Einsamkeit und Pilgerschaft: Figurationen und Inszenierungen in der Romantik 9783110634709, 9783110630602

Loneliness, a concept already discussed before 1800, is adapted as a cultural technique in the Romantic understanding of

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German Pages 298 [300] Year 2019

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
1. Der Pilger auf Wanderschaft: Einsamkeit, innere Suche und Schau-Lust
Reisende, Pilger und Einsiedler
„Mein müder Fuß in Einsamkeit!“
2. Einsiedler und Einzelgänger: Inszenierung und Weltunsicherheit
„Eine andre Freude und ein andres Leben“
Ludwig Tiecks Eremiten
Eine „sonderbare Wohnung“
Schwinds „Gedankendepot“
Franz Grillparzer: Das Kloster bei Sendomir
Außenseitertum in Clemens Brentanos Judendarstellung
3. Geteilte Einsamkeit: Sprache, Schreiben, Dasein
Geteilte Einsamkeit
Geselligkeit und Politik
Beobachtete Einsamkeit
Die Einsamkeit des Gelehrten
Waldeinsamkeit
4. Wegweiser in die Moderne: Der Einsiedler im Stadtgetümmel
Der aufgeklärte Einsiedler im Magazin zur Erfahrungsseelenkunde
Misanthropie und Monotonie
Literaturverzeichnis
Autorenverzeichnis
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Einsamkeit und Pilgerschaft: Figurationen und Inszenierungen in der Romantik
 9783110634709, 9783110630602

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Einsamkeit und Pilgerschaft

Schriften der Internationalen Arnim-Gesellschaft

Band 13

Einsamkeit und Pilgerschaft Figurationen und Inszenierungen in der Romantik Herausgegeben von Antje Arnold, Walter Pape und Norbert Wichard

ISBN 978-3-11-063060-2 e-ISBN (PDF) 978-3-11-063470-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-063142-5 ISSN 1439-7889 Library of Congress Control Number: 2019951672 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Walter Pape und Norbert Wichard Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhalt Vorwort | VII

1 Der Pilger auf Wanderschaft: Einsamkeit, innere Suche und Schau-Lust  Lothar Ehrlich  Reisende, Pilger und Einsiedler Arnims Drama Halle und Jerusalem | 3 Roswitha Burwick  „Mein müder Fuß in Einsamkeit!“ Sigismunde Uhtke: Weiblicher Blick auf das Theater der Welt | 13

2 Einsiedler und Einzelgänger: Inszenierung und Weltunsicherheit  Christof Wingertszahn  „Eine andre Freude und ein andres Leben“ Achim von Arnims Einsiedler | 37 Norman Kasper  Ludwig Tiecks Eremiten Muster kunsthistoriografischer Signifikanz zwischen epistemischem Charakter und komischer Sozialfigur | 65 Stefan Nienhaus  Eine „sonderbare Wohnung“ Der Ort des Einsiedlers in Brentanos Roman Godwi oder das steinerne Bild der Mutter | 83 Oliver Jehle  Schwinds „Gedankendepot“ Über Einsamkeit, Elementargeister und die Energie organischer Natur | 97 Rolf Füllmann  Franz Grillparzer: Das Kloster bei Sendomir Dokument einer österreichischen Romantik? | 113

VI | Inhalt

Konrad Feilchenfeldt  Außenseitertum in Clemens Brentanos Judendarstellung Romantisches Erzählen im Vorfeld von Paul Heyses ‚Falkentheorie‘ | 127

3 Geteilte Einsamkeit: Sprache, Schreiben, Dasein  Jan Oliver Jost-Fritz  Geteilte Einsamkeit Poetische Kommunikation bei Arnim, Wordsworth und Coleridge | 147 Barbara Becker-Cantarino  Geselligkeit und Politik Bettina von Arnims ‚Salongespräche‘ | 169 Johannes Grave  Beobachtete Einsamkeit Zum Verhältnis von Rückenfigur und Betrachter bei Caspar David Friedrich | 183 Roger Paulin  Die Einsamkeit des Gelehrten August Wilhelm Schlegel zwischen Welt und Studierstube | 197 Hans-Georg Pott  Waldeinsamkeit Paradigma einer Daseinsmetapher bei Eichendorff | 205

4 Wegweiser in die Moderne: Der Einsiedler im Stadtgetümmel  Sheila Dickson  Der aufgeklärte Einsiedler im Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Ein Krankheitsbild in der Spätaufklärung und in der Romantik | 221 Brigitte Prutti  Misanthropie und Monotonie Zur Einsamkeit im Alter bei Stifter und Grillparzer | 235 Literaturverzeichnis | 257 Autorenverzeichnis | 285

Vorwort Wieder ein Tag vorüber in der Einsamkeit der Dichtung! Achim von Arnim: Die Kronenwächter1

1 Kreuze, Kirchen, Klöster sowie Prozessionen, Wallfahrten und Einsiedler sind sinnliche Konkretionen des katholischen Glaubens, die ihre Wirkung auch bei den Romantikern haben.2 Allerdings haben wir es nicht mit einer umstandslosen Identifikation zu tun − vielleicht mit Ausnahme des späten Brentano −, sondern mit einer vielfältig gebrochenen, geradezu ‚sentimentalischen‘ Rezeption. Joseph von Eichendorff hat Jahre später (1857) darüber raisonniert: Die Aufgabe ist jetzt eine andere geworden, als sie im Mittelalter war. Damals war der Glaube noch stark und allgemein, und es galt nur, die überwiegende Sinnlichkeit zu brechen. Jetzt dagegen ist der Zweifel in die Welt geworfen, wir können ihn nicht ignorieren; da hilft das einsiedlerische Zurückziehen nichts, gleichwie etwa der Vogel Strauß dadurch, daß er den Kopf unter die Flügel steckt, darum dem Feinde nicht entgeht. Es ist daher jetzt mehr ein geistiges Ringen mit der geistigen Welt in uns und außer uns. Wir müssen nach außen entgegentreten den bösen Elementen [...]. Die Welt hat nun einmal die Unschuld verloren. Den Beschaulichen verfolgen die neuen Gedanken und Zweifel in Kloster und Zelle; der Aktive muß gegen sie (i.e. die neuen Gedanken) fechten. Zu diesem Gefechte, sowie zu jener bloßen persönlichen Abwehr, gehören aber dieselben Waffen, die der Feind führt, sonst ist man vorweg verloren: Philosophie gegen Philosophie etc. etc.3

Zwei Beispiele können die unterschiedlichen Reaktionen verdeutlichen: Bettina von Arnim scheint sich religiöse Orte und Praktiken ‚romantisch‘ anzueignen und sie fortzuschreiben; bei Achim von Arnim hingegen wird der spielerische Umgang mit dem Erlebnis einer Wallfahrt erkennbar. Bettina von Arnims Goethes Briefwechsel mit einem Kinde mag dafür ein Zeugnis sein, wie religiöse Orte und Praktiken ‚romantisch‘ neu wahrgenommen werden. Eine Episode in ihrem Goethe-Buch handelt vom Wallfahrtsort Nothgottes im Rheingau bei Rüdesheim,

|| 1 Arnim: Einleitung. Dichtung und Geschichte − Werke in sechs Bänden, Bd. 2, S. 11. 2 Vgl. zur „Raumerschließung“ durch das Wallfahrtswesen Nebgen: Konfessionelle Differenzerfahrungen, S. 97–102. 3 Eichendorff: Die Heilige Hedwig − Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 5, S. 841. Siehe dazu auch Mathias Herweg: Anti-antikes Mittelalter. Romantische Identitätssicherung in Eichendorffs Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands, mit Rückblicken zum Marmorbild − In: Herweg und Keppler-Tasaki (Hrsg.): Rezeptionskulturen, S. 112−150, hier S. 118. https://doi.org/10.1515/9783110634709-202

VIII | Vorwort

der auch in Bezug zur Rheinreise von Achim von Arnim und Clemens Brentano 1802 steht. Gerade die Rheinlandschaft ist für die Romantiker attraktiv: Der ‚romantische‘ Blick auf die Natur verschmilzt mit dem Blick auf die „Relikte der Vergangenheit, wie sie sich in Burgen- und Klosterruinen zuhauf besonders im Bereich des Mittelrheins finden lassen“.4 Achim von Arnim schildert noch im Juli 1802 von Zürich aus seiner Tante Louise von Schlitz den Aufenthalt in Nothgottes („Erinnerungen vom Rhein“), wobei er direkt nach der Evokation des Pilgerchors eine ironische Distanz zu ihm aufbaut: Dann zog ich wieder mit der Procession nach Noth Gottes und sang mit der aufbrechenden Morgenröthe und der liebligen Wallpurgis von dem Chor herab heilige Gesänge, die langsam und herrlich duftend wie Balsam über die Menge hinströmten. Ich möchte wohl gut dichten und singen können, um mein Leben auf dem Marktschiff zwischen Frankfurt und Mainz zu versingen.5

Es ist nicht gerade pilgerhaft, sein Leben zu „versingen“. Und so ist auch die „lieblige Wallpurgis“ keine Pilgerin, sondern die Tochter eines Rüdesheimer Gastwirtes. Die Heilige Walpurgis hat in der Gastwirtstocher ihr sinnlich-weltliches Gegenbild, erinnert sich doch Arnim 1828 in einem Brief an Christian Brentano: Walpurgis ist mir eine freundliche Erinnerung an eine Wallfahrt von Rüdesheim, wo eine schöne Jungfrau des Namens himmlische Noten durch schöne irdische Lippen ertönen ließ. […] Es soll aus ihr nachher einige Lüderlichkeit hervorgegangen sein, woran aber der Clemens so unschuldig war wie ihre Schutzheilige, am unschuldigsten ich, der vor seltsamer Bewunderung sie kam anzureden wagte.6

Die Welt hat eben – so Eichendorff – „einmal die Unschuld verloren“. In diesem Sinne − „da hilft das einsiedlerische Zurückziehen nichts“ − mahnt auch im ersten Teil von Bettina von Arnims Briefroman Goethes Mutter die junge Bettine: „Das kann ich nicht von Dir leiden, daß Du die Nächte verschreibst und nicht verschläfst, das macht Dich melancholisch und empfindsam […].“7 Und etwas später folgen die mahnenden Worte: „Adieu, bleib’ nicht zu lang’ im Rheingau; die schwarzen Felswände, an denen die Sonne abprallt, und die alten Mauern,

|| 4 Nebgen: Konfessionelle Differenzerfahrungen, S. 92f., Zitat S. 92. 5 Brief Nr. 234 E − Werke und Briefwechsel (Weimarer Arnim-Ausgabe), Bd. 31, S. 54. 6 Ebenda, S. 529f. im Kommentar von Heinz Härtl. 7 B. von Arnim: Werke und Briefe, Bd. 2, S. 50.

Vorwort | IX

die machen Dich melancholisch.“8 Im Antwortschreiben erzählt Bettine ganz konkret von ihren Erlebnissen, nämlich in Nothgottes, sie schreibt ausdrücklich „bei Tag“, also ohne Melancholie: […] vor ein paar Tagen waren Wir in Notgottes, da war eine große Wallfahrt, der ganze Rhein war voll Nachen, und wenn sie anlandeten, ward eine Prozession draus und wanderten singend eine jede ihr eigen Lied, neben einander hin; das war ein Schariwari, mir war Angst, es möcht’ unserm Herrgott zu viel werden; so kam’s auch: er setzte ein Gewitter dagegen und donnerte laut genug, sie haben ihn übertäubt, aber der gewaltige Regenguß hat die lieben Wallfahrter aus einander gejagt, die da im Gras lagen, wohl tausende, und zechten […].9

Das konkrete Erleben scheint der Bettine-Figur fast schon zu viel zu werden; das Wallfahrtsgeschehen bricht sozusagen in ihr Natur- und Welterleben ein. Die Unruhe, die eine große Wallfahrt auslöst, blockiert die Möglichkeit schwärmerischer Imagination: Ich kann Ihr [Goethes Mutter] sagen, mir war ganz unheimlich; ich bin heut noch kaputt. Ich seh’ lieber die Lämmer auf dem Kirchhof weiden als die Menschen in der Kirch’; und die Lilien auf dem Feld’, die ohne zu spinnen, doch vom Tau genährt sind, – als die langen Prozessionen drüber stolpern und sie im schönsten Flor zertreten.10

Die Konkretion des Geschehens löst dennoch etwas bei der Bettine-Figur aus: die Boote, die Menschen, Kreuz und Kirche, das Feiern der Leute. Wenn der ‚echte‘ Wallfahrer ein paar wenige Tag unterwegs ist, in Nothgottes Gott dankt und um Hilfe bittet, so geht die sehnsuchtsvolle, reflexive Beobachtung der Nicht-Pilgerin Bettines darüber hinaus: Der heilige Ort in der Landschaft wird zum Anlass des Nachdenkens über eine Pilgerschaft des Lebens. Achim von Arnim nimmt im Schluss-Teil vom Wintergarten nochmals Bezug auf Nothgottes und seine Rheinreise mit Clemens Brentano, der fiktionalisiert angesprochen wird: „Waren wir nicht fromme Pilger nach Noth Gottes, und hielten den singenden Engeln so treulich die Notenbücher, und doch mußten wir fortziehen, wir beyde, auch du, der du so nahe geboren.“11 Auch hier ist von Pilger- und Wanderschaft des Lebens die Rede, aber wiederum durch die sinnlich angeschauten „singenden Engel“ ironisch gebrochen, denen die Rheinreisenden ganz profan die Notenbücher hielten und gerade nicht in den Chor der Wallfahrer

|| 8 Ebenda, S. 51. 9 Ebenda, S. 53. 10 Ebenda. 11 Arnim: Der Wintergarten − Werke in sechs Bänden, Bd. 3, S. 303.

X | Vorwort

einstimmen. War doch gerade zuvor von „den schönen Töchtern des Städtleins“12 die Rede. Die Bettine-Figur in ihrem Goethes Briefwechsel mit einem Kinde ist eine zerrissene Beobachterin der Wallfahrt. Die Gedanken, die sie an einem anderen Pilgerort, Altötting in Bayern, quälen, zeugen von ihren reflexiven Perspektive: „Wo alle beten, sollt ich auch beten, dachte ich, aber nimmermehr, das Herz war in beständigem Klopfen […].“13 Bei diesem ‚romantischen‘ Sehnen ist jedoch auch immer die einsiedlerische Isolation und der Weltrückzug mitzudenken.

2 Die ‚sentimentalisch‘ grundierte Rezeption christlicher Riten und die ‚Einsamkeit‘ als Schlüsselbegriff der Literatur der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zeigen wie sehr beide literarische Antworten der Krisenjahre um 1800 sind. Es gilt jetzt, was nicht nur Johann Georg Zimmermanns Über die Einsamkeit (1784/85) deutlich macht: „Die Weltabgewandtheit des Eremiten als extremes Lebensmodell wird verabschiedet zugunsten einer Einsamkeit, die als Kulturtechnik des aufgeklärt-empfindsamen Bürgers, als Verhaltensmodus innerhalb der Gesellschaft“14. Auch in Hölderlins Hyperion oder der Eremit in Griechenland (1797/99), der ohne Rousseaus ‚einsamen Spaziergänger‘ (Les Rêveries du promeneur solitaire, 1782) nicht denkbar ist, ist der reisende, einsam Briefe schreibende Eremit durchaus nicht weltabgewandt. Bereits die Titelentwürfe Arnims für die Zeitung für Einsiedler15 thematisieren diese ‚neue‘ Einsamkeit: „Des Einsiedlers Stammbuch“, „Welteinsamkeit“, „Der Einsiedler in der Gesellschaft“, „Der Einsiedler auf Reisen“; in der „Ankündigung der allgemeinsten Zeitung“ werden die Adressaten, „welche die Veränderungen der letzten Jahre aus ihrem Amte, Familien-Kreise, Ueberflusse herausgerissen“ als „neue Einsiedler“ und zurückgezogene Müßiggänger beschrieben, die ihr Leben der Literatur widmen und durch Publikationen wie diese getröstet werden (in Buchform als „Tröst Einsamkeit […]“ erschienen). Es waren durchaus auch

|| 12 Ebenda. 13 B. von Arnim: Werke und Briefe, Bd. 2, S. 341. 14 Kathrin Wittler: Einsamkeit. Ein literarisches Gefühl im 18. Jahrhundert, S. 191. Zur Einsamkeit als Kulturtechnik vgl. auch Thomas Macho: Mit sich allein. Einsamkeit als Kulturtechnik. – In: Aleida und Jan Assmann (Hrsg.): Einsamkeit, S. 27–44. 15 Renate Moering: Entstehung der Zeitung für Einsiedler − Arnim: Werke und Briefwechsel (Weimarer Arnim-Ausgabe), Bd. 6,2, S. 631f.

Vorwort | XI

„die Veränderungen der letzten Jahre“, die dazu führten, dass seit der Pandora (1808) „Figuren der Einsamkeit [...] im Zentrum von Goethes Spätwerk“ stehen.16 Für Achim von Arnim war „eine einsiedlerhafte Zurückgezogenheit auch immer die Voraussetzung guter Kunst“17. Dem Konstrukt des einsamen Schriftstellers und melancholischen Lesers steht im Sinne des Kommunikationsparadox aber das von Brentano in einem Brief vom 29.11.1807 dem Verleger Johann Georg Zimmer gegenüber skizzierte Konzept der Zeitschrift gegenüber: „Nichts modernes, nichts Gelehrtes, nichts Getändeltes, nichts Bekanntes, nichts Langweiliges, eine schöne reizende Kunstkammer“18. Der ‚Inszenierung‘ des Einsiedlers steht das mit dieser Zeitung betriebene, gesellige und streitbare Leben der Heidelberger Romantik entgegen, wie überhaupt „die Zeit um 1800 vom Kult der Einsamkeit ebenso geprägt [war] wie von der Praxis der Geselligkeit“19 in Salons und anderen Formen der Zusammenkunft.20 Zu Recht stellt Martina Wagner-Egelhaaf fest: Aber die scheinbar schlichte Opposition von Einsamkeit und Geselligkeit hat es im wahrsten Sinne des Wortes ‚in sich‘: Denn Einsamkeit und Geselligkeit sind einander nicht nur entgegengesetzt, sie sind eben dadurch auch strukturell aufeinander bezogen. Einsamkeit ist Einsamkeit nur, weil sie nicht Geselligkeit ist, und Geselligkeit läßt sich nur in Abgrenzung von der Einsamkeit begreifen.21

3 Einsame und Fremde, Einsiedler und Pilger sind bevorzugte literarische und bildkünstlerische Figuren bei Arnim, Tieck, Clemens Brentano, A. W. Schlegel, C. D. Friedrich u.a.m. Das Spektrum dieser Figurenkonstellationen ist weit und zugleich literarisch produktiv. Dies hat auch das 12. Kolloquium der Internationalen Arnim-Gesellschaft (IAG) geprägt, dessen Beiträge und Ergebnisse dieser Band versammelt.

|| 16 Ernst Osterkamp: Einsamkeit und Entsagung in Goethes „Wahlverwandtschaften“, S. 31. 17 Werke und Briefwechsel (Weimarer Arnim-Ausgabe), Bd. 6,2, S. 633. 18 Ebenda, S. 628. 19 Susanne Schmid: Einleitung: Einsamkeit und Geselligkeit um 1800. – In: Schmid (Hrsg.): Einsamkeit und Geselligkeit um 1800, S. 7–16, hier S. 7. 20 Siehe z.B. Ann T. Gardiner: Salons, Society, and Solitude chez Madame de Staël – ebenda, S. 53−66. 21 Wagner-Egelhaaf: Unheilbare Phantasie und heillose Vernunft. Johann Georg Zimmermann, Über die Einsamkeit (1784/85)“. – In: Aleida und Jan Assmann (Hrsg.): Einsamkeit, S. 265–279, hier S. 265.

XII | Vorwort

In der ersten Sektion Der Pilger auf Wanderschaft: Einsamkeit, innere Suche und Schau-Lust untersucht zunächst Lothar Ehrlich Arnims Doppeldrama Halle und Jerusalem und nutzt dabei die Unterscheidung der Figuren zwischen Pilger und Reisenden, wobei die Hauptfiguren der „Liebes- und Ehehandlung des ersten Teils neben Ahasverus als religiöse Pilger durchaus verschiedene Motive haben. Roswitha Burwick erschließt den ‚weiblichen Eremitenblick‘ auf das Welttheater bei Sigismunde Uhtke; geöffnet wird der (religiöse) Rückzugsort für die Reflexion auf die Welt. Mit Uhtke wird eine bisher von der Forschung unbeachtete Autorin der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erschlossen. Einsiedler und Einzelgänger: Inszenierung und Weltunsicherheit ist der Titel der folgenden großen Sektion des Bandes, die das Thema anhand zentraler Autoren und Werken der Romantik untersucht. Christof Wingertszahn widmet sich umfassend der Figur des Einsiedlers bei Achim von Arnim. Ludwig Tiecks Eremiten, deren unterschiedliche Funktionen (epistemischer Charakter, komische Sozialfigur) analysiert werden, stehen bei Norman Kasper im Mittelpunkt. Stefan Nienhaus lenkt den Blick auf Clemens Brentanos Godwi und die programmatische Wohnung des Einsiedlers. Einsiedler, Heilige, Nymphen und andere außerordentliche Figuren liest Oliver Jehle in der Bildpoesie des Spätromantik-Malers Moritz von Schwind. Mit Grillparzer wendet sich Rolf Füllmann einem weiteren Österreicher zu; er untersucht Grillparzers Novelle Das Kloster bei Sendomir im Kontext der europäischen Romantik „als schauerromantisches Nachtstück“. Das Außenseitertum in der Judendarstellung bei Clemens Brentano analysiert Konrad Feilchenfeldt, indem er mittels einer innovativen Inbezugsetzung zu Heyses ‚Falkentheorie‘ bei Brentano die Aufschlüsselung jüdischen Identität als narratologischen Aufgabe sieht (Die Schachtel mit der Friedenspuppe und Fragment einer Erzählung aus der Französischen Revolution). Dass Einsamkeit nicht nur ein solitäres Ereignis ist, darauf zielt die dritte Sektion „Geteilte Einsamkeit: Sprache, Schreiben, Dasein“ ab: Jan O. Jost Fritz stellt das romantische Konzept ‚Einsamkeit‘ bei Arnim, Wordsworth und Coleridge mit Bezug auf dessen mediales und kommunikatives Potential dar. Ebenso geht es Barbara Becker-Cantarino um die kommunikativen Strategien und die damit verbundenen Formen der Geselligkeit in den ‚Salongesprächen‘ von Bettina von Arnim. Johannes Grave schlägt eine ‚Lesart‘ der berühmten und anscheinend einsamen Rückenfiguren Caspar David Friedrichs vor, die den Betrachter selbst zum Beobachter der Einsamkeit werden lässt. Die Spannung zwischen Einsamkeit der Studierstube und Weltoffenheit weiß der Gelehrte August Wilhelm Schlegel zu nutzen, wie Roger Paulin, Autor der jüngst erschienenen Schlegel-Biographie herausarbeitet. In Eichendorffs Konzept der ‚Waldeinsamkeit‘ erschließt Hans-

Vorwort | XIII

Georg Pott wiederum Daseins-Begründungen, die das literarische Feld übersteigen. Die letzte Sektion des Bandes weist nach vorn: Wegweiser in die Moderne: Der Einsiedler im Stadtgetümmel. Zunächst führt Sheila Dickson vor, wie in Karl Philipp Moritz’ Magazin zur Erfahrungsseelenkunde Einsiedler dargestellt und psychologisch vermessen werden, die sich inmitten der Stadt in ihre Wohnungen eingeschlossen haben und dem ‚Stadtgetümmel‘ entflohen sind. Wenn auch einige Jahrzehnte nach Moritz, öffnet bei Grillparzer und Stifter, denen sich Brigitte Prutti zuwendet, ebenso die Psychologie der dargestellten einsamen, zurückgezogenen alten Männer zwischen Misanthropie und Monotonie eine neue Betrachtungsweise. Von Misanthropie oder Monotonie konnte während des 12. Kolloquiums der Internationalen Arnim-Gesellschaft in Magdeburg keine Rede sein. Im Gegenteil: Bei bestem, wenn nicht fast zu heißem Wetter wurde angeregt diskutiert und freundschaftlich konferiert. Einen Beitrag dazu leistete die Gastfreundschaft des Roncalli-Hauses in Magdeburg, wo getagt wurde, sowie die des Novalis-Museums Schloss Oberwiederstedt, das bei einem Ausflug besucht werden konnte. Die Internationale Arnim-Gesellschaft ist darüber hinaus wieder der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die Förderung des Kolloquiums dankbar. Die Herausgeber danken schließlich allen Autorinnen und Autoren für ihre Beiträge und Mitarbeit sowie dem Verlag für die Geduld und gute Zusammenarbeit. Köln und Aachen, im September 2019 Antje Arnold, Walter Pape und Nobert Wichard

| 1 Der Pilger auf Wanderschaft: Einsamkeit, innere Suche und Schau-Lust

Lothar Ehrlich

Reisende, Pilger und Einsiedler Arnims Drama Halle und Jerusalem Ludwig Achim von Arnims Doppeldrama Halle und Jerusalem entstand 1809/10 in Berlin, wurde im Februar 1810 für den Druck abgeschrieben, obwohl der Dichter den zweiten Teil noch im Mai „in der Feile“1 hatte, bei Mohr und Zimmer in Heidelberg im September gedruckt und Anfang Dezember 1810, mit der Jahreszahl 1811, ausgeliefert. Im Impressum steht: „Seinen Freunden und Gevattern C. Brentano und J. Görres widmet dieses Trauerspiel in zwei Lustspielen zur Erinnerung guter und böser Tage in Heidelberg der Verfasser“.2 Verweist die Genrebezeichnung „Trauerspiel in zwei Lustspielen“ auf die dramen- und theaterästhetische Spezifität der Dichtung, so erinnert eine beigegebene „Anzeige“ an Arnims alten, seit dem Besuch bei Ludwig Tieck Ende November 1804 in Ziebingen verfolgten Plan der Herausgabe einer Alten deutschen Bühne.3 Und bereits im Februar 1805 schwebte ihm überdies vor, im Kontext seiner editorischen Bemühungen um barocke Literatur, Gryphius’ Cardenio und Celinde nachzudichten. Schrieb er damals an Brentano „geändert soll so wenig wie möglig werden, nur weggelassen dieser oder jener Sonnenflecken, der den reinen Ton dieses wunderbaren Himmels durchschattet“,4 so entstand 1809 allerdings keine Nachdichtung, sondern ein eigenständiges Kunstwerk, das Roger Paulin dramaturgisch zutreffend charakterisiert hat: „Die Form des Dramas basiert auf dem Shakespeare und Calderón vereinigenden, universalpoetisch-synthetischen religiösen Großdrama der romantischen Theorie und Praxis.“5

|| 1 Clemens Brentano an Wilhelm Grimm, Berlin, 8. Mai 1810. Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 32, S. 272. 2 Arnim: Halle und Jerusalem, S. 48. Im Folgenden werden die Zitate nach dieser Ausgabe im fortlaufenden Text mit Seitenangabe in runder Klammer nachgewiesen. 3 Vgl. Steig: Achim von Arnim und die ihm nahestanden, Bd. 1, S. 123. 4 Arnim an Clemens Brentano, Berlin, vermutlich 26./27. Februar 1805. Arnim: Werke und Briefwechsel, Bd. 32, S. 27. 5 Paulin: Gryphiusʼ „Cardenio und Celinde“ und Arnims „Halle und Jerusalem“, S. 171. Sind Anregungen durch die Dramen Shakespeares vorwiegend in der Gestaltung der Figuren und der Struktur in Halle spürbar, so Calderóns in der religiösen Dimension von Jerusalem. Das betrifft vor allem Die Andacht zum Kreuze. Vgl. dazu Ehrlich: Ludwig Achim von Arnim als Dramatiker, S. 134–136. https://doi.org/10.1515/9783110634709-002

4 | Lothar Ehrlich

In konzeptioneller Übereinstimmung mit dem gleichzeitig entstandenen Roman Armut, Reichtum, Schuld und Buße der Gräfin Dolores (1810), reagierte Arnim in Halle und Jerusalem am Beispiel der Liebe auf die mit großer Sensibilität wahrgenommene Krise der zwischenmenschlichen Beziehungen als gravierendem Symptom der gesellschaftlichen Entwicklung nach der Französischen Revolution. Während der Besetzung Preußens durch Napoleon nach der Schlacht bei Jena und Auerstedt 1806 war Arnim bestrebt, durch Poesie im Geiste seines „grossen Lebensplanes“ vom 9. Juli 1802,6 „die geistige, ethische und religiöse Erneuerung des Staates“7 zu unterstützen. Insofern kulminiert das Doppeldrama im mythischen „Pilgerabenteuer“ Jerusalem in der utopischen Transfiguration eines humanistischen Tat-Ethos, das Ulfert Ricklefs komplex und differenziert in seinen weitverzweigten ordens- und geheimgesellschaftlichen sowie christlichen Motiven, Intentionen und Horizonten analysiert hat.8 Der christliche, sich gleichermaßen auf die traditionellen konfessionellen (katholischen, protestantischen, pietistischen) sowie auf moderne religiöse Tendenzen beziehende Autor setzt sich in Halle und Jerusalem mit dem problematischen Zustand des Glaubens zu seiner Zeit kritisch-produktiv auseinander. Schon 1803 nahm Arnim in Genf Chateaubriands einflussreiche ästhetisierende Abhandlung Der Genius des Christentums und die Schönheiten der christlichen Religion (1802) zur Kenntnis,9 von der er sich programmatisch abgrenzt, denn, so am Ende des Dramas formuliert, „Doch des Lebens Ziel ist Handeln“ (S. 298). Ermöglicht und verstärkt wird das aktive religiöse Verhältnis zur Welt für Arnim vornehmlich durch innere Läuterung des Individuums, durch tiefe Frömmigkeit, die im zweiten Drama durch die Demonstration von Buße und Entsagung in einer symbolisch aufgeladenen Pilgerfahrt zur Grabeskirche in Jerusalem ihren Ausdruck findet. Dass Arnim nach den weitgehend realistisch geschilderten Geschehnissen und Konflikten zwischen den Figuren im Gegenwartsdrama Halle im sich anschließenden historisch-mythischen Drama Jerusalem ein phantastisches

|| 6 Arnim an Clemens Brentano, Zürich, 9. Juli 1802. Arnim: Werke und Briefwechsel, Bd. 31, S. 64f. 7 Ricklefs: Arnims Städtedrama, S. 223. 8 Ebenda, S. 195–244. Vgl. Ehrlich: Ludwig Achim von Arnim als Dramatiker, S. 88-138; Ehrlich: Ludwig Achim von Arnims Dramatik; ferner Kremer: Durch die Wüste; Daniel Fulda: Himmel und Halle: Vom Ort der Aufklärung zur Verklärung der Orte in Achim von Arnims Studentenund Pilgerdrama. − In: Pape (Hrsg.): Raumkonfigurationen in der Romantik, S. 121–137; Scherer: Witzige Spielgemälde, S. 527–532; zuletzt Ehrlich: Farbsymbolik in Arnims Drama „Halle und Jerusalem“. 9 Vgl. Arnim an Clemens Brentano, Lyon, 12. Januar 1803. Arnim: Werke und Briefwechsel, Bd. 31, S. 175–177.

Reisende, Pilger und Einsiedler | 5

„Pilgerabenteuer“ (so die Genrebezeichnung) spielerisch entfaltet, verweist auf seine religiöse Intention, die dramaturgisch die traditionellen Gattungsgrenzen überschreitet. In den nicht mehr konkret topografisch, sondern vorwiegend abstrakt topologisch strukturierten dramatischen Räumen10 erlebt der Leser (das Drama wurde nie aufgeführt) die von Halle nach Jerusalem Fahrenden in „Einsamkeitsorten“, auf dem Meere, dann in Wüsten und anderen „monotonen Umgebungen“,11 zunehmend in symbolischen Orten Palästinas und Syriens, auf divergierende Weise, denn nicht jeder „Reisende“ begreift sich als „Pilger“ im christlichen Wortsinn. Die vier Hauptfiguren der Liebes- und Ehehandlung des ersten Teils, Cardenio und Celinde, Lysander und Olympie, stehen, neben Ahasverus, als religiöse Pilger im Zentrum der Handlung, allerdings mit durchaus verschiedenen Motiven und Argumenten. Daneben zeigt der Autor, im ideellen und ästhetischen Kontrast zur Reflexion der physischen und metaphysischen Liebesthematik, einige Nicht-Pilger, eben bloß „Reisende“. Bei aller Differenzierung zwischen Cardenio und Celinde einerseits sowie Lysander und Olympie anderseits, denen sich der englische Admiral Sidney Smith zuordnet, der zusammen mit Olympie zum Vorbild avanciert, lassen sich im Grunde zwei Gruppen erkennen: die „Pilger“, mit denen der „Einsiedler“ Ahasverus (4. Szene) und der „Einsiedler“ in der 8. Szene verwandt sind, und die „Reisenden“. Dazu gehören die halleschen Studenten Waisenhäuser, Kümmeltürke und Dienemann12 aus dem ersten Teil sowie, erst im zweiten Teil auftretend, ein „reicher Pilger“ (2. „Die Pilger auf dem Meere“), „ein moderner Reisender“ bzw. „Der Reisende“ (12. „Die Nacht in der Herberge zu Jerusalem“, 13. „Der Ritterschlag am heil’gen Grabe“). Obwohl für die religiöse Strategie von Jerusalem vor allem die ethischen Impulse der „Pilger“ konstitutiv sind, zumal das mythische Drama durch die szenische Integration des Napoleonischen Feldzuges im Vorderen Orient 1798/99 (Sieg der Engländer und Türken über die Franzosen bei Acre unter der Führung von Sidney Smith, die erste Niederlage Napoleons als Antizipation der Befreiungskriege von 1812/13) zusätzlich eine zeitgeschichtliche Dimension erhält, nehmen die „Reisenden“ insofern eine markante Stellung ein, weil sie sich prinzipiell nicht erneuern (keine Buße tun, sondern unverändert weiterzuleben versuchen). Diese kontrastierende Nebenhandlung ist auch

|| 10 Zur Gestaltung der dramatischen Räume vgl. Fulda: Himmel und Halle (siehe Anm. 8). 11 Macho: Einsamkeit als Kulturtechnik, S. 40. 12 Arnim hat während seines Studiums in Halle (1798–1800) tatsächlich einen Kommilitonen dieses Namens kennengelernt. Es handelt sich um den späteren Verleger Johann Ferdinand Dienemann aus der sächsischen Kleinstadt Penig, der 1804 die Nachtwachen des Bonaventura herausgab. Vgl. dazu Dietzsch: Dienemann, S. 83–97, insb. S. 83–85, S. 92–94.

6 | Lothar Ehrlich

deswegen von interpretatorischem Belang, weil in ihr nicht allegorische Figurationen szenisch vorherrschen, sondern ironische, groteske und mitunter geradezu absurde Elemente, die Arnims tragikomisches Theaterkonzept („Trauerspiel in zwei Lustspielen“ [S. 48]) verwirklichen: „Ernst verwandelt sich in Spiel, /Dieses ist der Worte Ziel“ (S. 298). Allerdings dominieren die Pilger und die religiöse Atmosphäre in den 13 Szenen des Dramas, denn in lediglich vier gewinnen die Kontrastfiguren der Reisenden an ästhetischem Profil. Während Cardenio und Celinde, Lysander und Olympie für ihre durch egoistisches Liebesbegehren verursachte Schuld zu büßen willens sind, sehen die Studenten und die anderen „Reisenden“ keinerlei Anlass, ihr ethisch ohnehin nicht verantwortetes, ausschließlich materiell orientiertes Leben zu ändern. Die sich auf dem Weg nach Jerusalem vollziehenden oder nicht vollziehenden und am Heiligen Grab abgeschlossenen seelischen Wandlungen der einzelnen Figuren lassen sich nur erkennen, wenn die in Halle gewohnte Lebensweise gegenübergestellt wird. Der Hauptsünder des ersten Dramas, der ungezügelte Intellektuelle Cardenio, dem das „Ehejoch“ „verhaßt“ ist (S. 53), begehrt zunächst in „reine[r] Liebe“ (S. 79) Olympie, die bereits Lysander, der gesteht, „hier in Olympiens Nähe wird mir’s Gemeine ganz verhaßt“ (S. 81), versprochen ist und auch heiratet. Aber selbst Olympie schwankt zwischen „strenge[r] Tugend“ und ihrem vermeintlich „schlechtre[n] Teil, den die Natur Cardenio bestimmte“, was einer Sünde entspräche (S. 102). Als Cardenio nach der christlichen Trauung von Olympie und Lysander definitiv nicht zum Zuge kommt, wendet er sich mit „wilder Leidenschaft“ (S. 127) einer anderen Frau, Celinde, zu, die vom Rechtsgelehrten Baron Viren seit Jahren umworben wird, den sie ebenso wie nun neuerdings Cardenio liebt. Auch sie vermag nicht, sich für eine Beziehung zu entscheiden. Cardenio wiederum genießt die sinnliche Liebe zu Celinde, ist zugleich aber von Olympiens „lichte[r] Himmelswelt“ (S. 142) eingenommen und stellt im Hinblick auf diese Dissonanz fest: „Es ist ein ekelhaftes Wesen diese Welt, dem Herrlichsten liegt ach das Schmutzigste so nah […].“ (S. 156) An den egoistischen Ansprüchen und realen Erfahrungen der vier Hauptgestalten reflektiert Arnim in zugespitzter Weise (und mit partiell gewalttätigen Folgen) die Ambivalenzen erotischer Beziehungen, wobei er sich in dieser Dichtung (wie in seiner eigenen Biographie) letztlich zu einer religiös grundierten Identität von Liebe und Ehe bekennt. Ahasverus, von Arnim in die Dramenhandlung als geheimnisvolle sagenhafte Figur eingeführt, wird zum Katalysator für die angestrebte Buße der in unlösbare Liebes- und Ehekonflikte verstrickten Gestalten. Was er Celinde im Sinne des Autors empfiehlt, gilt auch für die anderen, trotz aller Abstufung in der eigenen Wahrnehmung von Schuld und Sünde:

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So zieh zum Heiligen Grabe unsres Herrn, zum Mittelpunkt der ganzenWelt, er lösete schon manches Pilgers Schuld, der gläubig zu ihm hingewallet, du bist nur eine Sünderin wie viele. Entsagung kann dir Keuschheit wiederbringen. (S. 185)

Im Unterschied zu den durch maßloses erotisches Begehren Schuld auf sich gezogenen Cardenio, ein „von vier Seelen Angeklagter, den schon die weltliche Gerechtigkeit verfolgt“ (S. 146), und Celinde, begeben sich Olympie und Lysander einsichtsvoll auf Pilgerschaft, denn „die Liebenden sind sich ein Volk und Vaterland und bleiben ihrem Volk und ihrem Vaterland getreu […].“ (S. 192) Daher ist ihr Weg nach Jerusalem ein anderer als der von Cardenio und Celinde: Während in der 3. Szene „Die Taufe auf dem Meer“ das Kind von Olympie und Lysander in symbolischer Harmonie mit dem Himmel getauft wird, zeigt die folgende Szene in der Wüste im Gegensatz dazu „das tote Sündenkind“ von Cardenio und Celinde. Und im letzten Tableau („Der Ritterschlag am heil’gen Grabe“) sterben beide (aber auch Lysander) durch ihre Pilgerschaft gesühnt, und „drei helle Kreuze erscheinen über den Gräbern“ (S. 298). Olympie beabsichtigt hingegen, in ein Kloster zu gehen („ich bin dem Himmel schon vermählt“, S. 286) und übergibt Sidney („Ich bin die deine im Gebet“, S. 296) ihr Kind, damit er es auf „Taten“ im „Leben“ (S. 286) vorbereiten möge. Der Guardian (Vorsteher) des Klosters in Jerusalem schlägt den englischen Feldherrn, der seiner Liebe zu Olympie entsagt („Olympie, nimm der Trauer und des Abschieds Kuß, er schließet meinen Mund für jede Frau“, S. 296) zum „Ritter“ des „Heil’gen Grabes“ (S. 294). Sidney wird, als Konsequenz der Vereinigung von mythischem Pilgerzug und historischem „Kriegszug“ der Engländer gegen die Franzosen (vgl. insbesondere die 6. Szene „Die Belagerung“ von Acre 1799), auf Basis seiner Frömmigkeit und politischen Tätigkeit zum visionären zeitgeschichtlichen Repräsentanten des Kampfes gegen Napoleon stilisiert – und das in einem zu transzendentaler Allegorik neigenden religiösen Drama, welches vor allem von Schuld und Sünde handelt und erzieherisch auf Reinigung durch Buße und Entsagung zielt. Mit dieser in die Gesellschaft wirkenden Konzeption setzt der Autor seine unmittelbar nach der militärischen Niederlage Preußens im Aufsatz Was soll geschehen im Glücke formulierten patriotischen Vorstellungen eines „neuen Rittertums des Geistes und der Wahrheit“ fort.13 Unter den „Reisenden“, die eben keine „Pilger“ sind, befinden sich aus dem Personal von Halle namentlich die Studenten Kümmeltürke, Waisenhäuser und Dienemann, die im Zentrum der satirischen 5. Szene „Die Reisenden und die Jungfrau mit dem Storche“ stehen. Wenn Kümmeltürke bedauert, dass sie sich

|| 13 Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 6, S. 200.

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nicht weiter um „das letzte hübsche Mädchen im Wirtshaus“ gekümmert haben, erinnert er an sein studentisches Leben mit dem verheirateten „Kaufmannsweibchen“ in Halle (S. 224). In Akt I (Auftritt 2) schwärmt Waisenhäuser, der „vornehme Weiber“ ablehnt, von seiner „runden Aufwärterin“ (S. 55), und Kümmeltürke gesteht in diesem entlarvenden Dialog: „Da lob‘ ich mir mein Kaufmannsweibchen, der Mann wiegt im Laden Schnupftabak ab, mein Kaffee wartet schon da, mein Schlafrock und meine Pfeife, bin da bedient wie ein Sultan […]“ (S. 55). Da sich die Studenten in ihrem Verständnis also keineswegs auf einer Wallfahrt befinden, ethische Kategorien der Pilger wie Sünde, Schuld oder Buße überhaupt nicht kennen, konfrontiert sie Arnim mit einer absurden Situation, gestaltet „eine Groteske, die sich mit den extremsten Schöpfungen des Surrealismus vergleichen kann“14: Eine „Riesenjungfrau mit dem Storche tritt auf“ (S. 226), gibt den Studenten ein absurdes Rätsel auf und tritt, da Kümmeltürke und Waisenhäuser es nicht lösen können, „beide tot“, während Dienemann, der das Rätsel (Storch oder Störchin?) aufzuklären vermag, sie als Attraktion (weil „ein paar Stockwerk zu hoch“) in Deutschland zeigen möchte (S. 227). Bevor sie jedoch von der Szene unmotiviert „verschwindet“, prophezeit die Jungfrau, die Grenze zwischen komischem Spiel und historischem Ernst überschreitend, Sidney als künftigen „Sieger von Acre“. Wenig später findet sich die Regieanmerkung „Kümmeltürke und Waisenhäuser stehen auf und sehen Dienemann nicht“ (S. 228) und die irrationalen Gespräche gehen weiter. Gegenüber dem „Reichen Pilger“, der bereits in der 2. Szene „Die Pilger auf dem Meere“ von einer „vermaledeiten Reise“ („könnte jetzt so ruhig vor meinem Keller sitzen unter der Laube, mir ein Glas Wein nach dem andern reichen lassen“, S. 205) sprach und nun beklagt, auf dem Schiff „haben sie […] meinen Magenwein, meine Pesttropfen, mein Konfekt aufgefressen, allen meinen Lebensgenuß“ (S. 229), bezeichnet Dienemann seine Universitätskameraden als „philosophische Reisende“ (S. 229) – als einen solchen hatte sich Kümmeltürke schon selbst eingeführt (S. 224). Mit diesen pointierten ,Worten‘ im satirischen ‚Spiel‘ greift Arnim sein religiöses Leitthema auf, das die Szenenfolge Jerusalems prägt, die Grundfrage, „was allem Glauben unsrer Tage fehlt“, und die Wirkungsstrategie „das tätig Strebende, das alles anpaßt und den Glauben bindet, und nicht als angewohnte Überlieferung das ewig Neuerschaffene im Herzen kennet“ (S. 285). Dem Dichter

|| 14 Kayser: Das Groteske, S. 68. Und tatsächlich nahm Breton Arnim in den Prolegomena zu einem Dritten Manifest des Surrealismus oder nicht [1942] in seine Traditionslinie auf. Vgl. Breton: Die Manifeste des Surrealismus, S. 117. Ob er Halle und Jerusalem kannte, das noch nicht ins Französische übersetzt wurde, ist zu bezweifeln.

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geht es um eine aktive Praxis des christlichen Glaubens, um tolerante humane Tätigkeit in einem unorthodoxen, überkonfessionellen Sinne. Arnim attackiert sowohl „Heidenbekehrer“ (ein Reisender erklärt, mit einem Schwert auftretend: „Das Heidentum soll untergehen“, S. 293) als auch „philosophische Reisende“ jeglicher Couleur, die nichts tun und daher den christlichen Glauben nicht befördern, sondern lediglich von ihm sprechen. Nachdem der prototypisch angelegte „tätig Strebende“ Sidney dies dem „Reisenden“ entgegengehalten hat, fasst der Dichter seine abschließende ethische Botschaft nicht in einem Dialog oder Monolog, sondern in einer kommentierenden, den dramatischen Raum entgrenzenden Regieanmerkung zusammen: Reisende wendet sich beschämt fort und zieht in alle Welt und spricht vom Christentum in tausend Worten, aber seine Worte haben keine Kraft des ewigen Lebens, weil seine Liebe ohne Tat ist, von ihm kommen alle neuen poetischen Christen, ich rede von denen, die es nur in ihren Liedern sind. (S. 294)

Hier wendet sich Arnim wiederum gegen Schriftsteller (wie Chateaubriand), die christliche Religiosität, zumal Nächstenliebe (Agape), lediglich in ihren Werken propagieren, im Leben selbst aber nicht verwirklichen Arnim gestaltet in Jerusalem zwar die Figur eines weltabgewandten, auf religiöse Energie konzentrierten Einsiedlers auf der Basis „gottgestützter“ Einsamkeit,15 andererseits entfaltet er in seinem Œuvre – in Erzählungen, Romanen und Gedichten – verschiedene Formen einer solchen Existenz,16 die literarische und gesellschaftliche Kommunikation und Praxis oft nicht ausschließt.17 Die dabei spielerisch realisierte, heterogene Pluralität divergierender Einsiedler-Gestalten und -Räume18 spiegelt sich paradigmatisch auch in der (zwischen April und September) 1808 erscheinenden Zeitung für Einsiedler, die Arnim für „Lese-Cabinette

|| 15 Assmann: Schrift, Gott und Einsamkeit. Einführende Bemerkungen. − In: Aleida und Jan Assmann (Hrsg.): Einsamkeit, S. 13–26, hier S. 13. 16 Es finden sich keineswegs nur „gottgestützte“, sondern im Gegenteil auch kuriose, prononciert antireligiöse Einsiedler-Typen, z.B. in den Erzählungen Der Wintergarten, Geschichte des Prediger Tanner und was er in der Schule gelernt, Die Versöhnung in der Sommerfrische, Isabella von Ägypten, im Roman Die Kronenwächter oder in Gedichten wie Der Eremit auf dem Schlachtfelde oder Der Einsiedler und das Klingding, nach der Schlacht bei Eichstädt. 17 Vgl. Wagner-Egelhaaf: Unheilbare Phantasie und heillose Vernunft. Johann Georg Zimmermann „Über die Einsamkeit“ (1784/85). − In: Aleida und Jan Assmann (Hrsg.): Einsamkeit, S. 265–279. 18 Vgl. den Beitrag von Christof Wingertszahn in diesem Band, S. 34−67.

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als wahre Sammelplätze dieser neuen Einsiedler“ empfiehlt,19 aber auch für „andre Leute“. Und er fordert seine Klientel auf: „Kauft ihr lieben Einsiedler […].“ Im ästhetischen Horizont des „scherzenden Gemisch[s]“ von Texten in der „wunderliche[n] Zeitung“, die gegen aufklärerische Postulate opponiert, ist im Hinblick auf die in Halle und Jerusalem thematisierte Liebesproblematik und die Einsiedler-Typologie die Pointe in der „Ankündigung“ symptomatisch: „Und wer ist einsamer als Liebende, ihr seyd die wahren Einsiedler.“ Im „Pilgerabenteuer“ indessen fokussiert der Dramatiker die episch-offen strukturierte Skizzierung der Stationen des Weges von Halle nach Jerusalem (auf dem Meere, in Acre, in der Wüste, schließlich in der heiligen Stadt und am Heiligen Grab) im Grunde auf die Alternative religiöses Pilgern oder säkularisiertes Reisen, also auf dynamische Bewegung in abstrakt topologischen (nicht real topografischen) szenischen Räumen. Leitmotivisch dominiert also nicht die Denkfigur des Einsiedlers, sondern die der Pilgernden im Kontrast zu den Reisenden. Für die gebrochene romantische Identität eines Eremiten stehen – in Kontinuität von Halle nach Jerusalem – Ahasverus und episodisch ein in einer Höhle lebender „Einsiedler“ in der Szene „Die Aussicht nach Jerusalem“, der „Sterbenden“ Trost spendet, dabei aber beklagt, „doch ich, der von der Liebe zu Christus brenne, ich finde nicht mein Himmelreich […].“ Der Einsiedler hat nur einen Wunsch: „o nimm mich auf, Herr Jesu Christ, weil du für uns gestorben bist.“ (S. 254) Unmittelbar danach steht eine performativ zu realisierende Regiebemerkung, die auf wunderbare Weise den ersehnten transzendentalen Vorgang beschreibt: Bei diesen Worten entschläft er [der Einsiedler] in Verzückung, Jesus sinkt vom Himmel herab mit blutenden Wunden am Kreuz, er senkt sich auf ihn, berührt ihn mit seinem Munde und mit seinen Wunden, denen sich gleiche Wunden an dem Körper des Mönchs [!] öffnen, Christus erhebt sich langsam in unendlicher Herrlichkeit von Engeln, der Einsiedler erwacht. (S. 254)

Kurz darauf geht der Eremit in das ewige Leben ein. Vorübergehend leben auch Cardenio und Celinde in „zwei Einsiedeleien“ (S. 246) in der Wüste. Der aktivistische Held aus Halle identifiziert sich mit der altfranzösischen, in Görres Die teutschen Volksbücher (1807) aufgenommene Gregorius-Legende, einem extremen Paradigma entsühnender Askese: Gregorius lebte „siebzehn Jahre nach Gottes Willen“ an einen „wilden Stein“ gekettet, „er blieb auf dem Stein, von dem er weit in die See sehen konnte, hatte keinen Schirm

|| 19 „Ankündigung“. Arnim: Werke und Briefwechsel. Bd. 6, S. 1. Die folgenden Zitate ebenda, S. 1f.

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gegen Sturm und Regen, keine Getränke als den Regen, keine Nahrung als den Sturm […]“ (S. 248). Dadurch erfährt Cardenio eine Verwandlung seiner erotischen Beziehung zu Celinde: „[…] erst wenn ich kann in deinen Armen ruhen und deiner nicht begehren, dann bin ich rein, der ew’gen Liebe ganz ergeben.“ (S. 249) Insofern ist die seelisch reinigende Existenz als Einsiedler die unabdingbare Voraussetzung dafür, dass Cardenio und Celinde am „heil‘gen Grabe“ in Gnade sterben dürfen. Die Ahasverus-Gestalt wurde zwar in Halle (III, 10) von Cardenio mit den Worten „So früh schon in der Einsamkeit“ (S. 184) und von Waisenhäuser in „Die Versuchungen in der Wüste“ als „alter Einsiedler“ (S. 245) apostrophiert, doch führt er auf seiner Wanderung durch die Welt keineswegs ein kontemplatives, sondern ein aktives Leben. Mehr noch: Arnim exponiert den (angeblich) ewigen Juden einerseits im Sinne der überlieferten Legende – „Immer weiter muß ich schreiten, schüttle nie den Staub von meinen Schuhen, muß mit einer innern Unruh’ streiten und kann nimmer, nimmer ruhen“ (S. 191) –, andererseits erhält er aber im Sinne Arnims die Funktion, die – zumal in II, 5-9 mit aggressiver Satire gestalteten – Juden zum Christentum zu bekehren: „Bis ihr Juden all getaufet, kann ich keine Ruhe finden, muß durch alle Länder ziehen, seh’ euch martern, quälen, schinden […].“ (S. 112) Die das „Studentenspiel“ Halle eröffnenden ambivalenten, leitmotivischen Worte „Sei mir gegrüßt, du Stadt des Segens und des Fluches“ (S. 50) erklären sich erst im „Pilgerabenteuer“: Cardenio ist – eine gegen die mythologische Tradition geschriebene phantastische Erfindung Arnims – Ahasverus’ Sohn („du Frucht von meiner Sünde“, S. 257) und Olympie seine Schwester („Wohl ist sie deine Schwester, doch nicht mein Kind“, S. 258). Ahasverus gesteht dem Sohn seine Schuld: „Anthea, deine Mutter, eine griech’sche Pilgerin zum Heil’gen Grabe, ward hier das Opfer meiner wilden Lust […]“ (S. 258f.) und enthüllt nun endlich seine Biographie und die von Cardenios Mutter, die die Ehe mit einem „edlen Mann“ einging, aus der Olympie entstammt. Ahasverus, in der Außenwahrnehmung durch die dramatischen Figuren „ein reisender alter Jude“ (Personenverzeichnis, S. 49), ist tatsächlich kein Jude, denn „ich habe ihren [Antheas] Glauben angenommen, ich bin ein Christ“ (S. 259), der sich auf dem Wege zum Heiligen Grab befindet. Er stirbt als reuiger Sünder in der 11. Szene (S. 272): „Meine Tränen, meine Leiden/ Sind erblüht zu ew’gen Freuden.“ Jacob Grimm bemängelt diese Veränderung der Ahasverus-Legende in einem Brief an Arnim

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vom 22. Januar 1811: „Du hattest kein Recht, den Urtheilsspruch der ewigen Sage zu mildern.“20 Die Apostrophierung von Ahasverus als „Einsiedler“ durch Cardenio und die halleschen Studenten entspricht also keineswegs dem eigenen und auch Arnims Verständnis dieser Figur als christlichem Pilger, der als mythischer Topos Gläubigkeit vermittelt. Auch der passive „Einsiedler“ in der „Aussicht nach Jerusalem“ dürfte genauso wenig eine zu akzeptierende religiöse Gestalt sein wie die „neuen poetischen Christen“ (S. 294), weil beiden „das tätig Strebende“ (S. 285) abginge. Die „modernen Reisenden“ nach Jerusalem sind von der traditionellen Wirkungsstrategie des Pilgerns und daher von der christlichen Botschaft weit entfernt. Insofern stellen Ahasverus, Cardenio und Celinde, Olympie und Lysander sowie der die politische und religiöse Praxis integrierende „tätig Strebende“ Sidney Smith Figuren dar, die Arnims gesellschaftlich eingreifende Lebensmaxime repräsentieren.

|| 20 Jacob Grimm an Arnim, Kassel, 22. Januar 1811. Steig: Achim von Arnim und die ihm nahestanden, Bd. 3, S. 99.

Roswitha Burwick

„Mein müder Fuß in Einsamkeit!“ Sigismunde Uhtke: Weiblicher Eremitenblick auf das Theater der Welt (1797) Im Diskurs um eine ‚weibliche Ästhetik‘ und um ein ‚weibliches Schreiben‘ hat sich seit den 70er Jahren bis hin zur Postmoderne eine breite Skala von Ansätzen und Theorien entwickelt, die in der einschlägigen feministischen Literaturkritik ausgiebig behandelt worden ist.1 Dabei hat sich die bisherige Forschung allerdings fast ausschließlich mit den Romanen und Gedichten von Schriftstellerinnen wie Anna Louisa Karsch, Sophie von LaRoche, Henriette von Egloffstein, Sophie Mereau, Caroline Schlegel, oder der Weimarer Herzogin Anna Amalia befasst. Weniger bekannt sind die Dramen der Autorinnen Friederike Sophie Hensel,2 Caroline Luise von Klencke,3 Victoria von Rupp,4 Caroline Schlegel,5 Charlotte von Stein,6 und Wilhelmine von Gersdorf,7 die, gedruckt oder ungedruckt, zumindest einmal aufgeführt wurden.8 Zu fragen wäre auch heute noch, ob es in den von Frauen verfassten Texten des 18. und 19. Jahrhunderts um ausdrücklich private weibliche Erfahrungen in sozialen Kontexten geht, die dann Literatur werden; oder ob es eher um eine bewusste Konstruktion von Wirklichkeitserfahrung und Reflexionsarbeit des eigenen Lebens geht.9 Weiterhin wäre zu untersuchen, in wieweit Frauen an einem Diskurs über die Ordnung der

|| 1 Bovenschen’s Imaginierter Weiblichkeit, auch heute noch oft und gern zitiert, folgen die Untersuchungen weiterer prominenter Feministinnen wie Judith Butler, Hélène Cixous, Luce Irigyray, Julia Kristeva, die die ‚Weiblichkeit‘ bzw. das ‚weibliche Schreiben‘ verkomplizieren, indem sie zum einen private und öffentliche Handlungsräume als gesellschaftspolitische Konstruktionen verstehen. Vgl. dazu Weckel: Häuslichkeit und Öffentlichkeit, S. 7–9; ebenso Gerlach: Schrift und Geschlecht. Zur Gleichheitshypothese der Aufklärung als Versuch einer ‚Vermännlichung der Frau‘ und die biologisch als sozial determinierte ‚Weiblichkeitsrolle‘, vgl. Weber: Weiblichkeit und weibliches Schreiben, S. 195. 2 Die Entführung (1772). 3 Der ehrliche Schweizer (1776). 4 Marianne oder Sieg der Tugend (1777); Jenny, oder die Uneigennützigkeit (1777). 5 Düval und Charmille (1778). 6 Dido (1794). 7 Heinrich und Konstantie oder Sie waren ihres Glückes wert (1798). 8 Eine Liste der gedruckten und ungedruckten aufgeführten Stücke bei Fleig: Handlungs-Spielräume, S. 289–303. 9 Gerlach: Schrift und Geschlecht, S. 38–54. https://doi.org/10.1515/9783110634709-003

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Geschlechter selbst mitschrieben und damit einen Handlungsfreiraum schufen, in dem sie sich nicht mehr als Objekt sahen, sondern als Subjekt inszenierten. Im Gegensatz zu den genannten Frauen, die sich in den gängigen Gattungen wie Roman, Reisebeschreibung, Gedicht und Drama versuchten und in einzelnen Fällen auch profilierten, schuf sich Sigismunde Uhtke mit ihrem kleinen Werk Der weibliche Eremitenblick auf das Theater der Welt ein Genre, das die mittelalterlichen Heiligenviten der Reklusen zu einer modernen vom subjektiven Ich gestalteten Erzählform umschreibt. Während die Klausner und Klausnerinnen in ihrem Streben nach perfectio in vollkommener Abkehr von der Welt in der Nachfolge Christi einen asketischen Lebenswandel wählten,10 versteht Uhtkes Eremitin ihre Klause als Ort des Ausblicks auf das von Eitelkeit und Nichtigkeit beherrschte Welttheater, das sie betrachtet, reflektiert, kommentiert und sogar mitbestimmt. Anstelle der strengen religiösen Lebensform tritt nun eine der Welt zugewandte Sicht, die mit der aus eigener Lebenserfahrung gewonnenen Erkenntnis der Vorgänge in der menschlichen Psyche auf ihre Mitmenschen einwirkt. Mit der Vernetzung von christlichem Glauben, der dem Barock entlehnten Metapher des theatrum mundi,11 der ratio der Aufklärung und der emotio der Empfindsamkeit realisiert Uhtke damit einen Handlungsspielraum, der mit dem Anspruch auf Wirklichkeitserfahrung, Reflexionsarbeit und Selbstdarstellung die Problematik der zwischenmenschlichen Beziehungen durch ausdrucksstarke Erzählstrategien lebhaft vor Augen führt. In zuweilen blumenreicher, fast barocker Sprache inszeniert sie Szenen, die in ihrer Familiendarstellung und Gesellschaftskritik literarische Traditionen wie Parabel oder Rührstück nutzen, um mit expliziten moralischen Handlungsvorschriften zur Selbstbestimmung und rechtem Sozialverhalten aufzurufen.12 Im Folgenden soll Uhtkes Verständnis von Einsamkeit im Diskurs des 18. Jahrhunderts, die Frage nach einem geschlechtsspezifischen ‚Schreibstil der Einsamkeit‘ in ihrer Inszenierung als weibliche Eremitin und ihre damit ausgesprochenen Sozialitätsvorstellungen näher untersucht werden. Weiterhin ist zu hinterfragen, inwieweit Alltagserleben und – wissen – in Uhtkes Fall der Tod mehrerer Familienmitglieder – ästhetisiert und in Handlungszusammenhänge eingewiesen werden können, die neue Orientierungsmuster für das aufsteigende Bürgertum zu schaffen versuchen. Schließlich soll darauf eingegangen werden, wie die Autorin ältere Traditionen des Erzählens wie Erbauungsliteratur oder

|| 10 Vgl. Voigt: Die Inkluse Elizabeth von Beutnitz; und Weigel: Klosterlandschaft. 11 Vgl. Laubes Untersuchung des Begriffes und dessen Bedeutung für den Pietismus (Laube: Verdichtung). 12 Uhtke: Eremitenblick, S. 8. Vgl. auch Wirth: Performanz, S. 31.

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mittelalterliche Heiligen- und Reklusinnenlegenden säkularisiert und modernisiert, indem nicht der Weltrückzug, sondern der Weltbezug thematisiert wird. Es geht also nicht um Weltverachtung, sondern um Weltbetrachtung, die die räumliche Distanz ohne Abbruch sozialer Kontakte zur städtischen bzw. ländlichen Gesellschaft zur Diskussion stellt.

1 Biographie und Struktur des Werkes Über Sigismunde Uhtke ist wenig bekannt. Sie wurde als Sigismunde Ernestine Kunigunde am 6. August 1752 als Tochter des Ehepaars von Packisch in Geinerdorf bei Fraustadt im Großherzogtum Posen geboren. Durch Hauslehrer erhielt sie eine sehr gute Erziehung und Bildung, was in der Lektüre des Eremitenblicks offensichtlich wird. Nach der Übersiedlung auf das gepachtete Gut Kniegnitz bei Lüben in Schlesien verlor die Familie nach 14 Tagen durch einen Brand ihr ganzes Vermögen. Sigismunde heiratete den Justizsekretär Uhtke in Winzig und gebar fünf Töchter und einen Sohn, der früh verstarb. Sie starb am 18. Februar 1813.13 1796 erschien im Selbstverlag ihr erstes Buch mit dem Titel Das Weib der Natur im leichten Dichtergewand, oder vermischte Gedichte. Im folgenden Jahr wurde Der weibliche Eremitenblick auf das Theater der Welt in der herzoglichen Hofdruckerei Samuel Gottlieb Ludwig in Oels gedruckt; von dem Werk ist heute nur noch ein Exemplar in der Warschauer Biblioteka Narodowa erhalten.14 Das Bändchen beginnt mit einer Liste von 59 genannten und 44 ungenannten Pränumeranten, so dass man auf eine Auflage von etwa 100–150 Exemplaren schließen kann. Der Pränumerationsliste folgt die Widmung an den Freiherrn Carl Rudolph von Lestwitz, dem Erbherrn von Groß-Tschirnau, mit dessem Tod am 27. August 1803 die männliche Linie des alten und begüterten schlesischen Adelsgeschlechts ausstarb. In einem kurzen Gedicht huldigt die Verfasserin dem „Menschenfreund“, den sie als Mäzen gewählt hatte, um sich und ihren Kindern „Glück und Seegnung“ zu gewährleisten.15 In der Vorrede bittet sie um Verständnis, sich „als Weib“ zu erheben und „diesen Eremitenblick herauszugeben“. Zum einen erwartet sie die „wohlwollende und gütige Aufnahme der kleinen Sammlung der Gedichte“ von Seiten der Gönner und Freunde; zum anderen will sie || 13 Schindel: Die Deutschen Schriftstellerinnen, Bd. 2, S. 382f. 14 Standortnummer SD XVIII.1.22498. Vor allem sei Elzbieta Szczotkowska von der Polnischen Nationalbibliothek Narodowa in Warschau und Monika Coghen von der Biblioteka Jagiellońska in Krakau gedankt, die mir bei der Suche und Digitalisierung geholfen haben. 15 Uhtke: Eremitenblick, S. 6.

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damit „Gnade und Wohlwollen großer und edler Menschenfreunde erwerben“, die ihre Kinder unterstützen würden, sollte sie frühzeitig sterben. Ihre Klage, dass „ein unerbittliches Schicksal“ sie durch „viele düstre Kreuzgänge in dem für den Glücklichen schön geschafnen Eden“ geführt, beruht auf dem Tod ihres Mannes und drei weiterer Familienmitglieder innerhalb von drei Jahren. Es scheint der Autorin auch nicht so sehr um den finanziellen Gewinn durch den Verkauf des Buches zu gehen. Vielmehr will sie mit ihrem „tiefdringenden Blick ins Menschenherz“ die durch „stilles Nachdenken“ und „ruhige Betrachtungen“ gewonnene Einsicht, dass Leiden und Freuden in weiser Verflechtung miteinander verbunden sind, instrumentalisieren und anderen Rat und Trost spenden, die sich in einer ähnlichen Lage befinden. Das Büchlein endet mit einem fast launigen Appell „An den gelehrten Richterstuhl“, in dem sie die „Musensöhne“ bittet, die „Schwäche einer ungeweihten Schwester“ mit „Barmherzigkeit“ zu schonen, wofür ihnen die besten Wünsche der Verfasserin sicher sein können.16 Hier setzt sie sich bewusst von den gelehrten männlichen Autoren ab, indem sie sich als einfache, wenn auch gebildete Frau definiert, die „kunstlos, unausgeschmückt“, d.h. natürlich schreibt. Sie Die sich Empfindung nennt, spricht leise Gedanken, lichtet auf der Reise Der dunklen Vielheit, näher sie ins Licht Bis ganz, der Geist, durch Denkkraft, Ausdruck spricht: Stöhrt Hochgelahrte dieses Glük Dem Weibe nicht, die ihr Geschik’ Wenns mislich war, sanft lächeln lehrte. Misklang der Seele minder hörte. Euch werde Ruhm, Diplom und Ewigkeit Für die erflehte Wohlgewogenheit.17

Auch den Pränumeranten widmet sie noch ein Gedicht, in dem sie diese um ihr Wohlwollen und ihre Unterstützung bittet.18 Der Text besteht aus 19 Vignetten und einem Anhang mit 11 Gedichten. Die erste Vignette Emilie beginnt mit der direkten Anrede: „Liebenswürdiges Geschöpf, sanfte Emilie!“ und setzt damit den Ton für das Genre, indem es um die Stimme der Eremitin geht, die sich durchgehend dialogisch inszeniert und pädagogisch wirken will. Der Scheideweg, Der Zwang der Selbstwahl, Der durch falsche

|| 16 Ebenda, S. 158. 17 Ebenda. 18 Ebenda, S. 159.

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Selbstliebe eingebildete Vollkommene, Redlichkeit aus Undank, oder Die Eifersucht verweisen auf Parabeln, die die Folgen von Lastern, aber auch die Kontrolle der Affekte und die Bildung der sittlichen Persönlichkeit beispielhaft vor Augen führen. Das sittsame, den Verführer fürchtende Mädchen wird mit Die gesunkene weibliche Tugend kontrastiert; Der kleine Verzug prangert die Konsequenzen von rechtzeitig unterlassener Hilfeleistung an; Der eigennützige Heiratskontrakt schildert die verheerenden Folgen eines korrumpierten Ehevertrags. Der Zwang der Selbstwahl könnte dagegen als Vorlage eines Familienrührstücks dienen, da es eindrucksvoll die verbotene Liebe zweier Menschen schildert, die durch das Eingreifen der Eremitin nach der Versöhnung mit den Eltern ein Happy End findet. In ihrer Intention schließt sich Uhtke damit eindeutig der in den Tugendkatalogen und moralischen Wochenschriften der Aufklärung konstituierten bürgerlichen Ordnungsmustern an, die die Ideale von Sittlichkeit, Toleranz, Humanitätsglauben und Altruismus propagieren. Hier wären Gottscheds Erste Gründe der gesammten Weltweisheit (1762), Campes Theophron oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend (1783; 1786), das Gegenstück Väterlicher Rath für meine Tochter. Der weiblichen Jugend gewidmet (1789), und seine pädagogischen Texte wie Von der nöthigen Sorge für die Erhaltung des Gleichgewichts unter den menschlichen Kräften: besondere Warnung vor dem Modefehler die Empfindsamkeit zu überspannen (1785) zu nennen. Auch Seibt (Klugheitslehre, 1799),19 Gellert (Moralische Vorlesungen, 1770), und Garve (Versuche über verschiedene Gegenstände aus der Moral, 1792) waren bemüht, mit ihren Schriften den Verstand der männlichen wie der weiblichen Jugend auszubilden, damit sie kluge Entscheidungen treffen, um ihren gesellschaftlichen wie auch ökonomischen Fortschritt zu fördern. Als ein Beispiel weiblicher moralischer Schriften könnte man Dorothea Friderika Gutbier Baldinger (1739–1786) noch zitieren, deren Werk Versuch über meine Verstandeserziehung, zwischen 1778 und 1782 entstanden und von Sophie von La Roche erst nach Baldingers Tod 1791 veröffentlicht wurde. Obwohl die Eremitin immer wieder auf ihre persönlichen Erfahrungen hinweist, erfährt der Leser erst in den letzten Vignette Die wahlfahrtende Eremitin den Grund für ihre Entscheidung, sich von der Welt zurückzuziehen.20 Zusammen mit den im Anhang folgenden vier Gedichten, die die vier Stufen ihrer Trauerarbeit um den Tod mehrerer Familienmitglieder poetisieren, bildet die Vignette das Kernstück des Buchs. Indem die Eremitin ihre Leser in dem Prosastück und den Gedichten direkt anspricht, dialogisiert sie den Prozess der Trauerbewältigung und schafft damit ein anscheinend kommunikatives Medium, das Vertrauen und || 19 Seibts Klugheitslehre (1799) erschien noch 1824 in 3. Auflage. 20 Uhtke: Eremitenblick, S. 110–114.

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Gemeinschaft betont.21 So berichtet sie, dass der Verzweiflung um den Tod ihres Sohnes mit ihren Zweifeln an Gott eine ruhigere Phase folgte, in der sie ihren Erinnerungen nachging und Gott bat, ihr zu helfen, den inneren Frieden zu finden. Mit der durch Gebet und Kontemplation gewonnenen Überwindung ihres Grams akzeptierte sie schließlich den Tod als das unausweichliche Ende eines jeden Erdendaseins, der dann zugleich den Weg öffnet in ein Leben nach dem Tod, das alle wieder vereint. Mit ihrer Entscheidung, als Eremitin in der Einsamkeit zu leben, schafft sie sich dann einen Freiraum, das Welttheater zu beobachten, die Fehler und Laster anzuprangern und zu einem moralisch-ethischen Lebenswandel aufzurufen. Trotz der biographischen Elemente wird der Eremitenblick durch den Bezug auf ‚Geschlecht‘ und Voyeurismus zum Beispiel einer ‚weiblichen‘ Ästhetik, das mit der Metapher von Rückzug aus der Gesellschaft und den familiären Pflichten, mit Reflexion und weiblichem Einfühlungsvermögen ein Genre schafft, das den Kanon weiblichen Schreibens am Ende des 18. Jahrhunderts zweifellos erweitert.22 Die Rezeption des kleinen Werks beschränkt sich auf die kurze Bemerkung eines Rezensenten in der Neuen allgemeinen deutschen Bibliothek, in der dieser wohlwollend bemerkt, dass man wegen „der guten Absicht des Büchleins“ der Schreiberin die kleinen Fehler gerne verzeihen wird. Ihr Wunsch, ihren Kindern damit das Wohlwollen ihrer Gönner zu versichern, halte ihn dann auch von jeder weiteren Kritik ab.23 Beide Titel sind erwähnt in Das gelehrte Teutschland,24 im Pantheon deutscher jetzt lebender Dichter,25 im Literarischen Handwörterbuch der verstorbenen deutschen Dichter26 und in Goedekes Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung aus den Quellen.27

2 Die ‚Pilgerfahrt‘ der Eremitin: Das lyrische Subjekt Obwohl die Vignette Die wahlfahrtende Eremitin in Aufbau und Thematik den Prosatexten eingegliedert ist, nimmt sie eine Sonderstellung ein, indem die || 21 Kast: Trauern, S. 65–88. 22 Uhtke: Eremitenblick, S. 7–9. 23 Neue allgemeine deutsche Bibliothek, Bd. 39, S. 278. Unterzeichnet Vz. 24 Das gelehrte Teutschland, Bd. 8, S. 159. 25 Pantheon deutscher jetzt lebender Dichter, S. 341. 26 Literarisches Handwörterbuch der verstorbenen deutschen Dichter, S. 430. 27 Goedeke: Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung, Bd. 5, 2. Abt., S. 424.

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persönlichen Erlebnisse der Erzählerin fiktionalisiert und in den performativen Rahmen des Eremitenlebens integriert sind. Die Poetisierung der autobiographischen Elemente erfolgt dann noch detaillierter in den ersten vier Gedichten des Anhangs, da diese genauer über die Phasen ihres Lebens Aufschluss geben, die für ihren Entschluss, Eremitin zu werden, entscheidend wurden. Im ersten Gedicht Die ersten Stunden trostloser Trennung beweint sie – wie in der Prosavignette – den Tod des früh verstorbenen Sohnes und hadert mit einem „tödtenden“ Gott, der ein junges Leben endete, während sie, die Ältere, verschont blieb. In ähnlich emotionalen Ausbrüchen, die in ihrer blumigen Sprache dem Barockdramen angehören, versucht sie, die göttlichen Absichten im Weltgeschehen zu verstehen: ist es ein grausamer Gott oder ist es ein Gott, der die Menschen prüft, damit sie erkennen, dass das Leben nur dann lebenswert ist, wenn der Mensch versteht, dass es eine höhere Welt gibt, die nicht wie die Welt vergänglich, sondern von Dauer ist. Allweiser, könnte ich mir dein göttliches Wollen Ganz ohne ein Versehn, tröstend denken, Niederfallen würd’ ich Staub zum Staube, Dein Wohlmachen anbethen, und beruhigt schweigen, Daß du meinen Einzigen so liebtest – Aber so wühlt in meiner Brust wüthend, Brennender als Feuer, der Gedanke: Ach vielleicht War Rettung, Hülfe möglich, nur verfehlt!28

Noch ist es ihr nicht möglich, den Schmerz aus eigener Kraft zu überwinden. Und so fleht sie Gott an: Rettung, Rettung mir, Tröster im Leiden!! Nur du allein kannst meinen Jammer in Dank wandeln, Nur deine Kraft kann mich Schwache stärken. Heile mir das blutende Mutterherz, Wenn es nicht ew’ger Vorsaz ist, daß es breche; So hilf mir siegend kämpfen und glauben – Werd’ ich harren, weilen, hoffen können Auf deine Vatergüte, bis umfaßender Trost Von dir, noch hier dem Geiste Ruhe winkt?29

Im Gedicht Das Geburtsfest des Todes, ein Jahr nach dem Tod des Sohnes verfasst, berichtet die Dichterin von ihrem Besuch des Grabes, der ihr wieder das Sterben

|| 28 Uhtke: Eremitenblick, S. 117f. 29 Ebenda, S. 118.

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und ihre Trauer – jetzt gemildert durch den natürlichen Fortschritt der Zeit – vor Augen führt. Zeit und Raum vermindern Schmerzen, Meine Wunde blutet noch. – Bebend fühl ich ihn im Herzen Deinen Tod, o Sohn! Und doch Schwand ein Jahr mit bangen leisen Tritten Hin ins Meer der Ewigkeit. Gott, nicht Menschen sah’n, was ich gelitten Diese herbe Trennungszeit.30

Nun ist es aber nicht mehr die Verzweiflung, sondern „Ruhe, Friede und Freude“, die sie nach ihrem Entschluss, sich in die Einsamkeit zurückzuziehen, am Grabe empfindet, um über Leben und Tod, Vergänglichkeit und Ewigkeit nachzudenken und Gottes Führung der menschlichen Schicksale zu ergründen: Ruhe, Friede, Freude weichen, Senkt mein Blik sich auf dein Grab, Ringend Tröstung zu erreichen, Schleicht am Lebens Wanderstab Dann mein müder Fuß in Einsamkeiten, Dort forsch ich mit mindrer Pein Gottes Führung, deine Seligkeiten Und mein Jammer wiegt sich ein.31

Im Gegensatz zu der Verzweiflung über den Tod des Sohnes zeigt die Trauer um ihren Mann eine Phase der Trauerbewältigung, in der die Hinterbliebene Schmerz und Zorn über den Verlust des Kindes gelebt und überwunden hat. In dem Gedicht Das Sterbebette des Gerechten spricht sie von Unsterblichkeit, Hoffnung auf ein Leben nach dem Tode, in dem dem Sterblichen in „der Schöpfung unermeßlichen Raum“ die „Lichtquellen hier verborgner Weisheit“ aufgehen. Der hier enthüllte „strebende Trieb nach wahrer Vollkommenheit, Ruhe und Kenntnis“ weist dann auch auf die weitere Entwicklung der Schreiberin hin, die sich nun durchringt, den Tod als Teil des Lebens zu akzeptieren. Das letzte Gedicht in dieser Rubrik der Selbstfindung, Die nach Gründen für die Unsterblichkeit ringende Erdenwallerin, ist eine eher philosophische Betrachtung über die Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens, die inneren Zusammenhänge der Dinge zu erfassen, die sich nur dem „tief dringenden Blik des

|| 30 Ebenda, S. 121. 31 Ebenda, S. 122.

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Spähers“, der sein „Geschik durchdenkt“, trotz Zweifel und „schwacher Vernunft“ offenbaren. Hier wird es der Schreiberin zur Gewissheit, dass es einen erhabenen und allmächtigen Gott gibt, dessen weises Regieren die Erhaltung der Dinge verbürgt. ` […] auch ich Bin erschaffen, stehe auf der Stufe meines Würkens Da, wo Weisheit und Liebe mich nöthig fand! Wurden nicht meine Leiden spornende Leiter Dies Beruhigen selbstdenkend zu forschen, Fest gewurzelte Zweifel herauszurotten Aus dem zusammengeengten Ich, über mein Schiksal?32

Statt die „kurz bestimmten Stunden“ des Lebens zu „verwimmern“, soll der Mensch durch Glaube und Hoffnung, aber auch durch Vernunft und Verstand, also „selbstdenkend [...] forschen“, die Wege Gottes erahnen. Auch wenn in diesem Leben nie das Ganze der Schöpfung erfasst werden kann, so ist es uns doch gegeben, mit Hilfe unseres Geistes zumindest die Teile der weiten Schöpfung und wenigstens stückweis den Zusammenhang der Dinge zu erkennen. Die Schreiberin geht jedoch über das theologisch vorgegebene Weltverständnis hinaus, wenn sie ausdrücklich dafür plädiert, den engen Horizont des traditionellen weiblichen Selbstverständnisses zu erweitern. Indem sie darauf hinweist, dass sie die durch Reflexion erarbeitete „Stufe“ ihres „Würkens“ als Raum aktiven Handelns erkannt hat, erklärt sie ihre Unabhängigkeit, ja ihre Berufung, das Geschehen des Theatrum Mundi mitzubestimmen.

|| 32 Ebenda, S. 124.

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3 Trauerarbeit als Performanz: Inszenierte Prosa Obwohl die vier Gedichte den Vignetten im Anhang folgen, wird die letzte Vignette Die wahlfahrtende Eremitin nur durch die Aussage des lyrischen Subjekts besser verständlich. Vignette und Gedichte laufen damit parallel und deuten auf die gleichzeitige Entstehungszeit. Während die Schreiberin die intensive Phase der persönlichen Trauerarbeit leistet, ästhetisiert sie ihre Erfahrung in zwei verschiedenen literarischen Gattungen. Hier inszeniert sie einen dramatischen Bühnenauftritt, dort spricht das lyrische Subjekt. Die Wahl der performativen Gattungen verleiht der Sprecherin eine individuelle Stimme und Ausdruckskraft, die erst durch Sprechen und Sprachverhalten zur Geltung kommen. Emotionen werden demnach bewusst erlebt, reflektiert und in Sprache umgesetzt mit der eindeutigen Intention, öffentlich zu wirken. Der Grund für die Entscheidung, das Buch in einen Haupttext/Prosa und einen Anhang/Lyrik aufzuteilen, muss hier offen bleiben. Es kann jedoch vermutet werden, dass Uhtke die Vignetten und die Lyrik fertigestellt hatte und dass der Umfang der Texte weder Druck noch Verkauf von zwei Bändchen gerechtfertigt hätte. Die Vignette Die wahlfahrtende Eremitin greift die Themen von Schmerz, Verzweiflung, Hader mit Gott, Akzeptanz des Unvermeidlichen und Selbstfindung auf, gestaltet das Geschehen jedoch als beispielhafte Überwindung charakterlicher Schwächen. So wie sie es in den übrigen Texten anderen geraten hat, zeigt sie es nun an der eigenen Biographie, dass ihre Ratschläge keineswegs Bücherweisheiten sind, sondern tatsächlich erlebt sind und dadurch Validität beanspruchen. So inszeniert sie nun ihren Kampf mit sich selbst in dramatischer Form: […] eh’ drei Sonnenjahre ihren Lauf endeten, schlug mich der Tod viermal in meinen zärtlichsten Geliebten, und ach! sein lezter Schlag eilend, grausam tösend, betäubte mein Herz, – mein Haupt, riß mit meinem Einzigen jede Empfindung hinüber, ließ mir nichts mehr übrig, als – meinen G r a m . O wie zog an seinem Sterbebette der lezte Todeskrampf jede Mutternerve in mir an, und riß füchterlicher als ihm an meinem Lebensfaden zugleich mit. Er erblaßte, – ich glühte, brannte von nie gekanntem Schmerz in der Seele, und Himmel und Erde entschwand meinem stieren Auge, wandelte sich in ein finstres Chaos, wo meinem Blikke jede Aussicht verschloßen lag.33

Der in Szene gesetzte mütterliche Schmerz über das Sterben und den Tod ihres Sohnes ist trotz seines theatralischen Affekts tief empfunden. Interessant ist nun, wie sie sich in der Ruhe der Abgeschiedenheit von Familie und Gesellschaft durch den Schock des Verlusts und die innere Zerrissenheit durcharbeitet und || 33 Ebenda, S. 111.

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sich im Schreiben von allen exzessiven Emotionen befreit. Hier ist zu bemerken, dass das Heraustreten aus der „wimmernden“ Selbstbezogenheit nur stattfinden kann, wenn die Trauernde sich selbst als Akteurin auf der Bühne des Lebens darstellt und damit Abstand gewinnt. „Dieser Tumult ist gestillt in dieser empörten Brust, durch die gewagte Hinsicht, auf die Leidensscenen des Lebens.“34 Während Verzweiflung und Trauer noch den Blick verdüstern, schaffen Glaube und Handlungsrationalität Freiräume, die nicht nur die irdische, sondern auch die überirdische Welt dem menschlichen Auge sichtbar machen. Du der Erde entronnener Sohn! wo lebst du im unermeßlichen Raume? […] Ist deine jezzige Bestimmung Fortschritt in Erkenntnis? […] Umschwebt deinen Glauben Irrung, deine Hofnung Furcht, oder durchdringt dein schärferer Blik mit voller Deutlichkeit die Gegenstände deiner uneingeschränktern Sehkraft? Siehst du das hier oft Unerklärbare in menschlichen Schiksalen enthüllt?35

Nachdem die „arbeitende“ Vernunft ihre Wirkung getan hat, gelobt sich die Erzählerin, „zwar stets den schnellen Verlust meines Einzigen mit erweichtem Herzen zu fühlen, aber mich nie in meinem düstern Gram zu verlieren“.36 Die durch die eigene Erfahrung gewonnene Erkenntnis wird nun instrumentalisiert, indem sie Eltern zur Mitgliedschaft ihres „eremitischen Bundes“ einlädt, „denn nur der betrauert seine Todten recht, der ganz nach ihren Wünschen lebt. –“37 Der Tod geliebter Menschen soll demnach nicht durch den sozialen Tod oder das „Nachsterben“ der Hinterbliebenden betrauert werden, sondern zum Leben aufrufen, was bedeutet, dass der Hinterbliebene sogar verpflichtet ist, das nichtgelebte Leben des Verstorbenen mitzuleben. Dies geschieht einerseits durch die Erinnerung an den Toten, andererseits durch Bündnisse der Trauerhilfe und Trauerbewältigung. Durch ihr Vorbild ruft die Eremitin auch dazu auf, neue Aufgaben zu finden, die sowohl im Sinne der Verstorbenen sind als auch der Trauernden neuen Lebenswillen verschaffen. Wichtig wird nun die Intention, die in der Einsamkeit selbst erarbeiteten Erkenntnisse weiterzugeben und pädagogisch wirksam zu werden. Auf die Frage, warum sie sich der Welt entzogen habe, kann sie nun antworten: „Um den drükenden Leiden der Welt zu entfliehen, und so viel ich kann, sie andern zu mildern“.38 So heißt es im Gedicht An meine Freundin A–ia:

|| 34 Ebenda. 35 Ebenda, S. 112. 36 Ebenda, S. 113. 37 Ebenda, S. 114. 38 Ebenda, S. 45.

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Schiksals Härte gegenseitig mildern, Während, mit der Zukunft beßern Bildern Arm in Arm den Pilgerweg zu gehn, Sey uns Bund. A–ia die Zähre Hier im Auge, Siegel. – Komm, gewähre Mir den Wunsch, laß ewig ihn bestehn.39

4 Weiblicher und männlicher ‚Schreibstil der Einsamkeit‘: Uhtke und Zimmermann Zunächst stellt sich die Frage, wie sich der „weibliche Eremitenblick“ – und hier ist noch der ‚Blick‘, also das ‚Schauen‘, bzw. ‚Sehen‘ zu betonen – von einer spezifisch ‚männlichen‘ Perspektive unterscheidet. Ein Vergleich von Uhtkes kurzem Text mit der monumentalen vierbändigen Schrift des ‚philosophischen‘ Arztes Johann Georg Zimmermann40 macht deutlich, dass es ihr keineswegs um eine umfassende Darstellung bzw. einen ‚Katalog‘ der verschiedenen historischen, psychologischen und gesellschaftlich-kulturellen Formen der Einsamkeit geht.41 Vielmehr ist es die Kurzform des Erzählens, die im theatralisch inszenierten Dialog zwischen Schreiberin und Leserinnen bzw. Leser ihre individuelle Ausdrucksweise findet. Mit Zimmermann teilt sie die Meinung, dass sich der Mensch nur in der Einsamkeit begreift,42 dass Einsamkeit ihm seine wahre Bestimmung zeigt, indem sie für die Seele einen Zustand schafft, „in der sie sich ihren eigenen Vorstellungen überläßt“.43 Ein weiterer Anknüpfungspunkt ist Zimmermanns Vorstellung, dass Einsamkeit und Geselligkeit keine Gegensätze sind, die sich diametral gegenüberstehen. Auch Uhtke sieht sie strukturell aufeinander bezogen, da die in der Einsamkeit reflektierten Gedanken sowohl in einem inneren Monolog als auch in Gesprächen Ausdruck finden. Noch wichtiger aber ist die Übereinstimmung, dass erst die Einsamkeit den Freiraum bietet, die ‚inneren Dämonen‘ zu überwinden, um in der Welt wirken zu können. „Stärke des Charakters

|| 39 Ebenda, S. 132. 40 Die sogenannten ‚philosophischen Ärzte‘ wollten psychologisch vorgehen und das Seelische mit dem Körperlichen verbinden. Vgl. Wagner-Egelhaaf: S. 266. Dazu noch Moritz: ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. 41 Wagner-Egelhaaf: Unheilbare Phantasie, S. 267. 42 Zimmermann: Ueber die Einsamkeit, Teil 1, S. 118. 43 Ebenda, S. 3.

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erlanget man zwar in der Einsamkeit, aber Geschicklichkeit zur Anwendung dieser Stärke doch nur in der Welt.“44 Der wichtigste Vergleichspunkt zwischen Zimmermann und Uhtke ist die Dialektik von Rückzug aus der Welt, der auch das Schweigen impliziert, und dem Drang zur Mitteilung der durch die Reflexion gewonnenen moralisch-ethischen Verhaltensformen. Die Einsamkeit ist damit nicht nur die Voraussetzung für das Schreiben, sie trägt auch den Impuls zum Schreiben in sich. Mit der Rekurrierung auf eine erlebte innere Welt, in der sich das Ich erst selbst finden muss, entwickelt sich dann auch eine bestimmte ‚einsame‘ Schreibweise, d.h. ein eindeutig subjektiv geprägter „Schreibstil der Einsamkeit“.45 Dieser ist – so Zimmermann – gekennzeichnet durch die Freiheit, „gegen alle Regeln der Schriftstellerey“46 zu verstoßen, da es nur darauf ankommt, „daß man nicht etwa seinen Styl, sondern sein ganzes Buch sich selbst so ähnlich mache als möglich“.47 Wie Zimmermanns Erzähler hat auch Uhtkes Eremitin persönliches Leiden, Hader und Selbstmitleid überwunden und sucht nun ein Gegenüber, dem sie sich mitteilen kann. Im Gegensatz zu Zimmermanns eher objektiv gehaltenen Stil wird ihre Schreibweise durch den voyeristischen „Eremitenblick“ bestimmt, der aus explizit ‚weiblicher‘ Sicht in der Selbstinszenierung auch die Umwelt als Schauplatz eines theatrum mundi in den performativen Handlungsspielraum integriert. Ein weiterer wesentlicher Unterschied zu Zimmermann bilden die Kernstücke – die letzte Vignette und die vier Gedichte – um die sich die pädagogischen und philosophischen Vignetten und Gedichte gruppieren. Der Aufzählung Zimmermanns, dem es um eine umfassende Darstellung des Eremitendaseins ging, steht damit eine komplex strukturierte und vernetzte Erzählform gegenüber, die als Form des ‚weiblichen Schreibens‘ Validität beansprucht.

|| 44 Ebenda, Th. 4, S. XXIX, S. 304; Wagner-Egelhaaf: Unheilbare Phantasie, S. 268. 45 Ebenda, S. 272. 46 Zimmermann: Ueber die Einsamkeit, Bd. 1, S. XVII; Bd. 3, S. 335. Vgl. dazu Wagner-Egelhaaf: Unheilbare Phantasie, S. 273. 47 Zimmermann: Ueber die Einsamkeit, Bd. 3, S. 335. Vgl. dazu Wagner-Egelhaaf; Unheilbare Phantasie, S. 273.

