Trauer und Identität: Inszenierungen von Emotionen in der deutschen Literatur des Mittelalters 9783110920604, 9783110185706

The study provides a foundation for cultural anthropologists researching the representation of grief in German medieval

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German Pages 329 [332] Year 2006

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Trauer und Identität: Inszenierungen von Emotionen in der deutschen Literatur des Mittelalters
 9783110920604, 9783110185706

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Elke Koch Trauer und Identität

W G DE

Trends in Medieval Philology Edited by Ingrid Kasten · Nikiaus Largier Mireille Schnyder

Editorial Board Ingrid Bennewitz · John Greenfield · Christian Kiening Theo Kobusch · Peter von Moos · Uta Störmer-Caysa

Volume 8

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Elke Koch

Trauer und Identität Inszenierungen von Emotionen in der deutschen Literatur des Mittelalters

Walter de Gruyter · Berlin · New York

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISSN 1612-443X ISBN-13: 978-3-11-018570-6 ISBN-10: 3-11-018570-9 Bibliografische Information Der Deutschen

Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© Copyright 2006 by Walter de Gruyter G m b H & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co. G m b H & Co. KG, Göttingen

Vorwort Die vorliegende Arbeit entstand im Rahmen des Projekts „Emotionalität in der Literatur des Mittelalters" im Sonderforschungsbereich 447 Kulturen des Performahven. Sie wurde 2004 an der Freien Universität Berlin als Dissertation angenommen und für den Druck aktualisiert. Die Arbeit an diesem Buch über eine sogenannte .negative Emotion' war für mich mit vielen positiven Erfahrungen verbunden. Dies verdanke ich zum großen Teil den Menschen, die mich in dieser Zeit auf unterschiedliche Weise unterstützt, inspiriert und abgelenkt haben. Ich danke besonders Ingrid Kasten, die diese Arbeit durch ihr Engagement erst ermöglicht hat, für ihre Förderung und ihr Vertrauen. Die hilfreichen Hinweise und die kollegiale Unterstützung von Jutta Eming waren für das Entstehen der Arbeit von unschätzbarem Wert, ebenso die transdisziplinäre Offenheit und der gute Rat von Christiane Leidinger. Ihnen gilt mein herzlicher Dank. Werner Röcke danke ich sehr für seine Dialogbereitschaft und konstruktive Kritik, wie auch den Mitgliedern der Kommission, Kathryn Starkey, Doris Kolesch und Martin Baisch. Für anregende Kommentare und Diskussionen geht mein Dank besonders an Hans-Jürgen Bachorski (f), Judith Klinger, Heike Winkel, Anja Tervooren sowie an die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Forschungscolloquiums von Ingrid Kasten. Christoph Reinink und Peter Baltes danke ich für ihre organisatorische Hilfe bei der Fertigstellung und Sabine Lange für die Lösung ungezählter Probleme. Mein tiefer Dank gilt außerdem meiner Familie und allen Freundinnen und Freunden für das Wichtigste. Ferner danke ich den Herausgebern für die Aufnahme in die Reihe TMP, Heiko Hartmann und Andreas Vollmer vom Verlag Walter de Gruyter für die gute Zusammenarbeit sowie dem Sonderforschungsbereich 447 für die Übernahme von Druckkosten. Der Landeskonferenz der Rektoren und Präsidenten der Berliner Hochschulen sei gedankt für die Auszeichnung der Arbeit mit dem Tiburtius-Preis 2005.

Berlin, März 2006

Elke Koch

Inhalt 1.

Einleitung

2.

Emotionstheorie, Diskursgeschichte und Konzepte des Performativen 18

2.1

Emotionstheorie und Trauerkonzepte — methodische Implikationen

2.1.1 Universalien der Trauer - das Paradigma der Verlustreaktion 2.1.2 Historische Semantik und „nibelungische Anthropologie" 2.2

Trauer als Kategorie der Analyse - Historisierung und Definition

2.2.1 Erkenntnispotentiale konstruktivistischer Konzepte in literaturwissenschaftlicher Perspektive 2.2.2 Historische Diskurse über tristitia 2.2.3 Probleme der Semantik mittelhochdeutscher Emotionswörter am Beispiel von Trauer 2.3

Performanz und Performativität von Trauer

1

18 19 25

28 28 32 38 47

2.3.1 Zeichen- und Handlungscharakter des Emotionsausdrucks 2.3.2 Kategorien der Analyse: Performanz, Performativität, Verkörperung 2.3.3 Ritual und Ritualisierung 2.3.4 Performanz und Identität

48

2.4

Zusammenfassung der Ergebnisse

78

3.

Trauer und Verwandtschaft im Willehalm Wolframs von Eschenbach 80

3.1

Forschungspositionen zu Emotion und Verwandtschaft

55 63 68

80

VIII

Inhalt

3.1.1 Emotionsdarstellung: .Affekthaftigkeit' und .symbolische Kommunikation' 3.1.2 Verwandtschaft: Konzepte und Konfliktlagen

80 86

3.2

92

Appelle und Klagen des Erzählers

3.2.1 Mideid als Strategie der Inklusion und Exklusion 3.2.2 Klage um Vivianz — Involvierung und Partizipation 3.2.3 Trauer um Heiden — abgestufte Nähe 3.3

Willehalms Klagen: Trauer als Performanz von Identität

3.3.1 Kategorien der Zugehörigkeit: Minnebindung, Verwandtschaft, Gefolgschaft, Religion 3.3.2 Karlsnachfolge, Verwandtschaft und tmtitia in der Klage um Vivianz 3.3.3 Das her^e — Authentisierung der Emotion, Essentialisierung von Verwandtschaft 3.3.4 Karlsnachfolge, dienst und Martyrium in der Klage um Rennewart 3.4

Munleun - Ritualisierung und emotionale Kommunikation

3.4.1 Ritualisierte Trauer 3.4.2 Zorn und Trauer als Felder der Gefühlskommunikation 3.4.3 Verwandtschaftlicher Körper und Geschlecht 3.5

Gyburcs Klagen — Identitätskonstitution im Spannungsfeld dilemmatischer Verwandtschaft

92 95 100 103 103 106 110 116

122 123 128 135 145

3.5.1 Konfliktlinien spiritueller und sozialer, geschlechtlicher und verwandtschaftlicher Identität 3.5.2 Gyburcs verwandtschaftliche Integration: Dissoziation von Gefühl und Ausdruck als Strategie der Authentisierung

150

3.6

Zusammenfassung der Ergebnisse

156

4.

Trauer und Geschlecht im Erec Hartmanns von Aue

159

4.1

Forschungspositionen zu Enites Klage und geschlechtsspezifisch entworfener Emotionalität

160

145

Inhalt

IX

4.1.1 Deutungen der Klage mit Blick auf die Konzeption der Enite-Figur und der Geschlechterrelation bei Hartmann 4.1.2 Einzelaspekte der Enite-Klage

160 165

4.2

168

Geschlechtsspezifische Differenzierung von leit

4.2.1 Männliches leit. reversible und irreversible Beeinträchtigung von ere 4.2.2 Weibliches leit. Sorge und Verlust, Depotenzierung erebezogenen Leids

171

4.3

175

Paradoxien weiblicher Identität: Enites Klage

4.3.1 Identität als Einheit mit dem Einen - die Inszenierung des ,einen Leibes' 4.3.2 Funktion der doppelten Frauenklage: Emotionsdarstellung in der Cadoc-Episode 4.3.3 Enites Herz: Subjektivität, Objektivität und Unbedingtheit von triuw 4.3.4 Enites Subjektstatus: Das Paradox der ,passiven Aktion' 4.4

Joie de la Curt - Trauerperformanz als Paradigma weiblicher Identität

168

175 180 185 189

194

4.4.1 Weibliche Individualität und Kollektivität 4.4.2 Das Verschwinden der Besonderen im Allgemeinen

195 199

4.5

Zusammenfassung der Ergebnisse

202

5.

Trauer und Identitätsreflexion im Tristan Gottfrieds von Straßburg

205

5.1

Forschungspositionen zu Trauer und Identität

206

5.1.1 Semantik von leit und truren 5.1.2 Klageverzicht und .Psychologisierung' bei Gottfried 5.1.3 Identität und Individualität im Tristan

206 209 213

5.2

217

Das .doppelte Erbe' der Trauer in der Elterngeschichte

5.2.1 Minneeinheit und Ehrdefizit 219 5.2.2 Kommunikation von Leid und Mit-Leid: Bindungsversprechen und Destabilisierung dynastischer Integration 224

X

Inhalt

5.2.3 Väterliches und mütterliches Erbe: (prekäre) soziale Identität, (verkörperte) Minneidentität 5.3

,Zweite Geburt' und Taufe — Identitätsreflexionen

228 235

5.3.1 Materialität des Körpers und verlorene Selbsteinheit 5.3.2 Die Suche nach der Einheit: Tristans Name 5.3.3 Performativität von Verwandtschaft

236 238 241

5.4

244

Genealogie und Identität in der Jugendgeschichte

5.4.1 Tristans ,parmenische' Identität und ihre Desintegration 244 5.4.2 Asynchrone Prozesse: (Re-)Konsdtudon von Bindungen und Transformadon von Identität in der ,Vaterverwirrung' 249 5.4.3 Tristan als Herrscher: genealogische Ablösung und Loslösung....258 5.5

Paarbindung und Minneidentität. Entdifferenzierung und Differenzierung in der Trauer

263

5.5.1 Identität als Identisch-Sein 5.5.2 Gesten und Symptome der Trauer - Kommunikation der Körper vor und nach dem Minnetrank 5.5.3 Die Geste des Weinens 5.5.4 Figuradonen verlorener Selbsteinheit: Differenz in der .Minneidentität'

263 268 272

5.6

Zusammenfassung der Ergebnisse

281

6.

Fazit und Ausblick

284

Literaturverzeichnis Namen- und Werkregister

290 315

276

1. Einleitung Die Helden in narrativen Dichtungen des Mittelalters weinen, lachen, fürchten und verlieben sich, oder werden von %om und nit bewegt. In der mediävistischen Forschung ist diesem Aspekt in jüngster Zeit verstärktes Interesse entgegengebracht worden. V o r welchem theoretischen Horizont und mit welchem methodischen Werkzeug diese literarischen Phänomene analytisch erschlossen werden können, ist dabei umstritten. Bereits über die Frage, ob der Begriff der Emotion als Leitkategorie gelten kann, oder ob ,Affekt' bevorzugt werden muss, der dem in Seelenlehren des Mittelalters verwendeten a f f e c t i o näher steht, besteht keine Einigkeit. Erschwert wird die terminologische Klärung dadurch, dass in der neueren Emotionsforschung die Begriffe Emotion, Affekt, Gefühl unterschiedlich definiert werden und ihre Relation zueinander nicht verbindlich bestimmt ist.1 D e r Begriff der Emotion bietet sich als Leitkategorie aufgrund seiner „relativen Neutralität" 2 an. Die lateinischen Termini a f f e c t i o und passio besitzen hingegen durch ihre Prägung in religösen Diskursen Konnotationen, die für Emotionsdarstellungen in volkssprachigen Erzählungen nicht durchgängig relevant sind. Im Rahmen dieser Studie wird Emotion für Konzepte des Fühlens verwendet, wobei Fühlen allgemein als personal realisiertes „InvolviertSein" 3 gefasst ist. Diese Abgrenzung lässt sich nicht auf eine Differenz von Natur und Kultur abbilden. 4 D e r Terminus Gefühl wird weitgehend synonym zu Emotion gebraucht, konnotiert jedoch stärker den Erlebensaspekt. Affekt wird hingegen bezogen auf bestimmte historische Diskurse

1

Vgl. JÜRGEN

H. O T T O / H A R A L D A.

E U L E R / H E I N Z MANDL:

Begriffsbestimmungen.

In:

Emotionspsychologie. Ein Handbuch. Hrsg. von. DENS. Weinheim 2000, S. 11-18. 2

INGRID KASTEN: Einleitung. In: Codierungen von Emotionen im Mittelalter. Hrsg. von C. STEPHEN JAEGER/INGRID KASTEN.

Berlin, N e w Y o r k

2003

(TMP

1 ) , S.

X111-XXV111,

hier S. X I I I , Anm. 1. 3

Vgl. AGNES HELLER: Theorie der Gefühle. Hamburg 1980, S. 19.

4

Eine solche Differenzierung, die in der Emotionsforschung umstritten ist, wird hier nicht als erkenntnisfördernd erachtet. Anders bei C. STEPHEN JAEGER, Emotions and Sensibilities. Some Preluding Thoughts. In: Codierungen von Emotionen im Mittelalter/ E m o t i o n s and Sensibilities in the Middle Ages. Hrsg. von DEMS./INGRID KASTEN. Berlin, New Y o r k 2 0 0 3 ( T M P 1), S. V I I - X I I , der den Begriff sensibilizes von emotion abgrenzt, um kulturell modellierte Emotionalität von individuell erlebten, vorreflexiven und vordiskursiven G e fühlen zu unterscheiden.

2

Einleitung

des Fühlens (Affektenlehren) eingesetzt, zum anderen zur Beschreibung von Emotionsmodellen sowie von literarischen Darstellungen, wenn diese durch die Aspekte der Überwäldgung, der Unmittelbarkeit des Ausdrucks und der Energieabfuhr gekennzeichnet sind. 5 Im Vergleich zu moderner Literatur erscheint die Bandbreite der E motionen, die in Texten des Mittelalters dargestellt werden, relativ begrenzt. D e n n o c h ist der Dichtung des Hochmittelalters ein Interesse an der „zunehmenden Auslotung von Affektverhalten" 6 attestiert worden. Trauer gehört neben Liebe und Z o r n zu den am häufigsten dargestellten E m o t i o n e n , so dass eine regelrechte literarische Kultur der Trauer konstatiert worden ist. 7 U m das Forschungsfeld ,Emotionen in der Literatur' weiter zu erschließen, verspricht es daher aus mediävistischer Perspektive besondere Erkenntnismöglichkeiten, das Thema Trauer systematisch in den Blick zu nehmen. Eine Reihe von Fragen, die am Beispiel von Trauer exemplarisch diskutiert werden können, betreffen generelle methodologische Probleme. V o r allem gilt es zu klären, welche Kategorien und Modelle für die Analyse historischer Emotionsdarstellungen geeignet sind. Mit dem hier verfolgten Zugang wird zwar die Annahme zugrunde gelegt, dass K o n z e p t e wie E m o t i o n oder Trauer historisch bedingt sind, der Bezug zu den eigenen Kategorien wird aber dennoch nicht suspendiert. E s ist zu fragen, o b moderne Trauertheorien adäquate Kategorien zur Verfügung stellen, um Darstellungen von Trauer in Texten des Mittelalters analytisch zu erfassen. Wie sind die theoretischen und begrifflichen Prämissen moderner Trauermodelle mit den semantischen Unterschieden des Emotionsvokabulars sowie mit Diskursivierungen von Trauer avant la lettre zu relationieren? Grundsätzlich gilt es, den Erkenntniswert literaturhistorischer Untersuchungen von E m o t i o n e n zu spezifizieren und nach Anschlussmöglichkeiten zwischen literaturwissenschaftlichen Perspektiven und der multidisziplinären Emotionsforschung zu fragen.

