ça c’est les gros boss. Et c’est eux qui font la musique. C’est eux qui ouvrent les portes à la musique. C’est eux qui font les juste tient. Et quand tu tombes sur des gens comme ça, tu te dis: attends. J’ai dit: ‹Et bien écoutez, je vais téléphoner à Luc Donat, et si Luc Donat› – Il est mort, il y a encore plus longtemps – ‹n’a pas besoin de Loulou Pitou, je dirais …› Et ils m’ont regardé, ils n’ont pas compris le truc. Ils ont pas compris et moi je suis parti et c’est là que tu te rends compte: qu’est-ce que tu veux faire?» (Legras 11.11.03: 1039–1058. Zusatz von C.W.)
Funktionäre argumentieren mit dem Ziel der Erhaltung réunionesischer Traditionen. Legras beschreibt jedoch, dass es vielen von ihnen an der nötigen Kompetenz hierfür fehle oder es ihnen allein um ein Geschäft mit der lokalen Musik gehe. Der überregionale Markt und dessen Vertreter haben einen machtvollen Einfluss darauf, welche Musikstile und Musiker erinnert werden. Kulturelle
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Differenz als Basis réunionesischer Musiktraditionen ist eine Tatsache. Sie bildet das Capital Culturel musikkultureller Akteure der Insel und wird in ihrer Musik sichtbar. Doch nur bestimmte Stile und Musiker erhalten die Möglichkeit, kreolréunionesische Kultur auch außerhalb La Réunions zu repräsentieren, ob live oder in der Erinnerung an sie. So findet eine marktwirtschaftlich motivierte Kontrolle darüber statt, wie die Besonderheit der Musiktradition auf La Réunion sich anzuhören hat: “Hegemony, despite its homogenising cultural reach, now accommodates (circumscribed and carefully marketed) cultural difference. Difference within the system is the condition and stimulus of the market – and this necessarily comes with an illusion of equality, of many differences, and in the bastardised versions of chaos politics which results the image of ‘crossed’ cultural forms merely competing for a fair share. Among things that are forgotten here is the fact that it is often embourgeoised groups that can avail themselves of the space to articulate a demand to go to market.” (Hutnyk 2000: 32–3)
Obwohl Guillaume Legras Tante ihre Familie als Petite Bourgeoisie beschreibt, die traditionell auf La Réunion Kunst und Kultur gepflegt habe, ist er kein Teil einer solchen embourgoised group mehr. Diese besteht mittlerweile aus Funktionären in Institutionen wie dem ODC, deren Arbeit jedoch nicht darauf abzielt, individuellen Vorstellungen einer Musique Traditionnelle zu entsprechen. Sie arbeiten mit einem anderen Blick auf die lokale Musik. Françoise Guimbert macht sich dies zunutze, wenn sie ihre Identität entsprechend der Kriterien dieser anderen Perspektive konstruiert. Hierfür betont sie etwa ihre Jugend in den Zuckerrohrfeldern, ihre Erinnerung an ursprüngliche Gesten und Musik aus der Zeit der Sklaverei und ihre Verbundenheit zur réunionesischen Natur. Guillaume Legras befindet sich demgegenüber in dem Konflikt, sich selbst als Teil einer embourgeoised group zu verstehen und gleichzeitig ohnmächtig vor der Unwissenheit kulturpolitischer Funktionäre kapitulieren zu müssen, die seine Familientradition für unwichtig erklären, weil sie nicht verstehen, den Séga Traditionnel zu fördern: «Ils ont pas compris et moi je suis parti et c’est là que tu te rends compte: qu’est-ce que tu veux faire?» Politisch ist La Réunion nicht mehr Kolonie, sondern Department. Unter dem Vorwand der Erhaltung der Musiktradition durch Institutionen und Funktionäre von außen, setzen sich jedoch koloniale Strukturen fort. Selbst die kreolréunionesische Tradition der Petite Bourgeoisie, die eine Vormacht KontinentalFrankreichs nicht infrage stellt, läuft dabei Gefahr, ihre Identitätsgrundlage zu verlieren. Es wäre falsch, die Arbeit musikkultureller Akteure, sowohl des Séga als auch des Maloya, auf marktstrategische Interessen zu reduzieren. Denn unter ihnen bleiben viele, die sich mit ihrer Musik identifizieren, weil sie darin hineingewachsen sind. Zu ihnen gehört zweifelsohne Guillaume Legras. Aber auch Danyèl Waro erzählte mir, dass sein Vater, der Vertreter der PCR im Bezirk von
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Le Tampon, von jeher politische Diskussionen in die Familie trug. Sein Wohnzimmer diente als Versammlungsraum für seine Parteigenossen. Die Musik bewegte Waro zu der Einsicht, sich auch an einem öffentlichen Kampf für réunionesische Traditionen beteiligen zu wollen. „Kréol Parabole, Français École“ wurde zu seiner Maxime. Der Begriff „Maloya“ bezeichnet eine Musik, in der Menschen sich „etwas von der Seele reden“, sich „auskotzen“ können, wie sich eine der madagassischen Bedeutungen des Wortes übersetzt. Als Waro anfing Musik zu machen, stand der Stil noch nicht unter dem Einfluss von World Music-Funktionären und überregionalen Institutionen. Er war zudem der erste, der in seiner Person die Geschichte des Ti Blanc, des armen weißen Bauern, mit der Zafer bann Nwar, mit der Sache der Schwarzen, verband. In zweierlei Hinsicht verkörpert Waro deshalb den Dérangeur, den „Störenfried“. Er vermischt unterschiedliche Kategorien der Ungleichheit. Als Maloyamusiker ist er nicht schwarz und als Weißer nicht französisch. Die Grundlage seiner Musik liegt im Inneren seiner widersprüchlichen Persönlichkeit und seiner daraus resultierenden Kritik an der Inszenierung Réunions als Ort friedvoller kultureller Vermischung. Danyèl Waro versinnbildlicht als Musiker und in seiner Person Widerstände und Kontroversen. Doch die Kontrolle über die Verbreitung seiner Musik und deren inherenter Kritik am kulturpolitischen System Frankreichs muss auch Waro mittlerweile mit verschiedenen Institutionen teilen. Ein 20 Désamn bei ihm bleibt zwar ein Fest, auf dem musikkulturelle Akteure sich in der Tradition der Militants Culturels darstellen und gemeinsam feiern (siehe S. 29). Gleichzeitig wird es jedoch zur kulturpolitischen Inszenierung für den Kultusminister aus Mosambik, wenn dieser gemeinsam mit Paul Vergès, dem Präsidenten des Conseil Régional, anderen Offiziellen und Sicherheitspersonal in drei schwarzen Limousinen bei seiner Feier vorfährt. Musikkulturelle Besonderheit als herausragendes Charakteristikum La Réunions ist in den politischen Diskursen von Parteien und Funktionären eingeflossen. Orte wie Danyèl Waros Feier haben einen kulturpolitischen Wert bekommen, wobei deren Bedeutung zwischen unterschiedlichen Interessengruppen entschieden wird. Während die Verbreitung von Kréol-Réunionnais, Musik und Kunst durch den Maloya stark zugenommen hat, kritisiert Waro deshalb weiterhin, dass … (1) In der Öffentlichkeit entscheidende kulturpolitische Fragen, die eine réunionesische Bevölkerung betreffen, nach wie vor auf Französisch diskutiert werden. (2) In Radiosendern nahezu ausschließlich Französisch gesprochen wird. (3) Zu Hauptsendezeiten Nachrichten vorgetragen werden, die sich zunächst nicht mit La Réunion, sondern mit Neuigkeiten aus KontinentalFrankreich beschäftigen. Was für Waro der Maloya, ist für Legras der Séga. Der Maloya symbolisiert für Letzteren eine Besonderheit des Heranwachsens in einer réunionesischen Kultur,
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mit der er sich nicht identifiziert. Diese Rolle übernimmt für ihn stattdessen der Séga. Deshalb kritisiert er den Maloya, weil Akteure darin seiner Ansicht nach europäische Einflüsse innerhalb der réunionesischen Kultur zugunsten einer alternativen Geschichtsschreibung vernachlässigten: „Keiner kennt die Geschichte der Insel. Alles was man gekannt hat, ist die Sklaverei. Das ist in den Köpfen der Menschen. […] Soll heißen: sobald man von der Vergangenheit spricht ist es das. Aber die Musik war … Es gab einen Teil Sklaverei, einen Teil der Leute, die Sklaverei betrieben haben. Soll heißen: jene, die Sklaven besaßen. Die sind es auch, die unsere Musik gemacht haben, so wie die Sklaven versucht haben, sie zu imitieren. Also muss man sich dafür interessieren, was sie als Grundlage machten. Wenn du einmal verstanden hast, was sie machten, hast du auch verstanden, wie die Sklaven diese Musik verstanden haben. Schlussendlich haben sie es auf ihre Art interpretiert und du machst hinterher Annäherungsversuche, die Quadrillen und so. Aber warum tanzte man früher Quadrillen? Damit ist es genauso, es gab die Pferde, die Könige und so weiter, und sie machten ihre Tänze, indem sie das imitierten. Aber wer tanzt heute noch eine Quadrille? Niemand tanzt hier mehr eine Quadrille, die Kontertänze und so weiter.“ «Personne ne connaît l’histoire de l’île. Tout ce qu’on a connu, c’est l’esclavage. C’est ça qui est dans la tête des gens. […] C’est à dire que lorsqu’on parle du passé c’est ça. Mais la musique c’était … Il y a eu une partie de l’esclavage, une partie des gens qui ont fait l’esclavage. C’est à dire ceux qui avaient des esclaves. C’est eux aussi qui ont fait notre musique, comme les esclaves essayaient de les imiter. Donc, il faut s’intéresser à ce qu’ils faisaient à la base. Une fois que tu as compris ce qu’ils faisaient, tu as compris comment les esclaves ont compris cette musique-là. Enfin eux ils ont interprété de leur manière et tu fais après des rapprochements, les quadrilles et tout. Mais pourquoi on dansait les quadrilles avant? Mais pareil, il y avaient les chevaux, les rois et tout et ils refaisaient leur danses en imitant et tout. Mais aujourd’hui, qui danse un quadrille? Mais plus personne ne danse un quadrille ici, des contredanses et tout ça.» (Legras 11.11.03: 854–869)
Guillaume Legras befürchtet, dass die Petite Bourgeoisie in Vergessenheit gerät, weil die lokale Bevölkerung sich nur an die Sklaverei erinnert: «Tout ce qu’on a connu c’est l’esclavage». Legras existenzielles Problem weitet sich deshalb mit der zunehmenden Bedeutung des Maloya aus. Was er nicht sieht ist, dass auch umgekehrt, durch die Betonung kontinental-französischer Einflüsse, bestimmte Aspekte einer réunionesischen Kultur überschrieben werden. Françoise Guimbert macht dies in der Definition ihres Séga und ihres Maloya deutlich: „Ja, meiner zum Beispiel ist im Gegenteil sehr französisiert (C.W.: Ah ja, der Maloya auch?) Nein, mein Séga. Auch mein Maloya! Du könntest meinen Maloya lesen. Aber weil ich das Glück hatte, eine gute Kultur zu haben.“
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«Oui, par exemple, le mien est très francisé par contre (C.W.: ah oui, le Maloya aussi?) non, mon Séga. Même mon Maloya! Tu pourras le lire mon Maloya. Mais parce que j’ai eu la chance d’avoir une bonne culture.» (Guimbert 03.11.03: 643–646)
Durch ihre Erziehung nach kontinental-französischen Werten kann Guimbert ihre Maloya- und Ségatexte für ein überregionales Publikum „lesbar“ machen. Dies ist das Stichwort für das folgende Kapitel. Französisch ist nach Guimberts Ausführungen dem Kréol-Réunionnais überlegen, weil sie sich damit innerhalb einer „guten Kultur“ verorten kann. Deshalb überschreibt sie réunionspezifische Inhalte ihrer Musik mit einem übergeordneten Medium, dem Französisch. Danyèl Waro kritisiert dies wehement. Er war der Einzige meiner Interviewpartner, der auf meine Fragen nicht in Französisch, sondern in Kréol-Réunionnais antwortete, denn für ihn bleibt es ein entscheidender Unterschied, ob die Geschichte der Batarsité auf Französisch oder in Kréol-Réunionnais erzählt wird. Im Maloya schafft Waro es, Konflikte zu artikulieren, ohne dafür auf Hilfsmittel von außen, vor allem aus Kontinental-Frankreich, zurückgreifen zu müssen. Doch der Erfolg seiner Batarsité gefährdet auch die Identitätskonstruktionen anderer Réunionesen, etwa Angehöriger der Petite Bourgeoisie wie Guillaume Legras, dessen musikkulturelle Basis damit an Bedeutung verliert. Dieser Konflikt wird durch überregionale Interessen an der lokalen Musikproduktion verschärft: Einer Suche nach Authentizität, eines Labels, das von Funktionären, Produzenten und Managern aus dem World Music-Kontext vergeben wird. In den vorangegangenen Kapiteln habe ich begonnen darzustellen, auf welch konfliktreiche Art zwischen musikkulturellen Institutionen und Musikern auf La Réunion ausgehandelt wird, was authentische kreol-réunionesische Musiktradition ist und was nicht. Militants Culturels etwa hat ihr Rückgriff auf den Maloya zu einem erheblichen Teil deshalb zu Popularität verholfen, weil dessen Besonderheiten mittlerweile marktwirksame Kriterien erfüllen. Andere stürzt diese Entwicklung in eine existenzielle Krise, denn in der Verwobenheit von Musikgeschäft und persönlicher Entwicklung werden ihre Familientraditionen, ihre Wertevorstellungen und ihre Art Musik zu machen infrage gestellt. Deutlich wurde, dass der Maloya eine entscheidende Funktion für Militants Culturels, wie etwa Danyèl Waro, hat. Er ist alternatives Medium zum dominanten Französisch. Somit ist er auch für die Verbreitung der lokalen Sprache, dem Kréol-Réunionnais, als zweites zentrales Medium kreol-réunionesischer Kultur wichtig. Im folgenden Kapitel werde ich deshalb vertiefen, warum der Maloya zu einem solch bedeutenden Medium geworden ist. Was machte zunächst die Musik und nicht die lokale Sprache zum zentralen Artikulationsinstrument réunionesischer Kultur? Weshalb ist sie dafür besonders geeignet?
4 Musik im Verhältnis zur lokalen Sprache “There is no postcolonial cultures or places: only moments, tactics, discourses. ‘Post-’ is always shadowed by ‘neo-.’ Yet ‘postcolonial’ does describe real, if incomplete, ruptures with past structures of domination, sites of current struggle and imagined futures.” (James Clifford 1997: 277)
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Zwei Labels im Vergleich
Musik ist auf La Réunion ein wichtiges Medium zur Darstellung der im voranstehenden Zitat angesprochenen „sites of current struggle and imagined futures“. Sie wird auf unterschiedliche Weise zur Stärkung der lokalen Sprache, dem Kréol-Réunionnais, verwendet. Mein Ziel ist es, in diesem Kapitel darzustellen, wie mittels Musik die Bedeutung des Kréol-Réunionnais verhandelt wird. In den voranstehenden Abschnitten habe ich unterschiedliche Mechanismen, Institutionen und Personen innerhalb des Kulturbetriebs der Insel beschrieben. Ich habe etwa aufgezeigt, wie der Maloya, unterstützt vom internationalen World MusicGeschäft, zum zentralen musikkulturellen Medium kreol-réunionesischer Kultur geworden ist. Auch Séga wird von einigen Musikern dafür verwendet, sich und ihre Lebenswelten zu verbinden und ihre Identitäten auf dieser Verbindung zu konstruieren. In beiden Fällen ist von zentraler Bedeutung, dass bestimmte Kulturschaffende sowohl auf institutioneller als auch individueller Ebene die Darstellung kreol-réunionesischer Musikkultur prägen und dabei unterschiedliche Interessen verfolgen. Um die Verwendung von lokaler Musik toben demnach persönlich und politisch motivierte Kämpfe. In einem dieser Kämpfe geht es um die Anerkennung des Kréol-Réunionnais. Seit November 2000 ist Kréol-Réunionnais als eigenständige Sprache, als Langue Régionale, in Frankreich anerkannt. Im Jahre 2003 erschien auf La Réunion unter dem Titel „Littérature Réunionnaise au Collège“ (Pouzalgues und Samlong 2003) das erste Lehrbuch zur Förderung eines bilingualen Sprachunterrichts. Doch der Versuch Kréol-Réunionnais in Schulen zu etablieren, bleibt mit zahlreichen Schwierigkeiten verbunden. Denn auch nach der Departmentalisation 1946 war Kréol-Réunionnais als „Abart“ des Französisch verrufen. Beruflich und persönlich erfolgreich zu sein, war mit der Beherrschung kontinentalfranzösischer Umgangsformen verknüpft. Eltern versuchten ihre Kinder deshalb von der lokalen Sprache fern zu halten, indem zu Hause nur Französisch gesprochen wurde. Kréol-Réunionnais zu sprechen, symbolisierte Perspektivlosigkeit. Doch Kinder lernten die Sprache trotzdem, etwa beim Spielen auf der Straße. Lehrende in den Schulen konnten mit den kreol-réunionesischen Ausdrücken ihrer Schüler allerdings wenig anfangen. Zumeist für ein paar Jahre aus Kontinen-
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tal-Frankreich auf der Insel, verstanden sie Kréol-Réunionnais nicht und die Bruchstücke, die einen Sinn für sie ergaben, ließen sie ihre Schüler ermahnen, nicht so ein falsches und damit minderwertiges Französisch zu sprechen. Die kulturelle Trennung, die mit der Departmentalisation aufgehoben sein sollte, blieb deshalb erhalten und wurde im Schulunterricht weiterhin sicht-, hör- und für Schüler und Lehrer auch emotional spürbar. Entscheidend für die Anerkennung des Kréol-Réunionnais als Langue Régionale ist nunmehr, dass diese einleitenden Schilderungen nicht allein Szenen aus der Vergangenheit darstellen. Denn für einen beträchtlichen Teil der lokalen Bevölkerung bleibt die Befürchtung, dass ein in Kréol-Réunionnais geführter Unterricht die Zukunftsperspektiven ihrer Kinder verbaue. Kulturschaffende, die sich für das Kréol-Réunionnais einsetzen, müssen solche Vorstellungen bekämpfen. Ihr Ziel ist es, eine anerkannte und gelebte Zweisprachigkeit einzuführen. Sie argumentieren, dass eine Stärkung des Kréol-Réunionnais das Erlernen des Französisch fördere und nicht behindere, weil erst so eine bewusste Trennung der Sprachen möglich werde. Es geht den Akteuren demnach um mehr als einen angemessenen Status für die lokale Sprache. Sie fordern eine offizielle Abgrenzung des Kréol-Réunionnais vom Französisch, und somit auch eine Anerkennung des Kréol-Réunionnais als eigenständige Ausdrucksform réunionesischer Kultur. Musik ist den Akteuren hierbei behilflich. Im Mittelpunkt meiner folgenden Ausführungen steht eine auf diese besondere Rolle der Musik bezogene Beschreibung der Entwicklung des Kréol-Réunionnais: Von einer als minderwertig empfundenen Abart des Französisch, über eine Definition als Dialekt, zum Status einer eigenständigen Sprache. Zwei Musikgruppen, die als Militants Culturels Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre begonnen haben und mittlerweile zu den erfolgreichsten Bands La Réunions zählen, sind Bastèr und Ziskakan. Sie spielen im Prozess um die Anerkennung des Kréol-Réunionnais eine besondere Rolle. Bastèr ist aus einem quartiergebundenen Projekt entstanden, dem Mouvmon Kiltirel de Basse-Terre (MKBT). Bewohner des Stadtteils Basse-Terre am nördlichen Rand St. Pierres gründeten 1981 diese Assoziation, um Probleme, Wünsche und Kritik am gesellschaftspolitischen Wandel La Réunions zu diskutieren und öffentlich zu machen. Ziskakan entstand ebenfalls aus einer kulturpolitischen Initiative. Die Band fand sich erstmals im Jahre 1979 zusammen und hat sich seitdem immer wieder kritisch mit der kulturpolitischen Landschaft La Réunions auseinandergesetzt. Mit ihrer Musik wurden Texte bekannter kreol-réunionesischer Schriftsteller vertont. Zu ihnen zählen Axel Gauvin, Patrice Treuthardt und Carpanin Marimoutou. Zentrale Figur in beiden Formationen ist jeweils ein charismatischer Sänger, im Falle Bastèrs Thierry Gauliris, im Falle Ziskakans Gilbert Pounia. Zwischen der Sprach- und Musikebene kommt es durch sie zu vielschichtigen Verknüpfungen, die verständlicherweise in diesen beiden Personen ihren Ausdruck finden. Die beiden Sänger repräsentieren eine musikalische Perspektive auf das Verhältnis zwischen lokaler Sprache und lokaler Musik. Sie schreiben und inter-
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pretieren Texte in Kréol-Réunionnais und verwenden hierfür bewusst ihre lokale Sprache. Im Zentrum steht für beide allerdings die Musik. Diese Musik, Maloya, „SégaMaloya“ (Gauliris 09.06.03: 445) oder auch réunionesischen Folk, auf Französisch zu singen, wäre für sie undenkbar. Kréol-Réunionnais ist im buchstäblichen Sinne selbstverständlich die angemessene Sprache für ihre Musik und die kulturkritischen Inhalte ihrer Texte. Gegenüber ihrer Perspektive als Musiker steht jene der Verfechter der lokalen Sprache. Carpanin Marimoutou und Ginette Ramassamy sind zwei Akteure aus diesem Umfeld. Marimoutou ist Literaturwissenschaftler und arbeitet unter anderem an der Universität von La Réunion. Er schreibt außerdem Texte für Theater und Musicals sowie Lieder in Kréol-Réunionnais. Ginette Ramassamy und er waren Ende der 1970er Jahre Teil einer politischen Bewegung, die sich auch der Musik als Sprachrohr bediente. Beide erkannten früh, dass Musik kulturpolitische Fragen und Inhalte transportieren kann und sich somit auch das Kréol-Réunionnais auf affirmative Weise medialisieren lässt. Musik hat aus ihrer Sicht für die lokale Sprache eine unterstützende Funktion. Deshalb erfolgt für sie ein entscheidender Schritt zur Affirmation der lokalen Sprache über deren Darstellung in Musik. Im Gegensatz zu Gauliris und Pounia dient für sie somit die Musik der Sprache und nicht umgekehrt. Carpanin Marimoutou erklärte mir das Ziel der politischen Interventionen, die er gemeinsam mit Ginette Ramassamy und der Band Zélandor Mitte der 1970er Jahre bestritt, als den Versuch einer Konstruktion von Solidarität innerhalb der réunionesischen Bevölkerung.51 In ihren Veranstaltungen riefen Marimoutou, Ramassamy und andere zu diesem Zweck nach Unabhängigkeit von kontinental-französischer Kulturpolitik. Musik nutzten sie als symbolträchtiges Ausdrucksmittel einer gelebten, aber bisher nicht anerkannten lokalen Kultur. Sie bildete ihr, wie es John Chernoff formuliert, “forum for discourse about things that have no substance but only effects and manifestations” (Chernoff 2002: 397). Die Frage „Unabhängigkeit, ja oder nein?“ wurde in den 1970er Jahren auf La Réunion immer wieder diskutiert, jedoch stets von einer Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt. Diese Diskussion bleibt in den Konzerten der Band Ziskakan aktuell. Die Musiker entfernen sich in ihren Darstellungen aber zunehmend von einem Verweis auf eine Dichotomie „Kontinental-Frankreich vs. La Réunion“, hin zu einer alleinigen Wertschätzung kreol-réunionesischer Besonderheit. 30 Jahre nach Zélandor, beim Jubiläumskonzert Bastèrs im Jahre 2003, sind die Militants Culturels Bastèr und Ziskakan zu Referenzen für die Bemühungen um die lokale Kultur und das Kréol-Réunionnais geworden. Die Musiker leben auf der Bühne die aktive Zweisprachigkeit: Kréol-Réunionnais als Heimatsprache, Fran51 Die Band beschreibt Marimoutou als Organ einer für knapp zwei Jahre aktiven Unabhängigkeitsbewegung. Aus Teilen dieser Band ging auch die Gruppe Ziskakan hervor.
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zösisch als internationale Sprache. Kréol-Réunionnais ist Symbol und Artikulationsinstrument für réunionesische Besonderheit. Jedoch ist es das nur in der musikkulturellen Inszenierung. Außerhalb davon wird sprachliche Gemeinschaft weiterhin allein in einem französischen Bildungssystem gefördert. Deshalb arbeiten Verfechter des Kréol-Réunionnais daran, die Sprache zu institutionalisieren, indem sie in das lokale Schulsystem eingebunden wird. Ginette Ramassamy ist eine dieser Verfechterinnen. Sie arbeitet in der mairie von Le Port. Die Wahlen der im Nordwesten gelegenen Hafenstadt gewinnt traditionell die PCR, deren Zeitung Le Témoignages hier ihren Stammsitz hat. Als promovierte Sprachwissenschaftlerin betreut Ramassamy den Umgang mit Kréol-Réunionnais in Familien. Die Schwerpunktthemen in ihrem Bereich „Erlernen des Französisch in kreolophonen Milieus“ sind die Arbeit mit Eltern und das Vermitteln eines partnerschaftlichen Umgangs in der Kindererziehung. Ramassamy beschäftigt sich mit Möglichkeiten der besseren Verständigung über Ängste und Vorurteile zwischen Eltern und Kindern im Bezug auf das KréolRéunionnais. Eltern übertragen Erfahrungen aus ihrer Kindheit in die Erziehung ihrer Kinder. Weil vielen von den eigenen Eltern der Eindruck vermittelt wird, Französisch wäre dem Kréol-Réunionnais vorzuziehen, bleiben hierarchische Wahrnehmungen von Kréol-Réunionnais und Französisch von Generation zu Generation erhalten. Ramassamy sieht ihre Aufgabe darin, diese Kette zu durchbrechen. Zentral ist für sie ein offener Austausch. Eltern sollen sich an ihre Kindheit erinnern, an Ängste und Einschüchterungen, die sie durch Lehrer und andere Autoritätspersonen erlebten, wenn sie Kréol-Réunionnais sprachen. Sie argumentiert, dass sich solche Erinnerungen der Eltern in Reaktionen auf schlechte Noten ihrer Kinder widerspiegeln: „Was frage ich also die Eltern: ‚Was haben sie gefühlt, als sie mit dieser Note konfrontiert wurden?‘ […] Und normalerweise ist es Panik. Panik! Diese schlechte Note ist das Ende der Welt! Sofort wenn sie das sagen, wird den Eltern bewusst, wie unverhältnismäßig ihre Reaktion im Verhältnis zur Note war. Und das bringt sie weiter. Dann sage ich: ‚Und wie – als wir selbst schlechte Noten hatten – was haben wir da gefühlt? […] Als unsere Eltern uns hinterher angeschrien haben, was haben wir da gefühlt?‘ ‚Ja … dass ich wirklich in gar nichts gut war, dass ich mir wünschte die Erde würde sich öffnen und ich in ein Loch kriechen!‘ Dann musst du nicht mehr sagen: Man soll nicht schreien.“ «Qu’est-ce que je veux demander au parents: ‹Qu’est-ce que vous avez ressenti face à cette note?› […] Et en général c’est la panique. La panique! C’est mauvaise note, là, c’est la fin du monde! Donc là tout de suite, quand ils disent ça, les parents se rendent compte combien leur réaction était démesurée par rapport à la note. Et ça les amène. Et là je dis: ‹Et comment – quand nous-mêmes avions des mauvaises notes – qu’est-ce qu’on ressentait? […] Quand nos parents nous ont crié après, qu’est-ce qu’on a ressenti?› ‹Oui … que j’étais vraiment bonne à rien, que j’avais envie que la terre s’ouvre et que je rente dans un trou!› T’as plus besoin de dire: Faux pas crier.» (Ramassamy 21.07.03: 142–154)
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Ginette Ramassamy hat in ihrer Kindheit ähnliche Erfahrungen gemacht, wie die Eltern und Kinder mit denen sie arbeitet. Sie identifiziert sich demnach sowohl mit der Situation der Eltern, als auch mit der der Kinder und unterstützt die Eltern darin zu erkennen, was sie eigentlich schon wussten: Dass eine schlechte Note nicht das buchstäbliche „Ende der Welt“ bedeutet. Diese Erkenntnis ist ihrer Ansicht nach jedoch umso schwerer aussprechbar, wenn einem als Kind gelehrt werde, den Zugang zur Welt liefere allein das Französisch, und im Gegenzug, dass das Kréol-Réunionnais, die Sprache der Kindheit, einem diesen Zugang versperre, weil erwachsen werden bedeute, Französisch zu sprechen. Sie fördert deshalb eine Wahrnehmung des Kréol-Réunionnais als Ausgangspunkt einer besonderen, aus dem Inneren La Réunions hervorgehenden Weltanschauung. Institutionell ist sie an den Regierungsapparat einer Stadt angebunden, in der die PCR vor 40 Jahren Maloyamusik öffentlich machte. Ebenso förderungswillig zeigt sich die Stadtverwaltung nunmehr in Bezug auf die Vermittlung eines affirmativen Umgangs mit der lokalen Sprache. Veränderung wird somit nicht mehr von Militants Culturels durch lautstarkes Trommeln, Singen und Tanzen eingefordert. Stattdessen wird sie innerhalb der Institution, innerhalb der städtischen Regierung, von Sprachwissenschaftlerinnen wie Ginette Ramassamy vorangetrieben, die argumentiert, mit und nicht gegen die Institution die Bedeutung des Kréol-Réunionnais stärken zu können. Neben der Schaffung einer Öffentlichkeit für das Kréol-Réunionnais plädiert Ramassamy deshalb auch für eine kreol-réunionesische Grammatik. Erstens gibt dies Sprechenden die Möglichkeit, nicht aus sich heraus für ihre Sprache eintreten zu müssen, sondern auf etablierte Regeln verweisen und diese weitergeben zu können. Zweitens beschränkt sich der Gebrauch der Sprache dadurch nicht mehr auf La Réunion. Kréol-Réunionnais kann so überall erlernt, gesprochen und verstanden werden. Drittens löscht dies das für Ramassamy negativ konnotierte Bild der Diglossie aus, des Sprach-Switchings ohne festgeschriebene Regeln und Strukturen. Denn auf Basis einer Grammatik kann Kréol-Réunionnais nach den gleichen Maßstäben analysiert werden wie andere Sprachen. Die Geschichte der réunionesischen Musikkultur ist in diesem Prozess der Affirmation des Kréol-Réunionnais ein bedeutender Anknüpfungspunkt. Wie Kevin Dawe es beschreibt, gibt Musik ihnen die Möglichkeit … “… to show how various cultures have responded to a range of problems and challenges. Music, in each case, embodies or has been enabling of, a response.” (Dawe 2004: 7)
Musik erlaubt es Kulturschaffenden auf La Réunion, außerhalb des kontinentalfranzösischen Kontextes Position zu beziehen. Durch Musik ist es ihnen möglich, mit eigenen Mitteln auf das was von Außen kommt zu reagieren und ihm Alternativen entgegenzusetzen, etwa einer machtpolitisch aufgeladenen, kontinental-französischen Sprachdominanz. Doch die Entwicklung der Musikkultur
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weißt auch kritische Seiten auf. 2001 wurde dem Kréol-Réunionnais das Label Langue Régionale verliehen, ein großer Erfolg auf dem Weg zur Institutionalisierung der Sprache. Ein Vergleich mit dem musikalischen Pendant, dem Label Musique Traditionnelle, lässt jedoch negative Aspekte dieser Institutionalisierung ahnen. Zwar weisen beide Labels auf eine Anerkennung lokaler Traditionen hin. Doch kontinental-französische Kriterien nehmen damit auch verstärkt Einfluss auf Musik und Sprache. Wie weiter oben ausgeführt, lockte réunionesische Musik der 1980er Jahre Produzenten und Journalisten von außerhalb auf die Insel, die im Zuge des aufkommenden Interesses an World Music auf der Suche nach etwas Besonderem waren. Bezogen auf das Kréol-Réunionnais steht diese Entwicklung noch aus. Lehrende aus Kontinental-Frankreich kommen zwar zahlreich, aber nicht um die lokale Sprache zu lernen. Von ihnen wird zwar die Bereitschaft zur Vermittlung eines anderen Blicks, eines „Autre Regard“ auf das Kréol-Réunionnais und das Französisch erwartet (Ramassamy 21.07.03: 388). Diese Bereitschaft erfolgt jedoch bisher selten freiwillig, sondern ist von institutioneller Seite vorgegeben. Nach wie vor kommt die Mehrzahl der Lehrerinnen und Lehrer unmittelbar nach ihrem Studium nur für wenige Jahre auf die Insel, um Erfahrungen außerhalb Kontinental-Frankreichs zu sammeln. Den Sinn in einer verstärkten Auseinandersetzung mit Kréol-Réunionnais sehen die meisten dabei nicht. Die Insel lockt jene, die nach ihrem Studium etwas Besonderes erleben wollen, sich einen dauerhaften Aufenthalt aber nicht vorstellen können. Dies ist ein Grund für die anhaltende Vormachtstellung der französischen Sprache, die im Schulunterricht vermittelt wird. Ein weiterer ist, dass auf La Réunion kein Lehramt studiert werden kann. Studierende aus La Réunion müssen eine Universität in Kontinental-Frankreich besuchen, um später in ihrer Heimat unterrichten zu können, weil entscheidende Qualifikationsmöglichkeiten fehlen. In diesem „système d’éducation eurocentrique“ (Médéa 2005: 186) bildet Ginette Ramassamy junge Lehrende aus Kontinental-Frankreich in KréolRéunionnais aus. Sie erklärt ihnen, wie nützlich ein geschulter Umgang mit der lokalen Sprache ist und verändert damit ihre Interaktion mit Kindern aus La Réunion und anderen DOM-TOMs. Damit löst sie die auf KontinentalFrankreich ausgerichteten Bindungen innerhalb des französischen Schulsystems: „Was sie gebrauchen können […] ist dieser neue Blick auf ihre Kinder, all das, was nicht direkt mit dem Kreol, aber mit der Methodik verbunden ist. Soll heißen, deine Art zu sein, deine Art die Kinder anzuschauen, deine Art Fehler zu akzeptieren, das Verhältnis, das du zu deinen Kindern hast. […] Hinterher können sie Gespräche haben: ‚Ja, das Kreol ist eine Sprache.‘ Weißt du, man sprach so … Und was ich dir im Zusammenhang mit den negativen Gefühlen gegenüber dem Kreol gesagt habe … und selbst die Gefühle des Überbewertens des Französisch, man findet die bei den Lehrern aus La Métropole. Oh ja! […] Ein Teil von ihnen denkt ebenfalls, es ist keine Sprache, dass es keine Grammatik gibt, dass es eine arme Sprache ist, eine Vulgarität etc. Und auch sie entdecken, obwohl sie es wissen! Denn sie kommen aus unterschiedli-
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chen Regionen. […] Ihnen wird bewusst: ‚Ja, das Französisch ist nicht einfach nur das Standard-Französisch‘.“ «Ce qu’ils peuvent utiliser […] c’est cet nouveau regard sur les enfants, tout ce qui est pas directement lié au Kréol mais à la méthodologie. C’est à dire ta façon d’être, ta façon de regarder les enfants, ta façon d’accepter les erreurs, la relation même que tu as avec les enfants. […] Après ils peuvent avoir des discours: ‹Oui, le Kréol est une langue.› Tu vois, on parlait comme ça … Et ce que je te disait par rapport aux sentiments négatives par rapport au Kréol … et même des sentiments de sur-valorisation par rapport au Français, on les retrouve chez les enseignants métropolitains. Ahh oui! […] Une partie d’entre eux aussi pense que c’est pas une langue: qu’il y a pas de grammaire, que c’est une langue pauvre, c’est une vulgarité etc. Et eux, ils aussi découvrent alors qu’ils le savent! Puisqu’ils viennent de différentes régions. […] Ils prennent conscience que: ‹Oui, le Français n’est pas que le Français standard›.» (Ramassamy 21.07.03: 1057–1075)
Ramassamy bewegt sich zwischen unterschiedlichen Betrachtungsweisen des Kréol-Réunionnais. Zum einen steht sie auf der Seite der Eltern und Kinder, die mit der Sprache aufgewachsen sind und deren Bedeutung im Alltag erfahren haben. Dazu gehören die zahlreichen Negativerfahrungen auf Ämtern, die in Gefühlen von Angst und Einschüchterung resultieren, wie sie Françoise Guimbert im Bezug auf ihre Familienangehörigen im voranstehenden Kapitel beschrieben hat. Zum anderen stellt Ramassamy fest, dass Lehrenden erklärt werden müsse, dass Kréol-Réunionnais eine Sprache und keine „vulgarité“ sei. Ebenso wie Eltern entsetzt auf schlechte Schulnoten reagieren, weil sie befürchten, ihren Kindern bleibt ohne Französisch verwehrt, im Leben erfolgreich zu sein, disqualifizieren Lehrende das Kréol-Réunionnais. Dessen Akzeptanz überfordert sie, denn ihnen fehlt eine entsprechende Ausbildung. Demgegenüber gibt es mittlerweile eine steigende Zahl an Erfahrungsberichten aus La Réunion, die deutlich machen, wie wichtig ein affirmativer Umgang mit Zweisprachigkeit ist. Sie entstehen in der gelebten Beziehung zwischen Jugendlichen aus Kontinental-Frankreich und La Réunion. Ramassamy erläuterte mir dies am Beispiel eines 15-jährigen Mädchens. Gerade auf Schüleraustausch in Kontinental-Frankreich, rief diese eines Tages zu Hause an und machte ihren Eltern Vorwürfe. Im Glauben das Beste für ihr Kind zu tun und dessen Ausbildung in Französisch zu pflegen, hatten sie mit ihr kein Kréol-Réunionnais gesprochen. In Kontinental-Frankreich angekommen wurde das Mädchen von anderen Kindern auf ihre Heimat, La Réunion, und das Kréol-Réunionnais angesprochen. Sie baten sie, ein paar Sätze zu sagen oder etwas zu übersetzen. Doch das hatte sie nie gelernt. Jetzt stellte das Kind seine Eltern zur Rede, für die das Gegenteil von dem eingetroffen war, was sie mit ihrer Erziehung erreichen wollten. Denn Kréol-Réunionnais nicht zu beherrschen, brachte für ihr Kind eine negative Erfahrung in Kontinental-Frankreich mit sich, und nicht umgekehrt.
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Kréol-Réunionnais gelernt zu haben ist demnach kein Hindernis, sondern eine Qualität. Wie die Musik stellt die lokale Sprache eine kulturelle Referenz dar, die auf unterschiedliche Weise wertvoll ist. Ihr Wert zeigt sich in der Konfrontation mit dem Anderen. Das Mädchen und ihre Eltern wurden auf die Bedeutung des Kréol-Réunionnais aufmerksam, als letztere ihr Kind nach KontinentalFrankreich schickten – in der Konfrontation mit dem Anderen. Ausgerechnet an dem Ort, an dem jene Sprache institutionalisiert ist, mit der sie ihrer Tochter alle Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung geben wollten, blieb ihr ein bestimmter Erfolg versagt. Sie konnte ihrer Besonderheit keinen Ausdruck verleihen, weil sie eine der fundamentalsten Besonderheiten ihrer Heimat, die Sprache, nicht gelernt hatte. Dieses Phänomen ist ein Grund für den Erfolg der Militants Culturels, die unter Verwendung lokaler Musik ihre kulturpolitischen Ziele réunionspezifisch formulieren. Sie haben gelernt, sich als Musiker einer besonderen Tradition zu inszenieren, und damit haben sie überregionalen Erfolg. Die Anerkennung des Kréol-Réunionnais als Langue Régionale zu verbreiten, bedeutet ein ähnliches Engagement und kann zu ähnlichen Erfolgen führen. Wie Alain Courbis vom PRMA beurteilt Ramassamy die Entwicklungschancen des Kréol-Réunionnais deshalb mit einer Perspektive von außen. Sie sucht nach Argumenten und Anreizen, um Lehrenden die Vorteile einer intensiven Beschäftigung mit Zweisprachigkeit im Schulunterricht darzulegen. Dazu gehört etwa die Arbeit mit Kindern mit Migrationshintergrund. Zweisprachigkeit im réunionesischen Schulunterricht kann dazu genutzt werden, sich Methoden für eine solche Arbeit anzueignen und diese weiterzuentwickeln. Die Erfahrungen des Autre Regard ließen sich demnach produktiv in Kontinental-Frankreich anwenden. Für solche Projekte fehlen jedoch bisher sowohl Akzeptanz als auch Arbeitsmaterialien.52 Réunionesische Musik und Literatur sind deshalb für eine Etablierung und Vermittlung der lokalen Sprache entscheidend. Sie stellen nötiges Material zur Verfügung. Kein Zufall also, dass, wie bereits erwähnt, bekannte kreolréunionesische Schriftsteller als Autoren für réunionesische Musik aktiv sind. Axel Gauvin etwa begann im Alter von 15 Jahren zu schreiben, zunächst auf Französisch. Auf den Fêtes de Témoignages hörte er zum ersten Mal den Klang einer Bobre, neben Kayamb, Pikèr, Roulèr und Triangle ein weiteres der fünf Hauptinstrumente des Maloya. Seit diesem ersten Kontakt hat der Musikstil nicht aufgehört ihn zu faszinieren. Nachdem Gauvin La Réunion verlassen hatte, um in Paris zu studieren, lernte er in einem Seminar bei André Martinet eine für ihn nicht unbekannte, aber bisher offiziell unausgesprochene Theorie kennen. Die unter-
52 So argumentiert auch Hans-Ingo Radatz (2003) in seinem Essay „Parallelfranzösisch: Zur Diglossie in Frankreich“, zugänglich unter der URL: http://user.uni-frankfurt.de/%7Ehradatz/Parallelfranzoesisch.pdf (Datum des letzten Besuchs: 17.09.09).