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5 Religiöses und Weltliches: Narrative Formen der Reklusen In der Inszenierung der weiblichen Eremitin folgt Uhtke weniger den Texten zu den Anachoreten und in der Einsamkeit lebenden männlichen Reklusen und Heiligen – hierzu wäre auch Christus’ vierzigtägiger Aufenthalt in der Wüste zu zählen –, sondern eher den schriftlichen Zeugnissen und bildlichen Darstellungen der Reklusinnen, die sich zu Askese und Gebet von der Welt zurückzogen, um in einer Einsiedelei oder der Gemeinschaft eines Klosters ihr Leben zu verbringen.48 Während sich die mittelalterlichen Reklusinnen noch für eine durchweg strenge Abgeschiedenheit entschieden – in manchen Fällen ließen sie sich sogar einmauern – zeigt Kristin Böse am Beispiel der Bildprogramme der beiden italienischen Eremitinnen Giovanna da Signa (†1307) und Giulia da Certaldo (1319–1367/72) eine thematische Darstellung des Rückzugsortes, die die soziale Relation zwischen Reklusin und städtischer Gesellschaft hervorhebt. Hierbei geht es nicht allein um die Nahrungsversorgung durch die Gemeinschaft, sondern auch um den Kontakt der Bevölkerung in Zeiten von persönlicher oder öffentlicher Not, wo man bei den Religiosen um Beistand und Hilfe bat. Böse weist auf die Zellenarchitektur hin, die eine ‚Handlungsöffnung‘ als Kontaktstelle zeigt, durch die die Reklusin mit der Außenwelt in Verbindung steht und durch ihre Askese und Buße eine soziale Funktion erfüllt. So stehen Klause und öffentlicher Stadtraum in einem dialektischen Verhältnis, „weil gerade die Vereinzelung von der Gemeinschaft […] die Religiose dazu befähigte, eben für diese Stadt als Fürbitterin tätig zu werden“.49 Die Verbindung zwischen Vereinzelung und Gemeinschaft wird oft noch nach dem Tode der Reklusin weiter vertieft, wenn die Klausen durch Wunderheilungen zu Pilgerstätten mit Kapellen und Klöstern ausgeweitet werden. Im Gegensatz zu den häufig geographisch lokalisierbaren Stätten der religiösen Eremiten bleibt die Topographie der Behausung von Uhtkes Eremitin vage. Der Leser erfährt von ihrer einsamen Hütte, an dem ein „kristallener Silberbach“ vorüberfließt, von wo aus sie die Menschen, die sich in der Gegend aufhalten, im Blick hat. So beobachtet sie „unbemerkt die Handlungen und Gespräche“ einer im Freien lagernden Kaffeegesellschaft.50 An einem Sonntag, als sie „die Morgenröthe mit ihrer schimmernden Vergoldung anlächelte“, geht sie „um in der

|| 48 Bekannte Reklusinnen sind die Heiligen Verena, Wiborada, Ida, Eva von Lüttich. Vgl. auch Böse: Weltrückzug und Weltbezug, S. 33–45. 49 Ebenda, S. 41–42. 50 Uhtke: Eremitenblick (Die Coffee Gesellschaft), S. 22.

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prachtvollen Schöpfung, ihrem Stifter meinen Morgengruß zu stammeln“, bis in die Nähe der Heerstraße, wo sie sich unter einer Eiche niederlässt, um mit ihrem „Eremitenblick“ die Landschaft und die in den Tempel zum Gottesdienst eilenden Bürger zu sehen.51 Um die im Gottesdienst versammelte Gemeinde und den Geistlichen noch genauer betrachten zu können, schleicht sie sich sogar in die Sakristei, um dort den zur Performanz stilisierten Gottesdienst zu kommentieren. Der „Eremitenblick“ der Schreiberin ist demnach keineswegs ein nach Innen gerichteter Blick der Kontemplation und des Gebets für das Heil der Welt, sondern ein voyeuristischer Blick, der gerade in der Abgeschiedenheit das Weltgeschehen als Theatrum Mundi wahrnimmt und, da ihr „weniger enge Grenzen gesteckt“ sind, es freier und kritischer kommentieren, ja sogar als solches entlarven kann.52 Während die Religiosen mit ihrem Rückzug aus der Welt durch ihren asketischen Lebenswandel in unmittelbarer Beziehung zu Gott die Verbesserung der Welt bewirken wollen, geht es Uhtkes Eremitin darum, mit dem durch die Abgeschiedenheit „rein geschliffenen Gläsern ihres Sehrohrs“53 und ihrer „rauhen Eremitinhand“54 „den dünne[n] gewebten Schleier der verdekten Wahrheiten aufzuheben, und mit geradem Blik die Dinge [zu] betrachte[n], wie sie sind“.55 Als Vertreterin der Aufklärung wird sie damit zum sozial engagierten Subjekt, das mit der Überzeugung von der individuellen Handlungsrationalität daran glaubt, dass der Mensch sein Geschick in die Hand nehmen und moralisch-ethische Entscheidungen zu treffen vermag.56 Uhtkes Eremitin säkularisiert damit den Diskurs der Religiosen, indem sie ihn in die Sittenlehren des 18. Jahrhunderts integriert, in denen die persönliche Erfahrung und die „Denkkraft“ des „forschenden Geistes“57 wichtig werden, um zwischen dem Bösen und dem Guten zu wählen. Damit wird nicht mehr das kirchliche Dogma, sondern das Naturrecht zum ausschlaggebenden Bezugspunkt. So formulierte bereits Gottsched in seinen Ersten Gründen der gesammten Weltweisheit das „Gesetz der Natur“: „Thue alles das, was die Vollkommenheit bey dir und bey andern befördert; und unterlaß hingegen alles dasjenige, was dir oder andern zur Unvollkommenheit gereichet.“58

|| 51 Ebenda (Der Tempel), S. 27. 52 Ebenda (Der durch falsche Eigenliebe eingebildete Vollkommne), S. 41. 53 Ebenda (Der falsche Religionseifer im Heuchelgewande), S. 81. 54 Ebenda (Das unbelohnte Verdienst), S. 76. 55 Ebenda, S. 76f. 56 Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit, S. 20. 57 Uhtke: Eremitenblick, S. 124. 58 Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit, § 32, S. 21.

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Weiterhin mahnt er, sich zu beobachten und die Sinneseindrücke zu prüfen und zu kontrollieren, „ob es […] gelungen ist, sich nach dem Gesetz auszurichten“.59 Um sich durch Übung und Gewohnheit eine „Fertigkeit“ anzueignen, rät er in ruhigen Stunden, Absichten und Entscheidungen zu prüfen: „Dieses läßt sich am besten des Morgens und Abends thun, wenn man von allen andern Geschäften frey ist.“60 Eine genaue Lektüre des Textes zeigt, dass sich Uhtkes Eremitin nicht allein das Genre der Sittenlehren gefügig macht, sondern es auch in den Diskurs des Pietismus einbindet, in dem der Mensch seine Individualität und seine persönliche Beziehung zu Gott zu vereinen sucht. Damit wird der Text weiter verkompliziert, da nun mit der Vernetzung von Aufklärung, Pietismus und Empfindsamkeit sowohl religiöse als auch säkulare Elemente instrumentalisiert werden. Die Reklusinnen ziehen sich von der Welt zurück, um in der Einsamkeit oder in einer strengen Klostergemeinschaft ein Leben zu leben, das durch die negierenden Prinzipien des Schweigens, der Enthaltsamkeit, der Armut und der Demut bestimmt wird. In seiner religionspsychologischen Studie bemerkt Schjelderup, dass die Askese als „vorsätzliche Unterdrückung des natürlich gerichteten menschlichen Trieblebens“ primär der Annäherung des einzelnen Menschen an Gott dient und damit als „Arbeit an sich selbst“ gelten kann.61 Auch die in den Heiligenviten beschriebenen Kämpfe der Eremiten beiden Geschlechts mit den ‚inneren Dämonen‘, in den bildlichen Darstellungen oft in Gestalt von Teufelsfiguren sichtbar gemacht, kennt Uhtkes Schreiberin, wenn sie von den „gigantischen Furien der Menschheit, Ehre, Glük und Wollust eisern im Wettstreit, Vernunft und Willen in ihre glänzenden Zauberfesseln zu legen“ spricht.62 Entscheidend wird in diesem Zusammenhang aber der Kampf mit den Dämonen, die als „düsterer Gram“ das „blutrieselnde Mutterherz“ foltern, aber durch den Glauben an Gott und das Vertrauen auf die moralische Entscheidungsfähigkeit des Menschen überwunden werden können.63

|| 59 Ebenda. 60 Ebenda, § 88, S. 116 61 Schjelderup: Die Askese, S. 2. 62 Uhtke: Eremitenblick (Der Scheideweg), S. 17. 63 Ebenda.

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6 Einsamkeit als Handlungsfreiraum und Selbstinszenierung Im Unterschied zu den Viten der Reklusinnen und Heiligen, die von anderen geschrieben werden, schreibt Uhtkes Eremitin ihre Geschichte selbst. Wie bereits erwähnt, bestehen die Eremitenblicke aus Vignetten verschiedener Erzählstrukturen und Erzählformen. Die Sammlung beginnt mit Emilie, einem Text in der Tradition der Klugheitslehren, der sich in mehrere Teile aufgliedert. Thema ist die richtige Wahl eines Ehepartners. Die Schreiberin richtet sich zunächst an eine schöne junge Frau und mahnt, sich bei der Wahl ihres Ehemannes nicht von ihren Phantasien und den Schmeicheleien junger Verehrer verführen zu lassen, die, sobald die Ehe geschlossen ist, diese als Einschränkung ihrer Freiheit empfinden und ihre Enttäuschung an ihren Ehefrauen auslassen. Der sonst gefällige zärtliche Liebhaber späht nun nach den Fehlern des Weibes als Mann, mit eben den Begierden, als er sonst die Reize seiner Braut aufzusuchen bemüht war, um den Grund des Uebels, das ihn drückt, auf fremde Schultern zu werfen. […] Durch Vorwürfe über Kleinigkeiten muß das geschreckte Weib bald die Täuschung empfinden, die ihre Einbildung berauschte, den Mann einst als Liebhaber zu besitzen. Umsonst werden Klagen, Thränen, Bitten, dauernden Eindruck auf ihn machen, täglich rauher wird sie zurück gewiesen, und bitterer Ueberdruß von beiden Seiten, vergällt die Lebenstage, die bei minder überspannter Einbildungskraft, sanft und heiter dahin gefloßen wären.64

Diesem Schreckbild der Ehe stellt die Schreiberin dann ein häusliches Glück mit einem Mann entgegen, der durch „Ernst, Menschenliebe, inneres Wohlwollen“ und Vernunft gegenseitigen Respekt garantiert. Um jedoch überzeugend auf die jüngere Frau zu wirken, plädiert die Schreiberin, sie nicht als „abgelebte Eremitin“ abzutun, sondern sie als „jugendliche Freundin“ und „jüngere Schwester“ zu sehen, die für das Glück ihrer Ehe bürgen kann, solange sie ihr „gutes Herz und unverdorbene Grundsätze“ bewahrt. 65 Mit der Gegenüberstellung von Verliebtheit und wahrer Liebe, Verachtung und Respekt, Phantasie und Vernunft versucht die Eremitin in einfühlsamer Weise – sie inszeniert sich hier als gleichaltrige Schwester bzw. Freundin – junge Frauen bei ihren Entscheidungen zu beeinflussen. Redlichkeit und Undank ist sowohl der Apell an Ehepaare, sich mit Respekt und Achtung zu begegnen und die Pflichten des Haushalts gemeinsam zu

|| 64 Uhtke: Eremitenblick, S. 12f. 65 Ebenda, S. 12.

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erfüllen, als auch der Ratschlag zur verantwortungsvollen Erziehung der Kinder. Im ersten Beispiel ermahnt sie die „Ruhe und Bequemlichkeit liebenden“ Ehemänner, sich mehr an der Erziehung der Kinder, besonders der Söhne zu beteiligen und diese schwere Aufgabe nicht allein der Frau zu überlassen. Eindringlich schildert sie, wie sich die Versäumnisse des Vaters, den noch formativen Charakter des Kindes zu prägen, nicht nur auf den Undank des Kindes gegen die Mutter, sondern auch auf moralisch-ethische Verhaltensnormen auswirken können. Behandelt doch eure Kinder nicht als Geschöpfe, denen Schuldigkeiten durch Stokschläge eingeprägt werden. Mäßiget Härte und Laune, damit schlechte Exempel nicht guten Ermahnungen entgegen würken. Drükt die redlichen Bemühungen der sorgsamen Mutter nicht durch Tadel und Undank nieder. Unterstüzt vielmehr ihren Eifer für das Wohl eurer Kinder durch den eurigen. Es muß euch nicht genug seyn, die Welt mit Menschen zu bereichern, bildet sie auch zu nuzbaren Erdbewohnern. Lernt einsehen, daß die ganze Erziehungslast für weibliche Schultern zu schwer ist. Die Natur spricht euch durch Dienst und Amt von dieser Pflicht nicht los.66

Es geht also keineswegs nur um gelegentliche Hilfe des Ehemannes oder um Familienkrisen, sondern um die Gleichberechtigung in der Ehe und um die Ausbildung der Jugend zu verantwortungsvollen Bürgern eines Staates. Auch Der Zwang der Selbstwahl und die Nachschrift zu Die gesunkene weibliche Tugend fallen unter die Kategorie der Klugheitslehren, indem sie die richtige Erziehung der Kinder, vor allem die Freiheit von Berufs- und Partnerwahl befürworten. Auch hier schildert die Schreiberin die verheerenden Folgen einer falschen Entscheidung der Eltern, die nicht das Wohl der Kinder, sondern eigene Interessen im Auge haben. In der Erziehung der Töchter geht es vor allem um das Vertrauen zwischen Kindern und Eltern, was auch die Freiheit der Partnerwahl mit einschließt. Statt der Verbote von männlicher Gesellschaft, die „gefahrvollere heimliche Zusammenkünfte“ zur Folge haben, plädiert die Schreiberin für „öffentlichen Umgang“ und freies Handeln, damit die jungen Frauen ihre Neigungen erforschen, den männlichen Charakter von seiner guten und schlechten Seite sehen und die „Lokkungen eines Verführeres“ erkennen können. Bei so früh eingesenkten Trieben für die Tugend und der unermüdeten Sorgfalt, ihre Kenntniße zu vervollkommnen, werdet ihr nie zu fürchten haben, daß sie bei Bestimmung ihrer Wahl den rechtschaffenen Mann verkennen, noch auch vor diesem festen Entschluß die Bahn der weiblich zartern Sitsamkeit verlaßen werden.67

|| 66 Ebenda, S. 61. 67 Ebenda, S. 51.

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Wichtig ist es hier zu bemerken, dass moralisch-ethische Entscheidungen durch eine von Vernunft und Einfühlungsvermögen geleitete Erziehung des Menschen getroffen werden können. Der Scheideweg, Der kleine Verzug, Die Spielsucht, und Die Eifersucht sind Beispiele von Texten, die sich an den Erzählformen der Parabel orientieren. Und auch hier ist es der „Eremitenblick“, das Sehen des Lasters und seiner Folgen, das unmittelbar mit persönlichem Engagement berichtet. Mit emphatischen Ausrufen: „Welche Schaaren seh ich dort am Scheidewege der Tugend und des Lasters, mit der Miene bedenklicher Entschließung stehn!“68 rhetorischen Fragen: „Wer ist genug gewafnet, den schmeichelhaften Winken des Glüks zu widerstehen?“69 und bildhafter Sprache: „Wie vom alles anfreßenden Krebs sah ich menschliche Herzen von dem Gifte der Eifersucht ergriffen, zerfleischt, sich dem Tode der Lebensfreuden nahen.“70 wollen diese Texte überzeugen, lehren und zeigen, wie man sein eigenes Verhalten überdenken und verbessern soll. Die gesunkene weibliche Tugend. Eine an Warheit gränzende Geschichte handelt von der verbotenen Liebe zweier junger Leute, der Verstoßung der Tochter aus dem Elternhaus, die Versöhnung der Eltern mit Tochter und Liebhaber und das durch die Hochzeit besiegelte Happy End. Der Text besteht aus den Dialogen der handelnden Personen und könnte sehr gut die Vorlage zu einem Familienrührstück sein, da es sowohl sprachlich als auch emotional als dramatischer Vorgang inszeniert ist. Das Ganze schließt mit einer langen moralischen Betrachtung zum Thema heimlicher Liebe und der vernünftigen Erziehungs- und Verhaltensweisen von Eltern und Kindern. Kernpunkt ist jedoch der positive Handlungsablauf, der nur durch das Eingreifen der Eremitin, ihre Überredungskünste und ihr sicheres Auftreten vor allem dem Vater gegenüber gewährleistet werden kann. Die Geschichte beginnt mit dem Jammergeschrei der verzweifelten Tochter, die ihr Vergehen durch Selbstmord sühnen will: Wo? Wo soll ich Rettung suchen! Mit Schande bedekt, hinweggedrängt von dem Auge der zärtlichsten Eltern, das vor Wuth und Jammer starrt, jetzt das Geständniß meines Verbrechens zu lesen, das meinen versiegelten Mund der Rede verschloß! – Gedemüthiget, verlaßen ohne Unschuld, der fingerzeigende Gegenstand des Spottes, den härtesten Urtheilen vieleicht heimlich mehr Gesunkener unterworfen, ohne Dach, ohne Nahrung – bleibt allein

|| 68 Ebenda, S. 17. 69 Ebenda, S. 66. 70 Ebenda, S. 104.

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Verzweiflung mein Loos. […] Kann ich noch zaudern, eine Verworfene, eine von Ehre entblößte zu vertilgen, die dem Blike des Tugendhaften Abscheu erregt?71

Die Eremitin, die Zeugin dieses emotionalen Ausbruchs war, tritt nun aus ihrem Versteck hervor und greift in die Handlung ein, indem sie die junge Frau aufhält und zu überreden versucht, ihr Vertrauen zu schenken: „Halten Sie ein, ihre Schuld durch Verbrechen zu vergrößern!“72 Das gelingt ihr denn auch und das Mädchen verbringt einige Tage in der Hütte der Eremitin, wo sie sich allmählich beruhigt und ihre Geschichte erzählt. Die Eremitin besucht nun die Eltern und fordert diese heraus, Verständnis für ihre Tochter aufzubringen und ihr zu verzeihen. Ihr Leben liegt in ihrer Hand, können sie der gefallenen Unschuld Gerechtigkeit wiederfahren lassen, den aus Unerfahrenheit und Neigung begangnen Fehler verzeihen, und die kindliche Rechte ohne Vorwürfe wieder genüssen lassen, so führe ich die reuevolle Tochter in ihre Arme, und leiste ihnen sogar Bürgschaft für ihre Wiederkehr zur Tugend.73

Es ist wichtig zu bemerken, dass die Eremitin auf der Unschuld der Tochter besteht, hat sie doch ihren Fehltritt aus Unwissenheit und Liebe zu dem jungen Mann und nicht aus Sittenlosigkeit begangen. Um den Vater ebenfalls zu gewinnen, appelliert sie an das „gütige Vaterherz“ und bittet, „nicht die Strenge der Gesetze, sondern die Gefühle der ununterdrükten Natur zum mildernden Richter zu wählen“.74 Nach einem heftigen Zornausbruch des Vaters mahnt sie diesen zur Mäßigung und erzählt, wie sie die Tochter vor dem Selbstmord gerettet hatte. Wie bei der Mutter überlässt sie auch hier dem Vater die Entscheidung über das Schicksal der Tochter. Nur er kann Kläger und Richter über das Schicksal seines Kindes sein. Sie droht sogar, sich mit der Tochter an den Fürsten zu wenden, „um Schuz gegen die unnatürliche Wuth eines Vaters“ zu flehen und zu beweisen, dass sie sich vor keiner Schuldaufbürdung zu fürchten habe.75 Selbstbewusst fordert sie ihn dann heraus: „Ich erwarte ihren bestimmten Entschluß, um nicht Augenblike zu verlieren, die ich nuzbarer zu verwenden weiß.“76 Gerade die Beharrlichkeit und Bestimmtheit der Eremitin sind ausschlaggebend für den väterlichen Sinneswandel, der reumütig um Vergebung bittet und verspricht, sich mit seiner Tochter wieder auszusöhnen. Nachdem sich auch noch || 71 Ebenda, S. 44. 72 Ebenda. 73 Ebenda, S. 45f. 74 Ebenda. 75 Ebenda, S. 46. 76 Ebenda, S. 47.

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der angeblich „gottlose Verführer“ als rechtschaffener junger Mann erweist, steht der Vermählung im „Tempel ihrer Eremitage“ nichts mehr im Wege. Der Text endet mit einer langen moralphilosophischen Betrachtung über die „unbarmherzigen Sittenrichter“, die strenge Urteile fällen und Menschenleben dadurch vernichten. Die Eremitin macht nun einen Unterschied zwischen jungen Menschen, die „in den unglüklichen Augenblikken siegender Leidenschaft, zu schwach im Kampfe“ sind und sich damit selbst ins Unglück stürzen. Indem sie Verbrechen wie Wucher, Verleumdung und Prostitution der gefallenen Tugend eines unschuldigen Mädchens gegenüberstellt, mahnt sie die Mütter, sich ihrer Töchter anzunehmen und sie wieder in die Familie einzugliedern. Krisen können jedoch durch die richtige Erziehung der Töchter vermieden werden. Statt Strafen sollen die Eltern das Vertrauen ihrer Kinder gewinnen, so dass es keine Geheimnisse zwischen ihnen gibt. Sie sollten auch den Umgang mit jungen Männern nicht verbieten, denn nur „gefahrvollere heimliche Zusammenkünfte sind die unzertrennlichen Folgen solcher Verbote“. Fehlverhalten und seine Folgen sollen vor Augen geführt und diskutiert werden, so dass sich die jungen Menschen eine Meinung bilden können von dem, was klug und rechtschaffen und dem, was unklug und verdorben ist. Nur so werden die „Kenntnisse“ des eigenen Charakters erworben und die Wahl eines ehrsamen Lebenspartners ermöglicht.77 Uhtkes Weiblicher Eremitenblick ist ein reichhaltiges, kleines Werk. Der Tropus des Theatrum Mundi im Kontext von Selbstinszenierung und Performanz wäre noch genauer zu untersuchen, ebenso die Gedichte mit patriotischen Themen. Dass sie eine gebildete Frau war, zeigen ihre Kenntnisse des klassischen Altertums, der religiösen Schriften und auch der weltlichen Unterhaltungsmöglichkeiten, zum Beispiel der Regeln des Pharaospiels.78 Die wenigen Beispiele aus ihrem Werk sollen als Anregung zu weiteren Untersuchungen ihrer literarischen Leistung dienen, so dass sie in den Kanon der Schriftstellerinnen des 18. Jahrhunderts aufgenommen werde möge.

|| 77 Ebenda, S. 51. 78 Zusätzlich wäre es noch interessant, mehr über ihr Leben, ihre Ehe, ihren Ehemann und ihre Kinder zu erfahren. Bisherige Forschungen in den Archiven, Gemeinden und Pfarreien verliefen leider ergebnislos. Vielleicht kommt mir auch hier der Zufall zu Hilfe, dem ich die ‚Entdeckung‘ des Weiblichen Eremitenblicks zu verdanken habe, als ich im Repertorium der Litteratur von 1798 einem von Achim von Arnim genannten Titel zu seinen naturwissenschaftlichen Werken nachging.

| 2 Einsiedler und Einzelgänger: Inszenierung und Weltunsicherheit

Christof Wingertszahn

„Eine andre Freude und ein andres Leben“ Achim von Arnims Einsiedler Arnim hat sich wie viele Autoren seiner Zeit auf Einsiedler eingelassen. Solitäre Figuren, Eremiten und Rückzugsanwandlungen begegnen häufig in seinem Werk. Der „grose Fabrikant“ in der Stube1 hat aber eine eigene Note in der Behandlung des Motivs; zudem ist er der einzige unter den als Romantiker titulierten Autoren der Zeit, der die „solitudo“, die Einsamkeit, und die Vereinzelung der Individuen auch funktional in einem avantgardistischen Zeitungskonzept reflektiert hat. Die Zeitung für Einsiedler trieb Kulturpolitik und behandelte originell das Verhältnis des Einzelnen zur Masse des Publikums; der Titel brachte im Paradox des trotz aller ‚Alleinigkeit‘ auf Kommunikation angewiesenen Individuums dessen grundlegende Ambivalenz zum Ausdruck. Die Einsiedler-Zeitung ist ein Reservoir von Eremiten und Anachoreten unterschiedlichster Manier; sie behandelt religiöses Anachoretentum und pietistische Mystik ebenso wie die Einsamkeit des Dichters in zugleich komischer und ernster Manier, in Scherz und Ernst. Die Doppelbödigkeit des Motivs ist hier allerorten zu finden: weil Arnim die Motive immer auch auf einer Metaebene als Allegorie literarischen Arbeitens auslegt. Er arrangiert Ambiguitäten,2 montiert verschiedene Einsamkeitsmotive als Mythenbastler, als bricoleur.3 Dass der Einsiedler eine kunsthistorische und literaturgeschichtliche Vergangenheit hat, weiß Arnim. Das Motiv blieb seit dem späten Mittelalter ohne nennenswerten Sitz im Leben und hat sich vor allem literarisch fortgezeugt.4 Wie schon die Liedersammlung Des Knaben Wunderhorn hat Arnim die Einsiedlerzeitung als einen Schatz der Überlieferung älterer Literatur angelegt. Anhand des Mediums ließe sich die Entwicklung der geistlichen wie der weltlichen Anachorese in der Kulturgeschichte nachzeichnen.5 – So ruft z. B. ein Gedicht in der Liedersammlung Des Knaben Wunderhorn, das den Gegensatz von geistlicher Askese und von Rokoko-

|| 1 Clemens Brentano über Arnim an Wilhelm Grimm, Februar/März 1810 − Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 32, Briefe, Bd. 4, S. 228. 2 Vgl. Wingertszahn: Ambiguität und Ambivalenz. 3 Vgl. Detlef Kremer zur Arnimschen Technik der „intertextuellen Bastelei“ – Kremer: Arnims uferloses Drama, S. 139f. 4 Vgl. Frenzel: Motive der Weltliteratur, S. 129. 5 Vgl. dazu Ost: Einsiedler und Mönche, S. 20–40; Velhagen: Eremiten und Ermitagen in der Kunst vom 15. bis zum 20. Jahrhundert; Welzig: Beispielhafte Figuren, S. 143–158. https://doi.org/10.1515/9783110634709-004

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Erotik ausstellt, den Lauf der Entwicklungsgeschichte der Einsiedelei und die damit verwobenen Argumente auf, nämlich der auf einem Fliegenden Blatt vom Ende des 18. Jahrhunderts beruhende Streit zwischen dem blinden Cupido und einem Waldbruder. Im Sinn der Gesellschaftslehre der Aufklärung treibt der Waldbruder sträfliche Vereinzelei, im Sinn eines Epikuräismus unverständliche sinnliche Enthaltsamkeit: Cupido. Willkomm mein lieber Eremit! Was machst in dieser finstern Hütt? Wie kommts, daß der verdrieslich Wald Dir besser als die Stadt gefallt? Soll dann ein so betrübter Stand Das grob und rauhe Klausnerg’wand Den schönsten Kleidern von Drador Und Silber gehen vor? Eremit. Ein G’müth, so nach dem Himmel tracht, Acht’ kein Geschmuck noch Kleiderpracht, Ein Hütt so mich bedecken kann, Ist stattlich gnug für mein Person: Dazu wo findt man größre Freud, Als in der süßen Einsamkeit? Da kann man in vergnügter Ruh Sein Leben bringen zu.6

Das Gedicht endet mit der Pointe, dass der Einsiedler das „arme, junge Blut“, den kindlichen Liebesgott, in seiner Hütte aufnimmt und ihn zum Abnehmen der Beichte für die „alte Schäferin“ anstellt.7 Die Geschichte der Einsiedelei beginnt auf theologischem Gebiet mit den „Altvätern“ in der thebäischen Wüste; die Kenntnis der Vitae patrum-Literatur kann man bei Arnim voraussetzen. Als „Schüler des Horaz“8 war Arnim aber auch die antike Tradition der Idyllik geläufig, ebenso wie die humanistische Tradition, in der die religiöse Einsamkeit säkularisiert wurde in ein Nachdenken über die Rolle der Gelehrten. Schwanksammlungen der Neuzeit, barocke Pikaroromane und Heiligenlegenden der Gegenreformation gehörten zu seinem Wissensschatz.

|| 6 Arnim/Brentano: Des Knaben Wunderhorn, Bd. 2, S. 329. 7 Ebenda, S. 330. 8 Arnim: Anrede an meine Zuhörer im Herbste 1811 – Werke in sechs Bänden, Bd. 3, S. 618.

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Arnim war ebenso vertraut mit den zahlreichen Überlegungen, die im 18. Jahrhundert dem Rückzug auf das Land galten. In den Eremitagen der Empfindsamkeit huldigte man nicht nur der christlichen Religion, sondern schwärmte auch für die Naturphilosophie der antiken und neuzeitlichen Philosophen.9 Ob Arnim die Einsamkeitsmode und die Mönchsmanie der Zeit noch in leibhaftigen ‚Ziereremiten‘ erlebt hat, ist nicht belegt; Eremitagen der Gartenkunst waren ihm sicher geläufig und als Sammler alter Kunst kannte er auch Landschaftsdarstellungen mit Einsiedlerstaffagen oder Genreszenen.10 Auch die gegenläufige Kritik an der schwärmerischen Empfindsamkeit dürfte ihm bewusst gewesen sein. Arnims Vorliebe für die Einsiedler liegt eine genaue Kenntnis alter Quellen zugrunde: der vitae patrum, der Schriften deutscher Mystiker (Seuse, Tauler) und der Heiligenlegenden. Sie werden als Figuren des Anderen (Mohrin, Einsiedler) im Roman der Gräfin Dolores und der Zeitung für Einsiedler progressiv aufgestellt. Anhand des Motivs spielt der Autor seine Subjektivitätskonzepte durch. Es ist kulturpolitische Formel und poetologische Chiffre, aber auch Ausdruck eigener Weltunsicherheit angesichts einer polar wahrgenommenen Krisenzeit, in der „ebenso viel Drang nach Wirksamkeit und Thätigkeit als Drang nach Ruhe“11 herrschen.

1 Einsiedler im Leben Der virtuosen Zitation aus den Archiven der Einsamkeit liegt bei Arnim ein fundamentales Interesse an der Figur der Vereinzelung zugrunde. Jenseits aller literarischen Bastelei ist er fasziniert von dem Phänomen der Anachoreten. Der Einsiedler ist nicht einfach ein romantisches Versatzstück, das er seinen Romanen und Dramen appliziert, sondern Bestandteil einer Problemkonstellation, die vor allem Arnims Jahre von 1806 bis 1811 geprägt haben. Sie betrifft das Nachdenken über die Stellung des Individuums in der Gesellschaft, die Ortsbestimmung in der Welt zwischen Diesseitigkeit und Transzendenz und das Nachdenken über die Rolle des Künstlers. Die Heiligen und die Eremiten haben bei Arnim Hochkonjunktur in den Jahren 1808 bis 1811. Es ist nicht nur eine persönliche Krisenzeit des Autors, sondern der Romantik. Der Sieg Napoleons über Preußen traumatisierte den jungen || 9 S. Ost: Einsiedler und Mönche, S. 49–65. 10 Vgl. zu den Bildgattungen und der Motivgeschichte ebenda, S. 66–107. 11 Anonym: Einige Worte der Warnung, des Trostes und der Hofnung. In: Zeitung für Einsiedler, 30. Juli 1808 – Werke und Briefwechsel (Weimarer Arnim-Ausgabe), Bd. 6/1, S. 425.

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Arnim; nach der preußischen Niederlage bei Jena/Auerstedt versuchte er sich am Widerstand gegen die französischen Eroberer und an der Neuorganisation des Staats zu beteiligen. Ökonomisch ungesichert, vagabundierte er ohne festen Standort zwischen Berlin, Heidelberg und anderswo umher. In diese Jahre fällt gleichzeitig die Annäherung an Bettine Brentano, die er 1811 heiratete und damit eine stabile Familie gründete mit Standort Berlin und ab 1814 Wiepersdorf. Die Beschäftigung mit Einsiedlern geschieht in einer Zeit, in der Arnim für sich selbst das Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft verhandelte: in der Beziehung zum preußischen Staat, in der Klärung seines Berufsstatus als freier Poet und hinsichtlich der Bindung an die Partnerin Bettine. Arnim ist als Initiator von geselligen Veranstaltungen durchaus bekannt geworden, etwa in der Heidelberger Tafelrunde und in der skandalösen Berliner Tischgesellschaft. Aus den Briefen des Autors lässt sich aber auch die gegenläufige Tendenz zur Besinnung auf sich selbst in der Einsamkeit belegen. Das Eremitenmotiv findet sich schon im Zusammenhang von Arnims Exilzeit in Königsberg.12 Im Oktober 1807 schrieb er: „Wie oft dachte ich in mir irgendwo ein Einsiedler zu werden, doch das kam mir wieder vor, als wenn es etwas bedeuten solle, besonders in unsrer Zeit und ich wollte nur Ruhe“.13 Wenn „Einsiedler“ etwas bedeutet, dann ist das eine kulturpolitisch besetzte Rolle, eine Stellungnahme und betonte Abkehr von der verfahrenen Zeitpolitik, Widerstand und Resignation. Demnach hätte Arnim aus Scheu vor einer öffentlichen Auslegung seines Rückzugs die Rolle nicht angenommen, aus Scheu vielleicht auch vor der Tradition des Eremitentums im Sinne einer religiösen Auszeichnung. Ruhe wollte Arnim allerdings auch, um Abstand von der unglücklich verlaufenen Liebe zu Auguste Schwinck zu gewinnen. Insofern ist der Wunsch, Einsiedler zu werden, Ausdruck eines persönlichen Rückzugs und nicht politische Botschaft. Ein Jahr später erwägt Arnim 1808 im Briefwechsel mit Bettine Brentano scherzhaft ein eremitisches Leben auf dem Land: Wie himmlisch Wetter ist heute, ich wollte ich wär Landprediger um in der Sonne recht faulenzen zu können oder einen wüsten Berg zu roden und Steinmauern zu ziehen und Erde aufzufahren und Wein zu pflanzen […]. Wohl dem Lande wo noch Landprediger und Einsiedler sind, wie ein Murmelthier möchte ich jezt aus meiner Höhle kriechen und fände goldnen Wein vor meiner Klause, wohl dem Lande wo sich die Einsiedler betrinken können und wo der Landmann sie sorgfältig unter ein Dach trägt, daß ihr Bart nicht vom Regen

|| 12 Vgl. Ulfert Ricklefs’ Kommentar – Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 5, S. 1249f. 13 Arnim an Charlotte Schwinck, 26. Oktober 1807 – Werke und Briefwechsel (Weimarer ArnimAusgabe), Bd. 33/1, S. 122. Vgl. dazu Ricklefs, Kommentar in Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 5, S. 1249f.

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seine Locken verliere, hier aber ist der Wein zu schwach und zu sauer, und die Leute zu hart und die Einsiedler zu viel unter den Leuten und die Landprediger zu viel in der Stadt, wo die Theologischen Professoren, nicht einmal an Gebet glauben.14

Das hier aufgerufene Ideal eines Eremiten ist nicht das eines strengen Asketen, sondern gegenläufig der Entwurf eines vitalistischen Einsiedlers, der den sinnlichen Genüssen nicht abgeneigt ist und trotz des Hausens in einer Höhle auch in eine Landgemeinschaft integriert ist. Wenn als Alternative zum Eremiten hier der Landprediger aufgerufen ist, dann ist die Tradition des 18. Jahrhunderts mit im Spiel, als Idyllen mit Predigern Konjunktur hatten. Dennoch ist der religiöse Bezug allen Scherzes ungeachtet da. In den betreffenden Jahren sammelte Arnim eifrig Heiligenlegenden und Kupferstiche mit religiösen Motiven, neben vielerlei Literatur aus der Barockzeit – die Pikaroromane von Grimmelshausen, Moscherosch, Christian Reuter und Christian Weise wie die Schelmenromane von Sorel u. a. bilden das Komplement zu seinem Interesse an religiöser Literatur. 1808 präsentierte Arnim Goethe in Weimar Heiligenbilder;15 der Romantiker, der in Heidelberg erbitterte literaturpolitische Auseinandersetzungen mit dem Spätaufklärer Johann Heinrich Voss führte, muss einen merkwürdigen Eindruck hinterlassen haben. Goethe vermerkt nur lapidar unter dem Datum des 19. Dezember: „Nachmittags und Abends die Arnimschen Kupfer“ und erwähnt diese nochmals für den Abend des 20. Dezember, an dem Arnim aber auch eine Liebesgeschichte vortrug, die er für seine Novellensammlung Der Wintergarten bearbeitet hatte.16 Kanzler von Müller notierte anlässlich der Zusammenkunft am 20. Dezember 1808: „sein Stutz Perucken ähnliches Haar, und seine im scharfen Winkel vorgebogene Nase geben ihm fast ein Missionair Aussehen“.17 Man beschaute „altdeutsche Kupferstiche von Sadeler und Savary, die am Hofe Max II. zu Prag lebten, fast lauter Heiligen-Legenden“.18 Neben den literaturgeschichtlichen Kenntnissen des Motivs besaß Arnim den Überblick über die reiche Ikonographie des Themas. Fast noch wirkungsmächtiger als durch die Literatur wurden ihm Eremiten über Bilder vermittelt. Sowohl Arnim als auch Brentano sammelten Kunst – Brentano schlug sogar als Ergänzung der Liedersammlung

|| 14 Arnim an Bettine, 7. April 1808 – Arnim/Bettine Brentano: Briefwechsel, Bd. 1, S. 169f. 15 Vgl. Arnim an Bettine Brentano, 25. Dezember 1808: „[Ich] zeigte meine Kupferstiche herum“ – ebenda, Bd. 1, S. 296. 16 Goethe: Tagebücher, Bd. III/1, S. 506; vgl. dazu den Kommentar in Bd. III/2, S. 1209. 17 Friedrich von Müller: Tagebuch, zitiert nach Goethe: Begegnungen und Gespräche, Bd. 6, S. 610. 18 Ebenda.

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Des Knaben Wunderhorn im Bereich der Bildenden Kunst ein „Bilderbuch“19 vor −, Bettine steuerte ebenfalls bildende Kunst bei, und die Korrespondenz zwischen Arnim und Bettine berührte immer wieder Bilder, Heiligendarstellungen wie Gelehrtenporträts: die gegenseitige emotionale Annäherung, die zur Verlobung führte, wird über den Austausch von Bildern vorbereitet, in denen Heiligenkonterfeis eine besondere Rolle spielen. „Heilige Bilder“20 ständen zwischen ihnen, schreibt Arnim am 7. März 1808 und meint dabei nicht einfach die Möblierung ihrer beider Zimmer. Gleichermaßen wird über Arnims Einsiedlersympathien und ihn als Kuttenträger gescherzt.21 Aus Arnims Brief an Bettine Brentano vom 27. Februar 1808 geht hervor, wie angerührt er von der christlichen Tradition der Eremitage und der Religion überhaupt war. Darin rühmt er zwei schöne Einsiedlerbilder, die er gerade erworben habe: einen Kupferstich zur Stigmatisation des heiligen Franziskus und eine Landschaft des walisischen Vorromantikers Richard Wilson (1713–1782): Einen heiligen Franziskus der eben die Wunden von Christus als Gnade bekommen und ein frommer Bruder der sie ihm auswischen will, ein wunderbares Bild; denn wie die Vorstellung des Heiligen groß im Gemüth und doch äusserlich unnütz nicht wie die Mertyrer zur Bestätigung einer Wahrheit nothgedrungne Qualen [erdulden], so ist die ganze Felsengegend, lauter Felsen, wie sie wohl seyn könnten, die man aber nicht findet, ebenso Einsiedler Hütten glat in schönem Verhältniß aber ohne Fenster, das Gesicht ein Wunder von Schwärmerey, die sich selbst doch zwischendurch belächeln muß und doch ihr Wesen und Werth fühlt. [...] Noch ernster ergreift eine Einsiedlerlandschaft von Wilson, es scheint ein Prachtgarten gewesen, ein mächtiger Löwe liegt zerbrochen im breitblättrigen Kraute am Wasser, ein Einsiedler liest vor sich, ein andrer hört ihm zu, ferner durch Stämme über Felsen hinaus steht ein einsames Kreutz hellerleuchtet, von vielen Pilgern knieend umlagert; der helle Schein durch die feuchte kalte Waldung ist wunderschön.22

Arnims Interpretation dieser zwei Bilder verdeutlicht sein Verständnis der Einsiedler besser als sein poetisches Werk. Die Darstellung des heiligen Franziskus verweist auf Arnims romantisches Verständnis des Wunderbaren und gleichzeitig seine poetische Technik des Grotesken als eines Gemischs von Scherz und Ernst. Der Wilsonschen Einsiedlerlandschaft geht diese Gestaltungsart gänzlich

|| 19 Brentano an Arnim, 14. März 1808 – Werke und Briefwechsel (Weimarer Arnim-Ausgabe), Bd. 33/1, S. 290f. 20 Arnim an Bettine, 7. März 1808 – Arnim/Bettine Brentano: Briefwechsel, Bd. 1, S. 143. 21 Bettine Brentano an Arnim, 3. März 1808: „ich werde deinem Bild wieder ein neues Kleid machen lassen, eine Kutte, damit kein weltlich Bild in der Einsiedelei hängt“. Darauf Arnim an Bettine, 7. März 1808: „laß mir keine Kutte anmahlen“ – ebenda, S. 141 und 143. 22 Arnim an Bettine Brentano, 27. Februar 1808 – ebenda, S. 133.

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ab, sie demonstriert ein sentimentalisches Verständnis des Eremitentums und bricht die Perspektive auf das Jenseits in keiner Weise. Wilsons Landschaft, betitelt Solitude,23 ist ein vorromantisches, gefühlsintensives Werk, das schon religiöse Bildkonzeptionen von Caspar David Friedrich vorwegnimmt. Wilson24 war „primarily a landscapist of a poetic inclination“25, der besonders von Claude Lorrain und Caspar Dughet beeinflusst wurde; John Constable und William Turner gehörten zu seinen Bewunderern.26 Bezeichnend für seine effektvollen Landschaften ist sein Bild The White Monk, das er in mehreren Varianten ausführte. Es zeigt eine malerische Landschaft mit einer idyllischen Figurengruppe im Vordergrund und auf einem sonnenbeschienenen Hügel einen weißen Mönch vor einem aufgerichteten großen Kreuz bzw. einer Kapelle.27 Auch Wilsons Ölbild Solitude inszenierte Mönche in einer Landschaft. Es liegt in mehreren Ausführungen vor und wurde erstmals 1762 ausgestellt; das erfolgreiche Gemälde hat Wilson in den Jahren bis 1778 mindestens noch dreimal ausgeführt.28 Arnim lag wohl der 1778 erschienene Kupferstich von William Woollett (1735–1785) und William Ellis (1747–1810) nach der Version des Bilds in der National Gallery of Ireland in Dublin vor.29 Der Kupferstich wurde am unteren Rand erläutert durch Verse aus einem Schlüsselgedicht der Aufklärung, James Thomsons berühmtem Jahreszeitengedicht The Seasons (1730, 2. Teil, Summer, V. 439–447).30 Das Bild zeigt inmitten eines üppigen Walds einen See, in dem sich die umgebenden Felsen und Bäume spiegeln. Linkerhand sind auf einem Postament Reste einer zerbrochenen Löwenstatue zu sehen, der zugehörige Kopf liegt im Pflanzengestrüpp davor. Rechterhand steht ein Mönch einem Mitbruder gegenüber, der, an einen Baum gelehnt, in einem Buch liest. Im Mittelgrund öffnet sich || 23 Es handelt sich bei dem Werk nicht um The White Monk IV, wie Heinz Härtl irrtümlich meint, in: Werke und Briefwechsel (Weimarer Arnim-Ausgabe), Bd. 33/2, S. 1188f. Zu Wilsons Darstellungen vgl. auch Ost: Einsiedler und Mönche, S. 150f. 24 Vgl. zu ihm Hayes: British Paintings, S. 333–339. 25 Ebenda, S. 333. 26 Ebenda, S. 334. 27 The White Monk III wurde kürzlich von der Gemäldegalerie Alte Meister (Staatliche Kunstsammlungen) Dresden erworben. 28 Hayes: British Paintings, S. 338. 29 Eine Abbildung findet sich bei Hayes (ebenda). Vgl. außerdem The British Museum: https://www.britishmuseum.org/research/collection_online/collection_object_details.aspx?objectId=3141046&partId=1 (24.08.2019). 30 Vgl. Hayes: British Paintings, S. 336. – „Still let me pierce into the midnight depth […] Extatic, felt; and, from this world retird.“ Von Mönchen ist bei Thomson allerdings nicht die Rede, dafür von den „ancient bards“, die sich ekstatisch in der Natur von den Zumutungen der Welt erholen.

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die Waldlandschaft auf eine sonnenbeschienene Lichtung hin, auf der mehrere Mönche vor einem Kreuz gelagert sind. Arnim wird fasziniert haben, dass auf den Trümmern einer Kulturlandschaft Ruinen und Zeichen zu sehen sind, die zwei Einsiedler lesend verstehen wollen. Die Szene mündet in das Kreuz als Endpunkt allen Lebens: ein hochsentimentalisches Bild, das sehr künstlich im Arrangement der Eremitenstaffagefiguren und der wilden Landschaft wirkt. Es transportiert Vergänglichkeit, Einsamkeit und Tod. Die zerbrochene Löwenstatue wurde gedeutet als Bild einer selbstzerstörerischen Aggressivität, der gegenüber die Mönche tugendhafte Kontemplation üben, aber auch als Symbol des unvermeidlichen Todes und des Verfalls.31 Komische Aspekte gehen diesem Bild der Vergänglichkeit gänzlich ab. Nimmt man noch die Bildunterschrift nach Thomsons Seasons hinzu, dann konnotiert es Rückzug in die Natur und Abwendung von der Welt. Das Lesen im Buch gibt auch der Literatur einen Sinn in diesem Arrangement. An der Darstellung des heiligen Franziskus lassen sich gleich drei Elemente von Arnims Einsiedlerfaszination demonstrieren: die Attraktion durch eine ausgezeichnete Mittlerfigur; die Wirklichkeit des Wunders und die Fiktionalität der Darstellung. Der Kupferstich konnte noch nicht identifiziert werden. Arnim hat das Bild von dem Heidelberger Ästhetiker und Publizisten Aloys Schreiber (1761– 1814) erworben.32 Die unzähligen Darstellungen der Stigmatisation des Heiligen Franziskus33 zeigen den Heiligen in unterschiedlichen Graden ekstatisch, entrückt, auch mit Gesichtszügen, die heutigen Zeitgenossen kitschig-barock erscheinen. Meistens ist dem Heiligen ein passiver Begleiter beigegeben, der Legende nach Bruder Leo. Arnims Beschreibung des Franziskus klingt so, als ob er eine konventionelle Ikonographie provokant in grotesk-komischer Manier umgedichtet hätte; möglicherweise interpretierte er eine Darstellung des stigmatisierten Heiligen, dessen Wunden von dem Bruder Leo behandelt wurden, als das Wunder missverstehenden Versuch, es ‚auszuwischen‘ im Sinne des Tilgens. Ein Gemälde ‚Bruder Leo pflegt ein Wundmal am Fuß des heiligen Franziskus’ wird z. B. dem französischen Maler Louis Boullogne (1609–1674) zugeschrieben.34

|| 31 Nach Solkin und Wheelock/Kreindler, vgl. Hayes: British Paintings, S. 338. 32 Vgl. Arnim an Clemens Brentano, 27. Februar 1808 – Werke und Briefwechsel (Weimarer Arnim-Ausgabe), Bd. 33/1, S. 251. 33 Anhand von Arnims Bildbeschreibung scheint mir der Kupferstich schwerlich als in der Nachfolge Giottos oder Jan van Eycks zu lokalisieren − so der Kommentar ebenda, Bd. 33/2, S. 1188). 34 Eine Kopie des Gemäldes befindet sich im Museo Francescano dei Frati Minori Cappuccini, Rom, Inventar-Nr. 0151; vgl. die Angabe nach der Bibliotheca Hertziana Rom http://foto.bibl hertz.it/exist/foto/obj08028429.

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Die Episode aus der Heiligenvita demonstriert, wie empfänglich Arnim in dieser Zeit für Wunder war.35 Er beklagt zivilisationskritisch die Abnahme der alten werthaltigen Gefühle, der Eigentlichkeit gegenüber einer rationalistisch verwässerten Gegenwart, die weder mit der Inbrunst des religiösen Gefühls noch mit den in der neuzeitlichen Schwank- und Pikaroliteratur beschworenen Körperlichkeit etwas anfangen kann: es ist die romantische Kritik an der ‚Entzauberung‘ der Welt, wie sie in Arnims Essay Von Volksliedern festgehalten ist. Etwas von diesem rationalistischen Zweifel ist der Machart des Bilds beigegeben. Das Besondere am Bild liegt in der Mischung von Heiligem und Komischem, die Arnim fasziniert: ein Wunder, das ausgewischt wird, ein Heiliger, der sich selbst nicht ernst nimmt. Der Versuch, die Wunde wegzuwischen, minimalisiert die übernatürliche Auszeichnung des Stigmatisierten; der Scherz macht das Unfassbare des Wunders in einer Verlegenheitsreaktion erträglich. Das Verfahren, etwas Eigentliches dazustellen und es gleichzeitig auf moderne Weise zu reflektieren, wendet Arnim selbst in seinen Werken an. Dass Franz von Assisi seine Berufung durch etliche ‚performances‘ publikumswirksam inszenierte, kam den „Liederbrüdern“ Arnim und Brentano in ihrem Kunstverständnis entgegen. Der heilige Franziskus lebte zeitweise als Einsiedler; sein Wahlspruch „Eremo e cita“ (‚Stille und Stadt‘) verband aber das Eremitentum mit dem Leben in der Stadt. Seine Identifikation mit dem leidenden Christus erreichte ihren Höhepunkt in seiner Stigmatisation auf dem Berg La Verna bei Bibbiena im September 1224. „Der erste Stigmatisierte der christlichen Religionsgeschichte“36 hinterließ bei Arnim markante Eindrücke. Sein „Herzbruder“ Clemens Brentano schätzte es über alle Maßen, und Arnim erwog sogar, das

|| 35 Vgl. Wingertszahn: Ambiguität und Ambivalenz, S. 633–638 über die Heidelberger „Geisterhistorie“. Vgl. dazu auch Arnims romantische Kulturkritik an der alltäglich automatisierten Wahrnehmung und sein Votum für die religiöse Tradition in der Versöhnung in der Sommerfrische: Als man dem Einsiedler „die Gaben an Brot und Wein zur Verteilung übergab, da verklärte sich sein Angesicht wunderbar, er brach so fromm und übersinnlich das Brot und teilte es aus, daß ich zum erstenmale jene Stelle der Bibel begreifen lernte, welche erzählt, daß die Jünger Christus nach der Auferstehung an der Art wiedererkannt hätten, wie er das Brot gebrochen. Warum wird so vieles nicht mehr verstanden und darum verschmäht? Weil die Menschen in der wachsenden Gemächlichkeit und Beihülfe des gesamten geselligen Lebens, so wenig mehr selbst erleben, viele Eindrücke werden ganz zur Tradition und diese wird immer bläßer, bis gewaltsame Ereignisse in das Bild wieder Blut treiben. Aber auch die Gewohnheit, der tägliche Anblick nagen an den Wundern der Welt wie der Regen an den Denkmalen großer Vergangenheit, aber es bedarf nur eines frischen Glücks, einer großen Tat, so tritt alles wieder in ursprünglicher Jugendschöne hervor, die Last der leeren Zeiten verschwindet, es ist uns alles wieder neu und wunderbar.“ – Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 3, S. 575. 36 Vgl. dazu Feld: Franziskus, S. 68.

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Blatt an ihn nach einigen Jahren weiterzugeben.37 Ob es dazu gekommen ist, wissen wir nicht. Die Vorstellung der Stigmatisation war für Brentano aber besonders anziehend; er verknüpfte sie – wie auch Arnim – mit der Idee einer himmlischen Auszeichnung des Dichters.38 Das Interesse präfiguriert Brentanos mehrjährigen Schreiberdienst am Bett der Dülmener Nonne Anna Katharina Emmerick, deren Stigmata er ab 1818 nachspürte.39 Die Ausdeutung des Franziskus im Sinne einer christlichen Mystik und gleichzeitig als eines Dichters lässt sich an Joseph Görres’ Aufsatz Der heilige Franziskus von Assisi, ein Troubadour (Straßburg: Le Roux 1826) weiter verfolgen.40 Eine Ähnlichkeit des Künstlers, hier des Dichters, mit einem Heiligen hatte Arnim schon 1802 in seinem frühromantisch inspirierten Lebensplan ausgemacht. Darin beschrieb er den Poeten als demütigen Petrus: „er beschränkt das Spiel seines Lebens indem er es einem Zwecke unterordnet, er ist ein echter Märtirer und Einsiedler, er betet und kasteiet sich für andre, er stirbt damit sie das Leben haben“.41 Der Künstler opfert sich also für die Menschheit. Das Pathos des Wunders und des Opfers, den Gegensatz zwischen dem Übernatürlichen und dem Säkularen versucht Arnim in seinen Werken durch eine Technik der Groteske zu vermitteln, die einer transzendenten Perspektive auch wieder die verleugnete Körperlichkeit integriert. Dieses besondere Arnimsche Verfahren von Scherz und Ernst wandte er offenbar auch im persönlichen Umgang bei Dingen, die ihn besonders affizierten, an. Bettine beschwerte sich einmal über diese Form grimmiger Komik, die zur Signatur des Arnimschen Werks geworden ist: „Deinen Ernst hab ich lieb […] aber Dein Lachen und scherzen nicht immer, nicht immer!“.42 Die betreffende Gefühlstechnik hat Arnim in seinem bedeutsamen Gedicht Einsamkeit benannt: Darin legt das von „Trauerlarven“ bedrängte lyrische Ich seinen Kopf in den Rachen des zahmen Löwen (eine Anspie-

|| 37 Vgl. ebenda und Arnim an Bettine Brentano, 27. Februar 1808: „Das Bild hatte Clemens besonders gefallen, wenn ich mich einmal davon trennen kann will ichs ihm schicken.“ – Arnim/Bettine Brentano: Briefwechsel, Bd. 1, S. 133. 38 Vgl. Wolfgang Frühwald: Das Wissen und die Poesie. – In: Lüders (Hrsg.): Clemens Brentano, S. 47–73, hier S. 69f. 39 Zur Überlagerung der Stigmatisation des Franziskus mit derjenigen der Nonne Emmerick vgl. Jörg Mathes: Brentanos Vorlagen zum „Lebensumriß der Erzählerin“ A. K. Emmerick. – In: Lüders (Hrsg.): Clemens Brentano, S. 163−191, hier S. 185f. 40 Vgl. Frühwald: Das Wissen und die Poesie. – In: Lüders (Hrsg.): Clemens Brentano, S. 69f. 41 Arnim an Clemens Brentano, 9. Juli 1802 – Werke und Briefwechsel (Weimarer Arnim-Ausgabe), Bd. 31, S. 58. 42 Bettine an Arnim, 7./8. Februar 1808 – Arnim/Bettine Brentano: Briefwechsel, Bd. 1, S. 113.

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lung auf den heiligen Hieronymus). Der „Schreckensnachen“ gewährt Sicherheit: Da kann ich der anderen lachen Und schrecklich lustig sein, In meinen Schreckensnachen Dringt nie das Schrecken ein.43

Das distanzierende Scherz-Element scheint in Arnims grotesker Komik die sentimentale Ergriffenheit zu bewältigen versuchen. Diese Umschlagsästhetik findet sich auch in dem emotionalen Klagegedicht über die Krankheit von Arnims Großmutter, das Arnim am 12. April an Bettina schickte: Ganz unbemerkt fällt ein das Hohe, Ganz heimlich schleicht sich ein der Scherz, Ganz ungewarnt schlägt ein der Schmerz Und alles brennt schon lichterlohe.44

Es ist geprägt von der Motivik des Auszugs aus einer „Höhle“, der den „einsam harten Winter“ beendet, der folgenden Wahrnehmung des „lieben Gotteshauses“ wie aus einer „Murmelthierlein“-Perspektive, der Einsiedler-Motivik („Ich träumt als Einsiedler zu liegen / Die Schäferinnen schenkten Wein, / In Frühlingssonne schlief ich ein / Zur Rosenlaube sie mich trügen“) und der darauffolgenden Desillusionierung und der Besorgnis über die lebensgefährliche Krankheit der Großmutter. Sie mündet in ein Gebet und die Überwindung der Skepsis, so wie der ungläubige Thomas angesichts der „Narben“ von Christus an die „Auferstehung“ glaubt: O Glaube heilges Mittlerwesen Der uns des Leids vergessen macht, O schaffe daß mein Herze lacht Und glaubt, die Mutter sey genesen [...].45

Im Zusammenhang mit der Einsiedler-Motivik sind Glaube und Transzendenz beschworen und erfolgt die Rehabilitation der religiösen Einbildungskraft angesichts der spätaufklärerischen Religionsskepsis, die Arnim schon in seiner oben

|| 43 Arnim: Einsamkeit. – Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 5, S. 387f. 44 Arnim an Bettine Brentano, 12. April 1808 – Arnim/Bettine Brentano: Briefwechsel, Bd. 1, S. 174. 45 Ebenda, S. 174f.

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angeführten Diagnose, selbst die Theologen glaubten nicht mehr an Gott,46 angeführt hatte. Die Leibfeindlichkeit vieler Anachoreten und die psychopathologische Komponente auch in den Selbstquälereien des heiligen Franz von Assisi (wie auch später die Marterpraktiken des deutschen Mystikers Heinrich Seuse) benennt Arnim nicht, aber er weist sie implizit zurück, wenn er Bettine erzählt, ihn beschäftige „ein andrer Plan nach dem Traume eines alten Gedichtes, ein weltliches Kloster, das aber der Mann nie wiederfinden konnte“,47 das Arnim aber am Rhein erbauen wolle. Im Plan eines säkularen Klosters ist Arnims Vitalismus inbegriffen, der ihn schon in seinem Essay Von Volksliedern zu einer scharfen Kritik des „Klage- und Elend-Wesen[s]“ bewogen hatte, das die Kirchenorthodoxie hervorgebracht und damit das Leben verödet habe.48 Sollte Arnim sich mit dem Gedicht auf Rabelais‘ berühmten Schelmenroman Gargantua und Pantagruel beziehen? Darin auf die Nachricht von dem Kloster Thélémy, das bewohnt wird von einer exklusiven Gemeinschaft, deren einzige Maxime darin besteht, zu tun, was ihr gefällt – mit dem Ergebnis, dass durch diesen Voluntarismus eine bessere Gesellschaft geschaffen wird. Clemens Brentano hat diesen Text offenbar gelesen, und den Plänen eines „Geckenordens“,49 den beide Freunde hegten, scheint eine Orientierung an dem französischen Groteskkomiker zugrundezuliegen.50 Arnim bedient sich in seinen Texten fast stets der Konfrontation von geistlichen und profanen Motiven, für die Michail Bachtins Theorie der karnevalistischen Lachkultur immer noch eine überzeugende Deutungsperspektive gibt.51 Die affektive Anziehungskraft der alten Eremiten, für die Arnim sich so sehr interessierte, wird immer wieder gebrochen durch unflätige Vertreter dieses Berufsstands, wie sich gut an Arnims ‚historischem‘ Roman Die Kronenwächter zeigen lässt. Zugrunde liegt eine Ambivalenz, eine Überzeugung von der doppelten Gewirktheit der Welt aus Körper und Geist, die romantische Literatur überhaupt prägt.52 Arnim versucht sie durch seine grotesk-komische Darstellungstechnik dialektisch zu vermitteln.

|| 46 Siehe oben zu Anm. 14. Vgl. Arnim an Bettine Brentano, 7. April 1808 – ebenda, S. 169. 47 Ebenda. 48 Arnim: Von Volksliedern. – Arnim/Brentano: Des Knaben Wunderhorn, Bd. 1, S. 387f. 49 Vgl. Wingertszahn: Ambiguität und Ambivalenz, S. 415f. und S. 626; Ricklefs: „Ahasvers Sohn“, S. 211f. 50 Rabelais-Entlehnungen sind in Arnims wegen ihrer antisemitischen Ausfälle zu Recht verrufene Rede Ueber die Kennzeichen des Judenthums eingegangen; vgl. Stefan Nienhaus’ Kommentar – Arnim: Werke und Briefwechsel (Weimarer Arnim-Ausgabe), Bd. 11, S. 387. 51 Vgl. Wingertszahn: Ambiguität und Ambivalenz, S. 261–273. 52 Zur „Polarisierung in sinnliche und geistliche Inbrunst“ als Strukturprinzip der romantischen Lyrik vgl. von Matt: Gespaltene Liebe, bes. S. 65f.

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Wilsons Solitude nötigte zu einer melancholischen Kontemplation angesichts der irdischen Vergänglichkeit. Im literarischen Werk spielt Arnim dagegen das Moment des Erschreckens und des Todes weg, wenn er zum seriösen christlichen Einsiedler gegenläufige Einsiedlermotive einführt. Einerseits hält er der Zeit alte Beispiele von konsequenter Einsiedelei vor, andererseits berichtigt er deren einseitige Vorstellungen der Jenseitsgerichtetheit.

2 Einsiedlerfiguren im literarischen Werk Einsiedler treten in der romantischen Literatur an entscheidenden Stellen als Berater, Initiationsfiguren, und vergessene Verwandte auf; sie sind anerkannte Außenseiter der Gesellschaft, mit ihr verbunden durch zeitweilige Beeinflussung ihrer Akteure, verharren in Distanz und bilden durch die Abseitsstellung ein Korrektiv für die Masse; gleichermaßen sind sie aber in Gefahr, in einer solitären Abkapselung den Kontakt zu Wirklichkeit zu verlieren. Die Maßstäbe setzten Novalis in seinem Roman Heinrich von Ofterdingen und Tieck in seinem Künstlerroman Franz Sternbalds Wanderungen. Bei Novalis verschafft dem angehenden jungen Dichter Ofterdingen ein Graf von Hohenzollern eine Ahnung seines zukünftigen Lebens.53 Der Höhlenbewohner hegt nach dem Verlust seiner Frau nur noch einen allegorischen Bezug zur Wirklichkeit. Der Graf, eigentlich Ofterdingens Vater, gibt seinem Sohn am Beginn seiner Laufbahn die Einsicht in das Ende aller Dinge mit, so dass Welt und Jenseits gleich in eine Ambivalenz gerückt sind. Der ‚Weg nach Innen‘ soll den Zusammenhang aller Dinge vermitteln. Von diesem Weg hat Arnim sich als Kritiker der Frühromantik abgesetzt und gegen die romantische Introspektion die Tat gesetzt.54 Farbiger versammelt Tieck in seinen beschworenen Waldeinsamkeiten Einsiedler unterschiedlicher Couleur, die seinen Helden, den jungen Maler Sternbald, beeindrucken. Er lernt sie auch im Bild kennen: so den „lesenden Einsiedler“,55 Dürers bekannten Kupferstich des heiligen Hieronymus. Die im Buch vorgestellten Kunstwerke sind Allegorien; der alte Maler Anselm erklärt eine seiner Schöpfungen als Versinnbildlichung der Pilgerschaft des Menschen durch das finstere Tal hin zum Licht des Himmels.56

|| 53 Vgl. Novalis: Werke, S. 302–313. 54 Vgl. Haustein: Romantischer Mythos und Romantikkritik in Prosadichtungen Achim von Arnims. 55 Tieck: Franz Sternbalds Wanderungen, S. 55. 56 Ebenda, S. 197: „Er machte hierauf den jungen Maler auf eine Landschaft aufmerksam, die etwas abseits hing. Es war eine Nachtszene, Wald, Berg und Tal lag in fast unkenntlichen Massen

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Nicht grundsätzlich anders fällt das Gemälde Orgagnas aus, das Sternbald empfohlen wird. Es entfaltet ein ständisches Panorama, in dem aber der Tod umgeht. Einsiedler haben hier ihren Ort, sie lesen und melken Ziegen.57 Arnim, der Tieck um einen Auszug aus der „Fortsetzung des Sternbald“ für seine Einsiedlerzeitung bat,58 bezieht sich wohl auf diese beiden Bildentwürfe, wenn er am Schluss seiner Novellensammlung Der Wintergarten ein mittelalterliches Bild vorstellt, das die Fülle des Lebens zeigt, dem auch ein „Zettel mit Sprüchen“,59 eine mittelalterliche Spruchbanderole also, beigegeben ist und „wo der Einsiedler unter wildem Weine mit seinem Löwen vor einem Kreuze knieet“:60 In ihm ist der heilige Hieronymus als kleine Figur eingelassen, die als meditative Figur das dargestellte pralle Leben säumt, die Stände in ihren unterschiedlichen Beschäftigungen sind repräsentiert, aber die Figur des durch die Luft fliegenden Tods fehlt. Die transzendente Perspektive, die der romantischen Literatur immer anhaftet, beschwört auch Arnim; aber wie kein anderer Romantiker wertet er die vitale Sphäre dagegen auf. Der Wintergarten als Sammlung von Robinsonaden wird so eher ein Anfang der Neuerkundung der Welt, inspiriert durch die Vitalität vergangener Zeiten, als ein Pilgerstück, das die Welt entsinnlicht. Arnim dekliniert den Einsiedler als romantisches Standardmotiv durch. Nachdem die Empfindsamkeitskritiker des 18. Jahrhunderts die Projektionen, die in diese Figur für die jungen Literaten der Aufklärung eingingen, als Täuschungen offengelegt hatten, versucht er das alte Energiepotential der Bilder aus dem Barock wieder zum Leben zu erwecken. Seine Einsiedlerfiguren sind nicht zustimmend als innere Emigranten dargestellt, sondern sie werden vitalisiert mit Rückgriff auf ältere Erzähltraditionen. Damit werden Einsiedler als Gruppe Träger einer neuen Reformanschauung. Das Kraftfeld Vitalisierung wird zwischen zwei Polen ausgespannt: Übererfüllung (sinnlicher Exzess) und Untererfüllung || durcheinander, schwarze Wolken tief vom Himmel herunter. Ein Pilgrim ging durch die Nacht, an seinem Stabe, an seinen Muscheln am Hute kennbar: um ihn zog sich das dichteste Dunkel, er selber nur von verstohlenen Mondstrahlen erschimmert; ein finsterer Hohlweg deutete sich an, oben auf einem Hügel von fernher glänzte ein Kruzifix, um das sich die Wolken teilten; ein Strahlenregen vom Monde ergoß sich, und spielte um das heilige Zeichen. | ‚Seht, rief der Alte, ‚hier habe ich das zeitliche Leben, und die überirdische, himmlische Hoffnung malen wollen; seht den Fingerzeig, der uns aus dem finstern Tal herauf zur mondglänzenden Anhöhe ruft. Sind wir etwas weiter, als wandernde, verirrte Pilgrime? Kann etwas unsern Weg erhellen, als das Licht von oben? Vom Kreuze her dringt mit lieblicher Gewalt der Strahl in die Welt hinein, der uns belebt, der unsere Kräfte aufrechthält.“ 57 Ebenda, S. 213. 58 Arnim: Werke und Briefwechsel (Weimarer Arnim-Ausgabe), Bd. 33/1, S. 316. 59 Tieck: Franz Sternbalds Wanderungen, S. 45. 60 Arnim: Der Wintergarten – Werke in sechs Bänden, Bd. 3, S. 413f., Zitat S. 414.

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(Klage, Abwertung des Lebens). Mit seinen farbigen Eremiten unterscheidet Arnim sich dabei deutlich von der Gestaltung des Motivs bei allen anderen Romantikern. Die polare Konstruktion des Einsiedlerbilds lässt sich gut in den Kronenwächtern studieren, worin Arnim das Motiv zwischen den Figuren des Pikaro und des Heiligen aufstellt. Solche Polarität konnte Arnim gestaltet in vielen Barockromanen finden.61 Im ersten veröffentlichten Teil des Romans lässt er den frommen Anno auftreten; sein Komplement hat dieser in dem Eremiten Rautenstrauch im zweiten nur im Nachlass erhaltenen Teil. Dem „frommen Anno“ kontrastiert Arnim in einer Farce den verfressenen Einsiedler Rautenstrauch und kombiniert das tradierte schöne Bild des Einsiedlerlebens mit einer „Teufelsgrube von Einsiedelei“, in der sich der dem Lagerbier verschworene Protagonist „ganz nackt“ in die Erde hineintanzt.62 Vom alten Anno wird berichtet, dass er sich nach dem Tod seiner Kinder und Kindeskinder in die Einsamkeit zurückgezogen habe, „da hätte sich ihm in seinem Gram eine andre Freude und ein andres Leben eröffnet und er könne die Ereignisse dieser Welt von da an nur immer als Gleichnißreden zur Belehrung, aber nicht als etwas, das an sich bestehe, ansehen“.63 Er residiert fortan über dem Dorf in einer Bergregion, dem Himmel nah. In einer Szene, die Arnim als Kernmotiv so wert war, dass er sie auch für den nicht publizierten Zyklus Die Versöhnung in der Sommerfrische und die Päpstin Johanna vorgesehen hatte,64 predigt Anno eine weltliche Verkündigung, gegen repressive religiöse Erziehung („Seligkeit reicher Erndte und von der Erziehung des Menschen in dem Reichthum himmlischer Gaben, die in der Erndte irdisch ausgesprochen würden: wie viel herrlicher ist diese, rief er, als die Erziehung in Reue und Jammer“65) und beschwört eine Vereinigung von Himmel und Erde im Erntesegen,66 von der ungewiss ist, inwieweit die angespielte Eucharistie protestantisch als Zeichendeutung oder katholisch als reale Transsubstantiation funktioniert.67 Arnims Verteidigung

|| 61 Vgl. zum Thema Koeman: Die Grimmelshausen-Rezeption, S. 289. 62 Arnim: Die Kronenwächter. Zweiter Band – Werke in sechs Bänden, Bd. 2, S. 552. 63 Arnim: Die Kronenwächter. Erster Band – ebenda, S. 290. 64 Vgl. dazu Ricklefs: Kunstthematik, S. 204–206. Vgl. den Text in Arnim: Die Päpstin Johanna – Werke und Briefwechsel (Weimarer Arnim-Ausgabe), Bd. 10, S. 227–229. Ferner Arnim: Die Versöhnung in der Sommerfrische – Werke in sechs Bänden, Bd. 3, S. 577f. 65 Ebenda, S. 290. 66 Ebenda, S. 291f. 67 Ulfert Ricklefs fasst die Tendenz des Erntelieds folgendermaßen zusammen: „Ein innerhalb von Arnims geistiger Topographie bedeutsames Gedicht, das stets an signifikanten Wendepunkten vom Dionysischen zum Christlichen, von subjektivem Titanismus zur Achtung vor dem

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des Wunderbaren schließt diese Realpräsenz nicht aus. In dieser Verkündigung kommt er der Mittlerfunktion der Einsiedler in den bisherigen Romanen am nächsten und verhilft der ihn besuchenden Gesellschaft nach einer von ihr durchzechten Nacht zu einer Sinndeutung des Lebens mit Perspektive auf das Jenseits. Die Gesellschaft betet mit ihm die Stundengebete durch die Nacht; das Gebet, das der Alte spricht, findet in einer Naturszene bei Sonnenaufgang statt, in einer Szene, die auch eine rationalistische Beschwörung der ‚Aufklärung‘ im Sinne des späten 18. Jahrhunderts sein könnte. Für diese Figur hat Arnim aber auch eine Gegenfigur entworfen, die nie zur Publikation gekommen ist. Die fehlende Veröffentlichung mag bezeichnend dafür sein, dass die „andre Freude“ letztlich das Übergewicht behalten hat über die Rabelais’sche Schelmenwelt. Das „schöne Bild vom Einsiedlerleben“, das Grünewald – ein Bruder Bertholds – in „tiefster Seele“ hegte,68 wird durch den groben Rautenstrauch gründlich demontiert. Grünewald brachte den Einsiedler darauf, was er denn abends in seiner Einsamkeit tue, wenn die frommen Pilger weggezogen wären und der Schlaf seine schwarzen Flügel noch nicht über die Augen breite. Herr, sagte er, da hab ich erst noch genug mit meinem Fressen zu tun, denn was einem die albernen Bauern bringen, ist immer entweder versalzen oder verschmolzen, und habe ich gefressen, da muß ich mich lausen, wer tut mir das, wenn ich es nicht selbst tue, es kriecht einem immer so etwas an von den Bauernpudeln, die Knochen muß man sich doch auch waschen, ja Herr, es ist ein hart Leben, was ich so im Walde führe und nun ich alt werde kommen die Leute nicht mehr wie sonst zum Besuche.69

Rautenstrauch haust in einer „Einsiedelei, die wie in einer Wolfsgrube erbauet war“,70 flucht wie der Teufel und hält sich einen guten Vorrat von Lagerbier. Sein „Beichtstuhl“ gewinnt „das Ansehen eines zweischläfrigen Ehebettes“,71 der Eremit wird evangelisch und lässt sich „an der funfzigjährigen Jubelfeier seines Einsiedlerlebens“72 verheiraten, verbindet sich gleich mit zwei Frauen und tanzt sich mit ihnen nackt in die Erde hinein: Da kam der Einsiedler mit beiden Frauen auf den geräumigen Platz vor der Kapelle, der Rotmantel spielte in der Kapelle so schnell, so schnell, und sie tanzten so wild so wild, daß ihnen die Kleider stückweise vom Leibe fielen, dabei fluchten sie auf alle, die den Ehrentanz

|| Gegebenen, von vitalistischer Naturimmanenz zu eschatologisch spiritueller Haltung eingesetzt wird.“ (Kommentar – Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 5, S. 1510f). 68 Arnim: Die Kronenwächter. Zweiter Band. – ebenda, Bd. 2, S. 546. 69 Ebenda. 70 Ebenda, S. 547. 71 Ebenda, S. 550. 72 Ebenda, S. 552.

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nicht mit ihnen machen wollten, aber Jedermann hütete sich wohl bei dieser teuflischen Musik. Lange sahen ihnen die Reisenden zu, was das werden solle, sie hatten sich schon drei Schuhe tief in die Erde getanzt, waren ganz nackt und zermagert, ein schändlicher Anblick, sie mochten es nicht mehr sehen, wendeten sich weg […].73

Die „Lasterhöhle, die lange Zeit eine Zuflucht der Frommen geschienen“, wird darauf dem Boden gleich gemacht.74

3 Zeitung für Einsiedler Über den literarischen Einsatz von Einsiedlerfiguren hinaus hat Arnim das Konzept für ein publizistisches Unternehmen fruchtbar gemacht, das zu den originellsten Schöpfungen der deutschen Romantik gehört. Das kurzlebige Journal Zeitung für Einsiedler erschien von April bis August 1808; die nicht abgesetzten Hefte wurden im selben Jahr zusammengebunden unter dem Titel Tröst Einsamkeit, alte und neue Sagen und Wahrsagungen, Geschichten und Gedichte. Zu den Beiträgern gehörten etliche Literaten und Philologen wie Clemens Brentano, Joseph Görres, die Brüder Grimm u. a. Der Zusammenhang von Vitalismus, Zeitkritik und der Reflexion auf das Verhältnis des Individuums zur Gesellschaft wird manifest in dem Journal, dessen Titel paradox ist: Wieso sollten weltabgewandte Eremiten überhaupt Zeitung lesen? Ihre Neuigkeiten sind doch stets alte Glaubenssätze. So wie Brentano erst einmal das Konzept der Zeitung unklar war,75 erging es auch vielen Zeitgenossen. Geschuldet ist dies Arnims mehrdeutiger Verwendung der Bezeichnung „Einsiedler“. Der Scherz lässt sich auflösen, denn „Einsiedler“ meint alle die Zeitgenossen, die sich nicht mit der tagesaktuellen Massenpresse begnügen. Die Zeitung hatte dementsprechend sehr wenige Leser, die sich aus der gebildeten Welt rekrutierten. „Einsiedler“ wird zur Bezeichnung eines romantischen Individualismus, wie aus Arnims Brief an Bettina vom 2. März 1808 hervorgeht, wenn er sie um einen Beitrag unter dem Titel „Briefe einer Einsiedlerin“ bittet: Ich verstehe unter Briefen einer Einsiedlerin alles das etwas geordnet und gekürzt, was Du gern von Deinen Anschauungen, wenn Du in bewegter Stimmung hie und da [...] gewesen,

|| 73 Ebenda. 74 Ebenda, S. 553. 75 Vgl. Brentano an Arnim, etwa 4. März 1808: „Waß soll aber eigentlich dein Blatt werden, soll es ein ganzes sein, oder ein durcheinander wie andre Blätter“? – Werke und Briefwechsel (Weimarer Arnim-Ausgabe), Bd. 33/1, S. 269. Vgl. Bd. 6/2, S. 648.

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anderen erzählst, was Dir merkwürdig ist, daß Du es gefühlt hast und wie Du es gefühlt [...] das schreib auf, wie es Dir einfällt.76

Damit ist der Begriff weltlich konnotiert und ganz im Gegensatz zu den christlichen Anachoreten aufgefasst, deren Ziel gerade darin bestand, das eigene Ich in der Hingabe an Gott aufzugeben. Das Hauptproblem, das verhandelt wird, ist das Verhältnis des Einzelnen zur Gemeinschaft, das Arnim über ein Konzept der Volkspoesie und die literarische Montage unterschiedlicher Texte verschiedener Arten löst, die in ihrem Mosaik eine Vielfalt von Meinungen bilden und in einem gemeinsamen Forum verbunden werden: Gesellschaft aus der ‚demokratischen‘ Kombination einzelner Stimmen.77 Arnim behält aber auch den religiös konnotierten Begriff bei. In dem Medium erscheinen z. B. Auszüge aus den Schriften des Mystikers Heinrich Seuse (1295–1366), die Briefe einer Mohrin an einen wandernden Einsiedler, die von der ‚Übergabe‘ an Gott handeln.78 Arnim hat zwar auch hier den mystischen Kern vermischt mit einem umstandslosen Buchstäblichnehmen eines Verses aus den Psalmen, aber der religiöse Kern bleibt bestehen, den auch Legenden wie die von der Heiligen Ottilie vermehren. In seinem Vorwort zur Buchausgabe der Zeitschrift hob Arnim hervor, dass sein Ziel darin bestanden habe, die Zeit hinzuführen „zu einer gemeinschaftlichen Jugend und Wahrheit, die wir Andacht und Religion nennen“:79 Religiöse Bezeichnungen werden auf den Beitrag der Geschichte und Literatur übertragen. Bei aller Multidimensionalität des Einsiedlerwesens stellt die Zeitung aber vor allem ein literarisches Spektakel dar, das einen direkten Bezug zur Zeitgeschichte vermeidet. Sie ist innerhalb einer Scherzkultur entstanden, wie sie Theodor Erasmus Hilgard (1790–1873), der Neffe des Heidelberger Buchdruckers Joseph Engelmann, in seinen Erinnerungen (Heidelberg: Mohr [1895]) schilderte. Darin berichtete er von den merkwürdigen geselligen Zusammenkünften der Heidelberger Intellektuellen, die der „Erz-Romantiker“ Arnim mit vielen, oft danebengeratenen „Witzen“ dominierte. Zu den geselligen Vergnügungen der Heidelberger Tischgesellschaft gehörte ein ‚Gesprächsspiel‘, das eine alltägliche Tischordnung mit der Reminiszenz an einen sakralen Hintergrund profanierte:

|| 76 Arnim an Bettine Brentano, 2. März 1808 – Arnim/Bettine Brentano: Briefwechsel, Bd. 1, S. 137. 77 Zur Einsiedlerzeitung und dem Scherzhaften Gemisch vgl. von anderer Warte Nitschke: Die legitimatorische Inszenierung von ‚Volkspoesie‘ in Achim von Arnims Scherzendem Gemisch von der Nachahmung des Heiligen. 78 Arnim: Alte Briefe eines Einsiedlers und einer Mohrin, die Nonne wurde. – Werke und Briefwechsel (Weimarer Arnim-Ausgabe), Bd. 6/2, S. 383–391: Kommentar in Bd. 6/2, S. 1164–1175. 79 Arnim: An das geehrte Publikum. – ebenda, Bd. 6/1, S. 538.

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„So wurde jede Woche ein Tischgenosse zum Vorsteher erwählt unter dem Titel ‚Pontius Pilatus‘. Er hatte gewisse Vorrechte in Bezug auf die besten Bissen, durfte aber bei’m Sprechen nie das Wort ‚Ich‘ gebrauchen, sondern mußte sich in der dritten Person ‚Pontius Pilatus‘ nennen; – jeder Verstoß gegen diese Regel kostete ihn sechs Kreuzer.“80

Das Sprechen in verschiedenen Rollen und das Profanieren der christlichen Leidensgeschichte praktizierten an der alltäglichen table d'hôte, was als scherzhaftes Gemisch von der Nachahmung des Heiligen in der Zeitung literarisch veranstaltet wurde. Wie schon die frühe Kirchenorganisation die zahlreichen Eremiten integrieren musste, so stellte sich das Problem auch für die Zeitung: die Vielzahl der Individualisten als Partei zu organisieren. In seinem Konzept der Zeitung setzt Arnim sich dabei programmatisch von einem romantischen Subjektivismus ab, wie ihn sein Freund Clemens Brentano für das Unternehmen vorgeschlagen hatte. Sie entzündete sich an der Wahl des Mottos. Die überbordende Vitalität des Einsiedlers Rautenstrauch aus den Kronenwächtern ist in einem bedeutsamen Gedicht in erträglichem Maß aufgehoben, das Arnim wie Brentano sehr geschätzt haben und das von letzterem als Motto der Zeitung empfohlen wurde: in dem Gedicht vom tanzenden Einsiedel, das in Des Knaben Wunderhorn unter dem Titel Der verwandelte Einsiedler erschien: Da droben am Hügel, Wo die Nachtigal singt, Da tanzt der Einsiedel, Daß die Kutt in die Höh springt.81

Die Verse hatte Arnim in seinem kulturkritischen Essay Von Volksliedern schon 1805 als Zeichen für ein Lebensgefühl zitiert, das er in die Gegenwart retten wollte.82 Brentano schlug Anfang März Arnim eine „ganz himmlisch[e]“ Idee vor: nämlich „als Vignette der Zeitung einen tanzenden Einsiedel auf dem Weltball

|| 80 Hilgard: Meine Erinnerungen, zitiert nach Renate Moerings Kommentar – Werke und Briefwechsel (Weimarer Arnim-Ausgabe), Bd. 6/2, S. 635f. Vgl. dazu Mumm: Aloys Schreiber, in: Strack (Hrsg.), 200 Jahre Heidelberger Romantik, S. 404. 81 Arnim: Von Volksliedern. – Arnim/Brentano: Des Knaben Wunderhorn, Bd. 1, S. 409. 82 Ebenda, S. 408f.: „Ganz besonders ist es aber der Rhein, wenn sich die Winzer zur schönsten aller Ernten im alten Zauberschlosse der Gisella, Nachts versammeln, da flammt der Heerd, die Gesänge schallen, der Boden bebt vom Tanz: Da droben am Hügel /Wo die Nachtigal singt, / Da tanzt der Einsiedel / Daß die Kutt in die Höh springt.| Viele der Singweisen deuten auf einen untergegangenen Tanz, wie die Trümmer des Schlosses auf eine Zauberformel deuten, die einmal hervortreten wird, wenn sie getroffen und gelöst.“

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mit dem Jupiter kopf und das Motto, da droben auf dem Hügel ect.“.83 Zehn Tage später wiederholte er dringlich seine Idee: „Vor allem bitte ich dich nochmals meine vorgeschlagene Titelvignette des auf der Welt tanzenden Olympischen Einsiedels, welcher die Poesie selbst ist, nicht bei Seite zu legen, die Idee scheint mir jung und würdig, ja klaßisch, und mit einer klaren großartigen Ode, über dieses Thema eröffne.“ 84 Brentanos Idee ist die eines subjektivistisch sich über die Welt erhebenden Poeten, der aus olympischer Perspektive mit der Wirklichkeit spielt. Bezeichnenderweise empfahl er als Eröffnungsgedicht eine PrometheusVariation, also ein Loblied auf das eigenmächtige Schöpfertum.85 Arnim lehnte „die kleine gutgedachte Zeichnung von dem springenden Einsiedler“86 sicher nicht aus ästhetischen, sondern aus ideologischen Gründen ab, weil er sein Blatt welthaltig machen wollte durch Montage möglichst vieler Einzelstimmen zum Wirklichen. Die Montage ist insofern ein Gegenentwurf zur subjektiven Willkür, die jedes einzelne Heft des Journals einem einzigen Subjekt unterwerfen wollte: also ein Plädoyer für eine Gemeinschaft der Einsiedler, ein „weltliches Kloster“ und nicht für ein absolutes Eremitentum. Gegen die Idee des Vitalismus hatte Arnim sicher nichts einzuwenden. Das Journal sollte also ein „Einsiedler Archiv“ werden, ein „Freyhaven“87 für alles und wie schon das Wunderhorn „diese arme wüste Marktwelt (wie Kraut und Rüben unter einander geworfen) zu einem wechselnden, lauten und stillen Gedanken-Chore verbinden“.88 Als Gegenentwurf zum Agieren über der Welt lancierte Arnim sein Gedicht Der an seiner Heiligkeit verzweifelte Einsiedler. Es ersetzt den Olymp durch altdeutsche Waldeinsamkeit. Vermutlich befanden sich unter den vielen Kupferstichen, die Arnim Goethe zeigte, auch Blätter aus der Stecherfamilie Sadeler.89 Johann Sadeler stach einige Bilderfolgen über Heilige und || 83 Brentano an Arnim, etwa 4. März 1808 – Werke und Briefwechsel (Weimarer Arnim-Ausgabe), Bd. 33/1, S. 269. Vgl. Bd. 6/2, S. 648. Zum Thema vgl. Moering: „Der grosse Einsiedler Palast, worin viele tausend Gelehrte, Liebhaber, Sechswöchnerinnen, ungestört neben einander leben können.“ Gedankenräume im Umkreis der „Zeitung für Einsiedler“. – In: Pape (Hrsg.): Raumkonfigurationen der Romantik S. 203−222, hier S. 209f.; Moering: Kommentar – Werke und Briefwechsel (Weimarer Arnim-Ausgabe), Bd. 6/2, S. 641–652. 84 Brentano an Arnim, 14. März 1808 – ebenda, Bd. 33/1, S. 288–291, Zitat S. 289f. Vgl. Werke und Briefwechsel (Weimarer Arnim-Ausgabe), Bd. 6/2, S. 650. 85 Brentano an Arnim, etwa 4. März 1808: „es wär so ein herrlich Lied dazu zu dichten wie Göthens Prometheus“ – ebenda, Bd. 33/1, S. 269. Vgl. Bd. 6/2, S. 648. 86 Brentano an Arnim, 15. März 1808 − ebenda, S. 295. Vgl. WAA 6/2, S. 649. 87 Ebenda. 88 Arnim: Von Volksliedern. – Arnim/Brentano: Des Knaben Wunderhorn, Bd. 1, S. 407. 89 Zur Ikonographie der Eremiten vgl. Kirschbaum (Hrsg.): Lexikon der christlichen Ikonographie.

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Eremiten nach der Vorlage von Maarten de Vos (1532–1603). Diese Zyklen, die in der Gegenreformation wurzeln, sind humorfrei, Denkmäler der alten Anachoreten im Sinn ihrer asketischen Ideale. Die Blätter zeigen in vielen Varianten die Heiligen in affektbesetzten wilden Waldräumen, in Höhlen und Bäumen90; in Arnims Werk wird auf solche Behausungen mehrfach hingewiesen.91 Die Sammlung Sylvae Sacrae. Monumenta sanctioris philosophiae quam severa Anachoretarum disciplina vitae et religio docuit (München 1594) enthält auch einen von Johann Sadeler gefertigten Kupferstich, der den heiligen Zoërardus im hohlen Baum zeigt.92 Der 1009 verstorbene Heilige ist vor allem mit dem Hausen in einem hohlen Baum verknüpft, ein Motiv, das Arnim aufnimmt in dem Gedicht Der an seiner Heiligkeit verzweifelte Einsiedler. Dieses Gedicht, das im Handlungsgang nicht an der Vita des Zoerardus orientiert ist, zeichnet eine wohl erfundene Figur, die ihre Heiligung wieder zurücknimmt nach dem Prinzip, dass eine nicht hinterfragte absolute Heiligkeit verdächtig ist. Der Arnimsche Einsiedler dynamisiert den frommen, stillgestellten Heiligen der Sylvae. Der Romantiker lässt den spirituellen Vertreter eines solitären Lebensstils schließlich seinen Baum aufgeben und die Gläubigen mit faulen Äpfeln bewerfen, weil der Zölibatär Scheu vor der eigenen Heiligkeit bekommt. Dreißig Jahr im hohlen Stamm Saß der alte Einsiedler, Bis die reine Andachtsflamm Durch und durch gedrungen wär, Und nun fühlt er sich so rein, Keine Luft mehr athmen konnt, Er vergeht in heil’gem Schein, Und kein Mensch sich drinnen sonnt. Und vor dieser Heiligkeit Kriegte er nun eine Scheu, Meinte sich von Demuth weit Und begann sein Werk auf’s neu.

|| 90 Vgl. dazu Kirves: Die Einsiedelei als topischer Ort. 91 Vgl. unten zu Anm. 98. 92 Vgl. Abbildung 90 in Velhagen: Eremiten und Ermitagen in der Kunst vom 15. bis zum 20. Jahrhundert. Unterschrieben mit den lateinischen Zeilen: „Haec toti Zoerarde orbi spectula praebes? / Perdius & pernox sic Zoerarde sedes? // Cum pigro tam saeva geris certamina somno? / Si tu sic dormis, quis vigilare potest?“ Dt. Übersetzung von Amandus von Graz: „Da Welt beschau Zerard ein Schauspill halt er dir / Indem er also hart Tag / vnd Nacht sitzet hier. / In also schwerem Streit darffst mit dem Schlaff dich legen? Wann du nun also schlaffst / wer wird doch wachen mögen?“ In: Amandus von Graz: Fasten Banckets der Christlichen Seelen. Erste Aufftracht [...] (1691), S. 3.

