Rache - Zorn - Neid: Zur Faszination negativer Emotionen in der Kultur und Literatur des Mittelalters 9783737001243, 9783847101246, 9783847001249


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German Pages [238] Year 2014

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Rache - Zorn - Neid: Zur Faszination negativer Emotionen in der Kultur und Literatur des Mittelalters
 9783737001243, 9783847101246, 9783847001249

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Aventiuren

Band 8

Herausgegeben von Martin Baisch, Johannes Keller, Elke Koch, Florian Kragl, Michael Mecklenburg, Matthias Meyer und Andrea Sieber

Martin Baisch / Evamaria Freienhofer / Eva Lieberich (Hg.)

Rache – Zorn – Neid Zur Faszination negativer Emotionen in der Kultur und Literatur des Mittelalters

V& R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0124-6 ISBN 978-3-8470-0124-9 (E-Book) Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Frauenbeauftragten am Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften, Freie Universität Berlin, sowie des Clusters Languages of Emotion, Freie Universität Berlin. Ó 2014, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Giotto, Allegorie delle Virt¾ e dei Vizi, L’Invidia, Cappella degli Scrovegni, Padova. Mit freundlicher Genehmigung der Stadt Padova – Abteilung Kultur. Druck und Bindung: Druck und Bindung: a Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Negative Emotionen und Erzählen Martin Baisch, Evamaria Freienhofer, Eva Lieberich Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Klaus Ridder Religiöse Tabus und negative Emotionen in der »Suche nach dem Gral« .

27

Rache erzählen Fabian Bernhardt Was ist Rache? Versuch einer systematischen Bestimmung . . . . . . . .

49

Nina Nowakowski Alternativen der Vergeltung. Rache, Revanche und die Logik des Wiedererzählens in schwankhaften mittelhochdeutschen Kurzerzählungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Sebastian Möckel Metamorphosen des Zorns. Ovids Racheerzählungen in Mittelalter und früher Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101

Zorn erzählen Beatrice Tr„nca Der Zorn der Ohnmächtigen. Zum »Laüstic«, »Tristan« von Thomas und zum »Herzmaere« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Evamaria Freienhofer Ir traget zwÞne zornbr–ten. Die Funktion von Stolz und Zorn für die Geschlechterkonstruktion in den Kurzerzählungen »La dame escoill¦e« und »Frauenzucht« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153

6

Inhalt

Hendrikje Lehmann liep –ne zorn mac niht s„n? – Vom Liebeszorn und Racheglück im Minnesang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171

Neid erzählen Claudia Lauer Die Emotionalität der Intrige. Variationen im höfischen Roman

. . . . . 187

Eva Lieberich ›ff Tristan, waere ich alse duo!‹ – Tristan und die neidische Hofgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209

Negative Emotionen und Erzählen

Martin Baisch, Evamaria Freienhofer, Eva Lieberich

Einleitung

I.

Negative Emotionen N„t, haz unde zorn habent leider manige sele verlorn, wenne si habent zesamen gesworn.1 Wenn Neid, Hass und Zorn sich zusammen verschworen haben, wurden viele Seelen zugrundegerichtet. Ira est appetitus vindictae.2 Zorn ist das Verlangen nach Rache.

Im Fokus des Bandes stehen mit Rache, Zorn und Neid drei Emotionen, die im mittelalterlichen Sündendiskurs eng verwoben sind. Die Emotionen werden miteinander verkettet, sie gehen zum Teil auseinander hervor: So ist Zorn bei Hugo von Trimberg Teil der Verlaufslogik des Neides. Während Neid von innen nage, wandle Zorn die Emotion in Hass um und trage sie, vergleichbar einem Feuer, dessen Abdeckung abgenommen werde, nach außen.3 Auch Rache wird häufig mit Zorn in Verbindung gebracht. Für Thomas von Aquin ist Zorn einerseits eine Form der Trauer, die eine Kränkung zum Objekt hat und andererseits ein Verlangen nach Rache und Vergeltung.4 Gemeinsam ist allen drei Emotionen, dass sie sich auf ein Gegenüber beziehen und dies in negativer 1 Hugo von Trimberg: Der Renner. Bd. 2. Hg. v. Ehrismann, Gustav. Tübingen 1909, Quinta Distinctio, V. 13995 – 13997, S. 192. 2 Im Anschluss an Augustinus betont Thomas von Aquin immer wieder die Verbindung von Rache und Zorn. Vgl. z. B. Thomas von Aquin: Die menschlichen Leidenschaften (Summa Theologica I – II, 22 – 48). Kommentiert von Bernhard Ziermann, Teil I – II, Quaestio 46, 5, 3. In: Ders.: Vollst., ungekürzte deutsch-lateinische Ausgabe der Summa Theologica. Übers. von Dominikanern und Benediktinern Deutschlands und Österreichs. Bd. 10. Hg. v. der AlbertusMagnus-Akademie Walberberg bei Köln. Heidelberg u. Graz. u. a. 1955, hier : S. 393. 3 Vgl. Hugo von Trimberg [Anm. 1], V. 13998 – 14013, S. 192 – 193. 4 Vgl. zu Thomas Definition des Zorns den Beitrag von Sebastian Möckel in diesem Band sowie Brungs, Alexander : Charakteristische Aspekte des Zorns in seiner Darstellung durch Philosophen des Mittelalters. In: Das Mittelalter 14 (2009), Heft 1: Furor, zorn, irance. Interdisziplinäre Sichtweisen auf mittelalterliche Emotionen, S. 28 – 40, hier: S. 35 f.

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Weise: Sie motivieren sowohl kalkulierte Intrigen und ausgefeilte Racheschemata wie plötzliche unbeherrschte Ausbrüche von Gewalt. Wie die sozialen Emotionen Liebe und Achtung5 sind sie ohne den Bezug auf einen Anderen nicht denkbar. Der Andere ist hier jedoch Zielpunkt von Aggressionen. Die psychologische Emotionsforschung fasst Zorn, Rache und Neid unter dem Terminus »negative Emotionen«.6 Negativ sind sie ihr zufolge nicht nur hinsichtlich ihrer Wirkung auf Andere, sondern auch in Bezug auf die Rächer, Neider und Zornigen selbst. Die psychologische Emotionsforschung bezieht sich in Studien zur Valenz von Emotionen zum eine auf soziale Normen, zum anderen jedoch auch auf das subjektive Empfinden. Wichtiges Kriterium für die Negativität ist, dass die Emotionen als unangenehm empfunden werden.7 Sowohl Rache als auch Zorn kommt diese Qualität zu.8 Im Falle des Neides wird die selbstzerstörerische Tendenz sogar als Besonderheit der Emotion skizziert: Das Paradox des Neides besteht – wie es Joseph Epstein im Anschluss an die mittelalterliche Theologie und Moraldidaxe formuliert – darin, dass Neid die »einzige Sünde ist, die überhaupt keinen Spaß macht.«9 In den Beiträgen des vorliegenden Bandes, der Ergebnisse eines Workshops am Exzellenzcluster Languages of Emotion der Freien Universität Berlin versammelt, geht es nicht nur darum, diese ja offenkundige Negativität zu beleuchten, sondern auch besonders darum, die sozialen ebenso wie die ästhetischen Potentiale von Rache, Zorn und Neid in Texten unterschiedlicher Gattungen des Mittelalters zu untersuchen. Dabei wird davon ausgegangen, dass alle drei Emotionen soziale Gefühle sind, die sich auf andere Menschen beziehen und in den damaligen Gesellschaften destruktive wie konstruktive Potenzen entwickeln konnten. Mit ihrer Hilfe wurden Herrschafts- und Machtverhältnisse

5 Vgl. zu den beiden positiven sozialen Emotionen: Demmerling, Christoph u. Landweer, Hilge: Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn. Stuttgart 2007, S. 35 – 62 [Achtung] u. S. 127 – 165 [Liebe]. 6 So zählt zum Beispiel der Emotionspsychologe R. S. Lazarus neun negative Emotionen auf, darunter anger (Zorn) und envy (Neid). Rache wird als eng mit der negativen Emotion Zorn verbundenes Handlungsmuster gefasst. Vgl. Lazarus, R. S.: From psychological stress to the emotions. A history of changing outlooks. In: Annual Revue of Psychology 1993 (44), S. 1 – 22, hier: S. 19 u. 17. 7 Vgl. Brosch, Tobias u. Moors, Agnes: Valence. In: The Oxford Companion to emotion and the affective sciences. Hg. v. Sander, David u. Scherer, Klaus R. Oxford 2009, S. 400 – 401. 8 So zeigt Frijda anhand des literarischen Beispiels von Medeas Tötung der eigenen Kinder, dass Rache in ihrer Unbedingtheit vor der Selbstverletzung nicht halt macht: »Vengeance may even be harmful to the individual to the point of being self-destructive, and this too he or she knows.« Vgl. Frijda, Nico H.: The Lex Talionis: On Vengeance. In: Emotion. Essays on Emotion Theory. Hg. von Goozen, Stephanie van u. a. Hillsdale 1994, S. 263 – 289, hier : S. 266. 9 Epstein, Joseph: Neid. Die böseste Todsünde. Aus dem Englischen von Matthias Wolf, Berlin 2010 [2003], S. 19.

Einleitung

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ausgehandelt und soziale Differenzen zwischen Individuen oder Gruppen etabliert genauso wie in Frage gestellt.10

II.

Soziale Dynamiken: Rache, Zorn und Neid im sozialen Gefüge

Die Forschungen zur sozialen Dimension der drei Emotionen sind unterschiedlich weit fortgeschritten. So werden die gesellschaftlichen Bedingungen und Auswirkungen von Neid zwar für die Moderne breit diskutiert11 und inzwischen auch literaturwissenschaftlich erforscht.12 Neid im Mittelalter wurde hingegen bislang meist über seine Bewertung als Hauptsünde beschrieben und nur selten auf seine soziale Dimension hin in den Blick genommen.13 Dass diese soziale Dimension aber gerade für den Neid essentiell ist, macht nicht zuletzt der religiöse Diskurs deutlich. In seinen Predigten spricht Berthold von Regensburg die Neider in der versammelten Gemeinde auf folgende Weise an: Wan swie l„hte einer baz mac danne d˜, darumbe sú tregest d˜ im ies– haz unde n„t (Denn wie leicht ist einer besser als du, dem du darum Hass und Neid entgegenbringst).14 10 Dies gilt auch für die Geschlechterverhältnisse, auf denen in diesem Band ein besonderer Fokus liegt: Die hier untersuchten Texte entwerfen in auffälliger Weise geschlechterspezifische Spielarten von Rache und Zorn, die dazu dienen, Hierarchien und Bewegungsräume der Geschlechter zu markieren. Zur Genderdimension der negativen Emotionen vgl. die Beiträge von Beatrice Trînca, Evamaria Freienhofer und Hendrikje Lehmann in diesem Band. 11 Neid wird in seiner sozialen Dimension sowohl von philosophischer Seite (Nietzsche, Rawls), von soziologischer Seite (Simmel, Neckel) als auch von psychoanalytischer Seite (Freud) behandelt. Für einen Überblick zu gesellschaftlichen und ökonomischen Modellen des Neids in der Moderne vgl. die Zusammenfassung von Nusser, Karl-Heinz: Vom Neid der Götter zum globalen Neid. Zur Ideengeschichte eines Phänomens. In: Die politische Meinung 434 (2006), S. 35 – 40 sowie Schippers, Nicole: Die Funktionen des Neids. Eine soziologische Studie. Marburg 2012. 12 Vgl. Invidia – Eifersucht und Neid in Kultur und Literatur. Hg. v. Kreuzer, Tillman F. u. Weber, Kathrin. Gießen 2011; L’ envie et ses figurations litt¦raires. Colloque interdisciplinaire Litt¦rature et Psychoanalyse 2002. Hg. v. Wilhelm, Fabrice. Dijon 2005. 13 Überlegungen zu mittelalterlichen Konzeptionen von Neid finden sich bislang vornehmlich in religionsgeschichtlichen Nachschlagewerken. Hingegen werden in den sozialwissenschaftlichen und philosophischen Überblicken zur Diskursgeschichte der Emotion mittelalterliche Theorien vom Neid nur selten überhaupt thematisiert. Die Darstellungen fangen regelmäßig in der Antike an, referieren ausführlich die aristotelische Neidtheorie, und setzen den nächsten Schwerpunkt in der frühen Neuzeit bei Bacon, Hobbes, Locke und Hume. Vgl. zum Beispiel Schoeck, Helmut: Der Neid. Eine Theorie der Gesellschaft. Freiburg 1966, S. 151 – 222; D’Arms, Justin u. Duncan Kerr, Alison: Envy in the Philosophical Tradition. In: Smith, Richard H., Envy. Theory and Research. Oxford 2008, S. 39 – 59 oder Nusser [Anm. 11]. 14 Berthold von Regensburg: Wie man die werlt in zwelfiu teilt. In: Ders.: Vollständige Ausgabe

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Neid wird hier relational definiert als emotionale Reaktion auf die Überlegenheit eines Anderen. Er ist von seiner Struktur her ein Distinktionsgefühl,15 über das Unterschiede emotional und durch Handlungen ausagiert werden. Auf den ersten Blick ist dieser Vorgang in seiner Wirkung auf die soziale Gemeinschaft rein destruktiv : Der Neider strebt danach Unterschiede einzuebnen und gefährdet so das soziale Gleichgewicht. Der Kirchenvater St. Basilius hebt in seiner Predigt »Homilia de invidia« die Aggressivität des neidischen Hasses hervor. Die biblische Historie des Neids stellt sich aus seiner Perspektive als Geschichte von Streit, Verrat und Mord dar.16 Hingegen wird dem Neid von der Psychoanalyse auch konstruktive, gemeinschaftsbildende Wirkung zugesprochen: In der Bewältigung des Neids, so Freud in seinem Essay »Massenpsychologie und IchAnalyse« bilden sich Gleichheitsforderungen aus, die zur Basis für eine neue Identifikation mit dem Anderen werden.17 Will man Neid als soziale Emotion in der mittelalterlichen Literatur untersuchen, muss dieser folglich in seiner Prozessualität fokussiert werden: Ausgehend von der sozialen Struktur des Neids lohnt es sich sowohl seine unmittelbare Wirkung auf die Gemeinschaft wie auch die Formen seiner Bewältigung zu analysieren. Eine Sozialität von Zorn ist zwar diskursgeschichtlich angelegt, sie wird und wurde aber auch immer wieder bestritten, indem man der Emotion als vorübergehendem Wahnsinn und unkontrollierter Raserei ein rein destruktives Potential zugesprochen hat.18 Eine die Gemeinschaft strukturierende Funktion von Zorn hebt vor allem Aristoteles hervor und dies auf beiden Achsen sozialer Gliederung.19 In vertikalem Sinne kann Zorn hierarchisierend wirken, indem der Zornige eine Herabsetzung zurückweist. Horizontal vereinend wirkt Zorn hin-

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17 18 19

seiner Predigten mit Anmerkungen von Franz Pfeiffer. Mit einem Vorwort von Kurt Ruh, Bd. 1. Berlin 1965, S. 464. Zu Neid als Distinktionsgefühl vgl. Burkart, Günter : Distinktionsgefühle. In: Gefühle – Struktur und Funktion. Hg. v. Hilge Landweer. Berlin 2007 (Deutsche Zeitschrift für Philologie Sonderband 14), S. 159 – 174. Vgl. St. Basilius, Homilia de invidia (PG 31, 371 – 86). Für eine deutsche Übersetzung vgl.: Ders.: Des heiligen Kirchenlehrers Basilius des Grossen Bischofs von Cäsarea ausgewählte Homilien und Predigten. Bd. 2. Aus dem griechischen Urtext, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Stegman, Anton. München 1925 (Bibliothek der Kirchenväter 47), S. 289 – 300, hier : S. 291 – 293. Freud, Sigmund: Massenpsychologie und Ich-Analyse. In: Ders.: Gesammelte Werke. Unter Mitwirkung von Marie Bonaparte, Prinzessin Georg von Griechenland. Hg. v. Freud, Anna. Frankfurt a. M. 101998, S. 6 – 161, hier : S. 129 – 135 [Der Herdentrieb]. Vgl. L. Annaeus Seneca: De ira – Der Zorn. In: Ders.: Die kleinen Dialoge. Bd. 1. Herausgegeben, u¨ bersetzt und mit einer Einfu¨hrung versehen von Gerhard Fink. Mu¨ nchen, Zu¨ rich 1992, S. 96 – 309, hier : Buch I, 1, 1, S. 97 f. Vgl. Aristoteles, Rhetorik, II, 2, 1378 a. Übersetzt und erläutert von Christof Rapp. Darmstadt 2002 (Werke in deutscher Übersetzung 4), S. 73. Vgl. auch Aristoteles: Die Nikomachische Ethik, IV, 11, 1126 a. Griechisch-deutsch. Übersetzt von Olof Gigon, neu herausgegeben von Rainer Nickel. Düsseldorf, Zürich 2001, S. 171.

Einleitung

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gegen, wenn Angehörige einer Gruppe sich über eine Kränkung eines der ihren gemeinsam echauffieren. Für mittelalterliche Texte und Konstellationen existieren bisher im Wesentlichen zwei Ansätze, welche die soziale Funktion von Zorn beschreiben. So charakterisiert Klaus Ridder Zorn als »Kampfemotion«, die den Helden seit der Antike bis ins Mittelalter auszeichne. Ein solcher Zorn beziehe sich auf »das Normsystem einer Kriegergemeinschaft«, in deren Wertekanon Ehre das Zentrum bilde.20 Unterordnung erzeugt der Held mithilfe von Gewaltanwendung, sein Zorn lässt ihn dabei zum Exzess bereit sein. Für historiographische Texte und Passagen aus Fürstenspiegeln hat Gerd Althoff hingegen das Konzept des Herrscherzorns entwickelt, in dem Zorn gerade dazu dient, Gewalteskalationen zu vermeiden.21 Indem die Emotion als Zeichen innerhalb einer öffentlichen Kommunikationssituation fungiert, macht sie Machtkonflikte und deren Lösung sichtbar. So wird Zorn als zwar auf Gewalt verweisendes Zeichen am Körper des Königs angesehen, von einer Gewaltausübung selbst bleibt er aber getrennt. Die in diesem Band versammelten Beiträge zu Zorn (Trînca, Freienhofer, Lehmann) eröffnen hingegen eine dritte Deutungsmöglichkeit, welche die soziale Wirkung von Zorn eher zwischen dem von Althoff aufgestellten Herrscherzornkonzept und dem von Ridder etablierten Kampfzornkonzept verortet. Die Emotion dient dazu, Geschlechterhierarchien zu erzeugen und ist dabei weder mit Gewaltanwendung identisch, noch streng von ihr unterschieden.22 Dass Rache und Rachephantasien die Imagination von Figuren (und Rezipienten) stimulieren, dass Rache Handlungen, die Einzelne oder Gemeinschaften zu bedrohen vermögen, auszulösen vermag, macht ihren sozialen Charakter offenbar. Damit wäre jedoch nur eine Perspektive auf Rache skizziert: die Sichtweise der Racheopfer. Rache kann wie der Emotionspsychologe Nico Frijda herausstellt, im sozialen System auch systemstabilisierend23 wirken. Aus Sicht der Rächenden strebt die Emotion Rache nämlich nach einem Ausgleich von Machtverhältnissen, der Rächende ist dem Willen des Anderen nicht mehr 20 Ridder, Klaus: Kampfzorn. Affektivität und Gewalt in mittelalterlicher Epik. In: Eine Epoche im Umbruch. Volkssprachliche Literalität 1200 – 1300. Cambridger Symposium 2001. Hg. von Bertelsmeier-Kierst, Christa u. Young, Christopher unter Mitarbeit von Bildhauer, Bettina. Tübingen 2003, S. 221 – 248, hier : S. 222. 21 Vgl. Althoff, Gerd: Ira Regis: Prolegomena to a History of Royal Anger. In: Anger’s Past. The Social Uses of an Emotion in the Middle Ages. Hg. von Rosenwein, Barbara. Ithaca, London 1998, S. 59 – 74, hier vor allem: S. 74. 22 Zu dieser These im Zusammenhang von Zorn, Herrschaft und Macht in Texten des 12. Jahrhunderts siehe die Dissertation von Evamaria Freienhofer (Drucklegung in Vorbereitung). 23 Gesellschaftlich stabilisierend wirkt Frijda zufolge insbesondere die Angst vor der Rache. Die Erwartung, dass die eigenen Taten später gerächt werden, kann den Gebrauch exzessiver Gewalt limitieren. Siehe Frijda [Anm. 8], S. 271.

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ohnmächtig ausgeliefert: »When individuals or groups endeavour to impose their will on others, vengeance serves to correct them. Revenge is the social power regulator in a society without central justice.24« Rache steht, wie Tilo Renz in seiner Studie über das »Nibelungenlied« gezeigt hat, insofern auch nicht notwendig außerhalb des Rechts und der Gemeinschaft. Als Reaktion auf erlittenes Unrecht lässt sie sich auch als eine »Form der Durchsetzung eines Rechtsanspruchs« beschreiben.25 So zeigt Renz, dass im »Nibelungenlied« Verhaltensregeln aus den mittelalterlichen Rechtsordnungen für die Fehde aufgegriffen werden26 und auf diese Weise in weiten Teilen des Textes eine »Ordnung der Rache« sichtbar wird.«27 Rache kann, wie Renz postuliert, folglich beides sein: »legitime[s] Rechtsmittel« und »Verstoß gegen die Regeln«, Rechtspraktik und Normtransgression.28 Ausgehend vom Verhältnis von initialer Verletzung und Vergeltung muss danach gefragt werden, wie Rache in poetischen Texten funktionalisiert wird: als Wiederherstellung der sozialen Ordnung, die auch sozialen Regeln folgt, oder als Bedrohung der sozialen Ordnung, bei der zentrale Vereinbarungen zu Formen der Gewaltausübung verletzt werden.

III.

Rache, Zorn und Neid als Emotionen

Während Zorn und Neid im allgemeinen Sprachgebrauch unhinterfragt als Emotionen gelten, sind Benennung und Einordnung im Fall der Rache unsicher. Selbst in der emotionspsychologischen Forschung ist der Status von Rache als Emotion nicht ausreichend geklärt, insgesamt erweist sich das Phänomen als kaum erforscht: »Vengeance might be expected to form one of the major topics in the psychology of emotion. Not so. No major psychological study has appeared on the topic during the last 70 or 80 years.«29 Die Gründe für diesen Mangel an psychologischer Forschung sieht Frijda darin, dass Rache entweder nicht als Gefühl angesehen wird oder dass man sie eher mit Hilfe soziologischer Erklärungsansätze zu verstehen versucht hat.30 Darüber hinaus könnten aber auch methodische Gründe für die geringe For24 Frijda [Anm. 8], S. 270, vgl. auch S. 275 f. 25 Renz, Tilo: Um Leib und Leben. Das Wissen von Geschlecht, Körper und Recht im Nibelungenlied. Berlin u. Boston 2012 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 71), S. 177. 26 Renz [Anm. 25], S. 95 – 220. 27 Renz [Anm. 25], S. 209. 28 Renz [Anm. 25], S. 330. 29 Frijda [Anm. 8], S. 264. Eine Ausnahme stellt die psychoanalytische Forschung dar, die sich intensiv mit der Emotion Rache auseinandergesetzt hat. 30 Frijda [Anm. 8], S. 265.

Einleitung

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schungsaktivität ursächlich sein: Das Phänomen scheint zu komplex, um es unter experimentellen Bedingungen modellieren zu können. Frijda versucht den Status von Rache dementsprechend auf theoretischer Ebene zu klären: Er wendet in seiner Analyse der Rache erfolgreich emotionspsychologische Modelle an und argumentiert, dass zwar das Handlungsmuster der Rache keine Emotion sei, jedoch das Verlangen nach Rache, das Bedürfnis nach Vergeltung.31 Aus historisch-semantischer Perspektive steht der Status von Rache als Emotion von vornherein außer Frage. So findet sich bereits im »Deutschen Wörterbuch« von Jacob und Wilhelm Grimm neben älteren Bedeutungen, die Rache eher als die Bestrafung eines Übeltäters begreifen, auch »der heute [also Ende des 19. Jahrhunderts, Anm. der Verf.] gewöhnliche sinn von rache, welcher leidenschaftliche und unedle bewegtheit bei verfolgung eines unrechts in sich schliesst«.32 Davon ausgehend soll hier unter Rache der vergeltende Akt genauso wie die damit einhergehende Emotion verstanden werden. Bei Zorn stellt sich, wiederum ausgehend von historisch-semantischen Überlegungen, die Situation ähnlich dar : Mhd. zorn heißt nicht nur »plötzlich entstandener Unwille, Heftigkeit, Zorn, Wut«, sondern kann auch das bezeichnen, »worüber man aufgebracht ist« sowie das Ergebnis »Zank, Streit«.33 Im Falle des Neids stellt sich die Sachlage noch einmal anders dar. Die klar auf die Emotion Neid referierenden Begriffe verbunst und vergunnen finden sich selten in der mittelhochdeutschen Literatur, während das dem Neuhochdeutschen ähnelnde n„t doppelt besetzt ist.34 Dieses häufig vorkommende Wort kann in den Texten sowohl ›Neid‹ als auch ›Kampfzorn‹ bezeichnen. Wichtig für die Deutung ist jeweils der situative Kontext. N„t verweist dort auf Neid, wo eine 31 Vgl. Frijda [Anm. 8], S. 265: »The desire [forvengeance, Anm. der Verf.] is an emotion in that it has all the usual features of one: It is a state of impulse, of involuntary action readiness, generated by an appraisal, often accompanied by bodily excitement, and with every aspect of control precendence: preoccupation, single-minded goal pursuit, neglect of extraneous information, and interference with other activities.« 32 Grimm, Jacob u. Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. Leipzig 1893, Nachdruck München 1999, Bd. 14, Sp. 15. Vgl. zu Rache als Bestrafung Sp. 13 f. Vgl. zur Wortgeschichte auch Holzhauer, Antje: Rache und Fehde in der mittelhochdeutschen Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts. Göppingen 1997, S. 12 – 18 sowie Möbius, Thomas: Studien zum Rachegedanken in der deutschen Literatur des Mittelalters. Frankfurt a. M. 1993, S. 13 – 16. 33 Lexer, Matthias: Mittelhochdeutsches Taschenwörterbuch. Mit den Nachträgen von Ulrich Pretzel, 38. Aufl. Stuttgart 1992, S. 338. Vgl. dazu auch Grimm [Anm. 34] Bd. 16, Sp. 90 – 107, hier Sp. 90: »in den ältesten vocabularen, glossen und sonstigen übersetzungsschriften giebt zorn das lat. ira, iracundia und verwandtes wieder. als ursprüngliche Bedeutung dürfte aber nicht die gemüthsbewegung als solche anzusehen sein, sondern ›kampf, streit mit thaten und worten‹, verbunden mit der entsprechenden erregung […] innerhalb des deutschen hat sich also das wort erst allmählich auf das seelische gebiet eingeschränkt.« 34 Grubmüller, Klaus: Historische Semantik und Diskursgeschichte. Zorn, n„t und haz. In: Codierungen von Emotionen im Mittelalter. Hg. v. Kasten, Ingrid u. Jaeger, Stephen. Berlin, New York 2003, S. 47 – 69, hier : S. 60 – 63.

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Person beobachtet, dass eine andere ihr durch den Besitz eines materiellen Objekts, einer Fähigkeit oder eines abstrakten Gegenstandes überlegen ist. Welche Emotionen angesichts des Vorteils des Anderen aufgerufen werden, bleibt in den mittelalterlichen Diskursen diffus. So beschreibt Thomas Neid im Anschluss an Johannes von Damaskus als »Trauer über die Güter anderer«.35 Augustinus hingegen stellt den Hass auf das fremde Glück, odium felicitatis alienae,36 in den Vordergrund. Die Emotionen, mit denen Neid im Mittelalter verknüpft werden, variieren folglich. Neid wird in der modernen Emotionspsychologie und -philosophie als soziale Situation beschrieben, an die sich in Abhängigkeit vom konkreten kulturellen, situationellen und historischen Kontext unterschiedliche Emotionen knüpfen können. Ausgehend von dieser Definition, die der Beitrag von Eva Lieberich genauer vorstellt, wird in diesem Sammelband danach gefragt, welche Emotionen in den mittelalterlichen Texten mit Neid verknüpft werden können und wie diese für den Aufbau der Narration genutzt werden.

IV.

Die Faszination negativer Emotionen

Eine zentrale These dieses Sammelbandes besagt, dass das wirkungsästhetische Kalkül bei der poetischen Inszenierung von Rache, Zorn und Neid in mittelalterlichen Texten auf die ästhetische Emotion der Faszination abzielt. Faszination kann als Emotion begriffen werden, die sowohl innerhalb der Handlung eines Textes thematisiert wird, als auch durch spezifische Strategien des literarischen Textes beim Rezipienten hervorgerufen werden kann. Sie ist dementsprechend eine ästhetische Emotion, die Rezeptionsvorgänge auf beiden Ebenen lenkt und bestimmt. Unter Faszination lässt sich eine intensive, insgesamt positive emotionale Reaktion auf eine anhaltend widersprüchliche Bewertung von Umweltreizen (von Wahrnehmungen bzw. Erlebnissen oder Problemen) verstehen. Sie ist objektbezogen und zeichnet sich durch einen maximalen Erregungsgrad bei komplexer Wertigkeit (nämlich zugleich Interesse und Abwehr) aus. Der einsetzende Bewältigungsprozess bindet die Aufmerksamkeit und kann zu Prozessen des Erkennens führen. So zeichnet sich Faszination durch Attraktion, Bewertungsambivalenz und Arretierung der Aufmerksamkeit aus.37 35 Thomas von Aquin: Die Liebe (Summa Theologica Teil II – II, 23 – 26), Quaestio 36, 2, 2. In: Ders.: Vollst., ungekürzte deutsch-lateinische Ausgabe der Summa Theologica. Übers. von Dominikanern und Benediktinern Deutschlands und Österreichs. Bd.17 B. Hg. v. der Albertus-Magnus-Akademie Walberberg bei Köln. Heidelberg u. Graz. u. a. 1966, hier: S. 40. 36 Augustinus: Ennarationes in Psalmos. Hg. v. Dekkers, E. und Fraipont, I. Bd. 3. Turnhout 1956 (Corpus Christianorum Series Latina 40), 104, 17, 18, S. 1545. 37 Vgl. Degen, Andreas: Festgezaubert. Positionen zur poetischen Faszination bei Ludwig

Einleitung

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Rache und Rachehandlungen (in der Literatur) kann man teils mit Zustimmung, ja mit Bewunderung begegnen, teils aber auch mit Ablehnung. Eine solche Ambivalenz in der Bewertung von Rache verweist womöglich darauf, dass Inszenierungen von Rache wirkungsästhetisch Faszination auszulösen vermögen. Eine derartige Struktur weist Zorn und seine Darstellung in der Epik des Hochmittelalters auf den ersten Blick weniger auf. Zorn ruft in der Regel keine Gefühlsambivalenz beim Gegenüber hervor. So erscheinen Figuren nicht vom Zorn ihres Gegenübers fasziniert, sondern entweder zu eigenem Zorn angestachelt oder verängstigt und eingeschüchtert. Die zunächst eher geringe Faszinationskraft von Zorn auf Rezeptionsebene lässt sich dadurch erklären, dass Zorn selten breit und ausführlich entfaltet wird. Dass und wie die Emotion dennoch zur Konstitution komplexer und ambivalenter Bedeutungszusammenhänge eingesetzt wird, machen die Beiträge von Trînca, Freienhofer und Lehmann deutlich. Wie Bewunderung geht Neid von einem Vorteil einer zweiten Person gegenüber dem eigenen Ich aus. Neider wie Bewunderer richten ihren Blick auf die Qualitäten des Anderen. Während der bewundernde Blick jedoch staunt, die hervorragenden Merkmale des Betrachteten ausstellt, gilt der neidische Blick der Vernichtung des Vorteils des Anderen. Neid lässt sich so als Kehrseite von Bewunderung beschreiben. Interessanterweise werden beide Blicke, der staunende wie auch der zerstörerische, in jeweils verschiedenen Zeiträumen mit demselben Begriff der Faszination beschrieben. In der mittelalterlichen Theologie meint fascinans den bösen Blick, der den Angesehenen verhext, ihn mit Übel belegt.38 In der modernen Ästhetik wird Faszination hingegen als »Form der Wahrnehmung oder des Erlebnisses« bestimmt, die »vor allem von der sinnlichen und gefühlsmäßigen Hingabe an das (faszinierende) Objekt gekennzeichnet« sei.39 Tieck, E.T.A. Hoffmann und in der Ästhetik des 19. Jahrhunderts. In: Faszination: Historische Konjunkturen und heuristische Tragweite eines Begriffs. Hg. von Hahnemann, Andy u. a. Frankfurt a.M. 2009, S. 59 – 90; Seeber, Hans Ulrich: Ästhetik der Faszination? Überlegungen und Beispiele. In: Anglia – Zeitschrift für englische Philologie 128 (2010), S. 197 – 224; Baisch, Martin: Faszination als ästhetische Emotion im höfischen Roman. In: Machtvolle Gefühle. Hg. von Kasten, Ingrid. Berlin, New York 2010 (TMP 24), S. 139 – 166; Degen, Andreas: Sokrates fasziniert. Zu Begriff und Metaphorik der Faszination. (Platon, Ficino, Nietzsche). In: Archiv für Begriffsgeschichte 53 (2011), S. 9 – 31; Baisch, Martin: Immersion und Faszination im höfischen Roman. In: LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 42 (2012), S. 63 – 81. 38 Vgl. Dickie, Matthew W.: The Fathers of the Church and the evil eye. In: Byzantine Magic. Hg. v. Henry Maguire. Washington 1995, S. 9 – 34; Degen: Festgezaubert [Anm. 39]; Baisch: Faszination als ästhetische Emotion im höfischen Roman [Anm. 39], S. 145 f. 39 Lotter, Konrad: Faszination. In: Lexikon der Ästhetik. Hg. v. Henckmann, Wolfhart u. Lotter, Konrad. München 1992, S. 60 f. Vgl. auch Degen: Festgezaubert [Anm. 37]; Degen, Andreas: Concepts of Fascination, from Democritus to Kant. In: Journal of the History of Ideas 73 (2012), H. 3, S. 371 – 393.

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Begriffsgeschichtlich wird folglich der negative Pol der Faszination in der Neuzeit durch seine positive Entsprechung verdrängt. Es stellt sich die Frage, ob dieser Verschiebung auch inhaltliche Zusammenhänge beider Emotionen zu Grunde liegen. Hier könnte danach gefragt werden, wie das Verhältnis zwischen Bewunderung und Staunen einerseits und Neid andererseits in mittelalterlichen Texten beschrieben werden kann. Gibt es Wechselwirkungen? Inwiefern unterscheiden sich die Beschreibungen des Blickes auf den Anderen, binden sie den Rezipienten in derselben Weise ein?

V.

Narrative und poetologische Dimension der negativen Emotionen

Rache, Zorn und Neid sind in den mittelalterlichen Literaturen zentraler Bestandteil von Narrativen. Sie motivieren narrative Handlungsmuster wie die höfische Intrige oder die Vergeltung. Häufig tauchen sie an Schaltstellen der Erzählung auf, sie dynamisieren die Erzählung und führen zu neuen Figurenkonstellationen. Teils lassen sie sich sogar selbst als Narrative beschreiben und verknüpfen Vergangenes und Zukünftiges miteinander. Der Art und Weise, wie die drei Emotionen mit narrativen Strukturen zusammenwirken und diese zugleich mitbegründen, soll in diesem Sammelband nachgegangen werden. Um die Bandbreite und Spielräume der mittelalterlichen Emotionsnarrative zu vermessen, werden zusätzlich sowohl Variationen (vgl. den Beitrag von Nowakowski) wie historische Transformationen (vgl. den Beitrag von Möckel) der Narrative in den Blick genommen. Rache, Zorn und Neid sind jedoch nicht nur auf der Ebene der Narration produktiv. Auch auf der Handlungsebene generieren sie Erzählungen: Rache bringt Rachephantasien hervor, der Neider agiert in den Texten des Hochmittelalter meist nicht über den bösen Blick, sondern über die Verleumdung.40 Er ist nach Katrin Weber jemand, der »Indizien […] für die ungerechte Bevorzugung« des Anderen sucht und so seine eigene Weltdeutung in Form von Parallelgeschichten hervorbringt.41 Wie diese konstruktive Dimension der Emotionen in den mittelalterlichen Texten zum Tragen kommt, thematisieren die Beiträge wiederholt. Claudia Lauer sieht den neidischen, zornigen und rachesuchenden Intriganten als ersten Interpreten des erzählerischen Geschehens und 40 Balint, Bridget: Envy in the intellectual discourse. In: The seven deadly sins. From communities to individuals. Hg. v. Newhauser, Richard Gordon. Leiden 2007 (Studies in medieval and reformation traditions 123), S. 41 – 56. 41 Weber, Kathrin: Einleitung. Eifersucht und Neid zwischen Literatur und sozialer Situation. In: Invidia – Eifersucht und Neid in Kultur und Literatur. Hg. v. Kreuzer, Tillmann F. u. Weber, Kathrin. Gießen 2011, S. 7 – 39, hier S. 25 f.

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liest die von ihm produzierten Erzählungen in Erzählungen dementsprechend als ›poetologische Reflexionsfigur‹. Der engen Verbindung von Rache, Zorn, Neid und Erzählen trägt die Gliederung des Bandes in besonderer Weise Rechnung. Das erste Kapitel widmet sich dem Erzählen vom Heiligen und untersucht die spezifische Rolle, die die negativen Emotionen bei der Bewältigung dieser erzählerischen Herausforderung spielen. Von erzählerischen Sonderfall ausgehend werden in den folgenden Kapiteln ›Rache erzählen‹, ›Zorn erzählen‹ und ›Neid erzählen‹ allgemeine Charakteristika dieser negativen Emotionen entfaltet und schärfer konturiert. Indem Rache, Zorn und Neid jeweils ein eigenes Kapitel gewidmet wird, liegt der Schwerpunkt auf den Besonderheiten der einzelnen Emotionsnarrative.

VI.

Die Beiträge

Klaus Ridder fragt in seinem Aufsatz über den vorletzten Teil des »ProsaLancelot«, die »Suche nach dem Graal«, nach der Rolle von negativen Emotionen für das Erzählen vom Heiligen. Dabei nimmt er ein ganzes Spektrum negativer Emotionen (Angst, Trauer, Zorn, Verzweiflung, Scham und Schuld) in den Blick. Anhand spezifischer Tabu-Konstellationen und exemplarischer Figuren kann er zeigen, dass negative Emotionen zentrale Funktionen erfüllen. Ihnen kommen verschiedene Zeichenfunktionen im Bezug auf das Heilige zu. So verweisen Trauer und Verzweiflung Lancelots darauf, dass die Figur letztlich religiösethisch unzulänglich ist. In den Episoden um Bohort zeigen intensive Emotionen an, dass sich die geschilderten Konflikte letztlich nur durch göttliche Gnade lösen lassen. Den Sündenfallexkurs untersucht Ridder als anthropologischreligiöses Ur-Szenario für die Gralssucher, in dem erklärt wird, wie Tabubruch, Erlösungshoffnung und die damit jeweils verbundenen negativen und positiven Emotionen ihren Ursprung im menschlichen Leben gefunden haben. Insgesamt kommt der Aufsatz zu dem Ergebnis, dass die die Gralssuche kennzeichnende Spannung zwischen einem kultischen und einem ethischen Verständnis von Heiligkeit auch die literarische Funktionalisierung von negativen Emotionen beeinflusst: Zum einen bringen sie die erschreckende Seite des Heiligen zum Ausdruck und zum anderen versinnbildlichen sie die Hoffnungslosigkeit des Menschen angesichts unlösbarer Wertekonflikte. Obwohl die drei Beiträge zu Rache verschiedene Zugänge wählen und sehr unterschiedliches Material bearbeiten, kommen sie doch zu einem übereinstimmenden Ergebnis: Rache liegt eine narrative Grundstruktur zugrunde. Fabian Bernhardt beschreibt diese Struktur systematisch aus philosophischer Sicht, während Nina Nowakowski und Sebastian Möckel aus mediävistisch-

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literaturwissenschaftlicher Perspektive die Struktur aus Variationsketten von Racheerzählungen herausschälen. Ausgehend von zwei so weit entfernten Fällen wie Achilles, der sich in Homers »Ilias« an Hektor für den Tod seines Freundes Patroklos rächt, und Marianne Bachmeier, die 1981 den Peiniger und Mörder ihrer Tochter erschießt, entwickelt Fabian Bernhardt eine systematische Definition von Rache. Gegenüber bisherigen Bestimmungen, die Rache als einzelnen Akt oder als Motiv festlegen, fasst er Rache als relationale Gesamtheit, als Verknüpfungsprinzip, das sich im Modus der Narration vollzieht. Er bestimmt als notwendige Merkmale dieser Verknüpfung den zeitlichen Abstand zwischen zwei Taten – nur wenn es eine vorhergehende Tat gibt, lässt sich die darauffolgende als Rache verstehen – und das Streben nach negativer Kompensation. Indem Bernhardt die Polarität von Handeln und Erleiden stark macht, kann er vereinfachte Schemata, die Rache als Abfolge von Aktion und Reaktion fassen, modifizieren. Eine Racheerzählung besteht somit aus einer Verletzungsstruktur (jemand tut jemandem etwas an) und einer darauffolgenden Rachestruktur (jemand rächt sich an jemandem für etwas), wobei sich die Positionen von Handelndem und Erleidendem umkehren. Dieses Schema dient nicht nur dazu Rache als Narrativ zu definieren, sondern eignet sich auch als Analyse- und Vergleichsinstrument, indem es das Allgemeine der Rache fasst und zugleich das je historisch Spezifische hervortreten lässt. Eine Reflexion auf den Begriff der Verletzung rundet den Beitrag ab. Nina Nowakowski mahnt in ihrem Aufsatz an, die Variabilität sozialer Beziehungen und Interaktionen in den Vergeltungsszenarien mittelhochdeutscher Kurzerzählungen stärker in den Blick zu nehmen. In kritischer Auseinandersetzung mit Hermann Bausingers einflussreicher Gliederung der Schwankhandlung in das Modell »Ausgleich« und das Modell »Steigerung« zeigt sie anhand exemplarischer Textanalysen auf, um wie vieles variantenreicher soziale Interaktionsformen in den mittelhochdeutschen Kurzerzählungen beschrieben werden. Ihr zufolge stellen die mittelalterlichen Kurzerzählungen gerade die Dynamik sozialer Beziehungen heraus. In ihnen werden Machtverhältnisse ausgehandelt, die ständig zwischen Symmetrie und Asymmetrie schwanken. Auch Klaus Grubmüllers Interpretation der Revanche als Wiederherstellung von Ordnung könne diesem dynamischen Aspekt nicht gerecht werden. Statt moralische Ordnungen aufzuzeigen, funktionierten die Handlungsmuster der Kurzerzählungen als Skript, das es ermögliche, soziale Beziehungen immer wieder neu und anders zu erzählen. Im Vergleich mehrerer Kurzerzählungen wird deutlich, dass gerade keine Handlungsalternative abgewiesen werde. So erfolgt in den analysierten Erzählungen der Gegenschlag abwechselnd über den Körper, über die Sprache, über ökonomische Logiken oder in Mischformen. Der Gegenschlag ist nicht nur gemeinschaftsgefährdend im Sinne Girards, er könne auch neue Gemeinschaft stiften. Um diesen Variantenreichtum systematisch

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fassen zu können, wählt Nowakowski den Begriff der Vergeltung, der auf den Kompensationscharakter und die Reziprozität der Schwankhandlungen abhebt. Die Rache erweist sich in dieser Perspektive als eine mögliche Alternative der Vergeltung. Sebastian Möckel analysiert in seinem Beitrag Rache-Erzählungen, wie sie Ovid in seinen »Metamorphosen« entworfen hat und wie sie in Mittelalter und Früher Neuzeit bei Georg Wickram und Gerhard Lorichius rezipiert und adaptiert wurden. Ausgehend von konzeptuellen Überlegungen zur Rache, die Möckel durch eine funktionale Koppelung zu Zorn charakterisiert sieht und deren Prozessualität wie deren Handlungscharakter (von initialer Verletzung und finaler Vergeltung) er mit de Sousa als paradigm scenario hervorhebt, werden die Erzählungen von Acteon, Philomela und Myrrha eingehend in Hinblick auf die Modellierung und Funktionalisierung von Rache untersucht. Wie sich zeigt, inszeniert der antike Autor eine Kette von Rachehandlungen, genauer : etabliert Ovid durch die Häufung von Rachemotiven, -figuren und -figurationen eine Dynamisierung des Erzählens von und mit Rache. Damit zielen die »Metamorphosen« auf ein experimentelles Spiel mit der Rachemotivik, indem diese das Erzählen immer weiter vorantreibt, dieses gleichsam generiert. Demgegenüber überrascht es wenig, dass die Rezeption der ovidschen Rache-Erzählungen bei Wickram weniger komplex erscheint. Ziel seiner Aktualisierung sei vielmehr, die Geschichten von Rache als moralische Exempel zu erzählen und dabei die Ebene der (emotionalen) Motivierung zu stärken. Die Beiträge zu Zorn verweisen auf eine Besonderheit der Emotion im Vergleich zu Rache. Obwohl auch Zorn eine doppelte zeitliche Struktur eingeschrieben ist – er ist rückwärts gerichtet, indem er auf eine vergangene Kränkung reagiert, und vorwärts orientiert, weil er danach strebt diese Kränkung wiedergutzumachen –, entwickelt er keine narrative Grundstruktur. Zorn dient vielmehr im höfischen Roman, im Minnesang und in mittelalterlichen Kurzerzählungen dazu, punktuell Figuren einander zu- und unterzuordnen. In allen drei Beiträgen geht es dabei um die Verteilung von Machtpositionen in Genderverhältnissen. Beatrice Trînca fragt anhand von zwei höfischen Texten in altfranzösischer (»Laüstic« und »Tristan«) und einem in mittelhochdeutscher Sprache (»Herzmaere«) danach, welche Funktionen Zorn, Ohnmacht und Trauer bei der Gestaltung von genderspezifischen Kräfteverhältnissen einnehmen. Dabei nimmt sie eine thematische Eingrenzung vor, indem sie nur solche Szenen untersucht, in denen weibliche Figuren vom Ende ihrer außerehelichen Liebesbeziehungen erfahren. Alle von ihr fokussierten Figuren sind also Ehebrecherinnen, wobei Trînca eine Wechselwirkung zwischen dem geringen Handlungsspielraum dieser spezifischen Figuren und der Gestaltung von Zorn, Trauer und Ohnmacht feststellt. Einerseits kann sich der Zorn der Ehebrecherinnen auf Andere nur

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bedingt entfesseln, da die Figuren sanktioniert sind, andererseits lässt sich gerade mithilfe von Zorn die Ohnmacht der Ehebrecherinnen besonders plastisch zeigen. Trînca setzt dabei ein aktivische Definition von Zorn an: Zorn motiviert ihrer Meinung nach unmittelbar zum Handeln. Bleibt trotz Zornes eine Handlung aus, so wird daran die Ohnmacht der Figur besonders offenbar. Auf diese Weise dient Zorn in allen untersuchten Texten besonders dazu, weibliche und männliche Figuren zu kontrastieren. Trînca untermauert ihr Argument mithilfe von historisch-semantischen Überlegungen zu den altfranzösischen Begriffen ire und corroz, in denen sich die Bedeutungen von Zorn und Trauer mehr überschneiden als in mittel- und neuhochdeutschen Pendants. Hendrikje Lehmann widmet sich in ihrem Aufsatz der Ambivalenz der beiden Emotionen Zorn und Rache im klassischen Minnesang. Beide Emotionen werden ihr zufolge in den Minneliedern, je nachdem, wem sie zugeschrieben werden, unterschiedlich funktionalisiert und bewertet. Während der weibliche Zorn lediglich dazu genutzt wird, die für den Minnesang prägenden Emotionen leit und liebe/vreude zu entfalten und als grundlos und grausam zu beschreiben, erscheint der männliche Zorn als Folge einer Kränkung und Verletzung durch die Minnedame. Der männliche Zorn ist auf diese Weise in Rache- und Vergeltungslogiken eingebunden und legitimiert. Diese genderspezifischen Inszenierungen exemplifiziert Hendrikje Lehmann anhand der beiden Minnelieder »W–fen–, wie hat mich minne gel–zen« (MF 52, 37 – MF 53, 28) und »Herre, wer h–t sie begozzen« (MF 372e – 376e). Hier münde der Leidensdruck des männlichen Sänger-Ichs einmal in gewalttätige Rachephantasien gegenüber der personifizierten Minne, das andere Mal werde das männliche Begehren in Bildern der Vergeltung und Rache auserzählt. Die imaginierten Gewalthandlungen besitzen auf diese Weise noch eine zweite Ebene. Das Begehren erweist sich zugleich als Versuch der Ermächtigung über die vrouwe. Ausgehend von diesen beiden Liedern macht Hendrikje Lehmann zwei Muster der Inszenierung von Rache und Zorn im klassischen Minnesang aus: Das Erzählen von Zorn als Folge einer Leiderfahrung und die Funktionalisierung der Rache als Machtausübung des männlichen Sänger-Ichs. Dadurch, dass Rache und Zorn im Minnesang geschlechtsspezifisch funktionalisiert und bewertet werden, müssen Liebeszorn und Racheglück für Lehmann im unmittelbaren Kontext von geschlechterspezifischen Machtdiskursen von Herrschaft und Unterwerfung gelesen werden. Gegenstand der Untersuchung in Evamaria Freienhofers Beitrag sind die Geschlechterkonstruktionen in den Kurzerzählungen »La dame escoill¦e« und »Frauenzucht«. Diese sind – so die Ausgangsthese – erst in enger Verbindung mit den Emotionsdarstellungen in beiden Texten, die auf das häufig verarbeitete Motiv der Zähmung der Widerspenstigen rekurrieren und dabei Kastrationsszenarien imaginieren, verständlich. Während in »La dame escoill¦e« die Emotion Stolz bei der Konstituierung von Männlichkeits- wie Weiblichkeits-

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entwürfen eine zentrale Rolle einnimmt, ist es in der »Frauenzucht« die Emotion Zorn, die Konstruktionen von Körper, Geschlecht und Macht (mit)bestimmt. Bei der literarischen Inszenierung und Funktionalisierung der genannten Emotionen, deren Verständnis durch einen Blick auf die antike philosophische Diskurstradition erhellt werden kann, ist zu beachten, dass diese spezifische Wertungen nicht nur aufgreifen, dem jeweiligen Geschlecht zuschreiben und derart Prozesse der Positivierung wie Negativierung (von Figuren) in Gang setzen. Freienhofers Analyse ergibt zudem, dass die beiden Kurzerzählungen Emotionen darüber hinaus unterschiedlich funktionalisieren. Während im altfranzösischen Text die Geschlechterordnung der Darstellung von Emotionen gewichtige, aber nachgeordnete Bedeutung zukommt, spielt die Ökonomie der Emotionen im mittelhochdeutschen Text für die Etablierung der Geschlechterverhältnisse die entscheidende Rolle, indem dort über die Emotion des Zorns Machtrelationen zwischen den Geschlechtern allererst ausgehandelt werden. Neid zielt ins Herz hierarchischer Beziehungen. Der Neider strebt danach, Unterschiede einzuebnen und den Vorteil des Anderen zu vernichten. Da die Rede über den Neid den Sprecher jedoch sowohl als Sünder wie als Unterlegenen im Wett- und Machtkampf am Hof und in der Universität diskreditieren würde,42 finden sich in mittelalterlichen Texten nur selten offene Neid-Bekenntnisse.43 Das verbindet den Neid mit dem Handlungs- und Erzählmuster der Intrige. Im Erzählvorgang entwickelt sich jeweils eine Spannung zwischen Verhüllen und Enthüllen, zwischen der verleumderischen Rede des Neiders, den geheimen Plänen des Intriganten und ihrer Analyse durch Außenstehende, welche die Texte in je anderer Weise ausfüllen, auflösen und funktionalisieren. Ausgehend von dieser erzählerischen Symmetrie werden Neid und Intrige einander in dieser Sektion zugeordnet. Die Beiträge von Eva Lieberich und Claudia Lauer zeigen, dass beide in Narrativen nicht nur ähnlich funktionieren, sondern darüber hinaus auch auf der Ebene der Handlung miteinander verbunden werden: Während die Intrige häufig aber nicht notwendigerweise von der Emotion des Neids motiviert und begleitet wird, stellt die Intrige das bevorzugte Handlungsmuster des Neiders dar. Claudia Lauers Beitrag analysiert eine weltliche soziale Praktik, in deren Umfeld negative Emotionen in der mittelalterlichen Literatur narrativiert wer42 Zur Isolation des Neiders vgl. Paris, Rainer: Der Neid. Von der Macht eines versteckten Gefühls. Waltrop u. Leipzig 2010, S. 25: »Die Diskriminierung des Neides ist die Diskriminierung der Neider. Diese müssen, um nicht stigmatisiert zu werden, ihren Neid sorgsam vor den anderen verbergen und verstecken.« 43 Eine Ausnahme bildet der innere Monolog des Neiders im »Reinfried von Braunschweig.«. Hier gibt der Gegenspieler Reinfrieds zu, dass seine Liebe zu Yrkane erst vom dem Neid auf Reinfried erregt worden sei: »alsus hat ze minnen verbunst mir dick die sinne braht (V. 4054 – 4057).

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den: die Intrige. Anhand exemplarischer Textanalysen der Intrigehandlungen in Veldekes »Eneasroman«, in Eilharts »Tristrant« sowie in Hartmanns »Iwein« zeigt sie zunächst die Spannbreite des mittelalterlichen Intrigen-Erzählens sowie die Ambivalenzen der Intrigen-Bewertung zwischen moralischem Skandalon und sozial konstruktivem Handeln auf: Das Spektrum reicht vom klar zerstörerischen und bösen Gegenspieler im »Eneasroman« über das ambivalente Handeln des Intrigenopfers und Intriganten Tristrants bis hin zu Iwein, der im Rahmen der auf der Konkurrenz vieler idealer Ritter aufbauenden Hofordnung des Artushofs konstruktiv zu Mitteln wie List und Täuschung greift. Ausgehend von diesen Analysen entwickelt Claudia Lauer am Ende drei systematische Perspektiven, um die Emotionalität der Intrige im höfischen Roman zu erfassen. Auf der Handlungsebene gehe die Intrige immer wieder auf Situationen gestörter Ordnung zurück, welche über die Emotionen Zorn, Neid und Eifersucht angezeigt werden, die das weitere Konfliktgeschehen zugleich auch weiter vorantreiben und zu einer erneut emotional besetzten Lösung bringen. Auf der Rezipientenebene banne die Intrige vor allem die Aufmerksamkeit des Hörers/ Lesers: Einerseits werde über das Erzählen der effektvollen Listen, Lügen und Täuschungen Erzählspannung aufgebaut und andererseits sorge das oszillierende Spiel zwischen Recht und Unrecht, Verhüllen und Enthüllen für eine intensive affektive Erlebnisqualität, welche die Intrige zum ästhetischen Faszinosum mache. Auf der Ebene der Narration spiegelt die Intrige schließlich die für Literatur konstitutive Differenz zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Zwischen dem Intriganten und dem Erzähler ließen sich zahlreiche Analogien feststellen: Wie der Intrigant, so (er)schaffe auch der Erzähler eine Welt. Die negativen Emotionen Rache, Zorn, Neid sind in Lauers Analysen jeweils unverzichtbarer Bestandteil der beschriebenen Intrigenszenarien. Sie funktionieren als Zeichen gesellschaftlicher Krisen, sind Promotoren und Träger intriganten Handelns und können doch selbst auch durch Intrigen neu hervorgerufen werden. Im Beitrag von Eva Lieberich wird Neid als soziale Emotion reflektiert. Fokussiert man Neid in dieser Funktion – und nicht in seiner moralisch-theologischen Bedeutung – werden wertvolle Einblicke in Krisen, Parteibildungen und Machtkämpfe innerhalb von Gesellschaften ermöglicht. Diese der Emotionspsychologie und -philosophie entlehnte Konzeption erprobt Lieberich am Beispiel des »Tristan« Gottfrieds von Straßburg. Wird Neid als soziale Emotion betrachtet, lassen sich Neider und Beneidete(r) über ein Neidobjekt zueinander in Beziehung setzen. Dabei stellt sich die Frage, wie dieses trianguläre Verhältnis im Kontext des höfischen Romans entworfen und modelliert wird und welche Funktionen Neid dabei zugesprochen werden. Es zeigt sich, dass Tristans Position innerhalb der Gesellschaft problematisiert erscheint, da sich sein Ansehen am Hof Markes wandelt: Erfährt er zunächst von Seiten der Hofgesellschaft

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Bewunderung, schlägt diese um in den Neid der Barone. Der Neid dient dazu, den Status Tristans als Ausnahmefigur herauszustellen. Er zielt einerseits auf die Einebnung von Tristans exponierter Stellung, resultiert aber paradoxerweise zugleich in dessen noch deutlicherer Hervorhebung, da die Lesbarkeit von Neid Tristans Ansehen messbar macht. Die struktur- und hierarchiestiftende Wirkung von Neid kann auch in einer Bedrohung für den Beneideten münden, wie die Furcht Tristans signalisiert. Hier fungiert Neid als Emotionskomplex, der mit anderen Emotionen wie Furcht, Hass oder Zorn einhergeht. Diese Aspekte verdeutlichen die Funktion von Neid, Referenz für krisenhafte Zustände in Gesellschaften zu sein und Strukturen und Profilbildungen innerhalb dieser zu konturieren. Des Weiteren kommt Neid auch die Funktion zu, soziale Ordnungen aufzulösen und neu zu formieren. Im Falle des »Tristan« wird dies am Verhältnis von Neid und Neidbewältigung (gemeinsame Brautwerbungsfahrt) deutlich. Die Analyse von Neid als sozialer Emotion führt also ins Zentrum des Hofes und seiner Machtkonstruktionen. Für andere Texte ließe sich daraus schlussfolgern, dass derartige Analysen dabei helfen könnten, Formen und Strukturen der Figuren- und Machtkonstellationen in mittelalterlichen Texten zu beschreiben. Die Tagung wurde ermöglicht mit freundlicher Unterstützung des Exzellenzclusters Languages of Emotion an der Freien Universität Berlin, gefördert durch die Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder, die Drucklegung des Bandes durch finanzielle Unterstützung des Exzellenzclusters Languages of Emotion und durch Gelder aus der leistungsorientierten Mittelvergabe für Gleichstellung durch die Frauenbeauftragte und das Dekanat des Fachbereichs Philosophie und Geisteswissenschaften an der Freien Universität Berlin.

Klaus Ridder

Religiöse Tabus und negative Emotionen in der »Suche nach dem Gral«

1.

Tabubegriff

Im vorletzten Teil des »Prosa-Lancelot«,1 in der »Suche nach dem Gral«, spielen Prozesse der Neukonstituierung und der Durchbrechung von religiösen Tabus eine besondere Rolle. Bei der Analyse der literarischen Phänomene kann man deshalb von einem Tabubegriff ausgehen, wie er in religionsgeschichtlichen Untersuchungen über die Ambivalenz des Heiligen begegnet. Das fundamentale Gegenüber von Heiligem und Profanem gilt als konstitutiv für Religion im weitesten Sinne und schließt eine grundsätzliche Ambivalenz des Heiligen ein: Es ist zugleich faszinierend und erschreckend. Rudolf Otto hat das Heilige in dieser Weise als ›Fascinosum‹ und als ›Tremendum‹ beschrieben. Für »das Verbotene, ja das Vernichtende des Sakralen und die daraus folgende Meidung«2 wird das Wort Tabu verwendet. Lancelot etwa erfährt in der »Gralssuche« die erschreckende Komponente des Heiligen in unmittelbarer Nähe des Grals, da er nicht zu den für die Gralsschau erwählten Artusrittern Galaad, Bohort und Parceval gehört. Auch wenn sich in weiter entwickelten religiösen Denksystemen »das Fascinosum und das Tremendum in ethisch Gutes und Böses« wandeln, ist damit der 1 Ausgaben: Prosalancelot. Nach der Heidelberger Handschrift Cod. Pal. germ. 147. Hg. v. Kluge, Reinhold. Ergänzt durch die Handschrift Ms. allem. 8017 – 8020 der BibliothÀque de l’Arsenal Paris, übersetzt, kommentiert u. hg. v. Steinhoff, Hans-Hugo. Frankfurt a. M. 1995 (Bd. I – II: Lancelot und Ginover), 2003 (Bd. III – IV: Lancelot und der Gral), 2004 (Bd. V: Die Suche nach dem Gral; Der Tod des Königs Artus). – La Queste del Saint Graal. Roman du XIIIe siÀcle. Hg. v. Pauphilet, Albert. Paris 1978 [zitiert nach Seite u. Zeile]. 2 Angenendt, Arnold: Geschichte der Religiosität im Mittelalter. Darmstadt 22000, S. 356; vgl. ebenso Greschat, Hans-Jürgen: Mana und Tabu. In: Theologische Realenzyklopädie. Hg. v. Müller, Gerhard. Bd. 22. Berlin, New York 1992, S. 13 – 16; Otto, Rudolf: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen. München 29/30 1958; vgl. dagegen Agamben, Giorgio: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt a. M. 2002 (Erbschaft unserer Zeit 16). Er bezeichnet die Auffassung von der Ambivalenz des Heiligen als ›wissenschaftlichen Mythos‹ (S. 85 – 90).

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Klaus Ridder

Tabubegriff nicht obsolet. Arnold Angenendt betrachtet »die Ethisierung des Gottes- wie des Menschenbildes« als Resultat eines Prozesses der Transformation von kultischer zu ethischer Heiligkeit. Diese sei mit dem Neuen Testament vollzogen.3 Versteht man Tabu als ethisches Gebot Gottes und Tabubruch als Missachtung dieser Anforderung durch den Menschen, so hat der Tabubegriff auch auf dieser Ebene Berechtigung. Allerdings ist es dann notwendig, ihn von den allgemeineren Begriffen Verbot und Normverletzung abzugrenzen. Folglich lassen sich nur wenige, im religiösen Sinne als zentral erachtete, Gebote unter den Kategorien Tabu und Tabubruch fassen. In der »Suche nach dem Gral« spielt etwa das Reinheitsgebot eine solche Rolle. Reinheit wird zur wichtigsten ethischreligiösen Anforderung an die Artusritter. Die Nichteinhaltung dieser zentralen Norm schließt von der Heilswirkung des Grals aus. Es wird jedoch zu prüfen sein, inwieweit im Text auch Aspekte kultischer Reinheit eine Rolle spielen. Für die Auseinandersetzung mit dem Begriff des religiösen Tabus ist zudem der Zusammenhang von Tabu und Opfer wichtig, denn – so formuliert Angenendt – »Grunderlebnis des ›Heiligen‹ ist die Opfertötung«.4 In christlichneutestamentlichem Verständnis wird der mythischen Blutopferpraxis eine Absage erteilt. Die freiwillige Selbstopferung Jesu ist ein einmaliges vollkommenes Opfer, das sich nur im Messopfer, jedoch auf einer anderen Ebene, wiederholt. Daher sind nach dem Opfertod Christi keine weiteren Opfer notwendig. In deutlicher Spannung zur Überwindung des Tier- und Menschenopfers in christlicher Opfer-Theologie steht jedoch das Faktum, dass die Tötung Christi als Modell für die Nachfolge in den Tod und als sicherer Weg zur Erlösung aufgefasst worden ist. Zwar wird an die Stelle der Blutopfer das Selbstopfer Christi gesetzt, doch hat offenbar »die Vorstellung der Blutsühne tief auf die mittelalterliche Christenheit eingewirkt, zum Teil in rearchaisierenden Formen.«5 In der »Gralssuche« finden sich mehrere Selbstopferdarstellungen und das Selbstopfer von Parcevals Schwester wird sogar mit dem Brauch (costume) unfreiwilliger Menschenopfer kontrastiert. Damit scheint der Text die Transformation des archaischen Blutopfers zum erlösenden Selbstopfer zu bekräftigen. Anderseits problematisiert die Ausgestaltung der Erzählmotive eine deutliche Abgrenzung zwischen ethischer Selbsthingabe und tabuisiertem Blutopfer. »Die Suche nach dem Gral« ist als Ganzes über die Spannung zwischen Heiligem und Profanem, zwischen Reinheit und Unreinheit, zwischen Erwählung und Ausschließung strukturiert. Die Erzählung beginnt mit dem Erschei3 »Was zuvor wie zwei willkürlich wechselnde und unergründlich wirkende Seiten des Göttlichen bzw. der Götter erschien, scheidet sich nun in Gnade oder Zorn« (Angenendt [Anm. 2], S. 357). 4 Angenendt [Anm. 2], S. 360. 5 »Die Geschichte der mittelalterlichen Eucharistie-Frömmigkeit läßt sich gutenteils von dem Verlangen nach realem Opferfleisch und Opferblut erklären« (Angenendt [Anm. 2], S. 366).

Religiöse Tabus und negative Emotionen in der »Suche nach dem Gral«

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nen des Grals zu Pfingsten am Artushof, berichtet von der Gralssuche und vom Scheitern der unberufenen Artusritter (u. a. Lancelot), von den Prüfungen der zur Gralsschau Auserwählten und endet schließlich mit der Schau und der Entrückung des Grals. Die innere Struktur einiger signifikanter Episoden ist durch die Spannung zwischen Tabu und Tabubruch charakterisiert. Der Text verdeutlicht so – auf mehreren Ebenen – unterschiedliche Grade der menschlichen Partizipation am Heiligen. Dies lässt sich an mehreren Episoden aufzeigen.

2.

Negative Emotionen

Neben dem Tabubegriff möchte ich dabei mit der Kategorie der negativen Emotionen arbeiten. Negative Gefühlstypen wie Angst, Trauer und Zorn oder Verzweiflung, Scham und Schuld sind anthropologisch fundamental, gestalten sich kulturell jedoch auch immer neu.6 Sie sind bestimmend für das SelbstGefühl, für die Identität einer Person7, jedoch auch für die Wertorientierung einer Gemeinschaft. Gemeinschaften können Ordnungen und Werte stabilisieren oder verändern, indem sie negative Emotionen vehement ausgrenzen oder intensiv zum Thema machen. Negative Emotionen sind daher – vielleicht sogar mehr als andere Emotionen – als Akte des Bewertens aufzufassen.8 Das Interesse liegt im Folgenden nicht auf einer einzelnen, sondern auf einem 6 Am Beispiel der Scham lässt sich diese Problematik verdeutlichen: Scham kann man als basale körperliche Reaktion auf die Erfahrung von Unzulänglichkeit verstehen. Wie andere Emotionen auch wird sie jedoch zudem über Schlüsselszenarien ›erlernt‹ und spezifiziert. Kulturelle und soziale Kontexte formen schließlich unterschiedliche Typen von Normen aus, deren Nichtbeachtung Scham- und Schuldreaktionen auslösen können. Zur Scham im »Prosa-Lancelot« vgl. Ridder, Klaus: Schlüsselszenarien: Scham und Schamlosigkeit im Prosa-Lancelot. In: Scham und Schamlosigkeit. Grenzverletzungen in Literatur und Kultur der Vormoderne. Hg. v. Gvozdeva, Katja u. Velten, Hans Rudolf. Tübingen 2011, S. 194 – 222. 7 »In ihnen sind wir dezentriert und gerade deswegen ganz und gar lebendig« (Böhme, Hartmut: Gefühl. In: Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie. Hg. v. Wulf, Christoph. Weinheim, Basel 1997, S. 525 – 548, hier S. 543). 8 Auch Perler, Dominik: Transformationen der Gefühle. Philosophische Emotionstheorien 1270 – 1670. Frankfurt a. M. 2011 hebt die »evaluative Komponente« von sowohl positiven als auch negativen Emotionen hervor. Allerdings merkt er zudem an, dass nicht nur Emotionen, sondern auch Wünsche und Werturteile stets bewertend sind« (S. 15). Die ›evaluative Komponente‹ von Emotionen sei schon sehr früh erkannt worden: »So stellten bereits die Autoren des 13. Jahrhunderts (unter ihnen prominenterweise Thomas von Aquin) fest, dass Emotionen immer ein ›formales Objekt‹ haben, d. h. ein in bestimmter Hinsicht spezifiziertes und evaluiertes Objekt. So richtet sich Furcht auf einen Gegenstand, der als schlecht und bedrohlich evaluiert wird, Freude hingegen auf einen, der als nützlich und gut eingeschätzt wird« (S. 20).

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Spektrum von negativen Emotionen. Es geht um die Funktion von Emotionen für exemplarisch gedachtes Handeln, weniger um die emotionale Befindlichkeit einer einzelnen Figur. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei der Frage, auf welche Weise Tabu bzw. Tabubruch und negative Emotionen aufeinander bezogen sind. Grundsätzlich darf man annehmen, dass die Erfahrung des Heiligen als ›Fascinosum‹ oder als ›Tremendum‹ mit dem Erleben positiv-erhebender oder negativ-bedrückender Emotionen einhergeht. Der Tabubruch ist in seiner Wirkung im Unterschied zum Verbot auf negative Emotionen hin orientiert. Tabubrüche haben Scham, Ekel, Wut, Hass etc. zur Folge – Verbotsüberschreitungen hingegen rationale Reaktionen (zum Beispiel Kritik, negative Beurteilung, Diskussion, bzw. eine Strafe). […] Das Tabu greift früher und weiter als ein Verbot.9

Zwar ist eine genaue Abgrenzung von Tabus und Verboten […] nicht immer möglich, und es scheint, dass es sich eher um graduelle Unterschiede in einem Kontinuum sozialer Konventionen mit den beiden Polen (reines) Tabu und (reines) Verbot mit fließenden Übergängen handelt.10

Deutlich ist allerdings, dass Tabuverletzungen vielfach durch ein Spektrum negativer Emotionen Bewertungen erfahren. In dieser Korrelation von religiösen Tabus und negativen Emotionen greift man eine anthropologisch-religiöse Tiefenschicht, die als eine Art strukturelle Konfiguration aufzufassen ist. Man kann darüber hinaus vermuten, dass Repräsentationen von negativen Emotionen als Folge von (religiösen) Tabuverletzungen in besonderer Weise Ausdruck in exemplarischen Erzählungen finden. In literaturwissenschaftlicher Perspektive ist daher zu untersuchen, wo und wie der Erzähler in der »Gralssuche« negative Emotionen thematisiert, die in Zusammenhang mit religiösen Tabubrüchen stehen.11 Der Fokus liegt darauf, welche narrative Funktion den Emotionsdarstellungen zukommt, und umge9 Schröder, Hartmut: Zur Kulturspezifik von Tabus. Tabus und Euphemismen in interkulturellen Kontaktsituationen. In: Tabu. Interkulturalität und Gender. Hg. v. Benthien, Claudia u. Gutjahr, Ortrud. München 2008, S. 51 – 70, hier S. 56. 10 »Entwickelt sich ein Tabu zu einem direkten Verbot, so wird gleichzeitig mit dem Gewinn an Kodifizierung die affektive Markierung schwächer und die mögliche Regelung der Sanktion für den Täter klarer und nachvollziehbarer« (Schröder [Anm. 9], S. 57). 11 Die außergewöhnlich umfangreiche Thematisierung von Affekten im »Prosa-Lancelot« hebt Wiebke Freytag hervor: ›Mundus fallax‹, Affekt und Recht oder exemplarisches Erzählen im Prosa-Lancelot. In: Wolfram Studien 9 (1986), S. 134 – 194, insbes. S. 148. Untersucht werden Affekte dann aber v. a. als »vorrationale und unwillkürliche Triebkraft jedes Tuns« (S. 189): »Mit bemerkenswertem, offensichtlich an Grundsätzen patristischer und mittelalterlicher Anthropologie geschultem Differenzierungsvermögen gestaltet der Prosaroman das ihm wichtige Thema des affektgelenkten Handelns« (S. 152). Zum Gralswunder gibt Freytag eine Aufzählung von Belegstellen (vgl. S. 157, Anm. 88), erwähnt aber keine negativen Emotionen.

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kehrt, inwiefern eine narrative Konstellation bestimmte Emotionsäußerungen bedingt. Im Erzähltext werden Emotionen zwar Figuren zugewiesen, die literarische Darstellung zielt jedoch weniger darauf, die Differenziertheit der Gefühle einer Einzelfigur zum Ausdruck zu bringen. Die Analyse fragt daher nach der narrativen Funktionalisierung von negativen Emotionen im Erzählkontext von religiösen Tabubrüchen. Methodische Grundlage dieser Blickrichtung ist eine Konzeption exemplarischen Erzählens, wie sie etwa Wiebke Freytag ihrer Studie über Affekte im »Prosa-Lancelot« zugrunde gelegt hat. Sie geht davon aus, dass das mittelalterliche Begriffsverständnis des Exemplarischen »stets ein Doppeltes, partiell Analoges« umfasst, also »den poetisch fingierten Fall und die zu demonstrierende Wahrheit oder Doktrin«.12 Das Gegenüber von exemplarischen Handlungsfiguren und zu vermittelnden Normen ist in der »Gralssuche« m. E. deutlicher als in den anderen Teilen des »Prosa-Lancelot«. Daher lässt sich der exemplarische Charakter der negativen Emotionen aufzeigen, die den Figuren im Zusammenhang mit Tabuverletzungen zugeschrieben werden.13

3.

Gral-Tabu

Die ganze »Suche nach dem Gral« ist vom Gral-Tabu her entworfen und zwar als eine Annäherungs- und Abstoßungsbewegung der Artusritter : Auf der einen Seite gibt es in der Erzählung Szenarien der Annäherung, Schau und Entrückung des Grals, auf der anderen solche der Erwählung, teilweisen Zulassung und Exklusion der Gralssucher. Lancelot ist vor dem Gral insbesondere mit der strafend-vernichtenden Seite des Heiligen konfrontiert, erfährt partiell jedoch auch eine bisher nicht gekannte Freude. Bereits am Beginn des Werkes hat der Protagonist die Verletzung des Keuschheitsgebots, die ihn von der Gralsschau ausschließt, auf sich geladen. In einer Szenerie, die ebenfalls durch die Ambivalenz des Heiligen gekennzeichnet ist, wird er sich dessen bewusst: In einer Kapelle sieht er eines Nachts auf einem Altar kostbare religiöse Gefäße, kann jedoch nicht zu ihnen gelangen. Er geht wieder hinaus, entwaffnet sich und fällt vor Erschöpfung in einen Zustand zwischen Wachen und Schlaf. In dieser Wachtrance vermag er zwar die Vorgänge in seiner Umgebung wahrzunehmen, nicht aber selbst körperlich zu reagieren: Und da er ein gu˚te wile hett gelegen als 12 Freytag [Anm. 11], S. 136. 13 Grundsätzlich ist festzuhalten, dass der »Prosa-Lancelot« in der »Gralssuche« zwei Komplexe, die ganz unterschiedlichen Zusammenhängen entstammen, verbindet, »nämlich die Artussage und geistliche Lehre, die er ebenso detailliert wie kompetent darstellt, indem er sie in die fabulöse history einkleidet. Solch ein kontinuierlicher Verweisbezug zwischen an sich Verschiedenartigem ist für das exemplum kennzeichend« (Freytag [Anm. 11], S. 137).

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er verdu˚mmelt were (Steinhoff V, 114, 36 f.; Pauphilet, 58, 15). Staunend sieht er den Gral, dem ein Leuchter vorausschwebt, aus der Kapelle hervorkommen und nimmt wahr, wie dieser einen verwundeten Ritter heilt. Anschließend kehren beide Gegenstände wieder in die Kapelle zurück, ohne dass Lancelot erkennen kann, von wem sie getragen werden. Lancelots Erstarrung und seine fehlende Ehrbezeugung gegenüber dem Gral erklärt der Erzähler mit den schweren Sünden, die er auf sich geladen habe: Und darumb fand er an manchen enden in der suchu˚ng viel schande, die man im darumb seyde, und misseging im an manchem ende (Steinhoff V, 118, 8 – 10; Pauphilet, 59, 25 – 27).14 Als Lancelot erwacht, weiß er nicht, ob er geträumt oder wirklich den Gral gesehen hat. Er betritt die Kapelle erneut, bis er eine Stimme sagen hört: wie werst du so kfflne das du in keine stat, da der heilig gral pfligt zu sin, darst komen! Kere von hinnen, wann dieße stat ist alczumal entreyniget von dinen wercken! (Steinhoff V, 120, 34 – 122, 2; Pauphilet, 61, 18 – 20). Der Versuch der erneuten Annäherung an den Gral, um das Gesehene zu bestätigen, evoziert also den göttlichen Zorn und führt zur massiven Zurückstoßung. Doch erst als er den Verlust seiner Rüstung und seines Pferdes bemerkt – der geheilte Ritter hatte beides an sich genommen –, wird ihm klar, dass er nicht geträumt hat (Steinhoff V, 122, 10 – 12; Pauphilet, 61, 28 – 30). Diese Erkenntnis löst heftige Emotionen15 und tiefe Verzweiflung aus. Der Ausbruch der negativen Emotionen und die Reflexion seines bisheriges Lebens vollziehen sich als explizite Absage an höfische Wertvorstellungen und als bedingungslose Neuorientierung am religiösen Wertsystem.16 Die bewusste Wahrnehmung des eigenen Handelns als Tabubruch und die Erfahrung der zornigen Gottheit, das Hervorbrechen negativer Emotionen und der befürchtete endgültige Verlust der Lebensfreude verschlingen sich hier auf eine Weise, die den weiteren Weg Lancelots in der »Gralssuche« bestimmt. Die negativen 14 In gleicher Weise formulieren dies der unbekannte Ritter und sein Knappe: ›Und mich hat wunder umb diesen ritter, der hie schlefft, das er ny¨ erwacht umb sin komen.‹ ›Uff myn trfflw‹, sprach der edelknecht, ›er ist beladen mit etlichen sfflnden, da er nye sin bichte abe getete, und hatt es licht also verschfflldet gein unserm herren got, das er nit enwolte das er sehe die schön abentfflr.‹ (Steinhoff V, 118, 18 – 23; Pauphilet, 60, 1 – 7). 15 Lancelot sfflffczte von herczen und treneten im die augen und flu˚cht der zytt darinn er geborn was (Steinhoff V, 122, 4 – 5; Pauphilet, 61, 22 f.). 16 Dennoch kann man auch in der »Gralssuche« nicht von einer vollständigen Ablösung der ritterlich-höfischen durch eine religiös-spirituelle Ordnung sprechen, sondern nur von einer temporären Überlagerung beider Konzepte: Nu˚ schinent myn sfflnde und myn fflbel leben, nun sehen ich wol das myn unselikeit hat mich verdampt men dann ander ding. Dann da ich mich solt bessern, da hat mich der fynt gehindert, der nam mir das gesiecht das ich nit kund gesehen kein ding die von got kemen. Das ist nit wu˚nder ob ich sin nit möcht lfflterlich gesehen. Wann von der zytt da ich ritter wart da was nie zitt, ich wer bedecket und beladen mit dötlichen sunden, wann ich han allczit gefflbet unkfflscheit von der welt men dann ein ander (Steinhoff V, 122, 14 – 23; Pauphilet, 61, 32 – 62, 7); vgl. dazu auch Ridder [Anm. 6], S. 209.

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Emotionen sind narratives Zeichen einer religiös-ethischen Unzulänglichkeit. Indem sie Lancelot zugeschrieben werden, bringen sie einen inneren, als notwendig eingeforderten Erkenntnis- und Umorientierungsprozess nach außen. Die situative Selbstaufgabe und Verzweiflung wird dann jedoch über einen Weg zwischen Bekenntnis und Neuorientierung aufgefangen, und zwar unter Anleitung von geistlichen Wissensfiguren (Einsiedler, Traumdeuter, Weise). Um die Folgen des Tabubruchs zu tilgen, unterwirft sich Lancelot bereitwillig17 dem neuen religiösen Gesetz, gibt sein irdisches Liebesglück zugunsten des transzendenten Seelenheils auf und beginnt eine Prozedur der Reinigung durch Reue, Beichte und Buße.18 Das ritterliche Gewalthandeln wird durch die Umorientierung auf ein religiöses Wertsystem nicht infrage gestellt, erotische Liebe jedoch zu einem Tabu für Gralserwählte. Nach einem langen Weg gelangt Lancelot auf die Gralsburg Corbenic, wo seine Suche nach dem Gral endet. Er nimmt in der Kapelle, in der sich der Gral befindet, einen strahlenden Glanz wahr und will hineingehen, doch eine Stimme sagt: Fluch, Lanczelot, und nit gang herinn, wann du solt es nit thun, und geest du herinn, es wirt dich beruwen (Steinhoff V, 494, 9 – 11; Pauphilet, 255, 9 – 11). Daraufhin weicht er zurück, sieht dann aber durch die offenstehende Tür, wie ein alter Priester die Messe zelebriert. Während der Stillmesse hebt dieser die Hostie empor: Lancelot erkennt plötzlich drei Gestalten; zwei von ihnen geben dem Priester die jüngste in die Hände. Als dieser unter der Last zu fallen droht, will Lancelot zu Hilfe eilen und vergisst das Verbot.19 Er betritt den Raum, spürt 17 In einem ersten Gespräch mit einem Einsiedler ist er zunächst von der Furcht sich zu offenbaren erfüllt (Steinhoff V, 130, 10; Pauphilet, 66, 2). Er hat es jedoch »mit einem erfahrenen Verhörspezialisten zu tun«, wie Dieter Welz formuliert hat, dem es gelingt, »mit einem probaten Mittel den auftretenden Widerstand, der die Zunge lähmt, zu brechen« (Welz, Dieter : Negation höfischer Kommunikationsformen in der mittelhochdeutschen Gral-Queste oder Lanzelot als Pönitent. In: Höfische Literatur – Hofgesellschaft – Höfische Lebensformen um 1200. Hg. v. Kaiser, Gert u. Müller, Jan-Dirk. Düsseldorf 1986 (Studia humaniora 6), S. 333 – 361, hier S. 353). Der Einsiedler nutzt die Kombination von Verheißung und Drohung (Und gelobt im die ewig freud, ob er es sag, und die helle, ob er es verschwig; Steinhoff V, 130, 13 f.; Pauphilet, 66, 5 – 6) und verweist außerdem auf ein Kreuz, auf das eine Christusdarstellung gemalt ist, um das von Christus dargebrachte Opfer mit dem Selbstopfer eines Sünders zu vergleichen, das dieser durch Bekenntnis und Beichte erbringe (Steinhoff V, 128, 26 – 130, 5; Pauphilet, 65, 15 – 29). Lancelot akzeptiert die Notwendigkeit zu bekennen und dadurch intensiviert sich der Grad der Reflexion über das vergangene Leben (Steinhoff V, 130, 5 – 7; Pauphilet, 65, 30 – 32). Zugleich formt sich das neue, religiös bestimmte Lebensziel aus. Der Einsiedler versichert ihm, er werde – wenn er von der Sünde mit der Königin ablasse – Dinge vollenden, die er wegen dieser Sünde bisher nicht zu Ende bringen konnte. Daraufhin gelobt Lancelot: ich laßen es in solcher maßen das ich nfflmmermen mit ir gesfflndigen noch mit keynem andern wibe (Steinhoff V, 140, 15 – 17; Pauphilet, 71, 9 f.; vgl. auch Steinhoff V, 132, 18; Pauphilet, 67, 9). 18 Vgl. Ridder [Anm. 6], S. 212. 19 Vgl. dazu Williams, Andrea M. L.: The Adventures of the Holy Grail. A Study of ›La Queste

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einen feuerheißen Wind, der ihn zur Türe zurückstößt, und verliert die Kontrolle über seinen Körper. Hände zerren ihn schließlich vor die Tür der Kapelle, wo er liegen bleibt.20 Die Ambivalenz von Leben spendender und gefährlicher Macht des Heiligen ist in der Szene eindrucksvoll dargestellt: Der Gral ist mit einem Tabu belegt, das Lancelot bricht, da Annäherung nur unter Voraussetzungen möglich ist, über die er nicht oder nur partiell verfügt. Seine körperliche »Erstarrung ist […] Folge einer verbotenen Annäherung an den Gral« (Steinhoff V, 1153, Kommentar zu V, 490, 13 – 500, 25).21 Das Tabu ist Teil einer Inszenierung von kultischer Heiligkeit. Dies lässt sich daran erkennen, dass Lancelot eine der drei del Saint Graal‹. Oxford, Bern, u. a. 2001. Sie weist darauf hin, dass Lancelot sich an dieser Stelle der Todsünde der superbia schuldig macht, wohingegen ihm in der Regel luxuria vorgeworfen wird: »[T]his feeling […] dominates and obliterates the memory of the divine interdiction given just moments before […]. Lancelot is guilty here of the sin of pride in thinking that he may be able to give help to the elderly priest. It is pride that leads him to rely on his skill at arms and is the cause of his unwillingness to abandon the outward signs of chivalry (arms, armour, horse)« (S. 94 f.). Er hat zwar in bester Absicht und gemäß des ritterlichen Verhaltenskodex gehandelt, doch ihm ist die Einsicht in die wahre Bedeutung der Aventiuren während der Gralssuche nicht vergönnt, weshalb er sich nur noch mehr versündigt (vgl. S. 96). 20 Der Gral hat im »Prosa-Lancelot« eine konkrete Gestalt angenommen: »Er ist identisch mit dem Gefäß, aus dem Jesus beim letzten Abendmahl mit seinen Jüngern das Lamm gegessen hat, und dem Kelch, in dem sich während der Messe die Verwandlung von Brot und Wein in den Leib Christi vollzieht und aus dem der Leib des Herrn gespendet wird. Entsprechend sind es Manifestationen der Transsubstantiation und der Eucharistie, die von den Berufenen, dem zeitgenössischen Bedürfnis nach konkreter Anschaulichkeit abstrakter Glaubenswahrheiten entsprechend, als physische Realität geschaut werden. Christus selbst reicht ihnen die Hostie« (Steinhoff V, 1043). 21 Vgl. dazu Waltenberger, Michael: Das große Herz der Erzählung. Studien zu Narration und Interdiskursivität im »Prosa-Lancelot«. Frankfurt a. M., Berlin u. a. 1999 (Mikrokosmos. Beiträge zur Literaturwissenschaft und Bedeutungsforschung 51), für den Lancelots Paralyse dessen »Sündenschwere« symbolisiert: seine »Unfähigkeit, dem Gral nahe zu kommen, bezeichnet nun als Extremfall der Retardation die sündhafte Befangenheit in der Körperwelt, welche die Erkenntnis- und Handlungsfähigkeit behindert oder sogar stillegt« (S. 118). Durch seine Versündigung ist er folglich nicht in der Lage, auch in der zweiten Gralsschau die Situation richtig wahrzunehmen, richtig zu ›erkennen‹: »Das Wunder, in dem die Dreifaltigkeit sich offenbart, erscheint in den von sündhafter Weltverfallenheit getrübten Augen Lancelots als riskante trinitarische Akrobatik, physischen Kausalitäten unterworfen und deshalb in akuter Gefahr abzustürzen. Sofort will er helfend herbeieilen, ohne die Absurdität seines Verhaltens zu begreifen« (S. 122). Zur Bestrafung durch Gott vgl. auch Williams [Anm. 19], S. 73. Im Alten Testament werde die unerlaubte Annäherung an das Göttliche stets mit dem Tode bestraft, im »Prosa-Lancelot« ziele die Strafe dagegen auf Besserung des Bestraften ab. Es handle sich im »Prosa-Lancelot« also um eine neutestamentliche Vorstellung des Göttlichen, wenngleich die Tatsache, dass der Gral immer unerreichbarer wird – während in Camelot noch alle Ritter gespeist werden, zeigt sich der Gral schließlich reserviert für die Auserwählten und wird am Ende ganz entrückt –, der gesteigerten Zugänglichkeit des Göttlichen im Neuen Testament eigentlich widerspreche (vgl. S. 75). Folglich lässt sich eine Verschärfung des Gral-Tabus konstatieren.

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Gralmessen sieht, in denen das Geheimnis des Grals stufenweise den Erwählten aufgedeckt wird. Lancelot erfährt Gottes Macht jedoch nicht nur als Fluch, sondern auch als Beglückung. Als er erwacht, ist er von tiefem Schmerz erfüllt, doch darüber, dass man ihn aufgeweckt hat (Steinhoff V, 498, 18 – 24; Pauphilet, 257, 30 – 258, 4). Große Freude sei ihm durch das Gesehene zuteil geworden: Wäre seine Sünde nicht gewesen, hätte er mehr von diesem Nichtweltlichen geschaut.22 Sprachlich lässt sich diese Erkenntnis nicht vermitteln. Die Forschung hat diskutiert, ob Lancelot hier von einer mystischen Schau des Gralsgeheimnisses während seiner Ohnmacht berichtet.23 Im gegebenen Zusammenhang ist hervorzuheben, dass Lancelot sich nicht unreflektiert über das Tabu hinwegsetzt. Die Erzählung zeigt ihn in einem Entscheidungskonflikt zwischen der Erfüllung des ethischen Gebots der Hilfe und dem Verbot der Annäherung an den Gral. Er bittet Gott darum, dass ihn die Hilfeleistung nicht in die Verdammnis führe.24 Die dennoch erfolgende Bestrafung des Tabubruchs wertet somit die ethische Orientierung des Handelns deutlich ab und betont das Prinzip der Reinheit im Kultraum des Grals.

