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German Pages 525 [526] Year 2016
Nina Birkner Herr und Knecht in der literarischen Diskussion seit der Aufklärung
Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte Begründet als
Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker von
Bernhard Ten Brink und Wilhelm Scherer
Herausgegeben von
Ernst Osterkamp und Werner Röcke
84 ( 318 )
De Gruyter
Herr und Knecht in der literarischen Diskussion seit der Aufklärung Figurationen interdependenter Herrschaft
von
Nina Birkner
De Gruyter
ISBN 978-3-11-044146-8 e-ISBN (PDF) 978-3-11-043694-5 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-043483-5 ISSN 0946-9419 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhaltsverzeichnis Einleitung ............................................................................................................. 1
I. Koalitionen zwischen Herr und Knecht ............................................ 19 1. Herr und Knecht als Koalitionspartner in Diderots Jacques der Fatalist und sein Herr (1778–1796) ................................. 21 1.1 Erzählstruktur und ironische Kommunikation ........................................ 23 1.2 Zur Handlungsebene ................................................................................ 28 1.2.1 Herrschaft vs. Knechtschaft oder: Die kontraktualistische Legitimation interdependenter Herrschaft ........... 29 1.2.2 Fatalismus vs. Willensfreiheit oder: Politik und Anthropologie ........ 48 1.3 Zur Darstellungsebene: Romaneskes vs. historisch wahres Schreiben oder: Die Erziehung des Lesers zur Mündigkeit ............................................ 64
2. Die dialektische Negation politischer Systeme in Darstellungen von Koalitionen zwischen Herr und Knecht (Hegel, Marx, Brecht, Braun) .......................................................................... 77
2.1 Hegel als Rezipient von Diderots Jacques der Fatalist? Zur sozialphilosophischen Deutung des Herr-Knecht-Kapitels in der Phänomenologie des Geistes .................................................................................. 79 2.2 Marx’ sozioökonomische Umdeutung der Hegel’schen Herr-Knecht-Dialektik ................................................................................... 85 2.3 Brechts dialektische Negation des Kapitalismus in Herr Puntila und sein Knecht Matti (1940/41) ..................................................... 94 2.4 Brauns dialektische Negation des realexistierenden Sozialismus im Hinze-Kunze-Roman (1985) ............................................................................. 111
II. Herr und Knecht als Gegner .............................................................. 135 1. Herr und Knecht als Gegner in Beaumarchais’ Der tolle Tag oder Die Hochzeit des Figaro (1778) .................. 137 1.1 Zur Handlungsebene: Figaro als Gegner des Grafen ............................. 141 1.1.1 Satirische Kritik an den Inhabern der politischen Macht ............... 141 1.1.2 Die utopische Vision von einem moralisch integren Herrscher .... 147
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Inhaltsverzeichnis
1.2 Zur Darstellungsebene: Herrschaftskritik und literarästhetische Innovation .................................... 156 1.2.1 Die Provokation der Komödie ....................................................... 156 1.2.2 Der Bruch mit den Gattungskonventionen .................................... 160 1.2.3 Wirkungsästhetik: Zwischen moralischer ‚Lektion‘ und höfischem divertissement ................. 169
2. Die Forderung nach Humanität und moralischer Integrität in Darstellungen widerständiger Dienerfiguren (Marivaux, Krüger, Hofmannsthal, Horváth) ............................................................................... 179 2.1 Die Überwindung des Despotismus durch Humanität und moralische Integrität in Marivaux’ Sklaveninsel (1725) und Krügers Candidaten (1748) ... 182 2.2 Die Überwindung der als krisenhaft erfahrenen Moderne durch Humanität und moralische Integrität in Hofmannsthals Der Unbestechliche (1923) ................................................................................. 194 2.3 Die Überwindung des Nationalsozialismus durch Humanität und moralische Integrität in Horváths Pompeji (1937) ......................................... 209