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Sonntags ging er in die Stadt, In der Kirch zur Kanzel klomm, Dort mit faulen Aepfeln hat Er beworfen, die nicht fromm. Welch ein Lermen, mancher Schlag, Doch das trug der Einsiedler […].93

Zu anderen spektakulären Inszenierungen dieser Gläubigkeit gehört auch ein rabiater Bekehrungsversuch der Juden, in dem sich Arnims Antijudaismus leider wieder ein Ventil gesucht hat. Im Sinne der Vielstimmigkeit der Einsiedlerzeitung fungiert dieses Gedicht gleichzeitig als Gegenentwurf zur deutschen Mystik, die Arnim in seiner Adaption von Seuses Schriften darbot. Arnim scheint einen besonderen ‚test of ridicule‘ entwickelt zu haben, mit dem er seine Figuren vor moralistischer Einseitigkeit bewahrt. Im Gedicht wird der Eremit ausfallend und überdehnt seine Demut in den Aktivismus gegen die Nächsten und handelt damit im Sinne von Arnims Kritik der Selbstheiligung: eine Zurückweisung der Überdehnung der Demut in der deutschen Mystik. Er zitiert eine Hauptformel der mystischen Übergabe in den Briefen einer Nonne, wenn er Heinrich Seuses Wendung vom Lumpen im Maul des Hundes anführt.94 Die Kritik an der „leeren Einsamkeit“ in der Zelle95 ist ein Topos in Arnims Werk, der für das Leben generell und für die Poesie speziell gilt. Man orientiert sich bei der Würdigung der Einsiedlerzeitung am besten nicht an den Vorreden und Ankündigungen Arnims, denn sie arbeiten wie immer in dieser Textsorte mit einem aufgebauschten rhetorischen Pathos, das die Differenziertheit der literarischen Texte auf hohle Phrasen zurückschraubt. Dem Leser wurde es nicht leicht gemacht, die Idee des Journals aufzunehmen. Arnim lieferte zwar einen langen Text, das Scherzende Gemisch von der Nachahmung des Heiligen, das sich über mehrere Nummern des Journals hinzog. Es verweigerte aber auch hier die Einstimmigkeit, die Brentano im Visier hatte. Der Text ist eine Melange aus einem frühromantischen Capriccio mit einem barocken Gesprächs-

|| 93 Arnim: Der an seiner Heiligkeit verzweifelte Einsiedler. – Werke und Briefwechsel (Weimarer Arnim-Ausgabe), Bd. 6/1, S. 434. Vgl. Arnim: Gedichte – Werke in sechs Bänden, Bd. 5, S. 601f., Zitat S. 601. 94 Arnim: Alte Briefe eines Einsiedlers und einer Mohrin, die Nonne wurde – Werke und Briefwechsel (Weimarer Arnim-Ausgabe), Bd. 6/1, S. 388. Vgl. zum Thema Wingertszahn: Anton Reiser und die Michelein, S. 124. 95 Vgl. das Gedicht Antons Abstieg von der Kronenburg im zweiten Teil der Kronenwächter: „Aus meiner Zelle treibt mich fort / Die leere Einsamkeit, / Es füllet sie kein heilig Wort, / Es nährt den innern Streit. / Das innre Leben ward nicht mein / Weil ich das äußre mied / […]“. – Arnim: Gedichte – Werke in sechs Bänden, Bd. 5, S. 888. Vgl. dazu den Kommentar S. 1537.

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spiel, worin verschiedene Figuren unter verschiedenen Masken auftreten, ein „Spiel“ mit verschiedenen Rollen, das den poetologischen Dissens Arnims mit Brentano aufnimmt und viele Ansichten der Poesie im bunten Wechsel kombiniert: es kontrastiert die Idee autonomer Schöpfung mit der einer wie immer gearteten ‚Nachahmung‘. Die Bezeichnung „Herzbruder“ für den Dialogpartner des Ich-Erzählers weist auf Grimmelshausen, aus dessen Werk der begeisterte Brentano den Beernhäuter für das Journal beisteuerte und dessen Seltzamen Springinsfeld Arnim für seine 1809 erschienene Novellensammlung Der Wintergarten bearbeitete. Über Brentano dürfte Arnim den Kosmos der simplicianischen Schriften kennengelernt haben.96

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Versöhnung in der Sommerfrische?

Die Vielschichtigkeit von Arnims Einsiedler-Entwürfen zeigt sich in zwei sehr heterogenen Texten, die er 1810/11 schrieb. Nur das Drama Halle und Jerusalem wurde Ende 1810 veröffentlicht; der Erzählzyklus Die Versöhnung in der Sommerfrische gelangte nicht zur Publikation. Im Doppeldrama kulminiert Arnims kombinatorisches Prinzip, Bilder grell zu montieren. Der erste Teil stellt eine Bearbeitung von Gryphius’ barockem Trauerspiel Cardenio und Celinde dar, der zweite, das „Pilgerabentheuer“, gestaltet in vielen Einzelszenen die Pilgerfahrt des sündigen und gewalttätigen Helden Cardenio ins Heilige Land und arrangiert in katholischer Buntheit alles Denkbare um das Thema Pilger und Einsiedler, eine Pop-Montage mit schrillen Bildern, die auf einer allegorisierenden Ebene funktioniert. Die Fahrt geht in die Ursprungsregion der Anachoreten, in die „Wüste“, und erinnert an diese „frommen Büßer“ und an die Styliten.97 Cardenio und Celinde hausen in „zwei Einsiedeleien […], die eine ist aus Zweigen in den

|| 96 Die Hauptschriften, den Simplicissimus und die Continuatio, zitiert Arnim nirgends. Dabei stellen sie die Figur des berühmtesten Einsiedlers der deutschen Literatur dar, der nach der Erziehung bei einem alten Anachoreten als Schelm das Weltleben versucht, zurückkehrt zur Einsiedelei und nach einem Schiffbruch sich als Eremit auf der Kreuzinsel einrichtet. Brentano als Liebhaber von Grimmelshausens Simplicissimus wird Arnim das Hauptbuch nahegebracht haben. Arnim selbst erwähnt es nicht (Koeman: Die Grimmelshausen-Rezeption, S. 248), nutzt aber aus dem Korpus der simplicianischen Schriften den Seltzamen Springinsfeld für seinen Wintergarten (ebenda, S. 322–331). Das berühmte Nachtigall-Lied aus dem Simplicissmus bearbeitete Brentano für das Wunderhorn; Arnim zitiert es im Brief an Bettine vom 27. August 1806 (ebenda, S. 248). 97 Arnim: Halle und Jerusalem, S. 344 und 346.

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Zweigen eines hohlen Baums erbaut, in dessen Höhlung die andre eingerichtet“.98 Diese Einschachtelung einer Einsiedelei in die andere verdeutlicht die manieristische Übertreibungsrhetorik des Dramas. Arnim überbietet die barocke Eremitenheiligkeit, indem er sie anhäuft, auf die Kindheit überträgt und grellbunt für das Puppentheater ausstellt. So nimmt z. B. ein „Bube“ das Einsiedlerdasein auf sich,99 ein schwarzer Einsiedler verehrt das weiße Marmorbild einer schönen Frau und stirbt.100 Ein weiterer Einsiedler wird stigmatisiert und geht in das Himmelreich ein. Mit der Stigmatisation greift Arnim auf den in seiner oben zitierten Franziskus-Bildbeschreibung angesprochenen Unglauben an die Auszeichnung durch Gott zurück. Der Einsiedler, der in einem Traum die Wundmale Christi empfängt,101 ruft aus: Mich zeichnet seine Gnadenhand Mit seinen bittern Schmerzen, Ich bin durch gleichen Schmerz verwandt, [...] Der Nägel Wunden allzumal, An Händen und an Füßen, Und in der Seit des Speeres Qual, Fühl ich frisch blutend fließen, Doch in dem Herzen fließt die Gnad, Die mich mit Blut bezeichnet hat,

um dann festzustellen: Wasch mir nicht meine Wunden aus Du frommer Quell mit Thränen, Dies ist der schönste Blumenstraus Und Lohn vom süßen Wähnen […].102

Die Entwertung des Lebens durch einen allegorisch christlichen Sinn, ähnlich wie ihn schon Tieck in Anselms Erläuterung eines Bilds ausgeführt hatte,103 prägt || 98 Ebenda, S. 349. 99 Ebenda, S. 373. 100 Ebenda, S. 360f. 101 Vgl. die Szenenanweisung in Halle und Jerusalem: „[Er] entschläft [...] in Verzückung, Jesus sinkt vom Himmel herab mit blutenden Wunden am Kreutz, er senkt sich auf ihn, berührt ihn mit seinem Munde und mit seinen Wunden, denen sich gleiche Wunden an dem Körper des Mönchs öffnen, Christus erhebt sich langsam in unendlicher Herrlichkeit von Engeln, der Einsiedler erwacht.“ – Ebenda, S. 362. 102 Ebenda, S. 363. 103 Vgl. oben zu Anm. 56.

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das Drama, aller Möglichkeit einer staatspolitischen Allegorese dieser Pilgerfahrt zum Trotz.104 Es endet mit dem Tod aller Hauptfiguren am Heiligen Grab. Bis es dahin kommt, reiht Arnim an jede „ernste Erscheinung“105 ein groteskes Gegenbild.106 Die grotesken Gegenmotive können sich gegen den ernsten Hauptstrang kaum durchsetzen, die romantische Ambivalenz von Leib und Geist ist hier zu keinem positiven Ende geführt. Es bedarf des Merkverses, den der „Dichter“ am Schluss des Dramas spricht, um der „Stimme aus dem heilgen Grabe“ eine Anwendung im Leben zu geben: Schaffen zeigt sich im Verwandeln, Ernst verwandelt sich in Spiel, Dieses ist der Worte Ziel, Doch des Lebens Ziel ist Handeln.107

Die Gattung Puppenbühne erlaubt das Ausstellen solcher emotionaler Bilder. Arnim baut auf die Wirkung des Grotesk-Komischen im Sinn einer Katharsis. In seiner Prosa geht er andere Wege. Ein einziges Mal hat Arnim versucht, in einem psychologisch-realistischen Ansatz eine moderne Einsiedlerfigur zum Thema zu machen. Die Versöhnung in der Sommerfrische ist sein einziger Versuch eines ‚realistischen‘ Erzählens, während er sich in seiner Prosa sonst eines symbolisch-verkürzten Darstellens bedient, das tiefenpsychologisch hellsichtig agiert und über mehrschichtige Bilder die Seelenarbeit darstellt. In der Versöhnung ist bezeichnenderweise ein Gespräch eingelassen,108 das über die psychologische Analyse die Seelenregungen und Verhaltensweisen des jüdischen Außenseiters Rabuni zu ergründen versucht. Dass dieser Text nicht gelungen ist, haben schon viele Interpreten bemerkt, und zu den Gründen gehört sicher die ideologisch schiefe Anlage, mit der Arnim seinen eigenen Vorurteilen dem Judaismus gegenüber, die er in dem Text in eine dialogische Kommunikation zu überführen versucht, wieder erliegt. Von dieser schiefen Anlage her bleibt das Einsiedlermotiv nicht unberührt. In ihm sind die zwei Momente des Künstler-Einsiedlers und der romantischen Initiationsfigur zusammengeführt. Beide Figuren bleiben erfolglos. Der Ich-Erzähler,

|| 104 Vgl. zur christlichen Motivik im Stück Ricklefs: »Ahasvers Sohn«, S. 222–244, und zur möglichen Allegorie auf die preußische Politik − ebenda, S. 222f. 105 So der Titel der ersten Szene, die Christus am Kreuz zeigt – Arnim: Halle und Jerusalem, S. 269. 106 Kremer: Arnims uferloses Drama, S. 150. 107 Arnim: Halle und Jerusalem, S. 436. 108 Arnim: Die Versöhnung in der Sommerfrische – Werke in sechs Bänden, Bd. 3, S. 554–565.

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selbst als Herausgeber der Einsiedlerzeitung eingeführt,109 bezieht tatsächlich eine Klause in der fernen Schweiz, allerdings zusammen mit einem Ehegespons. Wenn am Schluss der Zeitungsmann katholisch wird und als Tiroler weiterleben will,110 ist in der Übertreibung der positiven Wendung schon romantische Ironie eingekehrt. Letztlich bleibt der Ich-Erzähler erfolglos in der Versöhnung des Schweizer Naturvolks und der städtischen Intelligenz, zu der auch der Jude Rabuni zu zählen ist, der am Ende seines Lebens zum Christentum konvertiert. Deutlicher wird das Versagen des Einsiedel-Konzepts noch an der Einsiedlerfigur, die Arnim erst fast mythisch angelegt hat: an der Figur des alten Einsiedlers Andreas. Dieser Eremit in Tirol, der erst als möglicher Versöhner auftritt, wird allmählich zweiseitig beleuchtet, erscheint als „schrecklicher Schauspieler“, aber auch als „Weiser voll Kraft und Mut“.111 In ihm scheint als Präfiguration der selige Nikolaus von Flüe (1417–1487)112 durch, dem Clemens Brentano in seinem Gedicht Bruder Claus113 in der Zeitung ein Denkmal gesetzt hatte. Der fünfzigjährige Flüe verließ seine Familie, um als Einsiedler zu leben, und wurde berühmt durch seine politische Vermittlungstätigkeit. Anders aber der Arnimsche Einsiedler, obwohl er auf Flües Leben verweist, damit man ihn besser verstehen könne.114 Er agiert in einem geographischen Raum, der Eremiten nicht zugelassen hat (der habsburgische Kaiser Joseph II. hatte Eremiten und Waldbrüder im Herrschaftsgebiet der Habsburgischen Monarchie in den 80er Jahren des 18. Jahrhunderts verboten), hinterlässt eine ausgebrannte Einsiedelei115 und bricht nach Italien auf, wo er zu missionieren versucht. Er kann weder bewerkstelligen, dass sein Adept Rabuni bekehrt wird, noch kann er seinen Stiefsohn Artur davon abhalten, Rabuni zu ermorden. Als Vater versagt er, wie viele von Arnims Vaterfiguren verschwindet er in ein anderes Land. Der ausgeführte Zyklus zieht die Konsequenz aus dem Versagen dieses Einsiedlers: Die Figur findet keinen Platz mehr in dem veröffentlichten Rahmen der sogenannten Novellensammlung von 1812 um einige der bedeutendsten Erzählungen, die Arnim geschrieben hat. Die ‚Kooperation‘ zwischen dem Künstler-Einsiedler, dem Ich-Erzähler, und dem Eremiten in Reinkultur scheitert. Beide agieren zwar vereint in einer || 109 Ebenda, S. 567. 110 Ebenda, S. 607. 111 Ebenda, S. 567. 112 Vgl. Flühler-Kreis: Niklaus von Flüe. 113 Arnim: Werke und Briefwechsel (Weimarer Arnim-Ausgabe), Bd. 6/1, S. 392–394 u. Bd. 6/2, S. 1176–1181. Vgl. ebenda, Bd. 33/2, S. 1914f. 114 Arnim: Die Versöhnung in der Sommerfrische – Werke in sechs Bänden, Bd. 3, S. 609. 115 Ebenda, S. 586.

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Schlüsselszene – der Erzähler übermittelt dem Eremiten sein Erntelied,116 das dieser durch die Tat in die Wirklichkeit überführt, indem er nach dem Gedenken an die Worte des Herrn „das große Kelchglas mit Wein [füllte] und […] gen Himmel [hob]: da trat der Mond hinter dem Gebürge hervor und schien in vollem Glanze aus dem Glase hervorzuschweben, wir waren Alle Erschüttert“.117 Aber dies bleibt eine Momentaufnahme. Der Ich-Erzähler wird sogar zum Sohn des Eremiten, weil er seine Stieftochter heiratet. Aber er wird desillusioniert. Der forsche Alte verliert für ihn den „Glanz von Heiligkeit“118, als er ihm seinen verworrenen Lebenslauf erzählt, der in der Flucht in die „Einöde“ mündet mit der Erfahrung des Andern, die auch der Einsiedler Anno in seiner „andren Freude“ erlebte: „ein andrer Mut […], eine andre Klugheit, ein andrer Verstand und andre Liebe“.119 Insgesamt ein religiöses Plädoyer für eine geistliche „Wiedergeburt“, die der Ich-Erzähler aber als gewaltsame Flucht anzusehen erwägt. Die abgebrannte Eremitage wird notdürftig instandgesetzt und Obdach für einen geistesgestörten Mörder, der einen merkwürdigen Feuerkult anstatt christlicher Meditation praktiziert. Der alte Einsiedler Andreas wandert aus nach Italien, wo er Wasserquellen aufspürt für die „darbenden“ Landleute. So heißt es jedenfalls in einem Brief, den er an den IchErzähler schreibt. Die erzählte Wirklichkeit wird darin allegorisch ausgedeutet: Die Wassersuche bedeute im übertragenen Sinn die Suche nach „frommen Seelen“, denen er als Mentor „die geheimen Quellen des Lebens“ eröffne.120 Die Versöhnung lässt den Einsiedler ortlos, der Brief aus Italien deutet auf eine ferne Utopie. Es wäre verführerisch, diese gescheiterte Kooperation des erzählenden Herausgebers der „Einsiedlerzeitung“ mit seiner Eremitenfigur als Fazit von Arnims Einsiedelbegeisterung der Jahre bis 1811 zu werten. Dem widerspricht nicht, dass er sich 1817 in den Kronenwächtern des frommen Einsiedlers Anno angenommen hat – die abgebildete Zeit des Romans ordnet das Phänomen in ein fernes Geschichtsbild ein. Nach 1811 werden die Eremiten knapp bei Arnim. Die sehnsüchtig gesuchte „Gegend hoher Freudigkeit“121 war schwer zu vermitteln mit den Bedrängnissen der Gegenwart.

|| 116 Vgl. oben zu Anm. 67. 117 Arnim: Die Versöhnung in der Sommerfrische – Werke in sechs Bänden, Bd. 3, S. 578. 118 Ebenda, S. 591. 119 Ebenda. 120 Ebenda, S. 608f. 121 Ebenda, S. 576.

Norman Kasper

Ludwig Tiecks Eremiten Muster kunsthistoriografischer Signifikanz zwischen epistemischem Charakter und komischer Sozialfigur

1 Zur kunsthistoriografischen Signifikanz Tiecks bildkünstlerischer Rede Als 1798 der wohl berühmteste Eremit der (deutschen) Romantik in Ludwig Tiecks Franz Sternbalds Wanderungen die literarische Bühne betritt, ist dieser Charakter alles andere als neu oder einzigartig. Eremiten und Pilger, Geistliche und Gläubige spielen bereits im spätaufklärerischen Schauer- und Abenteuerroman eine wichtige Staffage-Rolle; eine Rolle, die noch die letzte ‚gotische‘ Ruine und die hinterletzte Ritterburg mit jenem für unabdingbar gehaltenen zeitcharakteristischen Kolorit versieht, vor dessen Folie die um Spannung bemühte Haupthandlung an Kontur gewinnen soll. In Tiecks Geschichte von den Heymonskindern (1796) schließlich wechselt der Eremit das Fach: Sein Platz ist nun nicht mehr innerhalb jenes Rahmens zu suchen, den die Frage nach dem explained supernatural formuliert; vielmehr steht er für Büßerkult und Glaubensgewissheit ein, die das übernatürliche Wunder der Menschwerdung Gottes ganz in lebenspraktischjenseitigen Orientierungssinn münzen. Am Ende der altfränkischen Bilder, so die szenische Charakterisierung der Geschichte, begibt sich einer der Söhne des Grafens Heymon, der schöne und starke Reinold, „in einen abgelegenen wilden Wald“: „Da traf er einen Einsiedler, von dem lernte er das eremitische Leben und brachte so seine Zeit mit frommen Gebeten und stillen Betrachtungen zu.“1 Dass die Hinwendung zum naiven Ton des Volksbuches auch eine Übernahme von älteren, bald ganz selbstverständlich als ‚mittelalterlich‘ apostrophierten Frömmigkeitsvorstellungen beinhaltet, nimmt Tieck eher in Kauf, als dass es ihm maßgeblich um deren apologetischen Entwurf gehen würde. Freilich, in den gemeinsam mit Wilhelm Heinrich Wackenroder (1773–1798) verfassten Herzensergießungen (1796) spielt der einsiedlerische Klosterbruder den Vermittler zwischen religiöser Glaubenspraxis und künstlerischer Anschauung, der Kunst und Religion in jene bedenkliche Nähe bringt, die ab dem frühen neunzehnten

|| 1 Tieck: Die Geschichte von den Heymonskindern – Schriften, Bd. 13, S. 66. https://doi.org/10.1515/9783110634709-005

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Jahrhundert zum Alleinstellungsmerkmal des ‚Romantischen‘ avanciert. Dennoch ist der Einsiedler nicht nur positive Bekenntnisfigur, die Glaubens- und Kunstgewissheit aneinanderbindet. In Franz Sternbalds Wanderungen etwa stellt der Eremit mehr einen epistemischen Charakter dar: Der von ihm projektierte ‚allegorische‘ Erkenntnishorizont bildet die Grundlage für die von Sternbald im Laufe des Romans entwickelten Bildentwürfe. In welchem Maße Tieck später jene epistemische Diskurskonstellation des Romans für ein frühromantisches Missverständnis hält, das dringend einer Korrektur bedarf, wird an der Neukonzeption der Einsiedler-Figur deutlich: In Der Jahrmarkt (1832) beispielsweise präsentiert er den Eremiten nun nicht mehr als epistemischen Charakter, sondern als komische Sozialfigur, und die Verhandlung seiner Rolle und des ihm zugewiesenen landschaftlichen Umfeldes tragen alle Züge eines dekonstruktiven Dementis vormaliger kunstreligiöser Synthesen. Es ist innerhalb der literaturwissenschaftlichen Tieck-Forschung ein alter Brauch, das Spätwerk – frühestens ab dem Phantasus (1812–16), sicher aber dann beginnend mit den Dresdner Novellen (ab 1822) – als historisierenden, relativierenden Kommentar des Frühwerks und dessen ungeliebter Rezeptionsgeschichte zu lesen.2 Das ist sicher nicht falsch, denn die Belege für das poetologische Programm einer ‚erinnerten Romantik‘ sind durchaus belastbar. Was hingegen weniger überzeugt, ist die in diesem Rahmen modellierte Diskurskartographie. Es sind besonders zwei Diskussionspunkte, von denen meine folgenden Beobachtungen ihren Ausgangspunkt nehmen. Zum einen liegt der Selbsthistorisierungsthese die Prämisse zugrunde, es gebe eine Art rein programmatisches Frühwerk, das als romantische Kunsttheorie sich von den im engeren Sinne kunstgeschichtlichen Einlassungen Tiecks der 1820er und 1830er Jahre trennen lässt. Einher mit der Selbsthistorisierungsthese geht zum anderen die Annahme, Tiecks Blick auf die Frühromantik stehe unter den Auspizien einer spezifischen autorschaftlichen Souveränität. Es ist wesentlicher Bestandteil dieser Deutung, Tieck unmittelbar im kritischen Gespräch mit dem eigenen Frühwerk, resp. der frühromantischen Programmatik und deren rezeptionsgeschichtlichen Verwerfungen zu sehen. Wichtige Ergebnisse der im Folgenden etwas genauer zu konturierenden neueren kunstwissenschaftlich orientierten Beschäftigung mit Tieck verweisen auf die Revisionsbedürftigkeit beider Deutungsmuster, denen sich auch ein primär literaturwissenschaftliches Interesse nicht verschließen sollte.

|| 2 Vgl. Gneuss: Der späte Tieck als Zeitkritiker, S. 16–57; Pöschel: „Im Mittelpunkt der wunderbarsten Ereignisse“, S. 18; Meißner: Erinnerte Romantik. Ludwig Tiecks Phantasus, bes. S. 219– 292; Brüggemann: Entzauberte Frühe?; Buschmeier: Wie beendet man eine Epoche?

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Der erste Kritikpunkt bezieht sich auf den programmatischen Charakter der frühromantischen Kunstschriftstellerei. Sieht man etwa in Franz Sternbalds Wanderungen – wie dies Jutta Voorhoeve mit Gewinn getan hat – nicht eine vorwissenschaftliche Phase kunstgeschichtlicher Betrachtung, sondern eine narrative Darstellungsform, aus der die historiografischen Muster der Kunstgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts entstehen, dann wird klar, dass der Roman als „intensives Vermittlungsmedium eines kunsthistorischen Bewußtseins und Wissens“3 gelten kann. Eine Auffassung, die die Geschichte der Kunstgeschichtsschreibung vornehmlich als Disziplingeschichte strukturieren will, „verliert die Übersicht über die strukturelle Überlagerung verschiedener Wissensformen, die als Überlagerung gerade zu dem führt, was rückblickend als der Anfang des wissenschaftlichen Fachs beschrieben wird.“4 Liest man also den Sternbald als Teil jenes Stimmengewirrs, das die spätere historiografiegeschichtliche Stringenz in der Kategorisierung als ‚vorwissenschaftlichen‘, programmatischen Bestandteil der Frühromantik ausgeschlossen hat, so stellt sich die Frage, was sich ändert, wenn man den Roman als historiografischen Teil des kunstgeschichtlichen Diskurses liest. Historiografische Signifikanz, soviel steht fest, lässt sich jedenfalls nicht nur Tiecks Frühwerk attestieren; als Teil kunstgeschichtlicher Rede können auch jene Einlassungen des Dichters aufgefasst werden, die sich in einigen Dresdner Novellen finden lassen. Damit wären wir bei dem zweiten Kritikpunkt. Eine Sicht, die die Selbsthistorisierung Tiecks als autonome autorschaftliche Denkbewegung charakterisiert, verkennt, dass die Auseinandersetzung mit dem Frühwerk Teil einer kunstgeschichtlichen Diskursformation ist – deren Argumenten sich der Autor bedient, an der er Teil hat, wie auch immer –; schwerlich lässt er sich jedoch als ‚hermeneutisches Zentrum‘ klassifizieren. Auch hier also, so die im Weiteren zu verfolgende These, ist Tiecks Auseinandersetzung mit der romantischen Kunst Teil der kunstgeschichtlichen Rede seiner Zeit.5 Die Fokussierung von Tiecks bildkünstlerischen Betrachtungen im Fokus ihrer historiografischen Relevanz verfolgt das Ziel, sowohl im Sternbald diskutierte Positionen als auch spätere Einlassungen des Autors zur Bewertung romantischer Malerei als diskursive Muster, Bewertungsmaßstäbe, Deutungsprofile und Argumentationsfiguren kunstgeschichtlicher Rede zu identifizieren. || 3 Voorhoeve: Romantisierte Kunstwissenschaft. Franz Sternbalds Wanderungen von Ludwig Tieck und die Emergenz moderner Bildlichkeit, S. 10. 4 Ebenda, S. 35. 5 Vgl. zu einer Kontextualisierung der bildkünstlerischen Einlassungen Tiecks im Frage- und Antworthorizont der zeitgenössischen Kunsthistoriografie Scholl: Romantische Malerei als neue Sinnbildkunst. Studien zur Bedeutungsgebung bei Philipp Otto Runge, Caspar David Friedrich und den Nazarenern, S. 35–37, S. 60f., S. 227–231, S. 340.

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2 Epistemischer Charakter in allegorischer Landschaft Der bekannteste Satz des Sternbald ist gleichzeitig einer der kürzesten des Romans: „Alle Kunst ist allegorisch“6, lässt der malende Eremit den wissbegierigen Titelhelden wissen – und löst damit eine der kontroversesten Diskussionen am Schnittpunkt von Begriffsgeschichte, Darstellungs-, genauer gesagt Bildtheorie und Semiotik, ja generell ästhetischer Theoriebildung aus, die die neuere Romantikforschung kennt. Denn was ‚Allegorie‘ hier meint, kann in unterschiedlichen Perspektiven ausbuchstabiert werden.7 Lässt man sich zunächst einmal darauf ein, ‚Allegorie‘ nicht reflexhaft mit dem – in dieser Gegenüberstellung dann positiver bewerteten – ‚Symbol‘ zu kontrastieren, sondern generell als zeichenhaft konzipierten Vermittlungsprozess zu verstehen, so stellt sich die Frage, wie und worauf allegorisch verwiesen wird. Früh hat die Forschung erkannt, dass das von Sternbald imaginierte allegorische Prinzip zwar in der Tradition der aufklärerischen Allegorie steht, bei der es um die anschauliche Vermittlung eines abstrakten, rational zu erschließenden und damit auch begrifflich fixierbaren Kerns geht, dass dieser Bezug jedoch für das neue, irrationale Verständnis des Allegorischen nicht maßgeblich ist. Als Ergänzung bot sich hier die Möglichkeit an, ‚Allegorie‘ im Problemhorizont von Walter Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels (1928) zu diskutieren, und damit die für die ästhetische Moderne so charakteristischen Spannungen im Passungsverhältnis von Repräsentation und Wirklichkeit, sinnlicher Erkenntnis und sinnlicher Erscheinung, Zeichen und Bezeichnetem, Rhetorik und Ontologie in den Blick zu rücken.8 Voraussetzung für eine solche Lesart ist die konsequente Verortung des Sternbald im Fluchtpunkt der sich um 1800 etablierenden Autonomieästhetik. Von hier aus betrachtet erscheint die besondere Behandlung des Allegorischen im Roman als Teil eines allgemeinen „Diskurs[es] des Symbolischen“: Im Raum des Autonomiediskurses wird das Symbol als tendenziell intransitives Zeichen betrachtet: Symbolische Darstellung beharrt stärker auf dem Eigenwert des Dargestellten und betont dessen sinnliche Konkretion sowie figürliche Präsenz. Der semiotische Verweis des

|| 6 Tieck: Franz Sternbalds Wanderungen. Studienausgabe, S. 257; im Folgenden mit der Seitenzahl in Klammern direkt im Text zitiert. 7 Ich habe an anderer Stelle einige dieser Perspektiven ausführlicher diskutiert. Vgl. Kasper: Welche Farbe hat die Allegorie? 8 Vgl. Kablitz: Zwischen Rhetorik und Ontologie. Struktur und Geschichte der Allegorie im Spiegel der jüngeren Literaturwissenschaft.

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Bedeutenden auf ein Bedeutetes ist hier nicht als restloser Fortgang von einem zum anderen gedacht: und zwar weder im Sinn der Marginalisierung willkürlicher Zeichen in der Ausrichtung auf ihr funktionales Verschwinden im Transport von Bedeutung und Referenz noch im Sinn präsenzästhetischer Auslöschung des Zeichenkörpers in der imaginären Illusion lebendiger Anwesenheit der Gegenstände (Lessing, Schiller).9

Der „Eigenwert des Dargestellten“ lässt sich allerdings nur dann konsequent einem eigentlich Bedeuteten gegenüberstellen, wenn man Sternbalds Anverwandlung des allegorischen Prinzips des Eremiten stark macht. Denn erst in dessen eigentümlicher Konkretisierung konstituiert sich jenes Bedeutungsproblem, dass die Theoretisierung der ästhetischen Moderne im „Diskurs des Symbolischen um 1800“ in den Mittelpunkt stellen möchte. Die künstlerische Arbeit des Maler-Eremiten selbst lässt sich hingegen nicht in diesen Diskursrahmen spannen. „Der Einsiedler malt, trotz anderslautender theoretischer Betrachtungen, konventionelle Allegorien“, resümiert Voorhoeve; einem „Rückfall in das Repräsentationsschema eindeutiger und logisch aufschlüsselbarer Bildzeichen entspricht auf der Ebene der Bildlogik ein Festhalten an Mustern der christlichen Ikonografie.“10 Tatsächlich ist der Eremit nicht allzu sehr am „Eigenwert des Dargestellten“11 interessiert; selbst die Emanzipation der Landschaftsgattung stellt er in Frage, indem er – nach eigener Auskunft – „‚die Landschaft wieder in eine schöne Historie‘“ (S. 256) verwandeln will. Sternbald zeigt er folgendes Bild: „Es war eine Nachtszene […]. Ein Pilgram ging durch die Nacht, an seinem Stabe, an seinen Muscheln am Hute erkennbar […]; ein finsterer Hohlweg deutete sich an, oben auf einem Hügel von fern her glänzte ein Kruzifix, um das sich die Wolken teilten; ein Strahlenregen vom Monde ergoß sich und spielte um das heilige Zeichen.“ (S. 257) Christian Scholl hat das hier vorgestellte Bild des Eremiten in seinem sinnbildlichen Charakter gewürdigt12 – nicht als Vorbereitung eines bildästhetischen Modernisierungsprogramms, als dessen eigentlicher Initiator dann

|| 9 Urbich: Friedrich Schlegels frühromantischer Symbolbegriff, S. 83, S. 85. Teil eines dergestalt modernistischen Zeichen-Diskurses ist die romantische Allegorie – Urbichs frühromantisches Symbol – auch bei Boris Roman Gibhardt: „[D]ie Allegorie stellt dadurch eine Distanz zu sich selbst her, dass sie die eigene Faktur zeigt“; „Repräsentation und Bedeutung fallen nicht in eins“. Der Gegenpol wird bei Gibhardt durch das klassizistische Symbol markiert. Während diesem ein „vollständiges symbolisches Aussprechen gelinge“, zeichne sich die Allegorie dadurch aus, „dass sie in ihrer Darstellung implizit oder explizit die Frage der Darstellbarkeit selbst behandelt“. Vgl. Gibhardt: Nachtseite des Sinnbilds. Die romantische Allegorie, bes. S. 23–29, Zitate: S. 27. 10 Voorhoeve: Romantisierte Kunstwissenschaft, S. 160. 11 Urbich: Friedrich Schlegels frühromantischer Symbolbegriff, S. 85. 12 Vgl. Scholl: Romantische Malerei als neue Sinnbildkunst, S. 227f.

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Sternbald präsentiert wird,13 sondern als Regelfall romantischer Allegorese. Der hier betonte ‚regelhafte‘ Charakter des allegorischen Prinzips ist von den Spannungen, die der Allegorie bei Benjamin zukommt, denkbar weit entfernt; genausoweit entfernt ist er jedoch auch von der ‚vernünftigen Allegorie‘, die durch das willkürlich-arbiträre Zeichen markiert ist. Scholl spricht von einer „‚neuen Sinnbildkunst‘“, um „die Eigenarten des romantischen Kunstkonzeptes in seiner Entgegensetzung zur Autonomieästhetik herauszuarbeiten“14. Die Wurzeln dieser Sinnbildkunst verortet er in der Frühen Neuzeit.15 Im Rezeptionshorizont des frühen neunzehnten Jahrhunderts ist es entscheidend, die spezifische Codierung von ‚Bedeutung‘ und ‚Verstehen‘ zu beachten, und damit die romantische Kunst nicht „von ihrem hermeneutischen Ansatz“ loslösen zu wollen: „Die Verständlichkeit der romantischen Zeichensetzung ist unabhängig von dem Eingeständnis des nur in einer Annäherung erreichbaren Verstehens zu behandeln.“16 Man übersieht schnell die Neuartigkeit des Versuchs des Eremiten, die Landschaft „‚wieder in eine schöne Historie‘“ (S. 257) zu verwandeln,17 wenn man ihn vor der Folie einer Revolutionierung der Rezeption romantischer Malerei im Zeichen ihrer form- und farbästhetischen Entgrenzung betrachtet, wie sie sich um 1900 – vermittelt vor allem durch die Ausstellung deutscher Kunst aus der Zeit von 1775– 1875 (Jahrhundertausstellung deutscher Kunst) in der Königlichen Nationalgalerie Berlin (1906) – etabliert. Doch worin besteht das Neue jenseits forcierter Autonomieästhetik? Tiecks Eremit liefert hier zum einen das Muster einer Kunstbeschreibung, in der neue Bilder denkbar werden – allen voran das immer wieder bemühte Kreuz im Gebirge (‚Tetschener Altar‘) von Caspar David Friedrich (1774– 1840)18 –, er fundiert aber auch, und darauf kommt es hier an, jenen Auslegungshorizont, der für das kunstgeschichtliche Verständnis der neuen Kunst maßgeblich werden wird; und dies zwar sowohl da, wo man die neue Kunst begrüßt, aber

|| 13 Vgl. zu einer solchen Deutung Voorhoeve: Romantisierte Kunstwissenschaft, S. 155–176. 14 Scholl: Romantische Malerei als neue Sinnbildkunst, S. 335. Bereits konsequent gegen eine autonomieästhetische Deutung des Allegorischen im Sternbald argumentiert Stiening: Die Metaphysik des Hieroglyphischen. 15 Vgl. Scholl: Romantische Malerei als neue Sinnbildkunst, S. 270–333. 16 Ebenda, S. 341. 17 Scholl weist darauf hin, dass es gerade die Landschaftsmalerei war, in der die Einführung potentiell identifizierbarer Zeichen einen besonderen Neuigkeitswert darstellte. So „verwendeten die Künstler im Zusammenhang mit ihrem Vorhaben, die Welt zu ‚romantisieren‘ und ihre Bedeutsamkeit zu ‚rekonstruieren‘, gerade wieder verstärkt konventionelle Zeichen und führten sie sogar in Bereiche wie Landschaftsmalerei ein, in denen sie zuvor nicht in dieser Prominenz zu finden waren.“ Ebenda. 18 Vgl. Voorhoeve, Romantisierte Kunstwissenschaft, S. 171–177.

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auch in den Zusammenhängen, vor allen Dingen dann ab dem zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts, in denen sich die Kritik der Romantik zu etablieren beginnt.19 „Seht“, rief der Alte [der Eremit, N.K.], „hier habe ich das zeitliche Leben und die überirdische, himmlische Hoffnung malen wollen: seht den Fingerzeig, der uns aus dem finstern Tal herauf zur mondigen Anhöhe ruft. Sind wir etwas weiter als wandernde, verirrte Pilgrime? Kann etwas unsern Weg erhellen als das Licht von oben? Vom Kreuze her dringt mit lieblicher Gewalt der Strahl in die Welt hinein, der uns belebt, der unsere Kräfte aufrecht erhält. Seht, hier habe ich gesucht, die Natur wieder zu verwandeln und das auf meine menschliche künstlerische Weise zu sagen, was die Natur selber zu uns redet […].“ (S. 257)

Die Natur als Offenbarung Gottes zu betrachten, ist nur dann möglich, wenn die Sprache der Natur der „menschliche[n] künstlerische[n] Weise“ zugänglich ist. Schnittpunkt von irdischer Subjektivität und göttlicher Präsenz ist das ‚Gemüt‘.20 Sternbald kommentiert denn auch das allegorische Prinzip des Eremiten mit der Einsicht, dass er nicht „diese Pflanzen, nicht die Berge […] abschreiben“ will, „sondern mein Gemüt“ (S. 258). Die ‚Gemüthaftigkeit‘ des romantischen Künstlers, verstanden als religiöse und ethische Eignung oder Anmaßung (und nicht als psychologisch konturierte ‚Stimmung‘), avanciert bald zum Topos einer kunstgeschichtlichen Charakterisierung der produktionsästhetischen Voraussetzungen romantischer Malerei.21 In diesem Sinne kann Tieck dann auch in seiner ersten Dresdner Novelle Die Gemälde (1823) das historiografische Muster variieren, die „neue Schule“22, also die von Goethe und Heinrich Meyer (1760–1832) sog. Neudeutsche religios-patriotische Kunst (1817) sei vornehmlich an einer

|| 19 Vgl. Bohrer: Die Kritik der Romantik. 20 Vgl. zur „Funktion der romantischen Subjektivität“ und der damit einhergehenden „‚Gemütspflege‘“ nochmals Scholl: Romantische Malerei als neue Sinnbildkunst, S. 74–84. 21 In der die weitere Diskussion maßgeblich prägenden Abhandlung Neudeutsche religios-patriotische Kunst der Weimarischen Kunstfreunde kommt Wackenroders und Tiecks Herzensergießungen die Rolle zu, das ‚Gemüt‘ des Künstlers in den Mittelpunkt gesetzt zu haben. Kunst, so Goethes und Meyers Zusammenfassung der produktionsästhetischen Voraussetzungen wie sie die Herzensergießungen entwerfen, „lerne sich nicht und werde nicht gelehrt, er [der Verf. der Herzensergießungen, N.K.] hält die Wirkung derselben auf die Religion, der Religion auf sie für völlig entschieden und verlangt daher vom Künstler andächtige Begeisterung und religiöse Gefühle, als wären sie unerläßliche Bedingungen des Kunstvermögens.“ Goethe/Meyer [Weimarische Kunstfreunde]: Neudeutsche religios-patriotische Kunst – Goethe: Berliner Ausgabe, Bd. 20, S. 66. Vgl. zur Rezeptions- und Diskussionsgeschichte von Neudeutsche religios-patriotische Kunst bis 1849 Scholl: Revisionen der Romantik. Zur Rezeption der ‚neudeutschen Malerei‘ 1817– 1906, S. 19–79. 22 Tieck: Die Gemälde – Schriften, Bd. 17, S. 28.

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Konstitution neuer künstlerischer Muster im Rekurs auf das ‚Gemüt‘ interessiert. Den jungen Maler Dietrich präsentiert er als Parteigänger und Kommentator dieser „neue[n] Schule“: „‚Was haben diejenigen‘“, legt Tieck ihm in den Mund, „‚die diese neue Lehre zuerst wieder aufbrachten, denn anders gewollt, als das Gemüth wieder erwecken, welches seit langer Zeit bei allen Kunstproductionen als ganz überflüssig angesehen worden war?‘“23 Stimmt die Einstellung des Künstlers, so ist es auch kein großes Problem, wenn die Ausführung mangelhaft ist. Bereits die Sturm-und-Drang-Ästhetik reservierte für dieses Phänomen einen eigenen Begriff, nämlich den der „charakteristischen Kunst“; diese kommt aus „inniger, einiger, eigner, selbständiger Empfindung“24, ist zwar noch nicht primär religiös konnotiert (sondern mehr ‚vaterländisch‘), zeichnet jedoch bereits ein Innerliches vor, das dann im Ehrengedächtniß-Text Wackenroders gegenüber der Meinung, „die Führung des Pinsels“ Albrecht Dürers sei „noch sehr mangelhaft“25, in Stellung gebracht wird. Von da aus ist es nur ein kurzer Weg, den künstlerischen Mangel nicht nur zu tolerieren, sondern ihn gleichsam zur Voraussetzung einer gemüthaften Eignung zu machen. Auch diese Strategie findet sich sowohl in der Selbstbeschreibung romantischer Künstler als auch in deren kunstgeschichtlicher Bestandsaufnahme. Tieck selbst ist dieses historiografische Muster keineswegs fremd. Er baut es in seine Beschreibung der Figur des Pater Baco aus Robert Greenes (1558–1592) Die wunderbare Sage vom Pater Baco ein, ein Stück, das er im ersten Band von Shakespeare’s Vorschule (1823) präsentiert, einer Sammlung altenglischer Dramatik. Allerdings trägt es bei Tieck bereits die Prägung einer kritisch-distanzierenden Bestandsaufnahme: Dieser alte Lear [d.h. Pater Baco, N.K.] gleicht jenen alten gemüthlichen Gemälden, in denen der Künstler der Zeichnung und des Gegenstandes noch nicht mächtig ist, die aber durch ihre Treuherzigkeit und Liebe rühren, und die gewiß der wahre Freund der Kunst so wenig mit Verachtung von sich weiset, daß er sich vielmehr hüten muß, nicht die mechanische

|| 23 Ebenda. Stamm bezeichnet Dietrich als „schwärmerische[n], deutschtümelnde[n] Nazarener“. Stamm: Ludwig Tiecks späte Novellen. Grundlagen und Technik des Wunderbaren, S. 52. 24 Goethe: Von deutscher Baukunst – Berliner Ausgabe, Bd. 19, S. 36. 25 Wackenroder: Ehrengedächtniß unsers ehrwürdigen Ahnherrn Albrecht Dürers von einem kunstliebenden Klosterbruder – Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 1, S. 47. Das Gegenteil von Goethes „charakteristische[r] Kunst“ sind dann bei Wackenroder „charakterlose Werke“. Ebenda, S. 48. Vgl. zum Verhältnis von Theorie und Praxis des ‚Charakteristischen‘ Büttner: Das Charakteristische, das Eigentümliche und das Volkstümliche.

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Ungeschicklichkeit selbst für liebenswürdige Alterthümlichkeit und Ausdruck des Gemüthes, wenigstens auf eine Zeitlang zu halten.26

Tieck erteilt hier in seiner Anverwandlung kunstgeschichtlicher Rede einer ausdrucksästhetischen, gesinnungsethischen Deutung vorgeblich künstlerischer Mängel eine Absage. In Die Gemälde muss sich der Maler Dietrich, Vertreter der ‚neuen Schule‘, vorhalten lassen, zu jenen zu gehören, die „Nacht und düstere Gefühle“ suchen: „‚Oder gehören Sie auch etwa zu denen, die sich vor dergleichen Bildern mit erzwungener Gläubigkeit entzücken, und verlangen, das in uns eine Art von Andacht sich entzünden soll, um den Gegenstand zu verstehen und christlich zu würdigen?‘“27 Man hat in diesen Äußerungen des „Unbekannten“ eine an Goethes Romantikkritik angelehnte Positionierung Tiecks gesehen, der die Rolle einer kritischen Auseinandersetzung mit dem eigenen frühromantischen Werk zukommen soll.28 Diese Deutung ist sicherlich nicht grundsätzlich falsch. Sie verengt jedoch den tatsächlichen Gesprächskontext, dem sie die identifizierende Ineinssetzung von Novellenfigur und Autor entnimmt. Denn der angeblich kritisierten nazarenischen Position Dietrichs und der angeblich affirmierten Goetheschen Position des „Unbekannten“ folgt ein dritter, vermittelnder Diskussionsbeitrag. Es ist der „Bildhändler Erich“, der, anstatt Partei zu ergreifen, die Bedeutung der Auseinandersetzung für die Verhandlung des zeitgenössischen Kunstbegriffs würdigt und damit auch hinsichtlich einer kunstgeschichtlichen Einordnung anschlussfähig hält: „[S]obald sich ein heftiger Widerstreit in der Zeit regt,“ kommentiert er den Disput der beiden, „so ist es ein Zeichen, daß etwas Wirkliches in der Mitte liegt, das den Streit wohl verdient, und welches der Mittlebende nicht ganz ignoriren darf, wenn er nicht unbillig seyn will.“29 Den Beitrag der neu-religiösen Kunst sieht er in einem besseren Verständnis der älteren: Seit lange war die Kunst aus dem Leben getreten, und nur ein Artikel des Luxus geworden; darüber vergaß man, daß sie jemals mit Kirche und Welt, mit Andacht und Begeisterung zusammengehangen hatte, und kalte Kennerschaft, Vorliebe für das Kleine und gemeine Natürlichkeit, so wie ein erkünstelter Enthusiasmus mußten sie erzeugen. Weiß ich doch die Zeit noch, wo man in den Gallerien [sic!] die schönsten Werke eines Leonardo nur als merkwürdige und sonderbare Alterthümer vorwies, selbst Rafael [sic!] wurde nur mit einschränkender Kritik bewundert, und über noch ältere Meister zuckte man die Achseln, und

|| 26 Tieck: Das altenglische Theater (1811. 1823. 1828) – Kritische Schriften, Bd. 1, S. 239f., Hervorhebung N.K. 27 Tieck: Die Gemälde – Schriften, Bd. 17, S. 27. 28 Vgl. Buschmeier: Wie beendet man eine Epoche?, S. 186f. 29 Tieck: Die Gemälde – Schriften, Bd. 17, S. 29.

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betrachtete die Malereien der früheren Deutschen oder Niederländer niemals ohne Lachen. Diese Barbarei der Unwissenheit ist doch jetzt vorbei.30

Bereits Goethe und Meyer musterten in Neudeutsche religios-patriotische Kunst den sich aus dem zeitgenössisch-religiösen Kunstenthusiasmus ergebenden Umgang mit der älteren Kunst, d.h. mit den „Meistern und Werken aus der Zeit vor Raffael“ sowie der „alte[n] deutsche[n] Kunst“31. Zwar stehen sie der religiösen Begeisterung im Allgemeinen skeptisch gegenüber; die damit einhergehende Aufmerksamkeit für die „altniederrheinische Malerschule und die in Köln befindlichen Werke derselben“32 im Besonderen wird jedoch positiv vermerkt. Tiecks „Bildhändler“ spielt mit dieser historiografischen Position, indem er sie als mögliches Ergebnis der Auseinandersetzung zwischen bildreligiösen Neuerern und ihnen gegenübergestellten Skeptikern präsentiert. Mit der von Goethe und Meyer aufgerufenen Kölner Kunst ist freilich die Sammlung Boisserée gemeint;33 und Sulpiz Boisserée (1783–1854) ist es, der in einer späten Lebensbeschreibung (1853), in der er seinen (Bildungs-)Weg zum Sammler religiöser Kunst skizziert (1784–1808),34 die von Goethe und Meyer diskutierten literarisch-kunstschriftstellerischen Wurzeln der ‚neudeutsch religios-patriotischen Kunst‘ um 1800 für sich in Anspruch nimmt. Mit dieser Inanspruchnahme ist auch eine Umcodierung des Erzählmusters verbunden: Betonen Goethe und Meyer die Schädlichkeit der frühromantischen Kunstschriftstellerei, die sie vor allem aus der kunstgeschichtlichen Inkompetenz ihrer Federführer Wackenroder, Tieck und Friedrich Schlegel herleiten, so stellt sich Boisserée selbstbewusst in deren – nun positiv bewertete (!) – Tradition. Der Grundtenor seines autobiografischen Versuches ist eindeutig: Ohne die intellektuell-ästhetische Sozialisation durch die Herzensergießungen, die Phantasien über die Kunst (1799), Tiecks Sternbald-Roman und Friedrich Schlegels Europa-Aufsätze (1803–1805) wäre er nie zu einem der bedeutendsten Sammler alteuropäischer Malerei mit religiösen Themen geworden.35 || 30 Ebenda. 31 Goethe/Meyer [Weimarische Kunstfreunde]: Neudeutsche religios-patriotische Kunst – Goethe: Berliner Ausgabe, Bd. 20, S. 70. 32 Ebenda. 33 Neben Neudeutsche religios-patriotische Kunst ist es vor allem die gleichfalls 1816 veröffentlichte Anzeige der neuen Zeitschrift Über Kunst und Altertum in den Rhein- und Main-Gegenden, die eine Bestimmung des Verhältnisses der Weimarischen Kunstfreunde zur Malerei des 14. bis 16. Jahrhunderts erlaubt. Vgl. zum Verhältnis der Weimarischen Kunstfreunde zur „altniederrheinische[n] Malerschule“ Rößler: Goethe und Meyer in der Sammlung Boisserée. 34 Vgl. Boisserée: Lebensbeschreibung – Briefwechsel und Tagebücher, S. 1–45. 35 Vgl. zum Einfluss der frühromantischen Kunstschriftstellerei auf Sulpiz Boisserées intellektuelle Biografie und seine Kunstanschauung Heckmann: Die Sammlung Boisserée, S. 23–72.

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Bereits Tiecks „Bildhändler“ und – zwar mit Abstrichen, der Sache nach jedoch durchaus vergleichbar – Goethe und Meyer machen den eigentlichen Wert der kunstrevolutionären Umtriebe um und nach 1800 in den dadurch ermöglichten Rückbezügen auf die Tradition aus. Dass ausgerechnet Boisserée für sich in Anspruch nimmt, im frühromantischen Interessenhorizont agiert zu haben, ist da nicht weiter überraschend: Passt doch der von Goethe und Meyer inaugurierte, von Tieck dann variierte kunstgeschichtliche ,plot‘ zu keinem besser als demjenigen, der die gelobte Traditionspflege in seiner Sammlertätigkeit mustergültig realisiert hat. Nimmt man hinzu, dass Tieck Boisserée briefliche Tipps in Sachen kunstgeschichtlicher Einordnung einzelner Werke in Traditionsbezüge gibt,36 so wird vollends verständlich, welch große Rolle bei Boisserée die – auf kunstrevolutionären Umtrieben der neuen Malerei fußende – Hinwendung zur ‚mittelalterlichen‘ Tradition bei der rückblickende Einschätzung einer Jugend im Zeichen der Lektüre frühromantischer Kunstschriftstellerei spielt. Ein Bekenntnis zur stilistischen Nachahmung alter Kunst oder die Aufforderung zu einer quasi-nazarenischen „‚Nachfolge im Geiste‘“ ist damit jedoch bei Boisserée – auch darin stimmt er mit Goethe, Meyer und Tieck überein – keineswegs verbunden.37

3 Komische Sozialfigur in allegorischer Landschaft Kehren wir zu Tiecks Eremiten zurück. Neben den Typus des malenden und philosophierenden Einsiedlers im Sternbald, der als epistemischer Charakter Aufschlüsse über das allegorische Prinzip verspricht, gesellt sich in Der Jahrmarkt (1832) bald dessen „Kontrafaktur“ und „Parodie“. Wir hatten bereits darauf hingewiesen, dass sich dieses Vorgehen als Auseinandersetzung mit dem eigenen

|| 36 In einem Brief aus Ziebingen (1815) etwa bezieht sich Tieck auf die Frage nach der Autorschaft eines bestimmten, gemeinsam gesehenen Gemäldes, die Boisserée an ihn herangetragen hat: „Auch an ihr herrliches Bild, die sterbende Maria, denke ich unaufhörlich: haben sie noch nicht den Autor gefunden? Daß er in Italien gewesen ist, sieht man an jeder Figur und den Gewändern, auch muß er schon ziemliche Zeit nach Dürer gelebt haben. Die fortgehende Schule der Niederländer ist mir zu wenig im Zusammenhang bekannt, um den Lehrer dieses Künstlers zu errathen.“ Tieck an Boisserée (1815) – Letters of Ludwig Tieck, S. 133. 37 Vgl. zu den Spannungen zwischen ‚Nachahmung‘ und ‚Nachfolge‘ bei den Nazarenern und deren Kommentatoren Büttner: Der Streit um die ‚neudeutsche religios-patriotische Kunst‘, S. 68.

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Frühwerk lesen lässt,38 generell als Relativierung frühromantischer Erkenntnisansprüche. Im Mittelpunkt unserer Betrachtung soll jedoch etwas anderes stehen, nämlich die Rede, in der diese Relativierung vorangetrieben wird, und da stößt man wieder auf den kunstgeschichtlichen Diskurs, in den Tiecks Einlassungen verwoben sind. Schaut man sich die Diskussionen um den Eremiten in Der Jahrmarkt nämlich genauer an, so stellt man schnell fest, dass diese aus einzelnen romantikhistoriografischen Elementen zusammengesetzt sind, die keineswegs einer originären Auseinandersetzungsleistung Tiecks entstammen, sondern vielmehr recht allgemein der sich konstituierenden Romantikkritik der 1810er und 1820er Jahre zugeordnet werden können. Dass es sich bei dem Eremiten in Der Jahrmarkt wohl kaum um einen epistemischen Charakter in der Tradition der Sternbald-Figur handelt, wird dem Leser auf den ersten Blick klar. Präsentiert wird dieser nämlich als lebendes Requisit in einem Landschaftsgarten, der einzelne weltgeschichtliche Epochen architektonisch veranschaulichen soll. Die „Pfarrerin“, Frau eines Geistlichen und Teil der innerhalb der Novelle vorgestellten Reisegruppe, identifiziert den Einsiedler zunächst als „Puppe“: „Sie [die Pfarrerin, N.K.] schrie aber laut auf vor Schrecken, als der Eremit sich jetzt zu ihnen kehrte und sie mit demüthiger Andacht begrüßte.“39 Der Eremit segnet nun einige Mitglieder der Reisegruppe – ein Vorgang, dessen Komik sich aus der Lächerlichkeit rituellen Handelns im touristischen Umfeld speist, denn nicht Pilger stehen hier im Mittelpunkt, sondern Parkbesucher. Als dem Einsiedler bald darauf die Tabakspfeife aus dem Gewand fällt und er vom Baron, der die Führung durch den Park übernommen hat, als „Trunkenbold“ ausgeschimpft wird, ist klar, dass es sich hier um keinen ‚echten‘ Eremiten handelt. Dieses Exemplar ist jedoch auf ganz besondere Art ‚falsch‘; der Einsiedler wird nämlich für seine Dienste bezahlt. Er ist eine Art Schauspieler, der bald nach der lächerlichen Segnungszeremonie den Dienst quittiert und die Reisegruppe über die Maskerade aufklärt.40 Als komische Sozialfigur ist er

|| 38 Buschmeier liest die Novellen Die Gemälde und Waldeinsamkeit als „[r]omantische Kontrafakturen“: „Die literaturgeschichtlich signifikanteste Form der Auseinandersetzung mit der Frühromantik bei Tieck stellt […] die Abgrenzung im eigenen novellistischen Werk durch Parodie und Kontrafaktur dar.“ Vgl. Buschmeier: Wie beendet man eine Epoche?, S. 186–192, Zitat: S. 186. 39 Tieck: Der Jahrmarkt – Schriften, Bd. 20, S. 47. 40 Der Eremit bezeichnet seine einsiedlerischen Dienste für den Baron als „Hölle“: „Denn keine größere Qual giebt es wohl auf Erden, als eine unauslöschliche Langeweile. Mein Gehalt war so kümmerlich, daß ich wirklich fast ganz allein von der mir angewiesenen Eremitenkost leben mußte. Ein nichtswürdiges Fasten, welches, da es nur von der abergläubischen päpstlichen

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denkbar weit von seinem epistemisch fokussierten Bruder, dem Sternbald-Einsiedler, entfernt. In der Reisegruppe entbrennt bald eine Diskussion über die fingierte Eremitage, deren künstlich frömmelnden Bewohner, ja überhaupt um den historische Epochen und Religiosität imaginierenden Charakter der „Garten-Anstalt“: „Gottlos“ sei diese im Grunde, gibt ein evangelischer Pfarrer, Ehemann der bereits zitierten „Pfarrerin“, zu bedenken: „Schade was um die sinnreichen Allegorieen, wenn der ächte Glaube dadurch auf falsche Wege geleitet wird.“41 Titus, ein weiteres Mitglied der Reisegruppe, ist allerdings anderer Meinung: Der Garten sei „mehr für den freien sinnigen Denker, für den fühlenden Menschen als für den orthodoxen Christen eingerichtet.“42 Doch das will der Geistliche nicht auf sich sitzen lassen. Er wirft Titus vor, „lau im Glauben“ zu sein, „um dem Phantastischen, der Poesie, Allegorie, Symbolik und Hieroglyphe, oder gar jenem verdächtigern Humor, oder der sogenannten Ironie mit desto wärmerm Herzen anzuhängen.“43 In bunter Zusammenschau präsentiert der Pfarrer das gesamte Arsenal der Romantikkritik des ersten Drittels des 19. Jahrhunderts. Pate gestanden haben dürfte hier wahrscheinlich u.a. Hegel, der die 1828 veröffentlichte Besprechung der von Tieck verantworteten Ausgabe von Karl Wilhelm Ferdinand Solgers (1780–1819) Nachgelassene Schriften und Briefwechsel (1826) zu einer Generalabrechnung mit der ‚romantischen Schule‘ nutzt – und bis in den Wortlaut hinein der gleichen Diktion verpflichtet ist wie der evangelische Pfarrer in Der Jahrmarkt.44 Bereits Goethe und Meyer sprechen mit Blick auf die frühe roman-

|| Kirche vorgeschrieben wird, meinem Gewissen fast ebenso lästig als meinem Magen wurde.“ Ebenda, S. 56. 41 Ebenda, S. 57. 42 Ebenda, S. 58. 43 Ebenda. 44 Mit Blick auf den der Ausgabe beigegebenen brieflichen Austausch zwischen Solger und Tieck meint Hegel: „So hätte es wohl auch für die philosophischen Unterhaltungen der beiden Freunde [Solger und Tieck, N.K.] mehr Gedeihen gebracht, wenn die Ausdrücke von Mystizismus, innerem Leben, Poesie, insbesondere Ironie, ja auch von Religion und Philosophie selbst aus dem Spiele geblieben wären; denn alsdann hätte von der Sache und vom Inhalt gesprochen werden müssen. Diese Art zu urteilen ist eine entschieden negative Richtung gegen Objektivität – eine der Richtungen, welche von der Fichteschen Philosophie der Subjektivität ausgegangen. Solches Urteilen handelt nicht vom Inhalte, sondern dreht sich um verblasene Vorstellungen, welche die Sache der Religionen und Philosophien mit Abstraktionen von innerem Leben, Mystik, mit Reflexionsbestimmungen von Identität, Dualismus, Pantheismus usf. abtun.“ Hegel: Über ‚Solgers nachgelassene Schriften und Briefwechsel‘ (Rezension) –Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe. Bd. 20, S. 160.

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tische Bildkunst von „abstruse[n], trübsinnig[n] Allegorien“45. Auch Tieck gilt das allegorische Prinzip als Dreh- und Angelpunkt der neuen Kunst. In der Novelle Eine Sommerreise (1834) kommt er neben Philipp Otto Runge (1777–1810) auf Caspar David Friedrich zu sprechen,46 und zwar in einem innerhalb der Erzählfiktion gewechselten Brief, der auf „den 19. Juni 1803“47 datiert ist. „Fridrich“ versuche, so die Charakterisierung, in Licht und Schatten belebte und erstorbene Natur, Schnee und Wasser, und eben so in der Staffage Allegorie und Symbolik einzuführen, ja gewissermaßen die Landschaft, die uns immer als ein so unbestimmter Vorwurf, als Traum und Willkür erschien, über Geschichte und Legende durch die bestimmte Deutlichkeit der Begriffe und der Absichtlichkeit in der Phantasie zu erheben.48

Das ist einerseits ganz im Problemhorizont der Zeit um 1800 formuliert; dass nämlich „‚die Landschaft wieder in eine schöne Historie‘“ (S. 256) verwandelt werden soll, war bereits, erinnern wir uns, das allegorische Anliegen des MalerEremit im Sternbald. Andererseits jedoch steht die Bewertung der Landschaften Friedrichs deutlich unter den Auspizien späterer historiografischer Bemühungen, die der romantischen Sinnbildkunst skeptisch gegenüberstehen. So verweist die „bestimmte Deutlichkeit der Begriffe“ auf eine nicht besonders goutierte Eindeutigkeit der Darstellung. Die Rede von „festgestellte[n] Gedanken und Begriffen“49 erinnert zudem nicht nur aus der Ferne (sondern sozusagen bis in den Wortlaut hinein) an jene Kritik an der ‚abstrakten Allegorie‘ um 1800, in deren Zeichen der Aufstieg des ‚anschaulichen Symbols‘ erfolgt. Landschaft ist für

|| 45 Goethe/Meyer [Weimarische Kunstfreunde]: Neudeutsche religios-patriotische Kunst – Goethe: Berliner Ausgabe, Bd. 20, S. 58. 46 Im Gegensatz zur beiderseitig anregenden Bekanntschaft Tiecks mit Runge, die spätestens durch die Herausgabe der Hinterlassenen Schriften des Malers 1840/41 im öffentlichen Bewusstsein präsent ist, gibt es keine belastbaren Zeugnisse für ein Zusammentreffen des Dichters mit Friedrich. Vgl. Paulin: Ludwig Tieck. Eine literarische Biographie, S. 135–138. 47 Tieck: Eine Sommerreise – Tieck: Schriften, Bd. 23, S. 17. 48 Ebenda, S. 17f. Roger Paulins Urteil, Tiecks – in der Sommerreise kurz vor unserem Zitat präsentierte – Aussage, die Bilder der neueren Landschaftsmaler würden sich in „‚Symbol und Allegorie‘“ auflösen, sei ausdrücklich nicht auf Friedrich zu beziehen, ist zurückzuweisen. Sowohl Tiecks expliziter Vorwurf, Friedrichs Bilder zeigten in der „Staffage“ „Allegorie und Symbolik“ als auch die zeitgenössische kunstgeschichtliche Wertungspraxis deuten unmissverständlich auf Friedrich als Adressaten hin. Vgl. Paulin: Tiecks Empfindungen vor Caspar David Friedrichs Landschaft, S. 156f. Vgl. zur Kritik des Allegorischen bei Friedrich und zu dem bei Zeitgenossen beliebteren, da einer allegorischen Darstellungsweise weniger verdächtigten Carl Friedrich Lessing (1808–1880) Scholl: Revisionen der Romantik, S. 219–233. 49 Tieck: Eine Sommerreise – Schriften, Bd. 23, S. 17.

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Tieck um 1830 jedenfalls kein Ort allegorischer Codierung mehr, sondern „ein sinnendes Träumen, ein Wohlbehagen, oder Freude an der nachgeahmten Wirklichkeit, an die sich von selbst ein anmuthiges Sehnen und Phantasiren knüpft“50. Auch wenn es die Rückdatierung dieser Meinung auf die Zeit um 1800 nahelegt, Tieck habe bereits im Umfeld des Sternbald Vorbehalte gegenüber der allegorischen Darstellungskunst gehegt, sind hier doch Zweifel angebracht. Als wahrscheinlicher muss folgende Entwicklung gelten: Erst durch den historiografischen Filter, wie ihn Goethes und Meyers Neudeutsche religios-patriotische Kunst darstellt, bekommt Tiecks Kritik jene Gestalt, die er vorgeblich bereits 1803 für sich reklamiert. Die Weimarischen Kunstfreunde werfen Friedrich – gleich dem Tieck der Sommerreise – ‚Bedeutungsversessenheit‘ vor, und wie bei Tieck auch bekommt das Übel einen wohlbekannten Namen beigelegt, nämlich den der Allegorie. Trachtet Friedrich bei Tieck danach in der „Staffage Allegorie und Symbolik einzuführen“, so sehen Goethe und Meyer Friedrich durch die „Landschaft selbst“, vor allem aber „durch die Staffage mystisch religiöse Begriffe“ anzeigen: „Auf diesem Weg wird […] eben um der Bedeutung willen manches Ungewöhnliche, ja das Unschöne selbst gefordert. Darum hat auch Friedrich von Personen, welche die bezielten Allegorien entweder nicht faßten oder nicht billigten, viel Widerspruch erfahren […].“51 Will man Tiecks 1834 für die Zeit um 1800 in Anspruch genommenen kunstgeschichtlichen Standpunkt in seinem anachronistischen Impetus beschreiben, so könnte man auch von einer historiografischen Fiktion sprechen: Die kunstgeschichtliche Rede imaginiert eine zeitliche, eigentlich: entzeitlichte Ordnung, in der Programmatik und Rezeption der Romantik zusammenfallen. Im Ergebnis wird hier der Anspruch angezeigt, bereits um 1800 jenen Deutungsrahmen entworfen zu haben, der sich tatsächlich erst im Laufe des frühen 19. Jahrhunderts in historiografischer Hinsicht als maßgeblich erwiesen hat. Oder anders gefragt: Ist die Programmatik der Allegorie nicht schon von Anfang an deckungsgleich mit ihrer Rezeptions- und Deutungsgeschichte? Auch wenn man diese Frage verneint – und dafür gibt es gute Gründe –, so wird man doch zugeben müssen, dass mit der insinuierten programmatisch-geschichtlichen Deckungsgleichheit augenscheinlich Tiecks argumentatives Ziel zu Beginn der 1830er Jahre recht genau beschrieben ist.

|| 50 Ebenda. 51 Goethe/Meyer [Weimarische Kunstfreunde]: Neudeutsche religios-patriotische Kunst – Berliner Ausgabe, Bd. 20, S. 71f. Vgl. zur Beziehung von Friedrich und Goethe ausführlich Scholl: Romantische Malerei als neue Sinnbildkunst, S. 251–261.

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4 Abseits der allegorischen Eremitage: Karl Schnaase und die landschaftlichmalerische Richtung Kehren wir abschließend nochmal zum Sternbald zurück. Bisher haben wir jene Landschaftsentwürfe des Romans konsequent ignoriert, denen im Einzugsbereich einer Revolutionierung der Rezeption romantischer Malerei durch die Berliner Jahrhundertausstellung deutscher Kunst (1906) eine besondere Rolle zuzusprechen wäre. Diese Ignoranz hat einen einfachen Grund. Eine Diskussion der programmatisch auf ‚impressionistische‘ Entgegenständlichung zielenden Bildentwürfe des Titelhelden52 muss nämlich weitestgehend auf die kunstgeschichtliche Rezeption des 19. Jahrhunderts verzichten und lässt sich deshalb auch nicht innerhalb der im Rahmen dieses Aufsatzes durch Tiecks Eremiten markierten historiografischen Eckpunkte diskutieren. Eine gewisse Ausnahme bildet da nur der Kunsthistoriker Karl Schnaase (1798–1875). Schnaases Sicht auf Tieck entfernt sich denkbar weit von dem bisher skizzierten Diskurs des Allegorischen und kann durchaus Henry W. Longfellows (1807–1882) Urteil an die Seite gestellt werden, über dem Sternbald liege eine herrliche „Claude Lorraine atmosphere“53. Schnaase verteidigt Tieck gegenüber

|| 52 Am deutlichsten tritt die Tendenz zur Entgegenständlichung in der Eisenhütten-Szene des Romans zu Tage, in der Sternbald den nächtlichen Anblick eines Schmiedefeuers und des glühenden Materials in ein Bildobjekt übersetzt: „‚Nun, mein Freund, was könntet Ihr sagen, wenn Euch ein Künstler auf einem Gemälde diese wunderbare Szene darstellte? Hier ist keine Handlung, kein Ideal, nur Schimmer und verworrene Gestalten, die sich wie fast unkenntliche Schatten bewegen. Aber wenn ihr dies Gemälde sähet, würdet ihr Euch nicht mit mächtiger Empfindung in den Gegenstand hineinsehnen? Würde er die übrige Kunst und Natur nicht auf eine Zeitlang aus Eurem Gedächtnisse hinwegrücken, und was wollt ihr mehr? Diese Stimmung würde dann so wie jetzt Euer ganzes Inneres durchaus ausfüllen, Euch bliebe nichts zu wünschen übrig, und doch wäre es nichts weiter als ein künstliches, fast tändelndes Spiel der Farben.‘“ (S. 340f.) Vgl. zu einer Genealogisierung der Entgegenständlichungstendenzen des Sternbald in der Wahrnehmungstheorie der Aufklärung Kasper: Ahnung als Gegenwart. Die Entdeckung der reinen Sichtbarkeit in Ludwig Tiecks frühen Romanen. 53 Henry W. Longfellow: Eintrag im Tagebuch v. 05.03.1840 – Longfellow (ed.): Life of Henry Wadsworth Longfellow. Bd. 1, S. 360. Auch wenn der Claude-Lorraine-Vergleich für Tieck recht schmeichelhaft wirkt, sollte man doch nicht außer Acht lassen, dass das Gesamturteil über den Roman eher kritisch ausfällt: Franz Sternbalds Wanderungen, so Longfellow, „treats of art and its enthusiasm. Some passages are fine; as a whole, not great. My admiration for Tieck, which was never high, is rather diminished.“ Ebenda. Vgl. zu Tiecks Bekanntschaft mit Arbeiten Claude

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dem Hegel-Schüler Heinrich Gustav Hotho (1802–1873), indem er die Kategorien, die dieser für eine Kritik Tiecks nutzt (Musikalisierung der Sprache, Subjektivierung des Inhalts, Auflösung plastischer Figuren), zur Charakterisierung der neuen Dichtung heranzieht.54 Es ist bezeichnend, dass Schnaase vom „zweideutigen Ausdrucke des Romantischen“55 Abstand sucht, kann doch dieser in den 1830er Jahren leicht mit einer reaktionären Spiritualität, sozusagen mit den Spätfolgen des „klosterbrudrisirende[n], sternbaldisirende[n] Unwesen[s]“56 verwechselt werden. Die „neue Richtung der Poesie“, zu der Tieck gezählt wird, möchte er demgegenüber jedenfalls „die landschaftliche oder malerische nennen“57. Nicht um Inhalt oder Bedeutung geht es hier, sondern um das „eigentlich Malerische, die Farben- und Raumverhältnisse und den durch diese gegebenen Eindruck“. Hotho möchte diese Aspekte als „rein technisch in den Hintergrund schieben“58; Farbe und Form sind jedoch für Schnaase – und da zeigt sich sein kunstwissenschaftlicher Kompass, der auch das historiografische Wertungsschema bestimmt – der eigentliche Inhalt. Damit bereitet er jene autonomieästhetische Rehabilitation der Romantik vor, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine auf das Allegorische fokussierte Rezeptionshaltung ablöst. Auch dem Eremiten kommt innerhalb dieser neuen Betrachtungsregie nur mehr formästhetische Geltung zu. Seine facettenreiche allegorische Widerständigkeit hat er jedenfalls eingebüßt. So hätte es eine Rezeptionsgeschichte der Romantik zu verzeichnen. – In einem Kapitel dieser Geschichte, das sich Ludwig Tiecks Beitrag zur Kunstgeschichtsschreibung widmet, sollte der Eremit als Indikator der Entwicklung allegorischer Ästhetik allerdings, so mein Vorschlag, präsent bleiben: nämlich als epistemischer Charakter und komische Sozialfigur. In seiner Doppelung als Gegenstand des literarischen Textes einerseits und Reflexionsfigur epistemischer Verheißungen und deren Verzeichnung ins Komische andererseits ließe er sich zudem mit der Entwicklung der Gestaltung all jener Einsiedler ins Gespräch bringen, die die Malerei des 19. Jahrhunderts bevölkern. Führt der bildkünstlerische Weg gleichfalls vom epistemischen Charakter zur komischen Sozialfigur?

|| Lorrains (1600–1682), die ihm Mitte der 1790er Jahre – durch Besuch der Kasseler Gemäldegalerie – zugänglich waren Voorhoeve: Romantisierte Kunstwissenschaft, S. 66–79, bes. S. 73f. 54 Vgl. ausführlich zur Auseinandersetzung Schnaases mit Hotho in Sachen Tieck Kasper: Hotho und Schnaase lesen Tieck. 55 Schnaase: Rez. zu Hotho: Vorstudien für Leben und Kunst, S. 37. 56 Vgl. dazu Kemper: Goethe, Wackenroder und das „klosterbrudrisirende, sternbaldisirende Unwesen“. 57 Schnaase: Rez. zu Hotho: Vorstudien für Leben und Kunst, S. 37. 58 Ebenda, S. 39; vorhergehendes Zitat gleichfalls.

Stefan Nienhaus

Eine „sonderbare Wohnung“ Der Ort des Einsiedlers in Brentanos Roman Godwi oder das steinerne Bild der Mutter

1 Eines ist es, theoretische Überlegungen und Umschreibungen der romantischen Ironie vorzulegen, ein anderes ein Romanwerk ganz aus ihrem Geist zu schaffen. Schon Tiecks Sternbald musste sich vorhalten lassen, dass in ihm von einem Maler erzählt werden solle, „aber es wäre alles darinn, außer der Mahler“1: Man konnte oder wollte nicht erkennen, dass sein Autor genau durch diesen Widerspruch zwischen den aufs Unendliche zielenden sprachlichen Bildentwürfen und -phantasien und der unterbleibenden Ausführung (die ja im Roman ohnehin nur wiederum Bildbeschreibungen, also Verdoppelungen der bereits geleisteten Ekphrasis, hätten werden können) den Forderungen nach dem stets im Versuch mitbedachten Scheitern gerecht wurde. Godwi, den wohl bedeutendsten Roman der Frühromantik und die umfassendste narrative Realisierung romantischer Ironie, bedachten nicht nur die neiderfüllten Zeitgenossen wie Friedrich Schlegel mit kurzen abschätzigen Urteilen,2 selbst noch Hartwig Schultz bezeichnet in seinem schönen Brentano-Buch die Lektüre als eher anstrengend und widmet sich nach wenigen Sätzen lieber den in ihm enthaltenen – zugegebenermaßen unvergleichlich beeindruckenden – Gedichten.3

|| 1 So das von Caroline an Friedrich Schlegel kolportierte Urteil Goethes (Brief vom 14./15. Oktober 1798, zit. in Tieck: Franz Sternbalds Wanderungen, S. 506). 2 Vgl. Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 16, S. 606f. 3 Vgl. Schultz: Schwarzer Schmetterling, S. 53–58. Schultz‘ Fazit, dass „das komplexe Romangebilde […] bis heute in der Germanistik in erster Linie als Demonstrationsobjekt für eine dichterische Umsetzung frühromantischer Ideen“ (Schultz: Clemens Brentano, S. 69) diene, musste in seiner negativ intendierten Bedeutung schon zur Zeit seiner Veröffentlichung nicht mehr geteilt werden (vgl. z.B. Janz: Marmorbilder). Doch es gilt gerade umgekehrt: Brentano ist es tatsächlich gelungen, das von den Frühromantikern nur theoretisch Formulierte in seiner Prosa zu realisieren. Vgl. dazu Arnim an Brentano vom 18. November 1802; Arnim: Werke und Briefwechsel (Weimarer Arnim-Ausgabe), Bd. 31, S. 144: „Der Schluss von allem ist [d.h. der im Brief vorstehenden kritischen Bemerkungen, S.N.], daß Novalis im Ofterdingen vergebens nach einem Ziele gestrebt hat, was du im Godwi erreichtest: jenen solltest du eine Gänseleberpastete https://doi.org/10.1515/9783110634709-006

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Das Erzählmodell des fiktiven Autors, der selbst zur Romanfigur wird und der dem von ihm dargestellten Helden begegnet, konnte Brentano bei Jean Paul finden; genauer: in dessen 1795 erschienenem Hesperus, worin der Erzähler als Held in seiner eigenen Geschichte aufgeht. Ich bin mir keineswegs sicher, dass Brentano gerade in diesem Aspekt seines Werkes wirklich – wie Caroline Schlegel insgesamt über den Roman urteilte – „etwas poetischerer“4 als sein Vorbild ist. Indem am Ende von Jean Pauls Roman die die Textkohärenz garantierende Erzählersubjektivität in den Kreis der erzählten Figuren aufgehoben wird, offenbart sich die nicht zusammen zu haltende Disparatheit des Werks, in dem der Verlust auktorialer Sicherheit ja zuvor nur durch jene ersetzt worden war.5 Während Jean Paul dem verwaisten Leser aber vor seiner Aussetzung in die grausame reale Gegenwart als einziges Glück und utopische Rettung das nie endende Schreiben und ewige Lesen versprechen möchte, bricht in Brentanos Roman die Narration irgendwann einfach ab und er lässt das Werk in den witzigen (freilich sicher nicht von allen seinen Lesern ohne Schwierigkeiten als solche zu erkennenden) Parodien des Freundes Winkelmann ausklingen. In Jean Pauls radikaler Poetik bleibt dem Menschen bekanntlich als Trost nur „die Zukunft oder Phantasie, d. h. der Roman“6 als unendliches ‚work in progress‘, das die Fiktion in den Bereich der Wirklichkeit hinein entgrenzen soll. Brentanos größtes Werk und einziger Roman hingegen scheint auf den ersten Blick auf eine pure Desillusionierung der Fiktion und nach dem Tod seines fiktiven Autors auf eine unmotivierte Verherrlichung des frühromantischen Freundeskreises als verwirklichtes Ideal, dann auch noch mit dessen kleinlichen Polemiken gegen die nicht zu ihm Gehörenden, hinauszulaufen. Wenn Brentano aber als übereifriger Schüler Friedrich Schlegels die romantische Ironie tatsächlich bis zum Extrem eines „poetischen Nihilismus“7, dem von der „künstlich geordnete(n) Verwirrung“8 nur noch das Substantiv erhalten wäre, getrieben hätte (und also etwa gerade aus diesem Grund von seinem Meister abgestraft worden wäre), sollten sich auch Fragen nach seiner literarischen Topographie oder gar nach dem Motiv des Einsiedlers von vorneherein als beschränkte Perspektive verbieten. Der Winkelmannsche Schlussteil des Romans Einige Nachrichten von den Lebensumständen des verstorbenen Maria gibt ein (Selbst-)Porträt Brentanos als || nennen, woran man sich leicht den Magen verdirbt, deinen nenne ich eine ordentlige Tafel wo man Wein und Braten und auch Gänseleberpastete haben kann.“ 4 Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 16, S. 600. 5 Vgl. dazu Nienhaus: Der Erzähler als Held. 6 Jean Paul: Werke, Bd. 1, S. 509. 7 Ebenda, Bd. 5, S. 461. 8 Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 2, S. 318.

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Dichter und des Kreises, dem er sich zugehörig fühlt: Gerade durch diese kaum verschlüsselten Hinweise auf Zeitgenossen wird hier nun aber im Gegenteil die in der Forschung gelobte, vermeintliche „radikale Selbstreferenzialität“, die „keinerlei Wirklichkeitsbezug“ mehr habe, „sondern allein mit sich selbst“9 spiele, wohl deutlich überschritten, und der Text, der mit einem Gedicht des fiktiven Autors Maria (in Wirklichkeit natürlich Winkelmanns, aber im Namen Brentanos) an Clemens Brentano gipfelt, versucht auf diesen letzten Seiten (als witzige Variante der poetischen Realisierung des Jean Paul’schen Postulats von der Grenzenlosigkeit der Fiktion) die Wirklichkeit des Jenaer Kreises in den Raum der Dichtung hereinzuholen. Wer Novalis’ Programm von der Romantisierung der Welt so radikal anzuwenden versucht, der wird auch wohl kaum mittels der kalten Dusche des zweiten Teils des Romans den Enthusiasmus des ersten auslöschen, als bloß lächerlich poetisch vernichten wollen.10 Man sollte sich hier hingegen an die Bemerkungen des Katholiken Brentano über die „Ursachen, warum man von Herzen über das Allerheiligste lachen kann“ aus der Philisterabhandlung erinnern: Er halte, heißt es da, keinen für einen gotteslästerlichen Spötter […], welcher über den ehrwürdigsten Papst lacht, dem die Rockärmel so kurz sind, daß ihm die nackten Arme, wenn er die Hände nach dem Allerheiligsten hebt, so weit herausfahren, daß man alle Hieroglyphen und Keilschriften der Schröpfköpfe sehen kann, mit denen er sich neulich das böse Geblüt zwischen Haut und Fleisch weggezogen.11

|| 9 Meier: Klassik – Romantik, S. 373. 10 So sah es allerdings Arnim (was seinem insgesamt äußerst positiven Urteil jedoch keinen Einbruch tat; vgl. Anm. 3): „Diderot kann sehr gut seine Religieuse am Schlusse für einen blossen Spas, für eine erdichtete Person erklären, aber eine ernsthafte oft hinreissende Dichtung dafür erklären, wie die Nachrichten von den Lebensumständen am Schlusse des Godwi thun, heist den Eindruk absichtlich vernichten, denn der Dichter in Godwi und der Godwi selbst hatten sich offenbar mehr Interesse erworben, als ihr Dichter durch ein paar Briefschnitzel sich hinterher erwerben konnte.“ (Brief Arnims an Brentano vom 18. November 1802; Arnim: Werke und Briefwechsel (Weimarer Arnim-Ausgabe), Bd. 31, S. 143). 11 Brentano, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 21,1, S. 131 f. Borgstedts interessante Lesart des Romans im Sinne einer katholisch gegründeten Allegorisierung geht mitunter etwas zu weit, so etwa in der Kommentierung von Marias Kritik an der Ehe: „Dieser desillusionierende Blick auf die Ehe gesteht dieser keinerlei Idealität zu, sondern bloßes ‚monopolisches Einerlei‘, was in völligem Gegensatz zu ihrer protestantischen Überhöhung steht.“ (Borgstedt: Frühromantik ohne Protestantismus, S. 19) Auch in krassem Gegensatz zur katholischen Auffassung der Ehe als heiliges Sakrament: Solche Passagen bestätigen eher die Brentano (zumindest bis zur

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Auch das aufs Unendliche gerichtete Sakrament trägt in sich den Widerspruch der jeder menschlichen Tat eigenen Begrenztheit. Das Dilemma, Unbestimmtes stets im Bestimmten nur zeigen zu können, hat auf die Rede bezogen laut Schlegel ja die folgende Konsequenz: „Jeder Satz, jedes Buch, so sich nicht selbst widerspricht, ist unvollständig.“12 Tieck realisiert dies in seinen frühen Komödien durch die Unvorhersehbarkeit der Handlungsfolge und durch die Brechungen mittels des shakespeareschen ‚Spiel im Spiel‘-Prinzips.13 Brentano nutzt zur Realisierung des romantischen Topos der prekären Vorläufigkeit jeder Aussage im ersten Teil des Romans die Wechselperspektivik der Briefform, indem er Godwis Enthusiasmus an der satirisch-nüchternen Analyse seines Freundes Römer zerplatzen lässt: Ich habe nie einen Brief gesehen, in dem ein solcher Gefühlswechsel des Schreibers hervorleuchtete, und dies ist mir um so sonderbarer, da du meistens vergangene Dinge erzählst, die dich hinrissen, als sie geschahen, denn sie geschahen alle nur, insofern sie dich hinrissen, die dich aber nicht mehr hinreißen mußten, wenn du sie nochmals vor den Augen eines Freundes erschaffst.14

Im zweiten Teil des Romans wird dann insgesamt die Glaubwürdigkeit des Autors Maria des ersten Teils problematisiert und die von ihm verantworteten Briefe werden mit dem Realitätswissen des Helden Godwi konfrontiert und von diesem ‚korrigiert‘.15 Doch sind diese nachträglich gelieferten ironischen Brechungen eben keineswegs Auslöschungen des zuvor Erzählten. Die Konstatierung eines Kompositionsprinzips der „totalen Desillusionierung“16 sollte die vorläufige Macht des Illusionsaufbaus, die dann erst in der Folge ironisch negiert wird, stets mitbedenken.

|| Generalbeichte) bestimmende radikale ästhetische Subjektivität, der auch die aus der katholischen Kultur stammenden Inhalte tendenziell zum bloßen Material der künstlerischen Gestaltung dienen. 12 Schlegel: Kritische Ausgabe, Bd. 18, S. 83. 13 Vgl. Landfester: Ludwig Tiecks Komödie Der gestiefelte Kater. 14 Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 16, S. 218f. Zitate aus dem Godwi fortan mit Seitenzahl in Klammern im Haupttext. 15 Zum komplexen Geflecht der verschiedenen Erzählebenen vgl. Scharnowski: Ein wildes gestaltloses Lied. 16 Nyssen: Die Struktur von Raum und Zeit bei Brentano, S. 82.

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2 Der enge Bezug des Godwi zu Goethes Wilhelm Meister und dessen Bildungsromanparadigma ist nicht zu übersehen und ist von den Zeitgenossen bereits (kritisch mit dem Vorwurf der Epigonalität verbunden)17 und von der Forschung (meist zur ‚Katalogisierung‘ des „verwilderten Romans“) angemerkt worden.18 Die Anbindung an die sequenzielle Topographie eines Bildungsweges19 wird vom Titelhelden des Romans selbst – natürlich mit ironischem Akzent – angesprochen: „Aus einem freundlichen Landhause in eine alte Burg und von da gar auf eine Ruine, an die der Einsiedler seine Wohnung gebaut hat. Ist dieß nicht der Weg der Zeit?“ (S. 79) Nun ist hier beim Einsiedler keineswegs schon Godwis Ruheort (der Harfe spielende Werdo Senne und der bei ihm lebende Eusebio sind ja auch schon deutlich genug intertextuell besetzt in ihrem Bezug auf die Gestalten des Harfners und Mignons20 im Wilhelm Meister). Zudem erfährt der Leser dann noch – wie schon erwähnt –, dass die vom (fiktiven) Autor Maria im ersten Teil des Romans präsentierten Briefe keineswegs als authentisch zu nehmen seien. Doch lenkt gerade die im zweiten Teil unterstrichene ironische Distanzierung („übrigens haben Sie mich in ihrem Buche ziemlich getroffen“, spricht da der seinem Autor höchstpersönlich begegnende Held, „weniger Otilien und den Greis“; 379) den Blick explizit zurück auf diese Begegnung und die Gestalt des Einsiedlers. Dies gilt gleichfalls für die Hervorhebung des Gedichts „Sprich aus der Ferne“ (inklusive seines narrativen Kontextes): „Und was wollten Sie Seite 281 mit den stillen Lichtern? Sie wollten doch nicht etwa dem Mädchen [Otilie] eine neue Art Mythologie geben?“ (S. 380). Sollte es dem Leser nicht klar gewesen sein, hier wird er direkt darauf hingewiesen: Selbstverständlich geht es genau

|| 17 Vgl. dazu den Kommentar in: Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 16, S. 598; darüber hinaus z.B. die Bemerkung von Karl Rosenkranz (Ludwig Tieck und die romantische Schule, S. 61): „[…] Godwi […], der theilweise eine mißrathene Nachbildung von Charakteren aus dem Wilhelm Meister, theilweise aber sehr originell ist“. 18 Vgl. weiterhin Jacobs: Wilhelm Meister und seine Brüder; einschränkend dazu Schulz: Die deutsche Literatur zwischen Französischer Revolution und Restauration, S. 434: „Godwis Lehrjahre erinnern jedoch im Detail weniger an die Lehrjahre Meisters als an die ‚Lehrjahre der Männlichkeit‘, die Julius in Schlegels Lucinde durchmachen muss.“ 19 Vgl. Ueding: Klassik und Romantik. Teil 1, S. 467: „der Weg des Helden zur Klarheit und zur Meisterung des ‚Ungeheuren‘, dem er einstmals zu verfallen drohte“. 20 Man erinnere sich in diesem Zusammenhang auch an das Mignon-Thema in Brentanos Urteilen über Bettine, die im Brief vom 8. September 1801 an Savigny zur Otilie wird (vgl. Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 29, S. 373; dazu: Schmitz: „Experimentum Medietatis“, S. 27– 29).

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darum. Und dies kann vom Text selbst dann nicht mehr zurückgenommen werden, wenn nun am Ende Godwi das Geheimnis der „stillen Lichter“ als das Leuchten „eine(r) kleine(n) Handlaterne“ (S. 479) entschleiert.21

3 Doch nun zum Kontext der ‚neuen Art Mythologie‘, die eben nur an einem spezifischen Ort gedeihen konnte: dem Ort des Einsiedlers. Wenn ich mir die paradoxe Formulierung erlauben darf: Von Tiecks Sternbald bis zu Eichendorffs Ahnung und Gegenwart wimmelt es nur so von Einsiedlern und Eremitagen im romantischen Roman. Als Seitenstück zur Rokoko-Schäferei und im Sinne einer sentimentalisch oberflächlichen Rousseau-Verehrung dürften Einsiedlerklausen in keinem fürstlichen Schlossgarten fehlen. Im Park auf der Wilhelmshöhe in Kassel, den Römer in einem Brief an Godwi beschreibt, gab es gleich ein halbes Dutzend davon, jede besetzt mit der Holzstatue – wie die Wachsfiguren Madame Tussauds in Lebensgröße und voll bekleidet – eines berühmten Philosophen. Die Erfahrung der Eremitage als touristisches Event – wie etwa noch Ende des neunzehnten Jahrhunderts im ‚Deserto‘ oberhalb Sorrents (Abb. 1) oder auch heutzutage auf dem Palfen im österreichischen Saalfelden, wo immer noch ein ‚Eremit‘ vom Stadtrat bezahlt wird – beschreibt Römer mit wohl bis heute gültiger Klarheit: […] ich nahm mir vor, mich hier keiner Laune mehr zu überlassen, weil das Ganze für Menschen erschaffen ist, die weder froh noch traurig, sondern amüsirt und zerstreut werden sollen. Ich setzte mich auf eine Bank an einer Einsiedeley, und sah die ungeheure Menge von Menschen um mich her wandeln, die mich in die ödeste Einsamkeit versetzten, weil sie mich alle nichts angingen. (S. 64)

|| 21 Auch bei diesen ‚Desillusionierungen‘ mag es hilfreich sein, sich an die Satire über aufklärerische ‚Erklärungen‘ in der Philisterabhandlung zu erinnern: „Ein heutiger Philister, welche aus angebohrner Nüchternheit kein Wunder leiden können, und Alles gerne aus ihrer miserablen Philister-Natur erklären möchten, behauptete mir neulich, der Eselskinnbacken sei der Name eines Generals gewesen; als wenn man die Philister besser mit einem Generale als mit einem Kinnbacken schlagen könne, das wäre der Mühe werth. Er fügte hinzu, wenn man nach tausend Jahren läse, Friedrich der Einzige ritt in der und der Schlacht einen Fuchs, würde man vielleicht auch nicht wissen, daß dies ein rothes Pferd sei, und sich sehr darüber wundern. Worauf ich ihm antwortete, so müsse er auch die dreihundert Füchse für neu angekommene Studenten, und die Feuerbrände für Journal-Hefte halten; für meinen Theil gönne ich das Wunder mit dem Fuchs statt eines rothen Gauls der Nachwelt von Herzen, und halte mir den Esels-Kinnbacken, statt des Generals, bevor.“ Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 21,1, S. 141.

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Abb. 1: „L’eremo del ‚Deserto‘ sullo sfondo del golfo di Napoli“ (Brogi 1890)22.