4.

Reinheitsgebot

Nach seinem Tabubruch vor dem Gral in Corbenic bleibt Lancelot 14 Tage bewegungsunfähig.25 Er selbst deutet dies so, dass die Zahl der Tage der der Jahre seines Lebens in Sünde entspricht, das er wol vierczehen jare dem fynde gedienet hett; vint et quatre anz servi a l’anemi (Steinhoff V, 500, 4; Pauphilet, 258, 21 – 22). Die Verhinderung der Annäherung an den Gral und die erlittene Strafe der temporären Lähmung sind Folge der vorausgehenden Verfehlung:26 Durch 22 Wann das ist nit gewest werntlich ding, wann es ist gewest geystlich, und wer myn groß sfflnde nit gewest, ich hett syn noch me gesehen, da ich verloß das gesiecht von mynen augen und die macht von mynem libe, umb die groß ungetrfflwikeit die gott an mir fand (Steinhoff V, 498, 29 – 33; Pauphilet, 258, 9 – 13). 23 Zu dieser Diskussion vgl. Steinhoff V, 1153 f., Kommentar zu 490, 13 – 500, 25. 24 Lieber vatter Jhesu Crist, nit enkere mir das in verdampniß das ich dem gu˚ten manne helffen gan wann es im not ist (Steinhoff V, 494, 32 – 34; Pauphilet, 255, 30 – 256, 2). 25 Laut Williams geht die Lähmung in der Regel mit Sprachlosigkeit einher, weshalb Lancelot nach seiner ersten Gralsschau beim Kreuz zur Strafe für seine Versündigung sowohl stumm als auch paralysiert ist und vom vorbeireitenden Ritter für schlafend gehalten wird (vgl. Williams [Anm. 19], S. 64). Auch beim Erscheinen des Grals in Camelot werden die sündigen Artusritter mit Sprachlosigkeit bestraft (vgl. S. 44). Allerdings lasse die Tatsache, dass Lancelot bereits beim Kreuz den Gral sehen kann – und zwar nicht wie in Camelot von einem Tuch verhüllt –, darauf schließen, dass sein »spiritual state« sich verbessert habe (vgl. S. 70 f.). 26 Für Cornelia Reil hatte Lancelot jedoch nie eine Entscheidungsmöglichkeit; von vornherein sei er zum Scheitern am Gral bestimmt gewesen und die Behauptung der Eremiten, er hätte

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seine Beziehung zu Ginover hat er das Reinheitsgebot verletzt.27 Das Ideal der Reinheit steht im Zentrum des neuen religiösen Wertsystems, das die Normen der Artuswelt in der »Gralssuche« überlagert. Der Grad der Erwähltheit der vom Artushof aufbrechenden Gralssucher bemisst sich nach diesem Wert. Die Idee der absoluten Reinheit scheint an mehreren Stellen im Roman auf, der Autor entwickelt sie jedoch insbesondere am Beginn des großen Exkurses. Dieser setzt mit dem Sündenfall Adams und Evas ein, um dann über die Erzählung von Salomos Schiff die christliche Heilsgeschichte mit der Geschichte der berufenen Gralssucher zu verknüpfen.28 Als gravierende Folge des ersten Tabubruchs, der Nichtbeachtung des Gottesgebotes im Paradies, nennt der Text Sterblichkeit und Wesensverwandlung des Menschen sowie die Erkenntnis der Nacktheit und das Entstehen der Scham (Steinhoff V, 414, 29 – 416, 6; Pauphilet, 211, 15 – 29). Erst dann erfolgt die Vertreibung Adams und Evas aus dem Paradies. Eva nimmt aus dem Paradies einen vom Baum der Erkenntnis abgebrochenen Zweig mit, der in der Erde schnell zu einem vollständig weißen Baum heranwächst. Eva fasst den Zweig zunächst als Zeichen ihres schweren Leids auf,29 der Erzähler deutet ihn jedoch als Zeichen der Hoffnung auf Erlösung.30

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durch Keuschheit Gralsheld werden können, stelle lediglich eine nachträgliche Erklärung dar und solle primär didaktischen Zwecken dienen. Tatsächlich sei Lancelot lediglich zum Artus- und Minneritter prädestiniert gewesen und sobald das Ziel der Liebe zu Ginover sich erfüllt habe, stagniere er (vgl. Reil, Cornelia: Liebe und Herrschaft. Studien zum altfranzösischen und mittelhochdeutschen Prosa-Lancelot. Tübingen 1996 (Hermaea 78), S. 211 – 213). Mary Douglas weist darauf hin, dass allen Unterlassungsgeboten in der Bibel folgendes Gebot vorausgehe: »Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig.« Damit seien »alle Vorschriften zur Sexualmoral Ausdrucksformen für das Heilige. Inzest und Ehebruch (3. Mose 28, 6 – 20) laufen der Heiligkeit – im einfachen Sinne der richtigen Ordnung – zuwider« (Douglas, Mary : Reinheit und Gefährdung: Eine Studie zu Vorstellungen von Verunreinigung und Tabu. Frankfurt a. M. 1988, S. 73). Der Exkurs beruht auf der Tradition der Kreuzholzlegende, setzt aber deutlich eigene Akzente. Dazu Pauphilet, Albert: Êtudes sur la Queste del Saint Graal: attribu¦e — Gautier Map. Paris 1980, insbes. S. 144 – 156; Quinn, Esther Casier : The quest of Seth, Solomon’s Ship and the Grail. In: Traditio. Studies in Ancient and Medieval History, Thought, and Religion 21 (1965), S. 185 – 222; Baumgartner, EmmanuÀle: L’arbre et le pain. Essai sur la Queste del Saint Graal. Paris 1981, insbes. S. 131 – 137; Prangsma-Hajenius, Angelique M.L.: La L¦gende du Bois de la Croix dans la Litt¦rature FranÅaise M¦di¦vale. Assen 1995, S. 104 f., 107, 111 (motifs 10v, 12 f., 13n, 29a), 296 – 298. Prangsma-Hajenius weist nach, dass sich nur in der Hs. Oxford, Bodlein Library, Fairfax 24 (»abr¦g¦ d’histoire sainte de Roger d’Argenteuil«) einige motivliche Entsprechungen (Eva nimmt einen Zweig aus dem Paradies mit) zwischen dem Sündenfallexkurs in der »Queste del Saint Graal« und den die Kreuzholzlegende überliefernden Texten finden. Da sprach sie das in eyn glichniß von also großem liden das ir durch den baum was komen, so solt sie das ryß halten so lang als sie fflmmer kfflnde und auch in der wise das sie es dick mocht gesehen zu einer erkentniß ires ungluckes (Steinhoff V, 416, 26 – 30; Pauphilet, 212, 18 – 22). Das ryß, das die erste sfflnderin brachte uß dem paradise, das was sere von großer bedffltniß,

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Der Autor imaginiert in dieser Schlüsselszene die Entstehung und die Ambivalenz menschlicher Emotionen in der anfänglichen Menschheitsgeschichte. Adam und Eva versinken unter dem Paradiesbaum in Trauer und Leid, denn – so erläutert es Eva – ny¨mand möcht da unden fro gesyn, und wie fro er were der darunder kem, er mfflst trurig syn (Steinhoff V, 420, 13 f.; Pauphilet, 214, 13 f.), da der Baum die Erinnerung an den Tabubruch und die Bestrafung durch Gott evoziere. Doch eine Stimme aus dem Himmel tröstet sie, wann da ist men lebens dann des todes (Steinhoff V, 420, 18 f.; Pauphilet, 214, 19). Ein Perspektivenwechsel, der mit positiven Emotionen einhergeht, stellt sich ein und von nun an nennen sie den Baum Baum von dem Leben, und umb die groß freude die sie da von hetten, da planczten sie viel der baume von dem eynen (Steinhoff V, 420, 20 – 22; Pauphilet, 214, 21 – 23). Als Auslösemoment für negative Emotionen fungiert also die Erinnerung an den Tabubruch, die Hoffnung auf Erlösung evoziert dagegen positive Emotionen. Während sich Körperscham noch im Paradies als unmittelbare Folge des primären Tabubruchs einstellt,31 entstehen weitere negative Emotionen nach der Vertreibung aus dem paradis der freuden (Steinhoff V, 416, 20 f.; Pauphilet, 212, 12) als Konsequenz von Schulderfahrung. Die unterschiedlichen Deutungen des Paradiesbaumes als negatives Erinnerungszeichen oder als Erlösungssymbol erklären die dem Menschen wesenhafte Gefühlsambivalenz. Der Text scheint auf die Frage zu reagieren, warum der Mensch im Blick auf ein Objekt zwischen positiven und negativen Emotionen hin und her schwankt. Im Hintergrund dieser Ursprungserzählung stehen offenbar theologische Reflexionen, die die Entstehung der Affekte und damit die Möglichkeit, Wirklichkeit und Handeln konträr zu bewerten, erst nach der Verwandlung der Natur des Menschen durch den Sündenfall gegeben sehen.32 Das auslösende Objekt negativer und positiver Emotionen ist der Paradiesbaum. An dieses Element knüpft der Autor eine weitere Ursprungserzählung, die das ›Gegenmittel‹ gegen die infolge des Tabubruchs eingetretene existentielle Beeinträchtigung des Menschen erklären soll. Die weiße Farbe des Baumes verweist auf die Tugend der Keuschheit. Dies gibt nun Gelegenheit, den Unterschied zwischen Keuschheit und Reinheit darzulegen: Reinheit geht weit über wann in dem als sie es trug in ir hant, das bedfflt ein groß frölichkeyt, recht als sie solten reden zu den die nach ir solten komen, wann sie was noch ein maget. Und der ast bedfflt recht als sie zu yn spreche: ›Nu˚n enkerent uch nit daran das wir sint ußgestoßen von unserm erbe, wann wir haben syn nit verloren alwegen; gesehent alhie die warzeichen das wir es noch ettwann wiedder gewinnen sollen.‹ (Steinhoff V, 416, 36 – 418, 7; Pauphilet, 212, 30 – 213, 5). 31 Vgl. dazu Ridder [Anm. 6]. 32 Vgl. dazu Freytag [Anm. 11], S. 146 (mit weiteren Textbelegen). Als Beispiel für solche Positionen sei nur verwiesen auf: Sancti Aurelii Augustini De civitate dei. Libri 11 – 22. In: Aurelii Augustini opera. Bd. 14, 2. Hg. v. Dombart, Bernard u. Kalb, Alfons. Turnhout 1955 (Corpus Christianorum. Series Latina 48), Buch XIV, Kap. 10.

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das Moment der sexuellen Unberührtheit hinaus, sie wird auf Bewusstsein und Intention ausgeweitet.33 Als Adam und Eva das Paradies verlassen mussten, waren beide kfflsch und reyne (Steinhoff V, 418, 25; Pauphilet, 213, 23 f.). Auf Gottes Geheiß vereinigen sie sich. An einem Freitag wird Abel unter dem weißen Baum gezeugt, woraufhin dieser seine Farbe in grün ändert und Blüten und Früchte trägt. Dies bedeutet, dass die, die ihn gepflanzt haben, ihre Jungfräulichkeit zwar verloren haben, dass jedoch derjenige, der unter ihm gezeugt worden ist, kfflsch und reyn (Steinhoff V, 424, 3; Pauphilet, 216, 11) bleiben wird. Kain tötet dann seinen Bruder Abel, da nur dessen Opfer Gottes Wohlwollen findet, genau an der Stätte und zu der Stunde, wo dieser an einem Freitag empfangen worden war (Steinhoff V, 426, 6 f.; Pauphilet, 217, 22 – 25). Der Baum wechselt daraufhin noch einmal die Farbe und wird rot, als gezugniß von dem blu˚t das da was verstöret (Steinhoff V, 428, 16 f.; Pauphilet, 219, 7). Der erste Brudermord zeigt auch, dass lediglich die Teilhabe an der sußikeit von dem baume34 (Steinhoff V, 420, 24 f.), also am Heiligen des Paradiesbaumes, nicht jedoch engste Blutsbindung die Orientierung am Reinheitsideal garantiert. So wird die Unterscheidung zwischen Keuschheit und Reinheit in der »Gralssuche« zu einer archetypischen Episode ausgeformt, um eine ursprüngliche Kraft gegen die depravierenden Folgen des ersten Tabubruchs aufzuzeigen. Der Autor ent-

33 Wann magtum mag sich nit glichen zu kuscheyt, und sagen uch warumb. Magtum ist ein tugent, die alle die nit enhaben die mit einander zu schaffen gehabt han mit fleischlicher geselleschafft. Und kuscheit ist vil höher und ein viel tu˚gentlicher ding, wann nymand mag das han, es sy wyp oder man, nach dem als er hatt gedanck und willen zu unkfflscheyt; Car pucelages ne se puet de trop aparagier a virginit¦, et si vos dirai por quoi. Pucelages est une vertuz que tuit cil et toutes celes ont qui n’ont eu atouchement de charnel compaignie. Mais virginitez est trop plus haute chose et plus vertuose: car nus ne la puet avoir, soit hom soit fame, por qu’il ait eu volont¦ de charnel assemblement (Steinhoff V, 418, 27 – 32; Pauphilet, 213, 26 – 32); dazu Klinger, Judith: Der mißratene Ritter. Konzeptionen von Identität im Prosa-Lancelot. München 2001, S. 406 (mit weiteren Textbelegen). »Die Queste systematisiert mit dem Begriff der unkuscheit jede ungeregelte, sinnliche Selbstaktivierung des Körpers, dessen hiczung in sexueller und kämpferischer Verausgabung es auszumerzen gilt. So setzt sie nicht zuletzt den höfischen Zivilisationsprozeß mit anderen Mitteln und Argumenten fort, produziert aber zugleich eine abstrakte Norm der Reinheit, der alle individuellen Körper verfallen. […] Der adlige Körper, dessen Qualität im Prosa-Lancelot schon nicht mehr ausschließlich von der Geburt abgeleitet wird, erstrahlt in der Passion, in der willentlichen Selbstverstümmelung nur um so heller ; das ins Fleisch stechende, härene Hemd bringt das vehement Negierte zugleich zum Vorschein« (S. 410). 34 Wann als bald als sie eynen ast abgebrachen, so saczten sie yne in die erde, der wuhs zuhant, und alle tag so enpfingen sie der sußikeit von dem baume. Und er wuhs alle tag und wart schöner dann keyn ander. Da kam es also das sie darunder saßen als sie vor hetten gethan; Car si tost com il en ostoient un raim, il le fichoient en terre, si reprenoit tantost et enracinoit de son gr¦, et toz jorz retenoit il la color de celui. Et cil crut toz jorz et amenda. Si avint puis que plus volentiers s’i seoient Adam et Eve qu’il ne fesoient devant (Steinhoff V, 420, 22 – 27; Pauphilet, 214, 23 – 27).

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wirft ›Supplemente zur biblischen Heilsgeschichte‹35, um auf diese Weise die Wertorientierung und die religiöse Erwähltheit der Gralsritter zu fundieren. Im ersten Teil des heilsgeschichtlichen Exkurses (der die Zeit vom Sündenfall bis zur Regentschaft Salomons behandelt) konstituiert der Autor der »Gralssuche« – so lässt sich zusammenfassen – eine Reihe von Gründungsszenarien. Diese reflektieren den Zusammenhang zwischen erstem Tabubruch und menschlichen Emotionen, zwischen Keuschheit und Reinheit sowie zwischen Opfer und erstem Brudermord. Folge des ersten Tabubruchs der Menschen sind negative, Folge der von Gott gegebenen Erlösungshoffnung positive Emotionen. Die ambivalente Wahrnehmung des Paradiesbaumes als religiöses Negativ- oder Positivsymbol und die Bewertung durch unterschiedliche Emotionsspektren, die der Text den Ersteltern zuschreibt, lässt sich als Ursprungsbestimmung einer als universal gedachten menschlichen Gegebenheit auffassen. Partizipation am Heiligen gründet sich auf die Orientierung an christlichen Tugenden, die die mit dem Sündenfall verlorene Nähe zum Göttlichen zumindest ein Stück weit wiederherstellen können. Reinheit ist dabei die wichtigste, die Annäherung an das Heilige ermöglichende Tugend. Sie ist als ein Ideal aufgefasst, das in den Bereich des Bewusstseins und der Emotionen ausgreift, das das Körperlich-Sexuelle zwar nicht verabsolutiert, jedoch selbstverständlich voraussetzt. Gleichzeitig ist Reinheit (neben anderen christlichen Werten) auch als ›vererbbare‹ Qualität gedacht, die sich in den unter dem Paradiesbaum gezeugten Menschen tradiert. Sogar engste Blutsverwandtschaft, etwa zwischen Brüdern, ist mit dieser Vererbungslinie jedoch nicht gleichzusetzen. Die anthropologische, kultische und ethische Ursprungserzählung literarisiert bekannte und neue Ideen über das Verhältnis von Heiligem und Profanem in der Welt nach dem Sündenfall und sie vermittelt Erklärungen und Bewertungen menschlichen Handelns. Von hier aus spannen sich Verbindungslinien zu den Ereignissen in der Erzählwelt der »Gralssuche«. In vielem liefern die archetypisch gedachten Szenarien das religiös-anthropologische Modell für das Handeln der Gralssucher.

5.

Blutopfer-Tabu

Um die Absolutheit des Reinheitsgebots zu verdeutlichen, setzt die Erzählung die Erwählten Verführungssituationen aus, die teilweise einen geradezu gro35 Vgl. Kiening, Christian: Arbeit am Absolutismus des Mythos. Mittelalterliche Supplemente zur biblischen Heilsgeschichte. In: Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. v. Friedrich, Udo u. Quast, Bruno. Berlin, New York 2004 (Trends in Medieval Philology 2), S. 35 – 57.

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tesken Charakter haben. In der radikalsten Prüfungssituation steht Bohort zunächst vor den Entscheidungen, eine Jungfrau vor Vergewaltigung oder das Leben seines Bruders zu retten und 200 Jungfrauen vor dem Selbstmord zu bewahren oder seine Keuschheit preiszugeben. Schließlich wird er noch mit dem Dilemma konfrontiert, gegen seinen Bruder das Schwert zu erheben oder das Selbstopfer Unbeteiligter zuzulassen. Das Tabu des Verwandtenmordes, das Selbstmord-Tabu und das Blutopfer-Tabu werden hier dem Reinheitsideal gegenübergestellt. Bohorts Suche setzt damit ein, dass er mit einem Priester über die Weitergabe von Tugenden diskutiert. Der Priester vertritt die Position der Vererbbarkeit auch von Tugenden, Bohort hält individuelle Lebensführung und göttliche Gnade für heilsrelevant. Die Metaphern, mit denen dieses Gespräch geführt wird, schließen es deutlich an den Sündenfallexkurs an: Der Priester argumentiert, dass Bohorts Eltern ein eynig baum und ein eynig floß mit gerechter ee (Steinhoff V, 326, 9; Pauphilet, 165, 3 f.) waren und Bohort als deren frucht (Steinhoff V, 326, 10; Pauphilet, 165, 5) daher tugendhaft sein müsse. Bohort hält dagegen, dass auch ein von schlechten Bäumen abstammender Mensch sich zum Guten wenden könne, sich wandeln von bitterkeyt in sfflßikeyt als bald als enpfehet die heilig cristenheit und den heiligen glauben; d’amertume en dolnor si tost come il renoit le saint cresme, la sainte onction (Steinhoff V, 326, 14 f.; Pauphilet, 165, 8 f.). Entscheidend sei nicht die Abstammung, sondern des menschen hercz (Steinhoff V, 326, 18; Pauphilet, 165, 11). Das nachfolgende Erzählgeschehen scheint Bohorts Auffassung zu bestätigen,36 die Szenarien im Sündenfallexkurs bekräftigen jedoch die Sicht des Priesters. Eine doppelte Deutungsperspektive verbindet sich auf diese Weise mit der Darstellung des folgenden Geschehens. Noch vor Beginn der Aventiure sieht Bohort einen großen Vogel, der sein Leben für seine Jungen hingibt, indem er sie – bereits dem Tode nah – durch sein Blut am Leben erhält (Steinhoff V, 332, 2 – 11; Pauphilet, 167, 33 – 168, 8).37 Er 36 So Girbea, Catalina: L’avunculat et la crise familiale dans deux romans arthuriens du XIIIe siÀcle: entre fiction et r¦alit¦ sociale. In: La parent¦ d¦chir¦e: les luttes intrafamiliales au Moyen ffge. Hg. v. Aurell, Martin. Turnhout 2010, S. 359 – 377, hier S. 367: »Le r¦cit prouve ult¦rieurement la v¦rit¦ de ces paroles, par la pr¦sence de Lyonnel, le mauvais frÀre de Bohort, qui ne semble pas justement avoir h¦rit¦ les vertus des bons arbres que furent ses parents«. 37 Deutung des Pelikans durch den Abt als Christus: Da hette ir nit lang geritten das er uch fur kam in eines vogels wise und bewiste uch die martel und die pine die er leyt umb uwern willen, und wil uch sagen wie ir yn sahent. Da der fogel kam uff den baum one bletter und one frucht, da begunde er sehen syn vogel und sach das keyner lebendig was. Da saczte er sich by sie und begund zu schlagen mitten in syne brust mit synem schnabel als lang das das blut daruß floß, und er starb alda. Und von dem blude wurden lebendig sin jungen alle, das sahent ir. Nu wil ich uch sagen die bedutniß: Der vogel bedfflt unsern schöpffer, der nach syner glichniß macht den menschen. Und da er waß gestoßen uß dem paradiß umb syner sunde willen, da kam er

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kann das Selbstopfer des Pelikans (der Name des Vogels wird nicht genannt) nicht deuten, doch der Leser reflektiert das Geschehen von nun an auch vor dem Hintergrund des Christusopfers. Anschließend sieht Bohort, wie zwei Ritter seinen gefesselten Bruder Lionel schwer foltern. Als er helfen will, bemerkt er die Bedrängnis einer jungen Frau, die ein Ritter hinweg zu zerren versucht.38 Bohort ist in dieser Entscheidungssituation so betrfflbt das er nit wfflst was er thun solt (Steinhoff V, 344, 36 – 346, 1; Pauphilet, 175, 26 – 27). Er wägt die Handlungsalternativen ab, betet und kommt erst dann der Jungfrau zur Hilfe. Den Bruder überlässt er seinem Schicksal, um zu verhindern, dass das Mädchen seine Jungfräulichkeit verliert (Steinhoff V, 346, 8 – 11; Pauphilet, 175, 30 – 31).39 Das Entscheidungsdilemma ist durch ein Höchstmaß an Emotionsäußerung charakterisiert:40 Da hub er syn augen off gegen dem hymmel und sprach alle schryende; tot em plorant (Steinhoff V, 346, 5 f.; Pauphilet, 175, 31 – 32). Sein Schmerz wird später nur noch dadurch gesteigert, dass Bohort sich der vermeintlichen Leiche seines Bruders gegenüber sieht: Da hette er als großen ruwen das er nit kund gestane, wann er viel zu der erden und kam von imselber und lag lang da in onmacht (Steinhoff V, 350, 8 – 10; Pauphilet, 178, 6 – 8). Es stellt sich dann aber heraus, dass es sich um ein Trugbild des Teufels handelte. Die Intensität der Emotionen qualifiziert die Konflikte als solche, die letztlich nur durch göttliche Gnade gelöst werden können. Dennoch sind von Bohort Entscheidungen verlangt, denen Bewertungsprozesse zugrunde liegen. In einer weiteren Prüfungsaventiure eröffnet ihm eine Burgherrin ihr Beuff ertrich, da er den dot fant, wann des lebens was da nit. Der baum one bletter und one frucht bedut schinbarlichen die welt, in der zu dißer zytt nit anders was dann sfflnd und armut und liden. Die jungen bedutent die menschlich geburt, die da was also verlorn das sie alle furen in o die helle, die guten als wol als die bösen, und waren alzumal in der bitterkeit. Da gottes sune das gesach, da ward er mensch und steyg uff den baum, das was an das crucz. Da ward er geschlagen mit dem schnabel, das was da er gestochen wart mit der spiczen von der glenen in die recht syten als viel das das blut daruß schoß. Und von dem blut wurden lebendig syn jungen die synen willen hetten gethan, wann er erloßte sie von der hellen, da sie alle dot inne waren, da noch keyn leben innen ist (Steinhoff V, 362, 5 – 29; Pauphilet, 184, 5 – 27). 38 Später stellt sich dann heraus, dass es sich bei diesem Ritter um einen Verwandten (einen Blutsverwandten, uns miens cousins germains im afrz. Text) handelte, der durch Teufelseinfluss so enbrant war, dass er die Frau heimlich aus dem Haus ihres Vaters in den Wald entführt hatte, um sie zu vergewaltigen (Steinhoff V, 346, 32 – 34; Pauphilet, 176, 23 – 26). 39 Die Auffassung, dass eine Jungfrau sich allein durch den Verlust ihrer Jungfräulichkeit versündigen würde, findet keine ungeteilte Zustimmung; Johannes Duns Scotus beispielsweise sieht die Frau durch die Verweigerung ihrer Zustimmung (also durch einen negativen Willensakt, der eine negative Emotion auslöst) entlastet. »Versündigen würde sie sich erst, wenn sie den sexuellen Kontakt billigen und dadurch eine rationale Form des Genusses empfinden würde« (Perler [Anm. 8], S. 149). 40 Die typische Reaktion auf ein Dilemma im »Prosa-Lancelot«, so Cornelia Reil, ist die Ohnmacht; u. a. verlieren Ladomas und einer von Lancelots chevalier enferr¦-Gegnern in solchen Situationen das Bewusstsein (vgl. Reil [Anm. 26], S. 195).

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gehren. Er verweigert sich, woraufhin diese ihm ihren Selbstmord und den von 200 (douze, Pauphilet, 181, 22) Jungfrauen zunächst ankündigt und dann auch ausführt. Bohort ist entsetzt (Steinhoff V, 358, 2; Pauphilet, 182, 2), doch um das Keuschheitsgebot zu wahren, ist er bereit den Selbstmord der Frauen geschehen zu lassen. Er empfindet zwar Mitleid mit den Frauen, doch es were im lieber das sie alle ir selen verlören dann er die syne (Steinhoff V, 356, 34 f.; Pauphilet, 181, 30 – 32). Menschenleben und Heilsmöglichkeit werden hier mit der Konsequenz abgewogen, dass das Seelenheil eines Erwählten höher zu bewerten ist als die Verpflichtung zur Lebensrettung. Das Reinheitsgebot wiegt schwerer als das ethische Gebot zu helfen. Zum Glück für Bohort löst sich nach einem eher zufällig (als Folge der negativen Emotionen) ausgeführten Kreuzzeichen die teuflische Szenerie mit lautem Geschrei und Gebrüll auf (Steinhoff V, 358, 3 – 5; Pauphilet, 182, 3 – 5). Auch der Abt, der ihm das Erlebnis später religiös deutet, versichert, der Teufel habe ihn zu mißehoffnung41 und unkuscheit und damit zu einer dötlich sfflnde (Steinhoff V, 366, 10 f.; Pauphilet, 186, 9 – 10) bringen wollen, die ihn an der Aventiure des Grals hätte scheitern lassen. Doch Bohorts Bewährungsproben sind damit noch nicht beendet. Er trifft wieder auf seinen Bruder Lionel, der ihm schwersten Treuebruch vorwirft (Steinhoff V, 372, 10 f.; Pauphilet, 189, 10) und ihm Rache bis auf den Tod schwört.42 Als Lionel dann anhebt, Bohort zu erschlagen, eilt ein das Geschehen beobachtender Einsiedler herbei und wirft sich schützend über den Auserwählten. Der Einsiedler opfert sich ganz bewusst für Bohort,43 ebenso wie der Tafelrundenritter Kalogrenant, der zufällig hinzukommt und den Kampf gegen Lionel aufnimmt.44 Bohorts negative Emotionen verdeutlichen auch hier die Intensität des Entscheidungsdilemmas, vor das er sich erneut gestellt sieht: Sowohl der Tod Kalogrenants als auch der des Bruders würde ihn in unumkehrbare Verzweiflung stürzen. Er sieht keine Möglichkeit einzugreifen, ohne gegen den Bruder zu

41 Dazu Steinhoff V, 1131, Kommentar zu 366, 10. 42 Bohort versinkt in negative Emotionen: da wart er zu viel ruwig das sin bruder was zornig uber yne (Steinhoff V, 370, 35 f.; Pauphilet, 188, 33 – 189, 1). Auf den Knien und mit gefalteten Händen fleht er um Gnade, doch der Bruder bleibt unversöhnlich und rüstet sich zum Kampf. Zögerlich steigt auch Bohort auf sein Pferd, fällt dann aber erneut vor den Hufen von Lionels Pferd auf die Knie und appelliert laut weinend, jedoch vergeblich an das Mitgefühl und die Bruderliebe des rachsüchtigen Lionel. 43 ›Intruwen‹, sprach der gu˚t man, ›mir ist lieber das du mich zu dot schlagest, wann es wer nit als groß schade von mynem tode als von dem synen, und darumb wil ich lieber sterben dann er.‹ (Steinhoff V, 374, 12 – 15; Pauphilet, 190, 17 – 20). 44 ›Ach Bohort, laßent ir mich also sterben? Ist es uch lieb das ich sterben, so ist mir der dot sere lieb, wann umb keynen biederbern man mocht ich nit sterben.‹ (Steinhoff V, 378, 10 – 12; Pauphilet, 192, 16 – 18).

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kämpfen.45 Lionel tötet also Kalogrenant, doch als er ansetzt, auch Bohort zu erschlagen, da greift dieser – schryende; tout em plorant (Steinhoff V, 378, 33; Pauphilet, 193, 4) – nun doch zum Schwert. Als er zum Schlag ausholen will, hört er eine Stimme: Bohort, flfflh, nit enschlag yne, wann du tödest yne! (Steinhoff V, 380, 3 f.; Pauphilet, 193, 7 – 8). Zwischen beide fährt ein Feuerstrahl, der sie zu Boden fallen und lange Zeit ohne Besinnung bleiben lässt.46 Nach dem Erwachen zieht Lionel seines Wegs47 und die göttliche Stimme übernimmt wieder die Lenkung über Bohort, um ihn auf seinem Weg zum Gral mit den weiteren Erwählten zu leiten. Bohort opfert, so kann man festhalten, dem Ideal der Reinheit zentrale ethische Gebote.48 Seine unethischen Entscheidungen beeinträchtigen seine Reinheit jedoch nicht. Die ethische Komponente dieser Qualität ist hier zurückgenommen und das Unbeflecktsein als archaisches Erfordernis des religiösen Kultes aufgewertet. Bohort opfert den Einsiedler und den Freund Kalogrenant, um der Gefahr der Verwandtentötung zu entgehen. Die Erzählung inszeniert diese Opfer als Selbstopfer. Der Gedanke liegt jedoch nahe, dass sich hinter den Selbstopferdarstellungen eine weitere Schicht von Opferdenken befinden könnte: Bohort ist bereit (und berechtigt) das Leben Anderer zu opfern. Allein das Eingreifen Gottes hält ihn am Schluss davon ab, das Tabu des Brudermordes zu brechen. 45 Da er sahe das Galogravant mit synem bruder streyt, da wu˚st er nit was er solt thu˚n, wann erschlfflge Galogravant synen bruder vor im, so wurde er nfflmmer fro. Und erschlug syn bruder Galogravant, so wer die schand syn, wann er wu˚st wol das er nye hett begu˚nden zu striten dann umb synen willen. Und herumb so was er sere zu unfrieden und hett sie gern gescheiden, hett er gemöcht; wann im was also wee das er sich nit selber kunde beschutten, noch dem andern gehelffen (Steinhoff V, 376, 18 – 26; Pauphilet, 191, 22 – 29). 46 Williams vergleicht diese Manifestation der strafenden Kraft Gottes mit dem Sturm bzw. Brand, der die Burg der aussätzigen Königin zerstört, die zuvor durch das Selbstopfer von Parcevals Schwester geheilt worden war. Allerdings bestehe die Sünde Lionels in der Geringschätzung der verwandtschaftlichen Bindungen, also einem Mangel an starker Emotion (was allerdings nicht zu Bohorts Absage an die verwandtschaftlichen Bindungen passt, die offensichtlich gebilligt und gutgeheißen wird); in der zweiten Episode liege die Sünde dagegen in der Überschätzung von erotischen Bindungen, also einem Überschuss an starken Emotionen (vgl. Williams [Anm. 19], S. 149 f.). 47 »Lionel wird später von einem der beiden Söhne Mordrets getötet (V 1014,21 – 31)« (Steinhoff V, 1132, Kommentar zu 374, 17 – 20). 48 Pauphilet hat Bohorts Handeln in der »Suche nach dem Gral« so resümiert: »[I]l sacrifie — Dieu et — son salut, outre les plaisirs, l’amour fraternel, la piti¦, le respect de la vie et jusqu’au culte des morts: les faiblesses, mais les tendresses et la bont¦ aussi. […] il gagne le paradis — la sueur de son front« (Pauphilet [Anm. 28], S. 131 f.). – Cornelia Reil spricht bei solch ambivalenten Aventiuren von einer »silence ¦thique« des »Prosa-Lancelot«, da explizite Bewertungen fehlen; »der Sinn der Aventüre [bleibe] lange Zeit in der Schwebe […], um erst am (guten) Ende auf symbolische Weise deutlich zu werden« (Reil [Anm. 26], S. 191). Sie referiert hier die Einschätzung von Suard, FranÅois: La conception de l’aventure dans le Lancelot en prose. In: Romania 108 (1987), S. 230 – 253, insbes. S. 232, 252 f.

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Damit stellt sich die Frage, inwieweit dieses Handeln noch als Nachfolge des sich opfernden Christus aufzufassen ist – eine Interpretation, die das PelikanExempel eigentlich nahe legte. Radikal unabhängig von den Ansprüchen der Welt wird Bohort nicht durch das Aufsichnehmen von Leid, sondern durch die Abweisung von fundamentalen ethischen Werten. Die Verabsolutierung eines Reinheitsideals, das stark durch kultisches Denken geprägt ist, führt zur Aufhebung aller menschlichen Bindungen und zur Auserwählung durch Gott.

6.

Schluss

In den Tabu-Episoden der »Suche nach dem Gral« finden sich – so lässt sich abschließend resümieren – Erzählelemente, die einer kultischen, und solche, die einer ethischen Auffassung von Heiligkeit nahe stehen: Die Erwählung zur Gralsschau bleibt zwar an die Befolgung eines ethischen Wertsystems gebunden. Auffällig ist jedoch, inwieweit das Konzept absoluter Reinheit von ethischen Anforderungen gelöst wird, um es stärker an elementare Heilsriten zu binden (Askese, Beichte, Buße, Gralliturgie u. a.). Die Idee der religiösen Erwähltheit, die sich mit der der ritterlichen Exklusivität trifft, ist auf der Handlungsebene deutlich von der kultischen Komponente des Heiligen her entworfen. Die eingeschobene Erzählung von der anfänglichen Phase der Menschheit reformuliert dieses Ideal zudem in einer heilsgeschichtlichen Dimension. Das heiligende Selbstopfer ist als Weg der rettenden Erlösung dargestellt. Unübersehbar ist darüber hinaus, dass der Autor die Selbsthingabe in die Nähe eines vorethischen Religionsphänomens, der stellvertretenden Menschenopferung, gerückt hat. In welchem Grade im Selbstopfer die tabuisierte Denkform des mythischen Blutopfers mitgedacht ist, lässt sich nicht genau bestimmen. Doch in der Episode von Parcevals Schwester,49 auf die ich hier nicht näher eingehen kann, ist der Zusammenhang zwischen Selbstopfer, Reinheit und Menschenopfer wesentlich expliziter. Unter christlicher Oberfläche werden 49 Die gewonheit; costume (Steinhoff V, 464, 18; Pauphilet, 239, 9) der Burgbewohner verletzt das Tabu des Menschenopfers. In welchem erschreckenden Ausmaß dieses Tabu von den Burgbewohnern gebrochen wurde, stellt sich erst am Schluss der Episode heraus, als die vielen Särge auf dem Friedhof entdeckt werden. Durch ihr Selbstopfer hilft Parcevals Schwester der Burgherrin, die für den Mord an vielen Königstöchtern verantwortlich ist, und affirmiert somit indirekt deren ›gewohnheitsmäßig betriebenen‹ Tabubruch. Am Ende ist es Gott selbst, der die unschuldigen Jungfrauen rächt, indem er die Burg mitsamt ihren Bewohnern durch ein Unwetter zerstört (Steinhoff V, 464, 21 – 476, 14; Pauphilet, 239, 12 – 246, 6); vgl. zu dieser Episode Ridder, Klaus: Die Verfügbarkeit des ewigen Lebens: Selbstopferszenarien in mittelalterlicher Literatur. In: Unverfügbarkeit. Hg. v. Kasten, Ingrid. Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie 21.2 (2012), S. 95 – 111.

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Schwundstufen mythisch-religiöser Denkformen, die nach neutestamentlichem Verständnis als überholt gelten und daher Irritationen schaffen, zu Elementen eines hybridisierenden Erzählens. Die Spannung zwischen einem kultischen und einem ethischen Verständnis von Heiligkeit nimmt auch Einfluss auf die literarische Funktionalisierung der negativen Emotionen in der »Suche nach dem Gral«. Auf der kultischen Ebene sind negative Emotionen insbesondere Ausdruck der erschreckenden Seite des Heiligen, auf der ethischen symbolisieren sie die desperatio des Menschen angesichts unlösbarer Wertkonflikte. Die Darstellung tiefer emotionaler Betroffenheit als Folge von Tabuverletzungen affirmiert die Gefahr einer unberechtigten Annäherung an die Gottesmacht, ruft aber auch die Möglichkeit der rettenden Erlösung in Erinnerung. Das Geschehen in der arthurischen Welt gewinnt eine strukturierende Kraft, indem es durch Elemente einer Ursprungserzählung fundiert wird. Der Sündenfallexkurs erklärt, wie religiöser Tabubruch und negative Emotionen, wie Erlösungshoffnung und positive Gefühle in die Welt kommen; zugleich ist damit etwas bleibend Gültiges bezeichnet. Indem der Text Begründungen für den Zusammenhang zwischen Tabubruch und Emotionen, zwischen Fall und Erlösung liefert, wird er zur Erzählung über den von Emotionen getriebenen, scheiternden und doch hoffenden Menschen. Allerdings erzählt die »Suche nach dem Gral« keinen Erlösungsweg für alle Christen, sondern nur für wenige Auserwählte,50 zudem nicht innerhalb, sondern fern der kirchlichen Institutionen und teilweise auch jenseits des christlichen Tugendsystems. Der Autor verschränkt religiöse und literarische Ideen auf eine raffiniert-neue Weise und dirigiert sie in reflexiver Distanz nach eigenen ästhetischen Zwecken. In den drei Messritualen nehmen Gral und Transsubstantiation konkrete Gestalt an (Steinhoff V, 494, 14 ff.; Pauphilet, 255, 14 ff.), die Heiligkeit des Grals ist als Dynamik von Tabu und Tabubruch inszeniert, die Idee der Reinheit erwächst aus biblischer Vorgeschichte und ist im Erzählgeschehen in Erwählten verkörpert, das Aufkommen negativer und positiver Emotionen bezeichnet Wendepunkte der Heilsgeschichte, die bis in die erzählte Gegenwart nachwirken, und die Verweigerung der mythischen Opferlogik ist fast zu einer Überpointierung der christlichen Selbstopfervorstellung geraten. Diese Verschränkung von dogmatisch abgesichertem, von neu kompiliertem und frei erfundenem religiösen Wissen ist nicht ohne weiteres an zeitgenössi-

50 »[D]er Prosa-Lancelot [verändert] die Bedeutung der Gralsuche von der Etablierung einer neuen Zeit zu einer individuellen Heilserfahrung […]. Es sieht fast so aus, als sei die Gralsuche ein Durchgangsstadium in der Geschichte des Artusreiches, die – auf erzählerisch komplexe Weise – als geistlich-moralischer Maßstab und als Kontrastmodell dazu dient, den Untergang plausibel zu machen« (Reil [Anm. 26], S. 240).

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sche religiöse Konzepte anzuschließen.51 Bei der »Suche nach dem Gral« handelt es sich um eine Erzählkonstruktion mit literarischen und religiösen Versatzstücken, die literarisch fundiert ist, ihre Fiktivität aber nicht ausstellt und religiös-lebenspraktische Bedeutsamkeit einfordert. Diese Zuspitzungen verdeutlichen, dass es sich bei der »Suche nach dem Gral« um ein »narratives Experiment«52 handelt.53

51 Zur möglichen Beeinflussung des Autors der »Suche nach dem Gral« durch zisterziensisches Gedankengut liegen divergierende Forschungspositionen vor. Vgl. zu diesem Problemfeld Pauphilet [Anm. 28]; Matarasso, Pauline: The Redemption of Chivalry. A Study of the »Queste del Saint Graal« Genf 1979 (Histoire des id¦es et critique litt¦raire 180), insbes. S. 207 f.; Speckenbach, Klaus: Endzeiterwartung im ›Lancelot-Gral-Zyklus‹. Zur Problematik des Joachitischen Einflusses auf den Prosaroman. In: Geistliche Denkformen in der Literatur des Mittelalters. Hg. v. Grubmüller, Klaus. München 1984 (Münstersche Mittelalter-Schriften 51), S. 210 – 225; Bogdanow, Fanni: An Interpretation of the Meaning and Purpose of the Vulgate Queste del Saint Graal in the Light of the Mystical Theology of St Bernard. In: The Changing Face of Arthurian Romance. Essays on Arthurian Prose Romances in memory of Cedric E. Pickford. Hg. v. Adams, Alison u. Pickford, Cedric Edward. Cambridge 1986 (Arthurian studies 16), S. 23 – 46; Heim, Manfred: Zisterziensische Krezzugs-Ideologie in der ›Gral-Queste‹ des ›Prosa-Lancelot‹. In: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktiner-Ordens und seiner Zweige 99. Hg. v. der Bayerischen Benediktinerakademie. München 1988, S. 133 – 182; Heim, Manfred: … umb die heiligen kirchen zu beschutten. Aspekte zum Programm in der ›Gral-Queste‹ des ›Prosa-Lancelot‹. In: Aspekte der Germanistik. Festschrift für Hans-Friedrich Rosenfeld zum 90. Geburtstag. Hg. v. Tauber, Walter. Göppingen 1989, S. 207 – 217. – Von einer primär religiös-didaktischen Intention des Werkes geht Ollivier Errecade aus: Die literarische Inszenierung ziele darauf, den Leser/Hörer über die theologischen Grundlagen der christlichen Rituale (Messfeier, Beichte, Buße, Kreuzzeichen, Gebet) zu unterrichten (vgl. Errecade, Ollivier : Pi¦t¦ rituelle et pi¦t¦ personnelle dans la Queste del Saint Graal. In: Les chemins de la Queste. Hg. v. Hüe, Denis u. Menegaldo, SilvÀre. Orl¦ans 2004 (Medievalia 52), S. 281 – 296). 52 Haug, Walter : Das erotische und das religiöse Konzept des ›Prosa-Lancelot‹. In: Lancelot: der mittelhochdeutsche Roman im europäischen Kontext. Hg. v. Ridder, Klaus u. Huber, Christoph. Tübingen 2007, S. 249 – 263, hier S. 263. 53 Eine vorausgehende Fassung des Aufsatzes in französischer Sprache findet sich in: Les Interdits. Actes du Colloque international des 1er, 2 et 3 Mars 2012 — Amiens. Hg. v. Buschinger, Danielle, Amiens 2012 (Medievales 54), S. 192 – 200. – Sarah Steffan und Ulrich Barton danke ich für kritische Kommentare und weiterführende Hinweise.

Rache erzählen

Fabian Bernhardt

Was ist Rache? Versuch einer systematischen Bestimmung

I.

Achilles und Marianne

Beginnen möchte ich mit zwei Geschichten. Die erste ist weithin bekannt. Sie handelt von Achilles, dem vielleicht größten Zornigen der abendländischen Heldengeschichte. Erzählt bzw. besungen wird sie in der homerischen »Ilias«, die als das erste Epos unserer Überlieferung gilt. Und am Anfang der »Ilias« steht ganz buchstäblich der Zorn1 (gr. l/mir): Den Zorn singe, Göttin, des Peleus-Sohns Achilleus…2 Was hat den Zorn des Achilles erregt? Genau genommen, sind es zwei Kränkungen. Die erste geschieht Achilles durch Agamemnon, den Anführer des achaiischen Heeres. Er nimmt Achilles die Sklavin Brises weg, die ihm zuvor als Ehrengeschenk rechtmäßig zugeteilt worden war : ein symbolischer Akt der Herabsetzung, der einzig darauf abzielt, öffentlich zu demonstrieren, wer im Rang höher steht. Was Achilles schließlich auf das Schlachtfeld treibt, ist jedoch nicht die Kränkung, die Agamemnon ihm zugefügt hat, sondern, wie der Althistoriker Hans-Joachim Gehrke schreibt, »ein anderer Zorn, ein größerer, gepaart mit Rachedurst, ein unversöhnlicher«3 – er entzündet sich in jenem Augenblick, in dem Achilles vom Tod seines geliebten Freundes Patroklos erfährt. Untröstlich über den Verlust des Freundes, der von dem Troerprinzen Hektor im Kampf getötet wurde, gerät Achilles in einen Furor, der ebenso unerbittlich wie maßlos ist. Zahllose troische Krieger fallen seinem Zorn zum Opfer, schließlich Hektor selbst, dessen Leichnam Achilles auf grausame Weise schändet, unversöhnlich, noch über den Tod hinaus. Die zweite Geschichte handelt von einer Frau, Marianne Bachmeier. Sie steht im Mittelpunkt eines der aufsehenerregendsten Kriminalfälle der Bundesrepu1 Vgl. dazu auch Sloterdijk, Peter : Zorn und Zeit. Politisch-psychologischer Versuch. Frankfurt am Main 2006, S. 9 – 22 (Abs. »Europas erstes Wort«). 2 Homer : Ilias. Neue Übertragung von Schadewaldt, Wolfgang. Frankfurt am Main 1975, I. Gesang, V. 1. 3 Gehrke, Hans-Joachim: Die Griechen und die Rache. Ein Versuch in historischer Psychologie, S. 139. In: Saeculum 38 (1987), S. 121 – 149.

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blik.4 Marianne Bachmeiers Tochter Anna ist sieben Jahre alt, als sie tot aufgefunden wird, erdrosselt und nachlässig in einer Erdmulde verscharrt. Als mutmaßlicher Täter wird Klaus Grabowski verhaftet, der mehrfach wegen Sexualdelikten an Kindern vorbestraft ist. Am 6. März 1981 erscheint Bachmeier im Lübecker Schwurgericht und schießt auf Grabowski, insgesamt acht Mal. Sechs Schüsse treffen. Der Angeklagte – er hatte im Laufe der Vernehmungen gestanden, das Kind mit einer Strumpfhose erdrosselt zu haben – stirbt noch im Gerichtssaal. Eine unkontrollierte Affekthandlung oder vorsätzlicher Mord? Diese Frage steht im Zentrum des darauf folgenden Prozesses gegen Bachmeier, der von einem gewaltigen Medienrummel begleitet wird. Das Gericht folgt weitgehend der Argumentation der Verteidigung und verurteilt Marianne Bachmeier am 2. März 1983 wegen Totschlags und unerlaubten Waffenbesitzes zu sechs Jahren Haft. Aus juristischer Sicht eine Fehleinschätzung, wie wir heute wissen. So erzählt eine Freundin Jahre später, dass Marianne vor ihrer Tat im Keller Schießübungen gemacht habe. Und Marianne Bachmeier selbst erklärt 1995 live in einer Talkshow, dass es ihr darum gegangen sei, Grabowski daran zu hindern, vor Gericht weiter Unwahrheiten über Anna zu verbreiten und deren Ansehen öffentlich in den Schmutz zu ziehen. Achilles und Marianne – hier das antike Griechenland und der mythenumwobene Krieg um Troja, dort die zivile Bundesrepublik der frühen 1980er Jahre; auf der einen Seite das agonale, um den Begriff der Ehre zentrierte Ethos der alten Griechen, denen Tapferkeit als wichtige Tugend galt und der Verzicht auf Rache mitunter als Signum der Schande, auf der anderen Seite die auf maximale Gewaltreduzierung abgestellte Moral der spätbürgerlichen Moderne, die sich (unter anderem) in einer ausgeklügelten Affektkontrolle und dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit manifestiert. Die historische und kulturelle Kluft zwischen beiden Kontexten könnte kaum größer sein. Hinzu kommt, dass wir es bei der »Ilias« mit einem Werk der Dichtkunst zu tun haben, im ›Fall Marianne Bachmeier‹ hingegen mit Ereignissen, die tatsächlich passiert sind. Welchen Grund kann es also geben, diese beiden Erzählungen so unvermittelt nebeneinander zu stellen? Den folgenden: Trotz der extremen Distanz, die die homerische Welt von der heutigen Wirklichkeit trennt, zögert man keinen Augenblick, im einen wie im anderen Fall vorbehaltlos von Rache zu sprechen. Ohne jede Schwierigkeit nehmen wir zwischen der Geschichte des Achilles und der Geschichte von Marianne Bachmeier eine grundlegende Ähnlichkeit oder Verwandtschaft wahr,

4 Im Internet finden sich zahlreiche Berichte über Marianne Bachmeier. Die nachfolgenden Angaben beziehen sich auf folgende Quellen: Altenmüller, Irene: Marianne Bachmeiers Rache (online verfügbar unter http://www.ndr.de/geschichte/chronologie/achtzigerjahre/ mariannebachmeier101_page-2.html, zuletzt aktualisiert am 06. 03. 2011) sowie die WDRDokumentation »Die Rache der Marianne Bachmeier« (2006, Regie: Gramberg, Michael).

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eine semantische Nähe, die es uns ermöglicht, beide Erzählungen unmittelbar als Rachegeschichten zu identifizieren. Diese Nähe ist umso erstaunlicher, wenn man sich vergegenwärtigt, wie unterschiedlich der Stellenwert der Rache ist, der ihr innerhalb der sozialen und politischen Rahmenbedingungen jeweils zugeschrieben wird. Das griechische Denken und Empfinden war von einem spezifischen »Ethos der Rache« geprägt.5 Das heißt freilich nicht, dass den Griechen, zumal denen des klassischen Zeitalters, der Rechtsgedanke völlig fremd gewesen wäre; im Gegenteil.6 Anders als in der bürgerlichen Moderne, wurde das Verhältnis zwischen Recht und Rache in der griechischen Vorstellungswelt jedoch nicht zwingend als Opposition gedacht. Dies zeigt sich unter anderem darin, dass im Wortschatz des Altgriechischen zwischen (privater) ›Rache‹ und (gesetzlicher) ›Strafe‹ nicht terminologisch unterschieden wurde.7 Im Denken der Moderne hingegen schließen sich die Begriffe Rache und Recht wechselseitig weitgehend aus. Die Leidenschaften der Individuen stehen gegen das Recht der Gemeinschaft.8 Unter dem Zeichen des modernen Rechtsstaates wird Rache eindeutig mit einem negativen Index versehen; sie ist dasjenige, was nicht sein soll, da sie das staatliche Monopol der Gewaltausübung und Bestrafung in Frage stellt und zu unterwandern droht.9 Die Verschiedenartigkeit der gesellschaftlichen Kontexte ermahnt dazu, nicht vorschnell Äquivalenzen zu sehen. Zudem zeigt sie, wie wichtig es ist, die Phänomenologie der Rache von der Frage ihrer normativen Bewertung zu trennen. Ob Rachenehmen als recht oder als unrecht, als tugendhaft oder als moralisch verwerflich angesehen wird, ist historisch und kulturell variabel. Diese Unterschiede verflüchtigen sich jedoch, wenn es um die Frage geht, was Rache in ihrem Kern ausmacht. Ebendies zeigt die Leichtigkeit, mit der wir in der Lage sind, zwischen den Taten und Leiden von Achilles und Marianne Bachmeier eine generische Verwandtschaft zu erkennen, ihre Geschichten als Geschichten desselben Typs zu identifizieren. Aufgrund welcher Merkmale? Anhand welcher Strukturen? Was verleiht dem Begriff der Rache – einem Begriff, der offenkundig in der Lage ist, Phänomene aus ganz unterschiedlichen 5 Gehrke [Anm. 3], S. 143. 6 »Ja das Ringen um Gerechtigkeit, um eine Regelung der sozialen Beziehungen auf der Basis von Recht und Gesetz, ist geradezu ein Signum griechischer Geistigkeit«, schreibt Gehrke [Anm. 3], S. 140. 7 Vgl. Burkert, Walter : ›Vergeltung‹ zwischen Ethologie und Ethik. Reflexe und Reflexionen in Texten und Mythologien des Altertums. München 1994 (Privatdruck-Reihe ›Themen‹ der Carl Friedrich von Siemens Stiftung 55), S. 15 – 18. 8 Vgl. Hénaff, Marcel: Der Preis der Wahrheit. Gabe, Geld und Philosophie. Übers. v. Moldenhauer, Eva. Frankfurt am Main 2009, S. 331; sowie insgesamt zu dieser Thematik S. 330 – 348 (Abs. »Rächende Gerechtigkeit und schiedsrichterliche Gerechtigkeit«). 9 Vgl. dazu Menke, Christoph: Recht und Gewalt. Berlin 2011, insbes. S. 15 – 40.

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Kulturkreisen in sich zu versammeln – seine semantische Kohärenz? Was also ist Rache? Man sieht nun, weshalb die titelgebende Frage dieses Aufsatzes in dieser einfachen Form gehalten ist. Was ist Rache? Nach einer Antwort auf diese Frage suchen heißt, nach den Konturen eines Begriffes fragen, der die bemerkenswerte Eigenschaft besitzt, zugleich semantisch überdeterminiert und systematisch unterbestimmt zu sein. Semantisch überdeterminiert, insofern ›Rache‹ zu jenen affektiv hochgradig aufgeladenen Begriffen zählt, bei denen oftmals der bloße Klang genügt, um eine Vielzahl von Vorstellungen, Bildern und Empfindungen wachzurufen; Assoziationen, die meist von starken normativen Wertungen und Emotionen begleitet sind. Fast jedem, der das Wort Rache hört, fällt dazu etwas ein. Und fast immer hat dieser Einfall die Form einer Geschichte, was, wie sich bald zeigen wird, keineswegs zufällig ist. Systematisch unterbestimmt, insofern bislang erstaunlich wenig philosophische und allgemein theoretische Aufmerksamkeit darauf verwendet wurde, Rache begrifflich zu klären und unser Verständnis der mit diesem Ausdruck assoziierten Phänomene zu vertiefen und zu erhellen.10 Zwar lassen sich in der Geschichte der Philosophie durchaus Autoren namhaft machen, die sich zur Rache geäußert haben11, doch bleibt es in der Regel bei marginalen Bemerkungen. Sofern Rache überhaupt philosophisch thematisiert wurde, geschah dies zudem meist in theoretischen Zusammenhängen, die auf normativen Voraussetzungen gründen, welche einen unvoreingenommenen Blick auf die Rache von vornherein erschweren, wie etwa in der Rechts-, Staats- oder Moralphilosophie. Wenn es darum geht, Rache so zu begreifen, wie sie sich in ihren konkreten Erscheinungsformen zeigt, kann man also nur auf wenige Vorarbeiten zurückgreifen. Diese Bemerkungen erlauben es, das Programm der nachfolgenden Untersuchung genauer zu umreißen. Das übergeordnete Ziel meiner Überlegungen besteht darin, die allgemeinen Strukturen zu explizieren, die dem Rachebegriff seine semantische Kohärenz verleihen. Dabei besteht die größte Schwierigkeit 10 Eine bemerkenswerte Ausnahme stellt das vierbändige, von dem französischen Ethnologen Raymond Verdier und seinen Mitarbeitern herausgegebene Dossier »La vengeance. Êtudes d’ethnologie, d’histoire et de philosophie« (Paris 1980 – 1984) dar, das multidisziplinäre Studien zur Rache versammelt. – Zu dem Thema empfehlenswert sind zudem der überwiegend sozial- und rechtswissenschaftlich ausgerichtete Sammelband »Vergeltung. Eine interdisziplinäre Betrachtung der Rechtfertigung und Regulation von Gewalt« (hg. v. Schlee, Günther u. Turner, Bertram. Frankfurt am Main 2008), sowie das von der amerikanischen Journalistin Susan Jacoby verfasste Buch »Wild justice. The Evolution of Revenge« (New York 1983). 11 Vgl. hierzu als Überblick Probst, Peter u. Sprenger, Gerhard: Art. ›Rache‹. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. v. Ritter, Joachim u. Gründer, Karlfried. 12 Bde. Basel 1971 – 2004. Bd. 8 (1992), Sp. 1 – 6.

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darin, analytische Kategorien ausfindig zu machen, die der doppelten Anforderung genügen, einerseits hinreichend allgemein zu sein, um der Universalität des Rachephänomens Rechnung zu tragen, und andererseits hinreichend flexibel, um sich den jeweiligen historischen und kulturellen Besonderheiten sensibel anpassen zu können. Die Frage lautet also, welche Begriffe in der Lage sind, den Abstand zwischen den beiden eingangs genannten Fällen – Achilles und Marianne – zu überbrücken und gleichzeitig ihrer Spezifik gerecht zu werden. Es liegt auf der Hand, dass hierfür nur solche Begriffe in Frage kommen, die möglichst keine normativen Vorannahmen in die Untersuchung einfließen lassen. Methodisch geht damit die Forderung einher, die habituellen Wertungen und Urteile, mit denen man der Rache sonst begegnet, für die Dauer der Untersuchung einzuklammern. Um es ganz deutlich zu sagen: die Frage, ob und unter welchen Umständen Rache als moralisch gerechtfertigt angesehen werden kann, ist nicht Gegenstand dieser Arbeit. Nicht, weil dieser Frage keine Relevanz zukäme, sondern, weil sie – wie jede normative Frage – eine genaue Untersuchung und Kenntnis desjenigen Gegenstands voraussetzt, über den es begründet ein Urteil zu fällen gilt.

II.

Die Polarität von Handeln und Erleiden

Was also ist Rache? Wie lässt sich der zentrale Gehalt dieses Begriffes bestimmen? Schlägt man in wissenschaftlichen Wörterbüchern und Lexika nach, so finden sich dort in der Regel Bestimmungen, die darauf hinauslaufen, Rache entweder als Akt oder als Motiv zu definieren. Diese Bestimmungen scheinen jedoch zu kurz gegriffen. Zum einen ist auffällig, dass im deutschen Wort Rache – und ebenso in den entsprechenden Wörtern vieler anderer Sprachen – die Unterscheidung zwischen Akt und Motiv in der Schwebe gehalten ist. ›Rache‹ kann prinzipiell beides meinen: das Verlangen, Rache zu üben, aber ebenso auch den Akt, der dieses Verlangen realisiert; welche Bedeutung dominiert, erschließt sich jeweils erst anhand des Kontextes. Zum anderen scheint eine wesentliche Eigenschaft des Ausdrucks Rache gerade darin zu liegen, dass er in seinem faktischen Gebrauch bereits wie die Überschrift zu einer Erzählung fungiert. Wie eingangs bemerkt, verbindet sich Rache in unserer Vorstellung oftmals mit Geschichten. Unzählige Namen stehen dafür ein: Achilles und Marianne Bachmeier, aber ebenso auch Kriemhild und Michael Kohlhaas, Orest und Elektra, der Graf von Monte Christo, Medea, Kapitän Ahab… die Aufzählung ließe sich beliebig fortsetzen. Die Beobachtung, dass Rache in Form von Erzählungen auftritt, betrifft nicht bloß ein pittoreskes Detail von allenfalls literaturwissenschaftlichem Interesse, sondern verweist auf einen Zusammenhang, der in die

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Konstitution des Rachebegriffs selbst hineinspielt.12 Weit davon entfernt, lediglich eine isolierte Handlung zu bezeichnen oder ein bestimmtes Handlungsmotiv, impliziert die Verwendung des Ausdrucks Rache vielmehr ein bestimmtes Schema oder Verknüpfungsprinzip, das es ermöglicht, eine Vielzahl von Ereignissen, von Handlungen, von Umständen und Absichten, gewollten und ungewollten Konsequenzen in eine sinnhafte Ordnung zu rücken und ihnen eine semantische Einheit zu verleihen. Erinnern wir uns an die Schüsse, die Marianne Bachmeier abgefeuert hat: ihren vollen Sinn und ihre Bedeutung als Racheakt erhalten diese Schüsse erst, wenn man sie in Beziehung setzt zu den Handlungen und Ereignissen, die ihnen vorausgegangen sind: namentlich der Ermordung von Marianne Bachmeiers Tochter, den besonderen Umständen dieser Tat, den Absichten, die dazu geführt haben, usw. Ebenso verhält es sich mit Achilles: das Ungestüme seiner Taten, die Unerbittlichkeit, mit der er sich noch an Hektors Leichnam vergeht, erhalten ihre Bedeutung erst vor dem Hintergrund derjenigen Ereignisse, die seinen eigenen Handlungen vorausliegen. Was Rache heißt, würden wir also gar nicht verstehen, wenn wir mit diesem Ausdruck nicht zugleich eine bestimmte »Konfiguration« (im Sinne Paul Ricœurs)13, ein bestimmtes Geflecht von Ereignissen, Handlungen, Motiven etc. assoziieren würden. Ebendiese Verknüpfung vollzieht sich im Modus der Narration. Einer der Gründe dafür, dass im kulturellen Imaginären so viele Geschichten über Rache kursieren, besteht darin, dass die Verwendung des Begriffs Rache in sich bereits eine bestimmte Erzählung impliziert. In anderen Worten: Die Erzählbarkeit der Rache rührt daher, dass das Wort selbst bereits als eine Art Narrativ fungiert. Diese Funktion ist unabhängig davon, ob es sich dabei um eine historische Erzählung handelt (wie im Fall Marianne Bachmeier) oder um eine fiktionale Erzählung (wie im Fall von Achilles). Die ontologische Differenz – ob eine Geschichte von Ereignissen handelt, die tatsächlich geschehen sind oder

12 In der Forschung wird zwar regelmäßig darauf hingewiesen, dass Rache in literarischen Erzählungen – und allgemein in künstlerischen Darstellungen – einen breiten Niederschlag findet, diesem Hinweis wird jedoch nirgends systematisch Rechnung getragen. Exemplarisch dafür folgendes Zitat von Bertram Turner und Günther Schlee: »Es versteht sich von selbst, dass ein solches Thema [Vergeltung] mit dem entsprechenden dramatischen Potenzial in ausgiebigster Art und Weise in den Künsten gewürdigt wurde, in bildlicher Darstellung, Musik und Literatur. Hier kann nicht genauer darauf eingegangen werden, auch wenn sich aus der künstlerischen Verarbeitung des Themas einige Rückschlüsse auf Vorstellungswelten und soziale Praktiken gewinnen lassen.« (Dies.: Einleitung: Wirkungskontexte des Vergeltungsprinzips in der Konfliktregulierung, S. 16. In: [Anm. 10], S. 7 – 47) – Ich würde hinzufügen: eben nicht nur auf Vorstellungswelten und soziale Praktiken, sondern auch auf den Begriff selbst. 13 Vgl. Ricœur, Paul: Zeit und Erzählung, Bd. I. Übers. v. Rochlitz, Rainer. München 22007 (Übergänge, Bd. 18/I), insbes. S. 87 – 135.

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nicht – hat auf das Grundmuster der Erzählung, die spezifische Weise ihrer Verknüpfung, keinen Einfluss.14 Aus diesen Überlegungen folgt zweierlei: Zum einen eine gewisse Skepsis und Zurückhaltung gegenüber begrifflichen Festlegungen, die der Rache ausschließlich den Status einer Handlung oder eines Motivs zuschreiben, da diese leicht Gefahr laufen, den Blick auf die Rache vorschnell zu verengen. Stattdessen möchte ich eine Konzeption vorschlagen, die Rache als eine spezifische Konfiguration von Ereignissen, das heißt als eine relationale Gesamtheit, zu begreifen sucht. Daraus ergibt sich der zweite Punkt: die Frage nämlich, mittels welcher Begriffe diese relationale Struktur genauer beschrieben und inhaltlich bestimmt werden kann. Meine diesbezüglichen Überlegungen nehmen ihren Ausgang von der These, dass Rache als eine Relation aufzufassen ist, die auf der Polarität von Handeln und Erleiden gründet. Die Semantik der Rache ist eine Semantik des Handelns und Erleidens. Diese These gilt es im Folgenden zu begründen und genauer zu explizieren. Halten wir dafür zunächst zwei Merkmale fest, die der Rache notwendig zukommen; das heißt unabhängig davon, in welchen Vorstellungen und Praktiken sie sich in einer bestimmten Kultur oder Epoche konkretisiert. Das erste Merkmal betrifft die zeitliche Struktur der Rache. Rache ist notwendig auf Vergangenes bezogen. In der Ordnung der Ereignisse, die sich zu einer Rachegeschichte zusammenschließen, steht der Racheakt selbst nie am Anfang. Er ist immer eine »zweite Tat«15, eine Replik oder Antwort, die mit einem gewissen zeitlichen Abstand auf eine erste Tat folgt. Von diesem ersten Akt her bestimmt sich die Rache und auf ihn bleibt sie notwendig bezogen. Dieser Bezug – dessen regulative Idee sich in der Formel ausdrückt, Gleiches mit Gleichem zu vergelten – ist immer auch eine Verbindung, die über die Zeit reicht. Der zeitliche Abstand zwischen der ersten Tat und der zweiten stellt ein wesentliches Kriterium dar, um letztere als Rachehandlung zu qualifizieren. Vor Gericht etwa entscheidet sich 14 Dies zeigt sich im Übrigen auch daran, dass wir keine Schwierigkeiten haben, die Wörter ›Fall‹ und ›Geschichte‹ in diesem Zusammenhang synonym zu gebrauchen. Um den ›Fall Marianne Bachmeier‹ (oder jeden anderen Fall von Rache) zu verstehen, kommt man nicht umhin, eine Geschichte zu erzählen. Dem, was alltagssprachlich oder vor Gericht ein ›Fall‹ genannt wird, liegt tatsächlich immer eine Erzählung zugrunde. – Diese Einsicht bildet den Grundgedanken, von dem aus Wilhelm Schapp, der zugleich Philosoph und Jurist war, seine ›Philosophie der Geschichten‹ entwickelt hat. In seiner Tätigkeit als Rechtsanwalt »ging ihm auf, daß die Gegebenheits- und Präsentationsweise rechtserheblicher ›Fälle‹ stets Geschichten sind, passierte und dann erzählte Geschichten, und daß überdies, in Anklage und Verteidigung oder zum bloßen Zwecke ihrer Identifizierung, auch Personen über Geschichten vorgestellt werden« (S. VII), schreibt Hermann Lübbe im »Vorwort« zu Schapps Hauptwerk »In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding« (Frankfurt am Main 4 2004), S. V – VII. 15 Menke [Anm. 9], S. 16.

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unter anderem daran, ob eine bestimmte Handlung als legitimer Akt der ›Notwehr‹ oder als illegitimer Akt der ›Selbstjustiz‹ angesehen wird. Folgende Implikation erscheint in diesem Zusammenhang bemerkenswert: Wenn Rache notwendig auf Vergangenes bezogen ist, dann hängt sie auch notwendig davon ab, dass dieses Vergangene beständig in Erinnerung gehalten wird. Zur Rache fähig ist nur, wer über ein aktives Gedächtnis verfügt. So gesehen, stellt das Vergessen gleichsam die größte Bedrohung für jedes Rachevorhaben dar.16 Davon zeugt indirekt die politische Institution der Amnestie: ein von höherer Stelle verordnetes Vergessen, das noch bis ins 20. Jahrhundert hinein als probates Mittel angesehen wurde, um nach gewaltförmigen Konflikten (insbesondere Bürgerkriegen) dem Wiederaufkeimen alter Rachebedürfnisse entgegenzuwirken.17 Kommen wir nun zum zweiten Merkmal, das der Rache notwendig zukommt. Rache ist durch Unversöhnlichkeit gekennzeichnet. Von anderen Formen der Vergeltung unterscheidet sie sich darin, dass sie keine positive Kompensation duldet (etwa in Form materieller Ausgleichsleistungen), sondern explizit darauf abzielt, jemandem – das kann eine bestimmte Person sein oder auch eine bestimmte Gruppe – einen Schaden oder Schmerz zuzufügen.18 In anderen Wor16 Friedrich Nietzsche, der große Theoretiker des Ressentiments, erkennt in diesem Zusammenhang sogar eine der Quellen des menschlichen Gedächtnisvermögens überhaupt. Nietzsche zufolge bildet sich das Gedächtnis als aktives »Gegenvermögen« heraus, »mit Hülfe dessen für gewisse Fälle die Vergesslichkeit ausgehängt wird, […] so dass zwischen das ursprüngliche »ich will« »ich werde thun« und die eigentliche Entladung des Willens, seinen A k t , unbedenklich eine Welt von neuen fremden Dingen, Umständen, selbst Willensakten dazwischengelegt werden darf, ohne dass diese lange Kette des Willens springt.« Letztere Beschreibung gibt ein zutreffendes Bild von der volitiven Struktur der Rache. Diese setzt ihrerseits voraus, dass das Vergangene dem Gedächtnis hinreichend tief eingeprägt worden ist: »«Man brennt etwas ein, damit es im Gedächtniss bleibt: nur was nicht aufhört, w e h z u t h u n , bleibt im Gedächtnis« – das ist ein Hauptsatz aus der allerältesten […] Psychologie auf Erden.« Ders: Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift. Stuttgart 2000, S. 47 u. 50. 17 Der Althistoriker Christian Meier entwirft in seiner Schrift »Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns. Vom öffentlichen Umgang mit schlimmer Vergangenheit« (München 22010) die Grundlinien für eine Geschichte der Amnestie; vgl. zur Amnestie ferner (aus literaturwissenschaftlicher Sicht) Weinrich, Harald: Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens. München 1997, insbes. S. 216 – 244, sowie (aus philosophischer Sicht) Ricœur, Paul: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen. Übers. v. Gondek, Hans-Dieter u. a. München 2004 (Übergänge, Bd. 50), S. 690 – 696. 18 Jeder Racheakt stellt auch einen Akt der Vergeltung dar, aber umgekehrt lässt sich nicht jeder Vergeltungsakt auch als Racheakt bezeichnen. Der Begriff der Vergeltung ist umfassender. – Im »Deutschen Wörterbuch« von Jacob und Wilhelm Grimm (hg. v. der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin in Zusammenarbeit mit der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. 16 Bde. in 32 Teilbänden. Leipzig 1854 – 1961. Bd. 12, I. Abteilung [1956], Sp. 407 – 411) wird die Grundbedeutung von ›vergelten‹ mit ›zurückerstatten, zurückzahlen‹ angegeben (Sp. 408); je nachdem, ob es sich bei dem Empfangenen um etwas Gutes oder etwas Schlechtes handelt, kann ›vergelten‹ die Bedeutung von ›strafen‹ oder ›rächen‹ (»als ersatz für übelthaten« [Sp. 410]) oder die – im heutigen Sprachgebrauch

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ten: Das Streben nach Rache impliziert unweigerlich den Willen, weh zu tun. In diesem Sinn kann Rache als ›negativ‹ bezeichnet werden (sofern man mit dieser Bezeichnung keine normative Wertung konnotiert). Sie ist negativ, insofern sie ein vergangenes Vergehen – eine ›gestörte Bilanz‹ oder ›offene Rechnung‹ – dadurch auszugleichen sucht, dass sie dem Minus auf der einen Seite ein Minus auf der anderen entgegensetzt. Folgende Bemerkung schließt sich hieran an: Die Absicht, weh zu tun, schließt nicht aus, dass zu dem Rachestreben noch andere Motive hinzutreten. Gerade in gewaltförmigen politischen Konflikten geschieht es häufig, dass sich Rache mit anderen Motiven mischt oder, im Extremfall, sogar lediglich als Vorwand dient, um anders gelagerte Absichten – Hans-Joachim Gehrke spricht von der »Verbrämung realer Machtabsichten«19 – rhetorisch zu verschleiern. Als rhetorische Legitimationsfigur herhalten kann Rache jedoch gerade nur deshalb, weil sie Menschen dazu treibt, anderen Menschen Schlimmes anzutun. Ebenso wie der Verweis auf Rache dazu dienen kann, gewaltförmige Handlungen zu legitimieren, wird er auch umgekehrt dazu verwendet, um bestimmten Handlungen ihre Legitimität abzusprechen. Die politische Rhetorik macht sich hier eine Ambivalenz zunutze, die daraus resultiert, dass der moralische Status der Rache und ihr Verhältnis zu Recht und Unrecht nicht nur zwischen verschiedenen Gesellschaften, sondern häufig auch innerhalb ein- und derselben Gesellschaft auf unterschiedliche Weise aufgefasst werden kann.20 Der Hinweis, dass die Bezeichnung bestimmter Gewalttaten als ›Racheakte‹ in vielen Diskursen mit Strategien der Legitimierung bzw. Delegitimierung zusammenhängt, ist deshalb wichtig, weil er das Problem und die Frage aufwirft, anhand welcher Kriterien zwischen denjenigen Fällen unterschieden werden kann, in denen Rache tatsächlich das bestimmende Motiv für eine Handlung darstellt, und weitgehend verschüttete – Bedeutung von ›belohnen‹ (»als ersatz für wolthaten« [Sp. 409]) annehmen. 19 Gehrke [Anm. 3], S. 123. 20 Ein gutes Beispiel dafür sind die Diskussionen, die im Mai 2011 nach der Tötung des Terroristenführers Osama bin Laden durch US-amerikanische Spezialkräfte geführt wurden. Sie entzündeten sich insbesondere an der Formulierung Barack Obamas, dass mit dieser Aktion »der Gerechtigkeit genüge getan« worden sei, wobei sich der US-Präsident mit diesen Worten explizit an die Familien der Opfer von 9/11 richtete (»on nights like this one, we can say to those families who have lost loved ones to Al Qaeda’s terror, justice has been done«). Während die Legitimität der Tötung bin Ladens für viele völlig außer Zweifel stand (die Bilder der Menschen, die nach Obamas Ansprache den Tod des Terroristenführers ausgelassen auf den Straßen feierten, sind eine eindrückliche Erinnerung), ist sie von anderen scharf kritisiert worden. Dabei nahmen beide Lager für ihre Position jeweils als zentrales Argument in Anspruch, dass es sich bei dieser Tat um einen Akt der Rache handele. Vgl. dazu Hénaff, Marcel: Terror und Rache. Politische Gewalt, Gegenseitigkeit, Gerechtigkeit – zehn Jahre danach. Übers. v. Sedlaczek, Markus. In: Lettre International 94 (Herbst 2011), S. 11 – 23.

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denjenigen Fällen, in denen dies aus strategischen Gründen bloß behauptet wird. Einfacher gesagt: Nicht überall dort, wo von ›Rache‹ gesprochen wird, liegt tatsächlich auch Rache vor – wie also unterscheiden? Meine Konzeption trägt diesem Problem dadurch Rechnung, dass sie sich konsequent von der Einsicht leiten lässt, dass es bei Rache nicht allein darum geht, was Menschen tun, sondern vor allem darum, was Menschen einander antun. Daher die zentrale These, dass Rache als eine Relation aufzufassen ist, die auf der Polarität von Handeln und Erleiden gründet. Die beiden Merkmale der Rache – dass sie zum einen, in den Worten Christoph Menkes, »nicht eine erste, grundlose, sondern die zweite Tat [ist]«21, und dass sie zum anderen ausdrücklich darauf abzielt, jemandem ein Leid zuzufügen – erlauben es, dieser These nun einen präziseren Sinn zu verleihen. Das Verlangen nach Rache entspringt dort, wo sich Handeln und Erleiden überkreuzen, das heißt dort, wo eine Handlung von jemandem erlitten wird. Dieser Schnittpunkt wird durch den Begriff der Verletzung markiert. Dem Handlungsvermögen auf der Seite des Handelnden entspricht auf der Seite des Erleidenden die Verletzlichkeit; beide Begriffe sind als strikte Korrelate zu behandeln. Mit diesen Bestimmungen ist zugleich ein Kriterium gegeben, das es ermöglicht, zwischen tatsächlichen und vermeintlichen Fällen von Rache eine klare Scheidelinie zu etablieren: Tatsächlich durch Rache motiviert ist eine Handlung nur dann, wenn sie sich auf eine vergangene Verletzung bezieht, das heißt, wenn sie auf eine frühere Handlung antwortet, die das rächende Subjekt direkt oder indirekt22 erlitten hat, durch die es negativ affiziert und in Mitleidenschaft gezogen wurde. Die Bezugnahme auf eine vergangene Verletzung ist notwendig im Begriff der Rache impliziert. Die Aussage »ich räche mich« wäre in der Tat sinnlos, wenn der Sprecher nicht in der Lage wäre anzugeben, an wem und wofür er sich rächt – wobei die Antwort auf die Frage »An wem?« den Urheber der erlittenen Handlung bezeichnet und die Antwort auf die Frage »Wofür?« die erlittene Handlung selbst. Der Nexus dieser beiden Fragen ermöglicht es, ein Vermögen zu identifizieren, das zu den bereits genannten (Handlungsvermögen, Verletzlichkeit 21 Menke [Anm. 9], S. 16. 22 Die Unterscheidung zwischen direkten und indirekten Verletzungen ist keine graduelle, sondern eine des Angriffspunktes. Indem Klaus Grabowski der siebenjährigen Anna das Leben nahm, hat er Marianne Bachmeier an einem Punkt getroffen, an dem sie vermutlich verletzlicher war als an allen anderen. Dies gilt mutatis mutandis auch für Hektor und Achilles: die tiefe Trauer und der maßlose Zorn, mit denen Achilles auf die Nachricht vom Tod des Patroklos reagiert, zeigen, dass es nicht notwendig die Ferse ist oder irgendeine andere Stelle des Körpers, an denen sich ein Mensch – und sei er selbst halbgöttlichen Ursprungs – am verwundbarsten zeigt. Wie schwer man durch eine Handlung verletzt oder in Mitleidenschaft gezogen wird, ist nicht primär eine Frage der Physis, sondern eine der emotionalen und symbolischen Affektion. Ich werde im nächsten Abschnitt darauf zurückkommen.

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sowie die Fähigkeit, sich zu erinnern) hinzutreten muss, damit es so etwas wie Rache überhaupt geben kann. Dieses Vermögen knüpft sich an die Begriffe der Zurechenbarkeit und der Schuld. Es kann nämlich nur dort Rache geben, wo man jemanden für schuldig halten oder erklären kann. Und beschuldigen kann man nur für Akte, die sich einem Handelnden eindeutig zurechnen lassen. Paul Ricœur definiert die Zurechenbarkeit als »jene Fähigkeit, aufgrund deren Handlungen jemandem in Rechnung gestellt werden können.«23 Die hier anklingende Metapher ist uns bereits begegnet: in Gestalt der ›offenen Rechnung‹, welche die Rache mit der Vorstellung einer nicht beglichenen Schuld verknüpft. »Die Schuld« aber, so Ricœur weiter, ist im Bereich der Zurechenbarkeit zu suchen. Dies ist der Bereich der Verbindung der Handlung mit dem Handelnden, des ›Was‹ der Handlungen mit dem ›Wer‹ des Handlungsvermögens – der agency.24

Ebendiese Verbindung ist in der Grundstruktur der Rache notwendig impliziert. Rache zielt nicht einfach auf irgendwen ab, sondern auf diejenige Person oder Gruppe, die man für den wahren Urheber derjenigen Handlungen hält, die man selbst oder eine Person, die einem (genealogisch, sozial, politisch etc.) nahe steht, erlitten hat. Worin genau die erlittene Handlung besteht, die zu einem Racheakt veranlasst, kann naturgemäß sehr unterschiedlich sein. Hier öffnet sich ein breites Spektrum, das alle Abschattungen von Beleidigung über Verrat und Vergewaltigung bis hin zu Mord umfasst. Alle diese Anlässe haben jedoch gemeinsam, dass sie sich als Verletzungen auffassen bzw. unter diesem Oberbegriff subsumieren lassen. Die Grundstruktur der Verletzung lässt sich in der Formel ausdrücken: jemand tut jemandem etwas an.25 Diese Formel findet eine genaue Entsprechung in der Grundstruktur der Rache: jemand rächt sich an jemandem für etwas. Jede Racheerzählung stellt eine Verkettung von Ereignissen dar, die sich auf die Sequenz dieser beiden Formeln reduzieren lässt: jemand26 (Subjekt X) tut jemandem (Subjekt Y) etwas (Handlung Z) an – jemand (Subjekt Y) rächt sich an jemandem (Subjekt X) für etwas (Handlung Z) 23 Ricœur [Anm. 17], S. 703. 24 Ebd. 25 Vgl. Waldenfels, Bernhard: Aporien der Gewalt, S. 13. In: Gewalt. Strukturen, Formen, Repräsentationen. Hg. v. Dabag, Mihran u. a. München 2000 (Schriftenreihe ›Genozid und Gedächtnis‹ des Instituts für Diaspora- und Genozidforschung an der Ruhr-Universität Bochum), S. 9 – 24. 26 Der Ausdruck ›jemand‹ bzw. Subjekt bezeichnet in diesem Zusammenhang nicht allein Einzelpersonen, sondern umfasst alle möglichen Antworten auf die Frage »Wer?« (Wer hat das getan? Wer hat das erlitten?) – das können sowohl Einzelpersonen sein (z. B. Hektor, Patroklos) als auch Kollektive (z. B. die Achaier, die Troer).

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Beide Formeln lassen jeweils einen Handelnden und einen Erleidenden in Erscheinung treten. Was sich jedoch ändert, ist die Position der beteiligten Subjekte. Der Urheber der Verletzung wird zu demjenigen, an dem die Rache vollzogen wird; umgekehrt wird derjenige, der verletzt worden ist, zum Urheber der Rache. Rache impliziert also eine Umkehr des Richtungsvektors von Handeln und Erleiden. Darin liegt die offenkundige Ähnlichkeit zwischen den beiden eingangs exemplifizierten Fällen: Indem Klaus Grabowski ihrer Tochter das Leben genommen hat, hat er Marianne Bachmeier etwas Schlimmes angetan; Marianne Bachmeier rächt sich dafür, indem sie Grabowski erschießt. Entsprechendes gilt für Hektor und Achilles. Drei weitere Beispiele (zur Probe aufs Exempel): Moby Dick reißt Kapitän Ahab ein Bein ab; Ahab sucht den weißen Wal dafür zur Strecke zu bringen.27 Iason hintergeht Medea; Medea bereitet ihm dafür den Untergang.28 Der brave Edmond DantÀs wird von drei Widersachern schmählich verraten; Jahrzehnte später kehrt er als geheimnisvoller Graf von Monte Christo wieder, um sie für ihren Verrat büßen zu lassen.29 Egal wann und egal wo: jeder Erzählung von Rache liegt diese Konfiguration zugrunde, als deren grundlegender Operator die Polarität von Handeln und Erleiden fungiert. Man sieht nun wesentlich besser, worin der Vorzug einer Konzeption besteht, die Rache nicht primär als Akt oder Motiv zu bestimmen sucht, sondern als eine relationale Struktur, deren innerer Zusammenhang nur dann zutage tritt, wenn man derjenigen Dimension der Rache, die mit dem Erleiden zusammenhängt, im selben Maße Rechnung trägt wie derjenigen Dimension, in der sie sich von ihrer handlungsmäßigen Seite zeigt. »Thema aller Erzählungen ist letztlich das Handeln und das Leiden.«30 Dieser Ausspruch Paul Ricœurs trifft insbesondere auf diejenigen Erzählungen zu, die von Rache handeln. Dass die Dimension des Erleidens leicht im Schatten einer einseitig auf das Handeln fokussierten Optik zu verschwinden droht, lässt sich an einer sprachhistorischen Beobachtung festmachen, die ein weiteres Argument für die Wahl des Begriffspaars Handeln und Erleiden liefert. Jean Starobinski hat eine in dieser Hinsicht sehr aufschlussreiche begriffsgeschichtliche Studie31 verfasst. Ihr Gegenstand ist nicht das Begriffspaar Handeln und Erleiden, sondern ein anderes, im heutigen Sprachgebrauch weitaus geläufigeres: das von Aktion und Reaktion. Das Aktions-Reaktions-Schema wird heute in zahlreichen Bereichen 27 Vgl. Melville, Herman: Moby-Dick or, the whale. Ed. by Mansfield, Luther and Vincent, Howard. New York 1962. 28 Vgl. Euripides: Medea. Übers. u. hg. v. Dräger, Paul. Stuttgart 2011. 29 Vgl. Dumas, Alexandre: Le Comte de Monte-Cristo. 2 Bde. Paris 1962. 30 Ricœur [Anm. 13], S. 92. 31 Starobinksi, Jean: Aktion und Reaktion. Leben und Abenteuer eines Begriffspaars. Übers. v. Günther, Horst. Frankfurt am Main 2003.

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(Medizin, Psychologie, Physik etc.) herangezogen, wenn es darum geht, den Zusammenhang bestimmter Abläufe oder Prozesse zu erklären. Die Selbstverständlichkeit, mit der die Wörter Aktion und Reaktion paarweise verwendet und als spiegelsymmetrisch aufgefasst werden, täuscht jedoch leicht darüber hinweg, dass sie unterschiedlichen Alters und verschiedenartigen Ursprungs sind. Das Wort Aktion bzw. Akt geht etymologisch auf das lateinische Verb agere, ago zurück, dessen Grundbedeutung mit ›treiben, tun‹ angegeben wird. Das entsprechende Substantiv actio war im alten Latein ein gängiger Ausdruck. Wie steht es nun mit dem Wort reactio? Starobinski erteilt diesbezüglich eine klare Auskunft: Die Geschichte erlaubt es uns nicht, in ihr [der reactio] das genaue Pendant zu actio zu sehen. Es ist eine sehr viel spätere Zusammensetzung gelehrten Ursprungs, die geprägt wurde, um eher in der begrifflichen Abstraktion als im Leben ein Paar zu bilden. In der Tat gehören reactio, reagere nicht zum alten Wortschatz der lateinischen Sprache. Sie sind in keinem Text der Antike belegt. […] Der Gegenbegriff zu agere ist im klassischen Latein pati (dulden, leiden), der Gegenbegriff zu actio ist passio. Aktion und Passion bilden ein sehr viel solider begründetes Paar begrifflicher Gegensätze. Dieses Paar war in der griechischen philosophischen Sprache gegenwärtig (poiein/paschein).32

Mit dem wesentlich jüngeren Ausdruck reactio zu einem Paar zusammengefügt wurde die actio erst in der mittelalterlichen Scholastik.33 Die reactio tritt damit an diejenige Stelle, die ehedem dem lateinischen Ausdruck passio vorbehalten war, der seinerseits auf das Altgriechische p\hor verweist. P\hor bezeichnet allgemein dasjenige, was ohne eigenes Zutun an einem geschieht, was man als Folge einer äußeren Einwirkung erleidet: das kann das Missgeschick sein, das einem unerwartet zustößt, aber ebenso auch das Leiden, das Andere über einen bringen. Von diesem alten Sinn klingt in dem jüngeren und deutlich aktiver anmutenden Begriff der reactio – und den entsprechenden Lehnwörtern, die in unserer Alltagssprache mittlerweile einen festen Platz einnehmen, wie ›Reaktion‹ und ›reagieren‹ – kaum etwas nach. Aus diesem Grund habe ich es in der bisherigen Analyse sorgsam vermieden, Rache als ›Reaktion‹ zu bezeichnen. Nicht, dass diese Bezeichnung falsch wäre – aber sie ist eben auch nicht sonderlich spezifisch, da sie dahin tendiert, den Unterschied zwischen Handeln und Erleiden semantisch einzuebnen. Wie die Untersuchung gezeigt hat, ist es jedoch gerade diese Differenz – deren Wechselspiel ich als Polarität von Handeln und Erleiden bezeichne –, die es ermöglicht, den wesentlichen Kern der Rache zu erfassen. Rache drückt sich nicht in beliebigen Handlungen aus, sondern in solchen, deren Spezifikum darin liegt, dass sie von einem oder mehreren Anderen erlitten werden. Und Rache ant32 Ebd., S. 20. 33 Vgl. ebd., S. 14.

