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German Pages 180 Year 2021
Teresa Hiergeist, Mathis Lessau (Hg.) Glücksversprechen der Gegenwart
Edition Kulturwissenschaft | Band 237
Teresa Hiergeist (Prof. Dr. phil.), geb. 1984, forscht und lehrt an der Universität Wien zu spanischer und französischer Literatur- und Kulturwissenschaft. Ihre Schwerpunkte liegen dabei im Bereich der kognitiven Narratologie, Mensch-TierBeziehungen in der Frühen Neuzeit und Paragesellschaften seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert. Mathis Lessau (Dr. phil.), geb. 1985, lehrt und forscht an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg sowie am University College Freiburg. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Wissenschaftstheorie und -geschichte.
Teresa Hiergeist, Mathis Lessau (Hg.)
Glücksversprechen der Gegenwart Kulturelle Inszenierungen und Instrumentalisierungen alternativer Lebensentwürfe
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Inhalt
Einleitung Glücksversprechen der Gegenwart Teresa Hiergeist und Mathis Lessau.................................................. 7
Das Elend der Homestory Jörg-Uwe Albigs Zornfried als medienethische Satire auf rechte Aussteigerfantasien Johannes Franzen................................................................... 17
Glücksversprechen Neoanarchismus Zur Verhandlung anarchistischer Historie in der spanischen Gegenwartsliteratur Teresa Hiergeist.................................................................... 33
»Behind every good soldier is a family« Militärfamilien in der US-amerikanischen (Populär-)Kultur des 21. Jahrhunderts Katharina Gerund .................................................................. 49
Von Hippies und Höllenfürsten Toxische Glücksversprechen in Kim Newmans Jago (1991) Simone Broders .................................................................... 69
The (un)happy few Soziale Segregation in medialen Inszenierungen von Gated Communities in Lateinamerika: Lukas Valenta Rinners Film Los decentes (2016) Christian von Tschilschke ........................................................... 91
Im Hinterland des Paradieses Erzählungen von der Suche nach Glück auf dem Hippie-Trail Simon Sahner ..................................................................... 109
Besseresser? Mediale Inszenierungen des Veganismus-Dispositivs im deutschsprachigen Diskurs der Gegenwart Agnes Bidmon..................................................................... 125
Geistheilung Das neoschamanistische Versprechen und seine narrativen und diskursiven Inszenierungen Mathis Lessau..................................................................... 145
Verlorene Idyllen, enttäuschte Utopien Zur Ambivalenz der Naturräume im französischen Roman Anne-Sophie Donnarieix ........................................................... 163
Einleitung Glücksversprechen der Gegenwart Teresa Hiergeist und Mathis Lessau
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Alternative Lebensentwürfe im Fokus der Kulturwissenschaften
Glücksversprechen finden sich im gesellschaftlichen Alltag allenthalben: Sie strahlen einem von Plakatwänden und Anzeigen entgegen, zirkulieren in den sozialen Netzwerken, bieten sich an Straßenecken und in Bahnhofsvorhallen an, locken im Ratgeberregal der Buchläden ebenso wie im Spamordner des Emailpostfachs. Sie können ganz unterschiedliche Gestalt annehmen, als schicker Lifestyle, als religiöses Sinnangebot, als medizinische Wundermethode oder als politische Alternative daherkommen, doch gemein ist ihnen allen, dass sie auf eine Weise medial konstruiert sind, die ihnen einen überzeugenden Charakter verleihen, sie ideal und erstrebenswert erscheinen lassen soll. Dies ist nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass hinter ihnen interessierte Subjekte und Instanzen stehen, die von der Notwendigkeit der Veränderung der bestehenden Umstände überzeugen möchten, einer als ›wahr‹ verstandenen Weltanschauung Geltung verleihen oder ökonomischen Profit aus dem menschlichen Wunsch nach dem Glück schlagen wollen. Glücksversprechen eignet stets ein persuasiver, ggf. ideologischer, in manchen Fällen auch manipulativer Charakter, durch den die Selbst-, Gesellschafts- und Wirklichkeitswahrnehmung entscheidend mitgestaltet wird und avancieren insofern zum Gegenstand kulturwissenschaftlichen Interesses. In den unterschiedlichsten Disziplinen ist in den vergangenen 25 Jahren das Thema ›Glück‹ verstärkt in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt: Nicht nur die Philosophie wirft Fragen nach seinem Wesen und den Möglichkeiten seiner Erreichbarkeit auf,1 auch die Soziologie und Ökonomie suchen nach 1
Zur Philosophie vgl. etwa: Wilson, Eric: Against Happiness. In Praise of Melancholy, New York: Crichton 2008; Thomä, Dieter: Vom Glück in der Moderne, Frankfurt:
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seinen gesellschaftlichen und materiellen Voraussetzungen2 und die Psychologie und Neurowissenschaften eruieren seine emotionalen und kognitiven Grundlagen sowie evolutionäre Rolle.3 Angesichts dessen verwundert nicht, dass in letzter Zeit auch einige interdisziplinäre Projekte Annäherungen an den Gegenstand versucht haben.4 Diese Forschungen weisen in der Regel eine Fokussierung auf die Semantik des Glücksbegriffs auf und beschreiben unterschiedliche Manifestationen und Objektivationen eines glücklichen Lebens. Weniger in den Blick gelangt ist in diesem Zusammenhang jedoch bislang die mediale und rhetorische Gestaltung der Glücksinszenierungen, die ihr persuasives Potenzial entscheidend mitbestimmt. Der vorliegende Sammelband möchte sich dieses Desiderats annehmen, indem er das Augenmerk auf die Narrativierungen von Glücksangeboten in den westlichen Gegenwartsgesellschaften (seit den 1968er Jahren) legt. Ziel ist es dabei, in Zusammenarbeit von Philosophie, Literatur- und Medienwissenschaften auf einer gemeinsamen kulturwissenschaftlichen Basis eine Rhetorik bzw. Ästhetik des Glücksversprechens zu erarbeiten, deren politische, wirtschaftliche, soziale, religiöse und kulturelle Funktionen zu erschließen und sie in Hinblick auf aktuelle Identitätsentwürfe, Normen und Legitimitätskonstruktionen zu interpretieren. Damit möchte das Buch – gerade in Zeiten von Populismus und Postfaktizität – zur Sensibilisierung für die Konstruktivität zirkulierender Alternativdiskurse beitragen und ein Bewusstsein für ihre Rolle als potenzieller Katalysator in kulturellen Transformationsprozessen schaffen.
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Suhrkamp, 2003; Fred Feldman: What is this Thing Called Happiness?, Oxford: University Press 2010. Vgl. beispielsweise: Hettlage, Robert: Das Prinzip Glück, Wiesbaden: VS 2015; Brockmann, Hilke: Human Happiness and the Pursuit of Maximization, Dordrecht: Springer 2013; Karin Kaudelka/Gerhard Kilger (Hg.), Das Glück bei der Arbeit. Über FlowZustände, Arbeitszufriedenheit und das Schaffen attraktiver Arbeitsplätze, Bielefeld: transcript 2012. Siehe etwa: Carr, Alan: Positive Psychology. The Science of Happiness and Human Strengths, London: Routledge 2011; David, Susan A.: The Oxford Handbook of Happiness, Oxford: University Press 2013; Breuning, Loretta Graziano: Die Chemie des Glücks, München: mvg 2019; Watson, Gay: Beyond Happiness. Deepening the Dialogue between Buddhism, Psychotherapy and the Mind Sciences, London: Routledge 2008. Exemplarisch sollen hier das von Dieter Thomä herausgegebene, 466 Seiten starke Handbuch Glück (2011) sowie der Sammelband Vom Glück und glücklichen Leben. Sozialund geisteswissenschaftliche Zugänge (2007) genannt werden, die Beiträge unterschiedlicher empirisch und hermeneutisch arbeitender Disziplinen vereinen.
Einleitung
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Diskurse des Glücks
Zwar trägt sich der Gedanke durch die Philosophiegeschichte, dass das Glück als höchstes Gut, als summum bonum, angesehen werden sollte, da es Aristotelesʼ Diktum aus der Nikomachischen Ethik zufolge »um seiner selbst willen und niemals zu einem darüber hinausliegenden Zweck gewählt«5 wird. Nichtsdestotrotz variiert das, was genau unter Glück verstanden werden soll, und die Vorstellungen darüber individuell, situativ, historisch und kulturspezifisch.6 Für Aristoteles selbst lag das Glück im Vollzug eines an der praktischen Vernunft [Phronesis] ausgerichteten, tugendhaften Lebens, d.h. in der Einsicht in die richtige Mitte menschlichen Handelns und ihrer Habitualisierung [Mesotes-Lehre].7 Auch für eine stoisch geprägte Linie in der Tradition Zenons und Senecas bleibt die vernunftbestimmte Tugend das Fundament der Glückseligkeit. Nur die vernünftige Einsicht kann Stabilität und Unveränderlichkeit bieten und ist nicht von äußeren Umständen abhängig, weshalb die Affekte gewissermaßen als Krankheit der Vernunft beherrscht und überwunden werden sollten.8 Die hedonistische Ansicht, wonach der Begriff des Glücks mit dem Begriff der Lust zusammenfällt, wird zwar bereits von Epikur vertreten (und deswegen auch von stoischen Autoren angegriffen), jedoch bezeichnet Lust [Hedone] bei ihm kein sinnliches Vergnügen, sondern einen Zustand, der als Ataraxie durch die Abwesenheit von Schmerz und Furcht bestimmt ist.9 Eine hedonistische Position, für die Glück im positiven Sinne durch eine Akkumulation eines Maximums an Lustmomenten und der Vermeidung negativer Emotionen definiert ist, wird in der zweiten Hälfte 5 6
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Aristoteles: Nikomachische Ethik, Stuttgart: Reclam 1992, S. 15. Vgl. Bargatzky, Thomas: »Contemplativus in actione. Glücksvorstellungen im Kulturvergleich«, in: Alfred Bellebaum/Robert Hettlage (Hg.), Glück hat viele Gesichter. Annäherungen an eine gekonnte Lebensführung, Wiesbaden: VS, 2010, S. 113-126, hier: S. 114; Alfred Bellebaum (Hg.): Vom guten Leben. Glücksvorstellungen in Hochkulturen, Berlin: Akademie 1994. Vgl. Höffe, Otfried: Lebenskunst und Moral: oder macht Tugend glücklich?, München: Beck 2009, bes. S. 126-139. Vgl. Hossenfelder, Malte: Antike Glückslehren. Kynismus und Kyrenaismus, Stoa, Epikureismus und Skepsis: Quellen in deutscher Übersetzung mit Einführung, Stuttgart: Kröner 1996, S. 63-159; Ders: »Philosophie als Lehre vom glücklichen Leben. Antiker und neuzeitlicher Glücksbegriff«, in: Alfred Bellebaum/Robert Hettlage (Hg.), Glück hat viele Gesichter. Annäherungen an eine gekonnte Lebensführung, Wiesbaden: VS 2010, S. 75-92, hier: S. 84-85. Vgl. Hossenfelder: Antike Glückslehren, S. 163-287.
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des 18. Jahrhunderts zunehmend diskutiert.10 Aus ihr ergibt sich die Möglichkeit eines hedonistischen Kalküls, wie es von Jeremy Bentham propagiert und von John Stuart Mill weiterentwickelt wird.11 Für viele christliche Denker kann weltliche Befriedigung, sei sie vernünftiger oder sinnlicher Art, selbstverständlich nicht zur letzten Glückseligkeit führen, da in ihr das natürliche Verlangen des Menschen niemals zur Ruhe zu kommen vermag. Wahre Glückseligkeit kann der Mensch, etwa nach Thomas von Aquin, erst nach diesem Leben erfahren, wenn er in seliger Schau Gott in seiner Wesenheit erkennt.12 Andere zeitgenössische, häufig am New Age orientierte, spirituelle Bewegungen hingegen versprechen bereits in diesem Leben ein Glück, das auf spiritueller Einsicht und dem Erleben einer allumfassenden Einheit beruht.13 Verschiedene Konzepte von Glück sind also häufig an die Fragen gebunden, ob die äußeren Umstände es determinieren oder ob es vom subjektiven Erlebnis und dessen Bewertung abhängt,14 ob man es »schmieden« kann oder ob es einem per Zufall zuteil wird15 und in welchen Lebensbereichen (wenn überhaupt im ›Leben‹) es zu realisieren ist. Versucht man nun zu eruieren, ob sich eine spezifische Verortung der westlichen Gegenwartsgesellschaften in Bezug auf diese Aspekte ausmachen 10 11
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Vgl. Sturma, Dieter: »Glück und Moralität«, in: Dieter Thomä (Hg.), Glück. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart: Metzler 2011, S. 42-50, hier: S. 45-46. Siehe Bentham, Jeremy: An introduction to the principles of morals and legislation, London: Athlone 1970. Mill führt wieder qualitative Differenzen in Benthams hedonistisches Kalkül ein und begründet dies mit dem berühmten Ausspruch: »It is better to be a human being dissatisfied than a pig satisfied; better to be a Socrates dissatisfied than a pig satisfied« (Mill, John Stuart: Utilitarianism, hg. von George Sher, Indianapolis: Hackett 1978 [reprint 1861], S. 10. Vgl. etwa Thomas von Aquin: Summa contra gentiles, Band 3/1, Kap. 48, hg. von Karl Albert, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2005. Vgl. etwa Watts, Alan: Die sanfte Befreiung. Moderne Psychologie und östliche Weisheit, München: Goldmann 1985, S. 10. Vgl. Bellebaum, Alfred: »Glück. Erscheinungsvielfalt und Bedeutungsreichtum«, in: Alfred Bellebaum/Robert Hettlage (Hg.), Glück hat viele Gesichter. Annäherungen an eine gekonnte Lebensführung, Wiesbaden: VS 2010, S. 31-56, hier: S. 43. Dementsprechend arbeitet etwa Michael Aßländer heraus, dass sich mit der Erosion der ständischen Ordnung und dem Anstieg der sozialen Mobilität in der Moderne die Vorstellung von der Gestaltbarkeit des Glücks zunehmend durchsetzt (vgl. Aßländer, Michael S.: »Das Glück des Tüchtigen. Der Glücksbegriff des bürgerlichen Liberalismus«, in: Timo Hoyer (Hg.), Vom Glück und glücklichen Leben. Sozial- und geisteswissenschaftliche Zugänge, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, S. 103-121, hier: S. 105f).
Einleitung
lässt, so scheinen mindestens zwei Elemente konstitutiv: Zum einen lässt sich vor dem Hintergrund einer zunehmenden Individualisierung und fortschreitenden funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft eine Tendenz zur Pluralisierung der Wege zum Glück ausmachen.16 Der Einzelne komponiert seine Vorstellung vom idealen Leben aktiv aus unterschiedlichen Versatzstücken, wofür ihm in jedem Lebensbereich nicht nur eine, sondern mehrere Sinnangebote zur Wahl stehen.17 Zum anderen lässt sich eine Art ›kapitalistische‹ Prägung der Glücksdiskurse feststellen. Diese macht sich zunächst in der häufigen Kopplung des Glücks an Leistung und Zielerreichung oder der »punktuelle[n] Glücksbeschaffung durch Entspannung, Enthemmung und Emotion« (mittels Konsum) bemerkbar,18 scheint aber auch darin auf, dass die vielfältigen Glücksangebote zueinander in Konkurrenz zu stehen und sich einen Kampf um die kulturelle Hegemonie zu liefern scheinen. Wenn sich der Sammelband besonders für diejenigen Darstellungen des Glücks interessiert, die vermeintlich aus einem Verhalten, einer Lebensführung oder einer gesellschaftlichen Organisation resultieren, die im aktuellen Leben des Individuums oder im sozialen Miteinander unrealisiert oder marginal sind und mithin eine Alternative darstellen, dann geschieht dies aus zwei Gründen: zum einen, weil sie in zugespitzter Form Aufschluss über kulturspezifische Werte, Normen und Machtverhältnisse sowie die Identifikation der kulturellen Subjekte mit ihnen geben – schließlich tun sich alternative Entwürfe überall dort auf, wo mit bestehenden, institutionalisierten Ordnungen, Normen, Habitus und Handlungsweisen gebrochen wird, wo Erwartung und Realität auseinanderklaffen.19 Zum anderen rücken alternative Lebensdarstellungen in den Fokus, weil diese in den vergangenen Jahrzehnten in öffentlichen Debatten, Medien und sozialen Netzwerken verstärkt diskursiv verhandelt werden.20 Im Zuge der Zunahme des zivilgesellschaft16
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Vgl. Thomä, Dieter/Henning, Christoph/Mitscherlich-Schönherr, Olivia: »Einleitung«, in: Dieter Thomä (Hg.), Glück. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart: Metzler 2011, S. 1-10, hier: S. 6. Vgl. Hettlage, Robert: »Das Prinzip ›Glück‹«, in: Alfred Bellebaum/Robert Hettlage (Hg.), Glück hat viele Gesichter. Annäherungen an eine gekonnte Lebensführung, Wiesbaden: VS 2010, S. 11-31, hier: S. 21. Vgl. Hettlage, R.: »Das Prinzip ›Glück‹«, S. 19-20. Vgl. Dahl, Jens/Fihl, Esther/Schepelern Johansen, Brigitte: »An Introduction to Alternative Spaces«, in: Dies. (Hg.), A Comparative Ethnography of Alternative Spaces, New York: Macmillan 2013, S. 1-18). Vgl. Hiergeist, Teresa: »Selbst, anders, neu. Reflexionen zu den kulturellen und ästhetischen Bedeutungen von ›Parallel- und Alternativgesellschaften‹«, in: Dies. (Hg.),
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lichen Engagements seit den 1960/70er Jahren21 und im Zuge der Singularisierung der Lebensentwürfe im digitalisierten, kulturkapitalistischen Kontext des neuen Jahrtausends22 regt sich in unterschiedlichen Domänen eine Tendenz zur Suche nach Lebenslösungen, die von den etablierten Institutionen und Konventionen abweichen. Auf politischer Ebene sind im Nachgang unterschiedlicher Wirtschaftskrisen – etwa mit der Occupy-Bewegung, den indignados in Spanien, Nuit debout und den Gelbwesten in Frankreich – neoanarchistische Ideen eines multitudinalen Verhältnisses des Subjekts zum Staatsapparat erstarkt, welche die institutionellen, staatlichen Abläufe umgehen und eine direkte Demokratie fordern und leben. Populistische Parteien konnten sich im Rahmen der identitären Verunsicherung, die ein Resultat der Ausdifferenzierung und Parzellierung der neoliberalistischen und globalisierten Gesellschaften darstellt,23 mit ihrem Anti-Kurs Eingang in die Parlamente zahlreicher Demokratien verschaffen und vermochten es, Teile der öffentlichen Meinung für ahumanistische Maßnahmen wie die temporäre Schließung von Landesgrenzen, rassistische Ideen oder den Brexit zu gewinnen. In wirtschaftlicher Hinsicht haben der Bio- und Vegetarismus- bzw. Veganismus-Trend das Sortiment der Supermärkte, Cafés und Restaurants in den vergangenen Jahren entscheidend verändert; es florieren kulturelle Praktiken wie das regionale und unverpackte Einkaufen oder das urban gardening und in den Zeitschriften häufen sich Anleitungen zur Verwandlung des heimischen Balkons in eine kleine Selbstversorgerplantage. All diese Angebote verstehen sich dezidiert als Oppositionsinstrument gegen den globalisierten Kapitalismus. Auch die sonstigen Lebensbereiche sind von Alternativempfehlungen in vielfältiger Weise durchdrungen: in der Medizin fordert die große Nachfrage nach alternativen Heilmethoden wie der Homöopathie, Osteopathie, Akupunktur und Anthroposophie die Schulmedizin heraus; bezüglich
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Parallel- und Alternativgesellschaften in den Gegenwartsliteraturen. Würzburg: Königshausen & Neumann 2017, S. 7-24, hier: S. 7-8. Vgl. Greenwald, Dara/Macphee, Josh: Signs of Change. Social Movement Cultures 1960s to Now, New York: AK Press 2010, S. 12. Vgl. Reckwitz, Andreas: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Frankfurt: Suhrkamp 2017, S. 32. Vgl. hierzu: Loy, Benjamin/Oberto, Simona/Strohmaier, Paul: »Imaginationen und Erzählungen von Gesellschaft. Einleitende Überlegungen zur Genealogie und Konjunktur von sozialen Strukturnarrativen«, in: Dies. (Hg.), Imaginationen des Sozialen. Narrative Verhandlungen zwischen Integration und Divergenz (1750-1945), Heidelberg: Winter 2020, S. 7-21, hier: S. 8.
Einleitung
des sozialen Miteinanders macht sich ein gesteigertes Interesse an unkonventionellen Organisations- (Kommunen, Aussteiger, gated communities) und Beziehungsformen (Homo-Ehe, offene Beziehungen, Polyamorie) bemerkbar, welche die Konzepte des Staatsbürgertums und der bürgerlichen Kleinfamilie in Frage stellen; und nicht zuletzt sind etwa der Yoga-, Reiki- und Esoteriktrend Indizien für eine spirituelle Sinnsuche jenseits der Weltreligionen. Die zugrunde liegenden Diskursstrategien ähneln einander in all diesen Beispielen: Bestehende Strukturen, Institutionen oder als ›mehrheitsgesellschaftlich‹ ausgewiesene Ansichten werden als obsolet und schädlich verurteilt und einer als positiv etikettierten anderen Option oder Lösung konfrontativ gegenübergestellt, wobei diese Ab- und Aufwertung in ihrer Drastik die Komplexität der sozialen Wirklichkeit bewusst reduziert und die Konstruktion von Etablierten und Alternativen als binärer Opposition in manchen Fällen bloße Rhetorik ist – man denke etwa an die Beweise der Substanzlosigkeit ihrer Versprechungen, die manche populistischen Parteien nach ihrem Einzug in die Parlamente geliefert haben, oder an die Tatsache, dass ein noch so authentisch daherkommender Bio-Smoothie Produkt kapitalistischer Vermarktungsstrategien ist. Gerade die Pluralität der alternativen Wege zum Glück, ihre Reibung aneinander sowie der Wunsch eines jeden einzelnen nach Sichtbarkeit und Verbreitung bedingen nun einen diskursiven Kampf um Aufmerksamkeit und Legitimität, der mit den Schwertern der ästhetischen Inszenierung ausgefochten wird und dessen Telos in der Persuasion liegt. Indizien für diesen sind erstens die starke Präsenz der sprachlichen und bildlichen Äußerungen über diese Alternativen, zweitens ihr häufig emotionalisierender und apodiktischer Charakter, drittens die Akkumulation authentifizierender Strategien und viertens die intertextuelle Bezugnahme auf themen- und intentionskompatible Chronotopoi und Gattungsmuster (etwa Paradies und Schlaraffenland; Utopie, Science-Fiction und Märchen). Dabei stehen die Glücksversprechen inszenatorisch vor besonderen, nahezu paradoxen Herausforderungen: Zum einen müssen sie sich, zumal sie quer zu hergebrachten Werten und Haltungen, bisweilen sogar quer zu den etablierten rechtlichen Rahmungen stehen, von diesen abgrenzen und ihnen gegenüber rechtfertigen. Zum anderen verschaffen sie sich die größte Relevanz nicht selten in Rekurrenz auf die gleichen legitimatorischen Strategien, derer sich auch die institutionalisierten Formen bedienen. Als ähnlich herausforderungsreich erweist sich der diskursive Umgang der staatlichen, wirtschaftlichen, medizinischen, religiösen und kulturellen
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Institutionen mit den singulären Lebens- und Wissensformen, können sich erstere doch von zweiteren infrage gestellt fühlen und mithin ein Interesse daran entwickeln, sie einzudämmen oder zu kaschieren, weshalb sie sie je nach Kontext und Situation entweder tabuisieren, ridikulisieren, widerlegen, verbieten oder assimilieren und integrieren.24 Diese Strategien eignen sich die Lebensalternativen bisweilen vorsorglich an oder zitieren sie ironisierend, um sich als eine Form »legitimierten Wissens«25 zu positionieren und sich dezidiert vom etablierten Diskurs abzugrenzen. Exemplifizieren lässt sich dieser Diskurs am Wissenschaftsbetrieb, wenn sich die Akademia mit vom etablierten Wissen abweichenden Theorien auseinandersetzt. Olav Hammer bezeichnet diese Interaktionen als »polemical encounters«26 und Wouter Hanegraaff die aus ihnen entstehenden textlichen Manifestationen als polemische Narrative.27 Diese Art von Erzählung schafft auf beiden Seiten Identität: Sie dient der akademischen Wissenschaft, indem sie ihr eigenes Wissenschaftsverständnis durch Demarkationslinien konturiert und festigt, und ermöglicht es Heterodoxien, den Charakter eines nicht akzeptierten ›alternativen‹ Wissens beizubehalten. Dies wird über die Abgrenzung von den (vermeintlichen) methodologischen, erkenntnistheoretischen und wissenschaftstheoretischen Annahmen der akademischen Wissenschaft erreicht. Dabei gestaltet sich durchaus komplex, auf welcher Grundlage und unter welchen Umständen wissenschaftliche Heterodoxien als Innovationen anerkannt, als Minderheitenpositionen toleriert oder als Fehlentwicklungen abgelehnt werden.28 Aufschluss über die Rhetorik und die kulturellen Funktionen von Glücksversprechen geben nicht zuletzt die Positionierungen von Beobachtern zweiter Ordnung29 wie den Medien und der Literatur, welche Lebensalternativen 24 25 26 27 28
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Vgl. Schetsche, Michael/Schmied-Knittel, Ina: Heterodoxie. Konzepte, Traditionen, Figuren der Abweichung, Köln: Halem 2018, S. 24. Bourdieu, Pierre: Die verborgenen Mechanismen der Macht, Hamburg: VSA 1992, S. 43. Hammer, Olav/von Stuckrad, Kocku (Hg.): Polemical Encounters. Esoteric Discourse and its Other, Amsterdam: Brill 2007. Hanegraaff, Wouter: »Forbidden Knowledge. Anti-Esoteric Polemics and Academic Research«, in: Aries 2 (2005), S. 225-254. Diesen Fragen geht der Sammelband Lessau, Mathis/Redl, Philipp/Riechers, HansChristian (Hg.): Heterodoxe Wissenschaft in der Moderne, Brill: Amsterdam 2020 [im Druck] nach. Peter Fuchs thematisiert in Die Erreichbarkeit der Gesellschaft die Funktion von Beobachtungssystemen, um bestehende Strukturen auf ihre Aktualität und Praktikabilität hin zu testen. Vgl. Fuchs, Peter: Die Erreichbarkeit von Gesellschaft. Zur Konstruktion und Imagination gesellschaftlicher Einheit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 108-109.
Einleitung
thematisieren, um Fragen nach einer idealen Gestaltung gesellschaftlichen Zusammenlebens aufzuwerfen, bestehende Verhältnisse zu kritisieren oder über die perspektivische Gebundenheit von Wahrheit und die Virulenz der Debatten auf einer Metaebene zu reflektieren, weshalb die nachfolgenden Artikel sie präferenziell als Untersuchungsgegenstände zurate ziehen.
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Kulturelle Inszenierungen des Glücks
Der vorliegende Sammelband untersucht die Diskurse unkonventioneller Arten der Lebensgestaltung seit 1968 aus kultur-, literatur- und medienwissenschaftlicher und philosophischer Perspektive. Sein Fokus liegt auf der Frage, wie erzählt und argumentiert, präsentiert und dargestellt wird, wenn von alternativen Wegen zum Glück die Rede ist, mit dem Ziel eine Ästhetik und Rhetorik alternativer Welten und Lebensstile zu erarbeiten. In den Blick gelangen dabei politische Alternativen (der Rechtspopulismus in Johannes Franzens Beitrag, der Neoanarchismus in Teresa Hiergeists Artikel sowie der Militarismus bei Katharina Gerund), religiöse Sekten (in Simone Brodersʼ Artikel), Formen sozialer Vergemeinschaftung (die Gated Communities in Christian von Tschilschkes Beitrag und das Hippietum bei Simon Sahner), Lebensweisen (der Veganismus in Agnes Bidmons Artikel und der Neoschamanismus bei Mathis Lessau) und nicht zuletzt Sehnsuchtsorte (wie die Natur in AnneSophie Donnarieixʼ Artikel). Dabei erweist sich in der Zusammenschau, dass die verwendeten argumentativen und audiovisuellen Persuasionsstrategien nahezu unabhängig davon, auf welchen Kulturraum und auf welches Teilgebiet des sozialen Alltags sie sich beziehen oder in welchem Medium sie dargestellt sind, eine außerordentliche Konstanz und nahezu topischen Charakter aufweisen. Die Inszenierung alternativer Haltungen, Lebensweisen, Weltanschauungen und Gemeinschaftsordnungen besitzt in den allermeisten Fällen eine ideologische Grundstruktur, die auf die Einflussnahme auf die Rezipierenden (etwa durch Emotionalisierung, Authentifizierung, Polemisierung, Fiktionalisierung und Literarisierung) abzielt und in dialogischer Beziehung zu etablierten Diskursen steht. Gerade literarische und filmische Darstellungen der Glücksversprechen machen es sich häufig zur Aufgabe, auf diesen manipulativen Charakter aufmerksam zu machen, ihn bewusst zu machen, in Zweifel zu ziehen oder zu kritisieren. Doch hierin allein gehen die gesellschaftlichen Alternativen nicht auf. Schließlich zeigt sich in vielen Fällen überdies, dass den alternativen Lebensentwürfen – so plakativ sie auf den
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ersten Blick auch scheinen mögen – die kulturelle Funktion zukommt, die bestehenden gesellschaftlichen Strukturen auf die Probe zu stellen, zu reflektieren und gegebenenfalls Wandlungsprozesse anzustoßen. Somit fungieren Glücksversprechen in den westlichen Gegenwartsgesellschaften stets als beides: als Vehikel ideologischer Positionierungen, welche diskurszementierend wirken, einerseits und andererseits als diskursöffnender Ausgangspunkt der Transformation.
Das Elend der Homestory Jörg-Uwe Albigs Zornfried als medienethische Satire auf rechte Aussteigerfantasien Johannes Franzen
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Eine Geschichte, die sich gut erzählen lässt An einem Abend im April, als sich die Sonne über Schnellroda senkt, nimmt der Hausherr einen Kochtopf in die Hand und betritt den Stall. Schmutzig ist es dort, von den Wänden bröckelt der Putz, und an den Gummistiefeln klebt der Kot.1
Dieses Zitat stammt nicht aus einem Roman, sondern aus einem Artikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung im April 2016. Bei dem »Hausherrn«, der hier so stimmungsvoll beschrieben wird, handelt sich auch nicht um eine fiktive Figur, sondern um den Publizisten Götz Kubitschek, einen Vordenker der sogenannten Neuen Rechten. Geschildert wird ein Besuch auf dessen Rittergut Schnellroda in Sachsen-Anhalt, wo Kubitschek mit seiner Frau, der Verlegerin und Publizistin Ellen Kositza und sieben Kindern lebt, und wo der rechtsradikale Antaios Verlag, den Kubitschek leitet, seinen Sitz hat. Dass dieser Satz aus einem Zeitungsartikel trotzdem etwas Romanhaftes an sich hat, ist der journalistischen Gattung des Porträts geschuldet, einer Gattung, die das Neue Handbuch des Journalismus als erzählende Reportage mit »nur einer Hauptperson« definiert.2 Ein literarisches Flair entsteht durch
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Bender, Justus/Bingener, Rainhard: »Die Rechten Fäden in der Hand«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15.04.2016. Schneider, Wolf/Raue, Paul-Josef: Das neue Handbuch des Journalismus und Online Journalismus, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2012, S. 204. Zur Gattung des Porträts vgl. zudem Egli von Matt, Sylvia/von Peschke, Hans-Peter/Riniker, Paul: Das Porträt, Konstanz: UVK 2003.
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Johannes Franzen
das dramatische Präsens, die eigentümliche zeitliche Zuspitzung (»an einem Abend im April«) und durch die erzählerischen Details (der bröckelnde Putz, der klebende Kot), die vor allem der Evokation einer Atmosphäre dienen: Konkretion statt Abstraktion, Stimmung statt Analyse. Es handelt sich um einen von zahlreichen Texten dieser Art, der 2016 in überregionalen Medien veröffentlicht wurde. Neben der FAZ berichteten unter anderem auch Reporter*innen des Spiegel, der Welt, der Zeit, der tageszeitung, von 3sat, und sogar der New York Times über Kubitschek und sein Rittergut. 2018 schrieb die Neue Zürcher Zeitung im Rückblick auf die Berichterstattung: »Die Schnellroda-Homestory wurde eine Art eigenes Genre.«3 Was sich an dieser Flut von Artikeln ablesen lässt, ist eine mediale Faszination, die auf attraktive Möglichkeiten der journalistischen Narrativierbarkeit verweist. Offenbar handelte es sich um eine Geschichte, die sich sehr gut erzählen lässt. Diese Faszination hat vor allem mit der Art und Weise zu tun, wie sich Kubitschek und seine Familie über ihren Lebensstil als antimoderne Aussteiger inszenieren. Der selbstgemachte Ziegenkäse oder die Tatsache, dass sich der Verleger und seine Frau siezen, waren in der Berichterstattung fast ebenso wichtig, wie die politischen Inhalte der Bücher, die sie verlegen. Hier trifft die traditionelle Obsession moderner Kulturen für die Figur des Aussteigers auf das Bedürfnis politisierter Aussteiger, ihre Ideologie in die Mitte der Gesellschaft zu tragen. Das führt allerdings zu medienethischen Problemen. Die journalistische Gattung des Porträts befriedigt eine Nachfrage nach Komplexitätsreduktion durch Personalisierung, die vor allem dann virulent wird, wenn es um angstbesetzte gesellschaftliche Prozesse geht. Für eine personalisierte Geschichte eignen sich in besonderer Weise Personen, die über ihren Habitus traditionsreiche, wiedererkennbare Typen verkörpern, die über ein kulturell etabliertes Identifikationspotential verfügen. Die Figur des Aussteigers ist ein solcher Typus. Sie bietet sich in besonderer Weise für eine personalisierende Narrativierung an. Wie das Beispiel der Berichterstattung über Schnellroda zeigt, läuft dieses Bedürfnis nach Personalisierung allerdings Gefahr, die Inszenierung politisch problematischer Personen zu unterstützen. Es sind diese aufmerksamkeitsökonomischen Verstrickungen von politischer Aktion und medialer Narration, die Jörg-Uwe Albigs Roman Zornfried
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Serrao, Marc Felix: Aufbruchstimmung bei der Neuen Rechten, in: Neue Züricher Zeitung vom 15.09.2018.
Das Elend der Homestory
(erschienen im Februar 2019) verarbeitet. Erzählt wird von einem Journalisten, Jan Brock, der bei seinen Recherchen über den obskuren Dichter Storm Linné herausfindet, dass sich auf dessen Wohnsitz, der Burg Zornfried im Spessart, eine Gruppe rechtskonservativer Gleichgesinnter versammelt hat, die diesen Dichter kultisch verehren. In der Hoffnung auf eine aufmerksamkeitsheischende Story macht er sich daran, in diese politische Parallelwelt einzutauchen. Unschwer lassen sich hinter der Burg und ihrem Besitzer, Hartmut Freiherr von Schierling, der reale Götz Kubitschek und sein Rittergut in Schnellroda erkennen. Zornfried ist ein Schlüssel- und Zeitroman, der sich in großer Nähe zur Gegenwart befindet, und als Intervention in die mediale Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Neuen Rechten gelesen werden muss. Im Folgenden möchte ich zum einen den Diskurs analysieren, den der Roman aufgreift, zum anderen den Roman selbst und seine doppelte satirische Strategie. Es handelt sich auf der Ebene des narrativen Gegenstandes um eine Satire auf die Neue Rechte in Deutschland; auf der Ebene der Erzählung um eine Satire auf den Journalismus, der diese Rechtsradikalen als öffentliches Phänomen überhaupt erst mit diskursiver Relevanz ausgestattet hat. Zornfried ist ein diskurskritischer Roman, der ein medienethisches Problem der Gegenwart parodiert: Eine kulturell vorstrukturierte Figur wie der Aussteiger kann, zusammengenommen mit einem vorstrukturierten journalistischen Genre wie der Homestory, dazu führen, dass sich die medialen Protogonisten, die eigentlich für die kritische Analyse der Selbstinszenierung bestimmter politischer Gruppen zuständig wären, mehr oder weniger bewusst in deren Dienst stellen.
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Politisierte Aussteigerkulturen
Die Reminiszenzen an reale Ereignisse und Personen in Zornfried sind wenig verrätselt und sollen von den Leser*innen schnell erkannt werden.4 Gleich zu Beginn gibt es eine Szene, in der eine Podiumsdiskussion – allem Anschein nach über den Aufstieg der Rechten – von einer Gruppe junger Männer gestürmt wird, die einen Satz ihres Stammdichters Storm Linné an die Wand
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Zu den Strategien des Schlüsselromans vgl. Franzen, Johannes: Indiskrete Fiktionen. Theorie und Praxis des Schlüsselromans 1960-2015, Göttingen: Wallstein 2018.
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sprühen: »VERSKLAVT NICHT VOR DER HEUCHLER FEIGER ZUNGE.«5 Der Erzähler beobachtet diese Eindringlinge mit Interesse: »Ihre einzige Uniform waren die Sonnenbrillen und das schwarze T-Shirt mit dem gelben W.«6 An dieser Stelle wird bereits eine der stilistischen Strategien satirischer Delegitimierung deutlich, die im Roman immer wieder zum Einsatz kommt: die Beschreibung von Körpern. Der Erzähler stellt fest: »Ich glaube, dass es diese Buchstaben waren, die uns bedrohen sollten, nicht die Körper der Männer, die eher schmächtig waren, schwammig oder geradezu ungeheuerlich dick.«7 Das gelbe W. auf schwarzem Grund, das die T-Shirts der Störer ziert, ist eine Anspielung auf das Logo der realen Identitären Bewegung, der griechische Buchstabe Lambda in einem gelben Kreis, angeblich eine Anspielung auf die Schilder, die die Spartaner im Krieg gegen die Perser geführt haben.8 Die Aktion selbst, die Störung der Podiumsdiskussion, ist als Anspielung auf ähnliche Aktionen der rechtsradikalen Identitären Bewegung deutlich zu erkennen. Dazu gehört die Stürmung einer Veranstaltung mit Jakob Augstein und Margot Käßmann im Gorki-Theater oder das Erklettern des Brandenburger Tors (beides 2016).9 Zudem erinnert die Szene an eine Aktion, die bereits im Jahr 2010 stattfand, als eine Lesung von Günter Grass im Thalia Theater in Hamburg gestört wurde. Mit dem Ruf »Vatti! Wir haben dir was mitgebracht!«, wurde ein Plakat entrollt, das auf die SS-Mitgliedschaft des Autors anspielte. Der Anführer dieser Gruppe, einer Art von Vorläuferorganisation der Identitären Bewegung, war Götz Kubitschek.10 Sein im Jahr 2000 gegründeter Antaios Verlag war zu diesem Zeitpunkt bereits zum führenden Ort für rechtskonservative und rechtsradikale Publikationen aufgestiegen. Dort erschien etwa das umstrittene Finis Germania des 2016 verstorbenen Historikers Rolf Peter Sieferle – ein Buch, das unter anderem wegen Sätzen wie diesem kontrovers besprochen wurde: »Der Nationalsozialismus, genauer Auschwitz, ist zum letzten Mythos einer durch und durch rationalisierten Welt geworden. Ein Mythos ist eine Wahrheit, die jenseits der Diskus-
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Albig, Jörg-Uwe: Zornfried, Stuttgart: Klett-Cotta 2019, S. 11. J.-U. Albig: Zornfried, S. 10. J.-U. Albig: Zornfried, S. 10-11. Vgl. Niedersächsisches Ministerium für Inneres und Sport (Verfassungsschutz): Identitäre Bewegung Deutschland (IBD). Ideologie und Aktionsfelder, Hannover 2016, S. 16. Vgl. Lau, Mariam: Die Avant-Gestrigen, in: Die Zeit vom 24. November 2016. Vgl. Serrao, Marc Felix: »Der kalte Blick von rechts«, in: Süddeutsche Zeitung vom 7. September 2008.
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sion steht.«11 In Schnellroda ansässig sind außerdem der Thinktank Institut für Staatspolitik und die Zeitschrift Sezession. Inzwischen gilt das Rittergut auch als Kaderschmiede für den Nachwuchs der AfD und Auftrittsort führender AfD-Politiker*innen. Ein prominenter Gast war etwa Björn Höcke, der sich mit den Worten zitieren lässt, »Schnellroda ist eine Oase der geistigen Inspiration«.12 Dieses politische Engagement Kubitscheks steht in einem gewissen Kontrast zu dem Bild, das in den Homestorys entsteht, die Journalist*innen über ihre Besuche in Schnellroda verfasst haben. Hier wird der Verleger vor allem als rechter Aussteiger inszeniert, der mit seiner Familie einen ländlichen, anti-urbanen Lebensstil pflegt. In einer 3sat Dokumentation wird er beim Füttern der Hühner gezeigt, im Artikel der FAZ wird berichtet, dass zum Abendessen »selbstgemachter Ziegenkäse« aufgetragen wurde, »daneben Brot, Wurst, Butter und Bier«.13 Auch dem Spiegel scheint es ein Anliegen zu sein, über den Speiseplan in Schnellroda zu berichten: »Fast alles, was es bei ihnen zu essen gibt, kommt aus ihrem Garten oder ihrem Stall. Der Apfelsaft ist selbst gemostet, das Brot selbst gebacken, der Rahmkäse kommt von ihrer Hofziege.«14 Ebenso ist die Tatsache, dass sich die Eheleute siezen, und dass die Kinder altdeutsche Namen tragen, fester Bestandteil der Darstellung. Mariam Lau thematisiert den Umstand, dass es sich dabei um eine Inszenierung handelt, die an Aussteigerkonzepte anschließt, reproduziert diese Inszenierung dann aber selbst in ihrem Artikel für die Zeit: Kubitscheks Rückzug aufs Land, wo er morgens die Ziegen melkt, ist eben auch Teil seiner großen ›Absage an die One-World-Ideologie‹, mit ihren Handys und ihrer künstlichen Befruchtung. ›Ökologisch‹, sagt Kubitschek, über eine Schale frischer Brombeeren gebeugt, ›das sind nicht fair gehandelte Kiwis aus Australien. Ökologisch ist, wenn wir im Winter Kraut und Schlachteplatte essen.‹ Lob des Regionalen, des Unverstellten, Natürlichen – das alles hat man schon einmal ganz woanders gehört.15 Man gewinnt den Eindruck, als fordere die Selbstinszenierung des Verlegers eine bestimmte Art der Narrativierung heraus, eine exotisierende Erzählung,
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Sieferle, Rolf Peter: Finis Germania, Schnellroda: Antaois 2017, S. 63. Speit, Andreas: »Wir sind im Aufwind«, in tageszeitung vom 6. Februar 2016. J. Bender/R. Bingener: »Rechte Fäden«. Rapp, Tobias: »Der dunkle Ritter«, in: Der Spiegel vom 17. Dezember 2016. Lau, Mariam: »Eigentlich alles wie im Wendland«, in: Die Zeit vom 3. August 2017.
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die ihre Attraktivität für die Leser*innen mehr durch die Darstellung persönlicher Lebenspraxis gewinnt als durch die Analyse konkreter politischer Inhalte oder Zusammenhänge. Die journalistische Gattung, die dem am ehesten entspricht, ist das Porträt als Homestory, in der die besuchte Hauptfigur natürlich einen gewissen Heimvorteil besitzt. Götz Kubitschek stellte in einem Rückblick auf den FAZ-Artikel, der zu Beginn zitiert wurde, spöttisch fest, man sei »auf ausdrücklichen Wunsch der Redakteure« in den Ziegenstall gewechselt.16 Diese gattungsspezifische Erzählweise führt zu einer Beschreibung dicht an der Person, die sich bisweilen am Rand der Verschmelzung mit dem Objekt des Artikels bewegt, etwa durch den starken Einsatz erlebter Rede. So führt die Faszination für die Aussteigerfigur dazu, dass analytische Distanz zum Gegenstand abgebaut wird. Die Selbstinszenierung Kubitscheks greift bewusst auf die Figur des Aussteigers zurück, als moderner Typus, der sich in besonderer Weise dazu eignet, Vehikel anti-moderner Zivilisationskritik zu sein.17 Der Aussteiger befindet sich zwar außerhalb der Gesellschaft, ist aber ein integraler Bestandteil der modernen gesellschaftlichen Folklore. Die Stigmatisierung des Außenseiters erzeugt insofern ein heroisches Potential, als dieser den weithin empfundenen Entfremdungserfahrungen der modernen Arbeitswelt, der Konsumkultur und anderen Unbill der Moderne nicht nur mit Kritik und Klage entgegentritt, sondern auch mit einer radikalen Lebensentscheidung. Er verkörpert damit die heroische Extremform einer Modernekritik, die viele Menschen in Gegenwartsgesellschaften bis zu einem gewissen Grad anspricht. Qua Definition können die meisten Menschen natürlich keine Aussteiger sein, allerdings besitzt die Faszination für das Konzept des Aussteigers eine breite kulturelle Basis. Konkreten Ausdruck findet diese Faszination in weit rezipierten Aussteigernarrativen. Dazu gehören etwa das Interesse an historischen Figuren wie August Engelhardt, über dessen Versuch, zu Beginn des Jahrhunderts eine vegetarische Kolonie in Deutsch-Neuguinea zu gründen, Christian Kracht 2012 seinen vielbeachteten Roman Imperium geschrieben hat. Auch Bücher über die Künstlerkolonie Monte Verità finden ein
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Kubitschek, Götz: Die FAZ über Kositza und Kubitschek – Lückenpresse zu Besuch (18.04.2016). Siehe https://sezession.de/53877/die-faz-ueber-kositza-und-kubitscheklueckenpresse-zu-besuch (zuletzt aufgerufen am 03.10.2020). Vgl. Fischer, Alexander: »Existenzielle Spannungsverhältnisse. Überlegungen zum Begriff ›Aussteiger‹«, in: Archiv für Begriffsgeschichte 57 (2016), S. 259-275.
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Publikum, wie etwa Peter Michalziks 2018 veröffentlichte Monographie 1900. Vegetarier, Künstler und Visionäre suchen nach dem neuen Paradies. Die moderne Faszination für Aussteigerfiguren zeigt sich aber auch in Kuriositäten der deutschen Gegenwartskultur wie der Berichterstattung über Ulrich Weiner, einem Mann, der behauptet unter »Elektrosensibilität« zu leiden und deshalb in einem Funkloch im Schwarzwald leben zu müssen. Unter dem Titel »Der Mann, der im Wald lebt« zeigte der WDR 2017 eine 45 Minuten lange Dokumentation, die Weiner in den Mittelpunkt stellte.18 Aus dieser Dokumentation erfährt man auch, dass er regelmäßig Vorträge über die Gefahren des Elektrosmogs hält, in denen er sich spektakulär in einem strahlenabweisenden Anzug zeigt. Als Objekt der Narrativierung verkörpert er das ultimative Modernisierungsopfer – einen Menschen, der von der allgegenwärtigen Elektrizität, mit ihren aufdringlichen modernen Imperativen (ständige Mobilität, Arbeit, Kommunikation), zugrunde gerichtet wird. Nicht von ungefähr ist der Wald zentraler Bestandteil dieses Narrativs, als Rückzugsort ist er eine bevorzugte Projektionsfläche des anti-modernen Unbehagens. Im Kontext der historisch einflussreichen Stadt-Land-Konkurrenz bildet er einen wichtigen Topos, in dem sich das Fluchtpotential der Natur verdichtet, und zugleich das Potential heroischer anti-sozialer Abkehr.19 Diese Faszination für den Wald drückt sich auch in gegenwärtigen Lifestyle-Trends aus. Etwa in der Gründung des Naturmagazins Walden, das nach dem gleichnamigen Buch von Henry David Thoreau benannt ist: Walden; or, Life in the Woods, dem Gründungstext moderner Aussteigerliteratur von 1854. Über dieses Magazin aus der GEO-Reihe schrieb eine Rezensentin 2015 in der FAZ: »Was die ›Walden‹-Redaktion auf drei Doppelseiten als Lieblingsstücke für den Wald, den See und die Berge präsentiert, huldigt der Manufactum-Ästhetik – und dürfte sämtlich in die Kategorie überflüssiger Luxus fallen.«20 Der spöttische Verweis auf das Einzelhandelsunternehmen Manufactum, das Manufakturware im gehobenen Preissegment vertreibt, verortet die Aussteigerfantasien der Walden-Leser*innen in den Bereich großbürgerlicher Lebenspraxis. Sie erscheinen als Vertreter*innen einer Wohnkultur, die auf das Geschmackvolle, Naturverbundene, Einfache setzt. 18 19 20
Siehe https://programm.ard.de/TV/wdrfernsehen/menschen-hautnah--der-mann-der-im-wald-lebt/eid_2811178473002 Vgl. zum Walden-Mythos in der Gegenwartskultur Solvejg Nitzkes Essay »Walden Inc. Die letzten Männer«, in: Merkur 848 (2019), S. 61-70. Scheer, Ursula: Wo im dunklen Wald das große Abenteuer wartet, in: FAZ vom 23.05.2020.
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Leser*innen von Walden sind selbst keine Aussteiger, aber sie signalisieren über ihren Lebensstil eine Faszination für und Sehnsucht nach einer Authentizitätserfahrung, die der Aussteiger radikal verkörpert. Das Magazin und die ihn umgebende Lebenspraxis verdeutlichen, was die kulturelle Grundlage für das Begehren nach Aussteigergeschichten bildet. Diese Faszination wird dort problematisch, wo sie einer Politisierung unterworfen wird, die im Konzept des Aussteigers bereits angelegt ist. Die grundsätzliche Opposition des Aussteigers zur Gesellschaft enthält ein naheliegendes sozialkritisches Potential, das in den meisten Fällen antimodern und anti-zivilisatorisch eingefärbt ist. Das zeigt sich im Fall einer rechtsradikalen Aussteigerkultur, wie sie Andrea Röpke und Andreas Speit in ihrem Buch Völkische Landnahme. Alte Sippen, junge Siedler, rechte Ökos (2019) beschreiben, mit besonderer Dringlichkeit. Hier verschmilzt ein Lebensstil, der auf breite gesellschaftliche Sympathie zählen kann, mit konkreter rechter Ideologie. Weitere Beispiele für diese Aussteigerkulturen sind die Bewegung der Reichsbürger, die Gemeinschaften der Anastasia-Bewegung, die religiöse Vorstellungen mit rechtsradikalem Gedankengut verbinden oder Parallelgesellschaften, deren Mitglieder ihre Kinder in Organisationen wie der 2009 verbotenen Heimattreuen Deutschen Jugend erziehen, wie das Heidi Benneckenstein in ihrer Autobiographie Ein deutsches Mädchen. Mein Leben in einer Neonazi-Familie (2017) schildert.
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Zornfried als medienethische Satire
Götz Kubitscheks Rittergut in Schnellroda verkörpert eine Version dieser politisierten Aussteigerkultur, die für die Presse offenbar gut verdaulich erscheint. Man kann davon ausgehen, dass das auch der Grund ist, warum die Journalisten in ihren Homestorys über den Ziegenkäse herstellenden Verleger teilweise so wenig Berührungsängste zeigen. Diese eigentümliche Nähe von Journalismus und rechtsradikaler Kultur ist der Ausgangspunkt der Satire in Jörg-Uwe Albigs Zornfried. Der Erzähler, Brock, hofft auf eine Geschichte nach dem Vorbild des New Journalism: Ich wusste nur, dass ein Reporter eintauchen musste, um den Überblick zu behalten. Meine Vorbilder aus Amerika hatten mit Motorradrockern Speed geschluckt und Tankwarte verdroschen, waren in bemalten Bussen voller zugedröhnter Hippies und Geistesgestörter durch das Land gereist, den wei-
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ßen Anzug voller Flöhe. Ein paar Tage auf Burg Zornfried waren im Vergleich dazu ein Yoga-Retreat.21 Was hier in Frage gestellt wird, ist die übersteigerte Wertschätzung für eine bestimmte Art des journalistischen Erzählens, verbunden mit der Hoffnung auf einen ähnlichen, eigentlich literarischen Ruhm, wie ihn Tom Wolfe, Truman Capote oder Gay Talese erlangten. Brock erscheint als Typus des Journalisten, der überall nur die spannende Geschichte sucht – nicht aus einem Bedürfnis heraus, zu informieren oder zu analysieren, sondern um zu unterhalten und um sich selbst als großen Erzähler darstellen zu können. Hier zeigen sich deutliche Parallelen zum realweltliche Skandal um den Spiegel-Journalisten Claas Relotius, der, um seinen Storys inhaltliche Kohärenz und Spannung zu verleihen, weitumfassende Fälschungen begangen hat.22 Zu Beginn des Romans überredet Brock seinen Chefredakteur dazu, die Geschichte über Zornfried schreiben zu dürfen, indem er auf das »Kerngeschäft« des Journalismus verweist: »Ob ich ihn an das Kerngeschäft des Journalismus erinnern müsse: schreiben, was ist, und nicht, was sein soll.«23 Es handelt sich um eine transparente Anspielung auf ein Zitat Rudolf Augsteins, das der Spiegel dazu nutzte, die Aufarbeitung des Relotius-Skandals auf seiner Titelseite zu illustrieren.24 Das hohe Ethos des Informationsauftrags wird von Anfang an als Rationalisierung für das geltungssüchtige Geschichtenerzählen entlarvt. Die erzählerische Infrastruktur für eine Satire auf den Journalismus ist damit geschaffen. Brock fährt nach Zornfried, wo er sich in einem nahen Gasthof einmietet. Von hier aus versucht er, dem Hausherrn Schierling, die Figur, die sich auf den realen Götz Kubitschek bezieht, näher zu kommen. An dieser Stelle beginnt die Satire auf das Phänomen der Neuen Rechten. Zornfried ist eben nicht nur ein Roman, der sich mit den Widersprüchen der journalistischen Konstruktion der rechtsradikalen Aussteigerfigur auseinandersetzt, sondern sich auch der Aussteigerfigur selbst zuwendet. Das geschieht vor allem, indem die Ideologie, die durch die lebenspraktische
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J.-U. Albig: Zornfried, S. 36. Brigitte Fehrle, Clemens Höges, Stefan Weigel: Der Fall Relotius. Abschlussbericht der Aufklärungskommission, siehe https://cdn.prod.www.spiegel.de/media/67c2c4160001-0014-0000-000000044564/media-44564.pdf (letzter Aufruf 03.10.2020) J.-U. Albig: Zornfried, S. 21. Der Spiegel vom 22.12.2018.