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schiedlichen Formen des Kreol seien Sprachen und keine Dialekte.53 Dies war für ihn eine bahnbrechende Erkenntnis, bahnbrechend nicht, weil er es nicht selbst gewusst hätte, sondern weil er es in einem kontinental-französischen Kontext gelehrt bekam, in dem er dies nicht erwartet hätte. Nach La Réunion zurückgekehrt, wurde Gauvins Engagement für die lokale Sprache durch die kulturpolitische Bewegung der Militants Culturels und den Maloya weiter vorangetrieben. Die Musik stellte ihm ein Medium zur Verfügung, in dem sich Antworten auf Fragen wie „Ist Kréol-Réunionnais eine Sprache?“ oder „Ist ein Kreole ein Individuum?“ formulieren ließen. Ginette Ramassamy erklärte mir, dass diese Fragen noch Anfang der 1980er Jahre die Diskussionen um das Kréol-Réunionnais bestimmten. Sie erinnern an das buchstäblich alte Lied kolonialer Diskurse über Missionierungs- und Aufklärungsaufträge westlicher Mächte, als Legitimation für ihre imperiale Ausbreitung (siehe S. 15). Ramassamy schilderte mir, warum diese Fragen zur damaligen Zeit diskursbestimmend waren und weiterhin nicht verklungen sind: „Ab 1981 fing die Debatte um das Kreol an. Aber sehr langsam. Und viel war polemisch. Zum Beispiel: ‚Bah, das Kreol ist keine Sprache … Ja, das Kreol ist eine Sprache …‘ […] Und im Oktober, November 2000 […] wurde das Kreol offiziell als regionale Sprache anerkannt. So konnten die Gesetze […] und die anderen Dekrete über den Unterricht regionaler Sprachen […] auch hier angewendet werden. Das hat […] den Weg für die Aufnahme des Kreol in die Schulen geebnet. Sicherlich hat das zur Wertschätzung beigetragen […] Aber das reicht nicht, denn die Eltern werden etwa sagen, und selbst die Lehrer: ‚Ich will kein Kreol in der Schule.‘ Das ist normal, bis Oktober 2000 hat dir niemand gesagt, dass das Kreol eine Sprache ist. Du hast erklärt, dass das Kréol eine Sprache ist, doch niemand hat dich in dieser Bewusstwerdung begleitet. Du hast immer gedacht, das Kreol sei minderwertig, ein deformiertes Französisch. […] Und plötzlich hörst du im Radio, dass man das Kreol in den Unterricht aufnimmt, da bekommst du Panik!“ «À partir de 81 le débat sur le Kréol va commencer. Mais tout doucement. Et c’est beaucoup dans la polémique. Justement: ‹Bahh, le Kréol n’est pas une langue – si, le Kréol est une langue …› […] Et en octobre, novembre 2000, […] le Kréol a été officiellement reconnu comme Langue Régionale. Et là, les lois […] et les autres décrets sur l’enseignement des langues Régionales, […] ont pu s’appliquer ici. Et ça a débouché […] sur l’entrée officielle du Kréol à l’école. Et c’est sûr que ça aide à la valorisation […] Mais ce n’est pas suffisant, parce que, par exemple des parents vont dire, ou même des enseignants: ‹Moi je ne veux pas du Kréol à l’école.› C’est normal, jusque en octobre 2000 personne ne t’a dit que le Kréol était une langue. Tu as montré que le Kréol est une langue et personne ne t’as accompagné dans cette prise de cons-
53 Eine deutsche Übersetzung dieser Arbeiten findet sich in André Martinet (1973). Im Interview bezog sich Axel Gauvin besonders auf das Buch „Éléments de Linguistique Générale“ (Martinet 1960).
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cience. Tu as toujours pensé que le Kréol c’est de la merde, c’est du Français déformé. […] Et tout à coup tu entends à la radio qu’on va mettre le Kréol à l’école, mais tu paniques!» (Ramassamy 21.07.03: 533–562)
Obwohl das Kréol-Réunionnais nach vielen Jahren der Minderwertigkeit als Sprache anerkannt worden ist, bleiben Teile der réunionesischen Bevölkerung verunsichert, denn die Zweifel bezüglich des Gebrauchs von Kréol-Réunionnais in Schulen haben tiefliegende Gründe. Eine Mehrzahl der Bevölkerung zu überzeugen, dass es sinnvoll ist, Kréol-Réunionnais in den Lehrplan aufzunehmen, stellt einen entsprechend langwierigen Prozess dar. Dies ist ein entscheidender Grund, sich Musiker zum Vorbild zu nehmen, denn sie verspüren keine Panik im Umgang mit Kréol-Réunionnais. Musiker bedienen sich seit langer Zeit erfolgreich der lokalen Sprache, kennen ihre Vorzüge und machen diese in ihrer Musik hörbar. In Musik werden mittels des Kréol-Réunionnais bestimmte Inhalte und charakteristische Verweise auf die lokale Kultur auf eine Art transportierbar, die auf Französisch nicht möglich wäre. Eine als minderwertig wahrgenommene Ausdrucksform wird somit zur einzigartigen Poesie. Axel Gauvin beschreibt diese besondere Darstellungskraft der lokalen Sprache am Beispiel der Texte Danyèl Waros: „Danyèl Waro, seine Wurzeln sind im Maloya Traditionnel. Er erneuert die Texte, was deren Poesie betrifft. Das ist eine extrem moderne Poesie! Im Sinne von Erfindung, musikalischer Kreativität ist es komplett exzeptionell. Aber man kann nicht sagen, dass es sich um einen Bruch mit dem Maloya Traditionnel handelt. Es ist wirklich im gleichen Fluss!“ «Daniel Waro, ses racines c’est le maloya traditionnel. Maintenant il renouvelle, au niveau de la poésie, des textes. C’est une poésie extrêmement moderne! Au niveau de l’invention, de la créativité musicale c’est tout à fait exceptionnel. Mais on peut pas dire que y’a une rupture avec le maloya traditionnel. C’est vraiment dans le même fleuve!» (Gauvin 03.10.03: 821–827)
Waro modernisiert die Musik und das Kréol-Réunionnais. In der Tradition des Maloya bleibt die Sprache réunionspezifisch und gleichzeitig das Gegenteil von rückständig und simpel. Als international bekannter Musiker unterstützt Waro somit die Entwicklung des Kréol-Réunionnais in vielerlei Zusammenhängen. Bei Konzerten und anderen öffentlichen Auftritten auf La Réunion und im Ausland ist es für ihn selbstverständlich in Kréol-Réunionnais zu singen und zu sprechen. In diesen Kontexten ist der Kampf um Anerkennung des Kréol-Réunionnais nicht mehr notwendig. Hier ist die lokale Sprache Teil einer besonderen réunionesischen Ästhetik. Deshalb wird im Rahmen kleinerer und größerer Institutionen, die eine Musique Traditionnelle pflegen und international bekannt machen
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wollen, allen voran der PRMA, auch die lokale Sprache gefördert. Ein affirmativer Umgang mit der Sprache auch auf La Réunion selbst scheint aufgrund dieser Entwicklung eine logische Konsequenz. Das eine ist untrennbar vom anderen, wie Laurence Kramer formuliert: “Words invest music with the capacity to ‘speak’ of its contexts that it is usually thought to lack, and is often prized for lacking. Neither the speech nor the contexts – this can’t be stressed too much – are ‘extrinsic’ to the music involved; the three terms are inseparable in both theory and practice.” (Kramer 2003: 125)
Dieses Zusammenspiel von Sprache, Musik und kulturellem Kontext zeigt sich auf La Réunion sehr deutlich. Mittels der Musik schaffen Musiker einen réunionspezifischen Referenzrahmen für ihre Aussagen. Diese artikulieren sie darin selbstverständlich in Kréol-Réunionnais. Hierbei gibt es allerdings Unterscheidungen. Während die Texte Danyèl Waros poetisch formuliert und mit selbst erdachten Ausdrücken gespickt sind, etwa seinem weiter oben diskutierten Begriff der Batarsité, haben die Gruppe Analyse oder Françoise Guimbert ihre Texte französischen Wortlauten angepasst, sodass es auch Menschen möglich ist, sie zu verstehen, die kein Kréol-Réunionnais sprechen.54 Es gibt demnach nicht allein im Bezug auf die Musik, sondern auch die lokale Sprache unterschiedliche und keine einheitlichen Verwendungsmöglichkeiten. Ebenso vielfältig sind die Gruppen, die sich für das Kréol-Réunionnais einsetzen: Politiker, Sprachwissenschaftler, Schriftsteller, Musiker. Sowohl in Sprache als auch in Musik zeigt sich demnach eine Vielheit, das Kernstück der kreolischen Kultur La Réunions, die in der Verbindung von Musik und Sprache eine Poesie hervorbringt, eine kreolréunionesische „Poetik der Vielheit“ (Glissant und Thill 2005). Diese Poesie werde ich im folgenden Abschnitt beschreiben.
4.2
Kréol-Réunionnais und Musik als „Poetik der Vielheit“
Die Besonderheit des Kréol-Réunionnais zeichnet Sprechende in überregionalen Kontexten aus. Je weiter sich Musiker im World Music-Kontext von ihrer Insel entfernen, desto ausgefallener sollte deshalb nicht nur ihre Musik, sondern auch ihr Kréol-Réunionnais klingen. Auf einer World Music-Bühne wird die Sprache so zum Bestandteil einer außergewöhnlichen kulturellen Inszenierung, dessen Nutzen Institutionen wie der PRMA sehen und sich deshalb förderungswillig zeigen. Dieser Vorgang ist mit der Etablierung des Maloya als Medium kreolréunionesischer Kultur verbunden. Menschen aus unterschiedlichen Bevölke54 Dieser Vergleich lässt sich gut im Selbstversuch mit der beiliegenden CD machen.
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rungsgruppen greifen zur Konstruktion ihrer Identität auf diese Musik zurück. Im Gegensatz dazu haben viele bis in die 1980er Jahre nichts vom KréolRéunionnais wissen wollen oder sind erst auf Grund einer Legitimation von offizieller Seite bereit, sich dafür zu interessieren: „Das war Teil der Programme der Kandidaten der Linken, dass man sagte, man würde eine Entwicklung der Kultur erlauben. […] Ab diesem Moment spürte man, dass es genehmigt war! Also haben sich die Dinge entwickelt. Es war so […] als wären die Leute gebremst, gebremst und gebremst worden. Danach hat es sich gelockert und natürlich sind die Jungen darin aufgegangen: Sie gründeten Bands, […] als ob sie sich gerade darin ausdrücken konnten, sich wohlfühlten. Also hattest du zunächst zwei, drei, vier Gruppen … und nun ging es an die 300 Gruppen oder ich weiß nicht wie viele.“ «Ça faisait partie des programmes des candidats de gauche, de dire qu’on permettra le développement de la culture. […] À partir de ce moment-là, tu sens que c’est autorisé! Donc, les choses vont se développer. C’est comme si […] les gens étaient retenus, retenus, retenus. Ensuite ça lâche et les jeunes évidemment sont gonflés là-dedans: Il créent des groupes, […] comme si c’était là ou ils pouvaient s’exprimer, ou ils ses sentaient bien. Donc, tu vas avoir de deux, trois, quatre groupes … tu passes à 300 groupes ou je sais pas combien.» (Ramassamy 21.07.03: 745–760)
Musikmachen wurde autorisiert. Mit ihr ließen sich Geschichten über Entstehung und Weiterentwicklung der kreol-réunionesischen Kultur erzählen, ohne dafür kontinental-französische Ausdrucksmittel verwenden zu müssen. Die Besonderheiten der Musikkultur rückten in den Vordergrund. Das Château Morange gewann daraus seine überregionale Popularität. Auch die Bedeutung des KréolRéunionnais wurde in diesem Zusammenhang aufgewertet. Homi K. Bhabha spricht solchen Übergangsmomenten, wie Ramassamy sie beschreibt, eine besondere Bedeutung zu, weil in ihnen kulturelle Differenzen an Einfluss gewinnen, die zunächst nur am Rand hervortreten: “It is indeed only in the disjunctive time of the nation’s modernity – as a knowledge disjunct between political rationality and its impasse, between the shreds and patches of cultural signification and the certainties of a national pedagogy – that questions of nation as narration come to be posed.” (Bhabha 1990: 294)
Für den réunionesischen Kontext bedeutet das, dass lokale Akteure mittels des Mediums Musik begonnen haben, in die Erzählung einer französischen Nation einzugreifen. Ihre Poesie der Vielheit wird zu einem Bestandteil dieser Narration. Das Leit- und Leidmotiv des ewig minderwertigen Réunionesen versinkt oder, musikalisch gesprochen, „versingt“ somit in einer veränderten Wahrnehmung des Kreol-Réunionesischen. Maloya zu verwenden bedeutete in den 1960
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und 1970er Jahren noch, als Kommunist oder Separatist verstanden zu werden, sich also von einer nationalen Erzählung lossagen zu wollen. Doch seit den 1980er Jahren, verbunden mit der von Mitterrand eingeleiteten Dezentralisierung, stellt die Musik eine Möglichkeit dar, als anerkannte Kulturschaffende für eine kreol-réunionesische Kultur aktiv zu werden, die sich bewusst vom Masternarrativ Frankreichs abhebt.An den Grenzen des französischen Neokolonialismus, in der Europäischen Ultraperipherie, untergräbt die Verwendung von Musik dessen dominante Struktur und positioniert La Réunion, La Périphérie, im Zentrum der Aufmerksamkeit. Mit der Weiterentwicklung des World Music-Labels wird die Bedeutung der Musique Traditionnelle ästhetisiert. Das Wertvolle an réunionesischer Musik ist zusehends die Inszenierung ihrer Besonderheit durch Rhythmus, Klang und Instrumentierung, nicht jedoch durch Verständlichkeit. Ähnliches gilt für die lokale Sprache. Nach World Music-Kriterien interessiert nicht was, sondern wie artikuliert wird. Wichtig ist, dass die Art der Artikulation etwas Besonderes ist. Die poetische Sprache eines Danyèl Waro ist eine solche Besonderheit, jedoch aus weitreichenderen Gründen, als sie Axel Gauvin beschreibt. Weil seine erfundenen kreol-réunionesischen Ausdrücke selbst für ein lokales und erst recht ein überregionales Publikum schwer zu verstehen sind, kann er marktstrategisch wirksam als Widerstandskämpfer dargestellt werden, ob er nun von Widerstand singt oder nicht. Gleichzeitig wird das Kréol-Réunionnais zu einer Sprache des Widerstandes. Das was vermittelt wird, kreolréunionesische Kultur, gewinnt durch die Ästhetisierung des wie, der Musik und Sprache, international und lokal an Bedeutung. Ein Bild, das diesen Prozess verdeutlicht, ist die kreol-réunionesische Salle Verte. In diesem aus Palmen und Zuckerrohr errichteten offenen „Grünen Saal“ wurden zur Zeit der Sklaverei Hochzeiten abgehalten. Er begegnet einem mittlerweile an unterschiedlichen Orten. Zum einen berichtete mir Françoise Guimbert davon. In einer Salle Verte habe sie erstmals als kleines Kind ältere Frauen tanzen und barfuß Rhythmen auf den Boden stampfen sehen, was ihr damals als Maloya beschrieben wurde. Eine andere Bedeutung einer Salle Verte sah ich beim Art Métis-Festival auf dem Gelände der ehemaligen Zuckerfabrik von Pierrefonds, an der Südküste der Insel. Unter diesem Titel fanden dort an einem Wochenende Theateraufführungen und Konzerte statt. Es gab kreolréunionesisches Essen und Ausstellungen mit Bildern und Skulpturen lokaler Künstler. Die Salle Verte fungierte dabei als Ruheraum. Sie war mit weichem Sand ausgestreut. Hinein waren schlichte, bequeme Liegesessel aus starken, ineinandergreifenden und reich verzierten Hölzern gestellt. Menschen mit weißer Gesichtsbemalung boten Massagen an. Es war genauso möglich, seine Schuhe auszuziehen, einzutreten, sich in den Sand zu setzen und zuzuhören. Denn der Raum diente auch Autoren, um ihre Gedichte und Kurzgeschichten in KréolRéunionnais vorzutragen. Außerhalb der Salle Verte standen deshalb ebenso viele Menschen und sahen und hörten durch die offenen Seiten wie Menschen
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sich innen massieren ließen, Tee tranken, am Boden saßen oder vortragend herumliefen. Die Salles Vertes in der kurzen Beschreibung Françoise Guimberts und beim Art Métis-Festival haben etwas gemein: ihre offene Konstruktion. Diese erlaubt das Eintreten ebenso wie das Zuschauen. Was drinnen geschieht, dringt unweigerlich hinaus, sei es das rhythmische Stampfen der Frauen oder die vorgetragenen Worte der kreol-réunionesischen Gedichte und Geschichten. Als Kind war Françoise Guimbert vom Tanz der Frauen fasziniert. Sie durfte zuschauen, aber eintreten durfte sie nicht, um die Frauen nicht zu stören, die teilweise in Trancezuständen tanzten und sangen. Ungefähr 50 Jahre liegen zwischen den beiden Darstellungen. Mittlerweile ist der Eintritt in die Salles Vertes erwünscht. Kulturschaffende nutzen ihre Faszination, um sich an einem als traditionell inszenierten Ort darzustellen und gleichzeitig für ein interessiertes Publikum zu öffnen. Die offene, ästhetisierte Salle Verte demonstriert Gemeinschaft und Vielheit gleichzeitig. Unabhängig von einer Verwendung als homogenes, traditionsbindendes Instrument zur Darstellung afrikanischer, madagassischer oder wo auch immer lokalisierter Traditionen, ist sie ein Symbol der Kreolisierung. Sie ermöglicht, im Sinne Édouard Glissants, die Inszenierung einer „esthétique de la relation“.55 Auch Sprache und Musik finden hier zusammen und fungieren als Medien dieser „Poetik der Vielheit“, um abermals den Titel der deutschen Übersetzung einer der zentralen Arbeiten Glissants zu paraphrasieren. Darin, seiner „Poetique du Divers“ (1996), thematisiert Glissant das Konzept der Kreolisierung im Bezug auf seine Heimat Martinique im Archipel der Antillen. Losgelöst vom Idealtypus eines allumspannenden Herrschaftsbildes, wie ihn europäische Staaten als „cultures ataviques“ beanspruchen, entwickelt sich in der Medialisierung der Besonderheiten dieser kreolischen Kultur ein anderes Verständnis von Gemeinschaft als „culture composite“: «La mise en contact de ces cultures ataviques dans les espaces de la colonisation a donné naissance par endroits à des cultures et sociétés composites, qui n’ont pas généré de Genèse (adoptant les Mythes de Création venus d’ailleurs), et cela pour la raison que leur origine ne se perd pas dans la nuit, qu’elle est évidemment d’ordre historique et non mythique.» (Glissant 1997: 36)
Glissant beschreibt die postkoloniale Situation Martiniques, einer Gemeinschaft, die aus der Kreolisierung hervorgegangen ist. Als Produkt einer Vielheit hat sie einen Bruch mit Ursprungsmythen vollzogen und in der Kreolisierung, der sich ständig erneuernden Vermischung, eine kulturelle Basis geschaffen. Die culture 55 Glissant in einem Interview mit Label France vom Mai 2000. Zugänglich unter der URL: http://www.diplomatie.gouv.fr/label_france/FRANCE/DOSSIER/2000/15creolisation.html (Datum des letzten Besuchs: 29.08.08).
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composite Glissants ist ein Netzwerk, ein Archipel fluktuierender Identitätskonstruktionen. Doch diese in Bezug auf die Antillen geografisch motivierte Darstellungsweise ist auf La Réunion nicht uneingeschränkt übertragbar. Dort gibt es keinen Ort, von dem aus sich umliegendes oder angrenzendes Land jenseits des Horizonts erahnen lassen. Karten, die beim allabendlichen Wetterbericht im Fernsehen verwendet werden, zeigen entweder La Réunion für sich, umringt von blauem Meer, oder den Südwesten des Indischen Ozeans mit einer alles dominierenden Insel Madagaskar und zwei kleinen, östlich davon gelegenen Punkten, La Réunion und Mauritius. Kommt das Pech hinzu, dass im Bericht eine Zyklonwarnung ausgesprochen wird, bleiben sowohl Mauritius als auch La Réunion von einem animierten Wolkenwirbel verschüttet, dessen prognostizierte Flugbahn unaufhaltsam über die kleinen Inseln hereinbricht. Das geografische Netzwerk kreol-réunionesischer Identität spannt sich im Indischen Ozean demnach nicht zwischen Inseln, wie es für das karibische Archipel der Fall ist, sondern ist der Indische Ozean selbst. Carpanin Marimoutou und Françoise Vergès beschreiben diesen in ihrem Buch „Amarres“ als … «… un espace sans supranationalité ni territorialisation précise. Il est un espace culturel, à plusieurs espaces-temps qui se chevauchent, où les temporalités et les territoires se construisent et se déconstruisent. Océan qui lie les continents et les îles. Espace afro-asiatique, musulman, chrétien, animiste, boudhiste, hindouiste, espace des créolisations. Océan d’alizés et de moussons, de cyclones et de vents.» (Marimoutou und Vergès 2003: 20)
Der Indische Ozean als Sphäre der Kreolisierung unterscheidet sich von dem was Glissant für die Antillen beschreibt. Wachsendes überregionales Interesse und die zunehmende Etablierung von lokaler Musik und Sprache zeigen zwar, dass es auf La Réunion zu einer Lossagung vom Masternarrativ KontinentalFrankreichs gekommen ist. Der Indische Ozean ist jedoch keine greifbare Alternative zur kulturellen Verortung der Insel. Auf La Réunion findet somit eine andere, für die Insel charakteristische Art der Kreolisierung statt, als auf den Antillen, eine Kréolisation-Réunionnaise. Von einigen réunionesischen Musikern, unter ihnen Thierry Gauliris von Bastèr, wird diese Kreolisierung mit dem Terminus Métissage beschrieben. Für Glissant ist dieser Begriff negativ konnotiert. Seine Verwendung unterstreicht den Aspekt der Vermischung und trennt sich demnach nicht endgültig von der Idee unterschiedlicher Ursprünge als Grundlage einer kreolischen Kultur. Genau diese Ursprungsmythen sind musikkulturellen Akteuren auf La Réunion aber wichtig. Métissage meint für sie nicht allein Vermischung, sondern etwa die in der Salle Verte stattfindende, buchstäblich durchdringende Inszenierung unterschiedlicher Traditionen. Kréolisation-Réunionnaise versinnbildlicht das offene Zusammenwirken kultureller Differenzen. Weder kontinental-französische, noch afrikanische oder indische Traditionen werden aus der lokalen Kultur verbannt. Gerade das Beispiel Kontinental-Frankreichs zeigt, dass dies auch gar nicht
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möglich ist, da La Réunion ein Teil Frankreichs bleibt. La Métropole bleibt ein wichtiger Bezugspunkt, und soll es auch, denn auf Grund der Unterstützung Kontinental-Frankreichs ist die Insel einer der wirtschaftlich und politisch stabilsten Orte im Indischen Ozean. Verweise auf andere Regionen dienen in diesem Zusammenhang als Negativbeispiele für Probleme, die eine Trennung von Frankreich mit sich brächte. So ist die Nachbarinsel Mauritius selten in Fernsehberichterstattungen vertreten, abgesehen von direkten Vergleichen bei sportlichen Wettbewerben. Sie liegt geografisch nah, politisch jedoch fern, ganz im Gegensatz zu Kontinental-Frankreich. Während meiner Forschung wurde ich nur einmal Zeuge eines aktiven Austauschs über Unterschiede und Parallelen zwischen La Réunion und Mauritius in einer vorsichtigen Annährung von Literaturwissenschaftlern beider Inseln über Ähnlichkeiten und Gegensätze zwischen Kréol-Mauricien und KréolRéunionnais. Das Kréol-Réunionnais beansprucht als Langue Régionale eine besondere Stellung im überregionalen Gefüge der Sprachen. Französisch wird hierbei nicht abgelehnt, sondern als Hilfsmittel verstanden. Es wird nicht kritisiert, sondern nutzbar gemacht. Axel Gauvin betont dessen Bedeutung als internationale Sprache, deren Gebrauch die Weltoffenheit seiner Heimat gewährleistet, weil nicht alles, was geschrieben werde, ins Kréol-Réunionnais übersetzt werden könne: „Mein Problem ist, dass ich sowohl Teil der réunionesischen als auch der französischen Kultur bin. Das hat vielleicht nicht die gleiche Stärke, aber es ist mir vollkommen hilfreich! Notwendig! Und es ist mir nicht allein hilfreich, denn wenn ich Französisch lese, wenn der Text schön ist, dann spüre ich Gefallen! (C.W.: Ja, aber das fehlt vielleicht, die Möglichkeit einer …) réunionesischen Identität und einem Zugang zum Französischen. […] Es ist für jeden anders und zudem gibt es Bereiche, in denen sich das vermischt. […] (C.W.: Ja, aber das ist schwierig … den Raum zu finden …) … das Gleichgewicht zwischen beiden zu finden. Aber auf politischer Ebene ist das ihr Problem! Ich bin Bewohner dieser Welt, mein Heimatland ist der Kosmos. Egal ob man einen französischen oder einen réunionesischen Ausweis hat, das ist nicht wirklich mein Problem. Das Wichtige für mich ist, dass das Land sich entwickelt und dass die réunionesische Kultur respektiert wird und man auch Zugang zu ihr hat. Ich wüsste nicht, wie man das anders machen sollte, als mittels der französischen Kultur und Sprache, um eine Öffnung zur Welt zu gewährleisten.“ «Mon problème à moi c’est, je suis de culture réunionnaise mais aussi de culture française. Ça n’a pas la même profondeur peut-être, mais ça m’est complètement utile! Nécessaire! Et non seulement ça m’est utile mais, quand je lis en français, si le texte est beau j’éprouve du plaisir! (C.W.: Ouais mais c’est ça peut-être qui manque, la possibilité pour chacun d’avoir …) une identité réunionnaise et l’accès à la culture française. […] C’est différent pour chaque personne et puis y’a des domaines dans lesquels ça s’entremêle aussi […] (C.W.: Ouais mais ça c’est difficile … de trouver l’espace …) … de trouver l’équilibre entre les deux. Mais au niveau politique c’est leur problème! Je suis citoyen du monde, alors moi, ma patrie c’est le cosmos. Alors
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qu’on ait une carte d’identité française ou une carte d’identité réunionnaise, c’est pas vraiment mon problème. L’important pour moi c’est que le pays se développe et que la culture réunionnaise soit respectée et que l’on y ait accès aussi. Et je vois pas comment on pourrait faire autrement que par la culture française et la langue française pour avoir aussi une ouverture sur le monde.» (Gauvin 03.10.03: 188–209. Zusatz von C.W.)
Eine Öffnung zur Welt ergibt sich über eine Weltsprache. Für Gauvin hat Französisch diese Funktion. Einen solchen Status kann das Kréol-Réunionnais nicht erlangen. Dafür sprechen es zu wenige. Es wäre zu aufwendig und kostspielig zum Beispiel die gesamte wissenschaftliche Literatur für Schulen und Universitäten zu übersetzen. Gauvin fordert stattdessen eine Anerkennung der Zweisprachigkeit, möchte sich aber nicht öffentlich an der politischen Diskussion darum beteiligen. Seine Arbeit ist für ihn fundamentaler. Zweisprachigkeit ist eine Voraussetzung für La Réunion kulturell weltoffen zu bleiben. Eine solche Offenheit macht die lokale Kultur lebendig. Schon immer. Sie hat sich mittels dieser Vielheit entwickelt, die im offenen Umgang mit lokalen Besonderheiten ersichtlich wird. Auf die Erhaltung vergangener Traditionen festgeschrieben, würde das so entstandene Kréol-Réunionnais zu einem Teil réunionesischer Folklore reduziert, ein Teil der Vergangenheit und als solcher zwar wertvoll, an den gesellschaftspolitischen Entwicklungen der Gegenwart jedoch nicht beteiligt. Entgegen Gauvins kultureller Verortung als „citoyen du monde“ bleibt das Kréol-Réunionnais für einen Großteil seiner Generation, der Erstgeborenen nach der Departmentalisation, auch Träger einer dunklen Vergangenheit. Somit ist die kulturpolitische Situation La Réunions eine andere, als sie der Mythos von Einheit mit Kontinental-Frankreich in einer Grande Nation vermitteln möchte. Es gibt keine Gleichheit zwischen La Métropole und La Périphérie. In den Diskussionen um das Kréol-Réunionnais wird dies deutlich. Zum einen, dass es keine Gleichheit gibt, und zum anderen, dass damit verbundene Versuche Unterschiede auszulöschen, etwa in dem Kindern kein Kréol-Réunionnais beigebracht wird, unkontrollierbare Folgen haben. Die Geschichte des Mädchens, dessen Herkunft in Kontinental-Frankreich infrage gestellt wird, weil es nicht Kréol-Réunionnais sprechen kann, ist ein Beispiel dafür. Ein anderes, das die andere Seite aufzeigt, begegnete mir in der Person eines etwa 35-jährigen Sprachwissenschaftlers. Ich traf ihn zufällig auf einem Markt in St. Denis. Er war frisch aus Kontinental-Frankreich auf die Insel gekommen, um sich über eine vergleichende Studie von Einflüssen des Französisch auf die Sprachen Madagaskars, Sri Lankas und der Südküste Indiens zu habilitieren. Nebenbei unterrichtete er an der Universität. Auf meine Frage, warum er nicht auch Kréol-Réunionnais in seine Studien aufnähme, antwortete er mir, dass Kréol-Réunionnais keine Sprache wäre und dementsprechend in seiner Arbeit keine Bedeutung hätte. Die offizielle Anerkennung des Kréol-Réunionnais als Langue Régionale war für den jungen Wissenschaftler nicht von belang.
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Diese Position stützt sich auf eine vereinheitlichende Vorstellung des Verhältnisses zwischen La Réunion und Kontinental-Frankreich. Eine solche Aussage, gemacht von einem Lehrenden, der Studierende auf La Réunion in Sprachwissenschaft unterrichten soll, ist problematisch. Während dieser die globale Bedeutung des Französisch anerkennt, ignoriert er die Rolle des Kréol-Réunionnais als lokale Sprache. Seine Ausbildung versperrt ihm den Blick, die Möglichkeit des Autre Regard. Was offiziell als gleichberechtigt inszeniert wird, ist demnach in den Köpfen vieler weiterhin in einem hierarchischen Verhältnis gebunden. Der Unterschied zur Musik besteht darin, dass außerhalb einer Ästhetisierung wie in der Salle Verte nicht offen mit sprachlichen Differenzen umgegangen wird. Auf musikkultureller Ebene sind Differenzen wertvoll, auf sprachlicher gelten sie, wenn sie über den ästhetischen Wert hinausgehen, weiterhin als Hindernis. Axel Gauvin versucht deshalb, den kulturpolitischen Wert sprachlicher Differenzen in den Vordergrund zu rücken, was nicht Gleichheit zum Ziel hat, sondern Vielheit.
4.3
Der musikalische Autre Regard
25 Jahre vor meinem Gespräch mit dem Sprachwissenschaftler auf dem Markt von St. Denis wollten Militants Culturels nicht über Institutionen, sondern einen anderen Weg gehen, um réunionesische Identität und Kultur als eigenständig zu etablieren. Dieser Weg war die Musik. Sie sahen darin eine Chance sich nicht an festgeschriebenen Regeln und Ordnungen abarbeiten zu müssen, sondern eigene Darstellungsformen erfinden zu können. Jetzt streben Akteure für die lokale Sprache eine Vermischung dieser Wege an. Sie wollen Veränderung und Institutionalisierung, eine gelebte Zweisprachigkeit und eine kreol-réunionesische Grammatik. Musik unterstützt dieses Projekt durch eine besondere Qualität. In seinem Essay mit dem für das Themengebiet Kreolisierung bezeichnenden Titel „Subjectivity Rampant!“ schreibt Laurence Kramer hierzu: “Music that fails to cultivate its difference from language betrays the law of its being” (Kramer 2003: 141). Für den réunionesischen Kontext hieße dies allerdings: music that cultivates its difference from language creates the law of its being. Musik ist auf La Réunion ein Artikulationsinstrument kultureller Besonderheiten, weil sie gelöst von kontinental-französischen Maßstäben bewertet wird, anders als die lokale Sprache. Erfolge réunionesischer Musiker fungieren als unterstützende Argumente für eine Ästhetisierung der lokalen Sprache. Musique Traditionnelle hilft auf dieser Ebene, Kréol-Réunionnais als eine weitere Referenz für réunionesische Identität und Kultur zu etablieren. Gleichzeitig laufen Akteure für das Kréol-Réunionnais Gefahr, in überregionalen Kontexten ihre kulturpolitische Aussagekraft zu verlieren, denn wie im voranstehenden Abschnitt gezeigt, ist in der Ästhetisierung réunionesischer Sprache und Musik nicht was, sondern wie etwas gesagt wird interessant.
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Doch geografisch ist La Réunion isoliert. Netzwerkstrukturen, wie sie im Archipel der Antillen beschreibbar sind, fehlen. Allein auf musikkultureller Ebene sind die Traditionen der Insel mit anderen Kontexten hörbar verknüpft. Akteure für die lokale Sprache sind deshalb verpflichtet, sich der Musik, ihrer Verknüpfungen zu bedienen, um das Kréol-Réunionnais zu fördern. Denn mit dem Medium Musik erschließen sich ihnen wichtige Möglichkeiten in ihrem Bemühen um die Anerkennung der Sprache: “Because it is semantically underdetermined, music renders the inevitable gap between meaning and the object of meaning much more palpable than texts or even images do. In music, therefore, the structure of prejudgement becomes lived experience more plainly, palpably, and dramatically than virtually anywhere else. But prejudgement is not an abstract or unconditional form; it is a contingent cultural-historical formation. When music brings prejudgement to life, it brings culture and history to life, too, and in exactly the same open space between semantic lack and constructive description.” (Kramer 2003: 130)
Vorbehalte vieler Réunionesen gegenüber ihrer Sprache werden durch einen musikalischen Blick auf das Kréol-Réunionnais sichtbar. Réunionesen, die sich „unter sich“ fühlen, sprechen hauptsächlich Kreol: Im alltäglichen Umgang zwischen Nachbarn oder in kleinen Lebensmittelgeschäften, die in Zuckerrohrfeldern versteckte Siedlungen mit Zeitungen und Bedarfsgütern versorgen. Hörbar wird dabei ein Gesang von Worten, die sich teilweise nahtlos ineinanderschieben – flüchtig, als wollten Menschen einzelne Sprachfetzen verbergen, verschlucken und deren Undeutlichkeit der Geschwindigkeit ihres Vortrags zuschreiben. Anders ist es in den Gedichten und Geschichten, deren Vortragende in einer Salle Verte jede Nuance des Kréol-Réunionnais hervorheben, seine Härten ebenso wie die melodischen Wiederholungen einzelner Silben. Es kostet Akteure viel Kraft und Konzentration ihre Texte zu präsentieren. Ihre Vortragsweise hat ihre Ruhe und Rhythmik von der Musik gewonnen. Die Musik hat der Sprache ihre Melodie wiedergegeben. Im Moment, in dem sie Kultur zum Leben erweckt, in diesem, wie Kramer es nennt, „open (sic!) space“ zwischen semantischem Mangel und konstruktiver Beschreibung, wird der Sprache eine Bedeutung gegeben, die Vorurteilen ihren Raum nimmt. Auf institutioneller Ebene jedoch bleiben Vorurteile erhalten. Axel Gauvin kritisiert zum Beispiel ähnlich wie Guillaume Legras, dass Funktionäre in kulturpolitisch wichtigen Positionen unfähig seien, Veränderungen herbeizuführen, weil sie sich mit den Besonderheiten kreol-réunionesischer Kultur nicht auskennen. Das französische Beamtensystem ließe sie „wie Zugvögel“ nur kurze Zeit auf La Réunion verweilen (Gauvin 03.10.03: 441). Ihre Tätigkeit verlange zwar von ihnen, sich mit kreol-réunionesischer Kultur auseinanderzusetzen, aber durch ihren kurzen Aufenthalt und die damit verbundene fortdauernde kulturelle
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Verortung in Kontinental-Frankreich verschlössen sie sich den Besonderheiten réunionesischer Musik und Sprache. Das voranstehende Beispiel des jungen Sprachwissenschaftlers bestätigt diesen Vorwurf. Axel Gauvins „Zugvögel“ können der Verantwortung, die sie für die lokale Kultur übernommen haben, nicht nachkommen, denn ähnlich den Lehrenden, die Ginette Ramassamy beschreibt, fehlt ihnen der Autre Regard, der es ihnen ermöglichen würde, ihre Voreingenommenheit zu erkennen. In einem Gespräch mit Bruno, einem Bandkollegen der Jazz à Six Pôtes, seiner Frau und ihrer zwölfjährigen Tochter unterhielt ich mich indirekt über diese Verantwortung der „Zugvögel“. Bruno kam als Mathematiklehrer nach La Réunion und hat eine réunionesische Frau geheiratet. Ich besuchte beide in ihrem Haus, das am Rande Le Tampons gelegen ist, mit einem Pool und freiliegendem Blick über Zuckerrohrfelder auf den Indischen Ozean. An jenem Nachmittag gab Frédéric François, ein bekannter französischer Sänger, in Le Tampon zwei Konzerte. Brunos Tochter hielt nicht viel von seiner Musik und spielte mir stattdessen ein paar ihrer Lieblingsstücke vor. Ich fragte, ob sie sich auch für réunionesische Musik interessierte, für Séga und Maloya. Das verneinte sie. Alles was kreol wäre, interessierte sie nicht. Darauf antwortete ich, dass es schade wäre, nichts über die Musik der Insel wissen zu wollen, zumal sie doch dort aufwüchse. Doch diese Argumente schienen sie genauso zu wundern, wie die in ihren Augen übergroße Antenne meines Mobiltelefons, das ich bis dahin nicht als veraltet angesehen hatte. Unser Gespräch verlief also im Sand. Als sie jedoch ganz selbstverständlich sagte, dass nichts Kreolisches sie interessierte, waren ihre Eltern merklich erschrocken und wendeten aus einem Mund ein, das meinte sie nicht so. Ich hingegen fühlte mich in meiner Annahme bestätigt, dass Eigenarten kreolréunionesischer Musikkultur ausstarben, weil kontinental-französische Maßstäbe sie überschrieben. Die Aussage des Kindes, die Reaktion der Eltern und meine bewertende Position, fassen zusammen, was sowohl Ginette Ramassamy als auch Axel Gauvin bemängeln. Das ungeklärte Verhältnis zwischen Kréol-Réunionnais und Französisch, zwischen lokaler Tradition und kontinental-französischer Werteordnung, ist deutlich erkennbar. Die beteiligten Personen sprechen aus unterschiedlichen Perspektiven: Als Mutter, Vater (und Lehrer), Bandkollege (und Ethnologe), Tochter (und Schülerin). Aber wer bin ich, die Tochter dafür zu kritisieren, dass sie keine Séga- oder Maloyamusik mag, zumal ich, bevor ich erstmals von La Réunion hörte, SEGA einzig für den Namen einer Videospielkonsole hielt? Im Gespräch bin ich meiner eigenen Eurozentrismuskritik verfallen, dass nämlich jede/r auf La Réunion die Verpflichtung habe, sich für den Erhalt der lokalen Kultur einzusetzen. Damit konstruierte ich mir selbst Dichotomien, die, wie sich am Beispiel der Tochter zeigt, für einige gar nicht existieren. Selbst ein überregional für seine kreol-réunionesischen Geschichten bekannter Schriftsteller wie Axel Gauvin etwa schreibt auf Französisch. Die Sprache ist nicht allein nützlich für ihn, sondern er empfindet Vergnügen an ihr. Sie bereichert seine Ausdrucks-
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möglichkeiten ebenso wie kreol-réunionesische Musik, und daran gibt es nichts zu kritisieren, jedenfalls mit einem Autre Regard betrachtet. Im Gespräch mit meinem Bandkollegen, dessen Ehefrau und seiner Tochter gibt es neben der Sprache ein weiteres wichtiges Element, die Musik. Sie ist eine Ergänzung zu unseren Ausdrucksmöglichkeiten. Sie gibt den Anstoß für unsere Unterhaltung. Sie symbolisiert kulturelle Differenzen, unterschiedliche Geschmäcker und Wahrnehmungen. Jede/r von uns hat im Moment unserer Unterhaltung eine eigene, eine „tonangebende“ Vorstellung der Bedeutung von Musik. Musik ist das Medium des Kindes, durch das es sich von anderen abgrenzt oder ihnen zugehörig fühlt. Sie ist auch einer der Referenzrahmen, in denen der Vater die Aussage seines Kindes begreift. Spielweisen anderer Musiker fließen bei ihm, dem Hobbyjazzer, als Zitate in seine Klavierimprovisationen. Doch die musikalische Lebenswelt der Tochter ist eine andere. Sie hat vielleicht nichts mit Jazz zu tun, vielleicht auch nichts mit réunionesischer Musik, sondern ist etwas Eigenes, unabhängig von Eltern und kulturpolitischer Verantwortung. Mit dieser eigenen Musik identifiziert sich die Tochter, und auch wenn sie nicht immer etwas mit kreol-réunionesischer Kultur zu tun hat, macht sie diese somit zu einem Teil davon. Der Auftrag von Gauvins „Zugvögeln“ ist es, lokale Musik als kulturelles Gut zu erhalten und zu pflegen. Dieser Aufgabe können sie nicht gerecht werden, denn sie identifizieren sich weder mit dem einen noch mit dem anderen, weder mit der Musik, noch mit der Kultur. Ihr Ziel ist das Erhalten der Traditionen, doch Sprache und Musik sind gerade deshalb zwei zentrale Medien, mit denen Kultur und Identität beschrieben werden, weil die Traditionen damit offen bleiben für Veränderung. Die Medien werden von Akteuren auf unterschiedliche Weise verwendet, wie ich am Beispiel der Musiker Guillaume Legras und Françoise Guimbert geschildert habe. Die Anerkennung des Kréol-Réunionnais als eigenständige Sprache steht trotz dieser Unterschiede nicht infrage, denn sie bedeutet mehr als das Erhalten einer Tradition. Glissant versteht Sprache als Medium, durch das Identitäten zueinander in Beziehung treten und zulassen, sich in diesem Austausch zu verändern (vgl. Glissant 1996: 42). Akteure, die in einer kreolischen Kultur aufgewachsen sind, werden entsprechend auf diesen Austausch vorbereitet. Ihre kulturelle Basis sind Vielheit und Veränderung, der die Verkennung ihrer Sprache als Diglossie widerspricht. Resultat dieser Verkennung sind etwa Richtlinien kontinental-französischer Institutionen, die uneingeschränkt nach La Réunion übertragen und anschließend von Lehrern und Funktionären umgesetzt werden. Diese fördern Identitätskonstruktionen gemäß der Vorstellung eines allumfassenden Kulturraumes, einer Grande Nation, in der alle von den Galliern abstammen. Viele „Zugvögel“ arbeiten mit einer solchen Vorstellung, in der KréolRéunionnais und kreol-réunionesische Traditionen im kontinental-französischen Melting Pot aufgehen. Glissant wendet sich gegen diese Metapher des Ver-
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schmelzens, des „Magma“ (ibid.). Er grenzt seine Vorstellung von Kreolisierung von einem solchen Konzept ab, indem er zeigt, dass Identitätskonstruktionen im Feld der Kreolisierung in der Affirmation einer Vielheit ihre Basis gefunden haben. Diese Basis wird auf La Réunion von Musikern geschaffen, die sich mit und durch ihre Musikkultur mit ihrer Heimat identifizieren. Nicht alle Réunionesen greifen auf diese Basis zurück. Die im vorstehenden Kapitel dargestellten Versuche Françoise Guimberts, sich in ihrer Jugend an der „dame blanche“, am Bild des perfekten Französisch zu orientieren, sind in diesem Zusammenhang als Auswirkungen einer langezeit übermächtigen Position des KontinentalFranzösischen zu verstehen. Guimbert jedoch dafür zu kritisieren, wäre ebenso falsch, wie von der Tochter meines Bandkollegen zu erwarten, vor allem réunionesische Musik zu hören. Grundlage einer solchen Argumentation wäre die Vorstellung einer lokalen Kultur, die geschützt werden muss und von deren Angehörigen erwartet wird, für diesen Schutz zu leben. Doch Kreolisierung bedeutet kulturellen Austausch im Wissen, dass das Eigene durch die Macht des Anderen dauerhaft verändert werden kann. Françoise Guimberts Erzählung ist Beleg für die Fähigkeit einer Musikerin, Mechanismen des kulturpolitischen Zentralismus zu lesen, umzuwandeln und mit eigenen Interessen gewinnbringend zu vermischen. Daraus entsteht die charakteristische Vielheit einer kreol-réunionesischen Kultur. Auch auf die Gefahr hin, dass sie sich verändert und Teile von ihr verloren gehen.