III. Grenzfälle: Aufhebung und Umkehrung von Herr- und Knechtschaft (Strindberg, Tolstoi) .................................... 225 1. Der Diener als Herr in Strindbergs Fräulein Julie (1888) ....................... 227 1.1 Konstitution und Determinanten des Subjekts bei Strindberg und Nietzsche ............................................................................. 231 1.2 Zur Handlungsebene: Die Figuren als Repräsentanten der Nietzsche’schen Herren- und Sklavenmoral ........................................... 239 1.2.1 Kristin als Repräsentantin des ,knechtischen Bewusstseins‘ .......... 239 1.2.2 Jean als Repräsentant des ‚Geistesaristokraten‘ .............................. 244 1.2.3 Julie als Repräsentantin der ‚degnerierten‘ Aristokratie .................. 253 1.3 Zur Darstellungsebene: Strindbergs Überwindung des Naturalismus ... 261
2. Der Herr als Diener in Tolstois Herr und Knecht (1895) ........................ 271 2.1 Tolstois utopische Vision der Aufhebung von Herr- und Knechtschaft ........................................................................ 272 2.2 Zur Handlungsebene: Herr und Knecht als Repräsentanten des ,wirklichen‘ und des ,wahren‘ Lebens .......................... 282 2.3 Zur Darstellungsebene: Herr und Knecht als Volkserzählung ................... 291
IV. Pflichttreue Knechte ........................................................................... 301 1. Zur Pflichttreue in Grillparzers Ein treuer Diener seines Herrn (1828) ............................................................... 303 1.1 Zur Handlungsebene: Dienen als Pflicht für Herr und Diener .............. 308
Inhaltsverzeichnis
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1.1.1 Dienen als Pflicht in der Moral- und Rechtslehre Immanuel Kants ...................................................................................... 309 1.1.2 Die staatlichen ‚Ordnungshüter‘: Herr und Knecht als Repräsentanten der Kant’schen Pflichtethik ........................................... 319 1.1.3 Die staatlichen ‚Ordnungsstörer‘: Die ‚Fremden‘ als Repräsentanten der Pflichtvergessenheit ................... 330 1.1.4 Tugend aus Neigung: Ernys Scheitern an der Pflichtethik ............. 336 1.1.5 Grillparzer als ‚konservativer Revolutionär‘? Die Pflichttreue als moralische Utopie und Bestätigung der staatlichen Ordnung ................. 341 1.2 Zur Darstellungsebene: Konservative Position und literarästhetische Affirmation ................................................................ 344
2. Die Idealisierung der Pflichttreue als Mittel zur Stabilisierung der bestehenden Ordnung (Gotthelf, Ebner-Eschenbach) ..................... 357 2.1 Die protestantische Pflichtethik als Mittel zur Stabilisierung des ‚Ganzen Hauses‘ in Gotthelfs Uli der Knecht (1841) ............................... 362 2.2 Mitleid und Pflichttreue als Mittel zur Stabilisierung der bestehenden politisch-sozialen Ordnung in Ebner-Eschenbachs Božena (1876) ............... 376
V. Freiwillige Knechte ................................................................................ 393 1. Freiwilliges Dienen als Rückzug in ein ‚inneres Exil‘ in Walsers Jakob von Gunten (1909) .................................................................... 395 1.1 Zur Darstellungsebene: Jakobs ironische Haltung zur Welt .................. 400 1.2 Zur Handlungsebene: Dienen als Flucht in ein ‚inneres Exil‘ ................ 408 1.2.1 Jakobs Ablehnung des ‚Willens zur Macht‘ .................................... 409 1.2.2 Jakobs (Selbst-)Erziehung zum Diener im Institut Benjamenta ..... 416 1.2.3 Erster Existenzentwurf: Die Dienerexistenz als Form der ‚Geistesaristokratie‘ ............................ 422 1.2.4 Zweiter Existenzentwurf: Die Koalition zwischen Herr und Knecht .............................................. 431
2. Freiwilliges Dienen als Rückzug in ein ‚inneres Exil‘ angesichts der als krisenhaft erfahrenen (modernen) Gegenwart in Lenz’ Die Augen eines Dieners (1964) ......................................................... 443 Schluss .............................................................................................................. 461 Literaturverzeichnis ........................................................................................ 469 Namensregister ................................................................................................513