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Selbstinszenierung des einfachen Landlebens einer Öffentlichkeit schmackhaft gemacht werden soll, im Roman als ein exaltierter Lifestyle bloßgestellt wird. Die Rechtsradikalen, die Brock in Zornfried vorfindet, sind eben keine dämonischen Intellektuellen einer neuen »Konservativen Revolution«, sondern groteske Schwätzer im Gewand einer Pseudo-Naturverbundenheit. Das zeigt sich etwa in einer Besessenheit der Burgbewohner von kulinarischen Dingen, die die eigentümlichen Speiseplanbeschreibungen in den Schnellroda-Homestorys aufgreift. Immer wieder wird von den Töchtern Schierlings, die austauschbare deutschtümelnde Namen tragen, eine Art der rechten Haute-Cuisine kredenzt: »Mit starrer Miene servierte Margret oder Thusnelda Ziegencouscous mit gehäckselten Runkelrüben.«25 Diese Mahlzeiten begleitet Schierling mit einem Diskurs, der den rechtsradikalen Intellektualismus auf Lifestyle-Kalendersprüche reduziert: »Bevor die Kartoffel aus Amerika kam, sagte er, war Hirse die Speise des Volkes.«26 Oder bei einem Gang durch den Garten der Burg: »Ach, dieser Löwenzahn, summte Schierling tonlos und zupfte ein gezacktes Büschel aus dem Mangoldbeet. Sein Honig ist ja delikat. Im Mangold hat man ihn aber trotzdem nicht gern.«27 Diese Übersteigerung des kulinarischen Interesses lässt sich auch als transparenter Seitenhieb auf die Berichterstattung über das reale Schnellroda lesen, in der die Leser*innen ausführlichst über den örtlichen Speiseplan informiert wurden. Die Reduktion der rechtsradikalen Ideologie auf Essensfragen spiegelt und parodiert den Mangel an kritischer Distanz auf Seiten der Journalist*innen. Gleichzeitig gehören Essensfragen natürlich auch zu den grundlegenden Aspekten individueller Lebenspraxis. Diese Lebenspraxis wiederum stimuliert die Faszination für die Figur des Außenseiters. Dem Interesse an Individualisierung kommt das Genre der Homestory entgegen, das dieses kulturelle Rollenmuster heroisiert. Die satirische Delegitimierung des Aussteigerheroismus in Zornfried richtet sich auch gegen die Waldbegeisterung der Burggemeinschaft. Dem Roman vorangestellt ist eines der Gedichte von Storm Linné, dem Dichter, der auch in der Burg wohnt, und der von den Bewohnern als poetischer Stichwortgeber ihrer ideologischen Außenseiterstellung kultisch verehrt wird. Im gesamten Roman befinden sich zahlreiche dieser Gedichte, bei denen es sich
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J.-U. Albig: Zornfried, S. 90. J.-U. Albig: Zornfried, S. 92. J.-U. Albig: Zornfried, S. 66.
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um Stilparodien des hohen Tons von Stefan George handelt. Das Gedicht zu Beginn des Romans trägt den Titel Spessart: Dort wo der fuchs in scharfer waid den hasen schlägt Wo raupen-schmaus erstirbt durch schnabels wucht Wo grauer rudel hunger nachts durch tannen schnürt Der kitze frevel-zahl im fraß zu bannen sucht Dort wächst die einheit die aus zwietracht lebt Der hohe friede der durch blut gemehrt Dort sprießt der tausendfache tod der segen bringt Im wald der die moral des lebens lehrt.28 Diese Gedichte parodieren über ihre stilistische Schwülstigkeit eine verkitschte Waldbegeisterung, die im Wald den Inbegriff der anti-urbanen Gegenwelt zu sehen vermeint, einen hierarchisch geordneten neo-darwinistischen Kosmos, der »die moral des lebens lehrt«. Der Rückzug, der hier besungen wird, findet seinen ideologischen Widerpart in weiteren, ziemlich kleinmütigen Aussagen des Burgherren Schierling: »Ich will hier keinen kommunistischen Fichtenstaat, sagte er und hob die Stimme an. Ich will eine Gemeinschaft aus herrschenden und dienenden Bäumen.«29 Aber auch in diesem Zusammenhang stehen Konsumentscheidungen im Vordergrund. Zum Pilzsammeln erscheint Schierling dann, »das Pilzkörbchen in der Linken, in der Rechten das Pilzmesser, garantiert mit Pflaumenholzgriff und Echthaarbürste.«30 Die ideologisch würdevolle Lebenspraxis wurde in reinen Lifestyle überführt. Die Entlarvung der Neuen Rechten als Lifestyle-Schwätzer wird im zweiten Teil des Romans wieder eingeholt durch die Satire auf die Journalist*innen, die diesen Schwätzern überhaupt erst ihr politisches Gewicht geben. Es tritt nämlich eine weitere Journalistin, Jenny Zerwien, auf den Plan, die viel erfolgreicher dabei ist, Nähe zu Schierling und seiner Gemeinschaft aufzubauen als der immer verstörtere Brock. Das liegt vor allem daran, dass Zerwien noch viel weniger Berührungsängste im Umgang mit den Rechtsradikalen besitzt als ihr Konkurrent, was schließlich dazu führt, dass sie auf der Burg sogar einzieht. Immer mehr wird Brock von der Seite Schierlings verdrängt
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J.-U. Albig: Zornfried, S. 5. J.-U. Albig: Zornfried, S. 53. J.-U. Albig: Zornfried, S. 95.
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und merkt erst in der plötzlichen peinlichen Rivalität um dessen Aufmerksamkeit, wie stark er eigentlich auf die Ressource der Nähe angewiesen ist, um seine Story schreiben zu können. Diese Ressource wird, je nach Bereitschaft, sich auf die Selbstinszenierung des Objekts einzulassen, verteilt. Wie skrupellos Zerwien in dieser Hinsicht ist, zeigt sich bei einem Fotoshooting, bei dem sie und ihr Fotograf den Burgherren visuell als interessante Figur aufbauen, indem sie ihn neben einer Ritterrüstung ablichten: Der Fotograf rüttelte am Schwert des Ritters, doch Frau Zerwien nahm ihn beiseite, und nach kurzer Debatte drückte sie dem Freiherrn die Waffe in die noch zögernd geöffnete Hand. Ihre Aufforderung, das Eisen über dem Kopf zu schwenken, lehnte Schierling ab. Doch schließlich war er einverstanden, beidhändig den Knauf zu umklammern und sich auf die Spitze der Klinge zu stützen. Wie das Hamburger Bismarckdenkmal, sagte Frau Zerwien zufrieden und fügte fast warm hinzu, wohl schon eine Idee für die Bildunterschrift: Der Goldene Schnitter.31 Auch bei dieser satirischen Überspitzung eines allzu sehr auf Mythenbildung versessenen Journalismus handelt es sich um eine direkte Anspielung auf reale Vorgänge. In der Homestory des Spiegel wurde Kubitschek bereits im Titel als der »Dunkle Ritter Goetz« bezeichnet, eine zumindest ansatzweise romantisierende Darstellung, die mit einem entsprechenden Foto illustriert wurde, das Kubitschek brütend in ein Buch vertieft in einem dunklen Zimmer zeigt.32 Zornfried überzeichnet einen Porträtjournalismus, der sich von der Exotik seines Gegenstandes blenden lässt und diesem so auf der Ebene der Narration zu politischem Einfluss verhilft. Was diese Exotik unmittelbar abrufbar macht, ist der inszenatorische Bezug auf die Tradition der heroischen Aussteigerfigur. Es handelt sich bei Zornfried vor allem um eine medienethische Satire. Ein grundsätzliches Problem, das ein solcher Roman in Bezug auf die Ethik des eigenen Erzählens generiert, ist, dass er, indem er die Rechtsradikalen darstellt, ähnlichen Widersprüchen unterworfen ist, wie der Journalismus, über den er sich lustig macht. Auch Zornfried schenkt den Rechtsradikalen Aufmerksamkeit, die diese in Einfluss ummünzen können (Was in Schnellroda auch registriert wurde. Ellen Kositza schreibt in Sezession über Albigs Beschwerde, dass man den Rechtsradikalen keine Aufmerksamkeit hätte geben 31 32
J.-U. Albig: Zornfried, S. 98. T. Rapp: Der dunkle Ritter.
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sollen: »Genau. Und dann kommen auch noch die ›Schriftsteller‹!«33 ). Auch diese Erzählung muss sich die Frage stellen, ob sie das narrative Potential der Aussteigerfiguren nicht nutzt, um eine mitreißende Satire zu erzeugen, die dann aber wiederum das Heroisierende der faktualen Vorlagen reproduziert.34 Zornfried versucht, diesem, wohl in Satiren nie ganz vermeidbarem, Problem beizukommen, indem sich der Roman selbst schon durch intertextuelle Verweise als Kontrafaktur eines Schauerromans zu erkennen gibt. Von Beginn an liest sich der Text auch als Hommage etwa auf Bram Stokers Dracula oder Edgar Allen Poes The Fall of the House of Usher. Die Ankunft Brocks im Schloss reproduziert bekannte Topoi des Horrorgenres: Dem zunächst unschuldigen Protagonist wird Einlass in eine Welt gewährt, die sich mit der Zeit als unheimlich und schließlich als existenzbedrohlich erweist.35 Anspielungen auf 33 34
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Kositza, Ellen: Das war’s. Diesmal mit: Feminismus, (27.02.2019), https://sezession.de/60357/das-wars-diesmal-mit-feminismus (letzter Aufruf 03.10.2020). Es ist an dieser Stelle geboten, in aller Kürze auch die wissenschaftsethischen Implikationen kurz zu reflektieren, die damit einhergehen, dass ganz am Ende der aufmerksamkeitsökonomischen Verwertungskette des Phänomens ›Neue Rechte‹ im Fall dieses Aufsatzes die Literaturwissenschaft steht. Wenn ein Roman wie Zornfried, der die Mechanismen parodiert, die dazu führen, dass eine politische Gruppe, die nach Aufmerksamkeit strebt, durch die (angeblich) negative Berichterstattung noch mehr Aufmerksamkeit bekommt, selbst Teil dieser Mechanismen ist, gilt dies auch für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ihm. Es handelt sich um einen Widerspruch, der sich nicht auflösen lässt. Allerdings kann man Probleme vermeiden, indem man sich auf die kulturellen Gegebenheiten konzentriert, die dazu führen, dass eine politische Erscheinung wie die ›Neue Rechte‹ überhaupt entstehen kann – indem man also auf der Meta-Ebene der ›Gemachtheit‹ eines Phänomens bleibt. So kann verhindert werden, dass man dem glamourösen Grusel des Themas verfällt und ihm so zu einer Relevanz und Tiefe verhilft, die ihm eigentlich nicht zukommt. Dazu würden etwa, und das richtet sich an die zukünftige Forschung zum Thema, ein Verzicht auf tiefsinnige geistesgeschichtliche Untersuchungen der Bildungs- und Belesenheitsdarstellung einiger Protagonisten der ›Neuen Rechten‹ gehören, etwa Untersuchungen zur George-, Hölderlin-, Schmitt-, oder Krachtrezeption. Eine rezeptionsgeschichtliche Aufwertung der politischen Inszenierung würde in diesem Fall in die gleiche Falle tappen, wie die von Albig parodierten Journalist*innen, wenn sie die Verwendung dieses Referenzen nicht in den Rahmen einer weiterführenden Analyse politischer Strategien stellt. Gegen Ende des Romans findet Brock im Wald den scheinbar leblosen Storm Linné auf einem Katafalk. Das Szenario, das sich später noch einmal wiederholt, alludiert auf die topische Szene aus Vampirerzählungen, in denen der Vampir in seinem Sarg entdeckt wird. Auch auf der sprachlichen Ebene wird diese Tradition der Schauerromantik angedeutet: »Doch plötzlich bewegten sich diese Augen, in einem stufenlosen Schwenk,
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diese erzählerische Tradition werden sogar explizit von Brock in seine Erzählung eingebaut. Der erste Anblick der Burg führt sofort zu intertextuellen Experimenten: »Ich dachte an Poes Haus Usher, die frostigen Mauern, die toten Fensterhöhlen. Sogar Ushers Teich war da.«36 Man hat den Eindruck, dass hier tastend ein Ton, eine literarische Atmosphäre für die zu schreibende Geschichte ausprobiert wird. Auch dahinter steht eine direkte Anspielung auf eine Schnellroda-Homestory. In der Welt wurde dem entsprechenden Artikel ein eigentümlicher meta-narrativer Exkurs vorangestellt: Wir haben uns das anders vorgestellt. Wir hatten einen Arbeitstitel. »Das Schloss« sollte dieser Text heißen, denn wir stellten uns ein Schloss vor, wenn wir an das Rittergut von Götz Kubitschek dachten. »Das Schloss«, da wäre alles drin gewesen, ein bisschen Kafka (kafkaesk, passt immer), ein bisschen Stefan George (Castrum Peregrini, diese Zeitschrift der George-Jünger, da ist das Schloss schon im Titel) – und ja, wir dachten auch an die SS-Burgen und ganz allgemein an rechten Dünkel, an Hochmut und Gutsherrentum.37 Dieser Einstieg ist in gewisser Hinsicht selbst schon eine Parodie auf das Genre der Schnellroda-Homestory, die sich eigentümlicherweise in den Gegenstand zurückverwandelt, von dem sie Abstand nimmt. Offen wird hier das Bedürfnis nach einer spannenden Story in Szene gesetzt, das die Aussteigerinszenierung Kubitscheks auf journalistischer Seite auslöst und in diesem Fall als literarischer Anspruch erscheint. Die Referenzen sind Kafka und George: Der »Arbeitstitel« und das damit einhergehende Geständnis, dass man sich das Erlebnis bereits »vorgestellt« hatte, verweisen auf die Zwangsmechanismen journalistischer Genres wie der Homestory, die wie eine narrative Schablone bestimmte Aspekte der Geschichte vorgeben. Dazu kommt der glamouröse Grusel des Sujets (rechtsradikale Intellektuelle). Zornfrieds Rückbezüge auf die Tradition des Horrorromans verweisen dieses Bedürfnis des Porträtjournalismus angesichts der Exotik der Aussteigerfigur in das Reich der Genrefiktion. Die medienethische Aussage dahinter lautet: Die Homestorys über Schnellroda sind nichts anderes als Gruselgeschichten für das Bürgertum, die eben vor allem die angenehme Mischung aus Immersion und
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und trafen zielgenau meinen Blick, in dem jetzt wohl ein ziemlich dumm aussehender Schrecken stand.« J.-U. Albig: Zornfried, S. 120. J.-U. Albig: Zornfried, S. 24. Lühmann, Hannah: »Ein Gespenst geht um«, in: Welt am Sonntag vom 29.05.2016.
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Distanz, Identifikation und Abscheu ermöglichen, die auch die Attraktivität entsprechender Romane ausmacht.
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Glücksversprechen Neoanarchismus Zur Verhandlung anarchistischer Historie in der spanischen Gegenwartsliteratur Teresa Hiergeist
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Zur anarchistischen Vergangenheit und ihrem Revival
Der Anarchismus erreicht im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert in Spanien eine soziopolitische Relevanz und Konkretheit, die europaweit ihresgleichen sucht.1 Anarchistische Gruppierungen, die Alternativen zur nationalstaatlichen Souveränität2 und zum kapitalistischen Wirtschaftssystem3 propagieren, tauchen ab den 1860er Jahren auf, seit den 1880ern sind sie so weit verbreitet und fest gesellschaftlich verankert, dass sie als Akteure mit
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In Russland implementiert sich der Anarchismus relativ spät, in Großbritannien unterliegt er strengen Verboten, in Deutschland entwickelt er sich nicht in der Breite, in Italien ist er aufgrund der starken Konkurrenz mit dem Sozialismus vor allem in den südlichen Regionen, jedoch nicht flächendeckend verbreitet, in Frankreich etabliert er sich vor allem jenseits der Arbeiterbewegung. Vgl. González Calleja, Eduardo: »Clandestinidad y tentación revolucionaria. Los exilios anarquistas en París durante la Restauración (1893-1931)«, in: Marie-Claude Chaput (Hg.), De l’anarchisme aux courants alternatifs (XIX-XXIe siècles), Paris: Publidix 2006, S. 68). Spanien bildet mithin in Europa im genannten Zeitraum gleichsam eine Säule des Anarchismus. Vgl. Manfredonia, Gaetano: L’anarchisme en Europe, Paris: PUF 2001, S. 72. Diese mache den Einzelnen, so die Argumentation, unfrei, behindere ihn in seiner kreativen Entfaltung und verhindere die politische Partizipation aller und damit die wahrhafte Umsetzung der Ideale der Französischen Revolution. Vgl. Dugast, Jacques: La vie culturelle en Europe au tournant des XIXe et XXe siècles, Paris: PUF 2001, S. 7; Beaud, Olivier: La puissance de l’État, Paris: PUF 1994, S. 305. Der Kapitalismus bedinge eine ungleiche Vermögensverteilung, soziale Spaltung und in weiterer Folge moralischen Verfall. Vgl. Vicente, Laura: Historia del anarquismo en España, Madrid: Catarata 2013, S. 33.
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charakteristischem Profil wahrgenommen werden,4 bis etwa 1920 haben sie sich dergestalt konsolidiert, dass die Idee einer Gesellschaft ohne Staat und Herrschern aus der soziopolitischen Landschaft nicht mehr wegzudenken ist.5 In Erscheinung treten sie zuvorderst über ihre publizistischen Tätigkeiten. In der Frühphase der Bewegung kommen eine Reihe von propagandistisch motivierten Zeitungen und Zeitschriften sowie zahlreiche Flugblätter und Kolportageromane heraus, die Kommunikationskanäle und Gestaltungsformen jenseits der etablierten, als korrumpiert wahrgenommen Medien erschließen.6 Zweitens gründen sich etliche Schauspieltruppen und Bildungsinitiativen, die bisweilen von Arbeiterzentrum zu Arbeiterzentrum ziehen, um die Bevölkerung mittels Theaterstücken, Lesungen, Vorträgen und Kursen für ihre Sache zu sensibilisieren.7 Drittens stellt die ›Direkte Aktion‹ eine tragende Säule des anarchistischen Selbstausdrucks dar.8 Hierbei handelt es sich um Handlungen, welche die erwünschte Gesellschaftsordnung im hic et nunc des kapitalistischen Nationalstaats beginnen lassen. Dazu zählen etwa kollektivistisch geführte Unternehmen, reformpädagogische Schulprojekte und Kommunen, in denen die Werte der ersehnten Gesellschaft unmittelbar gelebt werden, im Extremfall aber auch – und hierin paart sich der Idealismus wie häufig in der Geschichte der Moderne mit der Gewalt – terroristische Anschläge auf Politiker, Fabrikbesitzer, Militärs und Kleriker.9 Alles in allem erweisen sich anarchistische Gruppierungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Spanien als treibende soziopolitische Kräfte: Sie fungieren als Motor des gewerkschaftlichen Engagements10 und des Widerstands gegen die Diktatur Primo de Riveras,11 sind im Bürgerkrieg im Kampf gegen die Faschisten enga-
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Vgl. G. Manfredonia: L’anarchisme en Europe, S. 12. Vgl. Esenwein, Georges Richard: Anarchist Ideology and the Working-Class Movement in Spain, 1868-1898, Berkeley: University of California Press 1989, S. 6. Vgl. Litvak, Lily: »La prensa anarquista 1880-1913«, in: Bert Hofmann/Pere Joan i Tous/Manfred Tietz (Hg.), El anarquismo español y sus tradiciones culturales, Frankfurt a.M.: Vervuert 1995, S. 217 sowie S. 235; Aisa, Ferran: Dinamita cerebral. Cultura, literatura, arte y poesía anarquista, Serra de Tramuntana: Calumnia 2017, S. 20. Vgl. Baxmeyer, Martin: Das ewige Spanien der Anarchie. Die anarchistische Literatur des Bürgerkriegs (1936-1939) und ihr Spanienbild, Berlin: tranvía 2012, S. 160. Vgl. Álvarez Junco, José: La ideología política del anarquismo español (1868-1910), Madrid: Siglo XXI 1976, S. 403. Vgl. Loick, Daniel: Anarchismus zur Einführung, Berlin: Junius 2017, S. 185-192. Vgl. L. Vicente: Historia del anarquismo en España, S. 16. Vgl. González Calleja, E.: »Clandestinidad y tentación revolucionaria », S. 72.
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giert12 und erwirken zwischen 1936 und 39 in zahlreichen Unternehmen und weiten Landesteilen führerlose Organisationsstrukturen.13 Dieser Erfolg nimmt freilich mit dem Beginn der Franco-Diktatur 1939 ein jähes Ende. Wie andere oppositionelle Gruppierungen werden anarchistische Vereinigungen mit sofortiger Wirkung verboten, ihre Mitglieder sind kompromisslosen Repressionen, Inhaftierungen und Hinrichtungen ausgesetzt,14 die jegliche Aktivität im Keim ersticken und viele zur Flucht ins europäische oder lateinamerikanische Ausland veranlassen.15 Auch die staatliche Propaganda tut ihr übriges, so dass der Anarchismus innerhalb weniger Jahre massiv an Popularität und Einfluss einbüßt.16 Bis auf ein paar Streiks in den 1950er Jahren und vereinzelte Stadtguerilla-Aktionen in den 1970ern treten seine Anhänger im Inland jahrzehntelang nicht in Erscheinung.17 Auch nach Ende der Diktatur 1975 und während des Übergangs zur Demokratie bekommt die Strömung kaum neuen Schwung,18 die Nachfrage nach linken Utopien scheint in dieser Phase, die einen Konsens der ehemaligen Bürgerkriegslager anstrebt, nahezu versiegt. Umso mehr mag es verwundern, dass sich in den letzten Jahren vor allem im jugendkulturellen Bereich vermehrt Bewegungen und Gruppierungen etabliert haben, die sich als ›anarchistisch‹ oder ›neoanarchistisch‹ bezeichnen, für eine Gesellschaft ohne Staat oder für die Wiederaneignung öffentlicher Handlungsspielräume durch das Individuum eintreten, einen charakteristischen, alternativen Lebensstil pflegen und die klassische Kampfes- und Revolutionsrhetorik bedienen.19 Spätestens seit die Folgen der Wirtschaftskrise 12 13 14
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Vgl. VV.AA.: Anarquismo frente a los nacionalismos, Madrid: Fundación Anselmo Lorenzo 2018, S. 103. Vgl. L. Vicente: Historia del anarquismo en España, S. 154; J. Dugast: La vie culturelle en Europe au tournant des XIXe et XXe siècles, S. 39. Vgl. Gutiérrez Molina, José Luis: »Anarquismo y movimiento obrero. El anarcosindicalismo español (1910-1975)«, in: Associació Cultural Alzina i Clemente Penalva (Hg.), La rosa il-lustrada. Trobada sobre cultura anarquista i lliure pensament, Sant Vicent del Raspeig: Publicacions de la Universitat d’Alcalant 2006, S. 36. Vgl. Alted Vigil, Alicia: »El exilio de los anarquistas«, in: Julián Casanova (Hg.), Tierra y libertad. Cien años de anarquismo en España, Barcelona: Crítica 2010, S. 168. Vgl. D. Loick: Anarchismus zur Einführung, S. 34. Vgl. Alberola, Octavio/Gransac, Ariane: El anarquismo español y la acción revolucionaria (1961-1974), Paris: Ruedo ibérico 1975, S. 290. Vgl. L. Vicente: Historia del anarquismo en España, S. 99. Vgl. Ibánez, Tomás: Anarquismos a contratiempo, Barcelona: Virus 2017, 14-23; Rius, Rafael: »Comunicación alternativa y libertaria en el siglo XXI«, in: Associació Cultural Alzina i Clemente Penalva (Hg.), La rosa il-lustrada. Trobada sobre cultura anarquista
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eine weitreichende Entidentifikation mit den Politikern, dem Staat und seinen Institutionen sowie die kompensatorische Entstehung zahlreicher lokal und privat organisierter Hilfsinitiativen sowie einen enormen Zulauf etwa der Hausbesetzerszene movimiento okupa bedingt haben,20 spätestens seit bei den Protesten des 15-M 2011 und 2012 über 500 Bürgerinitiativen aus dem ganzen Land unter dem Slogan ›Democracia real ya‹ monatelang den zentralen Madrider Platz, die Puerta del Sol,21 besetzt hielten und sich daraus 2014 die linkspopulistische Partei Podemos. entwickelt hat, die bei den Parlamentswahlen 2015 mit über 20 Prozent zur drittstärksten Fraktion im Parlament avancierte, sind anarchistische Ideen auch in der Mitte der spanischen Gesellschaft und im öffentlichen Diskurs wieder präsent.22 Dies schlägt sich auf den Bereich der Fiktionen nieder: In den letzten Jahren haben Texte zu klassischen anarchistischen Thematiken (etwa zum Kommunenleben23 ) Konjunktur und auch zur bislang weitgehend verdrängten anarchistischen Vergangenheit des Landes sind etliche Romane erschienen.24 Die folgenden Ausführungen gehen der Frage nach den kulturellen und soziopolitischen Funktionen dieses anarchistischen Revivals in der spanischen Gegenwartsgesellschaft und -literatur auf den Grund. Hierzu rekonstruieren und vergleichen sie die Darstellung anarchistischer Aktion exemplarisch in drei Romanen – Rafael Salillas Morral el anarquista (1914), Francisco Cambas Cuando la boda del Rey (1942) und Pablo Martín Sánchezʼ El anarquista que se llamaba como yo (2012) – mit dem Ziel, ausgehend von
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i lliure pensament, Sant Vicent del Raspeig: Publicacions de la Universitat d’Alcalant 2006, S. 152-153. Vgl. López, Miguel M.: Okupaciones de viviendas y de centros sociales. Autogestión, contracultura y conflictos urbanos, Barcelona: Virus 2002, S. 195. Der Platz ist insofern symbolisch, als marginalisierte Gesellschaftsgruppen bzw. solche, die sich von den Institutionen nicht repräsentiert fühlen, sich im Zentrum des Landes und damit im übertragenen Sinne auch im Zentrum der Macht niederlassen und so für eine stärkere Sichtbarkeit protestieren. Inwiefern es sich dabei um ein temporäres utopisches Intermezzo oder eine dauerhafte Entwicklung handelt, wird die Zeit zeigen. Zumindest Podemos. hat seinem politischen Erfolg allem Anschein nach keine Konstanz verleihen können, was zuvorderst der innerparteilichen Uneinigkeit und der Schwergängkeit der konsensuell getroffenen Entscheidungen geschuldet ist. Vgl. etwa: Laura Moreno: Por si se va la luz (2013), Jenn Díaz: Belfondo ((2013), Pilar Aldón: Les efímeras (2015). Vgl. Etwa: Juan Marsé: Rabos de lagartija (2000), Jaume Cabré: Las voces del Pamano (2004), Montero Glez: Pólvora negra (2008) oder der hier ausführlicher besprochene Pablo Martín Sánchez: El anarquista que se llamaba como yo (2012).
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den Konventionen ihrer narrativen Inszenierung inhaltliche und ästhetische Charakteristika des heutigen Zugangs zur anarchistischen Vergangenheit zu erarbeiten und diskursanalytisch einzuordnen. Gelesen wird der letztgenannte Roman als Indikator dafür, dass Zeiten zunehmender Globalisierung, Institutionalisierung, gesellschaftlicher Pluralisierung und zunehmenden Auseinanderfallens von Politik und Politischem eine Gesellschaft ohne Verwaltung, Autorität und institutionelle Zwänge als Glücksversprechen anscheinend erneut attraktiv machen.
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Fiktionalisierungen anarchistischer Vergangenheit
Zur Garantie der Vergleichbarkeit werden drei historische Romane gewählt, die allesamt auf das anarchistische Attentat Bezug nehmen, das am 31. Mai 1906 in Madrid auf König Alfonso XIII und die britische Prinzessin Victoria Eugénie von Battenberg an deren Hochzeitstag verübt worden ist. Nach der Eheschließung prozessiert das Brautpaar in einem Wagen durch die Straßen, wo sich tausende versammelt haben, um das pompöse Spektakel zu verfolgen und sich davon überzeugen zu lassen, dass Spanien eine glorreiche Zukunft bevorsteht. Als der Tross an der Calle Mayor 8 vorüberzieht, wirft Mateu Morral vom dritten Stock eines Gästehauses eine in einem Blumenstrauß verborgene Bombe. 25 Soldaten und Zivilisten kommen um, das Königspaar bleibt unversehrt.25 Dieses Attentat erreicht in öffentlichen Debatten eine unverhältnismäßig starke Präsenz, bietet es doch diskursives Anschlusspotenzial für unterschiedlichste gesellschaftliche Gruppierungen: Die Anarchisten feiern es als Vergeltungsschlag gegen ein repressives System, die Republikaner nehmen es als Anstoßpunkt für die Kritik der Exekutive, da sie die zahlreichen Festnahmen, Verurteilungen und Hinrichtungen auf Verdacht, die dem Ereignis folgen, als unverhältnismäßig wahrnehmen,26 und die konservative Regierung und die ihr nahestehenden Medien funktionalisieren es als böswilligen Angriff auf die bestehende Ordnung, um sich selbst als Beschützer des Volks zu inszenieren und damit die Legitimität ihrer Machtausübung zu 25 26
Vgl. Sanabria, Enrique A.: Republicanism and Anticlerical Nationalism in Spain, New York: Palgrave Macmillan 2009, S. 100. Vgl. López, Ángel Herrerín: »España. La propaganda por la represión, 1892-1900«, in: Juan Avilés/Ángel Herrerín López (Hg.), El nacimiento del terrorismo en Occidente. Anarquía, nihilismo y violencia revolucionaria, Madrid: Siglo XXI de España 2008, S. 133-134.
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untermauern. Wegen dieses großen diskursiven Potenzials geht das Attentat gegen Alfonso XIII ins kollektive Gedächtnis ein und ist womöglich dasjenige Ereignis, das in Spanien bis heute am konsequentesten mit dem Anarchismus in Verbindung gebracht und mithin auch in Romanen gerne aufgegriffen wird.27 Seit der Implementierung der Strömung im 19. Jahrhundert wird der Anarchismus in der Literatur immer dann präferenziell thematisiert, wenn ein manichäistischer Kampf des Staats gegen eine unberechenbare Bedrohung inszeniert werden soll,28 und die Rolle, die anarchistischen Figuren in diesem Zusammenhang am häufigsten verliehen wird, ist die der Terroristen.29 In seiner literatursoziologischen Studie Rätsel und Komplotte arbeitet Luc Boltanski heraus, dass im ausgehenden 19. Jahrhundert, einem Zeitraum, der sich durch eine Intensivierung der staatlichen Kontrolle auszeichnet, mit den ›Komplottromanen‹ eine eigene Gattung entstehe, die illegitime Angriffe (etwa von Sozialisten, Kommunisten oder Anarchisten) auf die etablierte gesellschaftliche Ordnung inszeniere. Ideologisches Ziel dieser Texte sei es, über das Schüren eines Angstdiskurses die Rückbesinnung auf die nationalstaatliche Einheit zu befördern und dadurch das bestehende System und seine Maßnahmen zu rechtfertigen.30 Es scheint in ihnen folglich eine Gesellschaftsauffassung durch, die Pluralität und Partikularinteressen kaum zulassen kann, die Partizipation und zivilgesellschaftliches Engagement aus Angst vor einem Kontrollverlust diskursiv opfert. Insofern erklärt sich die Rekurrenz auf das Thema ›Attentate‹: Reduziert auf ihre terroristischen Intentionen verkörpern die Anarchisten das Andere der Ordnung, das es in Sündenbockmanier auszumerzen gilt. Ein Beispiel für einen solchen Komplottroman stellt Morral el anarquista dar, den der Kriminologe Rafael Salillas 1914, also acht Jahre nach dem Anschlag auf das Königspaar, veröffentlicht. Der Roman widmet sich in erster Linie der Rekonstruktion derjenigen Faktoren, die Mateu Morral zum Attentäter gemacht haben. Detail- und faktenreiche, extern fokalisierte Teile zu 27
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Vgl. etwa Morral el anarquista von Rafael Salillas, Cuando la boda del Rey (1942) von Francisco Camba, La boda de Alfonso XIII (1965) von Fernández de la Reguera oder Pólvora negra (2008) von Montero Glez. Vgl. Eisenzweig, Uri: Fictions de l’anarchisme, Paris: Bourgois 2001, S. 69. Vgl. Frigerio, Vittorio: La littérature de l’anarchisme. Anarchistes de lettres et lettrés face à l’anarchisme, Grenoble: ELLUG 2014, S. 21. Vgl. Boltanski, Luc: Rätsel und Komplotte. Kriminalliteratur, Paranoia, moderne Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2013, S. 331-332.
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seinem Leben, die aufgrund ihrer ausgeprägten Referenzialität, der Zeugenaussagen in direkter Rede und der kurzen Sätze eher einem Polizeibericht ähneln, alternieren mit Passagen erlebter Rede aus der Perspektive des Delinquenten, welche dessen emotionale und kognitive Vorbelastung illustrieren. Dieses Portrait weist eine deutliche deterministische Prägung auf: Nachdem er durch seine charakterliche Disposition zu Extremen und Emotionslosigkeit neige,31 nachdem er in seiner Kindheit und Jugend bereits seinem Vater nicht gehorcht habe, nachdem er in seiner Ausbildung zum Drahtzieher mit den Techniken der Sprengstoffherstellung in Kontakt gekommen sei und nachdem er bei einer Auslandsreise nach Frankreich mit »extrañas ideas« infiltriert worden sei,32 habe Morral quasi – so der argumentative Duktus – nicht umhin gekonnt, straffällig zu werden. Über die teleologische Zuspitzung dessen Lebens auf das Moment des Attentats stigmatisiert der Roman den Protagonisten. Wiederholt rekurriert er überdies zur Erklärung seines Verhaltens auf pathologisierende Wendungen,33 zeigt ihn als geisteskrankes Individuum, was neben seinem alterisierenden Ausschluss auch seine Entpolitisierung impliziert. Dass dieser Inszenierung ein sensationalistisches Interesse zugrunde liegt, macht vor allem die Attentatsszene selbst deutlich, die den berichtenden Stil aufgibt, mit zahlreichen Interjektionen über die saglose »tragedia« lamentiert.34 Das Interesse des Texts, das wird hierdurch klar, gilt nur vordergründig dem Individuum Morral, eigentlich jedoch dem Aufruf zur Verteidigung gegen die Bedrohung des abartigen Anderen,35 das – wie der
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Es heißt über ihn, er sei starrsinnig, überexakt und verkopft gewesen. Vgl. Salillas, Rafael: Morral el anarquista, Madrid: s.e. 1914, S. 10, 22, 26, 115. R. Salillas: Morral el anarquista, S. 18, 20, 120. Die Rede ist vom »trastorno de su hijo«, von seiner »cara medio enfermiza«, »la directriz en el pensamiento de Morral era el atentado«, »la enfermedad no permite estar mucho tiempo sentado sin molestia«, »en las grandes tensiones del espíritu puede haber salidas falsas. Todo puede suceder, todo puede ocurrir« (R. Salillas: Morral el anarquista, S. 19, 32, 20, 94). R. Salillas: Morral el anarquista, S. 118, 166. Es heißt etwa: »¡Y aun esto es poco!, ¡Quién había de sospechar!, ¡Para qué más que esto que fué y que define el pensamiento, las disposiciones y la pericia del consumado actor! ¡En qué había de pensar el actor en esos días y en esas horas!« (R. Salillas: Morral el anarquista, S. 113-114). In martialischer Rhetorik wird konstatiert, die Gerichte hätten sich gegen die Anschläge der Vergangenheit nicht ausreichend gepanzert, jetzt hingegen sei »una maniobra defensiva, un señaladísimo caso de defensa nacional« vonnöten (R. Salillas: Morral el anarquista, S. 247).
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Titel des Romans nahelegt – im Anarchismus im Allgemeinen besteht.36 Legitimiert durch die Rekurrenz auf die Kriminologie konsolidiert der Roman folglich über den diskursiven Ausschluss von Alternativen die Einheitsordnung.37 Ähnlich verfährt Francisco Cambas Cuando la boda del Rey (1942), welches das Attentat nach fast 40 Jahren aufgreift. Der Text erscheint in der Frühphase der Franco-Diktatur in der Reihe episodios contemporaneos, die gleichsam als Fortsetzung des Gesellschaftsportraits episodios nacionales des RealismusSchriftstellers Benito Pérez Galdós für die Zeit zwischen 1906 und 1936 angedacht sind. Wie dieser Rahmen erwarten lässt, kombiniert der Roman eine dokumentarische Bestandsaufnahme der spanischen Bevölkerung mit einer erinnerungsörtlichen Intention: Ein namentlich nicht spezifizierter Mann aus einem ärmlichen spanischen Dorf wird von einem Adeligen als Gehilfe nach Madrid mitgenommen. Dort erhält er einerseits Einblicke in die Geschäfte der Abgeordneten der Corte, für die er Botschafterdienste ausführt, gelangt andererseits mit dem sonstigen politischen Spektrum in Kontakt, d.h. er wohnt republikanischen, später auch anarchistischen Treffen und Versammlungen bei, bekommt Gerüchte über ein geplantes Attentat auf das Königspaar mit und erlebt es schließlich vom Balkon gegenüber aus direkt mit. Dabei kommt der Figur eine primär testimoniale Funktion zu; von ihrer gesellschaftlich marginalen Position aus teilt sie extern fokalisiert ihre Beobachtungen mit und erreicht dadurch in den Augen der Lesenden nicht nur einen hohen Grad an reflexiver Distanz und Glaubwürdigkeit, sondern zitiert – was in den 1940er Jahren durchaus nicht zwingend ist – realistische Erzählkonventionen. 36
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Obschon der Text Morral als deviantes Individuum schildert, verfährt er wiederholt generalisierend und wertet die gesamte anarchistische Bewegung ab. Dies kommt auch zum Ausdruck, wenn Morral als »ese anarquista que tiene acumuladas en su Yo, recibidas por esa antena de las ondas de la rebeldía las amarguras de los hijos del trabajo, con sus largas jornadas de trabajo, sin pan ni pabrio, anémicos y escarnecidos, sin obtener justicia« bezeichnet wird und es anschließend generalisierend über die Anarchisten heißt: »Ven en todo esto la misma representación. Todo lo reduce a confetti, serpentinas, trajes, bailes. Todo lo condensa en el derroche y el disfrute« (R. Salillas: Morral el anarquista, S. 120). Dass die lombrosianische Kriminologie häufig als Instrument diskursiver Repression gegen Mitglieder anarchistischer Gruppierungen eingesetzt wurde, darauf verweist: vgl. Gómez, Andrés Galera: La antropología criminal frente al anarquismo español, in: Bert Hofmann/Pere Joan i Tous/Manfred Tietz (Hg.), El anarquismo español y sus tradiciones culturales, Frankfurt a.M. 1995, S. 109.
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Bei genauerer Betrachtung erweist sich diese Außenperspektive jedoch als alles andere als neutral bzw. sie wird an mehreren Stellen zugunsten einer propagandistischen, systemzementierenden Botschaft aufgebrochen. Bereits die Tatsache, dass die Haltung der Eliten als erste präsentiert wird, kann das Urteil des Lesers vorprägen, und dies umso mehr, als diese Haltung durchaus ernsthaft und ernstzunehmend gestaltet ist.38 Das kontrastiert mit der negativen Inszenierung der Anarchisten, die explizit als »bárbaros brutales« bezeichnet und dadurch abgewertet werden, dass sie in ihrer Realitätsentrücktheit lediglich die Gewalt als Mittel kennen.39 Noch offenkundiger wird die Parteinahme in der Szene, die beschreibt, wie im Kongress eines Tages »Viva la república«-Rufe ertönen. Die Entrüstung des Erzählers wird hier deutlich, wenn es heißt, es habe sich um »un grito que a mí me hizo saltar en el asiento, furioso, frenético« gehandelt,40 und »sus voces son tales los golpes de sus bastones sobre los pupitres«,41 wobei das Asyndeton (furioso, frenético) und die gewählten Bilder (me hizo saltar, golpes de bastones) die Roheit der Rufe ikonisieren. Das Ich sieht sich in diesem Moment gezwungen, seine Beobachterperspektive zu verlassen und mit einem mehrfachen »Viva el Rey!« zu kontern, um im darauf folgenden Kommentar die Samen einer Verschwörungstheorie auszusäen: »¿Cómo pudieran lanzarse en pleno Congreso semejantes gritos? ¿Qué andaba preparándose cautelosamente desde las sombras? ¿Qué iba a ocurrir cuando menos lo esperásemos en España?«.42 Dem realistischen Objektivitätspostulat widerspricht fürderhin das konsequente Bemühen des Romans um Spannungsaufbau. Suspense wird erstens dadurch generiert, dass die Hauptfigur von dem geplanten Anschlag weiß, ohne ihn anzuzeigen oder zu verhindern – eine Passivität, welche die aver-
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Camba, Francisco: Cuando la boda del Rey, Madrid: Episodios contemporaneos 1942, S. 83. Zitiert und damit diskreditiert wird etwa der Schriftsteller Valle-Inclán, indem ihm folgendes Zitat in den Mund gelegt wird: »La bomba es inevitable. Como si estuviese anunciando un aerolito, contra cuya caída nada se puede hacer. Y la prueba la tienen ustedes en que el conde de Romanones, como buen ministro espano. Se río cuando le hablan de ella. Bastaría esa risa par convencernos« (F. Camba: Cuando la boda del Rey, S. 251). F. Camba: Cuando la boda del Rey, S. 152. F. Camba: Cuando la boda del Rey, S. 153. F. Camba: Cuando la boda del Rey, S. 155.
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sive Motivation des Rezipienten bezüglich des Attentats verstärken mag;43 zweitens mag sie durch die beständige Alternanz von Sequenzen, die auf den König und die Anarchisten Bezug nehmen, entstehen, die immer kleinschrittiger und detailreicher erzählt sind, so dass eine Art klimaktischer Zoom auf den Bombenwurf modelliert wird. Diese gipfelt in einer hochgradig emotionalisierenden Darstellung: Cortando mi instantáneo ensoñar, un resplandor, un vivo y fúlgido resplandor de azufre que, como saliendo de mitad de la calle, hiere mis ojos y el ruido de una formidable explosión. Gritos aterradores, alaridos espantosos. Una nube de humo azulado y denso que durante un rato no deja ver nada. Al ir el humo disipándose, caballos enloquecidos, muchos de ellos sin jinete.44 Trotz der vermeintlichen Beschränkung auf das Sicht- und Hörbare transportiert auch dieser Abschnitt eine Wertung: Die Asyndeta, die Wortwiederholungen und der elliptische Satzbau transportieren das Entsetzen des Erzählers ebenso wie die Akkumulation von Adjektiven aus der Isotopie des Grauens (atteradores, espantosos, enloquecido), während sich im Bild des reiterlosen Pferds das temporäre gouvernamentale Chaos kristallisiert.45 Die Hochzeit wird im Übrigen in Cuando la boda del Rey trotz des Zwischenfalls weitergefeiert. Der Roman endet mit einem pompösen und fröhlichen Fest, in dem das Volk im Glückstaumel seine Könige immer wieder mit »Viva el Rey«- oder »Viva la Reina«-Rufen hochleben lässt und sich der Erzähler erneut in rhetorische Höhen aufschwingt, wenn er dem klassischen Topos gemäß die Zeit anfleht, ob dieses erhebenden Moments stillzustehen.46 Der
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Die Spannung steigt umso mehr, als die Polizei, sich in Sicherheit wähnend, wiederholt betont, sie habe die Lage auf der Hochzeit vollkommen unter Kontrolle und es sei kein Zwischenfall zu erwarten, während der Leser vom Gegenteil in Kenntnis gesetzt ist. F. Camba: Cuando la boda del Rey, S. 303. Das Pferd hat als Symbol der Größe und Überlegenheit der gesellschaftlichen Eliten seit dem Mittelalter Tradition und fungiert als für das Volk sichtbarer Beweis der herrscherlichen Fähigkeiten des Staatsoberhauptes. Vgl. Raber, Karen L./Tucker, Treva J.: »Introduction«, in: Dies. (Hg.), The Culture of the Horse. Status, Discipline, and Identity in the Early Modern World, New York: Palgrave Macmillan 2005, S. 22. Das Motiv des führerlosen Pferds impliziert hier folglich auch ein temporäres Schwanken des sozialen Fundaments. Es heißt: »Reloj de la bola sonora. Relojes del Pardo, de la Granja y de Aranjuez. Relojes de que el rey Carlos IV llenó el Palacio de Oriente. Relojes con sus damiselas y sus petimetres de porcelana o de bronce iniciando felices y tranquilos un paso de minuto: ¿Por
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Terroranschlag ist mithin im Roman als herausfordernder Zwischenfall konzeptualisiert, der Spanien und die Legitimität der königlichen Macht nicht zu beeinträchtigen in der Lage ist. Die institutionalisierte Autorität siegt über die abnormen Individuen, die sie zu erodieren suchen. Dem zugrunde liegt die Vorstellung eines starken Staats, der Alternativen zu sich selbst nicht toleriert oder als Äußerungen von Pluralität anerkennt, sondern zum Zweck seiner Zementierung alterisiert – wie es für die rigide und autoritäre Frühphase der Franco-Diktatur nicht anders zu erwarten ist. Die Rekurrenz auf realistische Schreibprinzipien passt hierzu ideal, modellieren diese doch eine festgeschriebene Gesellschaft, die nicht in ihrer Interaktionalität, als Fluidum erfasst wird, sondern ihren Mitgliedern Rollen innerhalb einer präzedent fixierten Ordnung zuschreibt. Einen deutlichen Bruch mit dieser Komplottisierung des Anarchismus und eine inhaltliche und darstellerische Alternative zu ihr stellt nun der Roman El anarquista que se llamaba como yo des Oulipo-Mitglieds Pablo Martín Sánchez dar, der 2012 beim renommierten Verlag Acantilado erschienen ist und verhältnismäßig viel mediale Aufmerksamkeit erlangt hat. Der Erzählanlass ist ein recht banaler, im Rahmen einer Googlerecherche zu sich selbst stößt die Vermittlungsinstanz, die genauso heißt wie der Autor, auf einen gleichnamigen Anarchisten, der in den 1920er Jahren aktiv war. Mittels Archivaufenthalten und der Befragung von Zeitzeugen rekonstruiert er dessen Lebensgeschichte: Wegen öffentlicher politischer Reden verdächtig geworden, flieht er während der Diktatur Primo de Riveras ins französische Exil, wo er sich in einer Druckerei anstellen lässt, heimlich anarchistische Pamphlete produziert und diese mit der Bahn nach Spanien schmuggelt.47 Nach einigen Jahren kehrt er nach Spanien zurück, um vom Untergrund aus Widerstand gegen das Regime zu organisieren und seine ehemalige Geliebte wiederzutreffen, was für ihn allerdings tödlich endet:48 Bezichtigt, Urheber eines Attentats in Barcelona zu sein, wird er ins Gefängnis geworfen, dort gefoltert und begeht, so steht es zumindest in den Polizeiprotokollen, in seiner Zelle Selbstmord.
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qué no os paraseis en ese momento? ¿Por qué no se paró el sol en todos los cuadrantes de las plazas españolas?« (F. Camba: Cuando la boda del Rey, S. 323). Sánchez, Pablo Martín: El anarquista que se llamaba como yo, Barcelona: Acantilado 2012, S. 83-110. P. M. Sánchez: El anarquista que se llamaba como yo, S. 212.
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Der Text unterscheidet sich von den beiden vorherigen zunächst in seiner positiven, nicht-stigmatisierenden Darstellung des anarchistischen Protagonisten: Pablo Martín Sánchez erscheint eher als Kollateralschaden des repressiven Systems, hat er sich doch für die anarchistische Sache ausschließlich gewaltlos engagiert und sich für eine edukative Transformation der Gesellschaft eingesetzt, was mehrfach plakativ herausgestellt wird (»No se puede hacer la revolución sólo con armas. Las palabras son tan importantes como el fuego«49 ). Die Lesenden können sich überdies seiner Unschuld am Attentat völlig sicher sein, wird doch gezeigt, wie er im entscheidenden Moment verzweifelt seine verflossene Liebe Angela in der Menschenmenge zu erspähen versucht und selbst von der Detonation überrascht wird. Er ist mithin in ein gefühlvolles statt in ein kaltblütiges, ein persönliches statt ein politisches Setting integriert. Ein ähnliches Ziel verfolgen die in diesem Kontext wiederholt angestellten Vergleiche mit dem bzw. Rückblenden auf das Attentat auf Alfonso XIII:50 »El Rey intentaba reprimir las lágrimas mientras observaba el vestido de novia salpicado de sangre equina. No había tardado ni una hora en descubrir el precio que debía pagar por ser la esposa del rey de España«.51 Indem der Fokus auf die individuellen Emotionen der Angegriffenen gelegt wird, tritt die politische Dimension in den Hintergrund, die typische Komplottstruktur mit ihrer Gut-Böse-Dichotomie wird unterlaufen.52 Dieses Bemühen um ein Aufbrechen von Vorurteilen spiegelt der Roman auf unterschiedlichen Ebenen wider. Zum einen in der schwachen Position des Erzählers: Dieser tritt nicht als allwissende Autorität auf, sondern akzentuiert wiederholt die Beschränkung seiner Möglichkeiten der Einsichtnahme in die Realität der Geschichte, indem er mal die Zufälligkeit seiner Rechercheergebnisse betont,53 mal statt sich selbst dem Leser die Verantwortung 49 50
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P. M. Sánchez: El anarquista que se llamaba como yo, S. 201. Zu bemerken ist überdies, dass das Attentat in diesem Roman nicht die Haupthandlung bildet, sondern lediglich ein peripheres Thema, so dass auch dadurch eine Kriminalisierung des Anarchismus umgangen wird. P. M. Sánchez: El anarquista que se llamaba como yo, S. 169. Außerdem wird über diese Verbindung die offizielle Version des Ereignisses in Zweifel gezogen, spielt sie doch darauf an, dass, ebenso wie Pablo unschuldig verurteilt wurde, auch die Täterschaft im Hochzeitsattentat ungeklärt war und die Festnahme und Hinrichtung mutmaßlicher Täter die Zahl der Opfer des Attentats überstiegen hat. »[S]i en vez de haber entrado aquella noche en la taberna Txalaparta hubiese entrado en el Tempus Fugit, lo más probable es que ahora, lector, tuvieras otro libro entre las manos, y no precisamente mío« (P. M. Sánchez: El anarquista que se llamaba como yo, S. 12).
Glücksversprechen Neoanarchismus
für die Kohärenzherstellung überträgt.54 Er weist damit jeglichen doktrinären Wahrheitsanspruch von sich und akzentuiert dies dadurch, dass er dem Leser nicht die Ergebnisse seiner Untersuchungen präsentiert, sondern wie in einer Detektivgeschichte schrittweise neue Informationen enthüllt, so dass die Rekonstruktion des Vergangenen als vorläufiger und unabgeschlossenes work in progress erscheint. Zum anderen besorgt die beständige Reflexion und Infragestellung der gesammelten Daten eine Distanzierung vom ideologisch aufgeladenen Schreiben. Mehrfach heißt es in diesem Zusammenhang, man könne weder Archivquellen noch der menschlichen Erinnerung letztgültig trauen, da beide lediglich Realitätskonstruktionen darstellten, die auf Machtinteressen und subjektiven Erfahrungsfragmenten beruhten.55 Hierzu passt die Homonymie der beiden Protagonisten, bedeutet sie doch eine willkürliche und zufällige Verschmelzung disparater Elemente, die wie ein Regenschirm und eine Nähmaschine auf einem Seziertisch für disparateste Sinnzuschreibungen offenstehen. ›Gegenwart‹ und ›Vergangenheit‹ entpuppen sich dabei als interdependente Imaginationen, wobei die eine ausschließlich mittels der anderen erfahr- und lesbar wird. Die Alternative, die El anarquista que se llamaba como yo zur teleologisch strukturierten, abgeschlossenen Geschichte präsentiert, ist ein Mosaik unterschiedlichster Informationen, die sich einer evaluativen Zusammenschau entziehen. Diese polyphone Anlage wird insonderheit am Romanende bewusst, das zunächst szenisch den Suizid des Protagonisten konkretisiert, um ihn in einem nachfolgenden (fiktiven) Leserbrief als Lüge zur Vertuschung ausgeübter Polizeigewalt zu enttarnen. Der Erzähler kommentiert hierzu, er bedauere zutiefst, dem Leser kein befriedigenderes Ende präsentieren zu können, das gängigen Narrations- oder Partizipationsmustern entspreche, aber sein Bemühen um die Vermeidung ungesicherter Informationen habe dies nun einmal nicht erlaubt.56 Hiermit kongruent ist freilich der intentional prekär gewählte referenzielle Status des gesamten Texts. Zumal es sich um 54 55
56
»[T]ú, lector, resucites la historia de su tío el anarquista« (P. M. Sánchez: El anarquista que se llamaba como yo, S. 16). »[S]olemos afirmar que la historia la escriben los vencedores, pero a menudo olvidamos que son los periodistas quienes toman los apuntes« (P. M. Sánchez: El anarquista que se llamaba como yo, S. 395). »Sólo espero que no me reproches el abrupto y trágico final de esta aventura, pues qué otra cosa podía hacer yo, sino ser fiel a la verdad, por muy ingrata que sea« (P. M. Sánchez: El anarquista que se llamaba como yo, S. 597).
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Teresa Hiergeist
die Präsentation historischer Fakten in Romanform handelt und der Modus beständig zwischen Berichten und Erzählen schwankt, kann man als Leser an keiner Stelle Gewissheit darüber erlangen, welche Informationen Fakt und welche Fake sind. Folgt man der Versuchung zu googeln, ob es den Anarchisten Pablo Martín Sánchez wirklich gegeben hat und verdoppelt man dadurch mise en abyme-artig die initiale Geste des Erzählers, stößt man ausschließlich auf Seiten zum Roman, jedoch nicht auf die historische Figur. Man bekommt folglich keine Klarheit, sondern stattdessen erneut die Vermitteltheit von Geschichte vor Augen geführt. In dieser Darstellung manifestiert sich im Unterschied zu den vorherigen Texten zweierlei: Zum einen reiht sich El anarquista que se llamaba como yo in den Erinnerungsboom ein, der die spanische Romanlandschaft etwa seit den frühen 2000ern entscheidend mitbestimmt hat.57 In diesem Rahmen sind zahlreiche ›Geschichten von unten‹ verfasst worden, welche die offizielle und jahrzehntelang propagierte faschistische Version mit einer Gegendarstellung konfrontieren und dadurch relativieren, wobei sie oft in ähnlicher Weise mit der Grenze zwischen Fakt und Fiktion spielen.58 Der Fokus lag dabei bislang meist auf republikanischen Auslegungen der historischen Ereignisse. Dass nun auch anarchistische Sichtweisen in den Blick kommen, also den Outcasts unter den Linken, den innerhalb der Gruppe der Marginalisierten Marginalen, eine Stimme verliehen wird und dies von einem viel rezipierten Autor und bei einem renommierten Verlag, potenziert diesen Gestus und lässt eine pluralistische Gesellschaftsauffassung durchscheinen, die über die Relativierung bestehender Vorurteile und die Relativierung realistischer oder propagandistischer Schreibweisen eine Integration des vormals diskursiv Stigmatisierten erreicht und sich somit – klassisch demokratisch – als Einheit der Vielheit, als gerade durch das Heterogene Homogene konzeptualisiert.59 Der veränderte Umgang mit dem Anarchismus lässt sich mithin als Indikator einer erneuerten Sozialitätsauffassung in Spanien verstehen. 57
58 59
Vgl. Bernecker, Walther L.: »Demokratie und Vergangenheitsbewältigung. Zur Wiederkehr verdrängter Geschichtserinnerung in Spanien«, in: Ignacio Olmos/Nikky Keilholz-Rühle (Hg.), Kultur des Erinnerns. Vergangenheitsbewältigung in Spanien und Deutschland, Frankfurt a.M.: Vervuert 2007, S. 71. Man denke etwa an Javier Cercas’ Soldados de Salamina (2001) oder Isaac Rosas Otra maldita novela sobre la guerra civil (2007). Robert Esposito zufolge liegt das Charakteristikum demokratischer Gesellschaften eben hierin: vgl. Esposito, Roberto: Communitas. Ursprung und Wege der Gemeinschaft, Berlin: Diaphanes 2004, S. 185.