5

RÜDIGER SCHNELL, Historische E m o t i o n s f o r s c h u n g . Eine mediävistische S t a n d o r t b e stimmung. In: F M S 3 8 (2004), S. 173-276, hier S. 210, entscheidet sich ebenfalls f ü r E m o tion als ü b e r g e o r d n e t e Kategorie u n d verweist darauf, dass es „ k a u m möglich [ist], f ü r alle emotionsrelevanten Passagen in mittelalterlichen T e x t e n denselben E m o t i o n s b e g r i f f zu verwenden."

6

CHRISTIAN KlENING: Aspekte einer G e s c h i c h t e der T r a u e r in Mittelalter u n d f r ü h e r Neuzeit. In: Mittelalter und Moderne. E n t d e c k u n g u n d R e k o n s t r u k t i o n der mittelalterlic h e n Welt. K o n g r e s s a k t e n des 6. Symposiums des Mediävistenverbandes in Bayreuth 1995. Hrsg. v o n PETER SliCL. Sigmaringen 1997, S. 31-52, hier S. 34.

7

Vgl. WERNER RÖCKE: D i e Faszination der Traurigkeit. Inszenierung u n d Reglementierung v o n T r a u e r u n d Melancholie in der Literatur des Spätmittelalters. In: Emotionalität. Z u r G e s c h i c h t e der G e f ü h l e . Hrsg. von CLAUDIA B E N N I E N / A N N E FLEIG/INGRID KASTEN. K ö l n u. a. 2000 (Literatur - Kultur - Geschlecht: Kleine Reihe 16), S. 100-118, hier S. 101.

Einleitung

3

Der Komplex Trauer in literarischen Texten um 1200 bietet Gelegenheit, nach Besonderheiten der Darstellung zu fragen, die auch andere E motionen betreffen. Insbesondere die Dominanz körperbezogener Darstellungsmuster, der oftmals nur schwer zu bestimmende Status von emotionsbezogener Kommunikation als ,Gefühlsausdruck' oder ,Handlung' sowie der vielfach stereotype Charakter von Klagen sind hier von Interesse. Die Forschung hat das Repertoire und die Formelhaftigkeit der verbal und non-verbal manifestierten Trauer, die Gattungstypik und charakteristische ,Klagefiguren' erfasst. Damit ist eine Basis geschaffen, von der aus nun die bedeutungskonstituierenden Funktionen von Trauerdarstellungen fokussiert werden können. Ein Aspekt, der in der Forschung bislang zu wenig Beachtung gefunden hat, obwohl oder möglicherweise gerade weil er in Bezug auf Trauerdarstellungen evident ist, stellt die Sozialität von Trauer in Werken des Hochmittelalters dar, die beispielsweise in Kollektivklagen, Inszenierungen von Gefühlsansteckung, Appellen zur Solidarisierung und zum MitLeiden greifbar wird. Diese Motive verweisen auf einen Zusammenhang von Trauer und Zugehörigkeit, der bislang noch nicht erforscht ist. 8 Aufgrund der Bedeutung von Zugehörigkeit für Identitätskonzepte ist außerdem zu untersuchen, welche Rolle Trauer bei der literarischen Konstruktion von Identität zukommt. Die Kategorie der Identität ist in jüngerer Zeit in der germanistischen Mediävistik (erneut) diskutiert worden. Der Status dieser Kategorie ist ähnlich problematisch wie jener des Emotionsbegriffs. 9 Beide Konzepte sind nicht eindeutig definiert und unterliegen Modellbildungen in unterschiedlichen Disziplinen; beide sind erst in der Moderne entstanden, betreffen jedoch Problem- und Phänomenbereiche, für welche eine transhistorische, universale Gültigkeit angenommen werden kann - dort die Möglichkeit des Fühlens und seiner Artikulation, hier die Genese und Bestimmbarkeit des ,Selbst' im Verhältnis zu sich und anderen. Neuere Untersuchungen zum Thema Identität in vormoderner Literatur sind 8

In der K u l t u r a n t h r o p o l o g i e wird der Z u s a m m e n h a n g v o n T r a u e r und Z u g e h ö r i g k e i t seit l a n g e m diskutiert. Maßgeblich hierfür waren u. a. die 1 9 2 2 publizierten, v o n EMH.E DÜRKHEIM beeinflussten strukturfunktionalistischen T h e s e n des E t h n o l o g e n A L F R E D R. RADCUFFE-BROWN zur B e d e u t u n g rituellen Weinens. D i e dort postulierte Universalität dieses Z u s a m m e n h a n g s wird inzwischen relativiert; vgl. d a z u RICHARD H U N T I N G T O N / PETER METCALFE Celebrations o f Death. T h e A n t h r o p o l o g y o f Mortuary Ritual. S e c o n d Edition, revised, and with a new introduction by PETER METCA1.F. C a m b r i d g e 1991, S. 4361.

9

G r u n d l e g e n d zu P r o b l e m e n und Perspektiven der F r a g e nach Identität aus mediävistischer Sicht PETER VON MOOS: Einleitung. Persönliche Identität und Identifikation v o r der M o derne. Z u m Wechselspiel v o n sozialer Z u s c h r e i b u n g und Selbstbeschreibung. In: Unverwechselbarkeit. Persönliche Identität und Identifikation in der v o r m o d e r n e n G e s e l l s c h a f t . H r s g . v o n DEMS. K ö l n , Weimar, Wien 2 0 0 4 ( N o r m und Struktur 23), S. 1 -42.

Einleitung

4

maßgeblich geprägt von soziologischen Konzepten, welche Identität als relational bestimmtes und interaktional vermitteltes Selbstverhältnis beschreiben. Welche Bedeutung die Darstellung von Emotionen bei der Konstitution und Reflexion von Identität in narrativen Texten besitzt, ist dabei noch nicht systematisch erforscht worden. 10 Der Aspekt der Zugehörigkeit ist in N L K L A S L U H M A N N S Modell des historischen Wandels von Individualität von erheblicher Bedeutung. 11 L U H M A N N verwendet in seinen Untersuchungen zu Sozialstruktur und Semantik den Begriff der Individualität statt des „heutigen Jargon[s] der Identität". 12 Die Kategorie der Identität erweist sich in seiner Analyse als Symptom einer Individualitätsformation der Moderne, in der das Individuum sein Selbst auf plurale Identitäten verteilt. Nach L U H M A N N wird in der stratifikatorisch differenzierten Gesellschaft die Individualität eines Menschen dadurch von ihm selbst und anderen gefasst, dass er einem, und nur einem, Teilsystem der Gesellschaft (Stand) angehört. Gleichsam unterhalb dieser Ebene wird das Individuum aufgrund fortbestehender Formen sektoraler Differenzierung außerdem durch seine Zugehörigkeit zu einer Familie sozial integriert und definiert. Individualität wird demnach durch Inklusion hergestellt. In der funktional differenzierten Gesellschaft der Moderne hingegen zeichnet sich Individualität L U H M A N N zufolge dadurch aus, dass das Individuum an mehreren Teilsystemen partizipiert, so dass Individualität außerhalb dieser Teilsysteme konstituiert werden muss. Exklusion bildet hier das Strukturprinzip, durch das Individualität generiert wird. In der Mediävistik wurde dieses Modell früh der Kritik unterworfen, ein unterkomplexes Bild mittelalterlicher Formen der Vergesellschaftung zu zeichnen. 13 In jüngster Zeit hat P E T E R V O N M O O S auf die Tendenz aufmerksam gemacht, im Typus der ,Inklusions-Individualität' eine reibungslose und allgemeine Kongruenz von sozialer Zuschreibung und Selbstdefinition zu unterstellen. 14 Nicht nur in fiktionalen Texten des Mit10

11

Beispielsweise rekurriert ANHTTI· SOSNA, Fiktionale Identität im höfischen Roman um 1200. Hra, lmin, Par^val, Tristan. Stuttgart 2003, auf soziologische und sozialpsychologische Theorien, um ihren Identitätsbegriff zu entwickeln. Sie hebt hervor, dass fiktionale Identität in der Literatur des Mittelalters maßgeblich durch Interaktion gestiftet und modifiziert wird. In ihren Textanalysen geht SOSNA mehrfach auf die Darstellung von Gefühlen ein, ohne aber deren systematischen Stellenwert zu erörtern; vgl. S. 58-59, 63, 79 u. ö. Vgl. NlKLAS LUHMANN: Gesellschaftsstruktur und Semantik.. Studien zur Wissenssoziogie der modernen Gesellschaft. Bd. 3. Frankfurt a. M. 1989, S. 149-258.

12

Hier S. 154.

13

Vgl. OTTO GERHARD OliXLr·:, Luhmanns Mittelalter. In: Rechtshistorisches Journal 1 0 (1991), S. 53-66. OliXJ.r; erhebt den generellen Einwand, dass LUHMANN ,das' Mittelalter als Kontrastfolie zur Beschreibung der Moderne konstruiere und dadurch den Blick auf historische Transformationsprozesse verzerre.

14

Vgl. VON MOOS, Einleitung: Persönliche Identität, S. 20-23.

Einleitung

5

telalters, aber gerade auch dort, werden indessen Spannungen zwischen Fremd- und Selbstidentifikation deutlich und werden Bedingungen der Genese und Aufrechterhaltung von Identität durch Zugehörigkeit reflektiert.15 Indem die vorliegende Untersuchung nach dem Zusammenhang zwischen Trauer und Zugehörigkeit in narrativen Texten um 1200 fragt, trägt sie dazu bei, historische Formen der literarischen Konstitution und Reflexion von Identität weiter zu erhellen. Das Untersuchungsinteresse gilt indes vorrangig der Bedeutungs- und Funktionsanalyse einer Emotion in der Erzählliteratur des Mittelalters. Diesem Anliegen ist die Arbeit am Begriff der Identität untergeordnet. Im Zentrum der folgenden Analysen steht die Frage, wie Trauer in ausgewählten Werken des Hochmittelalters inszeniert und codiert wird. Dafür werden exemplarische Stilisierungen und Funktionszusammenhänge von Trauer in einzelnen Texten untersucht, und es wird ein geeignetes Begriffsinstrumentarium entwickelt, um diese präziser als bislang zu beschreiben. Die Textanalysen zielen insbesondere darauf, zu ermitteln, wie Trauer als soziale Kommunikation fungiert und in welcher Weise soziale Relationen und Ordnungsmuster bei der Inszenierung dieser Emotion zur Geltung kommen. Die Untersuchung von Emotionsdarstellungen um 1200 ist immer wieder auf besonderes Interesse gestoßen, da N O R B E R T E L I A S diese Zeit emotionsgeschichtlich als Phase eines — gesellschaftlich allerdings zunächst sehr begrenzt wirksamen - Umbruchs beschrieben hat.16 E L I A S zufolge setzte hier ein langfristig wirkender „Prozeß der Zivilisation" in der Kultur des europäischen Hochadels ein, indem soziale Verhaltensweisen und kulturelle Deutungsmuster ausgebildet wurden, die eine Internalisierung von Mechanismen der Affektkontrolle erforderten. In der literaturwissenschaftlichen Mediävistik wurde dieser Auffassung in unterschiedlichen Ansätzen gefolgt. So hat P E T E R D L N Z E L B A C H E R die literarische Ausarbeitung von Konzepten der höfischen Minne als Indiz eines entsprechenden mentalitätsgeschichtlichen Wandels gedeutet. 17 Von

15

Dies zeigen an einer Reihe von Gegenständen die Beiträge des v o n VON MOOS herausgegebenen Sammelbandes. Zur Problematisierung von Inklusion in fiktionaler Literatur vgl. besonders JAN-DIRK MÜI.LF.R: Identitätskrisen im höfischen Roman um 1200. In: Unverwechselbarkeit. Persönliche Identität und Identifikation in der vormodernen Gesellschaft. Hrsg. v o n PETER VON MOOS. Köln, Weimar, Wien 2 0 0 4 (Norm und Struktur 23), S. 297323.

16

Vgl. NORBERT ELIAS: Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogene-

17

Vgl. PETER DLNZELBACHER: Gefühl und Gesellschaft im Mittelalter. Vorschläge zu einer emotionsgeschichdichen Darstellung des hochmittelalterlichen Umbruchs. In: Höfische Li-

tische Untersuchungen. 2 Bde. Frankfurt a. M. 1976.

6

Einleitung

einem ähnlichen Ansatz ausgehend vertritt URBAN K Ü S T E R S die These, dass Unterschiede in der Darstellung von Trauer um 1200 gattungsspezifisch bedingt sind und auf einen Wandel verweisen, den der höfische „Umgang mit der Trauer" zu Beginn des Zivilisationsprozesses erfahren haben soll.18 Gegenüber heroisch-archaischen Klageformen, deren Spuren in heldenepischen Texten erhalten seien, mache sich in der rhetorischen Ausarbeitung der Frauenklage in den höfischen Romanen eine zunehmende Tendenz zur Affektregulierung und ein erhöhtes Reflexionspotential geltend. 19 Besonders zugespitzt wurde die These eines psychohistorischen Umbruchs um 1200 von P E T E R C Z E R W I N S K I . 2 0 Er geht von einer grundlegenden Alterität von Strukturen der Wahrnehmung und der Kognition (Abstraktion, Erinnerung) in vergangenen Epochen aus. Hochhöfische narrative Texte wertet C Z E R W I N S K I als Dokumente der Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Entwicklungsstufen, in denen archaische Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster der feudalen Adelsgesellschaft fortwirken und zugleich neue Formen der Reflexion und der Affektkontrolle greifbar werden. Gegen diesen Ansatz wurde zu Recht der Einwand erhoben, dass er die Alterität des Mittelalters als radikal .Anderes' konstruiert und so ein methodisches Problem reproduziert, das in der Ethnologie bereits seit einiger Zeit kritisch reflektiert wird. 21 Unter emotionsgeschichtlichen Gesichtspunkten ist zudem die reduktionistische Sicht auf Gefühle problematisch. Literarische Darstellungen von Emotionen werden beinah ausschließlich mit Bezug auf das Verhältnis von Affektbestimmtheit und Affektbeherrschung betrachtet und vor dem Hintergrund feudaler Herr-

18

19

teratur, Hofgesellschaft, höfische Lebensformen um 1200. Hrsg. von GERT KAISER/JANDLRK MÜLLER. Düsseldorf 1986 (Studia humaniora 6), S. 213-241. Vgl. URBAN KÖSTERS: Klagefiguren. Vom höfischen Umgang mit der Trauer. In: An den Grenzen höfischer Kultur. Anfechtungen der Lebensordnung in der deutschen Erzähldichtung des hohen Mittelalters. Hrsg. von GERT KAISER. München 1991 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 12), S. 9-75. Eine ähnliche These formulierte in der Romanistik J ΕΑΝ FRAPPIER, La douleur et la mort dans la litterature franfaise des X l l e et X l l l e siecles. In: II dolore e la morte nella spiritualitä dei secoli XII e XIII. Convegni des Centro di Studi sulla Spiritualitä Medievale V. 7-10 Ottobre 1962. Perugia 1967, S. 67-110. Kritik gegenüber der geschichtsteleologischen Implikation, die KÜSTERS' These aufweist, wurde bisher nicht von literaturwissenschaftlicher Seite vorgebracht, sondern durch den Historiker BERNHARDJUSSEN: Dolor und Memoria. Trauerriten, gemalte Trauer und soziale Ordnungen im späten Mittelalter. In: Memoria als Kultur. Hrsg. von OTTO GERHARD OEXLE. Göttingen 1995 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 121), S. 207-252, hier S. 222, Anm. 37.