Einleitung Herr-Knecht- oder Herr-Diener-Beziehungen werden seit der Antike in literarischen Texten thematisiert – dennoch liegt bis dato keine gattungsoder epochenübergreifende literaturwissenschaftliche Studie zum Thema vor. Das ist umso erstaunlicher, als die Darstellungen solcher Figurenpaare in der literarischen Diskussion seit der Aufklärung an Brisanz gewinnen. Zurückzuführen ist das darauf, dass das Gottesgnadentum im Verlauf des 18. Jahrhunderts als Begründung für monarchische Herrschaftsansprüche nicht mehr anerkannt wird. Wie Helmuth Plessner deutlich gemacht hat, wächst mit dem Schwinden der „Selbstverständlichkeit einer gegebenen staatlichen Ordnung […] das Interesse am Begriff der Macht“ (Plessner 2003: 264). Denn dann ist nicht länger unhinterfragbar, wer über wen Macht ausübt. Bestehende Herrschaftsverhältnisse zeigen sich als veränder-, kritisier- und beeinflussbar, und die Frage nach der Legitimität von Macht und Herrschaft wird zu einem gesellschaftlichen Thema, so im 18. Jahrhundert – bis heute. Das kommt etwa in den vertragstheoretischen Debatten der Aufklärung zum Ausdruck, in denen Gesellschaftsform und Staatsgewalt nicht mehr religiös, sondern eben kontraktualistisch legitimiert werden. Auch in den literarischen Texten des 18. Jahrhunderts werden Herr- und Knechtschaftsverhältnisse neu gedacht, was sich beispielsweise in dem Funktionswandel der Bedientenfiguren in der Komödie manifestiert. Sie werden zunehmend nicht mehr in der Commedia dell’arte-Tradition als niedrig-komische, auf die Befriedigung ihrer sinnlichen Bedürfnisse zielende Figuren vorgeführt, sondern moralisch aufgewertet und zu ebenbürtigen Freunden ihrer jeweiligen Herren stilisiert.1 Man denke beispielsweise an den treuen Diener Waitwell in Gotthold Ephraim Lessings Bürgerlichem Trauerspiel Miss Sara Sampson (1755), der an Saras Schicksal herzlichen Anteil nimmt und sie dazu bringt, die Vergebung ihres Vaters anzunehmen. Mitunter gipfeln die literarischen Herr-Knecht-Beziehungen in „nahezu gelungener Umkehrung“ (Frenzel 51999: 39) des Machtverhältnisses.
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Vgl. Sagarra 1992. Natürlich gibt es auch im empfindsamen Drama komische Figuren; sie sind aber nicht mehr unbedingt mit den Dienerfiguren kongruent.
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Einleitung
Angeführt sei etwa Denis Diderots pfiffiger Diener Jacques, der Fatalist, der mit seinem passiven und unselbstständigen Herrn durch Frankreich reist und ihm lebenspraktisch und intellektuell haushoch überlegen ist; oder Pierre Augustin Caron de Beaumarchais’ Figaro, dem es gelingt, sich gegen die Intrigen seines Herrn erfolgreich zur Wehr zu setzen und ihn dazu zu zwingen, sich bei ihm für sein Fehlverhalten zu entschuldigen. Mit literarischen Texten, in denen solche interdependenten Herrschaftsbeziehungen strukturbestimmendes Thema sind, in denen also der Herr im Handlungsverlauf anerkennen muss, dass er auf seinen ihm moralisch, intellektuell und/oder lebenspraktisch überlegenen Bedienten angewiesen ist, ohne dass das zu einer Aufhebung des bestehenden Herrschaftsverhältnisses führen würde, befasst sich die vorliegende Arbeit. Verfolgt wird ein doppeltes Ziel. Zum einen werden exemplarische Theater- und Prosatexte vom 18. bis ins 20. Jahrhundert aus ideengeschichtlicher Perspektive analysiert, um zu zeigen, dass und wie diese Texte an den herrschaftstheoretischen, primär sozialphilosophischen oder -ethischen Debatten ihrer Zeit partizipieren. Zum anderen werden vier paradigmatische, teilweise epochen- und gattungsübergreifende „Figurations-Modell[e]“ (Elias 1983: 55) interdependenter Herrschaft in der Literatur profiliert; und zwar erstens die dialektische Negation politischer Systeme in Darstellungen von Koalitionen zwischen Herr und Knecht; zweitens die Forderung nach Humanität und moralischer Integrität in (komödiantischen) Darstellungen widerständiger Dienerfiguren; drittens die Forderung nach Stabilisierung des bestehenden politischen Systems in Darstellungen pflichttreuer Diener; und viertens und letztens die freiwillige Unterwerfung des Dieners als Rückzug in ein ‚inneres Exil‘ angesichts der als krisenhaft erfahrenen (modernen) Gegenwart. Es sei darauf hingewiesen, dass diese Modelle keine universelle Gültigkeit beanspruchen. Ziel der Arbeit ist es vielmehr, das weite Feld der Herr-Knecht-Literatur erstmals zu vermessen und einen gattungs- und epochenübergreifenden Systematisierungsvorschlag zu machen, ausgehend von der Frage, ob bestimmten literarischen Figurationen interdependenter Herrschaft eine spezifische diskursive Funktion zukommt. Zur Konturierung der zu untersuchenden literarischen Herr-KnechtVerhältnisse und zur Präzisierung des Erkenntnisziels soll zunächst konkretisiert werden, was in dieser Arbeit unter dem Untertitel ‚Figurationen interdependenter Herrschaft‘ verstanden wird. Wie Norbert Elias aufgezeigt hat, ist Macht ein – wenn auch nicht immer spürbares – Strukturmerkmal aller menschlichen Beziehungen.