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wortet auch nicht auf beliebige Aktionen, sondern auf solche, deren Besonderheit darin besteht, dass sie von jemandem erlitten wurden. Tatsächlich genügt es, die begriffsgeschichtliche Ersetzung von passio durch reactio rückgängig zu machen und das Aktions-Reaktions-Schema systematisch auf die Dimension des Erleidens hin auszubuchstabieren, um ein formales Schema zu gewinnen, das eine wesentlich präzisere Darstellung der Rache ermöglicht: I. Rache auf der Grundlage von Aktion und Reaktion: actio ! reactio Subjekt X Subjekt Y (handelt) (reagiert) II. Rache auf der Grundlage der Polarität von Handeln und Erleiden: actio/passio ! actio/passio Subjekt X Subjekt Y Subjekt Y Subjekt X (handelt) (erleidet) (handelt) (erleidet)

Das Schema actio/passio ! actio/passio stellt die allgemeine Relation dar, die jedem Fall bzw. jeder Erzählung von Rache als Muster zugrundeliegt. Die vier Vermögen – Handelnkönnen; Erleidenkönnen; die Fähigkeit, sich und anderen Handlungen zuzurechnen; sowie die Fähigkeit, sich zu erinnern –, die als Grundvoraussetzungen der Rache identifiziert wurden, sind in das Schema inskribiert: beim Handeln und Erleiden ganz offensichtlich; bei der Zurechenbarkeit in der formalen Konstellation der als Subjekt X bzw. Subjekt Y bezeichneten Akteure; und beim Erinnerungsvermögen, am wenigsten offensichtlich, in Form des kleinen Pfeils, der die notwendige zeitliche Erstreckung zwischen der ersten Tat und dem Racheakt markiert. Das Schema – das in der vorliegenden Arbeit an die Stelle einer Definition tritt – liefert nicht nur eine formalisierte Darstellung der Grundstruktur der Rache, sondern eignet sich auch als Analyse- und Vergleichsinstrument. Indem es das Gemeinsame und Allgemeine an der Rache fasst, lässt es zugleich auch deutlicher sehen, worin das Spezifische und die Unterschiede zwischen bestimmten Fällen bzw. Erzählungen von Rache liegen.

III.

Verletzung und Verletzlichkeit

Wie wir gesehen haben, lässt sich die formale Struktur der Rache als eine Relation beschreiben, die aus dem Wechselspiel von Handeln und Erleiden hervorgeht. Das Streben nach Rache hat dort seinen Ursprung, wo eine Handlung von jemandem erlitten wird. Die Rache bestimmt sich von einer vergangenen Verletzung her und auf sie hin bleibt sie in allen ihren Phasen bezogen. Nun liegt auf der Hand, dass nicht der gesamte Bereich dessen, was wir alltagssprachlich

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als Verletzung bezeichnen, als möglicher Racheanlass in Frage kommt. Um Rache angemessen verstehen zu können, ist es also notwendig, die Analyse der Polarität von Handeln und Erleiden durch eine Reflexion auf den Begriff der Verletzung zu ergänzen. Worin liegt das Spezifische derjenigen Verletzungen, aus denen das Verlangen nach Rache hervorgeht? Gibt es auch hier ein formales Merkmal, das eine kulturübergreifende und transhistorische Gültigkeit besitzt? Halten wir zunächst fest, an welcher Stelle der Begriff der Verletzung ins Spiel kommt. Wie im vorigen Abschnitt gezeigt, bezeichnet die Verletzung den Ort, an dem sich Handeln und Erleiden überkreuzen. Der Begriff ist insofern mit Bedacht gewählt, als sich actio und passio, das handlungsartige und das widerfahrnishafte Moment der Rache, in ihm die Waage halten. Die Verletzung hält sich genau in der Mitte zwischen Verletzen und Verletztwerden. Es ist wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass der Unterscheidung zwischen Verletzen und Verletztwerden, die auf linguistischer Ebene durch einen einfachen Wechsel der Diathese bewerkstelligt wird, auf der phänomenalen Ebene eine Differenz entspricht, die unter Umständen buchstäblich über Leben und Tod entscheidet. In einfachen Worten: in der Praxis besteht ein fundamentaler Unterschied zwischen Verletzen und Verletztwerden. Es gibt Situationen, in denen sich zwischen der Erfahrung derjenigen Person, die verletzt, und der Erfahrung derjenigen Person, die verletzt wird, eine unüberbrückbare Kluft auftut. Dies trifft insbesondere auf solche Verletzungen zu, in denen sich der Erleidende in besonderem Maße als hilflos erfährt oder seines Handlungsvermögens sogar komplett beraubt wird. Man denke etwa an Vergehen wie Vergewaltigung und Folter. In »Jenseits von Schuld und Sühne« spricht Jean Améry – dessen Ausführungen sich auf seine eigenen Erfahrungen als Überlebender des nationalsozialistischen Terrors stützen – davon, dass der Folterer zu einem »Gegenmenschen« wird, den man »wehrlos an sich erleidet«.34 Die Polarität von Handeln und Erleiden nimmt hier die Gestalt einer asymmetrischen Beziehung an. Paul Ricœur zufolge resultiert diese Asymmetrie daraus, dass handeln für einen Handelnden bedeutet, Macht über einen anderen Handelnden auszuüben. […] Zu dieser grundlegenden Asymmetrie der Handlung kommen all die Perversionen des Handelns hinzu, die darin kulminieren, daß jemand zum Opfer wird […].35

Jemanden zum Opfer machen heißt, sich symbolisch über ihn stellen. In alltagssprachlichen Ausdrücken wie Erniedrigung, Herablassung, Unterlegenheit 34 Améry, Jean: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten. Stuttgart 62008, S. 56. 35 Ricœur, Paul: Annäherungen an die Person (1990), S. 243 (Hervorhebung im Original). In: Ders.: Vom Text zur Person. Hermeneutische Aufsätze (1970 – 1999). Hg. u. übers. v. Welsen, Peter. Hamburg 2005, S. 227 – 249.

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etc. klingt die vertikale Asymmetrie an, die in die Beziehung zwischen Handeln und Erleiden eingeschrieben ist. Eine paradigmatische Szene dieser Asymmetrie ist das Bild des Opfers, das verletzt am Boden liegt, während der Täter über ihm steht und triumphiert.36 Dieses Bild kehrt regelmäßig in Racheerzählungen wieder, wobei es bezeichnenderweise meist zweimal auftaucht: einmal am Anfang und – nach erfolgter Umkehrung des Richtungsvektors von Handeln und Erleiden – einmal am Ende. Achilles beugt sich triumphierend über den niedergestreckten Hektor, so wie dieser sich zuvor über den toten Patroklos gebeugt und diesen verhöhnt hat.37 Mit dieser grundlegenden Asymmetrie kommt zugleich die Vorstellung eines unerträglichen Ungleichgewichts ins Spiel, einer Störung der Balance und Ordnung, auf deren Ausgleich die Rache abzielt. Die erfahrungsmäßige Ungleichartigkeit von Handeln und Erleiden bzw. Verletzen und Verletztwerden ist insofern bedeutsam, als sie auf den grundlegend perspektivischen Charakter der Rache verweist. Aus der Sicht desjenigen, der nach Rache strebt, ist weniger entscheidend, was der oder die Anderen getan haben, sondern was er selbst oder eine ihm nahestehende Person erlitten hat. Man kann an dieser Stelle einwenden, dass dies das Gleiche sei. Es ist auch das Gleiche – jedoch nur aus der Perspektive eines unbeteiligten Dritten. Für den Rächer oder die Rächerin ist Rache keine Frage widerstreitender Ansprüche oder Interessen, über die man verhandeln und ein neutrales Urteil fällen könnte, sondern die eigene Perspektive gilt ihm bzw. ihr absolut. Das rächende Subjekt steht sozusagen ganz im Bannkreis seiner eigenen Erfahrung, die sich umso mehr auf das eigene Verletztwordensein konzentriert, je größer die Asymmetrie zwischen Handeln und Erleiden war. Die zum Verständnis der Rache relevante Frage lautet dementsprechend weniger, was es heißt zu verletzen, sondern vielmehr, was es heißt, verletzt zu werden. Nehmen wir also die eingangs genannte Frage wieder auf: Wie muss eine Verletzung genau beschaffen sein, um zu einem möglichen Racheakt zu motivieren? Offenkundig motivieren nicht alle Verletzungen zu einem möglichen Racheakt. Wenn sich jemand etwa beim Wandern den Fuß verstaucht oder bei dem Versuch, ein Bild an seiner Wand anzubringen, mit dem Hammer auf den Finger haut, dann liegt zwar eine Verletzung vor, aber die betreffende Person wird anschließend kaum darauf sinnen, Rache zu üben. Der Grund dafür ist einfach: der verstauchte Fuß oder der gebrochene Finger tun zwar weh, aber es ist niemand da (außer einem selbst natürlich), dem sich diese Verletzung zurechnen ließe, den man für den Schmerz im Fuß oder im Finger verantwortlich machen kann. Wie bereits gezeigt wurde, stellt die Möglichkeit, jemandem eine 36 Vgl. dazu Canetti, Elias: Masse und Macht. Frankfurt am Main 302006, S. 267. 37 Vgl. Homer [Anm. 2], XVI. Gesang, V. 827 – 842 (Tod des Patroklos); XXII. Gesang, V. 326 – 354 (Tod des Hektor).

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Handlung in Rechnung zu stellen, eine Grundvoraussetzung der Rache dar. Die bloße Präsenz Anderer und die Möglichkeit der Zurechnung allein reichen jedoch nicht aus, um zu erklären, weshalb bestimmte Verletzungen zu Rache motivieren. Die Zurechenbarkeit definiert lediglich eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung. Stellen wir uns etwa einen Boxkampf vor.38 Wenn der Kampf vorüber ist, sind die Körper der beiden Boxer von zahlreichen Blessuren übersät. Die Schläge, die ein Boxer im Laufe eines Kampfes einstecken muss, tun zweifellos weh und lassen sich ebenso zweifellos einem Anderen zurechnen. Solange der Kampf jedoch fair und regelkonform abläuft, ist kaum davon auszugehen, dass sich einer der beiden Kontrahenten für die erlittenen Verletzungen an dem anderen rächen wird. Wiederum ist der Grund relativ einfach zu benennen: wer boxt, weiß, dass er dabei mitunter eine gesprungene Lippe oder ein zugeschwollenes Auge riskiert. Schläge einzustecken gehört zum Boxen dazu. Was außerhalb des Boxrings verboten ist, jemandem mit der Faust auf die Nase oder in die Rippen zu hauen, ist im Ring nicht nur erlaubt, sondern sogar geboten. Ein Boxer, der nur ausweicht, ohne die Schläge seines Kontrahenten zu erwidern, riskiert mithin, wegen Passivität disqualifiziert zu werden. Auch wenn es von außen nicht so erscheinen mag: der Boxring ist keineswegs ein Ort ungeregelter Gewalt. Es gibt ein Regelwerk, das vorschreibt, welche Aktionen erlaubt und welche verboten sind. Dieses Regelwerk ist für beide Kämpfer gleich; beide kennen es und beide vertrauen darauf, dass sich ihr Gegenüber im Großen und Ganzen daran hält. Solange keine Regel willentlich missachtet wird, wäre es unsinnig bzw. würde es von einem grundlegenden Missverständnis zeugen, wenn ein Boxer es dem anderen übelnehmen würde, dass dieser auf ihn einschlägt. Die faktisch gegebene Zurechenbarkeit begründet unter diesen Umständen noch keine moralische Schuld. Die Frage der Schuld – und damit auch die Frage der Rache – stellt sich erst dann, wenn eine Regel missachtet wird; beispielsweise wenn sich einer der Kämpfer durch einen unerlaubten und vom Ringrichter nicht bemerkten Tiefschlag einen taktischen Vorteil verschafft, der ihm letzten Endes zum Sieg verhilft. Dieses Beispiel ist insofern instruktiv, als es in jeder Gesellschaft – unabhängig davon, wie ›primitiv‹ oder ›fortschrittlich‹ sie von außen erscheinen mag – bestimmte Regeln und Normen gibt, die den sozialen Umgang regulieren und dabei eine Unterscheidung zwischen zulässigen und unzulässigen Handlungen treffen. Ob diese Normen in kodifizierter schriftlicher Form vorliegen oder auf 38 Das nachfolgende Beispiel ist angelehnt an ein Beispiel, das Jan Philipp Reemtsma verwendet, um die von ihm getroffene Unterscheidung zwischen erlaubter, verbotener und gebotener Gewalt zu veranschaulichen; vgl. Ders.: Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne. München 2009, S. 189 – 195.

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andere Weise festgehalten und tradiert werden, ist in dem gegebenen Zusammenhang von minderer Relevanz. Entscheidend ist, dass sie von den Mitgliedern einer Gruppe oder Gemeinschaft als verbindlich erkannt werden. Rache setzt das Vorhandensein und die faktische Geltung solcher Normen voraus. Damit eine Person tatsächlich den Weg von der erlittenen Verletzung bis zur Rache durchläuft, ist es notwendig, dass die Verletzung nicht nur als etwas Schmerzhaftes, sondern zugleich auch als etwas Unrechtmäßiges empfunden wird. Dieser Bezug auf Recht und Unrecht ist für die Rache konstitutiv. Wie die Rache aus dem Schmerz ihre Energie bezieht, so bezieht sie aus dem erlittenen Unrecht ihre intrinsische Legitimation: Wer auf Rache sinnt, fühlt sich im Recht, weil vorher ein Unrecht an ihm verübt wurde. Welche Handlungen als unrechtmäßig und besonders verletzend angesehen werden, ist abhängig davon, welche Normen und Werte in einer bestimmten Gemeinschaft oder historischen Epoche als geltend anerkannt und sozial geteilt werden; Ehrverletzungen beispielsweise spielen in der heutigen Zivilgesellschaft eine ganz andere Rolle als im Preußen des 19. Jahrhunderts.39 Was sich jedoch verallgemeinern lässt, ist der Umstand, dass Rache aus Verletzungen hervorgeht, in denen notwendigerweise zwei Aspekte zusammentreffen: Zu dem empfundenen Schmerz muss ein Bewusstsein hinzutreten, das diesen Schmerz als Unrecht qualifiziert und der erlittenen Verletzung damit den Stempel des Unzulässigen aufdrückt. Maßgeblich für dieses Bewusstsein ist die Überzeugung, dass die Verletzung, die einem zugefügt wurde, gegen die bestehende Ordnung verstößt, dass sie das Ergebnis einer Übertretung ist, mit der zugleich eine bestimmte Norm verletzt wurde, die darüber bestimmt, was ein Mensch einem anderen antun darf und was nicht. Die Kombination aus Schmerz und Unrecht stellt gleichsam die Keimzelle jeder Rachehandlung dar ; trifft sie auf einen entsprechenden kulturellen Boden – der sich etwa durch die Nichtakzeptanz oder das Fehlen funktionierender Appellations- und Sanktionsinstanzen auszeichnet – steigt die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Keim früher oder später seine giftigen Blüten austreibt. Kurzum: Verletzungen, die zu Rache motivieren, lassen sich formal dadurch kennzeichnen, dass sie sowohl eine affektive als auch eine normative Seite aufweisen. Wenn ich von der affektiven Seite der Verletzung spreche, so nehme ich damit vor allem darauf Bezug, wie uns Verletzungen primär gegeben sind. Wenn wir verletzt werden, dann fühlen wir das. Weit davon entfernt, eine bloße Wahrnehmung oder ein neutrales Urteil zu sein, ist uns die Verletzung unmittelbar als Gefühl gegeben. Ein Schlag ins Gesicht oder eine beleidigende Äußerung werden nicht bloß wahrgenommen und sachlich registriert, sondern direkt und un39 Vgl. Vogt, Ludgera u. Zingerle, Arnold: Zur Aktualität des Themas Ehre und zu seinem Stellenwert in der Theorie. In: Ehre. Archaische Momente in der Moderne. Hg. v. Vogt, Ludgera u. Zingerle, Arnold. Frankfurt am Main 1994, S. 9 – 34.

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vermittelt als Verletzung empfunden. Unabhängig davon, ob eine Verletzung primär auf den Körper des Anderen oder auf seine Psyche abzielt, handelt es sich beim Verletztwerden immer um einen genuin affektiven Vorgang. Konstitutiv für das Gefühl des Verletztseins ist der Schmerz. Es gibt keine Verletzung, die nicht weh tut. Verletzungen besitzen immer eine negative Valenz. Die Wahrheit der Verletzung – das heißt die Antwort auf die Frage, ob jemand durch eine bestimmte Handlung tatsächlich verletzt worden ist oder dies lediglich behauptet – offenbart sich in dem Leiden des Verletzten. Der Schmerz verleiht dem Verletztwerden seine negative Grundqualität. Er stellt zugleich den affektiven Rohstoff dar, aus dem die Emotionen sind, mit denen wir auf Verletzungen reagieren: Scham, Trauer, Empörung, Wut, Zorn oder Hass. Zu welcher Emotion sich der Schmerz verdichtet und konturiert, welches Gefühl am Ende überwiegt, hängt davon ab, wie die Verletzung gedeutet und normativ bewertet wird. Von den genannten Emotionen am ehesten zur Rache führt der Zorn, der zu den »klassischen Unrechtsaffekte[n]«40 gezählt wird. Im Zorn finden die affektive und die normative Dimension der Verletzung ihren emotionalen Konvergenzpunkt. Exemplarischen Ausdruck gefunden hat der Konnex von Zorn und Rache in der Affektenlehre des Aristoteles. »Man ist erzürnt«, schreibt Aristoteles, wenn man Leid erfährt. Denn der Leidende verlangt nach etwas.41 Wonach der Leidende verlangt, steht außer Frage: das »Trachten nach offenkundiger Vergeltung [gr. tilyq_a]« bildet das Zentrum der aristotelischen Zorndefinition.42 Dieses Streben speist sich aus dem Schmerz und gewinnt am Unrecht seine motivationale Richtung. Die affektive Dimension der Verletzung ist leiblich fundiert. Dies ist der Grund, weshalb Dinge (ein Fahrrad zum Beispiel oder ein Kühlschrank) zwar beschädigt, aber nicht verletzt werden können. Die Verletzung hingegen setzt, in den Worten von Bernhard Waldenfels, »eine bestimmte Form von Selbstbezüglichkeit und eine mögliche Integrität voraus«.43 In anderen Worten: Die Verletzung trifft immer ein leiblich verfasstes Selbst. Der nüchterne Ausdruck Integrität steht dabei für eine Reihe von Konzepten ein, die von der leiblichen Unversehrtheit über die im deutschen Grundgesetz verankerte Unantastbarkeit der menschlichen Würde bis zu dem teils in Vergessenheit, teils in Verruf geratenen Begriff der Ehre reichen. Mit welchen spezifischen Bedeutungen diese Begriffe angereichert sind, ist historisch variabel (die til^ der alten Griechen, ein Ausdruck, der gewöhnlich mit ›Ehre‹ übersetzt wird, ist sicher nicht

40 Demmerling, Christoph u. Landweer, Hilge: Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn. Stuttgart, Weimar 2007, S. 299. 41 Aristoteles: Rhetorik. Übers. u. hg. v. Krapinger, Gernot. Stuttgart 2007, S. 79. 42 Ebd., S. 72. 43 Waldenfels [Anm. 25], S. 13 (Hervorhebung im Original).

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gleichbedeutend mit dem, was Schnitzlers Leutnant Gustl44 unter seiner Ehre versteht). Gleichwohl ist diesen Konzepten gemeinsam, dass sie etwas bezeichnen, das aufgrund seiner Verletzlichkeit für schützenswert gehalten wird. Die Erfahrung der Verletzlichkeit jedoch ist konstitutiv an den Leib gebunden, und zwar insofern als der Leib, das heißt der Körper, der ich jeweils bin, die Schnittstelle zwischen Selbst und Welt darstellt. »Der Leib des Menschen ist nackt und anfällig; in seiner Weichheit jedem Zugriff ausgesetzt.«45 In seiner Leiblichkeit ist der Mensch exponiert; er kann von anderen gesehen, berührt und angesprochen werden. Ebendarin liegt jedoch auch die Möglichkeit seiner Gefährdung: Wer sichtbar ist, den kann man verfolgen, wer berührbar ist, den kann man angreifen, wen man ansprechen kann, den kann man mit Worten verletzen. Der Leib, der uns auf die Welt hin öffnet, bietet sich der Welt potentiell immer auch als Angriffsfläche dar. Selbstbezug und Weltverhältnis hängen gleichermaßen von der leiblichen Konstitution ab. Wird der Leib gravierend verletzt, so hat dies im Extremfall nicht nur für die Integrität der betreffenden Person, sondern auch für ihren Weltbezug irreparable Folgen. Jean Améry hat diesen Zusammenhang in eindringlichen Worten formuliert. »Es ist nur wenig ausgesagt«, heißt es in Amérys Bericht über die Folter, wenn irgendein Ungeprügelter die ethisch-pathetische Feststellung trifft, daß mit dem ersten Schlag der Inhaftierte seine Menschenwürde verliere. Ich muß gestehen, daß ich nicht genau weiß, was das ist: die Menschenwürde. […] Doch bin ich sicher, daß er [der von Polizeileuten Geprügelte] schon mit dem ersten Schlag, der auf ihn niedergeht, etwas einbüßt, was wir vielleicht vorläufig das Weltvertrauen nennen wollen. Weltvertrauen. Dazu gehört vielerlei: der irrationale und logisch nicht zu rechtfertigende Glaube an unverbrüchliche Kausalität etwa oder die gleichfalls blinde Überzeugung von der Gültigkeit des Induktionsschlusses. Wichtiger aber – und in unserem Zusammenhang allein relevant – ist als Element des Weltvertrauens die Gewißheit, daß der andere auf Grund von geschriebenen oder ungeschriebenen Sozialkontrakten mich schont, genauer gesagt, daß er meinen physischen und damit auch metaphysischen Bestand respektiert. Die Grenzen meines Körpers sind die Grenzen meines Ichs. Die Hautoberfläche schließt mich ab gegen die fremde Welt: auf ihr darf ich, wenn ich Vertrauen haben soll, nur zu spüren bekommen, was ich spüren will. Mit dem ersten Schlag aber bricht dieses Weltvertrauen zusammen.46

Die Verletzung der leiblichen Integrität und die irreversible Störung des Weltbezugs fallen in der von Am¦ry beschriebenen Erfahrung ineins. Dass die Möglichkeit, verletzt zu werden, leiblich fundiert ist, heißt jedoch nicht, dass sie sich ausschließlich auf sogenannte ›Körperverletzungen‹ beschränkt oder notwendig an diese gebunden wäre. Um Marianne Bachmeier 44 Vgl. Schnitzler, Arthur : Leutnant Gustl. Frankfurt am Main 2001. 45 Canetti [Anm. 36], S. 268. 46 Améry [Anm. 34], S. 56 (Hervorhebung im Original).

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tiefgreifend zu verletzen, musste Klaus Grabowski ihren Körper nicht anrühren. Auch die beiden Verletzungen des Achilles – die Demütigung durch Agamemnon und der Tod seines Freundes Patroklos – waren nicht körperlicher Art. Wie diese Beispiele zeigen, reicht die Sphäre der Verletzlichkeit über den Leib im engeren Sinne hinaus. Sie umfasst alles, was das Selbst in konstitutiver Weise als ihm zugehörig empfindet, alles, was seine persönliche Integrität ausmacht. Das kann unter anderem eine bestimmte Identität sein (als Mutter, als bester Freund etc.), ein bestimmter Status (als Offizier, als Lehnsmann etc.) oder bestimmte Objekte, die Identität oder Status symbolisch substituieren (Flaggen, Wappen, Besitztümer etc.).47 Kurzum: die Verletzlichkeit umgreift das Selbst in seinem gesamten Dasein, das sich, insofern es ein soziales ist, über die Grenzen des physischen Körpers hinaus in die Welt fortsetzt. Daraus erhellt zugleich, weshalb es bei der Rache so häufig um Angelegenheiten von eminent persönlicher Art und existentiellem Gewicht geht: man rächt sich nicht für Dinge, die einem nicht wichtig sind, oder für Menschen, mit denen man nichts zu tun hat. Was Aurel Kolnai über den Hass geschrieben hat – »Was der Haß verlangt und verheißt, ist […] eine Art Entscheidung über das Schicksal der Welt«48 –, gilt in gewisser Weise auch für die Rache. Die Bereitschaft, in der Rache seine gesamte Existenz aufs Spiel zu setzen, verliert an Befremdlichkeit, wenn man sich vergegenwärtigt, dass es Verletzungen gibt, die sich für denjenigen, der sie erleidet, mit dem Gefühl verbinden, um einen zentralen Aspekt oder gar die Grundlage seiner affektiven Verankerung in der Welt gebracht worden zu sein. Aus dem Bisherigen dürfte hinreichend deutlich geworden sein, was unter der affektiven und der normativen Seite der Verletzung jeweils zu verstehen ist, was beide voraussetzen und jeweils implizieren. Ein großer analytischer Vorteil dieser Unterscheidung liegt darin, dass sie es ermöglicht, das Gefühl des Verletztseins und die Frage nach der jeweils verletzten Norm voneinander zu entkoppeln. In normativer Hinsicht ist eine Verletzung grundsätzlich ebenso begrenzt wie die Regel, die sie verletzt. Die verletzte Norm bzw. Regel kann benannt werden; ihre Geltung beruht auf der intersubjektiven Verständigung der Mitglieder einer bestimmten Gruppe oder Gemeinschaft. Insofern Normen sozial geteilt werden, ist es also niemals das Gefühl des Verletzten allein, das über die Zulässigkeit oder Unzulässigkeit der erlittenen Handlung entscheidet. Anders 47 Für Hans Blumenberg gehört es gar »zu den erstaunlichsten anthropologischen Konstanten, daß der Mensch ein Wesen ist, welches beleidigt werden kann. Er kann betroffen werden, ohne daß seine Physis betroffen ist. Es ist die Kehrseite der actio per distans […]: man kann verwundet werden noch durch das Symbol.« In: Beschreibung des Menschen. A. d. Nachlass hg. v. Sommer, Manfred. Frankfurt am Main 2006, S. 634. 48 Kolnai, Aurel: Versuch über den Haß, S. 133. In: Ders.: Ekel, Hochmut, Haß. Zur Phänomenologie feindlicher Gefühle. Frankfurt am Main 2007, S. 100 – 142.

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verhält es sich mit der affektiven Dimension: in affektiver Hinsicht können die Auswirkungen einer Verletzung in Form des dem Verletzten zugefügten Leids zumindest prinzipiell unendlich sein. Wie die Untersuchung gezeigt hat, setzt Rache beides voraus: den Bezug auf Recht und Unrecht sowie die konkrete Affektion durch eine bestimmte Handlung. Sowenig allein das Gefühl über die verletzte Norm Auskunft zu geben vermag, sowenig sagt allein die Norm darüber aus, wie es sich für den Verletzten anfühlt, ein bestimmtes Unrecht zu erleiden. In dem Verlangen nach Rache treten beide Seiten zusammen. Tatsächlich scheint der Ausdruck ›zusammentreten‹ fast zu schwach; man muss sich das Verhältnis zwischen der affektiven und der normativen Seite der Verletzung nicht bloß als komplementär, sondern vielmehr als eine inwendige Verschränkung vorstellen. Die Semantik der Verletzung – die Weise, in der wir das Wort ›verletzen‹ faktisch verwenden – jedenfalls weist in diese Richtung. So sprechen wir ebenso davon, dass eine Person verletzt wird, ihre Würde oder Achtung, wie wir davon sprechen, dass eine Regel, ein Gesetz oder eine Norm verletzt wird. Je nachdem, ob der affektive oder der normative Aspekt überwiegt, lassen sich die Objekte, auf die das Verb ›verletzen‹ bezogen wird, zu zwei Reihen anordnen. In der ersten Reihe finden wir im Übrigen nicht nur menschliche Personen, sondern sämtliche Dinge bzw. Wesen, denen eine rudimentäre Form von Selbstbezüglichkeit (metaphorisch) zugeschrieben wird: auch ein Hund, eine Ente oder die Rinde eines Baums kann verletzt werden. Bei dieser Doppelung handelt es sich um eine Besonderheit der deutschen Sprache, die nicht ohne weiteres verallgemeinert werden kann (im Englischen etwa würde man zwischen to injure und to violate unterscheiden). Nichtsdestotrotz scheint zwischen den beiden Verwendungsweisen bzw. Feldern, in denen jeweils von Verletzungen gesprochen wird, eine untergründige Verbindung zu bestehen. Neigen wir nicht dazu, jede Verletzung, gleich welchen Ursprungs, als etwas zu betrachten, das besser nicht sein sollte, das also eine (wenn auch schwache) normative Valenz besitzt? Und verweist umgekehrt die Verletzung einer bestimmten Norm, ob moralisch oder rechtlich, an einem bestimmten Punkt nicht immer auch auf jemandem, der diese erleidet? Liegt das Gemeinsame zwischen Achilles und Marianne Bachmeier – um ein letztes Mal die beiden Charaktere aufzurufen, unter deren Ägide die Frage nach dem Kern der Rache gestellt wurde – nicht darin, dass sie in ihrem Handeln von etwas angetrieben wurden, das für sie ebenso schmerzhaft wie unrecht war? Was eine bestimmte Gemeinschaft oder historische Epoche im einzelnen als Recht und Unrecht definiert, welche Institutionen sie mit der Pflege und Durchsetzung des Rechts betraut und welche Sanktionsformen sie kultiviert, ist äußerst vielfältig und kann auf unterschiedliche Weise erklärt werden. Plausibler jedoch als die für das moderne Selbstverständnis so wichtig gewordene Mär vom Leviathan, der den Krieg aller gegen alle beendet, indem er den Staat als Ga-

Was ist Rache? Versuch einer systematischen Bestimmung

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ranten des Rechts einsetzt49, erscheint mir eine Auffassung, die die Genese des Rechtsgefühls und den Entstehungsgrund der Rache aus ein- und demselben Ursprung heraus erklärt: dem Bewusstsein der menschlichen Verletzlichkeit. »The primitive sense of the just«, schreibt die Philosophin Martha Nussbaum, remarkably constant from several ancient cultures to modern institutions […] – starts from the notion that a human life […] is a vulnerable thing, a thing that can be invaded, wounded, violated by another’s act in many ways. For this penetration, the only remedy that seems appropriate is a counterinvasion, equally deliberate, equally grave.50

49 Vgl. Hobbes, Thomas: Leviathan. Ed. by Tuck, Richard. Cambridge 1996 (Cambridge texts in the history of political thought). 50 Nussbaum, Martha: Equity and Mercy, S. 157 (Hervorhebung F.B.). In: Dies.: Sex & Social Justice. New York, Oxford 1999, S. 154 – 183.

Nina Nowakowski

Alternativen der Vergeltung. Rache, Revanche und die Logik des Wiedererzählens in schwankhaften mittelhochdeutschen Kurzerzählungen

Die Logik der Revanche gilt seit längerem als ein zentrales Element schwankhaften Erzählens. Von zentraler Bedeutung dafür ist Hermann Bausingers strukturalistisch motivierte Bestimmung von Formtypen des Schwanks mithilfe der Kategorie ›Revanche‹.1 Dabei geht Bausinger von der Vorstellung einer »sozialen Opposition«2 im Schwank aus, bei der zwei Parteien einander gegenübergestellt sind. Auf der Basis dieser Grundannahme entwickelt er ein Strukturmodell des Schwanks, nach dem eine Partei durch eine Handlung eine superiore Position erlangt, die andere Partei hingegen einen inferioren Status bekleidet. Auf diesen ersten Schlag folgt Bausingers Modell entsprechend ein zweiter Schlag. Dieser könne entweder durch ein »Gefühl der Überlegenheit«3 bzw. durch Übermut provoziert oder aber als Maßnahme der Revanche bzw. als Gegenschlag motiviert sein. Letzteres ist hier von Interesse: Neben dem ›Ausgleichstyp‹, bei dem eine zuvor unterlegene Partei mithilfe einer Revanchehandlung mit der zuvor überlegenen Partei ›gleichzieht‹, existiert Bausinger zufolge der ›Steigerungstyp‹, bei dem eine Revanchehandlung fehlschlägt und die Partei, die versucht hat, ihre Unterlegenheit wettzumachen, ein weiteres Mal unterliegt und die überlegene Partei erneut triumphiert. Bausingers Beschreibungen der Relationen zwischen den Parteien lassen schwankhaftes Erzählen, auch wenn dieses nicht explizit gemacht wird, als ein Verhandeln von Machtverhältnissen erscheinen. Diese Perspektive möchte ich im Folgenden aufgreifen und erweitern, indem ich Vergeltungslogiken im Kontext des seriellen narrativen Modus des Wiedererzählens4 in den Texten 1 Vgl. Bausinger, Hermann: Bemerkungen zum Schwank und seinen Formtypen. In: Fabula 9 (1967), S. 118 – 136. 2 Bausinger [Anm. 1], S. 128. 3 Bausinger [Anm. 1], S. 131. 4 Die Forschung zu mouvance und Wiedererzählen hinsichtlich der mittelhochdeutschen Kurzerzählungen ist aufgearbeitet bei: Reichlin, Susanne: Ökonomien des Begehrens, Ökonomien des Erzählens. Zur poetologischen Dimension des Tauschens in Mären. Göttingen 2009 (Historische Semantik 12), S. 30 f.

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untersuche. In diesem Kontext werde ich Rache als eine spezifische Form von Vergeltung in den Blick nehmen. Im Unterschied zu Bausinger, der in strukturalistischer Manier versucht hat, klar bestimmbare Verlaufsformen von Ausgleichs- bzw. Steigerungsschwänken in Formeln wiederzugeben, geht es mir im Folgenden darum, die Variabilität herauszuarbeiten, mit der Vergeltungsszenarien in schwankhaften mittelhochdeutschen Kurzerzählungen dargestellt werden. Anhand der Analyse von einigen Erzählungen, die auf je unterschiedliche Figurenkonstellationen bezogene und sehr verschieden ausgestaltete Vergeltungsszenarien inszenieren, möchte ich aufzeigen, dass und inwiefern die Texte in besonderem Maße die Variabilität von sozialen Beziehungen und Interaktionsmustern verhandeln. Die variable Ausgestaltung von Vergeltung bildet, so lautet meine These, die variable Dynamik sozialer Beziehungen ab. Die schwankhafte mittelhochdeutsche Kurzerzählung lässt sich, das soll im Hinblick auf die Analyse von Vergeltungshandlungen deutlich werden, als narrative Form verstehen, die Modi sozialer Interaktion mit einem reduzierten Figurenarrangement in vielfältigen Varianten ›durcharbeitet‹. Bausinger versteht den Schwank als »Beschreibung sozialer Prozesse«5. Allerdings greifen seine »strukturellen Beobachtungen«6 hinsichtlich der sozialen Dimension von Revanchehandlungen recht kurz, da er Revanche als Begriff aus den Bereichen Sport, Wettkampf und Spiel verwendet7 und damit im Kontext eingeschränkter sozialer Geltungskriterien verortet. Der Aspekt der Schädigung, der für sozialwissenschaftliche Konzeptualisierungen von Rachehandlungen grundlegend ist, ist deshalb für ihn von geringem Interesse. Auch die destruktiven Dynamiken, die in germanistisch-mediävistischen Untersuchungen etwa zur Rache im »Nibelungenlied« betont werden,8 sind für Bausingers Ansatz unerheblich. Mit der Kategorie der Revanche verbindet die Mären- und Novellenforschung deshalb keine gewalttätigen oder destruktiven Vergeltungskonzepte, die in der germanistischen Mediävistik oftmals mit Rachevorstellungen verknüpft sind, sondern ein abstraktes Vergeltungsverständnis. Damit ist ein gattungsspezifisches Verständnis von Vergeltungsstrukturen eingeführt worden, ohne dieses explizit zu benennen. Hier möchte ich an5 6 7 8

Bausinger [Anm. 1], S. 126. Bausinger [Anm. 1], S. 126. Vgl. Bausinger [Anm. 1], S. 125. Auch einschlägige Monographien zum Motiv der Rache in der mittelhochdeutschen Literatur nehmen die Kleinepik nicht in den Blick, sondern konzentrieren sich auf narrative Großformen. Dabei wird der Heldenepik, vor allem dem »Nibelungenlied« erhebliche Beachtung geschenkt. Vgl. Möbius, Thomas: Studien zum Rachegedanken in der deutschen Literatur des Mittelalters. Frankfurt a. M., Berlin u. a. 1993; sowie Holzhauer, Antje: Rache und Fehde in der mittelhochdeutschen Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts. Göppingen 1997. Vgl. spezifisch zum Nibelungenlied auch Gephart, Irmgard: Der Zorn der Nibelungen. Rivalität und Rache im ›Nibelungenlied‹. Köln, Weimar u. a. 2005.

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knüpfen und die spezifischen Formen, in denen mittelhochdeutsche Kurzerzählungen Vergeltung thematisieren, darstellen. Dabei soll deutlich werden, dass die Texte verschiedene Aspekte und Formen des Vergeltens inszenieren, die etwa im Kontext des heroischen Narrativs, das hat Burkhard Hasebrink für die 37. Aventiure des »Nibelungenliedes« gezeigt,9 allenfalls als »abgewiesene Alternativen«10 aufscheinen: Während im »Nibelungenlied« die Möglichkeit der Deeskalation des Vergeltungsgeschehens angedeutet, aber letztlich nicht narrativiert wird, gestalten Kurzerzählungen hinsichtlich reziproker Vergeltungslogiken11 ein großes Spektrum an Möglichkeiten aus, das von destruktiven Tendenzen bis hin zur Logik des Ausgleichs bzw. der Balance reicht. Vor diesem Hintergrund erscheint es sinnvoll, dass mit der Kategorie der Revanche bisher keine konkreten Rachehandlungen, sondern abstraktere Vergeltungsmechanismen in den Blick genommen worden sind. Im Folgenden sollen die Überlegungen Bausingers zur Revanche erweitert werden. Ausgangspunkt für meine Überlegungen bildet sowohl Bausingers Charakterisierung der Schwanktypen als auch Klaus Grubmüllers12 Beobachtung einer »[m]odellhaft reduzierten Fi-

9 Hasebrink, Burkhard: Aporie, Dialog, Destruktion. Eine textanalytische Studie zur 37. Aventiure des ›Nibelungenliedes‹. In: Dialoge. Sprachliche Kommunikation in und zwischen Texten im deutschen Mittelalter. Hamburger Colloquium 1999. Hg. v. Henkel, Nikolaus u. a. Tübingen 2003, S. 7 – 20. Hier : S. 20. 10 Vgl. Strohschneider, Peter : Einfache Regeln – komplexe Strukturen. Ein strukturanalytisches Experiment zum ›Nibelungenlied‹. In: Mediävistische Komparatistik. FS Franz Josef Worstbrock. Hg. v. Harms, Wolfgang u. Müller, Jan-Dirk. Stuttgart, Leipzig 1997, S. 43 – 75 (Nachdruck in: Nibelungenlied und Nibelungenklage. Neue Wege der Forschung. Hg. v. Fasbender, Christoph. Darmstadt 2005, S. 48 – 82); sowie Müller, Jan-Dirk: Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes. Tübingen 1998, S. 140 ff.; zusammenfassend: Schulz, Armin: Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive. Berlin, Boston 2012, S. 350 – 359. 11 Zur Reziprozität als Logik der Interaktion vgl. grundsätzlich Haferland, Harald: Höfische Interaktion. Interpretationen zur höfischen Epik und Didaktik um 1200. München 1989 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 10), S. 121 – 206. Mit Blick auf mittelalterliche Kurzerzählungen und auf der Basis gabentheoretischer Überlegungen kritisch zu Konzeptionen der Reziprozität vgl. Reichlin [Anm. 4], S. 52 (Anm. 56). Zu Gabentausch und Reziprozität in mittelhochdeutschen Kurzerzählungen vgl. Noll, Frank J.: Von der Liebe, von der List und vom Erzählen. Liebesgaben und das Erzählschema der Reziprozität in den Mären ›Der Schüler von Paris A‹, ›Der Sperber‹ und ›Das Rädlein‹. In: Liebesgaben in der Literatur des Mittelalters. Hg. v. Egidi, Margreth u. a. Berlin 2012 (Philologische Studien und Quellen 240), S. 291 – 312. Zur Vergeltung als gewalttätiger Reziprozität der Rache vgl. Girard, Ren¦: Das Heilige und die Gewalt. Düsseldorf 2006, S. 29. Zur Reziprozität der Rache grundsätzlich vgl. Stolz, Fritz: Art. Rache. In: Theologische Realenzyklopädie. Hg. v. Müller, Gerhard u. a. Bd. XXVIII Berlin, New York 2007, S. 82 – 88. Eine Differenz zwischen Vergeltung und Rache sieht Beck, Heinrich: Art. Rache. In: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. Hg. v. Beck, Heinrich u. a. Bd. 24. Berlin, New York 2 2003, S. 44 – 47. 12 Vgl. Grubmüller, Klaus: Zum Verhältnis von Stricker-Märe und Fabliau. In: Die Kleinepik

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gurenkonstellation«13. Anders als Bausinger, dessen Beobachtungen sich auf ahistorische Muster schwankhaften Erzählens richten, hat Grubmüller die Kategorie der Revanche konkret für Kurzerzählungen des Strickers in Anschlag gebracht. Strickermären haben Grubmüller zufolge ihr besonderes, genau beschreibbares Profil: Sie sind Erzählungen von modellhaft konstruierten Fällen, in denen mit Hilfe von Handlungspointen nach dem Schwankprinzip (Ordnungsverstoß und ›Revanche‹) vorgeführt wird, wie eine wohlgeordnete Welt funktioniert.14

In seiner Konzeptualisierung knüpft Grubmüller an Bausingers Überlegungen an, schränkt Revanche aber auf die konkrete Funktion der Ordnungsherstellung ein. Im Zuge von Vergeltungsszenarien können in mittelhochdeutschen Kurzerzählungen, so lautet meine These, Verhältnisse zwischen den beteiligten Figuren neu und anders relationiert oder auch gefestigt werden und dabei Machtverhältnisse gesichert, umbesetzt oder erst entworfen werden. Diese Verhältnisse gehen jedoch nicht in den Formen der Umkehr von Machtverhältnissen durch den ›Ausgleichstyp‹ oder der Erweiterung von Machtverhältnissen durch den ›Steigerungstyp‹ des Schwanks auf. Auch zeigen die Texte – so meine ich im Unterschied zu Grubmüller – nicht unbedingt »wie eine wohlgeordnete Welt funktioniert«15, sondern machen vielmehr die Dynamik zwischenmenschlicher Beziehungen deutlich. Weil diese stets ausgehandelt werden und nicht statisch sind, gehen sie mit variablen Machtkonstellationen einher, die zwischen symmetrischen und asymmetrischen Relationen schwanken. Insofern möchte ich den Schwank weiterhin als »Beschreibung sozialer Prozesse«16 verstehen, aber die Dimension der dabei entscheidenden Prozessualität und Variabilität stärker fokussieren, als dies bisher getan worden ist.

13 14 15 16

des Strickers. Texte, Gattungstraditionen und Interpretationsprobleme. Hg. v. Gonzáles, Emilio u. Millet, Victor. Berlin 2006 (Philologische Studien und Quellen 199), S. 173 – 187. Grubmüller [Anm. 12], S. 173. Grubmüller bezieht diese Beobachtung auf die Erzählungen des Strickers, aber mir scheint die reduzierte Figurenkonstellation als Merkmal für die meisten mittelhochdeutschen Kurzerzählungen zutreffend. Grubmüller [Anm. 12], S. 173. Vgl. die fast identische Formulierung hier : Grubmüller, Klaus: Die Ordnung, der Witz und das Chaos. Eine Geschichte der europäischen Novellistik im Mittelalter. Berlin 2006, S. 90. Grubmüller [Anm. 12], S. 173. Vgl. auch Grubmüller [Anm. 14], S. 90. Vgl. Bausinger [Anm. 1], S. 126.

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1.

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Revanche, Rache und Vergeltung

Den Textanalysen möchte ich einen Einblick in die historische Semantik der Begriffe Rache und Vergeltung vor dem Hintergrund des in der Mären- und Novellenforschung verwendeten Revanchebegriffs voranstellen. Als Lehnwort aus dem Französischen hat ›Revanche‹ im deutschen Sprachraum keine bis ins Mittelalter zurückreichende Begriffsgeschichte.17 Im Neuhochdeutschen kann Revanche synonym zu Rache verwendet werden, doch im Gegensatz zur Rache kann mit Revanche – im Sinne von Bausingers Verständnis des Begriffs18 – auch ein spielerisches oder sportliches Ausgleichsmanöver bezeichnet werden. Im Unterschied zur Revanche, die auf sportliche oder spielerisch erfahrene Niederlagen erfolgen kann, zielt Rache darauf, ein nachhaltiges Machtgefälle herzustellen. Rache äußert sich im Üben von »Vergeltung für erlittenes Unrecht«19. Diese Semantik besteht auch schon für das starke mittelhochdeutsche Femininum r–che und die entsprechende starke Verbform rechen.20 Rache wird durch die nachhaltige Erfahrung einer Verletzung, eines Verlustes oder einer Schädigung ausgelöst. Diese Erfahrung wird dadurch erwidert, dass dem Gegenüber, das zur Rache Anlass gegeben hat, wiederum eine Verletzung, ein Verlust oder ein Schaden zugefügt wird.21 In Bezug auf vormoderne Gesellschaften sind Vergeltungsmaßnahmen auf der Basis teleologisch ausgerichteter zivilisationstheoretischer Überlegungen in geistes- und sozialwissenschaftlichen Kontexten lange Zeit vorwiegend als gewalttätige Rachehandlungen konzeptualisiert worden. Grundlegend ist dabei die Vorstellung, dass erst mit der Gewaltenteilung bzw. der Rechtsstaatlichkeit eine Regulierung von Strafaktivitäten erfolgt sei. Diese Vorstellung ist etwa von Norbert Elias aus zivilisationstheoretischer22 oder von Ren¦ Girard aus opfertheoretischer Perspektive23 gestützt worden. Auch wenn die Annahme einer wenig regulierten Rachepraxis in der Vormoderne inzwischen vielfach problematisiert worden ist,24 wirkt sie sich auf Konzeptualisierungen von Rache nach wie vor aus: Eine 17 Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearb. v. Seebold, Elmar. Berlin 231995, S. 683 f. 18 Vgl. Bausinger [Anm. 1], S. 125. 19 Kroeschell, Karl: Art. Rache. In: Lexikon des Mittelalters. Bd. 7. Stuttgart 1999, S. 383. 20 Vgl. Lexer, Matthias: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. 3 Bde. Leipzig 1872 – 1878. Bd. 2, Sp. 331 f u. 359 f. 21 Vgl. Beck [Anm. 11]. 22 Vgl. Elias, Norbert: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. 2 Bde. Frankfurt a. M. 191995. 23 Vgl. Girard [Anm. 11]. 24 Vgl. etwa die aktuelle Untersuchung von Rache als historische Rechtsform der Fehde bei Renz, Tilo: Um Leib und Leben. Das Wissen von Geschlecht, Körper und Recht im Nibelungenlied. Berlin, Boston 2012 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 71).

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zentrale Folie für die Vorstellung von unregulierten und gewaltsamen Rachepraktiken im europäischen Mittelalter stellt das talionische Prinzip dar, welches in der alttestamentarischen Formel »Auge um Auge, Zahn um Zahn«25 deutlich wird und auf körperliche Schädigung bezogen ist bzw. sich durch gewaltsame und destruktive Tendenzen auszeichnet. Vor dem Hintergrund dieser prototypischen Rachevorstellung scheint es nicht verwunderlich, dass Girards innerhalb der Geistes- und Kulturwissenschaften einflussreiche opfertheoretische Überlegungen26 Rache als destruktiven Vorgang konzeptualisieren: Girard beschreibt, dass Rachehandlungen einer reziproken Dynamik folgen und damit eine Kettenreaktion verursachen können, die sich zu einer Spirale von Gewalttaten steigern kann. Dabei könne ein Kreislauf der Vergeltung mit fatalen sozialen Folgen entstehen, denn »[m]it der Häufung der Vergeltungsmaßnahmen wird die Existenz der Gesellschaft insgesamt aufs Spiel gesetzt«27. Die Semantik des starken mittelhochdeutschen Verbs vergelten und des starken mittelhochdeutschen Femininums vergeltunge ist weniger als r–che durch eine destruktive Logik als vielmehr durch den Aspekt der Kompensation bzw. der Reziprozität geprägt. Im Sinne einer reziproken Logik wird beim vergelten eine Handlung mit einer anderen Handlung, eine Gabe mit einer Gegengabe ausgeglichen. Die im Rahmen gabentheoretischer Überlegungen betonte ökonomische Dimension der Vergeltung28 lässt sich auch im Hinblick auf die historische Semantik bzw. Etymologie von vergeltunge und vergelten nachvollziehen: Bereits das althochdeutsche fargeltan und fargeltunga weisen die Bedeutung ›zurückzahlen‹ bzw. ›Rückzahlung‹ auf. Daneben steht die allgemeinere Bedeutung ›ersatz leisten, gegenleistung thun für etwas empfangenes‹. je nachdem das empfangene gutes oder böses war, bedeutet vergelten vergüten oder rächen. die construction ist eine doppelte.29

Die Ausgleichslogik des Vergeltens steht in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit Schädigung, denn nicht nur destruktives, sondern auch produktives Handeln kann vergolten werden. Das wird beispielweise in der sprachlichen Wendung »Vergelt’s Gott« deutlich. Davon ausgehend lässt sich Vergeltung als soziale Dynamik beschreiben, die auf einer reziproken Logik basierend zum Ausgleich zwischen zwei in einem asymmetrischen Verhältnis zueinander stehenden Parteien beitragen soll. Konzeptualisiert man Vergeltung auf diese Weise 25 26 27 28 29

Vgl. 2. Mos. 21,23 – 25; 3. Mos. 24,19 – 20 und 5. Mos. 19,18 – 21. Vgl. Girard [Anm. 11]. Girard [Anm. 11], S. 28. Vgl. die gabentheoretischen Überlegungen von Reichlin [Anm. 4]. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. 16 Bde. in 32 Teilbänden. Leipzig 1854 – 1961. Bd. 25, Sp. 409.

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ausgehend von einer Logik der Kompensation, werden Analogien zum Konzept der Revanche in der Mären- und Novellenforschung deutlich. Wie Revanche ist auch Vergeltung ein reziproker Mechanismus, der nicht zwangsläufig an destruktives Verhalten bzw. nachhaltige Schädigung des Gegenübers gebunden sein muss, sondern asymmetrische soziale Verhältnisse kompensieren soll. Da der Begriff der Rache auf destruktive Vergeltungshandlungen festgelegt ist und der Begriff der Revanche einerseits für das Mittelhochdeutsche nicht belegt ist und andererseits in der Forschung vor allem für die Beschreibung der strukturalen Dimension von Schlag und Gegenschlag verwendet worden ist, möchte ich den Begriff der Vergeltung für die folgenden Textanalysen produktiv machen. Dieser ermöglicht es, ein breites Spektrum sozialer Handlungen zu beschreiben, die darauf abzielen, einen Ausgleich zwischen zwei Parteien herzustellen. Die im Folgenden untersuchten Texte nutzen verschiedene Möglichkeiten, Vergeltungsmechanismen auszugestalten, indem sie Vergeltungshandeln körperlich, sprachlich, aber auch ökonomisch realisieren. Dabei wird sich zeigen, dass auch Vorgänge, die in den Texten mit rechen oder r–che bezeichnet werden, nicht unbedingt an Formen körperlicher Gewalt gebunden sind oder destruktive Dimensionen aufweisen, sondern im Sinne des Vergeltens auf Kompensation bzw. Ausgleich zielen können.

2.

Vergeltungsmechanik: Hans Folz’ »Wiedervergeltung«

In Hans Folz’ ohne Überschrift überlieferte,30 aber unter dem das wesentliche Handlungselement des Textes aufgreifenden Titel »Die Wiedervergeltung«31 edierte Erzählung wird das talionische Prinzip im Kontext eines Ehebruchgeschehens wirksam. In der »Wiedervergeltung« wird erzählt, wie ein Ehemann seiner Ehefrau und ihrem Liebhaber eine Falle stellt, indem er vorgibt, das Haus zu verlassen, sich aber vor der Tür versteckt, um ein Stelldichein der beiden abzupassen und zu belauschen. Während des Liebesspiels der beiden gibt er vor, frühzeitig heimgekehrt zu sein und klopft an die Tür. Zudem lässt er die Ehefrau seines Nebenbuhlers zu sich kommen, indem er ihr die Drohung übermitteln lässt, sie würde ihren Ehemann ansonsten nicht mehr lebendig zu Gesicht bekommen. Die überraschte Ehebrecherin versteckt inzwischen den Liebhaber in 30 Mit Hans Folz’ »Die Wiedervergeltung« und Heinrich Kaufringers »Die Rache des Ehemannes« untersuche ich zwei Erzählungen, in deren – nachträglich hinzugefügten – Titeln Rache bzw. Vergeltung sicherlich deshalb zum Tragen kommen, weil diese offensichtlich von zentraler thematischer Bedeutung für die Texte sind. 31 Im Folgenden zitiert nach: Hans Folz: Die Wiedervergeltung. In: Hans Folz: Die Reimpaarsprüche. Hg. v. Fischer, Hanns. München 1961 (MTU 1), S. 1 – 3. Die Versangaben erfolgen in Klammern im Text. Die Übersetzungen stammen von mir.

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einer Truhe und lässt schließlich ihren Ehemann sowie die inzwischen herbeigeeilte nichtsahnende Frau des Liebhabers ins Haus. Dort fragt der betrogene Ehemann die Frau des versteckten Liebhabers, ob sie ihren Mann lieber tot oder lebendig zu sehen wünsche, […] do antwurt sie Und sprach: »sagt mir, wo er doch sey.« Das det er und sagt ir dabey, Wie er sein weib het hergenomen, Und wie er zu dem schimpf wer komen Und gancz gehört het drum und end Und vor der thur het mussen stend. (V. 36 – 42) Sie antwortete daraufhin: »Sagt mir doch, wo er ist.« Das machte er und sagte ihr auch, wie er mit seiner Frau geschlafen hatte und wie er selbst hinter dieses Treiben gekommen war und alles von vorne bis hinten angehört hatte, während er vor der Tür hatte stehen müssen.

Nach dieser Schilderung der vorangegangenen Ereignisse stellt der betrogene Ehemann die betrogene Ehefrau vor eine Alternative: Entweder sie schlafe mit ihm auf der Truhe, in der ihr Mann liege oder aber er werde ihren Mann umbringen. Während die Frau überlegt, ob sie ihren untreuen Mann vor dem Tod retten soll, bringt der betrogene Ehemann den gefangenen Liebhaber dazu, seine Ehefrau inständig zu bitten, sich für sein Leben einzusetzen, indem er ihn fragt: »Sol dir dein weib dein leben fristen Mit dem, daz ich dir det verkunden, Oder sol ich dich in deynen sunden Durchdringen mit eim gluenden eisen?« Der in der truhen liß sich weisen Und pat sein weib selber durch got, In zu erneren vor dem dot; Er wolltz verdin, plib er pey leben. Allzo het er das urteil geben. (V. 56 – 64) »Soll deine Frau dir dein Leben auf die Weise retten, von der ich dir erzählt habe oder soll ich dich für deine Sünden mit einem glühenden Eisenstab durchstechen?« Der in der Truhe ließ sich das eine Lehre sein und bat seine Frau, ihn um Gottes willen vor dem Tod zu bewahren. Er wollte sich würdig erweisen, wenn er am Leben bliebe. Auf diese Weise hatte er die Entscheidung herbeigeführt.

Diesem urteil (V. 64) entsprechend schlafen die beiden betrogenen Eheleute auf der Truhe, in welcher der Liebhaber sitzt und dem Geschehen zuhören muss, miteinander. Auch die betrügerische Ehefrau muss, wie zuvor ihr Ehemann, dem Geschehen vor der Tür lauschen. Das Ehebruchsereignis wird damit gewissermaßen in neuer Besetzung wiederholt. Der betrogene Ehemann nennt gegenüber der Ehefrau des Liebhabers als Begründung für diese Maßnahme die

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Wiedervergeltung seiner gestohlenen Ehre. Der Vorgang der Wiedervergeltung kann hier auf der Basis der Polysemie von wider (V. 53) sowohl im Sinne der Wiederholung, als auch als Gegenmaßnahme verstanden werden: »[…] Fraw, gept ir ewer gunst darzu, So pleipt euch leben ewer man, Den ich sunst nit kan leben lan; Wan er hat mir mein er gestoln, Die ich mit nicht mer mag erholn, Dan daz ich im vergellte wider.« (V. 48 – 53) »[…] Herrin, wenn Ihr Eure Zustimmung dazu gebt, bleibt Euer Mann, den ich sonst nicht am Leben lassen kann, lebendig. Denn er hat mir meine Ehre gestohlen, die ich auf keine andere Weise wiederherstellen kann, als dass ich ihm das wiedervergelte.«

Die Ehefrau des Liebhabers muss zwischen dem Tod ihres Mannes oder der Vergeltung, bei der sie selbst Ehebruch nach dem talionischen Prinzip begehen muss, wählen. Dabei bleibe die Vergeltung für den Ehebruch, so hat Walter Haug betont, »in Zwang und Schrecken stecken«32. Darin sieht Haug einen wesentlichen Unterschied von Folz’ »Wiedervergeltung« zur achten Novelle des achten Tages aus Giovanni Boccaccios »Decameron«33, welche Folz wohl als Vorlage gedient hat. Ich möchte im Folgenden eine Lesart der Erzählung vorschlagen, welche die Vergeltungshandlung weniger im Hinblick auf »Zwang und Schrecken«34 deutet, sondern vielmehr als eine auf ihre Struktur reduzierte Mechanik versteht, denn die unschuldige Frau des Liebhabers wird zwar ohne Rücksicht auf ihre Situation oder ihre Gefühle für den Vergeltungsmechanismus funktionalisiert, aber gerade darin besteht die spezifische Reduktion auf die wesentliche Mechanik der Revanchelogik: Die Erzählung interessiert sich nicht für die Wahrnehmungen und die Gefühle der Figuren. Nur diejenigen des betrogenen Ehemannes, welche die Vergeltungshandlung auslösen, werden narrativiert. Auch die Folgen der Vergeltungshandlungen werden von der Erzählung, bis auf den Kommentar, dass der Liebhaber schließlich aus der Truhe freigelassen wird, ausgespart.

32 Haug, Walter : Schwarzes Lachen. Überlegungen zum Lachen an der Grenze zwischen dem Komischen und dem Makabren. In: Semiotik, Rhetorik und Soziologie des Lachens. Vergleichende Studien zum Funktionswandel des Lachens vom Mittelalter zur Gegenwart. Hg. v. Fietz, Lothar u. a. Tübingen 1996. S. 49 – 64. Hier : S. 57. 33 Giovanni Boccaccio: Das Dekameron. Mit Holzstichen von Werner Klemke. Von Ruth Macchi nach der von Charles S. Singleton besorgten kritischen Ausgabe aus dem Italienischen übersetzt. 2 Bde. Berlin 1999. 34 Haug [Anm. 32], S. 57.

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Schon oft ist bemerkt worden, dass Folz die Wiedervergeltung ganz anders gestaltet als Boccaccio, der freilich noch eine Schlußkapriole anfügt: Die zwei Paare versöhnen sich hinterher beim Wein, und weil alle das Spiel übers Kreuz eigentlich ganz vergnüglich fanden, beschließen sie, es künftig so weiterzutreiben.35

Bei Boccaccio ist die intakte soziale Beziehung der Figuren, die von Beginn an freundschaftlich verbunden sind, Ausgangs- und Zielpunkt der Erzählung.36 In Folz’ »Wiedervergeltung« wird vor allem auf den Konstruktionsmechanismus, welcher die Vergeltung möglich macht, abgestellt: Das geschickte und planvolle Vorgehen des betrogenen Ehemannes steht im Mittelpunkt der Erzählung. Die sozialen und auch emotionalen Folgen der Vergeltung treten demgegenüber zurück. Weder eine mögliche Versöhnung als Folge des Ausgleichs wie bei Boccaccio noch eine mögliche Eskalation ist dabei von Interesse. »Zwang und Schrecken«37 spart die Erzählung, so meine ich, geradezu aus: Dass neben den beiden Ehebrechern vor allem eine unschuldige Dritte büßen muss, wird nicht thematisiert. Sowohl die Situation der unschuldigen Ehefrau, die zum Ehebruch als Vergeltungsakt quasi genötigt wird, als auch die Frage, inwiefern ein Ehebruch einen vorherigen Ehebruch aufwiegen kann, werden der Kompensationslogik der Wiedervergeltung radikal untergeordnet. Die sozialen Asymmetrien werden zugunsten der retalionischen Symmetrie suspendiert.

3.

Gewaltsame Vergeltung: Heinrich Kaufringers »Rache des Ehemannes«

Nicht viele Texte in der Literatur des Mittelalters bringen den Zusammenhang von Rache und Gewalt so nachdrücklich auf den Punkt wie die unter dem programmatischen Titel38 »Die Rache des Ehemannes«39 bekannte Kurzerzählung Heinrich Kaufringers, die gerade aufgrund ihrer besonderen Drastik zu den 35 Haug [Anm. 32], S. 57. 36 Vgl. Schnell, Rüdiger : Literarische Spielregeln für die Inszenierung und Wertung von Fehltritten. Das Beispiel der ›Mären‹. In: Der Fehltritt. Vergehen und Versehen in der Vormoderne. Hg. v. von Moos, Peter. Köln, Weimar u. a. 2001 (Norm und Struktur 15), S. 265 – 315. Hier: S. 305. 37 Haug [Anm. 32], S. 57. 38 Die Erzählung ist – wie auch die »Wiedervergeltung« – ohne Überschrift überliefert. Vgl. Anm. 30. 39 Im Folgenden zitiert nach: Heinrich Kaufringer : Die Rache des Ehemannes. In: Novellistik des Mittelalters. Märendichtung. Hg., übers. u. komm. v. Grubmüller, Klaus. Frankfurt a. M. 1996 (Bibliothek des Mittelalters 23), S. 738 – 767. Die Versangaben erfolgen in Klammern im Text. Die Übersetzungen stammen von mir.

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von der Mären- und Novellenforschung am meisten beachteten Texten gehört.40 Darin wird – wie auch in der »Wiedervergeltung« – ein Vergeltungsszenario vor der Folie einer Ehebruchshandlung entworfen. Anders als in der »Wiedervergeltung« werden allerdings die sozialen Folgen des Vergeltungsgeschehens dargestellt. Erzählt wird Folgendes: Eine Frau betrügt ihren Ehemann mit einem Pfaffen. Als dieser von seiner Geliebten einen Liebesbeweis einfordert, überzeugt die Frau ihren Mann davon, faulige Zähne zu haben, so dass er sich zwei Zähne ziehen lässt. Diese händigt die Ehefrau dem Pfaffen als Liebespfand aus und der Beschenkte lässt daraus kostbare Würfel anfertigen. Beim Würfelspiel treffen Pfaffe und Ehemann aufeinander. Der Pfaffe trinkt reichlich Wein, erzählt seinem Mitspieler daraufhin unvorsichtigerweise, dass es sich bei den Würfeln eigentlich um Zähne handle und der Ehemann erkennt sich als Betrogenen. Er rächt sich in brutaler Weise für den Betrug, indem er dem Pfaffen das Skrotum abschneidet, daraus einen Beutel anfertigen lässt und diesen dem ursprünglichen Besitzer zum Aufbewahren der Würfel schenkt. Zudem zwingt er den Liebhaber, seiner Frau die Zunge auszubeißen. Schließlich lädt der Ehemann Freunde und Verwandte zu einem Fest ein und erzählt bei dieser Gelegenheit von dem Ehebruchsgeschehen und den Folgen, ohne erkennen zu lassen, dass oder gar inwiefern er und seine Ehefrau daran beteiligt sind. Die Zuhörer urteilen hart über die vermeintlich unbekannte Ehebrecherin und fordern ihren Tod. Als der Ehemann schließlich deutlich macht, dass er der Betrogene und seine Frau die Ehebrecherin aus seiner Erzählung ist, stimmen die Verwandten der Auflösung der ehelichen Gemeinschaft zu und nehmen die Ehefrau bei sich auf. Im Anschluss an Girards Racheverständnis41 lässt sich die Legitimierung der Rache des Ehemanns durch eine metadiegetische Erzählung vor der Verwandtschaft in Kaufringers Text als Maßnahme zur Einschränkung der zuvor in Akten der körperlichen Gewalt sich darstellenden Rachedynamik verstehen. Um den »Teufelskreis der Rache«42 zu bannen, bedürfe es Girard zufolge besonderer Maßnahmen wie Ritualen oder spezieller Institutionen – beispielsweise der Rechtsprechung –, um die eskalative Dynamik der Gewalt zu stoppen bzw. zu unterbrechen.43 Indem die Rachehandlung am Ende der Erzählung Kaufringers 40 Vgl. u. a. Müller, Maria E.: Böses Blut. Sprachgewalt und Gewaltsprache in mittelalterlichen Mären. In: Blutige Worte. Internationales und interdisziplinäres Kolloquium zum Verhältnis von Sprache und Gewalt in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. v. Eming, Jutta u. Jarzebowski, Claudia. Göttingen 2008 (Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung 4), S. 145 – 161; Friedrich, Udo: Metaphorik des Spiels und Reflexion des Erzählens bei Heinrich Kaufringer. In: IASL 21 (1996) S. 1 – 30; Grubmüller [Anm. 14], S. 185 ff. 41 Vgl. Girard [Anm. 11]. 42 Girard [Anm. 11], S. 29 43 Vgl. Hahn, Alois: Schuld und Fehltritt, Geheimhaltung und Diskretion. In: Der Fehltritt.

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einer kasuistischen Logik44 folgend in einen pseudo-juridischen Akt,45 nämlich in die durch Rede des Mannes und das anschließende Urteil der Verwandten gestützte Auflösung der Ehe überführt wird, wird die Dynamik der Rache, so ließe sich im Anschluss an Girard sagen, stillgestellt und ihr destruktives Potential begrenzt. Diese Begrenzung ist maßgeblich an einen Sprechakt gebunden. Der Ehemann gibt den Handlungsverlauf als Erzählung vor den Verwandten so zum Besten, als sei er daran unbeteiligt und [d]iese neutrale Präsentation ermöglicht es, die spontane Reaktion des Publikums als vorauseilende Legitimation der Rache an der Frau zu nehmen und zugleich einen Rahmen zu schaffen, der das Wuchern der Grausamkeiten der (Binnen-) Geschichte einfasst.46

Die Verwandten urteilen über die Ehebrecherin, ohne Klarheit über deren Identität oder die Identität des Betrogenen zu haben. Da sie auf der Basis der Fallschilderung einhellig der Meinung sind, dass die Ehebrecherin die Todesstrafe ereilen müsse, können die Familienmitglieder, als der Mann schließlich enthüllt, dass er selbst der Betrogene und seine Ehefrau die Ehebrecherin aus der Erzählung sind, keine Einwände gegen die im Vergleich zur geforderten Todesstrafe nachsichtige Verstümmelung vorbringen. Der Ehemann entschlüsselt die Erzählung für die Rezipienten und schenkt der Frau – gegen das Urteil der Verwandten – das Leben, löst jedoch zugleich die eheliche Verbindung auf: da sprach der ritter wolgetan: »ich sag ew nun meinen sin, das ich der selb ritter pin, dem die zän sind außgeprochen. doch ist es nit ungerochen, wann darumb das weib verschant Vergehen und Versehen in der Vormoderne. Hg. v. von Moos, Peter. Köln, Weimar u. a. 2001 (Norm und Struktur 15), S. 177 – 202. Hier : S. 184 ff. 44 Vgl. grundlegend zum Kasus Jolles, Andr¦: Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz. Tübingen 71999. Neuere Überlegungen zu kasuistischen Strukturen in der Märenforschung finden sich bei Emmelius, Caroline: Der Fall des Märe. Rechtsdiskurs und Fallgeschehen bei Heinrich Kaufringer. In: LiLi 163 (2011), S. 88 – 113; sowie bei Bleumer, Hartmut: Vom guten Recht des Teufels. Kasus, Tropus und die Macht der Sprache beim Stricker und im Erzählmotiv The Devil and the Lawyer (AT 1186; Mot M 215). In: LiLi 163 (2011), S. 149 – 173. 45 Auf den Rechtscharakter der Metadiegese weisen bereits hin: Grubmüller, Klaus: Das Groteske im Märe als Element seiner Geschichte. In: Kleinere Erzählformen des 15. und 16. Jahrhunderts. Hg. v. Haug, Walter u. Wachinger, Burkhart. Tübingen 1993 (Fortuna vitrea. 8), S. 37 – 54; sowie Friedrich, Udo: Spielräume rhetorischer Gestaltung in mittelalterlichen Kurzerzählungen. In: Geltung der Literatur. Formen ihrer Autorisierung im Mittelalter. Hg. v. Kellner, Beate u. a. Berlin 2005, S. 227 – 249. 46 Kiening Christian: Verletzende Worte – verstümmelte Körper. Zur doppelten Logik spätmittelalterlicher Kurzerzählungen. In: ZfdPh 127 (2008), S. 321 – 335. Hier: S. 334.

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ir zungen hat gelaun ze pfant, die ir der pfaff hat außgepissen. […] nun habt ir die urtail geben, das weib süll darumb ir leben aun genad verlorn haben. die will ich damit begaben, das sie beleib bei dem leben, und ir auch ze pfrönd geben zwaihundert pfund oder mer, das si genzlich von mir ker und bei mir kain beleiben hab. die ee ist zwischen unser ab; das hat si nun wol verschuld. […].« (V. 489 – 509) Daraufhin sagte der edle Ritter : »Ich erkläre euch nun den wahren Sinn meiner Geschichte. Ich bin nämlich der Ritter, dem die Zähne herausgebrochen wurden. Doch das ist nicht ungerächt geblieben, denn dafür hat die schandhafte Frau ihre Zunge als Pfand gelassen. Die hat ihr der Pfarrer ausgebissen. […] Nun habt ihr geurteilt, dass die Frau dafür ohne Gnade ihr Leben verlieren solle. Ich will sie damit beschenken, dass sie am Leben bleiben darf und für ihren Unterhalt zweihundert Pfund oder mehr geben, damit sie vollständig aus meinem Leben verschwindet und nicht bei mir bleibt. Die Ehe zwischen uns ist aufgelöst. Das hat sie verschuldet. […].«

Die Inszenierung des juristischen Akts erweist sich einerseits als Maßnahme zur Eingrenzung der gewalttätigen Vergeltungsmaßnahmen, doch ist andererseits eine perfide Form der Rache, welche die Machtposition des Ehemanns mit sprachlichen Mitteln befestigt. Bevor der Mann die Verwandten durch Sprache zum Todesurteil veranlasst und sich durch Sprache gnädig erweist, wird der Racheakt bereits in besonderer Weise über sprachliche Elemente organisiert: Erst eine Todesdrohung des Ehemannes veranlasst den Pfaffen dazu, der Ehefrau die Zunge abzubeißen. Die Rache wird aber nicht nur durch die Sprechhandlung des Drohens hervorgebracht und mündet in die Sprechhandlung der Begnadigung, sondern hat auch die Zerstörung der Sprachfähigkeit der Ehefrau zufolge, die vom Text wiederholt und ausgesprochen prominent inszeniert wird: die fraw was in der stumen schar. si sprach: »läll läll« und anders niht; das was da irer sprache pflicht. »läll läll läll läll« schrai si ser. anders kunt si nit reden mer. si lief hain in grimigem muot. zuo ir sprach der ritter guot: »wannen laufest her so schnäll?« zuo im sprach si: »läll läll läll läll.« (V. 396 – 404)

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Die Frau gehörte zu den Stummen. Sie sagte: »Läll, läll«, und weiter nichts, das war nun ihre Art zu sprechen. »Läll, läll, läll, läll«, schrie sie verletzt. Sie konnte nichts anderes mehr sagen. Sie lief wütend nach Hause. Der gute Ritter fragte sie: »Seit wann kommst Du so schnell hierher gelaufen?« Sie antwortete ihm: »Läll, läll, läll, läll.«

Auf die in der Inszenierung des Lallens formal zugespitzte Relevanz des Sprechens ist in der Forschung verschiedentlich hingewiesen worden.47 Dabei ist betont worden, dass in der Ausgestaltung des Lallens Gewalt und Sprache bzw. Sprachverlust überblendet48 und damit in sehr pointierter Weise enggeführt werden. Das Lallen der Ehefrau wird als Bußhandlung für ihr ehebrecherisches Handeln bezeichnet: Die fraind underwunden sich des armen weibes da vil schnäll. die sprach nichtz dann: »läll läll läll.« also puost si ir missitat. damit di red ain ende hat. (V. 512 – 516) Die Verwandten nahmen die arme Frau daraufhin sehr schnell bei sich auf. Die sagte nichts weiter als: »Läll, läll, läll.« Auf diese Weise büßte sie für ihre Missetat. Damit ist diese Erzählung beendet.

Mit der sozialen und räumlichen Trennung der Eheleute kommt die destruktive Dynamik der Rache zwar an ein Ende, doch die Auswirkungen der Gewalt sind nicht mehr rückgängig zu machen: Die in physischer wie in sozialer Hinsicht destruktiven Folgen der Rache des Ehemanns werden im Sprachverlust bzw. im Lallen als einer auf Dauer gestellten Bußleistung, die auffällig mit der in der Binnenerzählung sich zeigenden Sprachmacht49 des Mannes kontrastiert, nochmals offenkundig. Hier zeigt sich, dass das Vergeltungsgeschehen nicht in einer Ausgleichsstruktur im Sinne Bausingers aufgeht.

47 Vgl. u. a. Kiening [Anm. 46], S. 334 f.; Friedrich [Anm. 40], S. 13; Coxon, Sebastian: Laughter and Narrative in the Later Middle Ages. German Comic Tales, 1350 – 1525. Leeds 2008, S. 109. 48 Vgl. Müller [Anm. 40], S. 145. 49 Zum Aspekt der Sprachmacht vgl. Schnyder, Mireille: Schreibmacht vs. Wortgewalt. Medien im Kampf der Geschlechter. In: Mittelalterliche Novellistik im europäischen Kontext. Kulturwissenschaftliche Perspektiven. Hg. v. Chinca, Mark u. a. Berlin 2005 (Beiheift zur ZfdPh 13), S. 108 – 121.

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4.

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Vergeltung als buoze: Strickers »Der arme und der reiche König«

Strickers »Der arme und der reiche König«50 erzählt von einem Herrschaftskonflikt.51 In diesem Kontext wird Vergeltung in Form der Fehde angestrebt und letztlich in buoze überführt. Diese ist im Unterschied zum Sprachverlust, der in der »Rache des Ehemannes« ebenfalls als Bußmaßnahme bezeichnet wird, allerdings weniger Ausweis eines asymmetrischen Verhältnisses, sondern lässt sich vielmehr als Maßnahme verstehen, einen Ausgleich zwischen zwei Konfliktparteien herzustellen, die von Beginn an durch ein asymmetrisches Verhältnis geprägt sind. Allerdings manifestiert sich die buoze, so wird deutlich werden, in Form des Spottens und verdeutlicht damit letztlich die das Vergeltungsgeschehen motivierende Asymmetrie des Verstandes. Der Text erzählt, dass ein an materiellen Besitztümern reicher König sich davon provoziert fühlt, dass der ärmere König des Nachbarreiches viel Verstand und Tapferkeit besitzt. Es will dem reichen jedoch nicht gelingen, den armen König zu besiegen und schließlich stirbt er unverrichteter Dinge. Der Thronfolger des reichen Königs will nach Antritt des Erbes in den Krieg gegen den armen König ziehen, doch seine Ratgeber warnen ihn davor, grundlos eine Fehde vom Zaun zu brechen. Daraufhin findet bzw. erfindet der Thronfolger eine Begründung, um eine Auseinandersetzung zu rechtfertigen: Er habe, so teilt er seinen Ratgebern mit, einen unerfreulichen und bedrückenden Traum vom anderen König gehabt und dadurch ungemach erlitten. Der andere solle ihm huldigen oder er wolle sich rächen: der künic vil zornicl„che sprach: »mir ist ein solch ungemach geschehen von s„nen schulden, ern kome s„n ze m„nen hulden, ich riche ez an im iemer. der r–che erwinde ich niemer, unz ich im s„n Þre benime. mir ist getroumet von ime unsanfte und alsú swære, daz er mir offenbære n–ch m„nen Þren büezen muoz, ode im wirt des niemer buoz, 50 Im Folgenden zitiert nach: Stricker : Der arme und der reiche König. In: Novellistik des Mittelalters. Märendichtung. Hg., übers. u. komm. v. Grubmüller, Klaus. Frankfurt a. M. 1996 (Bibliothek des Mittelalters 23), S. 70 – 81. Die Versangaben erfolgen in Klammern im Text. Die Übersetzungen stammen von mir. 51 Vgl. Friedrich [Anm. 45], S. 237.

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ern müeze haben allen tac den str„t, den ich geleisten mac.« (V. 25 – 38) Der [reiche, N.N.] König sagte sehr zornig: »Durch seine [des armen Königs, N.N.] Schuld ist mir ein solches Leid widerfahren, dass ich es immer an ihm rächen werde, wenn er nicht um Nachsehen bittet. Von der Rache werde ich niemals ablassen, bis ich ihm seine Ehre genommen habe. Ich habe so bedrückend und schwer von ihm geträumt, dass er mir öffentlich für meine Ehre Wiedergutmachung leisten muss oder es wird ihm niemals vergeben und er muss für alle Zeiten den Kampf erleben, den ich zu leisten imstande bin.«

Obwohl seine Ratgeber von dieser Begründung nicht überzeugt sind, lässt der reiche dem armen König durch einen Boten die Fehde ankündigen.52 Der arme König lässt ausrichten, dass er nicht verstehe, woher der Hass auf ihn rühre, da er den anderen nicht willentlich gekränkt habe, aber nach Klärung der Angelegenheit gerne Wiedergutmachung oder Genugtuung zu leisten bereit sei. Er veranschlagt zu diesem Zweck einen Gerichtstermin am Grenzfluss der beiden Reiche. Dort solle der reiche König seine Klage vortragen und er wolle ihm anschließend der Rechtslage entsprechend büezen. Am Gerichtstag lassen die beiden Kontrahenten ihre mitgebrachten Streitkräfte am Flussufer zurück und treffen sich mit wenigen Begleitern auf einer Insel in der Mitte des Flusses. Als der arme König sich nach dem Anlass für die Fehde erkundigt, erzählt der Thronfolger des reichen Königs von seinem Traum und fordert buoze. Der arme König verkündet daraufhin, dem Kläger Recht widerfahren lassen zu wollen und deutet auf die Wasseroberfläche, auf der sich seine am Ufer versammelten Ritter spiegeln. Er bietet an, dass der reiche König alle Ritter, die er im Wasser sehe, gefangen nehmen könne. Der reiche König erkennt, dass man die Spiegelungen weder berühren, geschweige denn wegführen kann und ist über den Spott verärgert. Daraufhin erklärt der arme König, warum die von ihm angebotene Wiedergutmachungsleistung die dem Klagegrund angemessene und gerechte buoze sei: der arme künic sprach dú: »nu h–t ir mir doch verjehen, daz ez in troume s„ geschehen, daz leit, daz ir von mir kleit. s„t ir mir selbe h–t geseit, daz iuch ein schate h–t gemuot, ob daz ein schate widertuot, diu buoze ist eben unde sleht; die sult ir nemen, daz ist reht. 52 Vgl. zur Logik der Fehde in »Der arme und der reiche König« ausführlich: Ragotzky, Hedda: Gattungserneuerung und Laienunterweisung in Texten des Strickers. Tübingen 1981 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 1), S. 122 ff.

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geschiht iu von mir iemer mÞ in deheinem troume alsú wÞ, sú komet aber her ze mir ; die selben buoze vindet ir ze allen z„ten hie bereit. […].« (V. 136 – 149) Der arme König sagte daraufhin: »Nun habt Ihr mir doch gesagt, dass das Leid, dessen Ihr mich anklagt, sich im Traum ereignet habe. Da Ihr mir selbst erzählt habt, dass Euch ein Schatten heimgesucht hat, so macht ein Schatten das ungeschehen. Diese Genugtuung ist passend und angemessen, die sollt Ihr annehmen, das ist rechtens. Wenn Euch von mir jemals wieder in irgendeinem Traum auf diese Art Leid zugefügt wird, so kommt wieder zu mir : Ihr werdet hier zu jeder Zeit dieselbe Wiedergutmachungsleistung angeboten bekommen. […].«

Der reiche König droht mit Rache und fordert buoze. Der mhd. Begriff der buoze, der hier den nhd. Begriffen ›Genugtuung‹ oder ›Wiedergutmachung‹ entspricht, ist von zentraler Bedeutung für den gesamten Text. Rache wird lediglich als Option ins Spiel gebracht, auf die mögliche Uneinsichtigkeit des Gegenübers reagieren zu können. Der buoze geht »immer eine gegenseitige beziehung voraus, die zwischen demjenigen statt findet, der die buße leistet, und demjenigen, dem sie geleistet wird.«53 Entsprechend funktioniert buoze analog zur Rache nach einer Vergeltungslogik, zielt jedoch in eine andere Richtung. Während das büezen vom Beschuldigten, in diesem Fall also vom armen König ausgehen muss, müsste die Rache vom (vermeintlich) Geschädigten ausgehen. Dazu kommt es jedoch nicht, denn der arme König erkennt die Forderung des Thronfolgers an, indem er sich zur Genugtuung bereit erklärt. Allerdings stellt er dem Konzept der buoze, das der reiche König vertritt und das Ausgleich für die vermeintliche Ehrverletzung anstrebt, ein anderes Konzept der Wiedergutmachung entgegen. Dieses verfolgt das Ziel des Ausgleichs vor dem Hintergrund der Rechtmäßigkeit oder Angemessenheit und ist die Basis für die angebotene Ausgleichsleistung: Wie die geträumte Ehrverletzung haben auch die sich im Wasser spiegelnden Ritter einen virtuellen Status, so dass Gleiches mit Gleichem vergolten wird: Die Konfrontation erfolgt auf realer, die Lösung auf rein imaginärer und rhetorischer Ebene. Der politische Konflikt verlagert sich auf das Feld der Bildlichkeit. Jenseits aller rhetorischen Plausibilität und vor aller Metaphorisierung handelt es sich hier um eine Konkurrenz der Repräsentationen: Traumgesicht vs. Spiegelbild.54

53 Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Mit Benutzung des Nachlasses von Georg Friedrich Benecke ausgearbeitet v. Müller, Wilhelm u. Zarncke, Friedrich. Bd. 1. Hildesheim 1963 (Nachdruck d. Ausg. Leipzig 1854), S. 282 – 283. Hier : S. 282. 54 Friedrich [Anm. 45], S. 237.

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Das rhetorisch und strategisch geschickte Agieren bewirkt den Rückzug des reichen Königs. Vom Spott des anderen gekränkt, rückt dieser mitsamt seiner Streitmacht ab: sus wart s„n spoten sú grúz, daz s„n den r„chen verdrúz. der vuor zornicl„che dannen und sagete s„nen mannen vil rehte, daz diu rede was. daz er von spote dú genas, da muose ein wunder ane geschehen. si begunden alle samt jehen: der iemer gedenken solde, wie man im büezen wolde, der kunde niht bezzers vinden. dú muose der künic erwinden. daz wazzer was sú werhaft, hæte er dannoch grœzer kraft, ez hæte der ander wol erwert. (V. 157 – 171) Da wurde sein [des armen Königs, N.N.] Spotten so heftig, dass der reiche [König, N.N.] seiner überdrüssig wurde. Er zog zornig davon und erzählte seinen Leuten genau, was gesagt worden war. Es musste schon mit Wundern zugehen, dass er den darauffolgenden Spott überlebte. Sie stimmten alle überein: Wer immer darüber nachdächte, wie man ihm Wiedergutmachung leisten sollte, der könnte keinen besseren Weg finden. Da musste der [reiche, N.N.] König aufgeben. Das Wasser war so wehrhaft, dass der andere sich verteidigt hätte, selbst wenn er [der reiche König, N.N.] noch mehr Streitkräfte gehabt hätte.

Die mit dem Spott einhergehende Kränkung kann als Vergeltungsmaßnahme verstanden werden, die eine Stillstellung der reziproken Vergeltungsdynamik im Sinne Girards bewirkt. Dem armen König gelingt es durch die virtuelle Entschädigungsangebot für die virtuelle Ehrverletzung, eine militärische Auseinandersetzung zu vermeiden und den Konflikt zu entmaterialisieren. Zugleich lässt sich der Spott aber auch als Vergeltungshandlung verstehen, durch die der zuvor virtuelle Ehrverlust des reichen Königs erst manifest wird. Weil sich das destruktive Potential der Rache nicht physisch entfaltet, kann der reiche König nicht gegen sie in den Kampf ziehen. Dies wird in der Metapher des ›wehrhaften Wassers‹ deutlich: Die Sprache wird dem Typus des Streitgesprächs, in dessen Tradition die Erzählung steht,55 entsprechend als Waffe eingesetzt, die der reiche König ebenso wenig bekämpfen kann wie er zuvor die gespiegelten Ritter gefangen nehmen konnte. 55 Vgl. Friedrich [Anm. 45], S. 237.

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5.

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Sprachliche Vergeltung: Strickers »Ehescheidungsgespräch«

Wie in »Der arme und der reiche König« wird die Vergeltungshandlung auch in Strickers »Ehescheidungsgespräch«56 nicht an konkrete Schädigungen gebunden, sondern vollzieht sich auf der Ebene der Sprache. Im »Ehescheidungsgespräch« wird der Aspekt der sprachlichen Interaktion allerdings noch stärker ausgestaltet als in »Der arme und der reiche König«. »Das Ehescheidungsgespräch« ist eine Ehestandserzählung, wie sie im Œuvre des Strickers häufig zu finden ist. Ein Spezifikum dieser Erzählung ist, dass sie fast ausschließlich aus Figurenreden besteht. Inhalt der Erzählung ist ein Streitgespräch zwischen Eheleuten, das rhetorisch stark stilisiert ist57 und hyperbolische Züge trägt.58 In den ersten fünfzig Versen der Erzählung versucht der Ehemann die eheliche Verbindung aufzukündigen. Daraufhin kommt es zu einer Erwiderung der Ehefrau, die in einer ebenfalls etwa fünfzig Verse umfassenden Rede gekonnt die rhetorischen Mittel aufgreift, die ihr Mann zuvor benutzt hat und damit sein Vorhaben geschickt vereitelt. Schließlich kommt es zu einer Versöhnung, die im Akt des gemeinsamen Singens endet. Die Handlung setzt mit der rhetorischen Frage des Ehemannes an seine Frau ein, ob sie denn wirklich glaube, dass er sein Leben lang mit ihr zusammen bleiben wolle. Natürlich nicht, lautet die bereits implizierte Antwort, die der Sprecher noch einmal nachdrücklich formuliert, um dann anzukündigen, er werde seine Frau in einem Jahr verlassen. Sogleich korrigiert er sich: In vierzig Wochen würden sie sich trennen. Prompt werden daraus dreißig Wochen, dann zwanzig, schließlich sind es nur noch sechzehn usw. bis nur noch zwei gemeinsame Wochen übrigbleiben. Aus Wochen werden Tage und schließlich betont der Mann, nicht einmal einen Tag mit seiner Frau zusammenbleiben zu können, weil sie im so zuwider sei und er beschimpft sie unflätig. Die Rede des Mannes endet mit der Behauptung, dass die Frau so unerträglich sei, dass er ein weiteres Zusammenbleiben nicht überleben werde. Die Frau greift in ihrer unmittelbar folgenden Entgegnung das Mittel des Zählens der in der Zukunft gemeinsam zu verbringenden Zeit auf, verkürzt im Gegensatz zum Mann allerdings nicht nach und nach die angestrebte Dauer der Ehe, sondern verlängert den Zeitraum Schritt um Schritt vom nächsten Tag, über eine Woche, auf zwei, drei, vier Wochen usw. Damit werden die Äußerungen des

56 Im Folgenden zitiert nach: Stricker : Das Ehescheidungsgespräch. In: Der Stricker : Erzählungen, Fabeln, Reden. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Hg., übers. u. komm. v. Ehrismann, Otfrid. Stuttgart 1992 (RUB 8797), S. 143 – 150. Die Versangaben erfolgen in Klammern im Text. Die Übersetzungen stammen von mir. 57 Vgl. Friedrich [Anm. 45], S. 236 f. 58 Vgl. Ehrismann [Anm. 56], S. 265.