20

Vgl. PETER CZERWINSKI: Der Glanz der Abstraktion. Frühe Formen von Reflexivität im Mittelalter. Exempel einer Geschichte der Wahrnehmung. Frankfurt a. M., New York 1989.

21

Vgl. KIEN1NG, Anthropologische Zugänge, S. 67f.

Einleitung

7

schaftsformen mit unkontrollierter Gewalt und Gewaltvermeidung gleichgesetzt. In der Geschichtswissenschaft hat in jüngster Zeit B A R B A R A R O S E N W E I N das lineare Entwicklungsmodell des Zivilisationspro2esses aus emotionshistorischer Perspektive kritisch reflektiert. Die Historikerin stellt fest, dass der evolutionäre Geschichtsentwurf E L I A S ' , der forschungsgeschichtlich als eine 'große Erzählung' etabliert wurde und nach wie vor starken Einfluss ausübt, auf der Herstellung einer Analogie zwischen Phylogenese und Ontogenese beruht und dem mittelalterlichen Menschen die Entwicklungsstufe der Kindheit zuschreibt. 22 Die Differenziertheit von unterschiedlichen lokalen, sozialen, gruppen- und geschlechtsspezifischen emotionalen Standards werde damit ausgeblendet. Einen weiteren wichtigen Einwand hat L O T H A R M Ü L L E R erhoben, der den Quellenstatus und den Erkenntniswert von literarischen Texten betrifft. 23 Ihm zufolge ist in der Historischen Psychologie versäumt worden, „literarische Formen als Organe der Affektmodellierung selbst und nicht nur ihres Ausdrucks" 2 4 zu begreifen und zu analysieren. Dieser Gedanke wird in neuesten mediävistischen Studien produktiv gemacht. 2 5 D a s Paradigma des Zivilisationsprozesses ist in der mediävistischen Literaturwissenschaft allerdings nicht durchgängig leitend. In anderen Ansätzen wird die Darstellung von Emotionen in der Literatur um 1200 auf den zeitgenössischen Horizont religiöser Diskurse bezogen, beispielsweise auf theologisch-philosophische Modelle, wie die mystische Konzeptualisierung des ,inneren Menschen' als Instrument der Gotteserfahrung, auf Affektenlehren, oder auf Positionen der Kirche zur Ehe. 2 6 Ohne dass die Interpreten explizit eine lineare Entwicklung im Sinne früherer geis-

22

Vgl. B a r b a r a H. RoSIiNWIilN: Worrying about Emotions in History. In: The American Historical Review 107 (2002), S. 821-845. El.lAS hat allerdings in späteren Publikationen den systematischen Zusammenhang von Emotionalität und Sozialität in den Mittelpunkt gestellt und seine These zur sozialevolutionären Funktion von Emotionen nicht mehr auf gesellschaftliche Umbrüche im Mittelalter, sondern auf die frühesten Phasen der Phylogenese bezogen; vgl. NORßlülT ELIAS, Über Menschen und ihre Emotionen. Ein Beitrag zur Evolution der Gesellschaft. In: Zeitschrift für Semiotik 12 (1990) 4, S. 337-357.

23

Vgl. LOTHAR MÜLLIiR: Literaturgeschichte und Historische Psychologie. In: Individuum und Geschichte. Beiträge zur Diskussion um eine ,Historische Psychologie'. Hrsg. von MICHAIX S o n n t a g / G i - R D JÜTTI-MANN. Heidelberg 1993 (Historische Psychologie), S. 125-138.

24 25

Hier S. 129. Vgl. JUTTA EMING: Emotion und Expression. Untersuchungen zu deutschen und französischen Liebes- und Abenteuerromanen des 12.-16. Jahrhunderts. Berlin, New York 2006 (im Erscheinen).

26

Vgl. JOACHIM BUMKR: Die Blutstropfen im Schnee. Über Wahrnehmung und Erkenntnis im Ρarrival Wolframs von Eschenbach. Tübingen 2001 (Hermaea 94); RÜDIGKR SCHNELL: Sexualität und Emotionalität in der vormodernen Ehe. Köln 2002.

8

Einleitung

tesgeschichtlicher Paradigmen ansetzen, konstatieren sie, dass Gefühle in der religiösen wie in der weltlichen, insbesondere der höfischen Literatur des Hochmittelalters aufgewertet und differenziert werden. D e n Thesen von der archaischen Affektivität der Menschen im Mittelalter wird entgegengehalten, dass es eine bereits entfaltete Gefühlskultur gegeben habe, auf deren Grundlage Individualität, Subjektivität, ethische Bedeutung und Reflexionspotential von literarischen Emotionen um 1200 thematisiert werden konnten. 2 7 Mit dem Rückgriff auf theologische oder medizinische Diskursivierungen von Emotionen lassen sich Aspekte der Alterität historischer G e fühlskonzepte erschließen, ohne dass eine lineare Evolution psychischer Strukturen vorausgesetzt wird. Allerdings hat eine solche Vorgehensweise Grenzen. In jenen Diskursen werden Emotionsmodelle unter spezifischen Bedingungen und für bestimmte Funktionszusammenhänge entworfen, die sich von denen weltlicher Literatur unterscheiden. 28 E s gilt daher, die Semantik und die Funktionalität von Trauer in narrativen Texten eigens herauszuarbeiten. Die vorliegende Arbeit bezieht deshalb außerliterarische Diskurse des Mittelalters über Aspekte und Probleme der Trauer nur punktuell und anhand repräsentativer Beispiele ein, um historische Dimensionen von Emotionskonzepten zu markieren. Mit dem Hinweis auf die Alterität vormoderner Affektmodelle ist in jüngster Zeit die programmatische Forderung verbunden worden, die Begriffe Emotion, Emotionalität und Gefühl im Umgang mit historischen Texten ganz zu vermeiden, da diese Termini durch ihre psychologischen Implikationen den Blick auf die Besonderheit vormoderner Verhältnisse verstellten. 29 Dieser Einwand ist jedoch methodisch nicht zwingend. Zwar sind mit der Anwendung moderner Emotionstheorien bestimmte semantische Aspekte des mittelhochdeutschen Emotionsvokabulars nicht zu erfassen, wie beispielweise die Assoziation von Trauer, Zorn oder Neid mit Sünden. Weil aber andererseits mittelalterliche Konzeptualisierungen der Affekte nicht geeignet sind, um zentrale Bedeutungsdimensionen zu erfassen, die diesen Emotionen in Erzähltexten zukommen — etwa die soziale Dynamik, die dort mit der Trauer verbunden wird - , müssen Beg27

Siehe dazu die Forschungsberichte in den Kapiteln 3, 4 und 5.

28

Dieser Aspekt wird von ANJA KÜHNE: Vom Affekt zum Gefühl. Konvergenzen von Literatur im Mittelalter am Beispiel von Konrads von Würzburg Partonopier und Meliur. Göppingen 2004 (GAG 713), nicht hinreichend reflektiert. KÜHNE gibt einen ausführlichen Uberblick über theologisch-anthropologische Affektenlehren, aus denen sie Gefühlskonzepte ableitet, die sie dann mit literarischen Gefühlsdarstellungen vergleicht. Die Analyse von deren bedeutungskonstituierenden Funktionen kommt dabei zu kurz.

29

Vgl. ANDREAS I«j/-Bemühen der Söhne Ruals ausführlich dargestellt wird (vgl. V. 18674-18689), bleibt das Verhalten Tristans ausgeblendet. Tristan wird als Landesherr und Vater behandelt, aber nicht selbst handelnd in dieser Position dargestellt. Stattdessen erscheint er als einsam trurender, der bei der nächsten Gelegenheit das Land wieder verlässt. Erst nach seiner räumlichen Distanzierung von Parmenie nutzt Tristan in Arundel Handlungsspielräume dieser Position, als er nach siner lieben massenie (V. 18786) schicken lässt, die Kaedin unterstützen sollen. Die Landesherrschaft ist nicht Garant der Identität, sondern temporäre ,Rolle', die dort an- und wieder abgelegt wird, wo er Tristan der eilende (V. 18756) ist. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass in Gottfrieds Tristan Szenarien der Trauer ein Spannungsfeld von Gemeinschaft und Person eröffnen, in dem genealogische Identität konstituiert und verkörpert wird. Diese Inszenierungen setzen die gemeinschaftsstiftende Kraft ritualisierter Trauer in typischen Situationen wie Abschieds- und Totenklage voraus, heben jedoch Tristan von diesen Gemeinschaften ab, indem in der Darstellung immer wieder Brüche markiert werden. Dadurch werden Prozesse der subjektiven Vermittlung von Genealogie dargestellt und zugleich problematisiert. In Wiederholungen bestimmter Konstellationen werden diese Brüche zum generierenden Prinzip der /n#re-Identität des Protagonisten. Die Wiederholung hat SUSANNE KÖBELE als poetologisches Prinzip im Tristan anhand einer Analyse von identischen Wortwiederholungen bestimmt.75 Ihre Überlegungen sind insofern auch für eine Übertragung auf

75

Vgl. SUSANNE KÖBELE: /«wer niuwe. Wiederholung in Gottfrieds Tristan. In: Der Tristan Gottfrieds von Straßburg. Symposion Santiago de Compostela, 5. bis 8. April 2 0 0 0 . Hrsg. von CHRISTOPH HUBER/VICTOR MILLET. Tübingen 2 0 0 2 , S. 9 7 - 1 1 5 .

Paarbindung und Minneidentität. Entdifferenzierung und Differenzierung

Figurationen der Handlungsebene inspirierend, als einmal mehr die Bedeutung von .Identität' als Reflexionsfigur erkennbar wird. Nicht aufgrund von biographisch bedingten Persönlichkeitsstrukturen, sondern aufgrund von solchen Wiederholungen wiedererkennbarer Muster erweist sich .Identität' als das Singuläre der Person. Diese Singularität setzt nicht, wie in modernen Identitätskonzepten, die Einheit der Person voraus, sondern manifestiert sich gerade in den Wechselprozessen von Selbstbehauptung und Selbstverlust. Wiederholung kann damit als eine historische Sprechweise über Identität bestimmt werden, die in der Literatur (mit-)produziert wird.76 Im Tristan steht Identität als Singularität neben der Minneidentität des Paares, die bereits in der Vorgeschichte als Entdifferenzierung gekennzeichnet ist. Auch hier stellt sich die Frage nach der Relation von ,Erbe' und subjektiver Realisierung durch den Protagonisten.

5.5 Paarbindung und Minneidentität. Entdifferenzierung und Differenzierung in der Trauer Mit dem Minnetrank wird der andere Aspekt von Tristans Erbe in den Vordergrund gestellt, die Verbindung von Minne und Tod, in der sich die Einheit des Paares realisiert. Mit Blick auf die Identitätsthematik ist zu fragen, wie Entdifferenzierung und Differenzierung als Faktoren der Identitätskonstitution inszeniert und problematisiert werden. Dabei werden zum einen die Darstellungsstrategien der .Minneidentität' des Paares als .Identisch-Sein mit dem anderen' untersucht. Zum anderen gilt es zu fragen, inwiefern mit der Singularität der Tristan-Identität eine differenzstiftende Funktion der Trauer verbunden ist, welche die ,Minneeinheit' durchkreuzt. 5.5.1 Identität als Identisch-Sein In der Vorgeschichte wird die Einheit des Paares in mimetischen Trauerdarstellungen inszeniert. Es zeigt sich aber, dass dieses Muster in der Darstellung der Minne von Tristan und Isolde nicht mehr eingesetzt wird. Kennzeichnend für die mimetische Trauer ist eine kausale und temporale Struktur — das Leiden des einen Partners wird zum Auslöser für ein ähnlich oder gleich gestaltetes Mit-Leiden des anderen. Demgegenüber ist vor 76

Die Thesen KLINGERS, Möglichkeiten und Strategien, S. 130f., wären in dieser Hinsicht zu ergänzen.