Einleitung
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Darunter versteht er ähnlich wie Max Weber die Fähigkeit eines Subjekts, das Handeln eines anderen „in sehr hohem Maße zu beeinflussen“ (Elias 112009: 84).2 Auch wenn das Machtgefälle zwischen zwei Personen sehr groß sein kann, sind die Möglichkeiten des einen, auf den anderen Einfluss zu nehmen, nicht unbegrenzt. Das illustriert Elias anhand eines ‚Zweipersonenspiels‘, das für ihn als Lehrmodell zur Beschreibung der Interaktion zweier Subjekte dient: Der Spieler B, relativ spielschwach, […] hat zugleich auch ein gewisses Maß von Macht über A. Denn ebenso wie sich B mit jedem seiner Züge nach dem vorangehenden Zuge von A richten muß, so muß sich auch A mit jedem seiner Züge nach dem vorangehenden Zuge von B richten. B’s Spielstärke mag geringer sein als die von A, aber sie ist nicht gleich null, sonst gäbe es kein Spiel. Menschen, die irgendein Spiel miteinander spielen, beeinflussen sich mit anderen Worten immer gegenseitig. Wenn man von der ‚Macht‘ spricht, die ein Spieler über den anderen besitzt, dann bezieht sich dieser Begriff also nicht auf etwas Absolutes, sondern auf den Unterschied – zu seinen Gunsten – zwischen seiner Spielstärke und der des anderen Spielers. (Elias 112009: 84)
Genauso wie die Spieler im Modell stehen laut Elias auch Herren und Sklaven (oder andere soziale Gruppen) in wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnissen, die von Elias als ‚Figurationen interdependenter Menschen‘ bezeichnet werden (vgl. Elias 1983: 55). Denn nicht „nur der Herr hat über den Sklaven Macht, sondern auch – je nach seiner Funktion für ihn – der Sklave über den Herrn“ (Elias 112009: 77).3 Dabei ist zu berücksichti-
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Wie Elias argumentiert auch Max Weber aus handlungs- bzw. akteursbezogener Perspektive. Er definiert den Begriff der Macht als „jede Chance“, „innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.“ (Weber 1972: 28) Wie Katharina Inhetveen hervorhebt, sind für Webers Machtdefinition vier Aspekte zentral. Erstens wird der Begriff auf soziale Beziehungen bezogen. Weber „fasst Macht als einen relationalen Begriff. Sie ist nicht Eigenschaft oder Besitz eines isoliert betrachteten Individuums, sondern kennzeichnet das Verhältnis zwischen Menschen“ (Inhetveen 2008: 253) – in dieser Arbeit das Verhältnis zwischen Herr und Knecht. Zweitens ist Macht als ‚Chance‘ – als Potential – zu begreifen. Die tatsächliche Durchsetzung des eigenen Willens ist nicht so entscheidend wie die Möglichkeit des Subjekts A, seinen Willen auch gegen das Widerstreben von Subjekt B durchsetzen zu können. Der Widerstand von B – und das ist der dritte Aspekt – ist möglich, „aber keine Bedingung dafür, dass Macht im Sinne Webers vorliegt. Mit der Formulierung ‚durchsetzen gegen‘ hebt die Machtdefinition allerdings den Aspekt des Konfliktiven – im Gegensatz zur bloßen Beeinflussung hervor.“ (Inhetveen 2008: 253) Viertens betont Weber mit der Formulierung ‚gleichviel worauf diese Chance beruht‘ die Allgegenwart und Vielfältigkeit von Machtbeziehungen. Vgl. dazu auch Elias 1983: 54. In der philosophischen und literaturwissenschaftlichen Debatte sind solche interdependenten Herrschaftsbeziehungen im Rekurs auf Georg Wilhelm Friedrich Hegel – dem „philosophische[n] Gewährsmann dieser Denkfigur“ (Krajewski 2012: 79) – häufig als dialektische Herr-Knecht-Beziehungen bezeichnet worden (zu Hegels Herr-Knecht-Dialektik vgl. I.2.1). In dieser Arbeit wird dagegen bewusst