4.4
Kreolisierung als Basis von Musik und Sprache
In den voranstehenden Kapiteln habe ich auf unterschiedliche Weise gezeigt, wie musikkulturelle Akteure La Réunions mit ihrer Arbeit zwischen professionellen und persönlichen Interessen stehen. Dabei sind sie darauf bedacht, sich mittels der Musik mit bestimmten Orten in Verbindung zu bringen. Wie ihre Musik ändern sich mit der Zeit auch diese kulturellen Referenzen. Lokale Traditionen und Wertevorstellungen sind nicht in einem réunionesischen Kulturraum eingeschlossen. Stattdessen setzt sich die Kréolisation-Réunionnaise mittels neuer Verweise auf überregionale Kontexte fort. Kreol-réunionesische Musik und Sprache sind zwar die tonangebenden Medien solcher Identitätskonstruktionen. Akteure verweisen damit aber nicht allein auf eine Nation, eine Kultur oder eine Insel, sondern bringen sich zeitgleich mit einer Vielzahl von Orten in Verbindung. Kréolisation-Réunionnaise ist dementsprechend offen und „ausufernd“: „La Réunion n’est plus une Île“, wie Sonia Chane-Kune (1996) in ihrem gleichnamigen Buch erläutert. Es gibt unterschiedliche Interessensgruppen, die beeinflussen was Musiker mittels Musik und Sprache medialisieren und welche Interpretationsweisen kreol-réunionesischer Kultur sie somit anbieten. Carpanin Marimoutou warnte mich in einem Gespräch davor, mich nicht von solchen Erklärungen und Geschichten
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täuschen zu lassen (Marimoutou 15.09.03: 407). Auch wenn eine kulturpolitisch oder marktwirtschaftlich motivierte Suche nach dem Neuen, Besonderen, Eigenständigen etwas anderes darzustellen versucht, hätten Menschen auf La Réunion schon immer Kréol-Réunionnais gesprochen und Musik gemacht, nicht erst seit den Fêtes de Témoignages, den ersten Schriften Axel Gauvins oder dem Erstellen einer Grammatik. Trotzdem wollen Kulturschaffende wie Ginette Ramassamy und andere das lokale Bildungssystem verändern, um der Bevölkerung zu verkünden: „Wir haben etwas Eigenes.“ Einerseits passen sie damit das KréolRéunionnais einem externen Ordnungssystem an. Sie rechnen mit zunehmender Akzeptanz ihrer lokalen Sprache, wenn diese nach überregionalen Maßstäben beschreibbar wird. Gleichzeitig stellen diese Strategien eine Möglichkeit dar, eine réunionesische Gemeinschaft in einem globalen Gefüge als eigenständig präsentieren zu können. Diese Auseinandersetzungen mit äußeren Einflüssen sind notwendig für eine Sprache, um erhalten zu bleiben: «Ma langue, je la déporte et la bouscule non pas dans des synthèses, mais dans des ouvertures linguistiques qui me permettent de concevoir les rapports des langues entre elles aujourd’hui sur la surface de la terre […] comme le fait d’un immense drama, d’une immense tragédie dont ma propre langue ne peut pas être exempte et sauve.» (Glissant 1996: 40)
Für sprachkulturelle Akteure La Réunions ist es demnach wichtig das KréolRéunionnais auf eine Ebene des Austauschs mit anderen Sprachen zu bringen. Dies bedeutet nicht, dass ein Austausch nicht bereits stattfindet. Doch durch die Etablierung eines Autre Regard wird die Stellung des Kréol-Réunionnais in diesem Austausch aufgewertet. Noch immer überträgt das Kréol-Réunionnais unverarbeitete Erinnerungen an Sklaverei und Unterdrückung von Generation zu Generation. Ginette Ramassamy beschreibt dies im Bild einer heißen Kartoffel, die von einer zum anderen wandert, ohne genug abgekühlt zu sein, um sie in der Hand halten zu können (Ramassamy 21.07.03: 421). Solche unverarbeiteten Erinnerungen machen es Réunionesen schwer, die lokale Sprache gleichwertig dem Französisch zu denken. Wie die Affirmation der lokalen Musik zeigt, ist es jedoch möglich, sich von diesen Erinnerungen zu lösen, nicht indem das Lokale durch KontinentalFranzösisches ersetzt wird, sondern sich dagegen behauptet. In Musik etwa zeigen Militants Culturels einen Weg auf, die Vergangenheitsbewältigung auf ältere Generationen zurückzuprojezieren. Dies geschieht nicht in Form einer Schuldzuweisung. Sie betonen nicht, was in der Vergangenheit nicht erreicht worden ist, sondern welche Besonderheiten und Vorbilder darin zu finden sind. Wann immer ich mit Musikern sprach, fielen bestimmte Namen wie Granmoun Lélé, Danyèl Waro oder Firmin Viry. Musikkulturelle Akteure beziehen sich auf diese älteren Musiker. Teilweise sind es für sie Vorbilder. Ein solches Bedürfnis nach Vorbildern existiert auch im Kréol-Réunionnais und Musik hilft dabei, diese ausfindig zu machen. Sie hat unter anderem den kreol-réunionesischen Texten Patri-
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ce Treuthardts, Carpanin Marimoutous oder Axel Gauvins eine andere, gern gehörte Melodie gegeben. Mit Musik und Sprache treffen zwei réunionspezifische Ausdrucksformen aufeinander. Das darin freiwerdende Potential zeigt sich unter anderem in der Art und Weise wie Musik die Möglichkeit bietet, Kréol-Réunionnais buchstäblich in einem anderen Licht zu zeigen. Ebenso wie eine Salle Verte schafft sie einen Rahmen, in dem die lokale Sprache zu einem bedeutenden Medium wird. Somit erfährt Kréol-Réunionnais auf musikkultureller Ebene eine besondere Wertschätzung. Die Tochter meines Bandkollegen hat deshalb zwar kein Interesse an Interaktion im traditionellen Rahmen von Langue Régionale oder Musique Traditionnelle. Sie identifiziert sich mit anderen Geschichten und Sounds. Ihr Vorteil ist jedoch, dass auf Basis des Kreolischen viele Referenzpunkte für sie greifbar sind. Weder das Kontinental-Französische, noch das Kreol-Réunionesische werden erwartet, die alleinige Grundlage für ihre Identitätskonstruktionen zu bilden. Somit bleibt das Kréol-Réunionnais unabhängig von einer Anerkennung als Langue Régionale oder dem Erstellen einer Grammatik erhalten – nicht anstelle von, sondern zusammen mit anderen Sprachen. Für die lokale Musik war dieser Schritt einer Ästhetisierung zum Zeitpunkt meiner Forschung bereits vollzogen, für die lokale Sprache, so zeigen die voranstehenden Ausführungen, fand er gerade statt. Wie darin sichtbar geworden ist, sind die damit verbundenen vielfältigen, teilweise lukrativen Verwendungsmöglichkeiten réunionesischer Musique Traditionnelle für Kulturschaffende vorteilhaft, aber auch problematisch. Guillaume Legras Entwicklung zu einem der letzten Ségatiés ist eng mit seiner Familientradition verknüpft, der mit der zunehmenden Wertschätzung des Maloya droht, ihre Bedeutung zu verlieren. Er ist Hüter eines bestimmten Aspekts innerhalb der Vielheit kreol-réunionesischer Musikkultur, für dessen Erhalt niemand garantieren kann. Garantierbar waren der Erhalt kreol-réunionesischer Sprache und Musik noch nie. Dies wird zunehmend deutlicher, weil Kulturschaffende sich in einem globalen Gefüge vermarkten und hierfür auf eine besondere Art verortbar sein müssen. Ihre Inszenierungen kreol-réunionesischer Musikkultur müssen demnach auch Bilder zeigen, die andere sich von La Réunion machen und so ein marktstrategisches Interesse bedienen. Deshalb erfinden Musiker immer neue Wege die Kultur La Réunions zu beschreiben, auch wenn es sie als kulturelle Einheit gar nicht gibt. Dieser widersprüchliche Vorgang bleibt Thema des nachstehenden Kapitels. Darin bewege ich mich langsam auf den Ort zu, an dem Musiker La Réunions heute aktiv sind, nicht auf La Réunion, und auch nicht auf internationaler Bühne, sondern dazwischen.
Abb. 1 Satellitenaufnahme der Insel La Réunion (21.12S, 55.51E) mit den drei Cirques (Cirque de Mafate, Cilaos und Salazie) im Landsinnern, dem Vulkan Piton de la Fournaise im Südosten (rechter unterer Bildrand), der Hauptstadt St. Denis im Norden und der im Verhältnis zum Osten deutlich stärker besiedelten Westseite. Die Aufnahme stammt vom 29.10.2005 und ist zugänglich unter der URL: http://fr.wikipedia.org/wiki/Image:Reunion_21.12S_55.51E. jpg (Datum des letzten Besuchs: 22.08.2009).
Abb. 2 Blick ostwärts von der Auffahrt nach La Montagne über St. Denis.
Abb. 3 Roulèr-Spieler auf Danyèl Waros Feier zum 20 Désamn.
Abb. 4
Bataille Coq am 20 Désamn in St. Pierre.
Abb. 5 Cover der ersten MaloyaPlatteneinspielung aus dem Jahr 1976.
Abb. 6
Musiker der Tambour Malbar vor dem Stand des PRMA auf der WOMEX 2004.
Abb. 7
„Stammbaum“ réunionesischer Musiktradition von Bernadette Ladauge.
Abb. 9 Hip-Hop-Event organisiert von MLK im Mai 2003 in St. Pierre. Abb. 8 Émilie (rechts) auf dem Titel des Journal de l’Île vom 14.11.2005.
5 Musik im Zwischen “We should remember that it is the ‘inter’ – the cutting edge of translation and negotiation, the in-between space – that carries the burden of the meaning of culture … And by exploring this Third Space, we may elude the politics of polarity and emerge as others of ourselves.” (Homi K. Bhabha 1994: 141)
5.1
Zwischen globaler Kulturproduktion und lokaler Verortung
Musik ist ein Medium, mit dem das kulturelle Zwischen, „the in-between space – that carries the burden of the meaning of culture“, wie Bhabha es im voranstehenden Zitat beschreibt, artikulierbar wird. Im letzten Kapitel habe ich deutlich gemacht, dass auch Sprache ein solches Medium sein kann. Hierfür muss sie mit einem Autre Regard betrachtet werden. Auf La Réunion intonieren Musiker Charakteristiken einer kreolischen Kultur: das „cutting edge of translation and negotiation“, mit diesem Autre Regard. Bhabha beschreibt Kultur als fortdauernden Prozess des Übergangs. Dieser Prozess wird festgehalten durch Musik. In bestimmten Momenten entstehen und vergehen darin die Identitätskonstruktionen réunionesischer Musiker. So wird aus deren „combat identitaire“ (Ti Fock 21.05.03: 139) gegen kontinental-französische Dominanz in den 1980er Jahren eine andere Musik, ein anderer Maloya. Die Musik war danach noch immer Sprachrohr einer kulturpolitischen Bewegung. Sie wurde jedoch auch zunehmend Medium réunionesischer Besonderheit und Capital Culturel. Projekte wie MKBT, das ich im voranstehenden Teil vorgestellt habe, brachten Bands hervor, die réunionesische Musikkultur mittlerweile auf vielerlei Ebenen vertreten. Im Maloya entstand ein réunionspezifisches Medium, das von unterschiedlichen Interessensgruppen verwendet wird, um Authentizität und Besonderheit zu inszenieren. Musiker liefern ein bestimmtes Bild von sich, ihrer Insel und deren Bevölkerung. Mittels Musik konstruieren sie ihre Identität auf Basis einer kreolréunionesischen Kultur, deren Traditionen von ihnen geformt werden, um damit global möglichst wahrnehmbar zu sein. Wie dies geschieht, ist Inhalt dieses fünften Kapitels: „(Musical traditions’) appearance and establishment rather than their chances of survival“ (Hobsbawm 1983: 1. Zusatz von C.W.). Musiktradition, die es nicht gibt Was Hobsbawm über die Entstehung und den Gebrauch lokaler Traditionen in Kolonien ausführt, ist für die Militants Culturels La Réunions in den 1980er Jahren der Ausgangspunkt für neue Stilvermischungen:
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Musik im Zwischen
“A large store of (ancient) materials is accumulated in the past of any society, and an elaborate language of symbolic practice and communication is always available. Sometimes new traditions could be readily grafted on old ones, sometimes they could be devised by borrowing from well-supplied warehouses of official ritual, symbolism and moral exhortation – religion and princely pomp, folklore and freemasonry. […] Existing customary traditional practices – folksong, physical contests, marksmanship – were modified, ritualized and institutionalized for the new national purposes.” (Hobsbawm 1983: 6)
Der réunionesischen Bevölkerung steht aus der Kolonialzeit ein weitreichendes Angebot an kontinental-französischen Traditionen zur Verfügung. Mit Françoise Guimbert und Guillaume Legras habe ich zwei musikkulturelle Akteure vorgestellt, die sich dies auf unterschiedliche Weise zunutze machen. KontinentalFrankreich und Europa, als Geburtsort der Moderne verstanden und dafür kritisiert (vgl. Chakrabarty 2000: 28ff.), stellen ihnen Material zur Verfügung, um damit réunionesische Kultur zu inszenieren. Dass Schulkindern auf La Réunion deshalb noch immer gelehrt wird, dass sie von den Galliern abstammen, zeigt die teilweise wahnwitzigen Konsequenzen dieser Form des Kolonialismus. Militants Culturels setzten in den 1980er Jahren gegen diese, wie Hobsbawm es nennt, „elaborate language of symbolic practice“, die das kontinental-französische Schulsystem ihnen anbietet, „existing customary traditional practices“. Sie kämpften für die Wertschätzung einer eigenen kreol-réunionesischen Musikkultur. Damit propagierten sie kulturelle Besonderheit statt Einheit. „Modified, ritualized and institutionalized“ fand die Musik als alternatives Medium zum Kontinental-Französischen Einzug in die Kulturpolitik der Insel. Zeitgleich mit Hobsbawms Veröffentlichung verfolgten réunionesische Musiker aber keine „national purposes“. Sie beteiligen sich nicht an einer Unabhängigkeitsbewegung von Kontinental-Frankreich, sondern nannten cultural purposes für ihre Arbeit. Im Folgenden werde ich am Beispiel des Sängers der bereits erwähnten Band Ziskakan, Gilbert Pounia, diese cultural purposes erläutern. Anschließend erkläre ich, warum sich im Zuge ihrer Professionalisierung die Wege Pounias und Thierry Gauliris von Bastèr entzweit haben. Denn die beiden Musiker haben nach ihrer Karriere als Militant Culturels unterschiedliche Wege gefunden, sich in der heutigen Musiklandschaft zu positionieren. Ziskakan lernte ich erstmals durch Axel Gauvin in seinem Seminar an der Universität von La Réunion kennen. Er erzählte dort, dass die Gruppe sich auf Anregung der Autoren Jules Arlanda und Bernard Payet gründete, die für ihre sozialkritischen Texte die Musik als Medium benutzen wollten. In Gilbert Pounia fanden sie einen ebenso politisch engagierten Musiker, dessen Hauptinteresse jedoch immer in der Perfektionierung seiner Musik gelegen hat. Ziskakan feierte im Jahr 2009 ihr 30-jähriges Bestehen. Als ich die Band erstmals live auf einem Fest zum bevorstehenden französischen Nationalfeiertag hörte, machte sie auf mich den professionellsten Eindruck aller an der Feier beteiligten Gruppen. Sie spielten ihre Musik mit Soloeinlagen, einer abwechslungsreichen Mischung von
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Stücken und gutem Sound. Außerdem strahlten sie eine Bühnenpräsenz aus, in der sie auf ihr Publikum reagierten und mit ihrer Tradition als Militants Culturels spielten. Gilbert Pounia sagte zum Beispiel im Verlauf des Konzerts, dass in den Administrationen von Conseil Régional und Général zahllose Mitarbeiter nichts für La Réunion täten, weshalb Réunionesen selbst etwas tun müssten. Die Zuhörer, zumeist Eltern mit ihren Kindern, jubelten. Sie waren glücklich, an ihre Jugend erinnert zu werden. Zwei Monate später, bei einem Konzert im Endroit, einer Bar in St. Pierre, war das Publikum gemischter: Alt und aufdringlich wenn betrunken, laut und kreischend, mitsingend oder dazwischen rufend. Diesmal war es kein Open-AirAuftritt. Der Raum war stickig und klein, voller Menschen, die lachten, sich unterhielten und tranken, während die Band spielte. Auch Patrice Treuthardt, Bernard Payet und andere Schriftsteller, die mit der Gruppe seit ihrer Gründung zusammenarbeiteten, waren dort und feierten. Die Atmosphäre war intimer. Ich ging regelmäßig ins Endroit zu kostenlosen Live-Konzerten réunionesischer Bands. Aber diesmal war es anders. Denn Ziskakan hatte einen Status, der dafür garantierte, dass die Bar gefüllt war. So traf ich an jenem Abend eine Bekannte, die normalerweise nicht in diese Bar kam. Sie war mit einer Freundin aus Kontinental-Frankreich da, die als Psychologin auf La Réunion eine Anstellung suchte. Die Bekanntheit der Band hatte die Freundinnen ins Endroit geführt. Die neu Angekommene hatte bereits in Kontinental-Frankreich von Ziskakan gehört. Zudem war St. Pierre an Wochenenden voller Menschen. Jugendliche aus dem Umland fuhren den Boulevard in tiefergelegten und mit allen möglichen Accessoires ausgestatteten Autos auf und ab. Das zog auch Touristen an, die in die zahlreichen Bars und Clubs ausgingen. Für die beiden Freundinnen war es nicht die Erinnerung, die sie zum Konzert von Ziskakan brachten, sondern die Lust auszugehen und, wie sie sagten, eine berühmte réunionesische Band zu erleben. Für den Abend nach dem Konzert verabredete ich mich mit Gilbert Pounia erneut im Endroit, um ein Interview, das ich ein paar Wochen zuvor mit ihm geführt hatte, nachzubereiten. Ich war zu früh. Er lehnte noch lässig an einem Auto während er von ein paar jüngeren Studentinnen für ein Projekt zur Geschichte seiner Band interviewt wurde. Deshalb beobachtete ich eine Zeit lang eine tamilische Prozession. Gleich neben dem Parkplatz trugen Männer hoch aufgetürmten Blumenschmuck zum Meer. Andere spielten Tambours. Ein paar Touristen schauten zu oder lagen halbnackt in der einsetzenden Abenddämmerung am Strand. Keine/r ließ sich durch die anderen stören. Mir stellte sich die Frage, ob dies das angestrebte kulturpolitische Ziel der Militants Culturels gewesen war, ob sie mit diesem „friedlichen Nebeneinander“ ihre cultural purposes umgesetzt hätten. Danach fragte ich den langjährigen Militant Culturel Gilbert Pounia. Doch ein einfaches Ja oder Nein bekam ich von ihm nicht. Stattdessen begann ein intensiver Monolog, in dem er mir drei Ebenen darstellte, auf denen Einfluss auf die Musikproduktion der Insel genommen und
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darüber entschieden wird, welche Musiker an der Repräsentation kreolréunionesischer Kultur beteiligt sind: (1) Die familiäre Situation. (2) Die kulturpolitische Situation La Réunions. (3) Die Bedeutung La Réunions im überregionalen Kontext. Mit Ziskakan gründete Pounia Ende 1979 eine musikkulturelle Initiative gegen die Dominanz kontinental-französischer kultureller Maßstäbe. Seiner Ansicht nach konnte eine kulturpolitische Bewegung nur durch Unterstützung von innen, aus der Nachbarschaft und dem familiären Kontext, die nötige Aufmerksamkeit erzeugen. Dementsprechend stark polemisiert er gegen das kontinentalfranzösische System der Brüderlichkeit, der Fraternité, das Menschen auf La Réunion in zwei Klassen teile: „Man erkennt gut die Situation einer angepassten Gesellschaft im Verhältnis zu einer Gesellschaft am untersten Ende der Skala. In der Sprache erkennt man das gut: die Verachtung, die Ausgrenzung des Anderen, die Ablehnung des Anderen. Dieser Rassismus, der da ist von Seiten einer angepassten Gesellschaft – und die man für ehrbare Menschen hält! Die Biedermänner, die ihren Platz in der ersten Reihe in der Kirche haben: auf den ersten Bänken, mit Kissen darauf, um auf Kissen niederzuknien, und schließlich der Andere dahinter!“ «On montre bien la situation d’une société bien pensante par rapport à une société vraiment au plus bas de l’échelle. Dans la langue ça montre bien: le mépris, l’exclusion de l’autre, le rejet de l’autre. Ce racisme qui est là de la part d’une société bien pensante – et considérée comme honnêtes gens! Les honnêtes qui ont leur place en premiers dans l’église: sur les premiers bancs, avec coussins dessus, pour s’agenouiller sur des coussins tout ça, puis l’autre derrière!» (Pounia 30.09.03: 459–467)
Traditionen der Kolonialzeit, etwa die von Pounia verurteilten „ehrbaren Menschen“ auf Kissen in der ersten Reihe der Kirche, symbolisieren für ihn die fortdauernd minderwertige Behandlung der réunionesischen Bevölkerung, „der Anderen dahinter“. Sklaverei ist Vergangenheit, aber im Kolonialismus etablierte Klassenunterschiede bleiben auf der Insel für ihn bestehen. So kritisiert Pounia seit Jahrzehnten, dass gesellschaftspolitisch bedeutende Positionen, die Familien in der Kolonialzeit innegehabt haben, weiterhin von ihnen beansprucht werden. Ideologien blieben erhalten und die Gesellschaft von einer neokolonialen Kulturpolitik geleitet. Die Brüderlichkeit innerhalb Frankreichs zwinge Réunionesen dazu, sich solange minderwertig zu fühlen, bis sie vorgelebte kontinentalfranzösische Maßstäbe verinnerlicht hätten und selbst zu Franzosen geworden seien. Darauf will Pounia in seiner Arbeit hinweisen. Réunionese zu sein muss seiner Ansicht nach bedeuten, etwas Eigenes zu sein. Pounias Interesse besteht deshalb im Bewusstmachen kreol-réunionesischer Besonderheit, mit dem Ziel sich und „seiner Insel“ einen eigenen Platz in der globalen Kulturlandschaft zu
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geben, jenseits einer hinter Brüderlichkeit verborgenen Dichotomie Métropole/Périphérie. Gleichheit, Égalité, auf Basis einer Idealisierung kontinentalfranzösischer Einflüsse ist für ihn eine Illusion, mit der die lokale Bevölkerung weiterhin in einem Abhängigkeitsverhältnis gehalten werde: „Momentan, seit etwa zwei, drei Jahren, kann man beobachten, dass es eine Mode gibt, es gibt eine Art Geschäft, das sich auf dem Rücken von La Réunion entwickelt. […] Unglaublich! Das wird eine Gesellschaft des Spektakels in einem Land, in dem es sehr wenig zum Leben gibt! In dem es einen bedeutenden Anteil an Arbeitslosigkeit gibt. Mit Eintrittskarten zwischen 30 und 50 Euro, manchmal mehr. Künstlern von außerhalb, die in einem Getto ankommen. Da spürt man wirklich, dass es sich um eine Ausbeutung der Situation La Réunions handelt. Das ist erneut wie eine Gehirnwäsche. Das ist erneut – ich weiß auch nicht – die ‚Goyave de France‘.“ «Actuellement ce qu’on constate depuis 2 ou 3 ans ce qu’il y a comme phénomène de mode, y’a comme un business qui se monte sur le dos de La Réunion. […] C’est trop! Ça devient une société à spectacle dans un pays où il y a très peu pour vivre! Où il y a un taux de chômage important. Avec des billets entre 30 et 50 euros et même plus quelques fois. Des artistes de l’extérieur qui arrivent – tant mieux […] – dans un ghetto. Mais là vraiment on sent que c’est une exploitation de la situation de La Réunion. C’est encore comme un lavage de cerveau. C’est encore – je sais pas – ‹la goyave de France›.» (Pounia 30.09.03: 112–120)
Pounia verweist auf Guy Debords Szenario einer Société du Spectacle.56 La Réunion sei zu einem Markt für das internationale Popgeschäft geworden, abermals beeinflusst durch Kontinental-Frankreich wird dessen Bevölkerung von der internationalen Musikindustrie „ausgebeutet“. Obwohl etwa 40% der unter 25jährigen als arbeitslos registriert sind (vgl. INSEE 2003), verfügen viele durch die regelmäßigen Subventionen aus Kontinental-Frankreich über ausreichend Geld zum Besuch von teuren Konzerten. Solche Auftritte internationaler Popstars werden erst durch kostspielige Transporte von Menschen und Material ermöglicht.57 Früher waren es vor allem Lehrende, die mit ihren schönen Kleidern und ihrer fehlerfreien Art Französisch zu sprechen, ihrer Autorität und Selbstsicherheit, réunionesische Schulkinder beeindruckten.58 Diese Faszination, die 30 Jahre zuvor Lehrende aus Kontinental-Frankreich ausstrahlten, findet in Spekta56 Debords „La Société du Spectacle“, in einer Fassung von 1971, ist zugänglich unter der URL: http://perso.orange.fr/dumauvaiscote/la_societe_du_spectacle.htm (Datum des letzten Besuchs: 04.11.08). 57 Im Jahr 2003 spielten auf La Réunion unter anderem die acht Finalisten der StarAcademy 2003 ebenso wie u. a. Johnny Hallyday, Zazie, Tryo, Saian Supa Crew, Manu DiBango, Israel Vibration, Patrick Bruel, Frédéric François und Zakir Hussain. 58 So schildert es Axel Gauvin anschaulich in seinem Roman „Faim d’Enfance“, auf Deutsch erschienen unter dem Titel „Kindheitshunger“ (Gauvin 1995).
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keln mit internationalen Künstlern ihre Fortsetzung. Ein Beispiel für diese Spektakel liefert die kontinental-französische Fernsehshow StarAcademy. Émilie, eine Teilnehmerin aus La Réunion, hatte es darin bis unter die letzten Zehn geschafft (Abbildung 8). Auf der Insel löste dies heftige Spekulationen aus: „Würde sie die Gruppe der letzten Acht erreichen und an der Tournee teilnehmen, die sie auch nach La Réunion brächte?“ Die kontinental-französische Kulturindustrie, die von einer Réunionesin durchlaufen worden ist, kehrt mit ihr auf die Insel zurück. Sie beeinflusst damit die drei Ebenen, auf denen sich laut Pounia musikalischer Erfolg entscheidet. In réunionesischen Familien beginnen Jugendliche dem Erfolg Emilies nachzueifern. Auf kulturpolitischer Ebene orientiert man sich weiterhin an kontinental-französischen Maßstäben. Und im internationalen Vergleich bleibt La Réunion Teil Frankreichs. Émilie darf zwar „anders“ sein, sollte sich aber um Gleichheit bemühen, wenn sie ein Star werden will. Als Teil des Spektakels hat Émilie ihr Ziel erreicht, für Pounia existieren neokoloniale Strukturen in einem solchen Kulturbetrieb jedoch weiter. Die Bedeutung des Spektakels StarAcademy für Menschen auf einer Insel, auf der es verhältnismäßig wenig Möglichkeiten gibt, sich aus eigener Kraft einen Lebensunterhalt zu verdienen, bestätigt für Pounia nur die fortdauernde Faszination der lokalen Bevölkerung mit kontinental-französischen Erfolgsgeschichten, die Goyave de France. In Supermärkten kaufen Menschen demnach vor allem Produkte, die aus Kontinental-Frankreich auf die Insel importiert werden. Sie sind teurer, tragen aber das Gütesiegel der Mère-Patrie. Dafür bleiben süße, réunionesische Guaven im Regal liegen, weil angenommen wird, dass die Französischen besser sein müssen. Seit dem Beginn des combat identitaire kämpft Pounia gegen dieses Bild. Aus kulturpolitischer Sicht hat sich an dessen Aktualität seiner Ansicht nach wenig geändert, weshalb sein Kampf weitergehen muss. Der Austragungsort dieses Kampfes hat sich für Pounia aus dem Bildungssystem in eine überregionale Medienlandschaft verlagert, in der unter kontinental-französischer Regie einer StarAcademy Einfluss auf die kréol-réunionesische Lebenswelt genommen wird. Im Gegenzug erfahren Pounia und seine Musik durch solche Interpretationen ihre Legitimation als Militants Culturels. Dank der StarAcademy ist Pounias Kampf nicht zu Ende. Seine Polemik gegen die Verlockungen der Goyave de France und die „honnêtes gens“ verleihen ihm ein besonderes Image. Seine Musik wird dadurch für ein bestimmtes Publikum attraktiv. Dieses Publikum versammelt sich bei Open-Air-Konzerten und stimmt zu, wenn Pounia die lokale Kulturpolitik angreift. Oder es trinkt, lacht und tanzt im Endroit. Das sind nicht unbedingt jene, die er erreichen will, jene in den „hinteren Reihen“ der Kirche, die den „hônnetes gens“ Platz machen. Aber sie bilden eine ausreichend große Zahl an Kulturkritikern und revolutionär gestimmten Globetrottern, die seine Aussage weitertragen und seiner Band Erfolg einbringen. Pounia, Militant Culturel der buchstäblich ersten Stunde, bleibt kulturpolitischer Aktivist, der mit Hilfe seiner Musik auf La Réunion ein medienwirksames
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Gemeinschaftsgefühl gegen die Mère-Patrie propagiert und in überregionalen Kontexten damit bekannt geworden ist. Dabei ist es egal, ob ein Großteil der réunionesischen Bevölkerung sich tatsächlich so abhängig von kontinentalfranzösischen Werten macht, wie er es darstellt. Solange die Möglichkeit der Kolonialismuskritik besteht, ist seine Arbeit legitim. Und Spektakel wie die StarAcademy bieten ihm ausreichend Angriffsfläche. Aus Pounias Sicht sieht man auf dem Titelblatt des Journal de l’Île vor allem Émilie in Siegerinnenpose (Abbildung 8). Mit einem Autre Regard entdeckt man aber noch einen anderen Verweis auf die globale Kulturindustrie und deren Einfluss auf réunionesische Traditionen. Unter der Überschrift „Grand-Mèr Kal sauvée de l’oubli par Halloween“ wird am unteren rechten Rand ein Artikel angekündigt, in dem von den Widerständen gegen den Einzug der amerikanischen Tradition des Halloween auf La Réunion berichtet wird. Zu diesem Zweck findet zum zweiten Mal ein großes Fest statt, das der Legende der Grandmerkal gewidmet ist, einer zentralen Figur kreol-réunionesischer Kindermärchen.59 Auf dem Bild in der Zeitung als Hexe mit Kater und Besen dargestellt, kommt Grandmerkal nicht geflogen, um die Kinder zu holen, sondern um die Insel zu retten. Um sich der Globalisierung zu widersetzen, repräsentiert durch Halloween, entdecken Menschen kreolische Mythen und Märchen, formen sie um und überschreiben damit Einflüsse von außen. Sie arbeiten mit lokalen Traditionen, die in ihrer Wandlungsfähigkeit ein größeres Potenzial entfalten, als Verallgemeinerung und Anpassung des Eigenen an eine globale Werteordnung. Im Verhältnis zu früher wird den Quellen dieser Tradition besondere Aufmerksamkeit und Bedeutung zuteil, jedoch auf eine Art, die den Ausführungen Pounias widerspricht. Im Zusammenspiel von globaler Artikulation und lokaler Interpretation bewirkt Halloween nicht eine Überschreibung réunionesischer Traditionen, sondern deren Reaktivierung. Akteure beginnen eine Suche nach Traditionen, nach Geschichten und Bräuchen, die einen lokalen Schwerpunkt setzen. Für solche Entwicklungen bedarf es nicht immer institutioneller Unterstützung, auch wenn sie von Militants Culturels wie Ginette Ramassamy und Gilbert Pounia gefordert wird.
59 Grandmerkal symbolisiert eine Mischung aus indischer und afrikanischer Tradition. Zum einen erinnert sie an Kalla, eine Sklavin, die sich in den Tod stürzte als sie erfuhr, dass ihr Geliebter auf der Flucht umgebracht worden war. Zum anderen bedeutet das Wort Kal im Tamilischen sowohl „gestern“ als auch „heute“. Im réunionesischen Kontext kreolisieren sich diese traditionellen Ausdrücke zum Spruch „Grand-Mèr Kal, quelle heur li lé?“, was sinngemäß nach der Stunde ihres/des Todes fragt. Eine nähere Beschreibung der Geschichte und ihrer Bedeutung für La Réunion ist zugänglich unter der URL: http://www.temoignages.re/article.php3?id_article=6086 (Datum des letzten Besuchs: 02.09.09).
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In unserem Gespräch unterstrich Pounia, dass es weiterhin notwendig sei, sich um die Darstellung einer „unité réunionnaise“ zu bemühen (Pounia 30.09.03: 34). Damit sprach er die Gründung einer bestimmten Institution an, dem Museum Maison de Civilisations et de l’Unité Réunionnaise (MCUR).60 In diesem Institut setzen sich Kulturschaffende mit einer offiziellen Darstellung der Kréolisation-Réunionnaise in musealer Form auseinander, „representing the different civilizations that gave birth to that Creole society, to that ‚unité réunionnaise‘ (Vergès 2006: 30)“. Für Pounia symbolisiert dieses Projekt zwar das Bemühen um kulturpolitische Veränderung, jedoch etabliert auf einer anerkannten, institutionalisierten Ebene. Musik ermöglicht dies auf La Réunion seit langem, braucht dafür aber keinen besonderen Raum, denn der Klang ist dieser Raum selbst. Sie hat demnach eine besondere Bedeutung für einen neokolonialen Kontext wie La Réunion. „Music has served as a positive force to strengthen identity, revealing processes of cultural resistance and potential redemption“ (Chernoff 2002: 393). So wiedersetzen sich auch kréol-réunionesische Musiker der Überschreibung ihrer kulturellen Identität. Während Musik das belegt, wird diesem Prozess nun auch ein Museum gebaut. Der „cultural chauvinism“ der Kolonialzeit präsentiert sich für Pounia heute in Form einer StarAcademy, in der eine Réunionesin bejubelt wird, die nach bestimmten Gesichtspunkten etwas Besonderes ist (Chernoff 2002: 392). Sie hat zunächst in Kontinental-Frankreich Erfolg. Doch dann kommt es zu einem feedback loop, einer Rückführung an Informationen, denn auf La Réunion wird von vielen alles idealisiert, was aus Kontinental-Frankreich kommt, auch eine bisher unbekannte Réunionesin (vgl. Lash 2002, 2005: 18). Im StarAcademy-Kontext wird Émilie aufgewertet und zu einer Goyave de France. Die Wiederentdeckung der Grandmerkal lässt jedoch auch eine andere Interpretation zu. Denn auf der Suche nach einem spektakulären Reiz des Besonderen greifen die Produzenten der StarAcademy nach einem exotischen Strohhalm, der ihnen von Émilie hingehalten wird. Émilie ist in der Show etwas Besonderes, weil sie von La Réunion stammt. Diese Tatsache weiß sie gewinnbringend für sich einzusetzen. Ähnlich Françoise Guimberts, die den Ursprung ihrer Musik 60 Das MCUR ist ein von der Région Réunion unterstütztes Museum und Forschungsinstitut, in dem Wissenschaftler sich mit Fragen der kulturellen Vernetzung, Identitätskonstuktion, Kunst und Technologie auf La Réunion, im Raum Indischer Ozean und der Welt beschäftigen. Die kreolische Geschichte Réunions wird im Ausstellungsteil mit der Weltgeschichte in Bezug gesetzt. Auch die Schneckenhauskonstruktion des Gebäudes, dessen Räume man von innen nach außen kreisförmig durchläuft, lässt deren Weiterentwicklung offen. Bauarbeiten an diesem höchst umstrittenen Projekt sollen im Jahr 2010 beginnen. Ein reichhaltiges Video zur Geschichte La Réunions und deren musealer Umsetzung im MCUR ist zugänglich unter URL: http://www.youtube.com/watch?v=5Qc1fW3mtKQ&hl=de [Englische Fassung: http://www.youtube.com/watch?v=RInFonymnc4&hl=de] (Datum des letzten Besuchs: 22.08.09).
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mit dem Verweis auf die Arbeit ihrer Vorfahren in den Feldern oberhalb St. Benoits beschreibt, vermarktet Émilie sich als Ausnahmetalent, nicht weil sie besonders gut singen kann, sondern weil sie in der Ultraperipherie aufgewachsen ist. Sie nimmt an der französischen StarAcademy teil und ist dort besonders erfolgreich, weil sie als Französin zwar teilnahmeberechtigt ist, die Insel, von der sie stammt, aber ausreichend anders, nicht französisch ist. Auch hier dreht sich alles um den Erfolg in einer Société du Spectacle, doch spektakulär sind aus dieser Sicht nicht die Reize Kontinental-Frankreichs, sondern die La Réunions. Émilie ist nicht Teil einer Gruppe von Militants Culturels, weil es ihr keinen Erfolg brächte, sich gegen das kontinental-französische System richten zu wollen. Deshalb inszeniert sie sich als Réunionesin, singt aber internationalen Pop. Réunionesische Musique Traditionnelle ist in diesem Kontext kein erfolgversprechendes Medium. Deren Möglichkeiten, wie Chernoff sie formuliert, waren lediglich für die Militants Culturels noch von Bedeutung: “In less organized places where people have been thrown together from diverse backgrounds, musical activity has been one of the means with which subgroups consolidate their sense of themselves, giving themselves coherence in their relations with other groups similar defined; the evolution of their musical idioms has been an added means to develop and display a broader or more generalized sense of their combined identity.” (Chernoff 2002: 393)
Auf La Réunion entstanden die Militants Culturels in der Tradition einer der letzten dieser von Chernoff angesprochenen „subgroups“. Von Seiten der kontinental-französisch dominierten Kulturpolitik sind mit der Departmentalisation alle Réunionesen ebenso frei, gleich und brüderlich wie andere Franzosen. Dass dem in neokolonialen Kontexten der Insel allerdings nie so gewesen ist, ermöglichte der PCR in den 1960er Jahren den Maloya als Motor einer Bewegung mit dem Ziel einer „combined (Réunionese) identity“ zu benutzen. Letztendlich scheiterte das Projekt an der lokalen Bevölkerung, die keine réunionesische „combined identity“ wollte. Deshalb sagten sich die Funktionäre der Partei von ihrem Vorhaben los und unterstützten die Kandidatur Mitterrands. Musiker blieben zurück und entwickelten ihre eigenen kulturpolitischen Strukturen, um eine kulturelle Autonomie voranzutreiben. Gilbert Pounia lebt weiter nach diesem Vorbild und profitiert davon den musikalischen Traum einer „combined Réunionese identity“ aufrechtzuhalten. Er hält die Fahne des kollektiven Widerstands hoch, solange er damit musikkulturelle Aufmerksamkeit erregt. Doch 30 Jahre nach seinem Bühnendebüt als Militant Culturel hat sich etwas Entscheidendes verändert. Für Menschen der Generation Émilies ist die Goyave de France nicht mehr problematisch. Sie profitieren auf überregionaler Ebene vom affirmativen Umgang mit ihren kulturellen Differenzen.
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Thierry Gauliris, der Sänger von Bastèr, gehört zur Generation Pounias, ist als Musiker aber einen anderen Weg gegangen. Er versucht heute seine Band der veränderten musikkulturellen Situation anzupassen und bewegt sich damit irgendwo zwischen Émilie und Pounia. Wie im Zusammenhang mit Musik und Sprache ausgeführt, entstand Bastèr in einer ähnlichen Zeit und mit ähnlichen Zielen wie Ziskakan. Als im Jahr 1981 François Mitterrand zum Präsidenten Frankreichs gewählt wurde und sich bald darauf MKBT gründete, begannen die Bewohner des Viertels Basse-Terre Musikveranstaltungen selbst zu organisieren. Dafür gab es von der Regierung nun Fördermittel. In dieser Kombination aus Eigeninitiative und regierungspolitischer Unterstützung verbinden sich abermals die drei von Pounia dargestellten Ebenen: der persönliche Hintergrund der Musiker, ihre politische Situation auf La Réunion und die Wahrnehmbarkeit ihrer Insel in überregionalen Kontexten. Métissage ist hierbei das Ausgangskonzept, mit dem Gauliris die Gleichheit von Menschen beschreibt, in der Menschen innerhalb eine Bevölkerung trotz vieler Andersartigkeiten als gleich dargestellt werden. Métissage basiert auf der Akzeptanz kultureller Differenz. Heute kommt man daran nicht mehr vorbei, ob in der Propaganda für eine Europäische Gemeinschaft „United in Diversity“, eine mauritische „Regenbogennation“, oder im nationalen Motto von Ländern wie Indonesien oder einem Multicultural Australia. Gauliris ging allerdings bereits Anfang der 1980er Jahre dermaßen affirmativ mit der Vielheit lokaler Tradition um. Er verzichtete auf kontinental-französische Referenzen, sang nicht die Liebeslieder des Séga, sondern die gesellschaftskritischen Texte des Maloya, behielt aber musikalische Elemente des Séga bei. Sein SégaMaloya provozierte Anfangs in weiten Teilen der réunionesischen Bevölkerung nicht nur Zustimmung, sondern auch Angst: „Es ist nicht der Text selbst, der Angst machte. Der Grund war, dass man die Musik hörte. Es ist eine andere Musik! Du weißt, dass das Andere Angst macht, wenn du nicht weißt, wie du es einordnen sollst. […] Irgendwo gibt es da immer eine Kraft! Irgendwie. Ich zumindest, ich benutze meine Musik. Ich mache sie vornehmlich aus diesem Grund: Um eine Message rüberzubringen! […] Wenn ich meine Gitarre nehme, hört man das darin. Ich will sagen: Bitte, so bin ich! Ich werde dir von meiner Insel erzählen! Ich werde dir von der Welt erzählen, den Problemen der Welt. Ich werde von der Liebe erzählen, aber aus der Sicht eines Réunionnais Métissé, der eine Geschichte hat, wie alle anderen Völker eine Geschichte haben.“ «C’est pas le texte lui-même qui faisait peur. C’est le fait d’entendre la musique. C’est une musique différente! Tu sais que la différence fait peur quand tu sais pas l’appréhender. […] C’est que quelque part y’a toujours une force! C’est, quelque part. Moi en tout cas j’utilise ma musique. Je le fais surtout dans ce sens: de faire passer un message! […] Quand je prends ma guitare ça s’entend dedans. C’est pour dire: Voilà, je suis comme ça! Je vais te parler de mon île! Je vais te parler du monde, des problèmes du monde aussi. Je vais parler de l’amour mais en tant que Réunionnais
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métissé qui a une histoire comme tous les autres peuples ont une histoire.» (Gauliris 09.06.03: 277–297)
Mit seiner affirmativen Haltung zur Geschichte als „Réunionnais Métissé“ urteilt Gauliris über globale Probleme aus einer lokalen Perspektive. Einige seiner Zuhörer zweifelten in den 1980er Jahren am Nutzen dieser musikalischen Provokationen. Sie befürchteten, eine Abspaltung von Frankreich könnte sich wirtschaftspolitisch negativ auf die lokale Bevölkerung auswirken. Sollten die kulturpolitischen Auseinandersetzungen, die mit dem Einzug Mitterrands in den Élyséepalast angeblich beendet waren, in den 1980er Jahren erst recht beginnen? Mittlerweile ist sichtbar geworden, dass nicht die Gemeinschaft, aber zumindest einige réunionesische Musiker von einer fortdauernden Inszenierung ihrer Andersartigkeit profitieren. Ein Image desjenigen, der sagt wie es tatsächlich ist, wie La Réunion unter der Maske kontinental-französischer Vormacht aussieht, verschafft Gauliris, Pounia und anderen internationale Aufmerksamkeit. Das Mot d’Ordre „Autonomie“ der PCR ist zu einem Teil réunionesischer Geschichte geworden, dessen Bedeutung in musikalischen Bildern bedeutungsvoller erscheint als es ist. Denn das überregionale Interesse an lokalen Besonderheiten wirkt wie ein Katalysator. Es treibt die Musiker an, immer neue Geschichten und Zusammenhänge zu (er)finden. Wie selbstverständlich verwies Gauliris in unserem Gespräch auf Frantz Fanons (1971) „Peau Noire, Masques Blancs“ (Gauliris 09.06.03: 243), Gilbert Pounia auf Guy Dubord oder Axel Gauvin auf André Martinet. Solche Theorien haben Einfluss darauf, wie Musiker ihre Kultur sehen und in ihrer Musik hörbar machen. Gleichzeitig werden die Theoretiker zu Referenzen in einem überregionalen Kontext. Ihre Theorien stehen zwischen La Réunion und Kontinental-Frankreich. Réunionesische Akteure nutzen sie für ihre Zwecke. Die Kritiker am kulturpolitischen System der Mère-Patrie, werden zu Referenzen für eine kritische Tradition, in die sich die Musiker einschreiben. Gauliris verwendet im voranstehenden Zitat das Konzept der Métissage. In seiner Inszenierung als Militant Culturel findet das theoretische Konzept seine praktische Anwendung. Mit dem Begriff Métissage erklärt er sich und anderen, warum er in seiner Arbeit auf Widerstände stößt und wie diese Widerstände überbrückt werden können. Eine Möglichkeit ist, kulturelle Gegensätze nicht aufzulösen, sondern nutzbar zu machen. Gauliris begreift sich und seine Musik hierfür als lebendiges Beispiel. Insgesamt erlebte ich ihn mit seiner Band drei Mal live. Bei jedem Konzert sang er als eine der Zugaben eine Version des „Redemption Song“ von Bob Marley. Séga und Maloya-Elemente, Rhythmus und Instrumentierung waren darin mit der Struktur des Songs verwoben (vgl. Wergin 2007). Hinzu kam sein Gesang, der kreolischer nicht sein konnte: in Englisch mit sowohl jamaikanischem Patois, französisch/kreol-réunionesischem Akzent und von Bastèr unterlegt mit Séggae-Rhythmen des Indischen Ozeans (CD Titel 6).