264

Trauer und Identitätsreflexion im Tristan Gottfrieds von Straßburg

allem in der Minnetrankepisode die Einheit von Tristan und Isolde durch die unmittelbare Gleichzeitigkeit der Emotionen Liebe, Leid, Zweifel und Scham gekennzeichnet (vgl. V. 11734-11739). Die körperliche Dimension der Einheit des Paares, so lautet die hier verfolgte These, wird dementsprechend durch andere Strategien vermittelt. Um die Spezifik der Körperinszenierung nach dem Minnetrank zu erfassen, erweist sich erneut die augustinische Unterscheidung von signa data und signa naturalia als hilfreich.77 Indem Differenzen und Übergänge von gegebenen und natürlichen Zeichen austariert werden, wird die Besonderheit der Minnebindung und ihrer identitätsstiftenden Kraft markiert. Für die Inszenierung der Minne zwischen Tristan und Isolde ist eine symptomatische Zeichenhaftigkeit charakteristisch. Die Körper weisen nach dem Trank die typische Minnephysiognomie des abwechselnden Errötens und Erbleichens auf. Dabei wird die Symptomhaftigkeit dieser Zeichen zusätzlich dadurch unterstrichen, dass es nicht einmal die Körper zu sein scheinen, die diese Zeichen hervorbringen, vielmehr erscheinen die Körper als .Leinwand', auf der die personifizierte Minne78 sich einschreibt: Minne diu vervwerinne, die endühte es niht dä mite genuoc, daz mans in edelen herzen truoc verholne unde tougen, sine wolte under ougen ouch offenbaren ir gewalt: der was an in zwein manicvalt. unlange inein ir varwe schein, ir varwe schein unlange inein: si wehselten genote bleich wider röte; si wurden rot unde bleich, als ez diu Minne in understreich. (vgl. V. 11912-11924)

Minutiös zeigt Gottfried, wie in der Kommunikation der Liebenden nach dem Trank zunächst signa naturalia zum Tragen kommen, die dann durch signa data ergänzt werden. Die natürlichen Zeichen geben den Liebenden trotz ihrer durch schäm und fremede (V. 11905) begründeten Zurückhaltung Hinweise auf die Minne des anderen. Diese Zeichen können eindeutig entziffert werden und ermutigen daher die Liebenden, auch in der nonverbalen und verbalen Kommunikation mit Annäherungsversuchen zu

77 78

Siehe dazu Kapitel 2.2.1. Vgl. zu diesem Aspekt FRANZISKA WESSEL: Probleme der Metaphorik und die Minnemetaphorik in Gottfrieds von Straßburg Tristan und Isolde. München 1984 (Münstersche Mittelalter-Schriften 54), S. 300-303.

Paarbindung und Minneidentität. Entdifferenzierung und Differenzierung

265

beginnen (vgl. V. 11925-11933). Für die Minnekommunikation bleiben indes signa naturalia auch weiterhin prägend. Die Verhinderung der körperlichen Vereinigung führt zu den typischen Symptomen der Liebeskrankheit: Seufzen und Klagen, Schwermut, Nachdenklichkeit, der Wechsel der Gesichtsfarbe, Appetidosigkeit und Auszehrung (vgl. V. 12062-12077). 79 Schließlich ist das Leben der beiden gefährdet, wodurch ein weiteres Mal an den Körpern die Übermacht der Minne manifest wird. Zum anderen dient dieses Muster dazu, ein Ähnlichwerden der Körper zu inszenieren.80 Die Liebeseinheit wird damit auf der Ebene der körperlichen Konstitution wie der Physiognomie dargestellt: ietwederem begunde von stunde ze stunde herze unde kraft geswichen; bleichen unde blichen begunde ir varwe unde ir lip. der man bleichete durch daz wip, daz wip bleichete durch den man; durch Isote Tristan,

durch Tristanden Isot. (V. 14319-14327) Die Unvermeidbarkeit und Unmissverständlichkeit der Minnesymptome wird dort deutlich, wo das Paar sich durch sie verrät. Dies tritt am Markehof in den Vordergrund. Während durch die Referentialität der Sprache Listen möglich werden, sind die Zeichen der Minne (krankheit) untrüglich: ir gemeiniu herzeswaere diu wart so schinbiere under ir beider ougen, daz man vil kleine lougen der minnen an ir varwe vant. Und Marke enstuont sich al zehant und kos wol an in beiden, ir fremeden unde ir scheiden daz in daz an ir herze gie. (V. 14343-14351)

79

80

Die in der Forschung umstrittene Frage, ob hier von Liebeskrankheit im pathologischen Sinne oder nur von anfanglichen Symptomen unerfüllter Minne gesprochen werden kann, ist für die hier verfolgte Frage unerheblich; vgl. dazu BERNHARD D. HAAGE, Heilkunde im Tristan-Roman Gottfrieds von Straßburg. In: LAMBERTUS OKKEN: Kommentar zum Tristan-Roman Gottfrieds von Straßburg. 2. Bd. Amsterdam, Adanta 1996 (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur 58), S. 1069-1107, hier S. 1077. Die körperliche Dimension der Liebeseinheit beschreibt KARINA KELLERMANN, und vunden fir ir hemn da einen qestucketen man. Körper, Kampf und Kunstwerk im Tristan. In: Der Tristan Gottfrieds von Straßburg. Symposion Santiago de Compostela, 5. bis 8. April 2000. Hrsg. von CHRISTOPH HUBER/ViCTOR MILLET. Tübingen 2002, S. 131-152, als Präsentation des Körpers jenseits der Logik höfischer Repräsentadon. Sie verweist ebenfalls auf den differenzierten Einsatz von signa naturalia und signa data·, vgl. hier S. 137.

266

Trauer und Identitätsreflexion im Tristan Gottfrieds von Straßburg

Selbst der Gebärdensprache der Liebenden, die einen wesentlich komplexeren Körpereinsatz umfasst, wird Symptomcharakter zugeschrieben: da was der fiuhte gär ze vil der süezen gebaerde, an der man die bewasrde der minne zallen ziten sach. er hete vil war, der da sprach: swie man es hüetende si, si sint doch gerne ein ander bi, daz ouge bi dem herzen, der vinger bi dem smerzen. des herzen leitesterne die schächent vi] gerne, dar daz herze ist gewant, ouch gat der vinger und diu hant vil dicke und ze maneger zit des endes, da der smerze lit. (V. 16472-16486)

Zwischen den Minnegesten der Liebenden und Blanscheflurs Trauergeste besteht eine Parallele, insofern beide einen deiktischen Aspekt besitzen und auf das Herz als Ort der Emotion verweisen. Mit beiden Gesten wird eine Ähnlichkeit zwischen den Liebenden hergestellt, die in der Vorgeschichte als mimetische Trauer, hier als unmittelbare Synchronisation gestaltet ist. Gegenüber der konventionalisierten Geste des Trauerausdrucks wird für die Gesten des Paares durch den generalisierenden Kommentar des Erzählers besonders hervorgehoben, dass diese unwillkürlich erfolgen. Blicke und Gebärden, die — anders als Krankheits Symptome — als intentional gelten können, werden als natürliche Zeichen codiert. Die Minne bemächtigt sich der Körper, die als Zeichenträger nur bedingt zu kontrollieren sind: als täten die gelieben ie: sine mohten noch enkunden nie durch keine ir angest verlän, sine buweten den arcwän mit manegem süezen blicke vil ofte und alze dicke; wan leider, alse ich iezuo las, des herzen friunt, daz ouge, was gewendet näch dem herzen ie, diu hant ie näch dem smerzen gie. (V. 16487-16496)

In den symptomatischen, unbeherrschbaren Zeichen des Körpers erweist sich die Minnebindung Tristans und Isoldes als nicht erst durch Kommunikation konstituiert, wie dies — kontrastiv dazu - in der Isolde-WeißhandEpisode in Szene gesetzt wird. Vielmehr besitzt diese Bindung eine objektive Realität, die auf die Körper ein- und durch sie hindurch wirkt. Dem

Paarbindung und Minneidentität. Entdifferenzierung und Differenzierung

Zeichen-Körper Tristans wird durch diese Strategie der Naturalisierung eine neue Evidenz verliehen. Auch in der Vorgeschichte kommt den signa naturalia eine besondere Funktion zu, etwa bei Blanscheflurs Ohnmacht an Riwalins Bahre oder Riwalins Schwächung angesichts der bewussdosen Blanscheflur; im Trauertod Blanscheflurs wird ihre Aussagekraft ganz entfaltet. Grundsätzlich ist der symptomatische Charakter des Ausdrucks von Liebesleid nicht auf die Tristanminne beschränkt, auch Isolde Weißhands seneliche% ungemach (V. 19188) ist für Tristan unmittelbar wahrzunehmen und zu verstehen. Die Inszenierung der körperlichen Einheit des Paares in der Haupthandlung setzt jedoch besondere Akzente, indem sie die Gleichförmigkeit verabsolutiert. Dies wird nicht nur durch die Setzungen der Identitätsformeln erreicht, sondern auch dadurch, dass die Symptomatik der Minne die Körper auf der Ebene ihrer Konstitution und ihres Ausdrucks vollständig synchronisiert erscheinen lässt. Identität wird somit auch auf der Ebene der Körperinszenierung als ,Identität mit dem anderen' zur Geltung gebracht. KLINGER hat darauf aufmerksam gemacht, dass dieser Identität gerade keine Individualität vorausgeht, und dass insofern Deutungen, die hier eine gegenseitige Affirmation der personalen Identität der Partner verwirklicht sehen, die Historizität dieses Identitätskonzepts verkennen.8' Die Identität des Paares als ein einziges „Liebes-Subjekt" 82 wird auf eine Körperinszenierung gegründet, die auf ein semiotisches Teilsystem rekurriert, in dem Zeichen und Bedeutung unmittelbar identisch sind. S C H N E L L hat die These aufgestellt, dass im Tristan zwischen Minneeinheit und Erkenntnis ein Zusammenhang besteht.83 Das Ideal der claritas, das in der Einheit von Zeichen und Bedeutung zum Tragen komme, werde durch die unmittelbare gegenseitige Erkenntnis, wie sie den Liebenden zuteil wird, noch gesteigert. Besonders in der folgenden Passage kommt nach SCHNELL diese Minneoffenbarung exemplarisch zum Ausdruck: diu süemrinne Minne diu hete ir beider sinne von hazze also gereinet, mit liebe also vereinet, daz ietweder dem andern was durchluter als ein spiegelglas. (V. 11725-11730)

Die Durchsichtigkeit' der Gedanken liest SCHNELL als Verweis auf eine vollkommene gegenseitige Erkenntnis des Paares, die keiner Vermittlung 81 82 83

KLINGER, Möglichkeiten und Strategien, S. 132. Hier S. 137. Vgl. SCHNELL, Suche nach Wahrheit, S. 157-166.

268

Trauer und Identitätsreflexion im Tristan Gottfrieds von Straßburg

mehr bedarf. Entgegen dieser These ist jedoch festzustellen, dass die Transformation durch den Minnetrank die Figuren nicht davon enthebt, einander ihre Gefühle zu vermitteln. Der Weg zum gegenseitigen unmissverständlichen Eingeständnis der Minne wird im Text ausführlich geschildert, wobei Isoldes lameir-Rätsel eine wichtige .katalysierende' und bedeutungs stiftende Rolle zukommt. Liebe wird darin mit Bitterkeit und mit dem Meer assoziiert, wobei letzteres Motiv auf die Trennung verweist. Dabei wird deutlich, dass den Figuren durch den Minnetrank zwar eine objektive ,Minneidentität' bereits gegeben ist, dass sie ihre Relation zueinander aber erst durch non-verbale und verbale Kommunikation neu konstituieren müssen. Dafür wird das Interaktionsmuster von Leid und Mitleid funktionalisiert. Um dies genauer zu untersuchen, wird im Folgenden die Interaktion von Tristan und Isolde auf der Schiffsreise von Irland nach Cornwall vor und nach dem Minnetrank analysiert. Dabei verschiebt sich der Fokus auf die Darstellung der weiblichen Figur, denn es sind in erster Linie ihre Emotionen, die dort in Szene gesetzt werden.

5.5.2 Gesten und Symptome der Trauer — Kommunikation der Körper vor und nach dem Minnetrank Isolde befindet sich auf der Schiffsreise in einem Übergangsstadium zwischen ihrer bisherigen sozialen Identität als Tochter des Königs von Irland und der künftigen als Ehefrau des Königs von Cornwall. In dieser sensiblen Situation fungiert Tristan als Stellvertreter Markes. Ihm kommt die Funktion zu, die Sicherheit des Statuswechsels zu gewährleisten. Zwar ist Isolde ein statusadäquater Ehemann zugesichert worden, doch kann Tristan als Repräsentant der künftigen Sippe Isolde kaum als vertrauenswürdig gelten. Nicht nur hat er unter falscher Identität gehandelt, sondern er ist darüber hinaus von ihr als verantwortlich für den Tod des Mutterbruders erkannt worden (vgl. V. 11579-11595). Die Unsicherheiten und Störungen, die diesen Übergang kennzeichnen, werden dadurch markiert, dass die stark emotionalisiert dargestellte Abschiedstrauer (vgl. V. 11492-11531) von Isolde nicht beendet wird. Noch während der Schiffsfahrt klagt sie in ihrer Kemenate: diu weinde unde clagete daz, daz si also von ir lande, da si die liute erkande, und von ir friunden allen schiet und fuor mit der unkunden diet, sine wiste war oder wie. (V. 11552-11557)

Paarbindung und Minneidentität. Entdifferenzierung und Differenzierung

Durch die fortgesetzte ritualisierte Trauer verkörpert Isolde ihre ,irische' Identität. Mit der Überfahrt hat objektiv die Distanzierung von den Herkunftsbindungen begonnen, die Isolde jedoch subjektiv nicht mitvollzieht. Die situativen Bedingungen der Klage sind explizit markiert; es handelt sich um eine Situation eingeschränkter Öffentlichkeit im Beisein der Hofdamen (vgl. V. 11546) und Tristans. Isoldes Trauer hat insofern eine kommunikative Funktion, als sie an Tristan als Adressaten gerichtet ist und ihm vermittelt, dass ihre Feindschaft weiterhin besteht. Tristan antwortet auf dieses Verhalten, indem er Isolde gegenüber als der getriuw (V. 11566) handelt. Er versucht, ihr Trost zu spenden, jedoch sind seine Handlungen nicht als Mit-Leiden gekennzeichnet, das sich für die Demonstration von Verbundenheit an anderer Stelle — etwa bei der Klage Kurnevals mit Tristan — als konstitutiv erwiesen hat. Als .Verursacher' von Isoldes Unglück kann Tristan sich dieses nicht zu Eigen machen. Tristans Trost besteht insofern nicht in einem teilnehmenden Handeln, sondern in der körperlichen Annäherung, die seine Beistandsabsicht in der Umarmung gestisch ausdrückt (da% er sin arme an st verlie\ V. 11570). Das Verhalten Tristans realisiert die soziale Relation, in der er sich aus seiner Sicht Isolde gegenüber befindet: zwischen sin arme er si nam vil suoze unde lise und niuwan in der wise als ein man sine frouwen sol. (V. 1 1 5 6 2 - 1 1 5 6 5 )