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gen, dass Herr und Sklave nicht nur zueinander, sondern auch zu anderen Subjekten bzw. sozialen Gruppen in Beziehung stehen, von denen sie abhängig sind. Aus diesem Grund bezeichnet Elias wechselseitige Abhängigkeitsbeziehungen auch als ‚Interdependenzgeflechte‘ oder ‚Interdependenzketten‘. Was man dabei unter Figuration versteht, ist das sich wandelnde Muster, das die Spieler [bzw. die agierenden Menschen, N.B.] als Ganzes miteinander bilden […]. Die Interdependenz der Spieler, die Voraussetzung dafür, daß sie eine spezifische Figuration miteinander bilden, ist nicht nur ihre Interdependenz als Verbündete, sondern auch als Gegner (Elias 112009: 142).4
Bei Figurationen handelt es sich also um spezifische soziale Strukturen, die von Individuen hervorgebracht werden, die Art ihres Zusammenlebens bestimmen und die auf relativ kleine Gruppen genauso bezogen werden können wie auf „Gesellschaften, die Tausende oder Millionen interdependenter Menschen miteinander bilden“ (Elias 112009: 143). Im Anschluss an Elias wird der Begriff der Figuration in dieser Arbeit im doppelten, nämlich im literaturwissenschaftlichen und im figurationssoziologischen Sinn gebraucht. Er bezieht sich zum einen auf die Figurenkonstellation – auf das System der Figuren und ihrer Beziehungen im literarischen Text – und zum anderen auf die in den jeweiligen Texten thematisierte „Struktur der Interdependenzen“ (Elias 1983: 55), die das Verhältnis von Herr und Knecht prägt. Aus dieser figurationssoziologischen Perspektive lässt sich die Machtbeziehung zwischen dem Figurenpaar fassen, auch wenn es sich bei dem dargestellten wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis um eine Denkfigur handelt, es also keinen direkten Bezug zwischen dem sozialen und dem literarischen Phänomen gibt.
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von ‚Figurationen interdependenter Herrschaft‘ gesprochen – und zwar deshalb, weil nur wenige der in dieser Arbeit analysierten Texte auf das Hegel’sche Herr-Knecht-Modell rekurrieren und weil die Denkfigur der wechselseitigen Abhängigkeit von Herr und Knecht nicht von Hegel entwickelt worden ist. Elias plädiert deswegen für den Begriff der Figuration, weil er es möglich macht, die häufig anzutreffende gedankliche Unterscheidung zwischen Individuum und Gesellschaft aufzuheben. Denn die Gesellschaft ist laut Elias das von den Individuen gebildete Interdependenzgeflecht. „Die Tatsache, daß sich die Figurationen, die Menschen miteinander bilden, oft weit langsamer ändern als die Menschen, die sie jeweils bilden, und daß dementsprechend jüngere Menschen in die gleichen Positionen eintreten können, die ältere verlassen haben, kurzum, daß gleiche oder ähnliche Figurationen oft genug geraume Zeit hindurch von verschiedenen Individuen gebildet werden können, läßt es so erscheinen, als ob diese Figurationen eine Art von ‚Existenz‘ außerhalb von Individuen haben. Mit dieser Augentäuschung hängt der verfehlte Gebrauch der Begriffe ‚Gesellschaft‘ und ‚Individuum‘ zusammen, der es so erscheinen läßt, als ob es sich hier um zwei getrennte Gegenstände mit verschiedener Substanz handle“ (Elias 1983: 47).
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Genauso wie die Definition der Termini ‚Figuration‘ und ‚Interdependenz‘ ist es geboten, die Begriffe ‚Herr‘ und ‚Knecht‘ zu bestimmen, unterscheidet doch etwa Markus Krajewski in seiner Studie zur Mediengeschichte des Dieners aus begriffsgeschichtlicher Perspektive dezidiert zwischen den Soziotypen Sklave, Knecht, Diener, Lehrling (Geselle) und Gehilfe (Assistent). Wie Krajewski deutlich macht, befindet sich der Sklave in einem unfreiwilligen (totalen) Abhängigkeitsverhältnis. Sein „juridischer Status“ ist dem „des Viehs oder der Dinge gleichgestellt“ (Krajewski 2010: 46); er besitzt keinerlei individuelle Persönlichkeitsrechte und ist seinem Herrn somit absolut unterworfen. Genauso wie der Sklavendienst ist auch die Knechtschaft zeitlich unbegrenzt – allerdings besitzt der Knecht größere Freiheiten als der ‚bedingungslos unfreie‘ Sklave. Das unterscheidet beide Soziotypen wiederum vom Diener, der sich freiwillig in ein „Vertragsverhältnis“ von nur „begrenzter Dauer“ begibt und gehobenere Dienste leistet. (Krajewski 2010: 47) Auch der Lehrling (Geselle) geht aus freien Stücken ein vertraglich geregeltes Beschäftigungsverhältnis ein, in dem er mitunter ähnliche Tätigkeiten verrichtet wie der Diener. Allerdings bietet seine „Laufbahn […] größere Entwicklungsmöglichkeiten“ (Krajewski 2010: 50), so dass er häufig bessere soziale Aufstiegschancen besitzt. Im Gegensatz zu den genannten Soziotypen lässt sich der Gehilfe (Assistent) nicht mit den „üblichen […] rechtlichen Kategorien wie etwa der Zugehörigkeit zum Gesinde“ (Krajewski 2010: 52) beschreiben, weil er von der Herrschaft als gleichrangiges Gegenüber anerkannt werden kann. Er hat ähnliche Verpflichtungen wie der Diener, unterscheidet sich von ihm aber dadurch, dass ihm „ein höheres Maß an Freiwilligkeit und zwangloser Unterstützung zukommt, während sich der Diener durch ein größeres Maß an Devotion und Handlungsimpulsen aus Pflichtbewußtsein auszeichnet.“ (Krajewski 2010: 52) Wie Krajewski selbst einräumt, sind die „Grenzen zwischen den ohnehin schon amorphen Kategorien“ (Krajewski 2010: 52) fließend, so dass sie nicht trennscharf voneinander unterschieden werden können. Alle Soziotypen kennzeichnet, dass sie einem Herrn unterstehen und die Pflicht haben, seinen Befehlen Folge zu leisten. Dieses scheinbar unilaterale Abhängigkeitsverhältnis wird laut Krajewski allerdings dadurch aufgelöst – und hier folgt er Elias, ohne sich auf ihn zu berufen –, dass die Herren und Bedienten Teil einer sozialen Gemeinschaft und somit in weitreichendere soziale Interdependenzketten verwoben sind. Die Beziehung zwischen Herr und Diener erweist sich so bei näherem Hinsehen als dynamisches Geflecht […], in dem es schwieriger auszumachen ist, wer eigentlich wen beherrscht. Eine soziotechnische Grundkonstante abendländischer Gesellschaftsformationen besteht in der Einsicht, daß niemandem diese Tätigkeit erspart bleibt: alle dienen. […] [S]elbst der Regent bleibt immer noch Gott oder dessen
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päpstlichem Stellvertreter auf Erden zu Gehorsam verpflichtet. (Krajewski 2010: 67)
Aus diesem Grund ist das Verhältnis von Herr und Bedientem „weniger von starren Zuordnungen als von ständigem Positionswechsel, angelegentlichen Stabilisierungen, abrupten Auflösungen, andauerndem Aushandeln oder regelmäßigen Neujustierungen“ (Krajewski 2010: 68) geprägt. Im Unterschied zu Krajewski wird in dieser Arbeit nicht zwischen den fünf Soziotypen Sklave, Knecht, Diener, Lehrling und Gehilfe unterschieden. Das hat nicht nur den Grund, dass sich die verschiedenen Bezeichnungen unter ästhetischen Prämissen nicht präzise voneinander abgrenzen lassen, sondern ist auch der später noch zu konkretisierenden These geschuldet, dass es sich bei dem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis von Herr und Bedientem in der Literatur primär um eine sozialphilosophische oder sozialethische Denkfigur handelt. Die Figuren sind also nicht primär als Vertreter konkreter sozialer Stände konzipiert, sondern dienen der Veranschaulichung größerer ideengeschichtlicher Probleme. Vor diesem Hintergrund erscheint mir die Differenzierung zwischen den genannten fünf Soziotypen nicht zielführend zu sein. Entscheidend ist nicht, ob die Figuren „als Unterlinge, Domestiken, Lakaien, Subalterne, Bediente oder schlicht nur als Diener bezeichnet werden“ (Krajewski 2010: 59), sondern dass sie einen Herrn haben, dem sie zu dienen verpflichtet sind. In der Arbeit werden also ausschließlich Herrschaftsbeziehungen fokussiert. Darunter werden mit Max Weber institutionalisierte Gefüge der Über- und Unterordnung verstanden, in denen der Herr „die