Dieser Einsamkeit in der Menge wird in der Folge dann die gesellige Einsamkeit entgegengesetzt, als Rückzugsort von der schon im Werther oder in Jean Pauls Romanen denunzierten intriganten Welt des Hofes und von der philisterhaften Betriebsamkeit des Handelskontors. Die Einbettung des Motivs der „sonderbaren Wohnung“, die sich der Einsiedler in die Ruine „eines alten Schlosses“ (S. 81) gebaut hat, in die Wiederentdeckung des germanisch-deutschen Mittelalters ist im Roman explizit ausgedrückt in den Worten des Einsiedlers Werdo Senne selbst. Doch noch geht es nicht um den patriotischen Beitrag zur nationalen Identität, wie er sich etwa in der Abbildung des Heidelberger Schlosses vor seiner Zerstörung im Titelkupfer für den zweiten Band des Wunderhorns zeigt (Abb. 2). Deutsche Nation oder gar schon deren Einheit sind im Godwi noch kein utopischer Entwurf: Die Ruine steht noch – ganz im Sinne von Goethes Götz – für die „Trümmer des Faustrechts“, in die Werdo „die Trümmer der Freyheit“ seines „Geistes gerettet“ (S. 80) hat. Als verlassener Ort, der seinen machtausübenden und -repräsentierenden Zweck verloren hat, wird sie zum Raum für die gesellschaftsferne Idylle, in der der Einsiedler in nutzloser Freiheit seinen „Schwärmereyen nachhäng(en)“ (S. 81) kann.

|| 22 Abb. 1 aus Fiorentino: Memorie di Sorrento, S. 213. Nicht nur die Mönchskutte, sondern besonders die meditative Haltung soll eine Authentizität suggerieren, die allein schon unter den Bedingungen der damaligen höchst aufwendigen und langwierigen Photografiertechnik dem Bild nicht zusteht. Als Souvenir und Beleg für eine wirkliche Begegnung des Touristen mit dem vermeintlich in einsamer Kontemplation Versunkenen erhält das Foto seine dialektische Pointe.

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Abb. 2: Des Knaben Wunderhorn, Titelkupfer von Band 2 des Erstdrucks.23

Diese bleiben auch noch höchst individuell und in den Gesängen Werdos für den Zuhörer Godwi (und für den Leser) nur im Sinne einer „ganz eigene(n) Modulation“ als diffuser Ausdruck von Schmerz, dessen Motive sich aber durch das private Geheimnis des ihm zugrundliegenden Leidens nicht kommunizieren lassen, rezipierbar. Tatsächlich sind die zahlreichen, detaillierten Anspielungen auf die tragischen Erlebnisse der Vergangenheit, die Werdo schließlich in die Einsamkeit getrieben haben und die erst im zweiten Teil des Romans entschlüsselt werden, in seinen Liedern noch vollkommen unverständlich. Ohnehin sind nicht er und auch nicht sein Ziehknabe Eusebio die wahren Protagonisten der Einsiedelei, sondern die engelhafte Gestalt Otilies. Dramatisch wird diese Figur in einer den Kitsch mehr als nur streifenden Szene eingeführt, die Godwi als voyeuristischer Zuschauer beobachtet: Eusebio und ein zahmes Reh (mit einem „Blumenstraus im Maule“) stehen erwartend im Garten (vgl. Abb. 3):

|| 23 Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 7.

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Abb. 3: Illustration zum Godwi, nach der Vorzeichnung Johann Heinrich Rambergs ausgeführt von Friedrich Wilhelm Jury, veröffentlicht in Friedrich Wilmans’ Taschenbuch für das Jahr 1803.

Die Gartenthüre gieng auf, und so trat der Engel, von Gott zum erstenmale auf die Erde gesandt, durch die Thüre des Paradieses. Ich stand mit meiner Unzufriedenheit hinter den Weinblättern meines Fensters so schamhaft, wie der erste Mensch hinter seinem ersten Kleide. Ein Mädchen, weiß wie der Schnee, mit schwarzen Augen und Locken, wurde vondem Knaben heftig umarmt. Ich verschlang die schöne Gruppe. (S. 88)

Die paradiesische Erscheinung wird Godwi zur Verheißung, noch nicht zu teilnehmender Gegenwart, sondern zur „Sehnsucht“, die sich am Sprechen Otilies, ihrer „Stimme“ (wie wir später im Text lesen werden: an ihrer poetischen Rede) entzündet (auch Aloys verliebt sich in Imelde, als er ihren Gesang hört)24: „ich

|| 24 Vgl. Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 13,1, S. 40f.

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hörte nur; oder ich sah, was ich hörte, denn ihre Töne waren freundliche helle Gestalten, sie trugen ein fremdes Gewand; es war eine fremde Sprache – ich konnte sie nicht verstehen.“ (S. 89) Das „Verstehen“ des poetischen Sprechens Otilies wird zunächst noch spannungssteigernd verzögert durch zwei dazwischengeschaltete Briefe (Lady Hodefields=Mollys an Werdo und Jost von Eichenwehen an seine Schwester Joduno), deren reflektierende (im Fall Mollys) oder gar unfreiwillig komische Prosa (bei Jost) ein Beispiel für die den Roman typischen rhetorischen Wechselbäder zeigen.25 In Mollys Brief wird zudem bezeichnenderweise ein Bild Werdos als nüchterner Mahner geliefert, der in „Freuden“ seinen Garten bestellt (vgl. S. 97), also das Gegenteil einer unergründlichen Tiefe des Einsiedlers und im klaren Kontrast zu seinem vorigen Auftritt. So wird denn alles dramatisch zugespitzt auf die Erscheinung Otilies (im folgenden Text stets nur Tilie genannt), der die zentralen Briefe und Tagebuchaufzeichnungen Godwis und insgesamt der längste zusammenhängende Abschnitt des ersten Bandes (immerhin etwa sechzig Seiten) gewidmet sind. Während für Werdo die Einsiedelei ein Rückzugsort ist, an welchem er ungestört und unerhört seine Klagen über die Verletzungen, die ihm in seinem gesellschaftlichen Vorleben zugefügt worden sind, ausdrücken kann, hat er sie in seiner Rolle als Erzieher für Tilie zum gesellschaftsfernen Reservat bestimmt. Nach Aussage ihres Schöpfers Werdo ist Tilie ein Wesen, dass wie vor dem Sündenfall im bruchlosen Einklang mit seiner Umwelt lebt: „Nur wenige sind so, von der Natur in tiefen Schöpfungsstunden so geprägt, und hast du Zeit, noch mehr als Mensch zu seyn, füllt dir des Lebens Ernst nicht alle Thätigkeit, bist du ein Bürger? O so fliehe schnell!“ (S. 145) Es geht hier keineswegs darum, Tilie vor dem galanten Verführer Godwi zu schützen, sondern die Warnung gilt im Gegenteil diesem selber, der sich der Gefahr aussetze, sich von dem Naturwesen „verschlingen“ zu lassen, das zarte ephebenhafte Töchterchen des Einsiedlers gerät hier in Werdos Worten zu einer Art Elementarkraft, die den Leser an Frau Venus oder – hier antizipierend intratextuell vernetzt – an die Loreley denken lassen mag: „Natur ruft dich mit aller Weibes Allmacht hier, sie reicht die Arme dir so frei und schön entgegen, und ihres Busens Wellen dich verschlingen. Du kehrest nimmermehr zurück.“ (S. 144). In der Tat – gleichsam Botticellis Primavera und Nascita di Venere miteinander verknüpfend – empfindet am Ende Godwi, „als entstehe sie aus den Wellen der Grashalmen und Blumen, über die sie schwebend hinging, wie Venus aus dem Schaume des Meeres“(S. 287), und nach der gemeinsamen nächtlichen Wanderung ist er erst einmal „krank“ (S. 175). || 25 Vgl. Michel: Ordnungen der Kontingenz, S. 185–250.

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Ein weiterer zentraler Aspekt der Warnung Werdos betrifft die Sprache: „Sprich nie von ihr, denn auch der Wahrste lügt, will er mit Worten, was er fühlet, sagen, und nur die Äußerung ist wahr, die unvermuthet und unverschuldet aus der Tiefe steigt.“ (S. 143) Unwillkürlicher Ausdruck ohne bezeichnende Funktion gleicht der Ursprache als Zugang zum verlorenen und künftigen Paradies.26 In der Poesie, die, wie es Novalis benannt hat, sich „unmittelbar auf d(ie) Sprache“27 bezieht, sind die Spuren der Ursprache zu entdecken. Für Godwi ist in Tiliens Sprechen eine Transformationskraft, „eine seltsame Zauberei“, verborgen, die die Wirklichkeit „zu einer fremden freundlichen Poesie“(S. 136) umformt: Wenn er ihre „fremde Sprache“ zu verstehen beginnt, wird in ihrem Dialog die Prosa konsequent durch Versschreibung ersetzt. Somit ist nun der Ort des Einsiedlers auch ein sprachlich eingehegter Bezirk, in dem die „neue Art Mythologie“ gedeihen kann, die außerhalb nur lächerlich erscheint. Sie bedarf – und dies hebt sie zugleich selbstverständlich auch wieder ironisch auf – eines geschichtsfernen utopischen Raums, wo „das Leben nicht (eilt)“ (S. 153), und einer extrem idealisierten Feengestalt, von der alle Natur als magisch erfahren wird. Die Anpassung Godwis an die sich phasenweise zum Reim steigernde dichte Versrede Tiliens weckt Assoziationen an die im poetischen Sprechen sich realisierende Vereinigung von Faust und Helena. Diese scheint sich auch für Godwi und Tilie zunächst anzukündigen: Schon empfindet sich Godwi, als er Tiliens „warmen Busen an (s)einer Brust“ (S. 164) fühlt, „Mit Allem Leben innig verbunden“: „Der Wald, der Mond, sie lagen mir am Busen. / Ich fühlte, daß sie mit mir sprachen“. (S. 167) Doch anders als Faust bleibt Brentanos Held im Dunklen seines Kindheitstraumas befangen und katapultiert sich durch die Erzählung der „Scene aus meinen Kinderjahren“ heraus aus der unio mystica mit der Natur (die ja wohl getrost mit Tilie gleichgesetzt werden darf): „Ich hatte mich auf meiner Erzählung in mein wirres Leben zurückgetragen, ich hatte meinen Talisman abgelegt. Meine ganze Umgebung sprach mich wieder fremd an.“ (S. 177) und „meine ganze Vergangenheit […] ergoß sich misgestaltend in meine Gegenwart“ (S. 176). Um Godwi wieder Zugang zum Paradies des absoluten Präsenz zu verschaffen, muss nun „dem Mädchen eine neue Art Mythologie“ bzw. eine magische Unterstützung derselben gegeben werden: eben die „stillen Lichter“! Diese hält er zunächst einmal für im Dunkeln des Waldes beruhigend leuchtende „Hüttenfenster“ (S. 179), Tiliens Rede vom „stillen Licht“ ist ihm nur „Aberglaube“ || 26 Vgl. Hausdörfer: Die Sprache ist Delphi. 27 Novalis: Werke, Bd. 2, S. 638.

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(S. 181). Doch schon Tiliens brüske Zurechtweisung: „Von den stillen Lichtern schweige, / Ich ehre sie, sie sind mir lieb. […] Willst du mir meine zarten Freunde stören, / So gieb mir erst, was sie mir stille gewähren.“ lässt ihn „beschämt“ (S. 184) zurück. Tiliens Versrede bringt den verwirrten Godwi zum Schweigen, bereitet ihn und den Leser auf die Steigerung der Narration in Poesie vor. Eine Rückkehr zum „heiligen Zusammenhange mit einem höheren Leben“ wird ihm dann Tiliens Gesang „Sprich aus der Ferne“ eröffnen. Hier ist nun nicht der Ort, auf dieses berühmte „Meisterwerk romantischer Lyrik“28 näher einzugehen. Godwi, der sich nach „dieser Religion“ sehnt, in der Tilie von jedem rationalen Zweifel unberührt lebt, hört in diesem Lied nun deren Verkündigung: sie „sang […] als bete sie“ (S. 184). Die in den „stillen Lichtern“ sich zeigende „Heimliche Welt“, an der die Sängerin teilhat, verheißt eine umfassende Harmonie alles Seienden: „Alles ist ewig im Innern verwandt“. Allerdings ist diese auch in Tiliens Lied nicht einfach unversehrt: „tröstend und trauernd“ bietet sich alles die Hand, die Versöhnung lindert, löscht aber den Schmerz nicht aus. Und sie bleibt zudem Postulat: Dies macht die Wiederholung der ersten Strophe als Schlussstrophe deutlich (S. 184): Sprich aus der Ferne Heimliche Welt Die sich so gerne Zu mir gesellt

Wenn „Licht und Schatten […] bange streiten“ (S. 186), wird Ferne im Sich-Zeigen der „stillen Lichter“ momenthaft vertraut, ergibt sich für den Augenblick des Gesangs in dessen klanglicher Harmonie die Durchdringung des Gegensätzlichen, die poetische Vermittlung des Nicht-Identischen. Wie dem auch sei: Im Erzählkontext ist Godwi als Betrachter und Zuhörer des Gesangs wieder ganz „vom Weib gefangen genommen“ (S. 161), erfüllt nur von dem Wunsch, selbst „an die Stelle“ der stillen Lichter „zu treten“ (S. 184), Tilie das zu geben, was diese ihr „still gewähren“. Die Wirkung, die sie auf ihn macht, gipfelt in folgendem Bild: „Der ganze Tempel der Nacht feierte über ihr, und ihre Töne, die in die dunklen Büsche klangen, schienen sie mit goldnen, singenden Blüthen zu überziehen.“ (S. 185) So wird Tilie für Godwi zur Danae (allerdings zu einer sich selbst befruchtenden…) oder auch zu Petrarcas schöner Laura, auf die die Blüten des Baumes herabregnen:

|| 28 Schultz: Clemens Brentano, S. 69.

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qual si posava in terra, e qual su l’onde; qual, con un vago errore girando, parea dir: Qui regna Amore Zur Erde die, auf Wellen jene fliegen, In schwebendem Getriebe Umkreisend rufen andr’e: Hier herrscht die Liebe!29

Kurze Nachrede: Wäre Brentano auf den Band von Wielands Teutschem Merkur von 1789 gestoßen, so hätte er sich einen Bericht aus den „Musikalische[n] Anekdoten“, aus dem das Petrarca-Zitat und seine Übersetzung stammen, sicherlich nicht für den zweiten Band des Godwi entgehen lassen. Dort wird von einer Aufführung von Rinaldo e Armida in Venedig berichtet: Als die Darstellerin der Armida tanzte, „fiel ein goldener Regen, der aus lauter glänzenden Flitterstreifchen bestand, mit einem rauschenden Hagel von Sonneten begleitet, von der Decke des Schauspielhauses auf sie herab“30. Vom Theaterinspizient aus dem Bühnenhimmel herabgeworfene Papierstreifen als „goldne […] Blüthen“: fast noch besser als die „kleine Handlaterne“!

|| 29 In: Der teutsche Merkur 2 (1789), S. 110. 30 Ebenda.

Oliver Jehle

Schwinds „Gedankendepot“ Über Einsamkeit, Elementargeister und die Energie organischer Natur Betrachtet man, auf welch ausdifferenzierten Diskursfeldern „des Wissens, des Imaginierens und des Darstellens“1 Moritz von Schwind sich bewegte, zeigt sich, dass die Rede vom Spätling der Romantik, der mit seiner immensen Bildproduktion einem vereindeutigten Weltbild diente, zu kurz greift. 2 Seine Malerei, die zunächst als Dienst an der Mimesis verstanden werden darf, bedient sich tradierter Darstellungsweisen, um neu entdeckte oder neu instrumentierte Wissensbestände in mythische Gewandung zu kleiden. Dieser historistischen Camouflage gilt das Interesse dieses Textes, offerieren die Bilder doch einen Blick auf die Übergänge zwischen theatraler Inszenierung, klassischer Ikonographie und dem verdrängten Wissen um eine irreversibel beschleunigte Lebenswelt. Dabei zeigen Schwinds Gemälde „nicht Geschichte in ihrer emphatischen, im 19. Jahrhundert gewonnenen Aufladung, sondern eine Geschichte in einem geradezu ‚vorhistorischen‘“3, auf der Einbildungskraft beruhenden Verständnis – als berufe sich der Künstler auf Hoffmanns Einsiedler Serapion, der ihm zum Schutzpatron seiner regen Phantasie wird.4 Schwind stärkt in seinen Bildräumen das Legendenhafte durch Elemente des Wunderbaren: Denn alles streife in seinen Werken „an’s Uebernatürliche“ heißt es in einer Kritik Max Schaslers aus dem Jahr 1858. „Aber grade diese konstruierte Ueber- oder vielmehr Widernatürlichkeit ist die Hauptintention des Bildes.“5 Schwind arbeitet mit seinen Bildzyklen, in denen „alles

|| 1 Neumann/Oesterle: Einleitung, S. 9. 2 „Bürgerliche Kunstauffassung und romantische Malerei haben erst in der Phase der Spätromantik zusammengefunden. Die Gemälde von Ludwig Richter und Moritz von Schwind sind geradezu Paradebeispiele der künstlerischen Verwirklichung“ des Postulats einer Versöhnung von Ideal und Wirklichkeit. Büttner: Bildungsideen und bildende Kunst in Deutschland um 1800, S. 282f. 3 Christian Scholl: Revisionen der Romantik, S. 312. 4 Eine Bildphantasie wird aktiviert, die jeden Betrachter dazu führt, „selbst Geschichtliches so aus seinem Innern heraus[zu]erzählen, wie er alles selbst mit eigenen Augen lebendig erschaut und nicht wie er es gelesen.“ E.T.A. Hoffmann: Die Serapionsbrüder, S. 458. 5 Max S[chasle]r: Ueber Idealismus und Realismus in der Historienmalerei, S. 146; zitiert nach: Busch/Beyrodt (Hrsg.): Kunsttheorie und Malerei, S. 226–232. Christian Scholl: Revisionen der Romantik, S. 312, Anm. 105. https://doi.org/10.1515/9783110634709-007

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möglich“6 schien, an einer visuellen Sprache des malerisch Unsagbaren: Stattete er seine Märchenwelten mit einem reichen Nebeneinander der Bildzeichen aus, so setzte er vertraute visuelle Bestandteile und partiell Fremdes zugleich ein, „um den Eindruck der Evidenz“ zu erzeugen und den erdachten Bildwelten eine Plausibilität zu unterlegen, die ihnen qua Sujet nicht zukam.7 An einer Umdeutung des ‚Romantischen‘8 ist ihm gelegen, die sich zunächst auf die Erinnerung an eine pittoreske Wahrnehmung der Landschaft zu beziehen scheint, diese schließlich aber überbieten wird. Wie aus der Begeisterung des jungen Künstlers für die Bildproduktion der Romantik9 über die Jahre hinweg Skepsis wurde, macht ein Brief des Jahres 1854 deutlich: „Ich höre jetzt so viel von Romantik, dass ich nicht mehr genau weiß, was die Leute darunter verstehen.“10 Aus der Unsicherheit, was mit dem Begriff noch gemeint sei, wendet er sich von romantisch codierten, ubiquitär einsetzbaren ‚Landschaftsbildern‘ ab, denn das ‚Romantische‘ vermag als Kategorie keine hinreichende Definition mehr zu liefern für ein Werk, das er für vollendet hielte. Schwinds Blick dringt deshalb in das Waldesinnere ein, sucht gerade nicht die Natur auf, wie sie etwa in den Reiseführen der Jahre als pittoreske Ausblicke empfohlen wurden.11 Er findet das Nahsichtige, den tiefen Blick in die reiche Vegetation. Mit seiner Malerei stimuliert er das Auge, das den steil aufragenden Gesteinsformationen so lange folgt, bis allein der Bildrand diese petrifizierte Welt begrenzt. Schwinds Bergwelten (Abb. 1) sind häufig so gestaltet, dass sie den Bildraum zur Gänze einnehmen, keinen Blick auf den Himmel oder die Horizontlinie erlauben – eine geschichtete, eine geschlossene Welt wird malerisch inszeniert, die sich in ihrer verhaltenen Farbigkeit und dem Hang zur harmlos wirkenden Binnen-Erzählung den affektiven Registern erhabener Naturästhetik gerade nicht bedient. So führt ein Einsiedler in einem seiner nach 1860 entstandenen Bilder, dessen

|| 6 „Die zyklische Form ist kaum zu umgehen, aber eben darin ist alles möglich.“ Moritz von Schwind, Brief an Franz von Schober, 1830; zitiert nach: Franke: Moritz von Schwinds Zeichnungen, S. 26. 7 Pfotenhauer: Bild – Schriftbild – Schrift: Jean Paul, S. 60. 8 „Und für die Begriffsgeschichte ist es nicht unerheblich, dass sich ‚Romantik‘ im Brockhaus an der Epochenzäsur 1850 noch immer nicht terminologisch etabliert hat und ‚romantisch‘ durch ein eher banales Spektrum von Prädikaten definiert erscheint.“ Hess: Lohengrin in Weimar oder: Die Spätzeit romantischer Bilder, S. 363. 9 „Mein ganzes Augenmerk geht auf das Romantische“, schreibt der junge Schwind in einem Brief an Franz von Schober. Schwind: Briefe, S. 65 (Brief vom 2. Januar 1830). 10 Ebenda, S. 344 (Schwind an Eduard von Bauernfeld, Brief vom 2. April 1854). 11 Hess: Lohengrin in Weimar oder: Die Spätzeit romantischer Bilder, S. 357.

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Abb. 1: Moritz von Schwind: Ein Einsiedler führt Rosse zur Tränke, um 1850, Öl auf Eichenholz, 47 x 38,8 cm. 1869 durch Adolf Friedrich Graf von Schack erworben, München: Neue Pinakothek, Inv. Nr. 11578 Foto : bpk | Bayerische Staatsgemäldesammlungen.

erster Entwurf aus dem Jahr 1833 datiert12, auf einer schmalen Bühne Pferde zur Tränke. Im Mittelgrund liegt eine Figur im Schatten einer Höhle, wohl ein Fremder, der als Gast in der Einsiedelei eingekehrt ist. Einige dieser Einsiedlerdarstellungen „gehören zu den sogenannten ‚Reisebildern‘: Bildfindungen, die den Künstler über Jahrzehnte beschäftigt haben und ihn „als […] „Sammlung lyrischer Lieder“13 begleiteten, wie er in einem Brief an Peter von Cornelius 1862 schreibt. So kam Schwind in seinen späten Arbeiten immer erneut auf Bildfindungen aus seiner Frühzeit zurück.14 Wobei das wiederaufnehmende Arbeiten an den Ideen und Konzepten nach den Weisen seiner interpikturalen Bezugnahme fragen lässt: Ob ein solcher Rückgriff auf die Identifikationsfigur, wie sie der Einsiedler für Schwind war, als Ausspielen einer als besser empfundenen Vergan|| 12 Ost: Einsiedler und Mönche in der deutschen Malerei des 19. Jahrhunderts, S. 184, Anm. 89. 13 Brief an Peter von Cornelius, 20. September 1862, zitiert nach: Franke: Moritz von Schwinds Zeichnungen, S. 37. 14 Darauf verweist bereits Peter Halm 1961. Halm: Moritz von Schwind. Jugendgedanken und reifes Werk, S. 135–169.

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genheit gegen eine defizitäre Gegenwart verstanden wird, ist eine zentrale Frage des Bilddiskurses, wie Schwind ihn pflegte. Öffnete sich seine Romantik auf die mittelalterliche Bildkultur, auf Ritter und Gaukler, so setzt der Künstler diese medialen Ressourcen nicht ohne Probleme in seinen Bildern ein. Seine Krise der Repräsentation, sein Gefühl des Fremdseins ist das Problem des aufkommenden Realismus in der Kunst. Seine Bilder fixieren eine spätromantische Utopie in der Zeit der beginnenden Industrialisierung; sie bringen eine Welt piktural in Stellung, die dem „verstörende[n] Bewußtsein eines anbrechenden eisernen Zeitalters“15 die Stasis einer stillgestellten Vergangenheit konfrontieren.16 Verspätet ist sein Bildpersonal, seine Eremiten und Einsiedler. Denn die subjektive Erfahrung von Raum und Zeit hat sich im Zeichen des technischen Fortschritts fundamental verändert. Man muss sich nur auf die Beschreibungen einlassen, wie sie etwa Eichendorff in seinem Novellenfragment Tröst-Einsamkeit vorlegte: Während einer Eisenbahnfahrt bleibt der Reisende, dem es „unbehaglich in seinem fliegenden Salon“17 wurde, schließlich zurück, um inmitten dieser rastlosen Welt der Geschwindigkeit, ausgerechnet einen Einsiedler im Wald aufzusuchen.18 Dieser Einsiedler wurde zuvor von den Mitreisenden als Überbleibsel einer längst vergessenen und obsolet gewordenen Zeit, als „Karikatur einer überholten Epoche belächelt“.19 Der Einsiedler „sei ohne Zweifel der letzte Romantiker, der sich vor dem Fortschritt der wachsenden Bildung in den mittelalterlichen Urwald geflüchtet“20 habe. Die Stillstellung der Zeit, die unterlaufene Temporalisierung des Bildraums ist die Antwort Schwinds auf die allgegenwärtige Beschleunigung des Blicks. Denn wird „ikonische Intensität nicht gerade durch die Dimension des Zeitlichen miterzeugt“21 – und sei es in der Verneinung dieser Dimension? Technisch gerade erst ermöglicht, wird dieser raschen Bewegung des Auges eine Eigenzeit des Bildes konfrontiert, die als „Eindrücke“22 gefasst werden. Ruhige, in sich geschlossene Bildräume, in denen das betrachtende Auge

|| 15 Hess: Lohengrin in Weimar oder: Die Spätzeit romantischer Bilder, S. 357. 16 Eduard Beaucamp sah 1996 in Schwind ein „Kuriosum“, einen „Künstler, der die Zeitgenossenschaft der Delacroix, Courbet und frühen Impressionisten arglos ignorierte, der heiter, charmant, sublimierend, bisweilen ironisch den romantischen Traum weiterträumte“. Beaucamp: Kammermusik auf Märchenklippen. Der Publikumsliebling als Nachzügler, S. 41. 17 Eichendorff: Tröst-Einsamkeit – Werke in sechs Bänden, Bd. 5, S. 379. 18 A. Assmann: Obsession der Zeit in der englischen Moderne, S. 254. 19 Hess: Lohengrin in Weimar oder: Die Spätzeit romantischer Bilder, S. 366, Anm. 21. 20 Eichendorff: Tröst-Einsamkeit – Werke in sechs Bänden, Bd. 5, S. 381; vgl. Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise, S. 35f. 21 Honold/Simon: Vorwort, S. 9. 22 A. W. Schlegel: Die Kunstlehre – Vorlesungen über Ästhetik I (1798–1803), S. 339.

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gern verweilt, und die „das Gemüt in einem gewissen Schweben erhalten.“23 So wird die „Ruhe“24 zur tragenden Bildkategorie seines spätromantischen Bewusstseins und die verhaltende Farbigkeit seiner Bildsprache als sinnesphysiologische Antwort auf diese Stimmung eingesetzt. Dem Naturraum jenseits akademischer Darstellungsmodi Sichtbarkeit zu verleihen, gelingt Schwind dort auf verwundernde Weise, wo sein anthropomorphes Bildverfahren ein Gestaltsehen avant la lettre herausfordert und neue Ähnlichkeiten bildmächtig inszeniert.25 „Läßt [Schwind] dann den Blick [der Betrachter] durch die urweltlichen Kolosse von Bäumen hindurch in das Walddickicht und empor zu den Kronen schweifen“, schreibt Graf von Schack, „so fühlt er seine Seele von dem bestrickenden Zauber weltentrückter Einsamkeit umfangen, zu der kein Ton des Lebens dringt.“26 Denn die Natur ist ihm nicht mehr „voraussetzungslos vorhanden[e] und sichere, [da] passive Grundlage des Erkennens“27, sondern bildet sich erst aus: im Prozess des Wahrnehmens, Erkennens und Benennens. Und immer erscheinen auch hier, in der erhofften ‚Ruhe‘ der Waldeinsamkeit nur temporäre, ephemere Zustände einer sich stets wandelnden Materie ins Werk gesetzt. Diese bildnerische Erzählstrategie lässt Schwind zu einem Vertreter derjenigen Überzeugung werden, die in der Landschaft keinen Spiegel der inneren Gestimmtheit, sondern den Raum erkennen, in dem fremde Kräfte am Werk sind: Unter dem Namen „Elementargeister“ haben diese in der zeitgenössischen Lyrik nicht nur einen festen Platz, sie sind in der Spätromantik allpräsent: Nixen, Nymphen, Najaden, das Reich der natura, die dem humiden, dem Feuchten zugeordnet ist und die Matrix seines Bildes formiert – hängen doch die Elementarwesen „in ihrer leiblichen Existenz“28 mit dem je angestammten Element zusammen. Damit verweist Schwind auf das „generative, die ganze materielle Welt erzeugende Potential der Elemente.“29 Schwinds Malerei macht diese Facetten romantischer Naturästhetik sichtbar, die Wirkungskraft30, deren Übergänge und Interdependenzen in seinen Werken aufscheinen. Alle Stoffe können sich

|| 23 Ebenda. 24 Hölter: Das Rad der Zeit – Eine Denkfigur der Romantik, S. 272. 25 Bennett: Vibrant Matter. A Political Ecology of Things, S. 25. 26 Von Schack: Meine Gemäldesammlung, S. 54–55. 27 Kramer: Elementargeister und die Grenzen des Menschlichen, S. 115. 28 Pörksen: Nachwort, S. 96. 29 Wie Anke Kramer schreibt, wird Materie nicht „als Endprodukt diskursiver […] Praktiken“ begriffen, „sondern als aktiver Faktor, der Materialisierung bedingt und mitbestimmt.“ Kramer: Elementargeister und die Grenzen des Menschlichen, S. 107 und S. 115. 30 Karen Barad: Posthumanist Performativity: Toward an Understanding of How Matter comes to Matter“, S. 801–831, hier S. 810.

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umwandeln, die Elemente durch Veränderung ihrer Qualitäten ineinander übergehen und eine Dynamik entfalten, die den gesamten Naturprozess durchwaltet. Eine eindeutige Versprachlichung der im Zeichen der Elementargeister entstehenden Bilder kann kaum Ziel seiner Kunstübung gewesen sein, viel eher adressiert er einen enthusiastischen Bildbegriff, der mit einer Wahrnehmungssteigerung einhergeht. Schwind geht es um die Produktivität der Einbildungskraft und die identifikatorische Wahrnehmungssteigerung des Betrachters, die sich in den Bahnen spätromantischer Malerei ereignet. Diese ‚poetische‘ Wahrnehmung der Natur kann jene „figürliche Unerschöpflichkeit“31 aus sich entlassen, die Schwinds Arbeiten als späte Antworten auf August Wilhelm Schlegels Kunstlehre erscheinen lassen: Die „Chiffreschrift, wodurch die Natur in ihren schönen Formen figürlich zu uns spricht“,32 wird als Anweisung verstanden. Diese Gestaltungspotentiale werden aber nicht aus einer „Erkenntnis- und Darstellungskrise“ entbunden, wie sie für die deutsche Romantik vielfach postuliert wurde33, sondern verdanken sich einem vielfachen Wahrnehmungsgewinn: Schreibt August Wilhelm Schlegel, dass die künstlerische Nachahmung der Natur „als bloße Abschrift […] gegen das ewige Regen und Weben derselben unendlich zurückstehen müßte“34, zeigt Schwind, wie der natura naturans, der vorbewusst gebärenden Natur malerisch begegnet werden kann. Die Renaissance der Elementargeister darf als Moment gelesen werden, in dem sich die Darstellungsmöglichkeiten erweitern, die abstrakte Idee einer ‚korresponsiven Natur‘35 nicht allein ästhetisch an Kontur gewinnt, sondern elementar und damit materialrückgebunden in Erscheinung tritt. Der Wald blickt uns an, wie wir ihn ansehen. Die Möglichkeit, so mit der Malerei auf das psychische und physische Sensorium der Betrachter und ihrer Sinne zugreifen zu können, war das Ziel, auf das Schwind sein Arbeiten ausrichtete. Es ging ihm um die „Rolle[,] die Bilder“ gerade in Grenzsituationen spielen: So schreibt er im November 1834 an seinen Freund Josef von Spaun, dass ihn die Erinnerung an mentale Bilder interessiere, die sich einstellten, als er – schwer erkrankt und zutiefst einsam – „an den Ufern des Acheron lag und mit Gefühlen eigener Art auf die Überfuhr wartete.“36 An den Blattern leidend, zwang ihn die Todesnähe zur Introspektion, von der er sich || 31 A. W. Schlegel: Die Kunstlehre – Vorlesungen über Ästhetik I (1798–1803), S. 249; vgl. Kasper: Ahnung als Gegenwart, S. 119. 32 A. W. Schlegel: Die Kunstlehre – Vorlesungen über Ästhetik I (1798–1803), S. 249. 33 Neumann/Oesterle: Bild und Schrift in der Romantik, S. 23. 34 A. W. Schlegel: Die Gemählde, S. 31. 35 Vgl. grundlegend Seel: Eine Ästhetik der Natur, S. 320–325. 36 Cornaro: „Der wunderliche Heilige“. Briefe Moritz von Schwinds an Anton von Spaun, S. 20 (Brief vom November 1834).

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distanzierte, sobald er genesen war: „Psychologie ist eine Erfahrungswissenschaft, die der Teufel auf sich nehmen mag“37, schreibt Schwind im Januar 1836 und macht doch deutlich, dass er im Künstler, der wie ein Seismograph auf innere wie äußere Umstände reagiert, nun wahrlich keine „transitorische Durchlassstelle für Bilder“ erkennt, sondern vielmehr „deren transformierendes Element“38. Die mentalen, seelisch geprägten Vorstellungsbilder eröffnen ihm an den „Ufern des Acheron“ die bleibende Frage, ob das mitunter vieldeutige, in seinem Sinn nicht vollständig festgelegte Bild Ziel seiner Kunst sein müsse. Schwinds Bilder lassen im Akt der Wahrnehmung immer auch Narrationen entstehen, die von der leichtgängigen Konvertierbarkeit von Bild in Schrift profitieren, aber keine konkrete Vorlage umsetzen. Der Spätromantiker Schwind entfaltet ein Spiel der Transformation – vom Visuellen ins Textuelle, das „zugleich ein Verwandlungs-Spiel von Bild und Schrift, von Defiguration und Refiguration ist, in höchster Virtuosität.“39 So schreibt Schwind 1845 aus Frankfurt über den Gesamtentwurf des „Wunderlichen Heiligen“ (Abb. 2) an Ernst Julius Hähnel, der Reiz seiner Bildfindungen läge darin, dass ein Betrachter „den ziemlich losen Zusammenhang“ selbst ergänzen solle und so der Bilderzählung Sinn zu inserieren habe: „Ich dachte nicht, eine Geschichte darzustellen, sondern den […] Zustand zweier von der Welt zurückgezogener Brüder, die durch ihr gänzliches Einswerden sich alle Rückerinnerungen vom Leibe halten.“40 Die Schilderung der Gestimmtheit rückt in den Fokus seines bildnerischen Interesses. Dabei bleibt kein Bildzeichen ohne Bedeutung, kein vor dem Bild gesprochenes Wort ohne Referenz: Diese ästhetischen Operationen aber, diese Entgrenzung erschließt zugleich ein schwer zu kontrollierender Raum der Imagination, greift doch „die Ununterscheidbarkeit von Innen und Außen, von [scheinbar Unbelebtem] und Lebendigem“41 um sich – nicht umsonst wanken die Bäume in Schwinds Illustrationen menschengleich durch die Wälder, strecken sich Äste wie dürre und trocken gewordene Arme dem Betrachter entgegen.42 „Naturbeseelung“ nennt Hans Ost diesen Vorgang, wobei das „atmosphärisch Bestimmende

|| 37 Ebenda, S. 29 (Brief vom 8. Januar 1836). 38 Koschorke: Wissenschaft des Arbiträren, S. 30. 39 Neumann/Oesterle: Bild und Schrift in der Romantik, S. 15f. 40 Schwind, Brief vom 25. Juni 1845; zitiert nach: Eggert Windegg (Hrsg.): Künstlers Erdenwallen, S. 81. 41 Neumann/Oesterle: Bild und Schrift in der Romantik, S. 18. 42 „Der Lebensfunke ist in Folge des gegebenen Gegensatzes zwischen Geist und Materie in die Materie eingekehrt […]“, wie es Friedrich Spring 1838 formulierte. Spring: Ueber die naturhistorischen Begriffe von Gattung, Art und Abart, und über die Ursachen der Abartungen in den organischen Reichen, S. 128.

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dieser Szenen“ darin liege, wie die „dichten Waldbäume zu eigenem Leben […] erwachen“.

Abb. 2: Moritz von Schwind: Der wunderliche Heilige, 1835, Federzeichnung, aquarelliert, gelbliches Bütten, auf Pappe aufgezogen, 42 x 45,5 cm, Stuttgart: Graphische Sammlung der Staatsgalerie.

„So hatte Schwind […] in den [Abb. 3] Fliegenden Blättern ‚Das organische Leben der Natur‘ dargestellt, indem er Bäume „und Wurzelwerk zu menschlichen und tierischen Gestalten umbildete.“43 Gestaltete Schwind den Naturraum in anthro-

|| 43 Ost: Einsiedler und Mönche in der deutschen Malerei des 19. Jahrhunderts, S. 185.

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pomorpher Gestalt, verweist sein ‚organisches Leben‘ auf die engen Interdependenzen von Mensch und Umraum.

Abb. 3: Moritz von Schwind: Das organische Leben in der Natur. – In: Fliegende Blätter (1847) Bd. 6, Nr. 144, S. 185.

Taufen, Totengedenken und badende Nymphen Das erotische Begehren nach dem weiblichen Gegenüber, der Liebsten, von der Schwind so häufig in seinen Briefen schrieb, verlagert sich im späten Aquarellzyklus Das Märchen von der schönen Melusine44 auf die Ebene des Betrachtens.

|| 44 Vgl. Ausstellungskatalog Moritz von Schwind. Meister der Spätromantik, S. 241–245.

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Nicht allein der Moment seiner zeichnerischen und malerischen Schöpfung, auch der Akt des Sehens bedeutet Genuss und Besitz, wobei die Frau die Bedingungen dieses Begehrens am besten erfüllt, wenn ihre Gestaltung, die sie gänzlich zum Flächenornament werden lässt, vor jeder Verunreinigung bewahrt wird: deshalb das verhaltene Kolorit, deshalb die klassizistisch empfundene Konturgewissheit, die „den eigenständigen Charakter dieser Werke gerade im Gegensatz zur aktuellen Kunstproduktion“45 ausmachen. Hellsichtig erfasst Bruno Meyer 1872 in seiner Rezension die besondere Qualität dieser Aquarellarbeiten, die in der verweigerten Farbigkeit mehr als eine Chromophobie des Künstlers erkennt: Man hat auch die matte, einfache Färbung bemängelt, ohne zu fassen, dass in der Wahl der Behandlung dieser Färbung eine Angemessenheit und künstlerische Weisheit liegt, in der Schwinds Meisterschaft nicht von dem glänzendsten Coloristen der Oelmalerei zu übertreffen wäre, ja dass ein anderes Färbungsprincip seiner ganzen Conception verderblich werden müßte.46

Allein die Entscheidung, zurückgenommene Farben einzusetzen, versteht Meyer als Hinweis auf ein differenziertes chromatisches Konzept, mit dem Schwind auf die „zarteste, reinste Empfänglichkeit des Sehorgans für die Licht- und Farberscheinungen“ reagierte, die schon Schlegel zur „Hauptsache“ der Malerei erklärt hatte.47 „Doch vielleicht haben dergleichen Dinge überhaupt kein Bürgerecht in der modernen Kunst, und nicht selten wird auch solche ‚Märchenmalerei‘ als ‚romantisch‘ und somit überwunden abgethan.“ Schwinds besondere Begabung habe darin gelegen, so formuliert Meyer weiter, sich mit dem, was der Romantik die Fähigkeit zu existiren gegeben hat, [zu durchdringen]: dem Inhalt jener vergessenen und unvergänglichen Schönheitswelten, welche sie wieder entdeckt hat. Mag für unseren Verstand manches ‚zwischen Himmel und Erde‘ nicht mehr existiren, für unsere Phantasie stirbt dieses Mittelreich niemals aus, denn die dichtende Kraft der ganzen Menschheit hat dahinein das Räthsel des menschlichen Daseins und seine mannichfaltigen Lösungsversuche ‚geheimnißt‘. Dieses Gedankendepot ist ewiger Stoff für die schöne Darstellung.48

Ruft Schwind in diesem Bild aus dem „Mittelreich“ die berühmte Nymphe Melusine auf, so ist diese als Elementargeist einem neuen Verfahren künstlerischer Sondierung und Auskultation geschuldet: Welterkundung wird so ein bildnerisches Projekt, das im feuchten Grund des Gemäldes seinen Ursprung nimmt. || 45 Scholl: Revisionen der Romantik, S. 314. 46 Meyer: Schwinds schöne Melusine, S. 26f., hier S. 26. 47 Schlegel: Kunstlehre, S. 330. 48 Meyer: Schwinds schöne Melusine, S. 27.

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Nicht von ungefähr fühlt sich der Betrachter an die Metapher des „stillen Grundes“ erinnert, die von Eichendorff in einem berühmten Gedicht des Jahres 1837 eingesetzt wurde.49 Wie dort die Stimmen der Natur ‚flüstern‘, ‚rauschen‘ und ‚singen‘, so wird auch in Schwinds Gemälde ein Verhältnis inszeniert von Mensch, Natur und Malerei, das nicht allein das Wasser, sondern die Waldeinsamkeit zum Ort werden lässt einer geahnten, nie aber sichtbar werdenden „Verstrickung und Verführung“50. Als Inspirationsquelle nähert sich der Maler dieser verloren geglaubten Natur, sucht ihre Stimmen zu hören und findet im stillen Grund die Nixe, der „die Rolle einer romantischen Muse zuges[prochen] wird.“51 Wohl nicht zufällig wird in Schwinds Gesamtwerk immer wieder das Bild der Nixe, der Sirenen und Najaden beschworen: Sein „letztes, tiefgreifendes, mit mozartischer Schönheit erfülltes Werk“, eben jene „schöne Melusine“ möchte Ludwig Richter für ein „wehmütige[s] Ausklingen einer großen, herrlichen Kunstepoche“52 halten – der Spätromantik, die im Zeichen der märchenhaften Nixe in Wogen und Wellen verklingt.53 Schwind schuf dabei eine zyklische Bilderzählung, deren „dramatische[r] Eindruck eine Totalwirkung auf einmal verlangt“54, wie er in einem Brief an Eduard von Bauernfeld schreibt – und diese panoramatische Wirkung einer „zäsurlosen Komp osition“55 vertraut er der Aquarelltechnik an: dem flüssigen Medium par excellence, den Farben, die zunächst im Wasser gelöst, Form gewinnen werden, als habe Schwind sie aus tiefer Quelle aufsteigen lassen. Dieser chromatische „Effekt“56 erklärt das Wasser zur prima materia gerade auch seines Kunstschaffens.57 Wird die Gestalt der Melusine zu einer poetologischen Figur verdichtet, inszeniert der Künstler einen „generativen Materiebegriff, der aus der Elementenlehre stammt“58 und auf ikonographischer wie auf produktionsästhetischer Ebene den Malereidiskurs der Spätromantik ausrichtet.

|| 49 Eichendorff: Der stille Grund – Werke in sechs Bänden, Bd. 1, S. 323f. 50 Stephan: Weiblichkeit, Wasser und Tod, S. 117–131, hier S. 127. 51 Ebenda, S. 121. 52 Mohn: Ludwig Richter, S. 99. Richter: Lebenserinnerungen eines deutschen Malers, S. 165 (Eintrag vom 11. Februar 1871). 53 Vgl. Olbrich: Das Märchen von der schönen Melusine. 54 Schwind: Briefe, S. 299 (Brief vom 25. Oktober 1852). 55 Olbrich: Das Märchen von der schönen Melusine, S. 132. 56 Tauber: Noch einmal: „Wider den Einfluss!“, S. 9–29, hier S. 22. 57 Vgl. Schütt: Vom Element zur Verbindung, S. 38–47. 58 Kramer: Elementargeister und die Grenzen des Menschlichen, S. 115.

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Abb. 4: Moritz von Schwind, Nixen an der Waldquelle, um 1846, Öl auf Leinwand, 70,2 x 42,0 cm. 1869 durch Adolf Friedrich Graf von Schack erworben, Inv. Nr. 11586, München: Neue Pinakothek. Foto: bpk | Bayerische Staatsgemäldesammlungen.

Auch die Waldlandschaft (Abb. 4) mit den beiden Wassergeistern, die einen Hirsch tränken, ist eine Bildidee Schwinds, die sich nicht auf eine einzelne literarische Vorlage zurückführen lässt. Die beseelte Natur, das Spiel der Elementar-

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geister im innersten Dunkel des Waldes ist das Thema des Bildes: „Man glaubt das Regen und Flüstern in den Halmen zu hören. Und unwillkürlich steigen in dem Beschauer Bilder der Märchenwelt empor, die sich in den Nixen verkörpern“59, schreibt Graf von Schack. Schwind führt diese Bildidee in einem Gemälde des Jahres 1847/48 (Abb. 5) weiter aus: Steigt dort der Blick des Betrachters aus dem

Abb. 5: Moritz von Schwind: Nixen tränken einen Hirsch, um 1847/48, Öl auf Leinwand, 79,5 x 54 cm, unbezeichnet, Hamburg: Hamburger Kunsthalle, Inv. Nr. 1239. Foto: bpk | Hamburger Kunsthalle | Elke Walford.

|| 59 Von Schack: Die Gemälde-Galerie des Grafen Schack, S. 11.

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Grund des Bildes auf, wird er zunächst der Gestalt eines Reiters im Mittelgrund gewahr, um schließlich dem Regenbogen sehend zu folgen. Diese ideale Rezeptionsfolge ist einem zeitlichen Verlauf der Betrachtung geschuldet, die Schwind wirkmächtig vorstrukturiert hat. Horizontal ist die Schichtung des Bildes, die als strukturelles Angebot verstanden werden darf: ‚Sprünge der Einbildungskraft‘ werden so leichter ermöglicht, um zwischen entferntem, da mittelalterlichem Ritterbild und den Nymphen und Nixen zu vermitteln, die als naturwissenschaftlich aktualisierte Elementargeister den Bildgrund beleben. Allerdings wird für diese Wasserwesen der Tod Auflösung und Rückkehr in ihr feuchtes Element bedeuten, heißt es doch etwa in Fouqués Undine: „Wir, und unsers Gleichen in den anderen Elementen, wird verstieben und vergehn, mit Geist und Leib, daß keine Spur von uns rückbleibt, und wenn ihr Andern dermaleinst zu einem reinern Leben erwacht, sind wir geblieben, wo Sand und Funk’ und Wind und Welle blieb.“60 Während die seelenlosen Elementargeister in die „ephemeren Erscheinungsgestalten der unbelebten Materie zurückkehren, garantiert die Seele den Menschen die […] Auferstehung.“61 Und um diese Hoffnung des Menschen geht es, betrachtet man den weißen Hirsch, ist dieser doch Symbol für den Menschen, der nach Gott sucht: „Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser, so lechzt meine Seele, Gott, nach dir“, heißt es in Psalm 42,2. Schwinds Bildfindung vermisst so die Möglichkeiten einer aktualisierten Allegorese, die die Einsamkeit des Ritters aufhebt in der bergenden Zeitenfolge der Heilsgeschichte. Eingetaucht in den Lichtzauber des Regenbogens, in die Farben des Neuen Bundes wird aus der Quelle im Waldesinneren das Wasser des Lebens. Die Elementargeister werden zu Patinen einer Taufhandlung, die dem Ritter das ewige Leben verspricht – während sie selbst vergehen müssen. Der Stimmungsreiz dieser traumhaften Waldlandschaft kehrt wieder in einer Sepiazeichnung (Abb. 6), die Schwind nach dem Tod seines Freundes Joseph von Spaun ausführte: Unterhalb eines Gedenksteins, der am Ufer eines Sees steht, trauern in den Wellen „schilfbekränzte Nixen, umfangen einander tröstend“62 und umfließen das Ufer wie in Eichendorffs Frau Venus, wo der Dichter am Ende eins wird mit der Natur.63 In Schwinds feinnerviger Gedenkzeichnung feiert der Künstler im „Licht kalter und warmer Grautöne“ den „heimgegangenen Freund“64 auf besondere Weise: In dieser zeichnerischen || 60 De la Motte Fouqué: Undine, S. 85. 61 Kramer: Elementargeister und die Grenzen des Menschlichen, S. 118. 62 Friedrich Gross: Katalogeintrag 430 – Ausstellungskatalog Moritz von Schwind. Meister der Spätromantik, S. 237. 63 Eichendorff: Werke in sechs Bänden, Bd. 1, S. 229; das Gedicht „Frau Venus“ wurde später in die Erzählung Das Marmorbild aufgenommen. 64 Wie Anm. 62.

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Märchen-Elegie scheint das verlockende Wasser auf, als ersehnte der Künstler dem Verstorbenen eine Entgrenzung, ja Verschmelzung und Vereinigung mit dem Reich der Elementargeister. Das Wasser wird zum Element dieser Sehnsucht und der „stille Grund“ zum symbolischen Ort dieser Wunscherfüllung.

Abb. 6: Moritz von Schwind: Nixen am Ufergrabmal für Joseph Freiherr von Spaun, 1865. Sepia und Aquarell über Bleistift auf Papier, 39,5 x 27,4 cm, Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett, Inv. Nr. SZ 13.

„Der modernen Welt“, so formulierte es Berthold Auerbach 1857, „die alle Lebenserscheinungen als Begriff und Gesetz zu fassen gewohnt ist, fehlt die mythenbildende und die symbolbildende Kraft.“65 Der „Deutungshorizont des alten Mundus symbolicus“ drohte, „in einem Vakuum ohne sinnstiftende Bilder [zu] versinken.“66 Moritz von Schwind arbeitet gegen dieses Vakuum an, füllt die Bildräume mit christlicher Symbolik und naturwissenschaftlichen Erkenntnissen,

|| 65 Auerbach: Vom Fest bei der Enthüllung des Schiller-Goethe-Denkmals, am 4. September in Weimar, S. 985. Ich zitiere diesen Bericht nach Hess: Lohengrin in Weimar oder: Die Spätzeit romantischer Bilder, S. 368. 66 Ebenda, S. 368f.

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denen er eine Hülle verleiht – im Sinne der vertrauten allegorischen Tradition, die die ungekannten Energien zu bannen verstehen. Graf von Schack schätzte Schwind und dessen lyrische, mitunter rätselhafte Bilderwelt außerordentlich, waren sie ihm doch Ausgangspunkt einer ästhetischen Erfahrung, die der „Remythisierung des ‚Romantischen‘“67 zuarbeitete. Schwinds Bereitschaft, sich einer sentimentalen Kunstsprache zu bedienen, wurde von Graf von Schack als Ausdruck einer unverstellten Künstlerschaft gewertet: „Ich kenne kaum andere Werke der Malerei, die so unmittelbar aus der Empfindung auf die Leinwand übergegangen sind, und hierauf eben beruht die Gewalt, mit der sie den sinnvollen Beschauer immer und immer von neuem zu sich hinziehen.“68 Allerdings verkennt er aus der Distanz, die sich zeitlich zwischen die Arbeiten Schwinds und deren Erwerb für die Galerie gelegt hat, wie deutlich dem Künstler mit seinen ‚Reisebildern‘ daran gelegen war, ein Residuum zu schaffen: Im Zeichen des französischen Realismus sucht er den Weg ins Irrationale. Dem Wandel der Wahrnehmung antworten seine Bilder, die „auf das verlöschende Abendrot des christlichen Mittelalters, der alten feudalen Ordnung und ihrer Monumente melancholisch zurückblicken“69 und gleichsam dem Betrachter sanfte Gewalt antun. Die Verdrängung der Gegenwart scheint das Leitmotiv seiner Kunst zu sein, werden seine Bilder zum Ausdruck einer Zeit, die „keine Gegenwart“ mehr kennt, „sondern nur eine Vergangenheit und eine Zukunft“70 hat. Diese ‚fehlende Gegenwart‘71 ist Schwinds malerisches Exil, 72 das er einst freiwillig betrat, um es in aller Einsamkeit nie wieder zu verlassen.

|| 67 Hess: Lohengrin in Weimar oder: Die Spätzeit romantischer Bilder, S. 371 Anm. 33. 68 Von Schack: Die Gemälde-Galerie des Grafen von Schack, S. 10. 69 Hess: Lohengrin in Weimar oder: Die Spätzeit romantischer Bilder, S. 358. 70 Vischer: Über den Zustand der jetzigen Malerei − Kritische Gänge, Bd. 5, S. 38; Hess: Lohengrin in Weimar oder: Die Spätzeit romantischer Bilder, S. 361, Anm. 12. 71 Werner Busch: Die fehlende Gegenwart, S. 286–316, hier S. 290. 72 „So erscheint auf den ersten Blick die Bilderwelt der Romantik im Zeichen des Historismus […] konserviert, wobei die zuweilen trivialisierende Rezeptionsgeschichte auf der Ebene des ‚Bildungsbürgertums‘ eine Kontinuität der Bildtraditionen über die Jahrhundertewende hinaus garantiert.“ Hess: Lohengrin in Weimar oder: Die Spätzeit romantischer Bilder, S. 359f.

Rolf Füllmann

Franz Grillparzer: Das Kloster bei Sendomir Dokument einer österreichischen Romantik? Für Franz Grillparzer (1791–1872) war das Kloster eine Heterotopie, ein Raum außerhalb des gewöhnlichen Lebens, in den man aus den Gesetzen der Gesellschaft fliehen konnte, indem man eines erbauen ließ. So stellte er 1828, im Erscheinungsjahr seiner im Polen des 17. Jahrhunderts angesiedelten Klosternovelle, fest: Ob es Klöster geben soll? – Solange das Zölibat besteht, d. h. solange das Wesen der katholischen Geistlichkeit auf einem fortwährend exaltierten Zustand basiert ist, werden auch immer Anstalten sein müssen, die, von der bürgerlichen Gesellschaft abgesondert, Pflanzschulen in solcher, von der gewöhnlichen abweichenden, Sinnesart abgeben können.“1

Dieser durch die asketische Ausnahmesituation exaltierte Zustand des Klosterlebens führt bei der Hauptfigur und dem Erzähler der Binnen- und Ehebruchsnovelle im polnischen Kloster bei Sendomir dann zu Bekenntnissen wie: „Nicht wahr, davon wißt Ihr nichts, Malteser? Ja, ja, bei dem alten Mönch rappelts einmal wieder!“2 Schon hier knüpft die Erzählung mit der Gestalt des lüsternen Mönchs an die romanische Novellentradition der Renaissance an, etwa an die vierte Geschichte des dritten Tages in Boccaccios Dekameron, in der ein „Mönch namens Don Felice […], ein ziemlich junger und wohlgestalteter Mann,“3 in einen Ehebruch verwickelt ist. Grillparzer liefert dann im 19. Jahrhundert eine josephinisch geprägte novellistische Studie über die Pathologie des Mönchtums. Die gerahmte, wendungsreiche und narratologisch gekreuzte Novellensilhouette des Klosters bei Sendomir fasst Johannes Klein in seiner Geschichte der deutschen Novelle gleichsam in einem Atemzug wie folgt zusammen: Zwei deutsche Ordensritter übernachten in einem neuen Kloster der Woiwodschaft Sendomir und werden von einem riesenhaften Mönch, vor dessen lodernden Augen sie erschrecken, bedient. Er erzählt ihnen die Geschichte des unseligen Klostergründers, des Grafen Starschensky. Der machte eine zur Bettlerin verarmte Adlige, Elga, von der Straße weg zur Frau, setzte ihre politisch verfolgte Familie in den früheren Stand und lebte mit Elga und dem gemeinsamen Kind auf seinem Schloß in ungetrübtem Glück. Da wurde er durch den

|| 1 Grillparzer: Werke, Bd. 2, S. 158. 2 Ebenda, S. 164. 3 Boccaccio: Das Dekameron, S. 161. https://doi.org/10.1515/9783110634709-008

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Verwalter vor einem umherschleichenden Mann gewarnt, spürte ihm nach und traf auf eine Kammerzofe Elgas, die eine Schuld verbarg. Zum ersten Mal stieß er mit Elga zusammen. Die Ahnung dunkler Zusammenhänge bestätigte sich, als er in einem Schmuckkästchen seiner Frau ein Bild fand. Es stellte einen Mann dar, der wie das Töchterchen, umgekehrt die Farben Elgas hatte. Die schwarzen Haaren und blauen Augen der Mutter entsprachen der goldblonden Haare und die schwarzen Augen des Kindes wie jenes Mannes: Oginskys, eines entfernten Verwandten der Elga. Nach der ersten großen Erschütterung raffte Starschensky sich auf und reiste nach Warschau, wo er erfuhr, daß Elga einst mit Oginsky verlobt gewesen war und den einsamen stillen Starschensky um der Sicherung willen hingenommen, um der Leidenschaft willen betrogen hatte. Er nahm Oginsky gefangen und kehrte heim. Elga, durch seine Veränderung geängstigt, beleidigte ihn durch Verdacht auf Ehebruch, und mit dämonischem Spott holte er sie nachts mit dem Kinde in einen alten Turm […]. Unter dem Tor sollte sie beim Haupt ihres Kindes schwören, daß sie Starschensky nie die Treue gebrochen hatte. Sie schwor. Er stellte sie dem gefesselten und geständigen Oginsky gegenüber. Sie wankte […] – Oginsky, der sich, entkettet, dem Grafen zum Zweikampf stellen sollte, entrann […]. Sie sollte das Kind des Ehebruchs töten, um sich zu retten. Sie zögerte, dann wollte sie […] das Kind opfern. Aber Starschensky, der diesen letzten Beweis ihrer Verworfenheit abgewartet hatte, stieß ihr das Schwert in den Leib. Mit Einwilligung des Königs verkaufte er seine Besitzungen und trat als Büßer in das Kloster, das er stiftete, immer mit dem Blick auf die Stätte seiner […] Rache. – Die beiden Deutschen haben begriffen, wen sie vor sich haben. Da ruft der Abt zur Bußstunde, und wie ein gequältes Tier stürzt Starschensky hinaus.4

Anhand der finsteren Einsiedler- und Mönchsnovelle Das Kloster bei Sendomir von Grillparzer kann exemplarisch nachverfolgt werden, ob es innerhalb der österreichischen Literaturgeschichte so etwas wie eine eigenständige Romantik gibt. Denn diese Novelle des kanonischen österreichischen Autors,5 der gegenüber Goethe seine „vereinzelte Stellung in Wien“6 beklagte und dessen Lebensspanne von der Goethezeit und der Französischen Revolution bis in die Epoche des Realismus und der (klein-)deutschen Reichsgründung reicht, steht sowohl in einer romanischen Tradition der Novellistik als auch in einer romantischen Tradition des Nachtstücks. Wynfrid Kriegleder hält in seiner Abhandlung über Die Romantik in Österreich fest, dass die „Frage, ob es überhaupt eine österreichische Romantik – wenn auch vielleicht als deutschen Importartikel – gab, […] in der

|| 4 Klein: Geschichte der deutschen Novelle, S. 194. 5 Brigitte Prutti zitiert in diesem Zusammenhang den „bekannten Wiener Feuilletonisten Ferdinand Kürnberger aus Anlass von Grillparzers achtzigstem Geburtstag am 15. Januar 1871“: „Grillparzer war in jedem Sinne berufen, ein großer deutscher Dichter zu werden. Er wurde nur Österreichs Grillparzer.“ Prutti: Grillparzers Welttheater, S. 9. Gerade in der Nachkriegszeit wurde Grillparzer in das Zentrum des Deutschunterrichts, der „erst ab dem Schuljahr 1955/56“ wieder so hieß, gerückt. Holzner: Österreich, S. 282. 6 Vgl. Grillparzer: Fragmente einer Selbstbiographie – Werke Bd. 2, S. 861.

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Literaturgeschichtsschreibung nicht unumstritten“ sei: „Denn es ist eine Tatsache, dass sich jene literarischen Gruppen, die man gemeinhin als ‚Vertreter der deutschen Romantik‘ bezeichnet, im norddeutschen protestantischen Raum konstituierten – in Berlin und Jena.“7 Kriegleder fragt sich in diesem Kontext, ob man etwa „die Wiener Tätigkeit eines Friedrich Schlegel noch als romantisch […] etikettieren“8 könne. Im Kontext der österreichischen Spätaufklärung nach 1800 hält Kriegleder fest, dass die Wiener Literaten zumeist auf der Seite des Berliner Aufklärers Friedrich Nicolai standen und „die alten Josephiner erst“ auf die Romantik reagierten, „als sie erkennen mussten, dass es sich bei dem neuen Unternehmen um keine Eintagsfliege handelte.“9 Und so kann es nicht verwundern, dass sich das „1818 bis 1824 von Joseph Schreyvogel“, einem mit Goethe und Schiller verbundenen10 Vertrauten und Förderer Grillparzers, „redigierte Taschenbuch Aglaja […] immer mehr den Romantikern“11 öffnete. In diesem literarischen Taschenbuch erschien Das Kloster bei Sendomir als „Almanach-Novelle“12 erstmals 1828. Damals spielte, indes die „literarische Romantik“ in Österreich „schon […] keine Rolle mehr.“13 Mithin scheitert in Österreich „eine ‚hausgemachte‘ Romantik […] von vorherein.“14 Und doch fällt auf, dass Brigitte Prutti in ihrer grundlegenden Darstellung Grillparzers Welttheater. Modernität und Tradition die Tragödie Die Ahnfrau (1817), den ungemein erfolgreichen Erstling des Autors, wie selbstverständlich als „schauerromantische[s] Stück“15 bezeichnet. In diesem Kontext ist es dann auch naheliegend, das Kloster bei Sendomir, den Novellenerstling Grillparzers, als schauerromantisches Nachtstück zu betrachten, denn auch der Prosatext „rekurriert“ wie das frühe Drama Grillparzers „auf zentrale Topoi der europäischen Schauerromantik“16, etwa auf das einsame nächtliche Schloss, den Ehebruch, das Familienverbrechen. Ja, auch das Requisit

|| 7 Kriegleder: Die Romantik in Österreich, S. 477. 8 Ebenda. 9 Kriegleder: Die Romantik in Österreich, S. 479. 10 Vgl. Grillparzer: Fragmente einer Selbstbiographie – Werke Bd. 2, S. 793. 11 Kriegleder: Die Romantik in Österreich, S. 489. 12 „Grillparzer selber bezeichnet dieses Werk in einem Brief an Paul Heyse vom 16. Juni 1870 als ‚Almanach-Novelle‘, was nahezu als Gattungsbezeichnung zu verstehen ist.“ Obermayer: Franz Grillparzer: Das Kloster bei Sendomir, S. 205f. 13 Kriegleder: Die Romantik in Österreich, S. 490. 14 Ebenda, S. 491. 15 Prutti: Grillparzers Welttheater, S. 21. 16 Ebenda, S. 52.

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des verrosteten Dolches in Die Ahnfrau findet seine Entsprechung in dem richtenden „Säbel“17 des Grafen in Das Koster bei Sendomir.

1 Grillparzers Das Kloster bei Sendomir und die romanische wie klassische Novellentradition Und dennoch weist die Novelle Grillparzers viele gattungsprägende Elemente des eher romanisch und eben nicht romantisch bestimmten traditionellen Novellendiskurses auf. Die jahrhundertalte Gattungsstabilität der Novelle18 beruht auf einem eher impliziten denn expliziten „Kommunikationsmodell der Novelle“19. Dieses ist verankert „in einem kommunikativen System zwischen Autoren, Theoretikern, Wissenschaftlern und Lesern“ sowie Verlegern, die sich interdiskursiv auf bestimmte Gattungsmerkmale einigen, die noch „die schärfsten Kritiker ihrer Verwendung“ durch „Ablehnung“20 bestätigen und sei es, indem sie über Stereotype klagen. Freilich: Die Novellenform ist dabei ein Produkt kommunikativen Handelns (Habermas), kein „substantiell Seiendes“21. Prägend ist hier vielmehr die altitalienische Tradition der Novellistik. Wenn sich der sehr belesene ehemalige „unbesoldete Praktikant bei der Wiener Hofbibliothek“22 Grillparzer 1822 fragt, ob „Goethe bei seiner neueren Prosa den Boccaz wissentlich vor Augen gehabt hat“23, so ist dies auch darauf zurückzuführen, dass er sich „die italienische Sprache“24 und novellistische Literatur des Südens früh zu eigen machte. Für Goethe, den Grillparzer wie auch Schiller früh rezipierte,25 war Boccaccios Novellenkonzept tatsächlich prägend: Und wieder kam er zurück auf die Heiterkeit, auf die Anmut, auf die fröhlich bedeutsame Lebensbetrachtung italienischer Novellen, mit denen er sich damals, je trüber die Zeit um ihn aussah, desto angelegentlicher beschäftigte. Dabei brachte er in Erinnerung, daß die

|| 17 Grillparzer: Werke, Bd. 2, S. 180. 18 Vgl. Füllmann: Einführung in die Novelle, S. 27–38. Die novellentheoretischen Ausführungen in diesem Aufsatz basieren wesentlich auf dieser Einführung sowie auf den im Literaturverzeichnis aufgeführten Aufsätzen des Verfassers. 19 Vgl. Kiefer: Novelle, S. 53f. 20 Ebenda. 21 Ebenda, S. 54. 22 Grillparzer: Werke, Bd. 2, S. 783. 23 Ebenda, S. 648. 24 Ebenda, S. 788. 25 Vgl. Grillparzer: Fragmente einer Selbstbiographie – ebenda, S. 757 und S. 768.

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heitersten jener Erzählungen ebenfalls einem trüben Zeitraume, wo die Pest regierte, ihr Dasein verdankten.26

Die Autorität Goethes spiegelt sich also auch im Novellenkonzept der Goethezeit wider. Die Affinität der Novelle Grillparzers zur überlieferten Novellenstruktur der Klassik erweist sich folglich schon durch ihren Untertitel, in dem es heißt: „Nach einer als wahr überlieferten Begebenheit“27. Das Wahrheitskriterium ist allein schon aufgrund der Tatsache, dass sich der Novellenbegriff vom italienischen Wort ‚novella‘28 für Neuigkeit ableitet, gewichtig. Eine erste Verwendung findet der Novellenbegriff im deutschen Sprachraum mithin in der Bezeichnung einer Zeitung, der Rigischen Novellen, die von 1682 von 1704 erschien und von der Hansestadt Riga aus Neuigkeiten aus aller Welt verbreitete.29 Schon zu Beginn der gängigen Geschichte der deutschen Novelle (also unter Ausschließung ihrer zahlreichen Vorbilder in Renaissance und Barock30) betont Wieland ihren Realitätsgehalt. So erläutert ein Herr M. in der Rahmenhandlung des Hexameron vom Rosenheim (1805) besagte Prosagattung, bevor er daran anknüpfend seine Novelle ohne Titel erzählt, die eben durch jenen Titel wie später auch Goethes Novelle (1828) einen paradigmatischen Charakter erhält31: Bei einer Novelle, sagte er, werde vorausgesetzt, daß sie sich weder im Dschinnistan der Perser [...] noch in einem anderen idealischen oder utopischen Lande, sondern in unserer wirklichen Welt begeben habe, wo alles natürlicher und begreiflicher zugeht und die Begebenheiten zwar nicht alltäglich sind, aber sich doch, unter denselben Umständen, alle Tage allenthalben zutragen könnten.32

Hugo Aust führt in Anknüpfung an Goethes Äußerungen in den Gesprächen mit Eckermann zum Novellenkriterium „wahr“ aus: „Zum Unerhörten und Neuen gesellt sich als dritte Eigenart der Begebenheit das Wahre (die ‚sich ereignete […]

|| 26 Falk: Goethe aus näherem persönlichen Umgange dargestellt, S. 120. 27 Grillparzer: Werke, Bd. 2, S. 159. 28 Aust: Novelle, S. 13f. 29 Vgl. die Homepage der Staats- und Universitätsbibliothek Bremen unter (4.8.2019): http://brema.suub.uni-bremen.de/zeitungen17/periodical/titleinfo/935900 – die Zeitschrift ist dort online zugänglich. 30 Siehe zu diesem bis in jüngste Veröffentlichungen unterschlagenen Kapitel der deutschen Novellengeschichte u. a. die Darstellungen von Hirdt: Boccaccio und die Kurzprosa des 16. Jahrhunderts, S. 28–36; sowie Haslinger: Vom Humanismus zum Barock, S. 37–55. 31 Siehe zu Wielands „Novellentheorie“ „im Ansatz“ und ihrem Bezug zu Goethe auch das Nachwort zum Hexameron vom Rosenhain von Peter Goldammer – Wieland: Das Hexameron von Rosenhain, S. 183f. 32 Ebenda, S. 95.

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Begebenheit‘ […]) […]. Die Wahrheit der Begebenheit kann sich schon an der Benennung der Figuren ausdrücken.“33 Freilich erschienen Goethes Gespräche mit Eckermann, die Grillparzer im Publikationsjahr als „von unschätzbarem Wert für den Einsichtigen“34 bewertete, erst acht Jahre nach der Novelle Das Kloster bei Sendomir. Das Wahrheitskriterium im Untertitel führt – ebenso wie die Binnennovelle als Lebensbeichte eines Verbrechers und Mörders – in diesem Fall eher zu Schiller als zu Goethe: „Eine wahre Geschichte“35 – so heißt lapidar der Untertitel zu Schillers Der Verbrecher aus verlorener Ehre von 1786, die ursprünglich wie Grillparzers Das Kloster bei Sendomir ebenfalls in einer Zeitschrift, Schillers Thalia, und zwar unter dem wahrheitsheischenden ursprünglichen Titel Verbrecher aus Infamie, eine wahre Geschichte erschien. Das auch in Grillparzers Novelle inszenierte Novellenkriterium der Mündlichkeit und somit eines Erzählers, der „nicht gewillt ist, alles mitzuteilen, was er weiß“36, trifft auch auf Schillers Journalerzählung zu: „Es ist anzunehmen, daß Schiller den Stoff der Erzählung aus mündlichen Berichten seines Lehrers Prof. Abel von der Militärakademie her kannte.“37 Der mündliche Bericht des Mönches wird wiederum durch die Erwähnung einer realen Gestalt der polnischen (und auch österreichischen) Geschichte im Novellenrahmen gleichsam dokumentarisch beglaubigt. Die deutschen Ritter reiten nämlich als „Boten des deutschen Kaisers […] an den Hof des kriegerischen Johann Sobiesky“, der als König von Polen unweit von Wien bei der Schlacht am Kahlenberg 1683 die Türken schlug.38 Diese explizit benannte historische Faktizität ermöglicht, „dass selbst romantische Werke, wenn sie ‚Novelle‘ genannt werden, als realistisch erscheinen.“39 Zum „Bild der Novelle“, auch der vorliegenden, zählt zudem nach Hugo Aust „die konzentrierte Leistung“40 einer Erzählung in einem Atemzug, hier der Lebensbeichte des zum Büßermönch gewandelten eifersüchtigen Grafen. „Aus der Erzählsituation leitet sich“ des Weiteren „automatisch der Rahmen ab.“41 Ganz unromantisch hat man es im Rahmen der Novellistik infolgedessen mit einem „Erzählen nach Mustern“42 zu tun.

|| 33 Aust: Novelle, S. 14. 34 Grillparzer: Werke, Bd. 2, S. 657. 35 Schiller: Sämtliche Erzählungen, S. 29. 36 Obermayer: Das Kloster bei Sendomir, S. 215. 37 Schiller: Sämtliche Erzählungen, S. 238. 38 In der Forschung wird „über das Chronicon slavo-sarmaticon des Procosius“ als frühmittelalterliche Quelle Grillparzers diskutiert, siehe Obermayer: Das Kloster bei Sendomir, S. 209. 39 Aust: Novelle, S,14. 40 Ebenda, S. 15. 41 Ebenda, S. 17. 42 Vgl. ebenda, S. 18ff.

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Alle diese Gattungsmerkmale wurden schon im Zuge der Aristoteles-Renaissance in der romanischen Welt des 16. Jahrhunderts in eine systematische Novellenpoetik eingefügt: die Lezione sopra il comporre delle novelle (1574) von Francesco Bonciani (1552–1619). Dieser humanistische italienische Gelehrte versuchte, die noch relativ neue Gattung der Novelle in das überlieferte poetologische Regelsystem einzubinden und so gültig zu definieren. Der Verfasser besagter Novellenpoetik war nicht nur Gelehrter und Geistlicher (ab 1613 Erzbischof von Pisa), sondern auch Diplomat, u. a. im Auftrag des Florentiner Herrschers Cosimos II. Ja, er wirkte durch seine Beteiligung an den Untersuchungen gegen Galilei sogar mit am Ende der Renaissanceepoche, die sein Werk prägte. Obwohl Boncianis Traktat erst um 1900 von Paul Ernst (1866–1933) ins Deutsche übersetzt und dann doch nicht publiziert wurde, es selbst in der deutschen Romanistik nicht berücksichtigt wird,43 sind in ihm schon beinahe alle gängigen Novellenkriterien enthalten. Diese Bauformen bzw. Muster im Sinne von Hugo Aust wiederum bilden die Novelle als erzähltechnisch und symbolisch überstrukturierte Prosa-Gattung (meist mittlerer Länge) aus. Besonders hervorzuheben sind hierbei folgende Epochen übergreifende Besonderheiten und Bausteine der Gattung, die zumeist schon im 16. Jahrhundert in der Poetik des oben erwähnten Erzbischofs Bonciani zu finden sind: Bereits in ihrer Spätrenaissancepoetik gilt wie später für Goethe und Grillparzer die Novellistik Boccaccios als allgemein akzeptiertes Gattungsmuster, obwohl sie thematisch sehr vielgestaltig ist. Das bedingt seit jeher auch eine gewisse Bevorzugung von Rahmenkonstellationen wie beispielsweise Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (1795) oder Christoph Martin Wielands Das Hexameron von Rosenhain (1805). Die Novellengattung besitzt eine wesensbestimmende Bildhaftigkeit, die sich etwa im Falle des Dekamerons in entsprechenden spätmittelalterlichen Buchmalereien (Ausgabe des Johann Ohnefurcht), in der deutschen Novellistik aber in aus der Bildenden Kunst übernommenen Gattungsbezeichnungen wie ‚Nachtstücke‘ (E. T. A. Hoffmann), oder ‚Blumenstück‘ (Jean Paul) niederschlägt. Viele Novellenautoren entnehmen der Kunstsphäre Bezeichnungen für || 43 Vgl. Wehle: Novellenerzählen. −Dass die Novelle „weder auf antike Muster zurückblicken kann, noch in den normativen Poetiken eines Scaliger; Boileau, Opitz oder Gottsched Beachtung fand“, wie Sascha Kiefer (Novelle, S. 25) feststellt, ist mithin insofern zu relativieren, als Francesco Bonciani einerseits antike Vorbilder (z. B. Lucius Apuleius mit seinem Goldenen Esel, aber auch die Milesischen Geschichten, auf die sich später Wieland im Hexameron von Rosenhain beruft) nennt. Andererseits ist der besagte Florentiner Renaissancehumanist literaturgeschichtlich in eben jener von Kiefer aufgeführten Reihe von Gattungstheoretikern zu verorten.

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Bildformen und übertragen sie dann auf ihr eigenes Erzählwerk. Auch bestimmte Bildmotive (wie etwa der dunkle Schlossraum im flackernden Kerzenschein im ‚Nachtstück‘) werden von der Bildenden Kunst auf die Literatur übertragen. Die Bildhaftigkeit der Novelle ist eng mit ihrer Sinnbildhaftigkeit verbunden. So ist in Grillparzers Ehebruchnovelle – ähnlich wie in Goethes ‚Wahlverwandtschaften‘ – das im Bild festhaltene Gesicht des Oginsky wie seines Kindes ein Sinnbild des vermeintlichen oder tatsächlichen Ehebruchs.44 Doppelbödig ist nicht nur die Novellenhandlung, doppelbödig ist auch das Kästchen, das das verräterische Bild offenbart: Der Deckel des Schmuckkästchens, augenscheinlich ein doppelter, war durch den Sturz vom Tische aus den Fugen gewichen, und da der Graf versuchte, ihn, mit dem Finger drückend, wieder zurückzupressen, fiel der innere Teil der doppelten Verkleidung auf den Boden und zeigte in dem rückgebliebenen hohlen Raume ein Porträt, das, schwach eingefügt, leicht von der Stelle wich und das nun der Graf hielt in der zitternden Hand. Es war das Bild eines Mannes in polnischer Nationaltracht. Das Gefühl einer entsetzlichen Ähnlichkeit überfiel den Grafen wie ein Gewappneter. Da war das oft besprochene Naturspiel mit den schwarzen Augen und blondem Haare, wie – bei seinem Kinde – Er sah das Mädchen an, dann wieder das Bild. – Diese Züge hatte er sonst schon irgend gesehen; aber wann? wo? – Schauer überliefen ihn. – Er blickte wieder hin. Da schaute ihn sein Kind mit schwarzen Schlangenaugen an, und die blonden Haare loderten wie Flammen, und die Erinnerung an jenen verschmähten Vetter in Warschau ging gräßlich in ihm auf. – Oginsky! schrie er und hielt sich am Tische [...].Ein Geräusch im Nebenzimmer schreckte ihn empor. Er befestigte den Deckel an seine Stelle, schloß das Kästchen, das Bild hatte er in seinen Busen gesteckt; so floh er, wie ein Mörder.45

Hier vollendet sich die „schrittweise Enthüllung durch Verhüllung“46 in Grillparzers Novellendramatik. Die Novelle gilt als ‚Schwester des Dramas‘ (Storm), was aber in der ursprünglichen Renaissancepoetik der Gattung jedoch neben bestimmten tatsächlichen Gattungsspezifika v.a. der Autorität der Tragödientheorie des Aristoteles geschuldet ist. An dieser haben sich alle poetologischen Systeme zu orientieren. Eine (niedrige) Gattung wie die Novelle sollte sich am (höherrangigen) Drama orientieren. Deshalb war auch die Novellentheorie auf die Dramentheorie

|| 44 Johannes Klein hält zu Goethes novellenähnlichem Roman, an den Grillparzer offensichtlich anknüpft, in seiner Geschichte der deutschen Novelle dazu Folgendes fest. „Das Kind der seltsamen Liebesnacht wird geboren; es hat die Züge des Hauptmanns und die Augen Ottiliens, und doch ist Eduard der Vater und Charlotte die Mutter.“ Klein: Geschichte der deutschen Novelle, S. 69. 45 Grillparzer: Werke, Bd. 2, S. 175. 46 Obermayer: Das Kloster bei Sendomir, S. 218.

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ausgerichtet. Novellen werden jedoch nicht nur Dramen nachgebaut. Shakespeares Romeo und Julia, aber auch sein Othello basieren umgekehrt auf altitalienischen Novellen. Im Falle Grillparzers wäre etwa eine Korrelation zwischen dem Schauerdrama Die Ahnfrau und der Schauernovelle Das Kloster bei Sendomir zu konstatieren.47 Es ist überdies auch kein Zufall, dass der Grillparzer-Verehrer Gerhart Hauptmann 1896 unmittelbar „nach der Lektüre von Grillparzers Novelle […] in vier Tagen […] das Kurzdrama Elga“48 nach der Vorlage niederschrieb. An die Dramenstruktur knüpft die zentrale Stellung des Wendepunkts oder Umschlags (Peripetie) von Nichtwissen in Wissen, meist mittig in der Novellenhandlung, an. Dies ist auch in Boncianis Renaissancepoetik wie später beim Romantiker Ludwig Tieck schon verbunden mit dem Element des Wunderbaren. Die Schicksalswende der Novelle führt die Handlung in andere Sphären. Im Falle der Grillparzer-Novelle hätten wir es bei diesem Umschlag mit der Erkenntnis des Ehebruchs der Elga anhand des versteckten ‚Mannsbilds‘ des Rivalen Oginsky zu tun. Inhaltlich gehört demzufolge zur Tradition der Gattung oft die stoffliche Konzentration auf die Liebeskonstellation des novellistischen Dreiecks, bei dem seit der altitalienischen Novellistik meist der Kampf zweier Liebender um eine Geliebte vorherrscht, dem der feige Rivale Starschenskys bei Grillparzer allerdings ausweicht. In seinen Aphorismen reflektiert Grillparzer im Jahre 1822 das novellistische Dreieck auch (‚gender‘-)theoretisch, in dem er konstatiert, dass der „Mann […] durch seine Untreue seiner Frau ein Unrecht“ antut, „die Frau, indem sie untreu ist, dem Mann einen Schimpf. Die Frau eines untreuen Mannes bedauert man, über den Mann einer untreuen Frau spottet man. Schon hierin liegt genug von dem Unterschiede, der zwischen beiden Geschlechtern in bezug auf den Grad der Beleidigung obwaltet, die sie sich durch Untreue zufügen.“49 Die ohnmächtige Wut des gehörnten Ehemanns und Grafen sowie späteren Mönchs in Das Kloster bei Sendomir ist aufgrund der Geschlechterverhältnisse plausibel motiviert. Liebesnovellen können sich im Falle einer tragischen Verwicklung zu Schicksalsnovellen ausweiten, v.a., wenn „Vorsicht und Maske“50 in der Erzählung fallen. Hervorgehoben wird schon 1574 bei Bonciani die gattungsspezifische Bedeutung eines Zeichens, das später als Zentralmotiv und Zentralsymbol fungiert, wobei hier nicht – wie bei Paul Heyse – der Falke Boccaccios, sondern z. B. das

|| 47 Vgl. zum Bezug zwischen Die Ahnfrau und dem Kloster bei Sendomir ebenda, S. 207. 48 Sprengel: Gerhart Hauptmann, S. 288. 49 Grillparzer: Werke, Bd. 2, S. 1153. 50 Obermayer: Das Kloster bei Sendomir, S. 216.

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Ringmotiv oder körperliche Merkmale als handlungsbestimmende Kennzeichen genannt werden. Diese Bausteine bewegen oft die Handlung vorwärts, z. B., indem Menschen besagten Ring besitzen wollen und so zu Aktionen motiviert werden. Auch äußere Familienmerkmale wie Augen- oder Haarfarbe können jene zentralmotivische Rolle übernehmen. In Das Kloster bei Sendomir motivieren sie etwa den Verdacht des Grafen Starschensky. Die äußerste Brutalität in der Bestrafung des novellentypischen Ehebruchs oder anderer sexueller Vergehen, die der spätere Einsiedler gegen seine Gegnerinnen und Gegner walten lässt, fügt sich ebenfalls in die Novellentradition. „Starschenskys Rache hat nichts mit gewöhnlicher Eifersucht zu tun, sondern ist vielmehr der leidenschaftliche – darum aber wieder schuldhafte Versuch, das Unedle und Niedrige in der Welt zu zerstören.“51 Nicht nur die zeitgenössischen Novellen Kleists, die Grillparzer 1818 mit der Bemerkung „Die Sujets sind interessant. Die Erzählung ist gut, zum Teil vorzüglich, und doch wandelte mich ein äußerst widerliches Gefühl bei der Lesung an“52 kommentiert, auch Boccaccios Dekameron kann sehr grausam sein. Da ist beispielsweise die Geschichte der Ghismonda zu nennen, deren eifersüchtiger Vater ihr das Herz ihres heimlichen Liebhabers servieren lässt (Dekameron IV, 1).53 Eheliche Eifersucht und die mit ihr verbundene Bestrafung einer Ehebrecherin ist wie in Grillparzers Büßernovelle auch das Thema der „zweiunddreissigte[n] Erzählung“ des Heptameron der Margarete von Navarra, die den Untertitel trägt: „Wie ein Edelmann sein ehebrecherisches Weib bestraft, nachdem er ihren Geliebten erstochen hatte.“54 Die Strafe besteht darin, dass die untreue Ehefrau zwar im Gegensatz zu Elga überlebt, aber beim Essen aus einem „Totenkopf, dessen Öffnungen mit Silber verschlossen waren“55, trinken muss. Es handelt sich dabei um den Schädel ihres vom Gatten erstochenen Liebhabers. Im Novellenrahmen wird diese grausame Ehegeschichte mit den Worten „Ich finde diese Strafe ganz richtig […], denn so

|| 51 Himmel: Geschichte der deutschen Novelle, S. 197. 52 Grillparzer: Werke, Bd. 2, S. 667. 53 Das Argumentum jener mit der Herzmaere des Konrad von Würzburg verwandten ,novella‘ lautet wie folgt: „Tancredi, Fürst von Salerno, tötet den Geliebten seiner Tochter und schickt ihr sein Herz in einer goldenen Schale; sie aber gießt vergiftetes Wasser darüber und stirbt“. Boccaccio: Das Dekameron, S. 216. Sowohl, was die Nobilität der handelnden Personen als auch, was die Brutalität der Handlung betrifft, fällt diese ‚novella‘ aus dem Rahmen der komödiantisch-bürgerlichen ‚novella‘, der Boncianis Hauptaugenmerk gilt. Die sozial hochgestellten Persönlichkeiten in der Novellenhandlung Boccaccios bilden aber wiederum eine Parallele zu Das Kloster bei Sendomir. 54 Margarete von Navarra: Das Heptameron, S. 255. 55 Ebenda, S. 222f.

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läßt sich jedes Verbrechen sühnen, nach dem Tode aber nicht mehr“56 kommentiert. Zusätzlich ist also der strukturierende, oft in beschaulichem Milieu angesiedelte und kommentierende Novellenrahmen hervorzuheben. Novellen werden oft in geselligem Rahmen erzählt, etwa in Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten von 1795 oder bei Grillparzer im Kamingespräch unter Männern. Nicht der unbekannte Novellentheoretiker Bonciani, sondern der bekannte Novellenautor Boccaccio hat diesen Baustein in der Renaissanceepoche als erster eingesetzt. Jener Novellenrahmen ist eigentlich schon anthropologisch durch die Alltagssituation des Erzählens festgelegt und auf diese Weise naheliegend. Die Novelle Das Kloster bei Sendomir erscheint auf diese Weise gleichzeitig als realistisch und als klassisch an den tradierten narrativen Mustern orientiert.

2 Grillparzers Das Kloster bei Sendomir als schauerromantisches Nachtstück Grillparzer wirkt somit auch als Novellenerzähler als mustergültiger Klassiker. In der Distanz österreichischer Autoren gegenüber den mittel- und norddeutsch verorteten „faselnden Romantiker[n]“57 stellt er im Habsburger Reich keine Ausnahme dar. Im Erscheinungsjahr der Mönchsnovelle Das Kloster bei Sendomir erscheint ihm Novalis als „Vergötterung des Dilettantismus“ und er konstatiert gut josephinisch: „Mönche und Klausner mögen ‚Hymnen an die Nacht‘ heraustönen, für tätige Menschen ist das Licht!“58 Trotz dieser aufklärerischen Lichtmetaphorik der bürgerlich-revolutionären Epoche nach 1789 hat die zeitgleich erschienene Novelle um den Klosterbruder Starschensky, der als „Erzähler“ des eigenen Schicksals und der Binnennovelle „immer wieder in Gefahr gerät, sein Geheimins zu verraten“59, durchaus Züge eines Nachtstücks. Das „semantische Feld“ des „Abend[s] (als Übergang von ‚Tag‘ zu ‚Nacht‘)“ 60 dominiert atmosphärisch in der Novellenhandlung.

|| 56 Ebenda, S. 225. 57 Vgl. Grillparzer: Fragmente einer Selbstbiographie – Werke, Bd. 2, S. 790. 58 Ebenda, S. 664f. 59 Obermayer: Das Kloster bei Sendomir, S. 217. 60 Leitgeb: Grillparzers „Kloster bei Sendomir“ und Musils „Tonka“, S. 350.

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Schon in seinem ersten Gedicht besang Grillparzer im Jahre 1804 den Mond und seinen „holde[n] Schimmer“61 und bereits als Kind führte er mit seinen Spielkameraden „nur Ritterstücke“62 auf, wie er in seinen ‚Fragmenten einer Selbstbiographie‘ offenbart. Wer in die Epoche der Romantik hineingeboren wird, kommt anscheinend auch in Wien nicht um sie herum. Grillparzers Erzähltechnik ist nämlich durchaus als schauerromantisch, mithin als hoffmannesk einzustufen. Schon der Erzähler, Büßermönch und ehemalige Großherr erscheint wie Coppelius im Sandmann mit seinen „buschigten grauen Augenbrauen, unter denen ein Paar grünliche Katzenaugen stechend hervorfunkeln“63, als hoffmannesk-unheimliche Gestalt mit einem Blick „wie ein Wetterschlag, so grauenhaft funkelten die schwarzen Sterne aus den aschfahlen Wangen“64. Beiden, dem unheimlichen Mönch wie dem Advokat Coppelius, ist zudem ein „hämische[s] Lachen“65 bzw. ein „schmetterndes Hohngelächter“66 gemein. Hoffmann gibt mit der gattungsmäßigen Einordnung von Texten wie Der Sandmann oder Das Majorat unter den Titel Nachtstücke ein Bekenntnis zu eher ‚lichtscheuen‘ Abschattungen ab. Ähnlich ist die narrative Lichttechnik in Das Kloster bei Sendomir einzustufen. Nicht nur dieses liegt in nächtlichen Schatten, sondern auch die Liebe der Protagonisten erscheint von Anfang an im Zwielicht: Elgas Wirkung auf Starschensky ist von Anfang an mit dem Wortfeld der Nacht verknüpft. Sie ist ihm das Licht in der Nacht, der Blickpunkt seiner Liebe verknüpft sie mit dem Motivfeld des Mondes. Starschensky erzählt seine Geschichte, an die er sich schwer erinnert, weil der ‚Mond‘ trübe scheint, mit ‚dem Mond entgegengewendeten Haupt‘ (III, 122f). Er lernt Elga in der Nacht kennen. ‚Hals und Arme schimmerten weiß durch die Nacht‘ (III, 123). […] Oginsky bewegt sich räumlich zwischen Starschensky und dem Mond als Symbol für dessen Liebe zu Elga. Entsprechend tötet Starschensky Elga in einer ‚mondlosen Nacht‘, im künstlich gewalttätigen Licht einer ‚Blendlaterne‘.67

„,Nacht‘“ wurde, wie Harmut Steinecke herausstellt, „ein Schlüsselbegriff der beginnenden Romantik, daher breiteten sich Zusammensetzungen mit ‚Nacht‘ rasch aus (Nachtwachen von Bonaventura, Nachtseite der Naturwissenschaft). Hoffmann griff mit ‚Nachtstück‘ also auf eine relativ geläufige und in populärem

|| 61 Grillparzer: Werke, Bd. 2, S. 699. 62 Ebenda, S. 753. 63 Hoffmann: Der Sandmann − Fantasie- und Nachtstücke, S. 334. 64 Grillparzer: Werke, Bd. 2, S. 160. 65 Hoffmann: Der Sandmann − Fantasie- und Nachtstücke, S. 334. 66 Grillparzer: Werke, Bd. 2, S. 161. Vgl. auch ebenda, S. 178. 67 Leitgeb: Grillparzers „Kloster bei Sendomir“ und Musils „Tonka“, S. 353.