Die Trauer ist in dieser Szene Medium der sozialen Kommunikation, welche die Beziehungen der Beteiligten ausdrückt und formt. Auf der Ebene der narrativen Inszenierung wird mit dem expliziten Hinweis auf die soziale Angemessenheit des Verhaltens eine erotische Assoziation abgewehrt, zugleich jedoch diese Möglichkeit gerade dadurch ins Spiel gebracht und so ein Spannungsbogen zu der zweiten Trostbegegnung angelegt, in welcher die Berührung der Körper der beide ein begin (V. 11976) ist. Diese Ambiguisierung wird auf der Ebene der Figuren zurückgenommen, denn Tristans Umarmung erinnert Isolde an den Tod des Verwandten durch seine Hand und führt so zu einer körperlich vollzogenen Distanzierung. Die mehrdeutige Sprache der Körper wird verbal vereindeutigt, indem Isolde Tristans Umarmung zurückweist, und die Relation der beiden nun im Dialog ausgehandelt wird: ,lät stan, meister, habet iuch hin, tuot iuwer arme hin dan! ir sit ein harte müelich man: war umbe rüeret ir mich?' ,ei, schcene, missetuon ich?' ,ja ir, wan ich bin iu gehaz.' (V. 1 1 5 7 4 - 1 1 5 7 9 )

270

Trauer und Identitätsreflexion im Tristan Gottfrieds von Straßburg

Die nonverbale und emotionale Kommunikation des Paares ist in dieser Szene durch ritualisierte Interaktionsmuster und soziale Ausdrucksfunktionen gekennzeichnet. Die Sprache der Körper ist dabei für die Rezipienten mehrdeutig, nicht aber für die Figuren. Zu dieser Szene vor dem Minnetrank lassen sich Parallelen und signifikante Unterschiede in der Handlung um Isoldes verrätseltes Liebesgeständnis nach dem Minnetrank feststellen.84 Die Inszenierung der Gefühlskommunikation indiziert dort zum einen, wie die Relation der beiden sich aufgrund des Tranks objektiv verändert hat, zum anderen zeigt sie, wie die Transformation der Beziehung durch die Figuren vollzogen wird. Ein Unterschied wird zunächst in den situativen Bedingungen deutlich. In der ersten Szene findet die Interaktion öffentlich statt, während die zweite Szene dadurch gekennzeichnet ist, dass die beiden versuchen, heimlich miteinander zu sprechen (vgl. V. 11930-11933), wodurch die Sphäre der Minnekommunikation eröffnet wird. Auch hier spielt das Erinnern eine Rolle, jedoch wird diesmal Tristan durch Isolde an Vergangenes erinnert. Dabei wird die Beziehung der beiden nun als Freundschaft perspektiviert. Während Isolde in der ersten Szene Tristans Triumph über den Truchsess als Unglück wertet (vgl. V. 11623-11630) und ihm den Mord an ihrem Onkel vorhält, erinnert sie ihn nun an den erfolgreichen Kampf gegen den Drachen und die Aufdeckung seiner Identität durch den Splitter, ohne diesen Ereignissen eine negative Wertung zuzuschreiben. Das Er-Kennen des anderen in dem mose und in dem bade (V. 11959) tritt in den Vordergrund. In der ersten Szene ist die Kommunikation durch soziale Konventionen geregelt und nur für die Rezipienten doppelbödig. Hier hingegen wird sie durch Jagdmetaphern als strategisch (vgl. V. 11934-11936)85 und auch auf der Figurenebene als mehrdeutig gekennzeichnet. Isolde spielt auf ihre verhinderte Rache an, bezieht diese jedoch nicht mehr auf den Mord an ihrem Onkel, sondern auf ein anderes Motiv: da^ ich nu wei% wiste ich do, / binamen so ware e^iumer tot (V. 11966f). Isolde steuert das Gespräch mittels eines vage gehaltenen Vorwurfs, und setzt so den anderen unter Zugzwang, auf die gleiche Weise, in der auch Blanscheflur in ihrem Minnegeständnis verfahrt (vgl. V. 748-754). Isolde lässt durchblicken, dass sie ge84

Diese Szene ist in jüngerer Zeit durch die Auffindung des Carlisle-Fragments erneut ins Interesse der Forschung gerückt. Einen Vergleich zwischen Thomas und Gottfried ziehen JANTZEN/KRÖNER, Zum neugefundenen Tmte»-Fragment, sowie NICOLA ZOTZ: Programmatische Vieldeutigkeit und verschlüsselte Eindeutigkeit. Das Liebesbekenntnis bei Thomas und Gottfried von Straßburg (mit einer neuen Übersetzung des Carlisle-Fragments). In: GRM 50 (2000), S. 1-19. Die non-verbale Kommunikation vor dem amer-Rätsel ist in diesem Fragment nicht vollständig überliefert. Erkennbar ist nur, dass auch Thomas Minnezeichen (Erbleichen) sowie eine körperliche Annäherung darstellt.

85

Zur Jagdmetaphorik vgl. WESSEL, Probleme der Metaphorik, S. 304-316 u. S. 378-398.

Paarbindung und Minneidentität. Entdifferenzierung und Differenzierung

271

genwärtig ein neues kit betrübt, wodurch die ritualisierte Kommunikation von Trauer und Trost ausgelöst wird. Tristan reagiert entsprechend mit der Frage: wa% wirret iu? (V. 11988). Im erneuten Vollzug dieses Interaktionsmusters wird das Verhältnis der beiden rekonstituiert. Während Isolde in ihrer verbalen Klage das Rätsel zu entfalten beginnt, das Tristan schließlich als Minnebekenntnis entschlüsselt, wird auf der Ebene der Gestik die Annäherung der Körper inszeniert. Im Kontrast zur ersten Szene führt Isolde die Berührung der Körper herbei: si stiurte unde leinde sich mit ir ellebogen an in: daz was der beide ein begin. (V. 11974-11976)

Die Ambiguität der Körpersprache kommt nun auch auf der Figurenebene zum Tragen und wird durch die unterschiedliche Figurenperspektive unterstrichen. Isoldes Anlehnen bildet den ersten Schritt in der erotischen Annäherung, doch Tristans Handeln findet weiterhin auf der Ebene normkonformer emotionaler Interaktion zwischen Herrin und Höfling statt. Seine Reaktion wird als ein Akt des Austarierens von Nähe und Distanz markiert, der die fremede (V. 11905) der beiden nicht durchbricht: ir friunt begunde ouch si dar wider mit armen umbevahen ze verre noch ze nähen. niwan in gastes wise. (V. 11982-11985)

Isolde wehrt seinen Trost nicht ab und akzeptiert ihn somit als friunt. Damit lässt Isolde zwischen der verbalen und der non-verbalen Äußerung einen Widerspruch entstehen und führt so eine Irritation herbei, die Tristan zur Auflösung drängt (vgl. die wiederholte Frage; V. 11987f.). Mit dem /-Rätsel wird dann die Ambiguität der sprachlichen Zeichen selbst ausgespielt. Eindeutigkeit und Einheit ist nur auf der Ebene der Körper Ausgangspunkt der Kommunikation des Paares, auf der Ebene der subjektiven Erkenntnis muss diese im Minnegeständnis erst hergestellt werden. Die Ebene des Körpers und der symptomatischen Minnekommunikation kommt in der Geständnisszene auf signifikante Weise zum Tragen. In der ersten Trostbegegnung heißt es von Isolde, dass sie weint (da si weinende sa%/ diu weinde unde klagete da% V. 11551 f.), der Emotionsausdruck wird jedoch nicht in Szene gesetzt. Demgegenüber kommt das Wort weinen in der Geständnisszene gar nicht vor. Isoldes Mimik, Gestik und Körpererleben werden hingegen geschildert: ir spiegelliehten ougen diu volleten tougen. ir begunde ir herze quellen,

272

Trauer und Identitätsreflexion im Tristan Gottfrieds von Straßburg ir süezer munt uf swellen, ir houbet daz wac allez nider. (V. 11977-11981)

Während in der ersten Szene das Weinen eine öffentliche Handlung darstellte, wird nun die Heimlichkeit von Isoldes Tränen markiert. Um die Bedeutung dieser Unterschiede zu erfassen, gilt es die Funktionen des Weinens im Tristan an anderer Stelle einzubeziehen. Daher wird im Folgenden der Zeichenstatus dieses Emotionsausdrucks untersucht. 5.5.3 Die Geste des Weinens Weinen ist die typische Geste für kollektive Klagen in Situationen von Tod, Unglück und Abschied, etwa bei der Trauer des Markehofes um Riwalin (vgl. V. 1157), bei der Klage von Ruals familia nach der Entführung Tristans (vgl. V. 2379-2383), beim Bericht Ruals über Blanscheflurs und Riwalins Tod (vgl. V. 4216-4224), bei Morgans Niederlage (vgl. V. 5480), bei Gurmuns Zinsforderung (vgl. V. 6042-6046), beim Abschied Isoldes von Irland (vgl. V. 11500f.). An letztgenannter Stelle werden zwei Dimensionen der Trauer angesprochen, eine öffentliche und eine heimliche: Isöt was maneges herzen nöt: si bar vil manegem herzen tougenlichen smerzen. diu weineten genöte ir ougen wunne Isote. da was gemeine weine: sie weineten gemeine vil herzen und vil ougen offenliche und tougen. (V. 11502-11510)

Die Abschiedstrauer ist öffentlich und kollektiv, besitzt jedoch darüber hinaus eine Dimension, welche die Herzen von vielen Einzelnen in besonderer Weise involviert und dabei heimlich bleibt. Angespielt wird hier auf Isoldes Minnecharisma, das mit ihrer höfischen Bildung durch Tristan vervollkommnet wird und durch das sie die Herzen mit seneltcher trachte erfüllt (vgl. V. 8080f.). Indem das heimliche Weinen der Herzen 86 und das öffentliche Weinen der Augen voneinander unterschieden werden, erscheint die sichtbare Form des Trauerausdrucks als Element ritualisierter emotionaler Kommunikation codiert.

86

Das Motiv des weinenden Herzens wird auch verwendet, als Riwalin von Blanscheflur Abschied nehmen will. Auch hier wird der Bezug zur Minnebindung hergestellt und die heimliche Dimension dieser Interaktion markiert (vgl. V. 1416-1419).

Paarbindung und Minneidentität. Entdifferenzierung und Differenzierung

Einzelne Figuren weinen bei der Totenklage (Tristan am Grab Ruals und Floraetes; vgl. V. 18654f.), oder in Situationen der Gefahr (Tristan bei der Entführung; vgl. V. 2330-2333 u. 2482; Brangaene vor ihren Mördern; vgl. V. 12795f.; Isolde bei der Entführung durch Gandin; vgl. V. 13295; Tristan nach dem belauschten Gespräch im Baumgarten; vgl. V. 1491719). Tränen untermauern die Bitte um Hilfe oder Gnade: Brangaenes Mörder erbarmen sich ihrer (vgl. V. 12853-12856). Blanscheflur weint, als sie ihre Amme um Hilfe bittet: und huop ir klage hin zir also, als si ie täten und noch tuont, den ir dinc stat als ez ir stuont: ir ougen über wielen, die heizen trehene vielen gedihtecliche und ange über ir vil liehtiu wange. (V. 1 2 0 4 - 1 2 1 0 )

Das Weinen fungiert hier auch in einer nicht-öffentlichen Situation als Element ritualisierter Kommunikation. Eine weitere Funktion des Weinens, die den sozialen Aspekt besonders verdeutlicht, ist der Ausdruck einer Treuebindung. So werden Kurnevals Tränen auf dem Schiff der Entführer nicht durch seine eigene Gefahrdung motiviert, sondern durch die Klage Tristans. Auch als Kurneval Tristan in Irland in Gefahr glaubt, berichtet er weinend den Baronen davon. Auffallend gehäuft begegnet das Weinen in der Begegnung Tristans und Brangaenes, in welcher die Spanlist vereinbart wird. Im Kontrast zu den Tränen, welche die drei Vertrauten gemeinsam vergießen, steht das falsche Mitleid des Verräters Melots, mit dem er sich vergeblich gegenüber Tristan als Verbündeter ausgeben will (vgl. V. 14532-14535; 14558-14561). Das Weinen wird als kindlich bezeichnet, zum einen, als Tristan sich allein in Cornwall wiederfindet, zum anderen, als Rual am Markehof vom Tod der Eltern Tristans berichtet. Tränen erscheinen somit einerseits als sozial modellierte Geste in angemessenen öffentlichen Situationen, andererseits als kindlich-unmittelbarer Verzweiflungs- und Furchtausdruck. Der Vergleich Ruals mit einem Kind kann daher die Affekthaftigkeit und somit die Authentizität der Trauerperformanz unterstreichen. Für die Codierung von Tränen sind einige Passagen der Bettgesprächsepisoden, in denen Isolde Marke über ihr Verhältnis zu Tristan täuscht, signifikant. Der Zusammenhang von Herz und Tränen gilt einerseits als authentisierend, andererseits wird er aber durch Isoldes Unaufrichtigkeit gebrochen. Von besonderem Interesse ist Isoldes heuchlerisches Weinen: si huob an und begunde mit ougen und mit munde leitliche klage erscheinen,

274

Trauer und Identitätsreflexion im Tristan Gottfrieds von Straßburg so klageliche weinen, daz si dem einvalten man sinen zwivel allen an gewan, und wol gesworen hacte, daz si ez v o n herzen taete. (V. 13891-13898)

Ausdrücklich wird hier Weinen als Körpertechnik gezeigt, die strategisch eingesetzt werden kann.87 Die Ausdrucksfunktion des Weinens wird von Isolde funktionalisiert, zugleich wird der Wahrheitsanspruch dieses emotionalen Zeichens für die Rezipienten unterlaufen. Die Fähigkeit, diese Körpertechnik einzusetzen, wird den Frauen als Wesenseigenschaft zugeschrieben: wan an den frouwen allen enist nie mere gallen, als man uz ir munde giht, noch enhabent dekeiner trüge niht noch aller valsche keinen, wan daz si kunnen weinen äne meine unde äne muot, als ofte so si dunketguot. (V. 13899-13906)

Die weibliche Fähigkeit, Tränen willentlich hervorzubringen, wird an anderer Stelle noch einmal angesprochen. Nach dem belauschten Gespräch fragt Marke Isolde, womit sie sich ihre Zeit vertrieben habe. Isoldes Antwort funktionalisiert nun das Weinen in entgegengesetzter Weise. Hatte sie in der vorhergegangenen List mittels willentlich hervorgebrachter Tränen authentische Trauer simuliert, so erklärt sie nun ihre ,echte' Traueräußerung zu absichtlich evozierten Tränen ohne Ausdrucksfunktion: ,swie ez geschehe, ez geschach und geschiht ouch hiute und alle tage; triure unde üppecllche klage deist min und aller frouwen site; hie reinen wir diu herzen mite und liuteren diu ougen. wir nemen uns dicke tougen ein michel leit von nihte und lazenz ouch enrihte.' (V. 14960-14968)

Mit dem Motiv des Herzens als Tränenquelle wird hier auf eine solche Weise gespielt, dass die ethische Dimension der Authentizitätsproblematik in den Hintergrund tritt und den Rezipienten ein potentielles Vergnügen an der Doppelbödigkeit und dem Wechselspiel von körperlichen und

87

Zu weiteren Belegen über heuchlerisches Weinen in der mittelalterlichen Literatur vgl. WEINAND, Tränen, S. 64f. Dieser Aufstellung zufolge überwiegt insgesamt die Zuschreibung an Frauenfiguren, besonders in späteren Texten. Aus der Zeit um 1200 verzeichnet WEINAND nur bei Gottfried Belege für geheucheltes Weinen.