Glücksversprechen Neoanarchismus
Zum anderen geht der Roman in diesem Plädoyer für die Werte des institutionalisierten, demokratischen Systems nicht auf, sondern ihm eignet gleichzeitig ein subversiver Gestus. Mit seinem Anspruch auf die Ausräumung autoritärer, hierarchischer und doktrinärer Strukturen aus der Narration sowie mit seiner Auffassung von der Untrennbarkeit von Fakt und Fiktion – man könnte auch sagen: von Kunst und Leben – gibt er sich selbst einen dezidiert anarchistischen Anstrich.60 Über die Ausstellung eines Schreibens jenseits beschränkender Konventionen, das nicht bloß als Expression, sondern als ›Direkte Aktion‹ aufgefasst werden kann, suggeriert der Text folglich, dass der Anarchismus (zumindest sofern er sich von der Gewalt lossagt) eine gesellschaftliche Alternative darstellen und Potenzial zur politischen Erneuerung bergen kann. Als Zeugnis und Modell zivilgesellschaftlichen Engagements in Opposition zur Obrigkeit ist er damit nicht zuletzt auch: ein neoanarchistisches Glücksversprechen.
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Die Spezifika der anarchistischen Kunstauffassung liegen eben in einer solchen Kombination von avantgardistischen mit populären Formen sowie einem Verständnis von Literatur als politischem Akt. Vgl. Reszler, André: L’esthétique anarchiste, Paris: PUF 1973, S. 16-27.
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»Behind every good soldier is a family«1 Militärfamilien in der US-amerikanischen (Populär-)Kultur des 21. Jahrhunderts Katharina Gerund
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Einleitung: Das US-amerikanische Glücksversprechen
Aus europäischer Perspektive war die sog. Neue Welt schon vor ihrer Kolonisierung in vielerlei Hinsicht eine verheißungsvolle Projektionsfläche und ein potenziell utopischer Ort.2 Die europäische Besiedelung der heutigen USA basierte auf der Vorstellung eines leeren Kontinents (»vacant continent«)3 und eines gelobten Landes (»promised land«)4 – ein höchst exklusives und eurozentrisches Glücksversprechen. Sie ignorierte die Existenzberechtigung und Landansprüche der indigenen Bevölkerung und wurde mit epistemischer wie physischer Gewalt bis hin zum Genozid durchgesetzt. Spätestens mit der Unabhängigkeitserklärung von 1776 und ihrem scheinbar universellen Anspruch auf »life, liberty, and the pursuit of happiness« ist das Glücksversprechen zentraler Bestandteil einer fundierenden Mythologie der USA geworden. Dabei wird weder die konkrete Bedeutung von Glück expliziert noch der Weg zur Glückserfüllung klar konturiert. Vielmehr verweist die Formulierung »pursuit of happiness«, wie Heike Paul ausführt, bereits auf »desire, deferral and quest, initiative and struggle«.5 Dass die Unabhängigkeitserklärung als zivil1 2 3 4 5
General Michael Holden (Brian McNamara) on Army Wives (»Payback« 2.14). Vgl. Paul, Heike: The Myths that Made America. An Introduction to American Studies, Bielefeld: transcript 2014, S. 141-142. Smith, Henry Nash: Virgin Land. The American West as Symbol and Myth, Cambridge, MA: Harvard UP 1978 [1950], S. 4. Vgl. H. Paul: The Myth that Made America, S. 137-186. Paul, Heike: »Tacit Knowledge, Public Feeling, and the Pursuits of (Un-)Happiness«, in: Frank Adloff/Katharina Gerund/David Kaldewey (Hg.), Revealing Tacit Knowledge. Embodiment and Explication, Bielefeld: transcript 2015, S. 197-222, hier S. 209.
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religiös aufgeladenes Gründungsdokument der USA in der finalen Fassung etwa die Sklaverei gänzlich unerwähnt lässt und letztlich die Gültigkeit des Anspruchs auf ein »Streben nach Glück« anhand eines weißen, männlichen und wohlhabenden Subjekts imaginiert, zeugt erneut vom exklusorischen Charakter dieses Mythos. Das hier formulierte »Streben nach Glück« wird oft verkürzt zur realistischen Erwartung von bzw. zum Anspruch auf das Glück selbst. Es ist bis heute eingeschrieben in die US-amerikanische »state fantasy«, also die »dominant structure of desire out of which US citizens imagine their national identity«.6 Glück wird in diesem Zusammenhang nicht nur als eine private Emotion kodiert, sondern wird zum »öffentlichen Gefühl«, wie u.a. Heike Paul argumentiert hat: »happiness and its pursuits have remained key rhetorical concepts in US political culture and can be considered as constructing happiness as a public feeling in a national economy of affect and alleviation«.7 Die »imagined community« der Nation8 konstituiert sich in diesem Kontext insbesondere über die Semantik einer anderen Form von Gemeinschaft: die der Familie. Die Logiken der Staatsbürgerschaft und der Familie sind affektiv gekoppelt: »The intimacy of citizenship is something scarce and sacred, private and proper, and only for members of families«.9 Damit entstand eine »intimate public sphere [which] renders citizenship as a condition of social membership produced by personal acts and values, especially acts originating in or directed toward the family sphere«.10 Das US-amerikanische Glücksversprechen ist somit zentral gebunden an hegemoniale Vorstellungen von Familie, denn diese ist einerseits Ort der privaten und individuellen Glückserfüllung, andererseits wird sie zum Sinnbild für die Nation.11 So wird Staatsbürgerschaft nicht nur in Analogie zu familialen Beziehungen imaginiert, sondern von den normativen Vorstellungen 6 7 8 9 10 11
Pease, Donald E.: The New American Exceptionalism, Minneapolis: University of Minnesota Press 2009, S. 1. H. Paul: »Tacit Knowledge, Public Feeling, and the Pursuits of (Un-)Happiness«, S. 211. Anderson, Benedict: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London: Verso [1983] 2006. Berlant, Lauren: The Queen of America Goes to Washington City. Essays on Sex and Citizenship, Durham: Duke UP 1997, S. 3. L. Berlant: The Queen of America Goes to Washington City, S. 5. Vgl. Paul, Heike: »Public Feeling, Tacit Knowledge, and Civil Sentimentalism in Contemporary US Culture«, in: Frank Kelleter/Alexander Starre (Hg.), Projecting American Studies. Essays on Theory, Method, and Practice, Heidelberg: Winter 2018, S. 165-179, hier S. 169.
»Behind every good soldier is a family«
und affektiven Bildern der amerikanischen Kernfamilie überformt. Der Familie kommt in der US-amerikanischen Geschichte von jeher eine besondere Bedeutung zu, wie etwa Isabel Heinemann herausgestellt hat: »In the United States the family has always been perceived as the most important social unit next to the individual […] [and] family norms and values have always referred to the core of the American nation«.12 Lauren Berlant spricht weiter von einer »heterofamilial citizenship norm«13 und erklärt gemeinsam mit Michael Warner: National heterosexuality is the mechanism by which a core national culture can be imagined as a sanitized space of sentimental feeling and immaculate behaviour, a space of pure citizenship. A familial model of society displaces the recognition of structural racism and other systemic inequalities.14 Heike Paul analysiert den Zusammenhang zwischen Familienideal(en) und nationaler Zugehörigkeit als eine Form des »Staatsbürgersentimentalismus«. Dieser floriere insbesondere in Krisenzeiten, verknüpfe private Gefühlswelten mit der öffentlichen Sphäre sozialer und politischer Kommunikation und könne als »communicative code« verstanden werden, welcher individuelle und kollektive Identitäten vereinnahmt, produziert sowie in einen sinnstiftenden Zusammenhang stellt, der den/die Bürger*in als Familienmitglied der Nation positioniert und interpelliert.15 Mittels einer idealisierten Vorstellung der amerikanischen (Kern-)Familie dient die Verzahnung von familialer Logik und nationalstaatlicher Gemeinschaft im sentimentalen Register der Kontingenzbewältigung und Identitätsstiftung und zementiert gleichzeitig die implizit weiße, heteronormative und hegemonial männliche Norm als Inbegriff des Staatsbürgers, wodurch sie strukturelle Ungleichheiten verschleiert.
12 13 14 15
Heinemann, Isabel (Hg.), Inventing the Modern American Family. Family Values and Social Change in 20th Century United States, Frankfurt: Campus 2012, S. 7. L. Berlant: The Queen of America Goes to Washington City, S. 18. Berlant, Lauren/Warner, Michael: »Sex in Public«, in: Critical Inquiry 24.2 (1998): S. 547566, hier S. 549. Vgl. H. Paul: »Public Feeling, Tacit Knowledge, and Civil Sentimentalism in Contemporary US Culture«, S. 165-179.
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Militärfamilien und das Streben nach Glück
Militärfamilien haben in Diskursen um Staatsbürgerschaft und nationale Zugehörigkeit einen besonderen symbolischen Stellenwert: »The correlation of nation/state and family works especially well in hegemonic discourses of civil sentimentalism when interceded by a military apparatus and militarist symbolism that appear to defend the members of both, particularly the weakest.«16 Mit der formalen Abschaffung der Wehrpflicht 1973 hat sich das amerikanische Militär seit dem Ende des Vietnamkriegs zunehmend professionalisiert, so dass heute nur noch etwa ein Prozent der Bevölkerung aktiv in die US-amerikanischen Kriegseinsätze involviert oder von diesen direkt betroffen sind. Vielfach wird daher inzwischen von einem »familiarity gap« zwischen der Zivilbevölkerung und dem Militär gesprochen.17 Dieser zeigt sich auch in der Konstitution der Heimatfront im Nachgang der Terroranschläge vom 11. September 2001. President George W. Bush told Americans that it was important for them – that it was, in fact, patriotic of them – to resume the rhythms of their daily lives. Once, Bush urged his fellow citizens to drive to Disney World. On three occasions, the President encouraged Americans, specifically, to go see a baseball game.18 Noch vor dem Einmarsch amerikanischer Truppen im Irak war demnach ein diskursiver Grundstein dafür gelegt, dass die Zivilbevölkerung die kommenden Kriege weitgehend ausblenden und sich ihrem Alltag widmen konnte. Die Militärfamilien dagegen bewältigen stellvertretend für die gesamte Nation den Kriegseinsatz und sind entsprechend trotz dieser vergleichsweise geringen Präsenz des Krieges im Leben der meisten US-Amerikaner*innen medial sehr präsent. Häufig repräsentieren sie das Bild der USA als »victimhero«, wie es Elisabeth Anker nennt, also als feminisiertes Opfer und als maskuliner Held, im »melodramatischen politischen Diskurs«.19 Von dem alltäg16 17 18 19
H. Paul: »Public Feeling, Tacit Knowledge, and Civil Sentimentalism in Contemporary US Culture«, S. 171. Vgl. etwa Schake, Kori/Mattis, Jim (Hg.), Warriors & Citizens. American Views of Our Military, Stanford: Hoover Institution Press 2016. Cannon, Carl M.: The Pursuit of Happiness in Times of War, Lanham: Rowman & Littlefield 2004, S. 1. Anker, Elisabeth R.: Orgies of Feeling. Melodrama and the Politics of Freedom, Durham: Duke UP 2014, S. 2-3.
»Behind every good soldier is a family«
lichen »Thank you for your service!« mit dem Amerikaner*innen Soldat*innen und Veteran*innen ansprechen20 bis hin zu politischen Veranstaltungen bei denen Militärfamilien und ihr Patriotismus bzw. ihre Opferbereitschaft besonders gewürdigt werden ist diese symbolische Relevanz zu beobachten. Kinder und Ehefrauen von Soldat*innen figurieren im öffentlichen Diskurs als Objekte von Bewunderung und Dankbarkeit, wie Rebecca Adelman erläutert: »Figuring proceeds under the guise of attending to another being’s value, sentience, and suffering, but ultimately engenders denial or negation of their political subjectivity […] [as it] addresses its objects in a sentimental register«.21 Das amerikanische Militär wird durch die Übertragung familialer Logiken mit einerseits einem privaten, aber v.a. auch mit einem staatsbürgerlichen Glücksversprechen versehen: Seit jeher bildete die Beteiligung am Kriegseinsatz und die Bereitschaft zum »ultimate sacrifice« einen (vermeintlichen) Weg zu Staatsbürgerschaft und Bürgerrechten.22 Zudem bietet das Militär gerade marginalisierten und prekarisierten Bevölkerungsgruppen finanzielle Absicherung inklusive Krankenversicherung, gesellschaftlicher Anerkennung und Zugang zu Bildung. »The military remains an important source of upward mobility for many Americans, and particularly for women and minorities«, konstatiert Rosa Brooks.23 Das Militär inszeniert sich gerne selbst als Familie und wirbt mit besonderem Engagement für die Familien der Soldaten*in-
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Rebecca Adelman schreibt hierzu: »This urge, apparently ubiquitous and irrepressible, to express appreciation in the form of a ›thank you‹ to the troops, inaugurates a vexed relationship of indebtedness that ultimately returns the burden of continued service to military personnel«. Adelman, Rebecca: Figuring Violence. Affective Investments in Perpetual War, New York: Fordham UP 2019. S. 18. R. Adelman: Figuring Violence, S. 6. Dies gilt z.B. für den Kriegseinsatz afroamerikanischer Soldaten. Sie kämpften im Unabhängigkeitskrieg ebenso wie im Bürgerkrieg für ihre Freiheit und im Rahmen der Double Victory-Campaign im Zweiten Weltkrieg galt es für sie den Faschismus im Ausland ebenso zu besiegen wie den Rassismus zu Hause. Auch Immigrant*innen haben sich oftmals sich über ihren Militärdienst Zugang zu einem US-amerikanischen Pass erhoffen. Vgl. z.B. Takaki, Ronald: Double Victory. A Multicultural History of America in World War II, New York: Black Bay Books 2000. Oder: German, Kathleen M.: Promises of Citizenship. Film Recruitment of African American in World War II, Jackson: University of Mississippi Press 2017. Brooks, Rosa: »Civil-Military Paradoxes«, in: Kori Schake/Jim Mattis (Hg.), Warriors & Citizens. American Views of Our Military, Stanford: Hoover Institution Press 2016, S. 2168, hier: S. 29.
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nen.24 Es gilt nicht nur in dieser Hinsicht in den USA als ›guter‹ Arbeitgeber. US Airforce, US Marines, US Navy, und US Army belegten in einer 2010 Umfrage von CareerBliss die Plätze 5, 8, 9 und 11 unter den »most blissful places to work«, und eine Mehrheit der »military spouses« gab in einer 2017 durchgeführten Umfrage des Verteidigungsministeriums an, mit ihrem »military lifestyle« glücklich zu sein. Mit der zunehmenden Beteiligung von Frauen an allen militärischen Rängen und der Abschaffung von »Don’t Ask, Don’t Tell« im Jahr 2011 ist das ›traditionelle‹ Bild der Militärfamilie im Wandel. Doch auch wenn Familien, die von der impliziten Norm abweichen, zunehmend medial und kulturell repräsentiert und damit scheinbar anerkannt werden, besteht die kulturelle und affektive Arbeit vieler (populär-)kultureller Darstellungen bei genauerem Hinsehen nach wie vor in der Affirmation der weißen, patriarchalen und heteronormativen Kernfamilie als Inbegriff nationaler Identität und als Ort individuellen wie kollektiven Glücks. Das Streben nach diesem kann (nicht nur) aus dieser Perspektive als eine Form des »cruel optimism« verstanden werden, d.h. als »relation of attachment to compromised conditions of possibility, whose realization is discovered either to be impossible, sheer fantasy, or too possible, and toxic«.25 Vor dem Hintergrund des historisch etablierten, kulturspezifisch USamerikanischen Glücksdiskurses und eines im 21. Jahrhundert allgemeiner zu konstatierenden »happiness turn«,26 analysiere ich im Folgenden zwei Fernsehserien mit Blick auf ihre Darstellung von Glück und Glücksversprechen für Militärfamilien. Der Fokus liegt dabei auf dem herausgehobenen Moment familialen Glücks im Rahmen des »Homecomings« und auf der primär glorifizierenden Repräsentation in Army Wives (Lifetime, 20072013), welche ich anschließend mit einer deutlich kritischeren Darstellung in Homeland (Showtime, 2011-2020) kontrastiere, auch wenn letztere die Wirkmacht des heterofamilialen Glücksversprechens auf nationaler Ebene letztlich nicht überwindet. Die Fernsehserie ist besonders geeignet, um der wiederholten Kriegserfahrung im 21. Jahrhundert Rechnung zu tragen und 24
25 26
Vgl. etwa https://www.todaysmilitary.com/military-life/family-community (letzter Aufruf 12.08.2020) oder https://www.army.mil/families/ (letzter Aufruf 12.08.2020). Vgl. auch Mittelstadt, Jennifer: The Rise of the Military Welfare State, Cambridge: Harvard University Press 2015. Berlant, Lauren: »Cruel Optimism«, in: Melissa Gregg/Gregory J. Seigworth (Hg.), The Affect Theory Reader, Durham: Duke UP 2010, S. 93-117, hier S. 94. Vgl. Ahmed, Sara: The Promise of Happiness, Durham: Duke UP 2010, S. 2ff.
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sie kann somit als privilegierter Ort der Reflexion über diese Kriege gelten.27 Die Militärfamilien haben im Kontext der sog. endlosen Kriege der USA im 21. Jahrhundert eine herausgehobene symbolische Funktion, da sie nicht nur stellvertretend für die Nation mit den unmittelbaren Konsequenzen der Kriege in Irak und Afghanistan leben (müssen), sondern zudem eine wichtige Übersetzungsfunktion übernehmen und als imaginative Schnittstelle zwischen der Zivilbevölkerung und dem professionalisierten (und damit zunehmend isolierten) US-Militär fungieren. Oftmals tragen sie in diesem Zusammenhang – freiwillig oder unfreiwillig – zur Legitimation der Militarisierung der amerikanischen Gesellschaft sowie der militärischen Einsätze der USA bei. Am Beispiel der Repräsentation von Militärfamilien, insbesondere der Ehefrauen und Kinder, zeigt sich der ambivalente Charakter des dominanten US-amerikanischen Glücksversprechens: Sie verkörpern einerseits die »happiness duty«,28 welche der Mobilisierung der Heimatfront durch die Aufforderung der Politik, weiterhin ihr ›normales‹ Leben zu führen, in den US-amerikanischen Kriegen des 21. Jahrhunderts eingeschrieben ist; andererseits ›leiden‹ sie stellvertretend für die Nation an den Folgen und Konsequenzen dieser Kriege, die viele US-Amerikaner*innen ignorieren (können). Die Familie als unhinterfragtes »happy object«29 assoziiert das Glück(sversprechen) mit dem Militär und der US-amerikanischen Nation. Dies bedeutet keinesfalls, dass die repräsentierten Familien tatsächlich glücklich sein/scheinen müssen. Sara Ahmed erklärt: »The happy object circulates even in the absence of happiness by filling a certain gap; we anticipate that the happy object will cause happiness, such that it becomes a prop that sustains the fantasy that happiness is what would follow if only we could have ›it‹«.30 Besonders deutlich zeigt sich das durch die Familien mitgetragene Glücksversprechen des US-Militärs, das gekoppelt ist an patriotische Pflicht-
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Vgl. Ritzer, Ivo: Wie das Fernsehen den Krieg gewann. Zur Medienästhetik des Krieges, Wiesbaden: VS 2015. S. Ahmed: The Promise of Happiness, S. 7. Diese Verpflichtung zum Erfolg bzw. Glück erhält hier noch eine zusätzliche Dimension, da die Familie in politischer Rhetorik aber auch in der Logik des US-Militärs als notwendiges Rückgrat des/der Soldat*in dargestellt ist und ihr somit Mit-Verantwortung für den Erfolg militärischer Einsätze zugeschrieben wird. Vgl. z.B. https://www.army.mil/article/212249/military_families_are_a_key_to_the_overall_readiness_of_the_force (letzter Aufruf 11.08.2020). S. Ahmed: The Promise of Happiness, S. 21, vgl. auch S. 28. S. Ahmed: The Promise of Happiness, S. 32.
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erfüllung (für die Nation), wie auch an individuellen, professionellen Erfolg (im Sinne einer militärischen Karriere), an den ritualisierten Momenten des »Homecomings«: »Happiness is what makes waiting for something both endurable and desirable – the longer you wait, the more you are promised in return, the greater your expectation of a return«, schreibt Sara Ahmed.31 Auf einer 2013 von Militärehefrauen erstellten Top-10-Liste der Gründe, warum das militärische Leben glücklich macht, rangiert »It makes us appreciate our families more« auf Platz 2 und »Homecomings« auf Platz 6.32 Anhand des »Homecomings« wird die enge Verzahnung von Familienidealen, militärischem Leben und Karriere sowie Glück und Glücksversprechen nicht nur politisch wirkmächtig inszeniert, sondern auch in der Populärkultur verhandelt.
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Militärfamilien in der (Populär-)Kultur
Das »Homecoming« ist ein intimer und privater Moment und gleichzeitig ein öffentliches Ritual. Vom medienwirksam gestalteten Empfang der aus dem Einsatz zurückkehrenden Soldat*innen am Flughafen durch ihre Angehörigen zum manchmal als »reunion porn«33 kritisierten öffentlichen Spektakel der Familienzusammenführung im Rahmen von Talk Shows, bei Sportereignissen und Konzerten oder bei politischen Veranstaltungen – wie z.B. bei Präsident Donald Trumps Rede zur Lage der Nation am 4. Februar 2020, als die neben First Lady Melania Trump platzierte Amy Williams mit ihren beiden Kindern von ihrem Ehemann überrascht wurde.34 Die wiedervereinte Familie repräsentiert den Moment der Glückserfüllung, der auf eine lange Zeit des Wartens und der Antizipation folgt. Dabei bleibt oft unbeachtet, dass gerade die Zeit nach der Rückkehr eines Familienmitglieds aus dem Kriegseinsatz eine emotional herausfordernde Phase ist, in der das erwartete Glück oft keine Erfüllung findet und die Familie womöglich sogar zerbricht. Diese Leerstelle
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S. Ahmed: The Promise of Happiness, S. 32. Vgl. https://www.military.com/spousebuzz/blog/2013/10/top-10-reasons-military-lifemakes-happy.html (letzter Aufruf 10.08.2020). Vgl. etwa Amy Bushatz bei CNN: http://transcripts.cnn.com/TRANSCRIPTS/2002/07/crn.02.html (letzter Aufruf 11.08.2020). Vgl. https://www.whitehouse.gov/articles/special-guests-for-president-trumps-3rdstate-of-the-union-address/ (letzter Aufruf 11.08.2020).
»Behind every good soldier is a family«
findet sich in politischer Programmatik und journalistischer Berichterstattung ebenso wie in populärkulturellen Repräsentationen. Die Fernsehserie Army Wives war zum Zeitpunkt ihrer Erstausstrahlung die erfolgreichste des Senders Lifetime, populär bei einem breiten Publikum, innerhalb der militärischen Community und bei vielen Kritiker*innen. Sie basiert lose auf Tanya Bianks Sachbuch Army Wives. The Unwritten Code of Military Marriage35 und wurde wiederholt mit der Erfolgsserie Desperate Housewives verglichen.36 Army Wives ist in vielerlei Hinsicht eine klassische PrimeTime Soap mit melodramatischen Erzählelementen. Ihre ideologische Sicht auf den sog. Global War on Terror und die US-Kriege in Afghanistan und im Irak ist dabei wenig ambivalent. Mary Douglas Vavrus erklärt hierzu: [Army Wives is one of the many] propaganda texts rolled out since 2001 to both mobilize public support for U.S military interventions in Afghanistan and Iraq and burnish the image of the Army. […] [It] produces gendered military propaganda using the conventions of soap opera and serial drama – genres typically intended for female audiences – in an attempt to fix meanings around Army family life.37 2008 erschienen die damaligen Präsidentschaftsbewerber Barack Obama und John McCain in Werbeclips für die zweite Staffel und Second Lady Jill Biden hatte ebenso wie die damalige Gouverneurin von South Carolina, Nikki Haley, einen Gastauftritt in der Serie. Nicht nur über die Unterstützung des Verteidigungsministeriums, sondern auch durch verschiedene Outreach-Aktionen
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Das Buch erschien 2006 zunächst unter dem Titel Under the Sabers. The Unwritten Code of Military Marriage (New York, St. Martin’s Press). Ginia Bellafante etwa konstatiert in der New York Times, dass frühe Rezensionen die Serie als eine Art »Desperate Housewives with Humvees« erscheinen ließen. Vgl. https://www.nytimes.com/2008/06/07/arts/television/07wive.html (letzter Aufruf 13.08.2020). Vavrus, Mary Douglas: »Lifetime’s Army Wives, or I Married the Media-MilitaryIndustrial Complex«, in: Women’s Studies in Communication 36.1 (2013), 92-112, hier S. 92-93.
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für Militärfamilien38 ist sie zentral im »military-entertainment complex«39 verortet. Die Serie dreht sich in den ersten sechs Staffeln um das Leben von fünf Ehepartner*innen von Soldat*innen im fiktiven Fort Marshall in South Carolina: Vier weiße Frauen und ein afroamerikanischer Mann, der nicht immer Teil der Gruppe ist und dessen Alibi-Funktion auch durch eine oberflächlich diverse Besetzung nicht ausgehebelt wird. Dies deutet bereits die Ikonografie der Werbeposter und DVD-Cover für die Serie an, auf denen in aller Regel nicht Roland Burton (Sterling K. Brown), sondern seine Frau Joan (Wendy Davis) mit den anderen Protagonistinnen abgebildet ist – und das, obwohl sie diejenige in der Familie Burton ist, die über viele Staffeln eine militärische Karriere verfolgt, bis sie sich am Ende dann doch gegen eine weitere militärische Laufbahn und für ihre Familie entscheidet.40 Dass die Familien der Soldat*innen eine wichtige Rolle spielen, wird schon in der ersten Folge deutlich: Trevor LeBlanc (Drew Fuller) wird hier buchstäblich noch schnell mit einer eigenen Familie ›ausgestattet‹, bevor er seinen Dienst in Fort Marshall (und später den aktiven Kriegseinsatz) antritt: Er macht Roxy (Sally Pressman) bereits nach wenigen Tagen einen Heiratsantrag; sie nimmt diesen an und bringt ihre zwei Kinder mit in die Beziehung und auf die Militärbasis. Roxy dient nicht nur als Identifikationsfigur für zivile Zuschauende, die mit ihr gemeinsam das militärische Leben, seine Sprache, seine Rituale und seine Regeln, erst kennenlernen, sondern sorgt auch dafür, dass Trevor über den moralischen Kompass und das motivationale Rückgrat der Kernfamilie verfügt, die zum Bild des ›guten‹ Soldaten gehören. Die Verabschiedung der Soldat*innen vor ihren Einsätzen, das Warten auf ihre Rückkehr und natürlich das »Homecoming« selbst prägen die Erzäh38
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Vgl. z.B. https://www.brooklynpaper.com/army-wives-take-command-tv-celebritiesvisit-walter-reed-army-medical-center/ (letzter Aufruf 13.08.2020) oder https://www. jbcharleston.jb.mil/News/Article-Display/Article/235512/army-wives-cast-and-local-be auticians-bring-the-look-for-success-to-military-sp/ (letzter Aufruf 13.08.2020). Siehe auch Vavrus, Mary Douglas: Postfeminist War. Women in the Media-Military-Industrial Complex, New Brunswick: Rutgers UP 2019, insbes. S. 42-52. Vgl. Lenoir, Tim/Caldwell, Luke: The Military-Entertainment Complex, Cambridge: Harvard UP 2018. Es ist bezeichnend für die Gender-Logiken der Serie, dass die Entscheidung über ihre weitere militärische Laufbahn in diesem Fall als eine Entscheidung für oder gegen Familie dargestellt wird. Für ihre Kollegen ist dies nicht gleichermaßen der Fall. In der Logik der Serie kehrt sie dann als Ehefrau und Mutter auch an ihren ›rechten‹ Platz zurück.
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lung.41 Trotz der glamourösen Inszenierung der Heldinnen an der Heimatfront, der romantisierten Darstellung des US-Militärs sowie der geschönten, limitierten Sicht auf die Kriege, werden in Army Wives auch die problematischen Aspekte des Familienlebens im Militär verhandelt. Dem Status der traditionellen Kernfamilie als »happy object« und seiner Wirkmacht auf der Ebene der individuellen Figuren, der Repräsentation des Militärs als »paterfamilias« oder »generous parent«42 und der Nation als Familie tut dies keinen Abbruch. Dennoch entsteht bei genauerem Hinsehen ein komplexes Bild von individueller Erfüllung, sozialem Aufstieg, patriotischer Pflichterfüllung und der Teilhabe an Belangen nationaler Sicherheit und neoimperialer Bestrebungen der USA, das all diese Dimensionen gelegentlich auch im Widerspruch zueinander zeigt. Die Rückkehr des Soldaten ist dabei stets ein zentraler Moment des Familienglücks, des erfüllten Auftrags und der geleisteten Pflicht. Der Augenblick wird von den Familien in Fort Marshall antizipiert und vorbereitet – Kinder malen Schilder und schwenken Plakate, die Frauen probieren verschiedene Kleider und Frisuren aus und schmieden detaillierte Pläne für das Wiedersehen (z.B. »Countermeasures« 5.9).43 Als Frank Sherwood (Terry Serpico) nach einem Hubschrauberabsturz zurückkommt, stellt er fest: »What kept all of us alive was our families. We needed to get home and our families brought us home« (»Who We Are« 1.6). Obwohl Roxy im Rahmen der von Medieninteresse und zivilreligiösem Pathos begleiteten »Homecoming«-Zeremonie von einem »happy end« spricht, ist das Familienglück der Sherwoods von kurzer Dauer. Frank erfährt u.a., dass sein Sohn Jeremy seine Frau Denise (Catherine Bell) geschlagen hat; Denise kehrt in ihren Beruf als Krankenpflegerin zurück, was zu weiteren Spannungen in der Ehe führt. Nichtsdestotrotz dominieren im Verlauf der Serie die als ›glücklich‹ kodierten Momente des Familienlebens, innerhalb derer die tragischen, traurigen und schwierigen Episoden notwendige Schritte im Streben nach Glück darstellen. Wie wichtig die Zusammenführung von 41
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Für zwei Staffeln legte Lifetime im Anschluss an Army Wives sogar ein Reality-TV Format auf, Coming Home (2011-2012), dessen Inhalt inszenierte und überraschende Familienzusammenführung waren. Vgl. M.D. Vavrus: Postfeminist War, S. 48. Vavrus, Mary Douglas: »Feminizing Militainment. Post/Post-Politics on Army Wives«, in: Emily L. Newman/Emily Witsell (Hg.), The Lifetime Network. Essays in »Television for Women« in the 21st Century, Jefferson: McFarland 2016, S. 75-94, hier S. 77 und 91. In der letzten Staffel ist das »Homecoming« ambivalenter in der Repräsentation familialen Glücks ohne jedoch signifikant mit den etablierten Logiken der Serie zu brechen (vgl. Army Wives: »Reckoning« 7.10 und »Adjustment Period« 7.11)
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Abb. 1: Auf dem Flugfeld.
Army Wives (»Leaving the Tribe« 2.4)
Abb. 2: General Holden und Claudia Joy begrüßen heimkehrende Soldaten.
Army Wives (»Leaving the Tribe« 2.4)
»Behind every good soldier is a family«
Familien ist, wird in zwei weiteren Szenen exemplarisch sichtbar: Am Ende der Episode »Leaving the Tribe« (2.4) begrüßen zahlreiche Familien ihre zurückgekehrten Soldaten auf dem Flugfeld. General Michael Holden (Brian McNamara) und seine Frau Claudia Joy (Kim Delaney) sind bei der »Welcome Home«-Zeremonie anwesend und empfangen – überlagert von Jason Reeves extradiegetisch eingespieltem »Photographs and Memories« – die Soldaten, die nicht von Angehörigen mit Ballons, Schildern und offenen Armen erwartet werden.44 In der nächsten Episode (»The Hero Returns« 2.5) verweben sich zwei Erzählstränge um die Thematik des »Homecomings«. Einerseits kommt Trevor LeBlanc nach einer Schussverletzung als Held von einem Einsatz zurück, andererseits werden die sterblichen Überreste von Ernest Flowers, der vor 30 Jahren in Vietnam gefallen war und seitdem als vermisst galt, nach Fort Marshall überführt. Während die Familie LeBlanc ihr Wiedersehen zelebriert45 , will die leibliche Tochter von Flowers zunächst nicht an seiner Gedenkfeier teilnehmen und Claudia Joys Family Readiness Group betreibt großen Aufwand, um Ernests damaligen besten Freund und Kameraden zu finden. Die Anwesenheit von Angehörigen ist auf symbolischer Ebene wichtig für die Zeremonie, die zudem das Militär als Familie inszeniert. Hier sind die Grenzen fließend. Claudia Joy bemerkt: »Ernest may not have any other relatives, but he still has family – his family is every troop who ever served in uniform«. Während am Ende nicht nur seine Tochter samt ihren Kindern an der Gedenkfeier teilnimmt, sondern auch General Holden Ernest Flowers gleichzeitig willkommen heißt und verabschiedet, beginnen für Trevor die Probleme mit seinem neuen Status als ›Held‹, seiner Verletzung und einer Tablettenabhängigkeit.
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Denise tut es ihr in einer späteren Episode gleich (vgl. Army Wives: »Countermeasures« 5.9), als sie – obwohl ihr Sohn Jeremy kurz vor der Rückkehr seiner Kameraden gefallen ist – an einer Zeremonie teilnimmt und die Soldaten ohne familiäres Willkommenskomitee sowie Jeremys Freunde in Empfang nimmt. Roxy hat zwar vergessen für die »Welcome Home«-Zeremonie ein Schild mitzubringen, doch Denise versichert ihr: »Well, you’ve brought everything that he cares about«.
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Abb. 3: Trevor wird von seinen Kindern empfangen.
Army Wives (»The Hero Returns« 2.5)
Abb. 4:Gedenkfeier für Ernest Flowers.
Army Wives (»The Hero Returns« 2.5)
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Kehrt der Soldat zurück, ohne von seiner Familie empfangen zu werden, ist dies in der Regel ein Zeichen persönlicher oder familiärer Krise. Als Frank für einen kurzen Aufenthalt nach Fort Marshall zurückkehrt (in dessen Rahmen er u.a. seine »domestic problems« in den Griff bekommen soll), verweigert er Denises Angebot, ihn abzuholen und geht zügig alleine vom Flugfeld, während die anderen Soldaten von ihren Ehefrauen in die Arme geschlossen werden. Die Krise der Ehe der Sherwoods hat keinen Platz in der affektiven Heimkehrszene (»Moving Out« 3.3 und »Incoming« 3.4). Die konsequente Profilierung der Militärfamilie verharmlost den Krieg(seinsatz) zu einem notwendigen Hindernis, das auf dem Weg zum Glück zu überwinden ist. Gleichzeitig wird die Kriegserfahrung als Stärkung der familienähnlichen Struktur des Militärs sowie der als Familie imaginierten Nation sinnstiftend verarbeitet. Als Joan sich z.B. für einen weiteren Kriegseinsatz und die ›Fürsorgepflicht‹ für ihre Truppe entscheidet, statt einen prestigeträchtigen Posten auf Fort Marshall anzutreten, der es ihr erlauben würde, bei ihrem Mann und ihrer kleinen Tochter zu bleiben (»Incoming« 3.4), präfiguriert dies in diesem Sinne ihren weiteren Erfolg im Militär sowie ihr privates Glück am Ende der Serie.46 Während in Army Wives die Fragilität und Ambivalenz des Glücksversprechens eines zurückkehrenden Soldaten und die Wirkmacht der dominanten Idee von ›Familie‹ als Ort der Erfüllung nur temporär in Frage gestellt werden, beleuchtet die Erfolgsserie Homeland (Showtime, 2011-2020) gerade diese Aspekte in der Darstellung der Militärfamilie kritisch. Auch Homeland wird von manchen Kritiker*innen als Propaganda für den Ausbau der Überwachung in den USA und die globalen Einsätze der US-Geheimdienste interpretiert. Doch ebenso finden sich Lesarten, die das kritische und subversive Potenzial der Serie in den Vordergrund stellen.47 Die Serie um die CIA-Agentin Carrie Mathison (Clare Danes) und ihre verschiedenen Einsätze im Global War on Terror nach dem 11. September 2001 basiert lose auf der israelischen Serie Hatufim/Prisoners of War (Channel 2, 2010-2012) und kann mit
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Eine ähnliche Dynamik zeigt sich bei einem »Homecoming« anderer Art: Als Denise und Frank wieder zueinanderfinden und sie in das gemeinsame Zuhause auf der Militärbasis zurückzieht, trägt er sie über die Schwelle. Just in diesem Moment klingelt das Telefon und Frank erhält seinen Marschbefehl für einen weiteren Einsatz im Irak (vgl. Army Wives: »Coming Home« 3.9). Vgl. z.B. Castonguay, James: »Fictions of Terror. Complexity, Complicity and Insecurity in Homeland«, in: Cinema Journal 54.4 (2015), S. 139-145.
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Timothy Melley als »global melodrama« gelesen werden kann.48 Die Erzählung wird damit zu einem »powerful vehicle for American exceptionalism«49 und schreibt sich in den melodramatischen politischen Diskurs der USA nach 9/11 ein. In den ersten drei Staffeln von Homeland geht es um den seit acht Jahren vermissten (und totgeglaubten) Marine Nicholas Brody (Damian Lewis), der überraschend gefunden wird und zu seiner Familie zurückkehren kann. Die Familie ist ein Dreh- und Angelpunkt der Erzählung, allerdings ist bereits von Beginn an klar, dass ein glückliches Ende für die Brodys nicht vorgesehen ist. Brodys Ehefrau Jessica (Morena Baccarin) wird mit einer Szene in die Serie eingeführt, die sie mit einem anderen Mann im Bett zeigt, mit Brodys bestem Freund Mike Faber (Diego Klattenhoff). In diesem Moment ruft ihr Ehemann an und sie erfährt, dass er nach Hause kommen wird. Für Carrie Mathison ist der Glücksmoment der Heimkehr eines vermissten US-Soldaten zudem von Anbeginn ein Bedrohungsszenario, denn sie ist überzeugt davon, dass Brody nun für die Gegenseite arbeiten wird. Brodys Rückkehr ist von großem medialem Interesse sowie intensiver Beobachtung durch das CIA begleitet. Im Rahmen der offiziellen Willkommenszeremonie umarmt Jessica ihren heimgekehrten Ehemann unter Tränen und steht pflichtbewusst neben ihm, während er eine kurze Rede an die Anwesenden richtet. Doch schon die verräterischen Blicke von ihr und Mike Faber, der im Publikum steht, entlarven die öffentliche Exposition von familiärem Glück als Farce. Vor ihrem Haus posieren die Brodys dann noch vor dem gelben Band, das den Baum im Vorgarten des Hauses ziert, für die Presse und geben das Bild der glücklich wiedervereinten Familie. Gemeinsam mit Carrie Mathison, die im gesamten Heim der Brodys Überwachungskameras angebracht hat, antizipieren die Zuschauenden bereits in der ersten Folge das Scheitern der Familie aufgrund der offensichtlichen Kluft zwischen Schein und Sein, d.h. zwischen der medialen Inszenierung und der Unmöglichkeit, dieses Idealbild in gelebte Normalität und Glück zu übersetzen. Die Kinder können sich kaum an ihren Vater erinnern und Brody fällt die Rückkehr in das ›normale‹ Leben sichtbar schwer. Die Ehe der Brodys steht ebenfalls vor großen Herausforderungen: Jessicas 48
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Das Genre habe sich aus den Fiktionen des Kalten Krieges entwickelt und beginne, so Melley, mit der Dramatisierung einer ernstzunehmenden Bedrohung von außen, bevor es sich nach innen wendet und aufzeigt, dass alle beteiligten Figuren »westerners associated with clandestine government« sind. Melley, Timothy: The Covert Sphere. Secrecy, Fiction, and the National Security State, Ithaca: Cornell UP 2012, S. 202. T. Melley: The Covert Sphere, S. 202.
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Abb. 5: The Brody family.
Homeland (»Pilot« 1.1)
Affäre mit Mike, die sie zunächst beendet,50 Brodys (anfänglichen) Problemen mit Intimität (in der ersten Folge vergewaltigt er seine Frau) und seinen terroristischen Absichten, von denen er dank Carries unautorisiertem Einsatz und eines Anrufs seiner Tochter Dana (Morgan Saylor) kurzfristig absieht. Er bewirbt sich erfolgreich um ein politisches Amt und assistiert weiterhin Abu Nazir (Navid Negahban), einem gesuchten Terroristen. Letztlich wechselt er noch einmal die Seiten, um – u.a. im Interesse seiner Familie – seinen Ruf zu retten. Doch mittel- und langfristig erfüllt sich das Glücksversprechen für die Familie Brody nicht. Als Brody zu einem Fundraising Event nicht auftaucht, hält Jessica spontan eine Rede an seiner Stelle, in der sie die Probleme um die Rückkehr ihres Mannes thematisiert: […] but I can’t help thinking one of the best ways to help our wounded warriors starts with the family. Because one thing I do know I’d have been able to support my husband better if I’d been more ready, after eight years of loneliness, eight years of not seeing each other, someone had warned me
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Jessica erklärt Mike, »he is my husband« (Homeland: »Pilot« 1.1) und versichert Brody, dass sie nur einen Weg finden müssten, noch einmal ganz von vorne zu beginnen (Homeland: »Grace« 1.2).
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how he’d look at me as if he didn’t know me anymore, how violent his nightmares would be that he would attack me in his sleep… ahem. how he didn’t know what to say to the kids those first few weeks, how hard intimacy of any kind would be for him, if someone had actually warned me in plain English how hard coming home would be for him that I’d be able to adjust my expectations […]. (»State of Independence« 2.3) In ihren Ausführungen fordert Jessica nicht nur mehr Unterstützung für Militärfamilien, um diese auf die Rückkehr ihrer Soldat*innen vorzubereiten, sie macht darüber hinaus deutlich, dass das Bild der glücklich wiedervereinten Familie, welches die Medien von den Brodys gezeichnet haben, trotz seiner Wirkmacht ein trügerisches ist und dass das ihm eingeschriebene Glücksversprechen sich nicht erfüllt. Nachdem Brody offiziell nach dem Anschlag auf Langley als Terrorist gilt, verliert die Familie nicht nur erneut den Vater und Ehemann, sondern auch ihre finanzielle Absicherung durch die Aberkennung der militärischen Unterstützungsleistungen (»Tin Man Is Down« 3.1). Im Verlauf der Serie zeigt sich das vergebliche Bemühen der Familie Brody, dem hegemonialen Familienbild zu folgen und die Erzählung um die Familie gerät zunehmend in den Hintergrund. Der Fokus liegt jenseits der Kernfamilie auf der Nation als Familie, die es mehr noch als die individuelle Kernfamilie zu schützen gilt. Homeland steht damit im Kontext eines breiteren Trends: »›Family values‹ television now includes and even prioritizes the (white, upper-middle-class) national family over the individual nuclear family«.51 Das individuelle Glücksversprechen, das an die Kernfamilie gekoppelt ist, wird auf die kollektive Ebene der Nation projiziert. Obwohl also Homeland in der ersten Staffel bereits das Scheitern der wiedervereinten Militärfamilie dokumentiert, wird diese kritische Perspektive auf das im Moment des »Homecoming« verdichtete Glücksversprechen durch die Markierung ihres Schicksals als außergewöhnlich sowie durch die Verlagerung des Glücksversprechens auf die nationale Ebene relativiert. Letzteres hat bisweilen einen hohen Preis und fordert mitunter existentielle Opfer von den Soldat*innen und ihren Familien.
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Negra, Diana/Lagerwey, Jorie: »Analyzing Homeland. Introduction«, in: Cinema Journal 54.4 (2015), S. 126-131, hier: S. 129.
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Fazit
Individuelles und kollektives Glücksversprechen ist in der Gründungsmythologie der USA eng an eine normative Vorstellung von Familie gekoppelt. Die Militärfamilie hat hierbei insbesondere seit 9/11 eine symbolisch herausgehobene Rolle. In politischen Diskursen ebenso wie in der Populärkultur steht sie sinnbildlich für die Nation und das US-Militär. Army Wives propagiert trotz oberflächlicher Diversität (in Form von Patchwork-Familien, gleichgeschlechtlichen Paaren und »families of color«) ein Familienmodell als »happy object« – wenngleich in verschiedenen Versionen und auf verschiedenen Ebenen. Dieses ist nur bedingt als Ort des eingelösten Glücksversprechens, sondern vielmehr als Movens der Figuren und als Arena des »pursuit of happiness« markiert: Denn hinter der schönen Fassade und jenseits des überdeterminierten Moments des Wiedersehens und der Familienzusammenführung zeigt die Serie häusliche Gewalt, Untreue, Geldnöte, Angst, Trauma und Verlust. Das Leid der Familien wird allerdings im sentimentalen Modus glorifiziert und, in der Logik des Global War on Terror, als für die Sicherheit und Freiheit der USA notwendig markiert. Das individuelle und kollektive Glück wird einerseits zum ostentativ gelebten Imperativ der Familien und zu ihrem Beitrag zum Krieg(serfolg), andererseits teilweise auf eine Zukunft jenseits von Militärdienst und Krieg verschoben. Auch in Homeland prägt das hegemoniale Bild der amerikanischen Familie die Erzählung um die Brodys. Die Serie thematisiert die Probleme der wiedervereinten Militärfamilie, die vom romantisch und patriotisch überformten Augenblick des »Homecoming« in politischen und kulturellen Diskursen gerne ausgeblendet werden. Während die Kriegserfahrung in Army Wives als Hindernis auf dem Weg zu individuellem (und kollektivem) Glück innerhalb der Kernfamilie, des Militärs und der Nation funktionalisiert wird, markiert Homeland den Kampf gegen den Terrorismus als essenziell für die Bewahrung der Familie ›Nation‹. Carries zunächst unautorisierte Überwachung der intimsten Momente der Brodys belegt bereits zu Beginn der Serie die Priorisierung des nationalen Interesses vor dem Schutz der individuellen Familie. In beiden Fällen wird das Glücksversprechen wenngleich in unterschiedlichem Maße in seinem exklusorischen und gewaltvollen Wirken gezeigt. Dennoch werden seine Grundparameter – durch die glorifizierende Darstellung und temporale Verschiebung sowie die Transposition auf nationale Ebene – weitgehend aufrechterhalten. Die Militärfamilie wird zum ambivalenten Symbol dieses Glücksversprechens. Sie steht für die Nation und ist doch nicht repräsentativ
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für eine Mehrheit der US-Bürger*innen, welche die Kriege des 21. Jahrhunderts in ihrem Alltag kaum zu spüren bekommen. Im Gegensatz zur politischen Indienstnahme von Militärfamilien über z.B. öffentliche Inszenierungen von Familienzusammenführungen für die Mastererzählungen des amerikanischen Glücksversprechens, zeigen zahlreiche kulturelle Texte aus dem Kontext des Global War on Terror dessen Grenzen, Exklusionsmechanismen und Widersprüche zumindest ein Stück weit auf. Neben den hier beispielhaft analysierten Fernsehserien lässt sich dies etwa in Filmen wie American Sniper (2014) oder Thank You for Your Service (2017), in Musikvideos wie Lonestars »I’m Already There« (2001), Toby Keiths »American Soldier« (2003) oder Kane Browns »Homesick« (2018), in literarischen Repräsentationen, z.B. Jehanne Dubrows Gedichte in Stateside (2010) und Siobhan Fallons Kurzgeschichten in You Know When the Men Are Gone (2011), oder in dokumentarischen Formaten beobachten. So zeigt z.B. die 2020 erschienene Dokumentation Father, Soldier, Son über die Familie von Sergeant First Class Brian Eisch die tragischen und weitreichenden Konsequenzen des Krieges in Afghanistan für den verwundeten Soldaten ebenso wie für seine Familie. Dennoch wird auch in dieser über zehn Jahre entstandenen filmischen Erzählung die Familie als Ort der möglichen Glückserfüllung sowie die Sinnhaftigkeit des Militärdienstes als Karriereoption, sowie als patriotische, familiäre Verpflichtung nicht in Frage gestellt. Die Wirkmacht der Familie – auf der Ebene individueller Intimität und Glückserfüllung und auf der Ebene kollektiven Glücksversprechens für US-Staatsbürger*innen – zeigt sich insbesondere an Repräsentationen symbolisch herausgehobener Familien wie der Militärfamilie. Sowohl in affirmierender als auch in stärker kritischer Lesart bleibt sie auf der einen oder anderen Ebene in ihrer Funktion als Zentripetalkraft des amerikanischen Glücksversprechens erhalten.
Von Hippies und Höllenfürsten Toxische Glücksversprechen in Kim Newmans Jago (1991) Simone Broders
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Kim Newmans Jago (1991): Konservative Glücksvorstellungen zu Beginn des Romans If it were now to die, ‘Twere now to be most happy, for I fear My soul hath her content so absolute, That not another comfort, like to this Succeeds in unknown fate.1
So beschreibt Shakespeares Othello, der sich gerade mit Desdemona verheiratet hat, sein absolutes Glück, das jedoch nur von kurzer Dauer ist. Der subtile Manipulator Iago stachelt Othellos Eifersucht so lange an, bis dieser Desdemona ermordet. Seither steht der Name Iago für die Verkörperung des Bösen, die mutwillig das Glück anderer zerstört.2 Vor diesem Hintergrund erscheint es naheliegend, hinter dem Titel Jago von Kim Newmans 1991 erschienenem Roman einen Verweis auf Shakespeares Iago zu vermuten.3 Diese interfigurale Referenz ist jedoch lediglich ein Element in Newmans komplexem Geflecht ästhetischer und narrativer Strategien,4 die naive Glücksvorstellungen 1 2 3 4
Shakespeare, William: Othello, Arden Shakespeare, Third Series, London: Thomson 2006, 2.1.190-194. Vgl. W.C. Woodson, »Iago’s Name in Holinshed and the Lost English Source of Othello«, in: Notes and Queries London 25. 2 (1978), S. 146-147, hier: S. 146. Vgl. Newman, Kim: Jago, London: Titan 2013. Wolfgang G. Müller identifiziert die Namensgebung als eine der häufigsten Methoden der Bedeutungszuschreibung im Rahmen von Interfiguralität: »One of the most prominent meaning-generating devices in literary name-giving is the linking of the name of
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infrage stellen und die von egoistischen Zielen motivierten Heilsversprechen isolierter Gruppierungen als ›toxisch‹ entlarven, um von Newman im Kontext eines postmodernistischen Spiels mit apodiktischen Wahrheitsansprüchen eingesetzt zu werden. In dem beschaulichen Dorf Alder im südenglischen Somerset herrschen zu Beginn des Romans konservative Glücksvorstellungen: Ehe, Familie, idyllisches Landleben. Der kleine Ort wird jedoch gleich zu Anfang in einen Ausnahmezustand versetzt: Im Sommer findet das alljährliche Musikfestival statt. Die Dorfbewohner stehen diesem ambivalent gegenüber, da sie zwar einerseits ihre brachliegenden Wiesen als Zeltplätze vermieten und in einem besonders heißen Sommer Ernteausfälle kompensieren können, sich andererseits jedoch von den Hippies gestört fühlen: The hippies were animals. Despoiling the countryside, breaching the peace, disturbing the livestock, interfering with people, raising a racket. […] They didn’t call themselves hippies any more, but that was what they were, all right. And hippies were no different from gypsies, savages, vermin. Nomadic trash with no hopes, messing up one place and going on to the next. It was an invasion. An occupation. […] Afterwards, Alder looked as if a Panzer division had rolled through, followed by an Apache war party.5 Zur Zeit des Romans Anfang der 1990er Jahre existiert die Hippie-Bewegung nur noch in ihren modernen Ausläufern, etwa die Rainbow Gatherings, die New Age-Bewegung und die Goa-Szene. Auch das Festival im fiktiven Alder ist Teil der alternativen Kultur der Hippie-Bewegung, die sich in erster Linie als friedlich, tolerant und freiheitlich verstand.6 Der Roman konzentriert sich auf verschiedene Gruppen von Protagonisten, die jeweils ihre eigenen Vorstellungen von Glück nach Alder bringen: Der Bauer Maurice Maskell träumt von einem Leben im Einklang mit der Natur
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a literary figure to the name of an earlier literary figure. Identity or partial identity (similarity) of names from different literary works is always an interfigural element, although interfigurality may work out in very different forms in the individual cases«. Müller, Wolfgang G.: »Interfigurality. A Study on the Interdependence of Literary Figures«, in: Heinrich F. Plett (Hg.), Intertextuality, Berlin: de Gruyter 1991, S. 101-121, hier: S. 103. K. Newman: Jago, S. 34. Vgl. Hall, Stuart: »The Hippies: An American ›Moment‹«, in: Ann Gray et al. (Hg.), CCC Selected Working Papers, London: Routledge 2007, S. 146-167, hier: S. 133.
Von Hippies und Höllenfürsten
und mit seiner Familie, die er zur Aufrechterhaltung der vermeintlichen Idylle jedoch terrorisiert. Doktorand Paul und seine Freundin Hazel verbringen den Sommer als Housesitter in der örtlichen Töpferei. Für Paul wäre die Fertigstellung seiner Dissertation das größte Glück. Außerdem hofft er darauf, seine angeschlagene Beziehung zu Hazel zu retten und beabsichtigt, sich mit ihr zu verloben. Hazel ist hingegen auf der Suche nach dem Glück und möchte sich durch die Töpferei als Künstlerin selbst verwirklichen. Sie spielt mit dem Gedanken, sich von Paul zu trennen. Die Organisatoren des Festivals erscheinen zunächst als eine friedliche Kommune von Neu-Hippies, die ein viktorianisches Herrenhaus gekauft haben und dort unter dem Namen Agapemone, der »Heimstatt der Liebe«,7 zusammenleben. Angeführt wird die Gruppe von Anthony William Jago, einem in Ungnade gefallenen anglikanischen Geistlichen. Jagos Anhänger richten ihr Leben auf das Prinzip der christlichen Nächstenliebe aus und scheinen viele Ideale der Hippie-Kultur verinnerlicht zu haben: Glück erfährt der Hippie durch das Gemeinschaftserlebnis, das frei von den Begrenzungen und Konventionen der Mehrheitsgesellschaft ist. Eine Hippie-Kommune versteht sich als gelebte Utopie und artikuliert, so Morgan Shipley, einen mystischen Impuls des »dropping out«, aufgrund dessen ihre Mitglieder Materialismus, rationale Imperative und eng gesteckte Moralvorstellungen ablehnen, um Intuition, Spiritualität und Zusammenhalt in den Mittelpunkt des Lebens zu rücken;8 dabei ist auch der Einsatz psychedelischer Drogen ein probates Mittel, um sich vom »falschen Bewusstsein« der Mehrheitsgesellschaft zu befreien und zu einem neuen, mystischen Bewusstsein zu gelangen: Mystic awareness, spurred by psychedelic consciousness, emerges within the daily interactions of everyday life; it rises from within the cracks of modern egocentric consciousness, revealing that social transformation, according to utopian ideals of togetherness, equality, and freedom, becomes possible […]. In embracing such idyllic utopianism, the hippies set themselves apart from projects of modernity/modernization […]. Through a core mystical perspective, key hippie prophets and social transformers sought to
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»Agapemone«, in: Oxford English Dictionary Online, https://www.oed.com/view/Entry/3791?redirectedFrom=agapemone#eid (letzter Aufruf 25.07.2020). Shipley, Morgan: »Hippies and the Mystic Way. Dropping Out, Unitive Experiences, and Communal Utopianism«, in: Utopian Studies 24.2 (2013), S. 232-263, hier: S. 233.