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Der von Gauliris und seiner Band in dieser musikalischen Inszenierung dargestellte Gebrauch des Anderen innerhalb der eigenen Kultur, die jamaikanische Musik vermischt mit SégaMaloya, wird mittels des Métissage-Konzepts beschreibbar, erhält theoretische Absicherung. Kontinental-Frankreich wird neben Europa und anderen überregionalen Kontexten, eben Jamaika, abermals zu einer musikkulturellen Referenz unter vielen. Nicht der Verweis auf einen Ursprung, sondern die Vermischung ist hierfür grundlegend und Musik bietet eine einzigartige Möglichkeit, ein solches Gemeinschaftsverständnis zu artikulieren. Sie macht sowohl Vermischung als auch Unterschiede hörbar. Wie in den vorangegangenen Kapiteln deutlich geworden ist, sind in diesem musikalischen Zwischen andauernd kontrollierende, restriktive und bewertende Mechanismen aktiv. Ob musikkulturelle Akteure darin hörbar werden, ob sie „hermeneutically active“ werden, bleibt deshalb offen (Kramer 2003: 133). Sie entwerfen Geschichten über die Ursprünge ihrer lokalen Kultur, doch einen gemeinsamen Ursprung gibt es nicht, und demnach auch keine Rückkehr an diesen Ursprung. Die Inszenierungen réunionesischer Musiker im Zwischen sind die einzige Möglichkeit zur „Rückkehr“: „Négritude (vgl. Césaire 1955) und die Theorie der Verdammten (vgl. Fanon 1966) sind als Entwürfe allerdings generalisierend. Sie folgen den historischen Umrissen der ausgehenden Dekolonisierung in der Welt. Sie illustrieren und beschreiben die Landschaft eines ihnen gemeinsamen (sic!) Anderswo. Wir müssen an jenen Ort zurückkehren. Die Ausflucht als List ist nur erfolgreich, wenn die Rückkehr sie befruchtet; nicht die Rückkehr zum Traum vom Ursprung, zum unbeweglichen Einen des Seins, sondern die Rückkehr an den Punkt, von dem das Gewirr ausgeht, an den Punkt, von dem wir uns mit aller Macht abgewendet hatten; an diesem Ort müssen wir endlich in die Tat umsetzen, was die Beziehung besagt, oder wir gehen unter.“ (Glissant 1986: 521. Zusätze von C.W.)
Glissants theoretischer Ausgangspunkt ist der gewaltvolle Ort, an dem Kreolisierung begann, nicht eine Rückbesinnung auf gemeinsame Ursprünge. Gauliris handelt danach, wenn er unterschiedliche Stile, etwa Reggae und SégaMaloya, in Beziehung zueinander setzt. Gleichzeitig liegt in seiner Musik eine Aussage: Das bin ich, das ist meine Insel, meine Heimat, meine Form der Rückkehr. Diese Aussage wird unterschiedlich verstanden. Teile seines Publikums erinnert sie an Geschichten der Kolonialzeit, an Sklaverei und Verschleppung. Ihnen sagt Gauliris diese Vergangenheit überwinden zu können, wenn sie sich mit ihr auseinandersetzen. Andernfalls bleibt sie in der Gegenwart wirksam, zum Beispiel in dem sie Eltern davon abhält ihren Kindern Kréol-Réunionnais beizubringen. Gauliris Vorstellung kreol-réunionesische Musik ist die Verwirklichung von Glissants Theorie. Sie ist Kreolisierung, Vermischung, Akzeptanz und Differenz. Gilbert Pounia schlägt vor, die Besonderheit réunionesischer Musik weiterhin in einem Aktionismus gegen kontinental-französische Einflüsse zu inszenieren, gegen das Bild der Guave aus dem Kühlregal. Thierry Gauliris interessiert die
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Guave nicht. Er betont stattdessen, dass Réunionesen ihre Qualität nach eigenen Kriterien bewerten sollen, äußerlich ähnlich, in ihrer Ähnlichkeit jedoch grundlegend verschieden und trotzdem gleich. Kreol-réunionesische Kultur bedeutet für Gauliris, in einer Lebenswelt aufgewachsen zu sein, die auf der Basis von Erfahrungen beruht, die nur Réunionesen gemacht haben. Das Wissen darum können Menschen für sich nutzbar machen. Françoise Guimbert fördert damit etwa Jugendliche durch ein selbstfinanziertes Studio, in dem sie Musik aufnehmen können, Guillaume Legras kämpft damit für den Erhalt seiner Familientradition und Thierry Gauliris erhebt damit Anspruch auf eine eigene Definition des Métissage-Begriffs: „Du bist da, um zum Wohl dieser wirtschaftlich und kulturell starken Gesellschaft beizutragen, sei sie nun Frankreich oder Amerika. Aber innerlich, im Innersten kannst du deinen Platz darin nicht finden, denn du bist so nicht! Du kannst nicht sagen, dass du so bist. Du bist so nicht geboren, du bist nicht in deren Zeit geboren. Du bist nicht dort geboren, sondern hier! Du hast Vorfahren, die Sklaven waren. Du bist ein Métis! Was mich betrifft, habe ich etwas Europäisches in meinen Genen, etwas von Sklaven, Chinesen, selbst ein bisschen von Indern. Ich bin sehr gemischt! Stell dir vor, ich würde sagen, ich bin komplett Europäer. In jedem Fall sind wir alle letztendlich … vermischt, wenn man sich davon verabschiedet, dass der Mensch geneaologisch von einem einzigen Menschen abstammt … Aber es stimmt, hinterher ist jede Kultur anders. Mit der Zeit ist man anders, und man kann nicht sagen: Bitte, ich bin Deutscher wie du, oder dass du Réunionese bist wie ich! Um sich als Teil dieser Gesellschaft zu fühlen … in ständiger Bewegung, brauchst du Halt und wir, was wir sagen ist: Wir leben hier. Wir sind kulturell stark. Wir haben eine 300-jährige Geschichte. Es gab hier Sklaven, es gab Kontraktarbeiter und das ist unsere Stärke! Sonst sehe ich nicht, wie wir in dieser Welt leben könnten. Das ist nicht möglich! (Pause) Die Forderung der Anerkennung unserer Identität ist die Grundlage für das Entstehen der Gruppe (Bastèr). In jedem Fall fordere ich es jedes Mal. Ich kann nicht anders. Ich kann nicht sagen, bitte, das mach ich für bla, bla, bla, junge Mädchen, Sonne, das Meer … nein! Es gibt Leute, die machen das sehr gut, mein Ziel ist das nicht.“ «Tu es là pour adhérer à la cause de cette population économiquement et culturellement forte, que ce soit la France ou l’Amérique. Mais dans le fond, dans l’absolu, tu peux pas en faire partie parce que tu es pas comme ça! Tu peux pas dire que t’es comme ça. Tu es pas né comme ça, tu es pas né à cette époque-là. Tu es pas né là, tu es né ici! Tu as des ancêtres qui ont été esclaves. Tu es un Métis! En ce qui me concerne, j’ai de l’européen dans mes gènes, de l’esclave, des Chinois, même de l’Inde un peu. Je suis très mélangé! Imagine-toi, je vais dire, je suis un Européen à part entière. De toute façon on est tous à l’origine … tous mélangés si on part du fait que l’homme vient d’un seul homme dans la branche généalogique … Mais c’est vrai qu’après chaque culture est différente. Avec le temps on est différent et on peut pas dire que voilà, je suis allemand comme toi, que tu es réunionnais comme moi! Pour se repérer dans cette société … en perpétuelle mouvance t’as besoin de repères et nous
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ce qu’on s’est dit c’est que, voilà on existe là. On est culturellement fort! On a une histoire qui date de 300 ans. Y’a eu des esclaves ici, y’a eu des engagés et c’est ça notre force! Sinon je vois pas comment on existerait dans ce monde. C’est pas possible! (Pause) La revendication identitaire est la base même de la création du groupe (Bastèr). De toute façon je le revendique à chaque fois. Je peux pas faire autrement. Je peux pas dire voilà c’était pour bla bla bla, jeunes filles, soleil, la mer … non! Y’a des gens qui le font très bien, moi c’est pas le but.» (Gauliris 09.06.03: 244–270. Zusatz von C.W.)
300 Jahre réunionesische Geschichte bedeuten für Gauliris, dass auf der Insel eine kulturelle Identität entstanden ist, die besonders ist. Militants Culturels identifizieren sich damit, mit einem Kulturbegriff, der unterschiedliche Identitätskonstruktionen und Verortungen zulässt. Durch seinen latent prozessualen Charakter bleibt er instabil. In ihren Identitätskonzeptionen müssen die Akteure deshalb ähnlich flexibel sein und in letzter Konsequenz Geschlossenheit, die Wahrnehmung der eigenen Identität als Ganzes, als Ziel verwerfen, weil es in der Kréolisation-Réunionnaise dafür keine Basis gibt. Der Ursprung dieser Kultur ist die Vielheit. Als Referenzrahmen einer Identität bietet sie allein deren Inszenierung. Gilbert Pounia inszeniert sich und seine Musik weiterhin im Kampf gegen den Gegner der Kreolisierung, gegen den Reiz auf die Maske des Anderen, Kontinental-Frankreich, zurückgreifen zu wollen und die eigene Identität auf Basis einer dominierenden Kulturform zu entwerfen, „that mask, the figure of the mask, in whose shade (man) can take up the challenge of a world the truth of which we shall never know, and which is therefore fundamentally a thing of artifice“ (Baudrillard 1990: 143). Es gibt Musiker, die sich dieser Maske bedienen, weil sie eine einfachere Grundlage bietet, als eine ungewisse kulturelle Vielheit. Dazu gehören Françoise Guimbert und Émilie. Dabei entlarven sie die MèrePatrie als den gescheiterten Versuch einer institutionalisierten Kultur, in der alle kulturellen Differenzen vereint werden sollen, denn sie spielen die Einheit mit Frankreich nur, bleiben hinter ihrer musikalischen Maske jedoch anders. Kreolisierung bedeutet ebenso die Kompentenz, sich diese Maske nutzbar zu machen. Kreol-réunionesische Musiker stehen damit zwischen kulturellen Vorstellungen. Und sie greifen auf verschiedene Theoriegebäude zurück, um sich und anderen ihre Kultur als eine zu erklären. In diesem Zwischen konstruieren Musiker ihre Identität, in dem sie aufgewachsen und gereist sind und das den Ursprung kreolréunionesische Kultur ausmacht.
5.2
Die Konstruktion von Identität im Zwischen
Kreol-réunionesische Musiker konstruieren ihre Heimat an privaten und öffentlichen Orten mit dem Verweis auf Familie und Vorfahren. In der Zeremonie des Servis Kabaré zum Beispiel locken sie mittels Musik ihre Ahnen, die sich ihrer Körper bemächtigen und tanzen. Aus solchen Referenzen entstandene musik-
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kulturelle Netze zwischen La Réunion, Madagaskar und Mosambik, Regionen in denen sich ähnliche Zeremonien finden, werden mittlerweile durch weitere Verknüpfungen ergänzt. Die überregionale Musikproduktion hat somit zu konkreten Veränderungen innerhalb der Lebenswelten réunionesischer Akteure geführt. Aber auch die Insellandschaft hat sich verändert. Neue Siedlungen wurden gebaut. Die urbanen Zentren La Réunions breiten sich aus. Von St. Benoit bis St. Pierre führt eine mehrspurige Schnellstraße in Küstennähe. Im Juli 2009 wurde die Route des Tamarins eröffnet, gebaut für über eine Milliarde Euro, 34 Kilometer vierspurige Betonstraße über insgesamt 120 Brücken. Auf Abbildung 1 wird deutlich, dass La Réunions Küste nahezu zu einem urbanen Ring zusammengewachsen ist. Mit den ehemals alleinstehenden kleinen Orten, die mittlerweile von den Ausdehnungen der Städte verschluckt worden sind, verschwinden auch bestimmte Bezüge zur Vergangenheit: „Die Stadt wird wachsen, wird alles aufessen was noch von den ländlichen Siedlungen geblieben ist! Wie ich dir gesagt habe, in diesem Viertel (Basse-Terre) gab es die Servis Kabaré und weil es ein bäuerliches Viertel war, wurde man von den natürlichen Klängen der Tiere geweckt, die sangen. Die Kühe, die Hähne, am morgen. Das spielt eine große Rolle!“ «La ville va grandir, va manger tout ce qui reste en tant qu’habitations rurales! Comme je te disais dans ce quartier y’avait des Servis Kabaré et comme c’était un quartier agricole on était reveillés quand même au son naturel des animaux qui chantaient, des bœufs, des coqs, le matin. Ça joue beaucoup!» (Gauliris 09.06.03: 12–17. Zusatz von C.W.)
Gauliris beschreibt im voranstehenden Interviewauszug sein Heimatdorf BasseTerre, das von den Auswüchsen St. Pierres verschluckt worden ist. In der Stadtentwicklung herrschen Konzepte vor, die seiner Ansicht nach nicht an die Bedürfnisse einer réunionesischen Gemeinschaft angepasst sind. Auch im Bereich Architektur und sozialer Wohnungsbau wurden Idealvorstellungen aus Kontinental-Frankreich übernommen, ohne die besonderen Gegebenheiten einer Insel in den Subtropen zu berücksichtigen, etwa dem Klima. Fenster sind zu klein oder unnötig groß. Die nötige Durchlüftung bei großer Hitze ist nicht gewährleistet, beziehungsweise die Sonneneinstrahlung zu stark. Gewachsene Wohnsiedlungen, eingeschossige Häuschen mit Garten und ohne Kanalisation, werden durch Sozialwohnungen ersetzt, mehrstöckig, uniform und mit Balkon. Solche Maßnahmen zur Abschaffung der Bidonvilles und Konstruktion alternativer Cités erwecken bei vielen den Eindruck, La Réunion entwickle sich rasend schnell und für die lokale Bevölkerung unkontrollierbar. Sie haben nachhaltige Auswirkungen auf die Menschen, provozieren mitunter Krisensituationen, die auch aus musikalischer Sicht eine besondere Bedeutung erlangen, wie Tina K. Ramnarine formuliert:
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“The important question, really, is the extent to which musical practices offer ways of challenging the various sorts of boundaries (‘political’, ‘social’, ‘ethnic’, ‘cultural’, ‘geographical’) that people insist on making.” (Ramnarine 2004: 155)
„Kontinental-französische Wohnungsbauprojekte verschütten kreolréunionesische Lebenswelten“, solche Vorstellungen fördern die musikalische Kreativität. Auf den Bidonvilles entstehen nicht allein neue Wohnungen. Es entstehen auch andere Lebensumstände. Ein Servis Kabaré mit Nachbarn, Familienangehörigen und Freunden lässt sich nicht auf einem Balkon abhalten. Somit wird die Lebenssituation der Menschen durch solche Wohnungsbauprojekte nicht unbedingt verbessert. Musikkulturelle Akteure erkannten dies früh und stellten das Bild der Mère-Patrie und ihrem hilfsbedürftigen „Kind“ La Réunion in Liedern wie „Mon Liberté“ in Frage (CD Titel 5): Kan mwin lé té p’ti, mwin lé té mizèr, Zordi mwin lé somèr. Donn amwin, donn amwin, donn amwin mon liberté, Lès amwin, lès amwin, lès amwin viv in pé. Partou mi pas mi trouv pa travay, Koman ma fé, po nouri marmay? […] Li rogard amwin avek son sourir, Li koné pa son lavenir. Donn amwin, donn amwin, donn amwin mon liberté … Als ich klein war, ging es mir schlecht, Heute bin ich Arbeitsloser. Gib mir, gib mir, gib mir meine Freiheit, Lass mich, lass mich, lass mich in Frieden leben. Überall wo ich vorbeikomme finde ich keine Arbeit, Wie soll ich mein Kind ernähren? […] Es schaut mich an mit seinem Lachen, Es kennt nicht seine Zukunft. Gib mir, gib mir, gib mir meine Freiheit …61
Hinter dem pathetischen Text von Bastèr aus dem Jahre 1983 stehen konkrete Probleme. Die Band spricht keine Warnungen aus. Der Text erzählt von der Hilflosigkeit zweier Generationen, Eltern und Kindern, die in einer konstanten Unsicherheit aufgewachsen sind, weil sie ihre Zukunft nicht selbst bestimmt haben. Die Zukunft wird in Kontinental-Frankreich gemacht. Doch nicht alles, was 61 Bastèr (1983) Mon Liberté. La Réunion: Baster Production Sarl. Übersetzung C.W.
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von dort eingebracht wird, um den réunionesischen Lebensstandard zu heben, ist von Vorteil. Wenn Menschen aus der lokalen Bevölkerung nicht in Eigenverantwortung an der Weiterentwicklung ihrer Lebenswelten beteiligt sind, so der Inhalt des Textes, bleiben lokale Besonderheiten unberücksichtigt und auch gut gemeinte Projekte können scheitern. Dies ist ein vielerorts kritisiertes Problem von Entwicklungsarbeit, bei der Bedürfnisse der lokalen Bevölkerung nicht in die Konzeption von Projekten einfließen (vgl. Illich 1993). Armatya Sen schreibt hierzu: “With adequate social opportunities, individuals can effectively shape their own destiny and help each other. They need not be seen primarily as passive recipients of the benefits of cunning development programs. There is indeed a strong rationale for recognizing the positive role of free and sustainable agency – and even of constructive impatience.” (Sen 1999: 11)
In diesem Sinne thematisieren musikkulturelle Akteure auf La Réunion Konflikte zwischen ihrer Heimat und Kontinental-Frankreich und verschaffen sich damit Gehör. Mit ihrer musikalischen „constructive impatience“ treten sie aus dem Schatten neokolonialer Dominanz. Das lokale Wissen und dessen Bedeutung für die lokale Bevölkerung werden von ihnen auf überregionaler Ebene getragen. Sie weisen auf kulturelle Besonderheiten hin, die aus ihrer Perspektive, im Zwischen, sichtbar werden. Neben der Tradition sonntäglicher Picknickausflüge mit der Familie, der Schönheit der Landschaft und der Menschen, sind dies auch der Servis Kabaré, die Gewalt der Kreolisierung und die Métissage. Gilbert Pounia erzählte mir, dass er diese Erkenntnis ausgerechnet während eines Studienaufenthalts in Lyon gewann. Er lernte dort eine französische Kultur kennen, die entgegen seiner Erwartungen nicht einheitlich, sondern voller Unterschiede war. Seine bevorzugte Musik wurde der Fusion Rock, und sein politisches Interesse galt den Unabhängigkeitsbewegungen in der Bretagne.62 Diese Eindrücke bestärkten ihn, La Réunion als kulturpolitisch eigenständigen Ort innerhalb Frankreichs zu verstehen und die Insel in seiner Musik auch als solchen beschreiben zu wollen. Doch je erfolgreicher er in seinem Bemühen um eine überregionale Verbreitung réunionesischer Kultur war, desto mehr stieß er erneut auf Widersprüche: „Ich erhalte einen Preis in Südafrika. […] Die Sache ist, dass ich niemals eine Tournee in Afrika gemacht habe. Also passt da irgendwas nicht! Achtung: Auf der einen Seite nimmt man mehr oder minder ein koloniales System! In der Art wie du das 62 Auch auf La Réunion haben diese Bewegungen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Deshalb wird umgangssprachlich klar zwischen Bretonen und anderen Kontinental-Franzosen unterschieden.
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machst, störst du! Du hast eine Art … Aber du störst nicht die Leute. Du störst bestimmte Herrschaften, die an der Macht sind: Veranstaltungsdirektoren, Entwicklungsbeauftragte! Also man vermeidet, dass du diese Leute kennenlernst. Sicherlich könnte man über die Einrichtung eines künstlerischen Projekts mit La Réunion diskutieren […] Auf künstlerischer Ebene … Was man in diese Länder bringen könnte … Ich bin sicher, dass es zu einem Austausch kommen könnte. Und die Leute wären viel mehr interessiert. Und man käme natürlich aus dieser Kumpelhaftigkeit des RÉSO (französische Kulturinstitution) raus. Wo man sich untereinander einlädt! Hin und wieder reisen können. Nein! Du arbeitest für das Land. Du arbeitest nicht für deinen eigenen Erfolg. Du arbeitest für das Land!“ «Je reçois un prix en Afrique du Sud. […] Le truc c’est que j’ai jamais fait une tournée en Afrique. Donc, y’a quelque chose qui cloche! Attention: D’un autre coté on prend un système colonial quelque part! Dans ta manière de faire tu déranges! T’as une manière de faire, mais tu déranges pas les gens. Tu déranges certains bonshommes qui sont au pouvoir: directeur de salle, chargé de développement! Bon, on évite que tu rencontres ces gens-là. C’est sûr on peut discuter de la mise en place d’un truc artistiquement avec La Réunion […] au niveau artistique, ce qu’on peut amener dans ces pays-là. Je suis sûr qu’on peut arriver à un échange. Et les gens seraient beaucoup plus intéressés. Et sortir du carton justement de camaraderie de RÉSO. Où on s’invite entre nous! Pouvoir voyager de temps en temps. Non! Tu travailles pour un pays. Tu travailles pas pour avoir seulement ta propre gloire. Tu travailles pour le pays!» (Pounia 30.09.03: 565–583. Zusatz von C.W.)
Pounia beschreibt sich als La Réunion verpflichtet. Gleichzeitig wundert er sich, in Südafrika einen Preis zu erhalten, obwohl er noch nie in Afrika eine Tournee gemacht hat. Trotzdem werden er und seine Musik mit Afrika und damit auch einem bestimmten internationalen Musikmarkt, dem der World Music, assoziiert. Pounia greift in seiner Erklärung dafür Axel Gauvins Motiv der „Zugvögel“ auf. Diese betreiben eine Kulturarbeit nach dem Beispiel des sozialen Wohnungsbaus, mit Plänen, die sich in Kontinental-Frankreich bewährt haben, auf La Réunion aber unangemessen sind, weil sie nicht Probleme lösen, sondern andere provozieren. Pounia beschreibt sich in diesem Punkt ebenso wie Guillaume Legras, dem Verfechter einer Musique Traditionnelle, als Verteidiger réunionesischer Traditionen gegen die verbreitete „Kameraderie“ von kulturpolitischen Funktionären und Produzenten. Anders als Legras inszeniert er sich jedoch nicht als Kämpfer zum Erhalt seiner Familientradition, sondern als Kämpfer für „sein Land“. Entscheidend ist für ihn der Versuch Veranstalter in seine musikkulturelle Arbeit einzubeziehen. Doch diese sind allein auf ihren eigenen Vorteil bedacht. In seinem Text „Music and Culture: Historiographies of Disjuncture“ beschreibt Philip Bohlman die Auswirkungen einer Musikindustrie, die auf diese Art Einfluss auf Musiker nimmt: “The world-music mix blurs the borders between text and context, in so doing rendering the borders between music and culture meaningless. Any music can function
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within any cultural context, if, of course, it is in the interests of producers and consumers to make it do so. The question remains, nonetheless, just where does the cultural work of history end and that of eschatology begin?” (Bohlman 2003: 53)
Bohlman schildert die Pole zwischen denen kreol-réunionesische Musiker sich bewegen und verorten: „the cultural work of history and that of eschatology“ – zwischen dem Glauben an die Besonderheit ihrer Musiktradition und der Arbeit an ihrer Geschichtsschreibung. Sie streben nach Wahrnehmbarkeit. Doch Institutionen wie der PRMA interessieren sich erst für junge Musiker wenn sie flexibel genug sind, ihre Traditionen gemäß der Anforderungen des Marktes zu inszenieren. Musiker, die nicht zur ersten Generation der Militant Culturels gehören, beschreiten somit den schmalen Grad zwischen der Reinterpretation kulturhistorischer Prozesse und deren Darstellung gemäß globaler World MusicKriterien. Thierry Gauliris änderte deshalb 1992 die Ausrichtung seiner Band vom lokalen Basse-Terre auf eine überregionale Ebene: „Nach zehn Jahren, um 1992, war es, dass wir, ich zumindest, ich habe mir gesagt, dass es nötig sei die musikalische und textliche Seite zusammenzubringen. Wir mussten arbeiten, ins Konservatorium gehen und Kurse nehmen. Das habe ich gemacht, gemeinsam mit einem meiner Musiker, der bis heute geblieben ist. Abgesehen davon, die anderen der Gruppe: Brüder, Schwestern, Cousins, Cousinen, wir haben uns getrennt. Ich habe neue Musiker genommen, bessere, die in Paris oder auch hier geschult worden sind. Und so hat sich die Gruppe weiterentwickelt.“ «Après 10 ans d’existence, vers 92, c’est là qu’on – moi en tout cas, je me suis dit qu’il fallait même allier le côté musical et texte. Il fallait aller bosser: aller au conservatoire, prendre des cours. Ce que j’ai fait moi avec un des mes musiciens qui est resté jusqu’à maintenant. Sinon l’autre groupe: frères, sœurs, cousins, cousines, on s’est séparé comme ça. J’ai pris des nouveaux musiciens plus performants qui ont fait l’école à Paris ou même ici. Et c’est comme ça que le groupe a avancé.» (Gauliris 09.06.03: 78–85)
Gauliris hat sich und seine Gruppe den Anforderungen des Musikgeschäfts angepasst. Den anderen Musiker, den er erwähnt, traf ich bei einer Jamsession, organisiert von Jazzami im Trois Brasseurs. Er widersprach Gauliris Beschreibung. Bastèr sei seiner Meinung nach keine Band mehr, sondern eine Ein-MannInstitution. Er selbst unterrichte Musik, da er von den Einnahmen durch Auftritte und Plattenproduktionen der Band allein nicht leben könne. Die Texte der Stücke seien gleich geblieben, doch sowohl Inszenierung als auch Verbundenheit zu ihren Inhalten hätten sich maßgeblich verändert. In beiden Darstellungen existiert die Band Bastèr, wie sie in den 1980er Jahren ins Leben gerufen wurde, nicht mehr. Dafür gibt es unterschiedliche Gründe. Um die Erfolgschancen der Band zu verbessern, lud Gauliris sich Musiker ein, die in Paris studiert hatten, nahm Kurse am Konservatorium und tat alles, um
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Musik und Sprache besser zu harmonisieren. Nach etwa zehn Jahren legte er die Basis seiner Musik ab, die bis dahin im Ort Basse-Terre fixiert war. Wie der Ort, der mittlerweile zu einem Stadtviertel von St. Pierre geworden war, verschwand nunmehr auch die Musik in einem größeren Zusammenhang. Gauliris musste sich mit seiner Musik einem breiteren Publikum öffnen. Er begann, seine Musik bestimmten Kriterien anzugleichen. Die Bedeutung des Musikmachens veränderte sich für ihn in dem Moment, als er es nicht mehr mit dem Ziel tat, die Bildung einer réunionesischen Gemeinschaft im Lokalen zu propagieren. Er begann stattdessen, die Inhalte seiner Musik gemäß überregionaler Anforderungen zu inszenieren, um in einem solchen Kontext dauerhaft wahrgenommen zu werden. Mit seiner somit professionalisierten Musik verkörpert Gauliris weiterhin das Image des Militant Culturel, bedient sich jedoch außerhalb La Réunions verständlicher Referenzen, etwa denen eines „Redemption Song“ mit charakteristischen Reggae-Rhythmen, Geschichten über Sklaverei und Widerstand und einer Referenz an Musiker wie Bob Marley, denen Gauliris sich zugehörig fühlt. Bob Marley hat für ihn die Vorarbeit geleistet. Es ist für ein überregionales Publikum leichter zu verstehen, dass auch ein Musiker von La Réunion ein Militant Culturel ist, wenn er sich hierfür etablierter Zeichen bedient, Reggae, Rasta, bis hin zum Coversong. Wie Antoine Hennion weiß, erzählen diese Veränderungen etwas über die Entwicklung der Musikszene allgemein: “Mediations in music have a pragmatic status – they are the art that they reveal, and cannot be distinguished from the appreciation they generate. Mediations can therefore serve as a base for a positive analysis of tastes, and not for the deconstruction of these tastes.” (Hennion 2003: 84)
Mittels der „Professionalisierung“ seiner Musik macht Gauliris deren Inhalte einem breiteren Publikum zugänglich. Im Wiedererkennungswert seiner musikalischen Inszenierungen findet ein überregionales Publikum möglicherweise eigene identitätsstiftende Referenzen. Gauliris stärkt somit paradoxer Weise sein Image als Repräsentant kreol-réunionesischer Kultur, indem er zu anderen Stilen greift. Er konstruiert seine Identität zwischen La Réunion und anderen Orten. Seine Vermischung, der SégaMaloya, bleibt trotzdem sein Markenzeichen. Damit verdeutlicht er abermals die Besonderheit kreol-réunionesischer Musiktradition. Denn jenseits neokolonialer Einflüsse, World Music-Kriterien und Dichotomien wie Métropole/Périphérie bleibt sie vor allem ein Medium zur Inszenierung einer Tradition im Zwischen.
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Das Erhalten réunionesischer Tradition im Zwischen
Gilbert Pounia verfolgt weiterhin jenen Plan, den Carpanin Marimoutou bereits für die Gruppe Zélandor beschrieben hatte. Durch Interventionen an zahlreichen Orten will er ein politisches Bewusstsein zur Anerkennung kultureller Differenz fördern. Réunionesische Musiker zeichnen sich hierfür seiner Ansicht nach dadurch aus, dass sie in ihrer lokalen Kultur bereits vermischt sind (Pounia 30.09.03: 185). Diese Tradition musikkultureller Vermischung ist seit den Orchestres de Bals hörbar, die deshalb für Pounia einen hohen Stellenwert haben. In diesem Punkt geht seine Geschichte réunionesischer Musique Traditionnelle mit den Darstellungen Guillaume Legras konform. Beide erkennen diese Tradition als réunionspezifisch an. Musikstil und Spieltechniken wurden im Orchester von älteren an jüngere Musiker weitergereicht. Danach trennen sich jedoch die Wege von Pounia und Legras. Der Erstere entwickelte sich in den 1980er Jahren entlang einer neuen Art von Musik weiter, die mit kreol-réunionesischen Texten anhaltend für Unruhe sorgte. Die lokale Musiktradition erhielt für ihn eine andere Bedeutung. Musikmachen hatte keine reine Unterhaltungsfunktion mehr, wie in den Orchestres de Bals, sondern wurde zu einem kulturpolitischen Medium. Wie Thierry Gauliris in einer Geschichte beschreibt, unterlagen deshalb noch 1986 einige Stücke, etwa das oben zitierte „Mon Liberté“, einer inoffiziellen Zensur: „Jack Lang hatte die Fête de la Musique ins Leben gerufen und der Direktor, der heute Direktor des ODC (Office Départemental de la Culture) ist – ich weiß nicht, was passiert ist … Nun, wir verstehen uns, aber er sagte seinem Bruder, der verantwortlich für diesen Abend war, dass er Bastèr sagen sollte nicht ein Lied wie ‚Oté Kréol‘ (CD Titel 4) oder ‚Mon Liberté‘ zu spielen. 1986! Mitterrand war immerhin schon seit fünf Jahren an der Macht, aber wie auch immer […] Jetzt geht das schneller, aber wenn dort drüben ein Gesetz verabschiedet wird … Die Zeit bis es hier ankommt … und außerdem die Einstellung der Menschen verändert! Denn du veränderst nicht … möchte sagen: Es gibt diese Mentalität, ich würde sagen kolonial, neokolonial …“ «Jack Lang avait installé la Fête de la Musique et le directeur, qui est le directeur de l’ODC maintenant – je sais pas ce qui s’est passé … Bon, on parle bien mais lui il avait dit à son frère qui était responsable de cette soirée de dire à Bastèr de pas chanter un morceau comme ‹Oté Kréol› ou ‹Mon Liberté›. 86 hein! Mitterrand était quand même arrivé au pouvoir depuis 5 ans mais bon. […] Maintenant ça va plus vite mais quand tu fais une loi là-bas, le temps que ça arrive ici … et puis de changer les mentalités …! Parce que tu changes pas … je veux dire, y’a cette mentalité, je dirais, colonialiste, néocolonialiste …» (Gauliris 09.06.03: 175–185. Zusätze von C.W.)
Die Texte Bastèrs wurden in den 1980er Jahren kontrovers diskutiert. Diese Diskussionen sind Bestandteil der musikkulturellen Tradition geworden, auf die
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Gauliris und andere sich beziehen. Die Botschaft, die er in seiner Musik vermittelt, bleibt klar: Er und alle sind Réunionnais Métissé, Teil einer besonderen kulturellen Gemeinschaft. Die Musik Bastèrs ist eine Referenz dafür. Das macht sie interessant. Aus dieser Tradition des musikkulturellen Kampfes zwischen kontinental-französischem Regierungsapparat und kreol-réunionesischer Bevölkerung, ist Gauliris Musik mittlerweile zum Bestandteil einer überregionalen Musiklandschaft geworden: „Das Ziel von Bastèr ist […] Hoffnung zu geben! Den Leuten Lust zu machen, sie selbst zu sein. Selbst wenn du deutsch bist. Ich möchte sagen, selbst wenn du japanisch bist! Soll heißen, dass wir alle irgendwie Brüder sind. Das ist vielleicht noch utopisch oder ideologisch, aber ich glaube, mit unseren Besonderheiten können wir uns verstehen. Wir haben alle voneinander zu lernen. […] Wenn ich dir vom Maloya erzähle, der offen ist, ich höre viele Musiken darin: Ich höre alle Musiken! Darum ist es wichtig, dass Jazz, Blues entstanden sind. Mit den afrikanischen Sklaven, die sie mitgebracht haben. Nun, jedenfalls wenn man die Vermischung betrachtet, die es in Amerika gibt. Denn das hat in jedem Fall einige Türen geöffnet!“ «Le but de Bastèr c’est […] de donner de l’espoir! De donner aux gens envie d’être eux-mêmes en tout cas. Même si t’es allemand. Je veux dire, même si lui il est japonais! C’est de dire qu’on est tous frères quelque part. C’est peut-être encore utopique ou idéologique mais je crois qu’avec nos spécificités on peut s’entendre. On a tous à apprendre l’un de l’autre. […] Quand je te parle du Maloya qui est ouvert, moi j’entends beaucoup de musiques dedans: j’entends même plein de musiques! C’est pour ça, le jazz, le blues quelque part c’est important qu’ils aient existé. Avec les esclaves africains qui l’ont emmené. Bon, de toute façon, vu le mélange qu’il y a eu en Amérique. Parce que ça a quand même ouvert beaucoup des portes!» (Gauliris 09.06.03: 607–618)
Gauliris trägt seine Vorstellung kreol-réunionesischer Kultur mittels der Musik in überregionale Kontexte. Er inszeniert den Idealtypus einer réunionesischen Brüderlichkeit, die wenig mit französischer Fraternité zu tun hat. Seine Vorstellung von Bürderlichkeit basiert zunächst auf der Anerkennung kultureller Differenz, dem Ursprung der Kréolisation-Réunionnaise. An dieser Stelle trennen sich deshalb auch die musikalischen Wege von Gilbert Pounia und Thierry Gauliris. Während Pounia seine Arbeitsschwerpunkte weiterhin in einem kulturpolitischen Projekt sieht, dass sich gegen die Dominanz der Mère-Patrie auf La Réunion richtet, arbeitet Gauliris an der musikalischen Inszenierung seiner Lebenswelt jenseits der Dichotomie Métropole/Périphérie. Er versteht sich dehalb als Teil einer musikkulturellen Mischung, dem SégaMaloya, in dem Maloya und Séga ineinander aufgehen. Mit SégaMaloya gibt Gauliris dem musikalischen Zwischen einen Namen. In seiner musikalischen Schöpfung verbindet er zwei réunionspezifische Musiktraditionen zu einem Stil, der ihn außerhalb La Réunions unverwechselbar macht. In überregionalen Kontexten vermischt er seine Musik erneut, etwa mit Reggae. Seine Kompositionen transportieren „forces
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from various metropolises […] (that) become indigenized in one way or another“ (Appadurai 2002: 50).63 Gauliris wird zum Experten und Übermittler dieser Kräfte. Mittels stilistischer und textlicher Bezüge zu überregionalen Kontexten macht er die Musik seiner Band zum Medium für eine fortlaufende Kreolisierung, in der réunionesische Traditionen mit anderen kulturellen Inszierungen in Zusammenhang gebracht werden. Kréol-Réunionnais und Musique Traditionnelle bleiben dabei wichtig, denn sie geben seiner Perspektive eine besondere Legitimation. Sie zeichnen seine Inszenierungen als charakteristische Verweise auf eine spezifische Musiktradition aus. Auch wenn Gauliris somit La Réunion verlässt, trägt seine Musik in allen erdenkbaren Kontexten sowohl zur Erhaltung als auch Weiterentwicklung réunionesischer Traditionen bei. “It’s not just that music is everywhere but that all music is everywhere. Works composed for specific secular or religious occasions (marches, masses), in specific places (Thailand, Texas) – can turn up as if at random on TV commercials and restaurant tape loops. There’s no longer any necessary connection between the occasion for making music and the occasion of listening to it.” (Frith 2003: 93)
Entgegen den Ausführungen Friths ist es für Gauliris weiterhin notwendig, eine Verbindung zwischen Ort, Musik und Sprache deutlich zu machen. Sein Ziel bleibt es, mit seiner Musik einem überregionalen Publikum Verweise auf eine réunionspezifische Tradition anbieten zu können. Nach wie vor ist nicht „all music everywhere“. Denn es braucht einer speziellen Umgebung und eines besonderen Durchsetzungsvermögens, um kreol-réunionesische Musik hörbar zu machen und ihre Geschichte weiterzuführen. Militants Culturels wie Gilbert Pounia erzählen von réunionesischer Kultur als Ort, in den zu unterschiedlichen Zeiten bestimmte Moden Einzug gehalten haben. Sie erzählen kreol-réunionesische Musikgeschichte und geben der Erinnerung und Pflege dieser Musik eine kulturhistorische Bedeutung: „Die Blasorchester sind … eine große Pauke, Saxofone, Trompeten, manchmal Akkordeon dazwischen. Warum diese Instrumente? Weil es zu der Zeit nicht wirklich Elektrizität gab und das waren lautstarke Instrumente! […] Ich hab diese Musik bei den Karussells gesehen – Karussells aus Holz. […] Die Karussells zogen die Manegerie in der Zeit – mit Pferden und all dem. Also Animation – Animation auch auf den Bällen – am Abend. […] Irgendwann kam dann das Orchester mit Elektrizität, das immer noch die Bälle unterhielt, die Hochzeiten, all das, aber es war etwas hochwertiger! […] Ich hab diese ganze Phase miterlebt, auch mit den großen Sängern. Man
63 Jamaika mag in diesem Sinn zwar keine urbane Metropole sein, was die weltumspannende Bedeutung des Reggaes betrifft, aber eine musikalische.