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Kontext stehende Bezeichnung zurück, auch wenn der Begriff immer noch in erster Linie auf die bildende Kunst angewandt wurde.“68 Hannes Leopoldseder siedelt in seiner Abhandlung Groteske Welt. Ein Beitrag zur Geschichte des Nachtstücks in der Romantik den Ursprung des Nachtstück-Begriffes in der bildenden Kunst im italienischen Kulturraum an. Steinecke verweist hier auf den wohl ersten Kunsthistoriker „Giorgio Vasari […] in seinen Künstlerbiographien (1550)“69. Ins Deutsche dringt der Bildbegriff zur Barockzeit ein und in „England wurde der Begriff ‚Night Piece‘ bereits im 17. Jahrhundert auf die Dichtung übertragen.“70 Leopoldseder zitiert u.a. den Artikel „Nachstücke“ aus Krünitz’ Encyclopädie von 1805: „Nachtstücke, sind Zeichnungen oder Gemählde, deren Scene weder Sonne noch Tageslicht empfängt, sondern nur den Mond, durch Fackeln oder angezündete Lichter unvollkommen erleuchtet wird.“71 Vor Hoffmann wurde der Begriff auch in den Nachtstücken des Johann Franz Ludwig Schwarz (1795) auf die literarische Ebene transponiert. Steinecke nennt hier u.a. die nachtstückhafte literarische Gattung des ‚Klosterromans‘ und „Klöster“ als Schauplätze, was sich zu Schauplatz und Sujet der unheimlichen Grillparzer-Novelle fügt.72 Die „altertümliche[n] Spitzformen“73 des Klostergebäudes bei Sendomir fügen sich überdies passend zu den „Handlungsorte[n] des gotischen Romans“74. Es entfalten sich bei Hoffmann wie bei Grillparzer Szenerien, die vor allen Dingen nachts bei flackerndem Licht besonders konturenreich sind. Dies hat dann im Majorat Hoffmanns in „entlehntem Licht“ phantastische nächtliche Wirkungen: […] und der helle Vollmond strahlte durch die breiten Bogenfenster, alle finstre Ecken des wunderlichen Baues, wohin der düstere Schein meiner Kerzen und des Kaminfeuers nicht dringen konnte, magisch erleuchtend. So wie man es wohl noch in alten Schlössern antrifft, waren auf seltsame altertümliche Weise Wände und Decke des Saals verziert, diese mit schwerem Getäfel, jene mit phantastischer Bilderei und bundgemaltem, vergoldetem Schnitzwerk.75

|| 68 Steinecke: Die Kunst der Fantasie, S. 263. 69 Ebenda, S. 260. 70 Ebenda, S. 261. 71 Krünitz: Ökonomisch-technologische Encyclopädie, Th. 100, S. 292f. Vgl. Leopoldseder: Groteske Welt, S. 32 (mit Übertragungsfehlern). 72 Steinecke: Kunst der Fantasie, S. 265. 73 Grillparzer: Werke, Bd. 2, S. 159. 74 Steinecke: Kunst der Fantasie, S. 265. 75 Hoffmann: Das Majorat, S. 495.

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Kurz vor ihrem grausigen Ende erscheinen auch die Familie und das alte Anwesen des polnischen Grafen nächtlich in künstlichem Licht, diesmal ohne Mondenschein: Die Nacht war kühl und dunkel. Die Sterne zwar schimmerten tausendfältig am trauergefärbten Himmel, aber kein Mond beleuchtete der Wandler einsamen Pfad, nur des Grafen Blendlaterne warf kurze Streiflichte auf den Boden und die untersten Blätter der mitternächtig schlummernden Gesträuche.[…] Der Graf schloß auf. Sie stiegen eine schmale Wendeltreppe hinan, die zu einer gleichfalls verschlossenen Türe führte. Der Graf öffnete auch diese, und nun traten sie in ein geräumiges Gemach, dessen innerer Teil durch einen dunklen Vorhang abgeschlossen war. Der Graf setzte Stühle an einem vorgeschobenen Tische zurecht, entzündete an dem Lichte seiner Blendlaterne zwei Wachskerzen in schweren, ehernen Leuchtern.“76

Hier wirkt durch das Lichtspiel der Blendlaterne wie der Leuchter das schwarzweiße Schattenspiel der Schloss- und Klosternovelle vor der Enthüllung des Ehebrechers und des Ehebruchs fast filmhaft, was sich auch durch gleich zwei Verfilmungen des Textes in der Stummfilmzeit stützen lässt.77 Grillparzers Kloster bei Sendomir formiert sich somit als schauerromantisch ausgemaltes Nachtstück, gesetzt in einen romanisch-novellistischen Rahmen. Zumindest in der populären Journalnovelle war deswegen auch in Österreich die Romantik höchst lebendig.

|| 76 Grillparzer: Werke, Bd. 2, S. 179. 77 So wurde die Novelle 1912 als Das Kloster von Sendomir (Regie: Friedrich Fehér) und 1920 als Das Geheimnis des Klosters (Klostret i Sendomir) filmisch adaptiert.

Konrad Feilchenfeldt

Außenseitertum in Clemens Brentanos Judendarstellung Romantisches Erzählen im Vorfeld von Paul Heyses ‚Falkentheorie‘ Wenn von Judentum die Rede sein soll, kann dazu als Begriff aus Ernst Blochs Das Prinzip Hoffnung auch ‚Einsamkeit‘ aufgerufen werden. Judentum wird dabei aber „nie zum Denkanstoß“, sondern bleibt „höchstens ein akzidentelles Moment der Herkunft“, so Hans Mayer. ‚Einsamkeit‘ versteht sich dementsprechend nicht als Erfahrungswert einer Auseinandersetzung mit der eigenen jüdischen Identität zur Bestimmung ihrer Individualisierung. Worum es Bloch geht, ist die begriffliche Verbindung zwischen dem „Einsamen und Untypischen“. Bloch betont in seiner Würdigung des Judentums „die Nichtbeachtung der außenseiterischen Subjektivität; die ungeduldige Verlegenheit vor Einsamkeiten, welche nicht durch ein Kollektiv geteilt werden“.1 Auch Mayer interessiert sich deswegen in der Nachfolge von Ernst Bloch nicht für den Einsamen als Einzelperson, sondern für die Einsamkeit des Außenseiters in seiner Zugehörigkeit zu einem Kollektiv und vor allem historisch mit Blick auf die Integration des Außenseiters in der Gesellschaft des 18. Jahrhunderts im Zuge von Aufklärung und Französischer Revolution,2 und damit schließt sich, wie gezeigt werden kann, sogar ein Kreis unter Einschluss der hier zur Diskussion gestellten Erzähltexte von Clemens Brentano. Auch für Brentano ist die Epoche am Übergang vom Ancien Régime zur Französischen Revolution ein historisches Umfeld, an dem sich die gesellschaftliche Stellung der Juden im Spannungsfeld von Außenseitertum und Integration erproben und bewähren kann. Es geht ihnen darin allerdings nicht besser oder schlechter als allen anderen Menschen, die diese Epochenwende erlebt haben, so dass ihre jüdische Identität infolge der historischen Umwälzungen gar nicht immer ohne Weiteres zu erkennen ist, und deswegen folgt hier auch der Verweis auf Paul Heyse, der mit seiner Frage „Wo ist der Falke?“ keine ornithologische Grundlegung seiner Novellentheorie anstrebte, sondern die Umschreibung eines || 1 Mayer: Außenseiter, S. 10f. 2 Ebenda, S. 10. Bloch: Das Prinzip Hoffnung, Bd. 3, S. 1103f., 1125–1143, bes. 1127. Die gleiche Differenzierung, unter Bezugnahme auf Stifters Figur des Juden Abdias, betont auch Meyer: Der Sonderling in der deutschen Dichtung, S. 171. https://doi.org/10.1515/9783110634709-009

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novellistischen Strukturmerkmals beim Erzählen, eines Narrativs,3 dessen Muster er der Neunten Novelle des Fünften Tages aus Boccaccios Dekameron entnahm.4 Der Heyse’sche Falke ist deswegen als Teil eines Narrativs nicht zwingend ein Geflügel, geschweige denn ein Falke, ebenso wenig wie die Gestalt des Juden bei Brentano als Vertreterin einer bestimmten Rasse, Religion oder auch nur eines bestimmten sozialen Standes, einer Kultur, verstanden zu werden braucht und auch nicht verstanden werden soll; sie hat dafür aber Vorbilder und darunter sogar ganz unterschiedliche, in deren Nachfolge die Aufschlüsselung ihrer jüdischen Identität zu einer narratologischen Aufgabe wird und trotz aller Vorbehalte im Sinne politischer Korrektheit jetzt nicht etwa als Beitrag zur fortgesetzten Erörterung der ‚Judenfrage‘ verstanden werden soll.5

1 In Anbetracht der Tatsache, dass das Genus der Erzählung in Brentanos Gesamtwerk nach 1815 eine bemerkenswerte Dichte erreicht,6 ist es nicht weiter auffällig, wenn aus der damit verbundenen Schaffensphase auch eines der deutlichsten Beispiele seiner Judendarstellung in Erzähltexten überliefert ist. Die als Jude bezeichnete Figur in der Erzählung Die Schachtel mit der Friedenspuppe ist in ein verbrecherisches Geschäft verwickelt, das der Erzähler im Zuge einer aus dem Detektivroman bekannten analytischen Erzähltechnik dem Leser nach und nach offenlegt. Die Figur des Juden ist durch ihre Beteiligung als gewerbsmäßiger Nutznießer in einem betrügerischen Komplott für Brentano kein Sympathieträger, sondern im Gegenteil Ziel einer zwar nicht expliziten, aber unterschwellig antijüdischen Kritik.7 Die erste Frage in Bezug auf die Rolle dieser Figur in Brentanos Erzählung gilt hier jedoch nicht ihrer Funktion als Meinungsträgerin des Autors in Sachen Judentum, sie lautet jetzt vielmehr bezogen auf den diskursiven || 3 Thurau: Der Dolmetscher: Oliver Jahraus über das „Narrativ“, S. 11. 4 Boccaccio: Das Dekameron, Bd. 2, S. 204–214. Vgl. Krämer: „Wo ist der Falke?“, S. 367–369. 5 Vgl. zur Bewertung eines solchen Vorgehens Klüger: Die Leiche unterm Tisch, hier S. 104. – Zur Bestimmung jüdischer Identität bei Nicht-Juden vgl. das Fazit bei Vordermayer: Antisemitismus und Judentum bei Clemens Brentano, S. 251f. 6 Vgl. Schaub: Anhang. – In: Brentano: Sämtliche Erzählungen, S. 257−496, hier S. 271–275. 7 Vgl. Vordermayer: Antisemitismus und Judentum bei Clemens Brentano, S. 78–81. Puschner: Antisemitismus im Kontext der Politischen Romantik, S. 414f. – Weder Schaub: Anhang (In: Brentano: Sämtliche Erzählungen, S. 417) noch Kluge: Lesarten und Erläuterungen (In: Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 19, S. 750) erläutern das im Text dokumentierte Bekanntwerden von Dumoulins jüdischer Identität als narratologisches Geschehen.

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Verlauf der Erzählung ‚Wo ist der Jude?‘ oder ‚Wer ist der Jude?‘ Und die Antwort darauf, die in diesem Fall durch die Bezeichnung ‚Jude‘ belegt werden kann, steht erst am Schluss der Erzählung in einem als Texteinlage nicht wörtlich, sondern nur dem Sinne nach vom Erzähler zitierten Bekenntnisschreiben, das der als Verbrecher entlarvte und am Ende als Selbstmörder Verstorbene hinterlassen hat. Unser Prozeß ist sehr einfach geworden, sagte der Gerichtshalter: Er hat sich selbt gerichtet! – Nun las er den Anwesenden das Geständniß Dumoulins vor, welches wir hier im Auszuge mittheilen. Dumoulin war ein Jude gewesen, der aus Gewinnsucht schon in seinem 14ten Jahre die Rolle eines Christen zu spielen angefangen; er war eigentlich nie getauft, und hatte eine Menge Stände durchlaufen, bis er endlich die Tochter eines Todtengräbers heirathete und mit ihr den Dienst erhielt. Er hatte lange Zeit die Gräber geplündert, und war dadurch zu einem ansehnlichen Vermögen gekommen, das meistens in Ringen und Kleinodien bestand, die er aber nicht zu veräußern wagte.8

Unter diesen Lebensumständen konnte es dazu kommen, dass Dumoulin in ein Verbrechen verwickelt wurde, das für sein weiteres Schicksal bestimmend war. Es ging dabei um ein Geschäft mit einer Kinderleiche, jedoch nicht um Mord9 und deswegen auch ohne den Verdacht eines aus der Tradition antisemitischer Propaganda bekannten Motivs eines Ritualmordes.10 Die aus diesem Geschäft folgenden Komplikationen haben mit Dumoulins Judentum auch unmittelbar nichts zu tun. Es fällt sogar auf, dass er laut seinem Bekenntnisschreiben „ein Jude gewesen“ war, „der aus Gewinnsucht schon in seinem 14ten Jahre die Rolle eines Christen zu spielen angefangen“ hatte, aber „er war eigentlich nie getauft,“ das heißt: Eine widerspruchsfreie Qualifizierung als Jude oder Nicht-Jude ist das jedenfalls nicht.11 Bessere Argumente, um Dumoulin auf eine jüdische Identität festzulegen, könnte ein Katalog typisierender Merkmale liefern, ohne dass deswegen die Bezeichnung ‚Jude‘ ausdrücklich auftauchen müsste. Solche Merkmale sind in erster Linie immer die Familiennamen, unter denen Juden in der Literatur, und nicht nur in der Literatur, auf-

|| 8 Brentano: Die Schachtel mit der Friedenspuppe – Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 19, S. 352. 9 Der Mordvorwurf wird zurückgenommen, aber im Text nicht aufgelöst. Vgl. ebenda, S. 344 und S. 352. Dazu Vordermayer: Antisemitismus und Judentum bei Clemens Brentano, S. 79. 10 Vgl. Klüger: Die Leiche unterm Tisch, S. 104. – Ich danke für die Erinnerung an diesen Aufsatz bei einem Kaffeepausengespräch Brigitte Prutti, University of Washington, Seattle. 11 Puschner: Antisemitismus im Kontext der Politischen Romantik, S. 377.

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treten.12 Weder Dumoulin noch der Name St. Luce, unter dem Dumoulin in die Erzählung eingeführt wird, haben dafür aber Hinweisfunktion.13 Es gibt nur zwei weitere, ganz unterschiedlich belastbare Hinweise, von denen der eine aus der von Brentano für seine Erzählung bearbeiteten französischen Quelle stammt und der andere aus einem Werk der deutschen Literaturgeschichte, das eine der frühesten, jedoch nicht kritischen, sondern sogar judenfreundlichen Judendarstellungen überliefert, nämlich den ‚edlen Juden‘ in Gellerts Leben der schwedischen Gräfin von G***; allerdings gibt es dazu bei Brentano bisher keinen Lektürenachweis.14 Die nachweislich von Brentano benutzte Quelle seiner Schachtel mit der Friedenspuppe ist ein ihm aus Arnims Privatbibliothek bekannt gewordenes Buch Le Prétendu Enfant Supposé, ou Mémoires de la Jeunesse du Comte de Letaneuf; „[...] Par Mr. [...] de Vaubreton. A la Haye [...] M. DCC. XL. [1740]“. Aus dieser Vorlage stammt das Motiv des Totengräbers, der sich gegen eine hohe Geldsumme bereitfindet, ein neugeborenes Kind gegen eine Kinderleiche austauschen zu helfen. Die Figur des Bösewichts trägt den Namen Evrard, der im Übrigen ebenso wenig ein jüdischer Name ist wie Dumoulin oder St. Luce, und was Evrard als Juden ausweist, beschränkt sich auf eine kurze Bemerkung der vermeintlichen Tochter des Totengräbers, der einem Gerücht zufolge bei seinem Wegzug aus Frankreich auch in Holland Station gemacht hat und zwar um zum Judentum zu konvertieren, „parce que la Religion, qui y est soufferte, permet l’usure“ [weil diese Religion dort geduldet und ihre Ausübung gestattet ist].15 Die jüdische Identität des Totengräbes in Brentanos Erzählung ist jedenfalls im Zusammenhang mit der Figur des Evrard in der von Brentano bearbeiteten Erzählvorlage von Vaubreton keine nachweisbare Anspielung.16

|| 12 Bering: Der Name als Stigma. – Eine bemerkenswerte Gegenmeinung vertritt erst kürzlich Luzzati: Per la storia dei cognomi ebraici di formazione italiana, S. 497f. mit Blick auf die Tatsache, „che, frequentemente, un medesimo cognome (per esempio, tanto per non andare molto lontano, ‚Rossi‘), è, ed è stato portato, indifferentemente, sia da ebrei che da non ebrei“. 13 Die Ausführungen von Schaub: Anhang (In: Brentano: Sämtliche Erzählungen, S. 410) und von Kluge: Lesarten und Erläuterungen (In: Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 19, S. 735f.) verweisen auf die namentliche Nähe zu Arnims Erzählung Melück Maria Blainville und die Figur des darin agierenden Saint Lük als eines Bösewichts. 14 Vgl. Martens: Zur Figur eines edlen Juden im Aufklärungsroman vor Gotthold Ephraim Lessing, S. 48–58. – Der private Buchbesitz der Brentano-Brüder dokumentiert von Gellert nur Ausgaben der Fabeln und Gedichte. Vgl. Gajek (Hrsg.): Clemens und Christian Brentanos Bibliotheken, S. 296, Nr. 2714 und 2715. 15 Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 19, S. 717. 16 Vordermayer: Antisemitismus und Judentum bei Clemens Brentano, S. 86.

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Möglicherweise ein besseres Indiz liefert der Vergleich mit der Figur des ‚edlen Juden‘ in Gellerts Leben der schwedischen Gräfin von G***. Wenn St. Luce erklärt, dass er von Berufswegen „zu Lyon Kirschner gewesen“, also „Pelzhändler“, und „beym Ausbruch der Revolution [...] im Dienste eines russischen Edelmanns nach Moskau gekommen“ sei und „sich dort etablirt“ habe,17 erfüllt er die Kriterien eines klicheehaften Berufsbildes, das auch der ‚edle Jude in Gellerts Roman als Kürschner voll bestätigt. Der jüdische „Pelzhändler“ liefert das ebenfalls russische Modell einer jüdischen Identität, die bei Gellert ihre Bestätigung aus der Jagd auf den Zobel bzw. auf den Pelz des Zobels bekommt, bei Brentano in der „Pelzmütze“, die mit Blick auf die Bekleidung von St. Luce neben dem „Pelzrock“ ausdrücklich als „Zobelmütze“ bezeichnet wird.18

2 Wenn davon ausgegangen werden darf, dass die Frage ‚Wo ist der Jude?‘ mit einem ‚Hier‘ beantwortet werden kann, nicht erst, wo die Figur des Dumoulin, sondern schon die des St. Luce auftritt, kommt der erste Treffer im Text der Erzählung Die Schachtel mit der Friedenspuppe sehr viel früher zustande als im Zusammenhang mit dem Verbrechen um die fingierte Totgeburt des Kindes. Die erste Erwähnung der erst sehr viel später als Jude bezeichneten Person fällt bereits zu Beginn der Erzählung, als ein „preußischer Edelmann [...] dicht an der sächsischen Grenze“ aus dem Krieg gegen die Franzosen wieder auf seine Besitztümer zurückgekehrt war und im Oktober 1814 die Feier des Jahrestags der Völkerschlacht zu Leipzig auszurichten begonnen hatte.19 Noch immer waren damals französische Gefangenentransporte in Deutschland unterwegs, und neben ihnen als Reisegruppe ein französisches Ehepaar mit zwei Kindern, die der Gutsherr bei sich zum Übernachten einlud. Zu dieser Gruppe gehörte auch St. Luce, der „Schwiegervater“ des Ehemannes, mit seinem bereits erwähnten „grünen russischen Pelzrock und einer Zobelmütze“, der jedoch „vorausgehend mit einem Gefangenen jenes Transports in ein Gespräch vertieft, sich in den Wald verloren“ hatte. Der „Schwiegervater“, der nichts von der Einladung mitbekommen hatte, musste deswegen noch gesucht || 17 Brentano: Die Schachtel mit der Friedenspuppe – Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 19, S. 328. 18 Ebenda, S. 322, S. 329, S. 332, S. 354. Vgl. Gellert: Leben der schwedischen Gräfin von G***, S. 79, S. 87. 19 Brentano: Die Schachtel mit der Friedenspuppe – Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 19, S. 315, S. 722f.

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und zurückgeholt werden, als der preußische Gutsherr, der sich, um ihn einzuholen, auf den Weg gemacht hatte, „plötzlich neben sich im Gebüsch ein Geräusch, wie von zwey heftig ringenden Menschen“ hörte: Der Baron eilte [da]zu, er sah den ihm beschriebenen Schwiegervater, den er suchte, von einem Franzosen niedergeworfen, der im Begriff war, ihm ein Messer ins Herz zu stoßen. Indem er den Mörder niederreißen wollte, hörte er deutsche Stimmen, und ein Schuß fiel, der seine Hilfe unnöthig machte. Der Franzose fiel; er war in den Unterleib getroffen.20

Diese Episode ist im Ablauf der Erzählung eine noch unverständliche Rückwendung, auf deren Kern und Auflösung der Erzähler erst noch zu sprechen kommen wird. Mit Blick auf die im Zeitpunkt des Zweikampfs zwischen den beiden Männern noch ungeklärte Identität des St. Luce, übrigens ebenso wie die seines Gegenspielers Sanseau, dessen Name noch nicht einmal genannt wird, sind dafür immerhin Hinweise in den Text eingebaut, die auf eine Verunsicherung im Persönlichkeitsbild von St. Luce abzielen, so wie der Satz, der die Identität des Schwiegervaters umschreibt: „Der Mann, den der Baron gesucht hatte, und den wir künftig St. Luce nennen, erhob sich, mit Blut bedeckt;“21 und damit wird dieser Name bereits als möglicherweise nur vorübergehend qualifiziert, und mit Blick auf die Verletzungen an der Hand und auf deren Versorgung durch den preußischen Edelmann, konstatiert die Erzählung, wieder mit Bezug auf Gellerts Leben der schwedischen Gräfin von G***: „Auffallend war es, daß St. Luce dem Baron als seinem Retter noch nicht gedankt hatte;“22 denn umgekehrt wird in Gellerts Roman der schwedische Graf in russischer Kriegsgefangenschaft, der dem jüdischen Kaufmann in Russland das Leben gerettet hat, von diesem mit Dank geradezu überschüttet. Dieser Mann [schreibt der Graf in einem Brief an seine „Gemahlin“] ist auf die edelste Art dankbar gewesen und hat mir bewiesen, daß es auch unter dem Volke [d. s. die Juden] gute Herzen gibt, das sie am wenigsten zu haben scheint. Er hat nicht eher geruht, bis er mich vor den Governeur gebracht, bei dem er seines Reichtums wegen in Ansehen steht. „Herr“, sprach er, „dieser schwedische Offizier hat mir, wie Ihr wißt, das Leben erhalten, und ich habe Dankbarkeit und Geld genug, ihn zu ranzionieren.“ [...] Darauf gab ihm der Jude einen Beutel mit Golde [...] Mein Wohltäter bezahlte das Geld mit Freuden [...] und bat sich zugleich aus, daß er mich in dem Gefängnishofe einen Tag um den andern besuchen dürfe.23

|| 20 Ebenda, S. 322f. 21 Ebenda, S. 323. 22 Ebenda, S. 324. 23 Gellert: Leben der schwedischen Gräfin von G***, S. 79. Vgl. Stenzel: Idealisierung und Vorurteil, S. 117f.

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In der Abkehr von einem solchen Wohlverhalten kann eine Kritik an St. Luce alias Dumoulin als eines, im Gegensatz zum ‚edlen‘, d. h. undankbaren ‚Juden‘ zwar festgestellt werden, die Hinweise auf das Verbrechertum, wie es sich bei St. Luce in verschiedenen Einzelheiten seines Benehmens schon vom Anfang der Erzählung an andeutet, können aber doch nicht ausreichen, um seine jüdische Identität einleuchtender zu machen. Die Episode des Zweikampfs, in den St. Luce gegen den französischen Kriegsgefangenen verwickelt war, legt dagegen den Vergleich mit einem anderen Erzähltext im Werk Brentanos nahe, der im zeitlichen Umfeld der Erzählung Die Schachtel mit der Friedenspuppe eine ähnliche Episode enthält.24

3 Es geht um das Fragment einer Erzählung aus der Französischen Revolution, das erstmals Friedrich Fuchs postum 1944 unter dem Titel Der arme Raimondin. Ein unbekanntes Fragment veröffentlicht hat.25 Das Fragment beginnt mit einer Episode, die mit der Bergung von zwei Verletzten an Die Schachtel mit der Friedenspuppe erinnert. Nur geht den Verletzungen kein Zweikampf voraus, sondern der eine der beiden Soldaten, ein Deutscher, war von einem französischen Offizier angeschossen und kampfunfähig gemacht worden, aber der Franzose hatte das nahegelegene Kloster Aquiscinet benachrichtigt, dass man am selben „Abend noch in dem Wäldchen, wo wir heute das Gefecht bestanden, einen jungen feindlichen Soldaten aufsuchen“ und retten sollte. Der Verletzte wurde gefunden, und während der Suche entdeckten zwei andere ebenfalls an der Suche beteiligte „Kirchendiener“ noch einen weiteren verletzten Überlebenden zwischen den umherliegenden toten Soldaten, so dass im Kloster am Ende zwei Verletzte versorgt werden konnten,26 ebenso wie St. Luce / Demoulin und sein Gegner Sanseau auf dem Gutshof des preußischen Edelmanns.27 Anders als in der Erzählung Die Schachtel mit der Friedenspuppe sind dem Erzählfragment aber keine weiteren Hinweise zu entnehmen, die erzähltechnisch

|| 24 Zur Datierung des Fragments vgl. Schaub: Anhang (In: Brentano: Sämtliche Erzählungen, S. 418–420) und Kluge: Lesarten und Erläuterungen (In: Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 19, S. 753–759). 25 Ebenda, S. 760f. 26 Brentano: Fragment einer Erzählung aus der Französischen Revolution – Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 19, S. 359–362. 27 Brentano: Die Schachtel mit der Friedenspuppe – Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 19, S. 324.

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auf eine spätere Aufklärung weiterführender Sachverhalte vorbereiten, dazu ist das Fragment schon formal in diesem Fall nur einfach zu kurz oder schlicht unfertig geblieben, auch wenn es zwischen den beiden Texten Parallelen gibt wie die Zweizahl der beiden Verletzten und vor allem die Suche nach ihrem Verbleiben in einer waldigen Gegend.28 Dazu gehören aber auch das Verhalten der Verletzten in der Obhut ihrer jeweiligen Logisgeber und ihre Einstellung zu Leben oder Tod. Während St. Luce am Ende Selbstmord begeht,29 stirbt der Franzose an den Folgen seiner Schussverletzung, erst nachdem er sich erfolgreich den Verband abgerissen hat.30 Auch der zuerst aufgefundene Verletzte im Erzählfragment, insofern er „sich der Hülfe, die ihm geleistet wurde, zu widersetzen“ beginnt und „O kein Verband, kein Verband, lasst mich sterben“ ausruft, ist zwar nicht wie St. Luce zum Selbstmord entschlossen, aber voller Zuversicht, aufgrund seiner Verwundung sein Leben beenden und damit die Erinnerung an eine seiner Meinung nach tragische Kindheitsverfehlung, die ihn bedrückt, endgültig besiegen zu können. Die Todessehnsucht ist vergleichbar, aber während der verletzte deutsche Soldat aus dem Erzählfragment im Kloster belehrt wird: „Mensch, welches Recht hast du über dein Leben, hast du gelebt wie ein Christ, so harre auf den Tod aus den Händen deines Heilands.“31 – So kommentiert Die Schachtel mit der Friedenspuppe den Entschluss von Dumoulin/St. Luce, seinem Leben selbst ein Ende zu setzen: „Möchten alle Feinde des Guten, alle Diener des Eigennutzes, alle Sünder, die den Muth nicht haben, Buße zu thun, heute mit ihm gestorben seyn!“32 Die Gegenüberstellung der beiden Figuren zeigt einen klaren Unterschied, der aus der verschiedenen Einstellung zur Botschaft des christlichen Glaubens resultiert. Deswegen ist unter Hinzuziehung des Erzählfragments und der darin dargestellten Figur des einen der beiden verletzten Soldaten die Frage ‚Wo ist der Jude?‘ klar mit Hinweis auf Dumoulin/St. Luce zu beantworten, während der deutsche Soldat aus dem Erzählfragment die christliche Botschaft annimmt und sich darin als Nicht-Jude erweist. Dass aber der deutsche Soldat als Jude bezeichnet werden könnte, eröffnet der Blick auf einen anderen Zusammenhang.

|| 28 Brentano: Fragment einer Erzählung aus der Französischen Revolution – Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 19, S. 359. 29 Ebenda, S. 352f. 30 Ebenda, S. 344f. – Von Selbstmord spricht auch in diesem Fall Puschner: Antisemitismus im Kontext der Politischen Romantik, S. 414. 31 Ebenda, S. 363. 32 Ebenda, S. 351.

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4 Gemessen an den zahlreichen Kampfhandlungen und Verletzungen, die daraus resultieren, teilweise mit Todesfolge, gibt es in beiden Erzähltexten nur oberflächliche Hinweise, welcher Art diese Verletzungen im einzelnen Fall sind. St. Luce ist nach dem Zusammenstoß mit dem französischen Kriegsgefangenen an seiner einen Hand verletzt; er hat aber keine tödliche Wunde.33 Der französische Kriegsgefangene, der St. Luce zu töten getrachtet hatte, wurde durch einen „Schuß [...] in den Unterleib getroffen“.34 Von den weiteren Verletzungen ist dagegen im Fragment einer Erzählung aus der Französischen Revolution die Schussverletzung des deutschen Soldaten ein interessantes Detail. „Ein Schuß durch die Lende war seine Wunde. Der Bader hielt es nicht für gefährlich, ihn erst in der Wohnung des Geistlichen zu verbinden, weil er dort mehrere Bequemlichkeit dazu habe [...].“35 Ganz gezielt zu bedenken ist diese Verletzung in Brentanos Text im Hinblick auf eine Anspielung, die sich mit ihr verbindet, weil er den gleichen medizinischen Befund bereits in einem Briefzeugnis aus dem Jahr 1810, ohne konkrete anatomische Kenntnisse dazu nachweisen zu können, verwendet hat. Es geht dabei um eine kurze und nicht schlecht informierte Porträtskizze, mit der Brentano das öffentliche literarische Auftreten eines Autors aus dem Kreis des Nordsternbundes beleuchtet und bei seiner Stellungnahme den jüngeren Kollegen nicht ganz ungeschoren davonkommen lassen will.36 Gleichzeitig berücksichtigt der einschlägige Brief, in dem Brentano aus Berlin seinem Freund Görres eine Übersicht über das ganze damals aktuelle literarische Leben der preußischen Hauptstadt zu geben versucht, neben anderen Neuerscheinungen auch den sogenannten Doppelroman der Berliner Romantik Die Versuche und Hindernisse Karls, der etwas schleppende Anfang ist von Varnhagen, der von hier zur Schlacht von Wagram als Volontair gelaufen, und ein Schuß in die Lende erhalten hat, er ist zugleich ein Mensch, der mit der Scheere kleine Landschaften aus Papier schneidet, und eine biß zum Unsichtbaren feine Zierliche Hand schreibt, [...] unbegreiflich scheint einem in ihm folgende Combination, dieser Nonnenhafte Ausschneider [...] rennt zu Fuß nach Wagram, wird blessirt

|| 33 Brentano: Die Schachtel mit der Friedenspuppe – Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 19, S. 323. 34 Ebenda, S. 323. 35 Ebenda, S. 361. 36 Vgl. Pravida, Busch, Katins: Polarsternbund (Nordsternbund).

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von einer Kanonenkugel und schickte wöchentlich seinen hiesigen Bekannten 6 bis 7 ganz leere moderne Sonnettchen in den Raum eine Spielkarte geschrieben.37

Der Hinweis auf den „Schuß durch die Lende“ in Brentanos Erzählfragment erinnert unter Berücksichtigung seiner seinerzeitigen Bemerkungen über Varnhagens Schussverletzung aus den Freiheitskriegen an ein historisches Geschehen, das zu Lebzeiten aller daran Beteiligten zunächst nicht an die Öffentlichkeit gelangte, weder der Brief an Görres noch das Erzählfragment. An beiden von Brentano überlieferten Belegstellen ist deswegen der gestalterische Effekt der diagnostizierten Verletzung stärker zu bewerten als deren medizinische Wahrscheinlichkeit, und eine damit möglicherweise unbedenkliche, weil zu seinen Lebzeiten noch unveröffentlicht gebliebene, Anspielung auf Varnhagen im Fall des Fragments einer Erzählung aus der Französischen Revolution eine nicht ganz abwegige Konsequenz, oder jedenfalls eine Hypothese.38 Immerhin hat Varnhagen selbst, der als Absolvent eines Medizinstudiums über eigene ärztliche Erfahrung verfügte, im Fall seiner Kriegsverletzung anlässlich der Schlacht bei Wagram 1809 von einem „Schuß durch den Oberschenkel“ oder „nur [...] Schenkel“ gesprochen und schon gar nicht die von Brentano erwähnte „Kanonenkugel“ bestätigt.39 Es ist deswegen wohl nicht zu weit hergeholt, das Schicksal des armen Raimondin alias Heinrich von Winningens und seinen „Schuß durch die Lende“ mit dem Leben Karl August Varnhagen von Enses und dessen Schussverletzung in der Schlacht bei Wagram in Beziehung zu bringen und damit auch auf die Frage ‚Wo ist der Jude?‘ einzugehen, wozu die Verbindung zwischen Varnhagen und seiner Freundin und späteren Frau Rahel Robert Levin allen Anlass gibt.

|| 37 Brentano an Görres, Berlin nach dem 15. März 1810 – Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 32, S. 247. 38 Zu einem anderen Fall eines Briefs, der in einem Satzelement als Vorstufe einer Erzählung gedeutet werden kann, vgl. Feilchenfeldt: Eine neuentdeckte Fassung/Textstufe von Clemens Brentanos Chronic/cka des/eines fahrenden Schülers?, S. 181–188. 39 Varnhagen: Werke in fünf Bänden, Bd. 1, S. 635, S. 895 mit weiterführenden Quellennachweisen. – Dass für Varnhagen seine „Wagramer Verwundung [...] Folgen für seine Männlichkeit gehabt“ haben könnte, ist eine Interpretation, die nicht überprüft werden kann. Vgl. Stern: Der Text meines Herzens. Das Leben der Rahel Varnhagen, S. 154. – Im literarischen Diskurs der Epoche läge es näher, die Textstelle in Brentanos Brief an Görres auf Karl Moor und seine Polemik gegen den als Juden identifizierten Spiegelberg in der anonymen Erstausgabe von Schillers Die Räuber (1781) zu beziehen. Moor distanziert sich von seinem eigenen, wie er es nennt, „Kastraten-Jahrhundert“ mit den Worten: „Die Kraft seiner Lenden ist versiegen gegangen, und nun muß Bierhefe den Menschen fortpflanzen helfen.“ Schiller: Die Räuber – Werke. Nationalausgabe, Bd. 3, S. 357 zu 21,12. – Zu Spiegelbergs jüdischer Identität vgl. Mayer: Außenseiter, S. 345– 349.

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Die nächstliegende und in gewisser Weise deswegen geradezu verblüffende Parallele zwischen dem von Heinrich von Winningen mitgeteilten Persönlichkeitsprofil und der von Varnhagen von Ense bekannten Biographie betrifft die private Verstrickung in den durch die Französische Revolution eingeleiteten Zeitenwandel. So, wie Heinrich von Winningens Vater den Adel abgelegt hat und sich den Idealen der Revolution verschrieb und die Mutter an den Grundsätzen ihrer altadligen Herkunft festhalten wollte, und so, wie es deswegen zu einer Trennung der Eltern und der Geschwister kam, der Sohn blieb beim Vater und die Tochter bei der Mutter,40 entwickelten sich auch die von Varnhagen in seinen Denkwürdigkeiten des eignen Lebens geschilderten selbsterlebten Kindheitsjahre. Auch Varnhagens Eltern trennten sich 1792 und der Sohn folgte dem Vater, während die Tochter bei der Mutter blieb, die mit ihr alleine bis zur Wiedervereinigung der Familie in Hamburg im Jahr 1796 in ihrer Heimatstadt Straßburg lebte.41 Also auch der erste Satz aus Heinrich von Winningens Lebensrückblick „Ich bin ein Elsasser“ betont einen Sachverhalt,42 der sich mit dem Herkommen der Mutter in Varnhagens Lebensgeschichte in völligen Einklang bringen lässt, und die Tatsache, dass Brentano in seiner Fragment gebliebenen Erzählung aus der Französischen Revolution für die Kenntnis von Varnhagens Familiengeschichte nicht auf dessen damals noch nicht gedruckt vorliegende Denkwürdigkeiten des eignen Lebens hatte zurückgreifen können, ist kein Argument dafür, dass er sich nicht hätte informiert haben können, denn schon in seinem – bereits zitierten – Brief an Görres aus dem Jahr 1810 zeigt er, dass er über Varnhagens Lebensverhältnisse detailliert Bescheid wusste.43 Schwieriger stellt sich die aufgezeigte Parallelität wohl eher im Zusammenhang mit der weiteren Tatsache dar, dass ja auch in der Erzählung Die Schachtel mit der Friedenspuppe der Gegensatz zwischen den Anhängern des Ancien Régime und denen der Französischen Revolution für das erzählte Geschehen bestimmend ist, ohne dass dahinter mehr als nur ganz oberflächlich eine Anspielung auf die Lebensgeschichte von Varnhagen von Ense gefunden werden konnte.

|| 40 Brentano: Fragment einer Erzählung aus der Französischen Revolution – Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 19. S. 374, S. 380f. 41 Varnhagen: Denkwürdigkeiten des eignen Lebens – Werke in fünf Bänden, Bd. 1, S. 68–71, S. 73f., S. 763f. 42 Brentano: Fragment einer Erzählung aus der Französischen Revolution – Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 19, S. 367. 43 Dazu gehört auch, dass Brentano von Varnhagens Plänen wusste, seinen Vorgesetzten, den Obersten von Bentheim, auf seiner Italienreise nach Pisa zu begleiten. Der Plan blieb unausgeführt, aber Varnhagen hatte Rahel Robert am 30. November 1809 davon berichtet. Vgl. Varnhagen: Denkwürdigkeiten des eignen Lebens – Werke in fünf Bänden, Bd. 1, S. 721, S. 901.

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Wenn das Fragment einer Erzählung aus der Französischen Revolution jedoch als Spiegel einer Auseinandersetzung Brentanos mit Varnhagen von Ense auch nur annähernd eine belastbare These sein kann, ist dafür immerhin auch noch in Erinnerung zu rufen, dass diese Auseinandersetzung seit den antijüdischen Bemerkungen, die Brentano gegen Varnhagens Freundin Rahel Robert Levin geäußert hatte, schon zu früheren literarischen Reaktionen geführt hat.44 Mit Varnhagen verbindet sich deswegen auch im Laufe seiner Entwicklung als Persönlichkeit des öffentlichen literarischen Lebens immer mehr die Vorstellung einer für das Judentum streitbaren Autorität, wenn nicht sogar einer eigenen jüdischen Identität, lange bevor er im zeitlichen Umfeld des Berliner Antisemitismusstreits von Karl Gutzkow bei einer Aufzählung ‚Christelnder Juden‘ als „Jude durch seine Frau“ bezeichnet wird.45 Schon aus dem Jahr 1807 berichtet Varnhagen selbst in seinen Denkwürdigkeiten, dass im damaligen Berliner Literaturgespräch Schleiermacher „gefragt“ worden sei, „ob ich denn ein Jude sei“, und dass dieser „Verdacht“, der „mich ganz“ hätte „niederschmettern“ sollen, für ihn nur ein Anlass „zum Vergnügen“ gewesen ist.46

5 Die Überschneidungen zwischen der Erzählung Die Schachtel mit der Friedenspuppe und dem Fragment einer Erzählung aus der Französischen Revolution sind insofern für die Interpretation beider Erzählungen von Bedeutung, als sie beide eine Familiengeschichte zur Grundlage haben, deren Problematik im Konflikt zwischen Vertretern des Ancien Régime und solchen der Revolutionsideologie begründet ist. Die Affäre um das untergeschobene, totgeborene Kind tritt vor der Tatsache des Familienkonflikts, der zu dieser Intrige geführt hat, vergleichsweise in den Hintergrund. Die Figur des Juden St. Luce alias Dumoulin ist kein Drahtzieher und darin als Jude am Ende nicht nur der typische jüdische Bösewicht, sondern auch der typische jüdische Außenseiter, wie er von Hans Mayer in der Nachfolge von Ernst Bloch beschrieben worden ist.47

|| 44 Zur jüngsten Zusammenfassung der bewegten Beziehungsgeschichte zwischen Brentano und Varnhagen vgl. Brentano – Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 15,2, S. 15–39. 45 Gutzkow: Rückblicke auf mein Leben – Werke. Auswahl in zwölf Teilen, Tl. 9, S. 73. 46 Varnhagen: Denkwürdigkeiten des eignen Lebens – Werke in fünf Bänden, Bd. 1, S. 459f. Vgl. Gatter: „...die freundlichsten und zartesten Bezüge zugleich durch Bildung und Freiheit begünstgt...“ Henriette Herz und Karl August Varnhagen von Ense, S. 375f. 47 Vgl. Mayer: Außenseiter, S. 10f.

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In Die Schachtel mit der Friedenspuppe entwickelt sich das Erzählgeschehen aus der Familiengeschichte des verwitweten Chevalier de Montpreville. Dieser führte zusammen mit seiner Tochter ein zurückgezogenes Leben und überließ die Erledigung seiner geschäftlichen Verpflichtungen seinem Anwalt Sanseau und dessen Sohn, die die ihnen übertragene Vertrauensstellung desto mehr zu ihren Gunsten missbrauchten, je stärker sich in Frankreich der Umsturz anzukündigen begann. Außerdem zogen sie auch Montprevilles Tochter auf ihre Seite und veranstalteten auf dem Höhepunkt ihres Bemühens nach Beginn der Revolution ein Festspiel in der Familie, bei dem im Zeichen von Liberté, Égalité und Fraternité Montprevilles Tochter „die Rolle der Gleichheit“ zugewiesen bekam. Dem alten Montpreville blieb nichts anderes übrig, als in das Spiel einzuwilligen und zu erleben, dass im Verlauf desselben „der wirkliche Stammbaum des Chevaliers, welchen der Advocat unter anderen Papieren im Hause hatte, [...] herbeygebracht und auf dem Altar des Vaterlandes verbrannt“ wurde. Montpreville gab jedoch nicht auf, sondern entschloss sich trotz seines fortgeschrittenen Alters noch einmal zu heiraten und dadurch mit Blick auf einen künftigen neuen Nachkommen, mit dem seine zweite Frau schwanger wurde, seine Vermögensverhältnisse so zu organisieren, dass nicht alles an seine Tochter aus erster Ehe und deren Mann, den jungen Sanseau, vererbt werden musste. Deswegen plante dieser, der neuen Schwiegermutter eine Totgeburt unterzuschieben und dadurch den inzwischen unversehrt geborenen Neffen von der Erbfolge auszuschließen. Den dafür erforderlichen Kinderleichnam bezog er für diese Tat vom Pariser Totengräber Dumoulin für 15.000 Livres.48 Dass ausgerechnet am Vorabend zum Jahrestag der Völkerschlacht von Leipzig im Oktober 1814 bei einem preußischen Landgut in der Nähe der Grenze zu Sachsen Dumoulin und der junge Sanseau sich wieder begegnen sollten und es im Laufe ihrer Unterhaltung zwischen ihnen zu einem für beide lebensbedrohlichen Zweikampf kam, bei dem sie beide verwundet wurden, ist in Brentanos Erzählung eine Fügung. Dass der junge Sanseau den Tod vor Augen sein Vermögen dem von ihm seinerzeit in betrügerischer Absicht um sein Erbe geprellten Neffen, Dumoulins Schwiegersohn, überträgt,49 zeigt seine Bereitschaft „Buße zu thun“,wo solches einem Selbstmörder wie Dumoulin nach Brentano nicht zustehen konnte.50

|| 48 Brentano: Die Schachtel mit der Friedenspuppe – Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 19, S. 336–342. 49 Ebenda, S. 344f. 50 Ebenda, S. 351.

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Im Fall des verletzten Soldaten aus dem Erzählfragment entwickelt sein Lebensrückblick, mit dem er sich im Kloster für sein lebensmüdes Verhalten zu erklären versucht, ähnlich zerrissene Strukturen einer infolge der Französischen Revolution und ihrer Ideen in Unordnung geratenen Familiengeschichte wie im Fall der Montprevilles. Vom anderen Verletzten enthält das Fragment nur den Hinweis, dass es sich um einen „blühend schönen französischen Emigranten“ handelt.51 Aber auch der deutsche Verletzte, Heinrich von Winningen, ist von adliger Herkunft. Der Konflikt zwischen Alt und Neu, zwischen Tradition und Revolution, ist deswegen in der Familie vorprogrammiert, und er erreicht seinen Höhepunkt, als Raimondin auf Befehl seines Vaters den bebilderten Familienstammbaum, den ihm seine Mutter gerade erst noch erläutert hatte, samt weiterer Familiendokumente in ein Feuer warf, das bei Errichtung eines Freiheitsbaums in Brand gesteckt worden war.52 Die Verbrennung des Stammbaums der Familie Montpreville im Hause des Advocaten Sanseau wirkt dazu nur wie ein Vorspiel.53 Die Parallele ist jedoch nicht die einzige.54 Offen bleibt noch eine andere befriedigende Antwort auf die Frage ‚Wo ist der Jude?‘. In der Erzählung Die Schachtel mit der Friedenspuppe ist es die an Kindesstatt angenommene Tochter Dumoulins, also auch kein jüdisches Mädchen, die als Vierjährige die Schachtel, in der später die Friedenspuppe aufbewahrt wird, mit der Kinderleiche bei der Mutter von Sanseaus Neffen unbemerkt abstellen muss,55 hier ist es der kleine Heinrich von Winningen, der damals noch unter dem Namen Raimondin die Familienpapiere verbrennt und auf dem Feuer der Freiheit opfert. Auch das Personal, das im folgenden Teil des Berichts auftritt und den kleinen Raimondin umgibt, hat mit Judentum sichtbar nichts zu tun. Einer Forderung seiner Mutter, die ihr abhanden gekommenen Familienpapiere wieder zurückzugeben, kann Raimondins Vater nicht mehr entsprechen, sie sind verbrannt, und der im Auftrag der Mutter agierende Herr de Lescür fordert Raimondins Vater zum Duell und verwundet ihn schwer. Ort des Geschehens ist das für den Zweikampf bei Brentano notorische „Gebüsche“.56 Später kümmert sich der alte Diener Royer um Raimondin, dessen Bericht mit seiner Rückkehr in die Obhut des Vaters abbricht, und damit endet auch der Text des Fragments.57 Bis zu seiner Rückkehr zum Vater war Raimondin bei einer Advokatenfamilie Lodie – auch Sanseau war || 51 Brentano: Fragment einer Erzählung aus der Französischen Revolution – ebenda, S. 361. 52 Ebenda, S. 367–371. 53 Brentano: Die Schachtel mit der Friedenspuppe – Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 19, S. 338. 54 Mayer: Außenseiter, S. 10. 55 Brentano: Die Schachtel mit der Friedenspuppe – Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 19, S. 352f. 56 Brentano: Fragment einer Erzählung aus der Französischen Revolution – ebenda, S. 380f. 57 Ebenda, S. 381.

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Advokat – untergebracht,58 und so, wie sich in der Erinnerung des Berichterstatters das kommerzielle Ethos dieses Advocaten darstellt, wäre es jedenfalls nicht unvorstellbar, dass mit seinem Auftreten die Antwort auf die Frage ‚Wo ist der Jude?‘ bejaht gegeben werden könnte; denn auch Dumoulin ist eine Figur, die letztlich entscheidend durch ihr Interesse am kommerziellen Erfolg definiert ist, also abschätzig formuliert, als „Geldjude“,59 und dies entpricht auch der Erinnerung an das Ethos des Anwalts im Lebensbericht des Heinrich von Winningen alias Raimondin. Die Familie des Advocaten hatte weder eine besondere Vorliebe zu meinem Vater, noch zu meiner Mutter, deren Entzweiung sie mit besonderer Neutralität betrachteten, um sich dem Interesse der Parthei, welche den Herrn Lodie zuerst als Rechtsbeistand auffordern dürfte, desto eifriger ergeben zu können.60

Der Name Lodie entspricht jedenfalls außerdem, insofern er bis auf den einen zusätzlichen Buchstaben ‚e‘ am Ende des Namens mit dem Namen der norditalienischen Stadt Lodi identisch ist, genealogisch der aus Italien bekannten Tatsache, dass italienische Städtenamen als jüdische Familiennamen eine häufige Verbreitung genießen.61 Dass Brentano im Fragment einer Erzählung aus der Französischen Revolution bei keiner seiner Figuren anmerkt, dass es sich um einen Juden handelt, heißt jedenfalls noch lange nicht, dass alle vorkommenden Personen Nicht-Juden sind. Interessant ist aber auch der Hinweis, dass der Name Lodi 1796 als männlicher Vorname in Frankreich in einem Fall nachweislich lizenziert worden ist, nachdem die Franzosen am 10. Mai 1796 unter Napoleon in einer Schlacht bei Lodi die Österreicher geschlagen hatten.62

6 Ein besonders einleuchtendes Beispiel für Brentanos literarischen Umgang mit der jüdischen Identität findet sich in seinem Märchen Gockel, Hinkel und

|| 58 Ebenda, S. 377–379. 59 Vgl. Klüger: Die Leiche unterm Tisch, S. 84. 60 Brentano: Fragment einer Erzählung aus der Französischen Revolution. – Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 19, S. 378. 61 Vgl. Schaerf: I cognomi degli ebrei d’Italia con un appendice su le famiglie nobili ebree d’Italia, S. 9, S. 14, S. 16–29. Ferner Luzzati: Per la storia dei cognomi ebraici di formazione italiana, S. 497–509. 62 Vgl. Jouniaux: L’histoire de nos Prénoms, S. 263.

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Gackeleia. Im Mittelpunkt der Handlung steht das Schicksal des Rings Salomonis, eines Wunsch- und Zauberrings, der die Begehrlichkeit von drei in betrügerischer Absicht am Erwerb dieses Rings interessierten Raritätenhändlern oder – wie ihr Berufsstand abschätzig auch genannt wurde – „Trödeljuden“ erregt hat.63 Den Ring hat der Hahn Alektryo, der dem Raugrafen Gockel gehört, in seinem Kropf verschluckt. Die drei Raritätenhändler wissen darüber Bescheid und versuchen Gockel dazu zu bewegen, ihnen den Hahn Alektryo im Tausch gegen eines ihrer Tiere, einen „Bock“ oder eine „Ziege“ oder beide zusammen, zu verkaufen. In der Spätfassung seines Märchens, die Brentano selbst 1837 zum Druck freigab, kommt es zu folgender Szene: „Auf dem Heimwege begegnete Gockel drei alten Morgenländern mit langen Bärten, welche große Naturphilosophen, Kabbalisten und Petschierstecher waren; sie führten einen alten Bock und eine alte magere Ziege an Stricken zur Frankfurter Messe.“64 In der zu Brentanos Lebzeiten unveröffentlicht gebliebenen Urfassung des Märchens lautet die gleiche Stelle: „Auf dem Heimwege begegnete Gockel ein paar alte Juden, welche grose Naturphilosophen waren, sie führten einen alten Bock und eine alte magere Ziege an Stricken, zur Frankfurter Messe.“65 Und im folgenden Gespräch, in das sich Gockel hineinziehen lässt, sind es in der Spätfassung „Männer“, die ihm den Hahn abkaufen wollen, in der Urfassung „Juden“.66 Infolge des Vergleichs mit der Urfassung ist es jedoch klar, dass auch die „drei [...] Naturphilosophen“ der Spätfassung, auch ohne ausdrücklich als Juden bezeichnet zu werden, ebenfalls Juden sind, und dass es, um sie in einem Narrativ als Juden erkennbar darzustellen, keine ausdrückliche Bezeichnung gebraucht hat. Es gibt im Text der Spätfassung genügend andere Hinweise auf die jüdische Identität der drei „Männer“, die als „Kabbalisten“ und vor allem auch als „Petschierstecher“ ein Stück Sozialgeschichte der Juden in Deutschland repräsentieren, auf die sich der Autor beziehen kann, ohne dazu ausführlich werden zu müssen.67 Eine dafür einschlägige zeitgenössische Quelle ist der in

|| 63 Vgl. Klüger: Die Leiche unterm Tisch, S. 83. 64 Brentano: Italienische Märchen II – Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 18,3, S. 152. 65 Ebenda, Bd. 18,3, S. 29. 66 Ebenda, S. 29, S. 152; Bd. 18,4, S. 236–238. 67 Bezeichnend sind dafür auch die Lebenserwartungen der drei Petschierstecher, durch den Zauberring zu „Hoffactoren“ aufsteigen zu können und damit eine für Juden im Zeitalter des Absolutismus erreichbare staatliche Funktion auszuüben. Zur umstrittenen Bewertung ihres Wirkens bei Juden als Hoffaktoren vgl. Jehle: Juden unter Generalverdacht, S. 13–32. Ferner Brentano: Italienische Märchen II – Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 18,3, S. 69, S. 258; Bd. 18,4, S. 339. Dazu Klüger: Die Leiche unterm Tisch, S. 89f. Neuerdings Brentano: Italienische Märchen II – Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 18,4, S. 241f.

Außenseitertum in Clemens Brentanos Judendarstellung | 143

Bergius’ Neues Policey- und Cameral-Magazin enthaltene Artikel Petschierstecher, demzufolge dieser Beruf „auch Wappenschneider oder Siegelgräber genennet wird“ und eine typisch jüdische „Profession“ erläutert: Da diese Profession, welche zumal meistentheils von Juden betrieben wird, zu vielen großen Betrügereyen Anlaß und Gelegenheit geben kann, wenn sie ohne Policeyaufsicht gelassen wird; so sollten in einem Staate keine andere als einheimische Petschierstecher geduldet werden. Die herumziehende fremde Petschierstecher, besonders wenn es Juden sind, kann man ohnmöglich übersehen, und die Gefahr bey denselben ist zu groß, als daß man ihnen die Besuchung der Messen und Märkte im Land verstatten kann.68

Was in dieser lexikographischen Quelle als Information verbreitet werden soll, zielt auf eine Kriminalisierung der jüdischen Petschierstecher, an die auch Brentano in seinem Märchen anknüpft, und da sie am Ende alle drei in Esel verwandelt werden, bleibt ihnen die gerechte Strafe dafür, dass sie sich auf unrechte Weise in den Besitz des Zauberringes gebracht hatten, nicht erspart.69 Das Beispiel zeigt einmal mehr, dass der Nachweis jüdischer Identität nicht allein auf eine, an einer Textstelle ausdrücklich belegte, textanalytische Eingrenzung des einschlägigen Personals zurückzuführen sein muss, sondern ebenso aus der erweiterten Betrachtung eines Textcorpus unterschiedlicher Texteinheiten resultieren kann, in dem von einem Werk Brentanos wie im Fall des GockelMärchens zwei unterschiedliche Fassungen existieren, von denen die eine zur Aufklärung bei der Lektüre der anderen beiträgt, und es fällt auf, dass bei diesem Fallbeispiel erneut die explizite Apostrophierung jüdischer Figuren als Juden in einer Überlieferungsstufe des Textes stattfindet, die zu Brentanos Lebzeiten nicht publiziert wurde. Die Erzählung Die Schachtel mit der Friedenspuppe ist deswegen eine Ausnahme, aber ganz grundsätzlich gilt auch bei diesem Werkbeispiel die akzidentelle Beschaffenheit der jüdischen Identität, die kein aus der Auseinandersetzung mit der eigenen Individualisierung entwickeltes Persönlichkeitsprofil entstehen lässt. Die jüdischen Identitäten bleiben in Brentanos Erzählungen, wenn sie denn überhaupt als solche bezeichnet werden, Rollen, so wie bei Dumoulin alias St. Luce auch sein Eintreten in die christliche Glaubensgemeinschaft ebenso zur

|| 68 Vgl. den Artikel Petschierstecher von Bergius: Neues Policey- und Cameral-Magazin, Bd. 4, S. 326–328, hier S. 326f. Zum kulturhistorischen Hintergrund der Petschierstecherthematik vgl. Vordermayer: Antisemitismus und Judentum bei Clemens Brentano, S. 82, mit weiterführender Literatur. 69 Brentano: Italienische Märchen II – Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 18,3, S. 97f., S. 99f., S. 321f., S. 328f.

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Wahrnehmung einer „Rolle“ geführt hat,70 wie die Tochter des hochadligen Standesherrn Montpreville im Hause seines Anwalts Sanseau die „Rolle der Gleichheit“ angeboten bekam, als sie bei einem Bühnenspektakel zur Feier der Revolutionsidee ihre Solidarität mit der neuen Zeit veranschaulichen sollte.71

|| 70 Brentano: Die Schachtel mit der Friedenspuppe – ebenda, Bd. 19, S. 352. 71 Ebenda, S. 337.

| 3 Geteilte Einsamkeit: Sprache, Schreiben, Dasein

Jan Oliver Jost-Fritz

Geteilte Einsamkeit Poetische Kommunikation bei Arnim, Wordsworth und Coleridge

1 Einleitung Einsame sind in der romantischen Literatur allgegenwärtig. Einsame Wanderer, Eremiten, Köhler und Jäger in den Bergen; auch Exilanten oder die vor politischer Verfolgung in den tiefen Wald geflohenen Liebenden (wie Bertholds Eltern in den Kronenwächtern) gehören zu dieser Gruppe, genauso wie ganz allgemein Schreibende und Lesende in Stuben, Waldhütten oder Bibliotheken. Motiv und Thema der Einsamkeit, der liminalen Räume und der in sich selbst zurückgezogenen Figuren prägen romantische Lyrik, Dramatik und Prosa von Tieck bis Eichendorff, bei dem Einsamkeit zur stereotypen Grundierung von Erfahrung des Subjekts in der Moderne schlechthin wird. Populäre Einführungen zum Thema werden denn oft auch mit einschlägigen Bildern Caspar David Friedrichs geschmückt, die einzelne Figuren oder kleine Gruppen in Landschaften inszenieren.1 Die Figur des Einsamen scheint immer noch intuitiv als deutlichste symbolische Verdichtung der ansonsten eher heterogenen Bewegung der europäischen Romantik zu funktionieren. Die Gründe für diese ikonographische Signalfunktion des Einsamen für unser Verständnis der Romantik liegen freilich auf der Hand. Tatsächlich lässt sich auf der Oberfläche betrachtet die Romantik als Selbstermächtigung des für sich selbst sprechenden Subjekts gegenüber der Pragmatik rhetorischer Poetologien der frühen Neuzeit verstehen; um 1800 stand nicht mehr die virtuose Handhabung von Topoi und decorum im Mittelpunkt des literarischen Schaffens, sondern das seine Umwelt emotional wahrnehmende, gestaltende und artikulierende Ich. Die Figuren des Einsamen und des Schreibenden (und umgekehrt sicher auch des Lesenden) konvergieren in der Romantik zu einer Allegorie der Literatur überhaupt. Wie die Bebilderung der roman-

|| 1 So ziert sein Wanderer über dem Nebelmeer etwa den gerade erschienenen Companion to German Romantic Philosophy (Millán Brusslan/Norman [Hrsg.]: Companion), die englische Übersetzung von Rüdiger Safranskis Romantik-Buch (Safranski: Romanticsm) wie auch die bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft herausgekommene Einführung in die Literatur der Romantik (Schmitz-Emans: Einführung). https://doi.org/10.1515/9783110634709-010

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tischen Einsamkeitsfaszination durch Friedrich schon nahelegt, kommt der Natur eine entscheidende Rolle im Selbstverständnis des Einsamen zu. Die Natur ist entweder das äußere Material, das zur einsamen Meditation über das eigene Wesen veranlasst und ein authentisches Verhältnis des Ichs zu sich selbst wiederherstellen lässt. Oder die Natur ist das ebendieses Ich Verschlingende, eine die Autonomie des Subjekts auflösende Kraft des ewigen Werdens und Vergehens, ein Symbol für eine elementare Welt, die, wie etwa bei Eichendorff, das in seinem Glauben gerade zu sich selbst gekommene Subjekt wieder ins Verderben zu führen droht, oder, wie in Arnims Gedicht Stolze Einsamkeit, gerade einen Weg der Erlösung anbietet.2 In den folgenden Überlegungen möchte ich an einigen Beispielen von Einsamkeitsdichtung der Romantik allerdings auf einen ganz anderen Aspekt der Einsamkeitsthematik hinweisen: auf ein Verständnis von Einsamkeit, das mehr über das romantische Verständnis von literarischer Kommunikation überhaupt aussagt, als Medium einer existentiellen Deutung des Subjekts zu sein. Nach einem kurzen Blick auf ein traditionelles Verständnis der Einsamkeit als eines existentiellen Erlebnisses und einer Rückführung auf den Einsamkeitsdiskurs der Empfindsamkeit, werde ich an einigen Beispielen von Achim von Arnim, William Wordsworth und Samuel Taylor Coleridge das strukturelle Moment der geteilten Einsamkeit herausarbeiten. Ich möchte damit weder behaupten, dass es einen direkten Austausch zwischen der deutschen und englischen Romantik in dieser Hinsicht gegeben hätte – das zu untersuchen müsste einer größeren Studie vorbehalten bleiben, die sich zum einen mit den diskursiven Quellen der Einsamkeit in England und Deutschland im 18. Jahrhundert und mit Coleridge als Vermittler deutscher Literatur in England um 1800 beschäftigt –, noch möchte ich beweisen, dass die geteilte Einsamkeit der einzige Modus gewesen wäre, in dem Einsamkeit die Literatur im frühen 19. Jahrhundert prägte. Vielmehr möchte ich ein Licht auf die Art und Weise werfen, wie Thema und Motiv der Einsamkeit um 1800 halfen, grundlegende Probleme der aufkommenden Kommunikationsgesellschaft zu reflektieren. Es ist gerade die konzeptuelle Offenheit, die das romantische Einsamkeitsverständnis ausmacht, und die die Einsamkeit nicht mehr auf einen Topos der Vergänglichkeit einer ins Partikulare zerfallenden Welt festlegt3, noch als Symptom pathologischer Melancholie in einen sozialdisziplinierenden Aufklärungsdiskurs einfängt.4

|| 2 Vgl. Jost-Fritz: Geordnete Spontaneität, S. 73–91. 3 Vgl. Drux: In dieser Einsamkeit, S. 34f. 4 Bei aller Betonung des kreativen Potentials der Einsamkeit ist das der Grundtenor in Zimmermanns Von der Einsamkeit, vgl. Wagner-Egelhaaf: Unheilbare Phantasie.

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2 Medium Einsamkeit Am 17. August 1818 berichtet Arnim seiner Frau Bettine nach Berlin, dass er „einem Ochsen, der mir die Wicken abfraß, einen tüchtigen Schlag gegeben“ hätte und sich dabei die Hand so sehr verstaucht hätte, dass ihm das Schreiben schwerfiele. „Es hat garnichts zu sagen“, berichtet er weiter, „aber es ärgert mich, weil es die einzige Verbindung aus der Ferne, das Schreiben, hindert“.5 Der erzwungene Abbruch des Schreibens als Kommunikationskanal wird als Einsamkeit erfahren, die Arnim wenige Tage später, als sich die Hand schon wieder erholt hat, in einem emotional-existentiellen Vierzeiler festhält: Nun weiß auch ich was Einsamkeit, Nun sich der Himmel mir verschließt, Und aus der Wolken träge Zeit Im trägen Regen niederfließt.6

Der Anspielungsraum des kurzen Gedichts ist deutlich. Der ‚verschlossene Himmel‘ ist ein gängiges biblisches Motiv für das Ausbleiben der Gnade: „Hat Gott vergessen, gnädig zu sein? Hat er im Zorn verschlossen seine Erbarmung?“, heißt es etwa im 77. Psalm, und 1. Könige 8, 35−36 stellt die semantische Verknüpfung der Gnade mit Himmel und Regen her: Wenn der Himmel verschlossen wird, daß es nicht regnet, weil sie an dir gesündigt haben, und sie werden beten an diesem Ort und deinen Namen bekennen und sich von ihren Sünden bekehren, weil du sie drängest; so wollest du hören im Himmel und gnädig sein der Sünde deiner Knechte und deines Volkes Israel, daß du ihnen den guten Weg weisest, darin sie wandeln sollen, und lassest regnen auf das Land, das du deinem Volk zum Erbe gegeben hast.7

Diese Verbindung von Wasser und Gnade (die in der Symbolik der Taufe neutestamentlich ebenso sinnfällig ist) hatte im Pietismus ein komplexes Wortfeld geprägt, das die vielschichtige Wasserthematik in der Bibel, das einerseits die Bedeutung von Wasser als Gnadensymbol festlegt, andererseits ein ganzes Lexikon unterschiedlichster semantischer Anknüpfungspunkte bietet.8 Die Dynamik zwischen himmlischer Gnade und dem Individuum etwa beschreibt Gerhard Tersteegen: || 5 Arnim/Bettine Brentano: Briefwechsel, Bd. 1, S. 150. 6 Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 5, S. 917. 7 Biblia: Die Luther-Bibel (1912). 8 Zum Wassermotiv im engeren Sinne siehe Langen: Wortschatz, S. 319–329.

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Mein schmachtend Herz sich offen hält Gleichwie ein ausgedorrtes Feld; Du Geistestau, du sanfter Regen, Erquicke mich mit Gnad und Segen.9

Ohne den gnadenspendenden Regen bleibt das Herz des Menschen verdorrt, wie ein Feld, das keine Früchte trägt. Gerade im 77. Psalm (der das Motiv des verschlossenen Himmels, nicht aber das des Regens zeigt) wird allerdings nicht das Ausbleiben der Gnade beklagt, sondern in Frageform ein Augenblick des Zweifels festgehalten. Und in 1. Kön. 8,35 bleibt der Regen nur so lange aus, wie die Menschen sich willentlich von Gott abwenden; all dies fehlt in Arnims Vierzeiler, in dem das sprechende Ich – wenn man es mit dem biographischen gleichsetzt – durch die Verletzung zur Passivität gezwungen ist. Während das Ab- und Hinwenden von und zu Gott selbst als Teil des göttlichen Heilsplans aufgefasst werden kann, ist aus Sicht des Subjekts der „träge[] Regen“ des kurzen Gedichts ein rein kontingentes Ereignis. Nicht einmal die Möglichkeit einer Kommunikation mit Gott scheint sich hier als Ausweg zu bieten. Vielmehr wird die Grundlage der Kommunikation, die in der biblischen Literatur gerade bestätigt wird, in der Einsamkeit selbst in Frage gestellt. Die körperliche Unmöglichkeit zu schreiben wird im Bild des verschlossenen Himmels ausgedrückt – was im Gegenzug auch heißt, dass das Gnadenerlebnis von der aktiven Kommunikation mit der geliebten Partnerin abhängig ist. Das schriftliche Gespräch überwindet Raum und Zeit, indem es die Präsenz des Gegenübers imaginieren hilft. Genau dieses ist aber hier unterbrochen. Dementsprechend führt das Abreißen der Kommunikation zu einem intensivierten Gefühl nicht vergehender Zeit: das emotionale Erlebnis der Einsamkeit ist in der nicht endenden „träge[n] Zeit“ auf Dauer gestellt, im aktuellen Erleben des Ichs also ein Zustand in dem und von dem es keine Erlösung gibt. Arnim formuliert seinen Vierzeiler nicht als Frage, wie es im Psalm geschieht, sondern als einfache Aussage. Zwar nutzt er die biblische und pietistische Bildersprache – allerdings gerade um das Fehlen von deren Bedeutungskern anzuzeigen. Der Regen bringt keine Gnade mehr, sondern macht nur das an und in sich nicht sinnstiftende Vergehen der Zeit bewusst. Regen bedeutet in Arnims Gedicht nichts weiter mehr als Regen, eine darüberhinausgehende Bedeutung ist mit der Erfahrung der Einsamkeit verloren gegangen. Es ist daher sicher nicht falsch, die

|| 9 Tersteegen: Geistliches Blumengärtlein, S. 563. Der Gegensatz von „Wasserguß“ und Dürre als Bild für das Leben in und außerhalb göttlicher Gnade illustriert auch schön ein von Langen anzitiertes Lied aus dem Herrnhuter Gesangbuch von 1735, in dem die unbegreifliche Liebe Gottes wie „ein starker wasserguß“ wirkt, Langen: Wortschatz, S. 319.

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vier Zeilen existentiell zu deuten.10 Allerdings darf nicht vergessen werden, dass das Gedicht im Brief einen spezifischen Kontext hat; dort ist jenseits der vier Zeilen von ganz alltäglichen Dingen – vom Schlachten einer Kuh bis zur Pockenimpfung der Kinder – die Rede.11 Auch von Gesellschaft mit den Nachbarn wird gesprochen; der Hinweis auf die Einsamkeitserfahrung ist hier also nicht ohne Ironie, und sollte nicht zu distanzlos mit der Biographie des Autors verknüpfte werden. Trotzdem trifft Arnim im Ton sicher ein existentielles Verständnis der Einsamkeit, auf das die späte Romantik sich im restaurativen Klima des Jahrzehnts nach dem Wiener Kongress zurückzieht. Einsamkeit drückt hier vielleicht eine biographische Erfahrungssituation aus, verweist aber – wie ein Blick auf Wilhelm Müllers motivlich ähnlich gelagerte Winterreise-Gedichte sicher deutlicher zeigen würde12 – auf eine das Individuelle überlagernde, historische Erfahrung gesellschaftlicher Veränderungen. Diese und ähnliche Formen existentieller Einsamkeit sind freilich nicht ohne einen literarischen Vorlauf; ihre Artikulationsweise speist sich aus der Ich-bezogenen Einsamkeitstopik der Empfindsamkeit. Gerade diese allerdings erweist sich als implizit kommunikationsaffin. Wie Aleida und Jan Assmann in ihrer Archäologie literarischer Kommunikation notiert haben, verweist das „Thema Einsamkeit wie kaum ein anderes auf den engen Zusammenhang zwischen den Formen menschlicher Selbstfindung einerseits und den Medien menschlicher Kommunikation und Selbstverständigung andererseits“. Einsamkeit und Literatur stehen in einem „generativen Zusammenhang“.13 Dieser Zusammenhang wurde schon im zeitgenössischen Diskurs um 1800 reflektierte; Wilhelm von Humboldt etwa deutet die Einsamkeit der Genieästhetik um zu einem allgemeinen Kriterium geistigen Arbeitens; Autonomie ist „nothwendig Freiheit, und hülfreiche Einsamkeit“, und hat daher nichts mit Eskapismus zu tun, sondern ist eine Voraussetzung moderner Institutionen, wie der Universität, um die es Humboldt im Kontext dieses Zitats geht.14 Um 1800 nimmt ‚Einsamkeit‘ also gleichsam eine zentrale Systemstelle in der sich ausdifferenzierenden Gesellschaft ein, da sie als Voraussetzung medialer Genese von Wissen und Poesie Kommunikation

|| 10 Vgl. Ulfert Ricklefsʼ Kommentar zu dem motivähnlichen und vermutlich im gleichen biographischen Kontext geschriebenen Fragment „Vergessenwerden tut so weh“, Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 5, S. 1549. 11 Arnim/Bettine Brentano: Briefwechsel, Bd. 1, S. 152f. 12 Siehe etwa Bostridge: Schubert’s Winter Journey, S. 6–38. 13 Jan und Aleida Assmann: Schrift, Gott und Einsamkeit. Einführende Bemerkungen. − In: Dies. (Hrsg.): Einsamkeit, S. 13f. 14 Vgl. dazu Gutschmidt: Von der „Idee einer Universität“ zu „Zukunft unserer Bildungsanstalten“, hier S. 163f.

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ermöglicht, die nicht mehr auf unmittelbaren „Interaktionssysteme[n]“ basiert. Das Defizit an kommunikativer Unmittelbarkeit muss, so Niklas Luhmann, in einem „standardisierteren, disziplinierteren Sprachgebrauch“ aufgefangen werden, der selbstreflexiv das mit darstellen muss, „was anderenfalls in der Situation evident gewesen wäre“.15 Standardisierung und Disziplinierung sind nicht gerade Begriffe, die sich beim Nachdenken über romantisches Schreiben aufdrängen. Trotzdem ist auch die Poesie der Romantik in gewissem Sinne ein disziplinierter Sprachgebrauch in Luhmanns Sinne, der sich als Schweben zwischen Kontingenz und Form manifestiert.16 Die Spontaneität des einsamen Subjekts artikuliert sich nicht in einer „Privatsprache“, und die romantische Einsamkeit ist damit auch nicht in erster Linie gleichzusetzen mit der existenziellen, absoluten Einsamkeit der Moderne.17 Vielmehr ist die geteilte Einsamkeit der Romantik selbst ein Kommunikationsmedium, mit dem und an dem romantisches Schreiben seine eigene Medialität reflektiert. Romantische Einsamkeit hat damit die auf den ersten Blick die dem Motiv der Einsamkeit widersprechende Funktion, Medium einer sprachlichen Interaktion zu sein. Der kommunikative Aspekt der Einsamkeit im 18. Jahrhundert ist schon dem empfindsamen Lebensentwurf inhärent, der die Kultur um die Mitte des Jahrhunderts dominierte. Einsamkeit ist eine „Technik des Selbst“, eine Technik, die allerdings gelungene Individuation nur in der Figur der Verdoppelung des Ichs im Imaginationsraum „eines inneren Dialogs“ verspricht.18 Wie sehr ein solcher innerer Dialog als disziplinierende Steuerung poetischer Kreativität ästhetisch produktiv wird, kann an Goethes Sturm-und-Drang-Hymnen abgelesen werden.19 Edward Youngs Night Thoughts mit seinen Reflexionen über den imaginierten eigenen Tod und dem antizipierten Wiedersehen mit den verstorbenen Freunden ist sicher einer der Urtexte des Einsamkeitsverständnisses in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und macht zugleich den implizit kommunikativen Aspekt deutlich: […]; and from an eye Of tenderness let heavenly pity fall On me, more justly number’d with the dead.

|| 15 Luhmann: Soziale Systeme, S. 581. 16 Vgl. Hahn/Pethes: „Kontingenz und Steuerung“, S. 7–12. 17 Goebel: Der engagierte Solitär, S. 6. 18 Vgl. Jan und Aleida Assmann: Schrift, Gott und Einsamkeit. Einführende Bemerkungen. − In: Dies. (Hrsg.): Einsamkeit, S. 17, zu Machos Beitrag in diesem Band. 19 Vgl. Weber: Die Logik der Lyrik, S. 57–61.

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This is the desart [sic], this the solitude: How populous, how vital is the grave!20

Die melancholisch-individualistische Tendenz in der Mitte des 18. Jahrhunderts stand vor allem im Zeichen moralphilosophischer Debatten um die Sublimation von Affekten.21 In der einsamen Erinnerung an die Verstorbenen gewinnt Youngs lyrisches Subjekt somit seine epochenspezifische Kontur. Dementsprechend ist etwa Klopstocks Ode Sommernacht – deren Affekthaushalt sicher auf Young zurückgeht – mit dem nächtlichen Besuch am „Grab / der Geliebten“22 genauso Zeugnis einer neuartigen Feier des eigenen Ichs, emotionskultivierende Meditationstechnik23 und Bekräftigung der eigenen Kommunikationsgemeinschaft. Gerade dieser letzte Aspekt des Motivamalgams von Einsamkeit und imaginierter Vergesellschaftung wird zu einem zentralen Anliegen romantischen Schreibens, vor allem dort, wo Literatur ihren eigenen Ursprung in der „interaktionslosen Kommunikation“24 selbst reflektiert.

3 Einsamkeit und nachdrückliche Kommunikation Natürlich finden sich in der romantischen Lyrik Spuren existenzieller Einsamkeit, gerade wenn man sie in einer ideenhistorischen Perspektive auf die Moderne hin betrachtet. Keinen Freund „kann ich leiten / In mein vergessnes Haus“, schreibt Arnim etwa 1819, und weiter: „Mit sich sind sie gemeindet / Und spiegeln ihr Gesicht.“25 Was hier zum Ausdruck kommt, ist aber nicht nur die emotionale Situation des Sprechers, sondern auch das gespürte Defizit, das die „interaktionslosen Kommunikation“ mit sich bringt, und das am Beginn romantischen Schreibens steht; die Anfänge der Romantik liegen ja gerade in intensiven Gruppenerlebnissen, und der Verlust dieser Art von Erlebnissen – nun, da jeder nur noch mit sich selbst „gemeindet“ ist – wird von Arnim in der historischen Distanz kommentiert. Hier kann sicher ganz konkret an die frühromantische Konstellation in Jena, die gemeinsame Rheinreise Arnims und Brentanos oder deren

|| 20 Young: Poetical Works, Bd. 1, S. 5. 21 Jüttmann: Die Seele, S. 271, vgl. auch Schmidt: Homer des Nordens, Bd. 1, S. 129. 22 Klopstock: Ausgewählte Werke, S. 112f. 23 Siehe dazu Battenfeld: Göttliches Empfinden, S. 99–121. 24 Luhmann: Soziale Systeme, S. 581. 25 Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 5, S. 934, hier zitiert in der Lesart Renate Moerings, vgl. Moering: Arnims Gedichte, S. 474.

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Zusammenarbeit in Heidelberg gedacht werden. Das ist aber nicht nur eine Eigenart der deutschen Romantik, sondern scheint in der ein oder anderen Form insgesamt eine reflexive Bewegung der späteren auf die früheren Erscheinungsformen romantischen Schreibens zu sein, wie kurz am Werk William Wordsworths gezeigt werden kann. Wordsworths autobiographisches Langgedicht The Prelude etwa hat seinen Ursprung in der intimen intellektuellen Auseinandersetzung des Autors mit Samuel Taylor Coleridge; autobiographisches Schreiben wird für Wordsworth vielleicht nicht erst, aber doch vor allem durch den imaginierten Dialog mit dem Freund produktiv. Dabei betonten Wordsworths Zeitgenossen gerade dessen reale oder inszenierte Einsamkeit. In seinen Table Talks in den frühen 1830er Jahren etwa kolportiert Coleridge über Wordsworth, dieser sei ein „Spectator ab extra“, der (nach Coleridges Meinung ähnlich wie Goethe) geprägt sei von einer „utter non-sympathy with the subjects of [his] poetry“. Beide, Wordsworth und Goethe, hätten „feeling for, but never with, their characters.“26 Wordsworths Dichtung, so formuliert es ein anderer zeitgenössischer Beobachter, William Hazlitt, sei „not external, but internal“.27 Zu The Excursion, einem Langgedicht, in dem Wordsworth nacheinander einen Dichter, Wanderer, Eremiten und einen Landprediger auftreten lässt, und das wie auch The Prelude Teil eines nicht verwirklichten größeren Werkes (The Recluse) werden sollte, schreibt Hazlitt: An intense intellectual egotism swallows up every thing. Even the dialogues introduced in the present volume are soliloquies of the same character, taking different views of the subject. […] It is as if there were nothing than himself [Wordsworth] in the universe.28

Andererseits zeigt sich in Wordsworths Dichtung gerade auch, wie in Zeiten zunehmender Partikularisierung, imaginäre Gemeinschaft als Gegenbild einer beginnenden industriellen Moderne als „significant group“ (wie Thomas McFarland das nennt) inszeniert und – durch die Herstellung einer literarischen Öffentlichkeit – performativ bekräftigt wird. The Prelude, dessen zwei erste von später 14 Büchern zwischen 1798 und 1799 entstanden sind, beginnt Wordsworth ganz ähnlich wie Schiller seine Elegie Der Spaziergang mit der Befreiung des Ichs „Of bondage, from yon city’s wall / A prison where he hath been long immured“. Das lyrische Subjekt überlässt sich nach dem Auszug aus der Stadt ganz den Bewegungen in der Natur, der „gentle breeze / That blows from the green fields and from the clouds“ und dem „twig or any || 26 Zitiert nach McFarland: Romanticism and the Forms of Ruin, S. 145. 27 Ebenda, S. 137–148, hier S. 137. 28 Hazlitt: Collected Works, Bd. 1, S. 113.

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floating thing / Upon the river“, der ihm den Weg weisen soll. Die offene, belebte Natur, die natura naturans („redundant energy / Vexing its own creation“) lässt das Subjekt auf seine eigene Kreativität hoffen: [...] the hope Of active days, of dignity and thought, Of prowess in an honorable field, Pure passions, virtue, knowledge, and delight, The holy life of music and of verse. 29

Wordsworth sucht allerdings nicht die absolute Absonderung von menschlicher Gesellschaft, sondern die Abwesenheit des „dreary intercourse of daily life“ in der Großstadt, wie er 1798 in Lines Composed a Few Miles Above Tintern Abbey formuliert.30 Einsamkeit hat für ihn die Funktion der urbanen Geschäftigkeit zu entkommen, nicht aber sich von jeglicher Gesellschaft abzusondern. Vielmehr ermöglicht erst die Einsamkeit das Wandern und die Imagination und bereitet so auf die Begegnung mit anderen Menschen vor, ähnlich wie etwa Franz Sternbalds Auszug aus Nürnberg in Tiecks nur wenige Jahre vor Wordsworths Gedicht entstandenem Roman, in dem es auch – um McFarlands Formulierung abzuwandeln – um die Möglichkeiten von ‚significant encounters‘ geht. Die Landleute, mit denen Wordsworth seine Gedichte bevölkert, sind dabei nicht nur Staffage pastoraler oder idyllischer Dichtung, sondern Charaktere, deren soziale Beziehungen von gesellschaftlichen und politischen Entfremdungen noch unberührt sind. Gerade die einfachen sozialen Verhältnisse erlauben es Wordsworth, tiefer in die emotionalen Verfasstheiten des Individuums einzutauchen, wie er im Vorwort zu den Lyrical Ballads erklärt: Humble and rustic life was generally chosen, because, in that condition, the essential passions of the heart find a better soil in which they can attain their maturity, are less under restraint, and speak a plainer and more emphatic language; because in that condition of life our elementary feelings coexist in a state of greater simplicity, and, consequently, may be more accurately contemplated, […].31

Das Ergebnis ist eine Dichtung, die „more forcibly“ kommuniziert32, also immer einen Adressaten vor Augen hat, statt sich in die anti-soziale Einsamkeit zurückzuziehen. Dementsprechend folgt dem einleitenden Blankvers-Absatz seines

|| 29 Wordsworth: The Prelude, S. 2 (Text nach der Fassung von 1805−1806). 30 Wordsworth: Poetical Works, Bd. 2, S. 262. 31 Ebenda, S. 386. 32 Ebenda.

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Prelude die Anrede an den generischen „O Friend!“33, Coleridge – eine Apostrophe allerdings, durch die sich auch der Leser selbst angesprochen fühlen darf.

4 Freundschaftliche Selbstgespräche Von der empfindsamen Einsamkeitsliteratur hat sich die Dichtung um 1800 damit weit wegbewegt, ohne allerdings ganz auf die poetischen Möglichkeiten empfindsamer Einsamkeitstopoi zu verzichten, wie etwa Coleridges kreative und ästhetisch aktualisierende Aneignung von Salomon Gessners Der veste Vorsatz zeigt, die er als The Picture or Lover’s Resolution in Daniel Stuarts Morning Post 1802 veröffentlicht. Hier zeichnet sich eine diskursgeschichtliche Verschiebung auf mehreren Ebenen ab. Einer in anakreontischer oder religiös-empfindsamer Dichtung verankerten Einsamkeitstopik steht in der Romantik eine wahrnehmungspsychologische Selbstverortung des Ichs in der einsamen Natur gegenüber. Gessner überblendet eine Natur, die nur auf den ersten Blick ein Spiegel der emotionalen Disposition des Ichs ist, mit einer Natur, aus der heraus der „Fußtritt eines Mädchens“ dem Ich eine neue Liebe verspricht, die ihn nach allen Enttäuschungen ganz von neuem einnimmt: „Flieh nicht, mein Kind […], oder flieh wie die Rose flieht, wenn ein Zephir sie küsst, sie biegt sich vor ihm weg, und kommt lächelnder zu seinen Küssen zurück.“34 Während Gessner einer erhabenen Landschaftsästhetik, in der sich der melancholische Zustand des Ichs spiegelt, eine anakreontische Wende gibt, und damit Einsamkeit nur als spielerische Kulisse für das sich neu verliebende Ich inszeniert, ist Coleridges Natur eine „self-reflexive landscape, at once exterior and yet also a mirror of the narrator’s moods and desires.“35 „The breeze, that visits me,“ antwortet Coleridges Gedicht, Gessners „Zephir“ durch eine nicht personifizierte, sondern wahrnehmbare Brise ersetzend, „Was never Love’s accomplice“ – allerdings ist es genau diese, die einen Vogel zum Singe bewegt, „Singing above me, on the mountain-ash“.36 Während Gessner also das einsame Erlebnis als Vorspiel des neuen Liebesabenteuers vorstellt, transformiert beim englischen Romantiker die Einsamkeit des meditierenden Ichs die Natur selbst in ein neues Lied. Coleridges Text ist Zeugnis der Verschiebung im Verständnis von Einsamkeit „zu

|| 33 Wordsworth: The Prelude, S. 4. 34 Gessner: Schriften, Bd. 3, S. 221–224, hier S. 224. 35 F. Burwick: Coleridge’s Art of Translation, S. 110. 36 Coleridge: Complete Poetical Works, Bd. 1, S. 371.

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einem verzeitlichten Gefühlsphänomen“37. Was um 1750 also noch Dekor ist, das zwischen Erhabenheit und Anakreontik changiert, wird zum Ende des Jahrhunderts hin eine ästhetische Voraussetzung für Dichtung und Gesang schlechthin. Aber geht mit der spielerischen Konventionalität nicht auch der kommunikative Aspekt der Dichtung verloren, und bewirkt die Verzeitlichung nicht einen Rückzug des Ichs in sich selbst? Coleridge konzipiert den literarischen Gedanken als Form des Selbstgesprächs, als Form virtueller Kommunikation. „A valuable thought, or a particular train of thoughts“, schreibt er in seiner 1817 veröffentlichten Biographia Literaria, „gives me additional pleasure, when I can safely refer and attribute it to the conversation or correspondence of another.“38 Für das Individuum bekommt die eigene Äußerung ihren Wert, wenn sie einem – realen oder imaginierten – Gesprächspartner zugesprochen wird; der abwesende Partner ist nicht nur beteiligt an der Genese des Gedankens, sondern maßgeblich für das ästhetische Wohlgefallen daran verantwortlich. Am deutlichsten hat Coleridge diese inhärent kommunikative Struktur des vorgeblich einsam dichtenden und lesenden Subjekts in den sogenannten Conversation Poems artikuliert.39 In diesen Gedichten wird die Erfahrung der Einsamkeit auf eine, wenn auch wenig konkrete, gesellschaftliche Utopie eines humanistischen Lebensideals bezogen, die sich nicht nur in einem persönlichen Ethos erschöpft, sondern ständig mit der politischen Gegenwart abgeglichen wird. Intime Erfahrung und öffentliche Äußerung werden in diesen Gedichten miteinander verschränkt. Im vielleicht bekanntesten dieser Gedichte, Frost at Midnight, lässt er sein lyrisches Subjekt die stille Einsamkeit am Bett des schlafenden Kindes erleben. In einem imaginierten Dialog, der als Adressat sowohl das Kind als auch den Leser hat, ruft das Ich zunächst die „abstruser musings“ auf, die von Frost und Stille hervorgerufen werden, erinnert sich dann an seine eigene Kinder- und Schulzeit, in der er träumerische „soothing things“ und „the stranger’s face“ dem strengen Lehrer bevorzugte, um am Ende dem schlafenden Kind die Fähigkeit zu einer Hermeneutik der Natur zu wünschen, die – so kann es der Leser annehmen – schon dem lyrischen Ich / Vater zuteil geworden ist. Subtil wird allerdings die intime Szenerie zwischen dem Vater und dem schlafenden Kind in einen größeren Zusammenhang imaginierter Kommunikation geöffnet:

|| 37 Wittler: Einsamkeit, S. 190. 38 Coleridge: Biographia Literaria, S. 15. 39 Für eine Übersicht siehe den klassischen Aufsatz von Abrams: Structure and Style in the Greater Romantic Lyric.

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Only that film [...] Whose puny flaps and freaks the idling Spirit By its own moods interprets, every where Echo or mirror seeking of itself, And makes a toy of Thought. 40

Der „film“ bezeichnet hier Rußfäden am Feuerrost des Kamins; „[i]n all parts of the kingdome these films are called strangers and supposed to portend the arrival of some absent friend“, erklärt Coleridge in einer Fußnote41. Die prophetische Bedeutung des Rußfadens am Kamin ist nicht einfach das Resultat einer subjektiven Symbolisierung (wie die Formulierung „[b]y its own moods interprets“ zunächst nahelegt), sondern kann durch ihre Absicherung im Volksglauben eine gewisse Objektivität für sich beanspruchen. Die antizipierte Ankunft des Freundes kann hier als Hinweis auf die Virtualität romantischer Kommunikationsgemeinschaften gelesen werden, wenn man den engen Bezug der Conversation Poems auf William Wordsworth berücksichtigt.42 Der Text empfiehlt nur auf den ersten Blick eine spielerisch-symbolische Aufladung der atmosphärisch erfahrenen Umwelt, die ihr hermeneutisches Zentrum im privaten Erleben des Ichs hat. Die metonymische Verknüpfung von „stranger“ und „friend“ in der erklärenden Fußnote (die Coleridge schon dem Erstdruck von 1798 beigefügt hatte) zeigt ja gerade die politisch-moralische Dimension des Gedichts: „If friends are strangers, strangers must be friends, and the circle of sympathy widens beyond the narrow domestic, and perhaps even national, circle.“43 In der vorletzten Strophe des Gedichts wird deutlich, dass diese Aufladung wieder von einer Präsenzerfahrung eingeholt wird, die eine fast körperliche Gemeinschaft mit dem Kind manifestiert: Dear Babe, that sleepest cradled by my side, Whose gentle breathings, heard in this deep calm, Fill up the intersperséd vacancies And momentary pauses of the thought!44

Coleridge zeigt hier jenseits von dem, was Schiller in seiner Rezension zu Matthisons Gedichten in die „wahre[] Natur“ und die „wirkliche[] (historische[]) Natur“

|| 40 Coleridge: Complete Poetical Works, Bd. 1, S. 240. 41 Ebenda. 42 Siehe Magnuson: Coleridge and Wordsworth, S. 139–176. 43 Magnuson: Reading Public Romanticism, S. 93. 44 Ebenda, S. 242.

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differenziert hat,45 einen Mittelweg für die Poesie auf: „The process of assimilation“, schreibt Kathleen Wheeler, „becomes an object of observation“ in Coleridges Gedicht.46 In anderen Worten, die Beobachtung der Transformation von Natur – hier präsent in der häuslichen Situation – ins Gedicht wird selbst zum Gegenstand der Poesie. Die Unbestimmtheit der ethischen Aussage des Gedichts wird allerdings auch wieder an die Präsenzerfahrung väterlicher Liebe zurückgebunden, d.h. poetische Bedeutsamkeit wird weder durch das private Erlebnis allein noch durch eine vorgegebene objektive Bedeutung hervorgebracht. Der einsame Ort, der den Imaginationsraum mehrerer der Conversation Poems bildet, ist dementsprechend kein locus amoenus, keine reine literarische Konvention mehr. Dadurch wird, wie Wheeler weiter darlegt, die unmittelbare Analyse der einsamen Wahrnehmung durch das lyrische Ich als Aufforderung einer ähnlichen phänomenologischen Hermeneutik durch den Leser hervorgehoben.47 Das es dabei nicht nur um eine Aufforderung geht, mit offenen Sinnen die Natur zu erfahren, sondern dass in der Natur ein Grund für eine Verbindlichkeit der Bedeutung selbst gesucht wird, führt Coleridge in Fears in Solitude vor. Dieses Gedicht wird in den Hügeln um Nether Stowey in Südwest-England situiert, wo Coleridge sich zwischen 1797 und 1799 niedergelassen hatte: A green and silent spot, amid the hills, A small and silent dell! O’ver stiller place No sky-lark ever poised himself.