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redress the social by reimagining and reinscribing the personal as communal.9 Shipleys Beschreibung verdeutlicht, dass Jagos Gruppierung keine gewöhnliche Hippie-Kommune ist. Die egalitären Tendenzen der Hippies führen in der Regel nicht zu einer völligen Isolation von ihrem bisherigen Leben, da sie mit ihrer utopischen Lebensweise eigentlich den Anspruch erheben, langfristig die Gesellschaft zum Besseren zu verändern. Jago jedoch kontrolliert sämtliche Kontakte seiner Anhänger; notwendige Besorgungen im Dorf dürfen sie nur in Gruppen erledigen. Er besitzt eine Camera Obscura, eine Kreuzung zwischen Lochkamera und Periskop.10 Mit dieser viktorianischen Technologie gelingt es Jago, das gesamte Dorf im Blick zu behalten, wodurch er tatsächlich gottähnliche Allwissenheit zu besitzen scheint. Die Mitglieder der Gruppe haben keinen materiellen Besitz und leben sehr minimalistisch. Zugleich verfügt Jago selbst jedoch über Millionen von Pfund. Die Kommune lässt sich als eine religiöse Paragesellschaft charakterisieren, deren Glücksvorstellungen, Normen und Werte sich radikal von denen der ›Mehrheit‹ in Alder unterscheiden.11 Jagos Gruppierung ist zwar innerhalb der geografischen, aber außerhalb der religiösen Ordnung des Gemeinwesens von Alder verortet. Ihr Territorium ist begrenzt auf das Haus und Gelände der Agapemone, das von den meisten Mitgliedern nur selten verlassen wird. Die Agapemone verfügt über eigene, wenn auch autokratische Institutionen. Sie besitzt ihr eigenes »Wirtschaftssystem« und ihre eigene Rechtsprechung. Jago kontrolliert die Finanzen der Gemeinschaft und legt die Regeln des Zusam-
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M. Shipley: »Hippies and the Mystic Way«, S. 236-237. Zur Technologie der Camera Obscura vgl. Shapiro, Alan E.: »Kepler, Optical Imagery, and the Camera Obscura: Introduction«, in: Early Science and Medicine 13.3 (2008), S. 217218. Unter dem Begriff der Paragesellschaft werden ›Gesellschaften in der Gesellschaft‹ verstanden, Gruppen, die von Werten, Normen und Haltungen vom Konsens einer ›Mehrheitsgesellschaft‹ abweichen, vgl. Hiergeist, Teresa: »Selbst, anders, neu. Reflexionen zu den kulturellen und ästhetischen Bedeutungen von ›Parallel- und Alternativgesellschaften‹«, in: Dies. (Hg.), Parallel- und Alternativgesellschaften in den Gegenwartsliteraturen, Würzburg: Königshausen & Neumann 2017, S. 7-24, hier: S. 9-10, und Biersack, Martin/Hiergeist, Teresa/Loy, Benjamin: »Das Leben der Anderen. Historische, soziologische und narrative Dimensionen paralleler Sozialität«, in: Dies. (Hg.), Parallelgesellschaften. Instrumentalisierungen und Inszenierungen in Politik, Kultur und Literatur, München: Akademische Verlagsgemeinschaft 2019, www.romanischestudien.de/index.php/rst/issue/view/parallel (letzter Aufruf 25.07.2020).
Von Hippies und Höllenfürsten
menlebens fest. Der Zugang zur Bibliothek, der einzig verfügbaren Bildungseinrichtung, ist streng reglementiert. Die diskursive Abgrenzung der Agapemone von der Gesellschaft vollzieht sich in der Zuschreibung eigener Werte: »love« gilt als oberster Wert, wird jedoch nur auf die eigene Gemeinschaft bezogen, während die Außenwelt mit Hilfe eines starken Überlegenheitsnarrativs der Gruppierung im besten Fall als bemitleidenswert, im schlimmsten Fall als satanisch und feindlich konstruiert wird. Durch die Überlegenheit der Gruppe ergibt sich auch eine Entwertung sämtlicher weltlicher Glücksvorstellungen. Glück können Jagos AnhängerInnen nur innerhalb der Agapemone erfahren. Kontakte nach außen werden als Gefährdung dieses Glücks wahrgenommen. Als Pauls Freundin Hazel unerwartet der Agapemone beitritt, wird sie dementsprechend sofort von der Außenwelt isoliert. Hinter der Ideologie der Agapemone steht die Vorstellung, in der Endzeit zu leben. Jago hält sich selbst für die Wiederkunft Christi, sein Ziel ist nichts weniger als die Herbeiführung der Apokalypse.
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»Behold… I make all things new«: Toxische Glücksversprechen in Jago
Jago ist von Anfang an als ambivalente Figur angelegt. So stellt bereits der Name eine internymische Devianz zu Shakespeares Iago dar, wodurch eine Ähnlichkeit zwischen den beiden Figuren suggeriert wird.12 Iago wird mit Begriffen wie »Erzschurke« oder »moralischer Sadist« assoziiert,13 wodurch eine subtile Leserlenkung erfolgt, die eine vorsichtige Distanz zur Hauptfigur des Romans schafft. Sowohl der spanische und walisische Name »Iago« als auch die in Cornwall gebräuchliche Form »Jago« gehen auf »James« oder »Jacob« zurück.14 In der Bibel stammen die zwölf Stämme Israels von den Söhnen
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»Durch die totale oder partielle Identität (Ähnlichkeit) der Namen von Figuren in unterschiedlichen Texten wird in einem Text jeweils eine Figur eines anderen Textes evoziert«. Ein »präfigurierter Name« dient dazu, »eine vorgeprägte literarische Figur als Parallele oder Analogon aufzurufen«. Müller, Wolfgang G.: »Namen als intertextuelle Elemente«, in: Poetica 23.1/2 (1991), S. 139-165, hier: S. 150. Vgl. Glaz, A. André: »Iago or Moral Sadism«, in: American Imago 19.4 (Winter 1962), S. 323-348, hier: S. 330. Zur Namensherkunft von Iago vgl. Moore, Peter R.: »Shakespeare’s Iago and Santiago Matamoros«, in: Notes and Queries 43 (1996), S. 162-163, hier: S. 162.
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Jakobs ab, der sich den Erstgeburtssegen von seinem erblindeten Vater erschleicht (Gen. 27,1-28,5). Der Theologe Benedikt Hensel erläutert, dass der Name Jakob durch ein Wortspiel mit dem hebräischen Begriff für »betrügen, hinterherschleichen« gleichsam »klanglich den Betrug assoziiere«, jedoch die Darstellung Jakobs insgesamt »in ihrer Ambivalenz offen« sei.15 Die Charakterisierungen im Roman lenken den Leser durch gezielt widersprüchliche Assoziationen zu Reaktionen, die zwischen Belustigung und Schrecken oszillieren. Der Doktorand Paul etwa beschreibt ihn wie folgt: »The Reverend Anthony William Jago. In photographs, he had eyes like Robert Powell as Jesus and the three-weeks-dead expression Paul associated with William S. Burroughs. Post addressed to ›The Lord God, Alder‹ was apparently delivered to him«.16 Der 1944 geborene britische Schauspieler Robert Powell spielte 1977 die Titelrolle in Franco Zeffirellis international und prominent besetzter TV-Miniserie Jesus of Nazareth.17 Powells einprägsame Darstellung wurde sogar als Inspiration für Andachtsbilder verwendet und »definierte die bildliche Vorstellung von Jesus in den Köpfen der Zuschauer […] vielleicht stärker als jeder andere Jesus-Film«.18 Durch die Verbindung mit dem USSchriftsteller William S. Burroughs, der 1951 seine Ehefrau erschoss, schafft Newman einen bewussten Kontrast. Dieser unterschwellige Hinweis auf Jagos Gewaltpotential wird jedoch sofort wieder durch die amüsante Tatsache relativiert, dass von der Post der Agapemone offenbar Briefe an Gott zugestellt werden. Die Vorstellung, Briefe an Gott zu schreiben, evoziert einen kindlichen Glauben an einen gnädigen Gott-Vater, der für seine Kinder jederzeit zugänglich ist und sich um ihr Wohlergehen sorgt.19 Diese Form der paradoxen Leserlenkung ist charakteristisch für den Roman. 15
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Hensel, Benedikt: »Betrug«, in: WiBiLex. Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (Februar 2015), https://www.bibelwissenschaft.de/fileadmin/buh_bibelmodul/media/wibi/pdf/Betrug__2018-09-20_06_20.pdf (letzter Aufruf. 25.09.2020). K. Newman: Jago, S. 33. Jesus of Nazareth (IT/UK 1977, R: Franco Zeffirelli). Houlden, James L.: Jesus in History, Thought, and Culture (Bd. 2), Santa Barbara: ABCCLIO 2003, S. 289-290. Beispiele für eine solche Gottesvorstellung finden sich in Spielfilmen wie Letters to God (R: David Nixon, Patrick Doughtie, USA, 2010), in dem ein krebskranker Junge durch seine Briefe an Gott seine gesamte Nachbarschaft inspiriert, oder Oscar et la dame rose (R: Éric-Emmanuel Schmitt, B, 2009) mit einer ähnlichen Thematik. Briefe an Gott werden jedoch nicht nur von Kindern versendet (vgl. Ludwig, David J./Weber, Timothy/Iben, Douglas: »Letters to God. A Study of Children’s Religious Concepts«, in: Journal of Psychology and Theology 2.1 (1974): 31-35), sondern haben auch als Votivta-
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Ähnlich verfährt Newman mit der Anlehnung an reale Vorbilder. Die Agapemone erhält ihren Namen von einer religiösen Sondergemeinschaft, die von 1846 bis 1951 in Somerset existierte.20 Ihr Anführer, der in Ungnade gefallene anglikanische Reverend Henry Prince, wurde ebenfalls »Beloved« genannt und sah sich selbst als wiedergekehrter Christus.21 Prince lebte auf einem großzügigen Anwesen mit 30 bis 40 alleinstehenden Frauen zusammen, denen er erklärte, das Fleisch könne bereits in dieser Welt von der Sünde befreit werden.22 Dies geschehe durch die Great Manifestation, die sich bei näherer Betrachtung als Geschlechtsverkehr mit ihm herausstellte.23 In Presse und Literatur wird die Agapemone zum Teil als eine Art harmlose Hippie-Kommune avant la lettre dargestellt, ihre Exzentrik wird in einem leichten, ironisch-distanzierten oder amüsierten Tonfall geschildert.24 Auch Kate Barlow, eine Enkeltochter von Princes Nachfolger, die selbst in der Agapemone aufwuchs und in ihrer Autobiographie ihre Kindheit in der religiösen Sondergemeinschaft beschreibt,25 betont die absurd anmutende Ideologie Princes: Rachael Kohn (RK): Well the most interesting thing, apart from that is that the church didn’t have an altar, it had a throne. Kate Barlow (KB): That’s right. Absolutely. Well if you’re the Second Coming, why do you need an altar? […] RK: Kate, I gather you’ve read some of your grandfather’s sermons. How did they strike you? KB: There was a lot of extremely flowery language. It’s all about brides and there’s a lot of sexual undertones to the whole thing. They were probably
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feln, in Kirchen ausliegende Gebetsbücher oder in Form von verschriftlichen Gebeten, die von Pilgern in die Ritzen der Klagemauer geschoben werden, eine lange Tradition. Vgl. Banerjee, Jacqueline: »Henry James Prince and the Agapemonites«, in: The Victorian Web, University of Singapore (12.10.2016), www.victorianweb.org/religion/agape.html (letzter Aufruf 25.07.20). Vgl. Armytage, W.H.G.: Heavens Below. Utopian Experiments in England, 1560-1960, London/New York: Routledge 2007, S. 273. Vgl. Hedlund, Richard: »Undue Influence and the Religious Cases that Shaped the Law«, in: Oxford Journal of Law and Religion 5.2 (2016), S. 298-318, hier: S. 305-306. Vgl. Mason, Michael: The Making of Victorian Sexual Attitudes, Oxford: OUP 1994, S. 33. Beispiele hierfür sind Menen, Aubrey: The Abode of Love. The Conception, Financing, and Daily Routine of an English Harem in the Middle of the 19th Century Described in the Form of a Novel, New York City, NY: Scribner 1957, und Evans, Roger: Blame it on the Vicar. Holy Appropriate Tales of Old Somerset, Wellington, UK: Halsgrove 2006. Vgl. Barlow, Kate: Abode of Love. Growing Up in a Messianic Cult, Fredericton, CAN: Goose Lane 2007.
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quite thrilling to listen to if you were a single Victorian lady. But as far as I can see they’re absolutely standard cult… confused…26 Die Banalität von Jagos Mythologie, die sich an tatsächlichen Aussagen von Prince orientiert, steht im Kontrast zu dem Endzeit-Fanatismus, der seine Anhänger charakterisiert.27 Während Jagos wirre Ideologie von außenstehenden Figuren meist belächelt und satirisch kommentiert wird, ist die Bedrohung für die Leser allgegenwärtig, da diese Einblicke in Jagos pathologische Ichbezogenheit sowie das Machtgefälle zwischen Jago und seinen Anhängern erhalten und gleichzeitig zu einem frühen Zeitpunkt der Handlung erfahren, dass Jago vom britischen Geheimdienst beobachtet wird. Als Paul den Agapemone-Mitgliedern Wendy und Derek begegnet, erhält der Leser Einblick in seine Gedankenwelt: He felt sorry for the man [Derek], intuiting that he had been dragged by his girlfriend into Jago’s sect and was liable to be stuck with it. Until the Reverend gave the Beatles’ Double White one spin too many and called for a bloodbath, or, depressed by an income tax investigation, decided it was time to try out the Kool-Aid and cyanide cocktail on his congregation.28 Das Beatles-Album Double White referiert auf Charles Manson, der Ende der 60er Jahre eine sektenähnlich strukturierte Hippie-Kommune anführte.29 Seinen Vorstellungen nach waren die Beatles die vier Engel der Apokalypse, die ihm mit ihrem Song ›Helter Skelter‹ die Botschaft zukommen ließen, am Ende der Zeiten stehe ein Rassenkrieg, den seine Anhänger beginnen müssten.30 Er forderte sie auf, bekannte Mitglieder des Establishments zu ermorden und für diese Taten die Afroamerikaner zu beschuldigen. Die Manson Family ist für insgesamt acht Morde verantwortlich.31 Pauls Gedan-
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Geoff Wood/Rachael Kohn (Prod.), »Abode of Love«, in: The Spirit of Things, ABC Radio (22.02.2009), https://www.abc.net.au/radionational/programs/archived/spiritofthings/abode-of-love/3175302#transcript (letzter Aufruf 25.09.20). Dass die Führung der Agapemone ihre religiöse Ideologie instrumentalisierte, um ihre Gefährlichkeit zu verschleiern und psychologische Abhängigkeiten zu erzeugen, wird hingegen auch in Barlows Autobiographie deutlich. K. Newman: Jago, S. 32. Vgl. Atchison, Andrew J./Heide, Kathleen M.: »Charles Manson and the Family. The Application of Sociological Theories to Multiple Murder«, in: International Journal of Offender Therapy and Comparative Criminology 55.5 (2010): S. 771-79, hier: S. 772. Vgl. A. J. Atchinson/K.M. Heide: »Charles Manson and the Family«, S. 777. Vgl. A.J. Atchinson/K.M. Heide: »Charles Manson and the Family«, S. 777.
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ken fungieren durch die Assoziation mit Manson als foreshadowing auf das zerstörerische Potential Jagos und seiner Anhänger, die im Laufe des Romans ebenso beginnen, für ihn zu töten. Der »Kool-Aid and cyanide cocktail« referiert auf das ›Massaker von Jonestown‹: Sektenführer Jim Jones bewegte über 1000 Menschen dazu, ihm in das vermeintlich letzte Paradies auf Erden nach Guyana zu folgen, nach Jonestown. Da die Anlage ursprünglich nur für 300 Bewohner konzipiert war, herrschten unhaltbare Zustände. Ein Kongressabgeordneter besuchte Jonestown, um sich ein Bild zu machen, und wurde dort erschossen. Da Jones befürchten musste, dass die zwangsläufig folgenden Ermittlungen zur Schließung der Anlage durch die Behörden führen würden, beschloss er, das Ende sei gekommen. Im November 1978 zwang er über 900 seiner Anhänger zu einem Massensuizid mit vergifteter Limonade.32 Jago mag seine Anhänger nicht wie Jones physisch vergiften. Dennoch wirken sich seine Glücksversprechen gleichsam toxisch auf ihre Psyche aus. Jago versammelt Außenseiterfiguren um sich, Menschen, die unter psychischen Erkrankungen leiden oder sich in einer Lebenskrise befinden. Der strukturierte Tagesablauf der Agapemone stellt eine Ordnung her, die in ihrem Leben fehlt. Hinzu kommt ein konsequentes Überlegenheitsnarrativ: Die Mitglieder der Agapemone sind die Auserwählten. Um die Erzählung nicht infrage stellen zu müssen, verlieren sie nach und nach ihre Fähigkeit, kritisch zu denken und eigene Wertvorstellungen zu entwickeln. Newman bringt ein fantastisches Element ins Spiel, um dem charismatischen Anführer eine besondere Gefährlichkeit zu verleihen: Jago verfügt über die Gabe, die Träume der Menschen, positiv wie negativ, für sie Wirklichkeit werden zu lassen. Dies bedeutet, dass Jago anhand ihrer eigenen Vorstellungen eine Illusion erschafft, die sie mit allen Sinnen wahrnehmen können, diese ist jedoch nur so real, wie sie selbst es zulassen. Es ist daher möglich, durch eine Illusion in der realen Welt ums Leben zu kommen, wenn es dem Betroffenen nicht gelingt, hinter diese zu blicken. Jago verwendet diese Fähigkeit, um die Träume eines »Neuen Jerusalem« für seine Anhänger real erscheinen zu lassen und sich selbst als Christus zu inszenieren: Beloved’s face was human, eyes still alive within the balls of flame that filled His sockets. He smiled serenely, humbly proud of His servants. For an
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Vgl. Barker, Eileen: »Religious Movements. Cult and Anticult since Jonestown«, in: Annual Review of Sociology 12 (1986): S. 329-346, hier: S. 329-330.
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instant, His face was a lamb’s, seven horns starting from his brows, seven eyes crowding His face. Then He was His human self again, and His Love poured forth.33 Die Textstelle zeigt wiederum Newmans ambivalente Darstellung: Jago wird mit dem Oxymoron »humbly proud«, also »demütig stolz«, beschrieben. Sein Gesicht ist das eines Lammes, wodurch er mit Christus assoziiert wird, zugleich ist jedoch von sieben Hörnern und sieben Augen die Rede, wie sie in der Offenbarung des Johannes das Tier besitzt, das aus dem Meer steigt, um als Antichrist die Welt zu beherrschen (Offenbarung 13,1). Zwar handelt es sich bei den von Jago erzeugten Bildern um Illusionen, jedoch sind sie umso realer und konkreter, je fester die Person an sie glaubt. Seine Fähigkeit gerät zunehmend außer Kontrolle und greift auf das gesamte Dorf über. Der Grundschüler Jeremy Maskell wird von einer real gewordenen HorrorVersion des Zwergs Dopey aus Disneys Snow White and the Seven Dwarfs (1937) verfolgt, der versucht, ihn mit seinem Grubenpickel umzubringen. Jeremys Vater, der von einem Leben im Einklang mit der Natur träumt, verwandelt sich in einen Green Man, ein architektonisches Element, das ein von Blättern umrahmtes männliches Gesicht zeigt und sehr häufig in Kirchen aus dem 13. und 14. Jahrhundert zu finden ist.34 Der Green Man selbst kann als positives Symbol von Wiedergeburt und Erneuerung verstanden werden, jedoch auch als dunkler Vorbote von Verfall und Sterblichkeit, einer Art memento mori.35 Durch die autoritären und gewalttätigen Züge in Maskells Persönlichkeit transformiert sich der Green Man in ein Ungeheuer: The Green Man stretched his branchy arms, foliage rustling, and roared out his rage, his chest-bark splitting as his lungs expanded, dark-green sap trickling. Ripe ears of corn grew under his arms, like plague buboes. His groin was thickly leafed, a greenwood spear jutting out of the vegetation. Cactus spines and potato eyes dotted his calves, tentacles waved from his head, dripping slime. He looked like the illegitimate offspring of the Jolly Green Giant and a Doctor Who rubber-suit monster.36
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K. Newman: Jago, S. 540. Vgl. Raglan, Julia: »The Green Man in Church Architecture«, in: Folklore 50.1 (1939), S. 45-57, hier: S. 48 und S. 50. Vgl. J. Raglan: »The Green Man in Church Architecture«, S. 48 und S. 50. K. Newman: Jago, S. 478-479.
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Paul, der seine Doktorarbeit über die Werke von H.G. Wells und anderen Science Fiction-Autoren um die Jahrhundertwende schreibt, stößt im Wald hinter der Töpferei auf eine marsianische Kriegsmaschine aus dem Klassiker The War of the Worlds (1898). Eine willkürlich anmutende Vermischung von Illusionen, die Jago aus den Versatzstücken der Erinnerungen seiner Opfer erzeugt und die aus Architektur, Weltliteratur, Populärkultur, Film und Fernsehwerbung stammen, ersetzt die eigentliche, externe Realität. Dies kann mit der Vorstellung einer Ära der universellen Simulation gleichgesetzt werden, wie sie Jean Baudrillard in seiner Simulakrentheorie postuliert. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, so Baudrillard, befindet sich die Menschheit im Zeitalter der Postmoderne,37 neue Technologien führen in der medienbestimmten Welt zum Primat der Illusionen. Medien und Kommunikation sind zum dominanten Charakteristikum der postmodernen Gesellschaft geworden, Bilder ersetzen die direkte Erfahrung von Referenten. Die Welt besteht aus Kopien, zu denen kein Original existiert: »La définition même du réel est: ce dont il est possible de donner une reproduction équivalente […]. Au terme de ce processus de reproductibilité, le réel est non seulement ce qui peut être reproduit, mais ce qui est toujours déjà reproduit: Hyperréel«.38 Eine solche Lesart legt den Schluss nahe, dass Jagos Suggestionen als Analogie zur Manipulation durch die postmoderne Mediengesellschaft zu deuten sind: Werbung, Nachrichten- und Unterhaltungsindustrie. Nicht umsonst flüchtet Jeremy vor einer Figur aus einem Disney-Film. Trotz des mythologischen Hintergrunds der Gestalt des Green Man wird dieser mit populärkulturellen Vergleichen beschrieben, da er Paul an die Außerirdischen aus der langlebigen britischen Science Fiction-Serie Doctor Who (1963-1989 und 2005-) sowie an den Jolly Green Giant, eine seit Mitte der 1920er Jahre populäre US-amerikanische Werbefigur für Dosengemüse, erinnert. Pauls Marsianer sind ihrerseits von einer Verfilmung von The War of the Worlds (1953) inspiriert. Erreicht ist ein Zustand, in dem die Kopien zur eigentlichen Realität geworden sind –
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Vgl. Sarup, Madan: An Introductory Guide to Post-Structuralism and Postmodernism. New York: Harvester, 1993, S. 161-177, hier: S. 164. Baudrillard, Jean: L’échange symbolique et la mort, Paris: Gallimard 1976, S. 114. »Die wirkliche Definition des Realen lautet: das, wovon man eine äquivalente Reproduktion herstellen kann. […] Am Ende dieses Entwicklungsprozesses der Reproduzierbarkeit ist das Reale nicht nur das, was reproduziert werden kann, sondern das, was immer schon reproduziert ist. Hyperreal«. Baudrillard, Jean: Der symbolische Tausch und der Tod, Berlin: Mathhes und Seitz 2005, S. 159.
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Baudrillards Hyperrealismus.39 Das toxische Potential von Glücksvorstellungen, die quasi durch eine fremde Instanz verordnet sind, liegt also in deren blinder Akzeptanz als Realität, in der kritiklosen Aufgabe der Möglichkeit des Widerspruchs. Durch Zufall entdeckt Paul jedoch die Schwachstelle von Jagos Fähigkeit. Seit einigen Tagen wird Paul von Zahnschmerzen gequält. Wenn der physische Schmerz überhandnimmt und das bewusste Denken – und mit ihm auch die Fähigkeit, die Illusion zu akzeptieren – ausschaltet, ist er in der Lage, hinter die Illusion zu blicken: »It’s partly being prepared in your mind, said Susan, and it’s partly pain … You can’t think when you’re in pain, and you need to think to be taken in by all this«.40 Die Durchbrechung von Illusionen ist somit im wörtlichen wie im übertragenen Sinne ein schmerzhafter Prozess.41 Auf der Suche nach Verbündeten gegen Jago trifft er auf Susan und James, Mitglieder einer geheimen Sondereinsatzgruppe des MI 5, die in die Agapemone eingeschleust wurden, um Jago zu beobachten. James ist eine Art zynische James Bond-Persiflage, eine Figur, die das Problem am liebsten mit der Schusswaffe lösen möchte und für zahlreiche Action-Sequenzen sorgt. ›Witch‹ Susan besitzt psychokinetische Fähigkeiten, die jedoch nicht stark genug sind, um Jago ernsthaft etwas entgegenzusetzen. Der nun folgende Showdown wartet mit zahlreichen ästhetischen Spezialeffekten und narrativen Kunstgriffen auf, die illustrieren, wie Newman charakteristische Erzählstrategien der postmodernen Literatur nutzt, um sämt-
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J. Baudrillard: L’échange symbolique et la mort, S. 114. K. Newman: Jago, S. 543. Der Schmerz ist zugleich Hilfsmittel und Nebenwirkung der Durchbrechung von Illusionen, doch der Mensch muss dazu bereits sein, diese Vorstellungen aufzugeben, damit sie ihre Macht verlieren. Die Nebenhandlung um Jagos Anhängerin Wendy verdeutlicht dieses Konzept. Wendy hat vor Jahren den Vergewaltiger Ben ermordet, um ihr Martyrium zu beenden. Als sie Ben in Alder begegnet und von dessen (realer) Verbündeter Allison gefoltert wird, ist sie trotz ihrer Schmerzen nicht in der Lage, Ben als Illusion zu erkennen, da sie daran glaubt, aufgrund ihrer Tat den Tod verdient zu haben. Als Wendy stirbt, löst sich Ben buchstäblich in Luft auf (K. Newman: Jago, S. 351), da er nur in ihrer Vorstellung existierte (»He’d told Allison he could only stay if people believed in him«, K. Newman: Jago, S. 340). Auch Jeremy gelangt zu einem ähnlichen Schluss: »He’d always known there was an Evil Dwarf, but he never thought beyond the mere scariness of his being an actual thing … It was possible he’d made the Evil Dwarf actual by believing in him … It was very dark, but the darkness was empty. The imaginary monsters had been banished. He was stuck with the actual world and the horrors it still presented« (K. Newman: Jago, S. 457-461).
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liche Grenzziehungen endgültig zu relativieren: Gut und Böse, Traum und Wirklichkeit, Gegenwart und Vergangenheit, Text und Kontext.
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Narrative und ästhetische Strategien postmodernistischer Grenzverwischung
Das Spiel mit der Intertextualität wird in den Schlusskapiteln besonders deutlich. Die Offenbarung des Johannes ist dabei der beherrschende Prätext, an dem sämtliche Stufen der von Jago inszenierten Apokalypse ausgerichtet werden. Im Roman finden sich zahlreiche Zitate aus der Literatur, von Dornröschen über die Artussage zu Shakespeares Midsummer Nightʼs Dream,42 Samuel Taylor Coleridges »Kubla Khan«,43 William Blakes Songs of Innocence44 bis hin zu Matthew Arnolds »Dover Beach«.45 Mit Federman kann man von einer literature of »playgiarism« sprechen; demnach ist das Spiel mit den literarischen Vorgängern die einzige Möglichkeit, sich von dem Dilemma zu lösen, dass eine Rückkehr zu einem imaginierten literarischen Nullpunkt ebenso wenig möglich ist wie eine Wiederholung des bereits Geschriebenen.46 Die Fähigkeiten von Jago und Susan erinnern an John Farrisʼ Roman The Fury (1976), Stephen Kings Carrie (1974) und Firestarter (1980), sowie David Cronenbergs Film Scanners (1981). Surreale, traumähnliche Sequenzen lassen den Einfluss von David Lynchs ebenfalls in einer Kleinstadt angesiedelter TVSerie Twin Peaks (1990-1991) erkennen.47 Lyman Frank Baums Kinderbuch The Wonderful Wizard of Oz (1900) steht Pate für die Entlarvung Jagos als Betrüger:
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K. Newman: Jago, S. 496-497. K. Newman: Jago, S. 123. K. Newman: Jago, S. 503. K. Newman: Jago, S. 558. Vgl. Federman, Raymond: »Playgiarism. A Spatial Displacement of Words«, in SubStance 6/7.16 (1977), S. 107-112, hier: S. 110. In einem Interview erklärt Newman sogar, er habe den Namen des Bikers, der Jagos Anhängerin Wendy verfolgt, im letzten Augenblick von ›Bob‹ in ›Ben‹ geändert, um eine Namensgleichheit mit der Dämonengestalt aus David Lynchs TV-Serie zu vermeiden. Vgl. Barton, Steve: »Exclusive. Kim Newman Discusses Horror Novel Jago«, DreadCentral (13.03.2013), https://www.dreadcentral.com/news/42401/exclusive-kim-newmandiscusses-horror-novel-jago/ (letzter Aufruf 25.09.20).
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James and Susan walked down the gold-carpeted aisle, like Dorothy and friends in the chamber of the great and powerful Oz. […] »You’re a very bad man,« Dorothy had accused the exposed Oz. »No,« he had proclaimed, »I’m a very good man.« If there was something of Tony Jago left in the Lord God, Susan couldn’t find it. »… I’m just a very bad wizard.« The man himself was another victim of his fantasies.48 […] The first stab of pain let him [Paul] see the dust and the attic. Then, Heaven was back. […] Happy days were here again, the skies above were clear again. Troubles melted like lemon drops way above the chimney tops.49 Wie der Zauberer von Oz keine magischen Kräfte besitzt, beruht auch Jagos Macht auf Bildern. Wie Dorothy und ihre Freunde auf der golden brick road zum Zauberer gelangen, schreiten Susan und James einen goldenen Teppich entlang. Zugleich wird mit »Over the Rainbow« die Filmmusik von The Wizard of Oz zitiert, wenn auch wiederum vollkommen eklektizistisch kombiniert mit zwei Versen aus Annette Hanshaws »Happy Days Are Here Again« aus dem Musical Chasing Rainbows (1930), das jedoch durch Roosevelts Einsatz des Titels im Wahlkampf 1932 heute vor allem als inoffizielle ›Hymne‹ der US-Demokraten bekannt ist. Jago suggeriert seinen Anhängern eine heile Welt, die ebenso wenig real ist wie die Musical-Welt, zugleich handelt es sich bei seinem Neuen Jerusalem um eine Art ›Wahlkampfveranstaltung‹, deren Sinn darin liegt, seine verbliebenen Gegner auszuschalten. Obwohl James als Kontrastfolie zu Jago konstruiert ist – die internymische Transformation von Jacob/James zu Jago trägt in diesem Fall zu einer Polarität der Figuren bei – und James Bond am Ende seiner Abenteuer den Schurken besiegt, wird die Lesererwartung einer actionreichen letzten Schlacht von Gut gegen Böse enttäuscht, denn Jago ist James hoffnungslos überlegen und lässt ihn von seinen fanatischen Anhängern kreuzigen. Susan wird durch Jagos telekinetische Fähigkeiten schwer verletzt. Als in ganz Alder die Feuer der Apokalypse toben, erwacht Pauls Freundin Hazel in einem Neuen Jerusalem: Spires shot up like skyrockets, cupolas expanded like mushrooms, glittering bridges and walkways spanned turrets and towers, bobbing aircars passed 48 49
K. Newman: Jago, S. 583. K. Newman: Jago, S. 614.
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through glass and steel canyons, choirs and orchestras made music in many plazas, saints and angels strolled upon the mezzanines. There were shops, concert halls, schools, galleries, parks, gardens, statues, fountains, trees, ice-cream parlours, bandstands, showrooms, cinemas, discotheques, night clubs, zoos and pavement cafés. […] His whisper filled the Heavens, and all the faithful heard […]. All around, citizens were celebrating. It was carnival. Confetti blew on the warm breeze. Children laughed. Wild animals roamed among the people, letting themselves be petted. A little girl hugged a smiling tiger. A bear with a pink heart in his fur capered in baggy pants, to a tune played by a long-legged mountebank in a multicoloured coat. New Jerusalem bustled around them, market stalls open, musicians and dancers performing, potters and sculptors displaying their wares. […] ›Behold,‹ said Beloved, ›I make all things new…‹.50 Es handelt sich um eine verkitschte Version eines Neuen Jerusalem mit himmlischen Chören und Kindern, die mit Löwen spielen. Durch die Diskrepanz zwischen biblischer Rhetorik und sehr weltlichen Annehmlichkeiten wie Eiscafés, Kinos und Shoppingmeilen wirkt es wie aus der Zeit gefallen. Satirisch überhöht wirken einerseits die Versprechen der Konsumgesellschaft, sich ›glücklich kaufen‹ zu können, andererseits die bunten Publikationen und Propagandavideos diverser religiöser Sondergemeinschaften, die potentiellen neuen Anhängern das Paradies auf Erden versprechen. Interessanterweise richtet sich die Illusion des Neuen Jerusalems jeweils an den Träumen und Wünschen des Betrachters aus, wie Pauls Sicht auf das Paradies verdeutlicht: Curtains parted, and he was in the streets of a celestial city. It was vaguely Middle Eastern, like a Technicolor bazaar in an Arabian Nights fantasy, but 1930s science fiction skyscrapers grew above. He heard Beethoven, Bach, Brahms and Mahler conducting their own posthumous works, setting kneeweakeningly transcendental music to bright new happy words by Shelley, Keats, Shakespeare and William Blake. Happy people rejoiced, in robes of flowing white that could have been classical or futurist. There was little to do in Heaven apart from rejoice. After a while, he assumed, it would get infernally boring.51
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K. Newman: Jago, S. 609-610. K. Newman: Jago, S. 612.
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Glück ist in dieser Vorstellung des Himmelreichs gleichbedeutend mit Stillstand, ein literarischer Topos, der sich beispielsweise im happy valley von Samuel Johnsons Rasselas oder im El Dorado von Voltaires Candide findet.52 Der Mensch kann ohne den Antrieb seiner Neugier, ohne unerfüllte Wünsche, in einem Zustand des dauerhaften Glücks nicht existieren. Der häufige Wechsel der Reflektorfigur und die multiperspektivische Darstellung eines mittels Hyperbel und Karikatur satirisch dargestellten Neuen Jerusalem, entlarven Jagos ultimatives Glücksversprechen schließlich als Illusion. Für den Literaturwissenschaftler Paul liegt der Reiz des Himmels in der Nivellierung der Standortbedingtheit:53 In seinem Paradies vertonen Bach und Beethoven die neuesten Werke von Shakespeare und Blake. Auch die Filme der 30er Jahre, die sein Interesse an der Science Fiction geweckt haben, sind Teil seines utopischen Szenarios. Der Doktorand erfüllt somit das Klischee des vergeistigten Bücherwurms, der sich in der Vergangenheit wohler fühlt als in der Gegenwart. Indem Paul am Ende des Romans zum unfreiwilligen Helden avanciert, parodiert Newman die Konventionen des Horror-Genres, da man eigentlich ein Duell des Actionhelden James oder der übersinnlich begabten Susan gegen Jago erwartet hätte. Jago wird schließlich durch eine Stecknadel besiegt, mit der Paul seine Zahnschmerzen im entscheidenden Moment bewusst verschlimmert, um sich von Jagos Einfluss zu befreien und Jamesʼ Waffe abfeuern zu können. Auch in Hinblick auf die Zeitdarstellung wird ein Klischee des fantastischen Romans und der science fiction zitiert, das Motiv der Zeitreise. Susans 52
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»The Happy Valley is nothing but a euphemism for misery; […] the place violates the universal law of nature that good and evil have to be combined […]: the absence of misery causes a certain stasis of life«. Freiburg, Rudolf: »The Multiplicity of Agreeable Consciousness. Samuel Johnson’s Sceptical Philosophy of Terrestrial Happiness«, in: English Literature 2.1 (2015), S. 43-68, hier: S. 60. Zur Untersuchung der Verbindungen zwischen Rasselas und Candide vgl. Ballaster, Ros: »The Eastern Tale and the Candid Reader in Eighteenth-Century Europe. Tristram Shandy, Candide, Rasselas«, in: Revue de la Société d’Études Anglo-Américaines des XVIIe et XVIIIe Siècles 67 (2010), S. 109125; Brunkhorst, Martin: »Vermittlungsebenen im philosophischen Roman: Candide, Rasselas und Don Sylvio« in: Arcadia. Zeitschrift für Vergleichende Literaturwissenschaft 14 (1979), S. 133-147. Gadamer versteht unter dem Begriff der Standortbedingtheit, dass sich jede Interpretation in die Bedingungen der hermeneutischen Situation zu fügen habe, der sie angehöre, und es unmöglich sei, die Umstände des Produktionskontexts eines Textes adäquat nachzuvollziehen. Vgl. Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen: Siebeck 1972, hier: S. 374-375.
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Bewusstsein reist, während sie ohnmächtig am Boden liegt, in das Jahr 1922 und tritt als Geist bei einer spiritistischen Sitzung auf. Diese wird von Catriona Kaye durchgeführt, der früheren Besitzerin des alten Herrenhauses, das zu Jagos Agapemone wurde. Indem Susan die Teilnehmer, unter denen sich auch Jagos Großmutter Mary befindet, vor diesem warnt, löst sie Marys Flucht nach London aus, wo sein Kult später seinen Anfang nimmt. Mit dem Zeitreise-Motiv kommt somit auch ein Großvater- (oder Großmutter-)Paradoxon zum Tragen, da man sich fragen könnte, ob Susans Warnung nicht etwa die Ursache für Marys strenge und von Gewalt geprägte Erziehung ihres Enkels ist und sie somit Jago erst zu einem Psychopathen werden lässt.54 Die zyklische Struktur der Zeitdarstellung wiederholt sich in der Gliederung des Romans. Die Haupthandlung besteht aus elf Teilen. In der christlichen Symbolik wird die Zahl elf als Überschreitung der vollkommenen Ordnung betrachtet und steht für Maßlosigkeit, Verfehlung und Konflikt.55 Die Zahlensymbolik ist jedoch wiederum ambivalent: So entspricht elf in der jüdischen Kabbalah dem Daʼat, dem inneren Wissen von Gott und der Harmonisierung von Gegensätzen.56 Man könnte die Beschränkung auf diese Anzahl von Teilen auch als postmodernistische Karnevalisierung begreifen, ein »Anti-System«, einen bewussten Verstoß gegen die literarische Konvention, ein Zyklus bestehe immer aus 12 Elementen.57 Ein weiteres Merkmal postmodernistischer Erzählstrategien besteht in der Fragmentarisierung der Haupthandlung durch insgesamt sieben Analepsen, analog zu den sieben Siegeln aus der Offenbarung, in denen die Vergangenheit einzelner Charaktere erzählt wird.58 Im Gegensatz zur Haupthand54
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Zum Großvater-Paradoxon vgl. Vaas, Rüdiger: »Vierdimensionale Gedankenexperimente – Zeitreisen in der Physik, Philosophie und Science Fiction«, in: Karsten Weber/Hans Friesen/Thomas Zoglauer (Hg.), Philosophie und Phantastik. Über die Bedingungen, das Mögliche zu denken, Paderborn: mentis 2016, S. 67-97; und Willer, Stefan: »Zeitreisender«, in: Stefan Willer/Benjamin Bühler (Hg.), Futurologien, München: Fink 2016, S. 257-269. Vgl. Körber, Esther-Beate: »Zahlensymbolik in den Kirchenliedern Paul Gerhardts«, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 57.4 (2005), S. 320-336, hier: S. 327. Vgl. Dreifuss, Gustav: »The Union of Opposites in the Kabbalah«, in: Journal of Jungian Theory and Practice 7.1 (2005), S. 65-71, hier: S. 67. Zum Begriff der Karnevalisierung vgl. Hassan, Ihab: »Postmoderne heute«, in: Wolfgang Welsch (Hg.), Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der PostmoderneDiskussion, Weinheim: VCH/Acta Humaniora 1988, S. 47-55, hier: S. 53. I. Hassan: »Postmoderne heute«, S. 49: »Unbestimmtheit ist … oft die Folge von Fragmentarisierung. Der postmoderne Mensch nimmt lediglich Trennungen vor; Fragmen-
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lung, die chronologisch voranschreitet, greifen die Analepsen wie ein Countdown immer weiter in die Vergangenheit zurück, bis sich der Kreis zum Vorwort schließt, das von Ereignissen in Alder aus dem Jahr 1887 berichtet, als sich eine Gruppe von Einwohnern ebenfalls um einen charismatischen religiösen Anführer, Reverend Timothy Charles Bannerman, versammelte, um die vermeintlich nahende Apokalypse zu erleben. Wie Jagos Inszenierung des Weltuntergangs endeten auch die damaligen Ereignisse in Chaos und Zerstörung, wobei im Zuge der Vorbereitungen auf den Weltuntergang Jagos Großmutter Mary gezeugt wurde und somit auch Jagos Geschichte ihren Anfang nahm. Mit dem Tod Jagos und dem Scheitern seines Versuchs, die Apokalypse herbeizuführen, ist der Roman einer zyklischen Zeitvorstellung entsprechend »kreisläufig wieder … zum Ausgangszustand zurückgekehrt … Die Geschichte verläuft im Rhythmus zyklischer Katastrophen und Erneuerungen«.59 Linearen und objektiven Vorstellungen von Zeit werden im gesamten Roman immer wieder Absagen erteilt. So verursachen etwa Susans psychokinetische Fähigkeiten regelmäßig im Abstand von wenigen Tagen einen Ausfall sämtlicher Uhren in ihrem Elternhaus,60 die Zeit ist somit für sie nicht mehr objektiv messbar. Auch Jagos Gruppierung hat ein zyklisches Zeitverständnis: »Ever since her own Great Manifestation, Jenny had known the cycle was drawing to a close«.61 Die Besucher des Festivals werden als eine eklektizistische Auswahl vergangener Stilrichtungen beschrieben, die eine zyklische Wiederkehr der Vergangenheit in der Gegenwart evozieren: »Many attendees were caught in time-warps … There were isolated examples of every style cult that had ever been … most were teenagers who had pick-and-matched personae from the past. That was post modernism for you«.62 Der Postmoderne-Theoretiker Fredric Jameson beschreibt die Schwächung der Historizität in ähnlicher Weise als pastiche, eine »willkürliche Kannibalisierung aller Stile der Vergangenheit«,63 die zu einer Auslöschung temporaler Kontinuität und zur Zerstörung
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te sind angeblich das einzige, dem er noch vertraut. Seine tiefste Verachtung gilt jeglicher Totalisierung, jeglicher Synthese, sei sie sozialer, kognitiver oder ästhetischer Art«. Vgl. Assmann, Jan: »Denkformen des Endes in der altägyptischen Welt«, in: Karlheinz Stierle/Rainer Warning (Hg.), Das Ende. Figuren einer Denkform, Poetik und Hermeneutik XVII, München 1996, S. 1-31, hier: S. 1 und 4. K. Newman: Jago, S. 263. K. Newman: Jago, S. 361. K. Newman: Jago, S. 272. Vgl. Jameson, Fredric: »Postmodernism or, The Cultural Logic of Late Capitalism«, in: New Left Review 146: S. 53-92, hier: S. 71.
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der historischen, linearen Zeitauffassung führt.64 Das willkürlich wirkende Zitieren aus der Literatur und Kultur von Shakespeare bis Twin Peaks verstärkt diesen Eindruck und zeigt auf, dass Jagos Narrativ von Apokalypse und Neuem Jerusalem keinen Anspruch auf Authentizität oder Wahrheit erheben kann. Die erneute Erzählung bereits zuvor aus anderer Perspektive geschilderter Plot-Elemente wie die Sichtung eines brennenden Mannes, der je nach Sichtweise ein Engel der Apokalypse oder ein abgestürzter Nazi-Pilot sein kann, oder Susans Erscheinen bei der Séance auf dem Anwesen von Catriona sind weitere Beispiele für zyklische Zeitvorstellungen in Jago. Die Handlung ist nicht als linear fortschreitender Plot konstruiert, sondern vielmehr als zwei sich gegenläufig drehende Räder. Während das mythische Denken auf der Überzeugung basiert, dass die Kreisläufigkeit von Zeit und Geschichte kulturell erzeugt, im Mythos formuliert und rituell in Handlungen umgesetzt werden muss, um die Welt vor einem Absturz ins Chaos zu bewahren,65 gehen postmodernistische Denker wie Lyotard vom Zusammenbruch der sinnstiftenden grands récits wie der Religion, aus. Veränderungen werden daher nicht länger als linear, sondern als fließend betrachtet,66 so dass eine endgültige, solide Wahrheit nur eine Illusion ähnlich den von Jago erzeugten Bildern ist, die ihre Wirkung nur durch die Wahrnehmung des Individuums entfalten kann und sich bei näherer Betrachtung in Luft auflöst.
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Fazit: Entzauberung apodiktischer Wahrheitsansprüche als toxische Glücksversprechen
Durch seine starke Heterogenität widersetzt sich Newmans Roman auch einer eindeutigen Genre-Zuschreibung. Horror- und Science-FictionKonventionen werden zwar ständig aufgerufen, jedoch durch satirische, parodistische und groteske Elemente zugleich wieder gebrochen. Die Pervertierung einer scheinbar friedlichen Hippie-Kommune in eine destruktive religiöse Paragesellschaft zeigt Charakteristika einer Dystopie.67 Der inter64 65 66 67
Vgl. Dickens, David R./Fontana, Andrea: »Time and Postmodernism«, in: Symbolic Interaction 25.3 (2002): S. 389-396, hier: S. 393. Vgl. J. Assmann: »Denkformen des Endes in der altägyptischen Welt«, S. 5. Ähnliche Phänomene werden aus soziologischer Perspektive beschrieben in: Baumann, Zygmunt: Liquid Modernity, Cambridge: Polity 2000. Vgl. Mohr, Dunja: »The Postmodern Reappearance of Utopia in the Disguise of Dystopia«, in: ZAA 55.1 (2007), S. 5-24, hier: S. 9.
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textuelle Bezug zum Wizard of Oz lässt hingegen an einen Bildungs- oder Entwicklungsroman denken. Am Ende des Romans haben sich Susans Fähigkeiten voll ausgebildet. Im Unterschied zu Jago besitzt sie die Kontrolle darüber und schließt sich dem gealterten Medium Catriona Kaye an. Paul hat seine Dissertation endlich fertiggestellt und ist in einer neuen Beziehung mit Hazels Schwester Patricia. Er wirkt erwachsener und in seiner Persönlichkeit gefestigt. Doch auch dieses Motiv des Entwicklungsromans wird durch die Figur der Hazel durchbrochen. Durch die Erlebnisse hat sie ein Trauma erlitten und ist auf den Entwicklungsstand eines Kindes zurückgefallen. Paradoxerweise ist sie sehr glücklich. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sich sämtliche ›Glücksversprechen‹, die von Jago erzeugt und damit von außen diktiert werden, als toxisch erweisen, indem sie das Bewusstsein der Figuren mit Illusionen vergiften, um Eigeninitiative und Entwicklung auszuschalten. In einem dauerhaften Zustand vermeintlichen Glücks ist der Mensch nicht mehr als ein Kind, seiner eigenen Mündigkeit und jeglicher Form der Verantwortung beraubt. Toxische Glücksversprechen sind apodiktischer Natur, die wie die grands récits für alle gültig sein sollen. Jago verletzt keinen seiner Anhänger physisch, es sind stets die Menschen, die sich selbst und einander, bedingt durch ihre eigenen Illusionen, Schaden zufügen. Paul beschreibt dies mit dem Zitat: »Ignorant armies clashing by night«.68 Es handelt sich dabei um den letzten Vers aus Matthew Arnolds Gedicht »Dover Beach« (1867). Ah, love, let us be true To one another! for the world, which seems To lie before us like a land of dreams, So various, so beautiful, so new, Hath really neither joy, nor love, nor light, Nor certitude, nor peace, nor help for pain; And we are here as on a darkling plain Swept with confused alarms of struggle and flight, Where ignorant armies clash by night.69
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K. Newman: Jago, S. 558. Arnold, Matthew: »Dover Beach«, in: Arno Löffler/Eberhard Späth (Hg.), English Poetry, Wiesbaden: Quelle und Meyer 1998, S. 219.
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Arnold verbrachte am Strand von Dover seine Hochzeitsreise. Die letzte Szene von Jago nimmt diese Situation auf, indem Paul mit seiner Freundin ebenfalls an einem Strand gezeigt wird, im Hintergrund die spielende Hazel.70 Arnolds Gedicht wird oft als Beschreibung der conditio humana gelesen, eine düstere Bestandsaufnahme, in der das Glück der Jungverliebten nur eine Illusion ist, während sich die Welt als feindselig und brutal darstellt. Newmans Zitat aus »Dover Beach« und die Aufnahme seines Entstehungskontexts suggerieren jedoch eine andere Deutung. Das Wissen um die Härte der Welt entwertet nicht das subjektive Glücksversprechen des einzelnen Augenblicks. Sich von Absolutheitsansprüchen und Illusionen eines dauerhaften Glücks zu befreien, ist vielmehr ein schmerzhafter, jedoch notwendiger Prozess, um nicht den Verführungen eines Anthony William Jago zu erliegen und kein Teil der anonymen »ignorant armies« zu werden. Eine wesentliche Rolle spielt dabei jedoch die Tatsache, dass Susan zuvor versucht hatte, Hazel telepathisch zu beeinflussen, um sie dazu zu bewegen, die Agapemone zu verlassen. Zwar war dies nicht erfolgreich, jedoch ist ihre subtile Beeinflussung dafür verantwortlich, dass es Hazel im entscheidenden Moment nicht gelingt, Paul aufzuhalten: »something was getting through to Hazel… Hazel raised a hand to strike him [Paul], to push him away from the Lord God. But she saw his face, a face she didn’t recognize, and could not land the blow«.71 Als die kindliche Hazel am Strand Susan bemerkt, die sie aus einiger Entfernung beobachtet, erklärt sie Patricia, dies sei ihre »fairy godmother«.72 Zwar hat sie keine bewusste Erinnerung mehr an die Ereignisse in Alder, doch sie scheint über ein intuitives Wissen zu verfügen, so dass sie mit Susan positive Gefühle verbindet. Aus Witch Susan, der bösen Hexe des Westens, ist eine schützende gute Fee geworden, weil Hazel ihr eine wichtige Gabe zu verdanken hat: den Zweifel.
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K. Newman: Jago, S. 638. K. Newman: Jago, S. 607-608. K. Newman: Jago, S. 643.
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The (un)happy few Soziale Segregation in medialen Inszenierungen von Gated Communities in Lateinamerika: Lukas Valenta Rinners Film Los decentes (2016) Christian von Tschilschke
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Das illegitime Glücksversprechen der Gated Communities
Gated Communities sind alternative Wohn- und Lebensformen der besonderen Art. Allerdings wird man bei dem Wort ›alternativ‹ wahrscheinlich eher antibürgerliche und antikapitalistische Lebensformen der Gegen- und Subkulturen vor Augen haben und nicht gerade das, was man unter dem Oberbegriff ›Gated Communities‹ zusammenfasst. Denn Gated Communities sind in der Regel geschlossene Wohnanlagen und häufig von Sicherheitsdiensten bewachte Siedlungszentren, in denen sich ein finanziell meist gut gestellter Mittelstand und eine reiche Oberschicht gegen den Rest der Gesellschaft abschotten, um genau den bürgerlich-kapitalistischen Lebensstil möglichst ungestört und sorgenfrei zu kultivieren, der von den sogenannten ›alternativen Kulturen‹ normalerweise abgelehnt wird.1 Solche Gated Communities kommen in den unterschiedlichsten Formen fast überall auf der Welt vor und sind ein Phänomen, das schon länger existiert. Zu den frühesten Gründungen gehört etwa die 1852 eröffnete Villa Montmorency im 16. Arrondissement von Paris, die es bis heute gibt. Die erste Gated Community Argentiniens, der elitäre Tortugas Country Club in der Provinz Buenos Aires, entstand im Jahr 1930. In den lateinamerikanischen Ländern haben bewachte Wohnkomplexe seit den 1990er Jahren unter
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Einen ersten Überblick vermittelt Glasze, Georg: »Gated Community«, in: Nadine Marquardt/Verena Schreiber (Hg.), Ortsregister. Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart, Bielefeld: transcript 2012, S. 126-132.