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war stolz, wenn sie ins Dorf kamen, wenn sie die Hochzeiten unterhielten oder die Bälle. Denn man konnte von draußen zuhören. […] Musiker, die Musik wiedergeben konnten, egal ob von hier oder von außerhalb. Das hat uns auch nach außen geöffnet. Die Musik hatte eine wichtige Rolle, auch um bekannt zu machen, was in anderen Ländern passierte … Die großen, auswärtigen Namen dieser Zeit kennenzulernen. Aber wir hatten auch unsere großen Namen hier auf La Réunion. Solche wie Loulou Pitou, der Akkordeonspieler war, Sänger wie Maxime Laope! All diese Leute und dann auch viele andere, die Sänger auf Bällen waren, aber wirklich großartig!“ «L’orchestre en cuivre c’est … une grosse caisse, c’est des saxos, c’est trompettes, l’accordéon parfois dedans. Pourquoi ces instruments? Parce que à l’époque y’avait pas d’électricité vraiment et donc c’était des instruments puissants! […] J’ai vu cette musique-là autour des carrousels – carrousels de bois. […] Ces carrousels (tiraient) les manèges dans le temps – avec les chevaux, tout ça. Donc qui animait ça – qui animaient les bals aussi – du soir. […] À un moment donné y’a eu l’orchestre qu’est arrivé avec l’électricité – qu’animait toujours les bals, les mariages, tout ça, mais là c’était un peu plus sophistiqué! […] J’ai vu toute cette période avec des grands musiciens aussi. On était content qu’ils viennent dans le village, animer des mariages ou des bals. Parce que, on pouvait écouter de dehors […] les musiciens qui colportaient la musique aussi bien d’ici que d’ailleurs. Donc, ça nous ouvrait aussi sur l’extérieur. La musique avait un rôle important de faire connaître ce qui se passait aussi dans les autres pays … connaître les grands noms de l’époque à l’extérieur. Mais y’avait aussi nos grands noms ici à La Réunion. Tels que Loulou Pitou qui était accordéoniste, des chanteurs comme Maxime Laope! Tous ces gens-là et puis ainsi de suite donc y’avait plein de gens qu’étaient chanteurs de bal mais vraiment magnifiques!» (Pounia 30.09.03: 249–275)
Die Geschichten, die Musiker über La Réunion erzählen, sind immer etwas andere, weil sie von persönlichen Zielen gefärbt sind. Für Pounia sind Musiker der 1960er und 1970er Jahre großartige Instrumentalisten, die mit ihrer Musik La Réunion der Welt geöffnet haben. Für Guillaume Legras sind sie großartige Instrumentalisten, die mit ihrer Musik eine réunionesische Tradition weitergeführt haben, die es zu bewahren gilt. Der Unterschied liegt nicht allein darin, dass Pounia und Legras herausragenden Musikern der Vergangenheit eine andere Art der Wertschätzung entgegenbringen. Auf diesem Weg geben sie auch ihrer Arbeit, ihrer Musik, eine unterschiedliche Legitimation. Pounia und Legras interpretieren réunionesische Geschichte auf unterschiedliche Weise. Und auch Pounia und Gauliris weisen solche Unterschiede auf, obwohl sie beide als Militants Culturels aktiv (gewesen) sind. Bastèr brachten erstmals 1994 auf dem ersten Transmusical de Rennes Festival ein Zeugnis über die musikkulturelle Entwicklung La Réunions auf eine Bühne in Kontinental-Frankreich. Sie lieferten ihrem erstaunten Publikum jedoch ein anderes Bild La Réunions, als es erwartete. Migranten, die teilweise vor mehr als zwanzig Jahren La Réunion verlassen hatten, rechneten beim Besuch des Konzerts mit einer in der Tradition ruhenden Musikkultur, mit Stücken aus
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ihrer Kindheit, vielleicht „Mon Liberté“, doch noch eher Musik der Orchestres de Bals. Sie erlebten jedoch, dass sich die Musiker weiterentwickelt hatten und sich andere Musikstile in die Interpretationen dieser Lieder einmischten, etwa Reggae. Gauliris erlebte bei diesem Auftritt, wie einst ausgewanderte Réunionesen von Bastèr überfordert waren, denn das musikalische La Réunion ihrer Erinnerungen hatte nichts mit der Entwicklung gemein, die sich in den E-GitarrenAkkorden und Rhythmen der Band widerspiegelte: „Der Typ, der seit 20 bis 25 Jahren da drüben ist … Für ihn hat sich die Musik nicht weiterentwickelt. Er lebt in Paris, und für ihn ist La Réunion so wie es vor 25 Jahren war. Und wenn du dann mit deiner Gitarre ankommst und dein Ding machst, dann kommst du nicht aus La Réunion. Das haut ihn um! Er glaubt, ein Bild des folkloristischen La Réunion zu finden: Blumenkleider … Ha! Aber es gibt keine Tänzerinnen, es gibt sie nicht. Das macht ihn fertig. Er ist Lichtjahre von den Erwartungen, die er vor dem Konzert hatte.“ «Le gars qu’est là-bas depuis 20–25 ans … Pour lui la musique n’a pas évolué. Il vit à Paris et pour lui La Réunion c’est resté comme y’a 25 ans. Et quand tu arrives avec ta guitare avec ton truc, tu viens pas de La Réunion. Il est étonné! Il croit trouver une image de cette La Réunion folklorique: robes à fleurs … Ha! Y’a pas de danseuses, y’a pas. Ça le tue. Il est à des années lumières de la vision qu’il aurait eu avant le concert.» (Gauliris 09.06.03: 828–837)
1994, zwei Jahre nachdem Gauliris begonnen hatte Bastèr zu „professionalisieren“, transportiert die Band veränderte Darstellungsweisen kreol-réunionesischer Musikkultur in überregionale Kontexte. Keine Tänzerinnen mit Blumenkleidern und schönem Lächeln, sondern politische und wirtschaftliche Probleme, wie sie auch in anderen Teilen der Welt, an anderen Orten der Kreolisierung vorherrschen, sind in ihre Musik eingeflossen und sorgen dort nachhaltig für Veränderung. Dies wird besonders deutlich, wenn jemand, der auf La Réunion geboren ist, diesen Wandel nicht miterlebt hat. Die traditionellen Orchestres de Bals, die Pounia mit viel Verehrung beschreibt, sind mittlerweile von DJs abgelöst worden. Die Ausbildung zum Ballmusiker, der sich an Stilen und Werten der Vergangenheit orientiert, ist vorbei. Bereits Mitte der 1980er Jahre begann die Phase der überregionalen Bekanntmachung des Maloya. Nach ersten Reisen und erfolgreichen Konzerten im Ausland kamen réunionesische Musiker mit dem Wunsch nach La Réunion zurück, im Lokalen Äquivalenzen für das Erlebte zu finden. Sie begannen die Suche nach dem Besonderen in der kreol-réunionesischen Kultur und sprachen ihrer lokalen Kultur damit ein Vertrauen aus. Bastèr fand diese Besonderheit in der Métissage und vertonte sie im SégaMaloya. Das ist ihr Stil, mit dem sich Gauliris und seine Band nunmehr anderen Stilen öffnen. Gilbert Pounia versuchte zunächst, das Be-
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sondere Réunions im Folk zu vertonen. Mittlerweile hat er ein weiteres Element der Kréolisation-Réunionnaise für sich entdeckt, indische Musik: „Die Tatsache das Ravi Shankar in Woodstock spielte, das bringt etwas mit sich. Einen Stolz! Du möchtest das hören und das hat mich zur indischen Musik gebracht. (C.W.: Das ist interessant, denn diese Musik hat es hier doch schon immer gegeben …) Ja, aber in einer anderen Form! Hier war diese Musik mehr Teil des Kultischen, in den indischen Rhythmen, Malbar, Tambour! Der Gesang war da, aber […] keine großartigen Sänger. Es gab ein Aufrechterhalten der indischen Kultur durch die Religion, aber es gab nicht diese besondere Art des Musikmachens: Die festliche Musik! Ich weiß nicht, die Raggas, all das kannte man nicht.“ «Le fait que Ravi Shankar joue à Woodstock, ça apporte quelque chose. Une fierté! T’as envie d’écouter ça et ça m’a amené vers les musiques indiennes. (C.W.: C’est intéressant parce que cette musique a toujours été ici …) Oui mais sous une autre forme! Ici cette musique était plus dans le cultuel, dans les rythmes indiens, malbars, tambours! Le chant était là mais […] pas de grands chanteurs. Y’avait une maintenance de la culture indienne par la religion mais y’avait pas cette façon de faire la musique: La musique festive! Je sais pas, les raggas tout ça on connaissait pas.» (Pounia 30.09.03: 357–368)
Pounia bringt indische Musik nach La Réunion. Kulturelle Einflüsse aus Indien sind durch die lange Phase der Kontraktarbeiter längst fester Bestandteil ihrer kreolischen Kultur. Doch die Musik gab es bisher vor allem in den kultischen Zeremonien innerhalb und außerhalb der Tempel, nicht aber zur Unterhaltung. Pounia möchte jedoch indische Musik zum Bestandteil seiner réunionspezifischen Musiktradition machen, ohne feste Verweise auf kultische Orte oder Zeremonien. Das Besondere seiner Musiktradition findet er abermals im Anderen. Pounia erfindet kreol-réunionesische Musikkultur neu. Die Kreolisierung lässt zu, dass er Einflüsse anderer Orte wie selbstverständlich in seiner Musik verarbeitet. Die kreolische Kultur der Insel gibt Pounia die Möglichkeit, das was er außerhalb La Réunions sieht und hört innerhalb des kulturellen Kontextes zu lokalisieren, wenn auch, wie er sagt, „in einer anderen Form“. Dies macht ein besonderes Verständnis von dem was innerhalb und was außerhalb réunionesischer Kultur steht sichtbar. Dinge, die eigentlich nicht zum musikkulturellen Alltag gehören, können relativ einfach „wiederentdeckt“ werden, legitimiert mit dem Verweis auf den Prozess der Kreolisierung, in dem bestimmte Traditionen verloren gingen, die fester Bestandteil kultureller Inszenierungen sein sollten. Auch in den Geschichten über die Entwicklung des Maloya finden sich solch wiederentdeckte Traditionen. Pounia erzählt etwa vom Maloya Pilé eines Granmoun Lélé, der in Siedlungen um die Zuckerfabriken La Réunions entstand. In seinen Liedern, so schildert es Pounia, habe der 2004 verstorbene Maloyasänger Granmoun Lélé ein reiches Vokabular aus kreolischen und madagassischen Begriffen verarbeitet, die im zeitgenössischen Kréol-Réunionnais nicht mehr verwendet werden. Zur gleichen Zeit entwickelten sich besondere Arten der Vermi-
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schung von Maloya und Porté Plainte. Firmin Viry übertrug letzteres – das bereits angesprochene, öffentliche „auskotzen“ von Problemen – durch seine Auftritte bei den Fêtes de Témoignages in den politischen Aktivismus. Während die Musik Virys damit einen Platz in der kulturgeschichtlichen Entwicklung der Insel eingenommen hat, stellt die Musik Granmoun Lélés für Pounia eine lokalspezifische Referenz dar, deren Bedeutung noch entdeckt werden muss: „In ein paar Jahren wird man sich damit beschäftigen. Man wird sich sagen: Aber dieser Mann da (Granmoun Lélé), er hat immerhin einen Haufen kultureller Dinge der Zeit zusammengetragen … die unterschiedlichen Einflüsse, madagassisch, malbar und so weiter. Er hat darin gelebt, er ist darin aufgewachsen, er hat all das gelebt. Er hat darin gearbeitet. Aber das ist in der Zukunft, wenn Leute mit seinen Texten arbeiten werden, über das Umfeld dieses Mannes.“ «C’est dans quelques années qu’on va se pencher là-dessus. On va se dire: mais ce bonhomme-là il a ramassé quand même pas mal de choses de différentes cultures de l’époque … l’apport malgache, l’apport malbar et tout ça. Il a vécu dedans, donc il a grandit, il a fait tout truc. Il a travaillé dedans. Mais c’est dans l’avenir quand les gens travaillerons sur ses textes, travailleront autour du bonhomme.» (Pounia 30.09.03: 622–627. Zusatz von C.W.)
Pounia beteiligt sich aktiv an der Wiederentdeckung réunionesischer Musiktraditionen. Er wies mich in seinen Ausführungen immer wieder darauf hin, dass bestimmte Referenzen innerhalb der Musik erst entdeckt werden müssen und er sich sicher sei, dass dies „in der Zukunft“ so sein werde.64 Sein Erfolg und der Ziskakans basieren auch auf der Inszenierung dieser Gewissheit, dass bisher ungeachtete Besonderheiten der réunionesischen Kultur bedeutungsvoll sind und wiederentdeckt werden müssen. Die überregionale Suche und das Interesse an kultureller Differenz im World Music-Geschäft geben ihm Recht. Pounias Suche wird von unterschiedlichen Interessensgruppen unterstützt: wirtschaftlichen (Inzenierungen einer World Music), politischen (Inszenierungen einer Europäischen Union) und wissenschaftlichen (dieses Buch). Sein musikalisches Engagement wird vom Interesse an der kreolischen Basis seiner Musik, seiner Heimat La Réunion, gefördert. Er macht seine Begeisterung für das Kreolische darin hörbar, die er mit Thierry Gauliris teilt. Dieser erzählte mir euphorisch von den Möglichkeiten, die ihm seine Musik als Medium bietet: „Es geht darum zu erreichen, dass die Politik, dass die Regierung begreift, – ob sie nun französisch, nun gut jetzt sprechen wir von Frankreich – … dass sie eine kultu64 Mittlerweile steht in St. Benoit ein neues und nach Granmoun Lélé benanntes Konservatorium für Kunst-, Musik- und Tanzausbildung. Nähere Informationen sind zugänglich unter der URL: http://www.temoignages.re/vivent-l-esprit-de-resistance-et,34171.html (Datum des letzten Besuchs: 04.06.2009).
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relle Identität anerkennen, von einem Volk, das im Indischen Ozean lebt. Das ist klar und einfach. […] Klar, dass du Unterstützung brauchst! In diesem Fall ist die Unterstützung musikalisch. Ich finde, das ist die beste Art der Unterstützung, meiner Meinung nach. Seit ich Musik mache, denke ich, dass es die beste Art der Unterstützung ist. […] Denn bei jedem Kabar zu dem ich gehe, wenn ich auf ein Konzert gehe: Ich hab alle Völker, ich hab all die Leute mit unterschiedlichen, politischen Herkünften, ich hab die ganze Welt! Und das ist gut. Die Musik bringt wirklich zusammen. Du hast alle Menschen! Aber wirklich alle, ob es nun Behinderte, […] Leute von der Linken oder der Rechten, selbst die Muslime, selbst die Chinesen. Das finde ich großartig.“ «C’est d’arriver à ce que les politiques, à ce que le gouvernement d’en face, qu’il soit français – bon là on parle de la France –, qu’il reconnaisse une identité culturelle d’un peuple qui vit dans l’Océan Indien. C’est clair et net. […] C’est clair que t’as besoin d’un support! Le support là il est musical. Je pense que c’est le meilleur support à mon avis. Depuis que je fais de la musique je pense que c’est le meilleur support. […] Parce qu’en tout cas à chaque Kabar où je vais, quand je vais en concert: j’ai tous les peuples, j’ai tous les gens de différentes origines politiques, j’ai tout le monde! Et c’est ça qui est bien. La musique elle rassemble vraiment. T’as pas – tu as tous les gens! Mais tous les gens que ce soit les handicapés, que ce soit […] l’homme de gauche de droite, même le Musulman, même le Chinois. Je trouve ça formidable.» (Gauliris 09.06.03: 712–729)
Gauliris idealisiert hier eine musikkulturelle Gemeinschaft, wie sie auch der World Music-Markt idealisiert. Mit Bastèr und Ziskakan sind zwei Gruppen entstanden, die mittlerweile auch überregional akzeptierte Bestandteile einer réunionspezifischen Musiktradition sind und somit die Eigenständigkeit kreolréunionesischer Kultur symbolisieren. Für eine Folgegeneration von Musikern sind sie ebenso zu einer kulturellen Referenz geworden, wie die Orchestres de Bals, der Maloya Firmin Virys oder Granmoun Lélés. Somit hat sich die Bedeutung der Militants Culturels seit den 1980er Jahren gewandelt. Sie sind Teil der Musikgeschichte La Réunions geworden. Für Musiker, die sich mit dieser Geschichte identifizieren, gibt es mehr als eine Musiktradition. Sie hören nicht auf nach Stilelementen innerhalb der Musikkultur Réunions zu suchen oder Elemente ihrer Musik mit anderen Stilen zu vermischen. Kreol-réunionesische Musikkultur und somit auch die Kréolisation-Réunionnaise haben somit keine Grenzen. Sie reichen über die Strände der Insel hinaus, denn das Außen dient Musikern als Inspirationsquelle, die sie auf die versteckten Reichtümer ihrer kreolischen Kultur hinweist. Grenzen zwischen innen und außen verschwimmen. Kulturschaffende bleiben ständig auf der Suche nach Referenzen, um als jene wahrnehmbar zu sein, die ihre lokale Kultur repräsentieren, schützen und verändern können. Mit dieser Einsicht haben Militants Culturels auch eine veränderte Wahrnehmbarkeit réunionesischer Kultur produziert. Die dabei entstandene Musiklandschaft bildet den Ausgangspunkt und Referenzrahmen für eine Folgegeneration, einer Next Gene-
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ration von Musikern, die eine überregionale Vernetzung der lokalen Musikszene weiter vorantreiben. In den zwei abschließenden Kapiteln dieses Buches erzähle ich von dieser Next Generation. Damit fasse ich meine Ausführungen der voranstehenden Kapitel zusammen. Im Mittelpunkt steht eine Beschreibung der Musiklandschaft, in der sich Musiker dieser Next Generation bewegen, in der sie ihre Musik verorten: In einem Soundscape jenseits des Wunsches nach einer réunionesischen Postkolonie.
6 Theoriegenerierung “Music becomes, instead of a representation of society, let’s say in Beethoven – the triumphant bourgeoisie, as you see in the trumpet call of Fidelio – by the time you get to Schoenberg and the dodecaphonic system, […] a representation of the inability of music to function within the society. The true new music is the music that cannot be performed and cannot be heard. […] The reason it’s become so difficult and inaccessible is that it represents a kind of ossification of the society, which makes it completely impossible (a) to perform, (b) to understand, and (c) to listen to.” (Edward W. Said 2004: 131–2)
6.1
Musikkultur jenseits der Postkolonie
Das voranstehende Zitat ist einer Sammlung von Gesprächen zwischen Edward W. Said und Daniel Barenboim entnommen (vgl. Said 2004). Der in Palästina geborene Postkolonialismustheoretiker und der in Israel geborene Musiker unterhalten sich darin über den Wandel von Musik und Gesellschaft. Sie sprechen über „society“ als etwas, das seinen Bezug zur Musik verloren hat, und über Musik, die keine Gesellschaft repräsentiert, sondern zu einem Kunstobjekt geworden ist. Ihre Gesellschaft ist eine europäische, ein Staat, eine Aristokratie oder Bourgeoisie. Ihre Musik ist die jenseits der Tonalität, jenseits der Dichotomie. „It is the principle of tension and release of tension that disappears when tonality disappears“, sagt Barenboim, „and you have to create other means, in some ways more artificial“ (Said 2004: 133). Was passiert aber, wenn die Musik weiterhin eine Gesellschaftsform repräsentiert, diese aber nichts mit jener zu tun hat, die von den beiden vorausgesetzt wird? Wenn es sich um eine Gesellschaft jenseits der Tonalität handelt, jenseits der Dichotomie von Spannung und Auflösung der Spannung? Wenn die „ossification of the society“ die bestehende Gesellschaft nicht „verknöchert“, also unbeweglich macht, sondern ein Gerüst darstellt, auf dem sich eine andere Form von Gesellschaft inszenieren lässt? In diesem Kapitel werde ich zeigen, dass réunionesische Musiker der Next Generation in einer solchen Gesellschaft leben. Sie verwenden Musik, um sich Identitäten zu konstruieren und damit auf La Réunion aber auch andernorts zu verorten. Kreol-réunionesische Musik ist ihr Medium in dieser flexiblen Verortung. Sie ist nicht mit einer ursprünglichen Gesellschaft verbunden und fungiert nicht als eine „representation of society“ (Said 2004: 131–2), sondern als representation of the self in einer überregionalen Musiklandschaft. Die von mir betrachteten Musiker haben La Réunion als Ort gewählt, an dem sie sich auf je eigene Art lokalisieren. In ihren musikalischen Inszenierungen reproduzieren sie diesen Ort. Sie vermitteln Bilder réunionesischer Tradition und formen damit den kulturellen Kontext ihrer Insel, zugeschnitten auf die Ansprüche ihres überregionalen Publikums. In den voranstehenden Kapiteln habe ich erklärt, warum
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es auf La Réunion keine einheitliche Kulturwahrnehmung gibt. Die Basis für kreol-réunionesische Tradition entsteht vielmehr mittels musikalischer Inszenierungen eines Ursprungs, der oftmals ganz subjektiv, allein von der Geschichte des Musikers oder der Musikerin erzählt. Musiker beschreiben diese Ursprünge unter Verwendung eines Capital Culturel. Wie sie sich im Bezug auf ihre Heimat La Réunion inszenieren, bleibt von ihrer lokalen Lebenswelt beeinflusst – von anderen Musikern, kreolischer Sprache und Geschichte. In überregionalen Kontexten erhalten diese Referenzen aber eine andere Bedeutung. Dort dient das Bild einer spezifischen Musikkultur vor allem der Differenzierung von anderen. Dieses musikkulturelle Feld der World Music, in dem Akteure darauf achten müssen, sich von anderen zu unterscheiden, ist mehr als ein Label: “The act of naming does not simplify – it does not substitute the assemblage with a neat label. […] The real chance to make differences lies elsewhere. It lies in the irreducible. In the oxymoronic. In the topologically discontinous. In that which is heterogeneous. It lies in a modest willingness to live, to know, and to practise in the complexities of tension.” (Law 1999: 12)
Die Musikkultur La Réunions wandelt sich. Damit verändern sich auch die musikalischen Inszenierungen der kreolischen Gemeinschaft. Im Sinne Glissants kann in der kreolischen Kultur der Insel das was heute als musikkulturelle Besonderheit dargestellt wird, morgen vergessen sein. Dies wird an unterschiedlichen Stellen sichtbar: Im Verhältnis zwischen Künstlern, in den Bedingungen zur Musikproduktion, den musikalischen Referenzen oder den Texten. Musikkulturelle Akteure leben mit den dabei entstehenden Spannungen, „complexities of tension“ zwischen ihren persönlichen Interessen, soziokulturellem Kontext und Macht einer globalen World Music-Industrie, die sich nicht auflösen lassen. Auf La Réunion gibt es für Musiker keine „tension and release of tension“, kein gesellschaftliches Grundprinzip von Tonalität, wie Barenboim es beschreibt. Kreolisierung bedeutet fortwährend tension, Differenz, Spannung. Wie oben ausgeführt nutzten Militants Culturels diese Spannung, um sich auf nationaler Ebene und darüber hinaus Bedeutung zu geben. Damit machten sie bereits in den 1980er Jahren jenseits der Grenzen Frankreichs auf kreolréunionesische Musik aufmerksam. Dieses Soundscape der Militants Culturels wird heute von Musikern einer Next Generation weiterentwickelt. Sie spielen ihre Musik nicht allein jenseits La Réunions, sondern auch jenseits KontinentalFrankreichs. Wie sie dies tun werde ich auf den folgenden Seiten deutlich machen. Zunächst jedoch bleibt zu klären, warum es sinnvoll ist, von einem Generationenwechsel zu sprechen.
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6.2
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Von der Kulturkritik zur Intersektionalität
Welche Möglichkeiten musikkulturelle Akteure haben, sich und ihre Kultur nach ihren Vorstellungen wiederzugeben, hängt aus einer intersektionalen Perspektive nicht allein von ihren intellektuellen oder physischen Kapazitäten ab, sondern ob es in der Welt für sie einen Platz gibt sich und ihre Musik darzustellen, ob sie Gehör finden (vgl. Ahmed 2007: 153). Kulturelle Differenz, das Propagieren einer eigenständigen réunionesischen Kultur gegen die neokoloniale Vormacht Kontinental-Frankreichs, war für die Militants Culturels ausreichend, um sich als internationale Musiker zu etablieren. Andersartigkeit ist nicht allein außerhalb von Identität zu suchen oder irgendwo zwischen Identitäten, kreol-réunionesischen und kontinentalfranzösischen. Es reicht auch nicht, sich mit Inszenierungen multipler Identitäten zu beschäftigen, etwa einer Françoise Guimbert, die sowohl Séga als auch Maloya mit ihrer Familientradition verbindet. Stattdessen haben die Gender Studies gezeigt, dass man sich von einem traditionellen Verständnis von Identität als Einheit lösen muss (vgl. Fuss 1989: 103). Dies wird in der Musik der Next Generation auf La Réunion deutlich. Christine Salem, Davy Sicard und Nathalie Natiembé sind drei Musiker dieser Next Generation. Sie thematisieren in ihrer Arbeit den Wunsch nach Verbundenheit mit einer eigenen Kultur, weshalb sie réunionesische Kultur in ihrer Musik inszenieren. Ziel und Auswahlkriterium für die Inhalte dieser Inszenierungen ist eine Repräsentation von Besonderheit. Sie nutzen unterschiedliche Referenzen, um diese Besonderheit der réunionesischen Kultur zu veranschaulichen. Damit verflechten sie ihren persönlichen Werdegang als Musiker und werden auf diesem Wege zu besonderen Musikern. Ein wichtiger Bezugspunkt bleiben ihre Familien. Über sie finden und rechtfertigen Salem, Sicard und Natiembé einen Zusammenhang ihrer Arbeit mit bestimmten kulturellen Einflüssen der Vergangenheit, kultische Zeremonien, Sprachen, Instrumenten oder Mythen, auf die sie oftmals zufällig gestoßen sind und die von ihnen nun als essentielle Elemente réunionesischer Kultur dargestellt werden. Sie werden zu neuem Capital Culturel. Eine Akteurin inszeniert sich damit als Heilsbringerin, die Traditionsbewusstsein propagiert. Ein anderer beschreibt sich als überregionaler Repräsentant seiner Kultur und Hüter ihrer Besonderheiten. Und die Dritte verbindet ihre Musik mit spirituellen Elementen einer réunionesischen Kultur, nach deren Spuren sie auf ihren Reisen sucht. Musiker der Next Generation vertonen somit individuell geprägte musikkulturelle Bilder, die charakteristisch für ihre Vorstellungen von kreolréunionesischer Kultur sind. Beim „Hinhören“ lässt sich das soweit Gesagte in drei Ebenen zusammenfassen, die von Musikern immer wieder durchlaufen werden, bis sie ihren individuellen Stil gefunden haben: (1) Die Lokalisierung von Referenzpunkten (Familie, Kulte, Geschichten).
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(2) Die Formulierung von Werten (besondere Bedeutungen der Referenzpunkte). (3) Die Konzeptionalisierung dieser Werte als réunionspezifische Musik. Weil réunionesische Kultur nicht statisch ist, identifizieren sich musikkulturelle Akteure der Next Generation vor allem mit ihrer Arbeit, mit der sie zu deren besserem Verständnis beitragen möchten. Indem sie sich im kreol-réunionesischen Kontext der Frage nach der persönlichen Verortung unterwerfen, bleibt der Ursprung ihrer Identität demnach nicht eine real exisitierende Kultur, sondern die Suche nach ihr. Sie sind nicht mehr allein Kulturschaffende, wie es die Militants Culturels waren, sondern Kultursuchende. Einerseits handelt es sich bei dieser Suche um ein komplexes Unterfangen, andererseits um eine notwendige Strategie der Musiker, denn sie wollen in lokalen und überregionalen Kontexten als individuelle Künstler wahrgenommen werden. Hierbei hilft die Musik: “Music can operate as a way of effecting a particular discursive outcome: she sings like an angel; he marches with conviction; she dances like a woman possessed; he really hammers the piano. In each case, the ‘description’ is densely gendered, sounding out the production of what Derrida would call an ‘ethico-institutional discourse’ in its appeal to deeply embedded assumptions about femininity and masculinity.” (Biddle 2003: 217)
Biddles Kritik muss in diesem Zusammenhang erweitert werden, denn die Musik trennt nicht allein in männlich oder weiblich, sondern auch in exotisch oder heimisch, La Réunion oder Frankreich, Kréol Blanc oder Kréol Noir. Diese Liste ließe sich unendlich weiterführen, und von Musikern wird sie das auch. Akteure der Next Generation unterscheiden sich demnach in ihrer Suche nach kulturellen Ursprüngen von Militants Culturels und anderen Vorgängergenerationen, weil sie bei der Konstruktion ihrer Identität auf andere Referenzsysteme zurückgreifen. Die Generation der Militants Culturels beschrieb ihre Lebenswelt in Titeln wie „Bato Fou“, „Oté Kréol“ oder „Batarsité“ (siehe S. 41). Die Inhalte von Musikstücken der Next Generation sind andere. Als Musiker, die vornehmlich in einer überregionalen Musiklandschaft aktiv sind, werden sie bei ihrer Suche danach mindestens von drei Seiten beeinflusst: (1) In der institutionellen Unterstützung (PRMA). (2) Im entstandenen Generationenverhältnis zwischen Militants Culturels und Next Generation. (3) In der veränderten Perspektive auf kreol-réunionesische Kultur. Musiker der Next Generation haben durch musikkulturelle Institutionen wie dem PRMA die Möglichkeit, sich vom Beginn ihrer Karriere an gezielt auf überregionaler Ebene zu vermarkten. Mit „gezielt“ meine ich, dass sie nach Mitteln suchen, um ein konkretes Interesse an Auftrittsmöglichkeiten außerhalb La Réunions zu verwirklichen. Im Juni 2003 nahm ich an der Feier einer Plattenveröffentlichung teil, die dies veranschaulichte. Sie wurde vom PRMA gefördert. Davy Sicards CD Kèr Volkan (daraus CD Titel 8) wurde in einem Konzert für
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geladene Gäste vorgestellt. Neben einigen Freunden und Familienangehörigen saßen hauptsächlich Musiker, Produzenten und Journalisten im Publikum, darunter ein Korrespondent vom Schweizer Musikmagazin Vibrations, der für einen Bericht über Granmoun Lélé recherchierte.65 Die komplette PRMA-Besetzung war da. Der Fotograf, der die Bilder für die Platte bearbeitet hatte, machte unentwegt Aufnahmen von Gästen und Musikern. Sicard hatte vormittags eine Liste mit Telefonnummern abtelefoniert, um seinen Auftritt bekannt zu machen. Zu Beginn bat Sicard um Verständnis, dass er in Kréol-Réunionnais sprechen wollte. Während seiner Ansprache fiel er jedoch ins Französisch zurück. Anfangs bedankte er sich bei allen für die Unterstützung, vor allem bei Freunden und seiner Familie. Er stand in weißer Kleidung, Naturfaserhemd und Hose, barfuß auf der Bühne, sprach langsam und ruhig, ging am Ende seines Auftritts durch die Reihen und bedankte sich nochmals bei vielen mit Umarmungen und Küssen. Das Konzert begann mit einem langsamen Stück mit melancholischem Text. Beim dritten Song sang Sicard nur mit einem Kontrabass als Begleitinstrument. Die Musiker waren extra für diesen Auftritt engagiert worden. An der Gitarre wurde er von Guillaume Legras begleitet. Im Anschluss an die Ballade mit Bass brachte er sein Publikum mit schnelleren Songs zum Mitklatschen und Mitsingen. Hinterher fand im Eingangsbereich des CNR ein Empfang statt, bei dem es Samoussas, Süssigkeiten und Getränke gab, angerichtet auf einem Buffet, das mich an den Océan Indien-Abend auf der WOMEX in Essen erinnerte. Gerade dieser letzte Punkt macht deutlich, dass Sicards CD-Präsentation auf professionelle Art inszeniert wurde. Sie entsprach den Erwartungen im überregionalen Musikgeschäft. Es waren nur geladene Gäste anwesend, größtenteils Journalisten, Sponsoren und die Familie des Künstlers. Die Veranstalter legten Wert auf einen guten Sound, professionelle Studiomusiker wie Guillaume Legras und ein Bühnenoutfit, mit dem sich Sicard sofort in den World Music-Kontext einordnete. Anders als bei Künstlern der Militant Culturel-Generation wurde klar, dass er seine Referenzen mit dem Ziel des Exports ausgewählt hatte und nicht allein um ein auf La Réunion konzentriertes kulturpolitisches Engagement sichtbar zu machen. Künstler der Next Generation sind die ersten, die in ihrer Entwicklung stets von musikalischen Austauschprogrammen, Lehrangeboten und Workshops profitieren konnten, etwa organisiert vom PRMA oder dem CNR. Diese Programme sind fester Bestandteil ihrer musikalischen Sozialisation. Sie formten die Musiker und ihre Ziele. Solche Möglichkeiten wurden den Militants Culturels zu Beginn ihrer Karrieren nicht geboten. Dieser Unterschied beeinflusst Kulturschaffende nachhaltig bei der Umsetzung, Darstellung und Vermarktung ihrer Musik.
65 Wie im vorangegangenen Teil dargestellt, hatte der von Gilbert Pounia prophezeite Entdeckungsprozess der Arbeit dieses Musikers also begonnen.
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An dieser Stelle zeigt sich, warum es sinnvoll ist von einem Generationenwechsel zu sprechen. Er entsteht weniger durch einen möglichen Altersunterschied, sondern aufgrund veränderter Mechanismen der Kulturförderung. Er zeigt sich aber auch in den Darstellungen der persönlichen Verhältnisse der Musiker zueinander. Gilbert Pounia, Sänger der Gruppe Ziskakan, und Christine Salem, Sängerin von Salem Tradition, gehören unterschiedlichen Musikergenerationen an, denn Pounia ging Salem als Künstler voraus. Er hat sie mit seiner Musik geprägt und steht ihr nun als weiterer Referenzpunkt in der musikalischen Inszenierung ihrer Identität und Kultur zur Verfügung: „Ich habe Gilbert Pounia gekannt. Ich sah Ziskakan im Konzert. So habe ich auch ein bisschen La Réunion entdeckt.“ «J’ai connu Gilbert Pounia. J’ai vu Ziskakan en concert. C’est comme ça que j’ai découvert un petit peu La Réunion.» (Salem 05.09.03: 624–626)
Für Christine Salem beschreiben Ziskakan La Réunion nicht nur, ihre Musik ist für sie ein Teil La Réunions. Sie symbolisiert einen Aspekt des Lokalen, auf den sie in ihrer Identitätskonstruktion verweisen möchte. Akteure der Militants Culturels Generation nehmen somit Einfluss auf Musiker der Next Generation, denn ihre Musik ist Teil kreol-réunionesischer Musiktradition. Gruppen wie Ziskakan oder Bastèr haben Maloya für eine réunionesische Jugendkultur zugänglich gemacht, die sich nicht auf Grund kultischer Zeremonien, einem Engagement in politischen Parteien oder eines bestimmten familiären Hintergrundes für diese Musik interessierte. Die Militants Culturels lösten die lokale Musik damit aus ihren Konventionen und verbreiteten sie als allgemein zugängliches, réunionspezifisches Ausdrucksmittel. Ein dritter Grund für Musiker der Next Generation sich in ihren musikkulturellen Feldern anders wahrzunehmen als ihre Vorgänger, ist demnach die Darstellung der Insel durch ihre Vorgänger selbst. Die Suche nach einer Identifikationsmöglichkeit mit ihrer kreolischen Lebenswelt ist für die Next Generation von zentraler Bedeutung, und mit der Musik der Militants Culturels bot sie sich ihnen. Diese sprachen in den 1980er Jahren aus, was ihre Nachfolgegeneration zu dieser Zeit beschäftigte. Weder kulturpolitische Probleme, basierend auf der kolonialen Vergangenheit, noch soziopolitische Missstände, etwa die hohe Jugendarbeitslosigkeit, waren lösbar, indem sich La Réunion Kontinental-Frankreich anglich. Also: „Lasst uns selbst entscheiden“, donn amwin mon liberté.66 Diesen Konflikt zwischen politischem Wunschdenken nach Einheit mit der Mère-Patrie und kulturellem Widerspruch durch Kreolisierung und Neokolonialismus verarbeiteten Militants Cultu66 Zur Erinnerung: Auf La Réunion waren 2003 etwa 35% der unter 25-jährigen arbeitslos gemeldet, wobei inoffizielle Schätzungen einen Wert von etwa 45% annehmen lassen.
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rels in ihrer Musik und wurde somit zu einem fundamentalen Bestandteil der musikkulturellen Entwicklung von Musikern der Next Generation. Réunionesische Traditionen werden von beiden Gruppen, Militants Culturels und Akteuren der Next Generation, in ihrer Musik inszeniert. Die Themen der Next Generation können einem lokalen und überregionalen Publikum nunmehr aber gleichermaßen als Identifikationsmuster dienen. Sie arbeiten mit allgemeinverständlicheren Referenzen. Sie konzentrieren sich nicht mehr auf eine Kulturkritik La Réunion vs. Kontinental-Frankreich, sondern arbeiten mit komplexeren Kategorien der Ungleichheit. Dies ist der entscheidende Unterschied zwischen den beiden Gruppen.Wie Davy Sicard es mit seiner Platte und deren bezeichnendem Titel Kèr Volkan (Vulkanherz) auf seinem Showcase inszenierte, versuchen Musiker der Next Generation Musik zu machen, die gerade für ein internationales Publikum interessant ist. Dafür bedienen sie sich nicht allein Bildern und Klängen, die ihnen ihre lokale Kultur zur Verfügung stellt. Réunionesische Kultur, das haben ihnen die Militants Culturels gezeigt, ist in sich bereits etwas Besonderes. Diese Erkenntnis nutzt die Next Generation strategisch, um ihrer Musik unter dem World Music-Label besser zu vermarkten. Sie gehen jedoch noch einen Schritt weiter. Die nachstehende Geschichte liefert hierfür ein Beispiel. In ihr bedient sich Davy Sicard einer, wie er es mir beschrieb, „réunionesischen Besonderheit“, dem Flamboyant, einem im Dezember rot blühenden Baum: „Wenn man will, dass ein Flamboyant in Kontinental-Frankreich wächst, in Deutschland, in Berlin, in Köln, dann muss man die Wurzeln mitnehmen. Und man muss sie pflegen als wären sie hier. Dann wird der Flamboyant aufblühen und um Weihnachten wird er rot. Aber man muss die Wurzeln mitnehmen. Man kann sie nicht einfach abschneiden, einfach so Rap machen, mit einem Akzent (bezogen auf réunionesische Rapper, die einen Akzent aus den Regionen Paris oder Marseille imitieren). Ich sage, dass hat keinerlei Bedeutung! […] Was ich sage ist hart, aber das hat keinerlei Chance zu bestehen, denn in Kontinental-Frankreich gibt es Millionen davon. Deshalb führt das zu nichts! Demgegenüber, wenn du etwas mitbringst was die anderen nicht haben, dann werden sie sich für dich interessieren, dann werden sie mit dir teilen wollen, denn sie haben etwas, was du nicht hast und du hast etwas, was sie nicht haben. Also werden sie sich mit dir austauschen wollen, teilen, und dann wird es interessant.“ «Si on veut qu’un flamboyant grandisse en métropole, en Allemagne, à Berlin, à Cologne, il faut prendre la racine avec. Et il faut le soigner comme s’il était ici. Là le flamboyant il va fleurir et à la période de Noël il deviendra rouge. Mais il faut prendre les racines avec. On ne peut pas se couper comme ça, faire du Rap comme ça, avec un accent. Je dis que ça n’a aucun intérêt! […] Ce que je dis est dur mais ça n’a aucune chance de percer, parce qu’en métropole il y en a des milliers comme ça. Donc ça ne sert à rien! Par contre si tu amènes quelque chose que les autres n’ont pas, là ils vont s’intéresser à toi, là ils vont vouloir partager, parce qu’ils ont quelque chose que tu n’as pas et toi tu as quelque chose qu’ils n’ont pas. Donc ils vont vouloir échanger a
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vec toi, partager et là ce sera intéressant.» (Sicard 02.09.03: 317–330. Zusatz von C.W.)
Wie Guillaume Legras erklärt nun auch Sicard, warum es nicht sinnvoll sei, andere Stile zu imitieren. Legras feiert Erfolge mit dem Séga Traditionnel. Als Rockgitarrist blieben ihm diese verwehrt. Sicards Beharren auf die Bedeutung lokaler Wurzeln hängt ebenso mit der Erfahrung zusammen, als Musiker in einem überregionalen Kontext etwas Besonderes darstellen zu müssen, um das Interesse des internationalen Publikums zu wecken. Hierfür inszeniert er ein Bild La Réunions, das er mittels Referenzen wie dem Flamboyant manifestiert. Was genau Sicard mit dem Flamboyant nach Kontinental-Frankreich und in andere Regionen bringen möchte, sagt er nicht. In jedem Fall aber ist es etwas „que les autres n’ont pas“, etwas „das die anderen nicht haben“. Dieses authentisch réunionesische, das er inszeniert, ist letztlich er selbst und seine Musik. Für Sicard hat der Flamboyant deshalb allein eine Heimat, La Réunion. Dass er zum Beispiel auch auf Mauritius, Martinique oder in Mexiko blüht, lässt er unerwähnt, denn entscheidend ist der Baum für ihn als Referenz für sich, als Musiker aus La Réunion, einer Kultur, die ihn einzigartig macht, wie den Flamboyant. Mit solchen Referenzen entwirft Sicard sich als Repräsentant einer besonderen Musiklandschaft. Er stellt Besonderheiten La Réunions nach eigenem Ermessen dar. Dadurch rechnet er mit Wertschätzung von Seiten seines überregionalen Publikums. Die Anerkennung, die ihm entgegengebracht wird, überträgt sich auf lokaler Ebene in den Alltagsdiskurs der Insel, durch Erfolgsberichte in den Medien oder von Institutionen wie dem PRMA. Fraglich bleibt, welche Auswirkungen solche feedback loops haben. Sie sind das Gegenteil einer Berichterstattung über den Erfolg Émilies bei der StarAcademy, denn das World Music-Publikum ist auf der Suche nach „familiar meanings in the unfamiliar“ (Blacking in Byron 1995: 224). So werden der lokalen Bevölkerung zwar einige besonders wertvolle kulturelle Güter dargestellt, doch der Wert solcher Rückführungen, ob in Berichten von Konzerterfolgen im Ausland, guten CD-Verkäufen oder dem Gewinn internationaler Preise, bedeutet vor allem Anerkennung für Musiker, die lediglich als Wertschätzung réunionesischer Kultur verpackt ist. Denn die besondere réunionesische Kultur, die sie symbolisieren, ist eine Fiktion: Die Inszenierung einer eigenständigen réunionesischen Kultur, die auf dem internationalen Musikmarkt lukrativ ist. Sicard setzt sich deshalb für Referenzen ein, die diese Eigenständigkeit deutlich machen, weil sie seinen Erfolg fördern: „Man darf sich auch nichts vormachen, man denkt natürlich an sich. Man macht seine Musik, man versucht sich zu verbessern! Man versucht auch ein bisschen von seiner Musik zu leben. Und die Zukunft sehe ich wahrscheinlich mit Ti Sours (réunionesischer Musiker), mit solchen Leuten, die höchst wahrscheinlich, sicherlich etwas von hier repräsentieren werden, in einigen Jahren, etwas noch Stärkeres, als Leute wie Granmoun Lélé. Wir repräsentieren ein wenig den Nachwuchs (Pause). Aber wie sollen wir es anstellen, dass die Jugend uns zuhört? Das ist ein bisschen das Problem.
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[…] Der Schlüssel ist für mich der Export. Ich sehe keine Alternative! Die Zukunft ist der Export. […] Warum? Weil Jugendliche heute nur das annehmen, was von außen kommt.“ «Il faut pas se leurrer non plus, on pense à soi d’abord. On va faire sa musique, on va essayer de s’améliorer! On va essayer de vivre un peu de sa musique aussi. Et l’avenir à la limite je le vois avec Ti Sours (réunionesischer Musiker), avec des gens comme ça qui vont très probablement, très certainement représenter quelque chose d’ici (sic!) quelques années d’encore plus fort, comme des gens comme Granmoun Lélé. C’est nous qui représentons un peu la relève (Pause). Mais comment on va faire pour que les jeunes nous écoutent? C’est un peu le souci. […] La clef pour moi c’est l’exportation. Je ne vois que ça! L’avenir c’est l’exportation. […] L’avenir c’est l’exportation. Pourquoi? Parce que les jeunes aujourd’hui ne veulent prendre que ce qui vient de l’extérieur.» (Sicard 02.09.03: 962–976. Zusätze von C.W.)