Der reale Ort, der am Ende des Gedichts mit Datum genannt wird, wird allerdings schon bald transzendiert, und steht stellvertretend für die emotional empfundene Natur allgemein: And grateful, that by nature’s quietness And solitary musings, all my heart Is softened, and made worthy to indulge Love, and the thoughts that yearn for human kind.48

Die Einsamkeit der grünen Hügel hat das lyrische Subjekt vorbereitet auf die Erfahrung der Sympathie mit der ganzen Menschheit, und der konversationshafte Ton der jambischen Verse endet mit einem daktylischen und trochäischen Vers, der die Tonlage erhöht. Das Allverbundenheitsgefühl bleibt freilich ethisch vage, || 45 Schiller: Werke und Briefe, Bd. 8, S. 1020. 46 Wheeler: Creative Mind, S. 95. 47 Ebenda, S. 95, vgl. auch Magusson: Public Romanticism, S. 91. 48 Coleridge: Complete Poetical Works, Bd. 1, S. 256f. und S. 263.

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es zeigt aber, dass es Coleridge nicht um die Einsamkeit als Technik moralischer Gefühlssublimierung durch eine gemäßigte Melancholie geht, sondern um Einsamkeit als Voraussetzung kommunikativer Praktiken selbst, da nur das SichSelbst-Deuten des Ichs im Prozess der einsamen Naturerfahrung wirklich ein Bewusstsein der eigenen Gattungsnatur des Menschen zwischen „wahrer“ und „historischer“ Natur (um noch einmal Schiller aufzugreifen) zu garantieren scheint. Fears in Solitude wurde zu einer Zeit geschrieben, als die Sorgen um eine französische Invasion der britischen Inseln nicht ganz unberechtigt waren, wie Coleridge auch im Untertitel anklingen lässt: „Written in April 1798, during the alarm of an invasion.“49 So hat das Gedicht in gewissem Sinne einen sehr konkreten historisch-politischen Hintergrund, durch den die vage Ethik der Allverbundenheit objektiviert wird. Andererseits transzendiert allerdings auch das Allverbundenheitsgefühl einer „human brethren“ die Konkretheit des patriotischen Gefühls, das den eigentlichen politischen Inhalt des Textes ausmacht.50 Mit Frost at Midnight kann das ‚conversation poem‘ Fears in Solitude als Teil eines politisch-ethischen Kultivierungsprogramms gelesen werden, wie Coleridge (dort in einer journalistischen Sprache im engeren Sinne) in der Ankündigung und im programmatischen ersten Essay seiner kurzlebigen Zeitschrift The Watchman zwei Jahre früher anklingen lässt. Es sei eine politische Pflicht aller „Friends of Freedom, of Reason, and of Human Nature“ wahre Informationen zu verbreiten, um jeglicher Propaganda vorzubeugen.51 Die Absicht des Watchman ist es, Nachrichten auch jenseits des „Ale-house“ dem öffentlichen Diskurs zugänglich zu machen. Entsprechend ist es der einsame Leser, den Coleridge hier vor Augen hat, und den es politisch zu pflegen gilt. Dementsprechend soll, wieder dem „Prospectus“ gemäß, die Zeitschrift neben außenpolitischen Nachrichten und parlamentarischer Korrespondenz auch „[o]riginal Essays and Poetry“ bringen,52 sich also auf die Bildung des ganzen Individuums richten. Auch die Zeitschrift zielt eher auf Konversation, als auf einsame Lektüre. Form und Gestalt der ‚Conversation Poems‘, wie Paul Magnuson seine Interpretation von Frost at Midnight zusammenfasst, „take their significance from the allusiveness of the dialogue, not from referentiality or from the rhetoric of symbol and allegory, which at this date Coleridge had not defined.“53

|| 49 Ebenda, S. 256. 50 Ebenda, S. 257 und S. 262. 51 Coleridge: The Watchman – Collected Works, Bd. 5, S. 5 (Prospectus). 52 Ebenda, S. 5. 53 Magnuson: Public Romanticism, S. 85.

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5 Öffentliche Selbstgespräche Ein gemischtes Programm ist für die Zeit um 1800 für eine Zeitschrift natürlich nicht weiter ungewöhnlich. Interessant ist Coleridges Begründung seines Zeitschriftenprojektes allerdings nicht allein durch eine von ihm festgestellte thematische Notwendigkeit (den Kampf gegen die Propaganda), sondern auch durch den Hinweis auf politische Kultur und Lesegewohnheiten; er verankert seine Zeitschrift im literarisch-journalistischen System seiner Zeit nicht zuallererst durch ein fest umrissenes thematisches Programm (wenn auch mit einer deutlichen liberalen politischen Tendenz), sondern mit dem Hinweis, dass durch die Besteuerung, die Premierminister William Pitt erlassen hat, Zeitungen zu einem Luxusartikel geworden sind, den sich weite Bevölkerungsschichten nicht mehr leisten können. Während die wohlhabende Mittelschicht noch das Kaffeehaus, Salons oder Clubs als Institutionen des Informationsaustauschs zur Verfügung hat, bleibt für die weniger wohlhabenden nur das „Ale-house“, wo der „poor man[]“ nur „drunkenness and sloth“ erlernt, statt Informationen zu tauschen.54 Das auf einen Dialog gerichtete Lesen, und der Watchman als die politisch adäquate Lektüre, wird von Coleridge als demokratisierender Gegenentwurf zu gerade erst entstandenen Institutionen der Informationsöffentlichkeit55 vorgeschlagen – ein Vorschlag, der allerdings nur auf den ersten Blick einen Rückzug in die romantische Einsamkeit erfordert, da ja der Inhalt des Zeitschriftenprojekts sich gerade auf die politische Öffentlichkeit richtet. Die vom Watchman angestrebte Öffentlichkeit ist die jenseits des „Ale-houses“, die einsame Lektüre, in der allerdings gerade solche Informationen verhandelt werden, die die Einsamkeit ins Politische transzendieren, so, wie in „Frost at Midnight“ der Freund als virtuell anwesend imaginiert wird. In beidem geht es um die Konstitution einer politischen Gemeinschaft. Die Einsamkeit des Schreibenden und des Lesenden ist strukturell im Mediensystem um 1800 integriert, und der Einsame selbst mehr mediale Imaginations- als anthropologische Identifikationsfigur, wie noch die Empfindsamkeit ihn sehen wollte. Ironisch wird das in Arnims „Ankündigung der allgemeinsten Zeitung“, der Zeitung für Einsiedler, aufgegriffen. Der lesende Einsiedler wird hier nicht als Eremit vorgestellt, sondern gerade als Teil einer bürgerlichen Öffentlichkeit: „Die Lese-Cabinette“ sind die „wahre[n] Sammelplätze dieser neuen Einsiedler“. Auch hier wird also die literarische Öffentlichkeit zwischen Geselligkeit

|| 54 Coleridge: The Watchman – Collected Works, S. 11, zur Besteuerung von Zeitungen vgl. S. 10. 55 Vgl. Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 90–107.

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und Einsamkeit entworfen. Die „neuen Einsiedler, […] welche an den Begebenheiten der wirklichen Welt gar zu persönlichen Antheil nehmen, sie werden hier [in der Zeitung für Einsiedler] Begebenheiten finden, noch viel größer und bedeutender als die uns umgebenden“, so beschreibt Arnim sein Programm, und lässt dem eine phantastische Liste mit Themen folgen, „fabricirte[] Thiere, Physiologie gemachter Blumen“ inklusive.56 Um die Jahreswende 1807/1808, etwa vier Monate bevor die erste Nummer erscheint, notiert sich Arnim einige mögliche Titel für sein Zeitschriftenprojekt, darunter auch „Der Einsiedler in Gesellschaft“; mit diesem – letztlich verworfenen – Titel macht er das publizistische Programm seiner Zeitschrift deutlich. Konkret sollte die Zeitung für Einsiedler jenseits des politischen Tagesgeschäfts die „Freyheit“ schaffen, die noch fehlte, um „alles Wirkliche, Historische“ in einer literarischen Öffentlichkeit diskutieren zu können, wie Arnim in einem Brief an Brentano darlegt.57 Die politische Dimension der Zeitschrift bestand gerade darin, nicht politisch zu sein, allerdings durch die Präsentation älterer und neuerer Zeugnisse deutscher Literatur ein Gefühl kultureller Identität herzustellen: [...] die Dichtung alter und neuer Zeit, soll uns erzählend in den Strom der Begebenheiten hineinreissen, damit wir nicht leichtsinnig uns fremde Gedanken machen, sondern nach Gewissen rastlos, und ruhig aufmercksam steuern allen bösen Werken.58

Einsamkeit ist für die Zeitung für Einsiedler die Voraussetzung der Literatur – und die Funktion der Poesie ist es, die Voraussetzung für einen öffentlichen Diskurs, also wiederum für geteilte Einsamkeit zu schaffen, die wiederum literarisch produktiv wird. Die konkrete historisch-politische Umwelt der Zeitung für Einsiedler ist natürlich eine andere als die Situation in England im vorhergehenden Jahrzehnt. Wichtig in diesem Zusammenhang ist allerdings, dass Arnim wie Coleridge seine anvisierten Leser nicht mit einem thematisch in sich geschlossenen Programm für eine Idee zu gewinnen sucht, sondern gerade durch die Heterogenität des Materials, das sich einer engen Bezugnahme auf die historische Wirklichkeit verweigert, eine ideelle Gemeinschaft herstellt. In dieser Hinsicht ist Arnims Projekt freilich deutlich radikaler als Coleridges journalistisch letztlich ernstzunehmender Watchman. Worin sich beide sonst also recht unterschiedlichen Projekte ähneln, ist, dass sie eine strukturelle Verknüpfung von Einsamkeit des Lesens und öffentlichem Diskurs suchen. Wie wichtig diese Konstruktion des öffentlichen || 56 Arnim: Werke und Briefwechsel (Weimarer Arnim-Ausgabe), Bd. 6.1, S. 1. 57 Ebenda, Bd. 6.2, S. 631 und S. 649. 58 Ebenda, S. 627

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Einsamen für die Konzeption von Autor, Text und Leser ist, wird deutlich, wenn das mit dem knapp zehn Jahre älteren Programm des Athenäums verglichen wird. Gedacht war die Zeitung für Einsiedler als ein Medium, das (idealerweise, wenn auch nicht gerade in der realen Rezeption) jenseits der Parteienbildung zwischen Romantikern und Klassikern kulturelle Identität stiftet. Während das Athenäum Zeugnis der dezidiert exklusiven Gruppe der Frühromantiker in Jena ein (die programmatische fragmentarische Offenheit integrierendes) diskursiv geschlossenes Projekt,59 eine Art Echokammer frühromantischen Sprechens war, war die Zeitung für Einsiedler offener konzipiert, und grundierte Kommunikation nicht in der intimen Gruppe, sondern in der literarisch interessierten Öffentlichkeit generell: jeder Leser sollte im Idealfall auch gleichzeitig Autor sein. Während das Athenäum, das programmatische Organ des Jenaer Kreises, aus dem unmittelbaren Zusammensein eines kleinen Freundeskreises entstanden ist, sind Arnims Leser – und Autoren – wie Einsiedler in ganz Deutschland verstreut, jenseits der schriftlichen Kommunikation eben „interaktionslos“ (Luhmann). Das heißt auch, dass die Zeitschrift nicht durch autoritative Kommunikation eine Gruppe nach innen hin konstituiert und nach außen hin darstellt, sondern dass Kommunikation mehrdirektional zwischen einer Mehrzahl von Sendern und Empfängern demokratisiert ist. Arnim ist in dieser Hinsicht mehr Moderator als Herausgeber.

6 Einsamkeit und Autorschaft Das berührt letztlich Arnims Verständnis von Autorschaft, wie er es poetisch in der Kronenwächter-Einleitung „Dichtung und Geschichte“ erklärt. Der nicht diskursiv-systematisch verfahrende Text kreist um eine Reihe zentraler Begriffe, die selbst allerdings in ihrer semantischen Reichweite nicht eingeschränkt werden, immer also auch je nach Kontext auf etwas anderes Verweisen können. „Dichtung“, „Gesetz“, „Geschichte“, „Erde“ und „Wahrheit“ scheinen sich zunächst auf einen objektiven Gehalt zu beziehen, der in der poetischen Mitteilung historische Persistenz beansprucht. „Arbeit des Geistes“, „Zweifel“ oder „Leidenschaft“60 schreiben der Wahrheit allerdings eine notwendig subjektive Komponente ein, von der aus Arnim dann in den zweiten, historisch objektivierenden || 59 „Fremde Beyträge“, schreiben Friedrich und August Wilhelm Schlegel in der „Vorerinnerung“ zu ersten Nummer des Athenäums, „werden wir nur aufnehmen, wenn wir sie, wie unsere eigenen, vertreten zu können glauben, und Sorge tragen, sie besonders zu unterscheiden.“ – Athenäum, Bd. 1, St. 1, S. IV. 60 Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 2, S. 11–15.

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Teil der Romaneinleitung, „Weiblingen“61, überleitet. Während die erste Einleitung die Unvergänglichkeit geistiger Arbeit betont, führt die zweite historische Kontingenz ein: In „Dichtung und Geschichte“ wird Raum a-historisch durch die Metapher des Feldes konstituiert, in „Weiblingen“ dagegen ist es die historisierende „Karte von Schwaben, wie sie Homann’s Erben im Jahre 1734 herausgaben“ und die „noch jetzt nach so vielen Veränderungen, wohlgefallen“ muss.62 Aus dieser räumlich manifesten Spannung zwischen Unvergänglichkeit und Vergänglichkeit entwickelt Arnim seine Poetik des Geschichtsromans, der das Verhältnis von einsamer Subjektivität und öffentlichem Interesse fiktiv in der kleinen schwäbischen Reichsstadt Waiblingen durchspielt. Arnim präsentiert in seinem Roman ein „öffentlich-geschichtlich[es] Wirklichkeitsverständnis“63, in dem immer auch bewusst gehalten wird, dass jede historische Überlieferung perspektiv- und interessengeleitet ist. So schreibt er im Juni 1812, wohl zu der Zeit, zu der er beginnt seinen ersten Romanentwurf umzuarbeiten, an Wilhelm Grimm: Bei einem größeren Werk […] wird Dir die Nothwendigkeit meines Verfahrens deutlicher werden, im voraus möchte ich Dich aber überzeugen, daß es nie ein Gedicht gegeben, das historisch, und keins, das ohne Historie ist; die letztern braucht man nur nicht in der allgemeinen Welthistorie zu suchen und in der Geschichte nicht alles für wirkliche Geschichte zu halten.64

Der Dichter ist in diesem Kontext weniger Schöpfer unvergänglicher Werke, als vielmehr Mediator geschichtlichen Wissens (oder „Einsicht[en]“, wie Arnim es in der Einleitung nennt65). Der Dichter wird „zur regulierend-konstruierenden Rezeptions- und Promulgationsprämisse der Geschichte“, die selbst in ihrer Kontingenz dem einzelnen Individuum nicht mehr durchschaubar ist. Weder ganz Geschichte, noch von einem Bewusstsein des Historischen ganz abgekoppelt, ist der Geschichtsroman Die Kronenwächter „visionäre, momenthafte Erleuchtung“66, die nicht Geschichte selbst rekonstruiert, sondern eine Art Archäologie des „vergessene[n] Wirken[s] der Geister“ darstellt.67 Damit ist eher die Vergänglichkeit des individuellen Werkes und seines Autors bezeichnet, als dessen historische Persistenz, da ja das zeitlich Überdauernde nur im Akt der Entdeckung || 61 Ebenda, S. 15–17. 62 Ebenda, S. 15. 63 Ricklefs: Kunstthematik und Diskurskritik, S. 133. 64 Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 2, S. 623. 65 Ebenda, S. 13. 66 Nitschke: Utopie und Krieg, S. 295 und 301. 67 Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 2, S. 13.

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aufscheint. Das heißt, dass auch im Geschichtsroman Geschichte nicht mehr auf einen erkennbaren göttlichen Heilsplan zurückgeführt werden kann, zumindest entzieht sich die Erkennbarkeit jeder göttlichen Teleologie dem menschlichen Urteilsvermögen: „Wer kann den Tau des Paradieses von dem ausgespritzten Gift der Schlange unterscheiden?“68 Dagegen wird die geistige Arbeit selbst, die „Einsamkeit der Dichtung“ durch die Metapher des Pflügers als ein immer wiederkehrender, als Tätigkeit letztlich unvergänglicher Akt ausgewiesen; denn so wie jedes Jahr der Pflüger wieder sein Feld bearbeitet, wird auch in jeder Epoche ein Arbeiter auf dem geistigen Felde die Artefakte der Vergangenheit ausgraben und in Erinnerung rufen. Dabei ist die Pointe gerade, dass Dichtung dadurch nicht zu einem in sich geschlossenen Kreis wird, denn die Metaphorik betont implizit gerade den Rezeptionsaspekt, oder genauer: die Konsumption, denn die Pflüger arbeiten nicht nur für sich, sondern auch für „die Kinder, die ihnen entgegen gegangen“. Die metaphorische Parallelisierung von Pflügen und Schreiben legt in der Einleitung, jenseits der stets changierenden sprachlichen Darstellung, ja auch durchaus eine ganz konkrete Parallele zwischen Lesen und Essen nahe, also der Produktion und Konsumption ‚geistiger Früchte‘. Damit ist der Wirkungszusammenhang von einsamen Schreiben und der Rezeption bezeichnet.

7 Epilog Schreiben und Lesen sind Tätigkeiten, die – vom lauten Lesen in Gesellschaft einmal abgesehen – eine gewisse räumliche und zeitliche Absonderung des Subjekts erfordern; Einsamkeit ist so gesehen die Voraussetzung für beides, Produktion und Rezeption des literarischen Werks. Die „hülfreiche Einsamkeit“ (Humboldt) des Schreibens und Lesens hat aber selbst wieder ihre Funktion in der Konstitution moderner öffentlicher Institutionen. Dafür steht in der Zeitung für Einsiedler Arnims Plan, durch Präsentation vergangener geistiger Zeugnisse die Leser in den „Strom der Begebenheiten“ zu ziehen. Durch die Dialektik von Geschichts- und Präsenzbewusstsein soll die Identität einer Gemeinschaft begründen werden, die jenseits der in der Ausdifferenzierung der Gesellschaft nur noch wachsenden Interaktionslosigkeit ihre vereinigende Kontur gewinnt; die Kronenwächter-Einleitung bestätigt noch einmal, dass der Dichter, oder vielleicht eher

|| 68 Ebenda, S. 12.

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die Früchte der geistigen Arbeit, das Werk, seinen Wert nicht in der Artikulation einer einsamen Erfahrung selbst erlangt: Das Mittätige und Selbstergriffene daran ist gewiß mehr hemmend als aufmunternd, denn Heftigkeit des Gefühls unterdrückt sogar die Stimme, weil diese sie zum Maß der Zeit zwingt, wie viel weniger mag sie mit der trägen Pflugschar des Dichters, mit der Schreibfeder zurecht kommen. Die Leidenschaft gewährt nur, das ursprünglich wahre, menschliche Herz, gleichsam den wilden Gesang des Menschen, zu vernehmen und darum mag es wohl keinen Dichter ohne Leidenschaft gegeben haben, aber die Leidenschaft macht nicht den Dichter, vielmehr hat wohl noch keiner während ihrer lebendigsten Einwirkung etwas Dauerndes geschaffen und erst nach ihrer Vollendung mag gern jeder in eignem oder fremden Namen und Begebenheit sein Gefühl spiegeln.

Das Dauernde des Werkes stellt sich erst ein, wenn die Spontaneität der unmittelbaren Erfahrung, der „wilde[] Gesang des Menschen“, zur „Wahrheit [ge]läutert“ wird, und so „Dichtung einen sichern Verkehr mit der Welt“ eingehen kann.69 Relevant ist nicht die Einsamkeit selbst, sondern ästhetischer Mehrwert entsteht erst in der Mitteilung. Noch einmal zehn Jahre nach der KronenwächterEinleitung erscheint dieses Programm geteilter Einsamkeit wieder in einem anderen Licht. 1828 schreibt Arnim sein kurzes Gedicht „Der Welt Herr“: Morgenstund hat Gold im Munde, Denn da kommt die Börsenzeit Und mit ihr die süße Kunde, Die des Kaufmanns Herz erfreut: Was er Abends spekulieret Hat den Kurs heut regulieret, Eilend ziehen die Kuriere Mit dem kleinen Kursbericht, Daß er diese Welt regiere Von der andern weiß ichs nicht: Zitternd sehn ihn Potentaten Und es bricht das Herz der Staaten.70

Obwohl die Kronenwächter-Einleitung betont hatte, dass eine „vollständige Übersicht eines ganzen Horizonts“ unmöglich sei, zielt doch der Geschichtsroman gerade darauf, Dichtung „aus Vergangenheit in Gegenwart, aus Geist und Wahrheit“ zu präsentieren,71 also durch historische Distanz eine Perspektive auf den

|| 69 Ebenda, S. 13f. 70 Ebenda, Bd. 5, S. 972. 71 Ebenda, Bd. 2, S. 13.

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„Strom der Begebenheiten“ zu entwickeln. In „Der Welt Herr“ dagegen wird auch diese Möglichkeit einer geahndeten Transzendenz zurückgenommen in das Bewusstsein, dass die Poesie in der modernen Welt eben nicht die einzige Form der Lektüre ist. Aus der Einsamkeit als Voraussetzung eines öffentlichen Diskurses, wie Wordsworth, Coleridge und auch der Arnim der Zeitung für Einsiedler und der Kronenwächter sie noch vor Augen hatten, ist die Einsamkeit des ökonomischen Subjekts geworden, das gerade inmitten der anonymen, und gerade deswegen einsamen Masse der Stadt – „the whole Swarm of its inhabitants / An undistinguishable world“, wie Wordsworth seine Zeit in London reflektiert72 – auf das gedruckte Wort, den „Kursbericht“ wartet. Das Ethos einer mehr oder weniger umrissenen geteilten Einsamkeit als Form der Vergemeinschaftung wird durch den Börsenbericht als ersehnte Mitteilung ersetzt. Das ist, wie Arnim in seiner GoetheParodie Wunder über Wunder darlegt, nicht nur begründet durch einen Verlust am Vertrauen auf romantische Kommunikationsformen, sondern durch einen historischen Wandel. Arnim lässt Jarno erklären, dass er nun „Montan & Comp.“ heißt, und weiter: „ich hatte entdeckt, daß das Geld den Mittelpunkt eingenommen hat, welchen sonst die Ehre, der Glaube und tausend andre Schnurrpfeifereien behauptet hatten.“73 An die Stelle Glaubens, der in „Dichtung und Geschichte“ als „tätige Erhöhung“ Vergänglichkeit zum „Zeichen der Ewigkeit“ erhöht74, tritt der monetäre Mehrwert. Das Gelingen romantischer Kommunikation, die geteilte Einsamkeit, wird in „Der Welt Herr“ dementsprechend durch die Einsamkeit des Selbstinteresses verhindert: das Subjekt in der „Einsamkeit der Dichtung“ vereinigt nicht mehr, sondern partikularisiert den Zusammenhang der romantischen Gesellschaftsidee, wie es das „Herz der Staaten“ bricht, ohne von der „andern“ Welt, in der „das Geistige“75 herrscht, noch irgendetwas zu ahnen.

|| 72 Wordsworth: The Prelude, S. 260 73 Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 4, S. 649. 74 Ebenda, Bd. 2, S. 13. 75 Ebenda.

Barbara Becker-Cantarino

Geselligkeit und Politik Bettina von Arnims ‚Salongespräche‘ Ganz anders als Achim von Arnim, für den einsiedlerhafte Zurückgezogenheit immer eine Voraussetzung für gute Kunst war1 und der sich in Wiepersdorf fern von der Berliner Gesellschaft wohlfühlte, genoss Bettina von Arnim das gesellige Leben, das ihre spätere literarische Tätigkeit inspirierte und entscheidend bereicherte. Seit 1817 hatte Bettina mit ihren Kindern ihren Wohnsitz in Berlin unterbrochen durch Reisen und Aufenthalte auf ihren Landgütern. Sie besuchte häufig die Gastlichkeiten bei Schwager Friedrich Carl von Savigny und Schwester Gunda, die Häuser bekannter Familien wie das des Theologen Friedrich Schleiermacher und die Salons wie den von Rahel und Karl August Varnhagen von Ense. Hier glänzte Bettina in der Konversation, sie erschien dort 1829 als: liebenswürdig, leise; voller Geist, Leben, Scherz, und tiefstem Ernst […] verteidigte Ignoranz: ihre; prächtig; putzig. Bewies, daß eine Mutter keinen Arzt an ihr Kind kommen lassen müßte; geistvoll, naturkundig, fortreißend, tief ernst, mit Beispielen; und mit dem Sonnenscheine des reichsten Scherzes darüber. Sie enchantierte die ganze Gesellschaft. Mann und Weib (Rahel an Varnhagen, 19. Februar).2

Erst seit den späten 1830er Jahren pflegte sie „zeitweise ein literarische und musikalische Geselligkeit in ihrem Hause“3 und empfing selbst zahlreiche Besucher in ihrer Wohnung. Zunächst waren es zumeist junge, aufstrebende Akademiker und Literaten, in den 1840 Jahren kamen auch liberal gesinnte, politisch engagierte Männer zu ihr zu Besuch. Was wissen wir über die mit der mündlichen Salon-Kultur verbundene Geselligkeit Bettina von Arnims in Berlin besonders in den Jahrzehnten nach Achims Tod im Jahre 1831? Wie sah Bettina von Arnims Salon aus, der in den 1840er Jahren als ,Salon der Demagogen‘ von der Geheimpolizei observiert gewesen sein soll, wie (in später angefertigten) Zeitdarstellungen kolportiert wird?4

|| 1 Moering: „Der grosse Einsiedler Palast, worin viele tausend Gelehrte, Liebhaber, Sechswöchnerinnen, ungestört neben einander leben können.“ Gedankenräume im Umkreis der „Zeitung für Einsiedler“. – In: Pape (Hrsg.): Raumkonfigurationen der Romantik, S. 203¬222, hier S. 209. 2 Zit. in Härtl: Eine Chronik. Daten zu Leben und Werk, S. 14-111, hier S. 63. 3 Wihelmy: Berliner Salons, S. 156. 4 Glossy (Hrsg.): Literarische Geheimberichte, S. 110. https://doi.org/10.1515/9783110634709-011

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Wie ist ihre Geselligkeit reflektiert in den sog. Salongesprächen5, in ihrem Briefwerk und in ihren Gesprächsbüchern, Dies Buch gehört dem König (1843) und Gespräche mit Dämonen (1852)?

1 Besucher und Geselligkeit bei Bettina von Arnim Seitdem Bettina von Arnim 1835 mit ihrem Erstlingswerk Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde zu einer prominenten Autorin gewordenen war, kam ein sich wandelnder Besucherstrom zu Bettina in ihre Berliner Wohnung, Als die in der Berliner Gesellschaft gut vernetzte ,Frau Baronin von Arnim‘ – sie war auch die Schwägerin des derzeitigen preußischen Justizministers Savigny – gehörte Bettina bald zu den Pflichtvisiten der aufstrebenden Literaten, Studenten und in den 1840er Jahren auch der deutschen und ausländischen Berlin-Touristen. Bettina empfing viele Besucher (auf Anfrage, nach Anmeldung oder auf Empfehlung) zumeist einzeln in ihrer Berliner Wohnung ab 1836 (dem Ende des Trauerjahrs für ihren jüngsten Sohn Kühnemund, der bei einem Badeunfall 1835 verunglückt war, und ihrer Patentochter Bettina von Savigny-Schinas, die jung verheiratet in Griechenland verstarb). Es waren begeisterte Leser, Studenten und an Karriere interessierte junge Männer aus gutem Hause „mit oft eigenen, biedermeierlichepigonalen poetischen Neigungen“, die in Bettina „die Frau sahen, die ihnen näheren Aufschluss über ihren Umgang mit berühmten Zeitgenossen geben konnte“.6 Der damals 22-jährige Emanuel Geibel (1815–1884), dem Bettina dann eine Hauslehrerstellung vermittelte, berichtete, dass Bettina viel erzählte, das waren „Geschichten, wie sie Fürst Pückler in die falschen Waden gestochen, oder den Herrn Gutzkow ausgescholten hatte.“7 Und über die Geselligkeit schrieb er an seine Mutter 1837: Auch bei Bettina bin ich seit etwa vier Wochen sehr häufig; sie ladet mich wöchentlich mehrmals ein und hat mich ganz in ihre Familie eingeführt. In ihrem Hause ist ein lustiges Treiben, das durch die freundliche Offenheit ihrer Töchter noch mehr gewinnt […] Es

|| 5 Vgl. Schultz: „Euer Unglaube an die Naturstimme erzeugt den Aberglauben an eine falsche Politik.“ − In: Schultz (Hrsg.): Salons der Romantik, S. 251−270. 6 Bäumer/Schultz: Bettina von Arnim, S. 70. 7 Ebenda.

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werden Verse um den Tisch gemacht […] oder man setzt sich ans Pianoforte, um durch Gesang und Musik die aufgeregte Stimmung noch höher zu steigern.8

Auch der spätere preußische Diplomat Marcus von Niebuhr (1817–1860), dessen Vormundschaft Savigny 1831 übernommen hatte, genoss als Berliner Student die biedermeierliche, ungezwungene Geselligkeit bei Bettina: „Des Abends sind immer viele junge Leute da [bei Bettina], die ihren Töchtern mehr oder weniger den Hof machen: diese sind recht hübsch, lebendig, klug und sind sehr reizend durch eine große Unschuld, mit der sie sich über viele Schranken des geselligen Lebens hinwegsetzen, ohne auch im Leisesten den feinen Anstand zu verletzen“.9 Von Bettinas (damals noch sechs) Kindern werden die Töchter Maxe und Armgart häufig erwähnt. Die bis in die 1840er Jahre hinein eher jungen Besucher waren fasziniert von Bettinas rhetorischer Begabung, ihren Späßen, ihrer Schlagfertigkeit, ihrer Exzentrizität und ihrem Geltungsbedürfnis, ihrer Ironie und ihren bedeutungsvollen Anspielungen. Hier ist jedoch weniger von Dialogizität, Diskussion und Gesprächen die Rede, eher benutzte Bettina wohl eine „monologisierende Form der Überredungskunst und Belehrung“ mit „egozentrischer Wortgewalt“.10 Die geselligen Beziehungen waren geprägt von einer komplexen, „sinnliche[n] Erotik“,11 wie sie auch in den Briefen aus dem Kreis erscheint, die Bettina später in Ilius Pamphilius und die Ambrosia (1848) publizierte. Bettina wandte sich in den 1840er Jahren als Mentorin der Fürstenerziehung zu, etwa im Briefwechsel mit Friedrich Wilhelm IV. und mit dem Kronprinzen Karl von Württemberg, der als Berliner Student Savignys ihre Bekanntschaft suchte. Als sich in den 1840er Jahren die politischen und sozialen Spannungen intensivierten, die dann zur Revolution von 1848 führten, spiegelte sich das auch bei Bettinas Besuchern (und Briefpartnern), die eher religiös und politisch liberal engagiert waren wie u.a. der (1842 von der Universität Bonn, d.h. aus dem preußischen Staatsdienst entlassene) Theologe Bruno Bauer, (der spätere Kunsthistoriker in München) Moriz Carriere oder der aus russischem Adel stammende, spätere Revolutionär und Theoretiker des Anarchismus Michail Bakunin (1814– 1876). Bakunin kam 1840 nach Berlin zum Philosophie-Studium für drei Semester und publizierte 1842 (unter dem Pseudonym Jules Elysard) seinen ersten revolutionären Essay Die Reaction in Deutschland mit der dialektischen Schlusspointe:

|| 8 Zitiert nach: B. v. Arnim: Werke und Briefe, Bd. 3, S. 692f. 9 Ebenda. 10 Bäumer/Schultz: Bettina von Arnim, S. 71. 11 Bäumer: „Bettine, Psyche, Mignon“, S. 95.

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„Die Lust der Zerstörung ist zugleich eine schaffende Lust“.12,Revolution‘ oder ,Umwälzung‘, das von Bettina von Arnim mehrfach gebrauchte Bonmot: „die Welt umwälzen darauf läuft’s hinaus“, jetzt als Titel der neuesten germanistischen Bettina-Publikationen herausgestellt,13 spielt darauf an. ,Umwälzung‘ lag im Vormärz der 1840er Jahre in der Luft. Der, wie so viele russische und polnische Intellektuelle nach Westen orientierte, Zar-Gegner Bakunin hatte bereits 1838 eine Übersetzungsprobe aus Bettinas Goethebuch in einer Petersburger Zeitschrift 1838 erscheinen lassen,14 seine angekündigte Gesamtübersetzung erschien allerdings nicht.15 Bakunins Interesse an Bettina, wie das Ivan Turgenevs (1818–1883) und anderer russischer Literaten in Berlin im Kreis um die russische Familie Frolov, deren Haus Bettina besuchte, erlosch bald wieder. Bettina von Arnim „imponierte durch ihr lebhaftes, gefühlsbetontes Wesen und besonders durch ihre Freundschaft und ihren Briefwechsel mit dem großen deutschen Dichter“, aber ihre „pathetische Phantastik“ stieß ab; Bakunin „sagte sich von seiner romantischen Begeisterung für Bettina los“, er fand 1843 George Sand „tatkräftiger und aktiver“ und zeitgemäßer.16 In den 1840er Jahren hatte Bettina sehr wohl mit einigen (zumeist erst viel später prominenten) oppositionellen, gesellschafts- und religionskritischen Intellektuellen geselligen Umgang, dass aber ihr Haus einen politischen Versammlungsort für diese geboten hätte, ist nicht bezeugt, konkrete Gesprächskontexte oder gar Kollaborationen sind nicht überliefert. Die in literarischen Geheimprotokollen im Vormärz von Spionen – zumeist selbst Publizisten und Literaten – angefertigten Berichte bringen Bettinas Namen eher en passant, etwa im Zusammenhang mit den „Teegesellschaften der Damen“. In diesen Teegesellschaften wurden, laut Spion-Berichten, „soziale Fragen behandelt. Die Tendenz dieser Teegesellschaften ist eine sozialistische, indem die Versammelten sich vorzugsweise über ein in Wesen und Form zu verbesserndes Leben unterhalten und besprechen. Vorzüglich ist es das weibliche Geschlecht, das sich von den Fesseln des Herkommens, der Mode, der Konvenienz sehnt“; Bettina sei „die erste und bedeutendste“ der Frauen, dass ihre „Abendzirkel den bezeichneten Ruf haben“ sei in Berlin „allgemein und selbst dem Hofe bekannt. Man läßt sie gewähren, da

|| 12 Elysard [=Bakunin]: Die Reaction in Deutschland, S. 1002. 13 B. v. Arnim: „Die Welt umwälzen – denn darauf läufts hinaus.“ Der Briefwechsel zwischen Bettina von Arnim und Friedrich Wilhelm IV. 14 B. v. Arnim: Werke und Briefe, Bd. 4, S. 909. 15 D. T. Dehn: Bettina und Russland, S. 356–358. 16 Ebenda, S. 343 und S. 348.

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sie hier in allgemeiner Achtung steht und man ihr von Rechtswegen nichts anhaben kann“.17 Von intensiven Diskussionen oder tagespolitischen Gesprächen Bettinas fehlen schriftliche Quellen; auch nach etwa 1845 und in den Revolutionsjahren, als die Zensur aufgehoben war, äußerte Bettina sich nicht politisch, schon gar nicht revolutionär, trotz Revolutionssympathien, denn sie blieb königstreu und wollte (vermutlich) die (briefliche) Verbindung zu Friedrich Wilhelm IV. nicht gefährden18 und die Anerkennung ihrer Person durch den König nicht aufs Spiel setzen, so vermutete Varnhagen.19 Dennoch war Bettina eine erste Adresse in der guten Berliner Gesellschaft, besonders für liberal gesinnte Literaten und Intellektuelle.

2 Ein ,Salon der Demagogen‘? Authentische Quellen zum Salon sind naturgemäß spärliche Reminiszenzen, denn Salons als ungezwungene, private Geselligkeit im regelmäßigen Turnus (jour fix), zu denen zumeist eine Dame der guten Gesellschaft zur Konversation (über Kunst, Literatur, Philosophie oder auch Politik) und musischen Darbietungen eingeladen hatte, gehörte zur mündlichen Kulturtradition ohne schriftlich fixierte Statuten oder Protokolle, wie sie bei organisierten Gesellschaften oder Vereinigungen der Männer20 üblich waren. Auch waren die Salons zeit- und lokalspezifisch unterschiedlich und vielgestaltig, die Übergänge zu und Überschneidungen mit anderen Formen privater oder familiarer Geselligkeit, an denen auch Frauen teilnahmen, wie Visiten, Audienzen, Familienfeste, Diners, Soirées oder Musikabende waren durchaus fließend. In der Kulturgeschichte der Salons wird oft betont, dass eine Frau der Mittelpunkt eines Salons ist wie in den bekanntesten literarischen Salons der Henriette Herz oder Rahel Varnhagen, dass Frauen und Angehörige verschiedener Stände zu dieser eher ,demokra|| 17 Glossy: Literarische Geheimberichte, S. 110; Bericht vom 14. August 1843. 18 So argumentiert Ulrike Landfester: Das Schweigen der Sibylle. 19 Bettinas letztes Buch erschien, ohne polizeiliche Aufmerksamkeit zu erregen, war jedoch praktisch unverkäuflich. Bettina hatte Varnhagen berichtet, dass sie auf Anerkennung und Schutz hoffe (ihres Buches Gespräche mit Dämonen. Des Königsbuches zweiter Band) durch den König, sie „wünscht [es] sehnlichst, besonders auch um ihrer Familie willen, damit diese nicht tadeln und schelten können, sondern mitverehren müssen, was der König verehrt“; aus Varnhagen: Aus dem Nachlaß Varnhagen’s von Ense. Tagebücher, Bd. 9, S. 11 (8. Januar 1852). 20 Das Vereinigungs- bez. Versammlungsverbot für Frauen wurde erst im späten 19. Jahrhundert gelockert, 1914 endgültig aufgehoben. Die frühen Frauenvereine versuchten als ,Wohltätigkeitsvereine‘ das Verbot zu umgehen.

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tischen‘ Geselligkeit freien Zugang gehabt hätten. Die Salonièren sowie die Salonbesucher waren jedoch eine Elite, gehörten zu der ,guten Gesellschaft‘, den ,gebildeten Ständen‘, man benötigte eine Empfehlung oder Einladung, und noch im 19. Jahrhundert waren die Besucher vorwiegend Männer, die ihre berufliche oder literarische Kariere fördern wollten.21 In der historisch kaum zu rekonstruierenden Mündlichkeit und der Vielfalt der Geselligkeiten liegt eine wesentliche Schwierigkeit in der literarischen und kulturgeschichtlichen Verortung von Bettinas Salon. Denn auch die Quellenlage für Bettinas Geselligkeit, über die nur in sporadischen Briefstellen und – erst später verfassten – Memoiren einzelner Besucher berichtet wurde, ist sehr dünn.22 So hat für Bettina von Arnims Geselligkeit die folgende Schilderung ihrer Tochter Maximiliane maßgeblich das legendäre Bild eines ,Salons der Demagogen‘23 in der Forschung geprägt: Jetzt [1848] gingen auch bei uns unsere Wege auseinander. Während wir [Maximiliane und Armgart] die Köpfe hängen ließen, blickte die Mutter (und mit ihr natürlich Gisel) rosig in die Zukunft und war Feuer und Flamme für die Revolution als einen gewaltigen Fortschritt in der Entwicklung. Dann kam auch noch Friedmund, um diese ,große Zeit‘ mitzuerleben, von Blankensee herein und brütete über seinen Weltverbesserungs- und –beglückungsplänen. Fragwürdige Gestalten von Literaten und Republikanern gingen bei der Mutter ein und aus. Das war für uns, die wir ganz anders empfanden und dachten, nicht leicht […] Auf die Dauer ging es aber doch nicht an, daß unsere Freunde [vom Hof und Adel] in Bettinas Salon mit den Revolutionären zusammentrafen, ohne daß Reibungen oder doch Verstimmungen drohten. Zu uns kam oft […] der legitimistisch gesinnte bisherige französische Gesandte Graf Circourt24 – wir konnten ihn doch unmöglich zumuten, dem ihm von seinem Posten ablösenden Republikaner Arago, der oft zur Mutter kam, zu begegnen. So wurde – schiedlich, friedlich – die weise Entscheidung getroffen, die noch lange bis auch die Mutter sich wieder zum König wandte, bestanden hat: im Hause Arnim gab es zwei Salons, einen demokratischen und einen aristokratischen. Links vom Saal in unseren Räumen empfingen wir unsere Freunde, rechts in ihren Zimmern Bettina ihre ‚edlen‘ Weltverbesserer.25

|| 21 Zu einer differenzierten Sicht auf die Salons der Romantik als eher elitäre Treffen der Künstler und Intellektuellen aus der guten Gesellschaft, vgl. Becker-Cantarino: Schriftstellerinnen der Romantik, S. 183–198. 22 Isselstein: „Die Titel der Dinge sind das Fürchterlichste!“ Rahel Levins ‚Erster Salon‘. − In: Schultz (Hrsg.): Salons der Romantik, S. 171-212. 23 B. v. Arnim: Werke und Briefe, Bd. 3, S. 679–701. 24 Der französische Politiker Adolphe de Circourt (1808–1863) wurde beim Ausbruch der Revolution im März 1848 als französischer Gesandter in Berlin abberufen und verließ dann mit seiner Familie im Juni 1848 die Stadt. 25 Werner: Maxe von Arnim, S. 173.

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Zu diesen 1937 publizierten, vom Herausgeber in „harmonisierender Glättung“ stark redigierten Reminiszenzen der Tochter Maximiliane sind jetzt die originalen Notizen aufgetaucht.26 Hier erwähnte Maximiliane eher beiläufig die „Unruhe“ im Juli 1848 bei Bettina, als sie mit ihrer Schwägerin Anna (geb. von Baumbach, seit Mai 1847 verheiratet mit Bettinas ältestem Sohn, Freimund von Arnim) zur ärztlichen Behandlung nach Berlin kam: Juli […] wer kann sich mit Gewalt Seelenruhe verschaffen, wenn so viel Grund zur Unruhe war – in unser Haus war der tolle Geist der Politik eingekehrt, es waren zwei Theesalons in dem einen Republic in dem anderen das Königthum – Arago bildete den Grundton der Republik u. bei Anna wo ich den Thee machte sahen wir Savignys Lauhhay der Arme Gröben Dürnberg Olfers auch ließen wir den kleinen D’Outremont herein27 […] Die Trennung war nothwendig geworden – da Oppenheim sich unterstand der Mutter allerlei demokratisches Gelichter zuzuführen.28

Maximiliane erwähnt die derzeitige politische Spaltung in Republikaner und Königsanhänger in zwei „Theesalons“, also eher getrennte Empfangszimmer der Mutter und der Schwiegertochter, keine regelmäßigen Zusammenkünfte oder Versammlungen von ,Demagogen‘. Maximiliane war allerdings auch nicht politisch interessiert und warf lediglich einen Seitenblick auf die Tagesereignisse als Ärgernis und Störung des familiären Lebens;29 sie erwähnt ihre Besucher, befreundete Aristokraten, und gibt die Schuld für das Auseinanderdriften der Geselligkeit den (damals jungen) Diplomaten und Akademikern Arago und Oppenheim. Und ganz so „friedlich, schiedlich“ ging es wohl kaum zu, denn Anna von Arnim (geb. Baumbach) berichtete am 15. August 1848 aus Berlin an Freimund, der (damals gerade neu ernannte) französische Botschafter in Berlin, Emmanuel Arago (1812–1896), habe „die Mutter u. namentlich gestern den Oppenheim schrecklich angegriffen […] Op. war dem Weinen nahe, denn Arago sagte ihm arge Sachen“30 und Maxe befürchtete, dass ihr „Familienleben zerstört [werde] durch den politischen Meinungsstreit“.31 Arago besuchte 1848 häufig Bettinas Haus; ein Streitpunkt waren die „Polengeschichten“, wie denn laut Bettinas Brief

|| 26 Lindemann: Die Gräfin und die „Grashalme“. − In: Landfester und Schultz (Hrsg.): Dies Buch gehört den Kindern, S. 269−284, hier S. 272. 27 Alle erwähnten Gäste sind befreundete Aristokraten. 28 M. v. Arnim: Die Grashalme. Tageblätter 1839–1847, S. 326f. 29 Vgl. Schultz: „Allerlei demokratisches Gelichter.“ Der Jahresbericht Maxe von Arnims zum Revolutionsjahr. − In: Ders. (Hrsg.), „Die echte Politik muß Erfinderin sein“, S. 361−371, hier S. 365. 30 Landfester: „Heute soll die Revolution losgehen“, S. 257−288, hier S. 281. 31 Zit. nach Landfester: Das Schweigen der Sibylle, S. 137.

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an ihren Sohn Friedmund, Aragos Vorgänger Circourt sich jetzt „als Verräther in der Polensache erwiesen“ habe, der Arago überall verläumdet habe.32 Arago, ein Sohn des mit Alexander von Humboldt befreundeten französischen Schriftstellers Etienne Arago, war liberal gesinnt und war in der Polenfrage für Frankreich diplomatisch tätig. Der Jurist und Staatswissenschaftler Oppenheim hatte bereits 1842 seine Studien der inneren Politik. Bettina von Arnim in innigster Verehrung zugeeignet publiziert, er hatte Bettinas Dies Buch gehört dem König (1843) lobend rezensiert und näherte sich 1848 dem radikal-demokratischen Flügel der Revolution.33 Oppenheim fungierte anfänglich eine kurze Zeit als Vermittler und Vorleser bei den ersten Versammlungen In den Zelten. Bettina berichtete davon ihrem Sohn Siegmund: Gestern war hier Nebenan unter den Zelten Volksversammlung; Hermann Grimm und Oppenheim die bei uns waren gingen aus Neugierde hin! […] es war Die Frage wer die Verständigung herbeiführen solle, und da Oppen als Verleser in der Zeitungshalle mehreren bekannt war so würde er förmlich gepreßt die Ansichten Wünsche und Deliberationen in Gang zu bringen er wurde auf einen Tisch gestellt grade unter Die Thüre zwischen zwei großen Sälen und mußte nun alle Darlegungen durch den Kanal seines Mundes gedoppelt nach der einen und andern Seite erschallen lassen;34 ganz erschöpft kam er mehrmals in den Zwischenacten zu Uns, die Versammlung dauerte bis Nachts Drei Uhr.35

Bettina berichtete besonders an ihren Diplomaten-Sohn Siegmund, was sie über die Ereignisse und Versammlungen in Berlin im Revolutionsjahr hörte, mit Sympathie für ‚das Volk‘ und mit ironischer Kritik an Preußen. Diese Berichte sollen „den Moment ihres Erkennens und schließlich rückhaltlosen Befürwortens der Revolution und konsequenter Reformen“ beleuchten,36 wobei allerdings in Bettinas Aussagen viel Kritik an der preußischen Regierung, aber nichts Konkretes

|| 32 B. v. Arnim: Briefwechsel mit ihren Söhnen, Bd. 3: In allem einverstanden mit Dir: Bettine von Arnims Briefwechsel mit ihrem Sohn Friedmund, S. 139. Bettinas Darstellung ist verwirrend, wohl ein Zeichen der kontroversen Ansichten zu Polen. 33 Kapp: Revolutionäre jüdischer Herkunft in Europa, S. 354–356. 34 Oppenheim hatte eine durchdringend laute Stimme, die sich gut für große Versammlungen eignete, bei der „ersten Berührung“ aber wohl abstoßend wirkte, „besonders durch ein unangenehm lautes Organ und einen starken Frankfurter Akzent“, so der ebenfalls politisch aktive Ludwig Bamberger in seinen Erinnerungen (1898), zitiert nach Püschel: Bettina von Arnim und Heinrich Ludwig Oppenheim, S. 12. 35 B. v. Arnim: Briefwechsel mit ihren Söhnen, Bd. 2: Da wir uns nun einmal nicht vertragen: Bettine von Arnims Briefwechsel mit ihrem Sohn Siegmund, S. 237f.; Brief vom 16.3.1848. Siegmund antwortete länger gar nicht, schrieb dann am 6. Januar 1849: „Du kannst Dir aber wohl denken, daß Dein Umgang mit einer Rotte verruchter Buben mir sehr weh getan hat“, ebenda, S. 254. 36 Becker: Bettine von Arnim und die Revolution. Sieben Briefe an ihre Söhne, S. 310.

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über etwaige „Reformen“ zu finden ist. Auch in Bettinas Briefen aus dem Jahr 1848 an Pauline Steinhäuser dominieren allerdings ihre Bemühungen um die Ausführung ihres Goethe-Denkmals, während die Darstellung der politischen Ereignisse eher die Kulisse dafür bilden, dass sie die versprochenen Gelder für den Bildhauer in Rom nicht zur Verfügung hat. Wie weit jedoch Bettina mit ihren Hausgästen 1848 auch Gespräche über die Pläne der Revolutionsbefürworter hielt, dazu äußerte Bettina sich auch in keiner Weise privat. Näheres zu politischen Positionen und Gesprächen in ihrer Wohnung oder gar in einem regelmäßig von ihr geführtem ,Salon‘ ist leider nicht überliefert;37 die kontroversen Unterhaltungen engagierter Liberaler wie Oppenheim und Arago bildeten noch keinen ,Salon der Demagogen‘. Bei diesen Zeugnissen fällt es schwer, die Interpretation von Walter Schmitz nachzuvollziehen, Bettina habe ihren Salon genutzt „als Experimentierfeld sozialer und politischer Utopie-Entwürfe, die grundsätzlich den Anspruch auf gesellschaftliche Verwirklichung erhoben“38; Bettina habe „die Zielperspektive romantischer Kunstauffassung, die auf die geistige Umwälzung der Welt gerichtet war, auf die veränderte gesellschaftliche Situation der dreißiger Jahre“ übertragen und radikalisiert: „,Salon‘ und ,Hof‘ stehen sich in Bettines Weltbild gegenüber […] Der Salon soll zum Modell des Hofes – und damit des Staates – werden“.39 Diese Neudeutung unterschätzt Bettina von Arnims strategische, gesellschaftliche Inszenierung als Mentorin und Muse der Intellektuellen und Honoratioren im Großbürgertum Berlins und Deutschlands in den 1840er Jahren, die sich nicht mehr an der Romantik, sondern an der veränderten sozialen Situation, dem Armenproblem, der restriktiven Zensur und der Notwendigkeit für liberale Reformen orientierte. Schmitz erfindet aus Bettinas reichem Briefmaterial und ihren Briefbüchern eine Salon-Konstruktion, die nicht existierte, und bindet alles an eine universelle romantische Kunstauffassung. Natürlich besuchte Bettina die Berliner Salons, aber sie selbst hielt keine regelmäßigen Salonabende ab, wie sie die Kulturgeschichte tradiert hat, etwa von Petra Wilhelmy für Berlin im 19. Jahrhundert und diachronisch-theoretisch bei Peter Seibert. Bettina war viel zu überlastet mit der Familie und eigenen Aktivitäten, besonders in den 1840er Jahren: Da war das Schreiben (ihre fünf Bücher erschienen zwischen 1840 und 1852), die zahlreichen Bittgesuche, die vielseitigen Korrespondenzen, ab 1840 mit Friedrich Wilhelm IV; sie führte Prozesse mit allen

|| 37 Vermutungen über Bettinas politische Einflussnahme bei Püschel: Bettina von Arnims Briefe im September 1848 an den König von Preußen, passim. 38 B. v. Arnim: Werke und Briefe, Bd. 3, S. 693. 39 Schmitz: Lebensrollen, S. 18.

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ihren Verlegern und dem Magistrat, hatte Verlagsgeschäfte und Publizistisches als Verlegerin wahrzunehmen; sie hatte gravierende Geldsorgen, hatte Streit und Ärger mit ihrem Vermögens- Vormund, dem Schwager Savigny, mit Umzügen auf ihre Güter; sie machte Reisen und hatte Kuraufenthalte; sie hatte Karrieresorgen um ihre drei Söhne, und sie war auch damit beschäftigt, bei biedermeierlichen Geselligkeiten der Töchter im Frauenclub ‚Kaffeter‘ diese mit literarisch-musikalische Darbietungen (die u.a. 1845 bei Savignys Geburtstagsfeier auch den König entzückten) zu unterstützen. Das ließ keinen Raum für einen regelmäßigen Salon mit jour fix, wohl aber für gelegentliche Abendgesellschaften, private Musikveranstaltungen und fluktuierende Geselligkeiten. Bettina suchte wechselnde Kontakte, inszenierte sich als prominente Mentorin, nicht aber als Salonière wie etwa Henriette Solmar (1794-1888), die Rahels Salon weiterführte, oder wie die Schriftstellerin Clara Mundt-Mühlbach (1808–1861). Dank des kulturellen Aufschwung Berlins und der Wissenschaften, der Kulturpolitik des Königs und des Generationenwechsels, gab es in den 1840er Jahren 14 große Salons in Berlin, für Künstler, Literaten und Gelehrte, das Bildungsbürgertum und die Hofgesellschaft.40

3 Bettinas Geselligkeit und ihre ,Salongespräche‘ In ihren Brief- und Gesprächsbüchern kultivierte sie Formen des Gesprächs, wie es in der Frühromantik aus der mündlichen Tradition entwickelt worden war und eine hochartifizielle, kunstvolle Kreation darstellte. Eine Regel des ,Salongesprächs‘ war der Zwang zur Zwanglosigkeit in der freien Assoziation, im konversationellen Imaginieren, im bon mot, im kleinen Portrait.41 Noch in der Romantik waren es eher elitäre Literaten- und Künstlergespräche, während Bettina von Arnim etwa vierzig Jahre später in ihrer schriftlichen Verarbeitung dieser mündlichen Form eine volkstümlich-drastische Wendung mit politischen Nuancen gab.42 Die Gespräche in Dies Buch gehört dem König sind anders als die Idealgespräche Schlegels oder Tiecks (in der Rahmenerzählung des Phantasus), denn im Mittelpunkt steht eine volkstümlich, drastisch konzipierte und nicht mehr naivkindliche sondern alte, erfahrene Frauenfigur. So steht erstmals „eine Frau im || 40 Vgl. Wihelmy: Berliner Salons, S. 166f. 41 Schmölders: Die Kunst des Gesprächs, Einleitung. 42 Schultz: „Euer Unglaube an die Naturstimme erzeugt den Aberglauben an eine falsche Politik“: Fiktive Salongespräche in Bettines Königsbuch“. − In: Schultz (Hrsg.): Salons der Romantik, S. 251−270, hier S. 255.

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Zentrum und [sie] bestimmt allein und energisch Gegenstand und Fortgang des Gesprächs“,43 was die reale Rolle Bettina von Arnims als dominierende, zentrale Person bei ihren Geselligkeiten zu bestätigen scheint. Persönliche Gespräche in ihrem Haus, bei Besuchen und oft auch Korrespondenzen lieferten Bettina Anregungen und Material, dazu kamen Lesefrüchte, denn trotz gegenteiliger Inszenierung war sie belesen und bestens informiert, obwohl oft nur oberflächlich, selektiv, eklektisch und parteiisch. Besucher berichten (allerdings erst Jahrzehnte später) von ihrem Gefallen an kontroversen, provokatorischen Inszenierungen in ihren ,Abendgesellschaften‘, sie habe ihre Freude daran gehabt, „je schärfer die Geister aufeinander platzten“, sie habe durch ihre „Reden, ihre freisinnigen Anschauungen und ihren sonderbaren, vorurteilslosen Verkehr nicht ohne Absicht ihre Standesgenossen“ geärgert, desto mehr sei sie „von [den] jungen Leuten bewundert und verehrt“ worden.44 Spätere Reminiszenzen, wie diese Max Rings von 1898 an die ,Salongespräche‘, ergeben wenig Konkretes für die literarisierten Gespräche in Bettina von Arnims ,Gesprächsbüchern‘, außer dass Bettina eine „provozierende Querdenkerin“45 gewesen ist. In dialogartigen (nicht in persönlich-intimen) Gesprächen nahm Bettina, soweit andere es berichteten oder es in zahlreichen schriftlichen Konzepten zu Briefen dokumentiert ist, zumeist eine hohe, moralisierende, idealisierende Position ein oder gegenteilig eine beißend-kritische, zumeist personenbezogene Stellungnahme. Sie spielte die Rolle der Beschämenden und Anklagenden und reklamierte die Wahrheit für ihre Position. Dabei half Bettina ihre rhetorische Brillanz; es fehlte jedoch ein räsonierendes Abwägen von Pro und Kontra der Inhalte und ihrer eigenen Urteile, d.h. ihrem Dialog fehlte oft die Dialogizität (im Bachtinschen Sinn), die spielerische Offenheit, die Freiheit für andere Stimmen und der hermeneutische Ernst zur Wahrheitsfindung. Letztlich habe sie sich in ihren dialogisch strukturierten Texten als eine „Art von Bauchrednerin“ erwiesen, die als „sprachmächtiges Subjekt“ hinter den inszenierten Figuren auftritt, „während die vermeintlichen Sprecher faktisch stumm bleiben“; ihre „projektiven Dialoge“ dürfen allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie andere Personen okkupiere – „auch für sich und ihre Zwecke“.46 Ein solches Verfahren wird zum Machtspiel und zeigt die Grenzen von Bettinas Gespräch, es ist kein Dialog mehr, sondern nähert sich der monologischen Propaganda. Wenn das dialogistische

|| 43 Ebenda, S. 263. 44 Ring: Erinnerungen, Bd. 1, S. 119 und S. 121. 45 Schultz: Berliner und Wiepersdorfer Romantik, S. 19. 46 Bunzel: Im Gespräch, S. 32f.

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Schreibkonzept Menschsein als etwas versteht, was sich nur in der Interaktion, im kommunikativen Prozess entfaltet, dann wird dieser kommunikative Prozess zur Selbstdarstellung und Ermächtigung. Das ,Salongespräch‘ galt als freier, geselliger Dialog und wurde der einseitigen Parteinahme gegenübergestellt. Dagegen haben die Gespräche im Königsbuch und im Dämonenbuch durchaus einen anderen Charakter, denn es sind eher Lehrgespräche für das bettinische Konzept eines ‚Volkskönigs‘. Bettina setzte ihre Mentorschaft des Königs als Volkskönig auch in ihrem letzten Buch, Gespräche mit Dämonen (1852) fort. Im Gespräch zwischen einem „Dämon“, der Volksund zugleich Autorstimme ist, und einem „Schlafenden König“, einer Königsfigur im Anklang an den mittelalterlichen Kaiser Barbarossa-als-Erlöser-Mythos, möchte der „Dämon“ die Vorurteile des Königs ausräumen und erklären, woraus „Volkshaß und Fürstenhaß“ entstehen. Der Dämon ruft den König auf mit der Vision: Mich deucht, ich sehe dein Volk schon die Schwungfedern seiner gewaltigen Jugend mustern und sein ungeblendet Auge im Glanz der Mittagsonne üben! Und als ein Mann, der aus dem Schlaf erwacht, dein Antlitz erheben über dein Volk, dessen jeden Tropfen Bluts du weder vergießen wollest zu seiner Schmach noch zu deiner Rache und an seinem großen Stamme keine Blüte brechen. Frei und menschlich sollst Du selbst das Böse zum Guten wenden, und alle großen Genien aus Einfluß des Himmels sollen deine Lebensgeister stützen.47

Der „Dämon“ bietet dann dem König an: „Könntest Du den Geist der Revolution in dich aufnehmen, dann wärest du auch der Genius des Volkes, der sich selber einsetzt und Gesetze ausströmt, die den Geist befruchten!“ Der „Schlafende König“ willigt ein, „das hohe Roß [der] Ideale“ des Dämons zu besteigen, also einen poetischen Höhenflug auf dem Dichterross Pegasus zu beginnen. Das langwierige, pathos-geladene, mit biblischer Sprache, Gleichnissen, poetischen Bildern (etwa die Erscheinung des ,Freiheitshelden Egmont‘48) befrachtete Gespräch mündet schließlich in einer „Sturmrede zwischen Wolkengipfeln“, einem vielstimmigen Chor von Genius, Volksgeist, Völker, dem Polen, dem Ahnengeister, Magyar, Gallier, Germanen, Lombarden, einem Proletarier, Sobieski (der Polenkönig Johann III.) und schließlich auch dem Geist des Islam. Alle diese Erscheinungen bedrängen den „schlafenden König“, indem sie dessen Apotheose und Aufnahme bei Gott als Erlöser und Retter des Volkes ausmalen und dann den König auffordern: „Gewähre, solange es Zeit ist. Es wird eine Zeit kommen, wo du

|| 47 B. v. Arnim: Gespräche mit Dämonen, S. 289 und S. 290. 48 Ebenda, S. 375–378.

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gewähren möchtest, aber keinen findest du, der es annehme“.49 Mit einer geschickten Koda lässt die Autorin zuletzt den „Primas“ (die katholische Kirche) den Dämon als „heidnisch verdammen […] hingerissen von seiner Weisheit […] als ketzerisch dem ewigen Feuer“ preisgeben.50 Bettina reiht damit ihr Buch in die große, aber verfemte Tradition der verbotenen, unterdrückten Schriften ein – und inszeniert sich als Autorin und Märtyrerin. Das blumige, wortreiche, poetische Gespräch bleibt jedoch im Bezug auf die politische Situation 1848 gedankenleer. So blieb Bettinas Dämonenbuch unverkäuflich und ohne Resonanz, wie denn auch Hartwig Schultz und die meisten modernen Leser es für missraten halten, obwohl es ganz bettinisch und ohne Eingriffe der Zensur geschrieben wurde. Der dort auftretende „Proletarier“ sei keine populäre Identifikationsfigur, die Stellungnahmen der Völker wirkten wie „Solidaritätsadressen auf internationalen Arbeiterkongressen“, denn Bettina „beschäftigte sich nicht mit den Staatstheorien ihrer Zeit. Sie brachte stattdessen die schöpferische Subjektivität, den Geniebegriff ein, der in der Politik kaum tragfähig ist“ und nur vage an Begriffe und Ideen der Frühromantik erinnert.51 Die Thematik der Gespräche ist zwar mit Zeitkritischem und Versatzstücken der politischen Diskussionen um 1848 wie Verfassung, Republikanismus oder Proletarier vermischt, diese Anspielungen und Schlagwörter können jedoch die politischen Ideen nicht adäquat und verständlich als Konzepte wiedergeben. Die bettinische Stimme eines visionär sprechenden „Dämon“ versucht zwar den „Schlafenden König“ mit der Vorstellung, dass der Volksgeist die Inspiration des Königs sei, zu erwecken und zu beseelen. Das Gespräch bleibt aber eine poetisch klingende, jedoch den politischen Aufgaben völlig inadäquate, weil diffus-verquere Äußerungsform. Bedeutung und Adressatenbezug fehlen in diesem religiös-auratisch formulierten Überredungs-Gespräch.52

4 Der ,Salon der Demagogen‘ – eine historische Fiktion Einen regulären Versammlungsort für Demagogen bot Bettina von Arnims Wohnung wohl nicht. Erst die spätere Geschichtsschreibung hat die Bezeichnung || 49 Ebenda, S. 382–407. 50 Ebenda, S. 407. 51 Schultz: „Euer Unglaube an die Naturstimme“. − In: ders. (Hrsg.): Salons der Romantik, S. 270 und ders.: „Das freie Bürgertum, was sich immer mehr veredelt“. Bettines Frankfurter Mitgift.“− In: Ders. (Hrsg.): „Die echte Politik muß Erfinderin sein“, S. 109−130, hier S. 124f. 52 Vgl. Loster-Schneider: Gespräche mit Dämonen (1853).

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,Demagogen‘, mit der die politische Reaktion des Deutschen Bundes nach 1815 ihre Gegner bezeichnete, flächendeckend auf alle ,Liberale‘, loyale Deutsch-Nationale bis hin zu Republikanern und Revolutionären im Vormärz angewendet. Bettina von Arnims ,Salon der Demagogen‘ erweist sich, ähnlich wie ,Rahels Dachstube‘53 als eine historische Fiktion, um das schillernde Phänomen von Geselligkeit und Gespräch zu fixieren und in die Tradition der sog. Berliner Salons einzureihen. Ja, Bettina war gesellig, sie war an Kontaktaufnahme und Gespräch sehr interessiert, aber diese Geselligkeit in ihren so erfolgreichen Spätjahren (1830er und 1840er Jahren) als prominente Frau inszenierte sie strategisch mit viel Eigenregie, besonders was die Verschriftlichung anbetraf. Bettina versuchte auf gesellschaftlich hochstehende, besonders junge Männer einzuwirken. Ihr ,Salon‘ war das, was das Wort im Französischen und im zeitgenössischen Sprachgebrauch meinte: das repräsentative, große Gesellschaftszimmer als Empfangszimmer für Besucher, also im Privathaus, kein regulärer Versammlungsort für politische ,Demagogen‘. Im politischen Klima der 1840er Jahre sei es um die Unterscheidung von Redeweisen gegangen, so Ulrike Landfester, um eine „schmale Grenze zwischen privater Konversation und öffentlicher Agitatorik“ und Bettina habe eine Grenzziehung zwischen dem „Oberflächenreiz des Salontons und dem Ausdruck ihres ,sittlichen Ernstes‘“ gemacht.54 Doch die brisanten tagespolitischen Themen hatten sich so weit vom Unverbindlichen und Spielerischen der literarischen Gesprächsformen entfernt, dass auch die poetische Sprache Bettinas inadäquat für die politische Thematik wurde. Politik wurde nun in anderen Sprach- und Gesprächsformen, dem der Diskussion, der sachlichen Berichterstattung oder dem Genre der Sozialreportage verhandelt. Bettinas poetisierte Gespräche blieben eine Montage von Gedankenfetzen, von belehrend vorgetragener pseudo-religiöser Poesie. Diese Diskrepanz zwischen Bettinas poetischem Gesprächstext und der zeitgenössischen politischen Diskussion zeigte sich auch nach den 1840er Jahren in dem schwindenden Interesse der Bettina-Besucher und Zeitgenossen an Bettinas Ideen und Werken, nicht aber an ihrer prominenten Person und ihrem Netzwerk.

|| 53 Barbara Hahn: Der Mythos vom Salon. ,Rahels Dachstube‘ als historische Fiktion. − In: Schultz (Hrsg.): Die Salons der Romantik, S. 213−234. 54 Ulrike Landfester: Jenseits der Schicklichkeit. Bettine von Arnims Armenbuch-Projekt im zeitgenössischen Salongespräch. − Ebenda, S. 271-296, hier S. 287.

Johannes Grave

Beobachtete Einsamkeit Zum Verhältnis von Rückenfigur und Betrachter bei Caspar David Friedrich

1 Der Wanderer als Rückenfigur Die Figur des einsamen Wanderers gehört zum Grundbestand jener Topoi, die auch heute noch als Inbegriff des Romantischen gelten.1 Der Wanderer bewegt sich zwar insofern in den Spuren der älteren Figur des Pilgers, als dass ihm der Weg, den er zurücklegt, mehr ist als eine lästige Distanz, die es zu überwinden gilt. Anders aber als der Pilger strebt er nicht mehr notwendig einem Ziel zu, dem eine religiöse Sinnstiftung eigen ist. Spätestens mit den 1782 erschienenen Rêveries du promeneur solitaire von Jean-Jacques Rousseau zeichnete sich eine philosophische Nobilitierung der spezifischen Form des Nachsinnens und Reflektierens ab, die dem einsamen Wanderer eigen zu sein scheint. Die Literatur der Romantik hat das Motiv des Wanderns daher auf vielfältige Weise aufgreifen können; zu denken ist etwa an Ludwig Tiecks Künstlerroman Franz Sternbalds Wanderungen oder an Wilhelm Müllers Winterreise. Und auch in der bildenden Kunst drängen sich rasch analoge Phänomene auf: Caspar David Friedrichs Gemälde, namentlich sein Wanderer über dem Nebelmeer (Abb. 1),2 sind wie selbstverständlich als ein weiteres Indiz für die romantische Konjunktur des Wandermotivs verstanden worden. Untrügliches Zeichen für diese Verknüpfung von Friedrichs Bildern mit der Figur des einsamen Wanderers sind die zahlreichen Umschläge von einschlägigen Büchern oder Tonträgern, die auf Werke des Dresdner Malers zurückgreifen. Friedrichs Landschaften scheinen jene Aussichten wiederzugeben, die der Leser oder Hörer von Tiecks Roman oder Müllers Gedichtzyklus imaginiert, und die Rückenfiguren des Malers scheinen uns die Wanderer vor Augen zu führen, deren Beobachtungen und Gedanken uns bei der Lektüre romantischer Literatur beschäftigen.3

|| 1 Der Beitrag gibt den Text des Vortrags im Wesentlichen unverändert wieder. Er wurde um Nachweise ergänzt, bleibt aber im Gedankengang skizzenhaft. 2 Vgl. Börsch-Supan/Jähnig: Caspar David Friedrich, S. 349, Kat.-Nr. 250. 3 Die Forschungsliteratur zu den Rückenfiguren im Werk von Caspar David Friedrich kann hier nicht ausführlich diskutiert werden. Verwiesen sei auf eine Auswahl wichtiger Beiträge: von https://doi.org/10.1515/9783110634709-012

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Abb. 1: Caspar David Friedrich, Der Wanderer über dem Nebelmeer, um 1817/18, Öl auf Leinwand, 94,8 x 74,8 cm, Hamburg, Kunsthalle. Foto: © ARTOTHEK.

Die Landschaftsmalerei Friedrichs ließe sich in diesem Sinne als ein komplementäres Phänomen zu den literarischen Wandererfiguren begreifen: Sie gibt dem Betrachter zu sehen, was sonst nur aus Beschreibungen zu erschließen ist; zugleich aber lädt sie dazu ein, eigenständig gedanklichen Reverien nachzugehen, die sich am Vorbild literarischer Texte orientieren können.4 || Einem: Ein Vorläufer Caspar David Friedrichs?; Hofmann (Hrsg.): Caspar David Friedrich 1774– 1840 (Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle), S. 40–43; Koerner: Caspar David Friedrich. Landschaft und Subjekt, bes. S. 179–278; Rzucidlo: Caspar David Friedrich und Wahrnehmung; Busch: Caspar David Friedrich. Ästhetik und Religion, S. 59–64; Wilks: Das Motiv der Rückenfigur; Noll: Die Landschaftsmalerei von Caspar David Friedrich, S. 85–89; Böhme: Rückenfiguren bei Caspar David Friedrich; Scholl: Romantische Malerei als neue Sinnbildkunst, S. 166–169; Sugiyama: Wanderer unter dem Regenbogen; Prange: Sinnoffenheit und Sinnverneinung; Grave: Caspar David Friedrich [2012], S. 203–222; Ramos: Perte du centre?. 4 In einigen wenigen Fällen wie dem Mönch am Meer finden sich allerdings auch traditionellere Figuren der religiös motivierten Einsamkeit in Friedrichs Bildern; vgl. für den motivgeschichtlichen Kontext Ost: Einsiedler und Mönche in der deutschen Malerei.

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Eine solche Sichtweise auf Friedrichs Œuvre scheint tatsächlich zahlreiche Anhaltspunkte in den Bildern zu finden. Neben dem Wanderer über dem Nebelmeer tritt zum Beispiel auch in der Essener Gebirgslandschaft mit Regenbogen (Abb. 2)5 eine Figur auf, die bereits mit der farblich auffälligen Bekleidung zu erkennen gibt, dass diese Natur nicht ihr natürlicher Lebensraum ist.

Abb. 2: Caspar David Friedrich, Gebirgslandschaft mit Regenbogen, 1809/10, Öl auf Leinwand, 69 x 102 cm. Essen, Museum Folkwang. Foto: © Museum Folkwang Essen – ARTOTHEK.

In beiden Bildern erscheint das einsame Individuum fernab der Stadt in einer Landschaft, die keine oder kaum menschliche Eingriffe erkennen lässt. Bei aller Versenkung in die Naturszenerie, die nicht zuletzt mit kompositorischen Mitteln suggeriert wird, bleiben diese Figuren der Landschaft gegenüber fremd, so dass wir ihnen einen besonderen Modus der Wahrnehmung zutrauen, der ästhetische Aufmerksamkeit mit Reflexion verbindet.6 Die eher wenigen Ausnahmen, mithin

|| 5 Vgl. Börsch-Supan/Jähnig: Caspar David Friedrich, S. 308, Kat.-Nr. 183. 6 Vgl. auch Koerner: Caspar David Friedrich. Landschaft und Subjekt, S. 251.

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Werke, in denen Friedrich Bewohner und Nutzer der Landschaft zeigt,7 bestätigen zusätzlich, dass die meisten Figuren in Friedrichs Bildern der jeweiligen Landschaft als Fremde und mit einer gewissen, meist überlegenen intellektuellen Distanz gegenüber treten. Ihnen erst erscheint die Naturszenerie im eigentlichen Sinne als Landschaft.8

Abb. 3: Caspar David Friedrich, Frau vor der untergehenden/aufgehenden (?) Sonne, um 1818, Öl auf Leinwand, 22 x 30 cm, Essen, Museum Folkwang, Foto: © Museum Folkwang Essen − ARTOTHEK.

Dass wir diese Fremden in der Landschaft für Wanderer halten, versteht sich allerdings keineswegs von selbst. Die im Jahr 2018 in der Alten Nationalgalerie || 7 Zu denken ist etwa an Meeresstrand mit Fischer, 1807, Wien, Österreichische Galerie Belvedere (Börsch-Supan/Jähnig: Caspar David Friedrich, S. 295, Kat.-Nr. 158) sowie an die Landschaft mit dem Regenbogen, 1809, ehemals Weimar (Börsch-Supan/Jähnig: Caspar David Friedrich, S. 307f., Kat.-Nr. 182; zu diesem Gemälde vgl. auch Grave: Caspar David Friedrich [2012], S. 116– 120). 8 Zu dem hier zugrunde gelegten Landschaftsbegriff vgl. Grave: Diesseits und jenseits der Landschaft.

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präsentierte Ausstellung „Wanderlust“ zeigte unfreiwillig, ja wohl gegen den Willen der Kuratorinnen und Kuratoren, dass die Abgrenzung zwischen Wanderern, Reisenden, Pilgern, Landbevölkerung und frühen Touristen beim Blick auf Bilder oftmals schwerfällt.9 Viele Staffagefiguren in den dort gezeigten Bildern dürften kaum als Wanderer im emphatischen Sinne gelten; ihre Bekleidung oder

Abb. 4: Jan Luyken, Het Licht is Lief‘lick, 1687, Radierung, 9,4 x 7,3 cm, Amsterdam, Rijksmuseum.

ihr Gepäck deuten an, dass sie sich in sehr pragmatischer Absicht oder nur für kurze Zeit auf den Weg gemacht haben. Vor allem aber verfehlen Bilder generell den Kern des Wanderns: Ihnen entzieht sich die Bewegung, der unausgesetzte

|| 9 Vgl. Montua/Verwiebe (Hrsg.): Wanderlust. Von Caspar David Friedrich bis Auguste Renoir.

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Wechsel der Perspektiven sowie die Zeitlichkeit dieser Erfahrung und der mit ihr einhergehenden Gedanken. Ungeachtet des Umstands, dass wir viele Bilder von Wanderern zu kennen meinen, ist das Wandern selbst in Bildern kaum darstellbar. Und dennoch spricht vieles dafür, dass Friedrich mit den Staffagefiguren zahlreicher seiner Bilder an dieses Motiv anknüpft, um ihm eine neue Bedeutung zu verleihen. Während Wanderer in der Malerei zuvor eher als anekdotisches Motiv erschienen,10 gibt Friedrich ihnen in seinen Gemälden ein neues Gewicht. Sie werden weniger beiläufig gezeigt, rücken kompositorisch in zentrale Positionen und treten auffällig häufig als Rückenfiguren in Erscheinung. Indem sie äußerst kalkuliert in der Bildkomposition verankert werden, tritt die Anmutung, hier werde ein eher zufälliger Moment einer längeren Wanderung gezeigt, weiter in den Hintergrund. Betont wird indes eine besondere, nicht mehr bloß zufällige Begegnung von Subjekt und Natur. Es fällt nicht leicht, die Quellen und Anregungen zu rekonstruieren, die Friedrich bei der Herausbildung dieses Figurentyps verarbeitet hat.11 Der bereits von Herbert von Einem angeführte und von Thomas Noll aufgegriffene Hinweis auf ältere emblematische Darstellungen (Abb. 3–4) ist bedenkenswert, wäre aber meines Erachtens missverstanden, wenn – wie es Noll unternommen hat – auf dieser fragilen Grundlage Friedrichs Figuren vorrangig als Wiederaufnahme älterer zeichenhafter Verweise gedeutet würden.12 Überdies liegen andere Ableitungen näher. Zu denken ist insbesondere an die Radierung, die Johann Christian Reinhart zum Erstdruck des Spaziergangs nach Syrakus von Johann Gottfried Seume beigesteuert hat (Abb. 5). Im Sommer 1810 schuf Georg Friedrich Kersting eine Porträtzeichnung von Caspar David Friedrich (Abb. 6),13 die auf demselben Grundgedanken basiert wie das Seume-Titelkupfer: Auch hier erscheint der Wanderer als Rückenfigur, ohne dass genauer angedeutet würde, wo er sich aufhält und wohin er aufbricht. Kersting dürfte Reinharts Radierung gekannt haben; zugleich könnte er bereits darauf reagiert haben, dass Friedrich in den Jahren kurz vor und um 1810 seine Konzeption der Rückenfigur ausarbeitete. Als geradezu programmatisch

|| 10 Vgl. etwa Johann Alexander Thiele (zugeschr.), Weite Landschaft mit Wanderern, Mitte des 18. Jhs., Öl auf Leinwand, 70 x 89 cm, Verbleib unbekannt (Auktionshaus Lempertz, Köln, Auktion 1064, Los 55) oder Caspar Wolf, Der Lauteraargletscher mit Blick auf den Lauteraarsattel, 1774/75, Öl auf Leinwand, 54 x 82 cm, Aarau, Aargauer Kunsthaus. 11 Vgl. Hofmann: Caspar David Friedrich (Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle), S. 40–43. 12 Vgl. von Einem: Ein Vorläufer Caspar David Friedrichs?; Noll: Die Landschaftsmalerei von Caspar David Friedrich, S. 85–89 u. S. 127f., Anm. 219 u. 223. 13 Vgl. Schnell: Georg Friedrich Kersting, S. 253 u. S. 300, Kat.-Nr. A 23; Sieveking (Hrsg.): L’âge d’or du romantisme allemand, S. 156f., Kat.-Nr. 54.

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kann dabei die Werkgenese des Mönchs am Meer gelten, da Friedrich bei der Arbeit an diesem Gemälde den zunächst wohl im Profil gezeigten Mönch im Laufe der Ausarbeitung in eine Rückenfigur transformierte.14

Abb. 5: Johann Christian Reinhart, Titelkupfer zu Johann Gottfried Seume, Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802, Braunschweig 1803.

Abb. 6: Georg Friedrich Kersting, Caspar David Friedrich auf der Reise im Riesengebirge, 18. Juli 1810, Bleistift, aquarelliert, 31 x 24,2 cm, Berlin, © bpk / Kupferstichkabinett, SMB / Volker-H. Schneider.

Die prominente Positionierung der oftmals auffällig in strenger Bildparallelität dargestellten Rückenfiguren Friedrichs nimmt ihnen jegliche anekdotische Beiläufigkeit. Hier wird kein Moment einer längeren Geschichte erzählt, sondern eine Begegnung mit der Natur vor Augen geführt, die über den Augenblick hinaus Bedeutung beansprucht. Friedrichs Rückenfiguren sind daher seit langem Gegenstand von Deutungsbemühungen; sie fordern geradezu dazu auf, nacheinem tieferen Sinn zu fragen.15 Die zwei gängigsten Deutungsmuster hat MarioAndreas von Lüttichau im Katalog der Essener und Hamburger Friedrich-Ausstellung von 2006 pointiert in Erinnerung gerufen. Seines Erachtens fungieren diese Figuren als unsere Stellvertreter, die zugleich die Szenerie wahrnehmen, die der Künstler selbst mit seinem Bild verbindet. Bisweilen können wir die Rückenfigur || 14 Vgl. etwa Busch: Caspar David Friedrich. Ästhetik und Religion, S. 59–64. 15 Vgl. die in Anm. 3 angeführte Forschungsliteratur.

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als Selbstbildnis des Künstlers deuten; sie kann aber auch – wie höchstwahrscheinlich im Falle des Wanderers über dem Nebelmeer – als Gedächtnisbild fungieren oder als Allegorie für das menschliche Ausgesetztsein in der Welt.16 In jedem Fall scheinen die Rückenfiguren mithin den Betrachter dazu zu drängen, ihnen eine Identität zuzuweisen: Entweder sollen sie als Porträt fungieren oder aber als Repräsentant des Betrachters im Bild.

Abb. 7: Caspar David Friedrich, Chasseur im Walde, um 1813, Öl auf Leinwand, 65,7 x 46,7 cm, Privatbesitz. © ARTOTHEK.

Diese Sicht auf Friedrichs Rückenfiguren ist so verbreitet, dass sie nur selten explizit in Frage gestellt wird.17 Dabei wird sie rasch zweifelhaft, wenn man weniger danach fragt, was man in diesen Figuren sehen möchte, sondern was man in || 16 Von Lüttichau, Mario-Andreas: Motive. – In: Gaßner (Hrsg.): Caspar David Friedrich. Die Erfindung der Romantik, S. 223–229, hier S. 229. 17 Vgl. Böhme: Rückenfiguren bei Caspar David Friedrich, S. 60; Prange: Sinnoffenheit und Sinnverneinung, S. 160; Grave: Caspar David Friedrich [2012], S. 203–222.

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ihnen tatsächlich erkennen kann: Friedrichs Rückenfiguren wenden dem Betrachter – so trivial das anmuten mag – den Rücken zu; sie lassen sich daher nicht mit Bestimmtheit individuell identifizieren. Diese stark eingeschränkte Erkennbarkeit gilt umso mehr, als der Maler seine Rückenfiguren in der Regel in hohem Maße eingekleidet hat. Dessen ungeachtet geben sich Friedrichs Rückenfiguren aber zweifelsohne deutlich als Individuen zu erkennen. Ihre geschlechtliche Zuordnung unterliegt keinem Zweifel; und durch Körperbau, Haltung und Bekleidung erhalten wir einen ersten, freilich vagen Eindruck von Statur, Alter, vielleicht auch Stand der dargestellten Personen. Da den Figuren eine Individualität eigen ist, die sich nicht gänzlich bestimmen lässt, muss der unbefangene Betrachter schließen, dass er nicht genau wissen kann, wer im Bild auftritt, ihm aber klar signalisiert wird, dass er nicht selbst hier erscheint. Wenn Friedrichs Rückenfiguren immer wieder als Stellvertreter des Betrachters verstanden werden, so verdankt sich diese Projektion meines Erachtens einem bildungsbürgerlichen Klischee oder einem Begehren, das durch den Wunsch, in das Bild einzutreten, angefacht wird. Ein solcher Eintritt ins Bild, mithin eine Immersion, entspricht allerdings – wie bereits Friedrichs kalkulierte, an der Bildfläche orientierte Kompositionen zu erkennen geben – keineswegs der intendierten Wahrnehmung. Friedrich insistierte indes sowohl in seiner malerischen Praxis als auch in überlieferten Äußerungen darauf, dass das Bild als Bild, mithin als Artefakt, erfahren wird: „Ein Bild muß sich als Bild als Menschenwerk gleich darstellen; nicht aber als Natur täuschen wollen.“18

2 Zur Darstellbarkeit von Einsamkeit Neben Zweier- oder Dreiergruppen von Rückenfiguren, die ab den 1820er Jahren vermehrt begegnen,19 treten in Friedrichs Landschaften insbesondere Einzelfiguren auf. Welches Spektrum an einsamen Rückenfiguren Friedrich zu entwickeln wusste, zeigt sich, wenn man neben dem beinahe monumentalen Wanderer über dem Nebelmeer und der deutlich kleineren, aber farblich akzentuierten Figur in der Gebirgslandschaft mit Regenbogen auch den Chasseur im Walde (Abb. 7) in den Blick nimmt. Bei allen Unterschieden ist den Rückenfiguren gemeinsam, dass ihre Einsamkeit – genauer: der Umstand, dass sie sich ohne Begleiter in der

|| 18 Friedrich: Äußerungen bei Betrachtung einer Sammlung von Gemählden, S. 86. 19 Zur Spezifik der Bilder mit mehreren Rückenfiguren vgl. Frank: Aussichten ins Unermessliche, S. 185–191.

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Natur aufhalten – unmissverständlich vor Augen geführt wird. In den genannten Bildern scheint sich daher ein Interesse zu äußern, den einsamen Wanderer, vielleicht sogar die Einsamkeit selbst zur Darstellung zu bringen. Allerdings dürfte bei einem solchen Versuch, Einsamkeit in einem Bild darzustellen, ausgerechnet der Betrachter Probleme bereiten. Als die Instanz, mit der die Einsamkeit einer im Bild gezeigten Figur potenziell aufgehoben zu werden droht, müsste der Betrachter ausgeblendet oder verleugnet werden. Denn ein Einsamer, der von einem Beobachter gesehen wird, ist nicht mehr in gleicher Weise einsam. Darstellungen von Einsamkeit setzen daher jene Strategie der Absorption voraus, die Michael Fried für Teile der französischen Malerei des späten 18. Jahrhunderts beschrieben hat.20 Einer Anregung Denis Diderots folgend, erfasste Fried mit dem Begriff der absorption Szenen, in denen die Figuren so dargestellt werden, dass sie keinerlei Anzeichen für ein Bewusstsein von der Anwesenheit eines anderen zeigen, sondern ganz in sich, in die Situation oder in eine Tätigkeit vertieft sind. Rückenfiguren scheinen einen solchen Eindruck hervorzurufen. Sie wenden sich vom Betrachter ab und sind daher nicht mehr in der Lage, den Beobachter zu registrieren. Mit der Absorption und Abwendung der Rückenfigur geht jedoch der Effekt einher, dass deren Empfindungen unerkennbar und unlesbar werden. Wenn die im Bild gezeigte Figur gleichsam alles mit sich selbst ausmacht, muss sie keine Empfindungen und Emotionen zeigen oder verbergen. Die Erfahrung von Einsamkeit, die sehr unterschiedlich konnotiert sein kann, entzieht sich daher tendenziell einer Veräußerlichung im Bild. Die Abwendung der Figur zur Rückenfigur verschärft diese Opazität der Einsamkeit. Was dem Betrachter zugänglich bleibt, ist das schiere Faktum, dass die gezeigte Figur ohne Begleiter und außerhalb menschlicher Gesellschaft erscheint. Die damit einhergehenden Erfahrungen und Gedanken bleiben dem Betrachter aber verschlossen. Ihm entzieht sich mehr und mehr jene Empfindung der Einsamkeit, die er zunächst vielleicht suchte: Wie der Einsame im Bild fühlt, erschließt sich dem Betrachter vor dem Bild nicht; ebenso wenig aber kann er sich selbst als einsam begreifen.21

|| 20 Vgl. Fried: Absorption and theatricality. 21 Welche Spielräume sich dem Betrachter angesichts einer menschenleeren Landschaft eröffnen, hat später Ernest Chesneau skizziert (L’art et les artistes modernes en France et en Angleterre [1864], S. 207f.): „L’homme que l’artiste supprime dans le paysage, le spectateur le lui restitue ; il le place au bon endroit, et c’est lui-même, le spectateur, qui vit, qui pense au milieu de ce site, qui entre en communication avec toutes les forces groupées sous ses yeux, les anime de sa propre existence ajoutée à la leur [...].“ Chesneaus Überlegungen implizieren, dass die Integration von Figuren in die Darstellung solche Potenziale einschränkt.

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Abb. 8: Caspar David Friedrich, Gebirgslandschaft mit Figur (Schmiedeberger Kamm), 13.7.1810, Bleistift, 26 x 36 cm, Mannheim, Kunsthalle.

3 Beobachtung zweiter Ordnung: Zur Differenz von Rückenfigur und Betrachter Die Empfindung der Einsamkeit ist dem Betrachter nicht zuletzt deswegen verwehrt, weil er in Anbetracht einer ‚einsamen‘ Rückenfigur zwangsläufig zu einem Beobachter zweiter Ordnung wird.22 Sein Blick fällt auf einen anderen Betrachter, der die Landschaft überdies auf andere Weise, nämlich aus einer anderen Perspektive und vor allem unverstellt, sieht. Auf diese Weise wird weniger ein Nachempfinden von Einsamkeit als vielmehr eine Reflexion des Sehens angestoßen. Was für den Beobachter zweiter Ordnung sinnlich erfahrbar und gedanklich nachvollziehbar wird, ist die Standortgebundenheit des Sehens sowie der Um-

|| 22 Vgl. Böhme: Rückenfiguren bei Caspar David Friedrich, insbes. S. 54, S. 61f. u. S. 74; Grave: Caspar David Friedrich [2012], S. 203–206.

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stand, dass Beobachtungen mit blinden Flecken einhergehen. Jede Beobachtung, so lässt sich mit Niklas Luhmann sagen, setzt Unterscheidungen voraus, die in der Beobachtung selbst nicht ansichtig werden. Kunst, so hat bereits Luhmann zu zeigen versucht, kann jedoch „die Welt beim Beobachtetwerden“ beobachten.23 Friedrichs Rückenfiguren laden zu einer solchen Beobachtung zweiter Ordnung ein. Sie lenken den Blick auf das Betrachten selbst. Was auf den ersten Blick wie ein anachronistischer Rückschluss von Luhmanns Systemtheorie auf Friedrichs romantische Bildkunst anmuten mag, findet in den Arbeiten des Dresdner Malers durchaus gewichtige Anhaltspunkte. Zu den eher wenigen Studien, die bereits bei der zeichnerischen Erfassung einer Landschaft eine Rückenfigur festhalten,24 zählt ein Blatt vom 13. Juli 1810 (Abb. 8).25 Friedrich zeichnete es auf der längeren Wanderung ins Riesengebirge, die er gemeinsam mit Georg Friedrich Kersting unternahm und in deren Verlauf – nur fünf Tage später – auch sein Porträt als Wanderer entstehen sollte. Friedrichs Zeichnung gewährt einen Blick auf den Schmiedeberger Kamm (oder Forstkamm), einen Bergrücken des Riesengebirges, der sich zwischen Schmiedeberg (heute Kowary) und der Schneekoppe (heute Sněžka) erstreckt. Herbert Grundmann hat rekonstruieren können, dass Friedrich eine Ansicht wiedergab, die sich aus dem „Garten eines damals beliebten Kaffeelokals“26 bot. Friedrich hat später mehrfach auf die Zeichnung zurückgegriffen. Nahezu unverändert gab er die Aussicht samt Rückenfigur (bei der es sich um Kersting handeln dürfte) in einem Aquarell wieder, das heute in Moskau verwahrt wird.27 Mit der Zeichnung hatte er die spätere Verwendung bereits auf detaillierte und zugleich ökonomische Weise vorbereitet. Denn kurze schriftliche Notate und Zahlenangaben, die der Kennzeichnung von verschiedenen Raumschichten und Distanzen dienten,28 erlaubten es ihm später, die räumliche Erstreckung und den atmosphärischen Effekt der zunehmenden Unschärfe und ‚Verbläuung‘ überzeu-

|| 23 Luhmann: Weltkunst, S. 40. 24 Von solchen Studienzeichnungen sind die bildmäßigen zeichnerischen Arbeiten zu unterscheiden, die häufiger Rückenfiguren aufweisen; vgl. etwa Grummt: Caspar David Friedrich. Die Zeichnungen, Bd. I, S. 376, Kat.-Nr. 380. – Mit der Landschaftsstudie mit pfeiferauchendem Mann zeigt eine Studie, die in die Jahre von 1807 bis 1812 datiert wird, die zentrale Figur sogar in Frontalansicht; vgl. ebenda, Bd. II, S. 535f., Kat.-Nr. 567. 25 Ebenda, S. 599f., Kat.-Nr. 622. Vgl. Grave: Caspar David Friedrich [2012], S. 175; Dickel: Caspar David Friedrich in seiner Zeit, S. 87–89, Kat.-Nr. 31. 26 Grundmann: Caspar David Friedrich: Topographische Treue und künstlerische Freiheit, S. 96. 27 Grummt: Caspar David Friedrich. Die Zeichnungen, Bd. II, S. 600f., Nr. 623. 28 Vgl. Busch: Caspar David Friedrich. Ästhetik und Religion, S. 82–92; sowie die Hinweise bei Grummt: Caspar David Friedrich. Die Zeichnungen, Bd. I, S. 490f.