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verschiedenen Namen – barrios cerrados, countries, urbanizaciones cerradas, condomínios fechados – einen besonders starken Aufschwung erfahren. Diese Entwicklung hängt zweifellos damit zusammen, dass die soziale Ungleichheit in den peripheren Gesellschaften Südamerikas nach wie vor so groß ist wie fast nirgends sonst auf der Welt.2 Die neoliberalen Politikprogramme der jüngeren Vergangenheit haben diese Situation in einigen Ländern noch zusätzlich verschärft. Gleichzeitig ist der Staat in vielen Fällen nicht willens oder überhaupt in der Lage, seinen Bürgern mehrheitlich ein Leben in Sicherheit und Wohlstand zu garantieren. Als ›alternativ‹ können nun aber auch die Gated Communities bezeichnet werden, und zwar insofern, als sie das Resultat eines Prozesses der sozialen Segregation und urbanen Fragmentierung sind, für den der USamerikanische Politologe und ehemalige US-Arbeitsminister Robert B. Reich in einem Artikel für The New York Times Magazine vom Januar 1991 den Begriff »Secession of the Successful«, die Absonderung der Wohlhabenden und Erfolgreichen, geprägt hat.3 Wer es sich leisten kann, kehrt Gesellschaft und Staat den Rücken, um in zum Teil selbst verwalteten, autarken Gemeinschaften in einem sicheren, sauberen, gesunden und naturnahen Umfeld zu leben, das nicht nur Sport- und Freizeitanlagen wie Golf- oder Tennisplätze und Schwimmbäder einschließt, sondern oft auch Einkaufszentren, Schulen, Krankenhäuser und andere Versorgungseinrichtungen. Die ›Alternative‹, die sich in den Gated Communities konkretisiert, ist also nicht durch die Zurückweisung des Staates und seiner Autorität motiviert, sondern im Gegenteil durch den Wunsch, das Versagen des Staates zu kompensieren und den staatlichen »law and order-Defiziten«4 eine selbst geschaffene Ordnung mit klaren, von allen zu respektierenden Regeln entgegenzusetzen. Gated Communities sind sozial und kulturell weitgehend homogene »Privilegiertenmilieus«5 , ihre Bewohner sind keine ›Aussteiger‹, die ihre Lebensweise grundlegend ändern wollen. 2 3 4 5
Vgl. dazu die aktuelle Bestandsaufnahme von Krumwiede, Heinrich-W.: Soziale Ungleichheit und Sozialstruktur in Lateinamerika, Baden-Baden: Nomos 2018. Reich, Robert B.: »Secession of the Successful«, in: The New York Times Magazine vom 20.01.1991, S. 16. H.-W. Krumwiede: Soziale Ungleichheit, S. 98. H.-W. Krumwiede: Soziale Ungleichheit, S. 192. »Privilegiertenmilieus« werden »durch eine enorme Dichte und Exklusivität der Sozialkontakte innerhalb einer selekten Gruppe und scharfe Außengrenzen konstituiert«. Ihr Hauptinteresse besteht in der »Beibehaltung der Privilegien«. Ihre Gegner sind »die sozial Unterprivilegierten als Vertreter
The (un)happy few
Interessanterweise setzt die jüngste mir bekannte filmische Darstellung einer lateinamerikanischen Gated Community als erste und bisher auch einzige genau diese beiden Formen alternativen Lebens, die Gated Community und die Alternativkultur im herkömmlichen Verständnis, in Beziehung zueinander. Es ist der Film Los decentes (wörtlich »Die Anständigen«, der deutsche Verleihtitel lautet allerdings Die Liebhaberin), der zweite lange Spielfilm (96 min) des österreichisch-argentinischen Regisseurs Lukas Valenta Rinner, der im April 2016 auf dem Jeonju International Film Festival in Südkorea uraufgeführt wurde.6 In der argentinisch-österreichisch-südkoreanischen Koproduktion wird die Geschichte einer jungen Frau aus vermutlich prekären Verhältnissen erzählt, der 32-jährigen Belén (Iride Mockert), die Arbeit als Haushälterin in einer Villa findet, die in einer vornehmen Gated Community in einem Außenbezirk von Buenos Aires gelegen ist. Beim Schneiden der Gartenhecke bemerkt Belén, dass sich auf dem dschungelähnlichen Nachbargelände eine Mischung aus Nudistenkolonie und Swingerclub befindet. Magisch davon angezogen, dringt sie immer häufiger auf das Nachbargelände vor und wird schließlich von der dort lebenden libertären Kommune aufgenommen, die tantrischen Sex praktiziert, den Tag mit Müßiggang verbringt und sich einem bei aller Sanftmut recht radikalen Ideal verschrieben hat: »defender a muerte nuestras libertades«7 , wie es bei einer Ansprache zur Erinnerung an den Ursprung der Bewegung
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der ›gefährlichen Klassen‹« (H.-W. Krumwiede: Soziale Ungleichheit, S. 192-193). Politisch stehen sie ›rechts‹. Lukas Valenta Rinner wurde 1985 in Salzburg geboren. Nach dem Kurzfilm Carta a Fukuyama (ARG 2010, 11 min) drehte er den Science-Fiction-Film Parabellum (ARG/AUT/URY 2015, 75 min). Nähere Auskunft zu seinem Film gibt Valenta Rinner in: Schiefer, Karin: »Interview. ›Mich beschäftigen soziale Lebenswelten und was sie aus Menschen machen‹«, www.austrianfilms.com/news/bodymich_beschaeftigen_soziale_ lebenswelten_und_was_sie_aus_menschen_machenbody vom August 2016 und Horak, Manfred: »Die Anständigen und die Anderen: Interview mit Lukas Valenta Rinner«, in: Kulturwoche.at vom 27.09.2017, https://www.kulturwoche.at/podcasts/filmkultur/3683 -die-liebhaberin-interview-lukas-valenta-rinner (letzter Aufruf 30.09.2020). Zur Situierung Valenta Rinners im argentinischen Kino der Gegenwart siehe Andermann, Jens: »El cine argentino después de lo nuevo. Territorios, lenguajes, medialidades«, in: Mónica Satarain/Christian Wehr (Hg.), Escenarios postnacionales en el Nuevo Cine Latinoamericano. Argentina – México – Chile – Perú – Cuba, München: AVM.Edition 2020, S. 241-253. Los decentes (ARG/AUT/KOR 2016, R: Lukas Valenta Rinner), 01:09:30.
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heißt. Als die Bewohner der Gated Community die Schließung dieser unliebsamen Nachbarschaft erreichen, stiftet Belén einen Racheakt an, bei dem die Nudisten in die Gated Community eindringen und dort wahllos Leute erschießen, bevor sie selbst von der Wachmannschaft niedergestreckt werden. So plakativ der Regisseur im Einzelnen die Gated Community der »naked community«8 auf der anderen Seite des Elektrozauns gegenüberstellt, so sehr macht er doch auch deutlich, wie diese auf den ersten Blick so gegensätzlichen Welten in Wirklichkeit strukturell, in ihrer Eigenart als soziale und ideologische Blasen, die sich gegen die ›Welt draußen‹ abschotten, konvergieren. Lukas Valenta Rinner konstruiert in seinem Film also gleich zwei Parallelgesellschaften, die sich nicht nur beide deutlich von einer angenommenen Mehrheitsgesellschaft unterscheiden, sondern ihrerseits auch in einem ganz konkreten geographischen Sinn parallel zueinanderstehen und so zu einem Vergleich einladen.9 Der auch ästhetisch originelle, sich dem Massengeschmack entziehende Film Los decentes, der an den Stil von Lucrecia Martel, Lisandro Alonso oder Carlos Reygadas erinnert, ist aber nur das vorläufig letzte Produkt einer langen Reihe von Büchern und Filmen, die ungefähr seit dem Jahr 2005 vermehrt das Sujet der Gated Communities in Lateinamerika und insbesondere in Argentinien aufgreifen. Dazu gehören neben den Kriminalromanen Retrato de familia con muerta (2008) von Raúl Argemí und Los caimanes (2019) von Inés Arteta die Thriller Las viudas de los jueves (2005) und Betibú (2011) von Claudia Piñeiro, die beide auch ins Deutsche übersetzt sind und jeweils von Marcelo Piñeyro (2009) und Miguel Cohan (2014) unter denselben Titeln sehr erfolgreich verfilmt wurden.10 Hinzukommen im Bereich des Films die derb8 9
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Esther Buss im Klappentext der DVD Die Liebhaberin, Wien: Hoanzl 2018. Vgl. zum Begriff der ›Parallelgesellschaften‹ u.a. Biersack, Martin/Hiergeist, Teresa/Loy, Benjamin (Hg.), Parallelgesellschaften. Instrumentalisierungen und Inszenierungen in Politik, Kultur und Literatur, München: AVM.Edition 2019. Aus der argentinischen Literatur sind dieser Liste noch die Romane De tripas corazón (2010) von Mercedes Reincke und Amores enanos (2016) von Federico Jeanmaire hinzuzufügen. In Deutschland wurde das Thema Gated Communities von Juan Sebastian Guse in seinem Debütroman Lärm und Wälder (2015) aufgegriffen, in Frankreich von Karine Tuil in L’insouciance (2016) und Jean Echenoz in Vie de Gérard Fulmard (2020). Die ›Matrix‹ aller Gated-Community-Romane ist und bleibt aber T.C. Boyles The Tortilla Curtain, der wohl nicht zufällig in demselben Jahr 1995 erschienen ist wie die erste nennenswerte stadtgeographische Studie, die dann zur Grundlage des Standardwerks Fortress America. Gated Communities in the United States (1997) von Edward James Blakely und Mary Gail Snyder wurde.
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komische Teenagerkomödie Cara de queso. Mi primer gueto (2006) von Ariel Winograd sowie die ebenfalls im Jugendlichenmilieu und in einem argentinischen country angesiedelte fiktionale Sozialstudie Una semana solos (2009) von Celina Murga. Aus Argentinien stammt auch der kurze Dokumentarfilm La ciudad que huye (2006) der international bekannten Spielfilmregisseurin Lucrecia Martel.11 Zu erwähnen sind außerdem die effektvolle, auch im deutschen Fernsehen gezeigte, spanisch-mexikanische Koproduktion La zona (2007) von Rodrigo Plá und der spanische Spielfilm Pájaros muertos (2009) von Guillermo und Jorge Sempere, der zum Teil an argentinischen Schauplätzen gedreht wurde. Im Hinblick auf die Soziologie des Wohnens ebenfalls sehr sensibel ist das Kino des Brasilianers Kleber Mendonça Filho, vor allem sein Film O som ao redor (2012; wörtlich »Nachbarschaftsgeräusche«), der unter anderem in einem condomínio vertical, einem der für die Gated Communities in Brasilien typischen Apartmenthochhäuser in Recife spielt, aber auch das nachfolgende Werk Aquarius (2016).12
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Genannt werden muss in diesem Zusammenhang auch der deutsche TVDokumentarfilm Das Paradies hinter dem Zaun. Nordelta und seine Nachbarn (2005) von Rouven Rech über die Entstehung des Siedlungsprojekts »Nordelta« im Norden von Buenos Aires und das direkt angrenzende Armenviertel »Las Tunas«. Siehe zur Darstellung von Gated Communities in Literatur und Film Lateinamerikas bisher: Bezerra, Lígia: »Everyday Life in the McOndo World. Consumption and Politics in Claudia Piñeiro’s Las viudas de los jueves«, in: Revista de Literatura Latinoamericana 41.2 (2012), S. 19-32; Burke, Matthew: »Fortress Dystopia. Representations of Gated Communities in Contemporary Fiction«, in: Journal of American & Comparative Cultures 24.1-2 (2001), S. 115-122; Degoutin, Stéphane/Wagon, Gwenola: »Les gated communities au cinéma et dans la littérature«, in: Thierry Paquot (Hg.), Ghettos de riches. Tour du monde des enclaves résidentielles sécurisées, Paris: Perrin 2009, S. 252-261; Evans, Sandra: »Nachbarschaft und ›Gated Communities‹ im Bild der Angst«, in: Sandra Evans/Schamma Schahadat (Hg.), Nachbarschaft, Räume, Emotionen. Interdisziplinäre Beiträge zu einer sozialen Lebensform, Bielefeld: transcript 2014, S. 205-230; Griesse, James M.: »Economic Crisis and Identity in Neoliberal Argentina. Claudia Piñeiro’s Las viudas de los jueves«, in: The Latin Americanist 57.4 (2013), S. 57-72; Hausmann, Matthias, »Los countries argentinos en el cine y el Suburban Gothic. El caso de Betibú«, in: Mónica Satarain/Christian Wehr (Hg.), Escenarios postnacionales en el Nuevo Cine Latinoamericano. Argentina – México – Chile – Perú – Cuba, München: AVM.Edition 2020, S. 121-134; Hortiguera, Hugo: »Después de la globalización, la destrucción de lo social en dos filmes argentinos. Las viudas de los jueves y Carancho«, in: Letras Hispanas. Revista de Literatura y Cultura 8.1 (2012), S. 111-127; Lehnen, Jeremy: »Disjunctive Urbanisms. Walls, Violence and Marginality in Rodrigo Plá’s La zona (2007)«, in: Mexican Studies/Estudios Mexicanos 28.1 (2012), S. 163-182; Loy, Benjamin: »Fragile Parallelitä-
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Ungeachtet aller Unterschiede zwischen den einzelnen literarischen und filmischen Texten und ihren jeweiligen nationalen und kulturellen Kontexten, weisen sie doch auch eine Reihe von Gemeinsamkeiten auf. Abgesehen davon, dass die meisten von ihnen im Hinblick auf die Darstellung der Gated Communities einen geradezu dokumentarischen Anspruch haben, eint sie vor allem die kritische Sicht auf diese Form des Zusammenlebens. Dass die in den Gated Communities situierten Erzählungen so häufig von Gewalt, Verbrechen und Tod affiziert sind – das doppelte Massaker am Ende von Lukas Valenta Rinners Film Los decentes ist in dieser Hinsicht paradigmatisch -, stellt ein deutliches Indiz für diese kritische Sicht dar. Stéphane Degoutin und Gwenola Wagon merken dieser Tendenz zum Tragischen gegenüber unter Hinweis auf die realen Verhältnisse jedoch leicht ironisch an: »[T]rès loin de l’utopie comme de la dystopie, la vie dans un quartier résidentiel fermé présente en général un aspect franchement banal.«13 Im Kern richtet sich die in den medialen Erzählungen angelegte Kritik gegen die Exklusivität des Glücksanspruchs, der sich schon in der Gründung der Gated Communities manifestiert. Dieser wird als illegitim betrachtet und – im Vertrauen auf den Beifall des Publikums – mehr oder weniger direkt als demokratie- und gesellschaftsfeindliches Klassenprivileg denunziert, weil er sich von der Rücksicht auf das Gemeinwohl abgekoppelt hat und vom ethischen Leitprinzip einer greatest happiness of the greatest number nichts wissen will. In der Tat ist das Glücksversprechen, das sich mit dem Leben in den Parallelgesellschaften der Gated Communities verbindet, ein so zentraler Faktor, dass es auch in der sozialwissenschaftlichen Forschungsliteratur immer wieder in den Vordergrund gerückt wird. Das lassen schon die Benennungen der
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ten. Neoliberalismus, Poststaatlichkeit und Gewalt im mexikanischen Gegenwartskino«, in: Teresa Hiergeist (Hg.), Parallel- und Alternativgesellschaften in den Gegenwartsliteraturen, Würzburg: Königshausen & Neumann 2017, S. 109-142; Murphy, Bernice M.: »›How Will I Explain Why We Live behind a Wall?‹ La zona (2007) as Suburban Gothic Narrative«, in: Ilha do Desterro. A Journal of Language and Literature 62 (2012), S. 241-270; Paquot, Thierry (ed.): Ghettos de riches. Tour du monde des enclaves résidentielles sécurisées, Paris: Perrin 2009; Raso, Laura Elina: »El edén cerrado. Segregación espacial y construcción de identidades en las urbanizaciones privadas«, in: Tópicos del Seminario. Revista de Semiótica 24 (2010), S. 25-39; Scorer, James: City in Common. Culture and Community in Buenos Aires, Albany: Suny Press 2016, S. 105113; Torres, Victoria: »Historias intramuros. Los barrios cerrados y su representación en la narrativa argentina«, in: Amerika 9 (2013) https://journals.openedition.org/amerika/ 4333 (letzter Aufruf 30.09.2020). Zu meinen eigenen Publikationen siehe Fußnote 15. Degoutin/Wagon: »Les gated communities«, S. 260.
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entsprechenden Publikationen erkennen. So titelt die US-amerikanische Anthropologin Setha M. Low 2003 unter Anspielung auf die berühmte Formulierung in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung: Behind the Gates: Life, Security and the Pursuit of Happiness in Fortress America, der deutsche Geograph Andreas Schöps fragt 2011: Inseln der Gleichheit und Glückseligkeit?, und die argentinische Soziologin Maristella Svampa greift in ihrem viel zitierten Standardwerk von 2001 Los que ganaron. La vida en los countries y barrios privados immer wieder die Metapher des Paradieses (paraíso) auf.14 Gegenüber den wissenschaftlichen Annäherungsweisen der Soziologie und Stadtgeographie an das Phänomen der Gated Communities spielen die Darstellungen in Literatur und Film das Privileg einer moralischen Kritik aus, die ihren didaktischen Gehalt unter den erzählerischen Bedingungen der Fiktion entfalten kann. Bevor ich im Einzelnen darlege, mit welchen künstlerischen Mitteln die Gated Communities als künstliche Paradiese – insbesondere, aber nicht nur in Lukas Valenta Rinners Spielfilm Los decentes – delegitimiert werden, will ich aber zunächst einige Bemerkungen zur grundsätzlichen Eignung der Gated Communities als Sujet narrativfiktionaler Inszenierungen vorausschicken.
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Affinitäten zwischen dem Sujet und seiner medialen Inszenierung
Dass Literatur und Film die Deutungsmacht über das Phänomen ›Gated Communities‹ nicht allein den Sozialwissenschaften überlassen, hängt, so kann 14
Vgl. Low, Setha: Behind the Gates. Life, Security, and the Pursuit of Happiness in Fortress America, New York/London: Routledge 2003; Schöps, Andreas: Inseln der Gleichheit und Glückseligkeit? Die strukturelle, institutionelle und soziale Integration der Gated Communities im Lower Rio Grande Valley, Texas (USA) in ihr Umland – ein sozialgeographischer Beitrag, Passau: Fach Geographie der Universität Passau 2011; Svampa, Maristella: Los que ganaron. La vida en los countries y barrios privados, Buenos Aires: Biblos 2001. Siehe zur Situation in Argentinien außerdem: Castelo, Carla: Vidas perfectas. Los countries por dentro, Buenos Aires: Sudamericana 2007; Janoschka, Michael: Wohlstand hinter Mauern. Private Urbanisierungen in Buenos Aires, Wien: Verlag der österreichischen Akademie der Wissenschaften 2002; Vidal-Koppmann, Sonia: Countries y barrios cerrados. Mutaciones socio-territoriales de la región metropolitana de Buenos Aires, Buenos Aires: Editorial Dunken/Instituto Multidisciplinario de Historia y Ciencias Humanas 2014 und Rojas, Patricia: Mundo privado. Historias de vida en ›countries‹, barrios y ciudades cerradas, Buenos Aires: Planeta 2007.
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man also annehmen, auch mit ihrem Anspruch und ihrer Fähigkeit zusammen, einen eigenen Zugang zum Gegenstand zu finden. Um sich einen Reim darauf zu machen, worin die Attraktivität der Gated Communities als Sujet für sie besteht, liegt es nahe, zwischen extrinsischen, das heißt in der äußeren Umwelt vorhandenen, und intrinsischen, in Literatur und Film selbst angelegten Motiven zu unterscheiden.15 Unter den extrinsischen Motiven ist natürlich in erster Linie an die in den letzten zwei Jahrzehnten stark gestiegene Verbreitung der Gated Communities in den lateinamerikanischen Ländern zu denken. Die Literatur und der Film lassen sich offensichtlich die Gelegenheit, diesen Aspekt der sozialen Wirklichkeit Lateinamerikas für die Leser und Filmzuschauer aufzudecken und an der topicality des gewählten Sujets zu partizipieren, um auch selbst interessant zu erscheinen, nicht entgehen. Sie empfehlen sich damit dem Publikum als kritische Beobachter der zeitgenössischen gesellschaftlichen Realität und bringen dabei gleichzeitig die Stärken, durch die sich die fiktionale Veranschaulichung auszeichnet, wirkungsvoll zur Geltung. Denn die Fiktion ist in besonderer Weise gefragt, wenn es darum geht, das darzustellen, was sich dem Wissen und den Blicken der meisten Menschen entzieht, wie etwa das Leben der Privilegierten, die jenseits der Mauern, des Stacheldrahts, der Kontrollposten und der Schlagbäume leben. Innerfiktional werden der damit verbundene Schlüssellocheffekt und der Appell an den Voyeurismus und die Sensationslust der Rezipienten dadurch verstärkt, dass keiner der Romane und Spielfilme darauf verzichtet, den Moment des Übergangs von der Außenwelt in die geschützte Welt der Gated Communities und umgekehrt detailliert in Szene zu setzen. Auch in Los decentes werden das Warten am Eingang, die Identitätskontrolle und die Befragung durch das Si-
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Im Folgenden orientiere ich mich zum Teil an meinen eigenen Veröffentlichungen: Tschilschke, Christian von: »La ›zone‹. Les quartiers résidentiels fermés comme nouveau sujet dans la littérature et le cinéma hispano-américains«, in: Véronique Bontemps/Franck Mermier/Stephanie Schwerter (Hg.), Les villes divisées. Récits littéraires et cinématographiques, Villeneuve d’Ascq: Presses Universitaires du Septentrion 2018, S. 139-154; »Betreten verboten! Gated Communities in der Literatur und im Film Lateinamerikas«, in: Walburga Hülk/Stephanie Schwerter (Hg.), Mauern, Grenzen, Zonen. Geteilte Städte in Literatur und Film, Heidelberg: Winter 2018, S. 109-124; El ›barrio cerrado‹ en la literatura y el cine hispanohablantes. Un reto a la idea de diversidad«, in: Susanne Hartwig (Hg.), Diversidad cultural – ficcional – ¿moral?, Madrid/Frankfurt a.M.: Iberoamericana/Vervuert 2018, S. 281-303.
The (un)happy few
cherheitspersonal, das Durchsuchen der Taschen, das Öffnen und Schließen der Zugangstore usw. immer wieder gezeigt.16 Allerdings wird das Joint Venture zwischen Realität und Fiktion auch dadurch begünstigt, dass Literatur und Film bereits über etablierte Modelle in Form bestimmter traditioneller Genres verfügen, die für das Sujet der Gated Community besonders empfänglich sind. Vom dramaturgischen Gesichtspunkt aus ist zunächst festzustellen, dass die Beschränkung des Raums und der Figurenzahl, wie sie mit der Wahl einer Gated Community als Setting zwangsläufig einhergeht, die Entstehung und Entwicklung von Konflikten generell begünstigt, seien diese krimineller, familiärer, sexueller, generationeller, religiöser, ethnischer oder anderer Natur. Hinzu kommt, dass sich Gated Communities gut als Gegenstand literarischer und filmischer Erzählungen eignen, weil sie besonders leicht auf Erzählschemata ansprechen, die ihre Wirkung aus der Konstruktion von Oppositionen beziehen. Die polemische Gegenüberstellung der Hippie-Kultur und des Lebensstils des zu Reichtum gelangten Establishments, wie sie in Los decentes erfolgt, ist dafür das beste Beispiel. In Valenta Rinners Film wird unmittelbar einsichtig, wie die elementaren Gegensätze von innen/außen, offen/geschlossen, Exklusion/Inklusion, reich/arm, Gewinner/Verlierer, Schein/Sein, Gruppe/Individuum, Utopie/Dystopie, Paradies/Hölle zum Motor des Erzählens selbst werden. Im Hinblick auf die Affinität des Sujets der Gated Community zu einzelnen literarischen und filmischen Genres ist schließlich hervorzuheben, dass jeder der zuvor aufgelisteten Romane und Filme an diesem Reservoire an Codes und Regeln auf seine Weise partizipiert: dem Thriller und Kriminalroman, der Dystopie und der Science-Fiction, dem Horrorkino und der Groteske, dem Sozialexperiment und der Teenager-Komödie.
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Die Delegitimation der künstlichen Paradiese
Trotz der unterschiedlichen Erscheinungsformen, unter denen sich die Geschichten vom Leben in den Gated Communities präsentieren, ist das zentrale Motiv, das ihnen zugrunde liegt, immer dasselbe. Es ist die Kritik an
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Vgl. Los decentes, 00:04:56-00:06:00; 00:12:29-00:13:13; 00:14:09-00:14:44; 00:20:4300:21:08; 00:25:05-00:25:33.
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der Bildung exklusiver Gemeinschaften, deren Streben nach einem sorglosen Leben als Verrat an der Idee des Gemeinwohls aufgefasst wird. Dabei widerspricht der Wunsch nach sozialer Abschottung, der in den Gated Communities zum Ausdruck kommt, eklatant dem alten, aber bis heute weithin als gültig erachteten städtebauerischen Ideal des »empfehlenswerten Durcheinanderwohnens«17 aller sozialen Klassen, das der preußische Stadtplaner James Hobrecht (1825-1902) bereits 1868 aufstellte und das noch in Richard Sennetts jüngstem Lobpreis auf die ›offene Stadt‹, Building and Dwelling. Ethics for the City (2018), nachklingt, zu der man sich die Gated Community als direkten Gegenentwurf vorstellen muss. Im Zuge der künstlerischen Kritik an diesem Zustand kommen nun vor allem zwei Delegitimationsstrategien zum Einsatz, die beide auf einer ethischmoralischen Ebene operieren. Sie lassen sich jeweils auf eine plakative Formel verkürzen: ›Geld macht nicht glücklich‹ und ›Das Verdrängte kehrt wieder‹.
3.1
›Geld macht nicht glücklich‹
In ihrer großen Mehrzahl nähern sich die literarischen und filmischen Darstellungen der Gated Communities ihrem Gegenstand mit einem geradezu ethnologischen Interesse. Exemplarisch für diese Art der Annäherung auf literarischem Gebiet sind die detaillierten Beschreibungen der weitläufigen, von keinen Zäunen durchtrennten und gut gepflegten Parkanlagen, der luxuriösen Wohnhäuser und deren teurer und geschmackvoller Inneneinrichtungen, die Claudia Piñeiro in ihrem Thriller Las viudas de los jueves von dem fiktiven country »Altos de la Cascada« gibt. Anders als sonst an vielen Orten Südamerikas sind dort zum Beispiel alle Kabel unter der Erde verlegt, um die »contaminación visual«18 der Landschaft zu vermeiden. Die Villa, in der das Ehepaar Tano und Teresa Scaglia mit seinen beiden Kindern Matías und Sofía wohnt, verfügt über zwei Stockwerke, sechs Schlafzimmer und acht Bäder. Im Obergeschoss ist ein home theatre eingebaut, und einen großen Pool gibt es natürlich auch. Trotz der markanten visuellen Stilisierung, die das country in Lukas Valenta Rinners Los decentes erfährt, vermittelt auch er die aus der langen Reihe filmischer Vorgänger bekannten topischen Bilder, die denen der Literatur
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Hobrecht, James: Über öffentliche Gesundheitspflege und die Bildung eines CentralAmts für öffentliche Gesundheitspflege im Staate, Stettin: Von der Nahmer 1868, S. 16. Piñeiro, Claudia: Las viudas de los jueves, Madrid: Alfaguara 2010, S. 24.
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weitgehend entsprechen. In einer Kombination aus langen Fahrten und statischen Einstellungen – häufig sind es Panoramaaufnahmen und Totalen, die in ihrer Komposition an Tableaux vivants oder surrealistische Gemälde erinnern – werden Hausansichten von innen und außen gezeigt, die einem Immobilienkatalog entstammen könnten.19 Schattige Straßen und Rasenflächen, Teichanlagen und Brunnen, Brücken und Skulpturen, Tenniscourt und Golfplatz, ein »Mini Market« – so sieht die auswechselbare Umgebungskulisse der Gated Community aus. Als Belén ihren Dienst in dem weitläufigen Haus antritt, das Diana (Andrea Strenitz), die schon ältere señora, mit ihrem erwachsenen Sohn Juan Cruz (Martín Shanly) alleine zu bewohnen scheint, wird sie als erstes darauf hingewiesen, dass der Fußboden im Esszimmer aus geschliffenem Zement bestehe und daher eine besondere Pflege erfordere. Außerdem dürfen die verschiedenen Geschirrsets, die in den Küchenschränken stehen, auf keinen Fall miteinander vermischt werden.20 Die Glücksvorstellungen, die sich in der Bildung von Gated Communities niederschlagen, beruhen auf Sicherheit, Ordnung und Ansehen, dem Leben in einer möglichst naturnahen, sozial homogenen Umgebung, vor allem aber auf einem materiellen Wohlstand, der all dies erst ermöglicht. Wie sehr sich die Figuren, die in den Gated Communities leben, über ihren Dingbesitz und ihren zur Schau gestellten Konsum definieren, ihre, marxistisch gesprochen, ›Entäußerung an die Welt der Objekte‹, wird immer wieder auf komische oder tragische Weise verdeutlicht. So geraten sich in Kleber Mendonça Filhos Film O som ao redor die Schwestern Bia und Bethania darüber in die Haare, wer von ihnen den neuen 40-Zoll-Flachbildschirm bekommen soll und wer sich mit dem 32-Zoll-Gerät begnügen muss.21 In Las viudas de los jueves wiederum fürchten Tano Scaglia, Gustavo Masotta und Martín Urovich, die infolge der argentinischen Wirtschaftskrise ihre hochbezahlten Arbeitsplätze verloren haben, den sozialen Abstieg und den Verlust ihres Lebensstandards so sehr, dass sie kollektiv Selbstmord begehen und ihren Tod als Unfall kaschieren, um die dann fälligen Lebensversicherungen ihren Familien zugutekommen zu lassen. Und als Belén in Los decentes nach ihrer Aufnahme in den benachbarten Nudistenclub gegen das Milieu aufzubegehren beginnt,
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Ein komplexes Sounddesign, das einzelne, ungewöhnliche Geräusche wie zum Beispiel das Quietschen eines Fensterabziehers (Los decentes, 00:10:37-00:11.18) in den Vordergrund rückt, verstärkt noch den Eindruck der ›Unheimlichkeit‹. Vgl. Los decentes, 00:09:43-00:10:36 und 00:11:19-00:11:51. Vgl. O som ao redor (BRA 2012, R: Kleber Mendonça Filho), 00:21:50-00:24:03.
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in dem sie beschäftigt ist, äußert sich das als erstes darin, dass sie mutwillig eine Tasse zu Boden fallen lässt und einige Ziergegenstände in dem an das Villengrundstück angrenzenden See versenkt.22
Abb. 1: Der goldene Käfig.
Los decentes, 00:30:17
Hinter den Fassaden aus Glas, Beton und Stahl – das ist ausnahmslos der Tenor – lauern jedoch Einsamkeit, Schlaflosigkeit, Neid, Zukunftsangst, selbstzerstörerischer Ehrgeiz, Sprachlosigkeit, emotionale Kälte, innere Leere, Langeweile, unterdrückter Hass und Heuchelei. In der Verfilmung von Las viudas de los jueves wird die Unerträglichkeit dieses Zustands zum Beispiel dadurch visualisiert, dass Teresa Scaglia ein aus den USA bekanntes Antidepressivum, die happy pill Prozac, nimmt.23 Vergleichsweise harmlos wirkt dagegen der latente Ennui der Hausfrau und Mutter Bia in O som ao redor, die routiniert die Vibrationen ihrer Waschmaschine nutzt, um sich selbst zu befriedigen.24 Das faktische Unglück, das die Figuren in mehr oder weniger starker Dosierung im ›goldenen Käfig‹ ihrer ›Reichenghettos‹ erleben müssen, spiegelt sich auch in der auf drei Personen reduzierten Figurenkonstellation, die im Mittelpunkt von Los decentes steht: Diana läuft nachts ruhelos im Haus umher und weckt Belén, damit sie ihr Gesellschaft leistet. In ihrer Einsamkeit
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Vgl. Los decentes, 00:48:16 und 01:12:27-01:13:44. Vgl. Las viudas de los jueves (ARG/ESP 2009, R: Marcelo Piñeyro), 00:54:21, die Packung erscheint in Großaufnahme. Vgl. O som ao redor, 00:43:25.
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tröstet sie sich mit Erinnerungen und vertreibt sich die Zeit mit langen Telefonaten. Ihre Situation kommt emblematisch in einer Szene zum Ausdruck, in der die Kamera nachts von außen in einer Totalen auf das Haus blickt: Im Wohnzimmer brennt Licht. Diana steht im Nachthemd da, mit beiden Händen auf die Fensterscheibe gestützt und sieht in die Dunkelheit hinaus, aus der gedämpfter Lärm von Rhythmusinstrumenten aus dem angrenzenden Nudistengelände zu ihr dringt (Abb. 1). Ihr Sohn Juan Cruz trainiert verbissen für ein Tennisturnier, ist dem Leistungsdruck, den er sich selbst macht und den die anderen auf ihn ausüben, jedoch nicht gewachsen. Seine innere Anspannung entlädt sich in Selbsthass, Aggressionen gegen seine Mutter und indem er nachts ins Bett macht. Auch die sexuellen Annäherungsversuche zwischen Belén und dem Wachmann Garita (Mariano Sayavedra) bleiben eigentümlich gehemmt und erschöpfen sich in kurzen Berührungen. Das Inselglück der Gated Communities – es existiert nicht.
3.2
›Das Verdrängte kehrt wieder‹
Wie die Erzählungen aus den Enklaven der happy few zeigen, geht das Streben nach Wohlstand und Sicherheit mit einem dreifachen Exklusionsprozess einher. Vom Leben in den Gated Communities ausgeschlossen sind zunächst die unteren Bevölkerungsschichten, die nur als Dienstleister und Zulieferer oder in den Rollen des Gärtners, des Wachmanns (wie Garita), der Putzfrau oder des Haus- und Kindermädchens zugelassen sind. Belén bildet da eine Ausnahme, weil sie bei ›ihrer‹ Familie wohnen soll – eine Entscheidung, die sich im Verlauf der Handlung ja auch rächen wird. Vom Ausschluss aus der Gemeinschaft betroffen sind außerdem diejenigen, die sich den aufwendigen Lebensstil der ›Clubmitglieder‹ nicht oder nicht mehr leisten können, so wie Martín Urovich in Las viudas de los jueves, der seinen Arbeitsplatz verloren hat und in den Augen seiner Frau Liliana, deren geplante Brustvergrößerung aus Geldmangel aufgeschoben werden muss, als geborener Versager erscheint. Schließlich droht all jenen der Ausschluss – auch das zeigt sich in Las viudas de los jueves –, die das ethnische oder religiöse Andere verkörpern, wie Juden und Asiaten oder auch die indigene Bevölkerung. In topographischer Hinsicht entspricht der Tendenz zur Exklusion und Isolation die deutlich markierte Grenze zwischen Drinnen und Draußen, die sich in einer omnipräsenten ›Architektur der Angst‹ niederschlägt: Mauern, Elektrozäune, Stacheldraht, Zugangssperren, Eingangspforten, Sicherheits-
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patrouillen und Überwachungskameras sorgen rund um die Uhr dafür, dass diese Grenze respektiert wird. In Los decentes wird auf den hohen stacheldrahtbewehrten Zaun, der das Gelände wie ein Gefängnis erscheinen lässt, gleich mehrfach durch lange Parallelfahrten von innen und außen aufmerksam gemacht. In Los decentes kommt allerdings hinzu, und das macht diesen Film zu einer Besonderheit unter allen bisherigen medialen Inszenierungen von Gated Communities, dass der Zaun auch der Abschottung gegen eine andere, unmittelbar angrenzende Parallelgesellschaft dient, der Nudistenkolonie, die in vielfacher Hinsicht einen direkten Gegenentwurf zur Gated Community darstellt. Dieser Eindruck wird innerfiktional dadurch unterstrichen, dass die Siedlungsbewohner eine Unterschriftenaktion gegen das durchführen, was sich aus ihrer Sicht »detrás de la muralla«25 befindet. In der filmischen Inszenierung nimmt die Gegenüberstellung der beiden Welten regelrecht allegorische Züge an, die – unter anderem – auf einen Kontrast zwischen dem Apollinischen und dem Dionysischen hinauslaufen: Der domestizierten Natur in der Gated Community mit ihren akkurat getrimmten Rasenflächen und ihrer sterilen Bebauung stehen die tropisch wuchernde Vegetation und das verwilderte Gelände jenseits des Zauns gegenüber, das mit seinen stillen Gewässern und römischen Bädern eine faunische Idylle bildet.26 Die Körper- und Lustfeindlichkeit der einen Seite kontrastiert mit der ungezwungenen Nacktheit der Körper auf der anderen Seite, die sich in ihrer natürlichen Vielfalt keiner ästhetischen Norm fügen, sich zärtlich berühren und nach Belieben sexuell vereinigen (Abb. 2). Diese Neigung zum Entzivilisierten, Animalischen wird noch dadurch betont, dass sich die Nudisten spielerisch wie Tiere bemalen und in Tierposen zeigen. Während die einen arbeiten (wie Belén und Garita) und Leistungssport betreiben (wie Juan Cruz), geben sich die anderen dem reinen Nichtstun hin, dösen in der Sonne oder im Schatten, lassen sich träge im Wasser treiben – oder feiern nächtliche Feste. Dass die implizite Verurteilung der Gated Community als Lebensform in Los decentes dadurch erfolgt, dass sie in ihrer eigenen Außenwelt und ver-
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O som ao redor, 01:20:25. Siehe zur Darstellung der Natur in Los decentes Gómez, Leticia: »Shrieks from the Margins of the Human: Framing the Environmental Crisis in Two Contemporary Latin American Movies«, in: Ecozon@. European Journal of Literature, Culture & Environment 10.1 (2019), S. 177-195.
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Abb. 2: Das faunische Idyll.
Los decentes, 00:53:23
mittelt über die Grenzgängerfigur Belén mit all dem konfrontiert wird, was die Siedlungsbewohner aus ihrer elitären Gemeinschaft verbannt, verdrängt und ausgeschlossen haben, stellt, wie gesagt, eine Ausnahme dar. In den übrigen Darstellungen ist es meist so, dass das Ausgeschlossene mächtiger denn je im Inneren der Gated Communities wiederkehrt und eine zerstörerische Kraft entfaltet, die das vermeintliche Paradies zur Hölle werden lässt. Am dramatischsten stellt sich dieser Prozess in den Fällen dar, in denen der Traum von der absoluten Sicherheit Monstren der Angst hervorbringt, der Angst vor der sozialen Deklassierung zum Beispiel, von der sich in Las viudas de los jueves die ehemaligen Gewinner der neoliberalen Wirtschaftspolitik in Argentinien ergreifen lassen, oder der Angst, von den Massen der Benachteiligten überrannt zu werden, die in den Armensiedlungen (vilas miserias, favelas) leben, die sich oft in unmittelbarer Nachbarschaft der Gated Communities befinden. Die Unruhe, Besorgnis und Angst, die sich in den Gated Communities aufstaut, kulminiert regelmäßig in Akten der Gewalt, der Zerstörung und Selbstzerstörung, wie etwa bei dem kollektiven Selbstmord der Ehemänner und Familienväter in Las viudas de los jueves. Das zum Teil aus der Ego-ShooterPerspektive gedrehte Massaker, das die bewaffneten Nudisten an den Mitgliedern der Gated Community in Los decentes verüben (bevor sie selbst getötet werden), kommt zwar, wenn man auf der faktischen Handlungsebene bleibt, tatsächlich von außen. Auf der allegorischen Ebene muss dieser Angriff jedoch ebenfalls als ein Akt der Autodestruktion des Prinzips ›Gated Commu-
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nity‹ erscheinen. Denn Lukas Valenta Rinner lässt keinen Zweifel daran, dass sich die Gemeinschaft der esoterischen und die der materialistischen Glückssucher bei aller Gegensätzlichkeit doch in der Bereitschaft gleichen, ihren Lebensstil mit radikalen Mitteln gegen Andere zu verteidigen.
4
Funktionale Ambivalenzen
Das absurd-groteske Ende von Los decentes kommt trotz einiger Vorzeichen überraschend. Mit seinen allegorischen Zügen entfernt sich Lukas Valenta Rinners Film zwar ein Stück weit von der bislang bei der medialen Inszenierung von Gated Communities vorherrschenden, aber deswegen freilich auch erwartbaren sozialkritischen Tendenz, fügt der Thematik damit aber auch eine weitere Erkenntnisdimension hinzu. Abgesehen davon kann man das Ende von Los decentes mit gutem Recht auch gesellschaftskritisch deuten, sei es, dass man darin die ironische Illustration einer antikapitalistischen Rachephantasie an ›den Reichen‹ sieht, oder es als Parodie von deren Alpträumen versteht. Das führt noch einmal in aller Deutlichkeit vor Augen, dass die medialen Inszenierungen von Gated Communities in Lateinamerika durchaus von funktionalen Ambivalenzen gekennzeichnet sind. Wenigstens zwei davon sollen abschließend zur Sprache gebracht werden: Erstens kommt in der Wahl der Gated Communities als Sujet ein Erzählbegehren zum Ausdruck, das immer der Gefahr ausgesetzt ist, zur ästhetischen Komplizenschaft mit dem Gegenstand verführt zu werden und dessen Faszination zu erliegen. Damit geht aber die Distanz verloren, die nötig ist, um die Motive der Wohlstandssezessionisten kritisch zu beleuchten. Und zweitens gerät die poetische Gerechtigkeit, die im Laufe der literarischen und filmischen Handlungen wirksam wird – ›Geld macht nicht glücklich‹ und ›Das Verdrängte kehrt wieder‹ – zwangsläufig in einen Konflikt mit der kompensatorischen Entlastung, die sie gleichzeitig ermöglicht, indem sie die beruhigende Gewissheit vermittelt, dass ›die Privilegierten‹ im Grunde nicht um ihr Leben zu beneiden sind. Ganz eindeutig ist dagegen, dass durchgehend Kritik an einer Gesinnung geübt wird, die Helmuth Plessner den »Radikalismus der Gemeinschaft«27 genannt hat. Diese richtet sich zwar primär gegen die Gated Communities, 27
Plessner, Helmuth: Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp [1924] 2018, S. 41.
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muss dabei aber nicht stehenbleiben, wie gerade Lukas Valenta Rinners Film Los decentes eindrücklich vor Augen führt.
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Im Hinterland des Paradieses Erzählungen von der Suche nach Glück auf dem Hippie-Trail Simon Sahner And I laid traps for troubadours Who get killed before they reached Bombay1
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Die Reisen der Hippies – Eine populäre Erzählung
Das Reisen als möglicher Weg zum Glück und als Suche nach Sinn im Leben hat in der literarischen Beschreibung von Glückssuchenden Tradition. Die Reise als Versuch der Selbstfindung, die schließlich das Erreichen eines Glückszustandes oder einer Befreiung im übertragenen Sinne zum Ziel hat, ist seit Jahrhunderten Thema zahlreicher literarischer Erzählungen. Goethe ließ Ende des 18. Jahrhunderts den Weimarer Hof und seine dortigen Verpflichtungen hinter sich und beschrieb seine Suche nach Freiheit in der Italienischen Reise, Joseph von Eichendorffs Taugenichts beschließt zu Anfang der Novelle: »[…] so will ich in die Welt gehn und mein Glück machen«2 und Hermann Hesse machte sich Anfang des 20. Jahrhunderts auf nach Indien – eine Reise, die auch er in Aufzeichnungen und Gedichten festhielt. Ist gerade aus deutscher Perspektive die Glückssuche auf Reisen in der Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts vor allem mit dem Weg nach und durch Italien verbunden, so findet sich bei Hesses Indienreise im Jahr 1911 schon prototypisch angedeutet, was sich in der Populärkultur der zweiten Hälfte
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The Rolling Stones: »Sympathy for the devil« Eichendorff, Joseph von: Aus dem Leben eines Taugenichts, in: Wolfgang Frühwald/Brigitte Schillbach (Hg.): Joseph von Eichendorff. Ahnung und Gegenwart. Sämtliche Erzählungen, Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 2007, S. 446.
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des 20. Jahrhunderts als die paradigmatische Form des sinnsuchenden Reisens etablieren würde: das stereotype Bild der hippiesken Aussteiger*innen auf dem Weg zu Orten außerhalb Europas und der USA, vor allem in den Nahen Osten und den asiatischen Raum. Unzählige junge Menschen vor allem aus dem kulturellen Westen machten sich ab Mitte der sechziger Jahre auf den Weg etwa ins nepalesische Kathmandu, ins indische Goa und in das marokkanischen Tanger oder Marrakesch, Orte, die bald als Hochburgen des Aussteigertums und der Hippie-Sinnsuche berühmt wurden. Die populärste Strecke, die ab ca. 1965 bereist wurde, war der sogenannte Hippie-Trail, der Landweg von Europa über die Türkei, den Iran und Afghanistan bis nach Indien oder Nepal.3 Unter diesen Reisenden befanden sich zu dieser Zeit auch die deutschen Schriftsteller Tiny Stricker, Jörg Fauser und Matthyas Jenny. Während für Stricker und Jenny Istanbul am Ausgangspunkt des Trails nur eine Zwischenstation war, kam Fauser nicht weiter als in die türkische Metropole. Literarisch verarbeitet haben sie ihre Erfahrungen aber alle drei. Den literarischen Ursprung hat der Reisemythos im 20. Jahrhundert im inoffiziellen Manifest der sogenannten Beat-Generation, Jack Kerouacs On the Road (1957), das bis heute als der paradigmatische Roadtrip-Roman gilt, auch wenn die Routen von Sal Paradise’ Reisen nur durch Nord- und Mittelamerika führen. Die Popularität des Selbstfindungseskapismus westlicher Hippies führt bis heute zu einem starken popkulturellen Widerhall der Reisen in die genannten Hippie-Hochburgen. Die Fahrt im idealtypischen bunten VW Bus nach Indien ist Teil fast jeder Dokumentation über die Hippiekultur, Spielfilme wie das Biopic zum Leben von Uschi Obermaier Das wilde Leben (2007) glorifizieren den Trip als enthemmte Selbstfindung und zuletzt fiktionalisierte der brasilianische Schriftsteller Paulo Coelho in Hippie (2018) seine eigene Reise im Magic Bus als beinahe ungebrochene Glückserfahrung. Das Ideal der befreienden Reise eines jungen Menschen in aus eurozentrischer Sicht exotisch-archaische Gebiete, die vermeintlich einen ungezwungenen Umgang mit Sexualität, Spiritualität und Drogen ermöglichen, taucht wiederholt auf und hat sich inzwischen in Form des Backpackers in einen eigenen Tourismuszweig verwandelt.
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Nazmi Kozak kommt zu dem Schluss, dass zwischen 1965 und 1978 bis zu einer Milliarde Hippies nach Istanbul kamen und die meisten nach wenigen Tagen Richtung Osten weiterzogen. Siehe: Kozak, Nazim: »Cultural visitors and local residents’ interactions. Hippies movement at Sultanahmet in the 1960s«, in: Anatolia 29 (2018), S. 225-236, hier: S. 234.
Im Hinterland des Paradieses
Dass dieses Ideal des unbeschwert reisenden Hippies, der auf der Straße sein Glück findet, der Realität vieler Erfahrungen nicht standhält, liegt auf der Hand. Bereits die eingangs zitierten Verse aus dem Songtext der Rolling Stones sind ein Hinweis darauf, dass viele Sinnsuchende auf dem Weg nach Osten auch Entbehrung, Krankheit und Drogenabhängigkeit erlebten und das Narrativ der ungebrochenen Glückserfahrung auf dem Trail daher auch ein populärer Mythos ist. Bei den Romanen Trip Generation (1970) von Tiny Stricker und Tophane (1972) von Jörg Fauser, Teilen von Fausers Rohstoff (1984) und dem Gedicht Vor den großen Reisen (1978) von Matthyas Jenny handelt es sich um literarische Darstellungen dieser Reisen, die zusammengenommen das gesamte Spektrum der Reise-Erfahrungen abdecken. Durch eine Gegenüberstellung des Romans von Stricker, der ein beinahe vollendet sinnhaftes Abenteuer beschreibt, und den Texten von Fauser und Jenny, die die Abgründe der Hippie-Reise illustrieren, kann gezeigt werden, wie diese als Gegenerzählungen fungieren. Abschließend komme ich darauf zu sprechen, wie im konkreten Beispiel der hippiesken Reise eine konventionalisierte Form des Aussteigens zum Ausdruck kommt, die schließlich bei Fauser konterkariert wird.
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Tiny Stricker Trip Generation – Imitation vorgelebter Reisen
Der autobiographische Bericht von einer Reise auf dem Hippie-Trail über Istanbul bis ins heutige Bangladesch, den Tiny Stricker 1970 beim Maro Verlag publizierte, ist mit seiner assoziativen Sprache und dem an der Fahrt orientierten Handlungsverlauf die Darstellung des idealtypischen Wegs eines jungen Reisenden dieser Jahre.4 Hervorzuheben ist in diesem Kontext die intermittierende Struktur des Textes, die den grundlegenden Ausdruck von Eskapismus auch in der Form transportiert. Beschrieben wird nicht die ganze faktische Reise des Autors, die in München begann,5 sondern die Erzählung
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Der kurze Roman erschien zunächst nur in einer kleinen Auflage von 100 Exemplaren. Zwei Jahre später erkannte der Rowohlt-Verlag das populäre Potenzial dieses Reisebuchs und veröffentlichte es erneut in einer Auflage von 20 000 Stück. Siehe dazu: Bremmer, Michael: »Hippie für drei Sommer«, in: Sueddeutsche Zeitung vom 03.09.2012, https://www.sueddeutsche.de/muenchen/autor-tiny-stricker-hippie-fuerdrei-sommer-1.1457963 (letzter Aufruf 08.10.2020). Vgl. M. Bremmer: »Hippie für drei Sommer«.
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setzt erst ein, als der Erzähler in Istanbul ankommt, und kehrt auch innerhalb der Erzählung nicht wieder zum Ausgangspunkt in Deutschland zurück. Anders als bei der Reise seines erklärten Vorbilds Jack Kerouac und vielen anderen literarisierten Roadtrips spielt das symbolisch aufgeladene Aufbrechen von zuhause, das tatsächliche Hintersichlassen von etwas, keine Rolle. Von Bedeutung ist für Stricker allein die Reise auf dem Hippie-Trail, ab dem Moment, als er »[a]us dem Zug«6 steigt. Schon bei der Ankunft des Erzählers in Istanbul auf den ersten Seiten werden die entscheidenden Orte aufgerufen, die sich in beinahe allen Berichten über den Hippie-Trail zu Beginn befinden. Die Anlaufstelle für die Menschen, die auf der Durchreise nach Istanbul kamen, war zunächst der sogenannte Pudding-Shop, ein Café, das eigentlich den Namen Lâle Pastanesi trug, das aber aufgrund der dort erhältlichen Süßspeisen von den Reisenden umbenannt und durch seine zentrale Lage zum Treffpunkt wurde.7 Das Sultanahmet-Viertel in Istanbul, in dem sich das Café und die gegenüberliegende Sultan-Ahmed-Moschee, in Westeuropa besser bekannt als die Blaue Moschee, befinden, war zu dem Zeitpunkt, als Tiny Stricker dort ankam, schon zum inoffiziellen Drehkreuz des Trails geworden, wie sich an einer Beschreibung eines Morgens im Jahr 1967 zeigt: The drivers of two busses in front of the Pudding Shop are waiting for the final passengers to place their ragged backpacks into the luggage compartment with no rush. One of the busses [sic!], the Magic Bus, is going to Amsterdam. It is taking back a group of people, who came back from Nepal a couple of days ago. The second bus is taking a group of hippies to Katmandu. The passengers are all keyed up to witness the mysticism of Asia in the light of day.8 In dieser Gegend um die Moschee und das Café, wo Busse abfahren und ankommen, landet auch der Stricker des Romans zu Beginn seiner Reise. Er besucht die Blaue Moschee und schlendert durch die umliegenden Gassen. Doch auch, wenn er feststellt, dass »[g]anz Istanbul […] eine ausgeräucherte giftige Opiumküche«9 sei und ihm ein »Türke« ein Buch stiehlt,10 ist die Be6 7 8 9 10
Stricker, Tiny: Trip Generation, Hamburg: Rowohlt 1972, S. 13. Vgl. MacLean, Rory: Magic Bus. On the Hippie Trail from Istanbul to India, London: Penguin Books 2007, S. 22. N. Kozak: »Cultural visitors and local residents’ interactions«, S. 225. T. Stricker: Trip Generation, S. 14. Vgl. T. Stricker: Trip Generation, S. 15.
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schreibung eine romantisierte Inszenierung einer exotischen Großstadt. Der Reisende geht »zum Hafen hinunter, […] verführt von der gebrochenen Melodie des Windes«11 und beobachtet einen jungen Fischer »im schaukelnden Boot«.12 Bereits im ersten Kapitel von Strickers Roman wird vorbereitet, was sich durch den gesamten Text zieht: Der Autor vollzieht eine Bewegung anhand einer festen Reiseroute gen Osten, die von Beginn an darauf angelegt ist, etablierten Strukturen zu folgen. Das Reisen auf dem Trail ist für Stricker in Trip Generation keine unvorhersehbare Erfahrung, sondern bereits vor Antritt von Narrativen und Assoziationen durchzogen, die auf dem Weg aufgerufen werden. Das Verfallen »in den Rhythmus der Landstraße«,13 das der Fahrende empfindet, als er Istanbul verlässt, ruft Motive aus Kerouacs On the Road auf, die auch durch die Bezeichnung der Straße als »ROAD«, der sich der Erzähler »ausliefert«, erweitert werden.14 Dadurch wird die Reise weniger zu einer individuellen Glückserfahrung und einer persönlichen Suche nach Sinn, sondern sie ist in erster Linie eine Imitation vorgelebter Reisen. Er reist wie »Alexander Magnus und Dschingis Khan«15 zwischen Europa und Indien und evoziert wiederholt stereotype Darstellungen von Spiritualität und von Selbstfindungsnarrativen:16 »Der Morgen wie ein Schöpfungsakt, aus Wüste und Nacht wird Licht, Vogelfederbäume, Pelikane, dunkle Menschen wimmeln auf den Bahnsteigen, Einzug in den indischen Kontinent, vom Atem der Wiedergeburten erfasst […].«17 In diesen Beschreibungen lehnt sich der Text an vorangegangene literarisierte Reisen in diese Gegenden an, die so eine exotisierende Darstellungsweise geprägt haben. Die Popularität des Konnexes von Spiritualität und in11 12 13 14 15 16
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T. Stricker: Trip Generation, S. 15. T. Stricker: Trip Generation, S. 16. T. Stricker: Trip Generation, S. 17. T. Stricker: Trip Generation, S. 19 T. Stricker: Trip Generation, S. 17. Ähnliches stellt auch Beatrice Schuchardt mit Blick auf die Reisen französischer Hippies fest. Sie konstatiert, dass »Reisewahrnehmungen nicht in einem voraussetzungslosen, also textfreien Raum stattfinden, sondern sich – bewusst oder unbewusst – auf vorausgehende Vorstellungen hinsichtlich der bereisten Räume beziehen, die unter anderem über das Medium der Literatur in das kollektive Imaginäre eingegangen sind.« Vgl. Schuchardt, Beatrice: »Reisen auf dem Hippie-Trail. Luc Vidals La route – mon journal de hippy«, in: Isabella von Treswko/Christian von Tschilschke (Hg.): 1968/2008. Revision einer kulturellen Transformation, Tübingen: Narr 2008, S. 173-195, hier S. 193. T. Stricker: Trip Generation, S. 54.
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discher Kultur im Umfeld der Hippies zeigt sich nicht zuletzt in der weiten Verbreitung von Hermann Hesses Indienerzählungen in Siddharta und seinen Aufzeichnungen aus Indien:18 »Es war wie ein schöner, unwahrscheinlicher Traum gewesen und verschwunden, dieses farbige Ceylon, unwirklich und märchenhaft in der grellen Farbenfülle seiner Erscheinungen.«19 Das Traumhafte, das in Strickers Beschreibungen von Indien zum Ausdruck kommt, findet sich bereits bei Hesses Aufzeichnungen Aus Indien. Es lässt sich feststellen, dass Strickers Bericht einer Reise auf dem Hippie-Trail ein weit verzweigtes Netz von Referenzen aufmacht, das verschiedene Narrative von Sinnsuche, Reise und der spirituellen Glückssuche miteinander verbindet. Schon der Titel Trip Generation deutet darauf hin, dass es sich bei der Erzählung um die Darstellung und gleichzeitige Erzeugung einer kollektiven Erfahrung handeln soll, die eben nicht individuell ist, sondern einem erwartbaren Muster folgt. Auch wenn die Erzählung des Reisenden nicht frei von Brüchen und Gefahren ist, endet sie in der manifestartigen Vision einer Trip Generation, so auch der Titel des letzten Kapitels, das durch die Feststellung »Jetzt bin ich da«20 eröffnet wird. Anders als der reale Reisende Tiny Stricker, der am Ende seiner Fahrt in Bangladesch festsaß und Geld für die Rückreise beschaffen musste, geht der Erzähler des Romans in der genannten Vision auf und vollendet damit die Struktur einer sinnhaften Glücksreise.