Jugendliche auf La Réunion wollen laut Sicard vor allem das, was von Außen kommt. Das Andere ist besonders und reizvoll, nicht weil es sich von dem bisher Gehörten unterscheidet, sondern weil es trotz seiner Andersartigkeit erlaubt, sich damit zu identifizieren. Das Gleiche gilt auch für ein World Music-Publikum. Musiker wie Sicard reagieren dementsprechend auf die Bedürfnisse dieses Publikums. Auf La Réunion kommt hinzu, dass sich der Wunsch nach Identifikation mit dem Anderen als Minderwertigkeitskomplex der lokalen Bevölkerung auslegen lässt. Sicards Schlussfolgerung, dass Jugendliche mittlerweile nur das annehmen, was von außen kommt, verweist demnach auch auf die von Pounia beschworene Goyave de France, ein Bild der Militants Culturels, das nunmehr von einem Musiker der Next Generation aufgegriffen und weiterentwickelt wird. So verknüpft Sicard World Music-Marketing mit dem Ziel, réunionesischen Jugendlichen die Werte ihrer eigenen Kultur näher bringen zu wollen. Dieser Wunsch ist Produkt von Sicards Erfahrung als heranwachsender Musiker, dessen Karriere als Sänger in einem A-cappella-Quartett begann, den Cool Brothers, mit denen er Jazzstandards und eigene Stücke auf Englisch interpretierte. Doch bald wurde ihm klar, dass sich kreol-réunionesische Besonderheit besser verkaufen lässt, als réunionesische Imitationen nordamerikanischer Jazzstandards. Auf La Réunion waren die Cool Brothers zeitweise erfolgreich, doch ein réunionesisches Publikum reicht nicht aus, um sich als Musiker einen Lebensunterhalt zu verdienen. Hinzukommt, dass viele Réunionesen sowieso eher Sinatra als Sicard kaufen würden. Sicard ist weder Cool Brother noch Teil des Rat Pack. Es reichte nicht aus, sich einen bestimmten Musikstil auszuwählen und diesen erfolgreich zu vertreten. Als Musiker von La Réunion hat Sicard keine Wahl, sondern muss sich an den Erwartungen orientieren, die ein überregionales Publikum an einen Sänger von einer subtropischen Insel richtet. Die musikalischen Inszenierungen seiner Identität und Kultur, ihre Wahrnehmbarkeit und Aussagekraft, werden deshalb
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zweifach auf die Probe gestellt, im Lokalen und im Überregionalen. Auch Sicard steht mit seiner Musik zwischen Innen und Außen. Einige réunionesische Musiker haben deshalb bereits ihre Heimat verlassen. Erst außerhalb Réunions können sie sich völlig auf die Inszenierung ihrer lokalen Kultur konzentrieren, ohne mit deren Realität konfrontiert zu sein. Als Repräsentanten lokaler Musiktradition werden sie in World Music-Kontexten gefeiert. Auf La Réunion werden sie vor allem zu legendären Musikern, im oftmals wahrsten Sinne des Wortes. René Lacaille ist ein prominenter Vertreter dieser Gruppe. Er lebt seit langem in Kontinental-Frankreich. Auf seiner persönlichen Webseite wird er jedoch weiterhin als „vivacité incarnée de La Réunion“, als „menschgewordene Lebendigkeit La Réunions“ stilisiert.67 Entgegen einer Band wie Bastèr, deren Wandel den Wandel ihrer Heimat dokumentiert und damit den professionellen Übergang einer für den lokalen Markt inszenierten Musiktradition in einen überregionalen Kontext beschreibt, ist die Musik des Akkordeonisten René Lacaille davon geprägt mit ihren stilistischen Referenzen in einer réunionesischen Vergangenheit zu bleiben. Sich als Musiker geografisch außerhalb La Réunions zu verorten, etwa nach Paris zu migrieren wie René Lacaille, ist jedoch nur eine Möglichkeit. Denn das Außen, „l’exterieur“, wie es Sicard nennt, ist auch die World Music-Szene, die Festivals und Konzerte, Musikgeschäfte und Medien, in denen Musik das Innere La Réunions widerspiegeln soll. Musiker der Next Generation positionieren sich in diesem überregionalen Kontext. Das ist ihr Geschäft, das dem René Lacailles gleicht. Ihre Situation wird jedoch dadurch ungleich komplizierter, dass sie weiterhin auf La Réunion leben. Zum einen möchte Sicard sich deshalb weiterentwickeln, von seiner Musik leben und seinen Lebensstandard verbessern. Hierfür braucht er den Erfolg im Ausland und dafür wiederum ein bestimmtes Image: das des besonderen Musikers. L’exportation stellt Sicard als Mittel zum Zweck dar und erklärt, über den Umweg der angesprochenen feedback loops ein junges réunionesisches Publikum erreichen zu können und nicht nur eine World MusicSzene. So wird seine Identitätskonstruktion für ihn schlüssig. Obwohl er sich nach Außen orientiert, argumentiert er mit seiner Musik als lokaler Künstler für den Schutz der lokalen Kultur, des Kréol-Réunionnais und réunionspezifischer Traditionen eintreten zu wollen. Er braucht die Insel und ihre Besonderheiten, ohne die er in überregionalen Kontexten nichts darzustellen hätte. Gleichzeitig braucht er die Verknüpfung seiner Arbeit mit dem Lokalen, denn wie soll er sein Vorhaben, réunionesische Kultur und Tradition erhalten und an jüngere Generationen weitergeben zu wollen, vor einem überregionalen Publikum glaubwürdig vertreten, wenn ihm auf La Réunion niemand zuhört? Über den Minderwertigkeitskomplex der réunionesischen Bevölkerung zu spekulieren bekommt deshalb eine andere Bedeutung. Pounia positionierte sich 67 Das Zitat stammt aus seiner dort geschilderten Biografie und ist zugänglich unter der URL: http://www.renelacaille.com (Datum des letzten Besuchs: 02.09.09).
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mit seinem Verweis darauf als Militant Culturel. Davon erhoffte er sich für seine Karriere Vorteile, ebenso wie Davy Sicard. Letzterer kritisierte es in unserem Gespräch. Auf überregionaler Ebene profitiert er von dieser Kritik. Bestückt mit dem Wissen um die Besonderheit eines musikalischen combat identitaire konstruiert er sich als Verteidiger einer réunionesischen Kultur. Er blickt mit einem auf den World Music-Kontext ausgerichteten Blick auf seine Heimat und inszeniert sich dementsprechend als réunionesischer Lokalpatriot ohne konkrete Lokalität. Seine Identität inszeniert er mit dem Verweis auf La Réunion für ein Publikum außerhalb La Réunions, an unterschiedlichen Orten, mit unterschiedlichen Folgen und für ihn verbunden mit wegweisenden Erfahrungen.
6.3
Neue Erfahrungen, neues Capital Culturel
Musiker der Next Generation leben zwischen Innen und Außen, zwischen réunionesischer Musiktradition und World Music-Kontext. Sie leben im Zwischen, in einer translokalen Musiklandschaft gemäß bestimmter Regeln und Restriktionen. Zum einen ist La Réunion ihre Heimat. Zum anderen sind sie Teil jener anderen Kulturschaffenden, die réunionesische Kultur beschreiben und bestimmte Aspekte darin für besonders erhaltenswert erklären. Die Verbreitung ihrer Musik ist für sie ein identitätsstiftender Auftrag. Die Vorstellung von einer kreolréunionesischen Kultur, die diesen Auftrag vergibt, fungiert für sie als treibende Kraft ihn zu erfüllen. Sie ist ihre Begründung für ihr musikkulturelles Bemühen. Sie gibt ihrer Arbeit die notwendige Legitimation. Entscheidend ist für sie in überregionalen Kontexten respektiert zu werden, als jene, die am qualifiziertesten sind diesen Auftrag zu erfüllen. In diesem Prozess verlassen Musiker der Next Generation La Réunion. Die Entwicklungsgeschichten der Musikergenerationen Militants Culturels und Next Generation überschneiden sich hier. Ihre Zielsetzungen weisen jedoch in verschiedene Richtungen. Während die Militants Culturels die Anerkennung einer kreol-réunionesischen Kultur fördern wollen, müssen viele Bestandteile dieser lokalen Kultur laut den Ausführungen der Next Generation gefunden und wieder hergestellt werden. Erstere richteten ihren Blick auf die lokale Ebene. Sie kritisierten die Lebensumstände auf La Réunion und das fortdauernde Abhängigkeitsverhältnis von Kontinental-Frankreich. Letztere treten als individuelle réunionesische Künstler für ein überregionales Publikum auf. Sie kritisieren nicht mehr das fortdauernde Abhängigkeitsverhältnis von Kontinental-Frankreich, sondern das Idealisieren von allem was von außen kommt. Sie plädieren deshalb zwar ebenso für eine besondere Wertschätzung ihrer Heimat und inszenierten sich auch als Kämpfer für die Anerkennung einer eigenständigen réunionesischen Kultur, doch vor allem weil es der überregionale Markt so von ihnen verlangt. Beide Gruppen vertrauen auf die besondere Wirkung des tropischen, kreolischen, militanten, exotischen Images ihrer Heimat La Réunion. Anerkennung für
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die Militants Culturels, auf La Réunion und darüber hinaus, ist zu einem weiteren Bestandteil des Capital Culturel der Next Generation geworden. Für die Next Generation ist es sinnvoll, sich mit Maloyamusikern wie Danyèl Waro oder Firmin Viry zu identifizieren, wenn sie international Erfolg haben wollen. Doch im lokalen Kontext ist ihr Capital Culturel, ihre Verweise auf die Tradition der Militants Culturels und deren Kampf um kulturelle Unabhängigkeit, weniger wert. Dort weiß man, dass sie keine Militants Culturels sind. Und es weckt Erinnerungen an eine schmerzvolle Vergangenheit. Denn neben den Bildern tropischer Strände und romantischer Sonnenuntergänge erzählen sie von Sklaverei und Unterdrückung. In der Gleichung Widerstand = Maloya = Afrika = Sklaverei kommt dieser Widerspruch zum Ausdruck. Teile eines lokalen Publikums sehen darin Maloya = Afrika = Sklaverei. Ein überregionales Publikum sieht dagegen Maloya = Afrika = Widerstand. Die Musik transportiert ein Image, das in World MusicKontexten erfolgreich ist, auf lokaler Ebene jedoch vergessen werden möchte. Maloya ist demnach sowohl positiv als auch negativ besetzt. Dieser double bind réunionesischer Musik ist ein Problem für die Next Generation (vgl. Spivak 1988). Zusammenfassend bedeutet das zunächst, dass réunionesische Musiker, ob Militants Culturels oder Next Generation, sich bei ihrer Suche nach kulturellen Referenzen dahingehend unterscheiden: (1) Wo sie beobachten. (2) Wie sie ihre Beobachtungen musikalisch wiedergeben. (3) Wen und was sie mit ihrer Musik und deren Inhalten erreichen wollen. Diese Differenzierung werde ich nun am Beispiel von Davy Sicard, Christine Salem und Nathalie Natiembé weiter erläutern. Sie verknüpfen ihre Alltagserfahrungen, Gedanken zu und Wahrnehmungen von réunionesischen Besonderheiten mit Musikstilen, Geschichten und Darstellungsformen, die außerhalb ihrer Heimat entstanden sind. Diese Verknüpfungen stellen nicht allein Gegensätze her, sondern verbinden auf charakteristische Weise das eine mit dem anderen, Réunion mit Mosambik, Swahili mit Kréol-Réunionnais, Griots mit Maloyasängern. Die Musiker entwickeln dabei eine individuell gefärbte Darstellung réunionesischer Kultur. Die Maloyasängerin Nathalie Natiembé schilderte mir in einem Gespräch, wie sich ihre Vorstellungen von réunionesischer Identität und Kultur im Laufe ihres Heranwachsens konkretisierten und sich dieser Prozess in ihrer Musik widerspiegelt. Sie erklärte mir, inwieweit die Musik ein Hilfsmittel für sie ist, Menschen in ihrer Heimat kennenzulernen, die eine ähnliche Geschichte haben wie sie: „Als ich Kind war, die Kinder mit denen ich gespielt habe, haben diese Kultur erfahren. Heute treffe ich diese Leute. […] Ich kenne sie nicht, heute treffe ich sie und sie
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sagen auch: ‚Ja stimmt, meine Familie war so.‘ […] Heute lerne ich Leute kennen, die sagen: ‚Nathalie Natiembé, weißt du, es war ein bisschen so wie bei dir. Wir machten das, wir verstanden das, wir hörten das.‘ Heute endlich findet sich diese Generation wieder. Aber als Kind machte man sich keine Gedanken, man dachte gar nicht mal darüber nach, was man da erfuhr (lacht). Für uns war das normal! […] Man dachte, in den anderen Familien ist das gleich! Aber wenn man heranwächst wird einem mehr und mehr bewusst was man erfährt, was man erfahren hat, als man klein war!“ «Quand j’était enfant, des enfants avec qui j’ai joué ont reçu cette culture là. Aujourd’hui je rencontre ces gens-là. […] Je les connaissais pas, aujourd’hui je les rencontre et eu aussi ils disent: ‹Oui voilà, ma famille était comme ça.› […] Mais c’est aujourd’hui que je rencontre des gens qui disent: ‹Nathalie Natiembé, tu sais c’était un petit peu comme dans la tienne. On faisait ça, on entendait ça, j’écoutais ça.› C’est aujourd’hui que finalement cet génération-là se retrouve. Mais quand on était enfant on se soucie pas, on pense même pas à ce qu’on reçoit là (lacht). Pour nous c’était normal! […] On pense que dans les autres familles c’est pareil! Mais c’est en grandissant qu’on prend plus conscience de ce qu’on reçoit, ce qu’on a reçu quand on était petit!» (Natiembé 24.09.03: 434–447)
In ihrer Kindheit war Kultur für Natiembé etwas Allumfassendes. Es gab für sie keine Trennung zwischen Innen und Außen, weder bezogen auf sich und ihre Mitmenschen, noch darauf wie ihre Heimat außerhalb La Réunions wahrgenommen wurde. Dass ihr Vater zum Beispiel komplexe Antennenkonstruktionen entwarf, um nicht nur die staatlichen, französischen Radiosender, sondern auch Radio Addis Ababa empfangen zu können, war in ihrer Kindheit für sie normal (Natiembé 24.09.03: 415). Erst als Erwachsene, Musikerin, Kulturschaffende wird ihr die Besonderheit ihrer Kindheit bewusst. Sie ist damit aus der Kultur ihrer Kindheit „herausgewachsen“ und blickt von außen auf das, was sie damals erlebte. Der ausschlaggebende Moment in Natiembés Erzählung liegt darin, dass nunmehr die Kindheitserinnerungen an die Weltoffenheit ihres Vaters und dessen Faszination für das Radio eine für sie identitätsstiftende Bedeutung einnehmen. Während Kultur und Identität für sie in ihrer Kindheit dasselbe waren, wurde ihr mit der Zeit bewusst, wie verschieden kulturelle Erfahrungen für Menschen sind. Damit erklärt Natiembé, warum sie mittlerweile zwischen ihrer Identität und ihrer Kultur unterscheidet. Identität ist für sie eine auf Selektion beruhende Vorstellung von dem was sie ihre Persönlichkeit nennt. Kultur dagegen stellt für sie eine individuell geprägte, aber universell verstandene Beschreibung des Ortes dar, an dem sie den Ursprung dieser Identität sieht. Kulturen sind für Natiembé verfügbar, Menschen bedienen sich an ihnen und finden sich darin wieder. Sie geben ihren Identitätskonstruktionen einen Rahmen. Dieser ist jedoch nicht einheitlich, sondern entsteht durch den Austausch mit Anderen, durch Bewegungen und Erfahrungen, in ihrem Fall weit gemacht in einem musikkulturellen Netz-
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werk, das über La Réunion und auch Kontinental-Frankreich hinausreicht, bis Addis Abeba und weiter. Im voranstehenden Interviewauszug erklärt Natiembé, dass sie durch ihre Musik andere Menschen kennenlernt. Sie schafft mit ihrer Musik eine Verbindung zwischen sich und ihrem Publikum. Denn darin vermittelt sie ein Bild réunionesischer Kultur, in dem sich andere wiedererkennen. Ihr Fundament ist der Maloya, seine Instrumente, Texte und die Akteure, die diese Musiktradition ausmachen. Mittels des Stils und der Geschichte die ihn umgibt, verortet Natiembé sich in einer réunionesischen Musiktradition. Aber der Maloya, den Natiembé spielt, ist anders. Ihn hat es in der Form wie sie ihn vorträgt bisher nicht gegeben. Er hat einen von ihrer persönlichen Geschichte geprägten Sound. Wie weiter oben ausgeführt, hat der Maloya La Réunions keinen Ursprung, sondern besteht in der fortwährenden Suche nach ihm. Deshalb ist der Maloya für ihre Identitätskonstruktion ein geeignetes Medium, denn seine Geschichte beruht auf dem Verlust von Heimat. Die Entstehungsgeschichte des Maloya bleibt somit mit der Suche nach den Ursprüngen einer kréol-réunionesischen Kultur verbunden. In musikalischen Inszenierungen wie jenen Natiembés werden beide, Musik und Kultur, weiter verändert. Nathalie Natiembé hat die Möglichkeit, auf der Suche nach ihrem musikkulturellen Ursprung tatsächlich neue Wege zu gehen und andere Orte mit La Réunion zu verknüpfen. Christine Salem möchte mittels des gleichen Musikstils etwas anderes erreichen: „Für mich ist es eine Freude die Menschen entdecken zu lassen, dass wir da sind, dass wir existieren, dass es den Maloya gibt, dass es eine Tradition gibt, die da ist.“ «Pour moi c’est un plaisir de faire découvrir aux gens qu’on est là et qu’on existe; qu’il y a le Maloya; qu’il y a une tradition qui est là.» (Salem 05.09.03: 68–70)
Der Name ihrer Band, Salem Tradition, spiegelt das von Christine Salem in diesem Interviewauszug beschriebene Projekt wider. Damit propagiert sie ihr Interesse an der Erhaltung einer lokalen Tradition, deren Werte ihrer Ansicht nach Gefahr laufen, in Vergessenheit zu geraten. In ihren Stücken thematisiert die Musikerin deshalb Aspekte der lokalen Kultur, die für sie wichtig sind und ihres Erachtens dazu beitragen, das Leben einiger Menschen auf La Réunion zu verbessern. Sie macht Probleme wie Alkoholismus und Gewalt in Familien öffentlich, mit denen sie in ihrem Hauptberuf als Sozialarbeiterin konfrontiert wird. Salem erzählte mir außerdem, dass sie sich in der kultischen Zeremonie des Servis Kabaré wiederfände. Im Trancezustand stöße sie auf Erinnerungen und knüpfte Kontakte zur Heimat ihrer Vorfahren an der Ostküste Afrikas. Der Maloya ist für sie somit nicht allein ein Medium, mit dem sie sich an ihr Publikum wendet. Er erlaubt ihr ebenso das Wiederbeleben des Kontaktes zu einer vergessenen Vergangenheit. Im Moment des Musikmachens bringt er ihr Teile
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der eigenen Geschichte zurück, die durch die Versklavung ihrer Vorfahren verloren gingen (CD Titel 14): „Ich zum Beispiel singe auf Swahili, ich singe madagassischen Dialekt und die Leute sagen machmal: ‚Ha, ja Christine, ja, ihr Maloya ist toll, aber manchmal singt sie und man versteht gar nichts.‘ Das Problem ist, dass man vor einem Jahrhundert so gesprochen hat. Ich meine, es gibt Sachen, die kommen, wir haben Vorfahren, die kommen aus Afrika. Es ist sicher, dass die bevor sie nach La Réunion kamen auf Swahili sprachen! Selbst die Vorfahren die aus Madagaskar kamen, bevor sie ankamen, selbst als sie auf La Réunion ankamen sprachen sie so. […] Und mittlerweile hat man die Tendenz zu vergessen woher man kommt und wie man angekommen ist. Ich bin nicht gegen die Modernisierung, aber es gibt Sachen, die da sind und man muss sie zumindest ein Stück weit konservieren, in Anführungszeichen. Soll heißen, einige Sachen konservieren, die Tradition.“ «Moi par exemple je chante en swahili, je chante du dialecte malgache et tout les gens disent des fois: ‹Ha ouais mais Christine, ouais son Maloya est chouette mais des fois elle chante on comprend rien.› Le problème c’est qu’on parlait comme ça y’a un siècle. Je veux dire, y’a des trucs qui viennent, on a des ancêtres qui viennent de l’Afrique. C’est sûr que eux avant de venir à La Réunion ils parlaient en Swahili! Même des ancêtres qui viennent de Madagascar avant d’arriver, même en arrivant à La Réunion ils parlaient comme ça. […] Et maintenant on a tendance à oublier surtout d’où on vient et comment on est arrivé. Je suis pas contre la modernisation mais y’a des choses qui sont là et il faut quand même avoir le coté conservatoire, entre guillemets. C’est à dire de conserver certaines chose, la tradition.» (Salem 05.09.03: 127–142)
Salem reist nicht über Wasser, Land oder durch die Luft an unterschiedliche Orte, um nach ihren musikkulturellen Wurzeln zu suchen. Sie bewegt sich trotzdem, zum Beispiel im Servis Kabaré. Dort findet sie das Swahili und erklärt anschließend, dass diese Sprache in ihrer Musik stellvertretend für die Kultur Ostafrikas Verwendung finde, die eine besondere Bedeutung in ihrer Familiengeschichte einnimmt. Als Kulturschaffende innerhalb einer kréolréunionesischen Gemeinschaft ist die Sprache auch Teil ihrer lokalen Kultur. Nicht all ihre Zuhörer können dieser Auffassung über die Bedeutung des Swahili zustimmen. Denn was Salem als authentisch réunionesische Tradition darstellt, ist vielen Réunionesen unbekannt, auch wenn sie ihr ganzes Leben auf La Réunion verbracht haben. Erfahrungen, die sie mittels des Maloya gemacht hat und nun auf der Insel verortet, werden nicht von allen geteilt. Auch dies ist ein Bestandteil der Kreolisierung. Die Geschichten der Menschen, die auf der Insel leben, lassen sich nicht in einer Erzählung zusammenführen. Ihre Differenzen sind nicht zu überwinden, sondern tragen dazu bei, dass sich Darstellungen der kreol-réunionesischen Kultur weiter verändern. Salem gibt der Maloya die Möglichkeit, sich im Verweis auf einen anderen Ort eine eigene Geschichte zu geben.
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Solche musikalischen Inszenierungen, in denen Salem sich zwischen La Réunion und der Ostküste Afrikas verortet, sind im World Music-Kontext erfolgversprechend. Die Verwendung der anderen Sprache, verpackt in die besondere Geschichte des Servis Kabaré, in dem sie diese Sprache wieder entdeckte, übt einen besonderen Reiz auf ein internationales Publikum aus. Ob Swahili wirklich Teil einer réunionesischen Vergangenheit ist, spielt dabei keine Rolle. Auf La Réunion ist das anders. Christine Salems Swahili bringt ostafrikanische Kultur als Referenz wieder auf die Insel zurück. Sie verknüpft die Sprache mit kreol-réunionesischer Kultur und produziert was James Clifford eine „diaspora consciousness“ nennt: “The process may not be as much about being African or Chinese as about being American or British (French, or Réunionese) or wherever one has settled, differently. It is also about feeling global.” (Clifford 1997: 256–7. Zusatz von C.W.)
Diaspora und Kreolisierung, Kréolisation-Réunionnaise, sind nicht das Gleiche, doch bewirkt Salem durch ihre Musik, dass sich die Konzepte vermischen. Ihre kreolische Heimat, die einerseits das Fundament ihrer Familiengeschichte liefert, wird andererseits durch ihren Verweis auf Ostafrika verändert. Für den Moment der musikalischen Inszenierung lebt Salem in ihrer Heimat La Réunion, und gleichzeitig ist diese Heimat für sie nicht auf die Insel beschränkt. Ein Teil von ihr, der ihr im Maloya und im Servis Kabaré begegnet und auf Swahili zu ihr spricht, bleibt außerhalb La Réunions. Um dieses Zwischen ihrer kreolischen Identität zu vervollkommnen, fügt sie ihrem réunionesischen Kulturpuzzle mit Swahili ein Element hinzu. Der Maloya ist das Medium ihrer „diaspora consciousness“, mit dem sie Verweise auf andere Orte schaffen und Vermischungen von lokalen und überregionalen Referenzen hörbar machen kann. Obwohl sich die Musikerin im oben angeführten Interviewauszug als „Konservierende“ réunionesischer Traditionen beschreibt, zeigt ihre Verwendung des Swahili, dass sie mit ihrer Musik das Bild kreol-réunionesischer Kultur verändert. Ihre Musik stellt in der Gegenwart und für die Zukunft kulturelle Zusammenhänge her, die vorher so nicht existiert haben. Ihr Ziel ist es, einen musikkulturellen Rahmen zu schaffen, der alle Besonderheiten ihrer Identität veranschaulicht. Solch Verortungsversuche verweisen auf etwas Figuratives, das nicht greifbar gemacht werden kann (vgl. Chariandy 2003). Das Swahili wird von Salem in die Kultur La Réunions zwar eingeführt, doch im Alltag hat die Sprache keine aktive Funktion. Sie wird weder verstanden noch gesprochen. Trotzdem wird sie durch sie zu einer Referenz, mit der die Musikerin ihre musikkulturelle Besonderheit international inszeniert. Ich komme an dieser Stelle zu einem Vergleich der Arbeit Christine Salems mit der Nathalie Natiembés (CD Titel 13). Während Salem die Veränderung des Lokalen durch das Wiederentdecken kultureller Referenzen vorantreibt, also
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durch einen Blick in die Vergangenheit, bezieht Natiembé sich auf die Zukunft. Beide verbindet allerdings, dass sie in ihrer Musik gesellschaftliche Probleme sichtbar machen wollen: „Ich thematisiere Inzest, ich thematisiere die Liebe, ich behandele verlassene Orte, Schattenreiche, wenn man so will. […] Es ist mein Geist, der so ist. Ich mag es sehr von Tod, Leben auszugehen, es gefällt mir Psychologisches zu thematisieren. […] Ich gehe gern in diesen Thematiken auf, während ich immer bei einer humorvollen Poesie bleibe. Ich behandele schwierige Dinge mit einem Lächeln. Wie könnte man das sagen … philantrop. Wir werden helfen, die Dinge zu überwinden, die uns unbekannt sind. Ich bleibe bei der Liebe. […] Wenn man voller Liebe ist, kann man vieles erreichen, auf sehr sehr einfache Weise.“ «Je touche à l’inceste, je touche à l’amour, je vais aller traiter dans des contrées des zones d’ombre, si je peux dire. […] C’est mon esprit qui est comme ça. J’aime bien partir de la mort, de la vie, j’aime tous qui touche à la psychologie. […] Je rends beaucoup dans les sujets comme ça, en restant toujours dans une poésie humoristique. Je traite des choses graves avec le sourire. Comment on peut dire ça … (Pause) philantrophe. On va aider à surmonter des choses qu’on connaît pas. Je reste dans l’amour. […] Si on est plein d’amour on peut faire beaucoup des choses très, très simples.» (Natiembé 24.09.03: 191–202)
Natiembé hat nicht wie Salem die Erhaltung einer lokalen Tradition zum Ziel. Trotzdem verkörpert sie in ihrem Maloya réunionesische Kultur, ähnlich und doch anders. Sie singt ebenso über Probleme, die sie in ihrer Lebenswelt kennengelernt hat. Gleichzeitig behandelt sie diese Themen auf andere Art. Auch in ihrer Musik ist der Bezug zu bestimmten Regionen Afrikas von Bedeutung. Doch obwohl sie sich auf die gleiche Musiktradition bezieht, den Maloya, sieht sie deren Ursprünge woanders. Dies zeigt zum einen, dass Musik ein Ort für vielerlei kultureller Auseinandersetzungen ist (vgl. McClary 1991b: 138). Doch ebenso bietet sie vielerlei Möglichkeiten, Beziehungen zwischen Orten herzustellen. In unserem Gespräch verglich Natiembé den Maloya etwa mit dem Geschichtenerzählen der Griots, der Sänger, die in einigen Ländern Afrikas Informationen von einem Dorf zum anderen tragen, und mittlerweile auch darüber hinaus (vgl. Dorsch 2006). Ihr Vater, so berichtete sie, hätte ihr diese Tradition als eine der Wurzeln des Maloya beschrieben. Um dieser Definition näher zu sein, reduziert sie ihre Instrumentierung auf Perkussion, Gesang und Bass. Sie selbst spielt Triangel, für sie ein Instrument der Plantagen, des „appel“, des Rufs zum Aufstehen, Essen und Schlafen im Lebensrhythmus der Sklaverei (Natiembé 24.09.03: 32). Auf diese Weise verbindet sie die Geschichten ihres Vaters mit einer für sie traditionell réunionesischen Musik:
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„Voilà, das ist die Vision des Maloya für meinen Vater. Er sagte, dass der Maloya ein Lied des Griot war, der kam, der Geschichten erzählte und der erzählte wie es dem anderen Dorf ging, der von den Unterdrückten […] erzählte. Das ist für ihn der Maloya. […] Jetzt, wenn ich so überlege, wenn ich allein mit meiner Triangel ankomme, ich singe Maloya, das ist es … Ich gebe diese Vision meines Vaters wieder, die er mir erzählte, als ich ein Kind war. (Pause) (C.W.: … Und heute, wie weit ist man mit dem Maloya?) Ich denke, er ist mehr zu einer, in Anführungszeichen, ‚réunionesischen‘ Identität geworden! Er ist mit uns verwachsen. Wenn du einen Réunionesen triffst, zumindest hoffe ich, dass es so wäre, wenn du einen Réunionesen triffst und ihn nach seiner Musik fragst, dann wird er dir sagen ‚Maloya‘! – hoffe ich, ich hoffe, dass es so ist (lacht). Soll heißen, man identifiziert sich mit dem Maloya. Es gibt keinen Platz, keinen Unterschied mehr, verstehst du? Ich meine, Réunionese, Maloya – das gehört zusammen … Ich meine, zumindest hoffe ich, dass es so ist.“ «Voilà, c’est ça la vision du Maloya pour mon père. Il disait que le Maloya c’était la chanson du Griot qui arrivait, qui racontait des histoires, et qui racontait comment l’autre village faisait, qui racontait les […] oppressés. C’est ça pour lui le Maloya. […] Maintenant quand je pense, j’arrive toute seule avec mon triangle, je chante le Maloya, c’est ça aussi en même temps … Je redonne cette vision-là que mon père me racontait quand moi j’étais enfant. (Pause) (C.W.: … Et aujourd’hui on en est ou avec le Maloya?) Je pense que c’est plus devenu identité entre guillemets ‹réunionnaise›! C’est installé en nous. Tu vas rencontrer un Réunionnais, en-fin j’espère que ce sera comme ça, quand tu rencontres le Réunionnais tu vas lui demander sa musique il va te dire, bien, ‹Maloya›! – j’espère, j’espère que c’est comme ça (lacht). Donc ça veux dire on s’identifie au Maloya. Il y a plus d’espace, il y a plus de seconde, tu comprends? Je veux dire, Réunionnais, Maloya – c’est collé avec … Je veux dire, j’espère que c’est comme ça.» (Natiembé 24.09.03: 130–158)
Natiembé hat eine „Vision“ ihrer Kultur, die sie von ihrem Vater geerbt hat. Sie stellt den Bezug dieser Vision zu ihrer Heimat La Réunion in ihrer Musik her. Dabei gibt es keine alte oder neue Tradition. Denn obwohl sie als Maloyamusikerin auf eine relativ lange Tradition zurückblicken kann und es auf der Welt keinen anderen Ort gibt, an dem Maloya eine auch nur annähernd ähnlich bedeutende Funktion einnimmt, kann Natiembé nur „hoffen“. Sie hofft, dass diese Musik und La Réunion mittlerweile für Réunionesen eine Einheit bilden. Wissen kann sie es nicht. Die Musikerin macht diese Unsicherheit deutlich. La Réunion und der Maloya sind für sie eins, und sie sind es nicht. Sie weiß, dass sie mit ihrer Musik nicht für, sondern nur zu einer réunionesischen Gemeinschaft spricht. Das unterscheidet sie von den Militants Culturels. Ihr Anliegen ist nicht, réunionesische Gemeinschaft zu propagieren, denn ebenso wie Christine Salem ist sie zwar Teil einer réunionesischen Gemeinschaft. Doch nicht alle Menschen, die sich dieser Gemeinschaft zugehörig fühlen, finden sich in den gleichen kulturellen Wurzeln wieder wie sie.
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Durch die Musik setzen die Musikerinnen ihre Suche nach ihren kulturellen Wurzeln fort, haben Abstand von La Réunion gewonnen und verbinden sich gleichzeitig wieder mit der Insel. Sie inzenieren eine individuell geprägte Wahrnehmung davon, was réunionesische Kultur ausmacht. Weder im lokalen noch überregionalen Kontext wird jemand Christine Salem darin widersprechen, wenn sie dabei Swahili als eine ursprüngliche Sprache La Réunions darstellt. Sie mag dafür kritisiert werden, doch solche Kritik kann sie weder daran hindern es zu behaupten, noch die Möglichkeit ausräumen, dass auf La Réunion einmal Swahili gesprochen wurde. Das Gleiche gilt für Nathalie Natiembé, die den Maloya als afrikanischen Griot Gesangsstil beschreibt oder Davy Sicard, der den Flamboyant als einen Baum darstellt, der allein typisch für La Réunion ist. Die Kulturschaffenden benutzen eine Vielzahl solcher Referenzen, um mittels des Maloya eigene Versionen réunionesischer Kultur zu inszenieren. Es sind ihre Entdeckungen auf der Suche nach ihrer Identität, mit denen sie sich und ihre Heimat von anderen Regionen unterscheiden. In der Verbindung von World MusicBusiness und kreolischer Herkunft nehmen die Akteure eine transkulturelle Perspektive ein. Sie blicken als Außenstehende mit einer „diaspora consciousness“ auf ihre Heimat, vergleichen das was sie sehen mit ihrer eigenen Geschichte und ergänzen mittels ihrer Musik jene Puzzleteile, die darin bisher nicht vorkommen: Griot, Swahili, Flamboyant. Ihr Leben bleibt ein Prozess des Suchens, Findens, Identifizierens und Darstellens dessen was verloren gegangen ist. Um diese Suche nochmals greifbarer zu machen, abschließend zurück zu Davy Sicard. Er ist in der Umbruchphase der 1980er Jahre aufgewachsen. Einerseits erlebte er, wie die lokale Kultur durch die Aktionen der Militants Culturels an Bedeutung gewann. Andererseits wurde er mit dem Bild erzogen, dass außerhalb La Réunions alles besser ist. Sicard ging deshalb in die USA und legte dort eine Gesangsausbildung ab. Anschließend begann er eine Karriere mit dem Acapella-Quartett Cool Brothers. Doch nach ein paar Jahren erkannte er, dass er seinen Lebensunterhalt als Musiker mit dieser Formation nicht dauerhaft bestreiten konnte. Sicard wurde zu einem anderen, zu einem Verfechter lokaler Traditionen. Fortan berief er sich auf die Bedeutung des Maloya als authentische Musik La Réunions. Damit schaffte er sich ein traditionelles Fundament. Mittels der Musik manifestierte er sich als Repräsentant einer kreol-réunionesischen Kultur. Seine Referenzen werden in überregionalen Kontexten akzeptiert, weil sie in Maloya verpackt sind. Der Sound garantiert die Authentizität der Tradition, die er verkörpert. Somit ist im World Music-Kontext erreicht, was auf La Réunion noch ungewiss ist. „Réunion“ und „Maloya“ sind verschmolzen: „collé avec“, wie Natiembé es beschreibt. Musikstil und Ort bilden eine Einheit. Wieder ist es die Goyave de France, die Menschen auf La Réunion nachhaltig beeinflusst. Sicard wurde erst zum Maloyamusiker, nachdem er erkannte, wie erfolgreich man damit sein konnte. Einerseits hat es schon immer eine Maloyatradition auf La
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Réunion gegeben, die von einigen als die „wahre“ Musik ihrer Heimat dargestellt worden ist. Andererseits bewirkte somit erst der internationale World Music-Markt bei einigen Musikern, sich dieser „wahren“ Tradition zu widmen. Sie tun dies auf unterschiedliche Weise. Während Natiembé Wert darauf legt, ihre Kinder mit allen möglichen musikalischen Stilen zu umgeben, die ihnen eine Vision von vielen Kulturen, von „cultures multiples“ (Natiembé 24.09.03: 395), vermitteln, widerspricht Sicard, der ehemalige Cool Brother, dieser Offenheit: „Als ich etwa zehn Jahre alt war, war der Maloya verboten. Es gab nicht die Möglichkeit wie heute einen Kabar zu sehen, die Künster zu treffen! Der Maloya war nicht so offen wie heute. Doch heute kann man. Man kann solche Leute treffen. Also, wenn dem so ist, warum sollte man dann verpflichtet sein mit einer seitwärts aufgesetzten Baseballkappe herumzulaufen, mit weiten Klamotten und einem völlig kaputten Auftreten, als sei man völlig amorph? Das macht überhaupt keinen Sinn. (Nadège Nagès, die nebenbei fotokopiert: ‚Entschuldigt, aber ich bin einer Meinung mit Davy.‘) Das macht überhaupt keinen Sinn! Wir haben es nicht nötig Amerikaner oder Pariser zu spielen. Wir haben es nicht nötig so zu tun. Wir sind was wir sind und es ist an uns dies auch einzufordern. Wir haben etwas, das selbst die Amerikaner nicht haben: Den Maloya! Also, warum sollte man das nicht wertschätzen?“ «A l’époque où j’avais 10 ans à peu près le Maloya était interdit. Il n’y avait pas la possibilité comme aujourd’hui d’aller voir un Kabar d’aller rencontrer des artistes! Le Maloya n’était pas aussi ouvert qu’aujourd’hui. Alors qu’aujourd’hui on peut, on peut rencontrer des gens comme ça. Donc, à ce moment-là pourquoi devoir être obligé de marcher avec une casquette sur le coté et avec des vêtements amples et avoir une démarche complètement cassée, style on est complètement amorphe?! Ça n’a aucun sens. (Nadège Nagès, die nebenbei fotokopiert: ‹Excusez-moi mais je suis d’accord avec Davy.›) Ça n’a aucun sens! On a pas besoin de jouer les Américains ou les parigots. On a pas besoin de jouer à ça. On est ce qu’on est et à nous de le revendiquer. On a quelque chose que même les Américains n’ont pas: le Maloya! Alors, pourquoi ne pas valoriser ça?» (Sicard 02.09.03: 286–299)
Sicards erinnert sich an eine Zeit, in der die Wertschätzung des Maloya verboten war. Jetzt ist er Maloyamusiker der Next Generation. Er ist frei, seine Musik darzustellen. Gleichsam radikal ist seine Ablehnung gegen Einflüsse von außen, von Hip-Hop-Outfit bis künstlichem Akzent. Seine Kritik richtet sich hierbei nicht gegen die gesellschaftspolitische Situation La Réunions als DOM-TOM, „Europäische Ultraperipherie“. Ein größeres Problem ist für ihn, dass Jugendlichen sich an anderen, von außen auf die Insel strömenden Stilen orientierten und die Besonderheiten ihrer Heimat vernachlässigten. Zu dieser Besonderheit gehört für ihn der Maloya. Die Gefahr darin hat er selbst erlebt: Als Cool Brother war er einer unter vielen, als Maloyamusiker ist er etwas Besonderes. Die beschriebene Verwendung des Musikstils als besonderes Darstellungsinstrument von sich, seiner Identität und Kultur ist jedoch nicht réunionspezifisch, sondern im Bezug auf
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viele musikkulturelle Akteure zu erkennen. Das Besondere an Sicards Arbeit ist einerseits der kreol-réunionesische Kontext, in dem er aufgewachsen ist, und andererseits die radikale Veränderung, die er in seiner Musikerkarriere durchlaufen hat. Das jeweils Spezifische ist die Musik, mit der lokale Traditionen hörbar gemacht werden. Die Soundscapes eines Davy Sicard (zwischen A-cappella-Jazz und Maloya), einer Christine Salem (zwischen Swahili und Maloya) oder einer Nathalie Natiembé (zwischen Griot und Maloya) sind Momentaufnahmen einer Kultur, in der diese Musiker sich verorten. Ihre Inszenierungen sind durch ihre Heimat La Réunion von einem fortwährenden Prozess der Kreolisierung geprägt. Kreolische Kultur ist deshalb niemals stabil. Sie ist Musik: Im Moment ihrer Entstehung bereits wieder vergangen.
6.4
Ursprünge und Widersprüche live
Zu Ereignissen wie der Abschaffung der Sklaverei am 20 Désamn 1848 ist in jüngerer Zeit ein weiteres hinzugekommen, das von Musikern der Next Generation als Schlüsselmoment réunionesischer Kulturgeschichte genannt wird: Die Aufstände in Le Chaudron 1991. Die gewalttätigen Proteste in Le Chaudron, eines Stadtteils von St. Denis mit überwiegend mehrstöckigen Sozialwohnungen, waren „eine Explosion“ von etwas, das sich seit langer Zeit entwickelt hatte und in diesem „Kessel“ buchstäblich überkochte (Salem 05.09.03: 175–185). Sie waren Produkt der veränderten Selbstwahrnehmung einer lokalen Bevölkerung, die sich erstmals mit Gewalt einer kontinental-französischen Kulturpolitik widersetzte. Auslöser der Proteste war das Verbot des privaten Fernsehsenders Télé FreeDOM. 1986 gegründet, zeigte er unter anderem erstmals Kampfsport- und Erotikfilme im Fernsehen, jedoch ohne Genehmigung der Regierung. Das darauf verhängte Verbot führte zu mehrtägigen Demonstrationen mit Toten und Verletzten sowie Brandschatzungen, die sich in wöchentlichen Intervallen über die Monate Februar und März 1991 erstreckten. Nicht das Bedürfnis der Réunionesen im Fernsehen Sexfilme zu schauen, führte zu den Aufständen, sondern dass abermals die Mère-Patrie von Außen entschied, was auf La Réunion richtig oder falsch war. Maßgeblich war ein fortdauerndes Gefühl der Ohnmacht gegenüber kontinental-französischen Institutionen.68 Dieses Gefühl der Minderwertigkeit
68 In zwei umfangreichen Bänden, „Géopolitique de La Réunion I+II“, analysiert François Martinez sowohl die politischen Veränderungen auf La Réunion durch die Dezentralisierung nach 1980, als auch die Entwicklung der Unruhen zwischen Februar und März 1991 in Le Chaudron und anderen Teilen St. Denis (vgl. Martinez 2001a/b). Das réunionesische Magazin Akoz widmete 2001 dem Thema zudem eine Ausgabe mit dem Titel „La Réunion dix ans après le Chaudron“.