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gend im Aquarell anschaulich werden zu lassen. Bemerkenswert ist die kleine zusätzliche Zeichnung, die am unteren Blattrand erscheint und offenkundig dazu dient, die Tiefenstaffelung der Hügel und Berge nochmals auf andere Weise zu fixieren. Friedrich hat hier seine Sicht auf den Gebirgskamm gleichsam um 90 Grad gedreht, so dass er nun dessen Profil erfasste. Zum Profil des Gebirges führt ein Bündel von Strahlen, das von einem schematisch gezeichneten Auge seinen Ausgang nimmt. Wie auch in anderen Zeichnungen markierte Friedrich mit diesem Auge auf denkbar knappe Weise seinen eigenen Standpunkt als Zeichner, dem sich die dargestellte Ansicht dargeboten hatte. Der vermutlich rein praktischen Zwecken verpflichtete zeichnerische Zusatz führt neben der im Bild dargestellten Rückenfigur den Zeichner – und damit einen Beobachter der Rückenfigur – als zweite Instanz ein. Friedrich hatte offenkundig ein klares Bewusstsein davon, dass die Rückenfigur nicht identisch sein konnte mit dem Betrachter. Es ist daher auch nur konsequent, dass der Mann am Zaun nicht als Zeichner, also als Alter Ego, erscheint. Rückenfigur und Betrachter, so führt die Zeichnung vom 13. Juli 1810 beiläufig, aber unverkennbar vor Augen, sind klar voneinander zu unterscheiden.

4 Die Einsamkeit des Betrachters Friedrichs Rückenfiguren stoßen eine Reflexion des Sehens an, die nicht zuletzt auf die Differenz zwischen dem Beobachter im Bild und dem Betrachter vor dem Bild aufmerksam macht. Es erscheint daher kaum möglich, sich in genau jene Erfahrung von Einsamkeit hineinzuversetzen, die mutmaßlich von der Rückenfigur im Bild empfunden wird. Einsamkeit, so zeigt sich hier, kann nicht als ein gewöhnliches Bildmotiv verstanden werden, das sich mit konventionellen Zeichen wiedergeben lässt, sondern erweist sich als eine Erfahrung, die sich der Darstellung entzieht. Allenfalls Symptome oder Effekte von Einsamkeit lassen sich bildlich einfangen. Diese Undarstellbarkeit von Einsamkeit scheint unvermeidlich zu sein, da Darstellung auf Kommunikation zielt und immer schon einen Anderen, einen Adressaten, impliziert. Ganz in diesem Sinne lässt sich ein Bild trotz der physisch-materiellen Persistenz des Bildträgers nicht ohne Betrachter denken. Zu einem Bildobjekt werden die graphischen und malerischen Spuren, aus denen sich beispielsweise eine Rückenfigur formiert, erst – so lässt sich im Lichte phänomenologischer Bildtheorien sagen – in einem Wahrnehmungsakt des

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Betrachters, der mit einem Bildbewusstsein einhergeht.29 Ohne Bildwahrnehmung und Bildbewusstsein bleibt das bildliche Motiv eine Konstellation von Flecken, Spuren und Strichen. Die Figur im Bild ist daher nie unbehelligt von Betrachtern; sie kann auch in diesem Sinne kaum einsam sein. Für den Betrachter vor dem Bild gilt allerdings anderes. Vermutlich war es voreilig, als ich vorhin bemerkte, dass der Betrachter einer Rückenfigur stets ein anderes Subjekt vor Augen habe und daher kaum Einsamkeit im strengen Sinne erfahren könne. Denn das Bildbewusstsein, das zu wecken und zu erhalten Caspar David Friedrich offenkundig außerordentlich wichtig war, verbürgt ja geradezu die Abwesenheit dessen, was wie gegenwärtig vor Augen steht. An Friedrichs Gemälden lässt sich in besonders nachdrücklicher Weise erfahren, wie Bilder den Betrachter in den Bann schlagen können und zugleich doch durchgängig als Bilder, als menschliche Artefakte erkennbar bleiben. Heinrich von Kleist hat diese Erfahrung besonders eindringlich erfasst: In seiner Würdigung von Friedrichs Mönch am Meer griff er zunächst Clemens Brentanos Beobachtung auf, dass der Betrachter allein zwischen sich und dem Bild finde, was er im Bild suche, dass also die Artifizialität des Bildes eine Immersion ins bildlich Dargestellte unterbinde. Und dennoch sah Kleist dieses seiner Illusionswirkung beraubte Bild mit einer eigenwilligen Wirkmacht begabt, die ihn dazu veranlasste, die Bildbetrachtung als einen Moment körperlicher Versehrung zu verstehen: „[...] so ist es, wenn man es betrachtet, als ob Einem die Augenlieder [sic] weggeschnitten wären.“30 Sofern wir Kleists Intuition folgen, können Bilder eine Wirkung auf den Betrachter ausüben, ohne ihren eigenen Status als Bilder, d. h. als physische Gegenstände, genauer: als begrenzte, bemalte Flächen, vergessen machen zu müssen.31 Es sind solche Erfahrungen, in denen der Betrachter vor dem Bild in zugespitzter Weise Einsamkeit empfinden kann. Er ist allein mit einem toten, unbelebten Gegenstand und sieht sich dennoch einer Wirkmacht ausgesetzt, über die er nicht souverän gebieten kann. Einsamkeit wird daher weniger in Friedrichs Bildern zur Darstellung gebracht, als vielmehr vor dem Bild vom Betrachter erfahren.

|| 29 Für die Grundbegriffe der phänomenologischen Bildtheorie, insbes. den Begriff des Bildobjekts, vgl. Husserl: Phantasie und Bildbewußtsein, bes. S. 20–22. Für die aus phänomenologischer Sicht zentrale Unterscheidung zwischen Kunstwerk und ästhetischem Objekt vgl. Bensch: Vom Kunstwerk zum ästhetischen Objekt. 30 Kleist: Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft − Sämtliche Werke. Brandenburger Ausgabe, Bd. II/7, S. 61−62, hier S. 61. 31 Für ausführlichere Darlegungen dieses Gedankens vgl. Grave: Caspar David Friedrich. Glaubensbild und Bildkritik; Grave: Caspar David Friedrich [2012]; Grave: Bildtheoretische Grundfragen der Romantik, bes. S. 59–61.

Roger Paulin

Die Einsamkeit des Gelehrten August Wilhelm Schlegel zwischen Welt und Studierstube Ich beginne mit einem Zitat von Friedrich Nietzsche: Philologie nämlich ist jene ehrwürdige Kunst, welche von ihrem Verehrer vor Allem Eins heischt, bei Seite gehn, sich Zeit lassen, still werden, langsam werden.1

Zum Thema der Einsamkeit des Gelehrten gibt die Literatur zur Einsamkeit im achtzehnten Jahrhundert wenig her: die philosophisch-diätetische, Shaftesbury oder Zimmermann, mit ihrem Lob der Weisheit und der Menschenkenntnis in der geregelten Entfernung von der menschlichen Gesellschaft, beide mit stark antihöfischem Akzent, die eher medizinische, etwa Zimmermann oder Hufeland mit ihrer Körper- und Seelenhygiene, die poetische, Johann Friedrich von Cronegks Einsamkeiten in sechs Gesängen, erst recht nicht Jean-Jacques Rousseaus Rêveries du promeneur solitaire mit ihren Schwankungen zwischen Selbsthingabe und Verlust des Selbst in der Natur – sie liefern alle keine Anhaltspunkte zum Gelehrtendasein. Wir müssen wenn schon in der biographischen Literatur suchen: In Johann Georg Wiggers’ Über die Biographie (1777) in seinem Abschnitt „Über die Biographie des Gelehrten“ charakterisiert er den Gelehrtenstand als „das stille Leben“. Er hält ihn für wenig biographiewürdig, es sei denn, der betreffende Gelehrte habe „ die große Welt“ gekannt, nicht lediglich „die Studierstube“.2 Die alten Gelehrtengeschichten, die Vitae clarissimorum, kennen diese Dichotomie zwischen stiller Einsamkeit und Askese und der Welt von Politik und Herrschaft: Es wird berichtet, wie der große Universalgelehrte Claudius Selmasius drei Tage und Nächte in der Heidelberger Bibliothek ununterbrochen zum Exzerpieren gesessen habe, gleichzeitig aber, dass ihn wie Lipsius, wie Heinsius, „Könige/Fürsten/Republ. und Städte“3 umworben hätten. Auch August Wilhelm Schlegel bekennt sich zu dieser alten Renaissanceund barocken Gelehrsamkeit, und sie bildet für ihn um 1800 und weiterhin immer noch ein unverzichtbares Wissensfundament. Auch er kennt die Spannung

|| 1 Nietzsche: Morgenröthe – Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 17. 2 Wiggers: Ueber die Biographie, S. 121, S. 129. 3 Clarmundus: Vitae clarissimorum, S. 124, S. 135. https://doi.org/10.1515/9783110634709-013

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zwischen der ‚großen Welt‘ und der ‚Studierstube‘, und damit komme ich zu meinem eigentlichen Thema: die Einsamkeit des Gelehrten. Von der Einsamkeit, Stille und Einkehr des Gelehrten ist in Schlegels Leben bis etwa 1800 allerdings wenig zu spüren, nicht im Elternhaus in Hannover, wo Johann Adolf, ein „in keinem geringen Maaße beschäfftigter Vater“ (so an Klopstock)4 von zehn Kindern amtiert, dichtet und predigt. Nicht in Göttingen, wo der junge Schlegel rezensiert, übersetzt, dichtet und fast nebenbei zum Gelehrten wird (und wo unser Zimmermann auf ihn aufmerksam wird, aber das nur beiläufig).5 Erst recht nicht in Jena, mit seinem frenetischen Arbeitstempo – „Thue Dir Gewalt an“, schreibt sein Bruder Friedrich –6 und in einem Zirkel, der sich durch Rede, Vortrag, Konversation, Causerie kennzeichnet, ja gelegentlich auch durch Lärm, Gerede und Geschwätz, die markante Ausnahme Novalis bestätigt nur die Regel. Es ist gewiss kein Zufall, dass die bedeutendsten Beiträge der Brüder Schlegel zum Athenaeum in ihren Titeln das Orale, sprachlich Mitteilende betonen: Gespräch über die Poesie (Friedrichs Rede über die Mythologie hat stark homiletische Züge),7 Die Gemälde. Gespräch. Wie anders Goethes Selbstdarstellung in Dichtung und Wahrheit seines jugendlichen Besuchs in der Dresdner Galerie, ja in der Stadt, in der Winckelmann zuerst den Begriff „stille Größe“ formuliert hatte: von „der größten Stille“ im „Heiligtum“ „der Empfindung [...] womit man ein Gotteshaus“ betritt,8 ist die Rede. Bei den Romantikern in gerade derselben Gemäldesammlung herrscht nicht stille Betrachtung; es entsteht stattdessen eine prononciert ästhetische Unterhaltung, mit Rede und Gegenrede. „Dann würde das Geschwätz aufhören“, heißt es am Ende von Friedrichs Rede über die Mythologie.9 Und tatsächlich hört das Geschwätz auf: mit dem Tode der Auguste Böhmer, der Stieftochter bzw. der Stiefnichte der Brüder Schlegel, und erst recht mit dem Tod von Friedrich von Hardenberg. Der Zirkel von Jena geht in sich und entdeckt die poetische Einsamkeit. Im Musen-Almanach für das Jahr 1802 klagt Ludwig Tieck voll Weltschmerz und Selbstmitleid in dem langen und übrigens nicht gerade sehr guten Stanzengedicht Einsamkeit.10 Der nun verklärte Novalis spricht aus dem Grabe in den Geistlichen Liedern:

|| 4 Klopstock: Werke und Briefe, Abt. Briefe, Bd. 6 (Text), S. 40. 5 A. W. Schlegel: Briefe, Bd. 2, S. 3f. 6 F. Schlegel: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 23, S. 247. 7 Paulin: Säkularisierte Homiletik, S. 90. 8 Goethe: Dichtung und Wahrheit – Goethe: Gedenkausgabe, Bd. 10, S. 352. 9 Athenaeum, Bd. 3, S. 105. 10 Musen-Almanach für das Jahr 1802, S. 165–168.

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Wer einsam sitzt in seiner Kammer, Und schwere, bittre Thränen weint, Wem nur gefärbt von Noth und Jammer Die Nachbarschaft umher erscheint;11

Und in dem Ton weiter. Und August Wilhelm Schlegel sucht Trost im katholischen Ritus, sitzt dann allein am Grabe Augustens und weint. In dem weiteren publizistischen und poetischen Wirken der Brüder Schlegel bis etwa 1803 – Europa, die Berliner Vorlesungen – ist eher das Proklamatorische vorherrschend. In August Wilhelms Vorlesungen über Encyclopädie, 1803 in Berlin gehalten, wird ein anderer Ton angeschlagen. Diese Vorlesungen sind besonders deswegen von Bedeutung, weil sie den Enzyklopädie-Gedanken eines organischen Systems des Wissens, wie er Bacon oder den französischen Enzyklopädisten vorgeschwebt hatte, aufgreifen und Gedanken über eine deutsche Universität und die Bestimmung des Gelehrten anstellen, die wir von Fichte, Schelling oder Schleiermacher her kennen.12 Nach Fichte ist der Gelehrte zwar kein „Priester der Wissenschaft“;13 Schlegel beruft sich jedoch auf eine noch ehrwürdigere Tradition. In den Schlussbemerkungen zu seinen Vorlesungen über Encyclopädie steht folgende Passage: Noch einen andern sehr preiswürdigen Gedanken über Vorbereitung zur Philosophie finden wir im classischen Alterthume realisirt: es ist der einer philosophischen Ascetik, da nämlich der Geist, durch Entfernung des Gemüths von irdischen Sorgen, Leidenschaften und Vergnügungen, durch körperliche Mäßigkeit, Reinheit und Ordnung, durch contemplative Stille, endlich durch die Einwirkungen der Musik für die höhere Weisheit empfänglich gemacht werden sollte, wie es die Absicht des Pythagoras war.14

Die Philosophie, so heißt es fast am Ende dieser letzten Vorlesung, geht „aus einer ursprünglichen und wesentlichen Anlage des Menschen“ hervor, ist „in Sprache und Mythologie niedergelegt“.15 Ganz am Ende, in einem Ausblick lesen wir, das Griechische sei das älteste bedeutende Korpus der Mythologie, aber: wenn wir erst näher mit der Indischen Mythologie bekannt wären, [dürfte sich zeigen], daß diese weit vielseitiger, neben dem realistischen Element in gleicher Energie und

|| 11 Ebenda, S. 195. 12 A. W. Schlegel: Kritische Ausgabe der Vorlesungen, Bd. 3, S. xxiif. 13 Fichte: Über die Bestimmung des Gelehrten – Sämmtliche Werke, Bd. 6, S. 437. 14 A. W. Schlegel: Kritische Ausgabe der Vorlesungen, Bd. 3, S. 371. 15 Ebenda.

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Ausbreitung auch das idealistische in sich enthielte, und als gemeinschaftliche Quelle der entgegengesetztesten Ausströmungen des menschlichen Geistes zu betrachten wäre.16

Diese Zitate entstammen, wie gesagt, nicht den großen öffentlichen Berliner Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst, sondern dem privaten Zyklus, der eher das Gelehrtendasein zum Gegenstand hat. „Contemplative Stille“ und Indien: damit wäre, so scheint es, Schlegels weiterer Weg als Gelehrter und Wissenschaftler umrissen. Gleich 1805, also schon als Begleiter der Madame de Staël, schreibt er die zu seinen Lebzeiten unveröffentlichten Considérations sur la civilisation en général et sur l’origine et la décadence des religions [Betrachtungen über die Zivilisation im Allgemeinen und über den Ursprung und Verfall der Religionen]. Hier ist Schlegels erste längere Charakterisierung Indiens, des Sanskrit, der Kultur und Religion der Brahmanen zu vernehmen, durch „receuillement“ und „calme“ gekennzeichnet [Kontemplation und Stille],17 im Gegensatz zum modernen französischen Fortschrittsglauben und dessen Hektik. Dieses Bild täuscht aber insofern, als sich Schlegel – im Gegensatz zu seinem Bruder Friedrich – erst zehn Jahre später, also um 1815, ernsthaft mit Indien zu beschäftigen anfängt. Schlegel befindet sich 1805, wie gesagt, in Coppet bei Madame de Staël. Zu den paradoxen Erscheinungen des geräuschvollen Hofstaats, den diese grande dame führt und zu dessen Kern auch Schlegel zählt, gehört eine innere Askese, ein Sich-Zurückziehen aus der Gesellschaft, das Bedürfnis nach Einsamkeit. Das betraf nicht Staël selbst, die die Einsamkeit hasste.18 Dennoch bekennt sich Staël zur religiösen Einkehr, zur Mystik, zum Quietismus; sie liest Madame de Guyon und Fénelon. Der einzige große Abschnitt zur Religion in ihrem De l’Allemagne gilt den Stillen im Lande, der Herrnhuter Gemeinde in Neudietendorf bei Erfurt. Schlegel entwickelt in dem Coppetkreis Überlebensstrategien, indem er seinen gesellschaftlichen Verpflichtungen nachkommt und an der gepflegten Unterhaltung teilnimmt, sich aber gleichzeitig nach erfüllter Pflicht in die Einsamkeit des Gelehrten zurückzieht. Seine Briefe an den Genfer Bibliothekar und Universalgelehrten Favre bezeugen es. Ein Zeugnis George Ticknors aus dem Jahre 1817, dem Todesjahr der Madame de Staël, bestätigt es weiter: Durch seine Lebensart gelingt es Schlegel, sich als Schriftsteller und auch als Mitglied der glänzenden Pariser Gesellschaft zu profilieren. Er wacht um vier Uhr früh auf und statt

|| 16 Ebenda, S. 373. 17 A. W. Schlegel: Oeuvres, Bd. 1, S. 314. 18 Ein Kuriosum: In einer englischen Ausgabe von Zimmermanns Einsamkeit aus dem Jahre 1800 steht genau das Gegenteil; so ranken sich Legenden um bekannte Namen. Zimmermann: Solitude, S. 154.

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aufzustehen, lässt er seine Kerze bringen und liest fünf oder sechs Stunden, schläft dann zwei bis drei Stunden, steht dann auf und arbeitet bis zum Diner um sechs. Von dann bis zehn ist er der Weltmann, in Gesellschaft und voller amüsanter Konversation; aber um zehn zieht er sich in sein Studierzimmer zurück und arbeitet bis zwölf, und so fort.19

Schlegel suchte in dem Gesellschaftskreis der Madame de Staël nicht nur die nötige Zurückgezogenheit für seine gelehrte Tätigkeit. Er hatte außerdem das Bedürfnis nach innerer seelischer Ruhe: vorbei war die Phase katholisierenden Liebäugelns mit der Kunstreligion, dem „Bund der Kirche mit den Künsten“. In dem eher ökumenischen Staël-Kreis las er wie sie die französischen Mystiker, anders als sie stand er um 1808 sogar in Konversionsverdacht. So glaubte es jedenfalls die eifrige Konvertiererin Frau von Krüdener. Er plante – neben seiner literarischen Tätigkeit – ein großes religiöses Werk, das aber nie zustande kam. Wir erfahren dies in dem großen Bekenntnis- sowie Beichtbrief – wiederum auf Französisch – an Mathieu de Montmorency aus dem Jahre 1811. In diesem Geständnis wird die Dichotomie des Gelehrten artikuliert: der Wunsch, sagt er, sich der Gesellschaft, der weltlichen Angelegenheiten zu entziehen, habe ihn zur Religion hingezogen. Kein religiöses Regiment, keine Seelenexerzitien – seien es die von Madame de Guyon oder von Fénelon – hätten ihn jedoch befriedigen können, ihm die Gnade vermitteln, „de tourner mon âme vers Dieu“,20 seine Seele Gott hinzuwenden. Im Gegensatz zu seinem Bruder Friedrich habe er sich nicht dogmatisch verpflichten können. Vielleicht ist es kein Zufall, dass gerade um 1811 Schlegel die Wende von der Poesie und der schönen Literatur und von der christlichen Offenbarung vollzieht und – in den Rezensionen für die Heidelberger Jahrbücher zu Winckelmann, Grimm, Niebuhr – seinen ersten Beruf als Gelehrten wiederentdeckt. Es bedeutet ebenfalls ein langsames Abschiednehmen vom Christentum, nicht jedoch von der Religion selbst. Denn im „stillen Bonn“, wie er es 1821 nennt,21 wird das Studium des Indischen quasi zum Religionsersatz. Die „contemplative Stille“, die er 1803 für den Philologen gefordert hatte, wird an dem regelmäßigen Tagesablauf des Professors vollzogen, eine innere Ruhe erlangt, indem er sich nach den „weisen Maximen“ der Brahmanen richtet, ihre Gleichmut („impassibilité“) zur Lebensregel erhöht.22 Der Professor sei demnach nicht nur Lehrer und Vermittler

|| 19 Englisches Original bei Ticknor: Life, Letters and Journals, Bd. 1, S. 107. 20 [Amelie Lenormant]: Coppet et Weimar, S. 201. 21 Aus dem Briefwechsel mit Schlegels Haushälterin Maria Löbel in Bonn – A. W. Schlegel: „Meine liebe Marie“, S. 41. 22 A. W. Schlegel: Oeuvres, Bd. 3, S. 245.

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der Weisheit, sondern Ratgeber und säkularer Priester der Wahrheit. Damit ist kein Kultus, keine Regelverpflichtung verbunden, lediglich eine innere Askese. 23 Diese 1820er Jahre sind nach außen hin dennoch keine Zeit der „contemplativen Stille“, gerade das Gegenteil. Paradoxerweise sind sie auch durch Polemiken und Kontroversen gekennzeichnet, wissenschaftlicher, aber auch konfessioneller Art. Die zeitweise getrübten Beziehungen zu seiner zum Katholizismus konvertierten Nichte Auguste von Buttlar bezeugen es, aber erst recht die zu seinem Bruder Friedrich, machen das anschaulich, ja Friedrich wird nach seinem Tode von August Wilhelm 1834 gerade als Unruheerscheinung charakterisiert, unstet, kometenhaft, exzentrisch.24 Zu demselben Paradoxon gehört, dass Passagen, in denen Schlegel die kontemplative Ruhe der Brahmanen preist, ihre Friedfertigkeit, ihren Hang zur Philosophie, ausgerechnet in Streitschriften enthalten sind, einmal gegen den großen Romantikhasser Johann Heinrich Voss25 und zum anderen in einem offenen Brief an einen englischen Sanskritisten.26 In seinen letzten Lebensjahren greift Schlegel einen der bekanntesten Einsamkeitstopoi überhaupt auf, Jean-Jacques Rousseaus Rêveries du promeneur solitaire. Er tut es aber nicht, um wie Rousseau ein inneres Gespräch mit der Natur zu artikulieren, nicht um sich durch den Einsamkeitsdiskurs zu verlieren und wieder zu sich zu finden. Gleichzeitig rekurriert Schlegel auf Debatten bzw. auf Erlebnisbereiche, die letzten Endes im achtzehnten Jahrhundert, dem Jahrhundert Rousseaus, aber auch Voltaires, Lessings (oder Reimarus’) zu situieren sind. Es handelt sich um Schlegels Fragments extraits du porte-feuille d’un solitaire contemplatif [Auszüge aus der Brieftasche eines einsamen Nachdenkers] aus dem Jahre 1838, 1846 aus dem Nachlass veröffentlicht, zu denen sich zwei Sammlungen Pensées détachées [Zerstreute Gedanken] gesellen.27 Sie führen uns an den äußeren Rand der deutschen Romantik, besonders wenn wir diese Fragments extraits mit den letzten Ausläufern der Romantik, etwa Brentano, Eichendorff oder gar dem alten Tieck vergleichen, ja Tieck bekennt sich 1848 in einem Brief an Ida von Lüttichau noch einmal zu seinem naturmystischen Erlebnis von 1792 in der Einsamkeit des Harzgebirges.28 Auch wenn der späte Schelling, der in seinen Berliner Vorlesungen zur Philosophie der Offenbarung ein neues religiöses Bewusstsein ankündigt; Schelling bleibt jedoch nach

|| 23 Indische Bibliothek, Bd. 2, S. 466. 24 A. W. Schlegel: Sämmtliche Werke, Bd. 8, S. 292. 25 Ebenda, S. 258–261. 26 A. W. Schlegel: Oeuvres, Bd. 3, S. 245. 27 Ebenda, Bd. 1, S. 189–201, S. 202–276. 28 Ludwig Tieck und Ida von Lüttichau in ihren Briefen, S. 41–43.

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wie vor alten welt- und heilsgeschichtlichen Vorstellungen verpflichtet.29 Ich erwähne die zeitliche Parallelerscheinung Schelling nur zum Vergleich. Bei unserem „solitaire contemplatif“ Schlegel fällt sofort eine radikale Distanz zur übrigen noch aktiven Romantik auf: Er greift seinen Topos von der „kontemplativen Stille“ aus dem Jahre 1803 wieder auf, formuliert ihn aber auf Französisch um, ja er schreibt nicht mehr gerne deutsch (wie übrigens zeitweise Alexander von Humboldt); ungefähr zwei Drittel seines indologischen Oeuvres ist nicht in deutscher Sprache. Er lässt in diesen Fragments extraits durch die Vermittlung einer Fremdsprache die Etappen seines eigenen Lebens Revue passieren, eine Art apologia pro vita sua, und zwar in einem großen späten Bekenntnisbrief über seine eigene religiöse Entwicklung, zum Teil eine Auseinandersetzung mit seinem Bruder Friedrich. An wen ist dieser Brief gerichtet? Alle Freunde von damals sind tot bis auf Tieck. Aber an Tieck schreibt man nicht über solche Dinge. Aus demselben Grund kommen seine akademischen Kollegen nicht in Frage. Die Adressatin ist Albertine, Herzogin von Broglie, geborene de Staël-Holstein, die Tochter seiner ehemaligen Gönnerin und Seelenfreundin. Dieser frommen, pietistischen Dame schüttet Schlegel das Herz aus. Anlass ist für Albertine ihre Sorge um sein Seelenheil, für Schlegel seine intensive Beschäftigung mit dem Phänomen der Religion überhaupt. In seinem Brief ist von seinem jugendlichen Skeptizismus die Rede, seiner katholisierenden Kunstreligion, der Seelenkrise anlässlich von Auguste Böhmers Tod, seiner Lektüre der Mystiker in Coppet, schließlich seiner Ablehnung jeglicher konfessioneller Bindung – sehr in Gegensatz zu seinem Bruder Friedrich und dessen „Bigotterie“ und „Fanatismus“ 30– bis hin zu einem Restglauben an „la religion primitive, innée et universelle“,31 also das innere, eingeborene Religionsgefühl. Dazu habe er, so schreibt er an Albertine, die Pensées détachées niedergeschrieben. Die vornehme und feinsinnige Albertine macht keinen Versuch, ihn zu bekehren: sie bekennt sich nach wie vor zu ihrem eigenen inneren Glauben. Schlegels Pensées détachées bekunden seinen Skeptizismus gegen Gottesbeweise, erfundene Mythologien, kirchliche Überlieferungen, textliche Manipulationen – alle in der judaeo-christlichen Tradition verankert –, nicht aber wie schon gesagt gegen die Religion selbst. Sie atmen den Geist der höheren Kritik, manchmal spürt man sogar die Nähe zu dem Skandalon von 1835–36, David Friedrich Strauß’ Das Leben Jesu.

|| 29 Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschichte, S. 192f. 30 A. W. Schlegel: Oeuvres, Bd. 1, S. 194. 31 Ebenda, S. 192f.

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Der späte Schlegel ist kein Ungläubiger. Er muss sich aber, wie der eingangs von mir zitierte Friedrich Nietzsche, vom alten Glauben verabschieden, um auf noch ältere, letzten Endes antike Glaubensvorstellungen zurückzugreifen. Er tut es buchstäblich in dem auf Französisch verfassten Gedicht Mes Adieux: Je vous quitte à jamais, tristes Nazaréens, Disciples de Saül, vains théologiens: Vos sacrés auteurs juifs sont pour moi des profanes. Pythagore, Platon, les sublimes Brahmanes Sont mes oracles saints, interprètes des dieux, Ma boussole sur mer et mon vol vers les cieux.32 [Ich verlasse euch für immer, traurige Nazarener, Jünger Sauls, eitle Gotteslehrer: Unheilig sind mir eure jüdischen Schriftgelehrten. Pythagoras, Platon, die erhabenen Brahmanen Sind meine heiligen Orakel, Lehrer der Götter, Mein Kompass auf See und mein Himmelsflug!]

Das ist übrigens auch ein Gedicht der deutschen Romantik. Er nimmt darin Abschied von einer Religion der heilsgeschichtlichen Teleologie in der judaeochristlichen Offenbarung und beherzigt in eklektischer Weise zwei voneinander verschiedene Prinzipien: die platonische Emanationslehre, die Wiederkehr zu immerwährenden Prinzipien sowie die innere Ruhe (Pythagoras, Brahmanen), die „contemplative Stille“ von Griechen und Indern, ein Rückgriff auf den Platonismus, den er an Winckelmann, Hemsterhuis und Goethe immer so bewundert hatte, zugleich eine bescheidene Vorausdeutung auf Nietzsche.

|| 32 Ebenda, S. 188.

Hans-Georg Pott

Waldeinsamkeit Paradigma einer Daseinsmetapher bei Eichendorff Metaphern sind mehr als Redeschmuck. Nietzsche nennt den Trieb zur Metaphernbildung den „Fundamentaltrieb des Menschen“1, und in Bezug auf einen Wahrheitsanspruch sind sie den (wissenschaftlichen qualifizierten) Begriffen nicht prinzipiell nachgeordnet. Immerhin können wir heute, auch angesichts der modernen Quantenphysik (Licht als Welle und Korpuskel zugleich), allgemein akzeptieren, dass verschiedene Beobachtungsweisen zu unterschiedlichen auch gegensätzlichen Versionen der Weltbeschreibung führen, die gleichberechtigt nebeneinander bestehen und nur in ihrer simultanen Komplementarität sich einer Erkenntnis des Wahren / Ganzen annähern können. Und um es vorweg zu sagen: Eichendorff ist ein Meister der simultanen Komplementarität. Den Begriff der Daseinsmetapher hat Hans Blumenberg eingeführt. Sein Werk Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher (1979) hatte er mit einem Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit versehen, um die Daseinsmetapher zu präzisieren.2 In seinen frühen Paradigmen zu einer Metaphorologie spricht er noch von „absoluten Metaphern“, die Verhaltensorientierung bieten, einer Welt Struktur geben und das „nie erfahrbare, nie übersehbare Ganze der Realität“ repräsentieren.3 In dem Ausblick nennt Blumenberg die Metaphorik nur einen „schmalen Spezialfall“ von Unbegrifflichkeit, nicht als eine Vorstufe der Begrifflichkeit, was sie weiterhin ist (ebenso eine mögliche Nachstufe und natürlich Redeschmuck), sondern eine „authentische Leistungsart der Erfassung von Zusammenhängen“ der Lebenswelt.4 Und noch weitergehend und tiefergehend bezeichnet er die Metaphern (wiederum metaphorisch) als „Leitfossilien einer archaischen Schicht der theoretischen Neugierde“, die einer wissenschaftlichen Begriffssprache prinzipiell unzugänglich bleiben. Somit bewahren die Metaphern die ἀρχή (arché), die Ursprünge, die Herkunft. Der „historische Wandel einer Metapher bringt die || 1 Nietzsche: Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn – Werke in drei Bänden, Bd. 3, S. 319. 2 Vgl. auch Blumenberg: Theorie der Unbegrifflichkeit (Aus dem Nachlass). 3 Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie, S. 20. Zur Bedeutung von Ganzheit als Funktion der (Wahrheits-)Erkenntnis vgl. Pott: Analogie und Gleichnis als Erkenntnisformen des Senti-Mentalen bei Jean Paul und Robert Musil. 4 Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer, S. 77. https://doi.org/10.1515/9783110634709-014

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Metakinetik geschichtlicher Sinnhorizonte und Sichtweisen selbst zum Vorschein, innerhalb deren Begriffe ihre Modifikation erfahren.“5 Die historische Semantik hat hierzu wertvolle Beiträge geliefert. Dass „alle Begriffsbildung im Grunde auf Gleichnissen“ beruht, wie Schopenhauer sagt6, gilt insbesondere für hochabstrakte Begriffe, „zweideutige Materien“ (Jean Paul)7, die sich auf Totalhorizonte beziehen, von denen es keine Gesamtanschauung geben kann wie Gott, Freiheit, Unsterblichkeit, Welt, Gesellschaft, Staat u.a.m.8 Gleichwohl liefern sie wirkungsmächtige und traditionsgesättigte Sinnpotentiale. Es sind Begriffe, mit Nietzsche, „in denen sich ein ganzer Prozess semiotisch zusammenfaßt, [sie] entziehn sich der Definition; definierbar ist nur das, was keine Geschichte hat.“9 Der Begriff der Seele zum Beispiel hat in der gewöhnlichen Sprachverwendung und natürlich in der Literatur einen Sinn und eine Geschichte. Selbst bei dem Wort Psyche lässt sich ebenso an die mythologische Gestalt (Amor und Psyche) wie an die Psyche der Psychologie denken. Und nur im wissenschaftlichen System der Psychologie lässt sich Psyche innerhalb eines psychologischen Konzepts definieren. Was ist nun im Besonderen unter einer ‚Daseinsmetapher‘ zu verstehen? Ich möchte damit im Anschluss an Blumenberg solche Metaphern bezeichnen, in denen lebensweltlich bedeutsame Erfahrungen kondensiert sind, die wir zur Orientierung in der Welt benötigen und die unsere Motive erfassen. Blumenberg spricht auch vom „Motivierungsrückhalt aller Theorie“10. Entscheidend ist, dass sich Daseinsmetaphern nie vollständig auf rein Faktisches reduzieren lassen. Emotionen und Passionen, Sein und Sollen, Wunsch und Wirklichkeit gehen hier eine unauflösliche Einheit ein.11 Auch der Begriff der Zeit lässt sich für die Erfahrungswirklichkeit in Metaphern zergliedern, die ursprünglich Götter benannten: χρόνος (chronos) (etymologisch falsch mit dem Titan Κρόνος (Kronos) gleichgesetzt), καιρός (kairos) und αἰών (aion) – einmal also die quantitativ mechanisch oder heute digital messbare

|| 5 Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie, S. 11. Der Ausdruck der Metakinetik ließe sich mit Musils „gleitender Logik der Seele“ als Verfahrensweise des metaphorischen Geistes vergleichen. Pott: Analogie, S. 170. 6 Schopenhauer: Sämtliche Werke, Bd. 5: Parerga und Paralipomena 2, § 289, S. 646. 7 Jean Paul: Leben des Quintus Fixlein − Sämtliche Werke, Abt. 1, Bd. 4, S. 27. 8 In kantischer Terminologie handelt es sich um transzendentale Vernunftbegriffe, auf die ich mich hier nicht explizit beziehe. Vgl. Kritik der reinen Vernunft, Transzendentale Dialektik, sowie insbesondere § 59 der Kritik der Urteilskraft. 9 Nietzsche: Zur Genealogie der Moral − Werke in drei Bänden, Bd. 2, S. 820. 10Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer, S. 7. 11 Vgl. Pott: Zur philosophischen Anthropologie der Gefühle. S. 115–132.

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Zeit, dann der günstige und ungünstige (verpasste) Augenblick und drittens die Weltzeit, Lebenszeit und die Ewigkeit.12 Eine gewisse semantische Unschärfe und Breite ist gegeben, wie es der Natur von Göttern und Metaphern entspricht. Die christliche Religion kennt zudem noch den Begriff der „erfüllten Zeit“.13 Ich möchte geradewegs zu Eichendorff übergehen, der in einem Satz das menschliche Dasein als geschichtliches und zeitliches konzipiert. Er findet sich in Ahnung und Gegenwart und leitet auch zum Thema der Waldeinsamkeit insofern über, als Friedrich und Leontin in einer „grünen Abgeschiedenheit“ wohnen – zwar nur einen Vormittag lang; aber dass sie dort wohnen und nicht etwa nur sich aufhalten, scheint mir wesentlich, denn es geht um eine Daseinsform. Auf Friedrich hatte das stille Leben den wohltätigsten Einfluß. Seine Seele befand sich in einer kräftigen Ruhe in welcher allein sie imstande ist, gleich dem unbewegten Spiegel eines Sees, den Himmel in sich aufzunehmen. Das Rauschen des Waldes, der Vogelsang rings um ihn her, diese seit seiner Kindheit entbehrte grüne Abgeschiedenheit, alles rief in seiner Brust jenes ewige Gefühl wieder hervor, das uns wie in den Mittelpunkt alles Lebens versenkt, wo alle die Farbenstrahlen, gleich Radien, ausgehen und sich an der wechselnden Oberfläche zu dem schmerzlich-schönen Spiele der Erscheinung gestalten. Alles Durchlebte und Vergangene geht noch einmal ernster und würdiger an uns vorüber, eine überschwengliche Zukunft legt sich, wie ein Morgenrot, blühend über die Bilder und so entsteht aus Ahnung und Erinnerung eine neue Welt in uns und wir erkennen wohl alle die Gegenden und Gestalten wieder, aber sie sind größer, schöner und gewaltiger und wandeln in einem anderen, wunderbaren Lichte.14

Das „ewige Gefühl“ und der Bilderreigen aus Ahnung und Erinnerung, die Einheit von Vergangenheit und Zukunft, möchte ich als Kairos auffassen, in Analogie zu der „Fülle der Zeiten“15, indes ich die Πεπλήρωται ὁ καιρὸς (Markus 1,15) nicht theologisch deute, sondern ästhetisch und metaphorisch auf die „Gegenden und Gestalten“ beziehe, die offen sind für religio schlechthin; das heißt für Transzendenz. Es ist der kairos der Sichtbarkeit der Dinge „in einem anderen, wunderbaren Lichte“. Das verheißene Reich Gottes (z.B. Lukas 16,9: αἰωνίους σκηνάς = die ewigen Zelte / Hütten!) ist ewig, das ewige Leben: αιώνια ζωή. Ein Vorschein davon mag

|| 12 Vgl. Blumenberg: Weltzeit und Lebenszeit. 13 Markus 1,15 (Münchener Neues Testament): „Erfüllt ist die Zeit [Πεπλήρωται ὁ καιρὸς] und nahegekommen ist das Königreich Gottes.“ Auch Epheser 1, 9f. Gal.4, 4 kennen πλήρωμα τοῦ χρόνου: das ist aber eine andere Zeit! 14 Eichendorff: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, Bd. 3, S. 77. 15 Vgl.: πληρώματος τῶν καιρῶν. Epheser 1,10, „Fülle der Zeiten“ (Münchener Neues Testament).

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sich bei Eichendorff finden im Ausdruck „die stille Zeit“. Zum Beispiel im folgenden Gedicht: In der Fremde. Aus der Heimath hinter den Blitzen roth Da kommen die Wolken her, Aber Vater und Mutter sind lange todt, Es kennt mich dort Keiner mehr. Wie bald, wie bald kommt die stille Zeit, Da ruhe ich auch, und über mir Rauschet die schöne Waldeinsamkeit Und Keiner mehr kennt mich auch hier.16

Heimat und Fremde, gleichfalls Daseinsmetaphern, strukturieren den Lebensweg. Sie verbinden die Vergangenheit und die Zukunft der stillen Zeit, wobei das Präsens des „Rauschet die schöne Waldeinsamkeit / Und keiner mehr kennt mich auch hier“ doppeldeutig ist: das kann sich auf die stille Zeit ebenso beziehen wie auf die Gegenwart des sprechenden / singenden Ichs. Die Gegenwärtigkeit des Ichs im Hier ‚existiert‘ in der Synchronie von Vergangenheit und Zukunft, von damals und bald. Als Metaphern zeigen sie die Transzendenz des Daseins, und mit den ihnen korrespondierenden Gefühlen von Ahnung und Schauern überbieten sie in ihrer Eindringlichkeit jegliche Begriffsdialektik, die Transzendenzerfahrung ausformulieren will.17 In meinen Augen transformiert Eichendorff die christlichen Zeiten, und entfernt den Kern eschatologischer Verheißung, vor allem das jüngste Gericht, das zum Reich Gottes gehört und belässt die Transzendenzerfahrung in unbestimmten (unheimlichen: den verdrängten heimlichen18) Gefühlen wie in: Der Abend. Schweigt der Menschen laute Lust: Rauscht die Erde wie in Träumen Wunderbar mit allen Bäumen, Was dem Herzen kaum bewusst, Alte Zeiten, linde Trauer, Und es schweifen leise Schauer Wetterleuchtend durch die Brust.19

|| 16 Eichendorff: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, Bd. 1.1, S. 280. 17 Vgl. Beilage 2 am Ende dieses Beitrags. 18 Vgl. Pott: Eichendorff und das Unheimliche. 19 Eichendorff: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, Bd. 1.1, S. 37.

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Die ästhetische (poetische) Form und das Raum und Zeit erschließende Potenzial der Daseinsmetapher ‚Waldeinsamkeit‘ – die wohl bekannteste Einsamkeitsmetapher der Romantik20 entfaltet Eichendorff in einer Reihe von umkreisenden Metaphern, Motiven und Sinnbildern: die stille Nacht, der stille Wald, der Einsiedler, und mit zum „Vollgleichnis ausgebauten Metaphern“21 wie das einsame Ich in der Fremde, das sich nach der Heimat, das einsame Ich in der Heimat, das sich in die Fremde sehnt. Charakteristisch ist die durchgängige Komplementarität von Heimat und Fremde, Einsamkeit und Weltgewimmel, Tradition und Aufbruch, Lust und Leid, Vergänglichkeit und Ewigkeit, Endlichkeit und Unendlichkeit. Eichendorffs Lyrik ist durchdrungen davon. Ein Beispiel: Waldeinsamkeit! Du grünes Revier, Wie liegt so weit Die Welt von hier! Schlaf nur, wie bald Kommt der Abend schön, Durch den stillen Wald Die Quellen gehn, Die Mutter Gottes wacht, Mit ihrem Sternenkleid Bedeckt sie dich sacht In der Waldeinsamkeit, Gute Nacht, gute Nacht! – O du stille Zeit! Kommst, eh’ wir's gedacht, Ueber die Berge weit Nun rauschet es so sacht In der Waldeinsamkeit, Gute Nacht –22

Die Waldeinsamkeit ist hier in räumlicher Distanz zum Weltgewimmel gesetzt: „Wie liegt so weit / Die Welt von hier!“ Zugleich ist der stille Wald der Ort einer

|| 20 Zwar behandelt auch Arnim die Themen und Motive Rauschen, Herz, Grund, Wald, sie haben aber keine große Ähnlichkeit mit Eichendorffs, wie Christof Wingertszahn zurecht feststellt: Wingertszahn: „Was klingt im Ohr, was schlägt das Herz?“. Der Unterschied könnte in der Qualifikation als Daseinsmetaphern im von mir beschriebenen Sinn liegen. 21 Blumenberg: Schiffbruch, S. 74. 22 Eichendorff: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, Bd. 1.1, Der Umkehrende, S. 314.

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göttlichen Natur, die mit der schönen Metapher vom Sternenkleid der Mutter Gottes anklingt. Die zweite Strophe der Waldeinsamkeit transformiert den WaldWelt-Raum der ersten in die Zeitdimension: die stille Zeit als die kommende, die adventistische Zeit, die dann wieder zum Raum wird: „O du stille Zeit! Kommst, eh’ wir’s gedacht, / Ueber die Berge weit […].“ Poetisch genial wird hier die Zeit zum Raum wie bei Wagner im Parsifal: „Du siehst, mein Sohn, / zum Raum wird hier die Zeit.“23 Und zwar weil der Weg zum Gral nicht durch den Raum („das Land“) führt, sondern durch die Zeit.24 Das dreifache „Gute Nacht“ bekräftigt den Wunsch, es möge eine gute Nacht werden; denn die stille Nacht wie der stille Wald sind zutiefst ambivalent. Im Walde. Es zog eine Hochzeit den Berg entlang, Ich hörte die Vögel schlagen, Da blitzten viel Reiter, das Waldhorn klang, Das war ein lustiges Jagen! Und eh ich's gedacht, war alles verhallt, Die Nacht bedecket die Runde, Nur von den Bergen noch rauschet der Wald Und mich schauert im Herzensgrunde.25

Dem Wald korrespondiert das stille Meer und dem Rauschen des Waldes das Wellenschlagen – wie in der Nachtblume. Die Nachtblume. Nacht ist wie ein stilles Meer, Lust und Leid und Liebesklagen Kommen so verworren her In dem linden Wellenschlagen. Wünsche wie die Wolken sind, Schiffen durch die stillen Räume, Wer erkennt im lauen Wind, Ob's Gedanken oder Träume? – Schließ ich nun auch Herz und Mund, Die so gern den Sternen klagen:

|| 23 Wagner: Die Musikdramen, S. 834. 24 Seit der Physik des Aristoteles werden Raum und Zeit zusammen gedacht. Nach Heidegger ist der Sinn von Sein: Zeit. Vgl. Sein und Zeit, insbesondere zu Aristoteles und Hegel (bes. § 82). 25 Eichendorff: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, Bd. 1.1, S. 11.

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Leise doch im Herzensgrund Bleibt das linde Wellenschlagen.26

Die Nachtblume spricht in Naturbildern vom seelischen Inneren des Menschen. Der oft genannte Herzensgrund vereinigt den epistemischen Grund (ratio, causa) und den topologischen Grund (solum, der Boden): Metapher für die motivierende Schicht, eine Schicht, in der die Träume und Wünsche lagern. (Und entwirft nicht die Neurowissenschaft eine Topologie vom Gehirn, in der alles seinen Ort für Gründe hat?) Ich möchte im Körpergefühl des Schauderns (Eichendorff und der Duden kennen auch die Form ‚Schauern‘) einen Gefühlsimpuls erkennen, der uns vor das Ganze des Daseins führt: unsere Endlichkeit und Vergänglichkeit, die uns das „Sein zum Tode“ (Heidegger) gleichsam fühlen lassen.27 Wir sagen es schaudert mich, wie es rauscht. Ich möchte soweit gehen und behaupten: Das in der Stille hörbare Rauschen und das Körpergefühl des Schauderns sind Medien einer Transzendenzerfahrung (ich würde auch akzeptieren zu sagen: Gotteserfahrung), dem das geistige Vermögen des Ahnens korrespondiert. Auch der Begriffsphilosoph Hegel nennt diesen Grund für Religion: „Wer seine Brust nicht aus dem Treiben der Endlichkeit heraus ausgeweitet, in der Sehnsucht, Ahnung oder im Gefühl des Ewigen die Erhebung seiner selbst nicht vollbracht und in den reinen Äther der Seele geschaut hat, der besäße nicht den Stoff, der hier begriffen werden soll.“28 Wolfram Hogrebe hat der Ahnung als Vorform von Erkenntnis eine ausführliche Studie gewidmet. Zu der „primären epistemischen Verfassung“29 von Ahnung gehört eine Befindlichkeit, worunter ein ganzes Ensemble von Gefühlen und Gemütszuständen zu fassen ist, die jegliche Faktizität überschreiten, weil sie von Wunsch und Wille, Sehnsucht und Träumen geprägt sind, die sich an reale Dinge (Signifikanten) zurückbinden. Als hörbare Indifferenz bildet das Rauschen / Wellenschlagen auch in der Informationstheorie die Basis (im Sinn von Grund, ratio) für Differenzierung, also für Information: Communication in the Presence of Noise.30 Dieses Schaudern und Ahnen und ihre Redeskription bilden den Grund

|| 26 Ebenda, S. 223. 27 Geht es um das rational nicht zu erkennende Ganze des Seins, so betonen bedeutende Denker von Pascal und Spinoza bis zu Scheler und Heidegger die Bedeutung der Gefühlswelt für ein wie immer geartetes Verstehen. Wenn ich an dieser Stelle Heidegger anführe, so weil er in seiner initialen Antrittsvorlesung die Angst als den Grund der Metaphysik erkennt. Vgl. Beilage 1. 28 Hegel: Werke Bd. 16, S. 13f.; und Beilage 2 am Ende dieses Beitrags. 29 Hogrebe: Erkenntnis und Ahnung, insgesamt, Zitat S. 7. 30 Hiepko/Stopka (Hrsg.): Rauschen (Einleitung), S. 10.

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für Religion. Mit Luhmann: „Die Rückbindung des Unbezeichenbaren an das Bezeichenbare – das ist, in welcher kulturellen Ausformung immer, im weitesten Sinn ‚religio‘.“31 Und genau darum handelt es sich hier. Das Rauschen lässt das schlechthin Unverfügbare erahnen und erfahren, und zwar auch körperlich. Es offenbart sich im Schaudern, in dem es als das Numinose schlechthin erlebt wird.32 Stimmung, Befindlichkeit, Gefühl: In ihnen äußert sich in den Gedichten Eichendorffs auch metrisch der metaphysische Takt, den Adorno Eichendorff zuschreibt33; er konstituiert den Sinn der ästhetischen Formen, die Stimmungen und eine Grundstimmung figurieren. Schon die häufig zitierte Sentenz von Novalis: „Die Philosophie ist eigentlich Heimweh − Trieb überall zu Hause zu seyn“34 benennt ein Gefühl. Unvergängliche Gedichte der Hymnen an die Nacht und Gedichte Eichendorffs wie die Sehnsucht besingen es: „Es schienen so golden die Sterne / Am Fenster ich einsam stand / Und hörte aus weiter Ferne / Ein Posthorn im stillen Land. […].“35 Einsamkeit – um wieder nüchterner zu reden – kann nur relativ verstanden werden. Einsam ist man in einem negierten Bezug außerhalb oder inmitten von anderen Menschen. Ein Einsiedler, der in einem Bezug zu Gott lebt, ist nicht wirklich einsam. Eichendorff kennt keine Menschen ohne diesen Bezug. Also kennt er nur ‚Pseudo-Einsiedler‘.36 Erst Nietzsche mit dem Tod Gottes und der Heraufkunft des Nihilismus kennt die ‚wirkliche‘ Einsamkeit: „ […] für einen Frommen gibt es noch keine Einsamkeit – diese Erfindung haben wir erst gemacht, wir Gottlosen.“37 Man kann allerdings fragen, ob nicht der Nihilismus schon bei Eichendorff wetterleuchtet. Die einzigen Einsiedler, die bei Eichendorff vorkommen, sind allesamt unecht, Komödienfiguren. Sie finden sich in Dichter und ihre || 31 Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 232: „Alles Beobachten muß unterscheiden, um etwas bezeichnen zu können, und sondert dabei einen ‚unmarked space‘ ab, in der der Letzthorizont der Welt sich zurückzieht. Die damit alles Erfassbare begleitende Transzendenz verschiebt sich bei jedem Versuch, die Grenze mit neuen Unterscheidungen und Bezeichnungen zu überschreiten. Sie ist immer präsent als Gegenseite zu allem Bestimmten, ohne je erreichbar zu sein.“ Das meine ich mit Redeskription. 32 Vgl. zum Numinosen ausführlich Otto: Das Heilige. 33 Adorno: Zum Gedächtnis Eichendorffs. 34 Novalis: Das Allgemeine Brouillon Nr. 857 − Schriften, Bd. 3, S. 434. 35 Eichendorff: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, Bd. 1.1, S. 33f. 36 Das Gedicht „Der Einsiedler“ (ebenda, S. 320), handelt vom Alter. „Ein Schiffer nur noch, wandermüd‘, / Singt übers Meer sein Abendlied / Zu Gottes Lob im Hafen. // Die Jahre wie die Wolken gehen / Und lassen mich hier einsam stehn, /Die Welt hat mich vergessen […].“ Einsiedler ist hier also Metapher für den alten Menschen, der nicht mehr gebraucht wird. 37 Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft − Werke in drei Bänden, Bd. 2, S. 241.

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Gesellen. Der mitten im geschäftigen Leben stehende Baron Manfred hat gerüchtweise von einem Einsiedler im Gebirge gehört. In dieser kräftigen Einsamkeit konnte er sich eines zürnenden Mißtrauens gegen den Einsiedler nicht erwehren, den er soeben kennenlernen sollte. Es kam ihm kleinlich, ja verrucht vor, inmitten allgemeiner Lust und Not sich so in hochmütige Selbstliebe abzusondern und über die andern zu stellen. Der Mensch, sagte er zu sich selbst, der Mensch allein verwirrt alles mit seiner Leidenschaft und Affektation!38

Die sozialhistorische Begründung findet sich wiederum bei Nietzsche: weil „man den Glauben an die Rangordnung verlernt hat und folglich diese Einsamkeit nicht zu ehren und nicht zu verstehen weiß! Ehemals heiligte sich der Weise beinahe durch ein solches Beiseite-gehen für das Gewissen der Menge – heute sieht sich der Einsiedler wie mit einer Wolke trüber Zweifel und Verdächtigungen umringt.“39 Genau das ereignet sich in Dichter und ihre Gesellen. Baron Manfred macht sich auf die Suche nach dem Einsiedler, von dem er gehört hat. Der erste Einsiedler, der ihm begegnet, entpuppt sich als der in den Schafspelz eines anderen unechten Einsiedlers verkleidete Komödiendichter Dryander. Totenschädel und Kruzifix dienen als fromme Requisiten in der obligatorischen Grotte (dies weist auf das Groteske dieser Inszenierung hin, ital. grottesca von grotta), die der Baron ebenfalls sogleich verdammt: „Armer, grillenhafter, wetterwendischer Mensch, gehe erst zu den Einfältigen in die Lehre, erkenne erst unten im Gedränge das unsichtbare Kreuz, das der Herr mitten im Leben aufgerichtet, eh’ du es selbst zu fassen und in Seinem Namen die Welt zu belehren und zu richten wagst!“40 Dem entgegnet Dryander mit einem theologisch durchaus ernstzunehmenden Argument, das der Notwendigkeit sozialen Lebens und Lernens ein spirituelles Memento entgegenhält: „Also von der Welt Rumor, mein Sohn, hoffst du noch immer zu lernen, was nicht von der Welt ist? Ich aber sage dir: da ist nichts zu lernen, sondern niederzustürzen auf die Knie, denn mitten in der Stille der Waldeseinsamkeit, plötzlich und von Waffen blitzend, kommt der Engel des Herrn!“41 Aber dieses Pathos wird sogleich konterkariert! Der Anschluss verrät es: „Hier zog und qualmte der Zelot so heftig aus seiner Tabakspfeife, die ihm über dem Reden ausgehen wollte, daß Manfred mitten in seinem Ärger in ein lautes Gelächter ausbrach.“42

|| 38 Eichendorff: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, Bd. 4, S. 218. 39 Nietzsche: Nachlaß der Achtzigerjahre − Werke in drei Bänden, Bd. 3, S. 915. 40 Eichendorff: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, Bd. 4, S. 219. 41 Ebenda. 42 Ebenda.

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Den lustigen Gesellen in der Waldeinsamkeit ist nicht nach theologischem Streit zumute, sie brechen allesamt in ein lautes Gelächter aus. Dann tritt, ebenso lachend, der Besitzer der Klause hinzu. Es ist eher eine Gartenlaube mit einem „fidelen Einsiedler, der nun die Frömmigkeit frischweg wie ein löbliches Handwerk trieb“, mit Gemüseanbau und Speckschwarten, über einem frisch gegrabenen Grab aufgehängt: nur so „gegen die überflüssigen Weltgedanken“.43 Eichendorff nennt dieses Eremitendasein auch eine „ungeheure Tugendwirtschaft“.44 Der Laubenpieper nun erzählt von dem gesuchten Einsiedler namens Vitalis, der in Wirklichkeit der Graf Victor alias Lothario ist. Das gehört zu Eichendorffs Inkognito45, den weltlichen Versteck- und Verkleidungsspielen, ohne welches die Komplementarität der Antagonismen lebenspraktisch nicht durchzuhalten wäre. Schlussendlich enthüllt Victor unter den Reisekleidern einen Priesterrock. Er hatte sich zunächst als Romantiker verkleidet. Sein letzter Rock bedeutet eine Absage an die Romantik: „[…] Nein, Freunde, genug endlich ist des weichlichen Sehnens […] mitten auf den alten, schwülen, staubigen Markt von Europa will ich hinuntersteigen, die selbstgemachten Götzen, um die das Volk der Renegaten tanzt, gelüstet’s mich umzustürzen und Luft zu hauen durch den dicken Qualm, daß sie schauernd das treue Auge Gottes wiedersehen im tiefen Himmelsgrund.“46

Victor verkörpert den Typus des miles christianus, der gegen den homo faber Baron Manfred gesetzt ist, der entgegnet: „Der Anblick schreckt und blendet mich, ich muß den festen Boden fühlen unter mir, ein nahes Ziel von Tag zu Tag im Auge haben.“ Als dritter Typus tritt der Dichter hinzu: „Geht, geht“, fiel Fortunat hier ein, „über euren Reden verlier’ ich mich selber ganz. Du Victor zumal, verwirrst mir schon seit gestern, wie ein nächtliches Wetterleuchten, der

|| 43 Ebenda. 44 Ebenda, S. 295. 45 Vgl. Ehlich (Hrsg.): Eichendorffs Inkognito. Von Eichendorff selbst gibt es einen Entwurf zu einem Puppenspiel Das Incognito (Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, Bd. 7.1, S. 421−510). Eichendorffs Inkognito gehört einerseits zu den adelstypischen Verkleidungsspielen, andererseits zu den lebensweltlichen (komödiantischen) Rollenspielen, in denen wir mit scheinhaften Identitäten (Masken) unser wahres Leben verbergen (das Reisen nach dem Himmelreich): ein entgrenztes Leben bei feststehenden Grenzen. Dazu wären nähere Ausführungen notwendig. 46 Ebenda, S. 297.

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Seele Grund: tiefe Klüfte mit kühnen Stegen darüber und manche alte, geliebte Gegend fernab, aber alles so fremd und wunderbar wie in Träumen. […]“47

Der miles christianus, der Staatsbedienstete und der Dichter, sie gehe fortan „verschiedene Pfade“48; sie alle verschwinden im Morgenrot, zum Zeichen, dass sie alle drei vor Gott bestehen können oder wie man paulinisch-lutherisch sagen könnte ‚gerechtfertigt‘ sind: „da ging die Sonne prächtig auf, die Morgenglocken klangen über die stille Gegend […].“49 Eichendorff, ich sagte es bereits, ist ein Meister der Komplementarität: nicht eines entweder – oder, sondern des zugleich der Antagonismen aller Lebenseinstellungen und -formen. Eindeutig und alternativlos ist gar nichts. Das wird wunderlich und wunderbar ausgedrückt im Anblick eines einsamen Tales: „Wie fürchterlich schön, hier mit einem geliebten Weibe ein ganzes Leben lang zu wohnen! Ich möchte mich um alle Welt nicht verlieben.“50 Das zeigt die Gleichzeitigkeit von Katholizismus (der Person Eichendorff) mit der Erkenntnis: „Das Reich des Glaubens ist geendet, / Zerstört die alte Herrlichkeit“51, ebenso wie die undogmatische (spinozistische) Naturfrömmigkeit seiner Dichtung: Den lieben Gott laß in dir walten, Aus frischer Brust nur treulich sing’! Was wahr in dir, wird sich gestalten, Das andre ist erbärmlich Ding. – 52

In dem Roman geht es um die rechte Lebensform, wir können auch sagen, um das Lebensglück, die Kunst, (romantischer) Dichter und zugleich Berufsmensch zu sein. Am Eingang werden beide Lebensformen als Gegensätze eingeführt. Ein freies vagabundierendes Leben mit dem Motiv des Reisens und der Ferne/Fremde versus der Philister im Schlafrock, umgeben von Aktenstößen und Tabakspfeifen. Der Staatsbeamte Walter und der romantische Dichter Fortunat haben eine gemeinsame studentische Heidelberger Vergangenheit gleichsam im Taugenichts-Land. Was in der Jugend gegensätzlich erscheint, versöhnt die Zeit. Walter:

|| 47 Ebenda. 48 Ebenda. 49 Ebenda. S. 299. 50 Ebenda, S. 82. 51 Ebenda, Bd. 1/1, S. 119. 52 An die Dichter − ebenda, S. 121. Vgl. Anton: „Geist des Spinozismus“ in Eichendorffs „Taugenichts“.

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„[…] es wäre mir schwer, ja gewissermaßen unmöglich, den einmal mit Ernst und Lust begonnenen Geschäften zu entsagen, die wie ein stiller, klarer Strom in tausend unscheinbaren Nebenarmen das Land befruchten und mich so von meiner stillen Stube aus in immer wechselndem, lebendigen Verkehr mit den entferntesten Gegenden verbinden.“53

Auch der Glücksritter landet am Ende im Ehehafen. Der Ehealltag allerdings kommt bei Eichendorff nicht vor. Darin bleibt er der letzte Romantiker.

Beilage 1 Was ist Metaphysik? So lautet Heideggers Antrittsvorlesung im Juli 1929 in Freiburg. Im Gestimmtsein der „tiefen Langeweile“, wenngleich „schattenhaft“, scheint die Einheit des Ganzen auf. Die „Befindlichkeit der Stimmung“ ist keine Begleiterscheinung unseres Denkens und Tuns, sondern Offenbarung des Seienden im Ganzen.54 In der Grundbestimmung des Gestimmtseins findet Heidegger geradeso wie Eichendorff eine Gefährdung des Menschseins; dieser im SchaurigSchauernden, jener in der Grundstimmung der Angst, in der der Mensch vor das Nichts gebracht wird.55 Damit transzendiert er das Seiende und öffnet sich für das Sein. Mit einem vielleicht etwas kühnen Gedankensprung möchte ich diese existenzielle Angst mit dem Gefühl des Schauderns in Verbindung bringen. Historisch-anthropologisch bleibt der unmarked space ja nicht leer, sondern füllt sich kulturhistorisch mit den Figuren des Numinosen. Religion vor dem Einbau von Moral56 markiert das Unbestimmte als Geheimnis, Wunder, Zauber, das sich im Raunen, Träumen und Flüstern offenbart. Damit bin ich wieder inmitten der Poesie der Romantik. Hörst du die Gründe rufen In Träumen halb verwacht? Oh, von des Schlosses Stufen Steig nieder in die Nacht! –

|| 53 Eichendorff: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, Bd. 4, S. 8. 54 In Heideggers Vorlesungen vom Wintersemester 1929/30: Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, hat er der Analyse der Langeweile über einhundert Seiten gewidmet. 55 Heidegger: Was ist Metaphysik?, S. 31. Das Nichts (néant) ist das Unbestimmte und nicht nichts (rien). 56 Vgl. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 230–249; und natürlich die anderen Schriften zur Religion von Luhmann.

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Die Nachtigallen schlagen, Der Garten rauschet sacht Es will dir Wunder sagen Die wunderbare Nacht.57

Und selbst da, wo auf Moral angespielt wird, bleibt es beim Rätselwort: Da steht im Wald geschrieben Ein stilles, ernstes Wort Von rechtem Tun und Lieben, Und was des Menschen Hort. Ich habe treu gelesen Die Worte, schlicht und wahr, Und durch mein ganzes Wesen Wardʼs unaussprechlich klar.58

Die stillen, ernsten Worte vom rechten Tun und Lieben entfalten mitten im Leben ihre erhebende Wirkung; sie selbst bleiben aber ungenannt. Das ist nicht nur Lizenz der Poesie, sondern verweist darauf, dass alle moralischen Bestimmungen kulturrelativ sind, endlich und begrenzt.

Beilage 2 Schleiermachers berühmte Schrift von 1799 Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern lässt sich als Programmschrift für die Religiosität der Frühromantik, in meinen Augen sogar für die gesamte Aufklärung, verstehen.59 In Abgrenzung zu Metaphysik und Moral bestimmt er das Wesen der Religion als Anschauung und Gefühl. „Religion ist Sinn und Geschmack fürs Unendliche.“60 Die näheren Ausführungen korrespondieren mit dem Sinn und Geschmack der Poesie Eichendorffs, zum Beispiel in den Gefühlswerten Sehnsucht und Ehrfurcht. Der Ahnherr dieser Religion, dem Schleiermacher eine Locke zu opfern bittet, ist natürlich Spinoza.61

|| 57 Nacht − Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, Bd. 1/1, S. 204. 58 Abschied − ebenda, S. 35. 59 Schleiermacher: Über die Religion. Vgl. Pott: Aufklärung über Religion; sowie Pott: Zur philosophischen Anthropologie der Gefühle. 60 Schleiermacher: Über die Religion, S. 30. 61 Ebenda, S. 31.

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Auch Hegel kennt einen ähnlich ursprünglichen Anlass zur Religion: „Wer seine Brust nicht aus dem Treiben der Endlichkeit heraus ausgeweitet, in der Sehnsucht, Ahnung oder im Gefühl des Ewigen die Erhebung seiner selbst nicht vollbracht und in den reinen Äther der Seele geschaut hat, der besäße nicht den Stoff, der hier begriffen werden soll.“62 Niemand wird bestreiten, dass Hegel hier selbst poetisch und metaphorisch redet, mit eichendorffischen Worten wie Sehnsucht und Ahnung, aber es geht bei Hegel um die Entwicklung zum Begreifen, zum Begriff. Hegel weist auf den Zwiespalt hin, den er für den Zwiespalt seiner Zeit hält, der geradeso der unsrige in allen Debatten über Religion ist. Er räumt zwar ein, dass das unbestimmte Gefühl gegen die einseitigen Abstraktionen des Verstandes die unbestimmte Totalität erfasst, der er die Unbestimmtheit aber nicht lässt, sondern die er sogleich auf bestimmte Inhalte bezieht, die dem denkenden Geist, also der Vernunft, angehören und also der Geschichte des Geistes und damit den konkreten Religionssystemen. Es handelt sich bei diesem Zwiespalt um die Entzweiung des Menschen, der seinen Gefühlen ausgeliefert ist und zugleich dem Anspruch des (freien) Selbstbewusstseins auf Erkenntnis und intersubjektive Verständigung; kurz die Entzweiung von Glauben und Wissen, die Hegel zu überwinden trachtet.63 Wie immer man die Konfiguration von Glauben und Wissen denken mag, unter das Niveau von Hegels Religionsphilosophie zu gehen, bedeutet nichts Bedeutsames zum Thema beitragen zu können.

|| 62 Hegel: Werke in zwanzig Bänden, Bd. 16, S. 13f. 63 Ebenda, S. 390ff.

| 4 Wegweiser in die Moderne: Der Einsiedler im Stadtgetümmel

Sheila Dickson

Der aufgeklärte Einsiedler im Magazin zur Erfahrungsseelenkunde Ein Krankheitsbild in der Spätaufklärung und in der Romantik Ein Mensch kann sich aus verschiedenen Gründen zurückziehen. Das Leben als Einsiedler kann freiwillig gewählt und als positiv wahrgenommen werden, oder es kann aufoktroyiert oder unfreiwillig und somit Strafe oder Buße sein. Rückzug kann auch ein Symptom für Geistesverwirrung sein. Mit Immanuel Kants (1724– 1804) Vernunftbegriff als Leitgedanken am Ende des 18. Jahrhunderts galt Geisteskrankheit als Unfreiheit, als Vernunftwidrigkeit, die zu überwinden sei, damit der „Mensch als vernunftbegabtes Wesen [...] in Freiheit und Selbstverantwortlichkeit am Gemeinschaftsleben“ teilhaben könne.1 Zum aufgeklärten Gesundsein gehörte etwa die Geselligkeit, die Mitgliedschaft und Teilnahme an Diskussionsklubs, der Besuch von Salons und ein reger, kritischer Austausch mit anderen. Aus dieser Perspektive wäre es nicht vernünftig sich zurückzuziehen, demnach müsste ein Einsiedler in gewisser Weise gestört sein, wie in etwa ein religiöser Schwärmer oder ein Melancholiker: beide Feinde der Aufklärung. Jemand, der sich vor anderen versteckt, könnte man in diesem Sinne argumentieren, ist im wörtlichen Sinne unfrei, also muss er ohne Vernunft sein. Die Anfänge der Psychiatrie als Spezialdisziplin der Medizin sind nicht zufällig auch in dieser Zeit zu finden.2 Die damaligen ‚Irrenärzte‘, ‚mad doctors‘ bzw. ‚alienistes‘ vertraten eine ‚moralische Behandlung’, die mit den erwähnten allgemeinen Einstellungen zum Gemeinschaftsleben vieles gemein hatte. Ziel dieser Behandlung war es, den kranken Menschen zu sozialisieren, das heißt, diesen mit anderen Anstaltsinsassen arbeiten, essen, Tee trinken, tanzen und ins Theater gehen zu lassen. Das gehörte zum Standardprogramm. Wenn jemand sich in der Gesellschaft angemessen benehmen konnte, wurde dies als Erfolg verbucht, und manche Patienten wurden deshalb entlassen. Wenn jemand jedoch gewalttätig oder in anderer Weise auffällig wurde, wurde er zeitweilig eingesperrt. Mit anderen Worten bestand die Strafe darin, von der Gesellschaft entfernt gehalten

|| 1 Schott/Tölle: Geschichte der Psychiatrie, S. 420. 2 Der Begriff ‚Psychiatrie‘ wurde zum ersten Mal in einem Aufsatz in den von Johann Christian Reil und Johann Christoph Hoffbauer herausgegebenen Beyträgen zur Beförderung einer Kurmethode auf psychischem Wege benutzt, vgl. Marneros/Pillmann: Das Wort Psychiatrie, S. 21. https://doi.org/10.1515/9783110634709-015

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zu werden, in einem dunklen Raum oder sogar in einem Sack.3 Diese Methoden waren entgegen dem ersten Eindruck tatsächlich sehr fortschrittlich, denn früher wurden die Irren bekanntlich in Ketten gelegt; sie wurden ausgepeitscht oder anderweitig körperlich misshandelt. Auf diese Weise stand zumindest theoretisch eine Behandlung, also eine mögliche Genesung, im Mittelpunkt. Dass psychische statt physische Strafen verhängt wurden, war laut Michel Foucault auch grausam, wenn nicht sogar noch grausamer, doch in diesem Zusammenhang gilt es nur festzuhalten, dass das Alleinsein als therapeutisches Druckmittel diente.4 Die Lebensweise des Einsiedlers wurde in der ersten deutschen Sammlung von Laienberichten, die sich als psychologische Fallgeschichten verstanden, im Magazin zur Erfahrungsseelenkunde (1783–1793), als Beispiel für eine Geistesstörung angeführt. In dieser Zeitschrift, konzipiert und herausgegeben von Karl Philipp Moritz (1756–1793), sollten Beobachtungen der Beiträger von sich selbst oder von anderen gesammelt werden, die Aufschluss über die Seele geben und so als Basis für eine zukünftige Wissenschaft der Erfahrungsseelenkunde, d. i. der Psychologie, dienen.5 Die meisten Beiträge wurden, wie Moritz mit Missfallen anmerkte, für die Rubrik ‚Seelenkrankheitskunde’ eingeschickt, in der die Einsiedlergeschichten auch vorzufinden sind, denn sie weckten die Neugierde am meisten (Magazin: IV, 1, S. 16). Den Berichten im Magazin zufolge sind in manchen Fällen „edelste[s] Metalle“ (Magazin: VII, 3, S. 10) im Innern des Menschen vorzufinden – eine sehr romantische Vorstellung, z. B. kann ein Professor ein Gedicht im Schlaf zu Ende schreiben, und ein Landarbeiter kann komplizierte Rechnungen im Kopf durchführen (Magazin: III, 1, S. 88f; V, 2, S. 105–109) – aber die Mehrheit der Berichterstatter weist eine tiefsitzende Angst davor auf, was im „Herzen des Menschen“7, auch des aufgeklärten Menschen, verborgen liegt. Denn dies unterliegt nicht der Kontrolle der Vernunft, und deshalb kann es unerwartet an die Oberfläche kommen, wie ein plötzlicher Drang, laut in der Kirche zu reden, von einem Turm zu springen oder gar den eigenen Bruder zu ermorden (Magazin: I, 2, S. 100; III, 3, S. 61–81). Es war den Spätaufklärern bewusst, dass geistige Gesundheit und

|| 3 Die Einwicklung eines Patienten in einem Sack war eine Erfindung von Ernst Horn, Zweiter Chefarzt an der Charité in Berlin. Vgl. Dickson: Krankheit, S. 243f. 4 Vgl. Foucault: History of Madness, S. 484f. 5 Moritz: Vorschlag, S. 491. Zeitweilige Mitherausgeber des Magazins waren Karl Friedrich Pockels (1757–1814) und Salomon Maimon (1753–1800). 6 Die Sigle ‚Magazin‘ verweist an dieser Stelle und im Folgenden auf die digitale Edition (von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn) von Karl Phillip ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ, oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde (www.mze.gla.ac.uk). 7 Moritz: Vorschlag, S. 491.

Der aufgeklärte Einsiedler im Magazin zur Erfahrungsseelenkunde | 223

Krankheit – in der damaligen Terminologie Wahnsinn und Normalität – keine sich ausschließenden Gegensätze sind. Das Magazin enthielt Schauergeschichten von Personen, die nur als geistig gestört bezeichnet werden können, wie die Person, die nicht davon abzubringen war, dass sie tot sei, oder diejenige, die davon überzeugt war, dass sie geschlachtet und aus ihrem Fleisch Würste gemacht werden sollten (Magazin: VI, 3, S. 42–46; III, 3, S. 14–19). Diese Menschen haben keine Verbindung mehr zur Realität. Der Mann, der glaubte, es müssten Würste aus ihm gemacht werden, bereitete sich jeden Tag und jede Nacht immer wieder auf den Tod vor. Man konnte ihn kurz beruhigen, aber diese Vorstellungen überwältigten ihn bald wieder. Solche Figuren kommen überwiegend aus den unteren sozialen Schichten. Daneben stehen jedoch andere Beispiele für Menschen, die intelligent und anscheinend gesund sind, aber zeitweilig von Geistesverwirrung überwältigt werden können. Darunter sind Individuen, die irrationale Ausbrüche erleiden, so wie Personen, die von einem obsessiven Gedanken gepeinigt werden, aber ansonsten unauffällig bzw. ‚normal‘ und vernünftig handeln, wie etwa eine Frau, die religiöse Visionen hatte, „bei ihrem übrigens ganz gutem Verstande [...] ruhig eines sehr gesetzten Charakters, [sie] grübelt im geringsten nicht ferner nach“ (Magazin: IV, 1, S. 121). Solche Figuren entstammen viel öfter den oberen Bildungsschichten, und es war gerade zu dieser Zeit, als sogar der britische König von einer Geisteskrankheit betroffen wurde, was maßgeblich das öffentliche Bewusstsein sowohl für psychische Leiden als auch für deren Behandlung stärkte. Damit waren aber eben die Gebildeten mit dem beunruhigenden Gedanken konfrontiert, dass kein Mensch davor gefeit ist.8 Eine eher treuherzige Fallgeschichte über einen Einsiedler im Magazin wurde von J. L. A. Schlichting, einem Beiträger aus Wien, eingesandt. Er erzählte von sich und seinem Bruder (in der dritten Person), die als Jugendliche das Einsiedlerleben leben wollten. Nichts lieber und ergötzender war ihnen, als ein Geschichtchen zu lesen: wie ein frommer Mensch sich entschloß aus der Welt zu reisen; wie er sich ein ödes Plätzchen tief in der Wildniß unter den Wohnungen von Löwen, Bären, Tiegern, Schlangen, Wölfen und andern wilden Thieren auswählte; [...] dann in seinem Grabe schlief; die wildesten Thiere zu seinen Freunden hatte, und also aus Haß gegen das Menschengeschlecht, aus dem dümmsten Mißverständnisse und der unverschämtesten Schwärmerei, den Menschen auszog, auf allen Vieren kroch, und seine Vernunft zur Bestialität herabstimmte. (Magazin: IV, 1, S. 113f.)

Dieser Bericht kann als Beispiel dienen, wie das Einsiedlertum zeitgenössisch als Schwärmerei galt. Schlichting selbst blickte als Erwachsener mit Ironie auf die

|| 8 Vgl. Kaufmann: Aufklärung, S. 20.

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Rebellion der Jugend gegen die Aufklärungsgesellschaft der Väter zurück. Interessanter sind diejenigen Fallgeschichten, in welchen ein intelligenter, aufgeklärter Bürger mitten in der Stadt wohnte, sich aber in sein Zimmer zurückzog und ohne Kontakt mit der Außenwelt lebte. Dieses Szenario spielte sich oft nach einem als traumatisch empfundenen Erlebnis ab und wurde mit Verweis darauf als psychische Krankheit interpretiert. Gleich als zweiter Beitrag im ersten Heft wurden Einige Nachrichten von dem Leben des seeligen Herrn Johann Matthias Klug von Herrn Kriegsrath Dohm, d. i. Christian Wilhelm Dohm (1751–1820), Mitbegründer des Deutschen Museums und Unterstützer des Magazins, mitgeteilt (Magazin: I, 1, S. 7–15). Der Verfasser ist ein sonst nicht bekannter Johann Adolph Theodor Ludwig Varnhagen, ein Pfarrer und Heimatforscher. Die Fallgeschichte liest sich wie eine moralische Erzählung mit dem ironischen ‚sprechenden Namen‘ „Klug“, aber der Name und andere Details lassen sich urkundlich nachweisen. Es handelt sich um Johann Matthias Klug, getauft am 5. Sept 1715 in Soest, der in Duisburg und Jena Jura studierte. Er starb am 7. Januar 1776 in Arolsen.9 Klug wird als hoher Beamter im Justizwesen und als sehr belesen und sprachbegabt im Magazin eingeführt. Bis ans Ende seines Lebens verfügte er über umfangreiche Kenntnisse in der „Rechtsgelehrsamkeit, [...] Weltweisheit und Geschichte, [...] Gottesgelehrsamkeit und [...] Arzneikunde“ (ebenda, S. 7f.). Er war auch sehr begabt als Erfinder, d. h. in der Anfertigung „mancher zum bequemen Leben erforderlichen Dinge“, z. B. hat er Kleidung, Tische, Stühle, einen Ofen und einen Nachtstuhl für seine Wohnung verfertigt (ebenda, S. 8). Herr Klug war davon überzeugt, dass er ein Buch über die religiösen Gesinnungen Friedrichs des Großen publiziert habe, das den König so erzürnt habe, dass er Klug „in seine Gewalt“ (ebenda, S. 9) zu bekommen versuchte. Als er eines Tages von einem Freund und Verwandten zu einem Spaziergang in „einen nahe gelegenen dichten Wald, die düstre Wiese genannt“ (ebenda), eingeladen wurde, glaubte er, es sei eine Falle, und er sperrte sich daraufhin in seiner Stube ein. Er verriegelte die Tür mit eisernen Stangen, die auch noch mit Ketten und Stricken abgesichert waren, und er machte die Tür immer nur einen Spalt auf, um Speisen und Getränke hineinnehmen zu können. Er hatte auch viele Pistolen einsatzbereit, denn „[s]einer Einbildung nach hatte er einen gewaltsamen Ueberfall zu befürchten“ (ebenda, S. 10). Pfarrer, Arzt und Aufwärter wurden nur bei schweren Krankheiten hereingelassen. Er hielt noch zeitweilig weiteren Kontakt zur Außenwelt, z. B. wollte er eine Dame heiraten, die in der gegenüberliegenden Wohnung lebte und mit der er sich an seiner Haustür || 9 Vgl. Moritz: Magazin: http://www.mze.gla.ac.uk/bandnavigation/person/?nid=n0178&r=p. (2. März 2019); die digitale Edition stellt Angaben zu den Personen bereit.

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unterhalten hatte, und er hat seinen Neffen bestochen, bei ihm zu wohnen, und ließ ihn nicht wieder aus der Wohnung herausgehen, bis er an Auszehrung starb. Diese menschlichen Annäherungsversuche und auch seine Erfindungen zeigen, dass er noch vernünftig agieren konnte, menschliche Nähe nicht ganz aufgeben wollte, und noch dazu lebte er in einer kleinen Stadt von anderen Menschen umgeben, aber seine Lebensweise entsprach überwiegend der eines Einsiedlers. Der Beiträger fügte zwei Anmerkungen dazu, „welche zur Aufklärung dieser Erscheinung etwas beitragen können“: 1. Man weiß, daß in der Klugischen Familie etwas tiefmelancholisches ist. 2. Dazu kommt, daß unser Subjekt im letzten Kriege als Sekretair bei dem Engl. Kommissariat unablässig mit dem Kopfe hat arbeiten müssen, wegen der weitlauftigen, mehr-entheils sehr wichtigen, Korrespondenz. (Ebenda, S. 15)

Diese Kommentare veranschaulichen die weitverbreiteten zeitgenössischen Theorien, dass der Wahnsinn erblich sein könnte und dass zu viel Kopfarbeit wahnsinnig machte. Mit Bezug auf das Einsiedlerdasein könnte man die zweite These so auslegen, dass Klug eine (falsche) Idee hatte, die er als hochintelligenter und gebildeter Mensch, der zweifelsohne die Fähigkeit besaß, ein solches Buch schreiben zu können, ausbauen konnte, bis er schließlich fest daran glaubte. Dass die Idee von Friedrich dem Großen handelte, dem ersten Diener des Staates, lässt erahnen, dass Klug sich von den Machtstrukturen der aufgeklärten Gesellschaft bedroht fühlte. Das war der obsessive Gedanke oder der Wahnsinn, der ihn vereinnahmte, und das Einsiedlertum war seine Antwort darauf. Obwohl Moritz gegen jede vorschnelle Theoriebildung war, hat er gleich im ersten Heft des ersten Bandes seiner Zeitschrift vorläufige Thesen und Bemerkungen aufgestellt (ebenda, S. 31–38). Dabei hielt er sich eng an die Thesen über psychologische Störungen, wie sie in den Arbeiten seines Freundes Marcus Herz (1747–1803) entfaltet wurden.10 Im Magazin identifizierte Moritz „Mangel der verhältnismäßigen Übereinstimmung aller Seelenfähigkeiten“ (Magazin: I, 1, S. 33) als Krankheit. Weiter war es nach Moritz nicht gesund, wenn man einen Überfluss an Eindrücken und Ideen hatte: Von den Ideen, welche täglich und Augenblicklich in die Seele strömen, müssen nothwendig immer eine gewisse Anzahl bald wieder verdunkelt werden, wenn die Denkkraft in einem gesunden Zustande bleiben soll. Werden zu wenige verdunkelt, so entsteht ein Ueberfluß von Ideen, welcher Unordnung und Verwirrung verursacht, und die Reinigkeit und

|| 10 Vgl. Herz: Grundriss der Medizinischen Wissenschaften (1782) und ders.: Versuch über den Schwindel (1786).

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Klarheit im Denken hemmet; werden zu viele verdunkelt, so entsteht Unfruchtbarkeit, Leere und Armuth des Geistes. (Ebenda, S. 35.)

Auch schädliche einzelne Ideen, die nicht gehörig verdunkelt werden, könnten zu Krankheit führen.11 Für Moritz galt das auch für Traumideen, wenn sie nicht als Träume erkannt wurden.12 In seinen ab Band 4 erschienenen Revisionen oder Kommentaren zu den einzelnen Beiträgen schrieb Moritz über Klug: Merkwürdig ist der Umstand, daß er [Klug] sich alle Morgen seine Träume aufschrieb. – Wenn die Ideen, die man in Träumen gehabt hat, nicht gehörig wieder verdunkelt werden, sondern mit denen, die wir im Wachen haben, gleiche Kraft erhalten, so muß nothwendig eine Unordnung in der vorstellenden Kraft, eine Art von Wahnwitz daraus entstehen – und wer weiß, ob nicht jeder Wahnwitz zum Theil mit daher seinen Ursprung haben mag. Die Aufmerksamkeit des Herrn Klug, womit er seine Träume des Morgens aufschrieb, war gewiß eine Ursach mehr seinen Wahnwitz fortdauernd zu erhalten, so wie es ihm vielleicht zuerst geträumt haben mag, daß er das Buch, was er sich gegen den König von Preußen geschrieben zu haben einbildete, wirklich gedruckt sahe, und nun alle die fürchterlichen Folgen davon befürchtete, die ihn bewogen, sich lebenslang auf seine Stube einzusperren. (Magazin: IV, 1, S. 9f.)

Da sich Klug nach dem Aufwachen weiter mit seinen Träumen beschäftigte, indem er sie akribisch aufschrieb, konnte sich der Glaube verfestigen, dass sie im wirklichen Leben geschehen seien. Diese These wird durch die Bemerkungen des Beiträgers unterstützt: Man erzählt, daß ihm unter andern geträumt habe, er solle seinen Vetter drei Tage hungern lassen: dieses habe er auch richtig gethan, und der junge Mensch habe in der Zeit nichts zu essen bekommen. Ja, dieser bei ihm auf der Stube eingesperrte Vetter ist durch Schläge von ihm dahin gebracht worden, eidlich zu versichern, daß er seines Onkels Träume für göttliche Eingebung halte. (Magazin: I, 1, S. 14.)

Der junge Vetter als einziger Mensch, der noch Kontakt zu Klug hatte, bekam die Folgen seiner Obsession zu spüren. Dass er diese Bestätigung von außen brauchte, unterstreicht den Verdacht, dass Klug es mit dem Einsiedlertum nicht ganz ernst meinte. Moritz’ Ziel für seine neue Publikation, einen dahingehenden Austausch zu fördern, hatte mit bestimmten einzelnen Beiträgen besonderen Erfolg, die Leser dazu bewogen, weitere Fallgeschichten als Vergleich einzusenden. Klugs Ein|| 11 Dies war z. B. die Erklärung für den Fall der oben erwähnten Frau, die gestorben zu sein glaubte. Nach einem Schlaganfall sei diese Idee lebhafter als alle anderen gewesen. 12 Vgl. Moritz’ Kommentar zum Beitrag ‚Wachender Traum‘ (Magazin, I, 1, S. 56).

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siedlergeschichte ist ein Beispiel dafür. Im zweiten Heft des ersten Bandes erschien der von einem Militärjustizbeamten, dem Auditeur Nencke aus Treuenbritzen, eingesandte Fall, die Geschichte des Herrn D... als ein Pendant zur Geschichte des Herrn Klug (Magazin: I, 2, S. 7–10). Der Protagonist, D..., „ein offener Kopf, sanguinisch cholerischen Temperaments“ (ebenda, S. 7), war Jurist. Er hatte Philosophie beim berühmten Christian Wolff (1679–1754) studiert, der in Deutschland als Erster die empirische Psychologie von der theoretischen zu befreien begann. Beruflich war er sehr erfolgreich und im Privatleben genoss er den Kontakt mit vielen Freunden. Eine neue Anstellung in einem Kollegium änderte jedoch sein Tagesgeschäft. Er arbeitete jetzt im Team, was ihm nicht bekam und er bald nur Verräter und Spione um sich zu haben glaubte: Bisher hatte er immer ein freyes unabhängiges Leben geführt, jetzt kam er in ein Verhältniß mit Obern, und ihm ward bisweilen widersprochen, dies kränkte seinen Stolz, der nur gewohnt war, Beifall zu hören, zuletzt überredete er sich, daß die Widersprüche nur aus Feindschaft kämen, er dachte diesen Gedanken so lange, wuste jeden Umstand so lange zu drehen, bis er endlich eine Wahrscheinlichkeit herausbrachte, die denn bei ihm bald zur Gewißheit stieg. Wäre er ein weniger nachdenkender Kopf gewesen, so würden die Folgen für ihn nicht so nachtheilig gewesen seyn, aber zum scharfen Nachdenken gewohnt, gewohnt Schlüsse auf Schlüsse zu bauen, und so jede Sache bis auf ihre äusserste Wirkung zu verfolgen, dachte er sich auch hier die Feindschaft seines Vorgesetzten, dachte sich alles, was jener wohl anwenden könnte, ihm zu schaden, erschrack vor dem Bilde seiner Phantasie, und hielt endlich dies, was blosse Spekulationen waren, für Wirklichkeiten. (Ebenda, S. 8, Hervorhebung von S.D.)

Diese Ideen quälten ihn, bis er sich in seine Stube einschloss, mit niemandem außer seiner Frau und seinen Kindern sprach, und sich zwanzig Jahre lang unaufhörlich über die unschuldig erlittene Nachstellung seiner Feinde grübelte. Zur Zeit des Berichts lebte er noch so als Siebzigjähriger. Nenckes eben zitierte Erklärung für diesen Fall war, dass es nur so schlimm werden konnte, weil dieser Mensch das scharfe Nachdenken gewohnt war. Auch seine Phantasie und Intelligenz wurden hervorgehoben: Es ist unglaublich, auf was für Ideen dieser Gedanke den Mann gebracht hat, und wie er, der sonst seinen gesunden Verstand hat, nichts weniger als verrückt ist, für Dinge sich einbildet, und wie er jedem Dinge, auch dem allerungereimtesten, einen Schein von Wahrscheinlichkeit zu geben weiß, welches die Stärke seiner Denkkraft zeigt, und die Fertigkeit seiner Seele, Schlußfolgen zu ziehen. (Ebenda, S. 10. Hervorhebung von S.D.)

Wieder wird den geistigen Fähigkeiten eines gebildeten Menschen die Schuld für diese Geistesverwirrung gegeben. In diesem Fall wurde auch besonders hervorgehoben, dass der Verstand dabei klar blieb: Dies war kein rasender oder melancholischer Irrer. Ganz einsiedlerisch war, wie im Falle Klug, auch seine

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Lebensweise nicht, da Frau und Kinder bei ihm lebten und er zumindest einen gewissen Kontakt, auf den nicht eher eingegangen wird, zu ihnen aufrechterhielt. Aber er war außerstande, Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen, da seine unerschütterliche Überzeugung war, dass sie seine Feinde sind. Sogar als Rentner blieb der Glaube hartnäckig: Da er nun lange schon ein geschäftloses Leben geführt hatte, so ist zwar der erste Gedanke, daß man ihn wegen Untreue in seinen Geschäften bei dem Landesherrn verdächtig machen wollte, verschwunden, allein nun glaubt er, daß man seinen Lebenswandel nachspüre. (Ebenda, S. 9f.)