3
Matthyas Jenny »Vor den großen Reisen« – Gebrochenes Ideal
Noch viel weiter als Strickers autobiographische Erzählfigur reist das lyrische Ich in Matthyas Jennys Gedicht »Vor den großen Reisen«, das 1978 in einer von Jörg Fauser herausgegebenen Ausgabe der Zeitschrift Gasolin 23 erschien. Jenny beschreibt den Verlauf der Reise vordergründig ähnlich wie Stricker. Anders jedoch als Strickers Darstellung ist Jennys retrospektives Gedicht kein visionärer Bericht einer gerade erlebten Reise, sondern die teilweise nostalgische Erinnerung an den Hippie-Trail und andere hippieske Orte. Konträr zum 18
19 20
Zur Bedeutung von Hermann Hesse für insbesondere die amerikanische Hippiekultur siehe u.a. Schwarz, Egon: »Hermann Hesse, the American Youth Movement, and Problems of Literary Evaluation«, in: PMLA 85.5 (Oktober 1970), S. 977-987, hier v.a. S. 981984. Hesse, Hermann: Aus Indien, in: Ders.: Betrachtungen und Berichte (Bd. 13.1). 18991926, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 208-283, hier: S. 210. T. Stricker: Trip Generation, S. 109.
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Titel, der die Reisen in der Zukunft verortet, nehmen sie den Hauptteil der Beschreibung ein: »nach den hanffeldern von mazar-i-sharif/den grashügeln von chiang-mai/den opiumbauern in afyon/und pauls tod im winter 68 in kabul/lesters tod im feuchtstickigen bungalow sommer 69 in madras.«21 Durch die genannten Orte, die auf die Route des Hippie-Trails verweisen, und durch die Begriffe hanffelder und opiumbauern werden Assoziationen evoziert, die eine direkte Verbindung zu den romantisierten Selbstfindungsreisen der Hippies herstellen.22 Gerade die afghanische Region Mazar-I-Sharif hatte den Ruf, besonders gutes Marijuana zu produzieren und war dementsprechend populär unter den Reisenden auf dem Trail: »Hash is to Afghanistan what wine is to France, and if Afghanistan had a Bordeaux region, it would be the northern towns such as Balkh and Mazar-I-Sharif.«23 An Jennys Gedicht zeigt sich unter anderem, wie stark das hippieske Ideal der Reise von bestimmten ikonischen Orten geprägt ist, die Teil einer kollektiven Erzählung sind und zu Signifikanten für Erfahrungen werden. Daher reichen die Referenzen auf diese Orte aus, um das dahinterstehende Narrativ aufzurufen. Bei Jenny aber wird die romantisierte Vorstellung durch die Erwähnung zweier dort verstorbener Begleiter bereits in der ersten Strophe gebrochen. Die Suche nach dem Glück auf dem Hippie-Trail und an anderen Orten ist von Beginn an gestört. Nachdem die erste Strophe den Erinnerungszeitraum festgelegt, die Reisen räumlich verortet und erste Brüche eingefügt hat, beginnt die zweite Strophe mit der Hervorhebung des zu Beginn gesetzten Erinnerungszeitraums: »VOR den großen reisen«: »VOR den großen reisen,/wo die welt noch aus träumen beim musikhören,/der limes-erstausgabe des JUNKIE,/aus de QUINCEY und COCTEAU, dem STEPPENWOLF und SCHÖNE NEUE WELT/bestand/wo die welt für mich noch literarisch erfaßbar war«24 Die anhand der fünf hervorgehobenen Begriffe aufgerufene kulturelle Basis lässt sich im Bereich der Beat- und Hippiebewegung bzw. ihrer kulturellen Grundlagen verorten. Während William S. Burroughsʼ Junky, auf dessen deutsche Erstausgabe im Limes-Verlag sich Jenny hier bezieht, die Linie zu den Beatautoren zieht, steht Hermann Hesses Steppenwolf beispielhaft 21 22
23 24
Jenny, Matthyas: »Vor den großen Reisen«, in: Gasolin 23. 6 Gedichte Poetry Poésie (1978), S. 21. Auch Beschrieben bei: Maguire, Peter/Ritter, Mike: Thai Stick. Surfers, Scammers, and the Untold Story of the Marijuana Trade, in: Columbia Scholarship Online (November 2015), S. 23-38. P. Maguire/M. Ritter: Thai Stick, S. 28f. M. Jenny: Vor den großen Reisen, S. 21.
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für die Hippie-Bewegung. Der englische Essayist Thomas de Quincey, Jean Cocteau, französischer Schriftsteller und Regisseur, sowie Aldous Huxleys Brave New World erweitern diesen im weitesten Sinne gegenkulturellen Hintergrund und ordnen das lyrische Ich eben jenem Bereich zu. Mit dieser paradigmatischen ›Leseliste‹ der Hippie- und Gegenkultur konstruiert Jenny ebenso wie Stricker ein kulturelles Referenzfeld, auf dessen Grundlage er seine Reise antritt. Während Stricker aber in seiner Darstellung die literarischen Muster imitiert und sich selbst als einen der literarischen Helden imaginiert, wird für Jenny die Reise zu einem desillusionierenden Erlebnis, das dem vorher entworfenen Referenzfeld und dadurch erhofften Erfahrungen nicht standhält. Das Zurückversetzen in eben jene Lebensphase des noch nicht desillusionierten Träumens von einer noch unbekannten Außenwelt und den Reisen dorthin wird durch den Einschub »und dann« jäh beendet. Die letzten sechs Zeilen der zweiten Strophe bringen das lyrische Ich wieder in die Zeit der Reisen selbst, doch wird die Entzauberung der romantischen Reiseimaginationen, die in der ersten Strophe noch angedeutet wurden, nun forciert: »die ernüchterung im puff von gibraltar/die gestohlenen checks in casablanca/der schwule händler der sich über mich hermacht/als ich besoffen dem muezzin von tanger zuhörte.«25 Erneut werden im Kontext der romantisierten Reisen mythisch verklärte Orte aufgerufen, die sich hier auf andere hippieske Reiseziele außerhalb des Trails beziehen. Diesmal aber werden sie direkt mit negativen Erfahrungen des Autors in Bezug gesetzt. Die vor den großen Reisen imaginierten Orte erweisen sich nicht als die aus der Rezeption von Musik, Literatur und Kunst erträumten Ziele, vielmehr ist die Realität ernüchternd. Die dritte und letzte Strophe ist wie das gesamte Gedicht in drei inhaltliche Abschnitte geteilt. Sie beginnt wieder mit den alten Briefen und kommt schließlich zum Kernsatz in der Mitte des Gedichts: »ich halte es nicht mehr aus«, schreibt sich der Verfasser selbst in einem Brief und gibt der Aussage eine übergreifende Bedeutung. Dieser Satz verweist zum einen auf ein Gefühl der Einengung, das durch die eskapistischen Reisen in die Hippiehochburgen gelöst werden sollte, zum anderen auf die Situation des Verfassers in der Schreibgegenwart. Aus den verklärten Vorstellungen sind entzauberte Realitäten geprägt durch Tod, Geschlechtskrankheiten und Krankenhausaufenthalte geworden. Ebenso wie die Erinnerung durch die Musik initiiert wurde, wird sie in der dritten Strophe durch das Ende der Platte unterbrochen, 25
M. Jenny: Vor den großen Reisen, S. 21.
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was das lyrische Ich in die (bürgerliche) Gegenwart bringt: Durch das »auflegen der nächsten platte« soll die vergangene Zeit erneut die Gegenwart überdecken. Jennys »Vor den großen Reisen« ist ein Gedicht über Rastlosigkeit und Alltagsflucht in Vergangenheit und Gegenwart. Im Gegensatz zu Stricker beschreibt Jenny exemplarisch, wie aus der Idee der Selbstfindungsreise schließlich Ernüchterung wird. Das zuvor aus Literatur und Musik konstruierte Narrativ hält bei Jenny der Realität nicht stand. Im Gegenteil beschreibt das Gedicht schon in der ersten Strophe das, was Mick Jagger im Songtext zu »Sympathy for the Devil« andeutet. Die von Jenny erwähnten verstorbenen Mitreisenden sind eben jene von Jagger erwähnten »troubadours who get killed before they reached Bombay«. Gerade im Kontext der Lyrics zu dem Song der Rolling Stones, der 1968 auf dem Album Beggars Banquet erschien, zeigt sich auch, mit wie viel Bedeutung die Reise auf dem Hippie-Trail nach Indien zu dieser Zeit aufgeladen war. In den einzelnen Strophen werden bedeutende geschichtliche Ereignisse aufgelistet, die durch den Teufel beeinflusst worden sein sollen und die in ihrer historischen und kulturellen Signifikanz per se weit über den Hippie-Trail hinausgehen. Sie reichen von der Kreuzigung Jesus Christi, über die russische Revolution 1917, den Zweiten Weltkrieg bis zu den Morden an den Kennedy-Brüdern.26 Gerade durch die Erwähnung des letztgenannten Ereignisses wird die Einreihung der Hippie-Trail-Reisenden in diese Aufzählung bedeutsam. Die KennedyBrüder hatten in den 1960er Jahren in den USA Hoffnungen auf eine progressive Veränderung geweckt, und waren zu den Figuren des politischen Feldes geworden, die den Interessen der Jugend der Vereinigten Staaten am Nächsten standen.27 Die Zerstörung dieser Hoffnung durch die Morde steht damit im Kontext des Songtextes ebenso paradigmatisch für Brüche innerhalb eines Aufschwungs wie enttäuschte Erwartungen und Krankheit und Tod auf dem Hippie-Trail.
26 27
Vgl. The Rolling Stones: LP Beggars Banquet, London 1968, Song: »Sympathy for the Devil«. Vgl. Davis, John H.: The Kennedys. Dynasty and Desaster, New York: SPI Books 1992, S. 638f.
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Jörg Fauser Tophane & Rohstoff – Unmögliche Flucht
Krankheit, Tod und vor allem Sucht spielen in Fausers Darstellungen von Istanbul und Hippie-Trail-Reisenden eine zentrale Rolle. Seine Literarisierungen der Hippie-Szene in der Türkei und der Reisenden in den Romanen Rohstoff und Tophane sind damit im Vergleich mit Strickers Trip Generation am entgegengesetzten Ende des Spektrums aus Idealisierung, Relativierung und Entzauberung der Reisen anzusiedeln, während Jennys Gedicht die Verbindung der beiden Ansätze darstellt. In Fausers retrospektiven Erzählabschnitten innerhalb seines autobiografischen Romans Rohstoff stellt er in den ersten Kapiteln, die vor allem in Istanbul spielen, ein Umfeld dar, das in gewissem Sinne die Gegenwelt zu den Istanbul-Erfahrungen Strickers bildet. Der Erzähler Harry Gelb, ein Alter Ego des Autors, beschreibt sich selbst und seinen Freund Ede als nicht zugehörig zu den zahllosen Hippies, die Istanbul besuchen und weiterreisen. Er nimmt stattdessen die Perspektive eines Dauergastes in der Stadt ein, der sich fast »wie ein uralter Asiate[n]«28 fühlt. Den Kontrast zu dieser Selbstzuschreibung bilden die »Horden von Hippies aus Wien und Paris, Tirol und der Bretagne.«29 Wie auch Stricker es in Trip Generation beschreibt, bleiben diese Reisenden nur wenige Tage: »Und für jeden, der nach Osten verschwand, tauchten am nächsten Tag zwei neue auf.«30 Diese Perspektive ist mit Blick auf Strickers Roman vor allem interessant, da sie beide die gleiche Zeit in Istanbul beschreiben. Während Stricker aber einer jener Hippies ist, die für wenige Tage in Istanbul sind, berichtet Gelb, wie er und Ede eben solche Hippies, die auf der Suche nach Drogen und ›authentischen‹ Erfahrungen sind, betrügen: »Ede und ich entwickelten unsere eigene Masche. Sie bestand darin, einen der ahnungslosen jungen Ausländer aufzugabeln, die in immer größerer Zahl in die Stadt einfielen […].«31 Auch Fauser ruft in seinem Roman die kulturellen Narrative auf, die Stricker und Jenny als Grundlage ihrer Reiseerzählung verwenden. Allerdings entlarvt er die idealisierten Träume von Roadtrips und Beatnik-Kultur32 auf 28 29 30 31 32
Fauser, Jörg: Rohstoff (Bd. 2), Zürich: Alexander 2009, S. 10. J. Fauser: Rohstoff, S. 21. J. Fauser: Rohstoff, S. 21. J. Fauser: Rohstoff, S. 9. Es ist wichtig den Begriff Beatnik von dem der Beat Generation abzugrenzen, da es sich bei Beatnik in erster Linie um eine Fremdzuschreibung handelt. Der Begriff bezeichnet in erster Linie diejenigen Jugendlichen und jungen Männer und Frauen, die ei-
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dem Hippie-Trail als Narrative, die von den Reisenden bewusst gesucht werden. Harry Gelbs Betrugsmasche basiert darauf, dass die Hippies aus Europa und den USA Kerouacs Darstellungen einer Roadtrip-Romantik nicht nur glauben, sondern sie auch selbst erleben wollen. Indem er und Ede ihre Unterkunft so dekorieren, dass sie in der Vorstellung der Reisenden einer authentischen »Beatnik-Bude«33 entspricht und eine Atmosphäre schaffen, die populäre Narrative über das hippieske Umfeld imitiert, erhalten sie das Vertrauen, das sie für ihren Betrug benötigen: »Wenn dann noch der Joint rumging, war es richtig beat, und seit Kerouac war beat der Schlüssel zur Seele dieser jungen Amerikaner.«34 Im Gegensatz zu Rohstoff stellt Tophane Fausers werkbiografisches Äquivalent zu Strickers Trip Generation dar. Es entstand während und kurz nach der Zeit des Autors in Istanbul und hat den Anspruch, eine authentische literarische Wiedergabe der dortigen Erlebnisse zu sein, die Fauser als »Suchtnotizen auf dem Hintergrund anonymer Geisterstädte des Westens und eines Orients, der weit entfernt von jeder Reiseromantik ist«35 , beschreibt. Damit baut er implizit ein Gegennarrativ zu den Reiseerzählungen der Hippies auf. Die abgeklärte, retrospektive Narration über die Zeit in Istanbul, die sich 1984 in Rohstoff findet, ist in Tophane36 noch eine durch die Cut-up-Methode beeinflusste literarische Umsetzung fragmentierter Wahrnehmung unter Heroineinfluss.37 Die hippieske Metropole am Ausgangspunkt des Hippie-Trails
33 34 35 36 37
ne bestimmte Lebensweise imitierten, die sie in den Werken der Autoren der BeatGeneration (Jack Kerouac, Allen Ginsberg u.a.) beschrieben fanden. Der Begriff wurde schließlich durch den Journalisten Herb Caen geprägt, der ihn pejorativ auf diese bürgerlichen Jugendlichen anwendete: »[…] the much-repeated caricature of a grubby, bearded loser who pretended to art as a route to sex.« (Belletto, Steven: »Introduction. The Beat Half-Century«, in: Ders. (Hg.): The Cambridge Companion to the Beats, Cambridge: University Press 2017, S. 1-22, hier: S. 1). J. Fauser: Rohstoff, S. 10. J. Fauser: Rohstoff, S. 10. Jörg Fauser zitiert in: Fauser, Jörg: Jörg Fauser Edition (Bd. 3). Erzählungen, Hamburg: Rogner & Bernhard 1990, S. 40. Der Titel verweist auf einen Stadtteil in Istanbul, in dem Fauser zwischen 1966 und 1969 mehrmals einige Monate verbrachte. Dieser Konsum von Heroin und Morphinderivaten war nach Angaben von Jörg Fauser selbst so intensiv, dass William S. Burroughs, der selbst mehrere Jahre von Heroin abhängig war, äußerte: »Junger Mann, sie müssen ja komplett verrückt gewesen sein« (siehe dazu: Resch, Stephan: »›We’ll never stop living this way‹. Drugs in German Literature from 1945 to the present«, in: Journal of the Australasian Universities Language and Literature Association (AUMLA) (Mai 2008), S. 81-102, hier: S. 86).
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weicht bei Fauser der Beschreibung einer düsteren Großstadt, die ganz im Zeichen des Morphinhandels und -konsums steht und nichts mit der aufregenden Reiseerfahrung von Tiny Stricker gemein hat: Und mit zuckenden Fingern diese Nächte zwischen Schmargendorf City und Tophane zu überleben, an den Wracks vorüber ohne hinzusehen, mit den blutigen Fetzen von Tauben, Cinderella, Tikis und alles intravenös. Flackernde Fix – notfalls am Schwanz – immer – Gier in allen Gliedern […].38 Während bei Stricker die zurückgelassene Heimat München keine Rolle spielt, beginnt die Reise von Fausers Alter Ego noch in Frankfurt a.M. selbst. Die Ähnlichkeit der beiden Städte Frankfurt und Istanbul in der Beschreibung Fausers macht deutlich, dass es sich hier nicht um eine hoffnungsvolle Reise auf der Suche nach Glück handelt, sondern nur um die Flucht an einen Ort, wo die eigene Sucht leichter ausgelebt werden kann. Anders gesagt steht Frankfurt Istanbul an Grausamkeit in nichts nach: Schmutzig sinkt die Sonne über den Fassadenhimmel in ihren Untergang – haltet euren Bauch, Bürger, frei von Fäulnis und Gier, den Bauch dieser Stadt die euch mit den Süchtigen betrügt – schützt eure Kinder vor den Anlagen in denen der Spritzenmann im Dunkeln lauert – zerreißt die Seiten vergast die Föten vertilgt die Frauen die ihre Fotzen betrachten – stellt sie in den aseptischen Regen und überlaßt sie der Nacht.39 Wie deutlich Fauser seine Darstellung der Erfahrungen in Istanbul von denen der Hippies abgrenzen wollte, zeigt sich auch am Vergleich des Romans Tophane mit einem Brief, den er im März 1966 aus Istanbul an seine Eltern schrieb, als er selbst noch nicht dort lebte, sondern als Durchreisender – wenn auch nicht auf dem Trail – die türkische Großstadt besuchte: […] aus dem Fenster sehe ich die ersten, ockerfarbenen Quader der Aya Sofia gegen einen nebelhellen Himmel gesetzt; ich trete aus dem Hotel und um seine Ecke und stehe schon vor meiner Stammwirtschaft, […] gegenüber ist die Terrasse des Teehauses […] vor mir, ich schreibe gerade bei einem Tee, es ist Sonntagmittag, baut die Blaue Moschee ihre Kuppeln […].40 38 39 40
Fauser, Jörg: Tophane, in: Fauser, Jörg: Alles wird gut. Gesammelte Erzählungen und Prosa (Bd. 1), Zürich: Alexander 2009, S. 338. J. Fauser: Tophane, S. 312. Brief an die Eltern vom 13.3.1966, in: Fauser, Jörg: »Ich habe eine Mordswut«. Briefe an die Eltern 1956-1987, Frankfurt a.M.: Paria 1997, S. 26.
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Hier klingt eher die romantisierte und exotisierte Idylle aus Strickers Istanbulbeschreibungen an. Fausers Ankündigung im selben Brief, er würde am liebsten »für einige Jahre in dem kleinen Hotel, drei Minuten von der Blauen Moschee bleiben«,41 setzte er nur wenige Monate später tatsächlich in die Tat um. Es läge die Vermutung nahe, dass es sich bei den unterschiedlichen Beschreibungen nur um eine Darstellungsdifferenz zwischen dem faktualen Brief an die Eltern und dem fiktionalen Roman Tophane handelt. Dem widerspricht allerdings ein Brief Fausers ein Jahr darauf, der zeigt, dass die in Tophane beschriebenen Sucht- und Elendserfahrungen durchaus einen literarisierten Wiederschein der Realität darstellen: »[…] helft mir bitte hier heraus oder es wird nie mehr. Schickt sobald ihr könnt 250 Mark oder 1000 Mark + Fahrkarte Einschreiben hierher. Vergebt jemandem der schon lange nicht mehr er selbst ist. Niemand wird mit der Asche geboren.«42
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Konventionalisiertes Aussteigen
Bei Fausers Tophane handelt es sich also um das Gegennarrativ zu Strickers Beschreibungen einer Trip Generation auf dem Hippie-Trail, während Matthyas Jenny die beiden Varianten verbindet und eine gebrochene Suche nach Glück beschreibt. Gemeinsam ist vor allem Strickers und Jennys Texten der eskapistische Hintergrund, der Versuch eines Aussteigens aus dem bürgerlichen Leben, das zumindest bei Jenny auf lange Sicht scheitert. Bei Stricker steht diese Intention gleich im ersten Satz des Romans, der das wörtliche Aussteigen aus dem Zug, der ihn noch mit der Heimat verbindet, benennt. Jenny stellt rückblickend eine konkrete Verbindung zwischen dem bürgerlichen Leben als Vater in der Schreibgegenwart und den Erinnerungen an die Reisen her und kommt schließlich zu dem Schluss, dass die Gefahr von »fluchtgedanken« immer noch präsent ist: »denn zum leben brauche ich die ganze welt.«43 Bei Fauser steht der eskapistische Gedanke zumindest im biografischen Hintergrund, wie sich in den ersten Briefen aus Istanbul an die Eltern zeigt, in denen er – wenn auch im Rahmen einer sozialstaatlichen Finanzierungsstruktur – von einem Leben in Istanbul phantasiert: »Was, frage ich mich also, will ich mehr vom Leben außer einer kleinen Rente, die mich imstande setzte, all dies
41 42 43
Fauser: Brief an die Eltern vom 13.3.1966. Brief an die Eltern vom Januar 1967, in: Fauser: »Ich habe eine Mordswut«, S. 29. M. Jenny: Vor den großen Reisen, S. 21.
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zu genießen?«44 Tatsächlich jedoch lassen sich in den drei Texten verschiedene, graduelle Formen des Aussteigens erkennen, die gegeneinanderstehen. Zu Aussteiger*innen stellt Alexander Fischer fest: Die Abgrenzung und das Anderssein finden in der zutiefst sozialen Verhandlungssituation von Individuum und Gesellschaft statt; und so eben ist Aussteigen etwas zutiefst Soziales, das uns nicht nur Auskunft über Aussteiger selbst, sondern auch die Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft, wie auch die Gesellschaft aus der ausgestiegen wird, zu geben vermag.45 Diese Form der Aushandlung findet sich vor allem bei Jenny, der sowohl die kulturellen Impulse, die den Ausstieg anstoßen als auch die schreibgegenwärtigen Eskapismusträume in Bezug zu den Erinnerungen an entbehrungsreiche Reisen stellt. Legt man die Definition zugrunde, die Fischer als Schlussfolgerung seiner Überlegungen zu einer Typenbetrachtung des Aussteigers entwickelt, zeichnet sich jedoch ab, dass man die Berichte der drei Autoren differenzierter betrachten muss: Aussteiger/-innen sind von ihrer gesellschaftlichen Umgebung und ihrer eigenen gesellschaftlichen Rolle entfremdete, sich abweichend verhaltende, einen aktiven Selbstverwirklichungsakt vollziehende Individuen, die sich aus gesellschaftlichen Bindungen lösen, um ein unangepasstes Leben nach ihren individuellen alternativen Vorstellungen zu führen.46 Die drei definitorischen Parameter, die Fischer ausmacht, sind Entfremdung, Selbstverwirklichung und Individualität.47 In den literarischen Reiseberichten von insbesondere Stricker und Jenny sind aber die die letzten beiden Punkte nur bedingt erfüllt und werden zumindest literarisch unterlaufen. Schon Strickers eine Generation konstituierender Titel widerspricht allen drei Punkten und die große Zahl an Reisenden, die die gleiche Strecke befuhren, weist zudem darauf hin, dass die Hippie-Trail-Reise eben nicht eine rein individuelle Handlung ist, sondern der Vollzug eines allgemeinen Narrativs ist, 44 45
46 47
M. Jenny: Vor den großen Reisen, S. 21. Fischer, Alexander: »›Stärker individualisierte Individuen‹. Eine sozialphilosophische Typenbetrachtung des Aussteigers« in: Teresa Hiergeist (Hg.): Parallel- und Alternativgesellschaften in den Gegenwartsliteraturen, Würzburg: Königshausen & Neumann 2017, S. 197-218, hier S. 199. Fischer: »›Stärker individualisierte Individuen‹«, S. 211. Siehe dazu auch Fischer, Alexander: »›Stärker individualisierte Individuen‹«, S. 209f.
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das bestimmten Mustern folgt. Diese Muster nennt Stricker wiederholt implizit, während Jenny sie konkret als kulturelle Referenzen aufruft. Fischer schlägt zudem mit Luhmann vor, Aussteigen als eine »Selbstbeschreibung moderner Gesellschaft wie sie sonst nicht zur Verfügung steht«48 zu begreifen. Doch gerade an dem dargestellten Konstrukt, das sich aus Ortsbezeichnungen als Signifikanten, kulturellen Narrativen und Referenzen zusammensetzt, lässt sich, zumindest für die Zeit der 1960er und 70er Jahre, die konkrete Beschreibung einer Generationenerfahrung ablesen, die nicht mehr individuell sondern kollektiv ist, die aber von einer bürgerlichen Selbstsicht aus als Aussteigertum wahrgenommen wird. Besonders deutlich wird das durch die Betrachtung von Fausers autobiographischer Darstellung in Rohstoff und der fiktionalen Umsetzung der eigenen Erlebnisse in Tophane. Darin bricht er die populäre Erzählung der Ausstiegserfahrung auf, indem die Flucht nach Istanbul nur eine geographische Verschiebung der eigenen Sucht ist, die nicht einmal das Umfeld signifikant verändert. Rohstoff hingegen entlarvt zu Anfang die Ausstiegsphantasien, die Stricker erlebt, als Konstrukte, die Harry Gelb nutzen kann, um die Hippies zu betrügen. Fausers Literarisierung seines Istanbulaufenthalts als Kontrasterfahrung zu den Reisen abertausender Jugendlicher ist damit auch eine Dekonstruktion populärer Erzählungen und Entwürfe des Aussteigens der Hippie-Generation in den 1960er und 70er Jahren. In ihr zeigen sich die Abgründe eines Ideals der Suche nach Glück, einer Suche, die nicht vollendet wurde, sondern bereits auf dem Weg scheiterte um es mit Mick Jagger zu sagen: »before they reached Bombay«.
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Luhmann, Niklas: Protest. Systemtheorie und soziale Bewegungen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996, S. 21.
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Abb. 1: Vor den großen Reisen.
Gasolin 23. 6 Gedichte Poetry Poésie (1978), S. 21.
Besseresser? Mediale Inszenierungen des Veganismus-Dispositivs im deutschsprachigen Diskurs der Gegenwart Agnes Bidmon
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Der Kampf um Deutungshoheiten oder ›Es geht um die Wurst‹
Spätestens seitdem weite Teile der westlichen Welt verstärkt ihr grünes Gewissen entdecken, Nachhaltigkeit dem Zeitgeist entspricht und Klimaschutz en vogue ist, ist auch der Veganismus in aller Munde. Mit der Idee des Veganismus ist schließlich nicht nur eine Ernährungsweise verbunden, die als radikalerer Vegetarismus bezeichnet werden kann, indem bewusst auf den Konsum jeglicher Lebensmittel und Produkte tierischen Ursprungs verzichtet wird. In den meisten Fällen handelt es sich vielmehr um die ethisch motivierte Entscheidung für einen alternativen Lebensentwurf, dessen Glücksversprechen darin besteht, durch Achtsamkeit im Umgang mit der Natur und ihren Ressourcen das aus der Balance geratene ökologische wie soziale Gleichgewicht wiederherzustellen, wodurch die Welt zu einem Raum für alle Lebewesen und somit letztlich zu einem besseren Ort wird.1 Dies unterstreicht auch der Philosoph Peter Singer, einer der wesentlichen theoretischen Vordenker des Veganismus, in einem Interview als Leitbild: Ich möchte, dass sich Menschen Gedanken darüber machen, wie sie leben und ob sie die Art und Weise, wie sie leben, ethisch rechtfertigen können. 1
Diese Argumentation hat im Jahr 2020 durch die weltweit grassierende CoronaPandemie, deren Ausbruch nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft zoonotischen Ursprungs ist, noch dramatisch an Relevanz gewonnen. Siehe dazu exemplarisch Amir, Fahim: »Corona oder Die Rache des Schuppentiers«, in: profil (28.03.2020), https://www.profil.at/gesellschaft/corona-rache-schuppentiers-fahim-amir-11418993? fbclid=IwAR0zjrcUX5t17YPYYCoYYbyh-fRkSGoie725DwcEFLGUqNR9_EPEniHaKKQ (letzter Aufruf 12.05.2020).
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Und ich glaube, dass wenn sie darüber nachdenken – sowohl im Bezug auf Tierleid als auch darauf, die Welt nicht zu einem schlechteren Ort zu machen, etwa indem sie zum Klimawandel beitragen – dann würden sie wahrscheinlich zu dem Schluss kommen, dass eines der Dinge, die sie tun müssen, ist, keine tierischen Produkte mehr zu essen und stattdessen auf pflanzliche Lebensmittel umzusteigen. Das ist nicht das einzige, was sie tun sollten, aber es ist sicherlich ein wichtiger Schritt.2 Aufgrund von Argumentationen wie dieser versammelt der vegane Lebensentwurf seit einigen Jahren eine steigende Zahl an Befürwortern hinter sich und die Community wächst signifikant.3 Im Zuge dieser Entwicklung ist in jüngster Vergangenheit auch der steigende Marktwert des Labels ›Veganismus‹ erkannt worden, was sich unter anderem daran zeigt, dass mittlerweile vegane Produkte – die zum Teil von großindustriellen und der Massentierhaltung nicht unverdächtigen Fleischproduzenten hergestellt werden – zunehmend die Supermarktregale erobern, vegane Kochbücher zu Bestsellern avancieren und vegane Restaurants in vornehmlich urbanen Gegenden wie Pilze aus dem Boden schießen.4 So großen Zuspruch diese Lebensform derzeit also findet und so sichtbar sie mittlerweile im gesamtgesellschaftlichen Kontext einerseits ist, so laut sind andererseits aber auch diejenigen Stimmen, die dem veganen Lebensentwurf kritisch gegenüberstehen. So sei unter Veganern trotz einiger unauflöslicher Paradoxien und Widersprüche in ihrer Lebensphilosophie häufig ein Gefühl der »moralischen Überlegenheit« auszumachen, wie unlängst der Philosoph Damiano Cantone in der NZZ konstatierte. Die Problematik bestehe in erster Linie darin, dass das ethische System des Veganismus auf einer »reinen Lehre« basiere und nicht mit der menschlichen Lebens- und Erfahrungswirklichkeit in Einklang zu bringen sei, weil es sich über unausweichliche Naturgesetze wie dem Ausgesetzt-Sein eines jeden 2
3
4
Siehe hierzu das Interview des veganen Kochs und Ernährungsexperten Niko Rittenau mit Peter Singer anlässlich des Plant Based Symposium 2017 (26.09.2017), https://www. youtube.com/watch?v=af6XT0if-1E, 00:00,00-00:00,34 (letzter Aufruf 05.05.2020). Vgl. dazu: o.A.: Vegan-Trend. Zahlen und Fakten zum Veggie-Markt (11.01.2019), https://proveg.com/de/pflanzlicher-lebensstil/vegan-trend-zahlen-und-fakten-zumveggie-markt/ (letzter Aufruf 12.05.2020). Vgl. dazu unter anderem Marten Rolff, der in Anbetracht dieser Entwicklung in der Süddeutschen Zeitung die These vertritt, dass sich »[d]ie Wurstnation […] immer mehr als Schlemmerparadies mit Gewissen [präsentiert]. Der Fleischkonsum geht zurück und auch Veganer dürfen endlich Mainstream sein.« Rolff, Marten: »Friss oder stirb«, in: Süddeutsche Zeitung vom 21.09.2019, S. 57.
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Lebewesens qua Existenz an nicht notwendiges Leid hinwegzusetzen versuche und dadurch den notwendigen Weltenlauf missachte.5 Darüber hinaus, so das häufig vorgebrachte biologistische Hauptargument der VeganismusGegner, sei diese Lebensform auch ›wider die Natur des Menschen‹, da sie aus einem falsch verstandenen ethischen Imperativ heraus letztlich seiner Anlage als Omnivore entgegenlaufe. Abzulesen sei dies an zwangsläufig auftretenden organischen Mangelerscheinungen (vor allem Vitamin B12), die mit Nahrungsergänzungsmitteln, so genannten Supplements, behoben werden müssten, was als Beweis dafür diene, dass die vegane Ernährungsweise nicht nährstoffdeckend und vollwertig sei. Besonders deutlich zeige sich dies im Falle von Schwangeren, Stillenden und Kleinkindern, bei denen der absolute Verzicht auf tierische Produkte ernsthafte Gesundheitsschäden hervorrufen könne, weshalb die Praktizierung dieses Lebensmodells sogar gesetzeswidrig sein kann. Dies hat unlängst ein Fall aus Sydney gezeigt, der weltweit ein breites mediales Echo gefunden hat. Dort wurde ein Elternpaar, das seine Tochter in den ersten anderthalb Lebensjahren strikt vegan ernährt hatte, im August 2019 von einem Gericht schuldig gesprochen und zu je 300 Stunden gemeinnütziger Arbeit verurteilt.6 Laut Medienberichten hatte das Mädchen mit 19 Monaten den körperlichen Entwicklungsstand eines dreimonatigen Kindes, weil – so die Richterin in ihrer Urteilsbegründung – dessen Ernährung »völlig unangemessen«7 gewesen sei. Wissenschaftlich ist bis heute nicht abschließend geklärt, ob die vegane Lebensform der Gesundheit nun eher schadet oder zuträglich ist8 und inwie-
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Siehe dazu Cantone, Damiano: »Veganer glauben, moralisch überlegen zu sein. Sind sie das auch?«, in: Neue Zürcher Zeitung vom 26.04.2017, https://www.nzz.ch/feuilleton/veganismus-veganer-glauben-moralisch-ueberlegen-zu-sein-sind-sie-das-auchld.1172407 (letzter Aufruf 12.05.2020). Darüber hinaus wurde das Mädchen laut Focus-Bericht (siehe FN 7) in die Obhut von Verwandten gegeben. O.A.: Fall in Sydney: Keine Zähne, abgemagert. Paar ernährt Baby vegan – nun wurden sie verurteilt (22.08.2019), https://www.focus.de/gesundheit/news/fallin-sydney-keine-zaehne-abgemagert-paar-ernaehrt-baby-vegan-nun-wurden-sieverurteilt_id_11056400.html (letzter Aufruf 10.05.2020). Als nachgewiesen gilt mittlerweile, dass mit veganer Ernährung ein niedrigerer Cholesterinspiegel sowie ein geringeres Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen einhergeht. Allerdings kann dies auch damit zusammenhängen, dass vegan lebende Menschen in der Regel ohnehin einen gesundheitsbewussten Lebenswandel pflegen.
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fern sie tatsächlich zu Tier-, Umwelt- und Klimaschutz beiträgt9 oder stattdessen das Gegenteil bewirkt.10 Entsprechende Daten, Zahlen und Fakten lassen sich – je nach Sprecherintention und Adressatenkreis – gegenwärtig de facto zur Bekräftigung oder Widerlegung jedes dieser divergierenden Standpunkte finden. Dementsprechend bleibt auch der Abschlussbericht der ersten groß angelegten Studie des Bundesinstituts für Risikobewertung zum Thema aus dem Jahr 2017 letztlich unentschieden: Ein wachsender Anteil der Bevölkerung entscheidet sich für eine vegane Ernährung und verzichtet damit auf alle Nahrungsmittel tierischen Ursprungs. Dieser Ernährungsform werden positive Auswirkungen auf die Gesundheit […] zugeschrieben. […] Dennoch bestehen auch mögliche Gesundheitsrisiken durch etwaige Nährstoffmangelzustände, auf die vor allem Schwangere, Stillende bzw. Säuglinge und Kleinkinder sensibel reagieren können. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) rät daher von einer rein pflanzlichen Ernährung in Schwangerschaft und Stillzeit sowie im gesamten Kindesalter ab, da nach deren Einschätzung die vegane Ernährungsweise eine adäquate Nährstoffversorgung und die Gesundheit des Kindes nicht sicherstellt.11 Es tobt also seit einigen Jahren ein ideologischer Kampf um Deutungshoheiten, Marktanteile und Machtinteressen, an dem zahlreiche Individuen und Institutionen beteiligt sind – die Politik, die Wissenschaft, die Ökonomie und nicht zuletzt die Medien, insbesondere die Neuen Medien. Gerade diese dienen nicht zuletzt laut dem Abschlussbericht des BfR als primäre In9
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Siehe hierzu exemplarisch den Dokumentarfilm Cowspiracy (USA 2014, R.: Kip Andersen, Keegan Kuhn), der durch dokumentarisierende Erzählverfahren wie die Berufung auf Fakten und Autoritäten das Anliegen verfolgt, eine möglichst breite Öffentlichkeit für den Zusammenhang von (Massen-)Tierhaltung und Klima- bzw. Umweltproblematik zu sensibilisieren und die Rolle der großen Umweltverbände dabei zu beleuchten. An dieser Stelle sei exemplarisch auf die so genannte »Sojakontroverse« verwiesen. So besagt eine der Positionen in dieser Kontroverse, dass der erhöhte Soja-Bedarf vegan lebender Menschen weltweit zur Zerstörung des Regenwaldes beiträgt und die Verwendung von Gentechnik im Sojaanbau begünstigt. Siehe dazu Rittenau, Niko: Vegan – Klischee ade! Wissenschaftliche Antworten auf kritische Fragen zu veganer Ernährung, Mainz: Ventil 2019, S. 365-368. Bundesinstitut für Risikobewertung: Vegane Ernährung als Lebensstil. Motive und Praktizierung. Abschlussbericht. Berlin 2017, S. 7, abzurufen unter: www.bfr.bund.de (letzter Aufruf 12.05.2020).
Besseresser?
formationsquelle und Kommunikationsplattform12 und tragen durch Foren, Facebook-Gruppen oder populäre YouTube-Channels wie Vegan ist ungesund enorm zur Meinungs- und Identitätsbildung dieser in ihrer Struktur dezentralen und über gemeinsame Ideale organisierten Paragesellschaft 13 bei. Die vegane Community lässt sich insbesondere deshalb als geradezu prototypische Paragesellschaft bezeichnen, da sie durch die Wahl ihres Essstils eine bewusste Abgrenzungsbewegung zum Rest der Gesellschaft vollzieht. Diese Abgrenzung ist insofern ein Kampf um symbolisches Kapital, als eine moralische, gesundheitliche und ökologische Superiorisierung des eigenen Lebensentwurfs im Vergleich zu den Nicht-Veganern stattfindet.14 Schließlich kann es, wie die Soziologin Eva Barlösius es Ende des 20. Jahrhunderts noch für den Vegetarismus beschreibt, als ausgeprägteste Form eines »gegenkulturelle[n] und antihierarchische[n] Protest[es]«15 gedeutet werden, Enthaltsamkeit zu üben und nicht mehr das zu essen, was die ›Mehrheitsgesellschaft‹ isst, wobei sich der Protest in diesem Fall insbesondere gegen gegenwärtige kapitalistische Lebens- und Wirtschaftsformen richtet. Ernährung dient somit
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Vgl. dazu den Abschlussbericht des BfR, S. 9, 11. Das Konzept der ›Paragesellschaft‹ bezeichnet gesellschaftliche Konstellationen, die »sich darüber [konstituieren], dass ihre Werte, Normen und Haltungen vom Konsens der ›Mehrheitsgesellschaft‹ signifikant abweichen und dass sie somit zwar innerhalb der territorialen, aber außerhalb der politischen, ökonomischen, sozialen, religiösen und/oder kulturellen Ordnung eines Gemeinwesens verortet sind.« Hiergeist, Teresa: »Selbst, anders, neu. Reflexionen zu den kulturellen und ästhetischen Bedeutungen von ›Parallel- und Alternativgesellschaften‹«, in: Dies. (Hg.), Parallel- und Alternativgesellschaften in den Gegenwartsliteraturen, Würzburg: Königshausen & Neumann 2017, S. 7-24, hier S. 9; vgl. zur Begriffsbestimmung außerdem: Biersack, Martin/Hiergeist, Teresa/Loy, Benjamin: »Das Leben der Anderen – historische, soziologische und narrative Dimensionen paralleler Sozialität«, in: Dies. (Hg.), Parallelgesellschaften. Instrumentalisierungen und Inszenierungen in Politik, Kultur und Literatur, München: Akademische Verlagsgemeinschaft 2019; Bidmon, Agnes/Broders, Simone/Gerund, Katharina/Hiergeist, Teresa (Hg.), Paragesellschaften. Imaginationen – Inszenierungen – Interaktionen. Ersch. Berlin/Boston: de Gruyter 2021. Barlösius, Eva: Soziologie des Essens. Eine sozial- und kulturwissenschaftliche Einführung in die Ernährungsforschung, Weinheim/München: Juventa 1999, S. 117. Barlösius beschreibt dabei im Rekurs auf Pierre Bourdieus Studie Die feinen Unterschiede ausführlich, wie sich Oberschichten über den kulinarischen Geschmack, der während der Sozialisation geprägt wird und kulturell erlernt ist, vom Rest der Bevölkerung habituell abgrenzen und Essgeschmack so als sozial differenzierendes Zeichen konstruieren (ebd., S. 109-122). E. Barlösius: Soziologie des Essens, S. 118.
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ganz allgemein – und das seit jeher und nicht erst in den ausdifferenzierten nutritiven Kulturen moderner Gesellschaften16 – als Verständigungs- und Kommunikationsmedium zwischen gesellschaftlichen Gruppen und Schichten und wird im konkreten Fall des Veganismus bewusst als politische Botschaften transportierendes Distinktionsmerkmal eingesetzt. Dem vorliegenden Beitrag kann und soll es in Anbetracht dieser komplexen Gemengelage keinesfalls darum gehen, sich auf eine der Seiten zu schlagen und in der Kontroverse zwischen »nichtveganem Mainstream« und »Ernährungsaußenseitern« Partei zu ergreifen.17 Vielmehr soll aufgrund der skizzierten Stimmenvielfalt eine Beobachterposition zweiter Ordnung eingenommen und der Blick gerade auf den Diskurs über das VeganismusDispositiv18 gerichtet werden, wie er in populärkulturellen Inszenierungen in Literatur und Film – genauer gesagt in Erzählliteratur und Spielfilm – geführt wird. Ein Blick auf den Diskurs aus dieser Beobachterposition erweist sich vor allem deshalb als ertragreich, da diese populärkulturellen Inszenierungen einen medialen Echoraum unterschiedlicher Standpunkte, Meinungen und Haltungen bereitstellen und so den diskursiven Austausch zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen ausleuchten. Das Spektrum der in diesem medialen Echoraum verhandelten Intentionen reicht vom Versuch der Persuasion und Durchsetzung bzw. Legitimierung einer bestimmten Position über die Diskreditierung einer anderen bis hin zum Versuch der Vermittlung und des Dialogs. Gerade Erzählungen, die im Modus der Fiktion operieren, eröffnen also gedankliche Möglichkeitsräume und spielen in medialen Verhandlungsräumen experimentelle Versuchsanordnungen durch, in denen konträre Moralvorstellungen, Argumentationsund Handlungsweisen aufeinanderprallen. Aufgrund dessen können sie als
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Siehe dazu Hirschfelder, Gunther: Europäische Esskultur. Geschichte der Ernährung von der Steinzeit bis heute, Frankfurt a.M./New York: Campus 2005. Vgl. Abschlussbericht des BfR, S. 11. Von einem Dispositiv ist aus dem Grund die Rede, da es sich beim Veganismus mit Foucault gedacht um ein Zusammenspiel diskursiver und nicht-diskursiver Praktiken wie etwa »Diskursen, Institutionen, architekturalen Einrichtungen, reglementierenden Entscheidungen, Gesetzen, administrativen Maßnahmen, wissenschaftlichen Aussagen, philosophischen, moralischen oder philanthropischen Lehrsätzen, kurz: Gesagtem ebenso wie Ungesagtem […]« handelt (Foucault, Michel: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin: Merve 1978, S. 119; vgl. außerdem: Bührmann, Andrea D./Schneider, Werner (Hg.), Vom Diskurs zum Dispositiv. Eine Einführung in die Dispositivanalyse, Bielefeld: transcript 2008).
Besseresser?
Instrument der Meinungsbildung ebenso fungieren wie als kritische und differenzierte Begleit- und Reflexionsinstanzen aktueller gesellschaftlicher Prozesse und Entwicklungen. Im Folgenden soll überprüft werden, welche Position im Diskurs dabei ein Spielfilm und zwei Romane einnehmen, die alle in jüngster Vergangenheit erschienen sind und so einmal mehr als Beleg für die gesamtgesellschaftliche Virulenz des Themas gelten können. Es handelt sich um den unter der Regie von Lars Oppermann entstandenen Kinofilm Los Veganeros (D 2015), Christine Lehmanns Roman Allesfressser (2016) und Fritz Hendrick Melles Thriller Wurst (2018). Diese drei Beispiele wurden gewählt, um einen möglichst repräsentativen Querschnitt medialer Veganismus-Inszenierungen zu bieten. Das durch sie abgedeckte ästhetische wie ethische Spektrum reicht vom Anspruch der Aufklärung über den der Aushandlung bis hin zu dem der Abrechnung, wodurch die Erzählungen nicht zuletzt auch ein Spiegelbild der gesellschaftlichen Debatten darstellen.
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Ohne Krimi is(s)t die Mimi nicht vegan? – Grundsätzliche Überlegungen
Eine Sichtung der Medienlandschaft macht schnell deutlich, dass es sich bei der Mehrzahl von fiktionalen Auseinandersetzungen mit Veganismus um literarische Texte und Filme handelt, deren Plot der klassischen Detektiv- bzw. Kriminalerzählung folgt oder in der Tradition des Thrillers steht. Grundstruktur ist folglich der in je verschiedener Gewichtung anzutreffende charakteristische »Dreischritt Verbrechen, Fahndung und Überführung«, wobei die Schilderung der Vorgeschichte des Verbrechens unterschiedlich großen Raum einnimmt und dieses zudem nicht auf die Tat selbst beschränkt ist, sondern »häufig in Planung und Durchführung dargestellt [wird]«, um die zugrunde liegenden Motive zu verdeutlichen und unter Umständen auch zu legitimieren.19 Diese genrespezifische Prominenz der Kriminal- bzw. Thrillererzählung hat sowohl einen gattungstheoretischen als auch einen gegenstandsbasierten Grund: Erstens ist die Kriminalgeschichte als nach wie vor beliebtestes und massenkompatibelstes Genre der Populärkultur prädestiniert, um bedingt durch
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Leubner, Martin: »Thriller«, in: Dieter Burdorf/Christoph Fasbender/Burkhard Moennighoff (Hg.), Metzler Lexikon Literatur, Stuttgart/Weimar: Metzler 2007, S. 769.
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konstitutive moralische Grenzgänge und -übertretungen ethische Fragestellungen zu verhandeln und dabei zugleich eine möglichst große Resonanzstärke und Breitenwirksamkeit zu entfalten. So stehen in Kriminalerzählungen stets Normsetzungen und Werteordnungen von Gesellschaften auf dem Prüfstand. Diese werden am Ende über die Ahndung und Bestrafung des Gesetzesverstoßes wiederhergestellt. Findet solch eine Sanktionierung eines die gesellschaftliche Ordnung missachtenden Individuums (oder einer Gruppe) statt, wird die Gültigkeit der Ordnung bestätigt und dem Rezipienten in ihrer Funktionalität vorgeführt. Das Erzählmuster kann aber auch gegenläufig angelegt sein, indem die eigentlich regulativen staatlichen Systeme durch Praktiken wie Korruption o.ä. in ihrer Dysfunktionalität vorgeführt werden, wodurch sie kritisch hinterfragt und ihre ordnungs- und orientierungsstiftende Funktion letztlich ad absurdum geführt wird – eine Plotstruktur, die anhand narrativer Kippfiguren wie einem unschuldig Verurteilten, einem entkommenden Verbrecher, einer Täter-Opfer-Umkehr oder einem offenen Ende durchgespielt werden kann. Aufgrund dieser elementaren Charakteristik eignet sich das Genre ›Krimi‹ bzw. ›Thriller‹ in besonderem Maß dazu, die ethische Frage der Bewertung von Einstellungen und Handlungen gemäß der Kategorien richtig/falsch und gut/böse auf unterschiedlichen erzählerischen Komplexitätsniveaus zu verhandeln. Ein zweiter Grund für die Prominenz dieses Genres ist darüber hinaus im Gegenstand des Veganismus und seiner Philosophie selbst angelegt. Denn die wohl maßgeblichste Prämisse des Veganismus bildet eine Ablehnung des Speziesismus, welcher besagt, dass jegliche Diskriminierung von Lebewesen allein aufgrund ihrer Artzugehörigkeit aus ethisch rationalen Gründen prinzipiell zu vermeiden ist.20 Moralische Würde und unveräußerliche Rechte wie Freiheit und Unversehrtheit werden demnach nicht nur dem Menschen, sondern
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Gegen dieses System eines ethischen Rationalismus, als dessen populärster und zugleich kontroversester Vertreter Peter Singer gilt, wird vonseiten der Moralphilosophie häufig eingewendet, dass vor allem Singer »[a]uf der einen Seite versteht […], mit dramatischen Beispielen […] an die Emotionen seiner Leser zu appellieren. Doch soll dies nicht dazu dienen, moralische Erkenntnisse und Einsichten zu befördern. Vielmehr sollen seine Leser dadurch motiviert werden, seine rational konstruierte ethische Theorie plausibel zu finden, die jedoch ihrerseits Implikationen hat, welche in diametralem Gegensatz stehen zu vielem, was uns moralisch plausibel und einsichtig ist.« Fischer, Johannes: Verstehen statt Begründen. Warum es in der Ethik um mehr als nur um Handlungen geht, Stuttgart: Kohlhammer 2012, S. 70, FN 58.
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in gleichwertiger Weise auch den Tieren zugesprochen, weshalb jegliches Zufügen von Leid – angefangen vom Halten von Haustieren über die Nutzung tierischer Produkte bis hin zum Töten und Verzehren von Tieren – nicht zu rechtfertigen und daher zu unterlassen ist. Hinter diesen Überlegungen steht das Ziel einer Dekonstruktion des herrschenden anthropozentrischen Weltbilds, indem das vom Menschen implementierte dichotomische und hierarchische Kategoriendenken Mensch-Tier aufgelöst wird und stattdessen beide als gleich-lebens-berechtigte Partner angesehen werden.21 Dementsprechend konstatiert Peter Singer im Vorwort seiner grundlegenden Monographie Die Befreiung der Tiere: Ich behaupte, dass es – abgesehen vom egoistischen Streben der ausbeutenden Gruppe, ihre Privilegien zu bewahren – keinen Grund geben kann, die Ausdehnung des Grundprinzips der gleichen Berücksichtigung auf Mitglieder anderer Spezies zu verweigern. Es geht mir darum, Ihnen deutlich zu machen, dass Ihre Einstellungen gegenüber Mitgliedern anderer Spezies eine Form von Vorurteilen sind, die nicht weniger abzulehnen sind als Vorurteile gegenüber der Rasse oder dem Geschlecht einer Person.22 Ausgehend von diesen Prämissen wird verständlich, warum sich die Darstellung von Mord und Totschlag in Literatur und Film als besonders geeignetes dramaturgisches Mittel erweist, um dem ›Mainstream‹ die theoretische Fundierung des Veganismus zu vermitteln. Schließlich stellt der gesellschaftlich legitimierte und täglich millionenfach begangene Mord an Tieren im Denksystem des Veganismus in letzter Konsequenz denselben Tabubruch dar wie der Mord an Menschen, da allen Lebewesen ungeachtet ihrer Artzugehörigkeit dieselbe Daseinsberechtigung zugesprochen wird. Um dem nicht-veganen Rezipienten diesen Perspektivwechsel besonders nach- und eindrücklich vor Augen zu führen, arbeiten die Erzählungen daher häufig – in medienspezifischer Abstufung – mit mehr oder weniger exzessiven Tabubrüchen. Diese beinhalten nicht nur den brutalen Mord an einem oder mehreren Menschen, sondern allem voran die Anthropophagie und damit den kulturhistorisch wohl schwerwiegendsten Verstoß gegen den humanen Wertecodex.
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Vgl. dazu auch den Abschlussbericht des BfR, S. 9f. Singer, Peter: Animal Liberation. Die Befreiung der Tiere, Erlangen: Fischer 2015, S. 10.
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Aufklärung, Aushandlung, Abrechnung – Künstlerische Verfahrensweisen mit dem Veganismus-Dispositiv Lars Oppermann: Los Veganeros (2015)
Der Film wird von den Produzenten selbst dem populärkulturellen Genre der »Dramödie« zugeschrieben. Noch im Jahr seines Erscheinens wurde er mit dem PETA-Progress-Award ausgezeichnet und erhielt so eine verhältnismäßig breite öffentliche Aufmerksamkeit. Los Veganeros verfolgt das Ziel, ein komplexes und gesellschaftlich umstrittenes Thema möglichst breitenwirksam aufzubereiten und demzufolge sozusagen möglichst leicht verdaulich zu vermitteln. Dies soll in erster Linie durch den Einsatz von Humor erreicht werden, der die dramatische Handlung konterkariert und in ihrer schockierenden Wirkung abschwächt. Dieser anvisierte Unterhaltungsaspekt wird primär durch das Bedienen zahlreicher Stereotypen ins Bild gesetzt, die sich vor allem darin manifestieren, dass Fleischesser – etwas überspitzt formuliert – ausnahmslos dumm, dick und böse gezeichnet werden. Diese Charakterisierung dient handlungslosgisch nicht nur dazu, diese gesellschaftliche Gruppe abzuwerten, sondern soll zugleich auch als Moment der Selbstbestätigung für die veganen Zuschauer fungieren. Neben dieser Identitätsvergewisserung steht im Film letztlich aber v.a. faktenorientierte Aufklärungsarbeit im Vordergrund. Dementsprechend heißt es bereits auf dem Cover: »›Los Veganeros‹ ist ein fesselnder Spagat zwischen informativen Fakten und unterhaltsamer Spielfilmkomödie. Eine Veggie-Dramödie, die zum Umdenken anregt…«23 Doch damit nicht genug: Der Film will auch buchstäblich für die vegane Lebensweise werben – nicht zuletzt durch eine Reihe offensichtlicher Product Placements von Firmen, die den Film mitfinanziert haben. Dies wird hauptsächlich an der Geschichte rund um die Figur Matt deutlich, der sich in die Protagonistin des Films, die Veganerin Vickie, verliebt, durch das Eintauchen in ihre Welt schließlich konvertiert und den Veganismus für sich als einzig wahre und vertretbare Lebensform entdeckt. Dieser entscheidende Moment ereignet sich nicht zufällig bei einem gemeinsamen ›ersten Abendmahl‹ und ist damit quasi-sakral aufgeladen. Auf diese Weise wird dem Zuschauer vermittelt, dass es sich beim Veganismus um weit mehr als ›nur‹ um 23
Los Veganeros (D 2015, R: Lars Oppermann). Regie und Drehbuch: Lars Oppermann. Kamera: Andreas Barthel. Darsteller: Rosalie Wolff, Nils Brunkhorst, Inez Bjørg David, Ingeborg Heinrich, Hendrikje Fitz, Ulas Kilic u.a. Laufzeit: 83 Min.