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Mannes rhetorisch quasi ›zurückgedreht‹.59 Die Invertierung der rhetorischen Strategie des Ehemannes wird explizit als Rachehandeln ausgewiesen: »[…] du gihest, wie übel ich dir behage, daz wirt an dir errochen: wir s„n noch ensamet zwú wochen. der wochen werdent noch wol dr„, diu vierde woche ist ouch d– b„ und diu vünfte d– zuo. […].« (V. 58 – 63) »[…] Du sagst, wie sehr ich dir zuwider bin. Das wird an dir vollständig gerächt: Wir bleiben noch zwei Wochen zusammen. Es werden wohl noch drei Wochen, auch die vierte Woche kommt hinzu und die fünfte Woche dazu. […].«

Das Verb errechen (V. 59) bezeichnet das vollständige Rachenehmen und wird vor allem in der Heldenepik und dort im Sinne der Blutrache verwendet.60 In Kontext des »Ehescheidungsgesprächs« erfolgt das Rachenehmen jedoch auf unblutige Weise: Entscheidend ist, dass sowohl der Racheanlass als auch die Rachehandlung selbst Sprechhandlungen sind. Am Ende der Rede kommt die Frau mit der Eheschließungsformel ›bis dass der Tod uns scheidet‹ zum Ausgangspunkt des Mannes und zum symbolischen Beginn der ehelichen Gemeinschaft zurück. Die Strategie der Ehefrau besteht darin, die Strategie des Mannes zu invertieren, »bis der Sprechakt, der die Trennung erklärt, aufgewogen ist durch den Gegensprechakt, das erneute Eheversprechen«61: »[…] du bist noch zweinzic wochen hie und zweinzic wochen dar n–ch. dir ist von mir sú g–ch, dune komest nimmer von mir, der tút scheide mich von dir. du muost leisten m„n gebot; ez enmac der t„vel noch got noch al diu werlt wider tuon. ich zebriche dich rehte als ein huon, sprichest einez wort d– wider.« (V. 88 – 97) 59 Vgl. Scheuer, Hans-Jürgen: Schwankende Formen. Zur Beobachtung religiöser Kommunikation in mittelalterlichen Schwänken. In: Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. DFG-Symposion 2006. Hg. v. Strohschneider, Peter. Berlin, New York 2009 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 28), S. 733 – 770. Hier: S. 767. 60 Vgl. Lexer [Anm. 20]. Bd. 1, Sp. 663. 61 Scheuer [Anm. 59], S. 768.

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»[…] Du bist noch zwanzig Wochen hier und danach nochmal zwanzig Wochen. Auch wenn du noch so eilig von mir weg willst, du kommst niemals weg von mir, es sei denn, der Tod scheide mich von dir. Du musst mein Gebot befolgen. Weder der Teufel, noch Gott, noch die ganze Welt kann etwas dagegen tun. Wenn du ein einziges Widerwort gibst, zerbreche ich dich wie ein Huhn.«

Wirksam wird ihre Sprechhandlung durch eine Drohung, die den Mann vor die Alternative ›Ehe oder Tod‹ stellt. Die Drohung greift auf, was der Ehemann ins Spiel gebracht hat – nämlich den möglichen Verlust seines Lebens –, kehrt die Bedingungen des Überlebens jedoch wirkungsvoll um: Nicht die sofortige Trennung, sondern die lebenslange Bindung wird zur einzig möglichen lebenserhaltenden Maßnahme. Die Drohung ist zugleich Höhepunkt der destruktiven Dynamik der Rache und Ausweg aus dieser.62 Durch sie wird der Modus des Streitens wirkungsvoll beendet und neue kommunikative Modi können bzw. müssen entstehen. Der Mann darf keine Widerworte mehr geben, bittet um hulde, entschuldigt seine Rede damit, dass er zuviel getrunken habe, zeigt sich bußbereit und lobt seine Frau in den höchsten Tönen. Die Frau vergibt ihm daraufhin, es folgt eine Versöhnung im Bett und das ganze Geschehen und die Erzählung endet in Gelächter und zweistimmigem Gesang: si sprach: »nu s„ dir vergeben, swaz du ie getæte wider mich.« ies– kusten si sich. hie nam der zorn ein ende. er vie si b„ der hende und w„ste si an ein bette hin. d– ergie ein suone under in, diu grúze vröude mahte. ir ietwederz lahte. Þ daz si schieden von dem bette, si kusten sich ze wette und sungen ein liet ze pr„se in einer húhen w„se. (V. 126 – 138) Sie sagte: »Nun sei dir vergeben, was du jemals gegen mich getan hast.« Sogleich küssten sie sich. Damit wurde der Zorn beendet. Er nahm sie bei den Händen und führte sie zu einem Bett. Da fand eine Versöhnung zwischen ihnen statt, die große Freude machte. Sie lachten beide. Bevor sie aus dem Bett aufstanden, küssten sie sich um die Wette und sangen ein Loblied in den höchsten Tönen.

62 Vgl. zu den Logiken des Drohens: Drohung und Verheißung. Mikroprozesse in Verhältnissen von Macht und Subjekt. Hg. v. Heisler, Evamaria u. a. Freiburg i. Br., Berlin u. a. 2007 (Rombach Scenae 5).

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Das implizite Fazit des »Ehescheidungsgesprächs« lautet Haug zufolge: »Mit Brutalität und Sex lösen sich alle Probleme.«63 Dieses Urteil erscheint nicht nur pauschalisierend misanthropisch, sondern greift in Anbetracht der Funktionen des Sprechens, das letztlich in gemeinsames Singen überführt wird, auch zu kurz: Den gemeinschaftlichen Gesang am Erzählschluss hat Hans-Jürgen Scheuer als »Überschreitung allen weltlichen Handelns, selbst des sprachlichen«64 verstanden und als hymnisches Gotteslob interpretiert.65 Auch wenn eine solche Lesart bei dieser Erzählung, die nicht explizit auf Formen religiöser Kommunikation anspielt, nicht unmittelbar einleuchtet, ist die Beobachtung, dass im Akt des Singens die Möglichkeiten des sprachlichen Handelns überschritten werden, von zentraler Bedeutung. Ich schlage vor, sie als soziale Logik im Rahmen kommunikativer Dynamiken zu verstehen: Weil das sprachliche Handeln die Grundlage für Reziprozität zwischen den Figuren, nämlich die eheliche Beziehung, aufrecht erhält, überschreitet die Rede die reziproke Dynamik der Rache. Das gemeinschaftliche Singen wiederum überschreitet die reziproke Dynamik der Rede, weil es die Stimmen, die sich im Gespräch abwechseln müssen, verschmelzen lässt. Die abschließende Versöhnung stellt damit einen Ausgleich zwischen den Figuren her.

6.

Vergeltung als Tauschgeschäft: »Der Sperber«

In der anonym überlieferten Erzählung »Der Sperber«66 erscheint der Vorgang des Vergeltens als Tauschgeschäft und als Verführungsstrategie.67 Dabei wird nicht entsprechend des talionischen Prinzips Gleiches mit Gleichem vergolten, 63 Haug, Walter: Schlechte Geschichten – böse Geschichten – gute Geschichten. Oder : Wie steht es um die Erzählkunst in den sog. Mären des Strickers? In: Die Kleinepik des Strickers. Texte, Gattungstraditionen und Interpretationsprobleme. Hg. v. Gonzalez, Emilio u. Millet, Victor. Berlin 2006, S. 9 – 27. Hier : S. 23. 64 Scheuer [Anm. 59], S. 770. 65 Vgl. die Interpretation des Singens vor dem Hintergrund des Minnesangs bei: Strasser, Ingrid: Und sungen ein liet ze pr„se in einer húhen w„se. Zur Frage der höfischen Elemente in den Ehestandsmæren des Stricker. In: ABäG 15 (1980), S. 77 – 107. Hier: S. 96. 66 Im Folgenden zitert nach: Der Sperber. In: Novellistik des Mittelalters. Märendichtung. Hg., übers. u. komm. v. Grubmüller, Klaus. Frankfurt a. M. 1996 (Bibliothek des Mittelalters 23), S. 568 – 589. Die Versangaben erfolgen in Klammern im Text. Die Übersetzungen stammen von mir. 67 Vgl. die zentralen Überlegungen zur poetologischen und semiotischen Dimension des Textes, auf die ich hier nicht näher eingehen kann, bei Schausten, Monika: Wissen, Naivität und Begehren. Zur poetologischen Signifikanz der Tierfigur im Märe vom ›Sperber‹. In: Mittelalterliche Novellistik im europäischen Kontext. Kulturwissenschaftliche Perspektiven. Hg. v. Chinca, Mark u. a. Berlin 2005 (Beiheift zur ZfdPh 13), S. 170 – 191. Zum Gabentausch im »Sperber« vgl. Noll [Anm. 11].

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sondern ein Sperber gegen die Jungfräulichkeit einer naiven Nonne eingetauscht, ohne dass diese den Vorgang der Entjungferung als solchen realisiert. Als sie schließlich in Erfahrung bringt, dass sie bei dem Handel ihre Unschuld verloren hat, versucht sie, diese durch einen Rücktausch wieder herzustellen. Das narrative setting ist durch eine grundlegende Asymmetrie geprägt, die mit der naiven Perspektive der Nonne, welche die Tauschaktivitäten als ausgeglichenes Geschäft wahrnimmt, kontrastiert. Die junge Nonne, die niemals außerhalb ihres Klosters war, sieht von der Klostermauer aus einen Ritter mit einem Sperber vorbeireiten. Sie grüßt den Ritter und zeigt sich von dem Vogel, den sie für einen Singvogel hält, fasziniert. Sie möchte mehr über das Tier erfahren, fragt nach dessen Herkunft und offenbart dabei ihre Naivität. Der Ritter bietet ihr den Vogel zum Kauf an. Da die Nonne über kein Geld verfügt, schlägt der Ritter vor, den Vogel um den Preis ihrer minne zu veräußern. Die Nonne weiß allerdings nicht, was der Ritter mit minne meint: er sprach: »Vil liebiu vrouwe m„n, s„t ir koufes an mich gert, sú nime ich gerne iuwer wert. ich wil in umb iur minne geben! d– sult ir niht wider streben.« dú sprach diu juncvrouwe alsú: »daz tæte ich gerne und wære es vrú. nu enweiz ich leider, waz ir welt. daz ir mir h–t vür gezelt und ez minne h–t genant, daz ist mir leider unbekant. ich weiz niht, waz ez müge s„n. […].« (V. 122 – 133) Er sagte: »Meine verehrte Dame, wenn Ihr den Vogel so sehr von mir zu kaufen begehrt, nehme ich gerne das, was Ihr Wertvolles besitzt. Ich will ihn Euch für Eure Minne geben! Dagegen könnt Ihr nichts haben.« Daraufhin antwortete das Fräulein: »Das würde ich gern und voller Freuden tun. Aber ich weiß leider nicht, was Ihr von mir wollt. Das, von dem Ihr mir erzählt habt und das Ihr Minne genannt habt, ist mir leider unbekannt. Ich weiß nicht, was das sein könnte. […].«

Der Ritter bietet an, ihre minne bei ihr zu suchen, wenn sie ihn lassen würde. Mit diesem Vorschlag zeigt sich die Nonne einverstanden und lässt sich von der Klostermauer herunterhelfen. Der Ritter versteckt sich mit ihr im Gebüsch, sucht die minne und wird fündig, indem er mehrmals mit der Nonne schläft. Diese findet Gefallen an dem Handel und will Vergnügliches mit Nützlichem verbinden: Sie fordert den Ritter mehrfach auf, sich die minne auch ganz zu nehmen. Schließlich wechselt die minne in der Perspektive der Nonne den Be-

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sitzer und dies wird sprachlich realisiert, indem aus ihrer minne seine minne wird: dú sprach diu juncvrouwe sú: »herre, nemet iur minne gar, daz ich iu rehte mite var, daz ich mich iht versünde, und merket, waz ich iu künde: swer ein dinc gewinnet und sich des versinnet, daz ers niht gar vergolten h–t, daz ist ein michel misset–t. nemet der minne, swie vil ir welt! ich h–n daz harte wol gezelt, daz ich iuch niht h–n gar gewert. nemet der minne, swie vil ir gert! s„t ich mit minne gelten sol, sú getr˜we ich iu vergelten wol. geltes bin ich iu bereit.« (V. 174 – 189) Da sagte die junge Dame folgendes: »Herr, nehmt Eure Minne ganz, damit ich Euch auch gerecht werde und mich nicht versündige. Und passt auf, was ich Euch sage: Wer eine Sache erwirbt und darauf abzielt, das nicht vollständig abzugelten, das ist eine schlimme Missetat. Nehmt von der Minne, soviel ihr wollt! Ich habe genau mitgezählt, dass ich Euch noch nicht ganz entschädigt habe. Nehmt von der Minne, soviel ihr begehrt. Da ich mit Minne zahlen soll, traue ich mir zu, Euch gut zu entschädigen. Ich bin bereit, zu zahlen.«

In der Rede der Nonne wird die ökonomische Dimension des Tauschgeschäfts ›minne gegen Sperber‹ durch unterschiedliche Flexionsformen der Verben vergelten (V. 181 und V. 188), den Infinitiv gelten (V. 187) und den Genitiv geltes (V. 189) markiert.68 Dabei ist ein komischer Effekt der Naivität, dass auf sündhaftes Verhalten angespielt wird (V. 177), dieses allerdings allein auf das ökonomische Register bezogen wird und damit in Kontrast zum sexuellen Handeln steht. Die Nonne ist über das in ihren Augen gute Geschäft erfreut und in dieser Hinsicht stimmt sie mit dem Ritter überein. Die Naivität der Nonne überbrückt hier die unterschiedlichen Lebenswelten69 und die damit einhergehende asymmetrische Wissensverteilung im Hinblick auf Minnediskurse und Minnepraktiken für einen Moment, denn auch der Ritter ist mit dem Geschäft zufrieden:

68 Vgl. den Hinweis auf die wiederholte Verwendung des Verbs gelten bei Reichlin [Anm. 4], S. 91 (Anm. 41). 69 Vgl. Schausten [Anm. 67], S. 179.

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der ritter hübesch und gemeit suochte aber die minne, unz in d˜hte in s„nem sinne, daz im s„n sperwære vil wol vergolten wære. im sagete ouch daz herze s„n, daz nie dehein vogel„n würde baz vergolten vor noch sider. (V. 190 – 197) Der lebensfrohe und kluge Ritter suchte erneut nach der Minne, bis es ihm schien, dass ihm sein Sperber sehr gut vergolten worden sei. Sein Herz sagte ihm, dass niemals zuvor oder danach ein Vöglein besser vergolten sein würde.

Als die Nonne nach Abschluss des Tauschgeschäfts allerdings ihrer Oberin von den Ereignissen erzählt, ist diese aufgrund der verlorenen Jungfräulichkeit ihres Schützlings erzürnt. Die junge Nonne wird von der alten beschimpft und geschlagen und möchte den Tausch nun rückgängig machen, um ihre Jungfräulichkeit wiederzuerlangen. Als sie den Ritter erneut sieht, bittet sie ihn, ihr ihre minne zurückzugeben und den Sperber dafür zurückzunehmen. Der Ritter kommt dieser Bitte gerne nach und geht auch bereitwillig auf ihre Forderung ein, die minne dreimal zurückzugeben, weil er sie ihr schließlich auch dreimal genommen habe: ir h–t mir vergolten niht wan zwir / und n–met m„n minne dr„ stunt (V. 304 f.). Nachdem die ›Rückgabe‹ dreimal erfolgt ist, berichtet die junge Nonne ihrer Oberin davon, nun glücklicherweise ihre Unschuld wiedererlangt zu haben und die Alte resigniert aufgrund der Naivität der Jungen. Dass der Text in besonderer Weise die von der weiblichen Protagonistin angestrebten Kompensationslogik mit der durch den Tausch erzeugten Ungleichheit kontrastiert, hat Susanne Reichlin betont, indem sie darauf hingewiesen hat, dass der Verkauf der Jungfräulichkeit nicht mehr rückgängig gemacht werden kann.70 Die Nonne, so beschreibt Reichlin die für die Erzählung grundlegende Asymmetrie, »beharrt beim sexuellen Vollzug auf der Reziprozität und überschreitet gerade dadurch die reziproke Tauschlogik«71. Der Schwank erzeuge »seine Pointen mittels des vordergründigen Rückgängigmachens des irreversiblen Tauschaktes«72, denn während die junge Nonne die Vergeltungshandlung als reziproke Interaktion versteht und sogar auf der Logik einer Rückgängigmachung auf der Basis des talionischen Prinzips beharrt, ist für die weiteren Figuren wie auch die Rezipienten die Asymmetrie des Tauschgeschäfts offenkundig. Die Erzählung entwirft ein Szenario, in dem die als Tauschmedium auf einen einmaligen Einsatz begrenzte Jungfräulichkeit mit der Möglichkeit, 70 Reichlin [Anm. 4], S. 234. 71 Reichlin [Anm. 4], S. 228. 72 Reichlin [Anm. 4], S. 91.

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Geschlechtsverkehr beliebig oft zu wiederholen und damit beliebig oft als Tauschmedium einzusetzen, zugleich überblendet und kontrastiert wird. Damit verweist der Text auf die Möglichkeiten, aber auch auf die Grenzen einer ökonomischen Vergeltungslogik. Die Beziehung der Figuren bleibt während des gesamten Geschehens statisch, die soziale Variabilität scheint hier abgelöst durch die Variabilität ökonomischer Vergeltungsprozesse.

7.

Fazit

Es hat sich gezeigt, dass mittelhochdeutsche Kurzerzählungen soziale Verhältnisse im Kontext von Vergeltungsszenarien ganz unterschiedlich ausgestalten und dabei dynamische Machtkonstellationen in unterschiedlichen Besetzungen zwischen den Figuren entwerfen. Die untersuchten Erzählungen weisen vielfältige Formen von sozialen Beziehungen, aber auch von Vergeltungshandlungen auf. Deren Diversität würde ausgeblendet werden, wenn man sie mithilfe der Kategorien »Ausgleich« oder »Steigerung« im Sinne Bausingers typisieren oder im Hinblick auf das Verhältnis von »Ordnungsverstoß und Revanche« im Sinne Grubmüllers festlegen würde: Neben der vor allem körperlich ausgerichteten Vergeltung in der »Wiedervergeltung« und der »Rache des Ehemannes«, wird in »Der arme und der reiche König« und im »Ehescheidungsgespräch« Vergeltung maßgeblich auf der Basis sprachlicher Handlungen geübt und im »Sperber« schließlich steht Vergeltung als ökonomischer Prozess im Fokus. Dabei ergeben sich allerdings auch mannigfaltige Überscheidungen körperlicher, sprachlicher und ökonomischer Interaktionsformen: In der »Wiedervergeltung« wird eine Drohung als sprachliches Verfahren eingesetzt, um das körperliche Vergeltungsgeschehen zu motivieren. Auch in der »Rache des Ehemannes« wird die Rache zwar in Form körperlicher Gewalt ausgeübt, doch ist sie durch die Binnenerzählung des Ehemannes und den durch eine Drohung verursachten Verlust der Sprachfähigkeit auf vielfältige Weise mit dem Medium der Sprache verknüpft. Obwohl »Der arme und der reiche König« und »Das Ehescheidungsgespräch« Vergeltung eng an sprachliche Handlungen knüpfen, wird in beiden Erzählungen körperliche Gewalt angedroht und damit als Handlungsmöglichkeit ins Spiel gebracht. Im »Sperber« ist die Tauschhandlung an die körperliche Dimension des Geschlechtsverkehrs gebunden und steht in engem Zusammenhang mit dem rhetorischen Geschick des Ritters, der sich die Naivität der Nonne in Bezug auf die Semantik von minne zunutze macht. Wenn auch in unterschiedlichem Maße, wird Vergeltung in allen untersuchten Texten mittels Formen verbaler Interaktion umgesetzt. Dabei lässt sich die

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Funktion der Sprache in Bezug auf die Vergeltung in den untersuchten Texten als doppelte verstehen: Kulturwissenschaftliche Arbeiten zum Verhältnis von Sprache und Gewalt73 haben hervorgehoben, dass sprachliche Handlungen destruktive Potentiale aufweisen können und zeigen, wie diskriminierende Äußerungen, Beleidigungen oder Beschimpfungen diese Potentiale ausnutzen.74 In den letzten Jahren sind mit Bezug auf Judith Butlers »Haß spricht«75 aber auch zunehmend Differenzen von sprachlicher und körperlicher Gewalt diskutiert worden. Dabei ist betont worden, dass mit Sprache zwar einerseits Gewalt ausgeübt werden kann, aber Sprache andererseits auch Mittel zur Verfügung stellt, Gewalt zu bannen.76 Eine ähnliche Zweipoligkeit der Sprache ist, so meine ich, auch für die Darstellung von Vergeltung in den untersuchten mittelhochdeutschen Kurzerzählungen kennzeichnend: Sprache kann hier als Medium funktionalisiert sein, das zu asymmetrischen Machtverhältnissen beiträgt, doch Sprache kann ebenso dazu eingesetzt werden, diese umzukehren oder aufzulösen und einen Ausgleich der Verhältnisse herbeizuführen. Die »Reziprozität der Vergeltungsmaßnahmen«77 in mittelhochdeutschen Kurzerzählungen erweist sich nicht nur als eindimensional gemeinschaftsgefährdend oder destruktiv im Sinne Girards, sondern als Möglichkeit, ein breites Spektrum sozialer Relationen und Machtkonstellationen zu entfalten und als dynamische Verhältnisse aufzuschließen. An die Stelle der »sozialen Opposition«78, die nach Bausinger als narrative Grundstruktur des Schwanks zu verstehen ist, rückt vor diesem Hintergrund die Darstellung des Schwankens sozialer Beziehungen. Neben der Variablität sozialer Beziehungen illustrieren die Texte auch die Variabilität des Interaktionsverfahrens der Vergeltung. Indem sie Vergeltung in 73 Zum Verhältnis von Gewalt und Sprache in Bezug auf mittelhochdeutsche Kurzerzählungen vgl. etwa Kiening [Anm. 46]; Müller [Anm. 40]; Schnyder [Anm. 49]. Vgl. zum Zusammenhang von Sprache und Gewalt in der Literatur des Mittelalters im Allgemeinen folgende Sammelbände: Blutige Worte. Internationales und interdisziplinäres Kolloquium zum Verhältnis von Sprache und Gewalt in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. v. Eming, Jutta u. Jarzebowski, Claudia. Göttingen 2008 (Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung 4); sowie Gewalt in der Sprache. Rhetoriken verletzenden Sprechens. Hg. v. Krämer, Sybille u. Koch, Elke. München 2010. 74 Exemplarisch sei hingewiesen auf Herrmann, Steffen K. u. Kuch, Hannes: Symbolische Verletzbarkeit und sprachliche Gewalt. In: Verletzende Worte. Zur Grammatik sprachlicher Missachtung. Hg. v. Herrmann, Steffen K. u. a. Bielefeld 2007, S. 179 – 210. 75 Butler, Judith: Haß spricht. Zur Politik des Performativen. Berlin 1998. 76 Vgl. Krämer, Sybille: Humane Dimensionen sprachlicher Gewalt oder : Warum symbolische und körperliche Gewalt wohl zu unterscheiden sind. In: Gewalt in der Sprache. Rhetoriken verletzenden Sprechens. Hg. v. Krämer, Sybille u. Koch, Elke. München 2010, S. 21 – 42. 77 Girard [Anm. 11], S. 39. 78 Bausinger [Anm. 1], S. 128.

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unterschiedlichen figuralen Besetzungen, Handlungsformen und thematischen Ausgestaltungen darstellen, formulieren die Texte ein ganzes Spektrum an Verlaufsalternativen: Handlungsmuster der Vergeltung erscheinen nicht auf einen bestimmten Verlauf festgelegt, sondern erweisen sich als Skript, das für vielfältige Möglichkeiten der Interaktion anschlussfähig ist. Insofern können schwankhafte mittelhochdeutsche Kurzerzählungen als Erzählformen verstanden werden, die auf der Basis des Neu- und Umerzählens Handlungs- und Interaktionsalternativen narrativieren. Im Modus des Wiedererzählens muss eigentlich keine Alternative »abgewiesen«79 werden, denn tendenziell kann jede Alternative in einer neuen Variante der Ausgestaltung des zugrundeliegenden Interaktionsverfahrens erzählt werden.

79 Vgl. Hasebrink [Anm. 9]; Strohschneider [Anm. 10]; Müller [Anm. 10]; Schulz [Anm. 10].

Sebastian Möckel

Metamorphosen des Zorns. Ovids Racheerzählungen in Mittelalter und früher Neuzeit

1.

Einleitung

Rache geht immer. Mag ein solch trivial erscheinendes Diktum zunächst nach einer gut gemeinten Anleitung zum Verfassen erfolgreicher Fernsehformate klingen, so verweist es doch auf nicht weniger als eines der produktivsten und nachhaltigsten Erzählmotive abendländischer Kultur. Das Archiv erzählter Rache mit seinen vielfältigen Anlässen, Konfliktszenarien, Figurationen und Handlungsketten ist seit der Antike prall gefüllt, wie unlängst Peter Sloterdijk nachgezeichnet hat.1 Darin wird, wenn auch kulturell und historisch je unterschiedlich gefärbt, Rache als anthropologische Urform von Handlung, als »thymotische« Energie, verstanden, die sich in nahezu jegliche soziale und kulturelle Handlungen einschreibt. Für das Projekt einer Kulturgeschichte der Rache wäre der Ausgangspunkt wohl in die Antike zu legen, die eine Fülle faszinierender Rache-Imaginationen hervorgebracht hat. Wenn es im Folgenden um die »Metamorphosen« Ovids und ihre Transformationen2 in Mittelalter und Früher Neuzeit geht, scheint das vor allem deshalb plausibel, da der antike Autor doch seit dem 11. Jahrhundert als einer der wichtigsten Gewährsfiguren der europäischen Kulturgeschichte gilt. Seine Sammlung aus mehr als 250 Verwandlungsgeschichten ist unter mediävistischer Perspektive bislang vor allem als »Who is who«3 antiker Mythen, als Bildspender paganer Göttergeschichten und als Archiv von Exempelerzählungen betrachtet worden.4 Der Aspekt der Rache stand dabei bisher nicht im 1 Sloterdijk, Peter : Zorn und Zeit. Politisch-psychologischer Versuch. Frankfurt/Main 2006, bes. S. 83 – 84 u. passim. 2 Vgl. Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels. Hg. v. Böhme, Hartmut. München 2011. 3 Curtius, Ernst Robert: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern 1954, S. 28. 4 Zur Rezeption und Transformation von Ovid im Mittelalter gibt es hinreichend viele und umfassende Arbeiten. Vgl. exemplarisch Kugler, Hartmut: Ovidius Naso, P. In: VL. Bd. 7. Berlin/New York 1989, Sp. 247 – 273, zuvor bereits Stackmann, Karl: Ovid im deutschen

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Mittelpunkt, was insofern verwundert, als dass der Text eine Fülle höchst unterschiedlicher Inszenierungen von Zorn und Vergeltung entwirft. Die folgenden Überlegungen können zu diesem Thema einen exemplarischen Einblick und darin einen Ausblick auf weitere lohnende Untersuchungen vermitteln. Ovids »Metamorphosen« sind in zweifacher Weise der nachantiken Rezeption zugänglich geworden: einerseits in der Form des literarischen Textes, andererseits in einer intensiven und expansiven Kommentierungspraxis, die bereits in der Spätantike ihren Ausgang nahm und bis in das 17. Jahrhundert reichte. Fragt man also danach, wie Ovid Rache erzählt, so ist für das Mittelalter und die Frühe Neuzeit unbedingt hinzuzufügen: Wie wurden seine Erzählungen verstanden und interpretiert? Die deutsche Übersetzung der »Metamorphosen« bindet beide Traditionen auf signifikante Weise zusammen und steht im Mittelpunkt der nachfolgenden Ausführungen. Albrecht von Halberstadt hatte um 1200, wahrscheinlich im Umkreis des Thüringer Hofes, die erste volkssprachliche Übersetzung des paganen Textes in Europa verfertigt.5 Seine Übersetzung ist bis auf wenige Fragmente nicht mehr erhalten geblieben. Dreieinhalb Jahrhunderte nach ihm hat allerdings Georg Wickram seine Übersetzung überarbeitet und mit eigenen Illustrationen für den Druck eingerichtet. Über den Umfang der Transformationen von Albrechts Text durch Wickram lässt sich nur punktuell und zudem nur sehr wenig aussagen.6 Entscheidend ist nunmehr, dass Mittelalter. In: Arcadia 1 (1966), S. 231 – 254 oder jüngst Dimmick, Jeremy : Ovid in the Middle Ages: authority and poetry. In: The Cambridge Companion to Ovid. Hg. v. Hardie, Philip. Cambridge 2002, S. 264 – 287. Einen fundierten Überblick über den mittelalterlichen Umgang mit antiker Literatur insgesamt vermittelt Kern, Manfred: Einführung in Gegenstand und Konzeption. In: Lexikon der antiken Gestalten in den deutschen Texten des Mittelalters. Hg. v. dems. u. Ebenbauer, Alfred unter Mitwirkung von Krämer-Seifert, Silvia. Berlin, New York 2003, S. IX – XCI, insbes. der Abschnitt I »Antikenrezeption im Mittelalter und in der deutschen Literatur«. 5 Vgl. Stackmann, Karl: Albrecht von Halberstadt. In: VL. Bd. 1, Sp. 187 – 191. 6 Das genaue Verhältnis der beiden Fassungen kann hier nicht diskutiert werden. Vgl. dazu Neumann, Friedrich: Meister Albrechts und Jörg Wickrams Ovid auf Deutsch. In: Beiträge (PBB) 76 (1955), S. 321 – 389 sowie Rücker, Brigitte: Die Bearbeitung von Ovids Metamorphosen durch Albrecht von Halberstadt und Jörg Wickram und ihre Kommentierung durch Gerhard Lorichius. Göppingen 1997. Allgemein lassen sich drei wesentliche Änderungsmotive ausmachen: die Suche nach einem Reimwort, die bessere Lesbarkeit durch Präzisierung sowie der »inhaltliche Ausbau« (Rücker, S. 108). Unstrittig ist sicher eine im Einzelfall durchaus weit reichende Höfisierung des antiken Textes durch Albrecht, die aber angesichts der Fremdheit der heidnischen Welt problematisch bleibt: »Zwar hat Albrecht viel Mühe darauf verwandt, etwas vom höfisch-galanten Geist des zu seiner Zeit modernen Romans in die Dichtung Ovids hineinzutragen; aber die Anpassung musste notwendig Stückwerk bleiben« (Stackmann [Anm. 4], S. 239). Zur Fremdheit schon Neumann, S. 387. Auch wenn ein Fragment des Albrecht-Textes einen Textabschnitt der Philomela-Metamorphose umfasst, eröffnen sich leider keine Möglichkeiten eines philologischen Vergleichs hinsichtlich der Rache-Logik der Erzählung, da sich der Textabschnitt auf den Anfang des Mythos beschränkt, wenn Philomela an den Hof Pandions kommt. Daher ist es nicht mehr möglich, etwaige

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der frühneuzeitlichen Fassung ein moralisierender Kommentar des Geistlichen Gerhard Lorichius eingelegt ist. Das Werk – »P. Ovidii Nasonis Deß Aller Sinnreichsten Poeten Metamorphosis / Das ist von der wunderbarlicher Verenderung der Gestalten der Menschen / Thier und anderer Creaturen […] Jetz erstlich gebessert und mit Figuren der Fablen gezirt durch Georg Wickram zu Colmar […], Mainz 1545«7 – steckt damit ein textuelles und interpretatorisches Feld ab, in dem die antiken Imaginationen von Rache in die Frühe Neuzeit übertragen worden sind. Wenn ich also im Folgenden von den Rache-Erzählungen Ovids spreche, dann meine ich sie zuerst in der Gestalt von Wickrams Übersetzung.8 Zunächst werde ich einen knappen Arbeitsbegriff von Rache skizzieren. Anhand von drei Beispielen aus den »Metamorphosen« – Acteon, Philomela und Myrrha – werde ich unterschiedliche Aspekte der Erzählung von Rache bei Ovid herausarbeiten. In einem letzten Schritt soll dies mit der entsprechenden Kommentierung kontrastiert werden.

2.

Gegenstand: Rache und Erzählung

Rache als Gegenstand (literatur-)wissenschaftlicher Betrachtungen ist trotz oder gerade wegen ihrer Ubiquität schwer zu bestimmen. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass sie emotives Erleben des Einzelnen mit sozialem und juridischen Handeln zu komplexen Figurenkonstellationen und Szenarien verbindet. Innerhalb der Emotionsforschung ist Rache wenig ausgeleuchtet worden, allerdings erhält sie innerhalb der Theorien des Zorns eine entscheidende funktionale Bestimmung. Versteht man Zorn nicht nur als momentanes physiopsychologisches Geschehen, sondern eher als »anger process«,9 dann kommt Rache als unabweisbare Folgeerscheinung in den Blick, wie sich bereits mit Aristoteles formulieren lässt: »Es soll also Zorn ein mit Schmerz verbundenes Streben nach einer vermeintlichen Vergeltung sein für eine vermeintliche Herabsetzung einem selbst oder einem der Seinigen gegenüber von solchen, denen Höfisierungen innerhalb des Rachegeschehens durch Albrecht zu bestimmen. Zur Person Georg Wickrams vgl. einführend Kleinschmidt, Erich: Jörg Wickram. In: Deutsche Dichter der frühen Neuzeit (1450 – 1600). Hg. v. Füssel, Stephan. Berlin 1993, S. 494 – 510. Die Möglichkeit eines genauen Textvergleichs bietet die Übersicht über die Fragmente Albrechts und den entsprechenden Passagen bei Ovid und Wickram in Rücker, S. 344 – 379. 7 Ich zitiere nach der Ausgabe Georg Wickram: Sämtliche Werke. Hg. von Roloff, Hans-Gert. Bd. 13: Ovids Metamorphosen. Berlin, New York 1990, zitiert als Wickram. 8 Signifikante Abweichungen Wickrams werden im Vergleich mit dem antiken Text verdeutlicht. Zur besseren Unterscheidung behalte ich die Namensform Wickrams bei und verwende, so sie differiert, die klassische Schreibung nur in Bezug auf den antiken Text. 9 Schiemann, Scott: Anger. In: Handbook of the Sociology of Emotions. New York 2006, S. 494 – 515, hier S. 494.

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eine Herabsetzung nicht zusteht« (Rhet. 1378a).10 An die antike Verkettungslogik schließt ebenfalls Sloterdijk an, wenn die Rache als »Projektform des Zorns« bezeichnet.11 Auch die mittelalterliche Philosophie der Emotionen verortet Rache innerhalb des Zorns (ira), der ›Reinform‹ des zornmütigen (irasciblen) Begehrens, wie es etwa bei Thomas von Aquin in der »Summa theologica« formuliert ist.12 Dabei kommt es zu deutlichen Differenzierungen des Zorns zwischen eruptiven und langwelligen Formen, die er im Rückgriff auf Nemesios von Emesa als fel, mania, furor unterscheidet. Nur der furor ist dabei auf die Rache ausgerichtet: »furor autem est ira observans tempus in vindictam« (STh I – II q. 46, art. 8).13 Rache ist dabei Teil eines komplexen emotionalen Geschehens: »Zorn scheint zum Beispiel mehrere Emotionen zugleich einzuschließen: Zorn ist sowohl Trauer über ein erfahrenes Übel als auch das Verlangen nach Rache und Wiedergutmachung«.14 An dieser Stelle, wo die Passion des Zornes übergeht in eine Vergeltungshandlung, setzen seit der Stoa vielfach therapeutische Strategien ein, die einerseits den Zorn in seiner sozialen Funktion abwerten, andererseits insbesondere die Vergeltung rational einzudämmen suchen.15 Dies ist auch nachhaltig in die christlichen Aneignungen übergegangen: »The best way of learning to repress anger is by recalling the humility of Christ and holy men.«16 Wie immer auch Zorn und Rache in der Philosophie der Emotionen bewertet wurden, ihre funktionale Kopplung erscheint evident. Es wundert daher wenig, dass eine solche komplexe Struktur besonders mit Theorieansätzen veranschaulicht wird, die sich narrativer Modellierungen und/oder theatraler Meta10 Aristoteles: Rhetorik. Übersetzt und erläutert von Christof Rapp. Berlin 2002. Erster Halbband, S. 73. 11 Sloterdijk [Anm. 1], S. 98. 12 Grundlegend zur Philosophie der Emotionen Knuutilla, Simo: Emotions in Ancient and Medieval Philosophy. Oxford 2004. Zum mittelalterlichen Verständnis von zorn, v. a. bei Thomas siehe auch Brungs, Alexander: Charakteristische Aspekte des Zorns in seiner Darstellung durch Philosophen des Mittelalters. In: Das Mittelalter 14 (2009), Heft 1: Furor, zorn, irance. Interdisziplinäre Sichtweisen auf mittelalterliche Emotionen, S. 28 – 40. 13 Thomas beruft sich explizit auf die bereits bei Nemesius vorgeprägte Differenzierung, der unter |qc^ einen Zorn im Anfangszustand (Unwillen) fasst; mit lgmir einen andauernden, ›veralteten‹ Zorn und mit jotor eben jenen auf Rache gerichteten Zorn. Siehe Dobler, Emil: Zwei syrische Quellen der Theologischen Summa des Thomas von Aquin. Nemesios von Emesa und Johannes von Damaskus. Ihr Einfluss auf die anthropologischen Grundlagen der Moraltheologie. Fribourg 2000, insb. S. 389 f. 14 Pickavé, Martin: Thomas von Aquin. Emotionen als Leidenschaften der Seele. In: Klassische Emotionstheorien. Von Platon bis Wittgenstein. Hg. v. Landweer, Hilge u. Renz, Ursula. Berlin, New York 2008, S. 185 – 204, hier S. 198. 15 So bereits Seneca: »De ira«. Vgl. für die Spätantike und das Mittelalter Knuutila [Anm. 12], v. a. S. 128 – 134. 16 Knuutila [Anm. 12], S. 128. Dies zeigt er insbesondere an den sogenannten kappadokischen Kirchenvätern Basileus, Gregor von Nyssa und Gregor von Nazianz.

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phoriken bedienen. So lässt sich der Zorn- und Rachekomplex als ein »inneres Drama« bezeichnen, in dem typische Konfliktkonstellationen besetzt sind, die eine »dramatische« Handlungsdynamik erzeugen: das »Szenarium von Zorn« zeigt daher vielfach die Struktur erlittenes Unrecht (Kränkung, Leid) – Verurteilung des Anderen – Vollstreckung des Urteils.17 Für Rache dürften sich dementsprechend in Selbstbeschreibung und Beobachtung signifikante paradigmatische Situationen, oder auch »Schlüsselszenarien« ausmachen lassen.18 Ein solches Szenarium liegt auch dem Vorschlag von Christiane Voss zu Grunde, die Emotionen in diesem strukturellen Sinn als narrativ verfasst ansieht.19 Es lohnt nunmehr ein zweiter Blick auf dieses affektive Konfliktszenario der Rache. Zunächst ist Rache situativ disponiert, setzt individuelle Affektivität mit sozialer Handlung in Beziehung und weist antagonistische Rollen innerhalb eines Konfliktes zu. Sie zeichnet sich durch einen mitunter auch langwierigen Verlauf aus, der spezifische Handlungsfolgen evoziert. Es gibt notwendigerweise ein auslösendes Geschehen, das eine affektive Initialstörung bewirkt. Der Schaden, das Unrecht oder die Kränkung, über deren Vielgestaltigkeit bereits Aristoteles Auskunft gibt, ziehen Zorn oder Wut nach sich – »mental as well as physical pain«20. Entscheidend ist dabei die Bewertung des entsprechenden Casus. In einer »Erwiderungsmoral«21, einer emotiven Ausgleichslogik, kann diese Verletzung nur durch Rache – und das heißt seinerseits eine Schädigung oder Kränkung des Urhebers – beantwortet werden. Dieser Ausgleich aber ist, wie Nico H. Frijda deutlich gemacht hat, von einer grundlegenden Asymmetrie bestimmt: »the act of harming that person or group is not designed to repair the harm«.22 Es gibt keine Heilung oder eine Auslöschung der initialen Kränkung durch den Racheakt. Dies liegt daran, dass die 17 Ridder, Klaus: Kampfzorn: Affektivität und Gewalt in mittelalterlicher Epik. In: Eine Epoche im Umbruch. Volkssprachliche Literalität 1200 – 1300. Cambridger Symposium 2001. Hg. v. Bertelsmeier-Kierst, Christa u. Young, Christopher. Tübingen 2003, S. 221 – 248, hier : S. 240 – 246. 18 Zum Konzept des Schlüsselszenarium oder auch paradigm scenario siehe de Sousa, Ronald: Die Rationalität des Gefühls. Frankfurt/Main 1997. De Sousa formuliert dies für Emotionen generell, wenn er davon ausgeht, »daß unsere Gefühle eher erlernt werden, etwa so wie eine Sprache, und daß sie eine wesentlich dramatische Struktur haben.« Sie erhalten ihre Bedeutung »aufgrund ihrer Beziehung zu einem Situationstyp – eine Art ursprünglichen Dramas, das die Rollen, Empfindungen und Reaktionen fixiert, die für jedes Gefühl kennzeichnend sind. Solche ursprünglich fixierenden Dramen nenne ich Schlüsselszenarien« (Ebd., S. 12). 19 Voss, Christiane: Narrative Emotionen. Berlin 2004, zur Rache insb. S. 216. 20 Frijda, Nico H.: The lex talionis: On Vengance. In: Emotions. Essays on Emotion Theory. Hg. v. van Goozen, Stephanie u. a. Hillsdale 1993, S. 279. 21 Gehrke, Hans-Joachim : sv. Rache. In: Der Neue Pauly. Bd. 10. Stuttgart, Weimar 2001, Sp. 745 – 747, hier Sp. 746. 22 Frijda [Anm. 20], S. 266.

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initiale Verletzung in der Vergeltungshandlung immer präsent ist. Der Handlungsimpuls zur Rache wird erst über die motivierende Rückbindung an den Grund, den Auslöser plausibel. Damit ist nichts gesagt über die tatsächliche Legitimation der Rache, sondern zunächst nur, dass die emotional verankerte Handlungsbegründung der Vergeltung für den Rächenden funktional ist.23 Rache-Narrative haben daher immer eine retrospektive Verweisstruktur von Vergeltung und initialer Verletzung, sie eröffnen letztlich eine Doppelfigur aus Kränkung und ›Heilungsversuch‹. Vor diesem Hintergrund ist Rache für das Individuum erstaunlich dysfunktional und in seiner Gewalthaftigkeit zutiefst verstörend. Innerhalb sozialer Ordnungen und Machtkonstellationen jedoch ist Rache ein notwendiges Korrektiv, imaginiert sie doch die Wiederherstellung einer Ordnung, deren Transgression sie enthüllt – und verdeutlicht darin die sozialen Kosten einer Kränkungshandlung. Im Zusammenhang mit dem Fehde-Begriff meint Rache eine »private Vergeltung« in einer Art Selbsthilfe.24 Historisch eng verbunden mit sozialen Implikationen von Rache ist das ius talionis, das Vergeltungsrecht, das eine Kodifikation der Strafe für begangene Vergehen darstellt. Erscheint es z. B. in seiner alttestamentarischen Formulierung ›Auge um Auge‹ aus heutiger Sicht wenig deeskalierend, so ist dennoch die Ausbildung des talion verbunden mit einer Beschränkung privater und sippenbasierter Blutrache, die demgegenüber tendenziell unregelbar bleibt.25 Als Ahndung von Gewalt oder Ehrverletzung ist eine talionische Vergeltungspraxis dabei immer wieder Generator sozialer Identität. Kulturelle Imaginationen von Rache lassen sich als Teil eines Archivs paradigmatischer Vergeltungsnarrative verstehen, in denen solche Fragen und Strukturen erprobt, moduliert und tradiert werden. Sie müssen dabei nicht Realsachverhalte abbilden, gleichwohl entfalten sie ein hohes Faszinationspotential.26 Dies mag daran liegen, dass Racheerzählungen ambivalent strukturiert sind. Einerseits sind sie in einem hohen Maß kognitiv disponiert, andererseits eignet ihnen die basale Erregung des Zorns und die Tendenz zu Gewalt. Rache 23 Siehe auch die Anmerkung von Christof Rapp zu Rhet. 1378a in: Aristoteles [Anm. 10]. 2. Halbband, S. 585. 24 Kaufmann, Ekkehard: sv. Rache. In: HRG – Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Hg. v. Erler, Adalbert u. Kaufmann, Ekkehard, unter philologischer Mitarbeit v. Schmidt-Wiegand, Ruth. Bd. 4. Berlin 1990, Sp. 126 – 127, hier Sp. 126. 25 Sv. Talion. In: Der Neue Pauly. Hg. v. Cancik, Hubert u. a. Brill Online. http://www.paulyonline.brill.nl/entries/der-neue-pauly/talion-e1128890 (Zugriff: 7. 2. 2013). 26 Dass sie dies historisch in unterschiedlichen Gewändern und unter verschiedenen Ausprägungen tun, macht einmal mehr Sloterdijk [Anm. 1] deutlich, der die zivilisatorische Disziplinierung von Racheimaginationen in der abendländischen Moderne ebenso nachzeichnet wie kritisiert. Zur Konjunktur von Racheerzählungen seit der Aufklärung etwa S. 81.

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erweist sich als Faszinationsfigur schlechthin, da ihr inhärentes Spannungspotential all das begünstigt, was zur Modellierung von Faszination in Anschlag gebracht werden kann. Mit Martin Baisch lässt sich Faszination über das »Merkmalbündel Attraktion, Bewertungsambivalenz und Arretierung der Aufmerksamkeit«27 bestimmen. Racheerzählungen sind in ihrer Vergeltungsstruktur vorhersagbar und plausibel, zugleich sind sie in dem inhärenten sozialen Zerstörungspotential besonders affin für Irritationen, Störungen und Auffälligkeiten.28 Sie lassen sich zudem in einer ambivalenten Position zwischen Ereignishaftigkeit von Kränkungen und Gewalt sowie der Erzeugung paradigmatischer Handlungsszenarien bestimmen.29 Auch die Rache-Erzählungen Ovids sind vielfach von solchen Faszinationsmomenten durchzogen. Dabei, so meine These, kommt es Ovid weniger darauf an, Referenzen zu einem außerliterarischen Wissen um Rache und ihren sozialen Aporien zu entwerfen, sondern der Text vollzieht sich in einem semantischen Spiel, bei dem die Rache-Markierungen vor allem als Inspirations- und Motivationsanker, als attraktionsgenerierende Umschlags- oder Eskalationsmomente einer selbstbewussten Narration fungieren. Rache ist mithin nicht nur Gegenstand als vielmehr Movens der Erzählung.

3.

Ovids Rache-Erzählungen

Die Lektüre der »Metamorphosen« unter der Perspektive der Rache füllt die Belegliste in sehr kurzer Zeit unübersichtlich. Rache erscheint hier als ein ubiquitäres Motiv. Sie ist einerseits bestimmend für die Handlungen der Götter und hat darin Konsequenzen für die menschlichen Figuren. Andererseits aber ist sie auch in deren Interaktionen omnipräsent. Die Beispiele sollen die Vielfältigkeit der Rache-Imaginationen Ovids zeigen.

27 Baisch, Martin: Faszination als ästhetische Emotion im höfischen Roman. In: Machtvolle Gefühle. Hg. v. Kasten, Ingrid. Berlin, New York 2010, S. 139 – 166, hier S. 151. 28 Vgl. Baisch, Martin: Immersion und Faszination im höfischen Roman. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 167 (2012), S. 63 – 81, hier : S. 70 – 72. 29 Angesichts der Wirkungsmächtigkeit von Rache-Imaginationen wäre zu überlegen, ob Faszination nicht nur als Folge eines Oberflächeneffektes (Seeber, Hans Ulrich: Ästhetik der Faszination? Überlegungen und Beispiele. In: Anglia -Zeitschrift für englische Philologie 128 (2010), S. 197 – 224, v. a. S. 202; vgl. Baisch [Anm. 28], S. 71 – 72) zu beschreiben wäre, sondern zudem über emotiv und kognitiv hoch wirksame Narrative gestiftet werden kann.

108 3.1.

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Acteon

Ich beginne ganz willkürlich mit der Acteon-Erzählung aus dem dritten Buch, der verhängnisvollen Begegnung des Jägers mit Diana, der die nackte Göttin beim Baden überrascht. Zweifellos steht hier die Rache der Göttin im Mittelpunkt der Erzählung und findet ihren Abschluss in der Tod bringenden Verwandlung Acteons in einen Hirsch, der von seinen Jagdhunden gerissen wird. Mit dem Blick auf die Inszenierung von Rache wird allerdings schnell deutlich, dass sie als Motiv und Erzählgegenstand weit über diese einzelne Verwandlungsgeschichte hinaus weist. Ich möchte diesem Aspekt, vor der Betrachtung der eigentlichen Verwandlungsgeschichte, zunächst nachgehen. Ovid beginnt – und darin folgt ihm Wickram nicht – mit einer Aufmerksamkeit erregenden Prolepse, die den letalen Ausgang der Geschichte verrätselt: »Doch bei genauerem Zusehen wird man an ihm keine Sünde finden, sondern Fortuna die Schuld geben müssen. Denn was für eine Sünde lag in seinem Irrtum?« (Ovid, Met.,III,141 f.).30 In der Schwebe dieser Frage bezieht die Erzählung von Acteon ihre Sinnhaftigkeit in der Verknüpfung mit der vorangehenden Cadmus-Episode. Dieser »schin eyn selig man« (Wickram, 175), allerdings trübt sich sein Glück, denn »an seim nechsten freundt im geschach // Groß leid und erstes ungemach« (Wickram, 176). Der frühneuzeitliche Übersetzer ist an dieser Stelle etwas ungenau, denn tatsächlich ist Acteon der Enkel des Cadmus. Über die genealogische Verbindung situiert sich die Erzählung in einem weit größeren Kontext von Rache, als es zunächst den Anschein hat, der zudem über Rache motiviert ist. Der Tod Acteons löst eine kontroverse Diskussion im Götterhimmel über die Angemessenheit von Dianas Strafe aus, allein Iuno »den Handel […] nit lopt noch schalt« (Wickram, 186). Hintergrund hierfür ist, wie anschließend deutlich wird, deren Drang, die ganze Sippe des Cadmus zu vernichten. Es handelt sich um die Rache für die sexuellen Fehltritte Iupitters, der die Schwester jenes Cadmus – Europa – entführt hatte und dessen Tochter – Semele – ebenfalls beschlafen hatte. »Derhalben trug sie sundern haß // Eym jeden so von dem gschlecht was« (Wickram, 187). Der Text Ovids stiftet im Fortgang eine Kette von Rachefiguren, wobei sich, wenn man so will, Kontiguitätsanschlüsse ergeben: Der Rache an Semele folgt der Disput Iunos und Iupitters darüber, wessen Gelüste größer seien, was in der Rache am Schiedsrichter Tiresias mündet, der wiederum seine erste Prophezeihung an Narziss vollzieht, dessen Selbstliebe ebenfalls Ergebnis eines Rachewunsches ist. Tiresias weissagt Pentheus, der sich dem dionysischen Kult 30 Ich zitiere den antiken Text und die Übersetzung nach P. Ovidius Naso: Metamorphosen, Lateinisch/Deutsch, übersetzt u. herausgegeben v. von Albrecht, Michael. Stuttgart 2003.

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nicht unterwirft und grausam bestraft wird. Es folgen die Racheakte des Bacchus, die –ich lasse einige Vergeltungsschläge aus – hinüberleiten zu Iunos Unterweltfahrt, mit der sich die Kette zur Acteon-Erzählung wieder schließt. Dort trifft sie auf die Rachegöttinnen, die Erinyen, die uns im Fortgang noch begegnen werden.31 »Juno die was ergrimpt so gar / Darumb gedacht sie her und dar / Wie sie sich gnugsam rechen möcht / An Cadmo und seim gantzen gschlecht / Damit es gentzlich würd verderbet / Ir hass der war uff sie geerbet / Wann sie ursacht semlicher haß / Daß sie zur Hellen kommen was / Den dreien schwestern sie gebot / Verhieß in auch gelibt gedrot / Dazu bat sie gantz freüntlich / Daß sie nit wolten sparen sich / Und bald deß Cadmus freunden allen / Ir hertz gießen mit neides gallen / Darzu mit tobsucht sie beschweren / Semlichs thet sie von in begeren« (Wickram, 251).

Mit dem tobsüchtigen Athamas, der sein eigenes Kind umbringt, gipfelt dieser lange Bogen in der Verwandlung des Cadmus. Die Erzählkette, die selbst eine Rache ist und dabei viele Rache-szenarien ›auffädelt‹, findet ihren Schlusspunkt am Ende des Vierten Buches: »Also gieng diß geschlecht gantz under // All die von Cadmo waren bsunder // Dann Juno ihn durch sundern haß // Gar manch uebel zurichten waß // Alleyn was eyner ueber bleiben« (Wickram, 260 f.).32

Hinter den einzelnen Episoden dieser Kette liegt sozusagen »the master plot of an evolving family drama«.33 Dieses Rachedrama beschreibt ohne Zweifel einen sehr weiten narrativen Weg, der zumindest motivisch noch weiter ausgereizt werden kann, folgt man den Versuchen, die thematischen Responsionen für eine Strukturierung der »Metamorphosen« heranzuziehen.34 Dabei ist Rache als 31 Die mythologischen Rache-Figurinen Megaira (»Beneiderin«), Tisiphone (»Mordrächerin«) und Allekto (die »Unversöhnliche«) werden mehrfach von Ovid in das Rachegeschehen eingefügt. Als Figuren der Unterwelt haben sie in der griechischen Mythologie vielfache Funktionen, von denen die der Bestrafung und Vergeltung hervorstechen. Vgl. Johnston, Sarah Iles: sv. Erinys. In: Der Neue Pauly [Anm. 25]. http://www.paulyonline.brill.nl/entries/ der-neue-pauly/erinys-e401560 (Zugriff 7. 2. 2013). Sie gelten als die »zornigen Toten«, die die Lebenden für ihre Vergehen bestrafen. 32 Es ist mit Acrisius nur noch einer übrig, der dann den nachfolgenden Erzählkomplex zu Perseus, seinen Enkel, initiiert und im vierten Buch ohne Verwandlung, aber mit Reue verstummt (Ovid, Met., IV, 612 f.). Damit setzt sich die Verkettung der Einzelepisoden fort. Das unspektakuläre Verschwinden bekommt in der Auslegung des Lorichius mit einer FehlLesung dann jedoch ein metamorphotisches Ende, das zur Rache an der Cadmus-Sippe passt: Perseus habe seinen »seinen altvatter […] zu einem steyn / durch das angesicht Meduse verwandlet« (Wickram, 274). Der Mythos berichtet dagegen von einem Diskuswurf, mit dem der Enkel das Ende herbeiführt. 33 Wheeler, Stephen M.: Narrative Dynamics in Ovid’s Metamorphoses. Tübingen 2000, S. 106. 34 Übersicht ebd., S. 1 – 3. Es zeigt sich jedoch, dass kein Vorschlag einer allgemeinen Strukturierung ohne Schwierigkeiten überzeugen kann. Es bleibt zu konstatieren, dass die

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Leitmotiv sehr viel umfangreicher zu veranschlagen. So hat Brooks Otis in Ovids Text vier große Abschnitte differenziert, von dem der zweite Abschnitt, in dem auch die Acteon-Geschichte enthalten ist, mit »divine vengeance« überschrieben ist.35 Dieser Abschnitt reicht dann sogar bis in das sechste Buch, wobei sich ein Rahmen von Rache-Erzählungen um das narrative Zentrum der Perseus-Geschichte legt – der Cadmus-Komplex entspräche dabei dem ersten Teil dieses Rahmens.36 Es fragt sich nun, wie diese Rache-Komposition, ohne auf die einzelnen Stellen angemessen eingehen zu können, zu verstehen ist? Man könnte darin sicher ein mythisch-anthropologisches Universal auffinden wollen, das stets und ständig wirkt und in der aitiologischen Struktur der »Metamorphosen« als weltbildend imaginiert wird. Ausgehend allerdings vom »carmen perpetuum« (Ovid, Met., I, 4), als das der antike Autor seinen Text bezeichnet, verstehe ich die narrativen Verschachtelungen, die Häufungen von Rachemotiven, -figuren und -figurationen, von Responsionen und bewusst dunklen Anspielungen innerhalb der Einzelepisoden als ein literarisches Spiel, dass sich als ein Gleiten über Signifikantenketten – eben der Rache – vollzieht. Der Text vollzieht in seiner metonymischen Verkettung von Rache-Signifikanten die Dynamik der grundsätzlich gleitenden Bedeutungsproduktion, von der Jacques Lacan gesprochen hat.37 Damit sei nun keiner Beliebigkeit das Wort geredet: Vielmehr stellen sich die Referenzen auf Rache als höchst stimulative Erzählanlässe heraus, über die sowohl die Motivation für Handlungen gesteuert, als auch die Erzählsequenzen miteinander verknüpft werden. Die Kette der Rache treibt dabei, so ließe sich formulieren, immer wieder deutlich auserzählte Szenarien hervor. Diese sind als Momente retroaktiver Bedeutungsfixierung zu verstehen, an denen das Gleiten arretiert wird. Die einzelne Metamorphose-Erzählung von Rache, Vergeltung und Strafe entfaltet sich derart auf den Haltepunkten eines intratextuellen Bedeutungsnetzes, in dem die Referenz auf eine soziale Praxis hinter dem literarischen Spiel zurücktritt. Derlei Gleiten, nicht nur über die Signifikanten der Rache, ist das tiefgreifende Erzählprinzip des carmen perpetuum,38 das unablässig neue Verwand-

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strukturelle Unbestimmtheit auch auf der narrativen Ebene eine Dynamik von Wandlung erzeugt, in der Ordnungen konstituiert werden, um sie schließlich zu dekonstruieren. Vgl. auch Solodow, Joseph B.: The World of Ovid’s Metamorphoses. Chapel Hill, London, S. 34. Otis, Brooks: Ovid as an Epic Poet. Cambridge 1970, S. 128 – 165. Vgl. die Darstellung bei Solodow [Anm. 34], S. 12. Vgl. etwa Lacan, Jacques: Das Drängen des Buchstabens im Unbewussten oder die Vernunft seit Freud. In: J. L.: Schriften II. Ausg. u. hg. v. Haas, Norbert. Freiburg i. Br. 1991, S. 15 – 55 Vgl. Wheeler [Anm. 33], S. 5, der »two generative principles« ausmacht: »repetition and narrative continuity«.

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lungsgeschichten aus seiner eigenen Erzählung hervorbringt. Dabei offenbart sich eine stupende Zahl offensichtlicher und subtiler thematischer Verlinkungen.39 Ernst A. Schmidt hat gezeigt, dass es nicht möglich ist, genaue »Sektionen und Bauteile« abzugrenzen, sondern dass im Text vielmehr bestimmte Themen repetierend variiert werden, die sich unter den Rubriken »wechselnde Themendominanz, Antizipation und Nachklang, Variation und kontinuierliche Verschiebung des Themas« bestimmen lassen.40 Es gehört zu den Eigentümlichkeiten der »Metamorphosen«-Forschung, dass die Untersuchung einzelner Verwandlungserzählungen diese semantische Textur stets mit zu berücksichtigen hätte. Ich komme nunmehr nach diesem langen kontextuellen Bogen auf die Acteon-Geschichte zurück, um das Vergehen Acteons und die Vergeltungshandlung etwas genauer zu betrachten. Die Faszination dieser Erzählung lässt sich bei Ovid durch die bereits angedeutete Ambiguisierung greifen, die in der Relativierung des Vergehens besteht. Trotz des Fehlens der Eingangsfrage ist diese in der Übersetzung Georg Wickrams noch präsent. Auch bei ihm wird die Rache Dianas in der Götterversammlung evaluiert: »Jedoch Diana gescholten ward // Das sie sich grochen hatt so hart // An Acteon dem schoenen mann // Die andren lobten sie daran // Sagten ›Diana soll nit gestatten // Das sie jemandts soll sehen baden // Dieweils eyn magt und Goettin ist‹« (Wickram, 186).

Zudem verweist auch Wickram auf die fehlende Intention des Eindringlings, der nur zufällig an den Ort gerät. Die Überschrift spricht »Von dem grossen unfal so dem unfelligen Acteoni begegnet«; der Jäger »Inn grienem Waldt gantz irr thet ghon // Kam von ungeschicht zu disem badt« (Wickram, 180). Diese Zufälligkeit markiert dann auch das zentrale Paradox der Begegnung: Der »neuralgische Punkt des gesamten Diana-und Actaeon-Stoffes« liegt in dem »Widerspruch, daß ein Mann eine Göttin im Bade überraschen kann, die dieses nicht will.«41 39 Hierzu Solodow [Anm. 34], S. 14 – 36. Für dieses Gewebe aus Responsionen hat Schmidt die Metapher der »Symphonie« gebraucht, vgl. Schmidt, Ernst A.: Ovids poetische Menschenwelt. Die Metamorphosen als Metapher und Symphonie. Heidelberg 1991. Zu einer stehenden Wendung der Ovid-Forschung ist weiterhin der Begriff des »Geflechts«, »Gewebes« geworden, da er sich auf die prominente Erzählung von Arachne in den Metamorphosen beziehen kann, in der, in einer selbstreferentiellen Geste des Erzählers, Verwandlungsgeschichten in einem Webstück visualisiert werden. 40 Schmidt [Anm. 39], S. 91 – 94 (Zit. S. 91 und 92). Er sieht das Vorherrschen eines Themas, das dann »abtritt«, ohne »ganz zu verklingen«; er vermerkt eine phasische Gestaltung mit »Anlaufphase in vereinzelten Antizipationen und Präfigurationen, eine Dominanzphase und eine Phase des Nachklingens, der Ausdünnung und des Verklingens« (S. 93). Für die Begegnung Acteons mit Diana liegt in der Callisto-Geschichte, die ebenfalls eine Verletzung der Gebote Dianas und eine rächende Verwandlung in ein Tier beinhaltet, eine solche Präfiguration vor. 41 Heselhaus, Herrad: Textuelle Re-Visionen oder : Vom Willen zur Halluzination. Meta-

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Ovid schreibt mit seiner Verundeutlichung des Vergehens an gegen die Tradition des Frevlers, der seine gerechte Strafe bekommt. In den mythologischen Varianten42 neben Ovid wird die Gewalt der Göttin gerade nicht zu einer maßlosen Racheübertreibung: »Die Maßlosigkeit der Strafe ergibt sich aber erst aus der Verharmlosung des Vergehens. Setzt man erotische Neugier oder gar den Willen zur Wahrheit als Motivation Actaeons an, so scheint die Strafe tatsächlich über alle Maßen hart auszufallen. Begreift man Actaeons Handlungsweise aber als einen Übergriff auf eine Gottheit, als Übertretung grundlegender, religiöser Gesetze, so verliert die strafende Göttin erheblich an einzigartiger Grausamkeit.«43 Der nicht ausgeführte Subtext wäre dann nicht weniger als die Schändung des Heiligtums der Diana, die Verweigerung einer Opfergabe, die Einführung eines neuen religiösen Kultes.44 Davon finden sich zweifellos Spuren in der Erzählung Ovids, insbesondere in der Darstellung der Jagd Actaeons. Im unmittelbaren Anschluss nämlich an die Eingangsfrage offeriert der antike Autor ein Bild der Gewalt: »Es gab daselbst einen Berg, der war gefärbt vom Blut verschiedener Tiere« (Ovid, Met., III, 143). Wenige Verse später spricht Actaeon: »Netze und Eisen sind feucht […] vom Blut der Tiere« (Ovid, Met., III, 148). Bei Wickram ist von diesem Blut zwar keine Rede mehr – hier steht mit derselben Denotation der Begriff »schweiß« (Wickram, 176).45 Acteon bleibt bei aller Relativierung eine Figur, die in den Bereich der Göttin eindringt. Vergehen und Vergeltung werden über die Jagd spiegelbildlich miteinander verbunden: der Jäger wird in einer talionischen Bestrafung zum Gejagten, seine Aggression der Jagdgöttin rächt sich in seinem Tod durch die eigenen Jagdhunde. Aleida und Jan Assmann haben darauf verwiesen, dass die Entbergung des vom Geheimnis geschützten Heiligen »mit Vorliebe als sexuelle Schändung dargestellt« wird.46 Die Semantik sexueller, erotischer Transgression ist ange-

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morphosen des Mythos am Beispiel der Rezeptionsgeschichte von Ovid, Metamorphosen III, 138 – 257. In: Macht Text Geschichte. Lektüren am Rande der Akademie. Hg. v. Heilmann, Markus u. Wägenbaur, Thomas. Würzburg1997, S. 19 – 35, hier S. 26. Actaeon als Konkurrent, illegitimer Werber, Voyeur, inzestuöser Neffe oder Vergewaltiger – dies ist das Spektrum des Mythos bei Euripides, Diodorus Siculus, Kallimachos, Hesiod und Hyginus; vgl. Heselhaus [Anm. 41], S. 30 f. Heselhaus [Anm. 41], S. 31. Vgl. Heselhaus [Anm. 41], S. 33. Er versteht in diesem Subtext eine »Rivalität zwischen Andersgläubigen«, in der die »Schändung eines Heiligtums« auf die Unterwerfung des Gegners zielt. Dianas Reaktion erscheint dann als »begründete Selbstverteidigung«. Die Gegenposition unverdienten Leidens angesichts ungerechten göttlichen Zorns ist etwa markiert bei Schmidt [Anm. 39], S. 119 u. ö. Zur semantischen Nähe von Schweiß und Blut vgl. den Eintrag zu Schweiß im DWB. Bd. 15, Sp. 2455 bis 2462). Eine gewisse Bedeutungsambivalenz ist gleichwohl nicht zu leugnen. Assmann, Aleida u. Jan: Geheimnis und Offenbarung. In: Schleier und Schwelle. Bd. 2: Geheimnis und Offenbarung. Hg. v. J. u. A. Assmann. München 1998, S. 7 – 14, hier S. 7.

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sichts des Zusammentreffens eines männlichen Jägers mit nackten badenden Jungfrauen, darunter die Göttin der Keuschheit, nicht zu leugnen. Die Transformationsgeschichte der Acteon-Erzählung hat diesen Aspekt seit der Frühen Neuzeit in den Mittelpunkt gerückt und das Vergehen auf Verführung und Begehren zurückgeführt.47 Ein wichtiges Element ist dabei das Körperzeichen des Errötens der Göttin, von dem Ovid bildhaft spricht: »Wie Wolken sich färben, wenn die Sonne sie von vorn anstrahlt, oder wie die purpurne Morgenröte glüht, war die Farbe von Dianas Antlitz, als sie ohne Gewand gesehen wurde« (Ovid, Met., III, 183 – 187). Ovid gibt hier keine Auskunft über die Emotion, die eine solche Färbung hervorruft. Diese Leerstelle kann nun unterschiedlich gefüllt werden. In der Aneignungsgeschichte ist es vor allem die Scham, mit der das Erröten der Göttin erklärt wird.48 Wickram jedoch fokussiert auf die zentrale Rachestruktur der Erzählung und bezieht das Erröten auf den Zorn als Begründung für die folgende Vergeltung: Diana »stundt undrin inn eym getreng // Erschrocken / darzu voller zorn // Solchs macht der Goettin außerkorn / Eyn wunderlich farb so schon // Gleich die morgen roet auff thut ghon // Weiß und roth durcheynander zogen // Verfloesset wie der Regenbogen // Noch irem bogen griffs imm zorn« (Wickram, 181).

Wickram hebt also die affektive Begründung für die Rache hervor und schafft einmal mehr semantische Klarheit, wo Ovid mit der Faszination ambivalenter Bedeutungen spielt.49 Wie weit die Attraktionsmomente innerhalb seiner Racheerzählungen reichen, wird in diesem Mythos besonders einprägsam, wenn er den Vollzug der Rache durch ein narratives Kabinettstück aufhält. Der überbordende Katalog der sprechenden Hundenamen schiebt sich zwischen Verwandlung Acteons in einen Hirsch und seinem unabweisbaren tödlichen Ende. Darin zeigt sich zugleich, wie innerhalb des Geflechtes aus Rache-Signifikanten Anlässe literarischer Kunstfertigkeit entwickelt werden.

47 Vgl. Heselhaus [Anm. 41], bes. S. 33 – 34. 48 Ebd. 49 Ich kann allerdings nicht die, Wickram möglicherweise nicht bewussten, Konnotationen der Körperfärbung nachzeichnen, die sich intratextuell ergeben: die weiß-rote Körperfärbung entspricht in hohem Maß der völlig anderen Zeichenreferenz erotischer Aufwallung, wie etwa in der Narziss-Episode, die mit der Acteon-Geschichte über den kunstvollen Brunnen am locus amoenus verbunden ist. Nicht eingehen kann ich zudem auf den Komplex des Sehens, der hier vielfältige Querbezüge stiftet. Vgl. dazu Salzman-Mitchell, Patricia B.: A web of fantasies. Gaze, image, and gender in Ovid’s Metamorphoses. Columbus 2005.

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Philomela

Zu einer anderen Ausformung eines Rache-Narrativs kommt es im sechsten Buch bei der triangulären Verwandlungsmythe von Philomela, Progne und Tereus, die auf der Ebene menschlicher Akteure verbleibt. Sie gestaltet sich als ein Eskalationsdrama von Rache unter exzessiver Gewalt und Brutalität. Innerhalb des Geschehens von Vergewaltigung, Verstümmelung, Kindsmord und Kannibalismus werden auf eindrückliche Weise die sozialen Implikationen von Rache verdeutlicht. Im Wechselspiel der Gewalt werden die individuellen und sozialen Kosten für die Vergeltung bis in die völlige Zerstörung des Familienverbandes getrieben. Auch hier beginnt der Text mit dem Einspielen von Unheil- und Rachezeichen, die das Hochzeitsfest von Progne und Tereus verschatten. Ovid lässt die besagten Eumeniden auftreten, die »hielten die Fackeln, die sie von einem Leichenbegängnis geraubt hatten, Furien [orig. Eumenides] bereiteten das Bett« (Ovid, Met., VI, 311). Es fehlen mit Iuno und Hymenaeus die Beschützer der Ehe, zudem sitzt der Unglück verheißende Uhu auf dem Dach. Eine Begründung hierfür liefert der Text nicht. Wickram mag es bei einer solchen spannungsfördernden Referenz allein nicht bewenden lassen, denn er offeriert eine nachvollziehbare, wenn auch durch keine mythologischen Vorlagen gestützte, Begründung für die Unheilszeichen, die im Fehlverhalten der Protagonisten selbst auszumachen sind: »Und brach erst auß der jerig neidt // so die Goett gtragen seit er zeit // Progne ir erste hochzeit hatt // Darin sie keyn Gott ehren that // Sie namen auch die Facklen all // So man zur leich braucht dazumal // Die brauchten sie uff der hochzeit // Daraus erwuchs der Götter Neidt // Also die hellischen Goett all // Kamen heruffer all zu mal« (Wickram, 355 f.).

Damit stellt er die Asymmetrie zwischen Göttern und Menschen auf den Kopf: die Menschen sind hier nicht die ›Opfer‹ göttlicher Rache, sondern sie rufen Vergeltungsszenarien durch ihr Verhalten allererst hervor. Weiterhin entspinnt Wickram unter dem Vorzeichen der Rache ein Geflecht negativer Emotionen, indem er an die Stelle der initialen Kränkung den Neid setzt.50 Im Zentrum der folgenden Vergeltungskette steht die Störung familialer Beziehungen, ausgelöst durch das sexuelle Begehren von Tereus, der die Schwester seiner Frau, Philomela, vergewaltigt. Die Vergeltung für dieses Vergehen ist zunächst nur als Rachewunsch durch Philomela formuliert, die droht, 50 Diese Transformation lässt sich aus dem Kontext innerhalb des sechsten Buches erklären: In gewisser Weise passt die Erzählung nicht ganz zu den anderen Racheakten. Der Aspekt des Neides wird über die Arachne-Mythe eingespielt und derart zum Leitthema des sechsten Buches.

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die Untat zu veröffentlichen, sie schwört Vergeltung und hofft auf die Rache der Götter : »Den wilden thieren klag ichs baldt // Ich thun ihn deinen gwalt verkuenden // Uber dich schrei ich laut und roch // Gegen steinen und beumen hoch // Die Felsen wil ich auch bewegen // Und mit meiner grossen klag erregen // Dann vil der Goett ir wonung hand // Uff hohen berge inn dem landt // Die werden meine klegliche wort // Zu hertzen fassen an dem ort // Und solchen hochmuot / gwalt und hon // An dir nit ungerochen lohn« (Wickram, S. 366).

Die Reaktion von Tereus verbleibt in der Rache-logik und löst eine reziproke Verschärfung aus: »Als nun der schalck hort solche sag // Gantz tobend / wütendt er do wardt // Und gegen der Junckfrawen hart // Bewegt inn grausam grossen zorn // Welche er groeßlich lobt zuforn« (Wickram, 366).

Um die Veröffentlichung zu verhindern, schneidet er Philomela die Zunge heraus und sperrt sie ein. Damit jedoch kann er den Fortgang der Eskalation nicht verhindern, denn Philomela webt sein Vergehen in einen »guertel weiß« (Wickram, 370) und schickt diesen zu ihrer Schwester Progne. Hier beginnt die Rache der beiden Schwestern an Tereus. In einer faszinierenden Weise werden von Ovid wiederum semantische Netze gespannt und über die Handlungsfolgen gelegt. Dies geschieht in der Einlagerung der Vergeltung in das Bacchus-Fest, das gekennzeichnet ist von der rituellen Raserei von Frauen, den Bacchantinnen oder Mänaden.51 In der dionysischen Orgie ritueller Gewalt, bei der es zu Tötungen kommt52 (seinerseits eine Vorwegnahme des mythischen Endes von Dionysos/Bacchus), wird die Rache präfiguriert und zugleich mit transzendentem Sinn überformt.53 Progne nimmt an dem rasenden Lauf der Bacchantinnen teil, findet ihre Schwester und bringt sie wieder zu sich nach Hause. Dort wägt Progne verschiedene Optionen der Rache ab: »Schweig schwester // dann dein leid mag hit // Mit weinen grochen werden nit // Disen gwalt will ich anderst rechen // Mein mann mit eygner handt erstechen // Durch sein falsch hertz inn einem stich // Wo aber gut wil duncken dich // So nim ich im anders sein leben // Mit gifft kan ich im auch vergeben // Doch gibst darzu den willen dein // Ich stich 51 Vgl. Kevin Clinton: sv. Bakchos. In: Der Neue Pauly [Anm. 25]. http://www.paulyonline.brill.nl/entries/der-neue-pauly/bakchos-e211720 (Zugriff 7. 2. 2013). 52 Bei Wickram liest sich das wie folgt: »So sie von wein dann waren voll // So roßten sie umb vol und tholl // durch alles landt / solchs was ir sit // kein man zu ihn dorfft kummen nit // Sunst ward er von ihn gar zerrissen // zerhackt / zerstochen und zerschmissen // Und wurffen die stuck her und dar // Eyn mutter ward irs Suns gwar // Denen erwüscht sie sonder barm // Und riß behend von im eyn arm // Doch klaget sie gleich an der statt // Das sie nit mehr begriffen hatt // Die andren theilten ihn behendt // Wurffen die stück an alle endt« (Wickram, 372). 53 Weitere Verweise reichen (retrospektiv) in die Pentheus-Mythen des vierten Buches und (prospektiv) in den Orpheus-Komplex des 10. und 11. Buches.

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im aus die augen sein // Oder schneidt im auß die mißthat // Damit er solch begangen hat // So dir der ding gefallen nit // Wil ich ihn inn schloffender zit // ferbrennen in eym Fewr behend // Domit er schmertzlich nem sein endt // Ich kan nit wissen was ich soll // Erdencken jetzt zu disem mol // Domit ich ihn durch mein unfuog // Moeg peinigen und marteren gnuog« (Wickram, 374).

In diesem Katalog körperlicher Gewalt zwischen Blendung und Kastration ist deutlich der Wunsch nach »harm« zu spüren, mit dem die Heilung des Leides erfolgen soll. Schließlich besteht die Rache in der Tötung des Sohnes Ithys, der von den Schwestern gekocht und seinem Vater beim Mahl vorgesetzt wird. Unter dem Aspekt der Faszination ist, neben der grundsätzlich Aufmerksamkeit erregenden Gewalt, auf die ambivalenten Emotionen Prognes zu verweisen. Anders als die dionysische Zerstückelung erwarten lässt, tötet sie Itys nicht in Raserei, sondern in emotionaler Zerrissenheit zwischen Zorn und Mutterliebe: »Progne erbarmt sich ires kindts / bringts aber doch umb« (Wickram, 375).54 Das letzte Wort der Rache-Folge ist gleichwohl noch nicht gesprochen. Nachdem Philomela Tereus den Kopf seines Sohnes zuwirft und er erkennt, was resp. wen er gerade gegessen hatte, erhebt sich die letzte Rachehandlung: »So bald er immer sach das haupt // Do wardt er aller sin beraupt // Inn zorn im sein hertz thet erhitzen // Beim Tisch mocht er auch nit mehr sitzen // Die Tafel sties er von im trot // Vermeint Progne zu schlagen thodt« (Wickram, 377).55

Er stürzt mit gezogenem Schwert Philomela und Progne hinterher. Alle drei verwandeln sich sodann in Vögel: Philomela in eine Nachtigall, Progne in eine Schwalbe und Tereus in einen Wiedehopf. Damit mündet die Rache-Erzählung in der finalen Körperverwandlung. Die Metamorphose fungiert allerdings in dieser Episode auf zweifache Weise – sie ist im Fall der Frauen eine Rettung vor dem letzten Racheakt; im Fall von Tereus hingegen eine Straffigur. Dies wird deutlich, wenn man sich die Zeichenlogik der allermeisten Metamorphosen in Ovids carmen anschaut. Erzählung und Metamorphose sind in einem engen Verweissystem aufeinander bezogen. Einerseits läuft die Erzählung in ihrer aitiologischen Funktion auf ein bereits bekanntes ›Zielobjekt‹ hinaus, was sich bereits in den Namen der zu verwandelnden Figuren ablesen lässt (z. B. Daphne, Hyazintus). Andererseits bewahrt die Verwandlung signifikante Aspekte der Erzählung, wie Eigenschaften der Figuren, ihre Motivationen, aber auch Konfliktkonstellationen usw. auf. Diese semiotischen Prozesse lassen sich gut nachvollziehen etwa am Acteon, 54 Zunächst schlägt ihr Rachezorn in Hass auf Ithys um, der seinem Vater ähnlich sieht. Die kindliche Umarmung weckt dann jedoch wieder die mütterliche Zuneigung. Unter Tränen jedoch »brann der zorn noch fester« (Wickram, 375). Auch in der Tötungshandlung findet sich eine Eskalation der Rache. 55 Im antiken Text tauchen einmal mehr die Eumeniden an dieser Stelle auf.

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dem in ein Jagdwild verwandelten Jäger, oder auch in der Verwandlung des Tyrannen Lykaon in einen Wolf, an dem sich in Aussehen und Verhalten die vormalige ›Wolfhaftigkeit‹ des Menschen erkennen lässt. Daher sind die ovidischen Metamorphosen, so sie keine reversiblen Götterwandlungen beschreiben, auserzählte Metaphern,56 die über die Funktion einer revelatorischen Deixis verfügen.57 Auch die Verwandlung des Tereus lässt das narrative Bild des den Schwestern nacheilenden Rächers zu einem tierischen Erinnerungszeichen werden: »Dann er zu stund ward eyn Widhopff // Das schwert wuochs im auff seinem kopff // Eyn langer schnabel ward sein spies // Damit er vormals schoß und stieß« (Wickram, 377).

Der Vogel verkörpert mithin das zentrale Moment der Philomela-Erzählung: den Exzess reziproker Rache. Es wäre noch auf vielerlei Aspekte dieses Rachedramas einzugehen, was nur kursorisch angedeutet werden kann.58 Auffällig ist zunächst die Rückbindung der Vergeltung in ihrer sozialen Begründung. Die Vergewaltigung Philomelas ist weniger ein individueller, denn ein sozialer Gewaltakt: das Problem liegt nicht auf der Ebene einer persönlichen Erniedrigung und körperlichen Verletzung, sondern in dem Verlust von Ehre. Die Scham über diesen Ehrverlust empfindet Philomela gegenüber ihrer Schwester und gegenüber ihrem Vater. Es ist mithin die Transgression der familialen Bindungen, an der sich zunächst das Vergehen bemisst.59 Das soziale Normativ, mit dem das Vergehen von Tereus bewertet wird, ist dasjenige des Inzestes: die zugrunde liegende Moral- und Rechtsauffassung tabuisiert sexuelle Handlungen innerhalb der Familie.60 Einer talionischen Straflogik entspricht die stupende Spiegelbildlichkeit der schwesterlichen Rache an Tereus.61 56 Schmidt [Anm. 39]. 57 Scharold, Irmgard: sv. Metamorphose. In: Der Neue Pauly. Bd. 15. Stuttgart, Weimar 2001, Sp. 395 – 402, hier Sp. 395. An der Philomela-Erzählung ließe sich zudem zeigen, wie Ovid in den Erzählungen die Verwandlung bereits semantisch vorbereitet. Die Vergleiche und Metapher, die Ovid hier benutzt, weisen auf die spätere Vogelverwandlung hin, vgl. hierzu Kaufhold, Shelley D.: Ovid’s Tereus: Fire, Birds, and the Reification of Figurative Language. In: Classical Philology 92 (1997), S. 66 – 71, bes. S. 71) 58 Eine differenzierte Analyse findet sich bei Behmenburg, Lena: Philomela. Metamorphosen eines Mythos in der deutschen und französischen Literatur des Mittelalters. Berlin, New York 2009. 59 Die Figurenbezeichnung, die vielfach neben den Namen die jeweilige Position im Familiensystem benennt, unterstützt dies: »vater«, »tochter«, »schwester«, »mann«, »tochterman«, »schweher«. 60 Über historische und kulturelle Wandlungen des Inzestdiskurses informiert grundlegend der Band Historische Inzestdiskurse. Interdisziplinäre Zugänge. Hg. v. Eming, Jutta u. a. Königstein/Taunus 2003. 61 Siehe ausführlich hierzu Behmenburg [Anm. 58], S. 73 f.: »Auffällig ist zunächst, dass sich die von Philomela und Progne verübte Rache in zahlreichen Punkten als das Spiegelbild des

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Dass sich nun erneut auf Ovids Vorliebe für Irritation und Ambiguisierung zurückkommen lässt, sollte inzwischen nicht mehr überraschen. Ohne dies ausführen zu können, eröffnet der Text eine subtile Figurenkonstellation von Pandion und seinen Töchtern Philomela und Progne, die auch andere inzestnahe Beziehungen denkbar erscheinen lassen.62 So etwa in dem hoch emotional ausgestellten Verhältnis von Philomela und ihrem Vater und vor allem in der Bindung der Schwestern untereinander. Die Reaktionen der Frauen, insbesondere der Prognes, unterlegen die Rachehandlung mit einer affektiven Grundierung, die weit über das Paradigma aus Zorn-Vergeltung hinausgeht. In seiner Bearbeitung rückt Georg Wickram diesen Aspekt deutlich in den Vordergrund. Neben den bereits bei Ovid entwickelten Momenten – das Begehren Prognes, ihre Schwester zu sich zu holen; deren Scham ihrer Schwester gegenüber angesichts der Vergewaltigung; der Handlungsimpuls zur Kindstötung, der in der Verstümmelung Philomelas, und nicht in ihrer Vergewaltigung liegt – lässt sich das vor allem in Wickrams Transformation der affektiven Reaktionen auf das Vergehen des Tereus ausmachen: Wo bei Ovid Progne nach der Lektüre des Gürtels in rasenden Zorn ausbricht, als »Entsetzliche« umgehend in ein Verhalten übergeht, das mit dem bacchantischen Rasen konform läuft, schaltet Wickram einen Haltepunkt ein, der vielmehr eine emphatische Trauer ausstellt: »Inn Jamer sie den gürtel sach // Jedoch kein wort nit darzu sprach // Dann ir das leidt stopffet den mundt // Das sie keyn wort nit reden kundt // Sie thete als wer sie gantz sinlos // so mechtig was ir leid und groß // Von onmacht sie zur erden sanck // Und lag gantz sinloß ohn gedanck // Das trib sie etwan manig stund // Das sie ir leid nit mossen kundt« (Wickram, 371).

Es kommt eben nicht zu sofortigen Vergeltungsaktionen aufgrund sozialer Verletzungen, noch in der dionysischen Raserei bleibt sie »betriept inn irem sin« (Wickram, 372). Und auch als Progne ihre Schwester wiedergefunden hat, löst nicht, wie beim antiken Dichter, Zorn den Katalog der Vergeltungsoptionen aus, sondern die Racheplanung folgt quasi unvermittelt über die Wahrnehmung der Scham Philomelas (Wickram, 373 f.). In der frühneuzeitlichen Bearbeitung Wickrams wird die Rache Philomelas und Prognes damit deutlich mehrfach, und vor allem über die emotionale Bindung der Schwestern, motiviert. An der

Verbrechens erweist, das Tereus an seiner Schwägerin verübt.« Die Spiegelbildlichkeit betrifft dabei die Ähnlichkeit von Vater und Sohn, die Penetration des Körpers, die sich im Verspeisen des eigenen Kindes spiegelt, die Zerstörung der familialen Beziehungen über das Auslöschen der Genealogie und die Gewaltakte gegen Organe des Sprachvermögens. 62 Behmenburg [Anm. 58], S. 78 ff.

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Fatalität des Ausgangs ändert dies freilich nichts: individuelle Passionen bringen über eine Eskalation der Rache die soziale Ordnung vollends zum Einstürzen.63

3.3.

Myrrha

Mit meinem dritten, etwas kürzer zu behandelnden Beispiel möchte ich zeigen, wie ausdifferenziert in den »Metamorphosen« das Motiv der Rache inszeniert werden kann. Der Mythos von Myrrha, die sich in ihren Vater verliebt und von ihm schwanger wird, bietet dabei keine vollständige Handlungsverkettung aus Vergehen und Vergeltung, sondern erzählt in seiner Gänze nur den zweiten Teil einer solchen Struktur : die Myrrha-Verwandlung stellt sich als eine auserzählte Rache mit fehlendem Vergehen, aus dem sie begründet wird und damit als eine ohne Rächer, dar. Denn was fehlt ist die Göttin Venus, wie andere Überlieferungen dieses Mythos klar machen. Aus den Erzählungen von Apollodor oder Hyginus lässt sich das Rache-Szenario rekonstruieren: das inzestuöse Begehren ist die Vergeltung für die Missachtung und Abwertung der Göttin durch Myrrha oder ihre Mutter. Für die Kausalität der Rache gibt es nur noch rudimentäre Motive, die zwar einmal mehr auf das textuelle Gleiten über die Signifikanten der Rache verrechnet werden können, aber für die konkrete Kausalbegründung der MyrrhaErzählung nichts eintragen: »Dich hat mit einem stygischen Feuerbrand und mit aufgeblähten Nattern eine der drei Schwestern angehaucht« (Ovid, Met.,X, 533). Mehr als diese Referenz auf die Eumeniden gibt es nicht; später dann noch einmal Zeichen zukünftigen Unglücks: »Dreymolen stieß sie sich darfür // Dreymolen der nacht Hawr schrey // An solchen zeichen mancherley // Sah sie ir zukünfftig geschicht« (Wickram, 574). Der Blick auf die kontextuelle Einbettung der Geschichte unterstreicht wiederum das Gewebe aus Rache und macht deutlich, wie Ovid Verwandlungserzählungen miteinander verbindet: Der Myrrha-Mythos ist Teil des Gesangs von Orpheus, der in einem amoenen Hain den versammelten Tieren miteinander verbundene Metamorphosen zum Besten gibt. Der gesamte Orpheus-Komplex ist von Wiederaufnahmen und Einspielungen des Rache-Motivs geprägt. Einige wenige Beispiele müssen genügen. Bereits der Beginn erscheint wie eine Wiederholung der Progne-Hochzeit: Zwar ist Hymenaeus, der Hochzeitsgott, anwesend, er kommt aber mit unguten Vorzeichen: »Dann sein Schein [Ovid: Fackel] wolt leuchten nicht / /Es was eyn rauchigs fewr on liecht« (Wickram, 542). Die Katabasis, um seine Geliebte Eurydike zurückzugewinnen, wiederholt jene 63 Vgl. Barkan, Leonard: The Gods Made Flesh. Metamorphosis and the Pursuit of Paganism. New Haven 1986, S. 59 – 63.