Paarbindung und Minneidentität. Entdifferenzierung und Differenzierung

sprachlichen Zeichen eingeräumt wird. Isoldes Lüge lässt sich darüber hinaus als semiotischer Metakommentar zum unfesten Status körperlicher Zeichen verstehen. Ihre List macht transparent, dass deren Bedeutungsund Wahrheitsgehalt auf Zuschreibungen beruht. Resümierend ist festzuhalten, dass das Weinen vor allem als Element ritualisierter sozialer Kommunikation codiert wird. E s beglaubigt als Emotionsausdruck die Authentizität von Absichten, Gefühlen und sozialen Relationen. Zugleich wird dieser Geste auch ein Grad an Manipulierbarkeit zugeschrieben, der einen strategischen Einsatz ermöglicht und den Wahrheitsanspruch des Zeichens fragwürdig macht. Der typische Emotionsausdruck der Trauer oszilliert demnach zwischen natürlichen und gegebenen Zeichen und wird je nach Kontext in die eine oder andere Richtung stilisiert. Vor diesem Hintergrund sind Isoldes Tränen in den beiden Schiffsszenen vor und nach dem Minnetrank zu perspektivieren. Gegenüber dem ritualisierten Weinen aufgrund des Abschieds und der fragwürdigen Absicherung des Statusübergangs wird in der zweiten Szene eine Mimik entworfen, welche auf die Minnebindung verweist und deren übermächtige Geltungskraft ausdrückt. Die Heimlichkeit der Tränen folgt keiner situativen Logik, denn Weinen ist zuvor Teil einer öffentlichen Kommunikation. Vielmehr dient dies der Abspaltung einer eigenen Sphäre der Minnekommunikation. Die aufwallenden Tränen und der Bezug auf das Herz erscheinen als Signal der Authentizität. Syntaktisch ist nicht Isolde Subjekt dessen, was geschieht. Sie wird von einem Affekt erfasst, der unmittelbar körperlich manifest wird. Verkörpert Isolde also auf der Schiffsreise von Irland nach Cornwall in der Trauer zuerst ihre .irische Identität', so manifestiert ihr Körper in der zweiten Szene eine Identität, die durch die Minne zu Tristan bestimmt ist. Auch HAUG sieht bei Gottfried durch den Minnetrank einen Identitätsübergang inszeniert. Durch den Trank wird das Paar aus seinen sozialen Bezügen herausgerissen: „ D a s bedeutet, daß den Liebenden die Rückkehr in eine objektive O r d n u n g und eine entsprechende identitätsstiftende Position verwehrt oder nur n o c h z u m Schein möglich ist, s o daß sie sich g e z w u n g e n sehen, sich eine neue, und das kann nur heißen, eine subjektive Identität zu suchen, und diese ist oder wäre nunm e h r allein in der Liebe, in der personalen Selbstvergewisserung über das D u , zu gewinnen."88

HAUG korreliert die Begriffe subjektive und objektive Identität mit der Opposition von ,personaler' und .sozialer' Identität. Mit Blick auf die identitätskonstituierende Funktion von Emotionen zeigt sich jedoch, dass

88

HAUG, Erzählen als Suche, S. 186.

276

Trauer und Identitätsreflexion im Tristan Gottfrieds von Straßburg

diese Dichotomie zu differenzieren ist. Emotionalität ist für die öffentliche Bindung wie für die illegitime, .private' Bindung elementar, personale Identität insofern sozial konstituiert. Die exklusive Minneidentität ist selbst einerseits objektiv, d. h. auf der Ebene körperlicher Materialität gegeben. Andererseits wird sie in der Kommunikation der Partner subjektiv vollzogen. Personalität und Subjektivität sind jenseits der Verkörperungen und Handlungen der Subjekte nicht greifbar. Vor dem Hintergrund der bisherigen Befunde zur Entdifferenzierung der Minneidentität ist zu fragen, in welcher Relation diese zur Singularität der Tristan-Identität steht. 5.5.4 Figurationen verlorener Selbsteinheit: Differenz in der ,Minneidentität' An Tristans Geburt, Taufe und Jugendgeschichte hat sich gezeigt, dass zwischen der Konstitution von Identität durch die Positionierung in einem sozialen Gefüge und der Aneignung dieser Identität durch den Helden Brüche markiert werden. Die singuläre, persönliche Identität des Helden ist durch das Signum der triure markiert, das auf diese Brüche wie auch auf das Minneschicksal des Protagonisten vorausweist. Insofern werden Tristan mit dem Minnetrank die Aspekte, die für seine Identität prägend sind, gewissermaßen von außen noch einmal entgegen gebracht: die Herauslösung aus sozialen Bindungen, die Aufspaltung heimlicher und öffentlicher Aktionsräume, die Ambivalenz von Tod und Leben. Mit W O R S T B R O C K lässt sich dieser Umstand auf die ,Finalität des Zufalls' in diesem Text beziehen. 89 Ihm zufolge bildet der Minnetrank das konstitutive Zentrum des Romans und der Tod das Ziel in der unausweichlichen Fatalität der Handlung. Daher sieht er Tristans und Isoldes „Vita" dem gleichen Prinzip unterworfen. Eine Differenz konstatiert W O R S T B R O C K allerdings in Isoldes bewusstem Umgang mit dem Leidaspekt der Minne gegenüber Tristans „Mißverständnis" der Leidflucht in der Petitcreiu-Episode. 90 Demgegenüber wird hier die These aufgestellt, dass die Finalität des Geschehens von der Identitätskonstitution des Helden nicht zu trennen ist, welche der ,Minnevita' des Paares übergeordnet ist. Der unterschiedliche Umgang mit der Trauer ist als Ausdruck jener grundlegenden Differenz der Identitätsentwürfe zu verstehen.

89

90

Vgl. FRANZ JOSEF WORSTBROCK: Der Zufall und das Ziel. Über die Handlungsstruktur in Gottfrieds Tristan. In: Fortuna. Hrsg. von WALTER HAUG/BURGHART WACHINGER. Tübingen 1998 (Fortuna vitrea 15), S. 34-51. Vgl. hier S. 46f., Anm. 18.

Paarbindung und Minneidentität. Entdifferenzierung und Differenzierung

Der Minnetrank, d. h. das mit ihm verbundene Schicksal sowie die spezifische Körperlichkeit der Minneeinheit, aktualisieren Tristans mütterliches ,Erbe\ Für Isolde dagegen werden durch den Trank völlig neue Bedingungen der Identitätskonstitution geschaffen. Insofern lassen sich trotz der beschwörend wiederholten Einheitsformeln grundlegende Differenzen in den Identitätsentwürfen der beiden Figuren feststellen. Der Zusammenhang von Identität und Singularität, der insbesondere anhand des Namens entfaltet wird, wird durch die Isolde-Figur, deren Namen gerade nicht nur eine bezeichnet, negativ reflektiert. Das Interesse gilt hier jedoch nicht diesem bereits in der Forschung vielfach konstatierten Aspekt. Vielmehr soll gezeigt werden, wie die Bedeutung der Trauer für die Identitätskonstitution der Protagonisten differiert. Die Analyse der /re»n?-Identität Tristans hat ergeben, dass diese durch einen Selbstverlust geprägt ist, der Figurationen der Suche und der Transformation generiert. Isoldes ,Selbstverlust' ergibt sich jedoch erst sekundär, durch den Verlust Tristans. Dieser erzeugt keine Transformation, sondern eine Übersetzung der doppelten Bindung an Marke und Tristan in eine Spaltung der Person. Dieser grundlegende Unterschied der Identitätskonstitution setzt vor vor allem dort Differenzierungsprozesse in Gang, wo die Kommunikation der Körper unterbrochen ist. Dies zeigt sich besonders mit Blick auf die Trennung des Paares nach der Entdeckung im Baumgarten. Konsens besteht in der Forschung darüber, dass mit dem Abschied der Liebenden und der anschließenden räumlichen Trennung die Differenz in die Minneeinheit einbricht. Wie diese Differenz zu werten ist, wird jedoch unterschiedlich beurteilt. Der Kontrast zwischen Isolde und Tristan wurde vor allem im Hinblick auf die Verwirklichung bzw. das Scheitern gegenüber einem Ideal der Minne diskutiert.91 91

Maßgeblich für die Deutung der Abschiedsszene ist PETER WAPNEWSKI: Tristans Abschied. Ein Vergleich der Dichtung Gotfrits von Straßburg mit ihrer Vorlage Thomas. In: F S f ü r JOST TRIER z u m 7 0 . G e b u r t s t a g . H r s g . v o n WILLIAM FOERSTE/KARL HEINZ

BORCK. Köln, Graz 1964, S. 335-363. Das Scheitern des Protagonisten gegenüber dem Minneideal postuliert etwa MICHAEL DALLAPIAZZA: Männlich - Weiblich. Bilder des Scheiterns in Gottfrieds Tristan und Wolframs Titurtl. In: Arthurian Romance and Gender. Masculin/Feminin dans le roman arthurien medieval. Geschlechterrollen im mittelalterlichen Artusroman. Ausgewählte Akten des XVII. Internationalen Artuskongresses. Hrsg. von FRIEDRICH WOLFZETTEL. Amsterdam, Adanta 1995 (Internationale Forschungen zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft 10), S. 176-182. Einen Versuch, Tristan gegenüber dem Schuldvorwurf der Forschung in Schutz zu nehmen, unternimmt VICTOR MILLET: Liebe und Erinnerung. Überlegungen zur Isolde Weißhand-Episode. In: Der Tristan Gottfrieds von Straßburg, S. 357-377; mit anderem Zugriff auch CLAUDIA KONETZKE: triuwt und melancholia. Ein neuer Annäherungsversuch an die IsoldeWeißhand-Episode des Tristan Gottfrieds von Straßburg. In: Körperinszenierungen in mittelalterlicher Literatur. Kolloquium am Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Uni-

278

Trauer und Identitätsreflexion im Tristan Gottfrieds von Straßburg

Einen Ansatz, der die ethische Problematik nicht ins Zentrum stellt, hat hingegen U L R I K E Z E L L M A N N verfolgt.92 Sie geht von der Prämisse aus, dass Abschiede ritualisiert erfolgen, um Verbindlichkeit für die Zeit der ,Kontakdosigkeit' herzustellen. Im Tristan werde diese Funktion durch die Rhetorik des Dialogs geleistet. Indem darin der Abschied als Moment höchster Einheit stilisiert werde, eröffne sich die Möglichkeit, gerade in der Diskontinuität die exklusive Minnegemeinschaft des Paares zu affirmieren.93 Die Trauer beim Abschied, so ließe sich ergänzen, authentisiert die Kommunikation von Verbindlichkeit; im Tristan verkörpert die Abschiedstrauer die Minnegemeinschaft. Doch wird nach der Trennung besonders deutlich, dass die Trauer zwar den Modus der Konstitution und Affirmation der Minneeinheit des Paares darstellt, zugleich aber auch für die Identitätskonstitution der ,minneidentischen' Partner je unterschiedliche Bedeutung hat. In den Klagen der beiden Protagonisten lässt sich zeigen, wie die Minneidentität durch die Spezifik und Singularität der Tristanidentität durchkreuzt wird. In Isoldes Klage nach Tristans Flucht aus dem Baumgarten wird die Entdifferenzierung der Körper erneut behauptet. Hier wird diese jedoch nicht mehr, wie in der Symptomatik des Liebesleids, durch die Materialität der Körper in Szene gesetzt, sondern durch die Rede der Klagenden. Diese stellt den Ich-Verlust aus, den Isolde durch Tristans Fortgehen erfährt, indem das Gefühl für Raum und Distanz aufgehoben erscheint. Isolde sieht sich mit Tristan auf dem Schiff davonfahren, spricht ihn dann wieder als Anwesenden an. Sie spaltet sich in Subjekt und Objekt ihrer Rede und kann beide nicht lokalisieren: ,Isöte lip, Isote leben diu sint b e v o l h e n unde ergeben den segelen unde den winden. w ä m a g ich mich nu vinden? w ä m a g ich mich nu suochen? w ä ? nu bin ich hie und bin ouch da und enbin d o c h w e d e r da n o c h hie. w e r w a r t ouch sus verirret ie? w e r w a r t ie sus zeteilet me?' (V. 1 8 5 3 3 - 1 8 5 4 1 )

Der entdifferenzierte Körper, der die zweieinheitliche Identität und Subjektivität der Liebenden materialisiert, wird hier in der Körpererfahrung ex negativo vermittelt. Die Trennung der Personen wird als Spaltung der Per-

92

93

versität Bielefeld. Hrsg. von KLAUS RlDDER/ΟΤΓΟ LANGER. Berlin 2002 (Körper, Zeichen, Kultur 11), S. 117-138. Vgl. ULRIKE ZELLMANN: Abschied - Tradition des Bruchs. In: Personenbeziehungen in der mittelalterlichen Literatur. Hrsg. von HELMUT BRALL. Düsseldorf 1994 (Studia humaniora 25), S. 389-425. Vgl. hier S. 392f.