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eine Ernährungsform, sondern vielmehr um einen ganzheitlich sinnstiftenden Lebensentwurf inmitten einer säkularen Gesellschaft ohne ethisches Bewusstsein handelt.
Abb. 1: Matt und Vickie beim ›ersten Abendmahl‹.
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Die offensichtliche Intention des Films, als Ratgeber zu fungieren und eine lebenspraktische Gebrauchsanleitung für das vegane Leben zu bieten, rührt wohl nicht zuletzt daher, dass Oppermann, der nicht nur Regie geführt, sondern auch das Drehbuch verfasst und den Film produziert hat, selbst überzeugter Veganer ist und Aktivismus für ihn zum eigenen Selbstverständnis gehört. Anders als in den später noch zu besprechenden literarischen Texten ist der Gegenstand des Films zwar kein Mord, allerdings wird von einer Gruppe veganer Aktivisten in Hannover, den ›Veganeros‹, die Entführung des Besitzers eines Schweinemastbetriebs geplant, um die Bevölkerung aufzurütteln. Der Plan der Gruppe ist, den sog. »Schweinebaron« im Anschluss an die Entführung unter den gleichen Bedingungen zu halten wie er die Tiere in seinem Mastbetrieb. Der dramaturgische Einsatz dieser weniger gewaltsamen Vorgehensweise hat vor allem zwei Gründe: Erstens werden bildsprachliche Äußerungen aufgrund der landläufigen Vorstellung eines indexikalischen Abbildcharakters des photochemischen Films unmittelbarer als
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Schriftsprache rezipiert und zweitens will das audiovisuelle Massenmedium Film seinen Plot massenkompatibel verpacken, um seine Botschaft möglichst weitläufig zu distribuieren. Im Film wird daher einzig die Planung der Entführung mit drastischen Bildern unterfüttert, indem u.a. dokumentarisch anmutende Aufnahmen aus realen Schweinemastbetrieben einmontiert und durch eine Folge schneller Bildwechsel mit dem geplanten Vorgehen gegenüber dem Entführungsopfer kurzgeschlossen werden. Auf diese Weise wird dem Zuschauer das theoretische Konstrukt des Speziesismus eindringlich vor Augen geführt und zugleich die eigentlich moralisch verwerfliche Tat der ›Veganeros‹ legitimiert.24 Die Entführung, die aufgrund moralischer Bedenken der AktivistenGruppe schließlich auf die Dauer einer Nacht und die anschließende öffentliche Bloßstellung des Betriebschefs reduziert wird – was einmal mehr die Reflektiertheit ›der Veganer‹ im Gegensatz zu ›den Fleischessern‹ unterstreicht –, läuft allerdings völlig aus dem Ruder, nachdem nach der Verschleppung des Schweinebarons in den Medien ein öffentlicher Vermisstenaufruf ausgestrahlt wird, der dessen Diabetes-Krankheit und Abhängigkeit von medizinischer Versorgung publik macht. Durch dieses Heraufbeschwören einer lebensbedrohlichen Situation wirft der Film zwar einerseits die Frage nach den Grenzen des moralisch Vertretbaren eines veganen Aktivismus auf, um die ›Mehrheitsgesellschaft‹ auf eine wichtige Botschaft aufmerksam zu machen. Andererseits wird aber gleichzeitig deutlich suggeriert, dass die Insulin-Insuffizienz des Entführungsopfers mit dessen ungesunder Lebensführung zusammenhängt und Fleischkonsum letztlich pathologische Konsequenzen hat. Der Film schildert folglich einen ›Kampf der Esskulturen‹ aus einer veganen Perspektive und verfolgt dabei ganz plakativ eine Poetik der Aufklärung. Er will im Modus der Unterhaltung geradezu überdeutlich seine moralische Botschaft transportieren. Dies gelingt ihm aufgrund der (Über-)Zeichnung der Figuren und der vermeintlichen Sympathielenkung des Zuschauers jedoch nicht besonders überzeugend, da die filmische Inszenierung undifferenziert anmutet und sich einem komplexitätsreduzierten gut/böse-Schema verschreibt. Durch den auf diese Weise ausgestellten moralischen Rigorismus werden bestehende ideologische Gräben eher vertieft denn eingeebnet und der Film verspielt die Chance auf ein konstruktives Dialogangebot mit den nicht-veganen Rezipienten. 24
Los Veganeros (D 2015), 00:48,12-00:50,18.
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3.2
Christine Lehmann: Allesfresser (2016)
Der Roman Allesfresser ist Teil einer Krimireihe, die einerseits in der Tradition der Regionalkrimis steht (alle Fälle spielen im Stuttgarter Raum), andererseits aber stets überregionale und gesamtgesellschaftlich relevante Themen verhandelt. Das mag nicht zuletzt daran liegen, dass die Autorin und promovierte Literaturwissenschaftlerin Christine Lehmann selbst parteipolitisch aktiv ist und u.a. für die Grünen im Stuttgarter Stadtrat sitzt. Protagonistin des Romans ist die Journalistin Lisa Nerz, die gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten, dem Oberstaatsanwalt Richard Weber, den grausamen Mord an einem Fernsehkoch aufklären soll, dessen Fleisch fachmännisch zerlegt, vakuumiert und etikettiert in den Handel gebracht worden ist. Hinweise wie ein Internet-Blog, der das Verbrechen ankündigt, führen schnell in die Stuttgarter Veganer-Szene, in der sich Lisa fortan quasi undercover bewegt und entscheidend dazu beiträgt, den Täter schließlich zu überführen. So einfach gestrickt, wie es auf den ersten Blick anmutet, ist der Roman aber nicht. Vielmehr greift er eine Reihe komplexer Diskurse auf, die allesamt mit dem Veganismus-Dispositiv und der Frage nach dem idealen Lebensstil zusammenhängen. Dabei geht der Roman bewusst polyperspektivisch vor, so dass die unterschiedlichen Standpunkte möglichst gleichberechtigt zur Sprache kommen. Hierfür sind verschiedene Erzählebenen in den Text eingezogen, angefangen vom Internet-Blog einer Veganerin über das eigentliche Handlungsgeschehen bis hin zu immer wieder eingestreuten kritischen Reflexionen von Lisa und ihrem Lebensgefährten Richard. Auf diese Weise will der Text vor allem drei Diskursfelder möglichst umfassend ausleuchten: Erstens steht der ernährungsphysiologische Diskurs und die unterschiedliche Beurteilung gesundheitlicher Vor- und Nachteile veganer Ernährung aus der Perspektive der veganen Community und der Fleischesser gleichermaßen im Fokus, indem beide Argumentationen ohne vermittelnde Erzählinstanz einander direkt gegenübergestellt werden.25 Zweitens wird das Pro und Contra ›vegan‹ im Hinblick auf den ethischen Diskurs verhandelt, wie beispielsweise ein retrospektiv wiedergegebenes Streitgespräch zwischen der Internet-Bloggerin und deren Vater belegt:
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Vgl. hierzu Lehmann, Christine: Allesfresser, Hamburg: Argument 2016, exemplarisch S. 7f., 15f.
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»In einer speziesistischen Gesellschaft«, erklärte ich [die Veganbloggerin, A.B.], »müssen Millionen Lebewesen leiden und sterben, nur weil sie einer anderen Spezies angehören als das menschliche Tier.« »Das ist kein menschliches Alleinstellungsmerkmal«, sagte mein Vater, »deine lieben Tiere trennen auch zwischen Spezies, nämlich denen, die man frisst, und denen, die man nicht frisst. Ein Gnu stirbt qualvoll, wenn der Löwe es gepackt hat. Löwen beißen ihm nämlich in die Kehle oder ins Maul und drücken ihm die Luft ab, bis es erstickt. Der Mensch gehört zu den Raubtieren, und sogar zu den schlimmsten, das will ich dir konzedieren. Vom Tier unterscheidet uns die Ethik. Wir legen fest, was gut und böse ist. Und wir sind fähig zum Mitleid, zum Beispiel mit Tieren.« »Darum kann ich es vor meinem Gewissen nicht mehr rechtfertigen«, sagte ich, »dass andere Lebewesen für mich leiden müssen, wenn ich es vermeiden kann.« Er lachte sein sadistisches Pädagogenlachen. »Dann verzichte doch zuallererst mal auf dein Handy und deinen Laptop. In den kongolesischen Minen sterben die Arbeiter für Tantal. Mit dem Geld werden Kriege finanziert. An einem durchschnittlichen Handy klebt mehr Blut als an einem Steak. Und nicht zu vergessen das Kupfer. Du dürftest kein Licht anmachen, keine Uhr tragen. Bei der Herstellung von Kupfer verwendet man nämlich Knochenleim als Inhibitor.«26 Drittens bilden auch damit unmittelbar in Zusammenhang stehende rechtsphilosophische Debatten einen Kernbestandteil des Textes. Diese Metareflexionen finden immer zwischen Lisa und Richard statt und werfen letztlich die zentralen Fragen des Textes auf, z.B. die nach den Folgen eines konsequenten Weiterdenkens des Speziesismus: »Jetzt hat aber ein Gericht in Argentinien Sandra das Recht zugesprochen, in Freiheit zu leben. Sandra ist ein Orang-Utan, der bisher in einem Tierpark leben musste. Jetzt darf sie ihren Lebensabend in einem Naturpark in Brasilien verbringen.« […] »Die Tierrechtsanwälte haben es mit einer Habeas-Corpus-Klage gemacht. Das ist britisch-amerikanisches Recht. Niemand darf ungerechtfertigterweise gefangen gehalten werden.« »Also haben sie dem Affen tatsächlich ein Menschenrecht zugestanden.« »[…] Es ist ein einigermaßen sensationelles Urteil, das vielen Menschenaffen in Argentinien die Freiheit bescheren dürfte.« »Ist doch gut.« »Bis man den Pferden Menschenrechte zugesteht und die Kinder ihre Hunde und 26
C. Lehmann: Allesfresser, S. 24.
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Hamster freilassen müssen.« »Irgendwo muss man anfangen.« »Aber was macht das mit den Menschenrechten, Lisa? Aus gutem Grund unterscheiden sie sich von den doch eigentlich ziemlich brutalen und keineswegs gerechten Naturgesetzen. Sie sind geradezu ein Gegenentwurf dazu. Jetzt geben wir dem Wolf in Deutschland das Recht, unbehelligt zu leben. Doch wird er im Gegenzug unsere Regeln zum Eigentum und körperlicher Unversehrtheit respektieren und keine Schafe reißen und niemals einen Menschen angreifen?« »Unser Recht ist eben scheiße! Es ist nur auf den Schutz von Besitz ausgerichtet. Das kritisieren wir [Veganer] doch gerade.« […] »Also gut, Lisa. Dann frage ich dich: Was würde der Hamster sagen, dem du seinen Kornvorrat wegnimmst, oder das Eichhörnchen, das für den Winter Haselnüsse vergräbt? Ihr esst doch deshalb keinen Honig, weil ihr den Bienen das Ergebnis eines Sommers Arbeit nicht wegnehmen wollt. Oder? […] Aus meinem Rechtsverständnis heraus […] kann es nicht sein, dass etwa wir Menschen den Besitz von Tieren respektieren, sie dies aber im Gegensatz nicht mit unserem tun. Es stellt sich die Frage, wie setzen wir gegenüber Ratten oder dem Wolf unser Recht durch?« »Tun wir doch permanent, wir stellen Fallen auf, streuen Gift, erschießen den Wolf.« »Aus gutem Grund, Lisa.« »Aber es ist doch völlig willkürlich, dass wir unseren Besitz für schützenswerter halten als den von Tieren.« »Stimmt. Wir ziehen eine Grenze zwischen uns, die wir Gesetze schreiben können, die den Schwächeren schützen, und den Tieren, die das nicht können und auch keine Ethik entwickeln.« »Es ist doch gut, wenn der Orang-Utan nicht mehr im engen Käfig leben muss.« »Kann ja sein. Aber wo ziehen wir die Grenze, nachdem wir die zwischen Mensch und Menschenaffe aufgehoben haben? Zwischen Primaten und niederen Affen? Oder zwischen Affen und Pferden? Zwischen Säugetieren und Reptilien? Oder wie ihr […] zwischen Tieren und Pflanzen? Warum eigentlich?« »Veganer ziehen die Grenze zwischen allem, was ein Gesicht und eine Mutter hat, und den Pflanzen, Pilzen, Bakterien und Viren.« »Und das ist keine Willkür?«27 Es ist alles andere als Zufall, dass diese paradigmatische Passage des Textes mit einem Fragezeichen und damit einer Aufforderung zur Reflexion über den eigenen Standpunkt endet. Schließlich ist das Fragezeichen das bestimmende Satzzeichen des Romans, der sich – wie anhand dieser Textstelle besonders deutlich wird – bemüht, keine vereinfachenden und vorschnellen
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C. Lehmann: Allesfresser, S. 74-77.
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Antworten zu geben, sondern die Gemengelage in all ihrer Komplexität und letztlichen Aporie aufzuzeigen, weshalb er signifikanterweise auch mit einer Frage endet: »Was ist nur aus der Welt geworden, dass wir uns so sehr vor unserem Essen fürchten müssen?«28 Der Text kann dementsprechend einer Poetik der Aushandlung zugerechnet werden. Es geht ihm weniger um eine Apologie oder Abqualifizierung des Veganismus, sondern vielmehr um eine deskriptive Darstellung und ein differenziertes Abwägen sämtlicher Argumente sowie um ein Referieren der jeweiligen Begründungszusammenhänge. Eine abschließende Urteilsbildung wird dem Leser überantwortet, der durch die zahlreichen Fragen, die vom Text aufgeworfen und letztlich an ihn weitergegeben werden, aufgerufen ist, eine Haltung einzunehmen und sich im Diskurs zu positionieren. Und auch, dass der Mörder letztlich zwar nicht der Gärtner, aber immerhin der Veganer ist, ändert an diesem differenzierten Vorgehen nichts, denn der Mörder fungiert in diesem Roman gerade nicht als typischer Stellvertreter seiner Gruppe, die durch solch eine Tat ihre Maxime der Gewaltfreiheit radikal konterkarieren und ihre Glaubwürdigkeit einbüßen würde, sondern wird als psychopathologisch gestörtes Individuum lesbar, das von seiner Lebenswelt überfordert ist. Nicht zuletzt durch diese Erzählanlage wird somit deutlich, dass der Text weniger ein reißerischer Krimi als vielmehr ein durchaus tiefgründig angelegter Gesellschaftsroman ist.
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Fritz Hendrick Melle: Wurst (2018)
Mit nicht nur einer, sondern gleich einer ganzen Reihe von Menschenschlachtungen ist der Leser von Fritz Hendrick Melles Thriller Wurst konfrontiert. Die Schlächter sind in diesem Fall allerdings nicht die Veganer, sondern die Fleischesser, die im Berlin der Gegenwart eine konservative Gegenrevolution anzetteln. Das Veganismus-Dispositiv dient hier mithin als Folie, von der ausgehend der aktuelle Rechtsruck der Gesellschaft durchdekliniert wird und die dafür verantwortlichen Strukturen offengelegt werden. Schließlich, so die Ausgangsthese, hat im hippen, weltoffenen und globalisierten Berlin von Kreuzkölln, Mitte und Co. längst eine Umkehrung stattgefunden, wonach der Veganismus-Lifestyle, der letztlich aber auch nichts mehr als ein oberflächliches Label ohne utopisches Potenzial ist, den aktuellen Mainstream repräsentiert: 28
C. Lehmann: Allesfresser, S. 252.
Besseresser?
Samstag, kurz nach elf, der Markt ist voll wie ein Flüchtlingsboot. Alle sind beseelt vom protestantischen Gesundheitswahn in seiner Luxusausführung; regionale Erde fressen, Ziegenhaare im Käse, veganer Tee: Wir tun was! Dazwischen Flugmango und argentinischer Öko-Hokkaido; der ganze Markt ist Manufactum 3D.29 Dementsprechend verkörpern die dortigen Wurstbuden und ihre Kunden, die zunächst als »der Bodensatz des Marktes – die Plastiktütenfraktion, die Plauzenträger, die maulige Opposition zu den Tofufeministinnen«30 charakterisiert werden, in diesem Kosmos den neuen alternativen Lebensentwurf, denn »[w]enn alles Tofu und vegan ist, dann wird Wurst die Alternative. Menschen sind immer auf der Suche nach einer Alternative. Wenn die Mehrheit weiß, dass die Erde eine Kugel ist, beginnt eine Minderheit daran zu glauben, die Erde sei flach und ihr Rand würde von der CIA bewacht.«31 Der Protagonist des Romans, der mittelalte und mittelabgehalfterte Werbeprofi Frederic Baecker32 , aus dessen Perspektive auch erzählt wird, nutzt diese anthropologisch bedingte dialektische Dynamik und tritt gemeinsam mit einem passionierten Metzger an, der Wurst und damit auch der ›deutschen Seele‹ wieder zu altem Glanz und Ruhm zu verhelfen – und das mit überwältigendem Erfolg, da das vom Werbefachmann ersonnene Konzept von Qualität und Regionalität, versehen mit einer Prise Event-Charakter, bei allen Zielgruppen voll aufgeht. Dieser Erfolg hat allerdings eine düstere Kehrseite, denn die Werbestrategie von »Alternative Kommando Wurst« spielt visuell – die Firmenfarben sind rot-weiß-schwarz – und sprachlich perfide auf der nationalistischen Klaviatur: Wir haben uns in Deutschland in den letzten Jahrzehnten jedem fremden Trend unterworfen, um uns selbst aus dem Weg zu gehen, das Eigene nicht schmecken zu müssen, jedenfalls offiziell nicht – und so ist die Küche; zu
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Melle, Fritz Hendrick: Wurst. Roman, Berlin: Schwarzkopf & Schwarzkopf 2018, S. 30. F.H. Melle: Wurst, S. 31. F.H. Melle: Wurst, S. 34. Diese Namensgebung stellt eine intertextuelle Referenz zu dem französischen Autor Frédéric Beigbeder her, der bis zur Publikation seines Erfolgsromans 99 francs im Jahr 2000 in einer großen Werbeagentur angestellt war. Sein kontrovers rezipierter Roman gilt als groß angelegte Abrechnung mit der Werbebranche und eine Offenlegung ihres manipulativen Potenzials sowie ihrer desillusionierten und moralisch indifferenten Protagonisten.
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Hause blieb alles beim Alten, Sauerkraut und Roulade, aber in der Öffentlichkeit ist alles gut, was nicht aus Deutschland kommt; jeder versucht, der bessere Italiener, Franzose oder Thai zu sein; der Vormarsch des Döners ist nicht mehr als fehlende Selbstachtung am Spieß; die Wurst von armen Schweinen, die nie mit der Nase im Dreck gewühlt haben, ist der Bodensatz des Selbsthasses, in Plastikdärme gepresst. Aber Wurst verlangt Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit, Würde! Alternative Kommando Wurst ist der Anfang eines neuen Selbstbewusstseins – die Welt will deutsche Wurst! Die Amis haben uns die Computer genommen, die Chinesen die Mobilität – die Wurst dürfen wir uns nicht nehmen lassen! Der Zeitgeist dreht Richtung Heimat […]. Außer bei den Veganern natürlich, die haben keine Heimat. Die Veganer zerstören die Welt, da müsst ihr aufpassen!33 Über dieses Aufrufen nationalistischen Gedankenguts hinaus gewinnen im Text allerdings auch die von »AKW« beschworenen archaischen Triebe zunehmend überhand. So wird eine wachsende Zahl junger Menschen bei ausführlich geschilderten, pornographisch anmutenden Liebesorgien von Baecker und seiner Freundin Lise ermordet, anschließend von deren Geschäftspartner Meester zu Wurstwaren verarbeitet und schlussendlich verzehrt. Unverkennbar ist hier ein intertextueller Bezug zu Bret Easton Ellis’ Kult-Roman American Psycho und die Serienmorde des Patrick Bateman in der New Yorker Yuppie-Szene der 1980er Jahre angelegt,34 denn auch Wurst entwickelt sich im Lauf der Handlung immer mehr zu einem gnadenlosen Rundumschlag gegen die postmodern-warenförmige Gesellschaft. So ist dem Roman mit dem Motto ›Um Dinge zu haben, die andere nicht haben, müssen Sie Dinge tun, die andere nicht tun‹35 nicht zufällig ein Paratext des populären Kapitalisten und Finanzunternehmers Carsten Maschmeyer vorangestellt. Zudem wird dieses Motto im Roman auf perfide Weise umgesetzt und erscheint in Form einer ökonomischen Erfolgsstory als letzte verbliebene realisierbare, jedoch jenseits aller humanitären Ideale angesiedelte Sinnstiftung inmitten einer materialistischen Gegenwartskultur nach den Utopien,
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F.H. Melle: Wurst, S. 92f. Ellis, Bret Easton: American Psycho, New York: Vintage Books 1991. Eine analytische Betrachtung der Serienmorde ist einzusehen bei Kretzschmar, Dirk: »Töten in Bret Easton Ellis’ Roman American Psycho. Eine medientheoretische Betrachtung«, in: Bidmon, Agnes/Emmert, Claudia (Hg.), Töten. Ein Diskurs, Heidelberg/Berlin: Kehrer 2012, S. 324-337. F.H. Melle: Wurst, o.P.
Besseresser?
die von überheblichen und oberflächlichen Trend- und Lifestyle-Ideologien sowie dem Rückfall in archaische Strukturen geprägt ist, wenn es so weit kommen kann, dass Ernährungskonzepte die neuen Religionen verkörpern, deren Göttern man entweder Tofu oder eben Fleisch opfert. Ähnlich wie bei American Psycho handelt es sich auch bei Wurst somit um eine ins Extreme getriebene, satirisch überspitzte Gesellschaftsdiagnose, der viele hellsichtige Beobachtungen zugrunde liegen. Und so lässt sich Wurst letztlich als Poetik der Abrechnung bezeichnen, und zwar einer einzigen dystopischen Abrechnung mit sämtlichen Ideologien und Lebensentwürfen der Gegenwart. Gleichzeitig bietet der Roman damit auch Einblicke in die Manipulationsfähigkeit des Menschen durch Werbung und Propaganda, worüber der empirische Autor Melle, der in den 1990er Jahren selbst eine äußerst erfolgreiche Werbeagentur geleitet hat, seine Erzählinstanz vieles aus erster Hand berichten zu lassen weiß.
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Fazit
Der Diskurs über den Veganismus, so lässt sich zusammenfassend konstatieren, gewinnt in der Medienlandschaft der jüngsten Vergangenheit immer mehr an Prominenz und wird zunehmend zu einem relevanten Verhandlungsgegenstand populärkultureller Erzeugnisse. Zwar steht dabei in Form von Dokumentarfilmen und Sachbüchern, mit deren Hilfe das vegane Narrativ in das öffentliche Bewusstsein eingespeist und ein Prozess des Umdenkens in Gang gesetzt werden soll, nach wie vor die Faktenorientierung im Vordergrund. Allerdings zeigen vor allem Texte wie Allesfresser oder Wurst, dass sich auch die fiktionale Erzählliteratur zunehmend mit dieser derzeit noch alternativen Lebensform und ihren Glücksversprechen auseinandersetzt. Dabei geben die untersuchten Erzähltext – im Unterschied zum Spielfilm, der eine eindeutige pro-vegane Position bezieht – keine klare Antwort darauf, ob die Glücksversprechen, die der Veganismus als sinnstiftender Lebensentwurf skizziert, aufgehen können. So wird einerseits die Frage formuliert, ob die Utopie einer anti-speziezistischen Lebensweise in Lebenswirklichkeit überführt werden kann, und andererseits, ob es sich beim Veganismus überhaupt noch um eine klassische Utopie oder nicht viel mehr um ein ebenso profitables wie substanzloses Lifestyle-Label handelt. Fest steht lediglich, dass der Veganismus als Bestandteil des Panoramas einer ausdifferenzierten und fragmentierten Gegenwartsgesellschaft skizziert wird, die Gefahr läuft, sich auf-
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grund ihrer inkommensurablen Ansprüche selbst zu überholen oder, um im Bild zu bleiben: selbst zu verzehren.
Geistheilung Das neoschamanistische Versprechen und seine narrativen und diskursiven Inszenierungen Mathis Lessau Als wir uns der mit Efeu bewachsenen, aus grauem Gestein bestehenden Ruine näherten, hörten wir Klopflaute hinter dem Mauerwerk. »Das klingt wie ein Geist«, sagte ich zu Merlin, einem alten Freund aus Oregon. Wir zwängten uns durch ein Loch in dem Gemäuer. Da sahen wir es: jemand hatte dort im Boden gegraben und eine Plastikplane über das Loch gelegt, darauf tropfte es. Also kein Geist! In einer Ecke lag eine schmutzige Plastiktüte.1
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Das Glück des Erkennens
Der Neoschamanismus ist häufig mit einem Versprechen verbunden: Dem Versprechen nach Heilung. Heilung wird hier aber nicht nur in einem rein körperlichen Sinne verstanden, als Wiederherstellung der Gesundheit, sondern in einem umfassenderen, spirituellen Sinne, als heilsame Erkenntnis einer geistigen Wirklichkeit und ihres Einflusses auf das eigene Selbst. Die spirituelle Erfahrung, die der Neoschamanismus verspricht, soll ein »Heil-Sein« ermöglichen, das »mehr als Gesund-Sein [ist] und auch etwas anderes als ein-
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Storl, Wolf-Dieter: Ich bin ein Teil des Waldes, Stuttgart: Kosmos 2003, S. 274.
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fach Glücklich-Sein.«2 Es gehe nicht um das ›einfache‹ Glück eines körperlichen und geistigen Wohlbefindens, sondern um die ›tiefe‹ und existentielle Erfahrung einer Lebensrealität, in welche das Ich als Teil eines Ganzen eingebettet sei. Das Glücksversprechen der neoschamanistischen Heilung ist also im Wesentlichen ein Glück der Erkenntnis, das Gefühl »glücklichen Erkennens«.3 Verbunden mit diesem glücklichen Erkennen ist eine entschiedene metaphysische Setzung: »Es gibt eine ›wirkliche‹ respektive ›wahre‹ Wirklichkeit, die echter und grundlegender ist als die gewöhnliche Alltagswirklichkeit. Der Schamane [und mit ihm im Neoschamanismus auch die Laien einer schamanischen Grundausbildung und die Klienten der Geistheiler] hat Zugang zu ihr«.4 Wieso die Einsicht in eine schamanische Wirklichkeit zu einem Glücksversprechen werden kann, steht auf einem anderen Blatt. Einen wirkmächtigen Erklärungsansatz hat 1987 Hartmut Zinser vorgelegt, indem er die Hypothese formuliert, dass die Wiederkehr des Schamanismus in Europa vor allem ein Phänomen der Moderne sei und ein »Leiden an der Normalität« indiziere:5 Dieser Schamanismus tritt vor allem mit dem Versprechen an, den Alltag, das Gewöhnliche, die Banalität zu überschreiten: Die Beziehungslosigkeit zwischen den Menschen, die Entleertheit unseres Lebens von Sinn und vor allem die Versachlichung und damit Entpersonalisierung aller Beziehungen zwischen den Menschen, die die Menschen selber allzu häufig zu Sachen und Dingen werden läßt, zu überwinden.6
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Renz, Monika: »Spiritualität und die Frage nach dem, was heilt. Wesen Wirkungen, Inhalte spiritueller Erfahrung«, in: Peter Heusser (Hg.), Spiritualität in der modernen Medizin (= Komplementäre Medizin im interdisziplinären Diskurs 10), Bern [u.a.]: Lang 2006, S. 35-48, hier: S. 37. Renz spricht in ihrem Aufsatz ganz allgemein von »spirituellen Erfahrungen« und bezieht sich nicht explizit auf den Schamanismus. Goodman, Felicitas D.: Wo die Geister auf den Winden reiten. Trancereisen und ekstatische Erlebnisse, Haarlem: Binkey Kok 2007, S. 9. Barve, Karin: Neo-Schamanismus. Heilkunst oder Scharlatanerie? Über die sozialen und psychischen Wirkungslogiken neo-schamanischer Heilrituale, Hamburg: Dr. Kovač 2013, S. 195. Zinser, Hartmut: »Schamanismus im ›New Age‹. Zur Wiederkehr schamanistischer Praktiken und Seancen in Europa«, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 39. 4 (1987), S. 319-327, hier: S. 323. H. Zinser: »Schamanismus im ›New Age‹«, S. 325.
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In eine ähnliche Kerbe schlägt Peter Berger, wenn er feststellt, dass die »relativistischen und relativierenden« Perspektiven der Moderne »Ängste und Spannungen« erzeugten und daher eine Sehnsucht nach neuen ›Orthodoxien‹ hervorriefen: »Die Ungewißheiten der Moderne sind bedrückend; von ihnen befreit zu werden, ist ein großes Glücksgefühl.«7 Schon 1940 hatte der Religionsphilosoph und Bestsellerautor Alan Watts, der besonders durch seine Popularisierungen östlicher Philosophie im Zuge der ›New Age-Bewegung‹ bekannt geworden ist, propagiert, dass alles Unglück des Menschen aufgrund des Eindrucks der Isoliertheit entstehe, dem Gefühl, von einem sinnhaften Ganzen des Lebens abgetrennt zu sein: »Andererseits ergibt sich das Glücksgefühl – im Sinne von Harmonie, Vollständigkeit, Ganzheit – aus der Einsicht, daß das Gefühl des Abgetrenntseins eine Illusion ist.«8 Auch die Klienten der neoschamanistischen Geistheiler werden häufig von dieser Sehnsucht nach einer Einheitserfahrung, einem »Wunsch nach Ganzheitlichem« angetrieben.9 Legionen von Erfahrungsberichten neoschamanistischer Séancen legitimieren diesen Wunsch und legen Zeugnis davon ab, dass dieser Sehnsuchtsort real ist. Spirituell interessierte Heilsuchende, die von der Frage bewegt sind, »ob das auch wirklich sei«,10 können durch die vielen narrativen Darstellungen schamanischer Erfahrung darin bestärkt werden, dass sich ihre Suche lohnt und dass schamanische Reisen de facto Einblick in eine wirksame geistige Realität geben. Im Folgenden soll ein näherer Blick darauf geworfen werden, auf welche Art und Weise eine solche Plausibilisierungsarbeit geleistet wird, indem das Augenmerk auf einige häufig wiederkehrende narrative und diskursive Überzeugungsstrategien neoschamanischer Erfahrungsberichte gerichtet wird. Zunächst jedoch soll für eine bessere Einordenbarkeit ein kurzer Überblick über die neoschamanistische Bewegung und ihre Gründungsfiguren gegeben werden.
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Berger, Peter L.: Sehnsucht nach Sinn. Glauben in einer Zeit der Leichtgläubigkeit, Frankfurt a.M./New York: Campus 1995, S. 24f. Watts, Alan: Die sanfte Befreiung. Moderne Psychologie und östliche Weisheit, München: Goldmann 1985, S. 10. Moos, Ute: »Die Klienten der Geistheiler – Traditionen, Wege, Ziele«, in: Andreas J. Obrecht (Hg.): Die Klienten der Geistheiler. Vom anderen Umgang mit Krankheit, Krise, Schmerz und Tod, Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2000, S. 79-153, hier: S. 93. Obrecht, Andreas J.: »Lebensgeschichten von Klienten – drei Fallbeispiele«, in: Andreas J. Obrecht (Hg.): Die Klienten der Geistheiler. Vom anderen Umgang mit Krankheit, Krise, Schmerz und Tod, Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2000, S. 19-79, hier: S. 38.
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Der Neoschamanismus
Unter ›Neoschamanismus‹ soll hier der moderne westliche Schamanismus verstanden werden, der seit den 1960er Jahren in Anlehnung an die Werke von Carlos Castaneda und Michael Harner in den USA und in Europa entstanden ist. Besonders Michael Harners aus vergleichenden ›Feldforschungen‹ entstandene Darstellung eines sogenannten »Core-Shamanism« als Schnittmenge verschiedener schamanischer Praktiken und Zusammenführung ihrer wesentlichen Gemeinsamkeiten, konnte schamanische Praktiken für ein breites westliches Publikum zugänglich machen.11 Dieser Zugang wurde sozusagen institutionalisiert, als Harner 1979 die Foundation for Shamanic Studies gründete, eine Organisation, die sich dezidiert der Verbreitung seines universalen Schamanismus-Konzepts widmet und Basiskurse zur eigenen schamanischen Ermächtigung anbietet. Beinahe alle neueren Darstellungen schamanischen Heilens, die mir bekannt sind, beziehen sich direkt auf die ›HarnerMethode‹ der Foundation for Shamanic Studies.12 Die Grundannahme des Neoschamanismus besagt, dass es neben der alltäglichen Wirklichkeit eine geistige Wirklichkeit (meist aufgespalten in eine untere und eine obere Welt) gibt und dass der Mensch diese mittels bewusstseinsverändernder Techniken bereisen könne: Core-Schamanismus beruht auf der expliziten Anerkennung der Realität von Geistern sowie der Existenz zweier Wirklichkeiten, der alltäglichen und der nicht-alltäglichen. In Letztere tritt man mittels Veränderung des Bewusstseinszustandes ein; es ist dort, wo der Kontakt mit den Geistern zur Gänze möglich wird.13
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Vgl. Harner, Michael: The Way of the Shaman. A Guide to Power and Healing, San Francisco [u.a.]: Harper & Row 1980. Der Versuch, den indigenen Schamanismus zu generalisieren und auf wesentliche Gemeinsamkeiten zu reduzieren, geht auf Mircea Eliade zurück, dessen Bedeutung »für die heute im Bereich des Neo-Schamanismus anzutreffenden Positionen von geradezu überragender Bedeutung [ist.]« Vgl.: von Stuckrad, Kocku: Schamanismus und Esoterik. Kultur- und wissenschaftsgeschichtliche Betrachtungen (= Gnostica 4), Leuven: Peeters 2004, S. 123. In Bezug auf die herausragende Rolle der FSS für den Neoschamanismus vgl. ebenfalls K. von Stuckrad: Schamanismus und Esoterik, S. 159ff. https://www.shamanicstudies.net/was-ist-core-schamanismus/ (letzter Aufruf 04.08. 2020).
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In den Grundkursen zum Core-Shamanismus wird gelehrt, wie man in die geistige Unter- und Oberwelt gelangen kann und worauf man dabei achten sollte: In der Unterwelt solle man, so die gängige Darstellung der HarnerMethode, besonders nach Tieren oder Wesen Ausschau halten, die sich einem als persönliches Krafttier zu erkennen geben, und diese dann mit in die alltägliche Welt nehmen, in der oberen Welt solle der Kontakt mit einem geistigen ›Lehrer‹ oder einer ›Lehrerin‹ hergestellt werden, der oder die einem bei dem weiteren Heilungsweg helfen könne. Zur Grundausbildung des CoreShamanism gehört es nicht nur, im Sinne der eigenen Selbstverwirklichung schamanische Reisen anzutreten, sondern dies auch für andere Personen zu tun. Auf den Reisen können etwa verlorene Krafttiere oder Seelenteile wiedergefunden und zurückgebracht werden oder auch geistige Eindringlinge, welche den spirituellen Aspekt einer Krankheit darstellen, ausfindig gemacht und extrahiert werden. Eine exemplarische Beschreibung solch einer Extraktion wäre etwa folgende Beschreibung einer deutschen Schamanin, die eine Patientin von Bauchschmerzen befreit: Ich sah, dass ich etwas herausziehen konnte, das sich in Form einer Pflanze zeigte, die nicht in den Bauch gehörte. Es war eine dunkle, fleischige, nicht stachelige Pflanze, die vom Bild her mit ihren Wurzeln und der daran hängenden Erde in ihrem Bauch stak. Vorher hatte ich noch ein kleines Schwert zu entfernen und dann die Pflanze zu extrahieren. Als ich das machte, gab es in diesem Moment auch ziemlich deutliche Reaktionen vonseiten der Klientin, da sie das Entfernen der Pflanze mitsamt der Wurzeln sehr stark spürte. Anschließend wurde das solcherart entstandene energetische Loch mit einem Rubin verschlossen…14 Solch eine Extraktion muss sich aber nicht notwendigerweise auf einer rein geistigen Ebene abspielen, sie kann auch durchaus in eine handfeste Operation mit evidenten körperlichen Auswirkungen münden. So beschreibt etwa die schamanisch praktizierende Heilpraktikerin Monnica Hackl, wie sie auf einer ihrer ersten schamanischen Reisen in den Körper eines anderen geheime chirurgische Eingriffe vornahm. Diese Passage wird ausführlich wiedergegeben, da sie zu einem späteren Zeitpunkt, in dem es um die narrativen Rechtfertigungsstrategien der Erfahrungsberichte gehen wird, nochmals aufgegriffen wird. 14
Moos, Ute: Spirituelles Heilen. Der schamanische Weg zur Gesundheit, München: Heyne 1996, S. 209.
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Während ich mich auf die Reise in meinen Partner machte, wurde ich von einer Stelle im Inneren seiner Nase angezogen. Deutlich wie auf einem Röntgenbild konnte ich dort zwei Polypen sehen. […] Ich hatte meinen ›Befund‹, die Nasenpolypen, allerdings schnell festgestellt und langweilte mich, denn sonst konnte ich nichts Auffälliges mehr im Körper des jungen Mannes bemerken. Aufstehen war nicht erlaubt, und so kam mir die Idee, mir vorzustellen, wie ich die Polypen entfernen würde. Ich malte mir dabei eine nach allen medizinischen Regeln ausgeführte Operation aus, die Polypen wurden mit einer Drahtschlinge entfernt und die Wunde verätzt. Jede einzelne ›Operationsphase‹ beobachtete ich genau. Nachdem ich mit allem fertig war begutachtete ich noch einmal die Nase meines Nachbarn: Vor meinem geistigen Auge sah das Naseninnere jetzt gut aus und der Atem ging freier. […] Als ich der Gruppe schildern musste, was ich gesehen hatte, war der junge Mann ziemlich erstaunt, denn er hatte tatsächlich Polypen in der Nase, die ihm das Atmen bisweilen schwermachten. Wohlweislich hatte ich verschwiegen, dass ich ihm an seiner Nase herumgedoktert hatte. […] Doch einige Stunden später bekam er heftiges Nasenbluten, bei dem auch Klümpchen und Gewebeteile ausgeschieden wurden.15
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Bitte zwischen den Zeilen lesen
Es lohnt sich, noch einige Worte zu Carlos Castaneda, sozusagen der Gründungsfigur des westlichen modernen Schamanismus, zu verlieren, um die grundsätzliche erzählerische Rahmenstruktur vieler neoschamanistischer Erfahrungsberichte zu verdeutlichen. Castaneda entstammt, ähnlich wie Harner, welcher im Übrigen auch mit ihm befreundet war, dem akademischen Milieu.16 Er unternahm im Rahmen seines Anthropologie-Studiums an der University of California, Los Angeles zwischen 1959 und 1973 verschiedene Forschungsreisen u.a. nach Mexiko. Dort lernte er seinen Angaben nach einen Zauberer kennen, der gewillt war, ihn in die Geheimnisse eines Schamanen einzuweihen: Don Juan Matus. Castaneda gab die distanzierte wissenschaftliche Beschreibung auf, wurde dessen Lehrling und machte seine
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Hackl, Monnica: Schamanische Heilung. Therapie an der Wurzel von Krankheit und Trauma, München: Ansata 2012, S. 26. Ich beziehe mich im Folgenden hauptsächlich auf die konzise Darstellung in K. von Stuckrad: Schamanismus und Estoerik, S. 153ff.
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persönlichen Erlebnisberichte einer breiten Öffentlichkeit zugänglich. Sein erstes Buch, The Teachings of Don Juan, wurde trotz der unüblichen Erzählform als anthropologische Masterarbeit eingereicht und von der University of California Press verlegt, das dritte Buch: Journey to Ixtlan von derselben Universität sogar als Dissertationsschrift angenommen. Man betrachtete auch innerhalb der Anthropologie und Ethnologie, die literarisierenden Erlebnisberichte Castanedas als Versuch, einen authentischen Zugang zu einer fremden Kultur zu vermitteln, welcher westliche Betrachtungs- und Denkmaßstäbe überwinden könne. Castaneda bezeuge, so Walter Goldschmidt im Vorwort zu Den Lehren des Don Juan, »die wichtigste Fähigkeit der Ethnographie – die Fähigkeit, in eine fremde Welt einzudringen.«17 In der Folge wurde von manchen Ethnologen sogar ein neues Paradigma der Schamanenforschung ausgerufen: »Forschen durch Lernen, durch Selbstergriffenheit«.18 Das ethnologische Dilemma, dass man etwas Fremdes nur dann wirklich verstehen könne, wenn man es selbst erlebe, sofern man aber selbst erlebe, nicht mehr objektiv beschreiben könne, sollte durch eine konsequente Aufgabe der Trennung zwischen Beobachter und Objekt und eine betont subjektive und literarische Darstellungsweise überwunden werden. Behavioristische Außenbetrachtung und bloße Verhaltensbeschreibung bestimmen unsere Kenntnis schamanischer Welten. […] Den äußerlichen Ablauf einer Séance, eines Rituals schildert der Ethnograph mit großer Liebe zum Detail – was tatsächlich im Medium, Heiler oder Magier vorgeht, bleibt unerwähnt, wird leichtfertig mit Wortkaskaden übertüncht. […] Trennung von Forscher und Forschungsgegenstand […] erzeugt platten Behaviorismus und Objektivismus […]. Die neuen Forderungen lauten: rezeptive, passive, emphatische, nicht-aktive Selbsterfahrung.19 Der Forscher müsse, so lautet eine Forderung Holger Kalweits, selbst zum Schamanen werden.20
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Castaneda, Carlos: Die Lehren des Don Juan. Ein Yaqui-Weg des Wissens, Frankfurt a.M.: Fischer 1974, S. 9. Schenk, Amelie: Heilung des Wissens. Forscher erzählen von ihrer Begegnung mit dem Schamanen – der innere und der äussere Weg des Wissens, München: Goldmann 1987, S. 8. A. Schenk: Heilung des Wissens, S. 21f. Vgl. Kalweit, Holger: Traumzeit und innerer Raum, Bern [u.a.]: Scherz 1984, S. 248.
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Die Erlebnisberichte Castanedas stellten ein frühes und prominentes Beispiel dieser neuen Forderungen dar. Interessanterweise änderte sich selbst nicht viel an der weltweiten Begeisterung über Castanedas neue ethnografische Darstellungsform, als der Journalist und Psychologe Richard de Mille nachweisen konnte, dass es sich bei Don Juan höchstwahrscheinlich um einen fiktiven Charakter handelt und Castaneda keinesfalls mit der mexikanischen yaqui-Tradition vertraut sei, sondern die meisten Berichte wohl in der heimischen Bibliothek inspiriert durch verschiedene okkulte Literatur zusammenerfunden habe.21 Verteidiger von Castanedas Darstellungen konstatierten daraufhin, dass es gar nicht darauf ankomme, dass die Details der Beschreibung wahr seien, sofern durch sie auf eine grundsätzliche Weise etwas zuvor Fremdes und Neues der westlichen Welt verständlich gemacht werden könne: The books of Carlos Castaneda, regardless of the questions that have been raised regarding their degree of fictionalization, have performed the valuable service of introducing many Westerners to the adventure and excitement of shamanism and to some of the legitimate principles involved.22 Castaneda selbst nahm diese Rechtfertigungsfigur gerne auf und betonte, wo er konnte, die Gemeinsamkeiten zwischen Ethnologe und Dichter. So etwa in der Lobrede auf das Buch seiner Mitarbeiterin Florinda Donner, Die Lehren der Hexe: Da ist zum einen die unglaubliche Fülle von Details in ihren Beschreibungen und Erzählungen. […] Der zweite Aspekt verweist in den Bereich der Kunst. Ich wage zu behaupten, daß ein Ethnologe zugleich auch ein Schriftsteller sein muß. Damit wir uns in die fremde Kultur, die er beschreibt, hineinversetzen können, muß er die Grenzen bloßer Sozialwissenschaft überschreiten; er muß ein Künstler sein.23 Nicht wenige Leser Castanedas haben seine Beschreibung der Ethnographie als künstlerisches Schaffen angenommen und begegnen seinen Werken mit einer Rezeptionshaltung, die eher für fiktionale als für faktuale Texte üblich
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Vgl. besonders: de Mille, Richard: Castaneda’s journey. The power and the allegory, Santa Barbara: Capra Press 1976; Ders.: The Don Juan papers. Further Castaneda controversies, Santa Barbara: Ross-Erikson Publications 1980. M. Harner: The Way of the Shaman, S. XVII. Donner-Grau, Florida: Die Lehren der Hexe, Wien [u.a.]: Zsolnay 1986, S. 5.
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ist, d.h. sie beziehen die textuellen Aussagen nicht unmittelbar auf die Wirklichkeit und messen sie an ihr (wie es für faktuale Texte üblich wäre), sondern fassen sie vielmehr als Einladung auf, sich imaginativ mit dem Dargestellten auseinanderzusetzen und sie als anschauliche Vergegenwärtigungen eines, im Sinne Goethes, ›grundwahren‹ Sachverhalts zu würdigen.24 Castanedas Darstellungen, obwohl von offizieller Seite als faktual legitimiert, konnten vielleicht deshalb mit einer fiktionalen Rezeptionshaltung aufgenommen werden, weil sie in eine Zeit fielen, in der ein Bedürfnis entstand, die Existenz einer sakralen Tradition anzuerkennen, welche als Gegenpol zu der entzauberten westlichen Welt fungieren konnte. Castaneda’s work can only be appreciated if you can ›read between the lines‹ […] all great works of spiritual import […] speak deeply to those who have EXPERIENCED a deeper journey and a deeper calling of Reality than simply the alignment or nonalignment of ›factual data‹.25 »He may be lying, but what he says is true«, fasst Charlotte Hardman diese häufige Verteidigungslinie Castanedas Schriften zusammen.26 Auch neuere neoschamanistische Darstellungen machen sich diese Interpretationshaltung des ›Zwischen-den-Zeilen-Lesens‹ als Immunisierungsstrategie zu Nutze, um den Erkenntnisgewinn der schamanischen Reisen zu beschreiben. Was erfahren wird, ist zweifelsfrei wahr, nur eben nicht auf solch eine tumbe Art und Weise wahr, dass man es unmittelbar mit der Wirklichkeit abgleichen könne. So schreibt z.B. August Thalhamer in seinem 2007 erschienenen Buch Der Heilungsweg des Schamanen, welches sich auch auf Harner und Castaneda bezieht:
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So die gängige Auffassung gemäß dem Institutionsmodell der Fiktionalität, welchem ich mich hier anschließe. Vgl. Köppe, Tilmann: »Die Institution Fiktionalität«, in: Tobias Klauk/Tilmann Köppe (Hg.), Fiktionalität. Ein interdisziplinäres Handbuch, Berlin: de Gruyter 2014, S. 35-49. Zum Erkenntniswert fiktionaler Literatur vgl. Lessau, Mathis: Selbstverstehen und Fremdverstehen. Diltheys Autobiographiekonzept als Grundlage der Geisteswissenschaft, Baden-Baden: Ergon 2019, S. 141-169. Drury, Nevill: The Elements of Shamanism, London: Element Books 1989, S. 87 (Hvg. i.O.). Hardman, Charlotte. »›He may be lying but what he says is true‹. The sacred tradition of don Juan as reported by Carlos Castaneda, anthropologist, trickster, guru, allegorist«, in: James R. Lewis/Olav Hammer (Hg.): The Invention of Sacred Tradition, Cambridge: University Press 2007, S. 38-55.
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In der schamanischen Tradition […] geht man davon aus, dass eben nicht eine subjektive Meinung geäußert wird, sondern dass die Erkenntnis aus einem universellen Pool der Weisheit geschöpft wird […]. Ich z.B. halte, was ich schreibe, für nicht so verlässlich. Zu den Erkenntnissen in Trance habe ich aber volles Vertrauen, das bisher nicht enttäuscht wurde. […] Meinen meist allegorischen Bildern vertraue ich voll und ganz, da sie immer wieder nachweisbar etwas Wesentliches vom Patienten ans Licht bringen. […] Diese Ausführungen bedeuten aber nicht, dass die Botschaften, die ja meistens analog ankommen, im Detail verlässlich sind. […] Die Details sind nicht verlässlich und ein Anfänger nimmt vielleicht alles für bare Münze. Der Erfahrene erkennt aber, dass etwas Wesentliches und Wirksames zu Tage getreten ist, das sich eben einer bestimmten Form bedient.27 Grundsätzlich soll den neoschamanistischen Erfahrungsberichten also mit einer fiktionalen Rezeptionshaltung begegnet werden, obwohl diese gleichzeitig als faktual gekennzeichnet sind. Innerhalb dieser erzählerischen Rahmung können weitere erzählerische Figuren als narrative Überzeugungsstrategien eingesetzt werden, von denen ich im Folgenden einige, besonders häufig wiederkehrende hervorheben möchte.
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Die Figur des Zweiflers und die Figur des Geständigen
Ein erzählerisches Mittel, das schon Castaneda gehäuft einsetzt, ist die Figur des Zweiflers. Erfahrungen von ›Zuständen nicht-alltäglicher Wirklichkeit‹ (wie Castaneda sie nennt) werden dadurch eingeleitet, dass die eigene Skepsis gegenüber dem später eintretenden Zustand betont, häufig auch eine grundsätzlich wissenschaftliche Geisteshaltung des Protagonisten hervorgehoben wird: Im Fall meiner Lehrzeit kümmerte sich Don Juan glücklicherweise überhaupt nicht darum, ob ich seine Behauptung als seriös akzeptieren konnte, und trotz meines Widerstands, meines Unglaubens und meiner Unfähigkeit, zu verstehen, was er sagte, erläuterte er seine Feststellungen immer wieder. […] Meine Schwierigkeiten, seine Begriffe und Methoden zu erfassen, rührten von der Tatsache her, daß die Einheiten seiner Beschreibung 27
Thalhamer, August: Der Heilungsweg des Schamanen im Lichte westlicher Psychotherapie und christlicher Überlieferung, Linz: edition pro mente 2007, S. 97 – 99.
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meinen eigenen fremd und mit ihnen unvereinbar waren. […] Jahrelang hatte ich die Vorstellung, ›die Welt anzuhalten‹, als kryptische Metapher aufgefaßt, die in Wirklichkeit nichts besagte.28 Durch die Betonung des eigenen Widerstrebens, Zustände nichtalltäglicher Wirklichkeit anzuerkennen, gewinnt die spätere Beschreibung ebensolcher Zustände an Plausibilität. Die Figur des Zweiflers versucht, mit erzählerischen Mitteln dem Verdacht vieler wissenschaftlich gesinnter Leser entgegenzuwirken, es handele sich bei den beschriebenen Visionen um eine komplexe Form der Autosuggestion. Seht her, vermittelt sie, der Protagonist ist selber ein kritischer Kopf und hält nichts von Zauberei – und trotzdem hat er diese außergewöhnliche Erfahrung gemacht. Sagt das nicht etwas über die Wirklichkeit dieser Erfahrung aus? Sehr deutlich wird die Funktion dieser narrativen Überzeugungsstrategie etwa in Margaret des Wys Beschreibung der ersten Begegnung mit der Geisterwelt in Ecstatic Healing. A Journey into the Shamanic World of Spirit Possession and Miraculous Medicine: Brad asked us to arrange ourselves in a circle. On one side of the circle was a makeshift altar. He turned to it and began moving rattles, stones and feathers. […] Woo-woo time, I thought. I’m not much of a group participant. I don’t do workshops. […] I saw in my companions a longing to believe in something transcendent. […] I didn’t believe I’d ever be able to follow any form of religion.29 Bereits der erste Satz des in der zweiten Auflage erschienenen Schamanische Heilung. Therapie an der Wurzel von Krankheit und Trauma beginnt mit überlegener Skepsis, welche später zunichte gemacht wird und somit den beschriebenen Ereignissen umso mehr Glaubwürdigkeit verleiht: Schamanen, das waren bei uns in Deutschland eine Zeitlang jene Leute, die mit großen Lederhüten, Stirnbändern, Türkisketten und zahlreichen Amuletten bestückt schon durch ihr Äußeres kundtaten: ›seht alle mal her, ich bin etwas Besonderes.‹ Nein, sie interessierten mich wirklich nicht […]. Als ich einmal zu einem Vortrag ging und während der gesamten Zeit eine junge Frau […] unaufhörlich vor sich hin trommelte und allen den Ratschlag
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Castaneda, Carlos: Reise nach Ixtlan. Die Lehre des Don Juan, Frankfurt a.M.: Fischer, 1975 S. 9. des Wys, Margaret: Ecstatic Healing. A Journey into the Shamanic World of Spirit Possession and Miraculous Medicine, Rochester [u.a.]: Inner Traditions 2013, S. 3.
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gab, sie doch einmal aufzusuchen, denn sie sei eine Schamanin, war das Maß voll. Das war mehr, als ich ertragen konnte, schließlich war ich gekommen, um den Vortrag zu hören.30 Der Figur des Zweiflers verwandt ist die Figur des Geständigen. Auch hier wird die erzählerische Darstellung von Reue und Scham als narrative Strategie eingesetzt, um dem Geständnis Glaubwürdigkeit zu verleihen. Was erzählt wird, so könnte man die Intention zusammenfassen, wird wohl stimmen, denn schließlich schämt sich der Protagonist auch sehr, es zu berichten und hätte es eigentlich lieber für sich behalten. Die Figur der Geständigen begegnet z.B. ebenfalls in Gestalt von Monnica Hackl, die, wir erinnern uns, bei ihrer ersten schamanischen Reise in den Körper eines anderen eine geheime Polypen-Operation vornahm, weswegen sie ein schlechtes Gewissen bekam: Die Lehrerin fing mich sofort ab und fragte, ob das irgendetwas mit meiner Reise zu tun haben könnte [das Nasenbluten]. Der Junge hätte nämlich den starken Verdacht, das Nasenbluten könne nur daher kommen. Ich muss gestehen, dass ich hier schwindelte und ganz unschuldig tat, so erschrocken war ich. In der Tat konnte ich es nicht glauben, dass meine geheime ›Operation‹ etwas mit der Bluterei zu tun haben könnte.31
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Diskursive Überzeugungsstrategien
Neben solch genuin narrativen Überzeugungsstrategien im Rahmen einer Ich-Erzählsitutation kommt es in den erklärenden Passagen der neoschamanistischen Literatur natürlich auch zu einer Fülle argumentativer Rechtfertigungsstrategien, von denen einige typische hervorgehoben seien: Da ist zum einen das omnipräsente ›Traditionsargument‹. Beinahe jeder mir bekannte neoschamanistische Text beginnt seine Darstellung mit dem Hinweis darauf, dass es sich beim Schamanismus um eines der ältesten Heilsysteme der Welt handelt und er daher einen Vertrauensvorschuss gegenüber jüngeren Heilmethoden verdiene. Beispielhaft heißt es etwa bei Harner: »the ancient methods of shamanism are already time-tested; in fact, they have been tested immeasurably longer, for example, than psychoanalysis and a variety of other psy-
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M. Hackl: Schamanische Heilung, S. 17. M. Hackl: Schamanische Heilung, S. 26.