Chance“ hat, „für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden“ (Weber 1972: 28). Herr und Knecht besitzen trotz aller ‚Interdependenzgeflechte‘ unterschiedliche Handlungsspielräume. Während der Herrschende „relative Autonomie“ besitzt, ist der Beherrschte durch „relative Abhängigkeit“ charakterisiert. (Wagner 1980: 30) Dabei ergeben sich aus der moralischen, intellektuellen oder lebenspraktischen Überlegenheit des Subalternen Machtproben, die sich gewöhnlich um solche Probleme drehen wie: Wer braucht wen mehr? Wessen Funktion für den anderen, wessen Angewiesenheit auf den anderen ist größer oder kleiner? […] Wer hat größere Machtchancen und kann dementsprechend den andern in höherem Maße steuern, die Funktionen des anderen herabmindern oder ihn gar seiner Funktion berauben? (Elias 112009: 82)
Wenn sich die Forschung mit Dienerfiguren oder sehr viel seltener mit interdependenten Abhängigkeitsbeziehungen zwischen Herr und Knecht auseinandergesetzt hat, hat sie sich meist auf eine Gattung – insbesondere
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die Komödie –, auf ein Jahrhundert bzw. eine literarische Strömung oder das Werk eines bestimmten Autors konzentriert. 5 Epochen- und genreübergreifende Studien zum Themenfeld lassen sich an einer Hand abzählen. Hier ist zunächst Krajewskis bereits erwähnte interdisziplinäre Arbeit zu nennen, die aus kulturgeschichtlicher und medientheoretischer Perspektive nach den Funktionen und der Wirkungsmacht der (Denk-)Figur des Dieners vom Barock bis in die Gegenwart fragt. Um die historische Entwicklung „von den Subalternen des Königs zu den elektronischen Servern und ihren Klienten im Virtuellen“ (Krajewski 2010: 29) in sieben systematisierenden Fallstudien rekonstruieren zu können, werden neben historischen Quellen, Gebrauchstexten, theoretischen Schriften und Archivalien auch literarische Texte analysiert – Herr-Knecht-Beziehungen werden dabei aber nicht in den Blick genommen. Ferner ist Daniel Hoffmanns sozial- und literaturgeschichtlicher Zeitschriftenbeitrag Von der Maske zur Attrappe (2002) anzuführen, in dem eine Entwicklungslinie der Dienergestalt in der Literatur seit der Aufklärung nachgezeichnet wird. Dabei wird die These vertreten, dass in der Literatur des 18. und frühen 19. Jahrhunderts häufig Dienerfiguren vorgeführt werden, „die entweder als freie Subjekte die Dienerrolle übernommen haben, oder sich in dieser Rolle zu freien Subjekten emanzipiert haben“ (Hoffmann 2002: 212). Das ändert sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts im Zuge soziostruktureller Modernisierungsprozesse, die von der Literatur reflektiert werden. Laut Hoffmann verringert sich vor allem durch die neuen Arbeitsplätze in Industrie und Staatsdienst die Zahl der Dienstboten. Die Zurückbleibenden bilden ein neues Dienstethos aus, eine ethisch begründete Treue zu ihren Herrn. Gegen die unpersönlichen Verhältnisse in der bürgerlichen Welt bieten sie den letzten Zufluchtsort personaler Beziehungen. (Hoffmann 2002: 212)
Im frühen 20. Jahrhundert fungiert die „Dienerrolle“ den Figuren dann – zumindest bei Robert Walser und Hermann Lenz – als „Versteck, als Nische, um in ihrer traditionellen Sozialordnung die andrängende Komplexität der Welt, aber auch ihre chaotische Unberechenbarkeit, zu bannen“, so Hoffmann. (Hoffmann 2002: 213) Ähnlich wie Krajewski interessiert auch er sich mehr für literarische Dienerfiguren als für wechselseitige Abhängigkeitsbeziehungen.
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Vgl. u. a. Bauer 1985, Boom 1979, Borchmeyer 1980, Buchal 1997, Franzbecker 1972, Hoffmann 1998, Hutier 1999, Klenke 1992, Koebner 1995, Rogers 1985, Rüsch 1983, Saggara 1989, Saggara 1987, Saggara 1985, Scott-Prelorentzos 1982, Spranger 1961, Wagner 1980, Wang 1999, Warning 1989, Wichert 1989.