Paarbindung und Minneidentität. Entdifferenzierung und Differenzierung

son reformuliert. Im folgenden Teil des Monologs differenziert Isolde zwischen sich und Tristan: er lät mich hie, und vert er hin (V. 18555). Die Übereinstimmung im kit soll das Fortbestehen der Einheit garantieren: ist sin alse vilso min (V. 18561). Doch auch diese Einheit unterliegt der Differenzierung, die zunächst als Abstufung ansetzt, denn Isolde beginnt, die unterschiedliche Schwere des Leides abzuwägen: e^ tuot im noch wirs danne mir (V. 18570) und ein größeres Recht auf die Trauer für sich zu reklamieren. Schließlich reflektiert sie ihre Position als von Tristan grundsätzlich verschieden: und klaget er wol niht billiche als ich: ich wil mir wol ze rehte sagen, daz ich mir trüren unde klagen billiche nach Tristande nime; wan min leben daz lit an ime, da wider so lit an mir sin tot. durch daz so klaget er i n e not. (V. 18572-18578)

Am Ende dieses Differenzierungsprozesses wird der Unterschied der Identitätsentwürfe deutlich. Isolde verteidigt ihr Recht auf die Trauer, durch die sie ihre Bindung an Tristan auch im Verlust aufrechterhält.94 Diese Textstelle demonstriert in herausgehobener Weise die Funktion von Trauer, Zugehörigkeit als Konstituens personaler Identität zu realisieren, und bezieht diese auf die Erlebnisseite der Emotion. Wie in der PetitcrüEpisode ist die Trauer intentionales Handeln: sine wolte doch niht frö sin diu getriuwe, sta:te senedasrin, diu hete ir fröude unde ir leben sene unde Tristande ergeben. (V. 16403-16406)

Isolde sieht zwar Tristans triure in gleicher Weise gestiftet: der sine fröude und sin leben/ durch mich %e triure hat gegeben (V. 16377f.). Doch während für Isolde die Trauer ein Handlungsziel darstellt, das sie intentional und aktiv verfolgt, um ihre Bindung an Tristan aufrechtzuerhalten, erweist sich Tristans Leiden an der Trennung als affekthaft und symptomatisch. Das Darstellungsmuster, das zuvor eingesetzt wurde, um die Einheit der Partner auf der Ebene der Körper zu inszenieren, wird nun für Tristan reserviert. Sein Körper manifestiert weiterhin Symptome der Liebeskrankheit, die nun eindeutiger als Trauerausdruck codiert werden, und über deren kommunikative Wirkung Tristan keine Kontrolle hat: 94

WALTRAUD FR1TSCH-RÖßLER, Finis Amoris. Ende, Gefährdung und Wandel von Liebe im hochmittelalterlichen deutschen Roman. Tübingen 1999 (Mannheimer Beiträge zur Sprach- und Literaturwissenschaft 42), hier S. 350, betont dagegen die durchgängig realisierte Gemeinsamkeit der Liebenden, die sich in einem Dreischritt von Leidbejahung, Ubereinstimmung im Leid und Leidüberwindung „vom Tun über das Wollen zum Denken" wandle. Im Abschied werde die letzte Stufe dieser Entwicklung erreicht.

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Trauer und Identitätsreflexion im Tristan Gottfrieds von Straßburg so wart er von dem namen ie so riuwec und so freudelos daz man im under ougen kos den smerzen sines herzen. (V. 18978-18981)

Derjämer, den er aufgrund der Trennung von der ersten Isolde empfindet, bewirkt in der Interaktion mit Isolde Weißhand, da^ er sin selbes gar verga^J und siujtende alle% bi ir sa% (V. 19277f.). Wie zuvor am Markehof sind die Symptome als Ausdruck von Minneleid eindeutig zu entziffern; al da% ingesinde (V. 19281) versteht Tristans triure (V. 19285) richtig, wenn auch die Verursacherin und Adressatin falsch identifiziert wird. Die intentional gegebenen Zeichen sind demgegenüber konventionalisierte Formen höfischen Umgangs (vgl. V. 19185-19199), mit denen Tristan Isolde Weißhand zu trösten versucht. In Verbindung mit der ästhetischen Stilisierung seines Emotionsausdrucks im Tristan-Lied lösen die Symptome Deutungsprozesse aus, die zur Verstrickung mit Isolde Weißhand führen.95 In der Symptomatik von Tristans Trauer wird die Körperlichkeit der Minneidentität nun nicht mehr als Synchronisation des Paares inszeniert, sondern konkretisiert Tristans erbeminne (V. 19183). Die Trennung von der blonden Isolde wie die /«'/-stiftenden Verwirrungen in Karke erfüllen das singuläre Schicksal des Protagonisten und lösen ein weiteres Mal die Ankündigung des Erzählers ein: sehen wie trureclicb ein leben/ ime lebene wart gegeben (V. 2009f.). In Tristans Klage kehrt das Motiv des Verirrens, des Suchens und des Findens wieder. Während es in Isoldes Klage eingesetzt wird, um die Einleiblichkeit der Minneidentität zu evozieren, stellt es in Tristans Klage die räumliche Distanz zwischen den Körpern und Personen aus. Nach der Trennung sucht Isolde ihr verlorenes Selbst, Tristan imaginiert Isolde jedoch auf der Suche nach ihm: ,man suoche da, so bin ich hie: man suoche hie, so bin ich da: wie vindet man mich oder w i ? wa man mich vinde? dä ich bin: diu lant enloufent niender hin; so bin ich in den landen, da vinde man Tristanden. [...] min ftouwe, an der min leben lit, weiz got, diu solte nach mir sit vil tougenliche haben ersant

95

Diesen Vorgang analysiert aufschlussreich DRAESNER, Zeichen - Körper - Gesang. Sie weist darauf hin, dass Körpersprache und Lied in engen Zusammenhang gestellt werden. Die Differenziertheit der Körperzeichen und die unterschiedliche Funktion von Trauersymptomatik, Blicken und Gesten bezieht sie allerdings nicht ein.

Zusammenfassung der Ergebnisse

281

al Kurnewal und Engelant, Franze und Normandie, min lant ze Parmenie oder swa man seite maere, daz ir friunt Tristan w i r e . ' (V. 19520-19542)

Tristan 2eichnet den Weg nach, der ihn von Isolde fortgeführt hat, und markiert so die Distanz, die zwischen den Körpern liegt. Der Weg führt aber nicht zu dem Land, in dem er sich nun tatsächlich befindet, sondern endet in Parmenie. Doch auch in ,seinem' Land hat Tristan nicht seinen eigentlichen Ort, vielmehr soll man ihn dort suchen, wo man von ihm erzählt. Die Reflexion auf die eigene Ortlosigkeit und .Zerrissenheit' verweist auf Tristans singuläre Identität und darauf, dass diese im Zentrum von Gottfrieds Erzählung steht. Isolde sucht in der Trauer eine Identität zu realisieren, die auf Bindung beruht. Demgegenüber ist Tristan die tawre-Identität als Singularität, Bindungs- und Selbstverlust immer schon zu eigen. Das Unterfangen, ein triureloser (V. 19468) Tristan zu werden, ist daher nicht nur von vornherein zum Scheitern verurteilt. Es markiert den Höhepunkt der Realisierung dieser Identität gerade dort, wo die Bindung an Isolde aufs Spiel gesetzt wird.

5.6 Zusammenfassung der Ergebnisse Zwar ist Gottfried in der Forschung eine Tendenz zur Psychologisierung und zur Rücknahme typischer körperlicher Ausdrucksmuster zugeschrieben worden, doch hat sich Trauer auch im Tristan als soziale Performanz erfassen und analysieren lassen. Der bisherige Befund, dass Trauer für die Konstitution sozialer Bindung und die Verkörperung von Identität eine maßgebliche Funktion besitzt, die in den literarischen Inszenierungen nuanciert dargestellt wird, konnte in einer neuen Konfiguration bestätigt werden. Die Zeichenreflexion, die in Gottfrieds Text in der jüngeren Forschung als zentrale Sinnebene profiliert wird, hat sich nicht nur als Sprachreflexion charakterisieren lassen, sondern schließt auch die körperlichen Zeichen ein. Im Konnex von Namensetymologie und Handlung erweist sich Identität als ein zentrales Thema, das mit der Zeichenreflexion verwoben wird. Trauer bildet in unterschiedlichen Formen und Situationstypen (Verlusttrauer, Abschiedsklage, melancholische Minnekrankheit) den Rahmen, um die Minneeinheit des Eltern- und des Protagonistenpaares in Szene zu setzen. In der Vorgeschichte ist dabei vor allem das Muster der mimeti-

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Trauer und Identitätsreflexion im Tristan Gottfrieds von Straßburg

sehen Trauer funktional, in welchem Trauer in Reaktion auf das Leid des anderen zum Ausdruck kommt. Bereits hier wird die Liebeseinheit, die mit dem Tod assoziiert erscheint, an den Körper gebunden, wobei festzustellen war, dass diese Verkörperung vorrangig Blanscheflur zugeschrieben wird. Bei der Inszenierung der Minneeinheit von Tristan und Isolde nach dem Trank hat sich hingegen vor allem das Muster der melancholischen Liebeskrankheit als prägend erwiesen, das die Minneeinheit der Protagonisten durch Gleichzeitigkeit sowie durch einen betont symptomhaften Ausdruck charakterisiert. Die Verkörperung der Minneidentität als ,Identisch-Sein' mit dem anderen manifestiert Tristans mütterliches ,Erbe' der Trauer. Auf der Seite Riwalins kommt vor allem der Aspekt des Ehrdefizits zum Tragen, so dass ein .doppeltes Erbe' der Trauer konturiert wird, das die Identität des Helden prägt. Als konstitutiv für die spezifische und singuläre triureIdentität des Helden konnten darüber hinaus die Momente der Aufspaltung und des Selbstverlusts näher bestimmt werden, die durch die Störung der genealogischen Ordnung bedingt sind und in Tristans ,zweiter Geburt' und Taufe entfaltet werden. Diese /n«re-Identität wird in der Geschichte des Protagonisten in immer neuen Konstellationen zur Geltung gebracht, in denen die verwandtschaftliche und die Minneidentität des Helden in Krisen geführt werden. Im Tristan werden verschiedene Dimensionen verwandtschaftlicher Identität — Abstammung und Integration in einen Sippenverband — thematisiert und ihre Aneignung durch den Protagonisten problematisiert. Dabei kommt der Trauer eine wichtige Rolle zu. In der Trauer (re-)konstituiert sich verwandtschaftliche Gemeinschaft, diese formiert sich aber gerade im Verlust des Helden oder ohne seine Teilhabe und dient somit als Folie, um den Prozess der Identitätskonstitution des Helden als singulären abzuheben. Die Singularität des Helden unterläuft auch die immer wieder beschworene Einheit und Gleichheit von Tristan und Isolde nach dem Minnetrank. Nach der Trennung des Paares wird dies in Unterschieden greifbar, die sich bei der Inszenierung der Trauer feststellen ließen. Die Asymmetrie der Identitätsentwürfe entspricht dem ungleich höheren Stellenwert, den die narrative Konstitution der *n«n?-Identität Tristans im Rahmen der Erzählung hat. Insgesamt hat die Analyse des Tristan erwiesen, dass Emotionalität und insbesondere Trauer für die literarhistorischen Redeweisen über Identität und Individualität in diesem Text konstitutiv ist. Die Aspekte .Individualität' und .Subjektivität' sind in der Trätaw-Forschung auf zeitgenössische Entwicklungen in der Theologie bezogen und dabei entweder mit der Frage der Ethik oder der These einer Autonomisierung der Liebe in Zu-

Zusammenfassung der Ergebnisse

283

sammenhang gebracht worden. Mit dem hier verfolgten Ansatz hat sich zeigen lassen, dass das Handeln des Einzelnen gegenüber dem Kollektiv und die Aneignung und Performanz subjektiver Identität auch jenseits dieser Dimensionen im Tristan thematisiert und reflektiert werden. Hierbei ist deutlich geworden, dass zwar die Differenzierung von subjektiven und objektiven Identitätsfaktoren dargestellt wird, dies aber nicht durch eine Gegenüberstellung von personaler und sozialer Identität analytisch erfasst werden kann. Singularität und somit auch ,Individualität' gewinnt dadurch Kontur, dass Identität bei Gottfried als Reflexionsfigur fungiert, in welcher die Konstituenten Genealogie und Zugehörigkeit, Körper und Name, Einheit und Differenz ästhetisch reflektiert werden. Die Trauer (,triure, Tristan) erweist sich hierfür als genuines Zeichen. Die These, dass Trauer in Gottfrieds Text nicht nur auf der Ebene der Konstruktion als Performanz von Identität zu erfassen ist, sondern diese Codierung auch auf der Ebene der Reflexion greifbar wird, hat sich daher ebenfalls erhärten lassen.

6. Fazit und Ausblick Der Eindruck, dass in narrativen Texten des Hochmittelalters Emotionen in einem begren2ten Spektrum dargestellt werden, muss aufgrund der Textanalysen zumindest in Hinsicht auf Trauer korrigiert werden. Dabei ist das Verhältnis zu anderen Emotionskomplexen zu beachten, vor allem aber die Differenziertheit von Trauerdarstellungen. Diese Vielschichtigkeit erschließt sich insbesondere dann, wenn Trauer als Performanz von Identität in den Blick genommen wird. Die methodischen Überlegungen nahmen von der Frage ihren Ausgang, welche Kategorien und Modelle für die Analyse historischer Trauerdarstellungen geeignet sind. Die Untersuchung von Diskursen über tristitia und der historischen Semantik von mittelhochdeutschen Emotionsbezeichnungen führte dazu, Trauer als heuristische Kategorie zu bestimmen. In den Textanalysen hat sich bestätigt, dass Trauer für den Gegenstandsbereich nicht hinreichend durch das Paradigma der Verlustbewältigung definiert werden kann, das für moderne Trauertheorien prägend ist. Neben der Toten- und Abschiedstrauer sind weitere Situationstypen und Trauerformen für den Emotionskomplex konstitutiv. Hinsichtlich der spezifischen Relationierung von Emotionen haben sich besonders die Affinität von Trauer mit schäme und die Wechselbeziehungen mit ψτη als bedeutsam erwiesen, die auf den Zusammenhang von Trauer und ere verweisen. Darüber hinaus ist in den Texten die von modernen Trauerkonzepten gänzlich verschiedene Verwandtschaft von Trauer und Mitleid für die Semantik und Funktionsweise dieser Emotion zentral. Im untersuchten Korpus bildet Trauer eine literarische Konfiguration, mit der Identität konstruiert und reflektiert wird. Die Emotion wird insbesondere in solchen Situationen poetisch entfaltet, die durch Identitätsbedrohung oder Identitätsverlust gekennzeichnet sind. Im Erec wird dieser Aspekt in Enites Klage explizit reflektiert. Doch fungiert in den untersuchten Texten Trauer als Reflexionsfigur für Identität auch dort, w o die reflexive Dimension der Emotion auf der Ebene der Darstellung nicht im Vordergrund steht. Der Stellenwert der Trauer für literarische Identitätskonstitutionen ist nicht allein durch die Selbstthematisierung des Subjekts im Klagemonolog begründet. Maßgeblich ist vielmehr, dass auf der Ebene der Inszenierung von Körpern, Reaktionen und Interaktionen der Figuren differenzierte Strategien zu konstatieren sind, mittels derer komplexe