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der Iuno in der Cadmus-Verheerung; auch er trifft auf die Furien, die er – wie alle in der Unterwelt Anwesende – mit seinem Gesang berührt: »Orpheus hat auch weynen gmacht / Alle drei schwestern von der nacht / welche nie weynten vor der zeit« (Wickram, 546). Nach dem endgültigen Verlust seiner Geliebten kommt es zu der angesprochenen Aufführung seiner Gesänge – diese handeln, wie sollte es auch sein, von Rachegeschichten. Sein Tod wird ebenfalls als Vergeltung motiviert und über einen bacchantischen Exzess vollzogen: in ähnlich drastischer Form wie in der Philomela-Erzählung wird Orpheus von den Mänaden zerstückelt. In diesem motivischen Gleiten ist die Myrrha-Erzählung mit ihrem verdunkelten Ausgangspunkt situiert. Die Verkürzung der Rache-Logik hat indes bemerkenswerte Konsequenzen. In die Leerstelle der Vergeltungskausalität hinein inszeniert Ovid die selbstreferentielle Pose des Sängers Orpheus, der die Wirkung der auserzählten Rache in seinem Faszinationspotential noch einmal steigert: »Von Grauenhaften will ich singen: Hinweg ihr Töchter, hinweg, ihr Väter, oder – wenn meine Lieder euer Herz bezaubern – verweigert mir hierin den Glauben, o glaubt nicht, daß solches geschah! Glaubt ihr es aber, dann glaubt auch an die Strafe für die Tat!« (Ovid, Met. X, S. 531). Das ist natürlich eine paradoxe Pose des Sängers, dem sich nicht einmal die Unterwelt zu entziehen vermocht hatte. Es ist zudem die Ansprache der Wirkungsmechanismen des Erzählens selbst, und es ist die ironische Kontrafaktur jenes Endes von Orpheus, dessen Gesang die Herzen der Mänaden gerade nicht erreichte.64 Ovid überblendet die Rache-Thematik hier mit dem ebenfalls perpetuierenden Motiv des Künstlers (vgl. etwa Arachne zu Beginn des sechsten Buches).65 Die Figuration des Sängers und der ›Zauberkraft‹ seiner Musik ist wohl die seit der Antike hervorstechendste ›Rolle‹ des Orpheus.66 Wickram hingegen konnte mit dieser Verschränkung offenbar nichts anfangen: er lässt die Sängerpose schlicht weg.

64 Eine generelle Ironisierung des Mythos, wie er bei Vergil erzählt ist, sieht Neumeister, Christoff: Orpheus und Eurydike. Eine Vergil-Parodie Ovids. In: Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft. Bd. II (1985), S. 133 – 155. Dagegen Döring, Jörg: Ovids Orpheus. Basel, Frankfurt/Main 1996, der etwa den raschen Eingang Ovids in die Geschichte als erzählerische Dynamik versteht (S. 11) und den von Ovid ausgeführten Gesang des Orpheus in der Unterwelt, der bei Vergil noch als leere Imaginationsstelle inszeniert war, als selbstbewusste Autorfiguration (S. 27). Ähnlich auch Spahlinger, Lothar : Ars latet arte sua. Untersuchungen zur Poetologie in den Metamorphosen Ovids. Berlin, New York, S. 322, der eine »aemulatio« in der Art eines »Wetteiferns Ovids mit Vergil« ausmacht. 65 Hierzu wäre auch die von Orpheus besungene Pygmalion-Geschichte zu rechnen. Zum ästhetischen und poetologischen Selbstverständnis Ovids vgl. Spahlinger [Anm. 64]. 66 Vgl. DNP-Gruppe Kiel: sv. Orpheus. In: Der neue Pauly [Anm. 25]. http://www.paulyonline.brill.nl/entries/der-neue-pauly/orpheus-e901260 (Zugriff 7. 2. 2013).

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Die Referenz auf die Erinyen verlagert er in den Monolog Myrrhas – sie wird dort jedoch noch dunkler.67 Eine weitere Funktion des verdunkelten Rache-Grundes besteht in der Intensivierung der emotionalen Wirkung der Geschichte. Da das Initialvergehen fehlt, das zur Bestrafung Myrrhas führt, eignet der Erzählung eine prägnante Dramatik. Myrrha leidet unter ihrem inzestuösen Begehren, dem sie dennoch nicht ausweichen kann. Der Text malt die psychischen Kämpfe aus: die Zweifel, Hoffnungen und Bitten bis hin zum Selbstmordversuch, der den unheilvollen Beischlaf nicht zu verhindern vermag. Ovid stellt Myrrha als Opfer aus, ohne Erklärungen zu liefern. Er konzentriert sich ganz auf das Objekt von Vergeltung und zeigt die Konsequenzen thymotischer Energie. Das Grauenhafte findet jedoch eine Auflösung: Die Verwandlung Myrrhas in einen Baum, aus dem ihr Kind Adonis geboren wird, ist als Folge der Einsicht in ihr Vergehen gestaltet. Mit einer solchen Umkehrfigur konnte Wickram allerdings sehr wohl etwas anfangen. Er versteht die dunkle Racheerzählung als eine Konversionsgeschichte: »Die weil sie jetzt ir suend bekent // Das ihres elendts würd eyn endt« (Wickram, 575). Die christliche Semantik von Bekenntnis und Heil erscheint dann auch in der Auslegung von Gerhard Lorichius, zu dessen Lesarten der vorgestellten Rache-Erzählungen ich nunmehr übergehen möchte.

4.

Lesarten

Der in die Übersetzung von Georg Wickram eingefügte Kommentar des umtriebigen Theologen Gerhard Lorichius aus Hadamar, der sich kurzzeitig der Reformation angeschlossen hatte, um dann in einer Re-Konversion zum alten Glauben zurückzufinden, wird in der Forschung zumeist nur knapp traktiert, wenn nicht gar übergangen.68 Derartige Auslassungen ignorieren dabei jedoch, dass die »Metamorphosen« Ovids seit der Spätantike kaum ohne ihre vielfältigen 67 Zu solcher schandt mir rathen frey // Die hellischen schwestern all drey // Sie müssen immer sein verfluhet« (Wickram, 567). Die Pointe, wenn es denn eine solche in einer derartigen Geschichte gibt, ist bei Ovid gerade der Gegensatz aus dem Leid und der Verzweiflung Myrrhas, die sich gegen ihr, auch von ihr so wahrgenommenes, schändliches Tun wehrt – und der Motivation dieser unabwendbaren Verfehlung durch ein ominöses Rache-Szenario. Dies wird durch die Verlagerung der Rache-Motivik in die Reflexion Myrrhas bei Wickram aufgehoben. 68 Vgl. zu Lorichius grundlegend Stackmann, Karl: Die Auslegungen des Gerhard Lorichius zur ›Metamorphosen‹-Nachdichtung Jörg Wickams. Beschreibung eines deutschen OvidKommentars aus der Reformationszeit. In: ZfdPh 86 (1967). Sonderheft: Spätes Mittelalter. Wolfgang Stammler zum Gedenken. Hg. v. Moser, Hugo u. Ruh, Kurt. S. 120 – 160. Er behandelt die »Außlegung« nur exemplarisch und kursorisch, da sie »bei ihrer geringen literarischen Qualität nur einen begrenzten Aufwand an Zeit und Arbeitskraft rechtfertigt.« (S. 122).

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Kommentare rezipiert wurden.69 Die Verbindung von Übersetzung und Kommentar ist daher, ungeachtet der Bedeutsamkeit der Auslegungen, nicht als eine zufällige Koexistenz aufzufassen, sondern verweist paradigmatisch auf den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Umgang mit paganen Mythen.70 Diese sind, bei aller Faszination, ohne die Überführung in einen christlichen Sinnhorizont nicht vorstellbar.71 Dafür haben sich bereits seit der Antike grundlegende hermeneutische Verfahren herausgebildet.72 Es geht mir hier jedoch nicht darum, jegliche Strategien der Bedeutungsproduktion anhand des Kommentars von Lorichius nachzuzeichnen und in dieser Tradition zu verorten,73 sondern zu fragen, ob und inwieweit er sich auf die Rache-Imaginationen des Textes einlässt und sie produktiv macht. Die Praxis der Kommentierung der »Metamorphosen« zeitigt bereits bei oberflächlicher Betrachtung eine fundamentale Transformation des literarischen Textes. Indem die einzelnen Verwandlungsgeschichten als Exempla funktionalisiert werden, löst sich der Zusammenhang des perpetuierenden Erzählens Ovids auf. Dieses Phänomen der Partialisierung wird bereits im 14. Jahrhundert in den großen Auslegungskompendien des Ovidius Moralizatus (verfasst von Petrus Berchorius) oder des französischen Ovide moralis¦ auf die 69 Vgl. exemplarisch hierzu Guthmüller, Bodo: Ovidio Metamorphoseos Vulgare. Formen und Funktionen der volkssprachlichen Wiedergabe klassischer Dichtung in der italienischen Renaissance. Boppard 1981. Eine präzise Übersicht bietet etwa Michel, Paul: Vel dic quod Phebus significat dyabolum. Zur Ovid-Auslegung des Petrus Berchorius. In: Sinnvermittlung. Studien zur Geschichte von Exegese und Hermeneutik. Bd. 1. Hg. v. Michel, Paul u. Weder, Hans. Zürich 2000, S. 293 – 353; zur Anverwandlung paganer Stoffe bes. S. 200 – 212. 70 Hierzu Kern [Anm. 4]. 71 Michel [Anm. 69], S. 299 f. Vor allem die Verwandlung menschlicher Geschöpfe stellte ein nachhaltiges Problem dar. Die Metamorphose von Körpern in nichtbelebte Natur, Pflanzen oder Tiere stellt sich gegen die Gottesschöpfung. Das Verdikt von Augustinus, derlei sei nur als »phantasticum hominis«, als ein von Dämonen verursachtes Trugbild aufzufassen (De Civitate Dei 18,18), wirkte bis in die Frühe Neuzeit fort. 72 Vgl. grundlegend immer noch Seznec, Jean: The Survival oft he Pagan Gods. The Mythological Tradition and its Place in Renaissance Humanism and Art. Princeton 1995; jüngst Kern [Anm. 4] sowie einprägsam Michel [Anm. 69]. Bei diesen Verfahren handelt es sich um den sog. Euhemerismus, d. h. die historische Auslegung, um etymologisch-naturwissenschaftliche (physikalische), exemplarisch-moralisierende sowie allegorische Erklärungen paganer Mythen. Es ist notwendig, systematisch zwischen einer simplex moralitas und einer allegorischen Deutung zu unterscheiden, auch wenn die mittelalterlichen Kommentare dies nicht immer hinreichend differenziert haben. Während eine exemplarische Lesart aus dem paganen Text einen »abstrakten Satz« ausfiltert, der dann auf Sachverhalte der eigenen Welt angewandt werden kann, wird in der allegorischen Interpretation jedem Element der paganen semantischen Welt ein Element einer anderen, zumeist christlichen, semantischen Welt zugeordnet. Vgl. hierzu Michel [Anm. 69], S. 303 f. sowie die Übersichten S. 309 f. Die historische, physikalische und allegorische Funktion überlagern sich zumeist in den Kommentaren, siehe Seznec, S. 122. 73 Hierzu geben Stackmann [Anm. 68] und Rücker [Anm. 6] umfassend Auskunft.

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Spitze getrieben. Aus dem antiken Referenztext werden möglichst viele Bedeutungen generiert, wobei diese völlig gegensätzlich sein können (eine Figur kann sowohl als Erlöser wie als dämonischer Verführer gelesen werden). Am Beispiel der Auslegungen von Berchorius hat Paul Michel eindrücklich gezeigt, dass darin kein kohärentes Gebilde mehr entsteht, sondern eher eine »Warenhausauslage« exegetischer Vereinnahmungen der singulären Metamorphosen.74 Die einem von mir skizzierten narrativen Gleiten über Motive und Signifikanten entgegenarbeitende Partialisierung der einzelnen Verwandlungsgeschichten vollzieht sich nun aber nicht erst auf der Ebene des Kommentars von Lorichius, sondern ist bereits über die buchgestalterische und paratextuelle Einrichtung durch Wickram selbst disponiert. Er versteht seine Übersetzung vor allem als ein Kompendium mythischer Figuren und Erzählungen, »JEDERMAN LÜSTLICH / BESONDER ABER ALLEN MALERN / BILDTHAUWERN / UNND DERGLEICHEN ALLEN KÜNSTNERN NÜTZLICH« (Wickram, 3 [Titel]). Die Funktion eines Nachschlagewerks wird insofern unterstützt, als Wickram die Narration Ovids in sogenannte Figuren strukturiert, jeweils drei pro ›Buch‹ bei Ovid.75 Jede Figur wird eingeleitet durch eine Abbildung und eine versifizierten Inhaltsangabe. Nahezu alle Figuren überschreiten die Grenzen einzelner Metamorphoseerzählungen und binden zumeist mehrere Verwandlungsgeschichten zusammen, nicht alle aber auch zur Gänze. Eine wichtige Rolle in einer solchen Strukturierung des paganen Textes spielen die Bilder, welche den überaus seltenen Fall darstellen, dass der Urheber des Textes zugleich der Urheber der Illustrationen ist: Wickram bezeichnet sich in der Vorrede als als »eyn selbsgewachsner Moler« (Wickram, 6). Mag die Qualität der Bilder auch als minderwertig bezeichnet worden sein, verraten sie in der Selektion der visualisierten Textabschnitte gerade etwas von Wickrams Verständnis des Ovid-Textes.76 Grundsätzlich sind Wickrams Illustrationen »Erzählbilder«, die eine eigentümliche Stellung zwischen »dem Zugleich der Visualisierung und der Sukzession seiner Dechiffrierung«77 durch den nachfolgenden Text inne haben. Sie sind, so Fischer weiter, daher vor allem ein »Medium der visuellen Verknüpfung« dislozierter Erzählabschnitte.78 Damit relativieren sie ihre zweite Funktion, in der sie in ihrer Verdichtung der ein74 75 76 77

Michel [Anm. 69], S. 341 f. Vgl. die Übersicht bei Stackmann [Anm. 68], S. 126. So etwa Stackmann [Anm. 4], S. 245. Fischer, Hubertus: Wickrams Bilderwelt. Vorläufige Bemerkungen. In: Vergessene Texte – Verstellte Blicke. Neue Perspektiven der Wickram-Forschung. Hg. v. Müller, Maria E. u. a. Frankfurt/Main u. a. 2007, S. 199 – 214, hier S. 204. 78 Fischer [Anm. 77], S. 205. Von hier aus gelangt Fischer zu einer wohltuenden Abweichung von den üblichen Abqualifizierungen der Bilder : Wickram habe im Bild »Darstellungsmöglichkeiten der Gleichzeitigkeit und Verbundenheit sowie des Transitorischen erprobt, für die ihm noch kaum erzählerische Mittel zur Gebote stehen.« (206).

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zelnen Erzählung der Auffindbarkeit und Memorierung dienen, also als visuelle Lesezeichen für eine nicht-lineare Lektüre.79 In diesem Sinne ist das der Acteon-Erzählung vorangehende Bild nahezu ein »visueller Fokus«,80 in dem sich die für das Rachegeschehen konstitutiven Erzählabschnitte bündeln. Es zeigt die Begegnung Acteons mit den badenden Frauen sowie, im Hintergrund, die Jagd des Acteon als Hirsch durch seine Hunde. Das Vergehen ist in den Abwehrgesten der Frauen ebenfalls visualisiert. In diesem Bild wird eine Simultaneität von Vergehen und Strafe, von Acteons Grenzverletzung und dem rächenden Todesurteil entworfen. Die Hybridisierung Acteons zum Hirsch-Menschen verdeutlicht den Beginn der Verwandlung, ohne recht eigentlich eine zu sein,81 und stellt damit den Zustand aus, in dem Selbsterkenntnis des Frevlers verortet wird und die Rache ihre inhärente ›pädagogische‹ Wirkung entfalten kann – als Warnung vor sozialen Transgressinen. Auch die Illustration, die der Philomela Geschichte vorangestellt ist, verbindet zwei Sequenzen der Erzählung miteinander. Auf der rechten Seite wird der Gewaltakt von Tereus dargestellt, der Philomela die Zunge abschneidet. Auf der linken Seite hingegen visualisiert Wickram die Rache für dieses Geschehen, das letztlich nur einen euphemistischen Nachklang für die vorangehende inzestuöse Vergewaltigung darstellt. Zu Füßen der beiden Frauen Philomela und Progne liegt der enthauptete Körper des Kindes, während Progne den Kopf des Knaben in der Hand hält. Die Spiegelbildlichkeit der Rache wird im Bild über den Blick Prognes hergestellt. In den Zeigegesten der Frauen (die sitzende Philomela zeigt auf ihren Mund, während Progne auf den enthaupteten Leichnam des Kindes weist) wird das Geschehen als Vergeltungsrelation deutlich. Anders als bei der Vielzahl der übrigen Illustrationen steht hier keine Verwandlung im darstellerischen Mittelpunkt. Vielmehr ist es tatsächlich die Rache, die Wickram zum visuellen Merkzeichen umarbeitet. Die talionische Vergeltung des Unrechts von Tereus, vollzogen an seinem Nachkommen, wird durch diese paratextuelle Einrichtung zum Leitmotiv der nachfolgenden Erzählung. 79 Schreurs, Anna: Ein »selbgewachsner Moler« illustriert die Malerbibel. Wickrams Holzschnitte zu Ovids »Metamorphosen«. In: Vergessene Texte – Verstellte Blicke. Neue Perspektiven der Wickram-Forschung. Hg. v. Müller, Maria E. u. a. Frankfurt/Main u. a. 2007, S. 167 – 183, hier S. 172. Anhand von zwei anderen Beispielen (Narziss und Coronis) zeigt sie, wie bereits im Bild eine moralisierende Darstellung, etwa in der Differenzierung von Gut und Böse vorherrscht sowie eine Fokussierung eher auf moralisierbare Erzählzusammenhänge denn auf singuläre »Schlüsselszenen« (S. 174) wie beim Narziss. 80 Fischer [Anm. 77], S. 205. 81 Zur Differenzierung von Verwandlung und Hybridisierung, in der sowohl das Eine wie auch das Andere zugleich markiert wird, vgl. Walker Bynum, Caroline: Metamorphosis and Identity. New York 2001. In der bildlichen Aneignungsgeschichte ist das Hybridmotiv Acteons vor den nackten Frauen von besonderer Wirkung, da es auf sehr einfache und überzeugende Weise das narrative Geschehen verdichtet.

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Das selektive Verfahren Wickrams bei seiner Bebilderung lässt sich abschließend gut an der Illustration zur Myrrha-Erzählung sehen. Hier interessieren ihn weder die verdunkelte Rache-Referenz, noch die Ausstellung des Leids Myrrhas. Er wählt stattdessen jenen letzten Abschnitt in der Geschichte, wo Cynaras, der Vater, erkennt, dass er mit seiner Tochter geschlafen hat. Er zieht das Schwert und will Myrrha rächend verfolgen. Die Fixierung dynamischer Gewalt in einem Bild erhobener Waffen scheint Wickram vielfach fasziniert zu haben. Auch an dieser Stelle wählt er ein solches Sinnbild gedrängter Aktion und spielt damit ein Motiv ein, das sich im Verbund mit seiner paratextuellen Umgebung der Inhaltsparaphrase als Vergeltungsakt dechiffrieren lässt. Ich komme nunmehr zurück zur eigentlichen Auslegung des literarischen Textes durch Gerhard Lorichius. Bereits am Beispiel des Acteon wird sichtbar, dass die Verschaltung von Text und Kommentar nicht ohne Störungen und Fehlverbindungen auskommt. Lorichius bemüht sich weitgehend, dem Inhalt der jeweiligen Figur zu folgen. Die inhaltlichen Zäsuren, die Wickram vornimmt, verursachen keine zu gering zu schätzende Schwierigkeit, da in einer Figur verschiedene Verwandlungsgeschichten sowie zumeist auch nur Teile einzelner Metamorphosen verbunden werden. Der erste Teil der Acteon-Geschichte liegt noch in der ersten Figur des dritten Buches. Sie reicht bis zur Beschreibung der badenden Nymphen – und wird in der entsprechenden Auslegungspassage überhaupt nicht beachtet. Die zweite Figur beginnt dann mit dem »grossen unfal« der Begegnung von Acteon und Diana, schließt aber zudem die SemeleGeschichte, den Streit Iunos und Iuppiters sowie die Geschlechterwandlung des Tiresias ein. In seiner Auslegung der zweiten Figur bezieht sich Lorichius allerdings nur auf Acteon, die übrigen Sequenzen kommentiert er erst in der nächsten Figur. Damit verschiebt sich vielfach der Kommentar gegen die Umgebung seiner inhaltlichen Referenz.82 In diesen Schwierigkeiten mag begründet sein, weshalb Lorichius in seiner Auslegung fehlerhaft nicht von Acteon, sondern von Cadmus spricht. Mit dieser Entkoppelung von Kommentar und Text, mit der Verschiebung von Interpretation und Referenz, wird das Geflecht von Signifikanten nunmehr gänzlich durchtrennt. Man geht sicher nicht fehl zu konstatieren, dass Lorichius an der Textur der Rache in den »Metamorphosen« nicht interessiert ist.83 82 Diese Verschiebungen sind wahrscheinlich auf die Umstände der Verfassung des Kommentars zurückzuführen. Wickram und Lorichius arbeiteten unabhängig voneinander und der literarische Text war bereits fertig. Die Zusammenfügung beider Manuskripte erfolgte dann beim Satz, wo es aus nicht mehr nachvollziehbaren Gründen zu den Problemen der Bezüge kam. Vgl. hierzu Stackmann [Anm. 68], S. 128. 83 Das ist etwa sichtbar in der das dritte Buch abschließenden Pentheus-Geschichte, die über die Figur des rasenden, zornigen Bachus auf die anderen besprochenen Sequenzen verweist; dabei insbesondere auf Orpheus, dessen körperliche Zerstückelung hier bereits präfiguriert

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Einen leichteren Zugang bietet die Semantik der Bestrafung, die mit den Racheerzählungen aufgerufen wird. Hier lassen sich für den moralisierenden Impetus des Kommentars verwertbare Analogien etablieren. Aus der Rache der Iuno an Semele z. B. wird bei Lorichius eine Strafe: »es sei der Goetter art unnd eygenschafft daß sie die sünd also / uber all menschlich verstandt / geschwind straffen« (Wickram, 214). Die Rache Dianas an Acteon formuliert Lorichius in einem solchen Sinne daher zu einer grundlegenden Kritik von Jagd und Jäger aus, die eingebettet ist in den größeren Zusammenhang von Herrscherkritik: In der Verlesung von Cadmus und Acteon vollzieht Lorichius überdies eine Verschmelzung von strengem Herrscher und Jäger. So sei »Der gedacht Cadmus […] inn seiner statt Thebe eyn geweltiger Koenig worden«, der hernach die »streng / mehr geliebt dann den gemeynen armen mann / ja auch sein jagdhund mehr geliebt dann seinen eygenen mitbruder oder menschen« (Wickram, 194). Lorichius beginnt seine Kritik mit dem adligen Jagdverbot an Unbefugte: »Es ist wol dem gemeynen mann nit nuetzlich / das er sich befleist wilt zuo fahen / aber das der arm / wie man heut singt und sagt / schreibt unnd druckt / so unbarmhertziglich muoß verdampt werden / wo etwan eyn wilt / so ihm schaden thet / nit solt macht haben zu schiessen / weyß ich nit« (Wickram, 194).

Hierin deutet sich die weitaus umfassendere Ablehnung herrscherlicher Beschäftigungen an, die den Kommentator über die gesamte Passage trägt. Dabei ist die Hirsch-Metamorphose, mit der »der zorn Diane gesettigt« (Wickram, 195) werde, in eine moralische Zeichenordnung überführt: Die Hirschwerdung steht für eine quasi innere Anverwandlung: »Dann eyn yeder mann vor dasselbig / darauff er seinen sinn schlegt / gehalten wird / unnd Dionysius sagt / die liebe sei eyn krafft / so eynen yeden liebenden inn das / so er liebt / verwandelt« (Wickram, 195). Die Dimension dieses Prozesses begründet Lorichius ganz pragmatisch: »Das weydwerck oder jacht brengt auch Ehebruch und Hurerei mit / nemlich deren / so ettwan lang von iren weiben bleiben« (Wickram, 195). Die Verwandlung des Acteon wird in dieser Argumentation freilich all ihrer RacheReferenzen entkleidet. An ihr zeige sich vielmehr ganz schlicht und exemplarisch: »Eyn Jaeger eyn sünder« (Wickram, 195). Auch im Kommentar zur Episode von Philomela, Progne und Tereus fallen zunächst die Fehllektüren auf. So schreibt Lorichius in seiner Paraphrase die ist. Auch bei Pentheus ist die Vergeltung – hier sowohl der Götter als auch der Mutter und Schwester – das narrative Ziel und gipfelt in einem Blutrausch der Rache. Im starken Kontrast zu den Imaginationen der mit dem Kopf des Pentheus Tanzenden steht ein schmallippiger Interpret, der ganze zwei Sätze findet: »Das aber Pentheus der Gottheyt Bachi verspott hat / soll verstanden werden von denen / so sich deß weins mibrauchen. Ich het guoten fugk und lust dise fabel geystlich auß zu legen / so ich aber noch zur zeit solcher Allegorien keyn exempel hab / will ich es bei dem Morale lassen bleiben« (Wickram, 216 f.). Von einer Faszination für Rache-Narrative ist hier nachgerade wenig zu spüren.

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Rachehandlung an Tereus um: »Progne will sollich ubel rechen / erwuegt ir eygen kindt« (Wickram, 382). Ist es dann mit einer Spiegelbildlichkeit von Vergehen und Vergeltung nicht mehr weit her, so ist doch der narrativen Kern – die Racheeskalation – deutlich benannt. Die Verwandlung der Figuren in Vögel wird der Ausgangspunkt der Bedeutungsproduktion, wobei deutlich Tereus und Progne als äußerte Pole des Konfliktes ausgeleuchtet werden. Dazu formuliert Lorichius den Mythos insoweit um, als er die Metamorphose um den Sohn Ithys erweitert und mit der Wachtel einen neuen Vogel integriert: »werden also samptlich verwandelt / Tereus zuo eynem Widhop / Progne zuo eyner Wachteln / Ithys zuo eyner Schwalb / Philumela zuo eyner Nachtigal« (Wickram, 382). Zwar war die Verwandlung der beiden Schwestern, die Ovid im Übrigen gar nicht erzählt, in der mythologischen Tradition auch schon in der Antike nicht fest, aber die Zuschreibungen der Nachtigall für Philomela und der Schwalbe für Progne setzt sich letztlich durch.84 Für die Implementierung der Wachtel gibt es in der mythographischen Tradition, so weit ich bisher sehe, keine Vorlage. Sie lässt sich verstehen vor dem Hintergrund der Verengung des Geschehens auf die inzestuöse Vergewaltigung Philomelas, auf die Lorichius die Exempelfunktion der gesamten Episode zuspitzt. Es geht auch hier nicht um die Eskalationslogiken der Rache, es geht nicht um subtile Feinheiten semantischer Allusionen oder Ambivalenzen des Schreckens wie angesichts des Kindsmordes. Für Lorichius zeigen die Vögel an, um was es im literarischen Text im Kern geht: »Diß also bezeugen / sein noch heut bei tag genugsam argument / nemlich daß der Widhop eyn unreyner vogel ist / der inn sein eygen nest scheist« (Wickram, 382). Vogelkunde und Normative sexuellen Sozialverhaltens werden in der weiteren Argumentation aneinander gesteigert. Das Zitat aus dem Buch Leviticus 18, jener Moses auf dem Berg Sinai von Gott diktierten Versammlung sexueller Vorschriften, umreißt die Zeichenfunktion der Verwandlung: »Wie nun diser Tereus sein eygen schwaegerin und haußfrawe geschendt hat / muos er nun inn seinem eygenem quadt sitzen« (Wickram, 382). Die Verwandlung enthüllt einmal mehr das sozial transgredierende Verhalten, denn es ist »das Element der Bestrafung durch die Verwandlung in einen solchen Vogel offensichtlich und lässt auf diese Weise noch nach der Metamorphose die moralische Verfehlung sichtbar werden.«85 Sodann zitiert Lorichius aus einer mir nicht bekannten »Glosa uber den Leviticum«, die in den ornithologischen Diskurs übergreift, findet sich doch das Zitat ebenfalls in der 1555 erschienenen Historia Animalis von Conrad Gessner.86 Der Wiedehopf als »leyd vogel« steht damit im äußersten Gegensatz zur Wachtel: 84 Behmenburg [Anm. 58], S. 2. 85 Behmenburg [Anm. 58], S. 107. 86 Historia animalis (Historiae animalium liber III qui est de Avium natura. Zürich 1555): »Avis

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»Der gleych ist die gnad fraw Progne eyn herlicher vogel / nemlich eyn Wachtel / welch Camester [d.i. Petrus Comestor] nent Avem Regiam. Gschmeckt nach vom Adel / die edelleudt essen sie auch gern / verbieten sie den bawern / als das sie unwirdig seien / sollich edel fleysch zu essen« (Wickram, 382, Herv. i.O.).

Das ist eine steile Karriere für eine Kindsmörderin. Die Rache der Schwestern wird mithin völlig ausgeblendet und preisgegeben einer lebensweltlich verankerten Polarisierung. Es sei am Rande vermerkt, dass die Nobilitierung Prognes als exklusives adliges Wildbret durch das Antragen der Wachtel-Verwandlung nicht mit dem vogelkundlichen Wissen gedeckt ist, wie sich an Konrads von Megenberg Buch der Natur, hier zitiert nach der Inkunabel der Bayerischen Staatsbibliothek, zeigen lässt: »Die wachtlen ny essent gar schwaeres essen vnd essent auch ettlich vergiffte samen vnnd darumb verschmaehent sy ettlich weyß leüt ob yren tischen.«87 Über die Bedeutungen, die Lorichius den einzelnen Vogel-Metamorphosen, zuweist, markiert er den Fokus seiner Invektive, die erneut über den »Incestus«, der »ketzerei genant« wird, auf sehr viel allgemeinere Verfehlungen übergeht: »Also sicht jederman das diß Fabel artig und kunstreich ist / wider die hoff unkeuschheyt / so von grossem muotwil und wollust kompt« (Wickram, 382). Wenn Rache bisher wenig zur Sinnstiftung in den Kommentaren des Gerhard Lorichius beigetragen hat, dann lässt sich für die Myrrha-Erzählung, bei der schon Wickram das Wechselspiel aus opaken Rache-Allusionen und der Exponierung des Sängers Orpheus nicht gesehen hat, wenig erhoffen. Bemerkenswert ist zunächst, dass die Auslegung der Myrrha-Erzählung an dieser Stelle gänzlich vor der Narration kommt. Dies mag daran liegen, dass Lorichius wiederum nur einen, freilich bedeutsamen, Aspekt der Orpheus-Gesänge aufgreift. Die Metamorphosen von Hyazinthus, der sich prostituierenden Propoetiden, Pygmalion, Myrrha oder auch Adonis kreisen, vorsichtig formuliert, um ambivalente und oftmals tragisch verlaufende erotische Beziehungen. Sie spiegeln damit die durch die Trauer um den endgültigen Verlust seiner Geliebten ausgelöste Abwendung Orpheus’ vom weiblichen Geschlecht. Wickram erzählt diesen Rückzug im Gegensatz zum antiken Autor interessanterweise als Folge einer zürnenden Strafe, die durch das übermäßige Trauern um die Geliebte ausgelöst wird: »Uber solchs sein weynen und klagen // Thet Pluto der Hellen Gott sagen // Auß grimmen worten und inn zorn // ›Sint er sein weib jetzt hat verlorn // so soll er meiden alle weib […]‹« (Wickram, 548).

est lugubris et luctum amans: quamobrem in lege prohibetur. quia seculi tristitia mortem operatur, Author Glossae in Leviticum« (Bl.746). 87 Conradus [de Megenberg]: Das Buch der Natur. Augsburg 1481, [Bl. 71verso].

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Dabei übergeht der frühneuzeitliche Übersetzer stillschweigend, dass der Ovidische Orpheus zudem in gewisser Kompensation die Knabenliebe in Thrakien einführt. Für den moralisierenden Theologen des 16. Jahrhunderts waren die kultischen und sexuellen Enthemmungen, wie sie mit den Propoetiden vorgeführt wurden, Impuls genug für eine thymotische Aufwallung, mit der in einem vor allem misogynen Rundumschlag sexuelle Lasterhaftigkeit gegeißelt werden konnte. Lorichius verlässt eine geordnete Argumentationsweise und kommt nur noch sprunghaft auf den antiken Text zurück. Ihm ist es um die »wollust« (Wickram, 549), um (in völliger Verlesung des literarischen Textes) die »Sodomitische sünd« des Cyparissus und die Liederlichkeit der Frauen (»Heut trincken sich unsere gnad frawen des weins mehr dann satt / tragen Baneten / gehen blosses haupts / ja auch blosses halß und schier gar halb entbloest. Diß ist ja alles wieder die natur gesuendigt«) zu tun (Wickram, 549). Im Zentrum seiner kurativen Verve steht das Sakrament der Ehe, geeignet, die »schwachheit« des Fleisches, die Anfechtungen der Lust zu beherrschen. Daher ist der asketische Rückzug des »Orpheus / so eyn abschewens hatt von den weibern« (Wickram, 548) der eigentliche Skandal der paganen Exempelgeschichte: »Was kann der natur mehr zu wider sein / dann sich der weiber woellen pflegen und keyn kinder woellen zeugen? […] Ist der ursach eyn ware Sodomitisch laster / so der mensch uffsetziglich der weiber pflegt und der mehrung eyn schewens hat: sein der ursach keyn christen / sondern schendtlich Orpheunisten und Heyden / so beischlaffen woellen und kein nachgeschrey« (Wickram, 550).

Hier hilft nur noch die Hoffnung auf ein strafendes Eingreifen: »O Gott reformir und wehre: Dann es were ja besser daß die gantz welt zu boden gieng / dann das solchem grausamen laster nit solt gewehrt werden« (Wickram, 550). Von der poetischen Selbstreflexivität der Racheerzählung des Orpheus ist hier allerdings keine Spur. Und ebensowenig von den Motiven und Strukturen der Rache, die der antike Autor subtil eingewoben hatte. Die Myrrha-Metamorphose wiederum wird trotz ihres Inzestgeschehens nicht in das Panorama der Verderbtheit eingeschlossen, sondern sie interessiert Lorichius aus einem gänzlich anderen Grunde. Ihre Einsicht und ihr Wunsch nach Umkehr lassen sich ausdeuten als Beispiel, wie aus dem perhorreszierten Verfall der Welt zu entkommen wäre: »Diese Myrrha [h]att genad bey den Goetten bekommen durch ir bekentnuß und Beicht / so der Poet rhümet / sagende. Numen confessis aliquod patet. Das ist / Gott verleßt die nit / so inn rew ire sünde bekennen. Also ist die Myrrha eben so herrliches rhumbs / wiewol sie gefallen hatt / als andere / so nie geglitten haben« (Wickram, 564).

Im Vergleich mit Konversionsheiligen wie Maria Magdalena endet die Interpretation, die dem Aspekt von Rache, wie erwartet, keine Aufmerksamkeit

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entgegengebracht hatte. Das verwundert nicht, denn Lorichius verfügt selbst angesichts der Fülle des Stoffes über einen sehr beschränkten Themenbereich, wie Karl Stackmann verdeutlicht hat: es sind Auseinandersetzung mit Ketzerei, eine vornehmlich misogyne Moralkritik an Lastern, insbes. der sexueller Verfehlungen sowie eine Kritik am Hofleben, die vor allem die Verfehlungen der Herrscher und deren Hang zur Tyrannei umfasst.88 Darüber hinaus ist zu konstatieren, dass Lorichius weniger einen verhüllten Sinn der antiken Verwandlungsgeschichten freilegt, sondern die Moralia eher in einem Verfahren der Implementierung präpariert, was er mit den großen moralischen Kommentaren des 14. Jahrhunderts gemeinsam hat: »Der Ovid-Text liefert das Material«, um sowohl die christlichen wie auch die moralischen Wahrheiten, die im Grunde stets schon bekannt sind, lediglich »neu zu formulieren«.89 Die Imaginationen von Rache werden in einem solchen Zugriff allerdings nur sporadisch funktionalisiert.

5.

Schluss

Wie die Beispiele gezeigt haben, wird Rache in den »Metamorphosen« Ovids und in ihrer frühneuzeitlichen Bearbeitung durch Georg Wickram und Gerhard Lorichius unterschiedlich auserzählt und funktionalisiert. Dies beginnt bereits damit, dass die einzelnen Verwandlungsgeschichten an verschiedenen Phasen eines Rache-Szenarios ansetzen können und dabei die Aspekte von initialer Verletzung und finaler Vergeltung je differenziert gewichten. In der aitiologischen Struktur der Metamorphose-Erzählungen figuriert Rache als ein universales, weltschöpfendes Prinzip, dem sowohl Götter als auch Menschen unterworfen sind. Die Rache-Episoden erweisen sich zudem als narrative Ausfaltungen in einem perpetuierenden Spiel mit Signifikanten, Motiven, Responsionen von Rache. Innerhalb dieses ästhetischen Gewebes wird ein künstlerischer Impetus deutlich, der die Rache-Motivik dem Ziel einer solchen gleitenden Erzählung einpasst: Ovid ist es letztlich um ein carmen perpetuum zu tun, das in seiner poetischen Feier der Verwandlung nur ein Ziel kennt: »omnia saecula fama [… ] vivam« – nicht enden wollender Ruhm eines Autors, dessen Werk nicht einmal Iuppiters Zorn etwas anhaben könne (Ovid, Met., XV, 875 – 879). Die Komplexität der Rache-Inszenierungen Ovids ist von Georg Wickram nicht in allen Feinheiten erkannt und aktualisiert worden. Dennoch ist Vieles in seiner Übersetzung ›hinübergerettet‹ in einen Kontext, der die antiken Imaginationen von Rache als moralische Exempel weitgehend ihrer subtilen Vergel88 Stackmann [Anm. 68]. 89 Michel [Anm. 69], S. 344.

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tungsnarrative entkleidet. Insbesondere die Ausformulierung der emotionalen Motivierung von Rache scheint ein wesentlicher Zug von Wickrams Transformation zu sein. Dort, wo Ovid ambivalent und dunkel bleibt, drängt er auf eine deutliche Kausalbegründung für Vergeltungshandlungen, wofür er auf das Ausdifferenzieren der Initialemotion zurückgreift. Die Geschichte der Rache ist noch nicht geschrieben. Ihr Verfasser käme an den poetischen Imaginationen Ovids und seinen Transformationen in Mittelalter und Früher Neuzeit sicher nicht vorbei. Dazu sind sie viel zu faszinierend.

Zorn erzählen

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Der Zorn der Ohnmächtigen. Zum »Laüstic«, »Tristan« von Thomas und zum »Herzmaere«

Mittelalterliche Autoren thematisieren – wie die Forschung vielfach gezeigt hat – den Zorn unter anderem um Kräfteverhältnisse deutlich zu machen.1 In vielen Episoden spielen Genderunterschiede und literarische Formen der Inszenierung genderspezifischer Emotionalität eine zentrale Rolle. Im Hinblick darauf sollen in der folgenden Skizze poetische Formulierungen von Zorn in Passagen höfischer Literatur untersucht werden, in denen weibliche Figuren begreifen oder erfahren, dass ihre außerehelichen Liebesverhältnisse ein Ende genommen haben. Dabei gilt es zu fragen, wie sich Zorn zu Ohnmacht und Trauer verhält. Ohnmacht und Trauer stellen, wie die Forschung hervorgehoben hat, oft ein Spezifikum des literarisch inszenierten weiblichen Geschlechts dar.2 Es wird zu überprüfen sein, ob dies auch für die genannte narrative Konstellation zutrifft. Dass Zorn und Trauer oder Kummer keinen Gegensatz bilden, soll unter Berücksichtigung der oft schillernden Semantik der Emotionswörter aufgezeigt werden.

1 Vgl. Martini, Thorsten W. D. : Facetten literarischer Zorndarstellungen. Analysen ausgewählter Texte der mittelalterlichen Epik des 12. und 13. Jahrhunderts unter Berücksichtigung der Gattungsfrage. Heidelberg 2009 (Beiträge zur älteren Literaturgeschichte), S. 3, 363, Freienhofer, Evamaria: Tabuisierung von Zorn als Herrscherhandeln im »König Rother«. In: Machtvolle Gefühle. Hg. v. Kasten, Ingrid. Berlin, New York 2010 (Trends in Medieval Philology 24), S. 87–103, hier S. 99, Freudenberg, Bele: Furor, zorn, irance. Interdisziplinäre Sichtweisen auf mittelalterliche Emotionen. Einführung. In: Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung 14 (2009), S. 3–6; Koch, Elke: Trauer und Identität. Inszenierungen von Emotionen in der deutschen Literatur des Mittelalters. Berlin, New York 2006 (Trends in Medieval Philology 8), bes. S. 132. 2 Vgl. Ridder, Klaus: Kampfzorn. Affektivität und Gewalt in mittelalterlicher Epik. In: Eine Epoche im Umbruch. Volkssprachliche Literalität 1200–1300. Hg. v. Bertelsmeier-Kierst, Christa u. Young, Christopher. Tübingen 2003, S. 221–248, hier S. 236, 246; Martini [Anm. 1], S. 83.

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Marie de France erzählt in ihrem um 11603 verfassten »Laüstic«-Lai4 (also Nachtigall-Lai) von einer Passion, in der die größte Nähe zwischen den Liebenden darin besteht, dass sie miteinander reden und sich aus dem Fenster Geschenke zuwerfen. Als es wieder einmal Sommer wird, erhebt sich die Dame oft nachts aus dem Bett, das sie mit ihrem Ehemann teilt, um ans Fenster zu treten und ihren Geliebten zu sehen. So oft steht sie auf, dass, so heißt es im Text, ses sires s’en curuÅa (V. 80), dass sich ihr Herr erzürnte oder bekümmerte. Marie de France verwendet hier ein Verb, das sowohl ›zürnen‹ als auch ›bekümmern‹ bedeutet.5 Vermutlich geht es ihr darum, eine Mischung aus beiden Emotionen zum Ausdruck zu bringen.6 Denn der hiesige Kontext schließt nicht aus, dass für den Ehemann neben corroz als Zorn auch corroz als Kummer eine Rolle spielt. Zorn wäre dabei eine Emotion, die – wenn sie einen überwältigt – zum Handeln bewegt, Kummer eine, die eher Passivität hervorruft.7 Als eine Mischung aus Trauer und Zorn gilt dieser Affekt im Lai als erstes Signal, dass die verbotene Liebe in Gefahr sein könnte. Auf die wiederholte Frage des Ehemanns, warum sie nachts aufstehe, schwärmt die Dame von dem Gesang der Nachtigall: Aus Sehnsucht danach und aus Freude daran könne sie kein Auge zutun. Der Gatte lacht: D’ire e de maltalent en rist (V. 92). Ire benennt seinen Zorn, kann allerdings auch ›Kummer‹ heißen.8 Auch wenn sich die meisten Belege im »Altfranzösischen Wörterbuch« von Tobler und Lommatzsch auf die erste Bedeutung beziehen, kann hier die zweite nicht ausgeschlossen werden. Maltalent heißt ›Missmut‹, ›Ärger‹, ›Zorn‹, ›Erbitterung‹.9 Die Semantik der zwei Begriffe überschneidet sich teilweise, als würde Marie nach einem passenden Wort für eine komplexe Emotion suchen, die sich eher mit Hilfe einer doppelten Bezeichnung sprachlich fassen lässt. Die semantische Schnittmenge bewirkt zudem, dass mindestens ein Aspekt, der Zorn, durch die Wiederholung in den

3 Vgl. zur Datierung Bossuat, Robert, Pichard, Louis u. de Lage, Guy Raynaud: Le Moyen Age. Hg. v. Hasenohr, GeneviÀve u. Zink, Michel. Paris 1992 (Dictionnaire des lettres franÅaises – Le livre de poche – Encyclop¦dies d’aujourd’hui), S. 992. 4 Zitiert nach: Marie de France: Die Lais. Übersetzt, mit einer Einleitung, einer Bibliographie sowie Anmerkungen versehen von Rieger, Dietmar. München 1980 (Klassische Texte des Romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 19), S. 304 – 315. 5 Vgl. Greimas, Algirdas Julien: Grand Dictionnaire. Ancien franÅais. Paris 2007, S. 132. 6 Zur Verbindung von Trauer und Zorn vgl. Koch [Anm. 1], Ridder [Anm. 2]. Termini, die sich gleichzeitig auf Trauer und Zorn beziehen, sind meines Wissens bisher noch nicht untersucht worden. 7 Vgl. zu einem anderen Verhältnis von Aktivität und Passivität im Begriff pathos Schlesier, Renate: Pathos dans le th¦–tre grec. In: Violentes ¦motions. Approches comparatistes. Hg. v. Borgeaud, Philippe u. Rendu Loisel, Anne-Caroline. GenÀve 2009, S. 83–100, v. a. 85. 8 Vgl. Tobler, Adolf u. Lommatzsch, Erhard: Altfranzösisches Wörterbuch. Berlin, Wiesbaden 1925–1976, Bd. 4, Sp. 1443. 9 Vgl. Tobler u. Lommatzsch [Anm. 8], s.v. mautalent, Bd. 5,2, Sp. 1305.

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Vordergrund tritt.10 Ire und maltalent verursachen in der Erzählung ein zorniges Lachen, das Souveränität, Stärke und – trotz Kummer und Erbitterung – nicht Passivität, sondern vielleicht schon Vorfreude auf den Racheakt deutlich werden lässt. Dieser Zorn hat eine Handlung,11 jedoch – anders als sonst oft in antiker und mittelalterlicher Literatur – keine unkontrollierte, irrationale zur Folge.12 Ganz im Gegenteil: Der betrogene Ehemann denkt zuerst nach und nimmt sich vor, die Nachtigall fangen zu lassen. Als er sie in den Händen hält, verkündet er (wohl ironisch-böswillig) der Dame, dass sie ab jetzt in Ruhe schlafen können wird. Ihre Reaktion: Dolente e cureÅuse fu (V. 112). Sie war traurig und bekümmert oder zornig, möglicherweise sowohl bekümmert als auch zornig. Auch die Emotionen der Dame führen nicht zu unkontrollierten Handlungen: Sie erbittet von ihrem Mann die Nachtigall. Dieser aber bricht dem Vogel den Hals und wirft ihn auf die Brust der Dame, so dass ihr Hemd ein wenig mit Blut beschmiert wird. Diese zerstörerische, gemeine (vileins, V. 116) Geste wird nicht explizit mit dem Zorn des Ehemanns in Verbindung gebracht und stellt wohl eine überlegte Handlung dar. Allerdings kann man Unkontrolliertheit mit ihr assoziieren, oder es handelt sich um eine gewollte Entladung des Zorns, die sich zugleich als Drohung an die Dame versteht. Dass Marie die Geste im Hinblick auf Emotionen nicht kommentiert, lässt alle diese sich nicht ausschließenden Möglichkeiten bestehen. Auf einer Metaebene weist diese Zerstörung zugleich auf eine Schöpfung hin, das sei hier in einer Parenthese angemerkt. Der »Laüstic« wurde oft und zu Recht als Kontrafaktur der Ovidschen Philomela-Geschichte gelesen.13 Dort webt die 10 Vgl. dazu auch Larmat, Jean: La souffrance dans le »Tristan« de Thomas. In: M¦langes de langue et litt¦rature franÅaises du Moyen-ffge offerts — Pierre Jonin, Senefiance 7 (1979), S. 369–385, hier S. 376 f. 11 Vgl. Grubmüller, Klaus: Historische Semantik und Diskursgeschichte: zorn, n„t und haz. In: Codierungen von Emotionen im Mittelalter / Emotions and Sensibilities in the Middle Ages. Hg. v. Jaeger, C. Stephen u. Kasten, Ingrid. Berlin, New York 2003 (Trends in Medieval Philology 1), S. 47–69; Freienhofer [Anm. 1], Martini [Anm. 1], S. 2–4, 71, 90–99, 131–363; Sieber, Andrea: Zwischen Norm und Transgression. Gefühle der Feindschaft in Homers »Ilias« und Herborts von Fritzlar »Liet von Troye«. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 138 (2005), S. 70–91, hier S. 76 f.; Bumke, Joachim: Emotion und Körperzeichen. Beobachtungen zum »Willehalm« Wolframs von Eschenbach. In: Das Mittelalter 8 (2003), S. 13–32, hier S. 15–20. 12 Zu anderen Formen des kontrollierten Zorns oder von Zorn, der nicht zu Kontrollverlust führt, vgl. Martini [Anm. 1], S. 95, Koch [Anm. 1], S. 133. 13 Vgl. u. a. McCash, June Hall: Philomena’s Window. Issues of Intertextuality and Influence in Works of Marie de France and Chr¦tien de Troyes. In: De sens rassis. Essays in Honor of Rupert T. Pickens. Hg. v. Busby, Keith u. a. Amsterdam, New York 2005 (Faux Titre 259), S. 415–430; Quéruel, Danielle: Silence et mort du rossignol: les r¦¦critures m¦di¦vales de l’histoire de PhilomÀle. In: PhilomÀle. Figures du rossignol dans la tradition litt¦raire et artistique. Hg. v. Gély, Veronique u. a. Clermont-Ferrand 2006, S. 73–88, bes. S. 84–88;

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vergewaltigte Philomela, deren Zunge aus Zorn (ira VI,549)14 und Furcht (metus VI,550) vor der Anklage abgeschnitten wurde, zwischen weiße Fäden purpurne Zeichen und damit ihre Geschichte ein. Bei Marie de France erschafft die Gewalttat des eifersüchtigen Ehemannes ein ähnliches Tuch. Und während bei Ovid der purpurne Faden das vergossene Blut repräsentiert, handelt es sich im »Laüstic« um einen kleinen Blutfleck, der fast an einen Buchstaben erinnert. Zudem setzt der Ehemann dem Gesang der Nachtigall ein Ende und macht den Weg frei für eine andere, menschliche Kunstform, wie noch zu zeigen sein wird. Er verhindert, dass seine Frau mit ihrem Liebhaber weiter spricht und lässt auf seine Weise sie und ihre Liebe verstummen. Der Kontrast zum Zorn der Dame könnte nicht größer sein. Sie, die unmittelbar vor dem Tod der Nachtigall als traurig und zornig bezeichnet wurde, kann sich fast keine aggressive Geste leisten. Ihre Ohnmacht wird durch den Vergleich mit Ovids Philomela-Episode noch deutlicher. Sie verstummt wie die antike Heldin, aber während Philomelas Schwester rasend und zornig (die Begriffe sind furia und ira, vgl. V. 595, 609, 623, 627, 657) wird, ihr eigenes Kind tötet und es Philomelas Peiniger zu essen gibt, während ihm Philomela selbst den blutigen Kopf des Kindes zeigt, muss sich die mittelalterliche Dame mit einem kunstvollen Brief an den Liebhaber begnügen. Freilich handelt der antike Text auch von selbstzerstörerischen Gesten, die ein Leben der Schwestern in den vorherigen sozialen Zusammenhängen unmöglich machen. Die »Laüstic«-Dame riskiert indes keine solche Tat und respektiert die höfischen Normen. Diese sprechen ihr jegliche Möglichkeit ab, sich als Ehebrecherin wirkungsvoll zu wehren.15 In Bezug auf ihren Ehemann ist sie zur Passivität gezwungen. Dem entspricht auch, dass im Text ihr corroz angedeutet und sofort wieder verschwiegen wird. Nachdem der Mann den Vogel tötet, weint sie nur noch und verflucht – vielleicht im Zorn, doch dazu macht Marie keine Angaben – diejenigen, die die Nachtigall fingen, nicht aber explizit ihren Mann. Vor dessen Zorn hat sie allerdings auch keinen Augenblick Angst. Der corroz der Dame, seine momenthafte Präsenz im Text, entspricht ihrem geringen Handlungsspielraum, während der Zorn (corroz, ire, maltalent) des Ehemannes dazu führt, dass er seine Macht demonstriert und seinen Willen durchsetzt. Behmenburg, Lena: Philomela. Metamorphosen eines Mythos in der deutschen und französischen Literatur des Mittelalters. Berlin, New York 2009 (Trends in Medieval Philology 15). 14 Die Bedeutung ›Erbitterung‹ von lat. ira kann hier ausgeschlossen werden. Zitiert nach: P. Ovidius Naso: Metamorphosen. Lateinisch / Deutsch. Übersetzt und hg. v. von Albrecht, Michael. Stuttgart 2003 (RUB 1360). 15 Zur »Beschränktheit weiblichen Handelns« in anderen Konstellationen vgl. Braun, Manuel: Trauer als Textphänomen? Zum Ebenenproblem der mediävistischen Emotionsforschung. In: Machtvolle Gefühle. Hg. v. Kasten, Ingrid. Berlin, New York 2010 (Trends in Medieval Philology 24), S. 53–86, hier S. 73.

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Vielleicht als kleinen Trost, in jedem Fall um ihren Freund zu benachrichtigen, schafft die Dame ein Kunstwerk, einen goldgestickten und mit ihrer Geschichte beschrifteten oder bebilderten Samtstoff,16 eine kostbare Variante von Philomelas Textur und eine konkret verstandene Metapher des Textes als Gewebe. Darin wickelt sie die Nachtigall ein. Sie erzählt den Vorfall einem Diener und schickt ihrem Freund durch diesen Boten die mündliche Erzählung und die kostbar eingewickelte Nachtigall. So entsteht – mündlich und schriftlich zugleich – die erste Variante des Lais, den Marie erzählt. Die Kunst17 erscheint als eingeschränkter Ausweg aus der Ohnmacht, auch wenn sie nicht der Liebe – zumindest in der gleichen Form – eine Zukunft geben kann und nicht als Rache gilt. Sie ermöglicht eine letzte Kontaktaufnahme mit dem passiv-traurigen (dolenz, V. 147), nicht aber zornigen Geliebten (der im Gegensatz zum Ehemann nicht vileins ist, V. 148) und dient der memoria: Die Geschichte bleibt den Bretonen und dann, durch Marie de France, den französisch Sprechenden in Erinnerung. Der Liebhaber bewahrt die gestickte Liebesgeschichte und den Leichnam der Nachtigall in einem kleinen kostbaren Gefäß auf, von dem er sich nie mehr trennt. Der Respekt gegenüber der Liebesreliquie und dem Text sowie die Kostbarkeit der Materialien werten die unglückliche Liebe in signifikanter Weise auf. Dieser Funktion ist die Kunst in einem weiteren, fragmentarisch erhaltenen Text der Zeit größtenteils enthoben. Es handelt sich um den von Thomas d’Angleterre vermutlich zwischen 1172 und 117618 verfassten »Tristan«.19 Im ersten Sneyd-Fragment schildert Thomas ausführlich das Gewirr der Gefühle und Intentionen seines Helden kurz vor und kurz nach der Heirat mit Ysolt as Blanches Mains. Als Thomas dann über die einsame Königin Isolde zu sprechen beginnt, wirken die Angaben fast telegrammartig. Es heißt, Isolde verlange es 16 Wie im Falle Philomelas geht aus dem Text nicht klar hervor, ob es sich um Schrift und/oder um Bilder handelt. Der Stoff sei tut escrit (V. 136), heißt es bei Marie, und das kann beides bedeuten. 17 Dazu vgl. u. a. Waltenberger, Michael: Imaginative Präsenz und Geschlechterdifferenz. Überlegungen zu Chr¦tien und Marie de France. In: Situationen des Erzählens. Aspekte narrativer Praxis im Mittelalter. Hg. v. Lieb, Ludger u. Müller, Stephan. Berlin, New York 2002 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 20), S. 143–166, hier S. 161–166, Calabrese, Michael: Controlling Space and Secrets in the Lais of Marie de France. In: Place, Space, and Landscape in Medieval Narrative. Hg. v. Howes, Laura. Knoxville 2007 (Tennessee Studies in Literature 43), S. 79¢106, hier S. 94, Baisch, Martin u. Trînca, Beatrice: Einleitung. In: Der Tod der Nachtigall. Liebe als Selbstreflexivität von Kunst. Hg. v. Baisch, Martin u. Trînca, Beatrice. Göttingen 2009 (Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung 6), S. 7–15. 18 Vgl. zur Datierung Bossuat, Pichard, de Lage [Anm. 3], S. 1429. 19 Zitiert nach: Thomas: Tristan. Eingeleitet, textkritisch bearbeitet und übersetzt von Bonath, Gesa. München 1985 (Klassische Texte des Romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 21).

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nach Tristan, den sie über alles liebt, sie habe schon lang keine wahre Nachricht über ihn gehört und sei in sehr großem Schmerz (dolur, V. 711).20 Sie glaubt, fährt Thomas fort, dass sich Tristan in Spanien aufhält, wo er im Kampf gegen einen Riesen verwundet wurde. In einem Exkurs berichtet der Erzähler über die Kämpfe dieses Riesen, den Tristan letztlich tötet. In diesem Kontext fällt auch der Begriff ire (V. 762, 774) als Bezeichnung für den Zorn des beleidigten und provozierten, zum Kampf entschlossenen Königs Artus21 und für den Zorn anderer Kämpfer.22 Die Bedeutung ›Kummer‹ von ire kann man hier ausschließen. Von Isolde heißt es nach dem Exkurs, dass sie eines Tages in ihrem Gemach begleitet von einem Instrument einen traurigen Lai von der Liebe (un lai pitus d’amur, V. 834) macht (fait, V. 834), also komponiert und/oder singt. Sie trägt süß und leise (der Begriff dulcement bedeutet beides, V. 843), mit süßer Stimme und leisem Klang, wie es weiter heißt (V. 846), ein Lied über ein anderes Liebespaar vor. Trotz der in der Literatur der Zeit als bitter verstandenen Trauer23 und trotz der dramatischen Geschichte, die sich Isolde erzählt, ist die Performance der talentierten Sängerin süß. Eine Analogie zur bittersüßen Liebe drängt sich auf. Der lai pitus d’amur stellt die Entsprechung zu Tristans inneren Monologen dar. Isoldes Selbstreflexion nimmt eine künstlerische Form an und handelt nur indirekt von ihrer eigenen Liebesgeschichte, wohl auch deshalb, weil sie am Hofe nicht ihre eigene, ehebrecherische Beziehung zu Tristan besingen kann – auch nicht in der Einsamkeit der Kemenate. Ihre Trauer und ihr Schmerz haben an dieser Stelle eine künstlerische Handlung zur Folge, die sich an die Sängerin selbst richtet und, weil der Lai dolur (V. 841) zum Thema hat, Isoldes dolur (V. 711) aktualisiert und wohl auch intensiviert. Passiv ist die kummervolle Königin insofern, als sich ihre Aufmerksamkeit nur auf sich selbst und ihre Gefühle richtet. Sie erzählt sich von Guirun, der vom eifersüchtigen Gatten seiner Geliebten getötet wird, und von der Dame, die Guiruns Herz zu essen bekommt,

20 Vgl. zum Leidensvokabular Larmat [Anm. 10]. 21 Die Figur des Königs Artus ist hier anders konzipiert als in vielen späteren Romanen, in denen Artus gar nicht kämpft. Vgl. dazu zuletzt Rüther, Kerstin: Der kalte König. Melancholische Spuren in Heinrichs von dem Türlin »Krone«. In: Melancholie – zwischen Attitüde und Diskurs. Konzepte in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. v. Sieber, Andrea u. Wittstock, Antje. Göttingen 2009 (Aventiuren 4). S. 15–40. 22 Zum mhd. zorn der Krieger vgl. Ridder [Anm. 2], S. 233. 23 Vgl. z. B. au coer ai grief doel amer, V. 8135 in: Jakem¦s: Le Roman du Ch–telain de Coucy et de la Dame de Fayel. Êdition bilingue. Publication, traduction, pr¦sentation et notes par Gaullier-Bougassas, Catherine. Paris 2009 und das Fragment von Carlisle, V. 59–61 in: Tristan et Yseut. Les premiÀres versions europ¦ennes. Hg. von Christiane MarchelloNizia u. a. Paris 1995 (BibliothÀque de la Pl¦iade), S. 123–127.

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sowie von ihrem dolur (V. 841), von ihrem Schmerz, in dem sich Isoldes dolur (V. 711) wiederfindet.24 Während die Königin dem Lai ihre Stimme verleiht, besucht sie Graf Cariado, der ihr, wie Thomas erzählt, seit längerer Zeit erfolglos den Hof macht. Er sei zwar schön, höfisch und stolz, ein guter Redner und ein Galan, begabt im Witzereißen, aber er sei »nicht zu loben«, heißt es, wenn es gelte, »Waffen zu tragen«.25 Selbst seine höfischen Qualitäten stellt Cariado in dieser Episode nicht unter Beweis, denn er lacht Isolde aus und spottet über sie. Er behauptet, dass dieses Mal ausnahmsweise die Klage der Eule nicht den Tod eines anderen Menschen prophezeie, sondern den der Sängerin, der Eule selbst. Wenn in der hochmittelalterlichen Dichtung Sänger und Dichter mit Vögeln assoziiert werden, handelt es sich um Nachtigallen,26 Pirole, Lerchen, aber nicht um Eulen. Die Eule gilt als schlechtes Omen, Ausdruck und Zeichen des Kummers, über den der Besucher spottet. Für die Süße von Isoldes Gesang hat Cariado keine Anerkennung übrig, geschweige denn für dessen Inhalt. Wie Isolde reagiert, erzeugt einen größtmöglichen Kontrast zur vorhin traurigen, süß in der Einsamkeit singenden Königin: Sie kontert zunächst, dass derjenige Eule und Totenvogel sei, »der etwas singt, worüber ein anderer erschrickt«.27 Und da Cariado ihr schlechte Nachrichten bringen wolle, sei er die Eule und prophezeie – seinen Worten zufolge – den eigenen Tod. Zudem wirft sie ihm vor, kampfscheu zu sein. Cariado erwidert: Coruz avez, mais ne sai dont (V. 904), ›Ihr seid zornig und bekümmert, aber ich weiß nicht warum‹. Es lässt sich nicht entscheiden, ob hier nur der Zorn der nunmehr streitbaren Isolde zur Sprache gebracht wird. Möglicherweise meint Cariado eine Mischung aus Kummer und Zorn. Ersterer zwingt sie nicht zur Passivität, sondern der Zorn spornt sie an. Indem er Isoldes zornige Reaktion anspricht, weist Cariado, der angeblich keine Erklärung dafür findet, seine Gesprächspartnerin darauf hin, dass sie seine Worte nicht kühl lassen. Mit dem Kummer spricht er einen wunden Punkt der zornigen Königin an. Dadurch, dass er ihre Gefühle ins Gespräch bringt, stellt er Isolde bloß. Zudem nimmt er seine Bezeichnung als Totenvogel souverän (und also unangreifbar) an und bezeichnet Isolde erneut als Eule. Als Totenvogel teilt er dann Isolde mit, sie habe ihren Liebhaber Tristan verloren, dieser hätte die Tochter des Herzogs von Bretagne geheiratet – eine Nachricht, die einen dem Tod ver24 Vgl. auch Schmolke-Hasselmann, Beate: Tristan als Dichter. Ein Beitrag zur Erforschung des lai lyrique breton. In: Romanische Forschungen 98 (1986), S. 258–276, hier 272. 25 Zitiert nach der Übersetzung von Bonath [Anm. 19], S. 125–127. 26 Im »Laüstic« singen die Vögel im Frühling und, an einer späteren Stelle, die Nachtigall süß (ducement) – wie Isolde bei Thomas. Vgl. »Laüstic«, V. 61, 87. 27 Zitiert nach der Übersetzung von Bonath [Anm. 19], S. 129. Die Übersetzungen der Vogelbezeichnungen übernehme ich auch von Gesa Bonath, vgl. dazu ihre Erklärungen auf S. 127 und 129.

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gleichbaren übermäßigen Schmerz im Herzen der singenden Eule hervorrufen kann. Die Königin antwortet, Ysolt resspont par grant engaigne (V. 916), mit großem Zorn oder Verdruss, dass sie Cariados Eule sein wolle. Sie verkündet ihm, dass sie ihn niemals lieben werde. Ele s’est iree forment (V. 933), sie hat sich sehr erzürnt und bekümmert, fügt Thomas hinzu. Er verwendet hier eine Bezeichnung für Zorn (und Kummer), die an die zuvor in der Episode angesprochene ire des Königs Artus und der Krieger denken lässt – aber auch an die Schilderung der Gefühle und Überlegungen Tristans. Dort kommt ire mehrmals in Paarbildungen mit amur vor, zum Beispiel: En tel fait e en vengement E amur e ire i entent, Ne Åo n’est amur ne haür, Mais ire est mellee od amur, E amur est mellee od ire. (V. 405–409) ›In solchem Handeln und in der Rache sehe ich sowohl Liebe als auch Zorn/Feindschaft. Das ist weder Liebe noch Hass, sondern Zorn ist es, vermischt mit Liebe, und Liebe ist es, vermischt mit Zorn.‹28

›In solchem Handeln‹ meint, dass man sich eine andere, erreichbare Person aussucht, um sie zu lieben, um von einer unerfüllten Liebe wegzukommen. Ire bezeichnet hier das Gegenteil von Liebe, das Liebende empfinden können, ähnlich wie in der Paarbildung amur und haür, Liebe und Hass.29 In Klammern sei angemerkt, dass Gottfried (vielleicht in Anlehnung an Thomas) in seinem »Tristan«-Roman weiter differenziert, als es heißt, dass der zorn –ne haz (V. 13037) erfrischend für die Liebe sei.30 Die Verse von Thomas über Tristan, die amur und ire verbinden, bringen die Möglichkeit einer Koexistenz von Liebe und ihrem Gegenteil – der ire und implizit der fast synonym verwendeten haür – zum Ausdruck. Die Bedeutung ›Kummer‹ tritt dabei in den Hintergrund. Isoldes ire, die den Kummer nicht ausschließt, erinnert daran und kontrastiert damit. Bei ihr kann von gleichzeitiger oder unmittelbar vorausgehender Liebe für Cariado keine Rede sein. Bei ihr handelt es sich zudem um eine akute Emotion, die von dem Gesprächspartner provoziert wird und die sie (wie die Krieger, 28 Übersetzung von Bonath [Anm. 19], modifiziert. Vgl. auch V. 370, 630–635. 29 M. E. schließt der Kontext andere Bedeutungen von haür aus. Zur Mischung von Liebe und Hass bei Platon und Freud vgl. Schlesier, Renate: Beschreibung eines Kampfes: Eros, Todestrieb und die Ambivalenz der Gefühle. In: Große Gefühle. Bausteine menschlichen Verhaltens. Hg. v. ZDF-nachtstudio. Frankfurt am Main 2000, S. 15–30. 30 Zitiert nach: Gottfried von Straßburg: Tristan. Hg. v. Marold, Karl, besorgt v. Schröder, Werner. Berlin 1969. Zum Verhältnis Thomas-Gottfried vgl. zuletzt: Wyss, Ulrich: Tristanromane. In: Höfischer Roman in Vers und Prosa. Hg. v. Pérennec, Ren¦ u. Schmid, Elisabeth. Berlin, New York 2010 (GLMF V), S. 49–94.

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allerdings rhetorisch) streitbar werden lässt. Sie erzürnt und bekümmert sich eher, als dass sie Zorn oder Hass hegt. Das Wort ire stellt unabhängig von seinen Bedeutungsnuancen in den jeweiligen Kontexten Verbindungen zwischen diesen Kontexten her und weist zugleich auf die Differenzen zwischen den Episoden hin: insbesondere auf die Abwesenheit der Liebe Isoldes für Cariado im Kontrast zu Tristan. Cariado will, wie Thomas weiter erzählt, die Königin mit seinen Worten nicht bedrängen, ärgern oder rhetorisch sowie mit seiner Anwesenheit einengen (anguissier):31 Ne la volt par diz anguissier / Ne ramponer ne corucier […] (V. 935 f.). Er will sie nicht verhöhnen (ramponer) und corucier, also erzürnen oder bekümmern, wahrscheinlich sind hier beide Emotionen gemeint. Es handelt sich um einen verspäteten Vorsatz. Thomas spezifiziert nicht, ob sich Cariado dies einredet oder gar Isolde mitteilt. Jedenfalls motiviert diese Aussage Cariados darauf folgende Geste: Der Graf quittiert rasch das Gemach. Seine Feigheit hat offensichtlich das letzte Wort. Seine Flucht wird von Thomas nicht weiter begründet, der Hinweis auf sie verschwindet aus dem Erzählfluss genauso schnell wie sich Cariado aus dem Gemach entzieht. Der Gedanke liegt aber nahe, dass er vor dem Zorn Isoldes (engaigne, ire, coruz) flieht. Als feiger Ritter, der sich offenbar vor einer Frau fürchtet, steht er nicht einmal zu seinem früheren böswilligen Vorhaben, Isolde zu ärgern. Der Kontrast zu dem im Exkurs über den Riesen erwähnten Kampfzorn und zu dem Zorn des kampfwilligen Königs Artus könnte nicht größer sein. Cariado flüchtet, obwohl er nicht konkret bedroht wird. Als Königin könnte Isolde den lästigen Besucher aus ihrem Gemach unehrenhaft entfernen lassen. Nur in einem einzigen Text der Tristan-Tradition, im »Tristan Rossignol« vom Ende des 12. Jahrhunderts, wird Isolde selbst handgreiflich, als sie, erzürnt über einen Zwerg (irrur, V. 611), diesem vier Zähne ausschlägt.32 In der Thomasschen Episode wird aber eher eine diffuse Angst oder der Wunsch thematisiert, einer zornigen (und bekümmerten) Person aus dem Weg zu gehen, dem Zorn eines anderen nicht lange ausgesetzt zu sein, ohne dass eine konkrete Gefahr außer die des Unmuts der eigentlich geliebten Gesprächspartnerin besteht. Indem Thomas den verspäteten Wunsch Cariados anspricht, Isolde nicht zu erzürnen und zu bekümmern (corucier, V. 936), stellt er eine Parallele zum inneren Monolog Tristans in der Hochzeitsnacht mit Ysolt as Blanches Mains her. Tristan wirft sich darin vor, er habe sich an der Königin Isolde rächen wollen, und nun habe er sich in erster Linie betrogen. Er müsse die Ehe mit Ysolt 31 Angoisse (< lat. angustia) bedeutet u. a. ›oppression‹ und ›colÀre‹, vgl. Greimas [Anm. 5], S. 29. 32 Der »Tristan Rossignol« ist als Teil eines anderen Textes (des anonymen »Le Donnei des amants«) überliefert. Zitiert nach: Paris, Gaston: Le Donnei des amants. In: Romania 25 (1896), S. 497–541.

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as Blanches Mains vollziehen, obwohl es ihm gar nicht danach sei. Wenn er, so formuliert Tristan sein Dilemma, mit seiner Ehefrau schlafe, wird die Königin Isolde darüber erzürnt und bekümmert sein (coreÅuse, V. 548). Wenn er nicht mit ihr schlafen wolle, werden das Mädchen Isolde, ihre Verwandten und alle anderen zornig werden oder ihm Kummer bereiten: Si jo me chul avoc ma sspuse, Ysolt en irt mult coreÅuse; Se jo od li ne voil chulcher, […] […] de li avrai mal coruz; De ses parenz, des altres tuz [Apokoinu] Haz et hunis en sereie […] (V. 547–553). ›Wenn ich mit meiner Frau schlafe, wird Isolde darüber sehr erzürnt/bekümmert sein. Wenn ich mit ihr nicht schlafen will, […] werde ich mir ihren heftigen Zorn auf mich ziehen [und] denjenigen ihrer Verwandten und aller anderen / werde ich von ihr schlimmen Kummer haben, von ihren Verwandten, von allen anderen. Von ihren Verwandten, von allen anderen würde ich dafür gehasst und geschmäht werden.‹33

Hier kommen der Wunsch eines Liebenden zum Ausdruck, seine Geliebte nicht zu erzürnen und zu bekümmern, sowie der Harmonie-Wunsch eines Ehemannes, Verwandten und Höflings, der – so lässt sich Thomas’ komprimierte Ausdrucksweise verstehen – sich vor Leid und Zorn schützen will. Tristan findet eine Ausrede, um den Zorn beider Seiten gar nicht aufkommen zu lassen: Er gesteht seiner Frau, dass er wegen eines körperlichen Gebrechens die Ehe nicht vollziehen könne. Der Kontrast zu Cariado, der den Zorn nicht listig abwendet, sondern provoziert und dann vor diesem flieht, könnte nicht größer sein. Tristan ist allerdings der Familie seiner Braut ausgeliefert, während Cariado eine einsame Königin anspricht. Nicht zuletzt deshalb muss sich Tristan als der bessere Höfling erweisen. Das tut er aber auch, um seine abwesende Geliebte nicht zu erzürnen, während Cariado, der Isolde auch liebt, anders handelt. Die Königin Isolde bestraft in dieser Episode den schlechten Boten mit Worten. Ihr Zorn führt zur Tat, jedoch nicht zu einer unkontrollierten Handlung, sondern – insbesondere was die Eulen-Metaphorik betrifft – zu einer rhetorischen Glanzleistung. Diese wird von Thomas ausführlich geschildert, im Gegensatz zu Marie de France, die, ohne den Zorn weiter zu erwähnen, kurz berichtet, dass die Dame, deren Liebesverhältnis als beendet gilt, die Nachtigallfänger verflucht. Dem Widerstand Isoldes räumt Thomas mehr Platz ein, was sich in signifikanter Weise fortsetzt: Mit dem Verschwinden des Grafen nehmen Isoldes Zorn und die Trauer kein Ende. Es heißt:

33 Übersetzung von Bonath [Anm. 19], modifiziert.

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E Ysolt molt grant dol or fait; En sun corage est anguissee E de ceste novele iree….. (V. 938–940) ›Isolde ergibt sich jetzt großem Schmerz; in ihrem Sinn ist sie besorgt und über diese Nachricht erzürnt und bekümmert.‹34

Hier bricht das Fragment ab. Der Bote, der sie bedrängte, ist verschwunden, doch jetzt scheinen sie die Sorgen zu bedrängen (angoissier). Die verbotene Liebe verbietet nun der Königin fast jede Form des Handelns, so dass schmerzvolle Passivität Oberhand gewinnen kann und der Antrieb des Zorns über die schlechte Nachricht ins Leere läuft. Aus der Saga wissen wir, dass sich die Thomassche Erzählung wahrscheinlich so fortsetzte, dass sich Isolde erkundigte, ob die Nachricht wahr sei, und trauerte. Die Nachricht von Tristans Treue kann sie nicht erreichen, da vorerst niemand außer Ysolt as Blanches Mains weiß, was in der Hochzeitsnacht passiert. Tristans Versuch, die Königin nicht zu erzürnen und zu bekümmern, scheitert an dieser Stelle. In ihrem Zorn vermag Isolde den böswilligen Boten zu vertreiben, doch letztlich ist sie zornig, bekümmert und ohnmächtig wie die »Laüstic«-Dame. Anders als diese widmet sich Isolde nicht mehr der Kunst. In der mittelalterlichen Literatur wird süßer Musik die Fähigkeit zugeschrieben, Zorn zu stillen.35 Doch Isolde spielt und singt nicht mehr. Der Lai von Guirun ging der schlechten Nachricht voraus. Auf Isoldes Zorn und Kummer über die Botschaft folgt nichts mehr, als würden sich diese ins Unendliche verlängern. Das Fragment bricht vielleicht nicht zufällig an dieser Stelle und mit dem Wort iree ab. Isolde trauert also nicht nur (passiv), sondern ist zugleich erzürnt – und jeder Handlungsmöglichkeit beraubt. Den Rezipienten drängt sich eine Parallele zwischen der Guirun-Geschichte und Isoldes Schicksal auf, das im Lai präfiguriert zu sein scheint.36 Aber die Realität der Königin erweist sich gewissermaßen als noch grausamer als die Kunst. Dort hält der Liebende Guirun seiner Angebeteten bis in den Tod die Treue,37 und die Dame vereint sich noch ein letztes Mal mit dem 34 Übersetung von Bonath [Anm. 19], modifiziert. 35 Vgl. Jaeger, C. Stephen: Orpheus in the Eleventh Century. In: Mittellateinisches Jahrbuch 27 (1992), S. 141–168, hier S. 150, 168. 36 Vgl. auch Bromiley, Geoffrey : Autour du »Lai de Guiron« dans »Le Roman de Tristan« de Thomas. In: Tristan und Isolde. Unvergängliches Thema der Weltkultur. Tristan et Iseut. Un thÀme ¦ternel dans la culture mondiale. Hg. v. Buschinger, Danielle u. Spiewok, Wolfgang. Greifswald 1996, S. 45–57, hier S. 47, 57; Huber, Christoph: Spiegelungen des Liebestodes im »Tristan« Gottfrieds von Straßburg. Ebenda, S. 127–140, hier S. 138; Baumgartner, EmmanuÀle: Lyrisme et roman: du »Lai de Guirun« au »Lai du ChÀvrefeuille«. In: Il miglior fabbro…M¦langes de langue et de litt¦rature occitanes en hommage — Pierre Bec par ses amis, ses collÀgues, ses ¦lÀves. Poitiers 1991, S. 77–83, hier S. 81. 37 Vgl. auch Kiening, Christian: Ästhetik des Liebestods. Am Beispiel von »Tristan« und »Herzmaere«. In: Das fremde Schöne. Dimensionen des Ästhetischen in der Literatur des

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verstorbenen Geliebten, indem sie ihn sich einverleibt. Tristan heiratet hingegen eine andere Isolde. Dass er der Königin treu bleibt, erfährt sie vorerst nicht. Den Schmerz und die Ohnmacht hat Isolde mit der Geliebten Guiruns gemeinsam, der Zorn gehört indes nur der Königin.38 Dieser Kontrast, der bei Thomas Isoldes Zorn hervorhebt, bleibt nicht in dieser Form bestehen, wenn man sich andere Texte anschaut, die die Geschichte einer Liebenden erzählen, der das Herz ihres Geliebten vom Ehemann aufgetischt wird. Ob es zur Zeit von Thomas einen Lai von Guirun mit dem im Tristan geschilderten Inhalt tatsächlich gab, wissen wir heute nicht.39 Aus dem 13. Jahrhundert sind uns die vidas und razos des Guillem de Cabestaing, der »Roman du Ch–telain de Coucy et de la Dame de Fayel« des Jakem¦s und im Deutschen Konrads von Würzburg »Herzmaere« mit ähnlichem Inhalt erhalten.40 In den vidas wird auf die Reaktion der Frau, als ihr gesagt wird, was sie gegessen hat, nur sehr kurz (jedoch nicht weniger ausdrucksstark) eingegangen. Es heißt, sie sehe und höre nichts mehr.41 Welche Emotionen dies verursachen, bleibt ungesagt. Jakem¦s wiederum unterstreicht das Leid, den Schmerz, die Trostlosigkeit, das Unglück der Liebenden (pois, V. 8103, dolour, V. 8114, doel, V. 8120, 8154, grief doel amer, V. 8135, desconfort, V. 8136, meskief, V. 8154, 8156), die – drastischer als Isolde – ohnmächtig wird, ein bedrängendes Martyrium durchmacht (anguisseus martire, V. 8153) und vom Tod bedrängt wird (li mors […] l’anguissa, V. 8155). Sie wirft sich vor, selbst dafür verantwortlich zu sein, dass ihr Liebhaber, der Ch–telain de Coucy, an einem Kreuzzug teilnahm und starb. Et c’est Åou qui au coer m’afole (V. 8132), ›und es ist das, was mich im Herzen toll macht‹. In den Wahnsinn treiben können sie der Zorn und/oder das Leid.42 Um welche Emotionen es sich dabei genau handelt, wird verschwiegen.

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Mittelalters. Hg. v. Braun, Manuel u. Young, Christopher (Trends in Medieval Philology 12). Berlin, New York 2007, S. 171–193, hier S. 188. Dieser Gedanke wird im »Roman du Ch–telain de Coucy et de la Dame de Fayel« explizit formuliert, vgl. V. 8144. Als – viel später im Text – Isolde den toten Tristan vorfindet, spricht Thomas nur noch von ihrem dolur. Vgl. V. 3072 f., 3120, vgl. auch V. 3089 f. Vgl. Baumgartner [Anm. 36], S. 80 f. Zur Datierung der romanischen Texte vgl. Jakem¦s [Anm. 23], S. 9, 65, zur Datierung des »Herzmaere« vgl. Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Hg. v. Ruh, Kurt u. a. Berlin, New York 21985, Bd. 5, Sp. 275. Das »Herzmaere« wird zitiert nach: Konrad von Würzburg: Heinrich von Kempten. Der Welt Lohn. Das Herzmaere. Mittelhochdeutscher Text nach der Ausgabe von Edward Schröder. Übersetzt, mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Rölleke, Heinz. Stuttgart 1996 (RUB 2855). Vgl. Biographies des troubadours. Textes provenÅaux des XIIIe et XIVe siÀcles. Hg. v. Boutière, Jean. Paris 1964 (Les Classiques d’Oc 1), S. 531 f. In den razos gibt es nicht einmal diesen Hinweis. Vgl. Tobler u. Lommatzsch [Anm. 8], Bd. 1, Sp. 194. Vgl. z. B. »Guillaume d’Angleterre«, V. 840, in dem ire vor allem ›Zorn‹ bedeutet: Del roi, cui deus et ire afole / Tant qu’il ne se set consillier / Oi¦s qu’il fist au resvillier (V. 840–843), zitiert nach Chr¦tien de Troyes (?): Guillaume d’Angleterre. Publication, traduction, pr¦sentation et notes par Ferlampin-

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Jakem¦s geht es an dieser Stelle primär um das Außer-Sich-Sein der Dame und nicht darum, die Ursachen dafür zu benennen. Er schließt Zorn nicht aus, und dieser richtet sich dann wohl gegen die Dame selbst, da sie sich zugleich beschuldigt, die Verantwortung für den Tod ihres Geliebten zu tragen. Der implizite Zorn wie das Rasen im Herzen nehmen die spätere Autoaggressivität (V. 8152 f.) vorweg.43 Die Ohnmacht der Dame de Fayel wird dadurch in drastischer Weise zum Ausdruck gebracht. Bei ihr, im Gegensatz zur »Laüstic«-Dame und zu Isolde, gibt es keine Spur der Empörung, die sich gegen andere wendet. Dabei werden Analogien zu Konrads von Würzburg (wahrscheinlich früher als der »Roman du Ch–telain de Coucy et de la Dame de Fayel« entstandenes) »Herzmaere« erkennbar, dessen direkte Quelle uns nicht bekannt ist. Als die Dame erfährt, was sie gegessen hat, gleicht sie einer Toten, ihr Herz wird kalt, ihre Hände sinken ihr in den Schoß, Blut stürzt aus ihrem Mund. Wie die Dame de Fayel verbietet sie sich in einer Klage jede andere Speise.44 Konrad entscheidet sich – wohl in der Tradition seines Erzählstoffes und zum Teil ähnlich wie Jakem¦s – für eine andere, nicht weniger traditionelle Ästhetik und Dramatisierung der Trauer als Marie de France und Thomas. Der Erzähler fügt hinzu:

Acher, Christine. Paris 2007 (Champion Classiques: S¦rie »Moyen ffge« Êditions bilingues 22); zum Leid vgl. Mes de duel feire estoit si fole, V. 1150, zitiert nach: Chrestien de Troyes: Yvain. Übersetzt und eingeleitet v. Nolting-Hauff, Ilse. München 1962 (Klassische Texte des Romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 2) sowie Douce et soef a le parole, / C’est une riens qui molt m’afole; / C¸o ai de m’amie et nient plus […] (V. 1865–1867), zitiert nach: Le Roman de Partonopeu de Blois. Êdition, traduction et introduction de la r¦daction A et de la Continuation du r¦cit d’aprÀs les manuscrits de Berne et de Tours, par Collet, Olivier et Joris, Pierre-Marie. Paris 2005 (Le Livre de Poche 4569). An dieser letzten Stelle wird der Ich-Erzähler implizit von Leid und Begehren in den Wahnsinn getrieben. 43 Vgl. zu diesem Motiv in deutschen Texten Braun [Anm. 15], S. 73 und Ridder [Anm. 2], S. 236. 44 Der Verzicht auf weitere Nahrung stellt bekanntlich ein variierendes religiöses, auf die Eucharistie bezogenes Motiv dar. Origenes schreibt (bezogen auf die inneren Sinne): Wenn der Geschmackssinn das Wort Gottes und sein Fleisch sowie das Brot, das aus dem Himmel herabkommt, geschmeckt haben wird, wird er nichts anderes ertragen. Vgl. OrigÀne: Commentaire sur le Cantique des Cantiques. Texte de la version latine de Rufin. Introduction, traduction et notes par Brésard, Luc, o.c.s.o. et Crouzel, Henri, s.j. Paris 1991, S. 226 f. (Buch I,4,12). Caterina von Siena darf, laut »Legenda Maior«, in einer (in der Vita wiederholten) Vision aus der Wunde Jesu saugen, und von da an benötigt ihr Magen keine Speise mehr, sie kann auch nicht mehr verdauen. Vgl. Jungmayr, Jörg: Die Legenda Maior (Vita Catharinae Senensis) des Raimund von Capua. Edition nach der Nürnberger Handschrift Cent. IV,75, Übersetzung und Kommentar. Berlin 2004, S. 568 f. (Teil 3, Kap. 6, 413). Vgl. zum aufgegessenen Herzen im »Herzmaere« Kiening [Anm. 37], S. 187, 190–192; Kragl, Florian: Wie man in Furten ertrinkt und warum Herzen süß schmecken. Überlegungen zur Historizität der Metaphernpraxis am Beispiel von »Herzmaere« und »Parzival«. In: Euphorion 102 (2008), S. 289–330 und im »Roman du Ch–telain de Coucy et de la Dame de Fayel«: Gaunt, Simon: Love and Death in Medieval French and Occitan Courtly Literature. Martyrs to Love. Oxford 2006, S. 98–102.

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sus wart ir nút sú rehte starc daz si von herzenleide ir blanken hende beide mit grimme zuo einander vielt (V. 516–519). ›Ihr Schmerz wurde so übergroß, dass sie vor Herzensleid ihre weißen Hände wütend ineinander faltete.‹

Man könnte auch wie Heinz Rölleke interpretierend »schmerzlich ineinanderkrampfte« sagen. Wüten kann die Dame vor Zorn oder vor Schmerz, beide Möglichkeiten sind in der Semantik von grimmen enthalten.45 Mit grimme wird beispielsweise gekämpft (»Trojanerkrieg«, V. 25879)46 und auf dem Schlachtfeld im Blutdampf (vor Zorn und/oder vor Schmerz) geschrien (»Trojanerkrieg«, V. 12274), Laudine und ihre Hofleute lassen wütenden Zorn (grimmecl„chen zorn, »Iwein«, V. 1163)47 erkennen, als ihr Herr von Iwein erschlagen wird. Der wütende Jammer ([des] j–mers grimme, V. 1324) lässt wiederum Laudine mehrmals in Ohnmacht fallen. Viel mehr als für die Ursache (Zorn oder Schmerz) interessiert sich Konrad (ähnlich wie Jakem¦s im Falle des Verbs afoler) für die emotionale Intensität und Affiziertheit, die grimme ausdrückt. Weder das Wüten aus herzenleide, noch der Zorn, der das herzenleide begleiten oder den das herzenleide zur Folge haben könnte, weder der Schmerz noch der Zorn wegen des Verlusts oder wegen der Geste des Ehemanns, weder die Ausrichtung des Zorns auf andere48 noch – autoaggressiv und ähnlich wie bei Jakem¦s – auf die Dame selbst sind dabei ausgeschlossen, weil Konrads lakonische Bemerkung keine expliziten Vorwürfe der Dame gegen sich oder andere enthält und die Verbindung zwischen herzenleide und grimme nicht näher bestimmt. Die Parallele zu den romanischen Realisierungen des Erzählstoffes und die Ohnmachtsfälle der von Jammer überwältigten Laudine in Hartmanns »Iwein« sind kein ausreichender Beleg dafür, dass man sich im Falle des »Herzmaere« für eine der Möglichkeiten zu entscheiden hat. Konrad scheint der Vereindeutigung entgegenzuarbeiten, wodurch er wohl die Komplexität der Emotionen der Dame andeutet. So kann man behaupten, dass die wütende, schmerzerfüllte und 45 Vgl. Lexer, Matthias: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch, http://woerterbuchnetz.de/ Lexer/, Datum des Zugriffs: 27. 09. 2012. 46 Zitiert nach: Konrad von Würzburg: Der Trojanische Krieg. Zum ersten Mal hg. durch von Keller, Adelbert, Nachdruck der Ausgabe Stuttgart 1858. Amsterdam 1965. 47 Zitiert nach: Hartmann von Aue: Gregorius. Der arme Heinrich. Iwein. Hg. und übersetzt v. Mertens, Volker. Frankfurt am Main 2008 (Deutscher Klassiker Verlag TB 29). 48 Vgl. Konrads »Trojanerkrieg« zur Verwendung von grimme in einer ganz anderen Situation des Verlusts: Die betrogene Medea webt für ihre Rivalin ein kostbares Gewand (von golde und ouch von gimmen, V. 11293). iedoch wart ez mit grimmen / sachen underspicket (V. 11294 f.), heißt es weiter. Es war also mit ›Sachen‹ (mit Gift) gemischt, die zunächst als schrecklich bezeichnet werden (grimme). Dieses Adjektiv weist zugleich metonymisch auf den Gemütszustand der Weberin hin.