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chotherapeutic techniques.«32 Das simple Argumentationsschema, das hier angewendet wird, lautet: ›X wurde lange Zeit so gemacht. Deshalb ist X wahr.‹ Das ist natürlich formal kein gültiger Schluss, wenngleich die Folgerung in einem alltäglichen Kontext auch häufig gezogen werden darf. Allerdings mag sie etwas verwundern, zumal es sich, wie ich eingangs dargestellt habe, beim Neoschamanismus Harnerscher Couleur nicht um eine tatsächliche traditionelle Heilkunde handelt, sondern um eine, angeblich aus vergleichenden Studien gewonnene, Konstruktion. Die schamanistische Methode, die Harner beschreibt, und auf welche sich beinahe alle neoschamanistischen Heilpraktiker beziehen, gibt es nicht als historisch verbürgte Praxis, sie soll eine Synthese weltweiter schamanistischer Heilpraktiken sein und ist als solche auch stark kritisiert worden: »Es geht in den neoschamanistischen Gruppen um romantische Projektionen und die europäische Sehnsucht nach der heilen Welt, nach der ›Ganzheitlichkeit‹ und einem irdischen Paradies. Mit der Wirklichkeit indianischen Lebens und Denkens haben diese Vorstellungen wenig zu tun«, kritisiert etwa Gabriele Lademann-Priemer.33 Das Traditionsargument bezieht sich also meist auf eine erfundene Tradition, die in den Augen vieler Ethnologen wenig mit einer tatsächlichen indigenen Praxis zu tun hat. Eine weitere argumentative Rechtfertigungsstrategie nimmt die Form eines Tu-Quoque-Arguments an. Dieses unternimmt den Versuch, die eigene Position durch einen Vergleich mit der als strukturell ähnlich dargestellten Position des Gegners zu rechtfertigen. Das ›Tu‹ bezöge sich in diesem Fall auf die etablierte Wissenschaft, das ›quoque‹ auf einen Makel, der ihr selbst inhärent ist und daher nicht dem Neoschamanismus zu Vorwurf gemacht werden könne: Selbst die viel gerühmte Objektivität in der Wissenschaft wurde unter anderem schon 1927 durch den Physiker Werner Heisenberg relativiert. Heisenbergs ›Unschärferelation‹ besagt, sehr einfach ausgedrückt, dass der Messende und das Gemessene, der Verifizierende und das Verifizierte nicht voneinander zu trennen sind, sodass von einer objektiven Messung und Verifikation nicht mehr ausgegangen werden kann – zumindest im Bereich
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M. Harner: The Way of the Shaman, S. XII. www.glaube-und-irrglaube.de/texte/schamanismus.pdf [S. 6] (zuletzt aufgerufen am 04.08.2020). Vgl. auch H. Zinser: Moderner Schamanismus, S. 325: »Ich hoffe nun, hinreichend einsichtig gemacht zu haben, daß der moderne Schamanismus mit dem sibirischen Schamanismus nur wenig gemeinsam hat.«
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der Quantenphysik. Wenn also schon seit einiger Zeit die ehernen Bastionen der Naturwissenschaften ins Wanken geraten sind, um wie vieles mehr trifft diese Relation auf die Kulturwissenschaften zu34 Y wirft uns X vor, Y trifft auf X selbst zu, deswegen sollte uns X auch nicht vorgeworfen werden, so ließe sich das Vorgehen schematisieren. Wenn selbst die exakteste der Naturwissenschaften nicht objektiv sein kann, wieso sollte man es dann von uns erwarten?35 Dabei wird meistens unterstellt, dass ›die Naturwissenschaftler‹ ihre Forschungsergebnisse insofern als ›objektiv‹ betrachten würden, als sie in einem absoluten Sinne wahr und unumstößlich seien und dass erst die neuere Physik mit dieser Vorstellung von Objektivität brechen habe können: Hören wir auf, die Wissenschaft als die Suche nach objektiver Wahrheit zu missverstehen. Gestehen wir uns ein, dass es ein nie aufhörender kreativer Prozess ist. Dazu brauchen wir Hypothesen, die wir prüfen können. […] Zu dieser schönen Hypothesenbildung in der Medizin sind die modernen Erkenntnisse der Physik wunderbar geeignet […].36 Selbstverständlich vertreten die wenigsten Naturwissenschaftler die These, dass ihre Ergebnisse in diesem Sinne ›objektiv wahr‹ seien. Es ist kaum strittig, dass jede wissenschaftliche Erkenntnis immer vorläufig ist, und durch neue Erkenntnisse abgelöst werden kann. Die Objektivität, die nichtsdestotrotz in den Naturwissenschaften eingefordert wird, ist eine der intersubjektiven Überprüfbarkeit. Eine wissenschaftliche Theorie ist dann objektiv, wenn sie unabhängig vom subjektiven Forscher, zu gleichen Ergebnissen führt. Das gilt auch für Heisenbergs berühmte Unschärferelation. Sie versucht objektiv, nämlich in Form einer mathematischen Relation, zu erfassen, wie genau man einen Zustand (innerhalb der Quantenmechanik) beschreiben kann, wenn man gleichzeitig einen anderen misst. Die Theorie besagt in der Tat, dass es 34 35
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U. Moos: Spirituelles Heilen, S. 21 Zur weiteren Legitimierung der These, dass es auch in der Wissenschaft keine Objektivität geben könne, wird gerne auch die Wissenschaftstheorie bemüht. Freilich wird diese dann vorwiegend auf die Positionen Kuhns und Feyerabends reduziert. Vgl. etwa Thalhamer, August: Für die Versöhnung neunen Wissens und alter Weisheit in der Seelenheilkunde. Streitschrift gegen die Reduktion des Menschen auf naturwissenschaftlich erfassbare Materie. Mit besonderer Berücksichtigung schamanischer Heiltradition, Steyr: Ennsthaler 2005, S. 55-82. Bösch, Jakob: Spirituelles Heilen und Schulmedizin. Eine Wissenschaft am Neuanfang, Bern: Lokwort 2002, 14.
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dabei notwendigerweise zu Unbestimmtheiten kommen muss, die nichts mit der Genauigkeit der Messung zu tun haben, aber gibt ein objektives Mittel an die Hand, diese zu errechnen. Verschiedene Forscher können die Heisenbergsche Unschärferelation anwenden, um die Ungenauigkeiten ihrer Messungen im atomaren Bereich zu bestimmen und kommen dabei ceteris paribus zu den gleichen Ergebnissen. Es ist kein Zufall, dass in dem von mir gewählten Beispiel auf Ergebnisse der ›neuen Physik‹, insbesondere der Quantenphysik und der Relativitätstheorie Bezug genommen wird, um unkonventionelle und kontraintuitive Heilpraktiken zu legitimieren. Gerade im Bereich der ›Geistheilung‹ kommen physikalische Theorien gelegen, die sich nicht mit Gegenständen aus unserer Alltagswelt beschäftigen und deren Ergebnisse deshalb auch häufig die Vorstellungskraft überschreiten: »Diese Mischung von Glaubwürdigkeit und Undurchschaubarkeit erscheint […] als der Nebelschleier, hinter dem zahlreiche Alternativmediziner ihre Argumente verbergen.«37 In diesen Fällen geht es dann nicht mehr darum, einen vorgeworfenen Makel wie fehlende Objektivität zurückzuspiegeln, sondern eher darum, die neuesten Erkenntnisse einer ehrfurchtsvoll anerkannten Wissenschaft auch für sich zu beanspruchen. Die Tu-Quoque-Argumentation wandelt sich sozusagen in eine ›Ego-QuoqueArgumentation‹, denn sie dient der Zementierung der eigenen Glaubwürdigkeit. Beispiele solcher Vereinnahmungen der (Quanten)Physik als Beleg für die ›Wissenschaftlichkeit‹ verschiedener Ausformungen der Geistheilung sind Legion: So wird etwa Einsteins Masse-Energie-Äquivalenz dazu benutzt, die These zu legitimieren, dass alle Materie eigentlich Energie sei,38 die quantenphysikalische Dekohärenz, um zu zeigen, dass der Geist Materie
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Lambeck, Martin: »Energie, Leben und Heilung«, in: Werner H. Ritter/Bernhard Wolf (Hg.): Heilung – Energie – Geist. Heilung zwischen Wissenschaft, Religion und Geschäft, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005, S. 106-126, hier: S. 106. Vgl. etwa: Villoldo, Alberto: Erleuchtung ist in uns. Der schamanische Weg zur Heilung, Goldmann, München 2010. Die Formel e=mc2 bedeutet nur, dass Materie an Masse dazugewinnt, wenn man ihr Energie hinzufügt, etwa ihre Geschwindigkeit erhöht.
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verändern könne,39 und die Quantenverschränkung, um die Vorstellung einer geistigen Parallelwelt oder eines Jenseits wissenschaftlich zu nobilitieren.40 Der Physiker Holm Gero Hümmler spricht in Bezug auf diese Vereinnahmungen von »relative[m] Quantenquark«.41 Ihnen ist meist gemeinsam, dass die besonderen Bedingungen übersehen werden, unter denen die Ergebnisse der Quantenphysik und Relativitätstheorie erzeugt werden: So gelten die Ergebnisse der Quantenphysik nur für Objekte, die vollständig von der Außenwelt isoliert sind (etwa ein einzelnes Teilchen innerhalb eines Moleküls) und, falls es sich um mehrere Teilchen handelt, eine Temperatur nahe am Nullpunkt aufweisen; für die Relativitätstheorie sind nur Objekte relevant, die sich relativ zu uns mit einer Geschwindigkeit von mehr als eine Million km/h bewegen oder eine größere Masse als ein typischer Komet aufweisen können.42 Werden also quantenphysikalische Phänomene auf unsere Alltagswirklichkeit übertragen, handelt es sich immer um unzulässige Verallgemeinerungen.43
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Vgl. J. Bösch: Spirituelles Heilen und Schulmedizin, S. 76f. Quantenmechanische Phänomene wie die Verschränkung zweier Teilchen können nur in vollständig von der Außenwelt isolierten Systemen stattfinden. Sobald solche Systeme in Wechselwirkung mit der Außenwelt treten, verschwinden die Wellenphänomene. Sie werden aber nicht, wie Bösch mutmaßt, durch das ›Bewusstsein‹ zum Verschwinden gebracht, sondern durch eine materielle Wechselwirkung (z.B. eine Messung). Vgl. Uccusic, Paul: Auch Physiker fragen. Gibt es ein Jenseits?, www.shamanicstudies.net/Page/ID/178. vom 04.08.2020. Dass in der Quantenmechanik verschiedene Teilchen einen gemeinsamen Zustand einnehmen können, hat zu der ›Viele-WeltenTheorie‹ geführt, nach der »alle möglichen Zustände des Teilchens tatsächlich gleichzeitig existieren und bei der Messung einer davon ausgewählt wird.« (Hümmler, Holm Gero: Relativer Quantenquark. Kann die moderne Physik die Esoterik belegen?, Berlin: Springer 2019, S. 66). Auch diese Theorie bezieht sich aber selbstverständlich nur auf den äußerst begrenzten Bereich quantenmechanischer Phänomene. H.G. Hümmler: Relativer Quantenquark. Vgl. H. G. Hümmler: Relativer Quantenquark, S. 252f. Häufig finden sich zur Unterstützung dieser Verallgemeinerungen noch Zitate von Autoritäten der Physikgeschichte, etwa Albert Einstein oder Max Planck. Diese stammen aus einer Zeit, in der Quantenphysik und Relativitätstheorie selbst noch in den Kinderschuhen steckten und daher über viele Zusammenhänge der Phänomene noch spekuliert werden musste: »Bei Max Planck, Niels Bohr oder Albert Einstein hat man gute Chancen, ein Zitat zu finden, das sich in geeigneter Weise auslegen lässt. Ein Grund dafür ist, dass diese Forscher in einer Zeit gelebt haben, als viele Dinge, die später über Relativitätstheorie und Quantenmechanik klar wurden, noch im Entstehen waren. Wie heutige Wissenschaftler bei ihren aktuellen Themen haben sie spekuliert, haben sich
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Fazit
Der Neoschamanismus ist häufig mit dem Glücksversprechen einer Heilung durch Erkenntnis einer geistigen Welt verbunden. In neoschamanistischen Erfahrungsberichten und Einführungen wird deren Wirklichkeit und Möglichkeit auf verschiedenen Wegen plausibilisiert: Zum einen finden sich häufig narrative Strategien wie die Figur des Skeptikers oder Geständigen, welche die Realität des Erzählten authentifizieren. Zum anderen wird eine Versöhnung der Geistheilung mit der (Natur-)Wissenschaft angestrebt, indem entweder durch Hinweise auf das Beobachterproblem in der Quantenphysik oder auf ausgewählte Wissenschaftstheoretiker signalisiert wird, dass keine Wissenschaft objektiv sei und daher kein Ansatz vorschnell von ihr ausgeschlossen werden sollte (›tu-quoque‹) oder indem Erkenntnisse der Quantenphysik und Relativitätstheorie verallgemeinert und für weitreichende eigene Thesen vereinnahmt werden (›ego-quoque‹). Auf diese Weise wird für ein unkonventionelles spirituelles Glücksversprechen Legitimierungsarbeit geleistet, die ihr paradoxes Gesicht kaum verschleiern kann: Einerseits wird versucht, sich von einer Wissenschaft abzugrenzen, die ›kausal-materialistisch‹ operiert und für die ›Tiefe‹ der geistigen Wirklichkeit blind bleiben muss (diese Abgrenzung drückt sich, wie gesehen, schon in der literarisch-künstlerischen Darstellungsform aus, die eine eher fiktionale Rezeptionshaltung hervorrufen soll), andererseits soll jedoch auch gerade die moderne Wissenschaft herhalten, um einer dem Alltagsverstand zuwider laufenden geistigen Realität Glaubwürdigkeit zu verschaffen.
Unklares irgendwie zusammengereimt und damit auch oft genug falsch gelegen.« (H. G. Hümmler: Relativer Quantenquark, S. 249.)
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Verlorene Idyllen, enttäuschte Utopien Zur Ambivalenz der Naturräume im französischen Roman Anne-Sophie Donnarieix
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Die Natur als kultureller Sehnsuchtsort
In den letzten Jahrzehnten hat das Motiv der menschlichen Rückkehr zur Natur immer mehr an Bedeutung gewonnen. Geprägt von einem wachsenden ökologischen Bewusstsein rücken die Fragen des Umweltschutzes und der Erhaltung von Ökosystemen zunehmend in den Vordergrund des politischen Diskurses und begünstigen dabei Entwürfe alternativer Lebensmodelle.1 In Frankreich wird diese Tendenz unter anderem von einer neo-ruralistischen Bewegung begleitet, die sich vor allem seit den 1970er Jahren entwickelt. Diese trägt die erkennbaren Spuren der gesellschaftlichen Proteste vom Mai 1968 und die Wiederentdeckung dünnbesiedelter Regionen wie der Ardèche, der Creuse oder der Cévennes, geht mit einem linksverankerten politischen Diskurs einher, der sich vor allem als antibürgerlich und antikapitalistisch, nicht selten anarchistisch und ab der Jahrtausendwende auch dezidiert altermondialistisch präsentiert.2 Fernab der städtischen Gesellschaft sehnen sich die sogenannten néoruraux nach einem anderen, lokalen, naturgebundeneren Lebensstil und versuchen auf dem Land neue Gemeinschaften zu bilden, deren Wurzeln an den im 19. Jahrhundert entwickelten Agrarmythos anknüpfen.3
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Vgl. Chastigaud, Valérie: Les combats pour la nature. De la protection de la nature au progrès social, Paris: Buchet/Chastel 2018. Catherine Rouvière beschreibt fünf Wellen des Neoruralismus: ab 1969, ab 1975, 1985, ab 1990 und ab 2000. Vgl. Rouvière, Catherine: Retourner à la terre. L’utopie néo-rurale en Ardèche depuis les années 1960, Rennes: Presses Universitaires 2015, S. 32ff. C. Rouvière: Retourner à la terre, S. 22.
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Diese Rückkehr zur Natur erweist sich somit als Glücksversprechen: Sie entspricht der Vorstellung, es ließe sich durch einen topographischen Wandel eine gesteigerte Lebensqualität erreichen, die wiederum einem städtischen, naturfremden und weitgehend globalisierten Alltag gegenüberstehe. Das versprochene Glück geht insofern unmittelbar mit einer kritischen Dimension einher: Es beruht teilweise weniger auf der Umsetzung konkreter Lebensmodelle, die für sich selbst gelten, als auf einer ersehnten Distanzierung von aktuellen Lebensstandards, die als negative Normen präsentiert werden. Folglich fungiert das Ideal eines ›natürlichen Lebens‹ in mehrerlei Hinsicht als Gegenmodell: in ökonomischer, da es den Kapitalismus, die Konsumgesellschaft und die Massenproduktion ablehnt;4 in sozialer, da es sich gegen die urbane, zuerst meist bürgerliche, dann vor allem globalisierte Gesellschaft richtet;5 in kultureller, da es die Gegenüberstellung von Kultur und Natur wiederaufleben lässt und in den Naturräumen neue Fluchtwege außerhalb der menschlichen Gesellschaft sucht; und teils auch in spiritueller, da es in der Natur eine metaphysische Dimension sucht, um der vermeintlichen Entzauberung der modernen Städte entgegenzuwirken.6 Naturräume erscheinen demnach als idyllische, emotional beladene Orte aus einem sehnsuchtsbesetzten goldenen Zeitalter,7 in welchem sich ein glücklicheres Leben führen ließe. Weit entfernt von den pulsierenden Städten und den Menschenströmen, die in die Metropolen drängen, aber auch von Computerbildschirmen, vernetzten Geräten und digital gesteuerten Kommunikationsformen, nimmt die Vorstellung natürlichen Lebens die Form einer kollektiven Sehnsucht an – eine Sehnsucht nach Wildnis, nach Besinnung, nach wertschätzendem Umgang mit der Umwelt. Somit wird dem ambivalenten Begriff der ›Natur‹ gegenwärtig zunehmend eine utopisierende Dimension verliehen. ›Utopisierend‹ kann dabei nicht ganz mit ›utopisch‹ gleichgesetzt werden, denn etymologisch betrachtet, bezieht sich die Utopie (altgriechisch ou-topos) auf einen nicht-
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Vgl. Hervieu, Bertrand/Léger, Danièle: Le retour à la nature. Au fond de la forêt, l’État, Paris: Seuil 1979. Vgl auch Mercier, Claude/Giovanni, Simona: »Le néo-ruralisme. Nouvelles approches pour un phénomène nouveau«, in: Revue de géographie alpine 71.3 (1983), S. 253-265. Vgl. C. Rouvière: Retourner à la terre, S. 17. Vgl. V. Chastigaud: Les combats pour la nature, S. 87-92. Vgl. Léger, Danièle: »Les utopies du ›retour‹«, in: Actes de la recherche en sciences sociales 29 (1979), S. 45-63.
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existierenden, fiktiven oder erträumten Ort, der mit positiven Zukunftsbildern beladen wird und zum Schauplatz einer idealen sozialen Organisation avanciert.8 Die natürliche Idylle eignet sich dementsprechend nicht per se als utopischer Ort: Zum einen, weil die Naturräume nicht zwangsläufig die Bedingung der Nichtexistenz erfüllen; zum anderen, weil die Wahrnehmung der wilden Natur als Fluchtort vor einer als bedrückend empfundenen Zivilisation auch in eine antikollektive Richtung schlagen kann. Es lohnt sich aus diesem Grund von einer »utopischen Intention«9 zu sprechen, um diese Nuancen nicht aus den Augen zu verlieren und dennoch die kritische Dimension der Utopie zu bewahren, denn gerade, weil die Utopien andere, bessere Weltprojektionen darstellen, fungieren sie implizit als gesellschaftskritische Spiegelbilder einer als ungenügend empfundenen Gegenwartsordnung.10 Dass Naturräume zu solchen glückversprechenden Mikrowelten bedeutend beitragen, lässt sich wohl am besten am Beispiel der europäischen Literaturgeschichte feststellen. Abgesehen von der Vorstellung eines göttlichen Paradieses als Garten (der Garten Eden im Alten Testament, der Garten der Hesperiden bei Hesiod) entfaltet sich in der Antike und insbesondere bei Theokrit und Vergil der locus amoenus als Ideallandschaft, welche sich bis ins 16. Jahrhundert als bukolische Landschaft, als Ort der Harmonie, der Liebe 8 9
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Vgl. Braga, Corin: Pour une morphologie du genre utopique, Paris: Classiques Garnier 2018. Vgl. Dethloff, Uwe: Literatur und Natur – Literatur und Utopie. Beiträge zur Landschaftsdarstellung und zum utopischen Denken in der französischen Literatur, Tübingen: Narr 2005, S. 87. Dethloff führt den Begriff der »utopischen Intention« als Erweiterung des (literarischen) Utopiebegriffs ein und legt dabei den Fokus weniger auf die strukturellen Aspekte der Utopie als auf deren politischen Kern als Gegenmodell einer bestehenden Gegenwartsordnung. Er unterscheidet zwar die utopische Intention von den archetypischen »Universalvorstellungen des ewig glücklichen Lebens, wie sie in den antiken Mythen vom Goldenen Zeitalter […] zum Ausdruck kommen.« (S. 107), jedoch soll diese Unterscheidung hier bewusst nicht weitergeführt werden, da die behandelten Texte sich sehr wohl solcher mythisch beladenen Vorstellungen bedienen. Zum Begriff der »utopischen Intention«, vgl. auch Neusüß, Arnhelm: »Schwierigkeiten einer Soziologie des utopischen Denkens«, in: Ders. (Hg.): Utopie. Begriff und Phänomen des Utopischen, Neuwied/Berlin 1972, S. 13-112. Vgl. Schölderle, Thomas: Utopia und Utopie. Thomas Morus, die Geschichte der Utopie und die Kontroverse um ihren Begriff, Baden-Baden: Nomos 2011, S. 483. In dieser doppelten kritischen Funktion liegt für Horkheimer der Kern des utopischen Denkens: »In der Tat hat die Utopie zwei Seiten; sie ist Kritik dessen, was ist, und Darstellung dessen, was sein soll«. Horkheimer, Max: Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie, Stuttgart: Kohlhammer 1930, S. 86.
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und des einfachen Glücks fortsetzt.11 Bezogen auf die französische Literatur liegt (etwa bei Rousseau oder Bernardin de Saint-Pierre) ab dem 18. Jahrhundert der Fokus auf einer zunehmend utopisch aufgeladenen Natur, welche auch die Romantik des 19. Jahrhunderts weitgehend prägt. Von Chateaubriand bis Lamartine und Baudelaire erweist sich die bukolische, exotische oder wilde Natur als beliebter Zufluchtsort vor einer entarteten Gesellschaft und stellt den damaligen Staatsmodellen ideale Projektionsräume eines besseren und natürlicheren Lebens gegenüber. Trotz der Heterogenität dieser utopisierenden Naturbilder lassen sich einige gemeinsame Merkmale erkennen: 1) Sie beruhen auf einem topographischen Isolationsprinzip, das sie vom restlichen Teil der (realen) Welt trennt bzw. abhebt; 2) anders als die futuristischen Utopien sind sie vom Gedanken des Ursprünglichen, Archaischen oder gar Uchronischen geprägt; 3) sie werden semantisch mit positiven Motiven, wie der Fruchtbarkeit und der Vollkommenheit, verknüpft; 4) sie unterliegen einer anthropozentrierten Perspektive: Die Natur dient dem Wohl des Menschen – und nicht andersherum. Ausgehend vom erhöhten Umweltbewusstsein und der zunehmenden Infragestellung des Kapitalismus als zukunftsfähiges Gesellschaftsmodell ließe sich vermuten, dass die Gegenwartskultur generell (und hier speziell die französische) einen fruchtbaren Boden für die Entstehung neuer ökologischer Utopien bereiten müsste und seitens der Literatur die Natur vermehrt als glücksversprechenden Ort inszeniert wäre. Doch obgleich der gesellschaftliche Diskurs von Umweltaktivisten immer wieder auf solche utopischen Vorstellungen zurückgreift,12 lässt sich erstaunlicherweise seitens der Literatur eine umgekehrte Entwicklung beobachten. Anstatt alternative Lebensformen fernab der städtischen Unruhen zu protegieren, erprobt der Gegenwartsroman Katastrophenszenarien und inszeniert mit auffälliger Häufigkeit Naturräume, die von den dramatischen Folgen des Klimawandels, vom Aussterben der Artenvielfalt oder von wachsender Umweltverschmutzung bedroht sind. Während die Naturdarstellung ins Zentrum der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit rückt, tendiert die fiktionale Literatur dazu, die Unmöglichkeit bzw.
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Vgl. Curtius, Ernst Robert: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern/München: Francke 1961, hierbei v.a. das Kapitel 10 ›Die Ideallandschaft‹, S. 191209. Der Dokumentarfilm Demain von Melanie Laurent (2015) ist in dieser Hinsicht wohl eines der interessantesten Beispiele. Vgl. hierzu Spiegel, Simon: Bilder einer besseren Welt. Die Utopie im nichtfiktionalen Film, Marburg: Schüren 2019, S. 328-339.
Verlorene Idyllen, enttäuschte Utopien
das Scheitern der utopischen Intention zu inszenieren. Der vorliegende Beitrag ist genau diesem ambivalenten Verhältnis zur Natur in der Gegenwartskultur gewidmet. Anhand ausgewählter fiktionaler Textbeispiele13 soll hinterfragt werden, inwiefern sich diese als literarische Symptome einer kulturellen Wende der Naturwahrnehmung und Naturdarstellung verstehen lassen, indem sie zwischen der Sehnsucht nach neuen Naturutopien einerseits und der desillusionierten Vorstellung unmöglich gewordener Naturidyllen andererseits oszillieren.
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Geschwächte, gefährdete Naturräume (Ferney, Darrieussecq)
Utopisierende Naturbilder sind in der Literatur oftmals mit einem idyllischen Chronotopos verbunden. »Diese räumliche Mikrowelt«, schreibt Bachtin über die Idylle, »ist begrenzt und genügt sich selbst; sie ist mit anderen Orten, mit der übrigen Welt nicht auf wesentliche Weise verbunden.«14 Diese Einheit des Ortes bewirkt zudem eine Abschwächung der Zeitgrenzen, so dass die idyllischen Naturlandschaften eine zyklische, in sich geschlossene Zeit generieren,15 die sich losgelöst von historischen Geschehnissen ausdehnt. Eben dieses Verhältnis ändert sich maßgeblich in den heutigen Romanen: Dort wird die Natur zu einem Ort, wo sich die Defizite der realen zeitgenössischen Gesellschaft abspielen – gar dramatisch entfaltet – und in eine Gegenwärtigkeit versetzt werden, die der zyklischen oder mythischen Zeit entgegensteht. Dabei skizziert die Landschaft keineswegs neue Ideale naturgebundener Sozialitätsvorstellungen (wie zum Beispiel Ökodörfer), sondern inszeniert vielmehr eine erschöpfte Gesellschaft, der es nicht oder kaum gelingt, die großen Herausforderungen ihrer Zeit zu bewältigen. Wenngleich der Naturbegriff also weiterhin mit einer gesellschaftskritischen Dimension einherzugehen pflegt, basiert dies weniger auf einem positiven Oppositionsmodell (welches der Utopie zugrunde liegt) als auf der unerwünschten Übertragung gesellschaftlicher Spannungsfelder auf den literarischen Naturraum. 13
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Ferney, Alice: Le règne du vivant, Arles: Actes Sud 2016 [2014]; Darrieussecq, Marie: Notre vie dans les forêts, Paris: P.O.L 2017; Mauvignier, Laurent: Autour du monde, Paris: Minuit 2016 [2014]; Houellebecq, Michel: Sérotonine, Paris: Flammarion 2019; Gaudé, Laurent: Ouragan, Arles: Actes Sud 2018 [2010] und Montalbetti, Christine: Plus rien que les vagues et le vent, Paris: P.O.L 2014. Bachtin, Michail M.: Chronotopos, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008, S. 160. Vgl. M. Bachtin: Chronotopos, S. 161.
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Der ökologische Wandel hat hier Vorrang. Die Romane erkunden Ängste vor der Erderwärmung oder der Zerstörung natürlicher Ökosysteme, so dass die Natur zum eigentlichen Thema des Romans wird. Le règne du vivant von Alice Ferney (2014) erzählt beispielsweise die auf wahre Begebenheiten beruhende Geschichte einer Gruppe junger Umweltaktivisten, die gegen den illegalen Walfang im Pazifischen Ozean kämpfen. Der Roman nimmt mit seinen heldenhaften Figuren und eindrucksvollen Naturkulissen die Form einer ökologischen Umschreibung von Melvilles Moby Dick an, doch auch wenn der ozeanische Mythos durch lyrische und emphatische Beschreibungen teils von der Erzählstimme wiederbelebt zu werden scheint, dominiert vor allem das Bild einer geschwächten Natur, die von der Konsumgesellschaft verschmutzt wurde. Dieser Desillusion entspringt die sprachliche Dichotomie des Romans, die zwischen verzaubernder Beschreibung des Ozeans und deutlich kritischen und nüchternen Stellen über die Waljagd schwankt, wobei der Wal auffälligerweise hier nicht in seinem natürlichen Lebensraum, sondern bereits tot auf dem Schiff dargestellt ist: Les animaux tués sont entièrement dépecés à bord. Sur le pont d’équarrissage, le grand corps à peine tiré de l’eau est ouvert d’un seul trait de lance de la bouche à la queue. La curée peut commencer […]. L’animal est étripé. Puis la montagne morte est pelée peu à peu, passe dans les machines qui la débitent en petits carrés. Voilà la sordide bacchanale industrielle. La viande est aussitôt conditionnée et congelée. L’opération se répète. La flotte capture quinze baleines par jour.16 Als beliebte Tierfigur des ozeanischen Abenteuerromans – aber auch als Galionsfigur der heute gefährdeten Arten – kommt dem Wal hier eine unübersehbare symbolische Funktion zu. Er steht metonymisch für den Ozean selbst und für das ganze »Reich der Lebenden« (der Titel weist bereits auf die Synekdoche hin), das dem »industriellen Bacchanal« unterliegt und vom menschlichen Konsum aus dem Gleichgewicht gebracht wird. Dementsprechend wird das anfängliche ökologische Epos bald zur Erzählung eines Misserfolges: Der kühne Kapitän Magnus Wallace stirbt, der Schutz der Ozeane scheint aussichtslos und die Unterwasserwelt, wenngleich zuweilen noch paradiesisch, verwandelt sich immer mehr in einen gefährdeten Lebensraum. Eine ähnliche Schwächung der wilden Naturräume vollzieht sich in Marie Darrieussecqs Notre vie dans les forêts (2017). Als Schauplatz der Handlung wird 16
A. Ferney: Le règne du vivant, S. 160f.
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eine dystopische Welt gewählt, in welcher die Menschen durch implantierte Technik stets vernetzt sind und vom Staat kontrolliert werden. Dieser totalitären und repressiven Gesellschaft gegenüber steht der Wald als einzig übrig gebliebene Zufluchtsmöglichkeit. Dort verstecken sich Widerstandskämpfer und versuchen, dem System zu entkommen. Der Text inszeniert allerdings hier einen Rückzugsort (gemäß der literarischen Tradition des Waldes17 ), der sich bald als untragbar erweist. Einerseits, weil er es den Figuren nicht mehr ermöglicht, sich der tyrannischen Überwachung zu entziehen; andererseits, weil sich in den Wäldern selbst die Perversion der Gesellschaft abspielt: Auch dort wird Organhandel betrieben, auch dort werden Menschen verfolgt, gefoltert, ermordet. So stellt der Wald eine vornehmlich unhaltbare Widerstandszone dar, die der Sehnsucht nach natürlichen, separaten Schutzräumen nicht mehr gerecht werden kann. Mit der Schwächung der Symbolik des Waldes geht zudem die Darstellung seines Ent-schwindens einher. In den fragmentarischen Berichten der autodiegetischen Vermittlungsinstanz scheint der natürliche Aspekt des Waldes allmählich zu verblassen, bis die Bäume sogar in der Tat unsichtbar werden. Es lässt sich im Vergleich des Romananfangs mit dem Ende eine Entwicklung hinsichtlich der visuellen Intensität ausmachen, vom hoffnungsvollen Einzug in den Wald zur Verbitterung und Hilflosigkeit: La forêt était étourdissante. De toutes petites feuilles d’un vert très clair, d’un vert tellement naturel qu’il me semblait artificiel, le vert de quand on pense au vert: de toutes petites feuilles qui poussaient au bout d’absolument toutes les branches. On avait envie de les toucher, d’être touchée par ce feuillage doux et velu et si vert.18 Je suis dans la forêt et je n’ai plus de souffle. Je ne vois plus très bien. Je ne filtre plus très bien quoi que ce soit. Je ne vois plus les arbres, parce que probablement, je suis gardée à l’intérieur des galeries. J’ai froid. J’ai l’impression que je suis seule maintenant.19 Die Ich-Perspektive und die interne Fokalisierung dienen im letzten Zitat nicht mehr dazu, eine individuelle Subjektivität hervorzuheben, sondern das 17
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Eine lange literarische Tradition hat dazu beigetragen, den Wald als symbolischen Raum außerhalb der Zivilisation und außerhalb des Gesetzes zu inszenieren. Vgl. Harrison, Robert Pogue: Forests. The Shadow of Civilization, Chicago: University Press 1992, S. 1. M. Darrieussecq: Notre vie dans les forêts, S. 149. M. Darrieussecq: Notre vie dans les forêts, S. 189 (Hvg. d. Verf.).
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Blickfeld einzuschränken und zu verschließen: Der Wald als Allegorie des Naturschutzes, des Widerstandes, des alternativen Lebens wird unzugänglich, unsichtbar und auch durch eine Erzählweise unzugänglich gemacht, die sich sprachlicher Mitteln bedient (kurzatmiger, anaphorischer Syntax, wiederholter Verneinungen), um die gescheiterte Flucht der Menschen in die Natur zu evozieren. In beiden Romanen verläuft die Abschwächung der idyllischen Naturkonstruktion parallel zur Verseuchung natürlicher Schauplätze (Ozean, Wald), die einst als zivilisationsfremde Orte galten. Somit geht aber genau der konfrontative Charakter der utopischen Intention verloren: Die Natur kontrastiert nicht mehr die bestehenden Gegenwartsverhältnisse; sie wird vielmehr zu einem von zeitgenössischen Verhältnissen (oder Ängsten) bedrohten Lebensort, der nicht mehr in der Lage ist, die menschlichen Bedürfnisse zu erfüllen, sondern im Gegenteil als kränklich, unzureichend und machtlos in Bezug auf seine eigene Ausbeutung dargestellt wird.
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Entsingularisierung der Naturlandschaft (Mauvignier, Houellebecq)
Doch hier verschwindet nicht nur die utopische Intentionalität der Naturbilder, sondern auch – und vor allem – ihre charakteristische Alterität. Anders als in der Tradition der Idylle oder des locus amoenus kann der Naturraum heute nicht mehr als einer vom Rest der Welt getrennter, in sich geschlossener und autarker Mikrokosmos inszeniert werden. Er fungiert in den Romanen vornehmlich – wie auch andere Räume – als zweckgebundene Plattform, die der Landwirtschaft, dem Tourismus oder der wirtschaftlichen Produktion gewidmet ist und von denselben Personen- und Güterströmen durchzogen wird. In diesem Sinne ist die Natur nicht mehr utopisch beladen, und kann überdies keine heterotopische Funktion mehr übernehmen,20 zumal sie sowohl ihre topographischen (Stadt/Land) als auch ihre kulturellen Alteritätsmerkmale (Wildnis/Zivilisation) verliert. Auch die exotische Versuchung 20
Im Sinne der Definition Foucaults. Vgl. Foucault, Michel: »Les hétérotopies«, in: Ders.: Le corps utopique, les hétérotopies, Paris: Lignes 2009, S. 21-36, hier S. 26: »Il y a également, et ceci probablement dans toute culture, dans toute civilisation, des lieux réels, des lieux effectifs, des lieux qui ont dessinés dans l’institution même de la société, et qui sont des sortes de contre-emplacements […] des sortes de lieux qui sont hors de tous les lieux, bien que pourtant ils soient effectivement localisables.«
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scheint heute nicht mehr bestehen zu können. In einer global vernetzten Welt, in der die Kulturen immer homogener zu werden scheinen und die einst entlegenen Orte im Zuge der Expansion moderner Verkehrsmittel immer näher zusammenrücken, verschwindet auch die kognitive Distanz, die für eine exotische Alteritätserfahrung unabdingbar ist.21 In Laurent Mauvigniers Autour du monde (2010) unterliegt die Natur der gleichen Banalisierung, welche die Darstellung der übrigen Räume prägt. Der Roman setzt sich aus 14 Erzählungen zusammen, die sich in allen möglichen Gegenden der Welt abspielen. Darunter gibt es durchaus Orte, die für einen europäischen Leser auf den ersten Blick exotisch wirken mögen: den thailändischen Dschungel, tansanische Landschaften, Strände auf den Bahamas, japanische Küsten usw. Doch die Vervielfachung dieser Naturräume trägt überraschenderweise zu deren Ununterscheidbarkeit bei. Alle Landschaften werden dargestellt, als sähen sie weltweit gleich aus, und als wäre selbst die Möglichkeit einer kognitiven bzw. ästhetischen Differenzierung zwischen urbanen und ländlichen, entfernten und nahen, fremden und vertrauten Räumen aufgehoben. Im Wirbel der Tourismusindustrie fliegen die einzelnen, oft einsamen Figuren rund um eine Welt, wo die räumlichen Wahrnehmungen verschwimmen und die Landschaften ihre Singularität verlieren. Einem ähnlichen Prinzip gehorcht die Erzählstruktur: Die vielen Geschichten fließen willkürlich ineinander, ohne von neuen Kapiteln, Seitensprüngen oder gar Absätzen getrennt zu werden, und können somit auch dem Leser ein gewisses Gefühl der Grenzenlosigkeit und Desorientierung vermitteln. Um exotisch zu wirken, kann die Natur nur noch inszeniert werden, büßt aber an Authentizität ein. Dies gilt beispielsweise für die künstlichen Strände, die sich als Simulakren ihrer selbst entlarven und für die Urlauber nur insofern paradiesisch wirken, als sie den weltweit identisch aussehenden Strandbildern aus der Broschüre einer beliebigen Reiseagentur entsprechen. Là, seuls les gens étaient réels. L’eau, le sable, les palmiers, tout avait été construit, importé, agencé et, ce qui parfois paraissant dérangeant, c’est que les gens semblaient croire que monsieur Arroyo lui-même n’existait pas, qu’il n’était, lui et ses collègues, qu’une figurine posée là, à disposition, aussi artificiel que les mouvements qui agitaient l’eau toutes les deux minutes, 21
Vgl. Segalen, Victor: Essai sur l’exotisme, Paris: Fata Morgana 1978, S. 77f. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts prophezeit Victor Segalen die Konsequenzen der aufkommenden Globalisierung und deren Auswirkungen auf die Idee eines Exotismus, den er vor allem als ästhetische Wahrnehmung des radikalen Anderen definiert.
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pas plus vivants que ces palmiers importés, comme si à Dubaï il n’y avait pas de vrais palmiers.22 Werden die exotischen Naturräume zur künstlichen Kulisse touristischer Normen, so liegt die Versuchung nahe, die natürliche Alterität nicht mehr in der Ferne, sondern in der unmittelbaren Umgebung zu suchen.23 In Michel Houellebecqs jüngstem Roman, Sérotonine, geht es dem Ich-Erzähler gerade darum, einer globalisierten und als befremdlich wahrgenommenen Welt zu entkommen. Ihr gegenübergestellt wird die tiefe Provinz Frankreichs und ihre verlassenen Landschaften, die der depressive Protagonist auf der Suche nach Besinnung bereist – doch der Versuch einer provinziellen Wiederverwurzelung scheitert kläglich (was die treuen Houellebecq-LeserInnen wohl wenig überraschen wird). Bereits der Titel des Romans transportiert die Ironie eines Versprechens von glücklichem Leben, welches eben nicht eingehalten wird: Wie überall sonst sind diese traurigen und entzauberten Landschaften von WLAN, 4G und Youporn durchzogen; auch dort grenzen anonyme Hotelzimmer an große Autobahnnetze. Ähnlich wie bei Marie Darrieussecq verschwindet die Natur hinter der Monotonie eines vernetzten Alltags und das Naturschauspiel wird entweder nicht beschrieben oder nur verschwommen hinter Regen und Nebel dargestellt.24 Als Ideal des natürlichen »Anderswo« bleibt nur noch die (durchaus konkrete) Leerstelle einer erträumten Landschaft, die vor allem durch ihre Abwesenheit auffällt. Der Mangel an Sichtbarkeit ist hier eine Negation der sowohl räumlich als auch
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L. Mauvignier: Autour du monde, S. 191. Die literarische Wiederentdeckung der Provinz erfährt in Frankreich seit dem Ende der 1980er Jahre eine neue Blütezeit (u.a. mit den Texten von Pierre Bergounioux, Richard Millet, Marie-Hélène Lafon, Mathieu Riboulet, Mathieu Nicolas). Doch auch in diesen Romanen ist die Landschaft weit von einer utopisierenden Funktion entfernt und dient vielmehr als entzauberte Kulisse für eine neo-realistische Schilderung des Landlebens. Vgl. Coyault, Sylviane: La province en héritage, Genf: Droz 2002. Vgl. M. Houellebecq: Sérotonine, S. 244f.: »Pendant les jours qui suivirent je demeurai cloîtré dans mon bungalow, terminant mes dernières provisions, hésitant entre différentes chaînes; à deux reprises je tentai de me masturber. Au matin du mercredi, le paysage était noyé dans un lac de brume immense, à perte de vue, on ne distinguait rien à dix mètres du bungalow […]. Je passai le reste de la journée à marcher sur le chemin côtier, dans un silence ouaté, total, passant d’un banc de brume à l’autre, sans distinguer à aucun moment l’océan en contrebas; ma vie me paraissait aussi informe et incertaine que le paysage.«
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spirituell erwünschten Alterität – ihm wohnt eine gleichzeitig kognitive und (anti-)metaphysische Dimension inne. Diese ästhetische Entsingularisierung verweist dabei auf eine kulturelle Wende, die der Anthropologe Marc Augé mit dem Begriff von ›Übermoderne‹’25 etikettiert hat. Die Möglichkeit, sich heute überall und jederzeit bewegen zu können, verursache ein »Übermaß an Raum«, welches die Beziehung des Subjekts zu den von ihm bereisten Orten verändere und die Erscheinung sogenannter Nicht-Orte begünstige, wobei Augé hiermit auf unpersönliche Durchreise-Orte verweist, die rein funktional angelegt sind und keine räumliche Singularitäts- bzw. Alteritätserfahrung mehr ermöglichen (Flughäfen, Autobahnen, Hotelzimmer usw.). Solche Nicht-Orte sind in beiden Romanen überall anzutreffen und skizzieren eine neue Topografie, in welcher kaum noch Grenzen vorhanden sind. Die ländliche Besinnungsreise von Sérotonine beginnt auf einer spanischen Autobahn und endet in der unpersönlichen Wohnung eines Hochhauses des 13. Arrondissements in Paris. Die große Weltreise von Autour du monde wiederum nimmt ihren Ausgangspunkt in der unscharfen Fotografie einer japanischen U-Bahnkarte – bildlicher Allegorie, vielleicht, eines beweglichen, verworrenen und sich immer wieder verschiebenden Raumes. Während die Möglichkeit eines »anderen« Ortes verschwindet, verwandelt sich die Natur selbst in einen Nicht-Ort, eine anonyme Transitzone wie jede andere.
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Bedrohliche Naturbilder und literarisches Fragmentierungsprinzip
Dies impliziert einen letzten Bruch zwischen den heutigen Naturbildern und ihrer utopisierenden Tradition. Denn für Augé verursachen die Nicht-Orte einen Verlust an räumlich-identifikationsstiftender Gebundenheit und sie verhindern durch ihren Mangel an Singularität die Möglichkeit einer Identifikation des Subjekts mit seiner direkten Umwelt. Einen Nicht-Ort kann der Mensch nicht erleben, auch nicht verinnerlichen, bestenfalls (aus)nutzen.26
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Augé, Marc: Non-lieux, introduction à une anthropologie de la surmodernité, Paris: Seuil 1992. Vgl. M. Augé: Non-lieux, S. 100: »Si un lieu peut se définir comme identitaire, relationnel et historique, un espace qui ne peut se définir ni comme identitaire, ni comme relationnel, ni comme historique définira un non-lieu.«
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Das ist ein entscheidender Punkt, denn die Naturidylle beruht hingegen auf einer Verschmelzung des Subjekts mit seiner Umwelt: Wiesen, Wälder, Flüsse sind eng mit der Idee des Heimatlandes, der Ahnen und der Verwurzelung verbunden, weshalb sie ein symbiotisches Verhältnis zwischen dem Menschen und seiner natürlichen Umgebung erfordern.27 Die Romantik setzt diese Tradition fort, indem die Natur in ihr zur Projektionsfläche menschlicher Gefühle wird und über diese Analogie zur identitären Konstruktion und Entwicklung des Subjekts beiträgt. Genau diese enge Verbindung wird heute literarisch hinterfragt, ja sogar regelmäßig dekonstruiert, indem die Natur vermehrt als eine feindliche Gestalt auftritt, die das harmonische Verhältnis des Menschen zur Welt bedroht. Als beliebtes Motiv erweist sich in diesem Zusammenhang die literarische Auseinandersetzung mit Naturkatastrophen. Neben dem Roman Mauvigners (welcher den Tsunami vom 11. März 2011 thematisierte) kann noch Ouragan (2010) von Laurent Gaudé erwähnt werden, der sich den verheerenden Folgen des Hurrikans Katrina im Jahre 2005 widmet. In diesem multiperspektivisch strukturierten Roman erzählen mehrere Figuren ihre persönliche Begegnung mit dem Orkan sowie ihre Ängste und Verluste angesichts der entfesselten Natur. Diese kehrt zwar wieder ins Zentrum der Fiktion zurück, allerdings als apokalyptische und zerstörerische Kraft: Il doit se battre contre le vent, s’arc-bouter, devenir une boule compacte de volonté et de muscle pour ne laisser aucune prise. Il a les yeux quasiment clos et ne peut ouvrir la bouche – sans quoi, trop d’air y pénétrerait. La nature est là qui l’entoure, lui crie aux oreilles, la nature qui jaillit par bourrasques, pleine de vie et effrayante, la nature qui n’est plus à l’échelle humaine.28 Die Naturbilder werden hier durch eine explizite Personifikation und durch eine Re-Singularisieung des natürlichen Elements aufgewertet – anders als bei den geschwächten Naturbildern von Darrieussecq, Mauvignier oder Houellebecq –, aber diese Alterität ist Resultat einer Negativität, die den Merkmalen einer utopisierenden Natur keineswegs mehr entspricht: Die fruchtbare Natur wird zur verwüstenden Kraft, die dem Menschen deutlich überlegen ist. Interessanterweise verweist die apokalyptische Dimension des Orkans auf eine Rückkehr der mystischen Dimension, distanziert sich dennoch von der 27 28
Vgl. M. Bachtin: Chronotopos, S. 161. L. Gaudé: Ouragan, S. 55.
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üblichen paradiesischen Vorstellung zugunsten eines gewaltigen dies irae – eines gegen die Menschheit gerichteten himmlischen Zorns. In einer von ökologischen Schreckensnachrichten gesättigten Zeit vermag die Inszenierung einer gewalttätigen Natur als Kritik, ja vielleicht sogar als fiktive Strafe einer Menschheit begriffen werden, die ihren natürlichen Lebensraum massiv verändert und geschädigt hat und deren ethische (und ökologische) Verantwortung in Frage gestellt wird. Diese zunehmende, feindliche Distanz zwischen Mensch und Natur offenbart sich nicht nur auf der Ebene der Handlung: Sie beeinflusst auch die formale und sprachliche Ökonomie des Textes. In dem 2014 erschienen Roman von Christine Montalbetti Plus rien que les vagues et le vent dringt diese Zersplitterung bis in die Diskursstruktur.29 Um die eigentliche Geschichte (vier Männer, die eine dunkle Vergangenheit eint) geht es nur zweitrangig, die Handlung verschwindet hinter der wilden und boshaften Gestalt des Pazifischen Ozeans, dessen unheimliches Geräusch die Linearität des Berichts immer wieder durchbricht und den Aufbau der sonstigen Handlung hinauszögert. Der Erzählfluss wird stets unterbrochen, bleibt episodenhaft und elliptisch, voller metadiskursiver Betrachtungen, als wolle die Sprache die zerstörende Kraft des wütenden Ozeans nachahmen, dessen Bewegung wie Flut und Ebbe die literarische Form selbst bezwingt. Cette histoire, c’est sûr, jour après jour je l’ai brassée dans ma tête, et la nuit aussi elle est capable de me réveiller […]. Ou plutôt, ce que je devrais dire, elle est comme l’océan, comme la marée qui sous ma fenêtre ramène les mauvaises vagues […]. Dans tous les cas, ce qu’il faut, par-dessus-tout, c’est que vous entendiez l’océan. L’océan qui était là à battre la plage, l’océan qui était bien plus qu’une toile de fond, une présence, furieuse, emportée, charriant sans trêve sa colère inexplicable. Et ce que ça leur faisait, à Colter et aux autres, la colère de l’océan, ça aussi il faut que je le raconte.30 So wie der Protagonist gegen eine feindliche Landschaft kämpft, kämpft auch der Roman gegen den Ozean – und aber gerade mit dessen unberechenbarem Tempo. Dadurch weicht er zudem von der traditionellen anthropozentrischen Perspektive ab, die den idyllischen Naturbildern innewohnt. Hier gewinnt die
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Dies gilt auch für einige der oben erwähnten Texte: Laurent Mauvignier und Marie Darrieussecq verwenden eine dezidiert fragmentarische Form, während Laurent Gaudé die Erzählinstanz in viele verschiedene Stimmen spaltet. C. Montalbetti: Plus rien que les vagues et le vent, S. 7f.
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Natur zwar an Autonomie und wird zum eigentlichen Akteur der Handlung (und der Erzählung), allerdings geht diese Emanzipation unmittelbar mit der Unmöglichkeit utopischer Idealität einher. Durch diese menschenfeindliche Darstellung trägt die Natur paradoxerweise zu ungewöhnlichen Gemeinschaftsbildungen bei: Obschon den Figuren ein Leben im Einklang mit der Natur nicht mehr gelingen kann, zeugen die Romane von neuen, verlagerten Bindungsformen, die nicht mehr zwischen Mensch und Natur stattfinden, sondern zwischen den Menschen und gegen die feindliche Natur. Die Romane lassen insofern Gemeinschaften entstehen, die es ohne die Fragmentierung des Verhältnisses von Subjekt und Natur vielleicht nicht gäbe, und skizzieren somit neue Wege eines kollektiven Zusammenhalts. In Ouragan wird dies am deutlichsten, denn die narrative Fragmentierung und die Vervielfachung der Stimmen lassen den Roman wie einen polyphonen Chor wirken. Obwohl die verschiedenen Erzählungen strikt voneinander getrennt sind, dreht sich jede inhaltlich um die entstehende Solidarität unter den Opfern des Orkans. Weil die Natur kein Zufluchtsort mehr sein kann, werden die Figuren dazu gezwungen, Verantwortung zu übernehmen und gemeinschaftlich zu agieren. Auch auf narrativer Ebene entfaltet sich die Idee eines wiedergefundenen Kollektivs: Als am Ende des Romans die Gesamterzählung plötzlich von einer Stimme übernommen wird, scheinen sich die einzelnen Fäden der fragmentarischen Geschichte zu vereinen, als könne dadurch eine verlorene kollektive Symbiose diskursiv wiederhergestellt werden: [Rose] pense à cela, dans l’hélicoptère, elle n’écoute plus les mots de l’homme en face d’elle qui essaie de la rassurer et d’être prévenant, elle ferme les yeux et entend un vieux chant qui lui fait du bien, c’est le mien […], c’est le mien et tu peux t’y adosser car je suis solide et je porterai mes sœurs, elle ferme les yeux, elle a un fils maintenant, un fils, avec fierté, je porterai mes sœurs, moi, Josephine Linc. Steelson.31 Je chante la force de se relever et le désir de combat.32
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L. Gaudé: Ouragan, S. 157. L. Gaudé: Ouragan, S. 156.
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Naturbilder heute. Kritische Utopien?
Obgleich die sechs Romane hier nur flüchtig beschrieben werden konnten, können sie als literarische Symptome einer gewissen Krise der utopischen Naturdarstellung verstanden werden. Der schützende Naturraum wird als bedroht beschrieben (Ferney), das topographische Alteritätsprinzip der Naturidylle löst sich in der entsingularisierten Homogenität der Nicht-Orte auf (Mauvignier und Houellebecq), bis die natürliche Landschaft als solche entweder buchstäblich aus der Fiktion zu verschwinden droht (Darrieussecq) oder sich nur noch in feindlicher Weise offenbaren kann (Gaudé und Montalbetti). In diesem Sinne bedienen sich die Romane des Motivs der verlorenen Idylle, formen es aber im Zuge gegenwärtiger Ängste und Herausforderungen (Globalisierung, ökologische Wende) neu. Dabei verflüchtigt sich die Sehnsucht nach einem locus amoenus nicht, inszenieren die Romane doch immer wieder den Versuch, in die Natur zu fliehen (in den Wald, auf das Land, an die Küste), sie dekonstruieren aber gerade dadurch jene idyllischen Naturbilder als überholt. Im Zuge von emotionalisierten Umweltdiskursen und (über)modernen Raumwahrnehmungen wird die Natur zum melancholischen Ort eines heute unmöglich gewordenen Anderswo. Diesbezüglich bezeugen die literarischen Texte vielleicht eine gewisse Desillusionierung, die sich im kulturellen Raum auf implizite Weise offenbart, über die kollektiven Träume der neo-ruralen Wende oder über die Sehnsucht nach einer Rückkehr zur Natur fernab der Gesellschaft. Vielleicht gilt dabei nicht so sehr die Natur an sich als unmöglich gewordene utopische Intention, sondern vor allem die literarischen und kulturellen Vorstellungen von ihr als Glücksversprechen. Indem die Romane die Grenzen bzw. das Scheitern einer solchen jahrhundertlang weitergetragenen Darstellung aufzeigen, laden sie dazu ein, utopische Formen und Modelle einer ›Rückkehr zur Natur‹ zu skizzieren und dabei die Frage nach der Gemeinschaft neu zu diskutieren.
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