Fazit und Ausblick

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Identitäten entworfen werden. Dies hat sich für alle drei Texte bestätigen lassen. Im Tristan wird darüber hinaus Trauer zum Signum für die Problematisierung von Identität. Die hier analysierten Identitätskonstruktionen beruhen auf Zugehörigkeiten in kollektiv und dyadisch verfassten Relationen sowie auf sozialen Normen. In Trauerperformanzen erscheint Identität durch diese Faktoren nicht einfach unmittelbar oder objektiv definiert. Vielmehr weisen die Figuren ihre Positionierung in der jeweils entworfenen sozialen Ordnung durch ihre Trauer als subjektiv aus. In den Inszenierungen dieser Performanzen sind sowohl Verfahren der Naturalisierung als auch Überschüsse und Brüche deutlich geworden. Trauer bildet in den Texten einen Modus der Kommunikation authentischer Loyalität und unhintergehbarer Verbundenheit. Der Körper erscheint dabei als wichtige Instanz der Authentisierung. Diese Darstellungsstrategien beinhalten einen differenzierten Einsatz natürlicher und gegebener Zeichen. Besondere Relevanz besitzen die Muster der Affektüberwältigung und der mimetischen Trauer. Die Analyse hat die These bestätigt, dass die Darstellung von Unmittelbarkeit und Affektüberwältigung in spezifische narrative Funktionszusammenhänge eingebunden ist. Inszenierungen von Unmittelbarkeit als Residuen einer archaischen Gefühlsökonomie im Mittelalter zu verstehen, wäre daher kurzschlüssig. Dieser Befund steht gegen die Forschungsthesen zur psychohistorischen Evolution der Affektkontrolle, die im Anschluss an E L I A S aufgestellt worden sind. Wenn nämlich Affektüberwältigung als Darstellungsstrategie nicht nur stilisiert, sondern auch poetisch funktionalisiert wird, kann emotionsgeschichtlich der Schluss gezogen werden, dass dieser Körperstil einer Reflexion zugänglich gewesen ist. Das Motiv des Herzens, das als Metapher des ,Inneren' und der Person fungieren sowie zugleich als Teil des materialen Körpers auf diesen verweisen kann, eröffnet spezielle Möglichkeiten der Bedeutungsstiftung. Zugehörigkeit wird auf ,Einleiblichkeit' als wichtige Argumentations figur bezogen, die in den Trauerinszenierungen je unterschiedlich akzentuiert und legitimiert wird: als primärer Verwandtschaftskörper im Willehalm, als Einleiblichkeit des Paares in der Ehe im Erec und als Transformation der Körper zu Zeichenträgern einer ,Minneidentität' im Tristan. Narrative Verfahren der Authentisierung gehen nicht in einer Korrelation von ,Innen' und ,Außen' auf, wie sich besonders am Beispiel des Fests auf Orange im Willehalm gezeigt hat. Dort wird Gyburcs emotionales Verhalten der vreude von der im Herzen empfundenen Trauer ausdrücklich dissoziiert. Auf diese Weise wird der Emotionsausdruck zwar als nichtauthentisch markiert, doch authentisiert Gyburc gerade durch diese Dissoziation ihre Trauer als Performanz von Verwandtschaft. Auch Enites

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Fazit und Ausblick

Gefühlsmodifikation von leit zu liebe im Erec ist in Bezug auf die Differenzierung von ,Innen' und ,Außen' als besonders komplex hervorzuheben. Dort wird ein Innenraum des emotionalen Verhaltens inszeniert und weibliche Subjektivität auf spezifische Weise konstituiert. Während in der Perspektive der Enite-Figur Identität immer wieder neu auf die Bindung an den Mann reduziert wird, eröffnet sich für die Rezipienten eine doppelte Perspektive, denn andere ,objektive' Identitätsfaktoren wie Status und ere werden zugleich immer auch präsent gehalten. Überschüsse und Brüche in den Inszenierungen von Trauer als Performanz von Identität lassen sich in allen drei Texten konstatieren. So führt im Erec Enites triuwe zu einer paradoxen Performanz von Selbstermächtigung und Selbstnegation; im Tristan werden in immer neuen Konstellationen Gemeinschaftsstiftung und Exklusion inszeniert. Im Rahmen des Verwandtschaftsdiskurses im Willehalm ergeben sich durch die Naturalisierung der Verwandtentrauer Widersprüche zu Geschlechternormen. Die daraus resultierende Spannung wird unter anderem durch das wiederkehrende Motiv der Mahnung aufgehoben, in der konträre Normen in eine Sequenz gebracht werden. Trotz dieser vordergründigen Widersprüche wird indes der Verwandtschaftsdiskurs durch den Geschlechterdiskurs gestützt. Die kulturwissenschaftliche These der Weiblichkeit von Trauer bedarf mit Blick auf narrative Texte um 1200 der Differenzierung. Zwar finden sich vielfach Zuschreibungen von Trauer an weibliche Figuren oder auch Erzählerkommentare, in denen Trauer weiblich markiert wird. Jedoch hat sich in allen drei Texten erwiesen, dass Trauer auch für die Konstitution männlicher Identität zentral ist. Über die Aspekte der Zugehörigkeit und des Geschlechts hinaus vermitteln Trauerinszenierungen weitere Faktoren und Dimensionen von Identität. Im Willehalm wird auf religiöse Trauerkonzepte rekurriert, um den Helden als Heiligen zu auratisieren; im Tristan fließen medizinische Modellbildungen in die Inszenierung der Minneeinheit ein. Die Analysen haben Verdichtungen und Funktionalisierungen unterschiedlicher Trauerkonzepte erkennen lassen. Dieses Ergebnis verdeutlicht, wie komplex und differenziert die oft als stereotyp angesehenen Darstellungen von Trauer tatsächlich sind. Die Codierung von Trauer als ritualisierte Performanz und Verkörperung von Identität ist über den Stellenwert von Zugehörigkeit hinaus als historisch spezifisch zu bestimmen. Die Diskurse über Emotion, Körper, Identität und Sozialität, die sich in den Texten nachweisen lassen, sind auf die Kommunikationsbedingungen der Adelskultur des Hochmittelalters bezogen, in welcher soziale Relationen und Ordnungen weitgehend ohne schriftgebundene Formen der Institutionalisierung abgesichert wurden.

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Unter diesen Bedingungen wird in den fiktionalen Entwürfen das Potential des Körpers als .Wahrheitsgarant' und als Material einer Verstetigung von Identität dadurch ausgeschöpft, dass die körperliche Seite von Trauer auf je besondere Weise inszeniert und funktionalisiert wird. Dabei wird dieses Potential durch die sprachliche Konstruktion der Körper erweitert. Dies zeigt sich besonders im Willehalm bei der Darstellung der eingesunkenen Brust des Helden und der Last seines Herzens. Die Relation von Materialität und Zeichenhaftigkeit des Körpers wird insbesondere im Tristan poetisch reflektiert, wie am Beispiel der ,zweiten Geburt' des Helden verdeutlicht werden konnte. Neben dem Aspekt der Körperlichkeit ist ein weiterer Gesichtspunkt geltend zu machen, um die Codierung von Trauer als Performanz von Identität historisch zu verorten. A L O I S H A H N verweist auf die systemtheoretische Sichtweise, dass in funktional differenzierten Gesellschaften die Integration des ,Selbst' der Sphäre des Privaten zugewiesen und aus anderen Funktionszusammenhängen des Individuums ausgelagert ist.1 Demgegenüber sei es den Akteuren in vormodernen, nicht-funktional differenzierten Gesellschaften möglich gewesen, Identität als „personale Ganzheit" 2 in gesellschaftliche Kommunikation einzubringen. Vor dem Hintergrund der Ergebnisse dieser Untersuchung lässt sich diese These zuspitzen. Um Zugehörigkeit als subjektivierte Identität zu kommunizieren, ist es erforderlich, die Involvierung der ganzen Person zum Ausdruck zu bringen. Dafür wird Trauer in narrativen Texten als ein geeignetes Medium dargestellt. Diese Schlussfolgerung lässt sich mit dem Ergebnis zusammenführen, dass literarische Trauer in Texten um 1200 gerade nicht durch den Topos der Unsagbarkeit strukturiert wird, der literaturgeschichtlich ab dem 18. Jahrhundert an Bedeutung gewinnt. In den untersuchten Texten lassen sich keine Indizien dafür finden, dass die Vorstellung eines nichtmitteilbaren Kerns subjektiver, individueller Emotionalität eine Rolle spielt. Vielmehr ist Trauer als Kommunikation entworfen, die textintern ,lesbar' und affizierend ist. Trauer funktioniert als Performanz von Zugehörigkeit, weil den Darstellungen der Emotion eine Auffassung zugrunde liegt, nach der Trauer ,sich mitteilt'. Diese kommunikative Dimension wird durch die Formalisierung des Ausdrucks gestützt. Die hier untersuchten narrativen Texte reflektieren Inklusionsidentität dergestalt, dass Zugehörigkeit subjektiviert und diese ,Aneignung' auch kommuniziert werden muss. Dieser Befund sowie die Komplexität der fiktionalen Identitätsentwürfe lässt die These zu, dass Inklusionsidentität 1 2

Vgl. HAHN, Konstruktionen, S. 62. Hier S. 28.

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Fazit und Ausblick

zumindest für die Adelsgesellschaft nicht als .fraglos' gegeben gelten kann, wie es in sozialwissenschaftlichen Geschichtsentwürfen häufig unterstellt wird. Die Untersuchung hat gezeigt, dass Besonderheiten der Inszenierung von Trauer mithilfe der Kategorie der Performanz als funktional für Norm- und Identitätsdiskurse erkennbar werden. Hierzu zählen die Involvierung des Körpers, der jeweils erst im Einzelfall genauer zu bestimmende Zeichenstatus sowie die Formelhaftigkeit der Ausdrucksmuster. In dieser Studie ist damit, zusammen mit den Kategorien Verkörperung und Ritualisierung, ein Begriffsinstrumentarium vorgelegt worden, das auch für die Erforschung anderer Emotionsdarstellungen operabel ist. Der Erkenntnisgewinn dieser Kategorien gegenüber psychologisch gefassten Begriffen von Charakter oder Persönlichkeit ist als weiteres Ergebnis festzuhalten. Dadurch wird eine Perspektive eröffnet, in der Bedeutungsebenen und Funktionen von Emotionen untersucht werden können, ohne den Figuren eine spezifische Innerlichkeit oder Psyche zu unterstellen. Auch lässt sich der Stellenwert von Emotionen für narrative Identitätsentwürfe erhellen, ohne eine kohärente Figurenkonstitution vorauszusetzen. Insbesondere für Zorn haben die Analysen zum Willehalm erste Ergebnisse erbracht, die erwarten lassen, dass eine an Konzepten des Performativen orientierte Untersuchung zu weiteren wichtigen Einsichten über diesen Emotionskomplex führen kann. Eine erste Forschungsthese wäre vor dem Hintergrund der Erkenntnisse zur Codierung von Trauer folgendermaßen zu formulieren. Trauer ist als Performanz von Zugehörigkeit auf eine Weise identitätskonstituierend, die segmentäre gesellschaftliche Differenzierung kennzeichnet, doch kommt mit der Affinität zu schäme und dem Aspekt des Ehrverlusts ein Moment hierarchisch strukturierter Identitätsbildung hinzu. Der Bezug auf Machtverhältnisse hat sich aber bei der Analyse von Zorn im Willehalm als noch stärker ausgeprägt erwiesen. Während Trauer vor allem als Performanz von Zugehörigkeit identitätskonstituierend ist, fungiert Zorn, so die Hypothese, in komplementärer Weise als Performanz von Macht. Der Erkenntniswert literaturhistorischer Studien für Fragen der Emotionsgeschichte hat sich im Rahmen der vorliegenden Arbeit hinsichtlich narrativer Texte präzisieren lassen. Erzähltexte sind auf Diskursivierungen von Emotionen hin transparent zu machen, deren Besonderheit darin besteht, dass sie Gefühle in Szenarien einbetten, die kulturelle Schlüsselszenarien auf unterschiedliche Weise reflektieren und vermitteln können. Literaturhistorische Studien sind somit unverzichtbar, um die Medialität von Gefühlskulturen weiter zu erschließen. Hierbei hat besonderes Augenmerk der Konstitution von Rezeptionspositionen zu gelten, die im

Fazit und Ausblick

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Rahmen der vorliegenden Arbeit nur am Rande berücksichtigt werden konnten. Festhalten lässt sich dennoch, dass auf dieser Ebene in den Trauerinszenierungen der untersuchten Texte die Involvierung der Rezipienten das zentrale Moment bindet, wenn diese auch im Einzelnen je unterschiedlich bestimmt ist. Als Verfahren sind vor allem explizite und implizite Appelle des Erzählers an eine mitfühlende Rezeptionshaltung auszumachen, außerdem Visualisierungen und Aufmerksamkeitslenkungen. Im Willehalm werden Strategien der Inklusion und der Exklusion mit Mideidsappellen verbunden. Die Versicherung gemeinsamer Werte und die Differenzierung von Mitleid gegenüber Christen und Heiden bilden literarische Verfahren von Gemeinschaftsstiftung, die in der Rezeption aufgenommen werden können. Im Erec zeigte sich die Ausbildung einer Perpektivenvielfalt. Die Emotionen der Figuren werden zwar aus einer ,Nah-, oder ,Innensicht' vermittelt und mit der Visualisierung von Leid können Mitleidsappelle verbunden sein, zugleich differieren aber Figurenund Rezipientenwissen. Indem der Text Mideid als zivilisatorische' Emotion vorführt, wird eine Rezeptionsposition konstituiert, die mit der Involvierung zugleich auch eine Selbstaufwertung impliziert. Im Tristan werden die Rezipienten als Zeugen der Minnebindungen positioniert. Sie beglaubigen deren Geltungskraft teils gemeinsam mit einer textinternen, sozial verfassten Öffentlichkeit, teils ersetzen sie diese und bilden so eine exklusive, literarisch begründete Gemeinschaft mit den fiktionalen Liebespaaren. Dabei ist jedoch in der Blicklenkung und der Appellformulierung teils eine geschlechtsspezifische Differenzierung zu konstatieren, durch welche besondere Identifikationsangebote an ein männliches Publikum gerichtet werden. Aus literatur- wie emotionshistorischer Sicht wären weitere Untersuchungen zum diachronen Wandel der literarischen Inszenierung von Trauer wünschenswert. Dieser Aspekt blieb durch die Anlage der Arbeit weitgehend ausgeklammert, ebenso wie Trauerdarstellungen in religiöser Dichtung. Vor dem Hintergrund der spezifischen und differenzierten Konzeptionalisierung von Trauer in religiösen Diskursen wären Studien in diesem Gebiet von besonderem Interesse, um die kulturelle Semantik von Trauer im Mittelalter weiter zu erfassen. Hier bietet sich noch ein vielversprechendes Forschungsfeld für die mediävistische Erforschung dieser Emotion ,im Werden'.

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