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möglicherweise auch zornige Dame im »Herzmaere« die Freiheit hat, die Hände zu falten und zu sterben, was gleich nach diesem Zitat erzählt wird. Das Wüten ist in diesem Text der ohnmächtigen Dame vorbehalten. Weder ihr Mann, der Betrogene, noch ihr Geliebter werden als wütend (leidend oder zornig) präsentiert. Das Wort grimme kommt indes auch vorher in der Erzählung vor. Ihr Geliebter sei bereit, heißt es, für die Dame selbst in den grimmen tút (V. 135) zu gehen. Er opfert sich tatsächlich und reist ins Heilige Land, um den Verdacht einer verbotenen Beziehung zu entkräften. Dort leidet er wegen der Trennung grimmiu nút (V. 280), erduldet des grimmen túdes p„n (V. 348)49 und stirbt, nachdem er anordnet, dass sein Herz der Dame geschickt werden soll. Der Tod und das Leid werden hier nicht in erster Linie als wütend präsentiert, sondern als grausam und schrecklich, was grimme auch bedeuten kann. Das Wüten ist aber eine semantische Komponente von grausam und schrecklich und klingt hier (auch beim ewige Starre verursachenden Tod) an. Durch die lexikalische Übereinstimmung wird die Dame, die am Ende des Textes selbst grimme verspürt, mit diesen Momenten der Erzählung in Verbindung gesetzt. Kurz bevor sie stirbt, scheint sie als wütende (auch wenn nicht grausame), wohl in ihrem Leid auch schreckliche Figur den grimmen Tod (auch in seiner Starrheit) und die grimmiu nút zu personifizieren. Sie verleibt sich nicht nur ihren Geliebten ein, sondern sie verkörpert (zumindest was die grimme anbelangt) das Leid, das sie verspürt, und den Tod, der sie überwältigen wird. Die Intensität ihres Schmerzes sowie ihre Ohnmacht gegenüber dem Ehemann und nicht zuletzt gegenüber dem Leid und dem Tod scheint mir meisterhaft durch die gefalteten Hände zum Ausdruck gebracht worden zu sein. Das Wüten vor Schmerz versetzt sie, wie Laudine, in einen Starrezustand. Das mögliche Wüten vor Zorn gegen sich selbst hat keine Selbstzerstörung zur Folge. Das mögliche Wüten vor Zorn gegen andere, das eigentlich zur Tat drängen sollte, mündet in eine gesellschaftlich sowie durch das Ausmaß des Leids bedingte Passivität. Die gefalteten Hände könnten zudem emblematisch für die Ohnmacht aller hier besprochenen Protagonistinnen stehen, die sich gar nicht oder nur in geringem Maße wehren können, wenn sie es überhaupt noch wollen. Der Erzählstoff, der dem »Herzmaere« zugrunde liegt, sieht ein extremes Ende vor – den Tod beider Liebenden – und unterscheidet sich insofern von »Laüstic« und von der Thomasschen »Tristan«-Episode.50 In dieser Form schließt er eine künstlerische Beschäftigung der Dame als Antwort auf den Verlust des Geliebten (wie im »Laüstic«) aus. Anders als im »Tristan« wird kein Vergleich angestellt zwischen einem Lai-Schicksal und demjenigen der Dame. In seiner Radikalität ist ihr Schmerz unvergleichbar und intradiegetisch künstle49 Vgl. auch V. 542 und 548. 50 Der Liebestod folgt bei Thomas bekanntlich viel später.

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Beatrice Trînca

risch nicht verwertbar. Er tötet. Das gilt sowohl für Konrads Variante als auch für den »Roman du Ch–telain de Coucy et de la Dame de Fayel«.51 Für alle hier erwähnten romanischen Fassungen lässt sich zudem hinzufügen, dass im Moment, in dem die Dame stirbt, der Dichter (ihr Liebhaber), von dem die Texte handeln, bereits tot ist.52 *

In den hier diskutierten höfischen Texten lässt sich die schwierige Semantik mittelalterlicher Emotionswörter verfolgen, die zweifelsohne auch mit der Schwierigkeit, Affekte, körperlich-seelische Regungen sprachlich zu fassen, zusammenhängt. Die Verwendung von Termini, die den Zorn explizit oder implizit ausdrücken, der wiederum zur Aktivität verleitet oder in Passivität mündet, hängt nicht zuletzt von Stoffvorgaben ab. Für alle hier besprochenen Texte gilt zudem, dass sich der weibliche Zorn gegen andere nur sehr bedingt entfesseln kann, in erster Linie, weil Ehebrecherinnen in der höfischen Gesellschaft des Hochmittelalters einen geringen Handlungsspielraum hatten, was sich in den besprochenen Werken wiederfindet. Ob dies generell für die höfische Literatur gilt, wäre noch zu überprüfen. Weiblicher Zorn, der den Kummer nicht ausschließt, oder das Wüten vor Zorn wie vor Schmerz erfüllen unter diesen Bedingungen in den besprochenen Texten fast keine narrativen Funktionen. Sie motivieren keine Taten, sondern höchstens Repliken, kurze, rhetorisch bedingte Machtmomente, und sie beenden Handlungen. Sie stehen am Ende von Erzählungen oder von Episoden. Produktiv, künstlerisch, aber auch im hohen Grade selbstbezogen produktiv ist hingegen intradiegetisch die weibliche Trauer. Kunst erweist sich zudem – aber nur im »Laüstic« – als die einzige Handlungsmöglichkeit, die allen schlechten Nachrichten trotzt. Hier ist sie Macht in der Ohnmacht. Dass aber mehrere Autoren der Zeit den Zorn sowie das gegen andere gerichtete Wüten vor Zorn von ohnmächtigen Protagonistinnen mehr oder weniger akzentuiert zum Thema ihrer Erzählungen machen, weist zum einen darauf hin, dass sich Ohnmacht besonders deutlich beschreiben lässt, wenn sie mit Zorn und großem Leid in Verbindung gesetzt wird. Zorn verleiht zunächst Kraft und kann zu Handlungen verleiten. Gezähmt wird er in den besprochenen 51 In den vidas und razos des Guillem de Cabestaing stirbt die Dame, als sie vor ihrem Mann flieht und von einem Balkon stürzt. 52 Künstlerisch, jedoch nicht mit Wortkunst verbunden, ist bei Konrad nur das Kästchen, das auf Befehl des Liebenden als Aufbewahrungsort für sein Herz aus Gold und Edelsteinen hergestellt werden soll (V. 305–307). Dieses verschwindet aus der Erzählung, noch bevor sie vom Leid der Dame handelt.

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Texten vor allem von der Macht der Ohnmacht. Zum anderen weisen der Zorn, das Wüten (außer in Jakem¦s’ Roman), die kürzere oder längere Widerrede der Damen darauf hin, dass diese Figuren den Verlust ihres Liebhabers, die Handlungen ihres Ehemanns und ihre Ohnmacht nicht bedingungslos akzeptieren. Das könnte ein Anreiz für das Publikum gewesen sein, über die Ohnmacht nachzudenken. Auch dafür bietet die Kunst einen Rahmen. Sie stellt also nicht nur (intradiegetisch) die einzige Handlungsmöglichkeit einer verboten liebenden Dame dar (im »Laüstic«), sondern wohl auch den Versuch von Erzählern, etwas (zumindest imaginär) daran zu ändern. Moralisch war das aus rigoristischer Sicht sicherlich nicht, und bezeichnenderweise umgehen die Autoren der hier besprochenen Texte den moralischen Diskurs ganz und gar,53 obwohl gerade die Semantik von ire Anlass zu einer Auseinandersetzung damit hätte geben können.54

53 Die Behauptung von Jean Larmat, Thomas thematisiere ausführlich das Leid von Tristan und Isolde, um darauf hinzuweisen, dass Sünden nur Leid zur Folge haben können, hat m. E. keine Stützen im Text. Vgl. Larmat [Anm. 10]. 54 Für anregende Diskussionen bedanke ich mich bei den TeilnehmerInnen des Workshops »Rache – Zorn – Neid. Zur Faszination negativer Emotionen in Literatur und Kultur des Mittelalters« sowie des XL. Internationalen mediävistischen Colloquiums in Inishbofin (Irland).

Evamaria Freienhofer

Ir traget zwêne zornbrâten. Die Funktion von Stolz und Zorn für die Geschlechterkonstruktion in den Kurzerzählungen »La dame escoillée« und »Frauenzucht«

Die Zähmung der Widerspenstigen ist ein altes und viel bearbeitetes Motiv der Weltliteratur.1 Es wird erzählt, wie Männer ihre Frauen – wenn diese sich nicht unterordnen – bedrohen, schlagen und überlisten. So berichtet auch die mittelhochdeutsche Kurzerzählung »Frauenzucht« von Sibote davon, wie zwei rebellische Frauen mithilfe geschickter Drohungen und einer fingierten Operation ›zur Raison gebracht‹ werden. Ein junger Ritter bändigt seine Vermählte, indem er einen Habicht, einen Hund und ein Pferd vor ihren Augen tötet, weil die Tiere nicht tun, was er von ihnen verlangt. Daraufhin unterwirft sich die bis dahin aufmüpfige Braut und bietet sich ihm als Reittier an. Der Mutter der Braut geht es kaum besser, wenn auch die Zähmungsart eine vollkommen andere ist. Zunächst liest sich die Erzählung wie eine Aneinanderreihung frauenfeindlicher Gemeinplätze gepaart mit männlichen Machtphantasien. Dementsprechend fasst Jan-Dirk Müller den Stand der Forschung zum Thema Geschlechterkonstruktion zusammen: »So hat der Stoff das Interesse der GenderForschung gefunden, die an ihm typische Klischees patriarchalischer Diskriminierung zeigen konnte«.2 Dieser Befund ist unbestritten. Im Folgenden soll es aber darum gehen, auf welche Arten von einem solchen Verhältnis der Geschlechter erzählt werden kann und welche Rolle Emotionen dabei spielen. Neben einer rein inhaltlichen Bestimmung der Gender-Relationen interessiert vor allem die ästhetisch narrative Ebene, die bei »Frauenzucht« darin besteht, verschiedene Facetten von Geschlecht, Körper, Biologie und kultureller Prägung 1 Vgl. Sonntag, Cornelie: Sibotes »Frauenzucht«. Kritischer Text und Untersuchungen. Hamburg 1969, S. 225 – 242, sowie Margetts, John: Ehezwist in deutschen Kurzerzählungen des Mittelalters. In: Spannungen und Konflikte menschlichen Zusammenlebens in der deutschen Literatur des Mittelalters. Hg. von Gärtner, Kurt u. a. Tübingen 1996, S. 215 – 232, hier S. 226. 2 Müller, Jan-Dirk: Der Widerspenstigen Zähmung. Anmerkungen zu einer mediävistischen Kulturwissenschaft. In: Nach der Sozialgeschichte. Konzepte für eine Literaturwissenschaft zwischen Historischer Anthropologie, Kulturgeschichte und Medientheorie. Hg. von Huber, Martin u. Lauer, Gerhard. Tübingen 2000, S. 461 – 481, hier S. 468.

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aufzurufen und mit diesen zu spielen. Eine Besonderheit stellt dabei, die Erfindung der zornbr–ten dar.3 Dies sind fingierte Organe, welche angeblich die Aufmüpfigkeit der Mutter bewirken und die ihr der Schwiegersohn mithilfe eines operativen Eingriffs entfernt. Im Zuge der bisherigen Forschung und in Nachfolge von Claudia Brinkervon der Heyde wurde die an der Schwiegermutter durchgeführte Operation übereinstimmend als »rituelle Kastration« gelesen.4 Die Bedeutung der zornbr–ten wurde dabei auf ihre geschlechtsspezifische Funktion reduziert, wohingegen die ebenfalls und vor allem in der Organbezeichnung vorkommende Komponente zorn- ausgeblendet wurde. Indem der Erzähler die der Schwiegermutter entfernten Organe als zornbr–ten bezeichnet, legt er jedoch eine Spur, die sich für die Konstruktion von Geschlecht in diesem Text als zentral erweist. Nicht nur weil die scheinbaren Organe ihren Namen von der Emotion ableiten, kommt dieser eine wichtige Funktion zu, die im Folgenden beleuchtet werden soll. Dass die zornbr–ten hauptsächlich als Geschlechtsorgane interpretiert wurden, ist womöglich dem altfranzösischen Fabliau »La dame escoill¦e« zu verdanken. Es ist zeitnah entstanden und mit ihm »ergeben sich die meisten Übereinstimmungen« innerhalb der Stofftradition.5 Aus zwei Gründen kann hier aber viel eindeutiger von einer Kastration gesprochen werden. Erstens entfernt der Schwiegersohn seiner Schwiegermutter Stierhoden statt Schafsnieren und zweitens werden diese mit dem gängigen altfranzösischen Wort für Hoden (coilles) bezeichnet, während der Ausdruck zornbr–ten im Mittelhochdeutschen eine Wortneuschöpfung darstellt, die keine geschlechtliche Konnotation hat.6 Sowohl Organ als auch Bezeichnung stimmen in der altfranzösischen Version mit dem überein, was bei einer Kastration entfernt wird. In der mit3 Schon Sonntag [Anm. 1], S. 239 macht darauf aufmerksam, dass die zornbraten innerhalb der Erzähltradition eine Besonderheit des mittelhochdeutschen Textes darstellen, setzt aber zorn mit Trotz gleich: »Weniger verbreitet ist das Motiv vom ›Zornbraten‹, wo der Trotz der Frau als Krankheit bezeichnet wird, die man durch eine Operation heilen könne.« 4 Brinker-von der Heyde, Claudia: Weiber-Herrschaft oder : Wer reitet wen? Zur Konstruktion und Symbolik der Geschlechterbeziehung. In: Manl„chiu w„p, w„pl„ch man. Zur Konstruktion der Kategorien ›Körper‹ und ›Geschlecht‹ in der deutschen Literatur des Mittelalters. Hg. von Bennewitz, Ingrid u. Tervooren, Helmut. Berlin 1999 (Beihefte zur Zeitschrift für Deutsche Philologie 9), S. 47 – 66, hier S. 57. Vgl. auch Neecke, Michael: Hierarchie und Liebe. zuht-Rituale in der mittelhochdeutschen Heldenepik, im höfischen Roman und in der Maerendichtung. Regensburg 2002 (Regensburger Skripten zur Literaturwissenschaft 24), S. 51. 5 Ziegeler, Hans-Joachim: Sibote. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters Verfasserlexikon. Hg. von Ruh, Kurt u. a. Bd. 8. Berlin, New York 1992, Sp. 1134 – 1138, Sp. 1135. 6 Siehe Lexer, Matthias: Mittelhochdeutsches Taschenwörterbuch. Mit den Nachträgen von Ulrich Pretzel, 38., unveränderte Aufl. Stuttgart 1992, S. 25: »br–t stn., br–te swm. fleisch, weichteile am körper ; braten.«

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telhochdeutschen Fassung ist der Zusammenhang hingegen wesentlich vermittelter.7 Viel deutlicher als die Geschlechtszugehörigkeit tritt hier die Emotion bereits in der Organbezeichnung zornbr–ten hervor. Im Folgenden werde ich beide Erzählungen analysieren, um zu zeigen, wie unterschiedlich Geschlechterrelationen narrativ konstituiert werden können, obwohl das Ergebnis letztlich dasselbe ist: Die Unterwerfung der Frau. Anhand der Kastrationsszene in »La dame escoill¦e« sind zentrale Thesen zur Variabilität von biologischem und sozialem Geschlecht formuliert worden, die sich leicht verändert in der Forschung zu Sibotes »Frauenzucht« wieder finden. So hat Simon Gaunt darauf aufmerksam gemacht, dass der Zusammenhang von sex und gender in »La dame escoill¦e« kein festgeschriebener ist: »[…] masculinity and feminity are meanings given to body parts, not irreducible essences emanating from these parts.«8 Während dem Erzähler und den Rezipienten bewusst ist, dass das Vorhandensein männlicher Geschlechtsorgane im weiblichen Körper vom Schwiegersohn nur vorgespiegelt wird, halten die anderen Figuren – Ehefrau und Schwiegereltern – diese Vorspiegelung für Realität. Aufrührerische Weiblichkeit geht für sie also mit einer organischen Ursache einher. Wie Gaunt bemerkt, verkehrt die altfranzösische Erzählung so die konventionelle Logik von sex und gender : Sex/ gender signification is made to work backwards here: instead of a person exercising authority because he has testicles, here it is implied a person must have testicles because she seeks to exercise authority.9

Macht auszuüben wird als eine typische Eigenschaft des männlichen sozialen Geschlechts (gender) angesehen. Der von der Erzählung suggerierte Umkehrschluss besteht darin, weiblichen Figuren, die Macht ausüben wollen, männliche Geschlechtsorgane (auf der Ebene von sex) zuzuschreiben. Ähnlich wie Gaunt – wenn auch anders in der Formulierung – argumentiert Jan-Dirk Müller für Sibotes »Frauenzucht«: Die soziale Verirrung wird als Verirrung der Natur ausgegeben. Gegenüber dem Essentialismus der Geschlechterdifferenz seit dem späten 18. Jahrhundert werden nicht aus der biologischen Verschiedenheit von Frau und Mann ihre sozialen Rollen abgeleitet, sondern die ›richtige‹ soziale Rollenverteilung (site) läßt umgekehrt Schlüsse auf die biologische (zoologische) Beschaffenheit zu […].10

Die hier zitierten Studien kommen also für beide Erzählungen, die altfranzösische wie die mittelhochdeutsche, zu dem Schluss, dass die Geschlechtervor7 Zur Niere als dem »Sitz männlicher Potenz« im Mittelalter siehe Brinker-von der Heyde [Anm. 4], S. 57. 8 Gaunt, Simon: Gender and genre in medieval French literature. Cambridge 1995, S. 253. 9 Gaunt [Anm. 8], S. 253. 10 Müller: Zähmung [Anm. 2], S. 477.

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stellungen nicht essentialistisch sind, sondern als konstruierte ausgestellt werden. Doch während der Erzähler in »Frauenzucht« den Anteil der Emotion Zorn an dieser Konstruktion bereits in der Organbezeichnung zornbr–ten deutlich werden lässt, ist in »La dame escoill¦e« erst auf den zweiten Blick auszumachen, dass auch hier Männlichkeit und Weiblichkeit mithilfe einer Emotion definiert werden. So sagt der Schwiegersohn, kurz bevor er zur ›Kastration‹ schreitet, zu seiner Schwiegermutter: ›Dame, bien sai dont ce vos vient: Cestes fiertez es rains vos tient, Ge l’ai bien veü a vostre hueil Que vos avez de nostre orgueil; Vos avez coilles comme nos, S’en est vostre cuers orgueillous.‹ (DE, V. 465 – 470) ›Herrin, ich weiß sehr gut, woher das kommt: / Diesen Stolz tragt ihr in den Lenden / Ich habe es sehr wohl in euren Augen gesehen, / dass ihr etwas von unserem Stolz habt. / Ihr habt Hoden wie wir. / Daher ist euer Herz stolz.‹11

Diese Rede etabliert die Männer mit nostre und nos als eine über Hoden und Stolz verfügende Gemeinschaft. Da die Schwiegermutter ebenso stolz zu sein scheint wie die männlichen Protagonisten, werden ihr Hoden und damit eine gewisse – wenn auch verfehlte – körperliche Zugehörigkeit zum männlichen Geschlecht unterstellt.12 Diesen Zusammenhang erwähnt bereits Monika Gsell: Die Frau erscheint demnach […] zunächst als ›Mann‹, und zwar sowohl auf der quasianatomischen als auch auf der sozialen Ebene: Sie ist im Besitz von Hoden und stolz, das heißt zur Macht befähigt und auch begierig darauf.13

Dabei bestimmt Gsell »stolz« als Befähigung und Wille zur Macht, lässt aber letztlich offen, wie Stolz in »La dame escoill¦e« definiert und im Einzelnen für die Konstruktion von Weiblichkeit und Männlichkeit funktionalisiert wird. Hier sollen nun erstmals beide Erzählungen daraufhin untersucht werden, 11 Aus »La dame escoill¦e« wird zitiert nach der Ausgabe: Nouveau Recueil Complet des Fabliaux (NRCF). Tome VIII. Publi¦ par Willem Noomen. Van Gorcum, Assen 1994, S. 110 – 125. Dabei beschränke ich mich im Folgenden auf die Angabe der Verszahl im Fließtext versehen mit dem Kürzel DE. Alle Übersetzungen stammen, wenn nicht anders angegeben, von mir. 12 Eine weibliche Figur, die ebenfalls von einem männlichen Protagonisten gezähmt wird und sogar ›Stolz‹ (orgueil) in ihrem Namen trägt, ist Orgueilleuse de Noges in Chr¦tiens »Perceval« beziehungsweise Orgeluse in Wolframs »Parzival«. Siehe zur Anlage von Orgueilleuse/ Orgeluse Baisch, Martin: Orgeluse – Aspekte ihrer Konzeption in Wolframs von Eschenbach Parzival. In: Schwierige Frauen – Schwierige Männer in der Literatur des Mittelalters. Hg. v. Haas, Alois M. u. Kasten, Ingrid. Bern, Berlin, u. a.1999, S. 15 – 33. 13 Gsell, Monika: Die Bedeutung der Baubo. Kulturgeschichtliche Studien zur Repräsentation des weiblichen Genitals. Frankfurt a. M., Basel 2001, S. 232.

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wie sie Emotionen für die Konstruktion von Geschlechtszugehörigkeiten und Machtpositionen einsetzen. In »La dame escoill¦e« markieren nicht nur Hoden Männlichkeit, sondern auch die Emotion Stolz. In Sibotes »Frauenzucht« wird Zorn als sex/gender- spezifizierendes narratives Element eingesetzt. Es handelt sich aber nicht um die Austauschbarkeit der einen Emotion (Stolz) durch die andere (Zorn) innerhalb des Erzählgefüges, sondern – wie im Folgenden herausgearbeitet werden soll – um eine vollkommen andere Ökonomie von Emotion, Körper, Geschlecht und Macht. Stolz und Zorn ist gemeinsam, dass sie in der philosophischen Diskurstradition seit der Antike ambivalent bewertet werden. So fasst Aristoteles die dem Stolz verwandte Großmut (megalopsychia) als positive Emotion, die für die Bewahrung von Ehre wichtig ist.14 Augustinus’ superbia-Verständnis geht hingegen von Stolz als negativer Emotion aus, mit deren Hilfe der Stolze unrechtmäßigerweise danach strebt, sich selbst aufzuwerten und dadurch die göttliche Ordnung zu verkehren.15 Beide Bewertungen beziehen sich auf die Frage, wie Stolz sich zur Struktur einer Gruppe verhält. Die positive Einschätzung setzt ihn als wichtigen Indikator für den Wert, den der Einzelne sich selbst innerhalb eines größeren sozialen Gefüges zumisst.16 Die negative Bestimmung sieht im Stolz eine Gefahr für die von Gott gewollte Gesellschaftsstruktur. Die Ambivalenz von Zorn lässt sich fassen, indem man exemplarisch aristotelische mit stoischen Ansichten kontrastiert.17 Der Stoiker Seneca fasst Zorn als durch und durch negative Emotion auf, da sie für den Zürnenden genauso wie für dessen Umwelt zerstörerisch wirkt.18 Aristoteles begreift dagegen Zorn als legitim, wenn er zum Kämpfen motiviert oder einen Angriff auf die soziale Stellung pariert.19 In diesem Sinne kommt Zorn eine konstruktive Funktion zu: 14 Vgl. Landweer, Hilge u. Demmerling, Christoph: Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn. Stuttgart, Weimar 2007, S. 245 – 258, hier v. a S. 253; vgl. auch Thurnherr, U.: Stolz. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. von Ritter, Joachim u. Gründer, Karlfried. Bd. 10. Darmstadt 1998, Sp. 201 – 208, hier v. a. Sp. 201. 15 Vgl. Landweer u. Demmerling [Anm. 14], S. 253; vgl. Thurnherr [Anm. 14], Sp. 201. 16 Siehe dazu Burkhart, Günter : Distinktionsgefühle. In: Gefühle – Struktur und Funktion. Hg. von Landweer, Hilge. Berlin 2007, S. 159 – 174, der Stolz als Distinktionsgefühl fasst: »Distinktionsgefühle sind Gefühle, die soziale Abgrenzungen als »natürlich« legitimieren helfen, weil sie den Eindruck vermitteln, man stünde auf ganz selbstverständliche Weise an seinem jeweiligen Platz im Statusgefüge der Gesellschaft« (S. 164). 17 Siehe zur antiken und mittelalterlichen Diskurstradition auch Martini, Thorsten W. D.: Facetten literarischer Zorndarstellungen. Analysen ausgewählter Texte der mittelalterlichen Epik des 12. und 13. Jahrhunderts unter Berücksichtigung der Gattungsfrage. Heidelberg 2009, S. 98: »Offenkundig ist diese Ambivalenz als Hauptmerkmal des Affektes begriffen worden.« 18 Vgl. den gesamten Traktat L. Annaeus Seneca: De ira – Der Zorn. In: Ders.: Die kleinen Dialoge. Bd. 1. Herausgegeben, u¨ bersetzt und mit einer Einfu¨ hrung versehen von Gerhard Fink. Mu¨ nchen, Zu¨ rich 1992, S. 96 – 309. 19 Zu Zorn als Ansporn im Kampf vgl. Aristoteles: Die Nikomachische Ethik. Griechisch-

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»Die Emotion ist also letztlich eine handlungsentscheidendes und -auslösendes Moment, das die Ordnung im Gemeinwesen mitbestimmt.«20 Eva-Maria Engelen, von der dieses Zitat stammt, macht aber auch darauf aufmerksam, dass dies in der griechischen Antike nur für männliche Zürnende gilt. Der Zorn von Frauen wurde hingegen negativ gesehen.21 Daran anknüpfend wäre für eine literarische Funktionalisierung der Emotionen nahe liegend, verschiedene Wertungen aufzugreifen und dem jeweiligen Geschlecht zuzuschreiben. Wenn es um eine Negativierung weiblicher Figuren ginge, könnten sie stolz im Sinne von ›anmaßend‹ oder als unrechtmäßig zornig gezeigt werden, wohingegen männliche Figuren als stolz mit der Bedeutung ›großmütig‹ oder als rechtmäßig zürnend geschildert werden könnten. Um männliche von weiblichen Figuren abzuheben, greifen beide Erzählungen aber gerade nicht auf eine solch einfache Dichotomie zurück. Sie entfalten vielmehr komplexe Szenarien von Emotion, Körper und Geschlecht, die sich nicht mit den Kategorien positiv und negativ erfassen lassen. Der junge Ritter in »La dame escoill¦e« verwendet in der bereits zitierten, an seine Schwiegermutter gerichteten Rede zwei Ausdrücke für Stolz, die sich in Nuancen unterscheiden. Während orgueil mit ›Stolz, Hochmut, Übermut, Anmaßung oder Überheblichkeit‹ – also mit lauter Wörtern, die Nuancen von Stolz abdecken – übersetzt werden kann, enthält fiert¦ mit ›Wildheit, Leidenschaftlichkeit, Heftigkeit‹ neben ›Stolz‹ eine weitere Bedeutungslinie.22 Der Erzähler macht sich unter anderem diese Ambiguität zunutze, um weibliche von männlichen Figuren abzugrenzen. So erscheint meiner Meinung nach die Bedeutung ›Wildheit‹ von fiert¦ primär dann, wenn es um die Beschreibung männlichen Verhaltens geht. Diese wird etwa aufgerufen, als die vier Diener des Grafen als Fort et menbruz et fier et grant (DE, V. 442, kräftig, starkgliedrig, wild und groß) beschrieben werden, kurz bevor sie zur ›Kastration‹ schreiten, sowie in einem Monolog der Tochter über ihren Ehemann, der gerade einen Hasen getötet hat, der nicht nach seinem Willen lief: Cil quens est fiers (DE, V. 256.11, Dieser Graf ist wild). Die Bedeutung ›Stolz‹ bleibt hingegen für weibliches Personal reserviert.

deutsch. Übersetzt von Olof Gigon, neu herausgegeben von Rainer Nickel. Düsseldorf, Zürich 2001, III, 11, 1116 b, S. 125. Zu Zorn als Reaktion auf eine Herabsetzung vgl. Aristoteles: Rhetorik. Übersetzt und erläutert von Christof Rapp, Darmstadt 2002 (Werke in deutscher Übersetzung 4), II, 2, 1378 a, S. 73. 20 Engelen, Eva-Maria: Eine kurze Geschichte von ›Zorn‹ und ›Scham‹. In: Archiv für Begriffsgeschichte 50 (2008), S. 41 – 73, hier S. 42. 21 Engelen [Anm. 20], S. 41. 22 Vgl. den Eintrag ›orgueil‹. In: Tobler, Adolf u. Lommatzsch, Erhard: Altfranzösisches Wörterbuch. Berlin, Wiesbaden 1925 – 1976, Bd. 6, Sp. 1266 – 1270, sowie den Eintrag ›fiert¦‹, Bd. 3,2, Sp. 1829.

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Wie der Erzählung zu entnehmen ist, besteht der Stolz der Mutter darin, ihren Ehemann zu missachten und immer das Gegenteil von dem zu tun, was er wünscht.23 Dieses Verhalten wird als so berechenbar geschildert, dass der Ehemann von Vornherein die Gegenposition des eigenen Willen äußert, damit am Ende das geschieht, was er eigentlich möchte. Weiblicher Stolz ist demnach auf eine männliche Ur-Position bezogen und existiert zunächst nicht als Emotion, die den eigenen Wert als solchen schätzt. Diese männerzentrierte Definition von weiblichem Stolz wird zum einen als männliche Perspektive auf die Frauen offengelegt. Als die Schwiegereltern ihre Tochter und den Schwiegersohn besuchen wollen, meldet die Schwiegermutter sich nur selbst an, nicht aber ihren Mann, was ihr der Schwiegersohn als grant orgueil (DE, V. 384) auslegt. Auch an anderer Stelle denkt er über sie als fiere et grifaigne nach (DE, V. 251), wobei letzteres mit ›bösartig‹ zu übersetzen ist. Kurz vor der Kastration wird die Eigenschaft Stolz derart mit der Figur verschmolzen, dass auch der Erzähler die Schwiegermutter als la fiere feme (DE, V. 376) und La fiere dame (DE, V. 419) bezeichnet. Zum anderen beschreibt aber auch die Mutter selbst gegenüber ihrer Tochter ihren Stolz hauptsächlich als Widerspruchsgeist angesichts männlicher Bevormundung: ›Vers vostre seignor soiez fiere; Pranez essample a vostre mere, Qui toz jors desdit vostre pere: Ainz ne dist riens ne desdest, Ne ne commanda c’on fest.‹ (DE, V. 226 – 230) ›Seid stolz gegenüber eurem Herrn / Nehmt eure Mutter als Vorbild, / die eurem Vater immer widerspricht. / Er sagte nie etwas, dem nicht widersprochen wurde. / Er befahl nie etwas, das getan wurde.‹

Es bleibt nicht bei dieser einheitlichen Sicht von weiblichem Stolz. Denn in der Vorstellung des stolzen weiblichen Körpers weichen männliche und weibliche Figuren voneinander ab. Die ›Kastration‹ besteht darin, dass der Schwiegersohn unter Mithilfe von vier Dienern seiner Schwiegermutter jede Pobacke (nache, DE, V. 482) aufschneidet und daraus je einen Stierhoden entfernt. Nach dieser für die Operierte sehr unangenehmen Prozedur erklärt der Schwiegersohn, was er seiner Schwiegermutter genau genommen hat: ›Dame, dit li quens, or avon L’orgueil dont estiez si ose: Or seroiz mais mout simple chose. Mais ge dout qu’aucunne racine 23 Vgl. DE, V. 384 f.

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N’i remaigne, se nel quisinne: Or tost, un costre m’eschaufez Por les racines quisinner!‹ (DE, V. 490 – 496) ›Herrin, sagte der Graf, hier haben wir / den Stolz, der Euch so wagemutig sein ließ. / Von jetzt an werdet ihr bescheidener sein. / Aber ich fürchte, dass eine Wurzel zurückbleiben könnte, / wenn ich sie nicht ausbrenne. / Schnell, erhitzt mir eine Klinge, / um die Wurzeln auszubrennen.‹

Die Hoden, die blutig in einer Schüssel liegen, werden hier mit Stolz identifiziert und weniger als Organe denn als Pflanzen imaginiert, die im Körper Wurzeln schlagen. Auf diese Bildlichkeit kommt der Schwiegersohn auch im Gespräch mit seiner Ehefrau nochmals zurück: Ce dist li quens: ›Bele, or sachiez Qu’or soffrerai, mais se ge voi Que voilliez reveler vers moi, Ostez vos seront li coillon, Sicom a vostre mere avon; Que, ce sachiez, par cez grenotes Sont les femes fieres et sotes.‹ (DE, V. 528 – 534) Dies sagt der Graf: ›Schöne, wisset, / das ich geduldig sein werde, / aber sobald ich sehe, / dass ihr euch gegen mich erhebt, / werden euch die Hoden entfernt, / genau wie eurer Mutter / Denn wisset: Aufgrund dieser grenotes sind die Frauen stolz und dumm.‹

Mit dem Ausdruck grenotes bleibt er erneut im pflanzlichen Bildbereich, denn hierbei handelt es sich um eine Bezeichnung für Erdnüsse bzw. für Wurzelknollen der Zyklamen und nur im übertragenen Sinn um einen Namen für männliche Organe der Samenproduktion.24 Der in den Frauen zu Unrecht vorhandene Stolz wird also als ein männlicher vorgestellt: Er geht von Hoden aus. Zugleich fasst ihn die männliche Hauptfigur als wuchernde, Unkraut ähnliche Pflanze auf, die entwurzelt werden muss. Der weibliche Körper wird in dieser Sicht einer eigenen Geschlechts-Identität beraubt: Er ist männlich und pflanzenartig, wenn er stolz ist. Eine vollkommen andere Vorstellung des stolzen weiblichen Körpers bieten hingegen die weiblichen Figuren an. So gibt die Mutter ihrer Tochter folgenden Rat, bevor diese zu ihrem neuen Heim aufbricht: Bele fille, levez la chiere! (DE, V. 225, Schöne Tochter, erhebt das Haupt!). Die Mutter verbindet mit ihrem Stolz ein hoch erhobenes Haupt, und ganz ähnlich ist es bei der Tochter. Der abschließende Zähmungsdialog zwischen dem jungen Ehepaar kommt nochmals auf die ›Kastration‹ zurück. So möchte der Schwiegersohn seine Frau abtasten, da er auch bei ihr den orgueil (DE, V. 510) – und damit die Hoden – vermutet, die 24 Vgl. Tobler u. Lommatzsch [Anm. 22], Bd 4,1, Sp. 315.

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deren Mutter eigen waren. Daraufhin versichert seine Gattin glaubhaft: Ge ne sui pas de la nature / Ma mere, qui est fiere et dure (DE, V. 517 f. Ich bin nicht von der Natur / meiner Mutter, die stolz und hart ist). Am Ende ihrer Beteuerung, dass sie ihm immer gehorsam sein will, fordert sie ihn auf: Se nel faz, le chief me tranchiez (DE, V. 527 Wenn ich es nicht tue, schlagt mir den Kopf ab). Sie spricht hier über den Körperteil, von dem ihr die Mutter vor der Hochzeit geraten hatte, ihn hochzuhalten. Ihre bereitwillige Unterwerfung wird sinnbildlich in diesem Angebot. Gleichzeitig offenbart sich hier eine den weiblichen Figuren eigene Sicht auf den stolzen Frauenkörper. Sie sehen sich selbst in ihrem Stolz als Personen hoch erhobenen Hauptes an und verleihen der Emotionsmanifestation Zeichencharakter. Indem sie sich aufrichten, stellen sie sich als stolz dar und machen ihren Machtanspruch sichtbar. Stimmt die inhaltliche Definition von weiblichem Stolz bei allen Figuren als ›Widerspruch gegen den Mann‹ überein, so trennt die körperliche Bestimmung weibliche von männlichen Perspektiven.25 Obwohl Mutter und Tochter am Ende gezähmt sind, wird in ihrer Sicht auf den stolzen weiblichen Körper ein Selbstbewusstsein verankert, das unabhängig von den Vorstellungen männlicher Figuren ist. Der stolze weibliche Körper erscheint hier als selbstbewusster menschlicher Körper ohne geschlechtliche Fixierung. Dem Besitz von Hoden wird ein aufgerichteter Kopf entgegen gesetzt. Durch diese Inszenierung entsteht eine Ambivalenz von Stolz, die sich aber wesentlich von derjenigen in der Diskurstradition unterscheidet. Die Emotion ist in »La dame escoill¦e« nicht positiv oder negativ hinsichtlich einer sozialen Ordnung beziehungsweise im Bezug auf die Geschlechterbeziehung. Stolz generiert vielmehr partiell unterschiedliche Blickwinkel männlicher und weiblicher Figuren. Während der stolze weibliche Körper dabei zum zentralen Gegenstand der Aushandlungen wird, bleibt der männliche stolze Körper ausgespart. Darin stimmen – wenn auch die Funktion von Zorn in »Frauenzucht« letztlich eine andere ist als diejenige von Stolz in »La dame escoill¦e« – beide Texte überein. So thematisieren auch in der mittelhochdeutschen Erzählung die Figuren vor allem den weiblichen Körper. Hierbei geht es im Wesentlichen um die Frage, wie die Frauen ihr selbstbestimmtes Verhalten bewahren können (weibliche Perspektive) beziehungsweise darum, wie es ihnen ausgetrieben werden kann (männliche Perspektive). Die Bezeichnung zorn für dieses Verhalten stammt dabei vom jungen Ritter, der sich im Verlauf der Erzählung zusammen mit dem Vater der Braut zu einer wehrhaften Männergemeinschaft zusammenschließt. Auch hier fällt somit die Definitionsgewalt wieder der 25 Männlicher Stolz wird weder inhaltlich noch seinem Ausdruck nach näher definiert. Er ist als das Selbstverständliche gesetzt.

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männlichen Hauptfigur zu. Der Ritter nennt die Organe zornbr–ten und gibt der weiblichen Widerspenstigkeit somit einen Namen. Mutter und Tochter sehen ihr selbstbestimmtes Verhalten als eine generationenübergreifende weibliche Tradition an, die nicht einfach unterbrochen werden kann. So besteht die Tochter im Gespräch mit ihrem Vater darauf, mit ihrer Lebensweise lieber ihren weiblichen Vorfahren zu folgen als einem männlichen Herren: ›Ich v–n bill„cher n–ch dem künne / dan ich n–ch dem künege vÞ‹ (FZ, V. 158 f., ›Ich komme lieber nach meiner Verwandtschaft, als dass ich einem König folge‹).26 Auch die Mutter verweist ihren Schwiegersohn darauf, dass bereits ihre Mutter so gewesen sei wie sie und dass sie sich nicht ändern werde: ›M„n muoter het den selben sin, / diu mich von kinde ane geriet, / den wil ich durch iuch l–zen niet‹ (FZ, V. 622 – 624, ›Meine Mutter, die mich von Kindheit an beeinflusste, hatte dieselbe Einstellung, die ich wegen euch nicht aufgeben werde‹). Dass auch der Vater vom Fortdauern dieser Tradition ausgeht und damit zu Beginn noch zum Einflussbereich der beiden Frauen gehört, wird an zwei Stellen deutlich. Zuerst kommt dies zum Ausdruck, als er seine Tochter ermahnt: ›Tohter, d„ner muoter site / wonent dir ze lange mite‹ (FZ, V. 113 f., ›Tochter, die Art deiner Mutter haftet dir schon zu lange an‹). Das Verhalten von Mutter und Tochter wird hier noch nicht als zorn, sondern als site bezeichnet, aber bereits zuvor vom Erzähler insofern negativiert, als er Mutter wie Tochter oder deren Auftreten häufiger als übel und erge bezeichnet.27 Dass der Vater potentiell an eine weibliche Genealogie des selbstbestimmten Verhaltens glaubt, zeigt sich nochmals, als er seinen zukünftigen Schwiegersohn warnt: ›Kumet s„ ˜f ir muoter spor, vür w–r ich iu daz sagen mac:

26 Aus »Frauenzucht« wird wie in der Forschung üblich (vgl. Müller, Zähmung [Anm. 2] und Müller, Maria E.: Böses Blut. Sprachgewalt und Gewaltsprache in mittelalterlichen Mären. In: Blutige Worte. Internationales und interdisziplinäres Kolloquium zum Verhältnis von Sprache und Gewalt in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. von Eming, Jutta u. Jarzebowski, Claudia. Göttingen 2008 (Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung 4), S. 145 – 161) nach dem von Sonntag [Anm. 1] hergestellten Text zitiert. Dabei beschränke ich mich im Folgenden auf die Angabe der Verszahl im Fließtext versehen mit dem Kürzel FZ. Eine neue handschriftennahe kritische Ausgabe steht noch aus und wird im Projekt »Edition und Kommentierung der deutschen Versnovellistik des 13. und 14. Jahrhunderts« in Tübingen vorbereitet. 27 Bezeichnung des Erzählers für eine Frau, die sich ihrem Mann widersetzt: übel w„p (FZ, V. 7, schlechte Frau). Bemerkungen des Erzählers über die Mutter : ergeste w„p (FZ, V. 45, böseste Frau), […] daz erger w„p nie waere geborn (FZ, V. 58, […] dass eine bösere Frau nie geboren sei), die enpfienc s„ alle mit erge (FZ, V. 68, die empfing sie alle mit Feindseligkeit). Bemerkungen des Erzählers über die Tochter : S„ was übel unde arc (FZ, V. 95, Sie war schlecht und böse), Swer aber ir erge vernam […] (FZ, V. 105, Wer aber von ihrer Bosheit erfuhr […]).

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ir gewinnet niemer guoten tac und müezet schiere alden.‹ (FZ, V. 246 – 249) ›Folgt sie ihrer Mutter, / so kann ich euch wahrhaft sagen, / dass ihr keinen guten Tag mehr haben / und schnell altern werdet.‹

›Folgt sie der Spur der Mutter‹, wie eine nahe Übersetzung von Vers 246 lauten könnte, lässt im Dunkeln, wie die Weitergabe des Widerspruchsgeistes von der Mutter an die Tochter funktioniert. Es bleibt unausgesprochen, ob das Verhalten mithilfe von Erziehung weitergegeben oder genetisch vererbt wird. Obwohl Maria E. Müller die Vererbungstheorie ansetzt: »Der Typus wird spezifiziert durch das über drei Generationen matrilinear vererbte böse Blut […]«,28 meine ich, dass eine körperliche Verankerung des weiblichen Verhaltens erst vom Schwiegersohn vorgenommen wird, indem er die zornbr–ten als organische Ursache erfindet: ›Ich weiz wol waz iu wirret daz ir s„t verirret unde als übele ger–ten. Ir traget zwÞne zornbr–ten, die ligent ˜zen an iuwerm die, d–von enwurdert ir guot nie. Und s„ iu daz vor gesaget: die w„le ir die b„ iu traget, s„ enwerden iu ˜z gesniten, ir gewinnet niemer guote siten. Daz wære iu allenthalben guot und gewünnet einen stæten muot. S„ irrent iuch zuo aller z„t.‹ (FZ, V. 665 – 677) ›Ich weiß wohl, was euch fehlt, / so dass ihr so irre / und so schlecht geraten seid. / Ihr habt zwei zornbr–ten, / die sich außen an eurem Oberschenkel befinden. / Sie verhinderten, dass ihr jemals gut geworden seid. / Das lasst euch gesagt sein: / So lange ihr diese bei euch tragt / und sie euch nicht herausgeschnitten werden, / werdet ihr euch niemals anständig verhalten. / Das wäre für euch allenthalben gut / und ihr erhieltet einen beständigen Geist. / Sie verwirren euch für immer.‹

Dies ist (fast) die erste Aussage, die das Verhalten der Mutter als zorn deklariert.29 Zuvor tritt zorn zwar als Reaktion der Mutter auf einzelne Vorkommnisse auf,30 aber nicht als grundsätzliche Qualifizierung ihrer Wesensart. Dabei macht 28 Müller, Böses Blut [Anm. 26], S. 148. 29 Nur einmal vorher qualifiziert der Erzähler die Mutter als dauerhaft zornig: diu zornes herte (FZ, V. 489), wobei neben ›die vor Zorn Harte‹ eine weitere Übersetzung möglich ist, welche die Unnachgiebigkeit im Streit hervorhebt. So übersetzt Sonntag [Anm. 1], S. 218: »die hartgesottene Zänkerin«. 30 Vgl. FZ, V. 51, 493.

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gerade die Lokalisierung von Zorn in einem eigens dafür erdachten Organ dem Schwiegersohn ein effizientes Vorgehen möglich. Indem er eine körperliche Ursache erfindet, macht er das Verhalten der Mutter behebbar : Wenn die zornbr–ten weg sind, verschwindet auch die Aufmüpfigkeit. Dies untermauert er nochmals, als er einen zornbr–ten herausgeschnitten hat: ›Hie von s„t ir guotes laz / gewesen alsú manec j–r.‹ (FZ, V. 708 f., ›Hiervon seid ihr dem Guten so manches Jahr fern gewesen‹). Die Erfindung bleibt aber doppelbödig, da am Ende gar nicht beide zornbr–ten entfernt werden. Die Macht des Schwiegersohns beruht also nicht auf der ›Kastration‹ als solcher, sondern auf dem durch eine ›halbe Kastration‹ geschaffenen Drohpotential: Gerade weil der Schwiegermutter noch ein zornbr–ten bleibt, kann sie gezähmt werden. Die Drohung, dass ihr auch der zweite noch schmerzhaft entfernt wird, bringt sie dazu sich ihrem Mann unterzuordnen. Weiblicher zorn wird somit nicht in letzter Konsequenz mit dem Organ verbunden. Dies zeigt sich auch daran, dass – anders als in »La dame escoill¦e« – nicht erwähnt wird, dass Vater, Mutter und Tochter an die Existenz der fingierten Organe glauben. Der Vater ist vielmehr von Vornherein in die List eingeweiht und die beiden Frauen unterwerfen sich der Imagination des Schwiegersohns, auch ohne dass ihr Glaube daran explizit gemacht wird. Es gilt, was Maria E. Müller feststellt: »In der erzählten Welt erweisen sich weder Gewalt- noch Sprechakte als hinreichend effizient. Vielmehr bedarf es der Einbildungskraft der Opfer.«31 Diese Einbildungskraft bleibt bei der Mutter eine Leerstelle. Sie übernimmt nach der ersten Operation schlicht die Argumentationsweise ihres Schwiegersohnes, um die Entfernung des zweiten zornbr–ten zu verhindern: ›Nein, hÞrre, der ist kleine! Der enirret mich sú sÞre n„t Als dirre der d– vor iu l„t. Dirre h–t den schaden get–n. Swaz ich zornes noch h–n, l–t den andern ungesniten! Ich wil haben guote siten.‹ (FZ, V. 718 – 724) ›Nein, Herr, der ist klein! / Der verwirrt mich nicht so sehr wie dieser, der da vor euch liegt./ Dieser hat den Schaden bewirkt. / Was ich auch an Zorn noch habe, / lasst den andern ungeschnitten! / Ich will mich gut verhalten.‹

Aufgrund dieses Versprechens erlässt ihr der Ritter am Ende einen weiteren medizinischen Eingriff und macht die tatsächliche Funktionsweise der zornbraten explizit: 31 Müller: Böses Blut [Anm. 26], S. 150.

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›S„t ir vrides gert, des sult ir s„n von mir gewert unde ob iuch vürbaz iemer mÞ wider m„n hÞrren zorn bestÞ, daz man den andern sn„de, swie man es erl„de.‹ (FZ, V. 761 – 766) ›Da ihr nach Frieden verlangt, / soll euch das von mir gewehrt werden / und falls ferner jemals wieder Zorn auf meinen Herrn besteht, / dass man den anderen [zornbr–ten; E. F.] wegschneidet / wie auch immer man es aushält.‹

Die Organe sind nicht die materielle Ursache des weiblichen Fehlverhaltens, wie dies in »La dame escoill¦e« dargestellt wird, sondern sie sind Droh-Mittel zum Zweck. Männliche Macht konstituiert sich hier nicht durch Überzeugung, sondern durch reine Einschüchterung. Weibliches Selbstbewusstsein wird dabei als zorn deklariert und ausgetrieben. Die Sichtweise, dass das ungezähmte Verhalten von Mutter und Tochter genealogisch fortbesteht, verschwindet mit der Erfindung der zornbr–ten nicht vollständig aus dem Text. Die bereits bekehrte Tochter rät ihrem Ehemann erbarmungslos zu sein und auch den zweiten zornbr–ten zu entfernen: ›Sn„det ˜z den zornes br–ten! Er möhte alsú geraten Daz er gewünne ein jungen, sú waere uns misselungen.‹ (FZ, V. 731 – 734) ›Schneidet den zornbr–ten heraus! / Wenn er dazu gelangen könnte, / ein Junges zu bekommen, / dann hätten wir versagt.‹

Was zunächst eine vollständige Entsolidarisierung der Tochter mit der Mutter darstellt, ist gleichzeitig ein Beharren auf dem, was der Text zuvor als weibliches Prinzip etabliert: Die Weitergabe eines bestimmten Verhaltens an die nächste Generation. Diesem Prinzip entspricht die Vorstellung des zornbr–ten als Organ, das Kinder bekommen kann. Die weibliche Allmacht wird dadurch auf den Gipfel getrieben, dass der verbliebene nicht einmal einen zweiten zornbr–ten zur Zeugung des Nachwuchses benötigt. Das als weiblich imaginierte Organ kann sich in der Fantasie der Tochter vollkommen unabhängig von männlichem Zutun selbst fortpflanzen. Bevor es zur endgültigen Bezwingung der Mutter kommt, scheint so nochmals kurz eine Gegenposition zur erfolgreichen Drohgebärde des Schwiegersohns auf. Dies ist eine Gegenposition, auf die sich auch die Mutter im letzten Moment beruft: ›Denk, tohter, daz ich dich truoc‹ (FZ, V. 756, ›Denk daran, Tochter, dass ich dich ausgetragen habe‹). Indem der Schwiegersohn den zweiten zornbr–ten nicht entfernt, missachtet er das Argument, dass dieser sich vermehren könnte und macht ihn so letztlich zu einem in der Logik des Textes ›männlichen‹ Organ.

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Dass vorwiegend die weibliche Widerspenstigkeit als zorn problematisiert wird, lenkt davon ab, dass Zorn im Machtkampf der Geschlechter auch auf männlicher Seite eine zentrale Funktion einnimmt. So konzeptualisiert der Erzähler von »Frauenzucht« eine wertungsfreie Form von Zorn, die er vor allem männlichen Figuren zuschreibt. Dieser Zorn bleibt unhinterfragt und entwickelt eine hohe Effizienz. Im Rat der Mutter an die Tochter kommt der potentielle Zorn des zukünftigen Ehemannes noch als relativ harmlose Anfechtung zur Sprache, die mit körperlicher Gewalt abgewehrt werden kann: ›Liebiu tohter, gehorche mir : swenne er zürnet mit dir unde wirfet dich dar nider, kratze und b„z und roufe in wider!‹ (FZ, V. 289 – 292) ›Liebe Tochter, gehorche mir : / Wann immer er mit dir zürnt und dich nieder wirft, / kratze und beiße und raufe ihn ebenfalls an den Haaren.‹

Der Zorn des Schwiegersohns wird aber zu einem zentralen Mittel der Einschüchterung, das letztlich die Zähmung der Tochter bewirkt. Der junge Ritter baut ein Drohszenario auf, das gerade durch seinen Zorn besonders glaubwürdig wird. Er tötet Hund, Habicht und Pferd aus reinem Kalkül vor den Augen seiner Braut. Indem er die Tötungen an für die Tiere unerfüllbare Forderungen knüpft, demonstriert er ihr, dass sie ihr gewohntes Verhalten – sei es angeboren oder anerzogen – aufgeben muss, um bei ihm zu überleben. Als der Hund seinen Befehl nicht erfüllt, wird er zornig: Des wart er erbolgen (FZ, V. 364, Darüber wurde er zornig). Dass gerade diese Szene die nachhaltige Zähmung der Tochter auslöst, wird deutlich, als diese der Mutter ihren Mann beschreibt: ›Er ist biderbe unde guot. Swer aber s„n willen niht entuot, wirdet im ˜f den zorn, der h–t zehant den l„p verlorn.‹ (FZ, V. 519 – 522) ›Er ist tüchtig und gut. / Wer aber nicht seinem Willen folgt / und seinen Zorn erregt, / der hat sofort das Leben verwirkt.‹

Obwohl innerhalb der Zähmung der Tochter Zorn nur in einem Satz vorkommt (vgl. FZ, V. 364) und ihm keinerlei Wirkung zugeschrieben wird, macht sich die Emotion im Nachhinein (vgl. FZ, V. 521) explizit in der »Einbildungskraft der Opfer« breit.32 Die Tochter imaginiert Zorn als Ursache dafür, dass ihr Ehemann in der Vergangenheit die Tiere getötet hat, die nur taten, was in ihrer Natur lag, und dass er parallel dazu in Zukunft die Frauen töten wird, die nicht tun, was er verlangt. 32 Müller: Böses Blut [Anm. 26], S. 150.

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Auch bei der Zähmung der Mutter spielt der Zorn des Schwiegersohns eine Rolle. So nennt ihn der Erzähler, als die zornbr–ten-List mit dem Schwiegervater ausgemacht ist: Der eidem zornes r„che (FZ, V. 599, Der Schwiegersohn voll des Zornes). Der Schwiegersohn gerät so zum männlichen Pendant seiner Schwiegermutter, die ja bereits als diu zornes herte (FZ, V. 489, die vor Zorn Harte) etabliert ist. Er sagt selbst gegenüber seiner Schwiegermuter, dass er ihr feindlich gesonnen sei, weil sie sich nicht ändern will: »Vrouwe, des bin ich iu gehaz!« (FZ, V. 625, Dame, dafür hasse ich euch!). Zorn wird so tatsächlich, wie von der Tochter vorgestellt, zum Antrieb des jungen Ritters bei der Zähmung seiner Schwiegermutter. Die Emotion bewirkt zwar nicht deren Tod, setzt aber erneut ein Einschüchterungsszenario in Gang. Während der Zorn des jungen Ritters auf diese Weise als sehr effizient innerhalb des Machtkampfes der Geschlechter geschildert wird, bleiben zornige Reaktionen der Mutter – die Tochter wird erst gar nicht zornig gezeigt – meist wirkungslos. Es wird ihnen keinerlei einschüchternder Einfluss auf die Imagination oder das Verhalten männlicher Figuren zugeschrieben, wie das umgekehrt der Fall ist. Dennoch bleiben die männlichen Instanzen (Vater, Erzähler) insofern nicht ungerührt, als sie unmittelbar Gegenmaßnahmen einleiten. So reagiert der Vater auf den Zorn seiner Frau mit Prügel (vgl. FZ, V. 54). Als die Mutter ihrer Tochter zürnt, weil diese sich dem jungen Ritter unterworfen hat, und sie versucht, sie durch Drohungen wieder auf den richtigen Weg zu bringen (vgl. FZ, V. 489 – 506), stellt der Erzähler diese Reaktion als unrechtmäßig und übertrieben dar : S„ pfliget hazzes umbe ein wint; swelch vrouwe schildet ir kint durch daz es ist alze guot. Ich weiz wol daz s„ missetuot. (FZ, V. 509 – 512) Sie hasst ihn ohne Grund; / welche Dame schimpft mit ihrem Kind, / weil es zu gut ist. / Ich weiß wohl, dass sie falsch handelt.

Zorn kommt also in »Frauenzucht« – anders als Stolz in »La dame escoill¦e« – eine tragende Funktion bei der Aushandlung von Machtpositionen im Verhältnis der Geschlechter zu. Dabei wird der Zorn weiblicher Figuren zunächst entkräftet und dann ausgetrieben, der Zorn des Schwiegersohns übernimmt hingegen eine Schlüsselfunktion bei der Zähmung sowohl der Tochter als auch der Mutter. Dadurch verschieben sich die anfänglichen Kräfteverhältnisse in der Ursprungsfamilie und es kommt zu einem ›Transfer‹ von Zorn. So heißt es relativ zu Beginn über das ältere Ehepaar : Swaz er wider sie gesprach daz was ir zorn unde ungemach, daz s„ rief unde schalt. (FZ, V. 51 – 53)

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Wenn er ihr widersprach, / löste das ihren Zorn und Verdruss aus, / so dass sie schrie und schimpfte.

am Ende der Erzählung wird die fast übereinstimmende Formulierung (daz im was zorn und ungemach statt daz was ir zorn unde ungemach) mit vertauschten Geschlechtsbezeichnungen nochmals aufgenommen: swanne s„ iht arges sprach daz im was zorn und ungemach, sú sprach er : ›ich kanz niht enden, ich wil n–ch m„me eidem senden.‹ (FZ, V. 789 – 792) Wann immer sie etwas Böses sagte, / das seinen Zorn und Verdruss auslöste, / sagte er : ›Ich kann es nicht vollbringen, / ich werde nach meinem Schwiegersohn senden.

Die ausgetauschte Zornzuschreibung mit nahezu identischer Wortwahl verweist darauf, dass sich die Ökonomie der Emotionen sowie die Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern innerhalb der Erzählung verschieben. Zu Beginn ist die Ehefrau zornig und der Ehemann machtlos, am Ende ist die Situation genau umgekehrt. Die unterlegene Position wird mit dem Adjektiv senfte bezeichnet. Während der Ehemann zunächst als sanft gilt: Er was ouch senftes muotes (FZ, V. 42), gelobt die Ehefrau abschließend: ›Ich wil dir sweren b„ der wide/ daz ich wil haben senften muot‹ (FZ, V. 758 f., ›Ich will dir bei der Strafe des Henkens schwören, dass ich sanfter sein werde‹). Die Zuschreibung von Sanftheit dient auch dazu, den Vater von Anfang an als Gegenfigur des jungen Ritters einzuführen. So wird, wie bereits zitiert, über den Vater gesagt: Er was ouch senftes muotes (FZ, V. 42) und analog dazu wird der junge Ritter, wie folgt beschrieben: der was r„che des guotes / und manl„ches muotes (FZ, V. 213 f., der war reich an Gütern und an männlicher Gesinnung). Auf diese Weise werden indirekt nochmals Zorn und Männlichkeit miteinander verbunden: Der junge Ritter ist männlich, weil er besitzt, was dem Vater abgeht, nämlich – wie sich im Laufe der Erzählung entpuppt – die Fähigkeit zu zürnen. Zorn hat in »Frauenzucht« eine wesentlich andere Funktion als Stolz in »La dame escoill¦e«. Obwohl der Schwiegersohn dort Stolz zwar als typisch männliche Eigenschaft proklamiert, wird keine der männlichen Figuren jemals selbst als stolz dargestellt oder auch nur bezeichnet. Dies ist in »Frauenzucht« mit Zorn anders, denn hier werden auch männliche Figuren zornig. Während im altfranzösischen Text die Kräfteverhältnisse zwischen den Geschlechtern im Wesentlichen mithilfe von körperlicher Gewalt, Schlägen und der brutalen Operation geschaffen werden und Stolz nur eine sekundäre Rolle zukommt, dient in »Frauenzucht« gerade Zorn dazu, Machtrelationen allererst auszuhandeln. Dabei erweist sich erst im Verlauf der Erzählung, was Klaus Ridder über Zorn und Geschlecht im »Eneasroman« konstatiert: »Zorn ist männlich kon-

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notiert.«33 Während die Königin Amata im »Eneasroman« an ihrem übermäßigen Zorn stirbt und damit als Exempel dafür herangezogen werden kann, dass Zorn und Weiblichkeit nicht zusammengehen, entwirft »Frauenzucht« allerdings ein mehrdeutigeres Bild. Der Zusammenhang von Zorn und Geschlecht wird hier perspektiven- und facettenreich narrativ erzeugt, gebrochen und am Ende als konstruierter ausgestellt.

33 Ridder, Klaus: Kampfzorn. Affektivität und Gewalt in mittelalterlicher Epik. In: Eine Epoche im Umbruch. Volkssprachliche Literalität 1200 – 1300. Cambridger Symposium 2001. Hg. von Bertelsmeier-Kierst, Christa u. Young, Christopher. Tübingen 2003, S. 221 – 248.

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liep âne zorn mac niht sîn? – Vom Liebeszorn und Racheglück im Minnesang

Liebe und Zorn scheinen sich dem allgemeinen Verständnis nach auszuschließen. So lautete etwa die Schlagzeile der Internetausgabe der Brigitte am 2. 1. 2013 zur skandalträchtigen Trennung eines prominenten Paares in der Silvesternacht 2012 »Wenn aus Liebe Zorn wird«1. Doch ebenso gibt es in aktuellen Meldungen und natürlich auch in der Literatur Belege dafür, dass Zorn und Liebe auseinander hervorgehen, sich gegenseitig bedingen und beeinflussen. So schrieb Ernst Moritz Arndt in seinem Gedicht »Zorn und Liebe« 1820: Wer nie im Zorn erglühte, Kennt auch die Liebe nicht: Die Lieb ist süße Blüthe, Die bitterm Zorn entbricht; Wie Rosen blüh’n aus Dornen, Und wunderlieblich steh’n, So steht auf scharfen Zornen Auch Liebe wunderschön.2

Dass Gefühle und Emotionen3 changieren und sich wechselseitig substituieren, sich überlagern und sich mischen, gehört wesentlich zu ihrer Merkmalsbestimmung. Darüber herrscht in nahezu allen wissenschaftlichen Disziplinen 1 http://www.brigitte.de/gesellschaft/politik-gesellschaft/sylvie-van-der-vaart-trennung1152012/ (Zugriff am 15. 1. 2013). 2 Arndt, Ernst Moritz: [Zorn und Liebe 1820] Ein Gleiches. An Dieselbe. In: Arndt, Ernst Moritz: Gedichte. Vollständige Sammlung. Mit der Handschrift des Dichters aus seinem neunzigsten Jahre. 2. Aufl. Berlin 1865, S. 370. 3 Beide Kategorien unterscheiden sich in ihrer Verwendung im vorliegenden Beitrag wie folgt: Als Gefühl wird hier die subjektive Erlebenskomponente bzw. Erlebnisqualität einer ›Emotion‹ verstanden. ›Emotion‹ hat demgegenüber ein weiteres Referenzpotential. Diese Kategorie umfasst die kognitive Bewertung, die physiologische Aktivierung, den motorischen Ausdruck, die Handlungsentwurfs- und Verhaltensbereitschaft und den subjektiven Gefühlszustand. So z. B.: Vester, Heinz Günter : Emotion, Gesellschaft und Kultur. Grundzüge einer soziologischen Theorie der Emotionen. Opladen 1991; Schwarz-Friesel, Monika: Sprache und Emotion. Tübingen, Basel 2007.

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Konsens. Dennoch oder gerade wegen dieses Wesenszuges besteht seit jeher ein ungebrochenes Interesse daran, die verschiedenen Emotionen zu klassifizieren, sie einzuordnen und zu gruppieren. Einen viel rezipierten Vorschlag zur Einteilung entwickelte Paul Ekman, der zwischen positiven, negativen und neutralen Emotionen unterscheidet. Zu den positiven werden unterschiedliche Formen von Freude (zum Beispiel Sinnenfreude, Erleichterung, Zufriedenheit, Ekstase) gezählt; neutral sind in dieser Klassifikation Überraschung und Furcht und als negativ gelten Trauer und Schmerz, Angst sowie Ekel und Verachtung. Negative Emotionen sind nach dieser Einschätzung unangenehm und werden als nicht lustvoll erfahren. Sie werden als bedrohlich wahrgenommen und initiieren Handlungen, die vor Schaden bewahren sollen und dem menschlichen Überleben dienlich sind.4 Doch sind Trauer und Schmerz, sind Angst und Verachtung tatsächlich immer negative Emotionen? Mit Sicherheit nicht. In vielen Situationen, seien sie nun real oder fiktiv, besteht ein Spannungsverhältnis zwischen der positiven und negativen Einschätzung einer Emotion. Entscheidend für die historisch immer auch variable Bewertung ist der jeweilige situative Ko- und Kontext, der bestimmt, für wen welche Emotionen negativ sind. Darüber hinaus lassen sich mindestens zwei Perspektiven voneinander unterscheiden, von denen aus Emotionen beurteilt werden: So gibt es selbstreferentielle negative Emotionen, wie zum Beispiel den Schmerz, den ich beim Verlust einer geliebten Person empfinde, und negative Emotionen, die auf andere gerichtet sind, wie etwa den Neid, der gegenüber Anderen empfunden wird. Nicht zuletzt die Zuschreibung an bestimmte Figuren, Rollen und Identitäten sowie die Gegenstände und Objekte, welche die Emotionen auslösen, bestimmen, ob Emotionen als negativ eingestuft werden. Bei einigen Emotionen scheint die Bewertung nach den eben genannten Kriterien besonders schwierig, eine deutliche Zuordnung zum Positiven oder Negativen kaum möglich. Hierzu zählt vor allem – wie oben bereits skizziert – der Zorn. Bereits Thomas von Aquin charakterisiert ihn als zwiespältig,5 denn »[d]ieser richtet sich […] nicht ungeteilt auf etwas Übles oder etwas Gutes, sondern er 4 So z. B. Ekman, Paul: Emotions Revealed. Recognizing Faces and Feelings to Improve Communication and Emotional Life. New York 2003, S. 82 – 199. 5 Pickavé, Martin: Thomas von Aquin. Emotionen als Leidenschaften der Seele. In: Handbuch klassischer Emotionstheorien. Hg. von Landweer, Hilge u. Renz, Ursula. Berlin 2012, S. 185 – 204. Nicht eingegangen werden soll an dieser Stelle auf die Unterscheidung zwischen begehrendem und zornmütigem Strebevermögen. Siehe hierzu: Pickavé S. 197 f. und Brungs, Alexander : Charakteristische Aspekte des Zorns in seiner Darstellung durch Philosophen des Mittelalters. In: Das Mittelalter 14 (2009), Heft 1: Furor, zorn, irance. Interdisziplinäre Sichtweisen auf mittelalterliche Emotionen, S. 28 – 40, bes. S. 31 ff.

liep âne zorn mac niht sîn? – Vom Liebeszorn und Racheglück im Minnesang

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beinhaltet beides in sich.«6 Zorn ist das Leiden wegen einer zugefügten Kränkung (der Feind wird als etwas Übles betrachtet) und zugleich Sehnsucht und Hoffnung auf Vergeltung (Gutes). Vor Thomas hatte schon Aristoteles Zorn als Konglomerat unterschiedlicher Emotionen beschrieben: Schmerz und Trauer über eine Herabsetzung provozieren das Verlangen nach Rache und Wiedergutmachung.7 Betrachtet man die lange Reihe unterschiedlicher literarischer Textzeugnisse, in denen Figuren zornig werden, aus Zorn heraus handeln, indem sie sich zum Beispiel rächen wollen, oder zornig schweigen, so wird schnell deutlich, dass der Zorn (und die mit ihm unmittelbar verbundene Rache) – offensichtlich gerade wegen seines ambivalenten, changierenden Charakters – je nach Epoche, Diskurs, Gattung und Geschlechtsidentität der zornigen Person oder Figur immer wieder anders positiviert oder eben negativiert wird. Bisher hat die mediävistische Forschung dazu vornehmlich für narrative Texte einige Untersuchungen hervorgebracht.8 Vor allem die Ausführungen zu Herrscher- und Heldendarstellungen haben zeigen können, wie Zorn und Rache in verschiedenen Szenarien, das heißt je nach Anlass, Situation und Kontext, um- und neubewertet wurden.9 In Arbeiten zum Minnesang spielen Zorn und Rache bislang nur eine marginale Rolle. Die mittelhochdeutsche Liebeslyrik ist – darin sind sich so gut wie alle Minnesang-Forscher einig – geprägt von den Emotionen Freude und Schmerz. Wunne und nút, liebe und leit sind konstitutiv für das Konzept der Hohen Minne. Minnesang entfaltet eine zweipolige ›Gefühlslandschaft‹, bei der Emotionen wie vreude, saelde, trúst auf der einen Seite und Emotionen wie nút, sorge, swaere auf der anderen Seite angeordnet sind. Beide Pole sind aufeinander bezogen, ihr Verhältnis wird in der Forschung als »dialektisch«10, »aporetisch«11 oder als »paradox«12 bezeichnet. 6 Kluger, Nils: Thomas von Aquin und der bellum iustum. Eine Betrachtung der Theorie des gerechten Krieges unter dem Aspekt des Religionskrieges. Norderstedt 2006, S. 65 – 66. 7 Aristoteles: Rhetorik. Übersetzt u. herausgegeben von Krapinger, Gernot. Stuttgart 2007, S. 77 – 78 (Buch II, 1378a, 31 – 1378b, 10). 8 So etwa Martini, Thorsten W.D.: Facetten literarischer Zorndarstellungen. Analysen ausgewählter Texte der mittelalterlichen Epik des 12. und 13. Jahrhunderts unter Berücksichtigung der Gattungsfrage. Berlin, New York 2009. 9 Siehe hierzu z. B.: Furor, zorn, irance. Interdisziplinäre Sichtweisen auf mittelalterliche Emotionen. Hg. v. Freudenberg, Bele. München 2009 (=Das Mittelalter 14 [2009], H.1.); Gephart, Irmgard: Der Zorn der Nibelungen. Rivalität und Rache im Nibelungenlied. Wien, Köln u. a. 2005; Martini, Thorsten W.D.: Facetten literarischer Zorndarstellungen: Analysen ausgewählter Texte der mittelalterlichen Epik des 12. und 13. Jahrhunderts unter Berücksichtigung der Gattungsfrage. Heidelberg 2009; Freienhofer, Evamaria: Tabuisierung von Zorn als Herrscherhandeln im König Rother. In: Machtvolle Gefühle. Hg. v. Kasten, Ingrid. Berlin, New York 2010, S. 87 – 103. 10 Kuhn, Hugo: Minnesangs Wende. Tübingen 1967, S. 74. 11 Hensel, Andreas: Vom frühen Minnesang zur Lyrik der Hohen Minne. Studien zum Lie-

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Im vorliegenden Beitrag werden nun die für den Minnesang bisher wenig beachteten Emotionen Zorn und Rache ins Zentrum gerückt, um zu untersuchen, wie sie in Minneliedern in Szene gesetzt, funktionalisiert und bewertet werden. Die leitenden Fragen sind dabei, wer in den Liedern Zorn und/oder Rache empfindet oder empfinden darf, wie sie ausgedrückt oder lesbar werden und – das ist die wohl entscheidende Frage – ob Zorn und Rache im Minnesang als positive oder negative Emotionen dargestellt sind.

I.

Zorn und Rache im Minnesang – eine Bestandsaufnahme

In Minneliedern der klassischen Zeit13 finden sich 32 Belegstellen für das mittelhochdeutsche Wort zorn.14 Das Bedeutungsspektrum dieses Wortes reicht vom neuhochdeutschen ›Zorn‹15 über ›Wut‹ und ›Hass‹ bis zu ›Ärger‹, ›Empörung‹, ›Feindseligkeit‹ aber auch ›Streit‹. Klaus Grubmüller hat gezeigt, dass im Mittelhochdeutschen neben dem zorn auch die Lexeme n„t und haz verwendet werden, um »feindselige Erregtheit« zu bezeichnen.16 »Häufig werden sie ohne Unterscheidung gereiht.«17 Auch in den mittelhochdeutschen Minneliedern erscheinen haz (44) und n„t (34) oft mit ähnlicher Semantik18 : Sie be-

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besbegriff und zur literarischen Konzeption der Autoren Kürenberger, Dietmar von Aist, Meinloh von Sevelingen, Burggraf von Rietenburg, Friedrich von Hausen und Rudolf von Fenis. Bern u. a. 1997, S. 385. Spitzer, Leo : L’amour lointain de Jaufr¦ Rudel et le sens de la po¦sie des troubadours. In: Ders.: Romanische Literaturstudien 1936 – 1956. Tübingen 1959 [zuerst 1944] , S. 363 – 417, hier S. 397. Grundlage der Textauswahl bildet: Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann u. Moriz Haupt, Friedrich Vogt u. Carl von Kraus, bearb. v. Hugo Moser u. Helmut Tervooren. Band I. Texte. 38. erneut revidierte Ausg. Stuttgart 1988. Im Folgenden zitiert als MF. Der vorliegende Beitrag konzentriert sich auf die Minnelieder des sogenannten frühen Minnesangs und auf Minnekanzonen der klassischen Zeit (ca. 1170ca. 1210). Andere Gattungen und eine autorenspezifische Differenzierung werden an anderer Stelle zu untersuchen sein. Braun, Manuel: Spiel – Kunst – Autonomie. Minnesang jenseits der Pragma-Paradigmen. Habil. München 2007 (masch.), S. 133. Ich danke dem Verfasser für die Überlassung des Manuskripts. Im Gegensatz dazu: Vröide ist 329- und liebe 232-mal belegt (Ebd.). Als Bedeutung von neuhochdeutsch ›Zorn‹ wird angegeben: »heftiger Unwille über etwas, was man als Unrecht empfindet oder was den eigenen Wünschen zuwiderläuft.« Siehe: Duden. Deutsches Universalwörterbuch A-Z. Hg. v. Wissenschaftlichen Rat u. Mitarbeitern d. Dudenredaktion unter Leitung v. Günther Drosdowski. Mannheim u. a. 1989, S. 1787. Grubmüller, Klaus: Historische Semantik und Diskursgeschichte. Zorn, n„t und haz. In: Codierungen von Emotionen im Mittelalter. Hg. v. Jaeger, C. Stephen u. Kasten, Ingrid. Berlin, New York 2003, S. 47 – 69, hier S. 49. Ebd. Keine Berücksichtigung finden hier die Textstellen, an denen von Gotteszorn die Rede ist, da

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zeichnen hier – wie auch zorn – vor allem die Feindseligkeit oder ablehnende Haltung – etwa der vrouwe gegenüber dem Sänger-Ich19 – oder die missgünstige Haltung etwa der merker gegenüber der liebenden Frauenfigur.20 Im frühen Minnesang werden zorn, haz und n„t sowohl Frauenfiguren als auch der Gemeinschaft attestiert. Anders als in narrativen Texten werden diese Emotionswörter aber nur genannt. Zorn – in den drei genannten Lexemformen – wird hier in seiner Bedeutung als feindselige ›Ablehnung‹ oder ›Ärger‹ verwendet. Ein konkreter Kontext, körperliche und/oder verbale (An-)Zeichen oder gar Handlungsfolgen werden nicht erwähnt. Indem die Emotion Zorn ohne ihre Ausdrucksformen dargestellt wird und keine handlungsauslösenden Momente impliziert, wird sie gleichsam stillgestellt und wirkt dadurch statisch. Die Emotion Zorn bildet so gleichsam nur die Folie, vor der das Personal der Lieder (wahlweise eine weibliche oder männliche Figur) seine Zuneigung verbal bekräftigen kann. Zorn erscheint in den Liedern negativiert, indem er (in der Bedeutungslogik der Texte) dem männlichen Sänger-Ich oder der liebenden Frauenfigur leit und nút zufügt. Gleichzeitig wird Zorn zum Positivum, indem er (aus einer Metaperspektive gesehen) die ›Figuren‹ überhaupt erst zum Sprechen bringt: Denn im Zentrum der Lieder steht immer wieder die Affirmation der oder des Liebenden, der sein Leid und sein Festhalten an der Liebe ›auserzählt‹. Diese Logik der Inszenierung bleibt auch im klassischen Minnesang kennzeichnend für zorn, n„t und haz – an den Stellen, an denen sie Frauenfiguren zugeschrieben werden. So heißt es zum Beispiel bei Albrecht von Johansdorf: ich h–n von ir zorne leides vil erliten21 oder bei Reinmar : Waenet si, daz ich den muot / von ir gescheide umb alsú l„hten zorn?22. – Es geht demnach auch hier nicht darum, Zorn und seine Äquivalenzen in ihren Ausformungen und Auswirkungen darzustellen. Sie bilden vielmehr den Auslöser dafür, die den Minnesang prägenden Emotionen leit und liebe/vreude wort- und metaphernreich zu beschreiben und auszubreiten. Anders hingegen wird der Zorn in Szene gesetzt, der dem männlichen SängerIch zugeschrieben ist. Die Textbelege hierfür sind deutlich seltener. Aber der Unterschied ist markant: Für den ›männlichen Zorn‹ wird zum einen deutlich gezeigt, dass er als Folge einer Kränkung oder Verletzung erscheint und es werden Gründe für den Zorn genannt. Zum anderen löst er ein (mitunter gewaltsames) Agieren aus. So heißt es zum Beispiel bei Heinrich von Morungen:

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der Fokus im vorliegenden Beitrag nicht auf moraltheologische Konnotationen von Zorn gerichtet ist. Heinrich von Morungen MF 124, 20 – 21: ich sihe wol, daz m„n frouwe / mir ist vil gehaz, u. ö. Kürenberger MF 7, 21: daz mir den benomen h–nt die merker und ir n„t, u. ö. MF 87, 31. MF 172, 17 – 18.

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Ich w†l eine reise. Wünschent, daz ich wol gevar. D– wirt manic weise, diu lant wil ich brennen gar. M„ner vrowen r„che, swaz ich des bestr„che, daz muoz allez werden verlorn, s„ enwende m„nen zorn. (MF 145, 33 – 146, 2)

Deutlich ist, dass die Darstellung von Zorn und der sich darauf gründenden Rachehandlung auf eine Liebeskriegstopik zurückgreift und somit Minne und Zorn aneinander bindet. In den darauf folgenden Strophen wird in Form eines anaphorischen Verweises die Begründung für das Wüten des Sänger-Ichs nachgeliefert: s„ tuot mir ze lange wÞ (MF 146, 10). Zorn wird somit hier semantisiert als ambivalente Mischung aus Schmerz, Kränkungsgefühl und dem (metaphorischen) gewaltsamen Ausagieren der Rache an der Verursacherin dieser Gefühlsmischung. Diese Mischung entspricht dem aristotelischen Muster, von dem oben die Rede war. Sie erscheint ohne Bewertung und wird gleichsam naturalisiert. Die im eben zitierten Beispiel beschriebene Rache bleibt im MinnesangKorpus marginal. Die Lexeme rache beziehungsweise rechen erscheinen selten.23 Eine der bekanntesten Strophen Heinrichs von Morungen, in der Rache thematisiert wird, ist folgende: waenet si danne ledic s„n, ob ich bin tút, ich l–ze einen trúst noch hinder mir, daz noch schoene werde m„n sun daz er wunder an ir begÞ, alsú daz er mich reche und ir herze gar zerbreche, sú’ s„’n sú rehte schoenen sÞ. (MF 124, 32, 3)24

Hier folgt auf eine unerfüllte Zuwendung und dem daraus resultierenden Leid eine trostspendende Vergeltungshandlung: Der Sohn soll nun der Dame das

23 In der Liste von Manuel Braun erscheinen sie gar nicht. Braun [Anm. 14], S. 126 – 131. Ich zähle in MF fünf Belege. 24 In ähnlicher Form trägt das Sänger-Ich Walthers von der Vogelweide im sogenannten »Sumerlaten-Lied« einem Nachfolger auf: Sol ich in ir dienste werden alt, / die w„le junget si niht vil. / so ist m„n h–r vil l„hte alsú gestalt, / daz si einen jungen danne will. / sú helfe iuch got, hÞr junger man, / sú rechet mich und gÞt ir alten h˜t mit sumerlaten an (L 73,17-L 73,22). Siehe: Walther von der Vogelweide. Leich, Lieder, Sangsprüche. 14., völlig neubearb. Aufl. Hg. v. Cormeau, Christoph. Berlin, New York 1996, S. 162.

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Herz brechen. Diese Handlung bleibt jedoch imaginiert und wird in die Zukunft verlagert. Wenn Zorn und Rache – so lässt sich zusammenfassend sagen – in Minneliedern dem männlichen Sänger-Ich zugeschrieben sind, werden sie als positiv im Sinne einer Verteidigung und als gerecht inszeniert. Häufiger sind aber die Stellen, in denen Zorn Frauenfiguren zugeschrieben wird. Hier ist der Zorn dann grausam, führt er doch zum Leid des Sänger-Ichs. Es werden keine Motivationen oder (Rache-)Handlungen für und aus dem weiblichen Zorn heraus beschrieben, er bleibt statisch. Das heißt die Inszenierungsformen und die Bewertungen der Emotion Zorn sind abhängig von der geschlechterspezifischen Zuordnung.25 An zwei Textbeispielen wird im Folgenden nun noch einmal genauer in den Blick genommen, mittels welcher Strategien der männlich konnotierte Zorn in Minneliedern positiviert (oder neutralisiert) wird.

II.

Minne, Zorn und Rache

In seiner expressiven Liebesklage »W–fen–, wie hat mich minne gel–zen« (MF 52,37 – 53, 28) stellt Friedrich von Hausen die Frage, die den Minnesang wie einen roten Faden durchzieht: Waz mac daz s„n, daz diu werlt heizet minne? (MF 53,15). Im Lied selbst erscheint sie nicht nur in ihren (Aus-)Wirkungen auf das Sänger-Ich (nút, wÞ tuon, sinne nemen, herzesÞre, herze verkÞren), sondern sie wird als Personifikation sogar selbst angesprochen. In Strophe vier heißt es: Minne, got müeze mich an dir rechen! Wie vil d˜ m„nem herzen der vröiden wendest! Und möhte ich dir d„n krumbez ouge ˜z gestechen, des het ich reht, wan du vil lützel endest an mir sölhe nút, sú mir d„n l„p gebút. Und waerest du tút, sú d˜hte ich mich r„che. Sus muoz ich von dir leben betwungenl„che. (MF 53,22 – 53,28)

Die Strophe eröffnet mit einer invocatio, die an die Minne adressiert ist. Das Sänger-Ich droht ihr Rache an, die zunächst Gott selbst ausüben soll. Es rechtfertigt diesen Rachewunsch (des het ich reht, MF 53, 25) mit dem, was die Minne ihm angetan hat: wie vil d˜ m„nem herzen der vröiden wendest! (MF 53, 23) und ihm auch noch weiterhin zufügt: wan du vil lützel endest/an mir sölhe nút (MF 53, 25 f. ). Da die Minne Leiden verursacht, steht ihr der Tod zu. Erst wenn sie vernichtet ist, so behauptet das Ich, kann es Ruhe finden und sich selbstmächtig 25 Die beiden Emotionen Zorn und Rache sind mit anderen verschränkt und überblendet, den Emotionsinszenierungen liegt nur selten eine narrative Logik zugrunde.

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der Macht der Minne entziehen. Die Strophe schließt jedoch mit einer resignativen Einsicht, die imaginierte Rache wird eingeholt von der aktuellen, nicht abwendbaren Situation: sus muoz ich von dir leben betwungenl„che (MF 53, 26). Das Sänger-Ich fügt sich förmlich in seine untergeordnete, ›bezwungene‹, ›beherrschte‹ Position. Somit ist das minnesangtypische Machtverhältnis zwischen weiblich konnotierter minne/Minne und männlichem Sänger-Ich wieder hergestellt. Auffallend an diesem Text ist das große Potenzial an Gewaltphantasien. Neben dem Todeswunsch Und waerest du tút (MF 53, 27) steht auch ein anderes Verlangen, das in dieser Form unikal für die deutsche Minnelyrik ist: und möhte ich dir d„n krumbez ouge ˜z gestechen (MF 53, 24). Dieser Wunsch überrascht im Kontext einer Minnereflexion und wirft ein eigentümliches Licht sowohl auf die Inszenierungsform der Minne als auch auf die Konstitution des Sänger-Ichs in diesem Lied. Die Verszeile ist für die Emotionsgestaltung hinsichtlich zweier unterschiedlicher Aspekte interessant. Beide sind miteinander verschränkt: Das Sänger-Ich vertraut nun nicht mehr allein auf die Rache Gottes an der Minne, sondern schreibt sich selbst die Möglichkeit zu, seinen (negativen) Gefühlen in einem aggressiven Akt Ausdruck und zugleich Abhilfe zu verschaffen. Zugrunde liegt eine Gefühlsmischung aus Leid und Schmerz, Kränkung durch Zurückweisung und einem Vergeltungswunsch in Form eines unmittelbaren beziehungsweise vorgestellten unmittelbaren Handlungsaktes. Zorn wird hier zwar nicht explizit genannt, das Emotionsmuster referiert jedoch auf ihn. Die im Lied beschriebene Gewaltphantasie ist eng verbunden mit dem oben bereits dargelegten Machtdiskurs. Das Sänger-Ich hofft, durch den gewaltvollen Akt wieder Macht über seine Gefühle zurückzugewinnen und so die hier gezeigte Hierarchie zwischen minne/vrouwe und sich selbst umzukehren. Das Leiden schlägt um in ein Rachegefühl, oder auch in Zorn oder Wut, die als Grund für den Wunsch des Augenausstechens angenommen werden müssen. Der Vers und möhte ich dir d„n krumbez ouge ˜z gestechen (MF 53, 24) kann – zugespitzt formuliert – als Metapher für die Figurenemotionen gelesen werden. Dieser Umschlag von Emotionen lässt eine Dynamik frei werden, die in der enormen Plastizität der Darstellung mündet. Das Bild des Gewaltaktes führt förmlich das aggressive Potenzial der Emotion vor Augen. Die Emotionsmetapher des Augenausstechens ist verschränkt mit der Inszenierung der personifizierten Minne. Diese erscheint als externe Macht und ihre Körperlichkeit wird durch den metonymischen Verweis über das Auge konkret: d„n krumbez ouge. Sie wird inszeniert als entstellter oder boshafter Leib, je nachdem wie man krump übersetzt.26 Manfred Kern hat vorgeschlagen, 26 Dieses Wort hat sowohl die Bedeutung von ›krumm‹, ›verdreht‹, ›schief‹ als auch von ›falsch‹, ›böse‹, ›schlecht‹ u.s.w. Folgt man diesem zweiten Bedeutungsfeld können die krumben

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die Konzeptualisierung der Minne in dieser Strophe mit dem Modell der Vanitas oder der Luxuria in Verbindung zu bringen.27 Soweit muss man nicht gehen, dennoch ist die modellwirkende Kraft der hier verwendeten Metapher unübersehbar. Die Emotion Minne ist sonst im Sang als ambivalent konzeptualisiert und lässt sich als Kombination aus vröide und nút beschreiben. Sie erhält hier eine Ausrichtung, die andere, üblicherweise im Minnesang marginale Emotionen (wie das Rachegefühl oder den Zorn) in den Vordergrund rückt und die dieser Dominanz im wahrsten Sinne des Wortes ein Gesicht verleiht. Wenn auch diese Gestaltungsform von Minne im mittelhochdeutschen Liedcorpus randständig bleibt, so zeigt sie einmal mehr, wie vielseitig die Inszenierungsformen von Minne im Gattungskontext sein können. Die in der Hausen-Strophe verwendete Metapher des krumben ouges vollzieht einen Bruch mit dem sonst typischen Bild der Minne. Minne ist zwar stets grausam, doch durch den in dieser Strophe vor Augen geführten deformierten Leib der Minne wird die Aggression gegen sie gleichsam als gerechtfertigt und natürlich dargestellt. Der Leidensdruck des Sänger-Ichs führt zu Zorn. Gewaltphantasie und gerechte Rache werden als adäquate Reaktionen inszeniert.

III.