Dem zeitgenössischen Sinne nach könnte man argumentieren, bei D... würde die Idee der Feindlichkeit nicht verdunkelt. Weil er ein so scharfsinniger Kopf war, konnte er sich umso besser davon überzeugen, und weil diese Idee alle anderen Eindrücke überwältigte, musste er sich von der Gesellschaft zurückziehen. Während Klug Angst vor dem Staatsoberhaupt Friedrich dem Großen hatte, hatte D... Angst vor allen Kollegen, mit denen er im Staatsgeschäft zu tun hatte. In beiden Fällen wird also die aufgeklärte Öffentlichkeit als Bedrohung angesehen, und ein bisher geselliger Mensch verwandelt sich in einen Wunsch-Eremiten. In seinem ausführlichen Kommentar zu bisher erschienen Beiträgen griff der niederländische Gelehrte Rijklof Michael van Goens (1748–1810) den Fall Klug ebenfalls wieder auf und verwies auf einen ähnlichen Fall in Großbritannien: Vor einiger Zeit starb zu London ein Sonderling, von dem alle öffentlichen Blätter sprachen. Er hatte sich gleichfalls eine lange Reihe von Jahren hindurch, in ein Zimmer eingeschlossen, und betrug sich überhaupt vollkommen wie Hr. Klug, wiewohl aus ganz andern Bewegungsgründen. Es wäre gewiß keine unnütze Arbeit, die authentischen Berichte, welche man von demselben ertheilt hat, nachzusuchen und bekannt zu machen. Sie werden dieselben in den englischen Magazinen und Zeitungen von 1787–88 finden. Ich glaube wenigstens, sie um diese Zeit gelesen zu haben; doch weiß ich nicht genau, wo? vielleicht in dem Universal-Magazin. (Magazin: VIII, 3, S. 52f.)

Dieser Aufforderung war Mitherausgeber Friedrich Pockels schon im sechsten Band zuvorgekommen. Es handelte sich um die international bekannte Geschichte von Henry Welby (1592–1636), der sich 40 Jahre lang in seiner Stube in der Grub Street in London einsperrte, weil sein Bruder mit einer Pistole auf ihn geschossen haben soll (Magazin: VI, 1, S. 27–31). Er glaubte, das sey blos geschehen, um ihm ein Schrecken einzujagen, und entwaffnete den Niederträchtigen ganz kaltblütig. Sorglos steckte er das Pistol in seine Tasche, und ging in tiefen Gedanken nach Hause. Als er hier aber das Gewehr näher untersuchte, und Kugeln darin fand, machte diese Entdeckung auf seine Seele solch einen starken Eindruck, daß er

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auf der Stelle den ausserordentlichen Entschluß faßte, sich völlig von der Welt zu entfernen; und in diesem Entschlusse verharrte er auch bis an’s Ende seines Lebens. (Ebenda, S. 27f., Hervorhebung von S.D.)

Auch wenn er den Entschluss „auf der Stelle‟ fasste, ließ er sich Zeit mit der Ausführung, um eine Wohnung, die genau seinen Vorstellungen entsprach, in London auszusuchen und sich dort komfortabel einzurichten. In all den restlichen Jahren seines Lebens sah er jedoch niemanden außer einem Dienstmädchen, auch seine Tochter und seine Enkelkinder nicht. Er ließ aber Bücher zu sich kommen und erkundigte sich, welche Nachbarn in Not waren, um sie dann finanziell zu unterstützen. Obwohl er sich selbst sehr bescheiden ernährte, bewirtete er seine Bediensteten und bedürftigen Nachbarn reichlich. Eine Biographie erschien kurz nach Welbys Tod,13 und Ende des 18. Jahrhunderts, in der Hochkonjunktur der Zeitschriftenkultur, der Trivialliteratur und dem dadurch genährten Interesse an Kuriositäten, wurde sein Fall wieder interessant. Gedichte, Abbildungen und Nachrufe auf Welby wurden bis Ende des 19. Jahrhunderts in Zeitschriften und in Kabinettsammlungen von Sonderlingen nachgedruckt.14 Er selbst wurde in Kupferstichen als Melancholiker dargestellt oder als moderner Phoenix gepriesen, und sein Aussehen galt als musterhaft einsiedlerisch: His plain garb, his long and silver beard, his mortified and venerable aspect, bespoke him an ancient inhabitant of the desert, rather than a gentleman of fortune in a populous city.15 Bei seinem Tode war sein Haar und sein Bart so lang und dicht gewachsen, daß er einem Einsiedler aus der Wildniß ähnlicher sah, als einem Einwohner der größten Städte in der Welt. (Magazin: VI, 1, S. 31.)

Dass sein Verstand nicht vollständig unter der Zurückgezogenheit litt, wurde dadurch belegt, dass er jede Neuerscheinung bestellte und selbst philosophische Werke schrieb und übersetzte. Im englischen Sprachraum wurde Welby als Exzentriker positiv beurteilt; er wurde gelobt als besonders gottesfürchtig, anspruchslos und enthaltsam. In einem Gedicht zum Nachruf Welbys nannte der seinerzeit bekannte Dichter und Vielschreiber John Taylor (1578–1653) „Piety and

|| 13 Vgl. Heywood: The phœnix of these late times; sowie Morgan (ed.): Phoenix Britannicus: being a miscellaneous collection of scarce and curious tracts. 14 Vgl. z. B. ‚A SINGULAR CHARACTER‘ in The Weekly Magazine in Edinburgh (1775), den von van Goens erwähnten Beitrag in Universal Magazine (1786) und A remarkable account of HENRY WELBY, Esq. in The Times in London (1787). Die meisten Artikel erschienen ab Mitte des 19. Jahrhunderts. Vgl. die Erläuterung in der digitalen Edition von Moritz’ Magazin www.mze.gla.ac.uk/ bandnavigation/searchdisplay/?aid=mze_06_1_dei#mze_06_1_hwe-back). 15 Characteristical Sketches, S. 751.

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Penitence“ als die Gründe für sein Einsiedlertum.16 Dieses Urteil ist aber nicht nachvollziehbar; es beschreibt vielleicht seine Lebensweise, erklärt jedoch seinen ursprünglichen Entschluss nicht. Vielmehr fühlte sich Welby bedroht und war enttäuscht von der Welt im Allgemeinen und seiner Familie im Besonderen. Einen eingeschränkten Kontakt mit der Umwelt hielt er wie Klug auch durch seine Gaben an arme Leute aufrecht: die geläufige Philanthropie eines wohlhabenden, aufgeklärten Reichen. Im Vergleich mit Klug und D... kann Welbys Verhalten ebenfalls dem zeitgenössischen Verständnis nach dadurch erklärt werden, dass ein starker Eindruck, der Eindruck der Bedrohung, nicht verdunkelt wurde. Diese drei Einsiedler fühlten sich oder wurden tatsächlich bedroht und wollten sich schützen. Was sie interessant für die Öffentlichkeit machte, war, dass alle aufgeklärte Bürger waren; sie waren wohlhabend, hatten Familie, und sie lebten in der Stadt und nicht in der Einöde. Es stellte sich in diesen Fällen nicht die Frage, ob man sie als wahnsinnig kategorisieren und einsperren sollte, denn sie machten das ja freiwillig. Die für den aufgeklärten Leser beunruhigendere Frage war vielmehr, wie eine Vorstellung durch Intelligenz, Bildung und Phantasie so ausgebaut werden konnte, dass sie aus einem gesunden, geselligen Mann einen kranken, paranoiden Einsiedler machte. Das passierte natürlich nicht nur aufgeklärten Menschen, aber die obsessiven Ideen der unteren Schichten, wie sie zumindest im Magazin gesammelt wurden, bezogen sich fast immer auf religiöse Schwärmerei, wovon der Gebildete sich leicht absetzen konnte. So leicht ließen sich die Ideen, die diese Einsiedler bedrängten, nicht abweisen. ‚Klinische‘ Beschreibungen von Menschen, die von obsessiven Gedanken gequält werden, finden sich in der theologischen und medizinischen Literatur seit der Antike. Neu im 18. Jahrhundert war die Entwicklung des psychiatrischen Diskurses, der die Theologie in den Hintergrund drängte, und die neuen Erkenntnisse in der Nosologie, die Geisteskrankheiten als individuelle Störungen diagnostizierten, die nicht unbedingt permanent waren und auch nicht zwangsläufig zur geistigen Umnachtung führten. Den Anfang machte der schottische Arzt George Cheyne (1672–1743) in seiner Studie über die „nervous diseases“, die vor allem die britische Oberschicht betreffen sollten und die im gewissen Maße ihren Charakter angeblich prägten. The English Malady (1733) behandelte „Nervous Diseases of all kinds, Spleen, Vapours, Lowness of Spirits, Hypochondraical, and Hysterical Distempers, etc.“, die eher als eine Auszeichnung als ein Leiden galten. Ende des Jahrhunderts unterschied der bahnbrechende französische ‚alieniste‘ || 16 Heywood: The phœnix of these late times; vgl. auch Morgan (ed.): Phoenix Britannicus, S. 382.

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Philippe Pinel (1745–1826) in seinem Mémoire sur la manie périodique ou intermittente (1798), das später das erste Kapitel von seinem Hauptwerk Traité médicophilosophique sur l’aliénation mentale (1801) bilden sollte, zwischen unterschiedlichen Arten von Geisteskrankheiten, die nur teilweise das Verhalten steuerten. Am bekanntesten wurde Pinels Unterscheidung zwischen manie sans délire [Manie ohne Delirium] und manie avec délire [Manie mit Delirium], aber im Traité wird als erster Typus „Mélancholie ou délire exclusif sur un objet“ [Melancholie oder Delirium mit Bezug auf einen Gegenstand] genannt. Diese Geisteskranken sind „dominés par une idée exclusive“, die unter anderem „soupçons chimériques“ [chimärische Verdächtigungen] hervorruft.17 Als Beispiel führte er den Fall einer Dame an, die davon überzeugt war, dass der Freitag ein Unglückstag sei, und an dem Tag sich weigerte, aus ihrem Schlafzimmer zu treten.18 Im deutschen Sprachraum entwickelte Johann Christian Reil (1759–1813) Pinels Ideen weiter und prägte den Begriff des ‚fixen‘ oder ‚partiellen Wahnsinns‘: Der fixe Wahnsinn besteht in einer partiellen Verkehrtheit des Vorstellungsvermögens, die sich auf einen oder auf eine Reihe homogener Gegenstände bezieht, von deren Daseyn der Kranke nicht zu überzeugen ist, und die daher die Freiheit seines Begehrungsvermögens beschränkt, und dasselbe gezwungen, seiner fixen Idee gemäss, bestimmt. Beide Merkmale, fixe Ideen und subjektive Ueberzeugung, dass der Wahn Wahrheit sey, gehören wesentlich zur Charakteristik dieser Krankheit.19

Reil, der in diesem Zusammenhang ein Beispiel aus dem Magazin zitierte (Magazin: I,1,85),20 verstand diese Krankheit als Störung des Verhältnisses der Kräfte im Gehirn und im gesamten Nervensystem, die zu falschen Ideen und Gedankengängen führte, die sich gegenseitig verfestigten. [S]o entstehen Dissonanzen, Sprünge, abnorme Vorstellungen, ähnliche Associationen, fixe Ideenreihen, und ihnen entsprechende Triebe und Handlungen [...] Je thätiger die Phantasie des Verrückten ist, desto weniger kommen die Eindrücke der Sinnorgane zum klaren Bewusstseyn. Je mehr er an eine Ideenreihe gefesselt ist, desto weniger können andere Platz gewinnen und die fixirten verdrängen.21

Obwohl Reil keinen scharfsinnigen oder nachdenkenden Kopf, wie die Einsiedler im Magazin es sind, sondern einen phantasievollen Menschen mit gestörtem || 17 Pinel: Traité, S. 137–141, Zitate: S. 139f. 18 Ebenda, S. 139–141. 19 Reil: Rhapsodien, S. 306–308. 20 Ebenda, S. 308. 21 Ebenda, S. 46f. Hervorhebung von S.D.

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Vorstellungsvermögen als Gefährdeten beschrieb, ist seine Diagnose vergleichbar mit Moritz’ „Mangel der verhältnismäßigen Übereinstimmung aller Seelenfähigkeiten“ (Magazin: I,1, S. 33). Dieses Krankenbild beschäftigte die ‚Irrenärzte‘ der Aufklärung als eines, das behandelt werden konnte, wie man als Pädagoge eine falsche Idee zu korrigieren versuchte. Pinel organisierte teils sehr aufwändige Szenarien, um gegen fixe Ideen oder Wahnvorstellungen zu wirken. Oft zitiert wird sein erfolgreicher Versuch einen Patienten, der aus Angst vor höllischer Qualen jede Nahrung verweigerte, durch donnernde Stimmen und Kettenrasseln zu überzeugen, dass er essen müsse, um von noch schlimmerem Folter geschont zu werden.22 Reils „psychische Curmethode“ beinhaltete eine lange Liste von Vorschlägen, wie der Arzt auf die Sinne und Emotionen eines Geisteskranken wirken könnte, und er empfahl jeder Anstalt ein eigenes Theater und eingespieltes Personal, um zweckmäßige Täuschungen zu inszenieren.23 Reil gilt als Wegbereiter der ‚Romantischen Psychiatrie‘, deren Hauptvertreter in Deutschland, Johann Christian August Heinroth (1773–1843), 1818 in seinem Lehrbuch der Störungen des Seelenlebens als Erster den Begriff ‚Paranoia‘ als Synonym für ‚Verrücktheit‘ verwendete.24 Als erste Art von Verrücktheit identifizierte er den „Wahnwitz“, bei dem zumindest im Anfangsstadium der Kranke gesund scheint, „bis auf seine Begriffe und Urtheile, die oft nur in Beziehung auf einen einzigen Gegenstand verkehrt und widersinnig sind“.25 Pinels Schüler JeanÉtienne-Dominique Esquirol (1772–1840) führte um dieselbe Zeit den einflussreichen Begriff ‚Monomanie‘ in die klinische Nosologie ein.26 Er beschrieb die „monomanie raisonnante des fous raisonables“ [verständige Monomanie der ver-

|| 22 Pinel: Traité, S. 59–61. 23 Reil: Rhapsodien, S. 209f. Solche Täuschungen hatten verständlicherweise nicht immer Erfolg, und sie bargen zudem hohe Risiken. Im Magazin ist dokumentiert, wie ein Lehrer im Bekanntenkreis von Moritz Selbstmord begann, nachdem er den Betrug entdeckt hatte und seine fixe Idee bestätigt sah (Magazin: I, 2, S. 18–28). 24 Zu Reil, vgl. Schott/Tölle: Geschichte der Psychiatrie, S. 330. Heinroth: Lehrbuch der Störungen, S. 294. 25 Ebenda, S. 295f. 26 Er behauptete selbst, den Begriff um 1810 geprägt zu haben. ‚Monomanie‘ war eine der Hauptdiagnosen in seinen statistischen Berichten aus der Anstalt Charenton zwischen 1826 und 1828, vgl. Goldstein: Console and Classify, S. 152–196, besonders, S. 153 Erl. 6 und S. 154 Erl. 14, und der Begriff wurde 1827 in der deutschen Darstellung von Esquirols Theorien benutzt: Esquirol’s Seelenstörungen, die „frei bearbeitet von Karl Christian Hille“ und mit einem Anhang von Heinroth erschien, weil Esquirols Hauptwerk so lange auf sich warten ließ. Der Begriff ‚Monomanie‘ wurde anschließend von Charles Chrétien Henry Marc (1771–1840) weiterentwickelt, der unterschiedliche Formen der Monomanie ausmachte, wie z. B. Kleptomanie und Pyromanie.

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nünftigen Irren], wonach der Patient sein Wahnsystem aus einer logischen Argumentation schließt und sonst als ‚normal‘ erscheint.27 Von Heinroth und Esquirol beeinflusst prägte kurz darauf der britische Mediziner James Cowles Prichard (1786–1848) 1835 in seinem Treatise on Insanity and Other Disorders Affecting the Mind das Phänomen ‚moral insanity‘. Bei Prichard war das „a form of extreme eccentricity of conduct, singular and absurd habits [...] a wayward and intractable temper, [...] a decay of social affections, an aversion to the nearest relatives and friends formerly beloved, – in short, [...] a change in the moral character of the individual“.28 Er übernahm die Terminologie ‚Monomanie‘ und ¸partial insanity’ für Fälle, wo „[t]he individual can reason soundly on all subjects, only he can never be brought to doubt or to exercise his faculty of judging and reasoning on the subject of this false impression.“29 Sein Resümee mit Bezug auf einen Patienten mit einer fixen Idee lautete: „the power of judgement and of reasoning does not appear to be so much impaired in madness as the disposition to exercise it on certain subjects“.30 Heinroth, Esquirol und Prichard stimmten ihren Lehrern zu, dass gestörte Verhältnisse einzelner Seelenfähigkeiten wie Intelligenz, Scharfsinn, Vorstellungsvermögen und Phantasie eine nährreiche Vorstufe zur Monomanie oder zum ‚moral insanity’ sein könnten. Wo die Psychiater der Aufklärung den Wahnsinn aber als Fehler interpretierten, verband ihn diese neue Generation mit Schwäche und sogar Sünde.31 Neu war auch die Ansicht, dass das Krankheitsbild einer allgemeinen moralischen Entartung, insbesondere dem schwindenden religiösen Glauben entstammte, d. h. als Zivilisationskrankheit aufzufassen war.32 Esquirol führte viele Monomaniefälle auf die Tatsache zurück, dass im jungen säkularen Frankreich die Polizei nun die Sittlichkeit überwachen musste, was einen gewissen Verfolgungswahn hervorrufen könnte, da viele Menschen vor der Polizei Angst hätten.33 Die Monomanie wurde in der ‚Romantischen Psychiatrie‘ so zum Zeichen eines kalten Egoismus, eines verlorengegangenen Familiengefühls, der Selbstsucht einer Gesellschaft, in der jeder nur für sich lebte.

|| 27 Esquirol: Des maladies mentales, Bd. 2, S. 49f. 28 Prichard: Treatise on Insanity, S. 23f. 29 Ebenda. Vgl. auch S. 4. 30 Ebenda, S. 120. 31 Vgl. Leibbrand/Wettley: Der Wahnsinn, S. 492; Marx: German Romanic Psychiatry Part I, S. 323–327. 32 Zum romantischen Verständnis von krankem Zeitgeist, vgl. Dickson: Krankheit, S. 247f. Vgl. auch Augstein: Moral Insanity, S. 334. 33 Ebenda.

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Die Behandlung der Monomanie bzw. ‚moral insanity‘ sollte im Einzelfall entschieden werden. Prichard räumte ein: „The precise limitation of insanity and eccentricity of character is very difficult to discover.“34 Das Verhalten sollte deswegen bestimmen, ob jemand eingesperrt werden musste oder nicht. „Confinement is unnecessary for such a person, who is in no way dangerous to society. If the management of his property – for such individuals are generally possessed of property – could be so settled as to ensure his having the usual supports of life, this would be sufficient.“35 Klug, D... und Welby waren aufgeklärte Einsiedler, aber sie entsprachen in vielerlei Hinsicht auch diesem romantischen Verständnis der Monomanie oder der ‚moral insanity‘. Sie waren wohlhabend, sie überzeugten sich durch eine nachvollziehbare Logik von einer bestimmten Idee, entwickelten eine Art Verfolgungswahn und erlebten infolgedessen eine Persönlichkeitsveränderung, weshalb sie sich aus der Gesellschaft zurückzogen, die sie als bedrohlich empfanden. Sie blieben aber nach wie vor in Besitz ihrer Vernunft und könnten auch als Exzentriker diagnostiziert werden. Wo andere, die sich durch ihr Verhalten unbeliebt machten oder das Familiengeld verschwendeten, in Anstalten für Geisteskranke eingesperrt wurden, durften diese Eremiten, da sie reich waren und die Sitten der aufgeklärten Gesellschaft nicht direkt verletzten, exzentrisch sein und sich entscheiden, sich selbst einzusperren und das Einsiedlertum ganz nach ihren Wünschen zu gestalten: bequem, mit intellektuellem Kontakt nach außen durch Bücher, sogar mit persönlichen Kontakten durch ausgewählte Begleiter. Nach der ‚moralischen Behandlung‘ der ersten Stunde in der Aufklärung wollten Pinel und Reils Schüler weitere Fortschritte in der Behandlung Geisteskranker erzielen, damit übten sie gleichzeitig Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft. Wo die Spätaufklärer eine Gefährdung des rationalen, intelligenten Bürgers, vom Wahnsinn überfallen zu werden, sahen, betrachteten die Romantiker diesen Zustand zumindest teilweise als Folge vom Verlust der Freiheit und Selbstverantwortlichkeit innerhalb eines gesunden Gemeinschaftslebens. In beiden Zusammenhängen führte jedoch der Wahnsinn zur Abtretung der gesellschaftlichen Rechte, Pflichten und Gestaltungsmöglichkeiten, und deswegen galt die Fallgeschichte eines Einsiedlers oft als mustergültig.

|| 34 Ebenda, S. 383. 35 Prichard: Treatise on Insanity, S. 402 (Hervorhebung von S.D.). Viele seiner Fallgeschichten handeln von Menschen, die entweder als exzentrisch oder als geisteskrank diagnostiziert werden könnten. Ausschlaggebend in jedem Einzelfall ist, ob das Verhalten „although eccentric, and not that of a sane man, has been without injury to himself or others“ (ebenda, S. 45).

Brigitte Prutti

Misanthropie und Monotonie Zur Einsamkeit im Alter bei Stifter und Grillparzer I am a rock, I am an island. I have my books and my poetry to protect me. And a rock can feel no pain. And an island never cries. Paul Simon (I am a Rock)

Neuere Studien haben uns für die Historizität des Phänomens Einsamkeit sensibilisiert und ihre spezifisch moderne Signatur etabliert, die die traditionelle Weltferne des Eremiten durch neue Modalitäten und Formen von Asozialität ersetzt. Wittler hat das 18. Jahrhundert als die zentrale Umbruchsphrase in der historischen Semantisierung des Begriffs geltend gemacht und die produktiven und problematischen Qualitäten im empfindsamen Einsamkeitsdiskurs als dessen poetogene und pathogene Dimension beschrieben.1 Mein Essay erörtert das literarische Beispiel der einsamen alten Männer in zwei bekannten österreichischen Novellen der 1840er Jahre, die ihre Problemfiguren schon in ihrem Titel benennen – Stifters Hagestolz und Grillparzers Der arme Spielmann. Beide sind in der Zeitschrift Iris bei Gustav Heckenast in Pest erschienen, und zwar 1844 im Taschenbuch auf das Jahr 1845 und 1847 im Almanach für 1848.2 Strukturell und stilistisch überarbeitet, wurde Stifters Hagestolz dann 1850 im fünften Band seiner Studien veröffentlicht; Grillparzers Geschichte des armen Wiener Geigers wurde 1871 als Muster der Gattung in den Deutschen Novellenschatz von Paul Heyse aufgenommen, konnte allerdings im protestantischen Preußen nicht reüssieren.3 Die beiden exemplarischen Biedermeier-Erzählungen aus Österreich und ihre

|| 1 Wittler: Einsamkeit. Vgl. auch Schmid: Gespräch, Geselligkeit und Einsamkeit um 1800. 2 Dort hat Stifter auch Grillparzers Armen Spielmann entdeckt und seine Novelle Der arme Wohltäter (später in der Studienfassung: Kalkstein) ist deutlich von ihm beeinflusst. Nur ist dieser verkannte Landgeistliche eine weitaus positiver konnotierte und weniger problematische Figur als der Hagestolz: Er lebt spartanisch, gilt als geizig, hat aber eine blütenweiße Seele, ganz so wie seine feine Unterwäsche, sein einziger fetischistischer Luxus. Der Hagestolz hingegen ist seelisch und sozial verwahrlost, wie nicht zuletzt auch seine schmutzige Unterwäsche hier bezeugt. 3 Zur Rezeption und zum verspäteten Erfolg der Novelle, insbesondere im anglo-amerikanischen Kontext, vgl. die Einleitung von Clifford Albrecht Bernd – In: Bernd (Hrsg.): Grillparzer’s Der arme Spielmann, S. 1–8. Zu ihren begeisterten Lesern zählen unter anderem Stifter, Heyse und Kafka. https://doi.org/10.1515/9783110634709-016

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sperrigen Protagonisten ergeben eine fruchtbare Konstellation, wenn das Phänomen der post-romantischen männlichen Alterseinsamkeit auf seine psychologischen Konturen und seine potentielle Produktivität hin befragt werden soll.4 In Stifters Novelle steht die Problemfigur eines modernen säkularen Einsiedlers zur Diskussion, der sich nicht zum Zweck der geistigen oder künstlerischen Regeneration in die bewaldete Einsamkeit einer abgelegenen Gebirgsinsel zurückzieht, sondern dort als ein dekadenter Exzentriker, Sammler und paranoider Misanthrop haust, mit dem die moderne Stadteinsamkeit auch in den Wald Einzug hält.5 Er ist bei Stifter hier der nachträgliche Garant einer durch ihn selbst gefährdeten genealogischen Kontinuität.6 Die Erzählung artikuliert eine Krise des Sozialen, die sie durch eine moderne Form der Männlichkeitspädagogik zu überwinden sucht. Und die setzt auf die Explorationslust und die Geduld ihres jungen Helden sowie auf das abschreckende Beispiel seines asozialen Erziehers. Grillparzers Porträt des Künstlers als alter Mann in seiner Spielmann-Novelle wiederum zeichnet ein bedrückendes Bild der modernen Stadteinsamkeit in einer spezifisch Wienerischen Fasson, die den Mythos vom gemütlichen Alt-Wien gründlich zunichte macht.7 Die Geschichte des herabgekommenen Hofratssohns und seiner Familie ist die eines rapiden sozialen Verfalls, und es bedarf gar keiner Kette von mehreren Generationen, um ihre Destruktivität zu entfalten.8 Sein alter Straßenmusiker hingegen ist die Problemfigur eines modernen Narren – naiv, beschränkt und ein wenig renitent, was den Vergleich mit Melvilles Bartleby einleuchtend erscheinen lässt, obwohl die Unterschiede ebenso ausgeprägt sind.9

|| 4 Die ältere Stifter-Literatur behandelt die Exzentriker in seinem Œuvre in der Regel unter den Stichworten ‚Narren‘ und ‚Sonderlinge‘. Vgl. Dittmann: Sonderlinge im Werk Adalbert Stifters; und Blume: Hypochondrische Katastrophen. Virulent für das 19. Jahrhundert ist auch die Frage nach einem künstlerischen Altersstil, die in der Regel vorwiegend in Bezug auf männliche Künstler hin erörtert wird. Vgl. Neumann/Oesterle (Hrsg.): Altersstile im 19. Jahrhundert. 5 Zur Entstehungsgeschichte und zu den Konnotationen des Begriffs vgl. Stifter: Werke und Briefe. Historisch-Kritische Gesamtausgabe, Bd. 1,9, S. 339–357. 6 Zur Genealogieproblematik bei Stifter vgl. Runge: Genealogie und Generation; instruktiv über Stifter hinaus Weigel: Genea-Logik. 7 Vgl. Kos und Rapp: Altwien. 8 Vgl. Politzer: Franz Grillparzer oder das abgründige Biedermeier. Zum Wiener räumlichen Kontext und den sozialen Dimensionen vgl. auch Arens: Austria and Other Margins. 9 Von Matt: Sieben Küsse, S. 147, unternimmt diesen Vergleich mit Bartleby und wirft die Frage auf, wie man über eine Figur sprechen soll, auf die keine Bezeichnung zu passen scheint. Grillparzer selbst ist skeptisch, ob die Novelle unter den Zeitumständen Erfolg haben kann, da weder ihr Stoff noch ihre Hauptfigur den deutschnationalen Tendenzen entspricht, die er im Aufschwung sieht. Sie habe „nichts von deutscher Tatkraft“ an sich, so der Briefentwurf an Mailath, Grillparzer: Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 1229.

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Schon Herbert Seidler in seiner Lektüre der Erzählung hat auf die „tiefe Tragik der Einsamkeit“10 von Stifters Hagestolz verwiesen; und dieser Befund gilt auch für Grillparzers armen Spielmann, dessen Sozialisationsgeschichte an psychologischer Grausamkeit kaum zu überbieten ist; aber daneben sind auch die komischen Züge in der Repräsentation der beiden biedermeierlichen Exzentriker nicht zu übersehen, die einem Thomas Bernhard alle Ehre machen würden. Schon im Titel von Stifters Novelle ist die Tradition der satirischen Typenkomödie aufgerufen mit ihrem reichen Repertoire an komischen männlichen Alten; in der Geschichte des tollpatschigen Liebeswerbers bei Grillparzer hingegen stechen die situationskomischen Momente hervor, und er selbst scheint fast ein wenig erleichtert, als man ihn hier um sein Lebensglück betrügt. Er begründet es jedenfalls sehr gut, dass Barbara mit ihrem Fleischer letztlich doch glücklicher geworden sei als mit einem „Herd- und Heimatlosen“ (Spielmann, S. 182).11 Im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen steht die psycho-soziale Dimension in Grillparzers novellistischer Poetik der Verkümmerung im Kontrast zur Poetik des Exzesses bei Stifter mitsamt ihren Freuden und Leiden der Misanthropie und der Monotonie. „Mit Hilfe der modernen Medizin können wir vielen Krankheiten entgehen, das Alter aber ereilt uns alle“, erklärte der Pathologe Frédéric Ludwig im Rahmen seiner Überlegungen zu Wesen und Grenzen der Altersforschung.12 Man könnte einwenden, dass auch die besagte Unausweichlichkeit des Alters nur für diejenigen gilt, die es erleben dürfen oder müssen – je nachdem. Mythenerzählungen und die moderne europäische Literatur sind voll von jungen Toten. Aber Fassung im Falle des Falles scheint dennoch geboten, das besagt auch der philosophische Ratschlag von Bertrand Russell zur Űberwindung der Todesfurcht am Ende eines produktiven geistigen Lebens. Er selbst ist das Paradebeispiel für einen „kreativen Alten“,13 der in erster Linie wieder für männliche Intellektuelle spricht. Er bedient sich dazu der Wassermetaphorik in dem folgenden Bild:

|| 10 Seidler: Adalbert Stifters Novelle Der Hagestolz. – In: Seidler: Studien zu Grillparzer und Stifter, S. 257–281, hier S. 261. 11 Alle Zitate aus der Spielmann-Novelle im Text nach Grillparzer: Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 146–186. Im Folgenden im Text mit „Spielmann“ und Seitenzahl zitiert. 12 Ludwig: Altersforschung. 13 Perrig-Chiello: Frauen im Alter, S. 208. Sie verweist auf die Marginalität von Frauen in der Altersforschung und die Negativstereotypen zum weiblichen Alter, auch was die Vorstellung der fehlenden Kreativität anbelangt. Die literarische Imagination des weiblichen Alters hat vor allem das Bild der Hexe hervorgebracht und deren positive Gegeninstanz, das gute, alte Großmütterchen, wozu auch Victors Ziehmutter hier bei Stifter zu zählen ist, die alle Qualitäten einer sorgenden Mütterlichkeit in sich verkörpert. Porträts der männlichen und weiblichen Alterseinsam-

238 | Brigitte Prutti [M]ake your interests gradually wider and more impersonal, until bit by bit the walls of the ego recede, and your life becomes increasingly merged in the universal life. An individual human existence should be like a river--small at first, narrowly contained within its banks, and rushing passionately past boulders and over waterfalls. Gradually the river grows wider, the banks recede, the waters flow more quietly, and in the end without any visible break, they become merged in the sea, and painlessly lose their individual being. The man who, in old age, can see his life in this way, will not suffer from the fear of death, since the things he cares for will continue. And, if with the decay of vitality, weariness increases, the thought of rest will not be unwelcome. I should wish to die while still at work, knowing that others will carry on what I can no longer do, and content in the thought that what was possible has been done.14

Das Aufgehen in einem Lebensstrom von überindividuellen Interessen oder der Tod am Schreibtisch, wie ich es hier scherzhaft nenne, ist für den Hagestolz bei Stifter kein Trost, da er nur die Auslöschung sieht, die in den Bildern des Verfalls in der Erzählung je schon Gestalt anzunehmen beginnt. Es ist auch für Grillparzers armen Spielmann keine Option, der sich mit Hilfe seines Geigenspiels und einer fragilen Ordnung der Dinge so gut in der ewigen Wiederkehr des Gleichen eingerichtet hat, dass für die Furcht vor dem Tod gar kein Platz übrig bleibt. Der Todesfixiertheit bei Stifter entspricht die Todesvergessenheit in Grillparzers Erzählung. Der Aufforderung von Bertrand Russell wird keine der beiden Figuren gerecht, denn sie sind die literarischen Repräsentanten eines verkehrten Lebens und eines prekären Überlebens. Philosophische Contenance kann man von ihnen nicht erwarten. Und auch den Wunsch nach einer tröstlichen Metamorphose nicht, dem die Wiener Lyrikerin Elfriede Gerstl in ihrem ironisch betitelten Gedicht „schöner tot sein“ Ausdruck gegeben hat: „ein baum werden / vögel zu gast haben / das wär was / worauf man sich freuen könnte.“15 Insel und Einsamkeitstopos gehören kulturgeschichtlich zusammen. Die Insel kann auch der Ort einer neuen Gemeinschaftsgründung sein, das paradiesische oder abschreckende Andere der jeweiligen Zivilisation, die ihre Mitglieder verbannt oder aus der sie fliehen.16 Auf der im österreichischen Salzkammergut situierten Insel in Stifters Novelle befindet sich ein vor mehreren Generationen aufgelassenes Kloster von Schottenmönchen, die es zum Schutz vor der

|| keit in der zeitgenössischen deutschen Literatur liefert Judith Hermann in ihrem ersten Erzählband Sommerhaus, später von 1998. 14 Russell: How to grow old. – In: Russell: Portraits from Memory, S. 50–52, hier S. 52. 15 Gerstl: Haut und Haar − Werke, Bd. 3, S. 301. 16 Vgl. Blume: Die Insel als Symbol; und Meyer: AllEinsamkeit − Ein kleiner Versuch über Inseln. Wüste, Steppe, Wald und Insel sind zentrale Topoi bei Stifter; der Inseltopos ist auch in der deutschen Gegenwartsliteratur beliebt, wie Ransmayr, Schalansky und Kracht bezeugen.

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Verfolgung durch ihren heidnischen Landesherrn an diesem unzugänglichen Ort etablierten. Jetzt in der Erzählgegenwart hausen in dem Gerichtshaus neben dem ehemaligen Kloster nur ein paar alte Menschen mitsamt ein paar alten Hunden. Ein festungsartiges Insel-Altersheim in bester Gebirgslage also und das passende Domizil für einen paranoiden Greis, der sich bei Stifter als geheimer Wohltäter erweisen wird – und zwar aus ganz egoistischen Motiven. Was er dem Neffen ersparen will, das ist die Einsamkeit im Alter und die befürchtete Auslöschung des männlichen Lebens, die er hier selbst repräsentiert. Die abgelegene Gebirgsinsel bei Stifter ist die pädagogische Provinz eines jungen Mannes und der letzte Rückzugsort eines einsamen Alten am Ende eines lieblosen Lebens.17 Es sind jeweils männliche Perspektiven auf das männliche Alter, die die beiden Erzählungen von Stifter und Grillparzer entfalten. Im Falle Stifters ist dies der Blick des jungen Neffen auf seinen kauzigen Onkel, der ihm die lange Fußreise zu seinem einsamen Domizil im Gebirge verordnet hat, ohne ihm die Gründe für seinen Aufenthalt zu verraten, und das anfangs nur, wie es scheint, um ihn zu provozieren und wie seinen Gefangenen zu behandeln. Auf ihn warten einige Machtproben und eine Wartefrist, die sein Wahrnehmungsvermögen und seine Kräfte stärkt. Die Novelle liefert präzise Beschreibungen des problematischen Inselbewohners und seiner unhäuslichen Umgebung aus der Perspektive des jungen Besuchers, die dessen Reaktionen und Emotionen genau verzeichnet, sich aber der expliziten Wertungen, im markanten Kontrast zu Grillparzers Erzähler, durchweg enthält. Wenn der lebensgierige Onkel etwa dabei vorgeführt wird, wie er vor den Augen seines Neffen bei ihrem ersten gemeinsamen Abendessen hastig die Krebse zerreißt und aus den Schalen saugt, während er gleichzeitig die drei fetten Hunde zu seinen Füßen füttert, so ist es den Lesern der Novelle überlassen, ob sie sich ein wenig ekeln wollen oder nicht.18 Der dürre Alte mit den biedermeierlichen Insignien seines geblümten Schlafrocks und eines goldgeränderten Käppchens ist ein großer Fresser vor dem Herrn, der alle möglichen Weine und Nachspeisen konsumiert und diverse Luxusgüter aus England importiert, anstatt das gute Quellwasser zu trinken, das seinen Neffen so stärkt und erfrischt. Er konsumiert eine dekadente Fülle, die seinen Lebenshunger jedoch keineswegs stillt und höchstens seine drei Hunde verfettet, denen erst der Besuch des jungen Mannes zu etwas Bewegung verhilft. Der wiederum entwickelt eine gewisse Zuneigung für den alten Verwandten, der ihm anfangs nur wie ein Gefängniswärter erschien. Es gibt eine rührende Abschiedsszene, und der Ziehmutter gegenüber

|| 17 Zur Erziehungsthematik vgl. Saur: Victor’s Journey. 18 Vgl. Stifter: Der Hagestolz − Werke und Briefe, Bd. 1,3 (Journalfassung) und Bd. 1,6 (Studienfassung), S. 9–108 und S. 11–142, hier: Bd. 1,3, S. 69f.

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preist Victor den misanthropischen Wohltäter nachträglich als einen „herrlichen Mann“ (Hagestolz, 1,3, S. 107).19 In der Studienfassung begibt er sich sogar selbst zurück auf die Insel, um den Onkel zur Hochzeit einzuladen, die dieser durch seine materielle Vorsorge und sein warnendes Beispiel ermöglicht hat. Stifters Novelle demonstriert einem heiratsscheuen jungen Mann und ihren männlichen Lesern, wie sie selbst enden könnten, wenn sie dem problematischen Vorbild folgten. Ihr Bildungsauftrag ist an ihre Abschreckungspädagogik geknüpft. Grillparzers Künstlernovelle enthält die Perspektive eines wissbegierigen Fremden in Gestalt eines Wiener Dramatikers, der die Zufallsbekanntschaft eines sozialen Absteigers macht, auf der Suche nach neuem Material für seine Kunst. Er erfährt die unerhörte Lebensgeschichte des alten Mannes, die sich jedoch nicht als dramatisierbar erweist. Auch das Instrument des alten Mannes kann er nicht in seinen Besitz bringen. Aus der Perspektive des Rahmenerzählers ist der kunstbeflissene Alte ein künstlerischer Dilettant, der seinen Zuhörern gewaltige Ohrenqualen verpasst – im markanten Kontrast zu dem ungeheuren Eifer und der Lust des alten Mannes an seinem eigenen Spiel. Die Frage nach der Angemessenheit der Erzählerperspektive und seiner Wertungen hat in der Forschung viel Platz eingenommen. Sie ist hier nicht neu zu verhandeln.20 Zu vermerken bleibt, dass der Erzähler alle Formen von Jakobs Spiels kennt und für die Leser der Novelle beschreibt: die öffentliche Performanz des erfolglosen Straßenmusikanten beim Fest in der Brigittenau sowie sein späteres Walzerspiel auf der Straße; die morgendlichen Kunstübungen des alten Mannes nach Noten in seiner Klause, sprich das sogenannte „Exerzitium“ (Spielmann, S. 153) der alten Meister im Sinne seines selbst gegebenen Bildungsauftrags; sowie das abendliche freie Spiel ohne Noten ganz für sich selbst, das der Alte sein „Phantasieren“ (Spielmann, S. 152) nennt.21 Wie immer man die musikalischen Talente des alten Mannes auch einschätzen will, er ist ein „lebhafter“ (Spielmann, S. 163) Erzähler, der mit viel Gusto berichtet und das Interesse seines innerfiktionalen Zuhörers und seiner außerliterarischen Leser zu halten vermag. Im Prozess des Erzählens entdeckt er hier erst, dass er selbst eine Geschichte hat, nachdem er sich so gut in der ewigen Wiederkehr des Gleichen eingerichtet hat, dass sie ihm schon zur zweiten Natur geworden ist. Ein strikt geregelter Tagesablauf und eine fragile räumliche Ord|| 19 Alle Zitate aus der Hagestolz-Novelle im Text nach Stifter: Werke und Briefe, Bd. 1,3 (Journalfassung) und Bd. 1,6 (Studienfassung), S. 9–108. Im Folgenden im Text mit „Hagestolz“ und Seitenangabe zitiert. 20 Zur Erzählform vgl. Martin Swales: “As ashamed of the story as I have written it myself…”: Reflections on the Narrator in Der arme Spielmann. − In: Bernd (ed.): Grillparzer’s ‘Der arme Spielmannʼ, S. 66−78 und Nölle: Hierarchie der Erzählweisen. 21 Eingehend dazu Holmes: Kann Jakob Noten lesen?

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nung sollen den einsamen Alten vor dem drohenden Chaos bewahren. Auch im Erzählen bleibt er so asozial wie eh und je, so dass er die Anwesenheit des Zuhörers in seiner Kammer sofort wieder vergisst, als er ans Ende seiner Geschichte kommt und in völliger Selbstversunkenheit Barbaras Lied zu spielen beginnt. Der neugierige Besucher bezeugt ebenfalls kein persönliches Interesse mehr an dem alten Mann, nachdem er dessen Geschichte erfahren hat, und er speist den Selbstvergessenen hier mit ein „paar Silberstücken“ (Spielmann, S. 183) ab. In der Folge gerät das obskure Objekt seiner Neugierde wieder aus dem Blick, bis ihn eine Überschwemmungskatastrophe zurück in die Vorstadt treibt, wo er auf den Leichenzug des alten Mannes stößt. Grillparzers Dramatiker ist ein selbst erklärter „Liebhaber der Menschen“ (Spielmann, S. 148) ohne allzu viel Menschenliebe. Die Unglücksgeschichte des alten Mannes etabliert kein persönliches Band, keine Nähe, kein Du. Die aufklärerische Utopie einer durch die erzählende Selbstaussprache der beteiligten Subjekte kommunikativ gestifteten Freundschaft löst sie nicht ein. Strukturell betrachtet, gibt es zwei grundsätzliche Möglichkeiten in der menschlich induzierten Einsamkeitsgenese, die in der Praxis eng miteinander verschränkt sein können. Entweder zieht sich das einsame Subjekt von seiner Mitwelt zurück – räumlich und/oder geistig und affektiv und aus jeweils sehr unterschiedlichen Gründen – und es gewinnt einen gewissen Einsamkeitsbonus durch diesen Rückzug oder es leidet daran bzw. tut beides. Oder die jeweiligen Anderen ziehen sich umgekehrt von dem betreffenden Subjekt zurück, was de facto die Mechanismen der räumlichen Eingrenzung und Ausgrenzung sowie die soziale Nicht-Wahrnehmung und Ablehnung bedeuten kann.22 Einsamkeit also ist beides: ein subjektives Gefühl und ein sozialer Zustand. Sie kann „als Freiheit von gesellschaftlichen Zwängen positiv akzentuiert sein oder aber als Ausgrenzung negativ gewertet werden.“ 23 Es gilt die Maxime: Wer einsam ist, muss nicht allein sein, und wer allein ist, nicht einsam. Der Soziologe und Zivilisationstheoretiker Norbert Elias in einem Essay aus dem Jahr 1982 hat die prekäre Situation von Sterbenden in der modernen Gesellschaft beschrieben, die trotz einer routinierten medizinischen Versorgung zu spüren bekommen, dass sie „kaum noch || 22 Ein Drittes wären die katastrophisch geschaffenen Tatsachen so wie die unsichtbare Wand in Marlen Haushofers Roman Die Wand [1963], der die weibliche Hauptfigur dieser modernen Robinsonade aus der Ära des Kalten Krieges von aller menschlichen Gesellschaft trennt und ihr eine neue tierische Gemeinschaft beschert. Postapokalyptische Fiktionen, aber auch die einsamen Spaziergänger wie Peter Handke sind in der zeitgenössischen Kunst populär. Zur anthropologischen Konzeption des Begriffs vgl. Walter Haug: Programmierte Einsamkeit. Zur Anthropologie eines narrativen Musters. − In: Aleida und Jan Assmann: Einsamkeit, S. 59−75. 23 Schmid: Gespräch, Geselligkeit und Einsamkeit um 1800, S. 46.

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Bedeutung für die umgebenden Menschen“24 besitzen: „Noch lebend, sind sie bereits verlassen.“25 Die extremste Form dieser Vereinsamung ist der soziale Tod vor dem Tod, wenn die Existenz oder Nicht-Existenz eines Menschen für seine Umgebung überhaupt keine mehr Rolle spielt, wie Elias am Beispiel von urbanen Außenseitern und an den Opfern von Genozid und politischer Gewalt demonstriert, um seine zentrale These von der sozialen Sinnstiftung des menschlichen Lebens zu untermauern, die sich – insbesondere – an den Sterbenden zu bewähren hat.26 In der medial vernetzten Gesellschaft dieser Tage ist viel von der gesellschaftlichen Krankheit der Einsamkeit die Rede, während parallel dazu das Lob der Einsamkeit und der Stille gesungen wird, wenn es darum gehen soll, sich aus subjekttherapeutischen Gründen temporär auszuklinken aus einem Übermaß an sozialen Anforderungen und Zerstreuungen, oder mit Blick auf die Mythen um schöpferische Einzelgänger so wie Peter Handke oder andere zeitgenössische Künstler.27 Der soziale Tod vor dem Tod im 21. Jahrhundert betrifft die vielen Wartenden und Unerwünschten an den Nicht-Orten der globalisierten Gesellschaft, die in der Regel nicht in den Blick dieser medialen Einsamkeitsdiagnosen gelangen. Der britisch-polnische Soziologe Zygmunt Bauman in seinen zahlreichen Altersessays hat ihnen passionierte kritische Analysen geliefert.28 Die Erzählungen von Stifter und Grillparzer entwerfen eine Ätiologie und Zustandsbeschreibung der einsamen Existenz ihrer Protagonisten und sie stiften eine soziale Bedeutung für die verfehlten Leben im Zentrum ihrer Geschichten, die im einen Fall auch das Sterben der Figur betrifft, im anderen Fall aber nicht. Stifters Novelle in der Journalfassung schließt mit dem Hinweis auf die Abwesenheit des Onkels von der Hochzeit des jungen Paares: „Der Oheim war nicht dabei; der Greis saß einsam und finster auf seiner Insel.“ (Hagestolz, 1,3, S. 108) Ein ‚allinklusives‘ Fest wäre das Happy End einer romantischen Komödie im Sinne von Northrop Frye, die auch den Killjoy in einen Playboy zu transformieren vermag, aber hier bei Stifter wird noch einmal die tödliche Stasis in der leeren Zeit des todesfürchtigen Greises unterstrichen, wie schon zuvor in diesem Bild des Erzähleingangs: „Vor einem Hause, das auf einer Insel stand, saß ein alter, alter Mann, und zitterte vor dem Sterben. Man hätte ihn schon viele Jahre können sitzen sehen, wenn er überhaupt gerne Augen zugelassen hätte, ihn zu sehen.“ (Hage-

|| 24 Elias: Über die Einsamkeit der Sterbenden, S. 97. 25 Ebenda, S. 39. 26 Vgl. ebenda, S. 98f. 27 Vgl. beispielsweise Simmank: Einsamkeit – eine tückische Trenddiagnose − Zeit-Online, 18.4.2018; sowie Drees: Lob der Einsamkeit Deutschlandfunk, 17.4.2018. 28 Vgl. u.a. Bauman: Strangers at Our Door.

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stolz, 1,3, S. 11) Stifters Onkel ist der Hüter eines Hauses, das nach dem Neffen nur noch der Tod betreten wird. Die Studienfassung verschärft die pessimistische Note, indem sie das auf die genealogischen Krisen des 19. Jahrhunderts hin adaptierte biblische Gleichnis des unfruchtbaren Feigenbaums statt an den Anfang ganz an das Ende der Erzählung stellt. Für den aus der Generationenkette herausfallenden Alten ist tatsächlich „alles, alles zu spät.“ (Hagestolz, 1,3, S. 142) Zwar sichert er den materiellen Besitz und das Reproduktionspotential für seinen Neffen, für ihn selbst aber gibt es kein Überleben, „weil an ihm schon alles im Sinken begriffen ist, während er noch athmet, und während er noch lebt.“ (Ebenda) Es ist die radikal subjektzentrierte Perspektive des Hagestolzes, die der Erzähler hier teilt, und die kennt keine bleibende kulturelle Wertschöpfung jenseits der Tatsache der biologischen Reproduktion. Der glückende Initiationsplot von Stifters Novelle löst den Heiratsauftrag des alten Junggesellen ein, aber diese Verpflichtung auf Sozialität hat nichts mit den Idealen einer biedermeierlichen Domestizität oder den Vorstellungen einer modernen Liebesehe zu tun, auch wenn der junge Mann schließlich das Mädchen bekommt, das ihm schon mehr als schwesterlich zugetan schien. Er zielt geradezu umgekehrt auf eine Maximierung der männlichen Egozentrik unter den Voraussetzungen einer geschwächten oder gekappten Transzendenz, die die christlichen Unsterblichkeitsvorstellungen auf das Konzept einer ungebrochenen Generationenkette umlegt. Die humanistische Selbstverwirklichungsrhetorik in der flammenden Heiratsrede des Onkels kaschiert einen expansiven Subjektivismus, der die eigene Sterblichkeit mit allen Mitteln zu transzendieren sucht. Ein dürrer, schwacher Greis predigt dionysische Maximen, wonach es die Fülle des Lebens „bis zum Grunde“ (Hagestolz, 1,3, S. 101) auszuschöpfen gilt. Es ist ein recht merkwürdiges Potpourri an misanthropischer Altersweisheit, das der asoziale Onkel bei Stifter seinem Neffen hier serviert. Was in der Journalfassung noch fast wie die Lebensphilosophie des alten kleistischen Adam mit seinen transgressiven Gelüsten anmutet, das kommt bei Stifter aus dem Mund eines ängstlichen Einsiedlers, in dem der tyrannische Greis im Schlafrock aufblitzt, der bei Kafka noch einmal die Söhne traktieren darf. Das fehlende patriarchalische Gewaltpotential des Redners wird durch die Lichteffekte während des Gewitters kompensiert. Der im Prozess seiner Selbstschöpfung gescheiterte reuige Alte ist der notwendige Dritte zur Stützung einer geschwächten Genealogie. Pointiert formuliert: Die Vaterschaft bei Stifter ist eine Frucht der Misanthropie. Im großen Belehrungsgespräch des Alten mit dem jungen Mann gegen Ende der Novelle hier findet sich auch das zentrale Bild für das männliche Alter: „O Victor, kennst du das Leben? Kennst du das Ding, das man Alter heißt?“ „Wie sollte ich, Oheim, da ich noch so jung bin?“

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„Ja, du kennst es nicht, und kannst es auch nicht kennen. O, es ist ein unermeßliches Feld, das kaum zwei Spannen lang ist, und and’re Früchte zeitigt, als man sä’te. Das Leben ist ein schillernd Ding, in dessen Abgrund man sich stürzt – und noch im Abgrund ist es schön – und das Alter ist ein Dämmerungsfalter, der unheimlich um unsre Ohren weht, und fort ist, eh man seine Farben kennt. D’rum streckt man seine Hände aus und will nicht mit, weil man so versäumt hat. […].“ (Hagestolz, 1,3, S. 101)

Das menschliche Leben ist die Grube des Grabes, die am Ende einer allzu kurzen Zeitspanne auf die Lebenden wartet. Die Studienfassung führt die entsprechende Warnung noch um einiges breiter aus, wonach die Kürze des Lebens nicht zu unterschätzen ist, das im jugendlichen Lebensentwurf als lang erscheinen mag, im reuigen Rückblick dann aber entscheidend zusammenschrumpft: „Man meint immer, noch recht viel vor sich zu haben, und erst einen kurzen Weg gegangen zu sein. Darum schiebt man auf, stellt dieses und jenes zur Seite, um es später vorzunehmen. Aber wenn man es vornehmen will, ist es zu spät, und man merkt, daß man alt ist.“ (Hagestolz, 1,6, S. 122) Der Dämmerungsfalter ist ein Bild für die Flüchtigkeit des Alters und der Todesbote, der zum Grabe lockt. Nur wer sich den Mühen der Reproduktion unterzieht und das Land als ein gebildeter Landmann kultiviert, kann der Gefahr dieser drohenden Auslöschung laut Stifters Onkel entgehen. Die entfremdete moderne Berufsarbeit vermag dies nicht zu leisten, da sie ihren Adepten doch nur das Leben aus dem Leibe frisst, wie ein anderes drastisches Bild hier besagt. Die geistigen und materiellen Voraussetzungen für die angestrebte Dauer in der Flüchtigkeit der männlichen Existenz aber schafft der reuige Greis, der es inzwischen besser weiß. Unter allegorischen Vorzeichen repräsentiert der todesfürchtige Hagestolz hier die Präsenz des Todes im Leben, der alles Lebendige je schon affiziert. Vanitas vanitatum oder leise rieselt der Staub, der in dicken Schichten schon überall in der unappetitlichen Junggesellenwohnung liegt, wie der reinliche Neffe bemerkt, der aus dem gepflegten Haus seiner Ziehmutter in die Inselfestung seines Onkels kommt und sich am Morgen nach seiner Ankunft gleich als Erstes den „Reisestaub“ (Hagestolz, 1,3, S. 74) aus seinen Kleidern bürstet und sich wäscht, ehe er des verwahrlosten Alten in seinen schmutzigen Kleidern ansichtig wird, der – vielleicht sogar zu Ehren seines Gastes – die hoffnungslose Aufgabe des Staubwischens unternimmt und seine Sammlung ausgestopfter Vögel zu putzen beginnt. Victor konnte jetzt bei Tage erst sehen, wie ungemein hager und verfallen der Mann sei. Die Züge drückten kein Wohlwollen und keinen Antheil aus, sondern waren in sich geschlossen, wie von Einem, der sich wahrt, und der sich unzählige Jahre geliebt hat. Der Rock schlotterte an den Armen, und am Kragen sah bei der schlecht gebundenen Halsbinde ein gebauschtes Hemdestück heraus, das schmutziger war, als es Victor je bei seiner Erziehung gesehen hatte. Im Zimmer waren eine Menge Gestelle, Fächer, Nägel,

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Hirschgeweihe und dergleichen, an welchen allen etwas hing, und auf welchen allen etwas stand. Es wurde aber mit solcher Beharrung gehüthet, daß überall der Staub darauf lag, und daß sich vieles schon jahrelang nicht von dem Platze gerührt hatte. In den Halsbändern der Hunde, wovon ein ganzer Bündel da hing, war innerlich der Staub; die Falten der Tabaksbeutel waren erstarrt und undenklich lange schon nicht geändert worden, die Röhre klafften in der Pfeifensammlung, und die Papiere unter den unzähligen Schwersteinen waren gelb; das Zimmert, welches statt der Decke ein bedeutend spizes Gewölbe hatte, war ursprünglich bemalt gewesen, aber die Farbe in ihren Lichtern und Schatten war in ein gleichmäßiges, uraltes Dunkel übergegangen. (Hagestolz, 1,3, S. 76)

Wie für die anderen existentiell unbehausten Figuren in Stifters Prosa ist die prekäre Häuslichkeit des Onkels das Indiz eines verfehlten Lebens und eine „Innendekoration der Angst“29, wie Ruth Klüger das so treffend genannt hat. Er stirbt so einsam, wie er gelebt hat, aber die Erzählung kann seinen Tod ruhig aussparen, denn der existentielle Schrecken liegt in der leeren Verfallszeit des Wartens inmitten des ganzen Zivilisationsmülls, den dieser einsame Alte auf seine Inselfestung geschleppt hat oder dort bereits vorgefunden hat. Der Weg vom Ufer der Insel zu dem hinter einer fensterlosen Mauer mit einem eisernen Gittertor gelegenen Haus des Onkels führt den jungen Besucher durch einen „seltsamen Garten“ (Hagestolz, 1,3, S. 61) mit verkrüppelten Sträuchern und steinernen Zwergen im Gras. Das ist nicht die paradiesische Einsamkeit eines englischen Gartens, in dem Goethes Werther zum Maikäfer werden will, sondern eine merkwürdige Mischung von verwilderter Natur und kaputter Kultur, die Stifter in der Studienfassung zu einem ganzen Zwergenorchester ausgemalt hat. Groteske Zwergskulpturen waren in barocken Schloss- und Stiftsgärten wie Schloss Mirabell und Kremsmüster und offenbar auch unter den Mönchen des aufgelassenen Klosters in Stifters Novelle beliebt, auf der entlegenen Gebirgsinsel wirken diese steinernen Zeugen vergangener Lustbarkeiten allerdings kaum weniger deplatziert als ihr derzeitiger Bewohner. Sie alle besagen, dass der kulturelle Verfall je schon stattgefunden hat: „Das alte Kloster ist zugesperrt, die Kirche auch, die Speicher sind mit Trümmern vollgeräumt und ebenfalls zu.“ (Hagestolz, 1,3, S. 65) Die Glocken schweigen und der Obstgarten ist verwildert.30 Besonders markiert wird die Stille der Insel noch durch das doppelte Läuten der Glocken auf Victors Weg zu seinem Onkel und zurück. Die christliche Gemeinschaft reicht nur bis zu den Hütten der Hul, wo er den Bootsmann findet, der ihn über den See rudern wird. Der paranoide Nachfolger der verfolgten Mönche, der sich vor der

|| 29 Klüger: Der eingerichtete Mensch, S. 121. 30 Ein sympathischer Zug des Alten und Indiz seiner Sorge ist, dass er sich als Gärtner betätigt, wie der Neffe Gelegenheit hat zu bemerken.

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Aggressivität seiner eigenen Hunde und der ödipalen Gewalt seines Neffen fürchtet, ist der menschliche Repräsentant der kulturellen Verfallsgeschichte, die die Erzählhandlung exponiert und der sie zugleich mit allen Mitteln entgegenzuwirken sucht. Ein junger Mann an der Schwelle zum Erwachsenenalter also gerät in die Domäne des Alters und in eine Sphäre der Ursprünglichkeit, symbolisiert durch das klare Quellwasser und die kühle, erfrischende Luft, sowie in den Bildern der üppig blühenden, grünenden Insel und in der imposanten Gebirgsnatur, die der menschlichen Verfallsgeschichte hier diametral entgegengesetzt ist. Es gibt ein erdgeschichtliches Zeitmaß und eine ungebändigte Reproduktionskraft der nicht-menschlichen Natur, die sich dem Blick des ängstlichen Greises in seiner hermetisch verriegelten Klause völlig entzieht – ganz im Gegensatz zu seinem Zögling, der sein „blühendes Antlitz“ (Hagestolz, 1,3, S. 73) gleich bei seinem ersten Erwachen auf der Insel durch die Gitterstäbe seines Fensters steckt und über die funkelnde Pracht und die Schönheit der Berge erstaunt. Und der Erzähler vermerkt: Alle Bergwände mit der heitern Dämmerfarbe schauten auf die grünende, mit Pflanzenleben bedeckte Insel herein, und so groß und so überwiegend war ihre Ruhe, daß die Trümmer, dieser Spurtritt vergangenen Menschenlebens, nur ein graues Pünktlein waren, das nicht beachtet wird in diesem weithin knospenden und drängenden Leben. (Hagestolz, 1,3, S. 79f.)

Die fundamentale Inkongruenz von Naturzeit und Menschenzeit wird in Victors Fensterblick hier zum Thema, der die Erhabenheit und Ewigkeit der nichtmenschlichen Natur mit der Kleinheit und Insignifikanz der Menschengeschichte kontrastiert.31 Der Begriff des Alters bei Stifter also ist grundsätzlich relativ, je nachdem ob anthropozentrische oder erdgeschichtliche Maßstäbe ins Spiel kommen, und nur von den Repräsentanten des menschlichen bzw. männlichen Alters ist in diesem Aufsatz die Rede. Grillparzers Spielmann seinerseits ist ein Opfer der Überschwemmungskatastrophe, die die Wiener Vorstädte in der historischen Realität im Jahr 1830 heimgesucht hat: „Der Anblick der Leopoldstadt war grauenhaft.“32 (Spielmann, S. 184) Der Erzähler bei seinem Besuch in der Vorstadt trifft eine schreckliche Verwüstung an mitsamt den grotesk verzerrten Leichen von verunglückten Bewohnern,

|| 31 Das Rieseln des Wassers in der weiblichen Domäne der Ziehmutter dagegen konnotiert die Zeitlosigkeit in der Idylle, die mit Victors Aufbruch hier in Bewegung gerät. Zur erhabenen Natur bei Stifter vgl. Häge: Dimensionen des Erhabenen. 32 Zur Novelle als Katastrophengenre vgl. Andreas Gailus: Form and Chance: The German Novella.

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die sich nicht mehr rechtzeitig retten konnten. Inmitten all dieser Schrecken stirbt der alte Spielmann einen friedlichen Betttod in der Dachkammer seines armseligen Quartiers. Und er stirbt nicht nur friedlich im Bett, sondern die Erzählung beschert ihm sogar einen seligen Tod. Wie es dazu kommt, erfährt der Rahmenerzähler von der Gärtnersfrau, die den vornehmen Besucher des alten Mannes sofort wiedererkennt. Der Alte ist nicht in der Sicherheit seiner Dachkammer geblieben, sondern er hat kräftig mitgewirkt an der Rettung von schreienden Kindern und sich für sein spontanes Handeln hier die Sporen eines guten Menschen im lessingschen Sinn verdient. Aber sein Urteilsvermögen ist auch in der Katastrophe nicht das Beste, und so will er noch ein paar Wertsachen seines Vermieters retten, als ihm das Wasser schon bis an die Brust reicht: Da hatte er sich wohl verkältet, und wie im ersten Augenblicke denn keine Hilfe zu haben war, griff er in die Phantasie und wurde immer schlechter, ob wir ihm gleich beistanden nach Möglichkeit und mehr dabei litten, als er selbst. Denn er musizierte in einem fort, mit der Stimme nämlich, und schlug den Takt und gab Lektionen. Als sich das Wasser ein wenig verlaufen hatte und wir den Bader holen konnten und den Geistlichen, richtete er sich plötzlich im Bette auf, wendete Kopf und Ohr seitwärts, als ob er in der Entfernung etwas gar Schönes hörte, lächelte, sank zurück und war tot. (Spielmann, S. 185)

Der Tod von Grillparzers Spielmann ist lächerlich und erhaben zugleich.33 Die Leser der Novelle wissen bereits aus dem Lebensbericht des alten Mannes, dass er „von Natur keine Stimme“ (Spielmann, S. 162) hat, was ihn in seiner Jugend auch zu dem verhassten Instrument greifen ließ, um das Lied des jungen Mädchens zu spielen, das ihm so gut gefällt und das er nicht nachsingen kann. Sein späteres musikalisches Phantasieren bezeichnet das Improvisieren ohne Noten, dem der alte Mann zu seinem eigenen Vergnügen huldigt, und das er sichtlich genießt, wie der Erzähler bei offenem Fenster Gelegenheit zu bemerken hat: „Kratzt der Alte einmal wieder“ (Spielmann, S. 154), brummt ein vorübergehender Passant, und der den musikalischen Bemühungen seines „Lieblings“ (Spielmann, S. 156) nicht eben gewogene Erzähler beschreibt die Art dieser genussvollen Wiederholung einzelner Töne und Intervalle. Der Begriff „höllisches Konzert“ (Spielmann, S. 156) ist für die Bemühungen des alten Mannes reserviert, die alten Meister zu spielen. Es ist ein intimes Bekenntnis, das der alte Mann mit sichtlicher Beschämung preisgibt, als er dem neugierigen Fremden auf der Straße erklärt, warum er auf die Einnahmen des Festes verzichtet habe: Sein Abend gehöre nicht „den lärmenden Leute[n]“, sondern „mir und meiner armen Kunst“. (Spielmann,

|| 33 Vgl. Swales: “As ashamed of the story as I have written it myself…”: Reflections on the Narrator. − − In: Bernd (ed.): Grillparzer’s ‘Der arme Spielmannʼ, S. 66−78.

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S. 152) Der künstlerischen Berufung als romantischer Künstler huldigt er mit seinem freien Spiel, nur dass diese Berufung in der Novelle entschieden in Zweifel steht.34 Der halluzinierende Sterbende bedarf nicht mehr des Instruments, um Barbaras Lied noch einmal zu hören in dieser letzten orphischen Wendung des Kopfes.35 Es hat dem Vereinsamten in seiner Jugend schon das Leben gerettet; hier lässt es ihn selig sterben, während die professionellen Helfer untätig daneben stehen. Grillparzers Spielmann wird betrauert von der robusten Fleischermeisterin, die sein Begräbnis organisiert und dabei so wenig gefühlvoll erscheint. Das Anliegen des Erzählers, die Geige des alten Mannes kaufen zu wollen, um seiner „psychologischen Neugierde“ (Spielmann, S. 186) Genüge tun und die Reaktionen der Familie zu testen, provoziert ihre erbitterte Abwehr und die emotionale Klimax im Bild der ungehemmten Tränenströme, mit denen die Novelle schließt: „Mein letzter Blick traf die Frau. Sie hatte sich umgewendet, und die Tränen liefen ihr stromweise über die Backen.“ (Spielmann, S. 186) Diesem Affektausbruch der Jugendgeliebten des alten Mannes hat der eingangs so eloquente Erzähler nichts mehr entgegenzusetzen – und er verstummt, denn die heftige weibliche Reaktion ist kein Rohmaterial für seine Kunst. Jakobs „alte vielzersprungene Violine“ (Spielmann, S. 149) befindet sich neben einem Spiegel, und gegenüber ist ein Kruzifix. Barbara nimmt sie auf das Anliegen des Erzählers hin empört von der Wand und versperrt sie in einer Schublade. Dem Symbolcharakter des ästhetischen Arrangements wurde viel interpretative Aufmerksamkeit geschenkt; fast wichtiger noch erscheint mir die Tatsache seiner Demontage. Jakobs Geige ist dem Fleischersohn namens Jakob bestimmt, dem der alte Mann Geigenlektionen erteilte, keinem beliebigen Käufer. Durch die possessive Geste wird das materiell wertlose Kunstinstrument zu einem sentimentalen Familienerbstück. Man kann in ihr einen auktorialen Fingerzeig auf das Ende der Kunstperiode und die problematische Alternative von Kitsch und Kommerz sehen;36 ich sehe die Bedeutung der Geste vor allem darin, dass der bürgerliche Absteiger hier post mortem zum Teil einer neuen, kleinbürgerlichen Familie wird, dessen einziges Erbe (s)einem Sohn zuteilwerden kann.37 Es sind Nachkommenschaften der eigenen Art, die die beiden einsamen Alten bei Stifter und Grillparzer begründen. || 34 Zu den interessanten musikästhetischen Lektüren der Erzählung zählen Birrell: Time, Timelessness; Hoffmann: Die Kakophonie des Absoluten; Barbu: The Artist-Hermit in Search of a Community und Holmes: Kann Jakob Noten lesen? 35 Zur Anspielung auf Orpheus vgl. Birrell: Time, Timelessness. 36 Vgl. die These bei Minden: Grillparzer: Der arme Spielmann. 37 Nicht alle Künstlersöhne aber wollen diese Erbschaft auch antreten. Grillparzers SpielmannNovelle sei eine sentimentale Schnulze und ihre Titelfigur, so wie ihr Verfasser, ein Versager par

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Der Neologismus der Stadteinsamkeit, wie ich ihn hier verwende, in Analogie zu dem evokativen Begriff der romantischen Waldeinsamkeit,38 bezeichnet die auf Dauer gestellte städtische Anonymität von Fremden unter Fremden bzw. das Alleinsein unter vielen, das seine positiven oder negativen Bedeutungen erst aus dem jeweiligen situativen Kontext gewinnt. Die Frage ist, wie der Einzelne unter den vielen überhaupt die Aufmerksamkeit von anderen in seiner städtischen Umgebung gewinnt. Grillparzer hat diesen Augenblick genau gestaltet. Die Rollenfigur des gebildeten Dramatikers, der sich alljährlich mit „anthropologischem Heißhunger“ (Spielmann, S. 150) zum Brigittenkirchtag in die Vorstadt begibt, scheint letztlich wie prädestiniert für neue Entdeckungen, denn dazu ist er ja da. Und er wird auch bald fündig in der Begegnung mit dem ungewöhnlichen Alten, der zunächst wie ein gefundenes Fressen erscheint, sich in der Folge aber als unverdauliches Material für seine Kunst erweisen wird. Denn der ist ein Außenseiter selbst unter dem musizierenden Lumpenproletariat, das sich am Damm zwischen Augarten und Brigittenau aufgestellt hat, um von der guten Laune der Festbesucher zu profitieren.39 In dieser Groteskengalerie des menschlichen Elends – „eine Harfenspielerin mit widerlich starrenden Augen“, ein „alter invalider Stelzfuß“; „ein lahmer verwachsener Knabe“ – sticht der alte „leicht siebzigjährige“ (Spielmann, S. 149) Bettelmusikant durch die ungeheure Selbstversunkenheit in sein unbeholfenes Spiel und die inkongruenten Zeichen der Bürgerlichkeit in seinem Habitus hervor (Kleidung, Reinlichkeit, Latein, das Spiel nach Noten). „Gerade das Ungewöhnliche dieser Ausrüstung hatte meine Aufmerksamkeit auf ihn gezogen“ (Spielmann, S. 150), vermerkt der Erzähler mit Blick auf das Notenpult des alten Mannes, das viel eher für ein bürgerliches Hauskonzert gemacht scheint als für die Straße, und so wie die gesamte Darbietung des alten Mannes den Spott der Vorbeigehenden provoziert.40 Man lacht ihn aus und sein Hut bleibt leer. Der alte Musiker jedoch verlässt mit „ungetrübter Heiterkeit“ (Spielmann, S. 150) das fröhliche Fest, das soeben beginnt. Das ist die weitere Merkwürdigkeit an diesem Außenseiter unter den Außenseitern in Grillparzers Novelle, die die Neugierde des Erzählers weckt.

|| excellence, schreibt Irvings angehender Schriftsteller Garp, der mit einem so problematischen Künstlervater nichts anfangen kann. Zu diesem komischen Klassiker-Verriss vgl. meinen Essay: Autorschaft und Interieur. 38 Vgl. Stefan Nienhaus: „Waldeinsamkeit“: Zur Vieldeutigkeit von Tiecks erfolgreichem Neologismus. – In: Pape (Hrsg.): Raumkonfigurationen in der Romantik, S. 153–160. 39 Die Marginalitätsproblematik der Figur als Krise der scheiternden sozialen Distinktionen erörtert Byram: German Realism’s Proximal Others. 40 Zur Diskussion dieser Begegnung vgl. auch Holmes: Kann Jakob Noten lesen?

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Feste sind, wie Odo Marquard dargelegt hat, als Moratorien des Alltags zu betrachten.41 Zum festlichen Ort und zur festlichen Zeit gehört als drittes Element noch die Heiterkeit des Festes, was zunächst nichts anderes meint als das, was das Licht und die Luft eines strahlend klaren Tages so besonders anziehend macht und sich als meteorologische Metapher auf die fröhliche Gestimmtheit der Seele übertragen lässt. Heiterkeit ist, mit Harald Weinrich gesprochen, vor aller Kunstphilosophie in erster Linie ein „Schönwetterwort“.42 Grillparzers Spielmann-Novelle beginnt in der sommerlichen Schönwetterzeit „nach dem Vollmonde im Monat Juli“ (Spielmann, S. 146) und sie endet in einer Katastrophenzeit, die die metaphorische Bedrohlichkeit der Festmasse in die reale Naturkatastrophe transformiert. Sein Spielmann wiederum ist ein Einsamer, der nicht an seiner eigenen Vereinsamung leidet – ganz im Gegenteil, in seiner fröhlichen Ausgeglichenheit hier am Beginn der Novelle verkörpert er geradezu die Maxime von der Heiterkeit der klassischen Kunst, der sein eigenwilliges Bemühen um die Kunst der alten Meister nicht gerecht zu werden vermag, sowie die Festlichkeit des Festes, an dem er nicht teilnehmen will.43 Wie also steht es um Grillparzers armen Spielmann? Er ist fröhlich, wo er enttäuscht sein sollte, der Spott seiner Umgebung tangiert ihn nicht, und er stirbt in einer seligen Verzückung mitten in der Katastrophe. Das Pendant dazu wäre Aschenbachs Strandtod am Lido, nicht an der Cholera in einer grausamen Verrenkung irgendwo in der Lagune von Venedig. Ist der alte Mann einfach weltfremd und naiv? Autistisch-regressiv und entsprechend limitiert in der Wahrnehmung seiner Umgebung? Sollen wir seine Verkennung oder Missachtung der Tatsachen mitleidig-herablassend belächeln oder als ein naives Über-den-Dingen-Stehen bewundern, das ihn vor Verletzungen schützt? Ist die Festlichkeit des Festes vielleicht gar in diesem Außenseiter verkörpert und nicht in der fröhlichen Festmasse, die sich zum „saturnalische[n] Fest“ (Spielmann, S. 146) versammelt hat? – Wie immer man die Figur auch beurteilen will, es bleibt der Befund, dass der autobiographische Binnenerzähler der bedrückenden Lebensgeschichte in Grillparzers Novelle keinerlei metaphysische Verzweiflung äußert, kein Hadern mit Gott und dem eigenen Schreckensvater, keine zornige Anklage gegen die väterliche Grausamkeit; keine Bitterkeit über den Verlust des Mädchens, um das er wirbt, so wie er umgekehrt aber auch keinerlei Einsicht in seine eigene Verantwortung am unglücklichen Verlauf seiner Lebens- und Liebesgeschichte zeigt. Er erzählt von der Faktizität des Geschehenen, mit deutlicher Rührung an einigen

|| 41 Marquard: Moratorium des Alltags. 42 Weinrich: Kleine Literaturgeschichte der Heiterkeit, S. 9. 43 Die räumlichen Aspekte seiner Isolation beschreibt Arens: Austria and Other Margins.

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Stellen, aber ansonsten als von einem völlig Vergangenen, das seinen jetzigen Zustand nicht weiter betrifft. In Abwesenheit einer Reaktion seines fiktiven Zuhörers, der nur die Qualitäten des mündlichen Vortrags kommentiert, nicht aber den Inhalt des Erzählten, bleibt es also den Lesern der Novelle überlassen, wie sehr sie sich von der Unglücksgeschichte des alten Mannes affizieren lassen wollen oder nicht. Eine Grundfrage in diesem Kontext ist, wie viel oder wie wenig an leidender Interiorität bzw. an psychischer Tiefe man dieser modernen Figuration des heiligen Narren bei Grillparzer hier zuschreiben soll. Seine Geschichte handelt von einer bestürzenden Grausamkeit und einer massiven sozialen Entfremdung, aber unser Held scheint es gar nicht so recht zu bemerken, wie übel man ihm mitspielt bzw. wie gut man es mit ihm meint, trotz aller weiblichen Ambivalenz, und welche Erwartungen man an ihn knüpft. Instruktiv für die Diagnose der Befindlichkeit des alten Mannes ist der Vergleich mit einer Paradefigur der romantischen Subjektivität, dem einsamen Wanderer in Schuberts Winterreise (1828) nach den Gedichten von Wilhelm Müller. Im zwölften Lied des Zyklus, betitelt „Einsamkeit“, das den Abschluss des ursprünglichen Zyklus bildete, beklagt das lyrische Subjekt der Winterreise das akute Gefühl seiner eigenen Verlassenheit, das umso stärker ist, als es sich nun nicht mehr in der feindlichen winterlichen Natur befindet, gegen die es sich heroisch behaupten müsste, sondern in der menschlichen Gesellschaft unter den fröhlichen anderen, die das Gefühl seiner eigenen Einsamkeit nur noch verschärfen, wie der ausgedehnte Naturvergleich deutlich macht: Wie eine trübe Wolke Durch heitre Lüfte geht, Wenn in der Tanne Wipfel Ein mattes Lüftchen weht: So zieh’ ich meine Straße Dahin mit trägem Fuß, Durch helles, frohes Leben, Einsam und ohne Gruß. Ach, daß die Luft so ruhig! Ach, daß die Welt so licht! Als noch die Stürme tobten, War ich so elend nicht.44

|| 44 Müller: Gedichte, S. 122.

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Man kann Schuberts Wanderer zurück in der Stadt platzieren, die er am Beginn des Zyklus verlassen hat, oder wie Bostridge eine imaginäre Rückkehr im Zeichen einer tiefen existentiellen Entfremdung vermuten. Das heißt die rudimentär gezeichnete unglückliche Liebesgeschichte überschreiten, die ihn hier nächtens davontreibt: „What might have been no more than a simple love story progressively deepens to become something more nuanced and complex, in terms of both social relations and metaphysical engagement.“45 Das Werther’sche ‚Mantra‘ des lyrischen Subjekts in Schuberts Inszenierung der männlichen Einsamkeit könnte lauten „Ich leide, also bin ich.“: Am Ende des Zyklus öffnet sich das Monodrama des klagenden Subjekts zur Begegnung mit einem Du in der Gestalt des armseligen Leiermanns. Er ist eine Figur des sozialen Elends und eine allegorische Verkörperung des Todes zugleich. Drüben hinter’m Dorfe Steht ein Leiermann Und mit starren Fingern Dreht er was er kann. Barfuß auf dem Eise Wankt er hin und her; Und sein kleiner Teller Bleibt ihm immer leer. Keiner mag ihn hören, Keiner sieht ihn an: Und die Hunde knurren, Um den alten Mann. Und er läßt es gehen Alles, wie es will, Dreht, und seine Leier Steht ihm nimmer still. Wunderlicher Alter, Soll ich mit Dir gehn? Willst zu meinen Liedern Deine Leier drehn?46

Wer sich den Dörfern nähert, den verbellen die Hunde. Das Hundegebell ist das deutlichste Zeichen der ländlichen Ausgrenzung, die die verdächtigen Fremden in gebührender Distanz zu halten weiß. Grillparzers Spielmann ist seinerseits || 45 Bostridge: Schubert’s Winter Journey, S. 271. 46 Müller: Gedichte, S. 123.

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völlig isoliert, aber er besitzt kein Gefühl seiner eigenen Einsamkeit und leidet nicht an ihr, und er ist umgekehrt auch keine so extreme soziale Elendsgestalt wie der unbeschuhte Leiermann in Schuberts Winterreise, der sicher noch nie ein verlorener Bürgersohn war. Der alte Jakob steht mitten zwischen diesen Polen einer selbst-reflexiven romantischen Interiorität und dem ländlichen Elend des itineranten Bettelmusikanten. Aber dieser heitere Alte, wie er uns am Beginn der Erzählung entgegen tritt, den der Spott und die Ablehnung seiner Umgebung so gar nicht zu treffen scheinen, hat Erfahrungen der äußersten psychischen Deprivation und einen rasanten sozialen Abstieg hinter sich. Als mittlerer Sohn eines einflussreichen Wiener Hofrats wird der langsame Schüler nach einer verpatzten öffentlichen Lateinprüfung zur persona non grata im väterlichen Haus erklärt: „Von diesem Tage sprach er [der Vater] kein Wort mehr mit mir. Seine Befehle kamen mir durch die Hausgenossen zu.“ (Spielmann, S. 160) Und „die Mutter lebte seit lange nicht mehr“ (Spielmann, S. 161), wie in einem Nebensatz zu erfahren ist. Er wird Abschreiber in einer Kanzlei und in ein Hinterzimmer des Hauses verbannt, bis er schließlich auch von dort vertrieben wird und ein Zimmer in der Vorstadt beziehen muss. Im väterlichen Haus lebt er bereits in kompletter Isolation, anfangs zwar noch am Familientisch essend, wo aber niemand „ein Wort an mich richtete.“47 (Spielmann, S. 161) Später wird der Familientisch überhaupt aufgelöst und der Sohn bekommt Kostgeld für ein öffentliches Speisehaus, aber die Abende muss er auf Befehl des Vaters weiterhin zuhause in seinem Zimmer verbringen: „Da saß ich denn, und zwar, meiner schon damals angegriffenen Augen halber, in der Dämmerung ohne Licht. Ich dachte auf das und jenes und war nicht traurig und nicht froh.“ (Spielmann, S. 161) Aus der radikalen Vereinzelung und Apathie des regressiven psychischen Dämmerzustandes erlöst den Einsamen hier erst das Geschenk der Musik, nämlich Barbaras Lied, ein einfacher Gassenhauer, im Innern des Hofes und im Innern der Backstube gesungen, den er selbst zu reproduzieren sucht. Und dazu greift er zu dem Instrument, das ihm aufgrund seiner qualvollen kindlichen Musikstunden bis zu dem Zeitpunkt zutiefst zuwider war. Nichts in der ganzen Geschichte des alten Mannes ist rückblickend so negativ besetzt wie die Geige, das Instrument seiner „Folter“ (Spielmann, S. 159) während der kindlichen Musikstunden, nachdem man ihm das Improvisieren ohne Noten als „Ohrfolter“ (Spielmann, S. 159) für andere verwiesen hat: „Ich habe zeitlebens nichts

|| 47 Die autobiographische Dimension der Erzählung erörtert Mauser: Franz Grillparzer „Der arme Spielmann“. Zur kindlichen Einsamkeit in Grillparzers Selbstbiographie vgl. Prutti: Unglück und Zerstreuung.

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und niemand so gehaßt, wie ich damals die Geige haßte.“ 48 (Spielmann, S. 159) Jetzt ist sie das Instrument seiner psychischen Rettung: Als ich nun mit dem Bogen über die Saiten fuhr, Herr, da war es, als ob Gottes Finger mich angerührt hätte. Der Ton drang in mein Inneres hinein und aus dem Innern wieder heraus. Die Luft um mich war wie geschwängert mit Trunkenheit. Das Lied unten im Hofe und die Töne von meinen Fingern an mein Ohr, Mitbewohner meiner Einsamkeit. (Spielmann, S. 162)

Es handelt sich um den „Umschlag aus dem Unglück ins Glück“, in Peter von Matts geglückter Beschreibung des glücklichen Augenblicks, der „nur vom Unglück her“ verstanden werden kann, „das ihm vorangeht.“49 Der mütterlich konnotierte Klangkörper verleiht dem Stimmlosen hier eine Stimme, mit der er zu erzeugen sucht, was ihm als radikal vereinsamtes Kind ohne jede mütterliche oder väterliche Zuwendung vorenthalten blieb. Mit ihr produziert er die auratische Klanghülle, die ihn später in seinen musikalischen Phantasien umgibt. Sie ist zugleich das, was ihn auch weiterhin von den anderen Menschen trennt. So wie die religiösen Einsiedler nicht allein sind, sondern mit Gott, so ist auch Grillparzers improvisierender Spielmann nicht allein, sondern in der Präsenz seiner Musik, die ihm Transzendenz und Sinnlichkeit verheißt, und eine Rettung vor dem sozialen Tod, den er bereits gestorben ist. Sein lebenslanges Geigenspiel ist eine Form der fortgesetzten Selbstdisziplinierung, die dem allzu strengen Vater in den Übungen der alten Meister noch immer erfolglos Genüge zu tun sucht und eine gelungene Form der musikalischen Selbsttherapie – und das vor aller öffentlichen musikalischen Praxis, die einem zahlenden Wiener Straßenpublikum gilt. Statt des Wanderers klagt bei Grillparzer die Geige, die dem Einsamen eine Stimme und ein rudimentäres Gefühl seiner selbst beschert. Die Sozialisationsgeschichte des jungen Hofratssohns in Grillparzers Novelle ist die Ätiologie einer brutalen Subjektverkümmerung. Auch bei dem begeisterten Spielmann-Leser Franz Kafka richtet niemand in der Familie Samsa ein Wort an den verwandelten Gregor, bis seine Schwester Grete ihn zornig bedroht, als er sich gegen das Ausräumen seines Zimmers wehrt. Das narrative Experiment in Kafkas Verwandlung radikalisiert das innere Exil des verlorenen Sohnes, indem es ihn auch seiner menschlichen Gestalt und Stimme verlustig gehen lässt. Für

|| 48 Der Hass des Sohnes ist reserviert für die tote Mutter in Gestalt des gehassten Instruments, während ihn der Tod des grausamen Vaters zutiefst bestürzt, und bei dem er sich sogar noch entschuldigen will. Grillparzers Selbstbiographie schildert die Qualen des jungen Grillparzer beim gemeinsamen Musizieren mit der Mutter. 49 Von Matt: Sieben Küsse, S. 129.

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Gregor Samsa ist es der erlösende Klang der schwesterlichen Geige, in dem sich Transzendenz und Sinnlichkeit unwiderstehlich verknüpfen, aber im Gegensatz zu Grillparzers Jakob besitzt er nicht die rettenden Möglichkeiten zur musikalischen Reproduktion und als gänzlich wehrlose Kreatur kann er seinen sozialen Tod nicht überleben.50 Ursula Mahlendorf hat eine anregende psychoanalytische Lektüre der Erzählung vorgelegt, wonach die extreme äußere Lage des Spielmanns mit dem psychischen Defensivmechanismus eines inneren Abwehr- und Verweigerungsverhaltens einhergeht, wozu auch die Musikausübung des Alten zu zählen ist – ihrer These zufolge also nicht Kunst, sondern Teil einer komplexen Pathologie: „Everything in the fiddler’s life and music fits into a very tight and cunningly well-knit magic circle of pathology. The fiddler’s art is not his fiddling but the artistry of his defenses against inner and outer reality.“51 Will man Jakobs gestörten Kontakt zur Umwelt etwas weniger negativ betrachten, dann ist sein Geigenspiel sowohl Selbstdisziplinierung als auch Selbsttherapie, die ihn lebenslänglich an seine lieblose Vergangenheit und an die normativen kulturellen Vorgaben des musikalischen Kanons bindet und parallel dazu sein psychisches Überleben sichert. Der musikalische Gottesdienst des alten Mannes hat vormoderne Züge und er gehorcht einem modernistischen Ethos der äußersten künstlerischen Anstrengung, das auch Aschenbachs „Heroismus [...] der Schwäche“52 in Thomas Manns Tod in Venedig bezeugt. Wie man die unterschiedlichen Facetten seines Spiels verstehen soll und wie beschränkt er in seinem eigenen Können ist, das steht seit langem zur Diskussion. Eine sperrige Figur bleibt Grillparzers armer Spielmann allemal, der selbst seinem zahlenden Straßenpublikum nur unbekömmliche Walzer serviert. Stifters und Grillparzers Novellen halten ihre Leser in Bezug auf ihre Protagonisten in der Schwebe zwischen Distanzierung und Empathie. Es gibt keine erhabene Einsamkeit der alten Männer in diesen beiden Geschichten, keine bemerkenswerte Interiorität und keine romantische Selbstreflexivität. Letztere weicht dem subjekttherapeutischen Selbstgenuss, und an die Stelle des klassisch gebildeten Sammlers tritt der wahllose Bewahrer der toten Dinge, in dessen Händen das lebende kulturelle Erbe bereits zum toten Zivilisationsmüll geworden ist. Problematische Figurationen einer prekären leib-seelischen Verkümmerung sind sie alle beide, aber der eine besitzt nichts als den magischen Schutz seiner Geige, der andere eine exzessive Fülle an Dingen, die ihn weder nährt noch schützt.

|| 50 Weiterführend zur Grillparzer-Rezeption bei Kafka vgl. Dusini: Die Ordnung des Lebens. 51 Mahlendorf: The Poor Fiddler. The Terror of Rejection, S. 120. 52 Mann: Tod in Venedig − Die Erzählungen, S. 504.

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Stifters Hagestolz ist ein ängstlicher, einsamer Greis mit transgressiven Gelüsten nach einer aggressiven und dominanten Männlichkeit – Adler und Fels möchte er sein und noch dazu ewig leben; eine allegorische Personifikation des männlichen Alters nach einem lieblosen Leben, dessen Beispiel als literarische Warnung dient, wie man nach Möglichkeit besser nicht alt werden soll. Aber der Menschenfeind spielt auch den Menschenfreund und ermöglicht eine gelingende Sozialität, an der er selbst nicht mehr teilhaben kann. Grillparzers Spielmann bleibt das unglückliche Bewusstsein von Stifters Hagestolz erspart, der sein verfehltes Leben und seine Alterseinsamkeit beklagt. Der alte Musiker in seiner Wiener städtischen Umgebung ist mutterseelenallein, aber dennoch nicht einsam, denn er hat seine Geige, auf der er „den lieben Gott“ (Spielmann, S. 163) spielen kann, wann immer er will, unabhängig von der Anerkennung und der affektiven Teilnahme seiner Umgebung. Die Musik ist das schützende Medium der fröhlichen Asozialität für den weltfremden Altersnarren in Grillparzers Novelle.

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258 | Literaturverzeichnis

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Autorenverzeichnis Dr. Antje Arnold, Universität zu Köln, Institut für deutsche Sprache und Literatur II, AlbertusMagnus-Platz, D–50923 Köln Prof. Dr. Barbara Becker-Cantarino, Professor Emerita, 6703 Ladera Norte, Austin, TX 78731, USA. Prof. Dr. Roswitha Burwick, Professor Emerita, 1011 Berkeley Ave., Claremont, CA 91711, USA Dr. Sheila Dickson, Senior Lecturer in German, University of Glasgow, School of Modern Languages and Cultures, Room 2, 10a, Hetherington Building, Bute Gardens, Glasgow G12 8RS, Great Britain Prof. Dr. Lothar Ehrlich, Rainer-Maria-Rilke-Str. 8, D–99423 Weimar Prof. Dr. Konrad Feilchenfeldt, Nikolaiplatz 6, D−80802 München PD Dr. Rolf Füllmann, Universität zu Köln, Institut für deutsche Sprache und Literatur II, Albertus-Magnus-Platz, D–50923 Köln Prof. Dr. Johannes Grave, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Seminar für Kunstgeschichte und Filmwissenschaft, Frommannsches Anwesen, Majorflügel, Fürstengraben 18, D−07743 Jena Prof. Dr. Oliver Jehle, Institut für Kunst- und Baugeschichte am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) – Die Forschungsuniversität in der Helmholtz-Gemeinschaft, Englerstraße 7, D−76131 Karlsruhe Prof. Dr. Jan O. Jost-Fritz, Assistant Professor of German, Department of Literature and Language, East Tennessee State University, Gilbreath Hall 214B, USA PD Dr. Norman Kasper, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Germanistisches Institut, D–06099 Halle an der Saale Prof. Dr. Stefan Nienhaus, Cattedra di Letteratura Tedesca, Dipartimento di Studi Umanistici, Università degli Studi di Salerno, Via Giovanni Paolo II, 84084 Fisciano (SA) Italien Prof. Dr. Dr. h.c. Walter Pape, Universität zu Köln, Institut für deutsche Sprache und Literatur I, Albertus-Magnus-Platz, D–50923 Köln Prof. Dr. Roger Paulin, Emeritus Schröder Professor of German, Faculty of Modern & Medieval Languages, Trinity College, Cambridge CB2 1TQ, Great Britain Prof. Dr. Hans-Georg Pott, Elsterweg 5, D-40789 Monheim am Rhein Prof. Dr. Brigitte Prutti, Department of Germanics, University of Washington, Denny Hall 360, Box 353130, Seattle, WA 98195-3130, USA Dr. Norbert Wichard, Krefelder Str. 21, D−52070 Aachen Prof. Dr. Christof Wingertszahn, Direktor des Goethe-Museums / Anton-und-Katharina-Kippenberg-Stiftung, Jacobistr. 2, D–40211 Düsseldorf