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war bereits Thema der Militants Culturels. Kulturschaffende der Next Generation führen es in ihren Inszenierungen ins Extrem. Für die überregional erfolgreichen Musiker der Next Generation ist Le Chaudron ein weiteres Puzzlestück zur marktwirksamen Inszenierung ihrer Kultur unter dem World Music-Label. Le Chaudron zeigt, dass sie und ihre Musik aus einem Ort stammen, der Widerstand geleistet hat. Geschichten über solche Ereignisse haben sich seit der Departmentalisation gehäuft, scheinbar jedenfalls. Mit den Fêtes de Témoignages wurde begonnen aus einer réunionesischen Perspektive heraus den kulturpolitischen Wandel auf der Insel öffentlich zu diskutieren. Das 1983 entstandene Lied der Gruppe Bastèr „Oté Kréol“ („Hör zu Kréol“) spiegelt dies wider (CD Titel 4). Darin werden die réunionesischen Zuhörer davor gewarnt, dass ihr „Ti Pei“ („kleines Land“) sich in den nächsten Jahren unaufhaltsam schnell verändern wird. Bastèr sprach in diesem Lied eine Warnung aus und richtete sich damit an ein imaginäres, kreol-réunionesisches Volk, dessen Land von unkontrollierbaren Veränderungen bedroht wäre. Die mittlerweile zahlreich gewordenen Supermärkte, Schnellimbisse, mehrspurigen Straßen und der stetig wachsende Autoverkehr bestätigen teilweise die Voraussagen der Band.69 Musiker der Next Generation benutzen solche Lieder und andere Referenzen wie die Aufstände in Le Chaudron, ergänzen sie zu eigenen Geschichten, in denen sie besonderen Wert auf die Verknüpfung ihrer Heimat mit sich und ihrer Familiengeschichte legen. Dadurch bringen sie vergessene Aspekte kreolréunionesischer Kultur ins Blickfeld zurück. Diese … “… turn[s] towards hitherto neglected sources (e.g. diaries, images, bodies) and the emphasis on unused facts (e.g. facts of gender, race, and class, facts of lifestyle, facts of resistence) [are] pathbreaking developments.” (Trouillot 1995: 49. Zusätze in […] von C.W.)
Maloya ist das Medium, mit dem sich die Besonderheiten einer kreolréunionesischen Kultur, ihre besonderen „facts of gender, race, and class, facts of lifestyle, facts of resistance“, inszenieren lassen. Diese von Trouillot aufgezählten „Fakten“ sind ebenso Kategeorien der Ungleichheit, die im World MusicKontext einen eigenen Wert haben. Die Guave ist zwar weiterhin wertvoll, wenn sie aus Frankreich importiert wird, doch kann sie ihren Wert noch steigern, je länger sie auf La Réunion reift. Für Menschen, für die Musik und Geschichten der Next Generation alles sind was sie von La Réunion kennen, ist ein Konzert mit réunionesischer Musik ein teilweise unvorstellbares, exotisches Ereignis. In der World Music-Szene repräsentieren sie etwas Besonderes mit einem hierfür 69 Zur Erinnerung: La Réunion weist jährlich einen Zuwachs von über 20.000 Neuzulassungen im Straßenverkehr auf, denen versucht wird mit Projekten wie der Route des Tamarins zu begegnen.
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passenden Medium, dem Maloya. Sein Image einer charakteristischen Musik macht ihn zum perfekten Artikulationsinstrument, um unterschiedliche Referenzen in die Inszenierung einer kreol-réunionesischen Kulturtradition aufzunehmen (vgl. Vergès 2006: 49). Musiker verweisen mittels des Maloya auf ihre Heimat. Somit geben sie ihren Identitätskonstruktionen einen Ursprung. Gleichzeitig verknüpfen sie andere Referenzen mit dem Bild ihrer lokalen Kultur, mit La Réunion, dem Ort, der ihre musikkulturelle Besonderheit im World Music-Kontext ausmacht. Je weiter sie sich geografisch von der Insel entfernen, desto freier können sie mit diesen réunionspezifischen Verweisen sein, sowohl in ihrer Präsentation in den Medien, als auch durch Konzertveranstalter, Plattenfirmen oder durch sich selbst. Doch auch der Hybridity Hype einer World Music, eines scheinbar unbegrenzt toleranten und offenen Raumes, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieser Ursprung auf „violence, brutality and exile“ basiert (Vergès 2006: 36). Kréolisation-Réunionnaise ist keine Geburt einer neuen Kulturform, sondern ein fortwährend ungeklärter Ort voller Ungleichheiten, dessen Kulturschaffende versuchen, ihn (sich) mittels Musik greifbarer zu machen. Jedwede ihrer Inszenierungen eines Ursprungs findet durch den Erfolg ihrer Musik eine Berechtigung. Sie entstehen in der Auseinandersetzung mit kulturellen Differenzen, auf La Réunion, in Frankreich, Europa, Afrika, Indien, im Indischen Ozean, im Servis Kabaré und anderen Orten. Keiner dieser Orte erfasst die Komplexität réunionesischer Kreolisierung. Musiker der Next Generation stehen deshalb fortwährend im Zwischen, und ihre Musik bleibt ein Balanceakt. Einerseits müssen sie La Réunion repräsentieren, wie es in World Music-Kontexten erwartet wird, andererseits soll diese Repräsentation ihnen selbst genügen, sie und ihre Familientradition mit ihrer Heimat verknüpfen und demnach für Teile eines lokalen Publikums einen Wiedererkennungswert beinhalten. Dieser fortwährende Widerspruch verdeutlicht sich in vier von mir nun behandelten Beispielen von Live-Konzerten, einer Veranstaltung organisiert vom PRMA, einem Auftritt Christine Salems in der Ravine St. Leu, dem DodomuzikFestival sowie eines Konzerts der jamaikanischen Reggaeband Band Israël Vibration. Bei der Veranstaltung des PRMA im Salle Vladimir Canter, dem Konzert- und Theatersaal der Universität in St. Denis, waren Bands und Solokünstler geladen, die in besonderer Weise die Arbeit der Institution repräsentieren. Unter dem Namen Muzikopôle traten auch Nathalie Natiembé und Françoise Guimbert auf. Alain Courbis sagte ein paar Worte zur Einführung. Er erklärte, dass die Bands des Abends auf einem aktuellen Sampler des PRMA zu finden wären, der den Titel World trüge. Nathalie Natiembé kam als erste auf die Bühne, mit Schlagzeug, Perkussion und Bass als ihre Begleitinstrumente. Sie spielte Triangel und sang unter anderem ein Lied, das sie mit einer kurzen Geschichte über ihren Vater und die Griots in Afrika einleitete. Die zweite Gruppe, Rapidos, war eine Rockformation. Ihr Sänger hatte das Erscheinungsbild eines korsisch-
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réunionesischen Italo-Lovers. Den Bassist, mit langen Dreadlocks und Latexhemd, kannte ich aus der Ziskakan-Besetzung ebenso wie den Keyboarder. Das Besondere ihrer Musik war, dass sie zur Rockmusik in Kréol-Réunionnais sangen. Nach der Band Tapok, deren Musiker in selbstgenähten Kleidern aus alten Leinensäcken auftraten und mit Akkordeon, Roulèr und Gitarre poetische Texte in Kréol-Réunionnais vortrugen, spielten Kayanmbé. Ihr Lied „Plantèr“ hatte Danyèl Waro geschrieben (CD Titel 11). Sie widmeten ihm ihren Auftritt, wie auch die Musiker von Tapok zuvor eines ihrer Stücke Waro widmeten. Der Sänger der Rapidos betonte, dass die Band auf ihrer letzten Platte ein Lied mit Gilbert Pounia aufgenommen hätte. Françoise Guimbert trat als Letzte auf die Bühne. Sie sang Maloya mit moderner Instrumentierung (E-Gitarre, Keyboard, Schlagzeug, Perkussion) und einer Kayamb spielenden Backgroundsängerin (CD Titel 9). Das Publikum, vornehmlich Freunde der Musiker und Studierende aus den umliegenden Wohnheimen der Universität, war begeistert und holte Guimbert und ihre Musiker für eine Zugabe zurück. Einige der anderen Künstler waren vor die Bühne gekommen und tanzten und klatschten bis zum Ende mit. Unterschiedliche Aspekte dieses Konzertabends sind beispielhaft für die Art mit der sich Musiker auf La Réunion Referenzen bedienen, um sich als Künstler aus einem besonderen kulturellen Kontext darzustellen. Durch Verweise auf Musiker wie Danyèl Waro und Gilbert Pounia stellten sich viele Akteure an diesem Abend in die Tradition der Militants Culturels. Solche Referenzen sind einem Publikum verständlich, das diese Musiker und ihre Geschichte kennt, vornehmlich also einem lokalen. Indem die Musiker zusätzlich unterschiedliche réunionspezifische Medien verwendeten, die Langue Régionale, die lokalen Instrumente und eine besondere Kleidung, verkörperten sie auch für ein internationales World Music-Publikum allgemeinverständliche Besonderheit. Dies wurde von den Geschichten unterstützt, die Kulturschaffende in ihrer Musik erzählten, vom Widerstand des „plantèr“, des armen Bauern, bis zu den Gesängen der Griots. So machten es die Musiker dem PRMA leicht, ihre Musik auf einem Sampler mit dem Titel World zu vermarkten. Solche Verweise sind bei jedem Konzert der Next Generation erkennbar. Das zweite Beispiel hierfür liefert der Auftritt Salem Traditions, die Anfang Juni 2003 ihr neues Album in der Ravine de St. Leu vorstellten. Ihre musikalischen Gäste waren unter anderem Firmin Viry und Danyèl Waro. Salem Tradition stehen beim Label Cobalt unter Vertrag, dem Label Philipp Conraths, der einst Waro verpflichtete und in Frankreich das World Music-Festival Africolor gegründet hat. Noch vor unserem Interview und deshalb ohne zu wissen, welche Bedeutung Christine Salem dem Swahili beimisst, wunderte es mich, dass ich bei diesem Konzert kaum etwas von ihrem Gesang verstand, außer: „Faut pas oublier …!“, was sie mehrmals zwischen den Stücken wiederholte: „Faut pas oublier la tradition“, „Man darf die Tradition nicht vergessen!“. Der Großteil ihrer Zuhörer waren Zoreils, in diesem Fall vornehmlich Touristen. Sie verstand ebenfalls nichts vom Text. Doch in Salems Musik gab es für
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sie auch nichts zu verstehen, denn sie hatten auch nichts zu erinnern, sie gehörten der Tradition nicht an, die laut Salem drohte vergessen zu werden. Ihr Grund für den Konzertbesuch war nicht, kreol-réunionesische Tradition zu erhalten, von der Christine Salem sang, sondern sich mit dem Capital Culturel zu schmücken, zu dem sie sich durch den Erwerb einer Eintrittskarte Zugang verschafft hatten. Im nächsten Schritt würden sie die CD von Salem Tradition kaufen, sie mit nach Hause nehmen, ihren Freunden vorspielen und ihnen somit einen Anreiz geben, auch auf ein Konzert der Band zu gehen, wenn nicht auf La Réunion, dann in Europa, auf einem Festival wie Africolor. Es gab aber auch andere Zuhörer, Jugendliche in Trainingsanzug und Oakley-Brille, die vor der Bühne standen, lachten und sich mit der Musik bewegten. Auch Danyèl Waro tanzte seitlich der Bühne mit seiner Tochter auf dem Arm. Die einen waren Kinder aus dem Freundes- und Bekanntenkreis der Band, der andere ein Militant Culturel. Beide waren glücklich die Musik zu hören, zudem auf einer großen Bühne und vor einem gemischten Publikum. Zur Zeit der Fêtes de Témoignages hatte Waro das anders erlebt. Der Maloya existierte nur im Verborgenen und nicht als Unterhaltungs- sondern politisches Instrument. Während das World Music-Label von Christine Salem verlangt, die Besonderheiten ihrer Musik für ein überregionales Publikum verständlich darzustellen, gibt es diesen Besonderheiten demnach auch einen Raum. Somit erreichen Swahili, Maloya und der Aufruf réunionesische Traditionen nicht zu vergessen eine breite Öffentlichkeit. Drei Monate später sah ich Salem Tradition das letzte Mal während meiner Feldforschung live, beim Dodomuzik-Festival auf einer Go-Kart-Bahn in St. Paul. Der Kontrollturm der Rennstrecke diente als Standort für die Tontechniker, Spotlights und als Aussichtsterrasse für die VIPs. Das Festivalgelände war mit zwei großen Zelten zum Bierausschank, einem Kebap-Stand und einem dritten Zelt ausgestattet, in dem Sandwiches, Waffeln und Pommes frites angeboten wurden. Innerhalb von fünf Jahren war es das zweite Konzertereignis dieser Art, gesponsert von der lokalen Brauerei Brasseries de Bourbon, deren Markenzeichen ein Bild des ausgestorbenen Dodo-Vogels ist. Nadège Nagès vom PRMA saß an der Kasse. Beim Eintritt bekamen die Gäste einen DodoSchlüsselanhänger und einen Alkoholtest geschenkt. Durch den Abend führte ein aus lokalen Fernsehproduktionen bekannter, réunionesischer Komiker. Salem Tradition begannen. Das zahlreich erschienene Publikum, diesmal zum Großteil keine Touristen, sondern Réunionesen, war in seiner Meinung über den Auftritt der Band gespalten. Neben mir rief eine Frau Christine Salem zu, dass sie in Kréol-Réunionnais singen sollte. Ein Stück weiter war ein älterer Mann dagegen von der Musik begeistert, summte und tanzte mit. Die Frau, die zuvor Salem Tradition kritisiert hatte, war beim anschließenden Auftritt der Ségagruppe Analyse umso engagierter. Ihr Sänger Giovanni wurde vom Komiker als Schönling angekündigt. Er war groß, dünn, mit öligdauergewellten Locken und flirtete beim Singen mit kreischenden Teenagern in
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der ersten Reihe. Im Anschluss spielten Bastèr ein besonders reggaelastiges Programm mit nahezu keinem älteren Stück, doch dafür ihrer obligatorisch gewordenen Coverversion des „Redemption Song“ von Bob Marley. Während Salem Tradition den Weg zurück in die Tradition propagierte, verwiesen Bastèr auf andere kreolische Kontexte, über die Grenzen La Réunions hinaus und inszenierten sich als réunionesisches Pendant zu Bob Marley and The Wailers. Als Militant Culturel war es für Thierry Gauliris in den 1980er Jahren einfach, mit Bastèr die Aufmerksamkeit eines Publikums zu finden, zu halten und zu bündeln. Die Inhalte seiner Musik, Kampf um Anerkennung, Wertschätzung kreol-réunionesischer Kultur und der Ruf nach Autonomie von KontinentalFrankreich, waren etwas Besonderes. Mittlerweile ist das anders. Die Lieder seiner Generation sind zu Geschichte geworden. Stücke wie „Oté Kréol“ oder „Mon Liberté“ beschrieben vor 25 Jahren einen aktuellen Wandel, der sich mittlerweile auf der Insel vollzogen hat. Sie wecken höchstens Erinnerungen an den einst provokanten Charakter der Musik. Stattdessen sind sie zu einem weiteren Puzzleteil lokaler Identitätskonstruktionen geworden. Gauliris möchte aber nicht zur Tradition gehören, sondern seine Musik weiterentwickeln. Deshalb spielt er mit den Einflüssen des Reggae. Doch verschreibt er Bastèr damit nicht den Kriterien der World Music, wie es Nathalie Natiembé, Christine Salem und Davy Sicard tun. Er versucht sich in einer anderen Art von World Music, sucht nicht nach vergessenen Wurzeln, sondern verbindet seine Musik mit Stilen, die ebenfalls aus der Kreolisierung entstanden sind. Hier sieht er musikalische Anknüpfungspunkte durch die sich Kreolisierung als ein nicht nur lokales, sondern globales Phänomen fortführen lässt. Akteure der Next Generation suchen nicht wie Thierry Gauliris nach musikalischen Anknüpfungspunkten zu anderen kreolischen Kulturen. Stattdessen führen sie die musikalische Tradition der Militants Culturels zwar in sofern fort, als dass sie eigene Lieder wie „Oté Kréol“ hervorbringen, in denen auch sie vor den Risiken der rapiden Entwicklung ihrer Insel warnen. Ihre Kritik richtet sich allerdings nicht mehr gegen Kontinental-Frankreich, sondern die Globalisierung. Sie betonen die Bedeutung einer kreol-réunionesischen Kultur als Alternative zur globalen „Risikogesellschaft“ (Beck 1986), die, wie Davy Sicard es beschreibt, von Nord nach Süd über die Insel ziehe, ohne dass ihr die lokale Bevölkerung Widerstand entgegenbrächte: „Es bleibt nur der Süden, der Südosten, wo du noch La Réunion erleben kannst. Oder vielleicht in den höheren Regionen, aber die tieferen sind komplett vereinnahmt worden. St. Denis, der Norden in jedem Fall: Sehr, sehr vereinnahmt! Der Westen […], nun gut, man findet noch, es gibt Reste, es ist nicht alles verloren, das sage ich nicht. Aber es war einfach, viele Dinge von auswärts hierher zu bringen, weil man den Eindruck hatte, hier gäbe es gar nichts.“ «Il n’y a que dans le sud, sud-est que tu verras encore La Réunion. Ou alors dans les Hauts mais les Bas ils sont prisés complètement. St. Denis, le nord surtout: Très, très
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pris! L’ouest […] bon, on retrouve encore, il y a des restes, c’est pas complètement perdu, c’est pas ça que je dis. Mais il aura été facile d’amener beaucoup de choses de l’extérieur ici parce qu’on avait l’impression qu’il y avait rien.» (Sicard 02.09.03: 680–688)
Sicard erweckt den Eindruck, dass Réunionesen unkontrollierbaren Einflüssen von außen hilflos gegenüberstünden. Es bleibe nur die Möglichkeit, Menschen darauf zu sensibilisieren réunionesische Kultur zu erhalten. Während „Oté Kréol“ und „Mon Liberté“ Aufrufe waren, lokale Werte und Traditionen als solche wahrzunehmen, müssen diese für Sicard nunmehr reaktiviert werden, um sich gegen Amerikanisierung und „Rap-Parigot“ zu wehren. Sicard betont deshalb, dass Ragga und Hip-Hop für ihn banal seien. Es beunruhige ihn, wenn seine Tochter einige der Texte nachsinge, deren Inhalte sich als „Dreck“ in die Köpfe réunionesischer Jugendlicher setzten (Sicard 02.09.03: 817). Jugendliche ließen sich davon beeinflussen und konstruierten ihre Identität nicht im Verweis auf die Traditionen La Réunions, sondern gemäß entsprechender Vorbilder von außen. Auch Christine Salem beschreibt es als ihre Aufgabe, das Wissen aus der Vergangenheit wiederzufinden. So gibt sie ihrem Maloya den Charakter einer engagierten Musik. In dessen Tradition positioniert sie sich als jene, die den Kampf um die Anerkennung vergessener réunionesischer Geschichte weiterführt. Sowohl Salem als auch Sicard verfolgen in ihrer Musik demnach ein anderes Ziel als Gauliris. Alle drei sind professionelle Musiker, sehen ihren Erfolg jedoch auf unterschiedlichen Ebenen. Erstere glauben, dass die Inszenierung als authentische, réunionesische Musiker ihnen die Möglichkeit bietet, langfristig in überregionalen Kontexten erfolgreich zu sein. Auch Gauliris sieht sich als authentischer Musiker. Doch durch den mittlerweile über 20 Jahre währenden Erfolg seiner Band muss er dies im Gegensatz zu den ersten beiden nicht beweisen. Er, seine Band und seine Musik sind auf La Réunion und darüber hinaus bereits eine Institution. Deshalb kann er seiner Arbeit als Kulturschaffender eine neue Richtung geben. Gauliris tritt als réunionesischer Musiker den Weg nach Jamaika an und macht sich zum Verbindungsstück zweier kreolischer Musiktraditionen. Nathalie Natiembé schließlich steht dazwischen. Sie sieht den Erfolg neuer Musikstile auf La Réunion zwar ebenfalls kritisch, konstruiert aber in ihrer Darstellung nicht die gleichen Fronten wie Davy Sicard: „Mit diesen Jugendlichen, die über Sex reden, wenn dem so ist, dann ist es ein Stück weit auch ihre Wahrnehmung der Gesellschaft … Ich meine, momentan ist man von all dem Sex überfordert. Vielleicht ist es auch diese Wahrnehmung, die man ihnen gibt? Wenn man dieses Bild vorfindet, dann ist es auch ein Stück weit etwas, das man weitergegeben hat. Man kann ihnen das nicht vorwerfen, weil man es ihnen ins Leben gebracht hat, deshalb geben sie sich so, sie führen es dir ebenfalls vor.“
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«Avec ces jeunes-là, qui vont parler du sexe, si ça se trouve c’est leur vision de société aussi … Je veux dire, maintenant tu es débordé par tout ce qui est sexe. C’est peutêtre la vision qu’on leur donne aussi? Quand on va donner ça c’est qu’il y a quelque chose qui a été projeté aussi. On peux pas les blâmer parce que ça a été projeté dans leur vie, c’est pour ça qu’ils te donnent ça, ils projettent ça aussi.» (Natiembé 24.09.03: 494–500)
Für Natiembé kann sich die réunionesische Kultur schwerlich externer Einflüsse verschließen. Deshalb deutet sie eine sich wandelnde Musikszene als Hinweis auf Veränderungen innerhalb der réunionesischen Jugendkultur, die wie andernorts tiefgreifendere, gesellschaftspolitische Zusammenhänge haben. Diese Veränderungen lassen sich nicht verhindern, auch wenn Akteure wie Sicard oder Salem dafür argumentieren, sich gegen sie zu wehren. Trotzdem verschreibt Natiembé sich wie die anderen zwei Akteure der Next Generation den vergessenen Traditionen des Maloya, aus denen sie die für ihre Musik charakteristischen Besonderheiten zieht, die sie marktwirksam einsetzen kann. Es wird deutlich, dass Thierry Gauliris sich in einer luxuriöseren Position befindet, als diese drei Musiker der Next Generation. Er muss sich nicht in gleichem Maße als authentisch réunionesischer Künstler profilieren. Jüngere Musiker, die sich von außen auf die Insel strömenden Musikstilen verschreiben, allen voran Hip-Hop und Ragga, haben es noch schwerer. Ihnen fehlt unter World Music-Gesichtspunkten die lokale Basis, die Besonderheit. Eine Ausnahme schaffte die Hip-Hop-Gruppe Mouvmon La Kour (MLK), die im Lied „Mon Lanvi“ („Mein Begehr“), einer Gemeinschaftsproduktion mit Thierry Gauliris, Hip-Hopund Maloya-Elemente verband (CD Titel 12). Réunionesische Hip-Hop-Kultur machte in diesem Fall Gebrauch von réunionspezifischen musikkulturellen Verweisen und gab sich so als etwas Eigenes und Typisches zu erkennen.Was laut Natiembé in das Leben der Jugendlichen „projiziert“ worden ist, macht ebenso einen Bestandteil kreol-réunionesischen Selbstverständnisses aus. Für Jugendliche ist Kréolisation-Réunionnaise ebenso mit Hip-Hop-Kultur verbunden wie der Maloya oder die Militants Culturels. Auf dieser Ebene hat Gauliris mit der Hip-Hop-Kultur mehr gemein, als mit den Musikern der Next Generation. In seiner Musik benutzt er Reggae als Verweis auf die kreolische Kultur Jamaikas. Ursprünge des Hip-Hop, Reggae und Maloya mögen zwar aus geografischer Sicht weit voneinander entfernt liegen, nicht jedoch aus inhaltlicher. All drei Stile entstanden, um musikkulturellen Widerstand zu vertonen, von Menschen auf der Suche nach einer angemessenen Artikulationsform für das, was sie selbst und ihre Lebenswelt auszeichnet. Spätestens seit dem Erfolg des mauritischen Séggaesängers Kaya, der von der Nachbarinsel buchstäblich nach La Réunion übergeschwappt war, sind diese Verknüpfungen auch auf La Réunion sicht- und hörbar. Zeugnis für die Begeisterung für Reggaemusik war während meines Aufenthalts etwa das ausverkaufte Konzert der jamaikanischen Band Israël Vibration am 21.06.2003, dem Tag der Fête de la Musique. In meiner gesamten Feldforschungszeit habe ich nicht so
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viele Réunionesen gemeinsam bei einem Konzert gesehen. Die Zuhörer waren begeistert, obwohl Applaus und Geschrei nach einzelnen Stücken ausblieben. Dafür waberte die Reggaemusik ebenso wie der Dunst des Zamal über die Köpfe in der prall gefüllten Ravine de St. Leu und hüllte alle in einen beständigen, entspannten Groove. Lautes Kreischen und Klatschen waren unangebracht, außer als zwischendurch einer der Zuhörer auf die Bühne sprang und einem Sänger eine Zamal-Tüte anzündete. Solche Events weisen darauf hin, dass an der Seite der Next Generation auf La Réunion sich bereits neue Generationen von Musik und Musikern etablieren. Gauliris versucht die Musik Bastèrs im Verweis auf Reggae zu entwickeln. HipHopper zeigen eine kreol-réunionesische Jugendkultur außerhalb des World Music-Diskurses (Abbildung 9). Die Bedeutung réunionesischer Musiktradition ist in deren überregionalen Kontexten abermals eine andere. Auch in der Geschichte des Mädchens, das bei einem Austausch in Kontinental-Frankreich von Mitschülern nach ihrer Herkunft gefragt und anschließend aufgefordert wurde, etwas in Kréol-Réunionnais zu sagen, wird diese Verschiebung deutlich. Ihre Eltern hatten ihr ausschließlich Französisch beigebracht, weshalb sie nicht in der Lage war, sich durch ihre Sprache als Réunionesin zu identifizieren. Doch Indentifikation bedeutet sowohl sich selbst zu verorten, als auch für andere verortbar, hörbar und ansprechbar zu sein. Musiker tun dies durch charakteristische Inszenierungen ihrer Identität und Kultur, die für La Réunion von besonderer Bedeutung sind – einer Insel, die abgesehen von einigen Piraten erst durch den Kolonialismus bevölkert wurde. Sounds und Rhythmen kreolréunionesischer Musik führen deshalb kulturelle Differenzen zusammen. Prozesse der Vermischung sind demnach charakteristisch für die Entstehung réunionesischer Musik, ob Séga und Maloya, Reggae oder Hip-Hop, und bleiben ebenso bedeutsam für deren Weiterentwicklung. Charakteristisch bleibt die kunstvolle Art musikkultureller Kreolisierung – die Art der Zusammenführung und Weiterentwicklung von Musikstilen. Musiker sind Künstler. Réunionesische Musik wird trotz der Verknüpfung mit anderen Stilen deshalb nicht unbedingt den gleichen überregionalen Erfolg wie diese haben, einige réunionesische Musiker hingegen schon.
7 Ausblick «Le réel est trop complexe, alors il faut changer les imaginaires.»70 (Édouard Glissant)
7.1
Die Zukunft kreol-réunionesischer Musikkultur
Im World Music-Kontext ist der Maloya Medium marktstrategisch wirksamer Referenzen, von Revolution bis Exotik. Wie in den angegebenen Hörbeispielen deutlich wird, besteht der besondere Reiz dieser energiegeladenen Musik neben den dominanten Perkussions und dem lauten Frage/Antwort-Gesang von Leadstimme und Chor aus einer Mischung aus Zweier- und Dreier-Schlägen, die keinen gefühlten 6/8-Takt und auch keine Triolen intonieren. Der Rhythmus des Maloya ist entsprechend schwer nachzuvollziehen und bleibt für Außenstehende geheimnisvoll, solange einem die Musik nicht „dans le sang“, „im Blut liegt“, wie Guillaume Legras und Françoise Guimbert es darstellen. Den Kulturschaffenden, die diese Musik im Blut haben, gibt sie eine Heimat und einen Ursprung zurück. Im World Music-Kontext verarbeiten die Musiker den Maloya deshalb als sowohl réunionspezifische als auch persönliche Referenz. Dazu gehört die Geschichte der Sklaverei als „state of exception“, als Ausnahmezustand, in dem „the slave condition results from a triple loss: loss of a ‚home‘, loss of rights over his or her body, and loss of political status“ (Mbembe 2003: 21). Réunionesische Musiker nutzen eine solche Beschreibung des Ausgangspunkts ihrer kulturpolitischen Vergangenheit, um die Besonderheit ihrer Musik und damit ihrer selbst zu inszenieren und auch für sich fassbar zu machen. Der anschließende Interviewausschnitt verdeutlicht dies. In ihm erzählt Christine Salem ihre Version der Herkunftsgeschichte der Maloyainstrumente Roulèr und Kayamb: „Die Kayamb kommt ursprünglich … sie ist ein Instrument aus La Réunion, außer dass man sie auch in Afrika findet, man findet sie in Mauritius, man findet sie auf Rodrigues, man findet sie in Madagaskar. Aber unter verschiedenen Namen. […] Es ist in jedem Fall eine Frage des Geräuschs, das ist das Gleiche, aber die Herstellung ist nicht die Gleiche. Der Rhythmus und zur gleichen Zeit das Geräusch der Kayamb findet man in unterschiedlichen Instrumenten des Indischen Ozeans wieder! Aber das Geräusch wird trotzdem bleiben, zum Beispiel auf den Komoren wird sie auch mit Halmen hergestellt, aber die Kayamb wird ungefähr diese Größe haben (Sie zeigt die 70 Das Zitat stammt aus einem Gespräch zwischen Édouard Glissant und Jean-Claude Crespy, das im Rahmen des Internationalen Literaturfestivals am 07.09.2006 im Maison de France in Berlin stattfand.
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Größe mit den Händen). Sie haben auch ihre Art zu spielen, aber das Geräusch wird das Gleiche sein. Dasselbe gilt für den Roulèr! Die Sklaven wollten ein Instrument herstellen, das ungefähr dem entsprach, was sie vorher spielten, als sie in Afrika waren, in Madagaskar, also haben sie versucht etwas herzustellen, das dem ungefähr ähnelte. So waren Roulèr und Kayamb geboren.“ «Le Kayamb c’est d’origine … c’est l’instrument de La Réunion sauf qu’on va retrouver ça en Afrique, on va retrouver ça à Maurice, on va retrouver ça à Rodrigues, on va retrouver ça à Madagascar. Mais c’est sur plusieurs noms. […] C’est surtout en terme de bruit, ce sera le même mais la fabrication sera pas la même. Ce rythme et en même temps le bruit du Kayamb on le retrouve dans d’autres instruments dans l’Océan Indien! Mais le bruit il va rester quand même, par exemple aux Comores c’est aussi fabriqué avec des tiges mais le Kayamb sera de cette grandeur-là (Sie zeigt die Größe mit den Händen). Ils ont aussi leur façon de jouer mais le bruit c’est le même. C’est pareil pour le Roulèr! Les esclaves ont voulu fabriquer un petit peu un instrument comme ils jouaient avant quand ils étaient en Afrique, ou à Madagascar, donc ils ont essayé de fabriquer quelque chose qui ressemble quelque part. Donc est né le Roulèr et le Kayamb.» (Salem 05.09.03: 450–468. Zusatz von C.W.)
Die Kayamb ist für Christine Salem das Instrument, das die Geschichte ihrer Vorfahren deutlich macht, die in der Sklaverei, im Verlust ihrer selbst versuchten, das was sie verloren hatten, zurückzugewinnen. Die Musikinstrumente gehörten dazu. Sie konnten sie jedoch nicht auf gleiche Weise reproduzieren. Der Klang ist der Gleiche, aber die Form und auch die Art des Spiels sind andere. Das Einzigartige der réunionesischen Musikkultur beschreibt Salem als etwas, das ähnlich aber niemals gleich dem ist was andereswo gespielt wird. In der Musik ist etwas Neues entstanden und damit der „Triple Loss“ aufgehoben. Der Maloya gibt Salem die Autorität, in ihren Liedern réunionesische Geschichte hörbar zu machen und gleichzeitig im Bezug auf Klänge und Rhythmen anderer Regionen eine Verortung dieser Geschichte im Indischen Ozean zu konstruieren: Eine Verortung im Bewusstsein der Grausamkeit der „slave condition“, doch jenseits der Dichotomie Métropole/Périphérie. Auf den Spuren der Ursprünge ihrer Identitäten und deren Inszenierung in Musik bewegen Musiker sich zwischen unterschiedlichen Rezeptionsebenen: Vor einem Publikum, im Austausch mit anderen Kulturschaffenden oder in Gesprächen mit Familienangehörigen und Freunden. So unterschiedlich die Rezipienten sind, so anders erzählen sie ihre Geschichten. Davy Sicard betonte im Verlauf unserer Gespräche zum Beispiel, dass er sich mir gegenüber anders verhalte, als in der Interaktion mit Zuhörern bei seinen Konzerten: „Es stimmt, der Réunionese kommt eher, um zu tanzen! Aber er wird das nur machen wenn er sich wirklich sicher fühlt. Sonst schaut er zu. Sicher, wenn es um meine Musik geht, schaut er zu, weil er nicht gewöhnt ist, das zu hören. Das réunionesische
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Publikum ist nicht viel anders als jedes andere Publikum, das man haben kann. Wenn du einen Youssou N’Dour, einen James Brown spielen lässt, werden alle tanzen, weil alle Youssou N’Dour und James Brown kennen, aber nicht viele kennen Davy Sicard. Also wird man zunächst entdecken und wenn man entdeckt, hört man zu. […] Und wenn ich trotzdem Leute in die Hände klatschen sehe, wenn es mir gelingt, ob sie nun réunionesisch, deutsch, schweizerisch, belgisch sind, dass sie sehr einfache Texte auf Kreol singen, in dem Moment habe ich gewonnen! Denn das Wichtigste mit einem Publikum ist, sich austauschen zu können. Man hört zu, denn man muss verstehen können. Man will wissen, was der andere zu sagen hat. Stille ist kein Problem für mich. Wichtig ist wirklich die Emotion, die darin steckt, und das erlebt jeder anders. Wenn ich so auf deine Frage antworte, dann weil meine Musik ebenso fremd für ein Berliner Publikum wie für ein réunionesisches Publikum ist, denn man versteht nicht immer was ich sage, weil ich die Wörter auf eine andere Art verdrehe, deshalb ist man nicht gewohnt das Kreol auf diese Art zu hören. Manchmal hat man den Eindruck, ich spreche Englisch, ein anderes Mal, ich spreche afrikanisch, aber nein, es ist Kreol. Ich lasse es nur anders klingen, das ist alles. Ich benutze einen besonderen Akzent und noch mal, es liegt daran, dass ich die Wörter sehr schnell hintereinander ausspreche, das ist alles.“ «Ici c’est vrai que le Réunionnais il aura tendance à venir danser! Mais il va le faire lorsqu’il va vraiment se sentir en confiance. Sinon il va observer. Surtout concernant la musique que je fais il va observer, parce qu’il a pas l’habitude d’entendre ça. Le public réunionnais n’est pas si différent des autres publics qu’il pourrait y a-voir. Tu fais jouer un Youssou N’Dour, un James Brown, tout le monde va danser dessus parce que tout le monde connaît Youssou N’Dour, tout le monde connaît James Brown mais pas grand monde connaît Davy Sicard. Donc on va découvrir d’abord et quand on découvre on écoute. […] Et si malgré tout je vois des gens taper des mains, j’arrive à faire chanter qu’il soient réunionnais, ou allemands, ou suisses, ou belges, les paroles créoles très simples, j’aurai gagné à ce moment-là! Parce que le principal avec un public c’est de pouvoir échanger. Ce n’est pas parce qu’on écoute quelqu’un qu’on est indifférent. On écoute parce qu’on a besoin de comprendre. On veut savoir ce que veut dire l’autre personne. Le silence n’est pas une gêne pour moi. Ce qui importe c’est vraiment l’émotion qu’il y a dedans et ça chacun le vit à sa façon. Si je réponds à ta question comme ça c’est parce que ma musique est aussi bien étrangère pour un public Berlinois que pour un public réunionnais, parce qu’on ne comprend pas toujours ce que je dis, parce que je tourne les mots d’une autre manière et donc on a pas l’habitude d’entendre du créole comme ça. Des fois on a l’impression que je parle anglais, des fois on a l’impression que je parle africain, mais non, c’est du créole. Je le fais sonner différemment c’est tout. Je mets un accent particulier et encore c’est parce que j’enchaîne des mots c’est tout.» (Sicard 02.09.03: 601–635)
Sicard erklärt, dass er sich Zeit nehmen und seinem Publikum Zeit geben muss, seine Musik zu verstehen. Er hat eine eigene Art des Singens und der Aussprache kreol-réunionesischer Wörter entwickelt, die manchmal für Verwirrung sorgt. Demnach kennt er für seine Musik kein „heimisches“ Publikum. Er hat ei-
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nen individuellen Stil, der weder Menschen auf La Réunion, noch in Berlin oder anderswo sofort vertraut ist. Sein Publikum muss sich an seine Musik gewöhnen und zuhören, weshalb Stille, Passivität statt aktives Tanzen und Mitsingen, für ihn kein Grund ist sich bei einem Auftritt unwohl zu fühlen. Im Austausch zwischen ihm und seinen Zuhörern möchte er ein musikalisches Feld entstehen lassen. Wie er sagt, verwendet er „Verkettungen“ kreol-réunionesischer Ausdrücke. Er fügt Wörter zusammen, konstruiert Parallelen zwischen dem Ort an dem er spielt und dem von dem er kommt, und verändert den Klang des KréolRéunionnais, dass selbst das Publikum in der Heimat seine Sprache nicht versteht. Wenn diese Verkettungen im Zusammenspiel mit der Musik funktionieren, singen seine Zuhörer mit, „les paroles créoles très simples“. Diese Erfahrung hat Sicard sowohl auf La Réunion als auch in überregionalen Kontexten gemacht. Es ist ihm egal, an welchen Orten es dazu kommt, dass sein Publikum auf diese Weise ein Verständnis für seine Musik ausdrückt. Wo dies geschieht, ist Sicard für den Moment zu Hause. Hier bringt er seine Identität als réunionesische Musik zum Klingen und sie wird auch als solche gehört. Sicard ist dann ein anerkannter Künstler und dementsprechend von sich und seiner Musik überzeugt. Allerdings muss ihm für solche Inszenierungen auch ein Raum gegeben werden. Nathalie Natiembé kritisiert in diesem Zusammenhang, dass es für sie auf La Réunion schwer sei, sich als Künstlerin zu etablieren und als Kulturschaffende das Gefühl zu haben ihre Gemeinschaft lege Wert auf ihr Engagement: „Wenn du die Organisatoren siehst, die dich für einen Auftritt anrufen, die sich darüber amüsieren, dass sie dir 150 Euro Gage geben sollen, dann gibt es ein Problem, ein großes Problem. Es ist bereits schwierig wenn du auf einer kleinen Insel bist, das Publikum ist eingeschränkt. Aber glücklicherweise erhält man Anerkennung für seine Arbeit von den Leuten, denen bewusst ist, dass man etwas kreiert, dass man eine Arbeit erschafft. Glücklicherweise gibt es diese Leute. (C.W.: Diese Anerkennung kommt von außerhalb?) Sie kommt von außerhalb und seitdem es eine gewisse Anzahl von Leuten auf La Réunion gibt, denen bewusst ist, dass hier wirkliche Künstler arbeiten … Glücklicherweise hat man sie auf La Réunion, glücklicherweise.“ «Quand tu vois des organisateurs qui t’appellent pour faire des spectacles, qui raîllent pour te donner 150 Euro pour ton cachet, il y a un problème, un grave problème. C’est déjà difficile quand tu es sur une petite île, le public est limité. Mais heureusement qu’on a un reconnaissance de travail avec des gens qui sont conscients qu’on fait la création, qu’on crée un travail. Heureusement qu’on a des gens comme ça. (Pause) (C.W.: La reconnaissance ça viens d’ailleurs?) Ça viens de l’extérieur et depuis (il y a) un certain nombre des personnes à La Réunion qui sont conscient qu’il y a de réels artistes qui travaillent … Heureusement, qu’à La Réunion il y en a, heureusement.» (Natiembé 24.09.03: 278–296)
Musik ist für Natiembé in zweierlei Hinsicht mit Kreation verbunden. Sie erschafft sie in einem kreativen Prozess und sich selbst damit eine Existenzgrundlage. Diese basiert ebenso wie bei Sicard auf Anerkennung. Sie braucht Fürspre-
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cher „qui sont conscient“, die wissen, dass es auf La Réunion Kulturschaffende gibt, die auf einen künstlerischen Anspruch ihres Publikums vertrauen und erwarten, dass sie ihr Publikum für das Capital Culturel, das sie anbieten, auch entsprechend belohnt. Als Musikerin der Next Generation ist es wie gesehen für Natiembé zudem notwendig, ihre Zukunft auch auf die Anforderungen eines überregionalen Musikmarktes auszurichten. La Réunion ist zu klein um ihr einen Lebensunterhalt zu garantieren. „Glücklicherweise“, wie sie sagt, hat sie Fürsprecher, die sie unterstützen und ihr Wege aufzeigen, sie etwa zur Mitarbeit an Projekten einladen. Die Arbeit an einigen dieser Projekte führte Natiembé an Orte zurück, die wiederum mit ihrer Familiengeschichte verbunden sind: „Als Karl Kugel (réunionesischer Fotograf) das erste Mal diese Ausstellung in Afrika, in Mosambik, veranstaltete, rief er mich an. Er sagte mir: ‚Hör zu Nathalie, du packst deine Sachen, du reist nach Mosambik. Ich hab dein Ticket, du kommst, weil wir dich brauchen.‘ Und als ich in Mosambik angekommen war, wusste ich, dass meine Vorfahren aus diesem Land kamen. Dort traf ich Menschen mit den gleichen Namen wie ich. Fuh … Ich habe noch immer Gänsehaut. Damit hatte ich mein Herz an dieses Land verloren. Hinterher sagte ich: ‚Karl, es ist hier, ich bin angekommen.‘ Er sagte mir: ‚Aber ich weiß genau, dass du hier lebst. Du bist Mosambikerin, du bist Prinzessin dieses Dorfes.‘ Er hat mir solche Sachen erzählt und tatsächlich gibt es ein Dorf, das ‚Katiembé‘ heißt. (Pause) Und all jene Leute, die Namen haben, die auf ‚tiembé‘ ‚Nakmaziembé‘, ‚Natiembé‘ enden, kommen aus diesem Dorf.“ «La première fois que (Karl Kugel) a fait cet exposition en Afrique, au Mozambique, il m’a appelée. Il ma dit: ‹Écoute Nathalie tu fais tes bagages, tu viens au Mozambique. Moi j’ai pris ton billet, tu arrives, parce qu’on besoin de toi.› Et quand je suis arrivée au Mozambique c’est là que j’ai su que mes ancêtres arrivaient de cette terre. C’est la que j’ai retrouvé des gens avec les mêmes noms que moi. Fuuuhh … Moi j’ai encore les frisons. Ça c’était le coup de cœur pour ce pays-là. Après j’ai dit: ‹Karl, c’est ici, j’arrive.› Il m’a dit: ‹Mais je sais bien c’est ici tu habites. Tu es mozambicaine, tu es princesse de ce village.› Il m’a raconté des choses comme ça et effectivement il y a un village qui s’appelle ‹Katiembé›. (Pause) Et tous les gens qui ont des noms qui se termine en ‹tiembé›, ‹Nakmaziembé›, ‹Natiembé› viennent de ce village-là.» (Natiembé 24.09.03: 670–683. Zusatz von C.W.)