Liebeszorn, Gewalt und Macht

Das zweite Textbeispiel ist ein für den klassischen deutschen Minnesang eher untypisches. Es greift jedoch klassische Motive auf und bedient sich der minnesangtypischen Topik, kombiniert sie und unterläuft sie gleichzeitig mit schwankhaften Elementen. Das Lied, um das es im Folgenden gehen wird, ist der Wechsel »Herre, wer h–t sie begozzen« (MF LXVII, 372e – 376e), bei dem drei Männerstrophen zwei Frauenstrophen folgen. Das Lied ist in vollständiger Form nur in der Würzougen auch assoziiert werden mit dem bösen, zauberisch unheilvollen Blick, wie er im Aberglauben schon seit der Antike bekannt ist. Dieser böse Blick findet sich in ähnlicher Form als übel ougen oder twerher blic (also scheele, missgünstige Augen, schiefer Blick) auch in anderen Texten, etwa im Parzival Wolframs von Eschenbach. (Wolfram von Eschenbach: Parzival, V. 407,8) oder bei Walther von der Vogelweide (L 57, 36). Eine weitere Lesart dieser deformierten Minne lässt sich im Rekurs auf die Intramissionstheorie und den mittelalterlichen Diskurs über die Entstehung der Liebe entwickeln: Nach der zeitgenössischen Vorstellung entsteht Liebe durch den Blick wahlweise der vrouwe, des Mannes oder eben der personifizierten Minne. Sie gelangt über die Augen in das Herz des dann Liebenden. Wenn nun unsere Minne hier mit einem schiefen Auge ausgestattet erscheint, könnte dieses Bild entweder darauf verweisen, dass sie beim Sänger-Ich zwar Liebe ausgelöst hat, diese Liebe aber nur defizitär ist. Oder aber, dass sie beim Sänger-Ich keine richtige Liebe (vielleicht im Sinne einer glückreichen Liebe) bewirken kann, da ihr Blick nicht gerade, sondern krump ist. 27 Kern, Manfred: Weltflucht. Poesie und Poetik der Vergänglichkeit in der weltlichen Dichtung des 12. bis 15. Jahrhunderts. Berlin, New York 2009, S. 228.

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burger Handschrift E überliefert. Es bildet dort den Schlussteil eines Korpus nachgetragener Lieder unter der Überschrift her reymar. Wegen der ›pornographischen Züge‹ wurde das Lied Reinmar aber häufig abgesprochen, passt es doch kaum zum ästhetisch vollendeten Klagegestus, den die Forschung als Reinmarsches Signum festgelegt hat.28 Das Lied eröffnet mit einem Schönheitspreis, den es in dieser Form in den überlieferten deutschen Minneliedern nicht noch einmal gibt: Herre, wer h–t sie begozzen mit der milche und mit dem bluote? (MF 372e, 1) Der hier eingesetzte Topos rekurriert auf mariologische Traditionen, die hier nicht weiter ausgeführt werden können. Klar ist, dass damit nicht allein die Schönheit der Frauenfigur versinnbildlicht wird. Indem das Bild auf die christliche Eucharistie (mit Marias Milch und dem Fleisch und Blute Christi) verweist, rückt es die vrouwe dieses Liedes zugleich auch in einen heiligennahen Status. Im Verlauf des Liedes – und hier sei schon einmal dem ›Handlungsverlauf‹ des Liedes vorgegriffen – folgt jedoch ein rasanter Bruch, denn die Dame entbehrt ob ihrer gewaltsamen Akte jeglicher Form von Heiligkeit. Diese Brüchigkeit wird schon in den sich anschließenden Strophen vorbereitet: Ichn kann sie nimmer angesehen, mir enwerde wol ze muote. Diu vil lúse guote, ir loesel„ches mündel„n benimet mir die sinne m„n […] (MF 372e, 2 – 5)

Die Schönheit der Frauenfigur führt dazu, dass das Sänger-Ich bei ihrem Anblick Glück empfindet: Ihm wird wol ze muote (MF 372e, 2). Auch der Verlust der Sinne entspricht als Symptom ganz der klassischen Minne-Inszenierung.29 Doch lúse und loesel„ch mit ihrem Bedeutungsspektrum zwischen Anmut und Dreistigkeit30 lassen bereits ahnen, dass das gesamte Lied von Doppeldeutigkeiten und dem Changieren zwischen Minnesangtopoi und schwankhaften Elementen und Übertreibungen durchzogen ist. Die im Abgesang folgende Emotionsnennung (daz ich n–ch ir wuote. [MF 372e, 6 V. 1,6]) erscheint als logische Folge des emotionalen Szenarios dieser Strophe: Der Anblick von Schönheit ruft Freude hervor, der Sinnesverlust bedeutet eine Steigerung dieser Freude und verweist auf eine von antiken Vorbil28 So zuletzt: Bleumer, Hartmut: Ritual, Fiktion und ästhetische Erfahrung. Wandlungen des höfischen Diskurses zwischen Roman und Minnesang. In: Die Kunst der Galanterie. Facetten eines Verhaltensmodells in der Literatur der frühen Neuzeit. Hg. v. Florack, Ruth u. Singer, Rüdiger. Berlin, Boston 2012, S. 51 – 92, hier S. 80 ff. 29 benimet mir die sinne m„n (MF 372 e, 5) 30 Herberichs, Cornelia: Auf der Grenze des Höfischen. Gewalt und Minnesang. In: Gewalt im Mittelalter. Realitäten, Imaginationen. Hg. v. Braun, Manuel u. Herberichs, Cornelia. München 2005, S. 341 – 364, hier S. 353.

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dern beeinflusste Minnekonzeption. Das wüeten der letzten Strophenzeile bildet den Kulminationspunkt dieser Minneerfahrung. Mhd. wüeten hat neben der Bedeutung ›begehren, gieren nach‹ auch die Bedeutung von ›rasen, toben, wüten‹ und überschneidet sich interessanterweise mit der Semantik von mhd. zorn (d. h. Zorn, Wut, Hass). Wie schon das loesel„che mündel„n verweist das semantisch schillernde Lexem auf die im Lied dann auserzählte Ambivalenz von Minne und Gewalt. Die Doppel- oder Mehrdeutigkeit der verwendeten Wörter strahlt auf die gesamte Minnesituation aus, durch das wüeten wird sie gleichsam aggressiv aufgeladen. Zu Beginn der zweiten Strophe greift das Ich in einer Art repetitio sein Schauen auf die schöne Frau wieder auf: In einem pars pro toto wird wieder das mündel„n als besonders wirkmächtig herausgestellt. In gesach mit m„nen ougen nie kein mündel„n sú hÞre. si h–t mich betwungen, swar ich landes var, daz ich muoz wider kÞre. (MF 373e, 2,1 – 2)

Die Hierarchie zwischen dem begehrenden Sänger-Ich und der machtvollen Frauenfigur entspricht dem Minnesang-typischen Geschlechterverhältnis: Die vrouwe hat, um es mit den Worten Cornelia Herberichs zu sagen, »den Liebenden in ihre Macht gebracht.«31 Im Text heißt es dann weiter : Innecl„chen sÞre beiz si mich in m„nen munt, dú ich si kuste zuo einer stunt. (MF 373e, 2, 3 – 5)

Herberichs deutet diese Verse folgendermaßen: »Was sich dann zunächst als eine Geste ankündigt, die von besonderer Innigkeit zeugt – ›innecl„chen sÞre‹ (MF 373e, 2,3) – markiert einen plötzlichen Umschlag in eine intime Gewalt, die auf der Doppeldeutigkeit der Begriffe balanciert: Innig und ›tief innen‹ beißt das ›loesel„che mündel„n‹ der Dame den Sänger, als er sie küsst.«32 Die Schönheit der Dame – die trotzdem oder gerade wegen dieser Schönheit eine solche Tat verübt – erscheint im Rückblick von Anfang brüchig. Das übermütige Mündchen provoziert ein Begehren, dessen Intensität semantisch verstärkt wird und das durch den Biss im Kuss eine Gewalt- und Ermächtigungsphantasie gegenüber der Frauenfigur auslöst. Der ›Liebeszorn‹ mündet in der dritten Strophe in einen Rache- und Vergeltungswunsch: Weiz got, ich het ir daz b„zen n–ch vergolten in der ústerwochen. sicherl„ch, ich gr„fe ir in daz ouge, sú h–n ich mich gerochen. (MF 374e, 3, 1 – 2)

31 Herberichs [Anm. 30]. 32 Herberichs [Anm. 30].

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Ungewöhnlich an dieser Imagination ist die Datierung33 und mehr noch die Handlung selbst, mit der sich das Sänger-Ich rächen will. Das Wiederküssen, wie wir es aus dem Reinmarschen Kussraub-Lied kennen,34 wird zu Beginn der Rachephantasie evoziert. Doch ebenso überraschend, wie der Frauenbiss in der vorangegangenen Strophe, führt das Ins-Auge-Greifen zum Bruch mit der erwarteten Handlungsweise. Klar ist, dass der aggressive Gewaltakt in Opposition steht zum genussvollen Schauen der wunderschönen Frauenfigur vom Beginn des Liedes. So wie das wüeten aus der ersten Strophe das männliche Begehren als ambivalent konnotiert, wird auch das liebevolle Anblicken mehrdeutig beziehungsweise im wahrsten Sinne gebrochen. Die Strophen sind bestimmt von der Idee eines Ausgleichens oder Ausbalancierens durch wechselseitige Angriffe. Doch der Ausgleich wird ständig perpetuiert und konterkariert, wie auch die beiden letzten Strophen verdeutlichen werden. Es folgt zunächst in der Liedmitte35 eine Pendelbewegung. Die rhetorische Frage Waz h–n ich gesprochen (MF 374e, 3,3) lässt zunächst vermuten, dass das Sänger-Ich den Gewaltakt zu bereuen scheint. Doch stattdessen folgt eine weitere Drohgebärde, die durch Zorn motiviert ist und die wieder zur Unterwerfung der Frauenfigur (in gesteigerter Form) führen soll: wirt sie des an mir gewar, daz ich alsus mit zorne var, sie kumet d– her gekrochen (MF 374e, 3,4 – 6)

Dieses letzte Bild verdeutlicht sehr gut, wie sich das Sänger-Ich durch die vorgestellte Unterwerfungsgeste selbst Macht über die vrouwe zuschreibt. Die hier zugrundeliegende Logik entspricht ganz dem Muster von ›Zorn durch Leiderfahrung‹ und ›Rache als Machtausübung‹, wie es bereits im Beispiel Friedrichs von Hausen deutlich wurde. In den beiden Frauenstrophen am Ende des Reinmar-Liedes wird der ›Machtkampf‹ fortgesetzt, ohne dass eine endgültige Entscheidung fällt. In Strophe vier klagt die Frauenfigur zunächst wegen der ihr gegenüber ausgesprochenen Drohung: WÞ mir s„n, daz er mir alsú dröuwet, ez werde mir zu leide (MF 375e, , 4,1). Wie auch in den Männerstrophen pendelt die Stimmungslage jedoch rasch, dem Leid und der Klage folgt wiederum eine unerwartete Hand33 »Der ústerl„che tac, als Inbegriff von Freude und Schönheit im Minnesang mehrfach belegt, erhält hier einen rechtlichen Konnotationsrahmen. […] Rüdiger Krohn geht mit Carl von Kraus davon aus, es handle sich um eine Anspielung auf den brauchtümlichen Osterkuss, während Tervooren argumentiert, dass während der Osterwoche sowohl Gewalttaten (nach kirchlichem Recht) als auch Sexualhandlungen (nach kirchlichem Recht) untersagt gewesen seien.« Siehe: Herberichs [Anm. 30]. 34 MF 159,37. 35 Vers 3,3 bildet die Mitte des gesamten Liedes.

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lung: ich bringe in l„hte sigehaft (MF 375e, 4,5). Die Emotion Leid – der in der Minnesanglogik eine untergeordnete Position im Geschlechterverhältnis entspricht – führt zu einer Handlung, die diese Position wieder verändern will. Emotionsdiskurs und Machtdiskurs sind auch hier wieder miteinander verschränkt. Die letzte Strophe schließlich erscheint wie der schwankhafte Höhepunkt der ganzen Fehde. Mit einer sexuell aufgeladenen Metaphorik wird vorgeführt, wie die Frauenfigur sich unerschrocken den Angriffen des Mannes zur Wehr setzen würde: Ich hete ime alle w„le vor gest–n, ob mich diu huote lieze. m„ne vriunt die vörhtent, daz ich werde wunt mit s„nem scharpfen spieze. daz er mich erschieze, des ich gar –n angest bin. schiuzet er, sú stiche ich in, sú sehe, waz er’s genieze. (MF 376 e,5, 1 – 6)

Ihre Ermächtigung wird jedoch in Grenzen gehalten, da sie sich nur dann mit der männlichen Figur treffen könnte, wenn sie aus ihrer Aufsicht (huote) entlassen würde. So wie die Rachehandlung des Sänger-Ichs eine nur vorgestellte ist, so bleibt auch der angstfreie Gegenangriff auf der Textebene eine Imagination. Trotzdem ergeben sich geschlechterspezifische Unterschiede: Der Rachewunsch des männlichen Ichs wird zwar als optionale Möglichkeit inszeniert und sogleich als Sprechakt entlarvt (waz h–n ich gesprochen? [MF 374e 3,3]). Er führt aber – in der Logik des Textes – zur Unterwerfung der vrouwe: si kumet d– her gekrochen (MF 374e, 3,6). Die weibliche Rachehandlung bleibt hingegen durch äußere Hindernisse, die huote, eingeschränkt. Das Lied mündet in einer Häufung von Kampfmetaphern, die sich zugleich als Metaphern des Sexualaktes lesen lassen. Die Hierarchie zwischen männlicher und weiblicher Geschlechterposition scheinen in diesem Akt aufgehoben: Angst wird in Lust (genieze, MF 375e, 5, 6) umgewandelt. Wie in der eingangs zitierten Strophe von Arndt so sind Rache und Zorn in diesem Lied offenbar Bestandteil von Begehren. Zugleich – und damit entspricht diese Inszenierung der anderen erwähnten These – sind Zorn und Rache auch Folge von Begehren. In diesem eher ungewöhnlichen Reinmar’schen Minnelied werden klassische mit schwankhaften sowie doppeldeutigen Motiven und Elementen verknüpft. Durch diese Verknüpfung erhält das ständige Umschlagen von wunne in zorn, Rache und Vergeltung(swunsch) eine besondere Dynamik. Der Rachewunsch scheint zunächst gerechtfertigt: Eine Verletzung erfordert eine Vergeltung. Doch, indem die Vergeltung maßlos wird (ich gr„fe ir in daz ouge [MF 374e, 3,2]), provoziert sie eine erneute Vergeltung. Maßlosigkeit wird hier jedoch nicht reglementiert oder verurteilt, sie scheint vielmehr Grundlage für die ausphan-

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tasierten Steigerungen des Machtkampfes zwischen Männer- und Frauenfigur. Über emotionsmotivierte Akte, die hier lediglich Sprechakte bleiben, werden Machtpositionen und Ermächtigungsswünsche verhandelt.

IV.

Fazit

Zusammenfassend lässt sich festhalten: Zorn und Rache bilden die Grundlage sowohl für Leid- und Schmerzerfahrung als auch für Wut und Aggression. Sie sind im Minnesang nicht eindeutig nur positive oder negative Emotionen. Sie werden immer als Gefühlsmischung dargestellt und werden von anderen Emotionen überlagert und durchkreuzt. So führt Liebe zu Zorn und Rache kann Glücksgefühle auslösen. Die Besonderheit für den Minnesang liegt darüber hinaus darin, dass Emotionsinszenierungen im unmittelbaren Kontext von geschlechterspezifischen Machtdiskursen um Herrschaft und Unterwerfung stehen. Ihre Bewertung, ob sie als negative oder positive Emotionen gelten, hängt von der Zuordnung zu einer männlichen oder weiblichen Figur36 ab. Männlich konnotierter Zorn und daraus resultierende Rache(handlungen) werden als gerecht(fertigt) inszeniert. Maßloser Zorn führt jedoch entweder ins Leere, so wie im Lied Friedrichs von Hausen, oder er wird in der komischen Brechung, wie bei Reinmar, aufgehoben.

36 Das jeweilige Sänger-Ich wird hier als Figur betrachtet.

Neid erzählen

Claudia Lauer

Die Emotionalität der Intrige. Variationen im höfischen Roman

Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte subtiler Tücke. An den Nahtstellen der großen Ereignisse zeigen sich Verrat und Bosheit. Die prächtigen Früchte des Fortschritts sind angenagt von Neid, von Verstellung und List, Hass und Missgunst.1

I.

Die Intrige im Mittelalter. Ein Problementwurf

Die Intrige, wie sie in neuzeitlicher Literatur in Erscheinung tritt, ist in der Regel von Gefühlen wie Hass, Zorn, Neid oder Eifersucht motiviert und dient der Rache, Vergeltung und persönlichen Befriedigung. Dabei kalkuliert sie häufig mit den »Leidenschaften anderer«2 und besitzt gerade auch in der öffentlichen Wahrnehmung einen »hohe[n] emotionalen Gehalt«3. Der Intrigant gilt als Ausgeburt »menschlicher Verruchtheit und Schläue, hinterhältiger List und abgründiger Tücke«4. Er ist »moralisch anrüchig und hässlich«5 : Aus seiner giftigen Feder fließen Verleumdungen und diffamierende Schmähungen. Gerissen manipuliert der Intrigant das Mittel zum Angriff auf sein Opfer. Der Ränkeschmied wiegelt doppelzüngig und ruchlos auch noch den letzten Freund des Opfers auf, sich innerlich loszusagen und an den Inszenierungen mitzuwirken. Am Ende des Kesseltreibens ist das edle Opfer in eigener Schuld verstrickt, und der böse Akteur, der aus seinem falschen Spiel hohen Gewinn erwartet, steht als Sieger da.6

Was als kultur- und literaturgeschichtliches Phänomen unter dem Begriff ›Intrige‹ seinen ›Siegeszug‹ in der Moderne antritt und gerade im deutschen 1 Deiters, Heinz-Günter : Die Kunst der Intrige. Hamburg 1966, S. 10. 2 Deiters [Anm. 1], S. 126. 3 Pourroy, Gustav Adolf: Das Prinzip Intrige. Über die gesellschaftliche Funktion eines Übels. Zürich, Osnabrück 1986 (Texte und Thesen 194), S. 11. 4 Deiters [Anm. 1], S. 143. 5 Pourroy [Anm. 3], S. 11. 6 Pourroy [Anm. 3], S. 43 f.

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Sprachgebrauch großen Widerwillen auslöst,7 genießt bei seiner abendländischen ›Geburtsstunde‹ einen weitgehend anderen Ruf. Als sogenanntes mechanema grundlegendes Element der griechischen und römischen Dramatik und Epik8 kennt es auch positive Emotionen als Auslöser und es heißt den Intriganten, den ›Feind im Innern‹, trotz negativer emotionaler Motivation überwiegend gut: Mit Anerkennung blickt die Antike auf einen erfindungsreichen und listigen Odysseus, dem versteckt im Bauch eines riesigen Holzpferdes planmäßig der bis dahin unmögliche Sieg über Troja und damit die erfolgreiche Rache für die Entführung Helenas gelingt. Ob Odysseus, Medea, Franz Moor oder Marinelli – das Thema der Intrige affiziert und fasziniert von der Antike bis in die Moderne. Blickt man dabei aus spezifisch mediävistischer Perspektive auf das Phänomen eröffnet sich nicht nur eine grundlegende Begriffslücke. Im Spannungsfeld antiker zumeist positiver und neuzeitlicher weitgehend negativer Wertung stellt sich gerade für das Mittelalter auch die Frage nach seiner Positionierung: Wie entfaltet, gestaltet und präsentiert sich hier das Phänomen der Intrige, das Gefahr läuft, zum moralischen Skandalon zu werden, und in der Narration zum ästhetischen Faszinosum avanciert? Welche verschiedenen Formen, Logiken und Lizenzen kristallisieren sich heraus und wie wird es dabei auch emotional verhandelt? Welche Rolle spielen Aspekte wie Rache und Vergeltung, aber auch Emotionen wie Zorn, Neid und Hass? Und wie attraktiv und reizvoll erscheint es dabei? Schließlich gehört das Phänomen doch, so enthüllen Hofkritiken und Tugendlehren einerseits sowie zahlreiche Täuschungsstrategien und Listmotive in der Literatur andererseits, bereits am Beginn der höfischen Kultur zum Grundbestandteil mittelalterlichen Lebens und Erzählens. In welch unterschiedlichen Erscheinungsformen die Intrige in der Literatur und Kultur des Mittelalters präsent ist und wie sich ihre Bedeutung zwischen Antike und Moderne vor allem auch über die Frage der Emotionen konturieren lässt, soll im Folgenden genauer in den Blick genommen werden. Dabei werden zunächst einige grundlegende methodisch-theoretische Fragen geklärt. Im Anschluss sollen dann ausgewählte Beispiele zeigen, wie variationsreich sich die 7 Vgl. zur Etymologie des Begriffs den Artikel ›Intrige‹. In: Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 23. erw. Auflage bearb. von Seebold, Elmar. Berlin, New York 1999, S. 405. Vgl. zum deutschen Sprachgebrauch auch Utz, Richard: Soziologie der Intrige. Der geheime Streit in der Triade, empirisch untersucht an drei historischen Fällen. Berlin 1997 (Soziologische Schriften 66), S. 17 f. Ähnlich Pourroy [Anm. 3], S. 103: »Dem Begriff der Intrige haftet im deutschen Sprachgebrauch ein Odium an; es wird Abgefeimtes assoziiert, heuchelnde Täuschung; Skrupellosigkeit und arglistiger Anschlag.« 8 Vgl. u. a. Schwinge, Ernst-Richard: Art. ›mechanema‹, in: Lexikon der Alten Welt. Hg. von Andresen, Carl u. a. Zürich 1965, Sp. 1874; und zum Begriff v. a. Solmsen, Friedrich: Zur Gestaltung des Intriguenmotivs in den Tragödien des Sophokles und Euripides. In: Philologus 87 (1932), S. 1 – 17.

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Intrige von Anfang an in der höfischen Literatur präsentiert und welche charakteristische Emotionalität ihr dabei zukommt. Damit eröffnet sich nicht nur ein weiterer Blick auf die spezifische ›Macht‹ von Emotionen.9 Zugleich verspricht dies auch einen Einblick in die Faszination und Attraktivität der Intrige im Mittelalter, die Thema eines abschließenden Ausblicks ist.

II.

Das Muster der Intrige

Will man die Intrige als spezifisch mittelalterliches Kultur- und Erzählmuster beleuchten, so muss man grundsätzlich neu ansetzen. Trotz einiger Studien in der Soziologie,10 der Geschichtswissenschaft,11 der klassischen Philologie12 und der neueren deutschen Literaturwissenschaft13 blieb das Phänomen nämlich in 9 Vgl. zur ›Macht‹ von Emotionen zuletzt: Machtvolle Gefühle. Hg. von Kasten, Ingrid. Berlin, New York 2010 (Trends in Medieval Philology 24). 10 Vgl. v. a. Utz [Anm. 7]. 11 Vgl. z. B. Wenzel, Jaroslaw: Studium, Arbeit, Intrige. Die Karriere im Deutschen Orden in Preußen Wenta. In: La vie quotidienne des moines et chanoines r¦guliers au Moyen ffge et temps modernes. Actes du Premier Colloque International du L.A.R.H.C.O.R. Wroclaw-Ksiz. 30. Nov.–4. Dez. 1994. Hg. von Derwich, Marek. 2 Bde. Wroclaw 1995, S. 193 – 202; Liedl, Gottfried: Krieg als Intrige. Kulturelle Aspekte der Grenze und die militärische Revolution der frühen Neuzeit. Wien 1999; Thoma, Helga: Liebe, Macht, Intrige. Königinnen und ihre Liebhaber. München 2002; Baur, Eva Gesine: Venedig – Stadt der Frauen. Liebe, Macht und Intrige in der Serenissima. Fotografien Thomas Klinger. München 2005; Scheck, Raffael: Höfische Intrige als Machtstrategie in der Weimarer Republik. In: Adel und Moderne. Deutschland im europäischen Vergleich im 19. und 20. Jahrhundert. Hg. von Conze, Eckart und Wienfort, Monika. Köln 2004, S. 107 – 118; Wilson, Robert Anton: Das Lexikon der Verschwo¨ rungstheorien. Verschwo¨ rungen, Intrigen, Geheimbu¨ nde. Frankfurt a.M. 2000; Kunst, Christiane: Livia. Macht und Intrigen am Hof Augustus. Stuttgart 2008; Weidmann, Clemens: Eine Intrige im katholischen Episkopat? Zum Anlass der antidonatistischen Gesetze von 405. In: Spiritus et Littera. Beiträge zur Augustinus-Forschung. FS Cornelius Petrus Mayer. Hg. von Förster, Guntram u. a. Würzburg 2009, S. 391 – 404. 12 Vgl. u. a. Solmsen [Anm. 8]; Kätzler, Joachim: Pseudos, dolos, mechanema in der griechischen Komödie. Diss. masch. Tübingen 1959; Parlavantza-Friedrich, Ursula: Täuschungsszenen in den Tragödien des Sophokles. Berlin 1969 (Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte 2); Görler, Woldemar : Doppelhandlung, Intrige und Anagnorismos bei Terenz. In: Poetica 5 (1972), S. 164 – 182; Dieterle, Arnulf: Die Strukturelemente der Intrige in der griechisch-römischen Komödie. Amsterdam 1980 (Heuremata 6). 13 Vgl. z. B. Knorr, Heinz: Wesen und Funktion des Intriganten im deutschen Drama von Gryphius bis zum Sturm und Drang. Diss. Erlangen 1951; Menke, Nikolaus: Die Intrige in Schillers Dramen. Diss. Münster 1949; Wittkowski, Wolfgang: Höfische Intrige für die gute Sache. Marquis Posa und Octavio Piccolomini. In: Schiller und die höfische Welt. Hg. von Aurnhammer, Achim u. a. Tübingen 1990, S. 378 – 397; Gellhaus, Axel: Geschichte und Intrige. Schillers »Demetrius«-Projekt. Marbach am Neckar 1991; Memmolo, Pasquale: Strategen der Subjektivität. Intriganten in Dramen der Neuzeit. Würzburg 1995; Maurer, Karl: »Zwischen uns sei Wahrheit«. Die Emanzipation der dramatischen Handlung von den Regeln der klassizistischen Intrigenführung in Goethes ›Iphigenie auf Tauris‹. In: Neoheli-

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der germanistischen Mediävistik bislang weitgehend unberücksichtigt oder aber man orientierte sich – wie die wenigen Arbeiten zum Thema zeigen – vorrangig an einem neuzeitlichen Verständnis.14 Als Ausgangspunkt bietet sich dabei das Modell von Peter von Matt an, der die Intrige erstmals gattungs-, epochen- und nationalliteraturübergreifend als »universales Element der erzählenden Menschheit«15 perspektiviert und kulturwissenschaftlich in ihrer metaphysischen Tiefendimension als »zivilisationsgeschichtliches Schlüsselereignis«16 deutet. Nach von Matt ist die Intrige eine »geplante, zielgerichtete und folgerichtig durchgeführte Verstellung zum Schaden eines anderen und zum eigenen Vorteil«17 und verfügt über eine »präzise[…] und feingliedrige[…] Morphologie«, die sich im Sinne einer »hypothetischen Versuchsanlage«18 konzeptionalisieren lässt. Die Intrige geht dabei meist von der Erfahrung einer Unzulänglichkeit, einer sogenannten Notsituation, aus und besitzt im zeitlichen Aufriss grosso modo drei Phasen: die Planung bzw. Planszene, die Plandurchführung, die vor allem auf Akten der Simulation und Dissimulation basiert, und schließlich die sogenannte Anagnorisis, das »Wiedererkennen im wörtlichen Sinn«19 und die Auflösung des gesamten Täuschungsgeschehens.20 Von Matts Intrigenmorphologie, die sich inhaltlich, funktional und strukturell definiert, eröffnet zentrale Einblicke in die Charakteristika der Intrige. Darüber hinaus lässt sie sich auch für die mittelalterlichen Anforderungen re-

14

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con 29 (2002), N.1, S. 193 – 217; Grzesiuk, Ewa: »Ich reime, dächt’ ich, doch noch ziemlich zusammen, was zusammengehört«. Intriganten und Intrigen in Lessings »Emilia Galotti«. In: Lügen und ihre Widersacher. Literarische Ästhetik der Lüge seit dem 18. Jahrhundert. Ein deutsch-polnisches Symposion. Hg. von Eggert, Hartmut und Golecz, Janusz. Würzburg 2004, S. 72 – 83. Vgl. v. a. Gruenter, Rainer: Der Favorit. Das Motiv der höfischen Intrige in Gotfrids Tristan und Isold. Ein Vortrag. In: Euphorion 58 (1964), S. 113 – 128; Jaeger, C. Stephen: The Barons’ Intrigue in Gottfried’s Tristan: Notes towards a sociology of fear in court society. In: JEGP 83 (1984), S. 46 – 66; Haug, Walter : Von aventiure und minne zu Intrige und Treue. Die Subjektivierung des hochhöfischen Aventüreromans im ›Reinfrid von Braunschweig‹. In: Liebe und Aventiure im Artusroman des Mittelalters. Beiträge der Triester Tagung 1988. Hg. von Schulze-Belli, Paola und Dallapiazza, Michael. Göppingen 1990 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 532), S. 7 – 22; Ridder, Klaus: Minne, Intrige und Herrschaft. Konfliktverarbeitung in Minne- und Aventiureromanen des 14. Jahrhunderts. In: Spannungen und Konflikte menschlichen Zusammenlebens in der deutschen Literatur des Mittelalters. Bristoler Colloquium 1993. Hg. von Gärtner, Kurt u. a. Tübingen 1996, S. 173 – 188. Von Matt, Peter : Die Intrige. Theorie und Praxis der Hinterlist. München 2006, S. 457. Von Matt [Anm. 15], S. 226. Von Matt [Anm. 15], S. 54. Von Matt, Peter : Ästhetik der Hinterlist. Zu Theorie und Praxis der Intrige in der Literatur. Erw. Fassung eines Vortrags, gehalten in der Carl-Friedrich-von-Siemens-Stiftung am 4. Februar 2002. München 2002 (Themen / Carl-Friedrich-von-Siemens-Stiftung 75), S. 26. Von Matt [Anm. 15], S. 120. Vgl. zusammengefasst von Matt [Anm. 15], S. 118 f.

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formulieren. Um die Wertung nicht von vorneherein festzuschreiben und der Spannbreite des Phänomens zwischen Antike und Moderne heuristisch gerecht zu werden, soll im Folgenden unter ›Intrige‹ vorrangig ein konnotationsfreier Arbeits- und Leitbegriff verstanden werden, der jede Art von List, Lüge und Täuschung umfasst, die als im Kern strategisch-planmäßig bzw. absichtsvollintentional und als Aktion von innen, aus der eigenen gesellschaftlichen Gruppe heraus, erscheint. Ob die intrigenhafte Aktion dabei zu einer positiven oder zu einer negativen Wertung führt, bleibt also zunächst eine grundlegend offene Frage, die sich erst im Rahmen genauer Textanalysen beantworten lässt. Mit Hilfe der Intrigenmorphologie von Von Matt, erzähltheoretischer Grundlagen und der historischen Semantik können so nicht nur zentrale narrative Bausteine der Intrige herausgearbeitet und ihre jeweils changierenden Formen, Funktionen und Wertungen in den Blick genommen werden. Zugleich bieten sich auch signifikante Anschlussmöglichkeiten für die historische Emotionsforschung und es lassen sich zentrale Leitperspektiven entwickeln, um die Emotionalität der Intrige systematisch und differenziert auszuleuchten.21 Welche Rolle, so ist im Rahmen der Erzählwelt zum Beispiel zu fragen, spielen Emotionen, insbesondere solche wie Zorn, Neid und Hass, als Promotoren intriganten Handelns? Wie stehen sie im Verhältnis zu den verschiedenen Täuschungstechniken und welche destruktive und konstruktive Kraft entfalten sie im weiteren Verlauf ? Und welchen Wert besitzen sie am Ende, bei der Auflösung und öffentlichen Wahrnehmung des intriganten Geschehens? Parallel dazu gerät auf der Darstellungsebene die besondere Narrativität von Emotionen in den Blick: Unter welchen Umständen spielen Emotionen wie Zorn, Neid und Hass eine handlungsmotivierende Rolle? Welche narrativen Formen, Muster und Zusammen21 Von den zahlreichen Untersuchungen seien genannt: Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle. Hg. von Benthien, Claudia u. a. Köln, Weimar 2000 (Literatur, Kultur und Geschlecht: Kleine Reihe 16); Kulturen der Gefühle in Mittelalter und früher Neuzeit. Hg. von Kasten, Ingrid u. a. Stuttgart, Weinmar 2002 (Querelles 7); Codierungen von Emotionen im Mittelalter – Emotions and Sensibilities in the Middle Ages. Selected Papers from the International Conference, September 6 – 8, 2002, University of Illinois, Urbana/Champaign. Hg. von Jaeger, C. Stephen und Kasten, Ingrid. Berlin 2003 (Trends in Medieval Philology 1); Schnell, Rüdiger : Historische Emotionsforschung. Eine mediävistische Standortbestimmung. In: Frühmittelalterliche Studien 38 (2004), S. 173 – 276; Philipowski, Katharina: Wer hat Herzeloydes Drachentraum geträumt? Truren, zorn, haz, scham und n„t zwischen Emotionspsychologie und Narratologie. In: PBB 128 (2006), S. 251 – 274; Schulz, Armin: Die Verlockungen der Referenz. Bemerkungen zur aktuellen Emotionalitätsdebatte. In: PBB 128 (2006), S. 472 – 495; Riekenberg, Miriam: Literale Gefühle. Studien zur Emotionalität in erzählender Literatur des 12. und 13. Jhs. Frankfurt 2006 (Europäische Hochschulschriften: Reihe 18, Vergleichende Literaturwissenschaft 115); Schnell, Rüdiger : Emotionsdarstellungen im Mittelalter. Aspekte und Probleme der Referentialität. In: ZfdPh 127 (2008), S. 79 – 102; Schnell, Rüdiger : Erzähler – Protagonist – Rezipient im Mittelalter, oder : Was ist der Gegenstand der literaturwissenschaftlichen Emotionsforschung? In: IASL 33 (2008), S. 1 – 51.

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hänge bilden sie im Rahmen der Intrige aus? Und welchen Wert besitzen sie gerade auch für den Rezipienten? Beispielhaft näher ausgeleuchtet werden soll dieses Emotions- und Wertungstableau der Intrige im Folgenden für die Anfänge eines der prominentesten Vertreter der mittelalterlichen Literatur : für den höfischen Roman, der mit der Erzählung des Artus-, Tristan-, Grals- und Antikenstoffs eine herausragende Stellung in der Literatur und Kultur des 12. und 13. Jahrhunderts einnimmt und par excellence an die Bedürfnisse der mittelalterlichen Adelskultur angepasst ist.

III.

Der Held als Intrigenopfer

Lavinias Mutter hetzt in Heinrichs von Veldeke »Eneasroman« aus Zorn heimlich Turnus und ihre Tochter gegen Eneas auf, Meljaganz rächt sich mit seiner listigen Entführung Ginovers in Hartmanns »Iwein« ebenso am König wie der Krankheit simulierende Urjans an Gawein, der diesem in Wolframs »Parzival« sein Pferd stiehlt, und Tristan sieht sich bekanntermaßen, sowohl bei Eilhart von Oberg als auch bei Gottfried von Straßburg, den zahllosen Intrigen von Neidern, insbesondere am Hof König Markes, ausgesetzt. Strategische List, Lüge und Täuschung gegen den Helden gehören zum Grundrepertoire jeden Erzählens und finden ihren festen Platz auch im höfischen Roman. So vielseitig das Kaleidoskop an Formen, Funktionen und Emotionen erscheint, zeichnen sich bei näherer Betrachtung doch Gemeinsamkeiten ab, die an einer für diesen Zusammenhang zentralen Szene näher betrachtet werden sollen: an Odysseus’ listiger Eroberung Trojas als Rache für König Menelaos und der Entführung seiner Frau Helena – der »Urszene abendländischer Intrige«22, die durch Veldekes »Eneasroman« Ende des 12. Jahrhunderts in die höfische Literatur des deutschsprachigen Mittelalters kommt und dort entscheidend auch den Helden selbst betrifft.23 Ähnlich wie bei Vergil ist die Episode auf komplexe Weise in den narrativen Zusammenhang eingebettet. Nach seiner Flucht aus Troja gelangt Eneas zu Dido und berichtet dort auf ihre Bitte hin über die vergangenen Geschehnisse.24 Dabei 22 Bucheli, Roman: Von der Teufelsmantis bis zum Trojanischen Pferd. Peter von Matt entwirft die Theorie und Praxis der Intrige und schreibt nebenbei eine Kulturgeschichte. In: Neue Zürcher Zeitung, 27. 03. 2006; http://www.nzz.ch/aktuell/startseite/newzzEJOC9BO2 – 12 – 1.11199 [26. 11. 2012]. 23 Vgl. Art. Ulixes. In: Lexikon der antiken Gestalten in den deutschen Texten des Mittelalters. Hg. von Kern, Manfred und Ebenbauer, Alfred. Berlin 2003, S. 631 – 638. 24 Vgl. Eneasroman, V. 40,17 – 48,3. Textgrundlage Heinrich von Veldeke: Eneasroman. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch. Nach dem Text von Ludwig Ettmüller ins Neuhochdeutsche übersetzt. Mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort. Hg. von Kartschoke, Dieter.

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kommt es gegenüber Vergil jedoch zu deutlichen Veränderungen. Die Korrektur beschränkt sich nicht nur auf das Hinzufügen einer weiteren Binnenerzählung. Darüber hinaus wird auch Ulixes (Odysseus) mit Sinon gleichgesetzt, dem bei Vergil eine Schlüsselrolle zukommt: Er ist es, der die Trojaner mit List und Lüge dazu bringt, das Trojanische Pferd anzunehmen. Während Thomas Keilberth die Möglichkeit erwägt, Veldeke sei durch den Servatius-Kommentar zu dieser Änderung bewogen worden, »indem er dem dortigen Hinweis folgte, nach Euphorion habe Ulixes die sonst Sinon zugeteilte Rolle gespielt«25, hält Marie-Luise Dittrich diese Korrektur, die sich nicht auf die französische Vorlage stützt, für eine besondere Interpretation des deutschen Bearbeiters.26 In der Tat: Wirft man einen genaueren Blick auf die Stelle, so lässt sich dies weiter ausführen. Durch die Gleichsetzung mit Sinon erweitert sich nämlich bei Veldeke die Rolle von Ulixes. Er ist nicht nur der Initiator des berühmten Holzpferdes. Er ist es auch, der alleine vor der Stadt bleibt und die Trojaner dazu bringt, das Holzpferd und ihn selbst in die Stadt zu lassen. Im Unterschied zu Vergil versteckt sich Ulixes also nicht im Pferd, sondern lenkt weiter aktiv die Geschehnisse. Nach den Aussagen von Eneas simuliert er nackt, gefesselt und jämmerlich schreiend einen Kranken und gibt sich mittels einer Lügengeschichte als Sinon aus, der um Haaresbreite dem Opfertod durch Ulixes und die Griechen entkommen sei. Damit erfolgreich das Mitleid der Trojaner erregend, überzeugt er sie schließlich mit einer weiteren Lüge: Auf die Nachfrage von Priamus, was das Pferd zu bedeuten habe, preist er es als Opfergabe für die Göttin Pallas, die von einem außergewöhnlichen, bereits verstorbenen Meister erbaut worden sei und jeder Stadt zu Ansehen, Sieg und Glück verhelfe. Ulixes’ ausgefeilte intrigante Tat hat, so berichtet es Eneas seiner Zuhörerin Dido, Erfolg. Als alternative Konfliktlösungsstrategie im Rahmen des kämpferischen Patts führt sie zum endgültigen Fall der Stadt und damit zur gelungenen Rache der Griechen. Gerade aus der Opferperspektive wird dabei jedoch auch deutlich, wie schändlich seine Tat ist. Von Anfang an setzt sich Eneas in seinem Bericht nämlich betont von Ulixes ab. Mehrfach die Wahrheit der eigenen Aussage beteuernd,27 nimmt er immer wieder mittels Prolepsen das Unheil der Trojaner vorweg und beschuldigt Ulixes, den friedlichen Ausgang des Konfliktes verhindert zu haben.28 Mit list (Eneasroman, V. 41,21) und Täuschung, so Eneas,

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Stuttgart 1986 (= Eneasroman). Hier und im Folgenden wird mit der Verszählung durch Spalten- und Zeilenzahlen nach Ludwig Ettmüller zitiert. Keilberth, Thomas: Die Rezeption der antiken Götter in Heinrichs von Veldeke »Eneide« und Herborts von Fritzlar »Liet von Troye«. Diss. Berlin 1975, S. 135. Dittrich, Marie-Luise: Die ›Eneide‹ Heinrichs von Veldeke. I. Teil: Quellenkritischer Vergleich mit dem ›Roman d’Eneas‹ und Vergils ›Aeneis‹. Wiesbaden 1966, S. 456. Vgl. Eneasroman, V. 40,12 f.; V. 40,15 f.; V. 40,32 f. und V. 40,40. Vgl. Eneasroman, V. 41,18 – 42,34.

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[…] verriet uns der warch, her was listich unde karch, daz wir w–nden wole t˜n. her nande sich S„n˜n: ez was idoch Ulixes. grúzen schaden n–me wir des, daz wir s„nen willen t–ten: des worden wir verr–ten. (Eneasroman, V. 45, 33 – 40)

Darüber hinaus nennt Eneas Ulixes auch einen schalk (Eneasroman, V. 43,12), dem die Lüge leicht über die Lippen käme (Eneasroman, V. 44,32 – 35), und verflucht ihn als einen Mann, der alle betrouch und t˜vell„che louch (Eneasroman, V. 42,18). Durch die Figurensynthese Ulixes / Sinon steigert sich also Ulixes’ Tat von strategischer List und handwerklichem Geschick über Lüge bis hin zu körperlicher Simulation und er erscheint weniger als erfinderischer Verbrecher, als scelerum inventor, sondern vielmehr – so Achim Aurnhammer – als fandi fictor, als »skrupelloser ›Redegaukler‹«29, der auch die körpersprachliche Simulation beherrsche und dem die Trojaner alw–re (Eneasroman, V. 46,1) und in großer tumbheit (Eneasroman, V. 46,18) Glauben geschenkt hätten. Zudem macht Eneas’ Vorwurf, dass Ulixes t˜vell„che louch (Eneasroman, V. 42,18), bei Veldeke deutlich: Strategische List, Lüge und Täuschung verstoßen wie der Teufel gegen die göttliche Ordnung und die christlichen Gebote der Wahrheit und stellen ein ausgewiesenes moralisches Skandalon dar. Ulixes erscheint so mit seiner Tat, die Menelaos’ Kränkung rächt und dabei wesentlich mit dem Mitgefühl der Trojaner rechnet, betont als Gegner des Helden, der dessen Weg kreuzt und ihm Schaden zufügt. Aus dieser Negativität heraus avanciert er aber auch zur entscheidenden Kraft und zum grundlegenden Motor, der das Handlungsgeschehen in Gang bringt. Eben deshalb steht Ulixes’ Tat am Anfang von Eneas’ Bericht und motiviert letztlich auch dessen gesamte Fahrt. In gleicher Weise Mittelpunkt und Helfer des von den Göttern konzipierten Plans ist es der höfische Held, der das destruktive Geschehen positiviert und eine neue konstruktive Kraft entfaltet. Mit seiner Ankunft in Italien, der Erringung der Landesherrschaft und der Liebe Lavinias legt er den Grundstein für ein neues Herrschergeschlecht und eine neue Stadt: Rom. Wie aber verändert sich das Emotions- und Wertungstableau, wenn die irritierenden Kräfte nicht vom Gegner, sondern vom Helden selbst ausgehen? Zwei prominente Beispiele mögen hierüber Auskunft geben.

29 Aurnhammer, Achim: Sünder – Narr – Held. Korrekturen des Odysseus-Mythos bei Heinrich von Veldeke, Sebastian Brant und Martin Opitz. In: Antike und Abendland. Beiträge zum Verständnis der Griechen und Römer 55 (2009), S. 130 – 151, S. 135.

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IV.

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Der Held als Intrigenopfer und Intrigant

Mit Eilharts von Oberg erster und zugleich vollständiger Adaption des Tristanstoffs wird um 1170 einer der bekanntesten intriganten Helden im Mittelalter greifbar : Tristan bzw. Tristrant.30 Ähnlich wie im »Eneasroman« dominiert den Anfang ein Bild der Zerstörung. Blankeflur, die Schwester König Markes von Cornwall, verliebt sich in Rivalin, der Marke in Kriegsangelegenheiten unterstützt, und folgt ihm, bereits schwanger, in sein Land. Noch vor der Ankunft und Hochzeit setzen auf hoher See jedoch die Wehen ein und sie stirbt nach langem Kampf. In letzter Minute kann Tristrant, ihr Kind, durch eine Schwertgeburt gerettet werden. Mit dem Tod Blankeflurs verliert der Held also gleich zu Beginn seine Mutter und betritt auch gleichsam gegen seinen Willen eine Welt, deren Ordnung aus den Fugen geraten ist: aventiure und manheit führen zwar zu minne, jedoch nicht zu Ehe und einem glücklichen Herrschertum, sondern zu plötzlichem Tod und nachfolgender Trauer. So sieht sich der Held im weiteren Verlauf stärker als Eneas Gegnern ausgesetzt, die mit strategischer List, Lüge und Täuschung seine Handlungsabsichten stören und ihm Schaden zufügen. Zugleich kommt es auch vermehrt zu zufälligen Ereignissen, die den Helden unerwartet in neue Konflikte stürzen. Anders als der Göttersohn Eneas völlig auf sich allein gestellt, avancieren damit auch für Tristrant selbst Klugheit und Täuschung zu einem konstitutiven Überlebens- und Selbstbehauptungsprinzip. Dabei zeigt sich: Auch Tristrant provoziert negative Emotionen. So wird er nach dem Verlassen seiner Heimat zunächst herzlich bei König Marke von Cornwall aufgenommen. Durch sein tapferes und kluges Handeln bringt er jedoch rasch die stabile Ordnung des Hofes ins Wanken: Er avanciert zum besten Ritter, der als Liebling des Königs zwar positive Emotionen hervorruft, damit zugleich aber auch entschieden Neid, Eifersucht und Missgunst evoziert, allen voran bei Markes anderem Neffen Antret. Es kommt zu einer ›triangulären‹31 Konkurrenzsituation, die nun ihrerseits spezifisch negatives intrigantes Handeln nach sich zieht: Antret versucht zusammen mit sechs weiteren Herzögen und Grafen, Tristrants Vorrangstellung bzw. s„nes hÞren [des koninges] hulde (Tristrant, V. 3152) zu zerstören, indem er mit strategischer List, Lüge und Täuschung gegen Tristrant vorgeht und dabei auch einen list[igen] (Tristrant, V. 3391) und sternekundigen Zwerg namens Satanas zu Hilfe holt.32 Im weiteren Verlauf evozieren 30 Im Folgenden zitiert nach: Eilhart von Oberge. Hg. von Lichtenstein, Franz. Straßburg, London 1877 (Nachdruck: Hildesheim, New York 1973) (= Tristrant). 31 Vgl. zum Begriff und der triangulären Anlage von Neid und Eifersucht v. a. Girard, Ren¦: Figuren des Begehrens. Das Selbst und der Andere in der fiktionalen Realität. Aus dem Französischen von Mainberger-Ruh, Elisabeth. Münster u. a. 1999 (Beiträge zur mimetischen Theorie 8), S. 11 – 60. 32 Vgl. Tristrant, V. 3390 – 3397.

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Tristrants Klugheit und Täuschung aber auch zorn – insbesondere bei König Marke, dem Opfer von Tristrants heimlichem Liebesverrat mit seiner Frau Isalde. Er freisl„che zornet (V. 3258), als er durch Zufall die Untreue und Falschheit seines Neffen entdeckt, und entbrennt nach der erneuten Aufdeckung von Liebe und Intrige derart in ernstl„che[m] (Tristrant, V. 4006) Zorn, dass er begunde burnen als ein kole (Tristrant, V. 4037). Wie destruktiv sich gerade der Zorn erweist, zeigt sich im Anschluss. Als Tristrant nämlich erneut listig seiner Todesstrafe entkommt, lässt sich Marke überreden, Isalde nicht zu verbrennen, sondern den Aussätzigen auszuliefern, die si alle minnen [suln], damit sie stirbet […] lesterl„chen (V. 4278 f.).33 Dies rächt zwar Markes Kränkung. Letztlich ist er jedoch erneut der Geschädigte. Aufgrund der Maßlosigkeit der Strafe wart [im] gesprochin / manch lastir in dem lande (Tristrant, V. 4297 f.) und er trägt wiederholt grúze schande (Tristrant, V. 4299) davon. Markes Zorn wirkt sich also drastisch auf die »Souveränität [seines] Handelns«34 aus. Er verliert die »Selbstkontrolle«35, lässt sich zu zweifelhafter Rache hinreißen36 und greift am Ende selbst zu fragwürdiger List: Als er vom Aufenthaltsort der Liebenden im Wald erfährt, sucht er sie heimlich auf, tauscht harte l„se (Tristrant, V. 4628) Tristrants Schwert gegen sein eigenes, legt tougen (Tristrant, V. 4642) seinen Handschuh auf Isalde und macht sich unbemerkt wieder davon. Erst als der Minnetrank nachlässt, so zeigt sich, stellt sich seine Souveränität wieder ein. Er nimmt Isalde bei sich auf und verweist Tristrant endgültig voller haz (Tristrant, V. 4934) ob der erlittenen lastir und schadin (Tristrant, V. 4942) vom Hof. Auch wenn Tristrants Intrigen auch in der Folge immer wieder aufgehen, haben sie letztlich jedoch keinen Erfolg: Tristrant und Isalde werden kein legitimes Liebespaar und müssen am Schluss sterben. Dabei gipfeln die intriganten Aktionen nicht nur crescendoartig in Tristrants Rolle als lustiger und unterhaltsamer Narr.37 Wie sehr strategische List, Lüge und Täuschung auf die Au33 Vgl. zu Markes Affekten näher auch Mälzer, Marion: Die Isolde-Gestalten in den mittelalterlichen deutschen Tristan-Dichtungen. Ein Beitrag zum diachronen Wandel. Heidelberg 1991 (Beiträge zur älteren Literaturgeschichte), S. 176 f. 34 Grubmüller, Klaus: Historische Semantik und Diskursgeschichte. Zorn, n„t und haz. In: Codierungen von Emotionen im Mittelalter. Hg. v. Kasten, Ingrid u. Jaeger, Stephen. Berlin, New York 2003, S. 47 – 69, S. 57 [Anm. 21]. 35 Grubmüller [Anm. 34], S. 56. 36 Vgl. auch Markes Befehl, Tristrants Jagdhund Utant aufzuhängen, als er von der Flucht der Liebenden erfährt (Tristrant, V. 4374 – 4384). 37 Vgl. hierzu näher Schindele, Gerhard: Tristan. Metamorphose und Tradition. Stuttgart u. a. 1971 (Studien zur Poetik und Geschichte der Literatur 12), S. 94 – 99; Müller, Jan-Dirk: Die Destruktion des Heros oder wie erzählt Eilhart von passionierter Liebe? In: Il romanzo di Tristano nella letteratura del Medioevo. Der ›Tristan‹ in der Literatur des Mittelalters. Hg. von Schulze-Belli, Paola und Dallapiazza, Michael. Triest 1990, S. 19 – 37, S. 32; Keck, Anna: Die Liebeskonzeptionen der mittelalterlichen Tristanromane. Zur Erzähllogik der Werke B¦rouls, Eilharts, Thomas’ und Gottfrieds. München 1998 (Poetica / Beihefte 22), S.

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ßenwelt wirken und letztlich negativ auf den Helden zurück schlagen, zeigt der Blick auf das Ende. Ausgangspunkt ist eine erneute lebensgefährliche Verwundung, die sich Tristrant als Intrigenhelfer für seinen Schwager Kehenis zugezogen hat.38 In der Hoffnung auf Heilung schickt er heimlich einen Boten mit genauen Anweisungen zu Isalde. Falls diese, so sein Wunsch für die Rückkehr, mit auf dem Schiff sei, solle der Bote ein weißes, falls nicht, ein schwarzes Segel setzen. Auch solle die Tochter des Boten jeden Tag Ausschau halten und seine Rückkehr nur Tristrant mitteilen. Obwohl der Bote alles genauso umsetzt und sich Isalde sofort auf den Weg macht, geht der Plan nicht auf. Es erfährt nicht nur Tristrants Ehefrau, Isalde II, auf unbekannte Weise von der Fahrt. Darüber hinaus bringt sie auch die Tochter des Boten dazu, ihr die Segelfarbe zu nennen, und sie ist es schließlich, die Tristrant die Ankunft des Schiffes verkündet. dú loug sie leidir sÞre daz ez ir s„t wart gar leit. –ne aller slahte valscheit sprach sie sú, tuml„chen, und sagete im lugel„chen, der segil wÞre w„z n„t. (Tristrant, V. 9378 – 9383)

Auch wenn zahlreiche Interpreten der Stelle Erklärungen für das Verhalten von Isalde II vorgeschlagen haben und Motive wie Eifersucht, Zorn und Rache naheliegen, wird ihre Lüge bei Eilhart jedoch nicht begründet und präsentiert sich, wie Marion Mälzer zu Recht bemerkt, »völlig unmotiviert«39 – ein explizit grund- und emotionsloses Handeln, das sich von allen vorherigen Täuschungen absetzt. Isalde II nimmt Tristrant damit nicht nur die letzte Hoffnung auf Rettung. Sie avanciert auch gleichsam selbst zu dem aus den Fugen geratenen Weltprinzip, dessen Zufälligkeit und Negativität der todkranke Held nicht mehr bewältigen kann und schließlich stirbt. Wie – wortwörtlich – ›un-nötig‹ sein Tod ist, zeigt der weitere Verlauf. Nicht nur Isalde II, sondern auch Marke, der in der Zwischenzeit vom Tod und vom Minnetrank erfahren hat, bereuen ihr Verhalten, so dass Tristrant und Isalde eine ehrenvolle Bestattung erhalten. Mit dem Helden als Intrigenopfer und Intrigant präsentiert sich die Intrige somit ausdrücklich ambivalent. Als selbsterhaltende und -behauptende alternative Konfliktlö115 und Schausten, Monika: Erzählwelten der Tristangeschichte im hohen Mittelalter. Untersuchungen zu den deutschsprachigen Tristanfassungen des 12. und 13. Jahrhunderts. München 1999 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 24), S. 81. 38 Vgl. zu dieser Episode v. a. Bonath, Gesa: Nampetenis – Tristan der Zwerg. Zum Schluss von Eilharts ›Tristrant‹ und dem Tristan-Roman des Thomas. In: Germanistik in Erlangen. Hundert Jahre nach der Gründung des Deutschen Seminars. Hg. von Peschel-Rentsch, Dietmar. Erlangen 1983 (Erlanger Forschungen / A 31), S. 41 – 60. 39 Mälzer [Anm. 33], S. 210.

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sungsstrategie im Rahmen einer vom Zufall geprägten Welt positiviert sie deren zerstörerische Kraft und hat über weite Strecken Erfolg. Als Handeln gegen Gemeinwohl, triuwe und Wahrheit erweist sie sich allerdings auch betont destruktiv : Sie evoziert Neid, Zorn und Rache und führt am Ende zwangsläufig zu Leid, Tod und Trauer. Wie aber fallen die Emotionsbeschreibungen und Wertungen aus, wenn der Held als ein von Anfang an bereits fest integriertes Hofmitglied zum Intriganten wird? Eine Antwort liefert ein letztes Beispiel: Hartmanns zweiter Artusroman »Iwein«.

V.

Der Held als Intrigant

Die höfischen Artusromane, die als die »wichtigste literarische ›Erfindung‹ der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts«40 erstmals von Hartmann von Aue in den deutschen Sprachraum eingeführt werden, unterscheiden sich bekanntermaßen signifikant von den Tristangeschichten. Im Zentrum steht der Hof von König Artus, der wie kaum ein anderer das Bild einer vollkommenen höfischen Welt im Mittelalter symbolisiert: ein idealer höfischer Herrscher, der als primus inter pares einer Hofgesellschaft vorsteht, die sich durch außergewöhnliche Stärke, Schönheit und Tugendhaftigkeit auszeichnet und bei der alle dem gleichen Ideal, dem Streben nach höfischer Vorbildlichkeit, Anerkennung und vreude, verpflichtet sind.41 Im Rahmen dieses »Biotops«42 kommt es allerdings nicht nur immer wieder zu Bedrohungen von außen. Gerade Artus’ höfisch-ethisches Leistungsprinzip, das mit dem Gewinn bzw. der Maximierung von Þre und sælde der höfisch-ritterlichen Selbstlegitimation dient und jeweils situativ die höfische Ordnung auslotet, bringt auch im Inneren Konflikte. So sorgt gleich zu Beginn von Hartmanns »Iwein« Kalogrenant mit der Erzählung über seine missglückte aventiure in Askalons Brunnenreich für Streit.43 Noch vor Erzählbeginn sieht er sich dem n„t (Iwein, V. 142) und dem haz (Iwein, V. 140, 150) Keies ausgesetzt, 40 Brunner, Horst: Hartmann von Aue. Erec und Iwein. In: Interpretationen. Mittelhochdeutsche Romane und Heldenepen. Hg. von Brunner, Horst. Stuttgart 2004 (UniversalBibliothek 8914), S. 97 – 128, S. 97. 41 Vgl. zur Kontroverse von Artus’ Idealität zuletzt Gerok-Reiter, Annette: Noch einmal: Wie ideal ist König Artus? In: Exemplaris Imago. Ideale in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. von Staubach, Nikolaus. Frankfurt a. M. u. a. 2012, S. 173 – 193. 42 Schuhmann, Martin: Sine ira et studio – Aber warum? In: Artushof und Artusliteratur. Hg. von Däumer, Matthias u. a. Berlin, New York 2010 (Schriften der Internationalen Artusgesellschaft 7), S. 169 – 190, S. 174. 43 Im Folgenden zitiert nach Hartmann von Aue: Iwein, 4. überarb. Aufl., Text der 7. Ausg. von Benecke, Georg F. u. a. Übers. und Nachwort von Cramer, Thomas. Berlin, New York 2001 (= Iwein).

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der Kalogrenant die Gunst der hinzutretenden Königin Ginover missgönnt.44 Auch im Anschluss an die Geschichte kommt es zu einem Konflikt. Angesichts seiner Schmach sieht sich nämlich nicht nur der gesamte Hof zur Wiedergutmachung der höfischen Ehre herausgefordert. Als Vetter von Kalogrenant zudem in seiner Familienehre getroffen, ist es in erster Linie Iwein, der Anspruch auf die rächende aventiure erhebt. Durch Keies Hohn zusätzlich angestachelt, weitet sich der Ehrkonflikt aus und die Situation spitzt sich zu, als Artus ankündigt, in vierzehn Tagen mit seinem Hof zum Brunnenreich aufzubrechen. Während sich alle Ritter freuen, bereitet der Entschluss Iwein ungemach (Iwein, V. 908): Er rechnet damit, dass Gawein das Vorrecht zu kämpfen einfordern und zuerst und sicher auch erfolgreich zum Kampf antreten wird. Durch Artus’ Beschluss droht Iwein also die »Gelegenheit zu entgleiten«45 und er muss fürchten, dass ihm der aus seiner Sicht rechtmäßig zustehende Rachekampf versagt bleibt. Angesichts dieser Konkurrenz und Eifersucht beginnt quasi ein Wettlauf um Ehre. Iwein fasst nämlich den Plan, das Problem explizit anders zu lösen. ›entriuwen ez sol anders varn: ich kan daz harte wol bewarn, swer vierzehen tage erb„tet, daz er vor mir niht enstr„tet. wan ich sol in disen drin tagen des endes varn, und niemen sagen, in den walt ze Brezilj–n […] desn wirt n˜ niemen zuo ged–ht unz ichz habe volbr–ht: bevindent s„z sú ez erg–t, des wirt danne guot r–t.‹ (Iwein, V. 919 – 925; 941 – 944)

So entfernt sich Iwein im Vertrauen auf seinen Sieg und darauf, dass alles guot r–t (Iwein, V. 944) werde, still und leise, und rüstet sich mit Hilfe eines der besten Knappen, den er drohend zum Schweigen bringt, zum Aufbruch. Iweins heimlicher Alleingang ist in mehrfacher Hinsicht problematisch. Im Wunsch nach eigener Rache und neidisch auf die Vorrangstellung Gaweins handelt der Held nicht nur explizit gegen den Befehl des Königs, sondern verstößt mit seiner Heimlichkeit auch eklatant gegen höfische Werte wie Öffentlichkeit, Gemeinschaft und Wahrheit. Zugleich erhöht er damit sein Risiko, wäre er im Falle eines Scheiterns doch umso mehr deklassiert, und es bleibt auch im 44 Vgl. hierzu ausführlicher Kraß, Andreas: Neidische Narren. Diskurse der Missgunst im Iwein Hartmanns von Aue und im Narrenschiff Sebastian Brants. In: Emotionen. Hg. von Haubrichs, Wolfgang. Stuttgart, Weimar 2005 (LiLi 138), S. 92 – 109, v. a. S. 92 – 97. 45 Cormeau, Christoph u. Störmer, Wilhelm: Hartmann von Aue. Epoche – Werk – Wirkung. 3. akt. Aufl. mit bibliogr. Erg. München 2007 (Arbeitsbücher zur Literaturgeschichte), S. 203.

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Falle des Gelingens die Gefahr des Spottes, da er s„n […] gelingen nicht mit sch„nlichen dingen / ze hove erziugen (Iwein, V. 1525 – 27) kann. Und dennoch: Anders als im »Tristrant« geht Iweins intrigante Tat auf. Am Ende besteht er – nicht zuletzt auch mit Hilfe weiterer fremder List, Lüge und Täuschung46 – die problematische aventiure. Er gewinnt die Liebe Laudines, und es fügt sich, wie von ihm erhofft, alles zum Guten. Als Artus nach vierzehn Tagen mit seinem Gefolge an den Brunnen reist, kann Iwein als Hüter des Brunnens nun nicht nur seinen aventiure-Erfolg unter Beweis stellen. Zugleich rehabilitiert er sich mit einem Sieg über Keie auch als Ritter. Was mit einem intriganten Alleingang gegen den Artushof begann, löst sich also am Ende mit der Preisgabe seiner Identität in Wohlgefallen auf. Laudine schenkt ihm endgültig ihre Liebe und alle Mitglieder des Artushofs erkennen voller Freude Iweins Þre an, allen voran das ›Intrigenopfer‹ Gawein, der Iwein seine Freundschaft bekundet und diesem damit wieder die Ehre eines Tafelrundenritters zu teil werden lässt. Entgegen bisheriger Forschungsmeinungen hat der Intrigant also auch im frühen Artusroman ›einen Platz‹,47 und es sind neben zweifelhaften nicht-arthurischen Rittern wie Meljaganz oder auch Urjans in Wolframs »Parzival« gerade die Angehörigen des Artushofes, ja, der Protagonist selbst, für den intrigantes Handeln eine Rolle spielt. Anders als bei Ulixes, aber auch bei Tristrant, entfalten Rache, Zorn und Neid hier jedoch nur vordergründig ein destruktives, gemeinschaftsauflösendes Potential. Am Ende erweisen sie sich vielmehr als sozial konstruktiv und übernehmen eine »positive, affirmative Rolle«48. Sie werden zu Promotoren eines intriganten Handelns, das als kluge Alternativstrategie Eigen-, Fremd- und Gemeinnutz vereint, zur Wiederherstellung einer störungsfreien, ehr- und sældenreichen Welt beiträgt und so höfische Legitimität, ja, eine den Hof legitimierende Kraft besitzt.

46 Vgl. v. a. die Rolle Lunetes und hierzu ausführlicher Lauer, Claudia: Die Kunst der Intrige. Spielarten strategischer Täuschung in den Artusromanen Hartmanns von Aue. In: Aktuelle Tendenzen der Artusforschung. Hg. von Burrichter, Brigitte u. a. (Schriften der Internationalen Artusgesellschaft 9). Berlin, Boston 2013, S. 17 – 38, v. a. S. 32 – 34. 47 Vgl. v. a. Haug, Walter : Über die Schwierigkeit des Erzählens in ›nachklassischer Zeit‹. In: ders.: Brechungen auf dem Weg zur Individualität. Kleine Schriften zur Literatur des Mittelalters. Tübingen 1995 (Kleine Schriften 2), S. 265 – 287, S. 280: »Es ist kennzeichnend für den klassischen Artusroman, dass in ihm die Figur des Intriganten keinen Platz hat«. Ähnlich Ridder, Klaus: Mittelhochdeutsche Minne- und Aventiureromane. Fiktion, Geschichte und literarische Tradition im späthöfischen Roman. ›Reinfried von Braunschweig‹, ›Wilhelm von Österreich‹, ›Friedrich von Schwaben‹. Berlin, New York 1998 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 12), S. 26: »Nur der Artusroman kann auf den Typus des intriganten Protagonisten verzichten, weil das Negative weitgehend in eine Gegenwelt abgedrängt und über einen Stationenweg bewältigt wird.« 48 Kraß [Anm. 44], S. 97.

Die Emotionalität der Intrige. Variationen im höfischen Roman

VI.

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Resümee und poetologische Perspektiven

Eneas, Tristrant und Iwein – Die Geschichten der drei Helden gehören mit zu den erfolgreichsten im Spektrum der sich neu etablierenden deutschsprachigen Literatur des 12. Jahrhunderts. Dabei verstärkt sich vom Intrigenopfer bis zum Intrigant nicht nur die Ambivalenz intriganten Handelns. Vom teuflischen Ulixes über das schillernde Bild Tristrants bis hin zu Iweins klugem Triumph bringt sich hier auch die gesamte Spannbreite des Phänomens und seiner Wertung zwischen Antike und Moderne zum Ausdruck. Dies erlaubt am Ende drei abschließende systematische Überlegungen, in denen die Ergebnisse resümiert und die emotionalen Aspekte der Intrigeninszenierung gerade auch in Hinblick auf ihre poetologischen Perspektiven befragt werden.

1.

Die Emotionalität der Intrige in der Erzählwelt

Die Intrige ist in den Erzählwelten der höfischen Romane hochgradig emotional besetzt. Ausgangspunkt, so zeigt sich bei aller Verschiedenheit, sind immer konfliktuöse Situationen, die mit etablierten, herkömmlichen Mitteln nicht zu lösen sind. Die Intrige setzt damit betont an einer ›Störung‹ des mittelalterlichen ordo an und benennt kaleidoskopartig die prinzipielle und beständige Krisenanfälligkeit eines optimistischen Welt- und Gesellschaftsmodells, das von der Vorzüglichkeit aller ausgehen muss, um zu funktionieren. Besonderer Ausdruck dieser ›Störung‹ sind wiederholt Emotionen wie Zorn, Neid und Eifersucht, die einerseits, rückwärts gerichtet, persönliche Kränkung und Leid offenlegen und andererseits, vorwärts gerichtet, nach Wiedergutmachung, Rache oder Vergeltung streben. Im Rahmen der aporetischen Situationen stellen List, Lüge und Täuschung dabei immer alternative Konfliktlösungsmittel eines auf sich allein gestellten Helden dar. Die Intrige unterläuft damit nicht nur die höfischen Sprach- und Kommunikationsregeln. Indem sie dies in verschiedenen Variationen gleichsam zum Programm erhebt, diskutiert sie zugleich auch die Bedeutung menschlicher Eigenwilligkeit und -mächtigkeit und das heißt gerade mit Blick auf die Emotionen als Promotoren intriganten Handelns auch: die ›Macht‹ von Emotionen und das Verhältnis von ›Emotionalität‹ und ›Rationalität‹ als dialektisch korrelierende Modi menschlicher Wirklichkeitserfahrung und -bewältigung. Die unterschiedlichen Spielarten der Intrige werfen letztlich Fragen von Ethik und Moral auf, die ebenfalls konstitutiv mit Emotionen verbunden sind. Während die Intrigen der Gegenspieler scharf verurteilt werden und zu Übel, Leid und Trauer führen, haben die intriganten Helden am Ende die Sympathie auf ihrer Seite. Mit Ideen wie der des Zufalls und äußeren Zwangs bei Tristrant oder der des Gemeinnutzens bzw. -wohls und einer entsprechenden

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»Gesinnungsethik«49 im Falle Iweins werden dabei Entschuldigungsmechanismen und höfisch-adlige Werte präsentiert, die potenziell gefährliche Einzelinteressen einfangen und die Intrige zu einem legitimen, konstruktiven und emotional positiv besetzten Handlungsmuster machen.

2.

Die Intrige und ihre ästhetische Faszinationskraft

Recht oder unrecht, gut oder böse, Freude oder Leid – als selbsterhaltende und -behauptende kunstvoll täuschende Konfliktlösung trifft die Intrige in den Kern des mittelalterlichen ordo-Verständnisses und besitzt skandalöse Sprengkraft. Dabei affiziert der Intrigant nicht allein auf der Figuren- und Handlungsebene. Ein Blick auf die Darstellung des fiktionalen Geschehens zeigt: Von Anfang an zieht er auch erzählerisch die Aufmerksamkeit auf sich. So schaltet sich gleich bei seinem ersten Auftritt im Konflikt in signifikanter Weise der Erzähler ein. Auf der einen Seite verurteilt er scharf die Intrigen gegen den Helden und setzt sich wie im Falle des vrävel man (Iwein, V. 4585) Meljaganz, aber auch der Tristrant-Neider mit emotionalen Ausbrüchen und belehrenden Kommentaren von falschem, eigennützigem und schädlichem Handeln ab.50 Auf der anderen Seite sympathisiert er deutlich mit dem intriganten Handeln der Titelhelden. Er hebt lebhaft, zum Beispiel mit Ausrufen, Apostrophen und rhetorischen Fragen, deren positive höfische Eigenschaften und Tugenden hervor und betont, sowohl für Iwein, der Þre mit listen / kunde gewinnen und vristen (Iwein, V. 947 f.), als auch für den edel, g˜ten, k˜nen, steten, w„sen und werden Tristrant,51 deren 49 Schnell, Rüdiger : Abaelards Gesinnungsethik und die Rechtsthematik in Hartmanns Iwein. In: DVjs 65 (1991), S. 15 – 69, S. 15. 50 Bereits im ersten Teil des Romans verurteilt der Erzähler den irischen Truchsessen, der Tristrant heimlich um seinen Sieg über den Drachen bringen will. Er spricht von schandin (Tristrant, V. 1712), grúze[r] tumheit (Tristrant, V. 1722), valschl„ch (Tristrant, V. 1724) und Betrug (Tristrant, V. 1736). Auch bezeichnet er ihn als tumme (Tristrant, V. 2189) sowie zage (Tristrant, V. 2205, 2207, 2214) und wünscht, daz in got húne! (Tristrant, V. 2225). Im Zentrum der Verurteilungen der Neider am Hof Markes steht v. a. Antret, ihr Anführer, den der Erzähler gleich zu Anfang scharf verurteilt und verflucht (Tristrant, V. 3154 – 3167). Neben den n„desch lugenmÞre (Tristrant, V. 3171) gerät hier auch der Zwerg Satanas in den Blick, den der Erzähler als v–lant (Tristrant, V. 3406), gesellen des t˜fil (Tristrant, V. 3418 f.), unhold (Tristrant, V. 3427) sowie búsen getwerg (Tristrant, V. 3465) bezeichnet und dessen Sterndeutung er als teuflische Rede und explizite Lüge (Tristrant, V. 3406 – 3421) verurteilt. Ihren Kulminationspunkt erreichen die Verurteilungen am Ende der sogenannten Bettsprungszene: Der Erzähler verflucht den Verrat des argen (Tristrant, V. 3932 f.) Zwerges, bezichtigt die Neider, Tristrant recht als einem d„be (Tristrant, V. 3955) zu fesseln und bezeichnet die Täter als búse[…] n„dere[…] (Tristrant, V. 3957). Vgl. zur Verurteilung der Höflinge bereits auch Ruh, Kurt: Höfische Epik des deutschen Mittelalters. 2 Bde. Bd. 1. 2. verb. Aufl. Berlin 1977 (Grundlagen der Germanistik), S. 49. 51 Vgl. zu Belegen Schausten [Anm. 37], S. 111 Anm. 253 – 258.

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Integrität. Damit prägt und entfacht der Erzähler gleich zu Beginn des gesamten Handlungsgeschehens intensive affektive moralische Wertungen und Sympathien. Zugleich sorgen die effektvollen Listen, Lügen und Täuschung für die besondere Erzählspannung und einen spezifischen ästhetischen Reiz, die der Erzähler mittels gezielter Strategien der Informations- und Wissensvergabe wie Vorausdeutungen, Andeutungen oder Auslassungen, aber auch geschickter Perspektivwechsel betont stimuliert und aufrecht erhält: Wie gelingt Eneas die Positivierung von Ulixes’ desaströser Tat? Und wie erreicht Tristrant immer wieder sein Ziel? Oder stärker mit Blick auf das Ende: Wird Iweins intriganter Alleingang Erfolg haben?52 Wiederholt entfaltet sich so eine äußerst unterhaltsame Erzählung, deren oszillierendes Spiel mit Recht und Unrecht beziehungsweise Gut und Böse, Heimlichkeit und Öffentlichkeit sowie Verhüllen und Enthüllen einen besonderen Nervenkitzel bietet und »das Publikum in Atem«53 hält – ob wie im »Eneasroman« und »Iwein« in einzelnen Episoden oder wie im »Tristrant« immer wieder neu in einer Verkettung einzelner Abenteuer, die das Geschehen eigendynamisch, gleichsam aus sich heraus vorantreiben. Gerade in der narrativen Darstellung offenbart sich also eine »intensive affektive Erlebnisqualität«54, die die Intrige im Sinne Martin Baischs zu einem ästhetischen Faszinosum macht: Ihr skandalöses Potenzial erregt Aufmerksamkeit, zieht unwiderstehlich an und besitzt eine vorübergehende »Bewertungsambivalenz«55, die die Erzähler je unterschiedlich im Spannungsfeld von ›intellektueller Brillanz‹ und »Blendwerk des Bösen«56 codieren und aktivieren. 3.

Die Intrige und ihre poetologische Attraktivität

Mit der Frage nach der Rechtmäßigkeit menschlicher Eigenwilligkeit und -mächtigkeit hält die Intrige jedoch nicht nur für die mittelalterlichen Rezi52 Vgl. zur Unterscheidung von ›Was‹ und ›Wie‹-Spannung u. a. Pfister, Manfred: Das Drama. Theorie und Praxis. Stuttgart 112001 (Information und Synthese 3), S. 143 f. In Hinblick auf das mittelalterliche Erzählen hat Lugowski, Clemens: Die Form der Individualität im Roman. Mit einer Einleitung von Schlaffer, Heinz. Frankfurt a.M. 1976 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 151), S. 40 zwischen einer ›Ob-Überhaupt-Spannung‹ und ›WieSpannung‹ unterschieden. Vgl. zur ›Spannung‹ als ästhetischer Kategorie im höfischen Roman zuletzt Baisch, Martin: Vorausdeutungen. Neugier und Spannung im höfischen Roman. In: Historische Narratologie – Mediävistische Perspektiven. Hg. Haferland, Harald u. Meyer, Matthias. Berlin, New York 2010 (Trends in Medieval Philology 19), S. 205 – 230, v. a. S. 221 – 227. 53 Brunner [Anm. 40], S. 107. 54 Baisch, Martin: Faszination als ästhetische Emotion im höfischen Roman. In: Machtvolle Gefühle [Anm. 9], S. 139 – 166, S. 151. 55 Baisch [Anm. 54], S. 154. 56 Semmler, Hartmut: Listmotive in der mittelhochdeutschen Epik. Zum Wandel ethischer Normen im Spiegel der Literatur. Berlin 1991 (Philologische Studien und Quellen 122), S. 9.

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pienten ein großes Faszinationspotenzial bereit. Als funktionales Element, das eigenmächtiges Wollen befördert beziehungsweise mobilisiert und die für das literarische Spiel konstitutive Differenz zwischen Fiktion und Wirklichkeit auf der Ebene der histoire reproduziert, erweist sie sich in besonderer Weise auch für den Erzähler beziehungsweise den Autor selbst attraktiv. Anders formuliert: Indem sich die Intrige immer wieder des konstruierenden Erzählens im Erzählen bedient, erscheint der Intrigant gleichsam »als der erste Interpret des dramatischen Geschehens«57 – eine poetologische Reflexionsfigur, die einen Blick auf die wirkenden Triebkräfte des Erzählens, das heißt die Möglichkeiten des Entwurfs von Erzählwelten und Kernthemen literarischer Produktion wie Fiktionalität und Kreativität wirft. Welche Analogien sich dabei zwischen der Intrige und ihrem spezifischen Emotionstableau auf der einen und der poetischen Produktion auf der anderen Seite abzeichnen und welchen Wert die Intrige gerade auch für den mittelalterlichen Erzähler beziehungsweise Dichter besitzt, skizzieren zwei zentrale selbstreflexive Passagen aus dem intrigenreichsten der hier behandelten Werke: dem Pro- und Epilog von Eilharts »Tristrant«. Eilharts Prolog unterteilt sich grob in drei Abschnitte. Sein Publikum als direkt anwesendes imaginierend, gibt der Erzähler zunächst den Grund für sein Erzählen an (Tristrant, V. 1 – 5). Was sich scheinbar als anonymer Zufall ausmacht (Sint zu sagene mir gesch„t / den l˜ten die man h„r s„t, Tristrant, V. 1 f.) wird im Anschluss präzisiert: Die bete (Tristrant, V. 3) der Anwesenden habe ihn dazu gebracht, dass er daz willigl„chin (Tristrant, V. 4) und nach allir beste [m] (Tristrant, V. 5) Können tue. In einem zweiten Schritt wendet er sich dann eingehender seinem Publikum zu und imaginiert eine Art ›Kritiker-Intrige‹ (Tristrant, V. 6 – 30). Falls sich unter den Zuhörern solche befänden, die der rede gerne entbÞre[n] (Tristrant, V. 8), wäre dies von Nachteil: Sie hätten nämlich einen versteckten búse[n] willen (Tristrant, V. 11), mit dem sie andere leicht dazu brächten, sich abzuwenden und den Erzähler nicht recht zu belohnen. Und so verurteilt er nicht nur sofort ihre búsheite (Tristrant, V. 18) und ermahnt sie, ihre búsin setin / eine w„le varin l–zin (Tristrant, V. 22 f.). Darüber hinaus warnt er sie auch vor törichtem Handeln. Derjenige sei nämlich kl˜kir sinne ein kint (Tristrant, V. 26), der eine solche rede (Tristrant, V. 27) störe, die man gerne húret (Tristrant, V. 28) und die auch g˜ten l˜ten wol mag vromen (Tristrant, V. 30). Nachdem er dergestalt die Sympathie des Publikums auf seine Seite lenkt, kommt der Erzähler in einem dritten und letzten Abschnitt schließlich auf die Geschichte zu sprechen (Tristrant, V. 31 – 53). Er versichert, dass es [s]„n wille (Tristrant, V. 32) sei, –n alle valscheit / […] die rechten w–rheit (Tristrant, V. 33 f.) nach seiner Quelle, dem b˜che (Tristrant, V. 35), zu ver57 Memmolo, Pasquale: Strategen der Subjektivität, S. 37.

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künden, und leitet schließlich zur konkreten Erzählung über, indem er einen Überblick über die wichtigsten Etappen gibt und die Spannung auf das Kommende steigert. Er deutet eine wechselvolle Unterhaltung zwischen vroude und […] clage (Tristrant, V. 48) an und betont: Kein Mann habe jemals eine bessere rede (Tristrant, V. 50) von wertl„chin sinnen, / manheit und von minnen (Tristrant, V. 51 f.) erfahren. Gleich zu Beginn lassen sich drei Parallelen zwischen den Intrigen in der Erzählwelt und der erzählerischen Praxis ausmachen. (1) Ausgangspunkt ist wie bei Tristrant eine unerwartete Situation, die zufällig von außen auf den Erzähler kommt und ihn zu seinem besten Können zwingt beziehungsweise herausfordert. Der Erzähler greift dabei (2), ebenfalls wie Tristrant, auf das ihm spezifisch ›Vorfindliche‹, das b˜ch,58 zurück und lenkt durch das Offenlegen der wichtigsten Erzählinhalte die Aufmerksamkeit verstärkt auf den sin (Tristrant, V. 46) der Geschichte. Es steht also aus produktionsästhetischer Perspektive weniger das ›Was‹ und das prekäre Verhältnis von Wahrheit und Lüge, sondern parallel zu Tristrants Intrigen das ›Wie‹, die Kunst des Handelns beziehungsweise des Erzählens selbst, im Zentrum. Schließlich enthüllt der Erzähler (3) aus rezeptionsästhetischer Perspektive auch eine vergleichbare Funktion. Indem er sich nämlich als ein potenzielles Intrigenopfer stilisiert, wehrt er sich parallel zu Tristrant gegen einen touge[n] […] búsen willen (Tristrant, V. 10 f.), der wie das Handeln Markes und seiner Höflinge Schaden anrichtet, und betont im Gegenzug den eigenen positiven und konstruktiven Wert: Im Zentrum steht eine rede, die man gerne húret (Tristrant, V. 28) und die g˜ten l˜ten wol mag vromen (Tristrant, V. 30), die also genau wie Tristrants Intrigen unterhaltsam und nützlich zugleich ist. So entspinnt sich in der Folge eine Geschichte zahlreicher intrikater Verstrickungen, die am Ende mit dem Grabwunder der Liebenden sogar über den Tod hinausgeht und deren Erzählkunst, so zeigt ein abschließender Blick auf den Epilog (Tristrant, V. 9446 – 9457), gerade auch aus produktionsästhetischer Perspektive besonderen Wert besitzt. Der Erzähler nennt hier erstmals namentlich von Húbergin her Eilhart (Tristrant, V. 9446), den Autor, der diz b˜chel„n getichtet (V. 9447) und das mÞre (Tristrant, V. 9448) von Tristrant berichtet hat. Darüber hinaus verteidigt er diesen auch: Ausgehend von einem imaginierten Publikumseinwurf, dass die Geschichte auch anders hätte verlaufen können, betont der Erzähler, dass er ebenfalls alle Varianten kenne und Eilhart g˜ten z˜g (Tristrant, V. 9456) dafür hatte, daz ez recht alsus erg„ng (Tristrant, V. 9457).59 Wie Tristrant kennt also der Erzähler verschiedene Handlungsmöglichkeiten. Und wie Tristrant wählt auch 58 Auch an anderen Stellen nennt der Erzähler seine Quelle bzw. Vorlage. Vgl. Tristrant, V. 1806 f., V. 4576 – 4580 und V. 4730 – 4733. Vgl. hierzu näher Keck [Anm. 37], S. 77 – 79. 59 Vgl. hierzu auch Keck [Anm. 37], S. 79.

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er unter allen Alternativen die ›Gute‹ und ›Richtige‹ aus. Damit enthüllt sich nicht nur eine dem intriganten Helden vergleichbare intellektuelle ›Brillanz‹. Besondere Auswirkung hat dies auch auf den Status des Erzählers: n˜ habe ich [daz] alliz vullenbr–ht, daz von im geschrebin ist: des walde unsir heilig Crist! (V. 9522 – 9525)

Die drei letzten Verse lesen sich als typische Abschlussformel, mit der der Erzähler sein Werk beendet und in die Hände Gottes gibt. Zugleich schließt sich damit auch der Kreis zum Prolog und es lesen sich die Intrigen der Erzählwelt nochmals deutlich als poetologische Chiffre. Vor dem Hintergrund der engen mittelalterlichen Literaturbedingungen, dem Vorwurf des Lügens und dem Gebot des sogenannten ›Findens‹ statt ›Erfindens‹, erweist sich die unerwartete bete des Publikums nach der Geschichte Tristrants, eines programmatisch listigen, lügenden und täuschenden Helden, die in unterschiedlichen Versionen existiert, zwar prekär für den Erzähler. Gleichzeitig fordert sie aber in hohem Maße auch sein erzählerisches Können heraus. Damit entschlüsselt sich der besondere »Erfindungsreichtum des großen Intriganten«60 Tristrant nicht nur wiederholt als reizvolle und nützliche Unterhaltung für das Publikum. Am Ende erscheint er auch für den Erzähler attraktiv, indem dieser zeigen kann, als ›wer‹ oder ›was‹ er zu verstehen ist. Einerseits verweist die Aussage n˜ habe ich [daz] alliz vullenbr–ht, / daz von im geschrebin ist (Tristrant, V. 9522 f.) nämlich ›selbstbewusst‹ auf ein herausragendes weltliches Können, eine Meisterschaft, die mit dem Helden ans Ende gekommen ist. Andererseits zeigt die Semantik von volbringen, die die Schaffenskraft und Kreativität Gottes aufruft,61 auch: Wie Tristrant entwirft beziehungsweise erschafft auch der Erzähler eine Welt. Im Rahmen »alternative(n) Erzählens« und verschiedener »möglicher Welten« gewinnt also sowohl auf der Handlungs- als auch Darstellungsebene die Eigenwillig- und -mächtigkeit des Fiktionalen an Bedeutung.62 Gleichsam unter der Hand kommt es so ebenfalls zu einer Umwertung der damit verbundenen Diabolik und es entschlüsselt sich am Ende auch aus produktionsästhetischer Perspektive die besondere Attraktivität der Intrige. Im Horizont des Kontingenten und Zufälligen wird der Erzähler nicht nur gleichfalls zum »Intrigenbauer«63 der Geschichte. Im Rahmen des Fiktionalen wird auch »das Unmögliche

60 Von Matt [Anm. 15], S. 271. 61 Vgl. zur religiösen Semantik den Artikel volbraht. In: Lexer, Matthias: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Bd. 3, Stuttgart 1992, Sp. 435. 62 Vgl. Chinca, Mark: Mögliche Welten. Alternatives Erzählen und Fiktionalität im Artusroman. In: Poetica 35 (2003), S. 307 – 333. 63 Von Matt [Anm. 15], S. 456.

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möglich«64 : Mit seinem meisterhaften Können avanciert er selbst zu einem Schöpfer, einem poeta alter deus und einer geniehaften Größe, die aber – so zeigt der letzte Vers deutlich – in keinster Weise Gott ersetzt, sondern grundlegend innerhalb des christlich-mittelalterlichen Horizontes bleibt.

64 Chinca [Anm. 62], S. 332.

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I.