Die Musikerin beschreibt nicht nur, wie sie ihre Familientradition mittels des Maloya in eine kreol-réunionesische Geschichtsschreibung integriert. Nicht allein die Geschichten des Vaters werden von ihr nacherzählt. Sie entdeckt durch die Musik auch neue Geschichten. Ihr Fürsprecher, der Fotograf, bringt Natiembé an einen Ort zurück, den sie als die Heimat ihrer Vorfahren identifiziert. Dieses Erlebnis ist für ihre Identitätskonstruktion von fundamentaler Bedeutung. Jenseits der geografischen Grenzen La Réunions gibt es für sie vieles (wieder) zu entdecken, das mit ihrer Familiengeschichte, ihrer Musik und ihrer kreolischen Heimat La Réunion verbunden ist.
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Natiembé erzählte von Begegnungen mit Namen, Orten und Menschen in Mosambik, die zu Teilen ihrer Vergangenheit geworden sind. Diese Verortung ihrer Identität durch Musik durchläuft drei Stufen: (1) Wahrnehmung des Anderen. (2) Interaktion mit dem Anderen. (3) Selbstdarstellung mit Elementen des Anderen. Auf diese Art entwickeln die Musiker ihre Geschichten über sich und La Réunion. Diese Geschichten werden von ihnen nicht allein aus dem gemacht, was von Vorgängergenerationen an sie weitergegeben wurde. Sie sind selbst aktiv an der Geschichtsschreibung beteiligt. Nathalie Natiembé lernte auf ihrer Reise nach Mosambik etwas über ihre Familiengeschichte. Sie erkannte einen Zusammenhang zwischen sich und den Menschen dort, den sie in die musikalische Inszenierung ihrer Identität einbauen konnte und somit die kreolische Geschichte La Réunions um ein weiteres Puzzlestück ergänzte. Sie beschrieb mir ihre Teilnahme am Maquwalé-Projekt Karl Kugels als tiefgreifende Erfahrung, die ihr bisher unbekannte Verbindungen mit Afrika aufzeigte.71 Dabei eröffnete sich ihr ein persönlicher Zugang in die kreol-réunionesische Vergangenheit, zu weiteren Ursprüngen. Die Kritik Davy Sicards an Hip-Hop-Outfits und réunionesischen Imitationen eines Rap Parigot bekommt hier eine andere Bedeutung. Sowohl er als auch Natiembé sind in ein musikkulturelles Umfeld hineingeboren worden, in dem noch niemand an Kulturprojekte mit Mosambik gedacht hatte. Denn vor 1981 wurde die Möglichkeit sich mittels einer réunionesischen Musiktradition kulturpolitisch zu äußern, Erfahrungen zu sammeln und mit anderen Regionen auszutauschen, von der Musik nationaler Radiosender, dem Variété Française, noch buchstäblich übertönt. Natiembé und Sicard sind deshalb beide weiter auf der musikalischen Suche nach ihrer Vergangenheit. Die nunmehr durch Projekte wie Maquwalé gewonnene Freiheit gibt ihnen die Möglichkeit, eine weitere Art der Wertschätzung ihrer Musik zu erfahren. Sie können selbst erleben, dass es lohnenswert ist, bestimmte Traditionen zu bewahren, denn auf Reisen finden sie Orte, an denen sie selbst zwar noch nie waren, ihre Traditionen jedoch schon. Ein weiterer Grund für die Kritik musikkultureller Akteure am Einfluss gegenwärtiger Popmusik ist demnach nicht nur, dass Musikstile des Nordens die réunionesische Kultur überschreiben, sondern Jugendliche sich damit die Möglichkeit versperren, mittels der lokalen Musik mehr über ihre Vergangenheit zu erfahren und die Vielheit kreol-réunionesischer Kultur, den Reichtum einer culture composite zu erkennen. Die kreolische Musikkultur La Réunion gründete 71 Ein Artikel der Zeitung Le Témoignages mit näheren Informationen über die Teilnahme Nathalie Natiembés und auch Danyèl Waros am Festival Do Baluarte im Juni 2004 in Mosambik ist zugänglich unter der URL: http://www.temoignages.re/article.php3?id_article=5628 (Datum des letzten Besuchs: 02.11.08).
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sich im Moment, an dem ihre Wurzeln verloren waren. Ihre Akteure können sich deshalb nicht allein in die Zukunft bewegen, um Veränderung zu provozieren. Ihr Weg führt sie ebenso in die Vergangenheit. Wie sich im vorangegangenen Beispiel zeigt, gibt es dort eine Vielzahl an Möglichkeiten, ihre Musiktradition weiterzuentwickeln und in die Inszenierung ihrer Identität und Kultur Verweise auf andere Regionen einzubauen oder zumindest für sich selbst ein Stück Familiengeschichte wiederzufinden. Ob sie dabei tatsächlich Ursprünge wiederfinden oder nicht spielt keine Rolle. Entscheidend ist die Musik, die ihnen die Möglichkeit bietet, das Andere zum Teil ihrer Identität und Kultur zu machen. Die Kritik der Next Generation an Hip-Hop und Rap Parigot ist deshalb berechtigt, und sie ist es nicht. Dieses Gleichzeitige von richtig und falsch, von Ziel und dem „Darüberhinausschießen“, ist der letzte noch zu besprechende Aspekt der Kreolisierung. Den Musikern der Next Generation ist vorzuwerfen, dass sie sich in ihrer Kritik gegen den Entstehungsprozess einer anderen World Music wenden. Nathalie Natiembé entdeckte ihren Bezug zu Mosambik. Davy Sicard veränderte seine Sprache, das Kréol-Réunionnais. Eine andere World Music entwickelte sich allerdings im Zusammenspiel von Gauliris mit réunionesischen HipHoppern oder seiner Arbeit mit Reggaekünstlern aus Jamaika. Dabei werden Stilmittel des Anderen aufgegriffen, um etwas Eigenes darzustellen, Stilmittel, die für Sicard nichts bedeuten, sondern die réunionesische Musiktradition, wie er sie inszeniert, gefährden. Die gleiche Erfahrung machte Guillaume Legras, als er begann den wachsenden Erfolg des Maloya und das damit verbundene Verschwinden berühmter Ségamusiker mitzuerleben. Die Next Generation muss im überregionalen Feld der World Music glaubwürdig réunionesische Musiktradition verkörpern, um anders als die anderen Musiker zu sein und Aufmerksamkeit für sich und ihre Musik zu erzeugen. Ein Publikum, zu dessen Kriterien bei der Musikauswahl bestimmte Vorstellungen von fernen, exotischen Inseln, von Widerstand und Exotik gehören und somit eigene Vorstellungen über kreol-réunionesische Lebenswelt in der Musik wiederfinden möchte, kommt bei der Next Generation nur solange auf seine Kosten, wie diese diesem Anspruch auch genügen will. Aus der Vergangenheit schöpfen die Musiker hierfür das Material, mit dem sie sich und ihre Musik inszenieren. In der Zukunft, unter den Kriterien des World Music-Marktes, wird sich zeigen, welche dabei zusammengetragenen Puzzlestücke dauerhafte Bestandteile des Bildes kreol-réunionesischer Kultur sein werden, das ihre Musik hervorruft. Die Ziele der Musiker sind dabei alles andere als exotisch. Sie streben nach Anerkennung als Künstler, einem geregelten Lebensunterhalt für sich und ihre Familie und einer Wahrnehmbarkeit als Kulturschaffende aus einer einzigartigen Lebenswelt. Ein Ursprung réunionesischer Musiktradition lässt sich damit nicht rekonstruieren. Es gibt ihn nicht. In einem anderen Sinne bleibt er jedoch für immer erhalten. Denn wie die kreolische Kultur selbst, lebt die Kreativität réunionesischer Musiker von steter Veränderung. Im andauernden Prozess der Kreoli-
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sierung lösen sie Traditionen auf oder führen sie zusammen, eine Erfahrung, die bereits Generationen vor ihnen gemacht haben. Ihre besondere Anstrengung liegt darin, die Vorstellung einer solch radikalen Offenheit kreol-réunionesischer Kultur zuzulassen und sich gleichzeitig den Kriterien des internationalen Musikmarkts unterwerfen zu müssen. Dies tun sie bis zu einem gewissen Punkt, einem Moment des Umbruchs, wenn eine andere Generation hörbar wird und beginnt, die Warnungen, Geschichten und Traditionen ihrer Vorgänger weiterzuverarbeiten. Die Musik der Next Generation widerspricht deshalb nicht der Vorstellung einer anderen World Music, die in einer Mischung von Hip-Hop und Reggae mit Maloya und Séga entsteht. Sie existiert parallel zu ihr. Ohne sichtund hörbare Andersartigkeit können Musiker im World Music-Business allerdings nicht existieren. Thierry Gauliris mit Bastèr ist in der Lage, sich durch die außergewöhnliche Popularität seiner Band im Lokalen darüber ein Stück weit hinwegzusetzen. Jungen Hip-Hoppern auf La Réunion gelingt das nicht. Sie sollten die Warnungen der Next Generation berücksichtigen, wenn sie dauerhaft als Musiker aus La Réunion erfolgreich sein wollen. Dann allerdings werden auch sie zu Erfindern und Bewahrern einer kreol-réunionesischen Musiktradition, die es nicht gibt, bis die nächste Generation sie ablöst.
7.2
Der Anderen World Music
Wie also klingt eine World Music der Anderen, eine World Music, die kein abgeschlossenes Konzept voraussetzt, die im Werden bleibt und dabei bestimmten Regeln folgt. Der Gedanke an die Möglichkeit, dass es eine solche Musik gibt, war beim Schreiben dieses Buches mein ständiger Begleiter. Mittlerweile stelle ich sie mir als ein Konglomerat unterschiedlicher Orte vor, reeller und imaginierter. Aus ihnen wählen Musiker Referenzen, um damit auf kulturelle Ursprünge zu verweisen, mit denen sie sowohl sich als auch ihre Musik und ihre Heimat beschreiben. Die Musik ist das Medium, mit dem sie ein kulturelles Netz inszenieren, es aufrechterhalten und ordnen, das sich im Prozess des Musikmachens um sie herum entfaltet. Kulturschaffende spielen in diesem Netz aus Referenzen, Klängen und Geschichten mit ihren Identitäten. Gleichzeitig erarbeiten sie sich das Bild einer lokalen Kultur. Diese Art der World Music betreiben die Musiker La Réunions. Sie ist nicht allein Produkt des Genres World Music und damit mehr als ein zu 70 Prozent von westlichen Musikindustrien dominiertes Image eines musikalischen „global village“ (Mitchell 1996: 263). Denn sie ist ein offener Ort, eine Salle Verte, offen für Veränderung, vorangetrieben durch den kreativen Prozess des Musikmachens, in dem Familiengeschichten, Traditionen und Alltagserfahrungen wieder neu zusammengefügt werden. Obwohl die Musiker dabei nicht allein den Kriterien eines übergeordneten World Music-Marktes folgen, können sie sich und ihre Musik nicht uneingeschränkt entwickeln. Sie stehen unter dem
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Druck vielerlei Restriktionen, Ungleichheiten, verbunden mit einem fortwährenden Kampf um Anerkennung. Diesen Kampf führen Kulturschaffende La Réunions seit vielen Generationen und auf unterschiedlichen Ebenen. Aufgewachsen auf einer kreolischen Insel, in einem Feld kultureller Differenzen, im Prozess der Kreolisierung, haben sie gelernt, als Außenstehende auf ihre Insel zu schauen. Deshalb begreifen sie ihre Kultur nicht als etwas Abgeschlossenes. Stattdessen machen sie sich auf die Suche nach Ursprüngen, mit denen sie die musikalischen Inszenierungen ihrer Identität und Kultur immer wieder verändern. Die gewaltvolle Vergangenheit La Réunions hat Menschen gezwungen neue Wege der kulturellen Verortung und Identitätskonstruktion zu finden. Sie hat die Musik der Insel zu einem zentralen Artikulationsinstrument dieser Verortungen werden lassen und Musikern den Status bedeutender kulturpolitischer Akteure verliehen, von Vermittlern und Bewahrern kreol-réunionesischer Traditionen. Die kreol-réunionesische Gemeinschaft hat Musiker darin geschult, sich mit der kulturellen Komplexität ihrer Heimat auseinanderzusetzen, einer Kultur ohne festen Ursprung, unter dem steten Druck einer kontinental-französischen Assimilationspolitik. Ihr musikalischer Widerstand gegen die neokoloniale Vorherrschaft Frankreichs ist unter dem World Music-Label zu einem Capital Culturel geworden, dessen Wert „die wirkliche (sic!) Natur des Unterschieds von Zentrum und Peripherie umstritten macht“ (Chambers 1995. Zusatz von C.W.). Im Genre World Music geht es nicht um die Darstellung einer Wirklichkeit, denn die Ursprünge einer kreol-réunionesischen Musikkultur bleiben in ihrer Gesamtheit unauffindbar. Doch die Suche nach ihnen kommt den Musikern darin zugute. Denn die „exotische“ Geschichte ihrer Insel, ihrer kreolischen Kultur und Musik bringt ihnen internationalen Erfolg. Die damit verbundenen Anforderungen an réunionesische Musiker nehmen zu, denn auch die Ungleichkeitskategorien vermehren sich. Das Genre World Music ergänzt diese etwa um Kategorieren wie Andersartigkeit, Exotik oder Authentizität. Auf einem kreolischen DOM-TOM im Indischen Ozean aufgewachsen zu sein reicht als erfolgversprechende Referenz hierbei nicht mehr aus. Akteure müssen ihren Grad der Besonderheit zunehmend steigern. Dafür bedienen sie sich unter anderem der Verweise auf andere Regionen jenseits La Réunions mittels Geschichten, Personen und imaginierter Lebenswelten ihrer Vorfahren und Vorgänger. Was sie dabei auf ihren musikalischen Reisen entdecken, beeinflusst zum einen die Emotionen ihrer Zuhörer und zum anderen die Geschichtsschreibung La Réunions. Musiker finden auf diesen Wegen neue Referenzen zur Inszenierung kreol-réunionesischer Kultur. Letztere eignet sich besonders für solche Manipulationen, weil die Kultur La Réunions aus der Kreolisierung hervorging. Das Besondere ist, dass der damit verbundene Reichtum an kulturellen Referenzen musikalisch so vermarktet wird, als habe er zu einer Einheit geführt. Deshalb spielen Musiker von La Réunion eine World Music, mit der sie ihre Wahrnehmung lokaler Kultur nicht allein durch Verweise auf Unterschiede zwischen ihnen und anderen, zwischen La Réunion und Kontinental-
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Frankreich, zwischen Séga und Maloya, zwischen Kréol Blanc und Kréol Noir, Mélange oder Métissage erklären. Nicht Dualismen, sondern deren musikalische Vermischung sind für sie entscheidend. Dabei richten sie ihren Blick sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft, etwa in einen Maloya, der vom Wiederentdecken vergangener Traditionen erzählen kann und zur selben Zeit durch Hip-Hop, Reggae oder Zouk auf zukünftige Veränderungen aufmerksam macht. In beiden Fällen werden Kreolisierungsprozesse fortgesetzt und eine besondere Musik produziert, eine Musique Composite. Diese Musik macht Vielheit hörbar, auch wenn viele sie kritisieren, weil sie angeblich bestimmte Traditionen vernachlässigt oder sich nicht vermarkten lässt, da sie nicht dem Bild von Exotik entspricht, das sich ein World Music-Publikum wünscht. Sie zeigt allerdings, dass nicht das Rückbesinnen auf ein oder zwei Orte, sondern die Auseinandersetzung mit Differenzen in einer Vielheit von Orten Veränderung in der kreolréunionesischen Musiklandschaft bewirkt. Hierbei wird deutlich, dass Musik wie kein anderes Medium Inszenierungen des Lokalen in globalen Kontexten bedeutungsvoll werden lässt. Durch Musik artikulieren Kulturschaffende La Réunions Konflikte um Dominanz und Marginalisierung ihrer Insel. Sie grenzen sich ab und schaffen Gemeinschaften, die über das Hinterfragen von Unterschieden zwischen Zentrum und Peripherie hinausgehen. Mittels ihres Mediums Musik ist ihnen vieles möglich: Identität und Kultur werden homogenisiert, exotisiert, in Dichotomien artikuliert, performt, improvisiert, inszeniert und vermischt. Vor allem aber wird mit ihnen gespielt. Kulturelle Referenzen werden aus ihren Verankerungen gelöst und für unterschiedliche Zusammenhänge verfügbar: Ein Puzzlespiel, bei dem Teilnehmende das musikalische Bild La Réunions immer wieder neu zusammenfügen. Zum Abschluss kehre ich zurück zu meinen Erlebnissen am 20 Désamn bei Danyèl Waro. Die kreol-réunionesische Gemeinschaft, die ich dort antraf, die er in seinem gleichnamigen Lied mit dem Wort Batarsité betitelte und alljährlich am 20 Désamn feiert, hat im World Music-Kontext ihre „power of the margins“ (Haraway 1991: 176) genutzt. Die „Bastard Race“ (ibid.) ist Teil einer World MusicGemeinschaft geworden. Deren besonderes Merkmal ist, dass es in ihr keine „margins“, keine Ränder, mehr gibt. Denn je lauter Musiker wie Waro sich in einer Randposition inszenieren, desto weiter rücken sie ins Zentrum des Interesses. Viele Akteure La Réunions vermarkten deshalb ihre Musik mit dem Anspruch, die Besonderheit réunionesischer Gemeinschaft beschreiben zu können, als Culture Metissé, aus einer politischen Perspektive wie jener der PCR oder mit besonderer Unterstützung der Akteure des Pôle Régional des Musiques Actuelles. Bedeutungsvoll ist kreol-réunionesische Musikkultur heute jedoch nicht mehr durch ihre Anbindung an bestimmte Konzepte oder politische Bewegungen, sondern die hörbare Spekulation über ihre Existenz. Musik bleibt ein zentrales Medium zur Darstellung kreol-réunionesischer Kultur, weil sie sich mit jedem Hören verändern kann, ebenso wie die kulturellen
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Wurzeln von Menschen, die in der Kreolisierung leben, etwa auf La Réunion. Musik bietet ihnen deshalb die Möglichkeit, trotzdem eine eigene Kultur und Identität zu inszenieren. Solche Inszenierungen finden einerseits unter Rahmenbedingungen statt, die von kulturpolitischen Institutionen vorgegeben werden. Andererseits sind sie Zeugnis kreativer Strategien, mit denen Musiker sich in immer neuen kulturellen Kontexten verorten oder diesen Kontexten eine Bedeutung verleihen. In den Momenten, in denen diese Soundscapes hörbar werden, erhält die Identität einzelner Akteure eine Festigkeit und Struktur, eine kurzfristige Ordnung, die sich anschließend wieder auflöst – in einem darauffolgenden Klang, einer erweiterten Improvisation oder einer Geschichte, die von jemand anderem weitererzählt wird. Réunionesische Musiker verorten sich somit zwar bewusst auf La Réunion, doch sie leben im Zwischen: Zwischen den Momenten ihrer Inszenierungen einer lokalen Kultur. In dieser Zwischenzeit diskutieren sie über die Besonderheiten einer Kréolisation-Réunionnaise und damit verbundene Verstrickungen, Restriktionen und Reglementierungen. In vielfältigen musikalischen Inszenierungen ihrer Diskussionsergebnisse schaffen sie jedoch keine Einheit. Musiker auf La Réunion sind ebenso wenig „in Vielfalt geeint“, in varietate concordia, wie andere Menschen in Europa. Ihre Musik bleibt stattdessen eine Momentaufnahme kreol-réunionesische Kultur in „ewiger Wiederkehr […], in dem das Existierende sich als Vorübergehendes bejaht, ohne Ankommen, ohne Befriedigung, ohne Schlussakkord (sic!), ob trauernd oder triumphal“ (Nancy 2000. Zusatz von C.W.). Die hier wiedergegebenen Geschichten über Séga, Maloya, KréolRéunionnais, Musique Traditionnelle, afrikanische Wurzeln, indische Kulte und kontinental-französische Guaven wurden mir von Musikern erzählt, die der Wunsch verbindet, La Réunion als ihre musikalische Heimat darstellen zu wollen. Sie verbindet auch ihr Medium und der damit von ihnen inszenierte Ort, die Insel La Réunion mit ihrer besonderen Art der Kreolisierung, der KréolisationRéunionnaise. Keine musikalische Inszenierung kreol-réunionesischer Identität und Kultur lässt sich zur Herstellung eines Gesamteindrucks, zur endgültigen Repräsentation einer réunionesischen Gemeinschaft benutzen. Aber die Gemeinschaft existiert: Im kollektiven und individuell gefärbten Bemühen der Musiker, sie zu finden und ein Teil von ihr zu sein. Sie beschreiben ihre Kultur als einmal dagewesen, als ein erstrebenswertes Ziel, als eine Referenz für Vergangenes und Zukünftiges. Kreol-réunionesische Musiktradition aber existiert vor allem in der Gegenwart, in der sie, höchstwahrscheinlich gerade jetzt, irgendwo bei einem Konzert zu hören ist.72 72 Kurz vor Drucklegung dieses Buches, am 01. Oktober 2009, wurde die Aufnahme des Maloya in die Weltkulturerbe-Liste der UNESCO bekannt gegeben, als Teil der französischen Intangible Cultural Heritage. Nähere Informationen sind zugänglich unter der URL: http://www.unesco.org/culture/ich/index.php?RL=00249 (Datum des letzten Besuchs: 12.10.2009).
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Glossar Analyse
Eine auf La Réunion erfolgreiche Musikgruppe des Séga Variété. Ihre Musik ist eine Mischung aus kontinental-französischem Schlager, SégaRhythmen und -Gesang in einem Kréol-Réunionnais „francisé“.
Barachois
Strandpromenade in St. Denis.
Bassin Plat
Siedlung in den Zuckerrohrfeldern nördlich von St. Pierres.
Bastèr
Eine der erfolgreichsten Bands der Insel, 1983 hervorgegangen aus der Assoziation Mouvmon Kiltirel de Bastèr (MKBT), die im Ortsteil Basse-Terre der Stadt St. Pierre gegründet wurde. Nähere Informationen sind zugänglich unter der URL: http://www.baster.re (Datum des letzten Besuchs: 25.04.08).
Batarsité
Begriff Danyèl Waros, mit dem er in einem gleichnamigen Lied die Herkunft seiner „Nation“ La Réunion beschreibt.
Bato Fou (1)
„Das verirrte Schiff“, als das Axel Gauvin La Réunion in einem Gedicht beschreibt, dessen Text, von Ziskakan vertont, zu einer Hymne für die Bewegung der Militants Culturels geworden ist.
Bato Fou (2)
Konzerthalle in St. Pierre.
Beau Vallon
Siedlung in den Zuckerrohrfeldern westlich von St. Benoits.
Bidonville
Französischer Ausdruck für Wellblechsiedlungen oder Slums, mit dem auf La Réunion wild gewachsene, eingeschössige Wohnsiedlungen ohne Kanalisation beschrieben werden.
Bobre
Auf La Réunion, anderen Inseln im Indischen Ozean und in Teilen Afrikas verbreitetes Instrument in
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Glossar
Form eines Bogens, der über einem Kalebasse (Flaschenkürbis) als Resonanzkörper gespannt wird. Caroussel
Eine in den 1970er und Anfang der 1980er Jahren auf La Réunion aktive Fusion-Band, die Elemente aus Jazz, Rock, Séga und Maloya in ihrer Musik verbunden hat.
Château Morange
Ein Jugendzentrum und Veranstaltungsort im Norden St. Denis, in dem Anfang der 1980er Jahre das erste überregional bekannte, réunionesische Musikfestival stattfand. Nähere Informationen sind zugänglich unter der URL: http://www.chanson.ca/action/rythmes/R23/23festiv al.html (Datum des letzten Besuchs: 25.04.08).
Chinoi
Kreol-réunionesischer Ausdruck für Réunionesen südost-asiatischer Herkunft.
Cirque de Mafate
Nur zu Fuß oder mit dem Helikopter zu erreichender, seit der Marronage besiedelter Felskessel im Norden der Insel.
CNR
Conservatoire National de Région (staatlich geförderte Schule für Musik, Theater, Tanz und Kunst).
DRAC
Direction Régionale des Affaires Culturelles (Regionale Kulturbehörde).
Dimitile / Entre-Deux
Siedlungen im Nordwesten St. Pierres, die zur Zeit der Marronage gegründet wurden. Entre-Deux trägt seinen Namen durch die besondere Lage des Dorfes auf einem Plateau zwischen Felsschluchten.
DOM-TOM
Département Outre-Mer/ Territoire Outre-Mer.
El Diablo
Raggaloya-Formation La Réunions, die Maloya Percussions mit einem typisch kehligen Ragga-Gesang verbindet.
Fête de la Musique
Von Jacques Lang initiierte Veranstaltung zur Förderung von Amateurmusik und -musikern in Frankreich. Sie findet mittlerweile auch in anderen Län-
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Glossar
dern jährlich am 21. Juli statt. Nähere Informationen sind zugänglich unter der URL: http://fetedelamusique.culture.fr (Datum des letzten Besuchs: 15.05.08). Fêtes de Témoignages
In den späten 1950er und 1960er Jahren in Le Port stattfindende Veranstaltungen der Parti Communiste Réunionnais (PCR), organisiert als politische Zusammenkünfte verschiedener, über die Insel verstreuter Antennen der Partei, auf denen erstmals öffentlich Maloyamusik gespielt wurde.
Flamboyant
Im Dezember rotblühender Baum, der vor allem in trockenen Sandböden in Meeresnähe wächst.
FreeDOM
Réunionesischer Radiosender, der für seine stundenlangen Talksendungen bekannt ist, in denen Menschen sich zu unterschiedlichen Themen im Stil des La Di La Fé äußern.
Grand Anse
Strand an der Südküste La Réunions.
Grandmerkal
Charakter aus einer Mischung aus indischer und afrikanischer Tradition, der vor allem in Kindermärchen verwendet wird. Zum einen erinnert er an Kalla, eine Sklavin, die sich der Legende nach in den Tod stürzte, als sie erfuhr, dass ihr Geliebter auf der Flucht umgebracht wurde. Zum anderen bedeutet das Wort Kal im tamilischen Kontext sowohl „gestern“ als auch „heute“. Im Réunionesischen kreolisiert, verbinden sich diese Sinngebungen zum Ausspruch „Grand Mèr-Kal, quelle heur li lé?“, was nach der Stunde ihre/des Todes fragt.
Griot
Ausdruck für vor allem in Westafrika umherziehende Sänger und Geschichtenerzähler, die ähnlich der europäischen Minnesänger von einem Dorf zum anderen wandern und von wohlhabenden Familien in ihrem Lebensunterhalt unterstützt werden.
Gros Blancs
Kreol-réunionesische Bezeichnung für kontinentalfranzösische Großgrundbesitzer zur Zeit des Kolonialismus.
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Glossar
Groupe Folklorique
Eine der Musique Folklorique verschriebene Gruppe von Musikern und Tänzern, die seit mehr als einem halben Jahrhundert unter der Leitung von Bernadette Ladauge Ségamusik spielt. Ein Großteil ihrer Mitglieder sind direkte Nachfahren bekannter Ségatiés.
IRMA
Abkürzung für den Centre d’Information et de Ressources pour les Musiques Actuelles in Paris. Weitere Informationen sind zugänglich unter der URL: http://www.irma.asso.fr (Datum des letzten Besuchs: 23.05.08).
Kabar
Vom Begriff Servis Kabaré abgeleiteter, kreolréunionesischer Ausdruck für Konzerte und andere Musikveranstaltungen.
Kafre / Kafrine / Kaf’
Kreol-réunionesischer Ausdruck für Réunionesen afrikanischer Herkunft, deren Familiengeschichte auf die Zeit der Sklaverei zurückgeht.
Kayamb
Auf La Réunion für den Maloya als traditionell geltendes Instrument bestehend aus aneinandergebundenen und einen Hohlraum formenden Zuckerrohrstangen: rechteckig, waschbrettgroß, flach und mit Kernen gefüllt.
Kriké-Kraké
Ein kreol-réunionesischer Ausruf von Geschichtenerzählern, der anfangs und manchmal auch während einer Erzählung wiederholt wird, um die Aufmerksamkeit der Zuhörenden zu erregen. Eine gleichnamige Assoziation unterstützt die Weiterentwicklung und Anerkennung des Kréol-Réunionnais. Nähere Informationen sind zugänglich unter der URL: http://monsite.wanadoo.fr/krike.krake/index.jhtml (Datum des letzten Besuchs: 24.05.09).
La Di La Fé
Kreol-réunionesischer Ausdruck für „Hörensagen“ oder „Tratschen“.
La Métropole
Die sowohl offizielle als auch umgangssprachliche Bezeichnung für Kontinental-Frankreich.
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Glossar
La Montagne
Vorort von St. Denis in den Hochlagen südwestlich der Stadt.
La Réunion Lé La?
(„Bist du da, La Réunion?“) Kreol-Réunionesischer Ausspruch, der oftmals während eines Auftritts von Musikern ihrem Publikum zugerufen wird.
Le Journal de l’Île
Konservative, réunionesische Tageszeitung. Nähere Informationen sind zugänglich unter der URL: http://www.clicanoo.com (Datum des letzten Besuchs: 24.05.08).
L’Endroit
Bar in St. Pierre.
Le Témoignages
Linksliberale réunionesische Tageszeitung, die der PCR nahe steht.
Malbar
Kreol-réunionesischer Ausdruck für Nachfahren der zumeist aus der Region Tamil Nadu nach La Réunion gebrachten engagés.
Maloggae
Réunionesischer Musikstil: Mischung aus Maloyaund Reggae-Elementen, vor allem Rhythmus und Gesang.
Maloya
Réunionesischer Musikstil, der zum einen mit der kultischen Zeremonie des Servis Kabaré, zum anderen mit dem Porté Plainte in Verbindung gebracht wird.
Marronage
Flucht von Sklaven von der Plantage. An ihre Zufluchtsorte und Niederlassungen erinnern bis heute viele Ortsnamen im Inselinnern.
MIDEM
Internationale Musikfachmesse. Nähere Informationen sind zugänglich unter der URL: www.midem.com (Datum des letzten Besuchs: 13.09.09).
Militants Culturels
Eine Generation von Musikern, die Ende der 1970er Jahre begannen, réunionesische Musik zu verwenden, um sich gegenüber einer kulturpolitischen
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Glossar
Vormachtstellung Kontinental-Frankreichs zu behaupten. Mme Desbassyns
Eine auf La Réunion besonders für ihre Grausamkeit mythologisierte Plantagenbesitzerin. Ihr koloniales Anwesen ist mittlerweile das Musée de Villèle, in dem an die Zeit der Sklaverei erinnert wird.
MLK
Mouvmon La Kour („Bewegung vom Vorhof“) HipHop-Assoziation und gleichnamige Gruppe von drei Rappern, die unter anderem Elemente des Maloya und Kréol-Réunionnais in ihren Songs verarbeiten.
Musée de Villèle
Ehemaliger Wohnsitz Mme Desbassyns. Nähere Informationen sind zugänglich unter der URL: http://www.randoreunion.com/pages/musee/villele.htm (Datum des letzten Besuchs: 15.10.08).
Orchestres de Bals
Musikgruppen mit unterschiedlichen Besetzungen (Schlagzeug, Bass, Gitarre, Akkordeon, Klavier, Trompete und/oder Saxofon, Gesang), die vor allem in den 1970er Jahren an Wochenenden vielerorts auf La Réunion Séga, Variété Française und andere Tanzmusik spielten, mit der Zeit jedoch von günstigeren Varianten, DJs und sprichwörtlicher „Musik aus der Konserve“, verdrängt wurden.
Oté
Kreol-réunionesischer Ausruf für „Hey!“, „Pass auf!“ oder „Hörzu!“.
Ousanousava
(„Wo-Auch-Immer-Wir-Hingehen“) Seit den 1980er Jahren populäre SégaMaloya-Band aus St. Louis, die vor allem für ihre kulturpolitischen Texte bekannt geworden ist.
PCR
Parti Communiste Réunionnais.
Petite Bourgeoisie
(„das Kleinbürgertum“) Auf La Réunion eine Gesellschaftsschicht innerhalb der Kréol Blanc, die in administrativen Tätigkeiten, in der regionalen Verwaltung, als Lehrende an Schulen oder in ähnlichen Ämtern beschäftigt waren und sind.
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Glossar
Pikèr
Ein Stück Bambous von etwa 50 Zentimeter Länge, auf das mit zwei Holzstäben geschlagen wird.
Piment
Scharfe Gewürzpaste aus kleingehakten, eingelegten roten oder grünen Chilischoten.
Piton des Neiges
Mit 3067 m der höchste Berg La Réunions (auf dem zur Zeit meiner Feldforschung im Sommer 2003 tatsächlich Schnee lag).
Plaine des Kafres
Hochebene zwischen Vulkan und Piton des Neiges.
PRMA
Pôle Régional des Musiques Actuelles.
Porté Plainte
(„Sich beschweren“, „Dinge von der Seele reden“) Wöchentliches Treffen von Maloyasängern verschiedener Orte, an denen sich mittels frei improvisierter Gesangseinlagen über die Vor- und Nachteile des Lebens ausgetauscht wurde.
Radio Pikan
Réunionesischer Radiosender, der im Süden aus der kleinen Siedlung Bassin Plat ausstrahlt. Von Danyèl Waro, Christian Fontaine und anderen Aktivisten Anfang der 1980er Jahre ins Leben gerufen, spielt er vor allem réunionesische Musik. Die Moderatoren sprechen ausschließlich Kréol-Réunionnais. Nähere Informationen sind zugänglich unter der URL: http://kreoler.free.fr (Datum des letzten Besuchs: 15.05.08).
Raggaloya
Réunionesischer Musikstil: Mischung aus Maloyaund Ragga-Elementen, vor allem Maloya-Rhythmen mit Gesangstechniken des Ragga.
Rivière des Roches
Fluss bei St. Benoit.
Rougail
Réunionesische Spezialität einer Art Gulasch mit unterschiedlichen Zutaten (Fisch, Schweine- oder Hühnerfleisch) auf Basis einer scharf gewürzten („pimenté“) Tomatensauce.
Roulèr
Zentrales Instrument des Maloya. Eine aus einem mit einer Rinderhaut bespannten Holzfass gebaute
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Glossar
Trommel, auf der Musiker sitzend mit den flachen Händen schlagen, wobei sie den Klang mit den Füßen, durch Aufdrücken der Hacke, variieren. Salem Tradition
1997 von Christine Salem gegründete Formation, in der sich Musiker auf eine Verbindung und Wiederentdeckung réunionesischer und afrikanischer Traditionen, Stile, Instrumente und Sprachen spezialisiert haben.
Séga
Ein unter dem gleichen oder ähnlichen Namen in vielen Teilen des Indischen Ozeans verbreiteter Musikstil und Tanz, der unterschiedlich aufgeführt und definiert wird. Auf La Réunion ist er vor allem als eine Mischung aus europäischen und afrikanischmadagassischen Stilelementen bekannt.
Séggae
Musikstil aus einer Mischung von Séga- und Reggae-Elementen, der vor allem durch den Sänger Kaya auf Mauritius geprägt und von dort auf La Réunion bekannt gemacht wurde.
Servis Kabaré
Die Zeremonie eines Ahnenkults wird alljährlich im Totenmonat November in einigen réunionesischen Familien begangen. Dabei ist es unverzichtbar, dass Maloyamusik von 18.00 Uhr abends bis 6.00 Uhr morgens ohne Unterbrechung gespielt wird.
St. Benoit
Größte Stadt an der Ostküste La Réunions.
St. Denis
Hauptstadt La Réunions an der Nordküste der Insel.
St. Louis
Stadt an der Südwestküste La Réunions.
St. Pierre
Zweitgrößte Stadt La Réunions an der Südküste der Insel.
Tangol
Schriftvariante des Kréol-Réunionnais, die von der gleichnamigen Assoziation unter der Schirmherrschaft von Axel Gauvin 2001 vorgeschlagen wurde.
Ti Blanc
Kreol-réunionesischer Ausdruck für die im Gegensatz zu den Gros Blanc armen, weißen Kleinbauern
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Glossar
und deren Nachfahren, die in den Hochebenen La Réunions zumeist ausschließlich für den eigenen Bedarf anbauten. Triangle
(Triang) Als charakteristisch geltendes Instrument des Séga und Maloya.
Trois Brasseurs
Bar in St. Pierre.
Variété Française
Bezeichnung für kontinental-französische Schlagermusik.
Zarab
Kreol-réunionesischer Ausdruck für die lokale Bevölkerungsgruppe muslimischer Herkunft.
Ziskakan
(„Bis wann?“) Eine Band, die aus der 1979 mit dem Ziel der „valorisation et propagation de la culture réunionnaise“ gegründeten, gleichnamigen Assoziation hervorging. Jüngere musikalische Entwicklung in Richtung experimentierfreudiger Stilvermischungen aus indischen und réunionesischen Elementen. Nähere Informationen sind zugänglich unter der URL: http://www.ziskakan.net (Datum des letzten Besuchs: 25.04.08).
Zoreil
Kreol-réunionesischer Ausdruck für auf La Réunion lebende Menschen und Touristen aus KontinentalFrankreich.
20 Désamn
(20. Dezember) Einziger allein réunionesischer Feiertag, an dem mit über die gesamte Insel verstreuten Festen und Konzerten der Abschaffung der Sklaverei im Jahre 1848 gedacht wird.
Personen Alain Courbis
Direktor und Mitinitiator des Pôle Régional des Musiques Actuelles (PRMA).
Alain Peters
1984 verstorbener, réunionesischer Liedermacher, der nach seinem Tod für seine poetischen, kreolréunionesischen Texte verehrt wird, zu Lebzeiten jedoch weitestgehend unbekannt blieb.
Thierry Gauliris
Sänger der Band Bastèr.
Axel Gauvin
Kreol-réunionesischer Schriftsteller, Sprachwissenschaftler und Gründer der Assoziation Tangol.
Françoise Guimbert
Séga- und Maloyasängerin aus St. Benoit.
Serge Hoareau
Gründer und Leiter der Assoziation Jazzami.
Luc Joly
Réunionesischer Jazz-Fusion Saxofonist. Ehemaliges Mitglied der Band Caroussel.
Karl Kugel
Réunionesischer Künstler und Fotograf.
René Lacaille
International bekannter, réunionesischer Sänger. Lebt in Paris. Ehemaliges Bandmitglied von Alain Peters. Nähere Informationen sind zugänglich unter der URL: http://www.renelacaille.com (Datum des letzten Besuchs: 02.11.08)
Bernadette Ladauge
Gründerin und Leiterin der Groupe Folklorique de La Réunion. Autorin mehrerer Bücher und Sammelbände zu réunionesischer Musik.
Guillaume Legras
Gitarrist, Studiomusiker und Solokünstler. Mitglied der Groupe Folklorique de La Réunion.
Granmoun Lélé
Stilprägender Maloyasänger aus St. Benoit (gestorben 2004).
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Personen
Henri Madoré
Wie Alain Peters zu Lebzeiten ein réunionesischer Straßenmusiker, der in seinen Liedern Geschichten aus dem réunionesischen Alltag verarbeitete.
Carpanin Marimoutou
Kreol-réunionesischer Schriftsteller. Literaturwissenschaftler an der Universität von La Réunion.
Nadège Nagès
Seit dessen Gründung Mitarbeiterin beim PRMA.
Nathalie Natiembé
Réunionesische Maloyasängerin.
Fanie Parcout
Mitarbeiterin beim PRMA und zur Zeit meiner Feldforschung Doktorandin in Musikwissenschaft an der Universität Nantes.
Gilbert Pounia
Sänger der réunionesischen Band Ziskakan.
Ginette Ramassamy
Réunionesische Sprach- und Literaturwissenschaftlerin.
Christine Salem
Réunionesische Maloyasängerin und Gründerin der Band Salem Tradition.
Davy Sicard
Réunionesischer Maloyasänger. Nähere Informationen sind zugänglich unter der URL: http://www.davysicard.com (Datum des letzten Besuchs: 05.09.09).
Ti Fock
Sänger, Gitarrist und Begründer des Maloya Electiq u e, einer Mischung aus Rock und MaloyaElementen.
Patrice Treuthardt
Kreol-réunionesischer Schriftsteller und kulturpolitischer Aktivist.
Firmin Viry
Réunionesischer, den Stil prägender Maloyamusiker.
Danyèl Waro
Réunionesischer Maloyamusiker, der, vor allem beeinflusst durch Firmin Viry und George Brassens, traditionellen Maloya mit politisch motivierten und poetischen Texten in Kréol-Réunionnais verbindet.
Abbildungen (1) (2) (3) (4) (5) (6) (7) (8) (9)
Satellitenaufnahme der Insel La Réunion. Blick ostwärts von der Auffahrt nach La Montagne über St. Denis. Roulèr-Spieler auf Danyèl Waros Feier zum 20 Désamn. Bataille Coq am 20 Désamn in St. Pierre. Cover der ersten Maloya-Platteneinspielung im Jahre 1976. Musiker der Tambour Malbar vor dem Stand des PRMA auf der WOMEX 2004. „Stammbaum“ réunionesischer Musiktradition von Bernadette Ladauge. Émilie (rechts) auf dem Titel des Journal de l’Île vom 14.11.2005. Hip-Hop-Event organisiert von MLK im Mai 2003 in St. Pierre.
CD Kréol Blouz (CD-Nummer) Interpret (Jahr) Titel. Album. Länge in Minuten. (1) (2) (3) (4) (5) (6) (7) (8) (9) (10) (11) (12) (13) (14) (15) (16) (17)
Alain Peters (2003) Rest’ là Maloya. Paraboler. 4:45. Analyse (2000) A Ma Mère. Désirs de Tendresse. 3:46. Axel Gauvin (2001) Bato Fou. Romanss Pou Détak La Lang. 1:30. Bastèr (1983) Oté Kreol. MKBT. 6:48. Bastèr (1983) Mon Liberté. MKBT. 3:51. Bastèr (2001) Redemption Song. Raskok. 4:33. Danyèl Waro (1987) Batarsité. Batarsité. 8:14. Davy Sicard (2003) Somin Volkan. Kèr Volkan. 4:42. Françoise Guimbert (2007) Granmoun Martin. Séga La Pente. 2:54. Guillaume Legras (2003) Mon Malbaraise. Séga Romance. 4:00. Kayanmbé (2003) Plantèr. World – PRMA. 2:52. MLK (feat. Thierry Gauliris) (2002) Mon Lanvi. Mon Lanvi. 3:51. Nathalie Natiembé (2001) Maloya Pil-Plate. Margoz. 3:41. Salem Tradition (2003) Waliwa. Krie. 4:21. Troupe René Viry (1976) La Cloche Mme Desbassyns. Peuple Du Maloya. 5:17. Troupe Résistance (1976) La Troupe Résistance Larivé. Peuple Du Maloya. 1:49. Ziskakan (1991) Bato Fou. Bato Fou. 6:06.