Einleitung: It is hard to think of a more social emotion

»It is hard to think of a more social emotion.«1 So charakterisieren die beiden Emotionspsychologen Richard Smith und Sung Hee Kim Neid in dem von ihnen herausgegebenen Sammelband »Envy – Theory and Research«. Die Aussage mag aus literatur- und kulturwissenschaftlicher Sicht zunächst erstaunen. Denn von den biblischen Erzählungen an initiiert Neid Szenen der Gewalt: Aus Neid ermordet Kain seinen Bruder Abel; Iagos neidischer Zerstörungswahn mündet in Shakespeares »Othello« im Tod Desdemonas wie auch Othellos; Peter Shaffers »Amadeus« entwickelt aus den Gerüchten um angebliche Intrigen Salieris gegen Mozart ein Neiddrama, in dem der von seiner Mittelmäßigkeit enttäuschte Hofkomponist das Jahrhundertgenie in den finanziellen, psychischen und gesundheitlichen Ruin treibt. Die von Smith und Kim präsentierte Vorstellung von Neid als ›sozialer Emotion‹ zielt jedoch nicht auf das Maß an sozialer Verträglichkeit. Unabhängig von positiven oder negativen sozialen Effekten des Neids postuliert die moderne Emotionstheorie, dass der Emotion Neid eine spezifische trianguläre Beziehung zwischen Neider, Beneidetem und Neidobjekt zu Grunde liege.2 Dabei offenbare die gemeinsame Wertschätzung des Neidobjekts zum einen, dass Neider und Beneideter im gleichen Wertesystem zu verorten sind.3 Zum anderen sei Neid ein Distinktionsgefühl, eine emotionale Reaktion auf eine Situation der Unterlegenheit.4 Betrachtet man Neid auf diese Weise, kann die Analyse von Neid mehr 1 Kim, Sung Hee u. Smith, Richard E.: Envy, Introduction. In: Envy. Theory and Research. Hg. v. Smith, Richard H. Oxford 2008, S. 3 – 14, hier: S. 3. 2 D’Arms, Justin: Envy. In: The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Spring 2009 Edition). Hg. v. Zalta, Edward N. http://plato.stanford.edu/archives/spr2009/entries/envy/, Datum des letzten Zugriffs: 28. 05. 2013. 3 Neckel, Sighard: Deutschlands gelbe Galle. In: Ders.: Die Neidgesellschaft. Berlin 2001 (Kursbuch 143), S. 2 – 10, hier : S. 7. 4 Vgl. zum Begriff und zu den sozialen Funktionen von Distinktionsgefühlen: Burkart,

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sein als nur eine Rekonstruktion der Motivation von Konflikten und Gewalttaten. Neid verrät etwas darüber, welche Güter in einer Gesellschaft als wichtig erachtet werden und wie Unterschiede beim Erlangen dieser Güter in der jeweiligen Kultur wahrgenommen, emotional aufgeladen, ausagiert und nicht zuletzt auch inszeniert werden. Diese Sichtweise auf Neid eröffnet insbesondere für das Studium mittelalterlicher Texte neue Perspektiven. In seiner Doppeleigenschaft als Emotion und als Hauptsünde wurde Neid in der mittelalterlichen Literatur bislang vornehmlich als Laster wahrgenommen.5 So geht Klaus Grubmüller in seiner semantischen Analyse der Emotionswörter zorn, n„t und haz, davon aus, dass n„t innerhalb der geistlichen Diskurstradition als Neid interpretiert werden könne.6 Die bisher einzige Literaturgeschichte des Neides für den deutschen Raum klammert das Mittelalter aus und interpretiert den Weg zur Moderne konsequent als eine Entwicklung weg von sündentheologischen Erschließungsweisen hin zu Deutungen, die die Folgen des Neids in sozialen Gefügen beschreiben.7 Viele der mittelalterlichen Texte zeichnen jedoch ein anderes, komplexeres Bild. Vor dem Hintergrund der Tradition der Hofkritik wird Neid auch in der säkularen Literatur in Intrigehandlungen eingebunden.8 Die in den Texten repräsentierten Höfe werden nicht selten von Neidern bevölkert. Diese fordern die Protagonisten als Gegenspieler heraus, verleumden sie und können häufig nur mit Hilfe aufwendiger Listen überwunden werden.9 Besonders deutlich wird der soziale Charakter des Neids dort, wo dem Protagonisten nicht nur ein Neider gegenübertritt. In Gottfrieds »Tristan« schildert der Erzähler einen Fall von Gruppenneid. Nachdem Tristan geheilt aus Irland zurückgekehrt ist, lehnt sich der Hof gegen den Favoriten des Königs auf und bezichtigt ihn der Zauberei. Der Neid erweist sich hier als bestimmender Faktor in der Ausbildung gesell-

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6 7 8 9

Günter : Distinktionsgefühle. In: Gefühle – Struktur und Funktion. Hg. v. Landweer, Hilge. Berlin 2007 (Deutsche Zeitschrift für Philologie Sonderband 14), S. 159 – 174. Eine Ausnahme stellt der Aufsatz von Andreas Kraß zum Neid im »Iwein« und im »Narrenschiff« dar. Vgl. Kraß, Andreas: Neidische Narren. Diskurse der Missgunst im Iwein Hartmanns von Aue und im Narrenschiff Sebastian Brants. In: Emotionen. Hg. v. Haubrichs, Wolfgang. Stuttgart, Weimar 2005 (LiLi 138), S. 92 – 109. Grubmüller, Klaus: Historische Semantik und Diskursgeschichte. Zorn, n„t und haz. In: Codierungen von Emotionen im Mittelalter. Hg. v. Kasten, Ingrid u. Jaeger, Stephen. Berlin, New York 2003, S. 47 – 69, hier : S. 60 – 63. Weber, Kathrin: Einleitung. Eifersucht und Neid zwischen Literatur und sozialer Situation. In: Invidia – Eifersucht und Neid in Kultur und Literatur. Hg. v. Kreuzer, Tillmann F. u. Weber, Kathrin. Gießen 2011, S. 7 – 39, hier: S. 11. Zur Intrige in der mittelalterlichen Literatur vgl. den Beitrag von Claudia Lauer »Die Emotionalität der Intrige. Variationen im höfischen Roman« in diesem Band. Dieses Handlungsmuster kommt beispielsweise im »Engelhard« Konrads zum Tragen und findet sich in variierter Form auch im »Reinfried von Braunschweig«.

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schaftlicher Strukturen. Das Verhältnis von Hofgesellschaft, Tristan und dem König wird durch den Neid und seine Bewältigung neu bestimmt. Die gesellschaftliche Dimension des Neids macht den »Tristan« zum geeigneten Text, um nach den Figurationen des Neids als sozialer Beziehung in mittelalterlichen Texten zu fragen. Wie werden die Beziehungen zwischen Neider(n), Beneidetem und Neidobjekt im Gesellschaftsraum des Hofes entworfen? Welche Funktionen werden Neid zugesprochen? Erste Thesen zu diesen Themenkomplexen sollen im Folgenden in drei Schritten entwickelt werden. Ausgehend von den Analysen der Emotionsphilosophie und –psychologie wird zunächst das Konzept von Neid als sozialer Emotion vorgestellt und es werden seine Implikationen für die Analyse mittelalterlicher Texte erläutert.10 Die sich so ergebende Neiddefinition soll sodann anhand von Gottfrieds »Tristan«11 an einem mittelalterlichen Text erprobt werden.

II.

Theoretische Grundlegung: Zum Begriff der sozialen Emotion

Die Emotion Neid ist Gegenstand einer Vielzahl von Disziplinen: Sowohl die Emotionsphilosophie, die Evolutionspsychologie, die Psychoanalyse, die Soziologie als auch die Literaturwissenschaft haben sich mit dieser Emotion auseinandergesetzt und versucht, sie genauer zu fassen. Im Anschluss an die philosophische Tradition wird Neid definiert als »pain felt toward (or caused by) another’s good, good fortune, prosperity, achievements or favorable circumstances.«12 Diese Definition schließt die Möglichkeit der Selbstbezüglichkeit des Gefühls aus. Neid wird stets als Gefühl konzipiert, das auf einen Anderen bezogen ist. Die Forschung beschreibt Neid dementsprechend als ›soziale Emotion‹.13 Parrot und Rodriguez Mosquera zufolge lassen sich zwei Dimensionen des Sozialen in Bezug auf Neid unterscheiden: »Envy is social not only in the sense of being about another person but also in that of affecting more than one 10 Hierbei handelt es sich um methodische Vorüberlegungen zu meinem Promotionsprojekt mit dem Arbeitstitel »Neid als (un-)soziale Emotion in narrativen Texten des Hochmittelalters«. 11 Zitiert nach Gottfried von Strassburg: Tristan und Isold. Mit dem Text des Thomas, herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Walter Haug. Hg. v. Haug, Walter u. Scholz, Manfred Günter. Bd.1. Berlin 2011 (Bibliothek des Mittelalters 10). Auf den »Tristan« wird im Folgenden mit der Sigle TR verwiesen. 12 D’Arms, Justin u. Duncan, Kerr : Envy in the philosophical tradition. In: Envy. Theory and Research. Hg. v. Smith, Richard H. Oxford 2008, S. 39 – 59, hier: S. 40. 13 So folgern Ullich und Mayring in ihrem Handbuch zur Emotionspsychologie: »Neid ist in der Regel gegen andere Menschen gerichtet, ist eine soziale Emotion.« Siehe Ullich, Dieter u. Mayring, Philipp: Psychologie der Emotionen. Stuttgart 22003, S. 167.

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person.«14 Neben der Ausrichtung auf einen Anderen werden hier die Auswirkungen des Neids in den Blick genommen. Neid erscheint in dieser Perspektive nicht mehr nur als Emotion; durch Neid werden zwei Menschen miteinander in Beziehung gesetzt – sei es in Form von auf den Anderen fokussierten Gedanken und Phantasien des Neiders oder in Form von für den Beneideten spürbaren Handlungen. Den bisher weitreichendsten und vielversprechendsten Versuch, das Konzept von Neid als sozialer Emotion für die Literaturwissenschaft zu operationalisieren, stellt der 2011 von Tillman F. Kreuzer und Kathrin Weber herausgegebene Sammelband »Invidia- Eifersucht und Neid in Kultur und Literatur« dar. Hier finden sich drei Ansatzpunkte, von denen aus eine genauere Definition des Neids möglich erscheint: die Definition von Neid als spezifische ›soziale Situation‹, die Analyse von Neid als variablem Emotionskomplex und die Deutung von Neid als ›Hinweis‹ auf krisenhafte Situationen des gesellschaftlichen Miteinanders.15

Neid als soziale Situation Neid setzt laut Kathrin Weber drei Entitäten in ein Verhältnis: den Neider, das Neidobjekt16 und den Beneideten.17 Neid zeichnet sich demnach durch eine trianguläre Beziehungsstruktur aus, in der mindestens zwei Menschen durch ein drittes Objekt miteinander in Kontakt treten.18 Diese trianguläre Struktur teilt Neid mit Eifersucht, sodass es im alltäglichen Sprachgebrauch häufig zu Überschneidungen kommt.19 Die Forschung schlägt zwei Differenzierungsmöglichkeiten vor. Zum einem geht sie davon aus, dass die Besitzverhältnisse von Neid und Eifersucht konträr zueinander angelegt seien. Während der Neider etwas begehre, das er bei einem Rivalen beobachte, basiere die Eifersucht umgekehrt auf einem realen oder gefürchteten Verlust.20 Zum anderen ist laut George M. 14 Parrot, Gerrod W. u. Rodriguez Mosquera, Patricia M.: On the pleasures and displeasures of being envied. In: Envy. Theory and Research. Hg. v. Smith, Richard H. Oxford 2008, S. 117 – 132, hier: S. 117. 15 Allerdings werden diese Untersuchungsaspekte bei Kreuzer und Weber nur kurz erklärt und bedürfen weiterer Erläuterung und Konkretisierung. 16 Neidobjekt können dabei sowohl konkrete Gegenstände als auch Fähigkeiten, Kenntnisse, der soziale Status, der/die Freundin, sexuelle und berufliche Erfolge eines anderen Menschen sein. Vgl. das Kapitel zu Neid und Eifersucht in: Demmerling, Christoph u. Landweer, Hilge: Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn. Stuttgart 2007, S. 196 – 217, hierzu: S. 196 f. 17 Vgl. Weber, Kathrin [Anm. 7], S. 13. 18 Vgl. D’ Arms [Anm. 2]. 19 Foster, George M.: The anatomy of envy. A study in symbolic behaviour. In: Current Anthropology 13, 2 (1972), S. 165 – 202, hier : S. 167. 20 Demmerling u. Landweer [Anm. 16], S. 196 – 198.

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Foster nicht allein die Begierde nach dem Objekt für die emotionale Reaktion ausschlaggebend, der Neid fokussiere vielmehr den Besitzer des Gutes.21 Jener sei nicht ohne Weiteres austauschbar, er müsse mit dem Neider in einer Art Wettbewerbssituation stehen. Seine Identität sei somit für das Entstehen der Emotion unverzichtbar.22 Bei der Missgunst als gesteigerter Form des Neids richtet sich das Gefühl sogar ganz auf den Beneideten aus. Die Zerstörung seines Vorteils ist dem Neider wichtiger als der Erwerb des Neidobjekts. Nach Christoph Demmerling und Hilge Landweer wird das Objekt dem Anderen, unabhängig davon, ob man das Objekt selber haben möchte, nicht gegönnt.23 Während über die soziale Struktur des Neids weitgehend Einigkeit besteht, haben sich je nach Disziplin unterschiedliche Ansichten darüber herausgebildet, wie man diese deuten müsse. Je nachdem, welcher Partner der sozialen Situation ›Neid‹ bei der Analyse in den Blick genommen wird, entstehen andere Vorstellungen über die Beweggründe und das Funktionieren des Neids. Emotionspsychologie und – philosophie fokussieren das Neidobjekt als Unterscheidungsmerkmal und beschreiben Neid dementsprechend als Vergleichsoperation.24 Der Literaturwissenschaftler und Kulturantrophologe Ren¦ Girard nimmt hingegen den Beneideten in den Blick und beschreibt das Begehren des Neiders als Nachahmung des Begehrens des Beneideten.25 Der Psychoanalytiker Jacques Lacan erweitert das Modell schließlich um die Position eines als Bewertungssystem fungierenden Beobachters, dessen anerkennender Blick dem Neider aufgrund des fehlenden Besitzes des Neidobjekts im Gegensatz zum Beneideten fehle.26 Keine dieser Theorien kann vorbehaltlos an historische Texte herangetragen werden. Sie können jedoch neben den historischen Diskursen als Vergleichsmaßstab herangezogen werden, um die historischen Dimensionen von 21 So betont Foster in seiner anthropologischen Studie zum Neid: »It is important to note that an envier is not envious of the thing he would like to have; he is envious of the person who is fortunate enough to have it. The possession is the trigger not the object of envy.« Siehe Foster [Anm. 19], S. 168. 22 Mit dieser Konzeption des Neids nimmt die Forschung einen antiken Gedanken auf. Schon Aristoteles betont in der »Rhetorik«, dass Neid nur in Bezug auf die Nahen, die Ähnlichen möglich sei. Auch für ihn ist die Wettbewerbssituation Voraussetzung neidischer Beziehungen. Siehe Aristoteles: Rhetorik. Übersetzt mit einer Bibliographie, Erläuterungen und einem Nachwort von Franz G. Sieveke. München 51995, 2. Buch, 10. Kapitel, S. 116 – 118. 23 Demmerling u. Landweer [Anm. 16], S. 196 – 198. 24 Ebenda. 25 Girard, Ren¦: Figuren des Begehrens. Das Selbst und der Andere in der fiktionalen Realität. Aus dem Französischen von Elisabeth Mainberger-Ruh. Münster, Hamburg u. a. 1999 (Beiträge zur mimetischen Theorie 8), S. 11 – 160. 26 Vgl. für diese Zusammenfassung der in verstreuten Vorlesungen niedergelegten Neidtheorie Lacans: Vidaillet, B¦n¦dicte: Psychoanalytic Contributions to understanding envy. Classic and contemporary perspectives. In: Envy. Theory and Research. Hg. v. Smith, Richard H. Oxford 2008, S. 267 – 289.

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Neid im Prozess eines Abgleichs herauszuarbeiten. Im Einzelfall ist dabei jeweils zu fragen, auf welchen Bestandteil der triangulären Emotion die historischen Texte ihren Schwerpunkt legen. Damit nicht unzulässig moderne Begriffe auf sie angewandt werden, muss darüber hinaus geprüft werden, ob die moderne Grenzziehung zwischen Neid und Eifersucht begriffsbildend wirkt oder ob andere Verwandtschafts- und Abgrenzungsverhältnisse von größerer Relevanz sind.

Neid als variabler Emotionskomplex Die Konzeption von Neid als sozialer Emotion impliziert ein bestimmtes Verständnis des Zusammenspiels von sozialen und affektiven Dimensionen des Neids. Folgt man Ching-Ho Chuangs Beitrag in erwähnten Sammelband von Kreuzer und Weber, verfügen Neid und Eifersucht über keinen festen emotionalen Gehalt, sie lassen sich nicht als einzelne, voneinander klar trennbare affektive Elemente beschreiben.27 Um ihre These zu belegen, verweist Chuang auf die von den beiden Emotionspsychologen Gerrod W. Parrot und Richard H. Smith durchgeführten Untersuchungen des Erfahrungsgehalts der Emotionen Neid und Eifersucht. Die Probanden in Parrots und Smiths Projekt verknüpften sowohl beim Erzählen von emotionalen Episoden wie auch in skalierten Fragebögen zur Intensität ihrer Erfahrungen regelmäßig so unterschiedliche emotionale Erfahrungen wie Begehren, Minderwertigkeitsgefühle, Ärger, Zorn, Ressentiment, Schuldgefühle und Bewunderung mit Neid.28 Auch von phänomenologischer Seite wird der Status von Neid als eigenständige Emotion bezweifelt. Für die Philosophin Ingrid Vendrell Ferran können Hass, Rache, Groll, Verachtung zusammen mit Neid auftreten, sie lassen sich nicht eindeutig von Neid abgrenzen.29 Vendrell Ferran kommt deshalb zu dem Schluss, dass Neid im Gegensatz zu Ekel, Angst oder Freude kein elementares Gefühl ist, »sondern ein Gefühlsgebilde, in dem andere Emotionen als Teilkomponenten auftreten können.«30 Diese Beobachtungen werfen die Frage auf, inwiefern Neid über seine emotionale Verfasstheit überhaupt klar identifiziert werden kann. Wut, Ärger und 27 Chuang, Ching-Ho: Neid und Eifersucht in kulturpsychologischer Perspektive. In: Invidia – Eifersucht und Neid in Kultur und Literatur. Hg. v. Kreuzer ; Tillman F. u. Weber, Kathrin. Gießen 2011, S. 31 – 59, hier: S. 32. 28 Parrot, W. Gerrod: The emotional experiences of envy and jealousy. In: The psychology of jealousy and envy. Hg. v. Salovey, Peter. New York, London 1991, S. 3 – 30, hier : S. 12 – 15. 29 Vendrell Ferran, ´lngrid: Über den Neid. Eine phänomenologische Untersuchung. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 54 (2006), S. 43 – 68, hier : S. 46. 30 Vendrell Ferran [Anm. 29], S. 46 f.

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Trauer können, wie Chuang hervorhebt, sowohl Teil der Eifersucht, Teil des Neides als auch Reaktionen auf eine Trennungserfahrung sein. Eine rein phänomenologische Beschreibung des Neides reicht ihr zufolge deshalb nicht aus, um die Emotion akkurat zu erfassen. Die Beschreibung der Emotionskomponenten müsse stets durch eine Beschreibung der Entstehungssituation ergänzt werden.31 Auf diese Weise verschiebt sich der Schwerpunkt weg von der emotionalen hin zu einer situativen Beschreibung. Die soziale Dimension des Neides erhält nun ein besonderes Gewicht. Sie ist es, die Neid erkennbar macht, nur in Verbindung mit der oben beschriebenen triangulären Beziehungsstruktur können Emotionen als neidisch klassifiziert werden. In der emotionspsychologischen Forschung wird deshalb die Frage diskutiert, ob Neid überhaupt eine Emotion ist oder ein »situational label«, das flexibel mit Emotionen gefüllt werden kann.32 In seiner radikalen Form übersieht dieser Ansatz jedoch, dass nicht jede Emotion mit Neid verbunden werden kann. In den empirischen Studien zu Neid werden mit Ausnahme der Bewunderung meist negative Emotionen im Zusammenhang mit Neid genannt.33 Es scheint folglich einen gewissen Spielraum für die Verknüpfung von Emotionen mit der sozialen Situation ›Neid‹ zu geben, der zugleich als Ausschlusssystem funktioniert. Aufgabe einer kulturwissenschaftlich orientierten Germanistik wäre es zu untersuchen, wie dieser Spielraum in Abhängigkeit vom konkreten historischen, kulturellen und sozialen Kontext je unterschiedlich bemessen wird.

Neid als Referenz auf krisenhafte Situationen des sozialen Miteinanders Als soziale Emotion verweist Neid auf krisenhafte Situationen des sozialen Miteinanders. Wie Kathrin Weber hervorhebt, ist der Neider zunächst einmal Beobachter einer sozialen Situation.34 Er beobachtet den Besitz des Anderen und empfindet die Differenz zwischen dem eigenen Ich und dem Anderen als leidvoll. Nach Foster strebt der Neider danach, diese Differenz aufzuheben. ›Echter Neid‹ ziele darauf, mit dem Beneideten die Positionen zu tauschen oder ihn zumindest des Neidobjekts zu berauben.35 Neid impliziert insofern zumeist die Vorstellung von einer veränderten sozialen Struktur. Der Neider möchte zumindest in seiner Phantasie die aktuellen sozialen Beziehungen neu ordnen. 31 Chuang [Anm. 27], S. 34 – 35. 32 Harris, Christine R. u. Salovey, Peter : Reflections on Envy. In: Envy. Theory and Research. Hg. v. Smith, Richard H. Oxford 2008, S. 335 – 356, hier : S. 338 – 339. 33 Vgl. Parrot [Anm. 28], S. 12 – 15. 34 Weber [Anm. 7], S. 13. 35 Foster [Anm. 19], S. 168.

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Neid dynamisiert jedoch nicht nur soziale Relationen. Er ist zugleich Produkt bestimmter gesellschaftlicher Konstellationen. Sozialphilosophen und Soziologen stellen einen engen Zusammenhang zwischen der Verfassung einer Gesellschaft und der Entwicklung von Neid zum Gruppenphänomen her. Insbesondere zwei Charakteristika lassen eine Gesellschaft als ganze anfällig für Neid werden: Die eine in der philosophischen Tradition häufig genannte Bedingung des Neides ist die Nähe zwischen Neider und Beneidetem. Für die Soziologie in der Nachfolge Simmels ist Neid paradoxerweise gerade eine Folge relativer sozialer Gleichheit. So kann nach Sighard Neckel Neid in Gesellschaften, die in verschiedene, klar voneinander getrennte Gruppen strukturiert sind, nicht dominant werden. Große soziale Distanz ließe »Neid ebensowenig entstehen wie die legitime Zuordnung verschiedener Personen und Klassen zu unterschiedlichen Anspruchskategorien.«36 Die zweite vor allem in der Anthropologie diskutierte Bedingung des Neids ist der Mangel, die Verknappung von Ressourcen. Laut Foster wird Neid vorrangig in solchen Gesellschaften zum Massenphänomen, in denen eine ungenügende Menge von begehrenswerten Gütern vorhanden sei. In diesem Fall entstünden ›Nullsummenspiele‹, in denen der Vorteil des Nachbarn als Beraubung verstanden werde. Dies gelte nicht nur für Subsistenzwirtschaften, sondern auch für entwickelte Gesellschaften, in denen die Positionen an der Spitze der Gesellschaft limitiert seien. Hier funktioniere nun der Wettbewerb um die Spitze als ›Nullsummenspiel‹. Da viele Positionen nur einmal vergeben würden, bedeute der Aufstieg des Einen zugleich die Zurückstellung des Anderen.37 Folgt man diesen Analysen dann stellt sich die Frage, ob Neid in den literarischen Texten in Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Strukturen interpretiert werden muss. Neid kann Zeichen dafür sein, dass Gruppenbildungen und Hierarchien ihre Legitimation verloren haben und dementsprechend die Unterschiede des Besitzes wieder schmerzvoll werden. Neid kann im Rahmen einer ökonomischen Wettbewerbslogik aber auch auf Situationen der extremen Verknappung von Gütern verweisen.

36 Siehe Neckel, Sighard: Blanker Neid, blinde Wut? Sozialstruktur und kollektive Gefühle. In: Neckel, Sighard. Die Macht der Unterscheidung. Essays zur Kultursoziologie der modernen Gesellschaft. Frankfurt, New York 2000, S. 110 – 130, hier: S. 116. Zum Ausbleiben von Neid in einer durch Gruppen geordneten Gesellschaft vgl. auch: Rawls, John, Eine Theorie der Gerechtigkeit. Übersetzt von Hermann Vetter. Frankfurt 172010, S. 582. 37 Foster [Anm. 19], S. 168 – 169.

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III.

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Konsequenzen des Konzepts für die Analyse mittelalterlicher Texte

diu veige unmüezekeit, der verw–zene n„t. (TR, V. 8318 – 8319)

Die Emotion Neid hat in der Mediävistik als Forschungsgegenstand bisher keine große Bedeutung erlangt. Während für das Spätmittelalter und die Frühe Neuzeit mit Ren¦ Girards Buch über Shakespeare38 und Lynn Meskills Studie zum Neid bei Ben Jonson39 im englischsprachigen Raum bereits Analysen vorliegen,40 gibt es bislang keine größere Einzelarbeit zur Kodierung von Neid in hochmittelalterlichen Texten deutschsprachiger Provenienz. Mitverantwortlich für diese Forschungslücke ist die komplexe Semantik der Emotion Neid im Mittelalter. Zwar existieren relativ eindeutig auf Neid referierende Begriffe wie verbunst41 oder vergunnen.42 Diese finden sich jedoch nur selten in den hochmittelalterlichen Texten.43 Die dem neuhochdeutschen Neid zugrundeliegende mittelhochdeutsche Vokabel n„t kommt hingegen häufig vor, verweist jedoch nicht immer auf die hier untersuchte Emotion. Wie Klaus Grubmüller in seinem Aufsatz »Historische Semantik und Diskursgeschichte« herausgestellt hat, referiert sie im »ritterlich-heldischen Erzählen«44 zumeist auf den »kämpferischen Eifer, ›Kampfgrimm‹.«45 Im biblisch-theologischen Diskurs könne sie hingegen eine aggressive Gemütshaltung im Sinne von invidia beschreiben. Hier sei ausgehend von der Exegese des Brudermords von Kain an Abel eine eigene Redetradition entstanden, die in die volkssprachliche Literatur eingehe.46 In den mittelhochdeutschen Texten konkurrieren folglich zwei unterschiedliche Bedeutungen von mittelhochdeutsch n„t miteinander. Die Unterscheidung verschiedener n„t-Diskurse liefert jedoch keine Methode an die Hand, die es 38 Girard, Ren¦: A Theater of Envy. New York, Oxford 1991. 39 Meskill, Lynn S.: Ben Jonson and Envy. Cambridge 2009. 40 Eine weitere Arbeit zu Neid im Spätmittelalter entsteht gerade an der Washington University in St. Louis. Dort arbeitet Jessica Rosenfeld an einer Studie mit dem Projektnamen »Envying thy Neighbor : Pleasure, Identity, and Gender in Late Medieval Literature«. 41 Vgl. verbunst. In: Grimm, Jacob u. Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 25. Leipzig 1854 – 1961, Sp. 183 – 185. 42 Vgl. vergunnen. In: Lexer, Matthias: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Bd. 3. Leipzig 1878, Sp. 121. 43 Vgl. die geringe Anzahl von Textverweisen für verbunst (lediglich zwei Texthinweise) in Lexers mittelhochdeutschen Handwörterbuch. Für vergunnen gibt es zwar zehn verschiedene Textzeugen, unter ihnen finden sich jedoch wenige narrative Werke. Siehe Lexer, Matthias [Anm. 42], Sp. 85 f. u. Sp. 121. 44 Grubmüller [Anm. 6], S. 63. 45 Grubmüller [Anm. 6], S. 60. 46 Grubmüller [Anm. 6], S. 62 f.

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ermöglicht, die Emotion Neid in literarischen Texten auch eindeutig zu identifizieren. Dort, wo der Neid nicht mehr direkt auf den geistlich-religiösen Diskurs zurückverweist, wo er sich in der volkssprachlichen Literatur von der geistlichen Redetradition emanzipiert, wird er über das diskursanalytische Verfahren nicht greifbar.47 Gottfrieds veige unmüezekeit, der verw–zene n„t stellt die historische Emotionsforschung so zunächst einmal vor Probleme. Neid ist nicht so einfach ›dingfest‹ zu machen. Eine Methode, die Emotion trotzdem literaturwissenschaftlich zu analysieren, lässt sich aus dem Konzept von Neid als sozialer Emotion ableiten. Die rein strukturelle Definition von Neid ermöglicht es zum einen, wie von Grubmüller gefordert, klar zwischen Begriff und Bezeichnung zu unterscheiden.48 Für die Interpretation von n„t im »Tristan« entweder als Kampfzorn oder als neidische Aggression ausschlaggebend ist nun die soziale Situation. Nur dort, wo das Beziehungsdreieck zwischen Neider, Neidobjekt und Beneideten klar identifizierbar ist, kann auf Neid als Synonym von invidia geschlossen werden. Versteht man Neid als Emotion, die weniger durch einen festen emotionalen Gehalt als durch eine bestimmte soziale Situation bestimmt ist, wirkt sich dies zum anderen auf die Quantität der Begriffe aus, die auf Neid referieren. Da es sich um einen Emotionskomplex handelt, können sich auch andere, benachbarte Emotionswörter wie zum Beispiel haz oder zorn auf Neid beziehen. Die Emotion Neid lässt sich im Mittelalter nicht anhand eines klaren Referenten erkennen. Um die soziale Beziehung Neid zu analysieren, muss die ganze Bandbreite der mit ihr verbundenen Emotionen analysiert werden, es müssen Übergänge und Dynamiken der einzelnen Emotionen untereinander beschrieben werden. Ob dieses Konzept methodisch gangbar ist, soll nun überprüft werden. Dafür wird zunächst der Kontext, in dem die Vokabel n„t im »Tristan« auftaucht, analysiert.

IV.

Die neidische Hofgesellschaft – Die Struktur des neidischen Dreiecks

künec unde hof die w–ren dú ze s„nem willen gereit, biz sich diu veige unmüezekeit, der verw–zene n„t, der selten iemer gel„t, under in begunde üeben, 47 Die von Grubmüller selbst zitierten Beispiele verbleiben innerhalb des biblisch-theologischen Diskurses oder beziehen sich wie das Spruchgedicht »Der Kanzler« direkt auf ihn. 48 Vgl. Grubmüller [Anm. 6], S. 48.

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der hÞrren vil betrüeben an ir muote und an ir siten, daz s„’n der Þren beniten unde der werdekeite, die der hof an in leite und al daz lantgesinde. (TR, V. 8316 – 8327)

Mit wenigen Versen beschreibt der Erzähler hier eine Kippbewegung, die die Emotionen der Hofgesellschaft nach Tristans erster Irlandreise umschlagen lässt. Waren Tristans Erzählungen vorher Objekt glücklichen Staunens, wendet sich die Hofgesellschaft nun gegen ihn. Auslöser für diese Veränderung ist der verw–zene n„t, der durch das Stilmittel der Personifikation als Handelnder konzipiert wird.49 Der Erzähler lastet dem Neid an, das Herz, das Gemüt der Barone zu betrüeben, zu ›verdunkeln‹.50 Zudem werten die Vokabeln verw–zen und veige den von n„t initiierten Wandel als verwünscht, verflucht. Der n„t wird so zuallererst als Laster, als Abweichung von einer positiven Verhaltensnorm qualifiziert. Seine unmüezekeit lässt sich nicht anders denn als ständige Gefährdung der Menschheit lesen. Über das wertende Vokabular hinaus fehlen jedoch theologische Referenzen. Im Gegensatz zu den von Grubmüller in seinem Aufsatz angeführten Belegstellen entwickelt sich die Analyse des Neids nicht anhand biblischer Vorbilder. Stattdessen wird n„t im Folgenden als Relation charakterisiert. Im Einklang mit Kathrin Webers Definition von Neid als ›sozialer Situation‹ versteht ihn Gottfried als trianguläres Verhältnis: Die bedeutendsten Vertreter der Hofgesellschaft – die hÞrren – empfinden Tristan gegenüber n„t, weil ihm vom Hof und der Bevölkerung Þre und werdekeit zugeschrieben werden. Wie dieses neidische Dreieck im sozialen Kontext von Markes Hof ausgestaltet wird, gilt es im Folgenden zu untersuchen.

49 Die Personifikation von Emotionen stellt eine der Besonderheiten mittelalterlicher Emotionsdarstellungen dar. Zum Neid als Handlungsmotivation bei Gottfried vgl. Schultz, James A.: Why does Mark marry Isolde? And why do we care? An Essay on narrative motivation. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 61, 2 (1987), S. 206 – 222. 50 Die Lichtmetaphorik in Bezug auf Neid findet sich auch in einer der berühmtesten Predigten über den Neid. Im Anschluss an die Worte des Apostels Johannes, dass derjenige, der Hass gegenüber seinem Bruder empfinde, im Dunklen wandele, werden Neid und Eifersucht als Blindheit und Rückkehr in die Dunkelheit gedeutet. Siehe St. Cyprian: Liber de zelo et livore, 11. Eine neue Edition mit französischer Übersetzung bietet: Cyprien de Catharge: La jalousie et l’envie. Introduction, texte critique, traduction, notes et index par Michel Poirier. Paris 2008 (Sources Chr¦tiennes 519), hier: S. 90 – 93.

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Der Neid aus Perspektive der Neider Der Neid auf Þre und werdekeit legt offen, worum es den Baronen im Kern geht: um die Rangfolge am Hof. Diese wird durch Tristans Rückkehr von einer Reise, deren Erfolg mehr als unwahrscheinlich war, erneut durcheinander gebracht. Mit Tristan kehrt nicht nur der Favorit Markes,51 sondern auch der von Marke ernannte Thronfolger zurück. Zugleich gewinnt Tristan durch seine Erfolge in Irland weiter an Ruhm. Seinen Erlebnissen auf der Reise wird der Status des Wunderbaren zugesprochen, er selbst wird zum Objekt der Faszination, um das sich der Hof zuhörend sammelt. Analysiert man die soziale Situation, die Tristans Rückkehr am Hof schafft, erscheint Tristan der Hofgesellschaft zu diesem Zeitpunkt als klar überlegen. §re und werdekeit konzentrieren sich in seiner Person, alle anderen Mitglieder der Hofgesellschaft werden als Teil einer uniformen Masse beschrieben, aus der keiner namentlich hervorsticht.52 Erstaunlicherweise richtet sich das Ansinnen der Neider nun jedoch nicht darauf, selbst nach höherer Anerkennung zu streben oder Tristan die Thronfolge streitig zu machen. So wenig die Hofgesellschaft den Kampf mit Morold meidet und ihn stattdessen durch Tristan ausfechten lässt, so wenig strebt sie danach, die Neidobjekte Þre und werdekeit selbst durch Taten zu erlangen. Bezeichnenderweise fürchten sich die Barone vor dem, womit sie Tristan im Text neu beauftragen, vor der Brautfahrt nach Irland. Ein fairer Wettstreit kommt somit für sie nicht in Frage. Anstatt den Besitz des Neidobjekts anzustreben, attackieren sie in Tristan den Besitzer der von ihnen beneideten Qualitäten und versuchen so, dessen Vorrangstellung zu schwächen. Diesen Zug des Neides verdeutlichen ihre Intrigen. Die Barone richten ihre Aggression nicht einfach gegen Tristan, sondern sie gehen jeweils gegen das vor, was Tristan über sie erhebt. So richtet sich die erste Aktion der Neider gegen den Ruhm, den Tristan durch den Kampf gegen Morold und die Irlandfahrt erworben hat. Mittels einer verleumderischen Erzählung versuchen die Neider zu beweisen, dass Tristans Siege und Listen das Werk von Zauberei seien. Das, was Anlass zur Bewunderung bietet und Tristan auszeichnet, wird zu Tristans öffentlicher Diskreditierung genutzt. Die Unwahrscheinlichkeit seiner Taten soll ihn als Betrüger entlarven. Ähnlich ausgerichtet ist auch die zweite Aktion der Neider : Um sich gegen die mögliche Thronfolge Tristans zur Wehr zu setzen, 51 Vgl. zu Tristans Vorrangstellung an Markes Hof Rainer Gruenters gleichnamige Studie, die jedoch ohne überzeugende Begründung die Beziehung zwischen Marke und Tristan homoerotisch auflädt. Siehe Gruenter, Rainer: Der Favorit. Das Motiv der höfischen Intrige in Gotfrids Tristan und Isold. In: Ders.: Tristan-Studien. Herausgegeben von Adam, Wolfgang. Heidelberg 1993 (Beihefte zum Euphorion 27), S. 141 – 158. 52 Vgl. die Ankunft Tristans nach seiner ersten Irlandfahrt. Hier fällt auf, dass außer Tristan und dem König keiner der Anwesenden namentlich erwähnt wird.

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wird eine Verheiratung Markes forciert. Von dieser profitieren die Neider nicht selbst, sie verhindert jedoch den weiteren und endgültigen Aufstieg Tristans am Hof. Die neidischen Intrigen dienen folglich dazu, Unterschiede innerhalb der Hofgesellschaft einzuebnen. Die Neidobjekte Þre, werdekeit und Thronfolge markieren die Differenz zwischen Tristan und der Hofgesellschaft, auf deren Aufhebung die Neider mit ihren Handlungen hinwirken. In ihrem Neid streben die Barone nicht danach, so zu sein wie Tristan. Sie wollen, dass er so ist wie sie.

Der Neid in seinen Auswirkungen auf den Beneideten Versuchen die Neider Unterschiede abzubauen, verweist ihr Neid für die Parteigänger Tristans umgekehrt gerade auf dessen Überlegenheit. Um Tristan die Furcht vor dem Neid zu nehmen, stellt Marke einen direkten Zusammenhang zwischen der Größe des Neides und dem Wert eines Menschen her und nimmt so eine positive Bewertung des Neides vor. In vier aufeinanderfolgenden Satzpaaren nähert Marke im Gespräch mit Tristan Neid und Ansehen einander an. Er stellt zunächst nüchtern fest, dass Neid und Hass eine nicht zu vermeidende und leidvolle Begleiterscheinung des Ansehens sind (TR, V. 8395 f.), um beide in ihrer Relation zueinander im nächsten Satz neu zu gewichten. Neid und Hass begleiten nicht nur gesellschaftliche Ehrbezeugungen, die Anerkennung nimmt nur so lange zu, wie Hass und Neid sie begleiten: ›[…] der man der werdet al die vrist,/ die w„le und er geniten ist […]‹ (TR, V. 8397 f.). Mit diesen Worten setzt er eine wechselseitige Beziehung, in der Neid und Ansehen nicht ohne einander existieren können. Die Idee wird im nächsten Satzpaar auf bildlicher Ebene weiter entwickelt: ›[…] wirde unde n„t diu zwei diu sint/ rehte alse ein muoter unde ir kint […]‹ (TR, V. 8399 f.). Im Vergleich mit der Elternschaft imaginiert Marke Neid und Ansehen in einer der engsten und unaufkündbarsten aller möglichen Bindungen. Zugleich wird ihre Beziehung in den Rang eines Naturgesetzes erhoben. Neid geht, wie Marke betont, wie im biologischen Prozess der Geburt stets – alle z„t (TR, V. 8401) – aus dem gesellschaftlichen Ansehen hervor.53 Eine Erklärung für die erstaunliche Engführung der negativen Emotion mit höchster gesellschaftlicher Anerkennung folgt im letzten Satzpaar. Dieses baut sich aus einer rhetorischen Frage und ihrer Beantwortung auf. Marke fragt, wer mehr Hass auf sich ziehe, als ein saelige[r] man (TR, V. 8404). Damit impliziert 53 Diese erstaunliche Nähe wird auch grammatikalisch umgesetzt. Im ersten Glied des Satzpaares bilden die beiden Wörter wirde und n„t das Subjekt, darauf folgend werden sie im Relativpronomen diu zusammengefasst, so dass ihre Zusammengehörigkeit auch durch den Satzbau unterstrichen wird.

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er, es gebe keinen anderen Menschen, der eine so starke Attraktion auf den Neider ausübe wie der Glückbegnadete, der mit Ansehen Ausgezeichnete. Marke definiert die Beziehung von Neid und Ansehen folglich als singulär. Zugleich lässt er Tristan – wie auch den Leser – die Antwort auf die rhetorische Frage selbst geben, um beiden in Folge die Konsequenz ihrer Schlussfolgerung vor Augen zu führen. Da diese Bindung so stark ist, ist ›[…] diu saelde […] arm unde swach,/ diu nie dekeinen haz gesach […]‹ (TR, V. 8405 f.). Neid gilt hier als das sicherste Zeichen des Ansehens und des verdienten Glücks. Neid ist nicht mehr eine unangenehme Begleiterscheinung, er ist der einzige, der Vorbildhaftigkeit und Erfolg garantieren und sichtbar machen kann. Deshalb soll Tristan keine Angst mehr vor dem Neid der Hofgesellschaft haben; deshalb dürfen die negative Emotion und die Tugend in Markes Rede nebeneinander stehen. Als Verweis auf Tristans Vorzüge markiert Neid in Markes Rede zugleich die Differenz zwischen Tristan und der Hofgesellschaft. Wie die von Marke in seiner Rede verwandten Vokabeln der biderbe (›der Tüchtige‹, TR, V. 8396), wirde (›Ansehen‹, TR, V. 8399) und saelig (›glückbegnadet‹, TR, V. 8404) zeigen, deutet Marke den Neid der Barone als Auszeichnung Tristans, die seine Besonderheit, seine Tugenden in Abgrenzung vom Rest der Hofgesellschaft unterstreicht. Dass die Hofgesellschaft als Gegenpol zu Tristans Vorzügen immer mitgedacht wird, zeigt der Fortgang von Markes Rede. Hier wird Tristan nicht nur davor gewarnt, dass ein Leben der Harmonie mit den Neidern nur dann erreicht werden könne, wenn man sich an sie und ihre Verderbtheit anpasse. Auch die Ermahnung, seine Vorbildhaftigkeit, seinen húhe[n] muot (TR, V. 8417), zu bewahren, erfolgt in expliziter Abgrenzung von den Taten Anderer. Der húhe muot wird als Kontrast gedacht zu dem, swaz ieman getuo (TR, V. 8415). Tristan und die Hofgesellschaft treten so weiter auseinander, das Sprechen über Neid positioniert sie in Opposition zueinander.

Die soziale Struktur des Neids: Der Vergleich als Basis des Neids im »Tristan« Neid folgt im »Tristan« implizit einer Logik des Vergleichs. Obwohl Neider und Beneideter auf dem Höhepunkt der Konfrontation einander weder in den Erzählerkommentaren noch in den Figurenreden explizit gegenübergestellt werden, wird Neid in Konflikte der gesellschaftlichen Differenzierung eingebunden. Zum einen werden die Neidobjekte nicht begehrt, sondern funktionieren als Unterscheidungsmerkmal zwischen den Neidern und dem Beneideten. Neid geht in Missgunst über und zielt auf die Zerstörung des Vorteils des Anderen. Zum anderen markiert Neid, wie Marke deutlich macht, Tristans Ausnahmeposition und Überlegenheit noch stärker. Neid wird zur Profilbildung der Figur in Abgrenzung von der Gruppe genutzt, sodass an dieser Stelle deutlich wird,

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welche Funktion der Emotion innerhalb der Erzählung zukommt: Über Neid werden im »Tristan« Unterschiede zwischen den Figuren markiert und verhandelt. In diesem Austarierungsprozess kommt der Emotion eine paradoxe Eigendynamik zu. In dem Augenblick, in dem Tristan die neidischen Aggressionen gegen sich bemerkt und Marke über diese berichtet, wird der Neid für Außenstehende lesbar und interpretierbar. Dies führt nicht nur dazu, dass Marke ebenso wie die Rezipienten die verleumderischen Reden der Intriganten im Folgenden entschlüsseln können. Markes Rede offenbart auch einen besonderen Widerspruch der Emotion Neid: Sie, die Unterschiede einebnen will, kann die Überlegenheit des Anderen für die Umwelt gerade noch stärker hervorheben. Wird Neid gelesen, verwandelt er sich in ein Zeichen dessen, was er zu vernichten sucht.

V.

Neid als Kehrseite der Bewunderung

Der neidische Hass der Barone Neid wird in Gottfrieds »Tristan« als gefährliche Aggression eingeführt. Wie die als n„t bezeichnete soziale Situation emotional besetzt ist, macht der Erzähler im Kontext von Tristans möglicher Thronfolge deutlich. In Reaktion auf die Ankündigung Markes, nicht zu heiraten, solange Tristan lebe, wird der n„t mit der feindseligen Emotion des hazzes54 gekoppelt: hie mite wart aber des hazzes mÞ,/ des n„des aber dú mÞ dan Þ,/ den si Tristande truogen […] (TR, V. 8365 – 8367). Haz und n„t werden durch die parallel verlaufende Steigerung eng miteinander verknüpft. Mit dem Hass der Hofgesellschaft wächst auch der Neid, sodass beide als gegeneinander austauschbar erscheinen. Wenige Verse später werden haz und n„t dann sogar in einer Doppelformel miteinander verbunden. Haz und n„t sind Folge des Ansehens des Beneideten (TR, V. 8401 f.). Sie erscheinen synchron und lassen sich nicht auseinanderrechnen. Die Gebärden und Worte der Neider bestätigen den aggressiven Charakter des Neides. Sie machen Neid für Außenstehende sichtbar, sodass Tristan seine Ermordung zu fürchten beginnt. Der Hass der Neider löst auf diese Weise eine weitere Emotion aus: Tristans Furcht (TR, V. 8374) und sorgen (TR, V. 8375) antworten direkt auf den haz (TR, V. 8365) der Neider und verlagern den Fokus vom Neider auf den Beneideten. Während Tristans Innenleben im Gespräch mit 54 haz wird in Lexers mittelhochdeutschem Handwörterbuch als »feindselige gesinnung oder handlung, hass allgem.« übersetzt. Siehe LEXER, Matthias: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Bd. 1. Leipzig 1872, Sp. 1196 f.

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Marke in Folge für den Rezipienten ausgeleuchtet wird, bleiben etwaige Emotionen der Neider, die über den Hass hinausgehen, unbekannt. Weder von Gefühlen der Minderwertigkeit, der Trauer noch vom Begehren des Neidobjekts ist die Rede. Es rücken somit diejenigen Emotionen in den Vordergrund, die Tristan als Beneideten betreffen. Die Erzählung beschreibt Neid vor allem in seinen Wirkungen, sie inszeniert ihn als Bedrohung für den Protagonisten.

Bewunderung als trianguläre Emotion Die Rückkehr Tristans aus Irland ist nicht die erste Situation, in der die Hofgesellschaft mit dessen Überlegenheit konfrontiert ist. Schon kurz nach Tristans Ankunft richtet sich die Aufmerksamkeit der Adeligen auf Tristan als vollkommenen Musiker und Sprachkünstler. Wie Stephen Jaeger und Martin Baisch herausgearbeitet haben, bestaunen die Höflinge Tristan als menschliches Wunder,55 Tristans Vorführung fremdländischer Musik und die Mannigfaltigkeit der von ihm beherrschten Sprachen bannt das höfische Publikum während eines geselligen Zusammenseins derart, dass Ohr und Herz »aus dem Takt« geraten, die Attraktion des Gehörten den eigenen Namen vergessen macht.56 Bedingt durch die unbedingte Anziehungskraft, die von der zur Schau gestellten vuoge (TR, V. 3705), der Kunstfertigkeit Tristans, ausgeht, stellt sich in Folge auch die Frage nach dem Verhältnis zu ihrem Besitzer neu. Im Anschluss an die Vorführung künstlerischer Perfektion beschreibt der Erzähler eine trianguläre soziale Situation, die auf den ersten Blick viel mit Neid gemein hat: Nicht wenige Mitglieder der Hofgesellschaft sehnen sich nach Tristans Fähigkeiten, viele wünschen sich wie Tristan zu sein: d– begunde sich manc herze senen n–ch Tristandes vuoge. d– wolten genuoge vil gerne s„n gewesen als er. im sprach vil maneges herzen ger suoze und innecl„che zuo: ›– Tristan, waere ich alseduo![…]‹ (TR, V. 3704 – 3710)

55 Vgl. Jaeger, Stephen: Wunder und Staunen bei Wolfram und Gottfried. In: Inszenierungen von Subjektivität in der Literatur des Mittelalters. Hg. v. Baisch, Martin u. a. Königsstein 2005, S. 122 – 139, hier : S. 128. 56 Siehe Baisch, Martin: Faszination als ästhetische Emotion im höfischen Roman. In: Machtvolle Gefühle. Hg. v. Kasten, Ingrid. Berlin 2010 (Trends in Medieval Philology 24), S. 139 – 166, hier: S. 152.

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Der Erzähler gruppiert die Hofgesellschaft in Form einer Dreiecksbeziehung, in der sich Tristan durch das Gut der vuoge deutlich von der Gruppe unterscheidet und die Gruppe die von ihm besessenen Fähigkeiten begehrt. Das senen der Hofgesellschaft nach der Bildung Tristans besitzt hier jedoch keinen aggressiven, gegen den Inhaber gerichteten Charakter. Traditionell wird senen in Wortverbindungen verwandt, die ein schmerzliches Verlangen bezeichnen, was bei Benecke, Müller und Zarncke zur Übersetzung als ›seelenschmerz‹ führt.57 Nach Lexer kann es jedoch auch ein aktives Verlangen bezeichnen, das nicht in jedem Fall von Leiden geprägt ist.58 Wie das in Christoph Hubers Studie zur »Sehnsucht und Autonomie der Liebe« angeführte Textkorpus zeigt, wird das Emotionswort im »Tristan« meist im Kontext der Minneerfahrung verwandt.59 Folgt man Huber, dann besitzt das senen auch an dieser Stelle eine erotische Komponente. Tristan ziehe das Publikum mit seiner Musik an sich, sodass alle Künstler sein wollten wie er.60 Das senen lässt sich folglich als Liebe zu den ästhetischen Fähigkeiten deuten. Im Anschluss an die Erfahrung absoluter Perfektion überträgt sich die Faszination des Publikums in den Wunsch, wie Tristan zu sein. Dabei bleibt, wie das im Kontext der Begierde verwendete Vokabular suoze und innecl„che zeigt, der während der Aufführung aufgebaute Zustand des Berührtseins durch die vuoge erhalten. Die Emotion richtet sich nicht direkt auf Tristan, seine Überlegenheit steht nicht im Zentrum, vielmehr konzentriert sich die Emotion ganz auf Tristans Kunstfertigkeit. Sein Zustand wird deshalb als wünschenswert empfunden, weil er über die vuoge in Gänze verfügt: ›[…] Tristan, dir ist der wunsch gegeben/ aller der vuoge, die kein man,/ ze dirre werlde gehaben kan.‹ (TR, V. 3712 – 3714). In diesen Worten wird Tristan weniger als Person adressiert denn als Sammelpunkt höfischer Fähigkeiten. In den Reden der Hofgesellschaft über ihn – er selbst spricht zu diesem Zeitpunkt bezeichnenderweise nicht – häufen sich die Superlative. Tristan verfüge über aller der vuoge (TR, V. 3713), er beherrsche al die liste, die nu sint (TR, V. 3720). Selbst der König sucht seine Freundschaft mit der Begründung: ›[…] d˜ kanst allez, daz ich wil:/ jagen, 57 Die Übersetzungsvorschläge für sene lauten »leide seelenschmerz, gräme, härme mich, besonders von liebespein gebraucht«. Vgl. Benecke, Georg F., Müller, Wilhelm u. Zarncke, Friedrich: Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Neudruck der Ausgabe Leipzig 1854 – 1866. Hildesheim 1963, Bd. 2, Sp. 250. 58 In Lexers Handwörterbuch finden sich die Bedeutungen »sehnen, härmen, liebendes oder schmerzliches Verlangen empfinden«. Siehe Lexer, Matthias: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Leipzig 1876, Bd. 2, Sp. 877. 59 Huber, Christoph: Sehnsucht und Autonomie der Liebe. In: Der Tristan Gottfrieds von Straßburg. Symposion Santiago di Compostela 2000. Hg. von Huber, Christoph u. a. Tübingen 2002, S. 339 – 356, hier: S. 343 – 349. 60 Huber [Anm. 59], S. 356.

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spr–che, seitspil […]‹ (TR, V. 3723 f.). Gemeinsam ist allen Äußerungen, dass sie Tristan die Gesamtheit höfischer Fähigkeiten zusprechen. Die Reaktion der Hofgesellschaft wird genutzt, um Tristan zum ästhetischen Ideal zu stilisieren. Angesichts der Mannigfaltigkeit der von Tristan repräsentierten Fähigkeiten, scheint eine feindliche Haltung gegenüber dem Protagonisten nicht möglich. Tristan gegenüber aggressiv aufzutreten, würde bedeuten, zentrale höfische Werte in Frage zu stellen. In der Erzählung folgt dementsprechend auch nicht der Angriff auf Tristan. Stattdessen stellt der Erzähler einen direkten Zusammenhang zwischen Tristans Idealität und einer gesteigerten Zuneigung und Wertschätzung des Hofes für ihn her : Was Tristan tut und spricht daz d˜hte und was ouch alse guot,/ daz ime diu werlt holden muot/ und innecl„chez herze truoc (TR, V. 3747 – 3749). Diese Wertschätzung äußert sich auch in den Handlungen der Hofgesellschaft. Tristans Fähigkeiten werden gerühmt und die Wahrnehmung und Anerkennung seiner Ausnahmestellung mit dem Ruf ›húr–! […] húr–!‹ (TR, V. 3717) eingefordert. Dem Wunder von Tristans Darbietung entspricht das michel wunder (TR, V. 3716), das ihre Rede verbreitet. Die anfangs beschriebene trianguläre Situation lässt sich vor diesem Hintergrund als Anerkennung oder sogar Bewunderung deuten: Tristan (als Bewunderter) verfügt über Güter (Objekte der Bewunderung), die die Gesellschaft (die Bewundernden), in der er sich aufhält, wertschätzt, aber selbst nicht besitzt. Im Gegensatz zum Neid wird das Dreiecksverhältnis in diesem Fall mit positiven Emotionen verknüpft. Der Besitz des hohen Bildungsguts löst bei der Hofgesellschaft Anerkennung und Zuneigung aus. Alle wollen wie Tristan sein und sie wollen nicht umgekehrt, dass Tristan ist wie sie. Die Wertschätzung Tristans folgt dabei der Attraktion der von ihm verkörperten Fähigkeiten. Die Emotion der Bewunderung ist ursprünglich auf die von Tristan besessenen Güter gerichtet und wird erst von dort aus auf Tristan übertragen.61

61 Diese Übertragung von Wertschätzung zeigt sich auch sprachlich. Bezeichnet die Vokabel innecl„ch (TR, V. 3709) zunächst die Intensität der Begierde nach der vuoge Tristans, nach dem von ihm besessenen Gut, wird sie später im Ausdruck innecl„chez herze (TR, V. 3749) auf Tristan selbst angewendet.

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Neid als Kehrseite der Bewunderung Neid ist versteckte Bewunderung. Ein Bewunderer, welcher spürt, daß er durch Hingabe nicht glücklich werden kann, er erwählt es, auf das neidisch zu werden, das er bewundert.62

Für den dänischen Philosophen und Schriftsteller Søren Kierkegaard stehen Bewunderung und Neid in einem engen Zusammenhang: Bewunderung geht Neid voraus, sie liegt ihm zugrunde. Das einzige, was den Neider und den Bewunderer voneinander unterscheidet, ist die Emotion und das Verhalten gegenüber der Person, die das begehrte Gut besitzt: Die Hingabe weicht dem Neid. Ein ähnliches Beziehungsgeflecht wird im »Tristan« Gottfrieds von Straßburg entworfen. Vergleicht man die Schilderung der Bewunderung mit der des Neides, fällt auf, dass die Emotionen spiegelbildlich zueinander aufgebaut sind. Beide Emotionen werden im Text zwar als trianguläre soziale Beziehungen beschrieben: Sowohl der Neid als auch die Bewunderung werden in Situationen verortet, in denen Tristan im Gegensatz zur Hofgesellschaft über begehrenswerte Güter verfügt. Es handelt sich in beiden Fällen um Distinktionsgefühle, in denen Situationen der Unterlegenheit thematisiert werden.63 Die Hofgesellschaft reagiert auf die Differenz aber nicht auf dieselbe Art und Weise. So reden Bewunderer wie Neider in der Öffentlichkeit über Tristans Besitz der begehrten Güter. Während die Rede der Bewunderer jedoch der Vergrößerung des Ansehens Tristans gilt, sprechen die Neider, um das Ansehen Tristans zu beschneiden. Auch die emotionalen Reaktionen differieren. Charakterisiert der Erzähler die Emotion der Bewunderer als senen, ist die der Neider von haz bestimmt. Die beschriebene oppositionelle Anlage beider Emotionen legt es nahe, Neid im Tristan als Negativ, als Kehrseite der Bewunderung zu lesen. Diese Deutung wird nicht zuletzt auch durch den gewählten Erzählmodus bekräftigt. Im Gegensatz zur Bewunderung offeriert der Erzähler für den haz der Hofgesellschaft keine Innenperspektive. Während die Bewunderer Ihren Wunsch nach und ihre Liebe zu den von Tristan besessenen Gütern aussprechen und so für den Leser nachvollziehbar und erlebbar machen,64 wird der neidische haz konsequent von außen anhand seiner Wirkungen geschildert. Eine solche Wahl des Erzählmodus lässt sich auch als Akt der Wertung verstehen. Das senen darf vom Rezipienten 62 Kierkegaard, Søren: Die Krankheit zum Tode. Aus dem Dänischen von Emanuel Hirsch. Gesammelte Werke. Hg.v. Hirsch, Emanuel und Gerdes, Hayo. Abt. 24/25. München 41992, S. 85. 63 Burkart [Anm. 4], S. 162 – 166. 64 Der Ruf húra! […] húra! (TR, V. 3717) lässt sich sogar als Einladung an den Rezipienten deuten, die Bewunderung der Hofgesellschaft zu teilen. Der Imperativ entfaltet eine appellative Kraft, die sowohl das Publikum im Text als auch den Rezipienten, welcher durch den Erzähler vorher ausführlich über Tristans Fähigkeiten informiert wurde, einbezieht.

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nachvollzogen werden, dem haz soll man sich hingegen nur von außen nähern. Die in der zweiten Textstelle verwandte Lichtmetaphorik verstärkt diese Negativierung noch. Neid wird als Vorgang des betrüeben (TR, V. 8322) beschrieben, eine Vokabel, die zugleich auf einen vorherigen Zustand des Lichts, des höfischen Ideals der clarheit verweist. Das Aufkommen des Neids wird im »Tristan« folglich als doppelter Umschlagspunkt inszeniert: als einer der Emotionen und einer der Wertungen. Der Wechsel ist dabei Werk eines Moments. Obwohl Gottfried durchaus auch psychologische Formen der Motivierung kennt, werden diese nicht genutzt. Im Gegensatz zu Kierkegaards Schilderung ist der Neid auch kein Produkt der bewussten Entscheidung eines Enttäuschten. Vielmehr tritt der verw–zene n„t als äußere Macht unter die Hofgesellschaft und veranlasst eine Änderung der Einstellungen und Verhaltensweisen der Barone. Die Barone staunen über Tristans Erlebnisse in Irland, biz sich diu veige unmüezekeit,/ der verw–zene n„t,/ […] under in begunde üeben (TR, V. 8318 – 8321). Durch die Personifikation wird dem Neid Handlungsfähigkeit zugesprochen. Er agiert als eine Art Furor, der die Verkehrung (der triangulären Situation) befiehlt und veranlasst. Dies hat zur Folge, dass nicht die Ursachen des Neids im Vordergrund stehen, stattdessen wird die Macht des Neides betont, Begehren in Aggression, nachahmenswerte in verachtenswerte Verhaltensweisen und Licht in Dunkel zu verwandeln. Neid wird zur verändernden Kraft stilisiert, die soziale Beziehungen um- und verformt.

VI.

Neid als Katalysator gesellschaftlicher Umstrukturierungen

Gestörte Hierarchien – Neid als Krisenphänomen Tristan hat drei verschiedene Väter, und damit ist er verpflichtet auf drei verschiedene Identitäten, auf drei Manifestationen aristokratischen Rechts, denen er Kontinuität verschaffen soll. […] Tristan ist nicht mehr eindeutig definiert durch einen einzigen gesellschaftlichen Ort; er ist im herkömmlichen Sinne nicht mehr fraglos einzuordnen.65

Drei Väter werden Tristan im Laufe der Erzählung zugeordnet, drei verschiedene Identitäten werden für ihn entworfen. Jede davon impliziert, wie Horst Wenzel ausführt, einen anderen Status mit anderen Verpflichtungen und Zielen.66 Die 65 Wenzel, Horst: Negation und Doppelung. Poetische Experimentalformen von Individualgeschichte im ›Tristan‹ Gottfrieds von Straßburg. In: Wege in die Neuzeit. Hg. v. Cramer, Thomas. München 1998 (Forschungen zur Geschichte der Älteren deutschen Literatur 8), S. 229 – 251, hier: S. 238. 66 Siehe Wenzel [Anm. 65], S. 238.

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Folgen, die diese Väter-Verwirrung für Tristans Identitätsfindung hat, wurden in der jüngeren Forschung ausführlich diskutiert. So geht Monika Schausten davon aus, dass Tristan keine stabile soziale Identität besitzt, sondern sein Ich erzählend immer wieder neu in Anpassung an die äußeren Erfordernisse konstruiert.67 Ähnlich argumentiert auch Nicola Zotz: Dadurch, dass Tristan auf mehrere Väter bezogen ist, werde seine Andersartigkeit markiert. Seine Trauer über den Verlust des vaterw–ns lasse sich so auch Erkenntnis des Alleinstehens und als Initiation ins Erwachsenenleben deuten.68 Beide Forschungsbeiträge erhellen, was die Väter-Verwirrung für den Protagonisten bedeutet. Die Frage, wie sich Tristans unklarer gesellschaftlicher Status auf die höfische Gesellschaft auswirkt, die ihn von außen beobachtet, bildet hingegen in der Forschung einen blinden Fleck. Dies ist angesichts der späteren Konflikte zwischen Tristan und den Baronen erstaunlich. Um zu prüfen, ob und wie der Neid mit Tristans schillernder Identität zusammenhängt, soll hier probeweise versucht werden, eine Außenperspektive auf die von Wenzel, Schausten und Zotz beschriebene Identitätsproblematik zu rekonstruieren. Ziel dieses Vorhabens ist es nicht, Kausalitäten des Neids aufzuzeigen. Wie im vorangegangenen Kapitel gezeigt wurde, wird dieser nicht psychologisch entwickelt. Ziel ist es vielmehr den gesellschaftlichen Hintergrund, vor dem sich Neid entfalten kann, offenzulegen. Tristans Status befindet sich in steter Veränderung: Lernt die Hofgesellschaft Tristan aufgrund seiner Täuschung als Kaufmannssohn kennen (TR, V. 3097 – 3123), wird er durch seine herausragenden Fähigkeiten Teil des königlichen Gefolges (TR, V. 3394 f.), Marke macht ihn zum Jägermeister (TR, V. 3370) und zu seinem persönlichen Harfner (TR, V. 3652 – 3654). Bald schon nennt ihn der König geselle (TR, V. 3725), er will seinen Favoriten wie einen ebenbürtigen Freund nun stets an seiner Seite wissen (TR, V. 3721 – 3741) und vertraut ihm seine Waffen an (TR, V. 3737 – 3739). Mit Ankunft Ruals am Hof und der Aufklärung seiner Herkunft steigt Tristan dann zum zukünftigen Herrscher Parmeniens auf (TR, V. 4457 – 4459, V. 5186 – 5199), ein Erbe, das er aufgibt, um Marke auf den Thron zu folgen (TR, V. 5152 – 5161, V. 5782 – 5811). Mit den Veränderungen des persönlichen Status Tristans geht ein ebenso rascher Wechsel der Hierarchien am Hof von Cornwall einher : Als Kaufmannssohn ist Tristan den Baronen unterlegen; als Favorit des Königs genießt er Anerkennung und Bewunderung (TR, V. 3745 – 3750); als hÞrre (TR, V. 5286)

67 Schausten, Monika: Ich bin, alse ich h–n vernomen, ze wunderl„chen maeren komen. In: PBB 123, 1 (2001), S. 24 – 48, hier : S. 24 – 48. 68 Zotz, Nicola: Vaterverlust oder Vatergewinn. Rual zwischen Riwalin und Marke. In: Das Abenteuer der Genealogie. Vater-Sohn-Beziehungen im Mittelalter. Hg. v. Keller, Johannes u. Mecklenburg, Michael. Göttingen 2006 (Aventiuren 2), S. 87 – 103.

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Parmeniens verfügt er schon über einen den Baronen überlegenen Adelstitel,69 bis er schließlich durch Markes Erbfolgeregelung ihr zukünftiger Herrscher wird und sie aus dieser Position heraus ihrer Feigheit im Widerstand gegen Morold wegen tadelt (TR, V. 6063 – 6134). Tristan durchbricht auf diese Weise die Ordnung des Ständesystems. Seine gesellschaftliche Position wird ständig neu bestimmt. Status und Rang klaffen zunächst auseinander und lassen sich erst am Schluss in Einklang bringen.70 Wie die Hofgesellschaft die Veränderungen der höfischen Hierarchien wahrnimmt, bleibt zunächst im Dunkeln. Die zentralen Verse, in denen Rual Tristan seine Herkunft offenbart, Tristan seinen vaterw–n (TR, V. 4372) verliert und Marke sich als Ersatzvater Tristans anbietet, werden in Form eines Gesprächs zwischen Tristan, Rual und Marke erzählt. Der Hof spielt dabei eine das Geschehen zwischen den Dreien bekräftigende und legitimierende Rolle: Er rätselt mit Marke über Tristans Identität (TR, V. 4165 – 4170), vollzieht die Liebesgeschichte von Tristans Eltern mitleidend nach (TR, V. 4218 ff., 4264 f.), lobt die Vasallentreue Ruals (TR, V. 4280 – 4282) und unterstützt Marke in seinem Drängen auf die Ritterschaft Tristans (TR, V. 4399 – 4401). Nirgends wird der Umbruch der höfischen Hierarchien von der Hofgesellschaft reflektiert oder gar Tristans neue Position kritisiert. Vielmehr wirkt die Hofgesellschaft, wie Elke Koch in ihrer Studie zur Trauer gezeigt hat, durch den Nachvollzug von Ruals Trauer über den Tod von Riwalin und Blanscheflur an der Rehabilitation der Eltern Tristans mit.71 Erst als Tristan geheilt und mit neuem Ruhm aus Irland zurückkehrt, wendet sich die Hofgesellschaft gegen ihn. Vor dem Hintergrund der stetigen Veränderung von Tristans Status lässt sich der Neid der Barone nicht allein als Eingriff einer äußeren Macht verstehen. Dass die Barone trotz Markes rechtlich bindender Herrschaftsübertragung72 die Erbfolge diskutieren, zeigt auch, dass Tristans Erhöhung zum Thronfolger vom Hof nicht als endgültig akzeptiert worden ist. Der Vorschlag der Barone an Marke, sich zu verheiraten und auf diese Weise einen Erben zu zeugen (TR, V. 8350 – 8357), verweist auch auf Tristans Mängel als Thronfolger : Tristan ist im Gegensatz zu dem anvisierten 69 Über Tristans Vater, den Herrscher Parmeniens, heißt es, er sei an gebürte künege genúz,/ an lande vürsten ebengrúz (TR, V. 249 f.). Die Barone sind hingegen lediglich Vasallen Markes. 70 Vgl. zum ständigen Wechsel von Tristans Status: Wenzel [Anm. 65], S. 238. 71 Koch, Elke: Trauer und Identität. Inszenierungen von Emotionen in der deutschen Literatur des Mittelalters. Berlin, New York (TMP 8), S. 252 – 254. 72 Marke fordert Tristan nach seiner Ankündigung, für ihn der erbev–ter (TR, V. 4301) sein zu wollen, zum Friedenskuss auf. Er verstärkt seine Aussage so durch ein Ritual, das rechtlich bindende Wirkung hatte. Vgl. Greulich, Markus: Waz h–n wir zuo gesinde? Vom Erscheinen Tristans in Gottfrieds von Strassburg Tristan. In: H¦ros ¦pique et h¦ros romanesque au Moyen Age. Actes du Colloque d’Amiens. Hg. v. Hvilhoy Andersen, Peter u. Buschinger, Danielle. Amiens 2004, S. 12 – 21, hier: S. 16.

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Thronfolger nicht das Kind Markes, er ist nicht am Hof als Thronfolger aufgewachsen, sein Erbrecht ist durch die fehlende Heirat seiner Eltern zum Zeitpunkt seiner Zeugung strittig.73 Der neidische Vorschlag kehrt folglich heraus, dass Tristans Position am Hof nicht gefestigt ist. Im Nachhinein wird Kritik an Tristans Status am Hof geübt, seine Thronfolge wird als verhandelbar begriffen. Tristans Identitätsproblem ist nun nicht mehr nur sein eigenes, der Hof hat ebenfalls Probleme mit seiner sozialen Identität. Dass Tristans Status als Thronfolger trotz des Erbfolgeversprechens überhaupt zur Debatte steht, offenbart, dass die Hierarchien am Hof unsicher geworden sind. Wer welche Position am Hof innehat, ist nicht mehr durch die Tradition vorbestimmt. In Tristan tut sich ein Aufsteiger als Bester im höfischen Wettbewerb hervor,74 bei dem Rang und Status für den außenstehenden Beobachter lange auseinanderfallen. Das, was in der Forschung als Identitätsproblem Tristans beschrieben wird, kann man aus Perspektive von Markes Hof so auch als Krise höfischer Hierarchien lesen. Durch die komplizierte Lebensgeschichte von Tristans Eltern existiert zum einen kein klarer Übergang von einer Generation zur nächsten, die genealogische Ordnung ist gestört und muss erst performativ wiederhergestellt werden. Zum anderen verfügt Tristan durch seine Fähigkeiten innerhalb der höfischen Hierarchien über eine Mobilität, die keiner anderen Figur zugestanden wird. Wo alternative Identitäten wie die des Thronfolger Parmeniens denkbar sind, wo Positionen am Hof ständig wechseln, da werden einfache Vorstellungen über das Verhältnis von durch die Geburt festgelegten Status und dem diesen repräsentierenden, aktualisierenden Rang verunsichert. Der Neid der Hofgesellschaft verweist so auf die Krise eines Hofs, in der das Aushandeln von Rang, das nach Harald Haferland als Teil der agonal strukturierten höfischen Gesellschaft immer mitgedacht werden muss,75 ins Extrem geführt wird: Tristans Position im höfischen Gefüge erscheint erst radikal veränder- und dann im gleichen Maß verhandelbar. Der Neid der Barone lässt sich dementsprechend auch als ein Zeichen der Brüche lesen, die Tristan als Ausnahmefigur in der höfischen Ordnung hervorruft.76 73 Dass sein Erbrecht durch die Umstände seiner Geburt strittig ist, wird im Text eingehend thematisiert. Der Widersacher seines Vaters, Morgan, wirft Tristan vor, unehelich geboren zu sein und spricht ihm das Recht auf das Lehen Parmenien ab (V. 5397 – 5413). 74 Vgl. zum Neid als Folge von Tristans Aufstieg: Haferland, Harald: Höfische Interaktion. Interpretationen zur höfischen Epik und Didaktik um 1200. München 1989 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 10), S. 87. 75 Für Haferland steht der Wettbewerb um Ehre, der Kampf und das Aushandeln von Rang im Zentrum der höfischen Epik. Diese entwerfe eine symbolische Ordnung, in der der Ritter seinen Status nicht einfach genießen könne, sondern immer auch als Rang präsentieren und aktualisieren müsse. Vgl. Haferland [Anm. 74], S. 73 – 120, insbesondere: S. 88 – 100. 76 Der Neid der Hofgesellschaft lässt sich nicht nur retrospektiv im Hinblick auf Tristans Aufstieg zum Thronfolger als Zeichen der Krise verstehen. Er weist auch voraus auf die

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Neidbewältigung als Aushandeln von Hierarchien Neid verweist, so meine These, jedoch nicht nur auf eine Störung der gesellschaftlichen Hierarchien; an Markes Hof leitet die Emotion zugleich gesellschaftliche Umstrukturierungen ein. Diese sind kein Produkt physischer Gewalt, die Partner des neidischen Dreiecks diskutieren und probieren unterschiedliche Entwürfe der Verfasstheit der Hofgesellschaft aus. Ich möchte sowohl die vollzogenen als auch die mündlich verhandelten Gruppenumbildungen am Hof beschreiben und analysieren, um die Rolle zu verstehen, die Neid bei der Bewältigung der Krise spielt, in die Tristan die höfischen Hierarchien gestürzt hat. Auf der Ebene der Handlung wirkt der Neid der Hofgesellschaft zunächst dissoziierend. Er hebt sich deutlich von der Bewunderung des Hofs für Tristan nach dessen Rückkehr aus Irland ab. Die Faszination für Tristan wird dort als Moment der Zusammengehörigkeit inszeniert. Marke und die Landbevölkerung lauschen Tristans Erzählungen nicht als passives Publikum, im Staunen über die Klugheit seiner Listen und die Schönheit Isoldes tritt die Hofgesellschaft miteinander in Verbindung, was durch das gemeinsame Lachen und Scherzen sowie die Subjektdoppelformel künec unde hof (TR, V. 8316) bestätigt wird.77 Tristans Ankunft mündet in eine Szene, in der der Erzähler das Figurenpersonal in auffälliger Weise sprachlich gruppiert. König und Hof bilden eine Einheit, in der Tristan als Integrationsfaktor fungiert: künec unde hof die w–ren dú/ ze s„nem willen gereit (TR, V. 8316 – 8317). Diese Einheit wird jäh durch den Neid aufgebrochen. Die Emotion macht die vorher verborgene Störung der gesellschaftlichen Hierarchien als Dissoziation der Gesellschaft sichtbar. Aufgrund des verw–zene[n] n„t verleumden die Barone Tristan und versuchen ihm sein Erbrecht zu nehmen. Dass Personalpronomen si (TR, V. 8328) bezieht sich so nicht mehr auf die Einheit von künec unde hof, es beschreibt nun den gegen Tristan handelnden Hof. Gleichzeitig tritt der König den Intriganten feindlich gegenüber. Er betätigt sich als Beschützer Tristans und will ihn auch gegen den Widerstand der Herzöge zu seinem Nachfolger machen. Mit dieser Rollenverteilung ändern sich innerhalb von wenigen Versen die Beziehungen der Figuren zueinander grundsätzlich. Neid strukturiert das Figurenarsenal um: Zum einem formiert sich die Partei der Neider. Zum anderen Problematik der Tristan-Minne, in der dem Besten der Hofgesellschaft die schönste Frau zukommt und auf diese Weise die höfische Ordnung gestört wird. Für den Hinweis auf diese Funktion des Neids als Vorausdeutung danke ich Ingrid Kasten. 77 Das einheitsstiftende Staunen ist kein singuläres Phänomen des »Tristan«. Beispielsweise sorgt das Staunen über die orientalischen Wunder im »Herzog Ernst« für die Versöhnung des Kaisers mit dem Herzog. Im »Reinfried von Braunschweig« führt die Nachricht der Ankunft wunderbarer Geschenke aus Indien zu einer Versammlung aller Altersstufen und Gesellschaftsschichten, die gemeinsam die frömden wilden wunder (V. 26235) schauen.

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bildet sich in Opposition zu ihr mit Marke und Tristan eine Partei des Beneideten aus. Die Dissoziation der vorangegangenen Einheit führt gleichsam zur Bildung neuer Gruppen. Die so neu entstandene Ordnung erweist sich jedoch schon bald als brüchig. Interessant ist, dass ihre Vorteile und Gefahren nicht auf der Handlungsebene ausagiert, sondern in Form eines Reflexionsprozesses auf der Figurenebene explizit verhandelt werden. In der Diskussion zwischen Marke und Tristan stehen sich zwei Perspektiven auf die Folgen des Neids gegenüber. Marke entwirft das Bild einer Neidgesellschaft als Normalfall. In der durch Neid erzeugten Isolation von der Gruppe spiegele sich Tristans Überlegenheit. Tristan hingegen betont die Macht der Neider. Sie seien es, die die Handlungsgewalt hätten, da sie ihn mit dem Tod bedrohten (TR, V. 8379 – 8385, V. 8426 – 8432). Es wird so eine Gegeninterpretation des neidischen Dreiecks entworfen, die den Neidern die Handlungsgewalt in die Hand legt und die destruktive Macht des Neides betont. Im Anklang an den in Hofpolemiken klassisch gewordenen Rat Exeat aula, ›Fliehe den Hof‹, aus Lucans »Bellum civile«78 erscheint für Tristan ein Leben in der neidischen Atmosphäre des Hofs unmöglich. Er will von dem hove varn. (TR, V. 8425). Wie Stephen Jaeger herausgearbeitet hat, legt Gottfried Tristan hier Argumente der klerikalen Hofkritik in den Mund.79 In der Rede des königlichen Favoriten finden sich die Erfahrungen der persönlichen Gefährdung, der Ränkespiele, der üblen Nachrede und der Doppelgesichtigkeit am Hof wieder, von denen Peter von Blois’ berühmte »Epistola 14«, Walter Maps »De nugis curialium« oder auch Johannes von Salisburys »Policratus« berichten.80 Marke hingegen greift auf Ovids im zeitgenössischen intellektuellen Diskurs beliebte In-

78 Lucan, M. Anneus: De bello civili. Vom Bürgerkrieg. Übersetzt und herausgegeben von Georg Luck. Stuttgart 2009, 8. Buch, V. 493 – 94. Diese Worte, die als Leitspruch der Hofkritik immer wieder zitiert wurden, sind Opfer eines rezeptionsgeschichtlichen Missverständnisses. Der Kontext des Rates, der auf zynische Weise den hilfesuchenden Pompeius verhöhnt und in der römischen Kultur gerade keinen für einen ehrbaren Mann gangbaren Weg darstellt, wurde in seinen mittelalterlichen Adaptionen zumeist ausgeblendet. Siehe Jaeger, Stephen C.: Die Entstehung höfischer Kultur. Vom höfischen Bischof zum höfischen Ritter. Berlin 2001 (Philologische Quellen und Studien 167), S. 101 – 103. 79 Vgl. Jaegers Tristananalysen in: Jaeger [Anm. 78], S. 146 – 157 u. Jaeger, Stephen C.: The baron’s intrigue in Gottfried’s Tristan. In: The Journal of English and Germanic Philology 81,1 (1984), S. 46 – 66. 80 Beispielhaft für die hofkritische Perspektive ist die berühmte »Epistola 14« des Petrus von Blois. In dieser beschreibt der vom Hof Heinrich II. geflohene Kleriker das ehrgeizgetriebene und auf Schmeicheleien angewiesene Leben am Hof als Tod der Seele. In seinem Brief warnt er die ehemaligen Gefährten vor den Intrigen am Hof und betont, dass der Kleriker am Hof ständig in Lebensgefahr schwebe. Vgl. zur »Epistola 14« und den Argumentationsmustern der Hofkritiker im Allgemeinen: Jaeger [Anm. 78], S. 88 – 104.

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terpretation des Neids als Zeichen der Exzellenz des Beneideten zurück.81 Beide Redetraditionen weisen dem Neid unterschiedliche Funktionen zu: Einmal wird Neid als integraler Teil der Gesellschaftsordnung geduldet, er unterstreicht und bekräftigt die rechtmäßige Rangordnung. Einmal ist Neid dasjenige, was unbedingt ausgeschlossen und verhindert werden muss. Dementsprechend verwirft Tristan Markes Rechtfertigung des Status quo und versucht eine neidlose Gesellschaft herzustellen, eine Ordnung in Abwehr des Neids zu konzipieren. Sein Plan, in Irland gemeinsam mit den Baronen um Isolde zu werben, führt zu einer erneuten Umstrukturierung der höfischen Gesellschaft – nun im Zeichen der Bewältigung des Neids. Diese Bewältigung besteht aus zwei Schritten: Zum einem betont Tristan, dass niemand besser als er für die Brautwerbung geeignet sei. Zum anderen veranlasst er Marke dazu, ihm die Mitglieder des Hofrats als Begleitung mit zu geben. Es wird so eine neue Einheit gestiftet, in der Tristan und die Barone seines Hofrats durch die äußere Bedrohung miteinander verbunden werden. Tristan steht zusammen mit dem Hofrat den potentiell gefährlichen Iren gegenüber : ›hÞrre, zew–re diz muoz wesen./ suln si sterben oder genesen,/ daz muoz ouch mir mit in geschehen […]‹ (TR, V. 8561 – 8563). Die Bewältigung des Neids führt hier zu einer neuen Form der Vergesellschaftung. Indem die Iren als neue Partei zum neidischen Dreieck stoßen, nimmt die Relevanz des Neidobjekts ab. Durch die äußere Bedrohung kommt es zu einer Neuformierung der Gruppe in Abgrenzung von den Iren, die das Moment der Konkurrenz in den Hintergrund rücken lässt. Zugleich wird durch die Brautwerbung Tristans formale Höherstellung als Thronfolger aufgehoben und somit eines der Neidobjekte entfernt. Tristan wird zu dem, was er am Anfang war, ein hervorragendes Mitglied der Hofgesellschaft. Dies hat jedoch keine allgemeine Einebnung von Machtverhältnissen zur Folge. Überraschenderweise taucht der Vergleich explizit sprachlich ausformuliert dort auf, wo der Neid bekämpft werden soll. Tristan begründet sein Einverständnis in den Vorschlag, ihn als Führer der Brautwerbungsgruppe nach Irland zu entsenden, mit seiner Überlegenheit über andere: ›[…] ez ware wol gevüege, sw– iuch der muot zuo trüege, griffe ich es beltl„cher an und bereiter danne ein ander man. und ist ouch reht, daz ich ez tuo. herre, ich bin harte guot dar zuo. […]‹ (TR, V. 8547 – 8552) 81 Zur Bedeutung und zur Verwendung dieses Arguments aus Ovids »Remedia Amoris« vgl.: Balint, Bridget: Envy in the intellectual discourse. In: The seven deadly sins. From communities to individuals. Hg. v. Newhauser, Richard Gordon. Leiden 2007 (Studies in medieval and reformation traditions 123), S. 41 – 56.

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Mittels der Komparative beltl„cher und bereiter betont Tristan seine einzigartigen Kämpferqualitäten. Er muss sich nun trotz seiner herausgehobenen Position nicht mehr vor Neidern fürchten. Dadurch, dass die Barone auf seine Führung angewiesen sind, ruft seine Größe keine Aggressionen bei ihnen mehr hervor.82 Am Ende zahlreicher Umbildungen des Hofpersonals steht mit Tristans Aufbruch nach Irland somit eine Rangordnung, die den höfischen Neid hinter sich gelassen hat. Neid und Neidbewältigung bilden im »Tristan« den Rahmen dafür, Hierarchien auszuhandeln. Dem Neid selbst kommt eine produktive Rolle in dem Vergesellschaftungsprozess zu. So wie Neid anzeigt, dass die gegenwärtige Rangordnung keine Akzeptanz mehr genießt, so erweist sich seine Bewältigung als Ringen um eine neue Ordnung. Um der Gefahr des Neides Herr zu werden, kommt es an Markes Hof zu Gruppenbildungen, die jeweils als Versuche der Neuformation von Gesellschaft wirksam sind: Erst dissoziiert Neid die bestehende Gesellschaft, dann assoziiert er die Gesellschaft neu in die Parteien Neider und Beneideter, um auf Tristans Initiative diese Aufteilung wieder aufzuheben und eine neue Gemeinschaft zu kreieren. Die Art und Weise, wie diese strukturiert ist, weist sie jedoch als fragil aus: Nicht nur fällt Marke als derjenige, der Gunst und Rang verteilt, aus ihr heraus, sie ist auch fernab des Hofes angesiedelt, also des Ortes, der durch die klerikale Hofkritik als Ort definiert wurde, an dem Neid und Missgunst und Intrigen herrschen. Der nicht-neidische Raum erweist sich im Tristan als der nicht-höfische Raum.83

VII.

Fazit und Ausblick: ›Â Tristan, waere ich alse duo!‹

›ff Tristan, waere ich alse duo!‹ (TR, V. 3710) – diesen Wunsch äußert die Hofgesellschaft angesichts der Vielzahl höfischer Tugenden, mit denen das Wunderkind die abendliche Runde unterhält. Ihr Wunsch markiert sowohl ihr Begehren nach den von Tristan verkörperten Fähigkeiten wie auch Tristans Ausnahmestellung. Seine Überlegenheit stellt die Hofgesellschaft vor Herausforderungen, die im Text vornehmlich über Emotionen narrativiert werden. Durch 82 Auf die Genialität dieses Kunstgriffs Tristans, die ironische Umkehrung der »economy of fear inspired and fear suffered«, wies bereits Stephen Jaeger hin. Siehe Jaeger [Anm. 79], S. 48. 83 Dass die Emotion Neid am Hof nicht endgültig besiegt ist, zeigt Marjodos zwischen Neid und Eifersucht changierender Zorn über das geheime Verhältnis Tristans zu Isolde. Für eine Analyse dieser Textpassage vgl.: Fritsch-Rößler, Waltraud: Falsche Freunde. Markes Ohren und der Autor als Intimus. Zweifelhafte amicitia im Tristan Gottfrieds von Straßburg. In: Von Mythen und Mären. Mittelalterliche Kulturgeschichte im Spiegel einer Wissenschaftler-Biographie. Festschrift für Otfrid Ehrismann zum 65. Geburtstag. Hg. v. MarciBoehncke, Gudrun u. Riecke, Jörg. Hildesheim 2006, S. 80 – 93.

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den Wandel von Bewunderung in Neid wird Tristans Position in der Hofgesellschaft problematisiert. Die Emotion Neid dient im höfischen Kontext des »Tristan« dazu, den Status des Protagonisten als Ausnahmefigur herauszustellen, zu diskutieren und zu bewältigen. In diesem Prozess spielt der Status von Neid als Hauptsünde im religiösen Diskurs nur eine geringfügige Rolle. Zwar wird Neid vom Vokabular her als Laster eingeführt und gewertet, dies schließt in diesem Fall jedoch eine intensive Darstellung seiner sozialen Funktionen und Wirkungen nicht aus. Der Erzähler charakterisiert n„t als soziale Situation zwischen Tristan als Beneidetem, den Baronen als Neidern und den Neidobjekten Þre und werdekeit. Die Emotion zielt weniger auf ein Erlangen der Neidgüter als auf die Destruktion von Tristans Vorteil. Innerhalb der relativ homogenen Hofgesellschaft wird Neid im Sinne der Vergleichstheorie dazu genutzt, Differenzen zwischen der Ausnahmefigur Tristan und den Baronen auszuhandeln. Dabei weist Neid eine paradoxe Struktur auf: Von Seiten der Neider zielt er darauf, Unterschiede in der Hofgesellschaft einzuebnen. Aufgrund seiner einfachen Lesbarkeit markiert er diese für Beobachter wie Marke wie auch für den Rezipienten gleichzeitig jedoch umso stärker. Ließe sich diese Beobachtung an anderen Texten bestätigen, könnte die Analyse der sozialen Situation Neid dabei helfen, Formen der Figurenkonzeption, der Hervorhebung und der Zurückstellung von Figuren, in mittelalterlichen Texten zu beschreiben. Eine dynamische, handlungsvorantreibende Dimension gewinnt Neid im »Tristan« durch die mit ihm verbundenen Emotionen. Wie von Kathrin Weber behauptet, ist Neid auch im »Tristan« zugleich soziale Situation wie Emotionskomplex. Neid wird vom Erzähler auf zweifache Weise verknüpft: Auf paradigmatischer Ebene wird das mittelalterliche n„t meist mit haz gekoppelt und tritt in Doppelformeln auf. Neid wird so vor allem als Aggression und Bedrohung reflektiert, der Erzählvorgang konzentriert sich auf die Auswirkungen des Neids auf Tristan. Auf syntagmatischer Ebene inszeniert der Erzähler den Neid als Kehrseite der vorausgehenden Bewunderung der Hofgesellschaft. Indem der neidische Hass spiegelbildlich zu Liebe und Anerkennung der Fähigkeiten Tristans aufgebaut ist, wird Neid auf der Ebene der Narration zum Wendepunkt stilisiert. Dieser Aspekt wird durch das Stilmittel der Personifikation unterstrichen. Im Einklang mit der Tradition der Sünden- und Moraltraktate erscheint Neid als eine fremde, dämonengleiche Macht, die soziale Beziehungen verkehrt und neu organisiert. Aus dem ›ff Tristan, waere ich alse duo!‹ (TR, V. 3710) wird so der Wunsch, dass Tristan so sei, wie sie selber sind. Wird Neid auf der Textoberfläche als plötzlicher Eingriff in eine harmonische Ordnung gezeichnet, so besitzt er doch einen sozialen Untergrund, der vom Erzähler nicht expliziert wird. Wie in den von Weber und Chuang diskutierten modernen Texten kann Neid im »Tristan« als Referenz auf krisenhafte Zustände

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der Gesellschaft gelesen werden. Dass die Hofgesellschaft Tristans Status als Thronfolger trotz der rechtlich bindenden Nachfolgeregelung Markes in Frage stellt, zeigt, dass seine Position in der höfischen Gesellschaft erst veränder- und dann verhandelbar geworden ist. Die extreme Mobilität der Ausnahmefigur verunmöglicht eine klare Einordnung des Protagonisten. Da Rang und Status Tristans im Verlauf der Erzählung immer wieder neu miteinander in Deckung gebracht werden, sind sie am Ende auch wieder diskutierbar. Diese Instabilität höfischer Hierarchien wird durch den Neid nicht nur angezeigt. In Folge der Zuspitzung des Konflikts suchen die Figuren nach einer Lösung des Problems. Sie wird durch eine Folge gesellschaftlicher Neu- und Umgruppierungen erreicht, in denen Neid sowohl als dissoziierende als auch als gemeinschaftskonstruierende Kraft wirkt. Neid und Neidbewältigung funktionieren als Agens der Auflösung wie der Neuformierung sozialer Ordnung. Gottfrieds »Tristan« vermittelt so ein differenziertes Bild davon, welche Funktionen Neid im höfischen Roman zukommen können. Zwar folgen sowohl die wertenden Vokabeln (verw–zen) wie die Metaphern (betrüeben) den in den Moral- und Lastertraktaten vorgegebenen Traditionen des Sprechens über die Hauptsünde Neid. Im Zentrum des Textes stehen jedoch die sozialen Auswirkungen, welche vornehmlich aus der Perspektive des Beneideten geschildert werden. Jenseits moralisch-theologischer Bewertungen erlaubt die Thematisierung von Neid als sozialer Emotion Einblicke in Krisen, Parteibildungen und Machtkämpfe der repräsentierten Gesellschaft. Die Analyse von Neid als sozialer Emotion führt somit ins Zentrum des Hofes und seiner Machtstrukturen. Nicht nur in der Diskussion zwischen Tristan und Marke erscheint der Hof als genuiner Ort des Neides. Der Ort, an dem Neid aufgehoben wird, ist in der Handlung ein nicht-höfischer Raum. Erst mit der Entfernung vom Hof, der Reise, werden neue Formen der Vergemeinschaftung möglich, die nicht auf Neid basieren.