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Das trennt beide von Hans Mayer und seinem immer noch einschlägigen, freilich marxistisch geprägten Aufsatz Herrschaft und Knechtschaft. Hegels Deutung, ihre literarischen Ursprünge und Folgen (1971). Wie Hoffmann sucht auch Mayer eine Entwicklungs- bzw. Rezeptionslinie literarischer HerrKnecht-Beziehungen zu skizzieren, die in seinen Augen ausgehend von Diderot über Georg Wilhelm Friedrich Hegel bis hin zu Hugo von Hofmannsthal, August Strindberg, Bertolt Brecht, Martin Walser, Hartmut Lange, Samuel Beckett und Peter Handke führt. Die Beiträge von Hoffmann und Mayer unterscheiden sich nicht zuletzt durch ihren methodischen Zugriff voneinander. Während Hoffmann aus literatur- und sozialgeschichtlicher Perspektive argumentiert, sucht Mayer die literarischen Texte zu Hegels Herr-Knecht-Modell in Bezug zu setzen. Diese beiden methodisch-theoretischen Ansätze kennzeichnen die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema. Bei den vorliegenden motivgeschichtlichen Arbeiten zum Diener handelt es sich meist entweder um sozialgeschichtlich ausgerichtete Untersuchungen, die davon ausgehen, dass die literarischen Texte die Probleme ihrer jeweiligen Entstehungszeit „aufgreifen und mit literaturspezifischen Gestaltungsmitteln verarbeiten“ (Hölzl 1999: 13), dabei aber auch Vorschläge zur Lösung bestehender Missstände machen und somit diskursprägend sein können;6 oder es handelt sich um primär ideengeschichtliche Arbeiten, die die interdependente Abhängigkeitsbeziehung zwischen Herr und Diener als Denkfigur begreifen,7 auch wenn die in den jeweiligen Texten präsentierten ‚Ideen‘ „historische Funktionen vor einem gegebenen Kontext und einer gegebenen Tradition“ (Werle 2007: 29) besitzen und somit einen Bezug zur Lebensrealität haben. Dieser methodische Zugriff ist deshalb gewinnbringend, weil das Figurenpaar – wie bereits angedeutet – schon in der Antike, spätestens aber im allegorischen Drama und Theater des Mittelalters metaphorisch für „die Beziehung zwischen Herrscher und Beherrschtem“ (Helmich 2009: 101, 102) verwendet und auch in der Frühen Neuzeit häufig „modellhaft eingesetzt“ (Rimpau/Burrichter 2009: 231) wird. Als paradigmatisches Beispiel lässt sich Miguel de Cervantes’ Roman Don Quijote (1605/1615) anführen. Davon ausgehend hat sich das Motiv des seinem Herrn überlegenen Dieners vor allem (aber nicht nur) in der Literatur der französischen Aufklärung durchgesetzt – zunächst in der Komödie u. a. bei Alain-René Lesage (Crispin, Rival de son Maître, 1707) oder Pierre Carlet de Marivaux (La Surprise de l’Amour, 1722; L’île des esclaves, 1725), später in Diderots philosophischem Roman Jacques der Fatalist
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Vgl. u. a. Hölzl 1999, Brandt 2000, Wagner 1980. Vgl. u. a. Boom 1979, Solbach 1987.
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und sein Herr (Jacques le fataliste et son maître, 1778-1796). In allen Fällen dient das Figurenpaar nicht nur als Modell zur Veranschaulichung interpersonaler hierarchischer Abhängigkeitsbeziehungen, sondern auch als „Denkfigur eines ausgetragenen Konflikts von Vernunft und Unvernunft“ (Rimpau/ Burrichter 2009: 231). Das lässt sich auf die von Aristoteles proklamierte und bis in die Frühe Neuzeit tradierte anthropologische Begründung von Herr- und Knechtschaft zurückführen. Laut dem Philosophen sind diejenigen Subjekte von Natur zum Knecht bestimmt […], welche die Vernunft nicht selbst als tätige Kraft besitzen, sondern nur die Möglichkeit haben, sie zu vernehmen. Sie sind ganz den sinnlichen Antrieben ihrer Begierden unterworfen, und ihnen kommt die unmittelbare körperliche Arbeit zu, durch welche die für den Lebensunterhalt notwendigen Güter bereitgestellt werden. (Rothe 1974: 1089)
Während der Herr vernunftgeleitet agiert, kann sich der Knecht nicht selbst beherrschen: Er folgt seinen Affekten und Trieben. In den literarischen Texten der frühen und noch mehr der späten Aufklärung wird diese aristotelische Begründung für Herr- und Knechtschaftsverhältnisse dadurch relativiert, dass sich der Subalterne im Unterschied zu seinem Herrn durch Vernunft auszeichnet (vgl. dazu auch I.1). Bis ins 20. Jahrhundert hinein bleibt die Idee interdependenter Herrschaft Gegenstand der literarischen Reflexion. Wie in der Literatur sind asymmetrische interpersonale Beziehungen auch in der Philosophie und Sozialtheorie mit dem Topos von Herr und Knecht bzw. Herr und Sklave „kodiert und dekodiert“ (Bluhm 2004: 61) worden – man denke an die vertragstheoretischen Schriften von Thomas Hobbes und Jean-Jacques Rousseau, Friedrich Nietzsches Ausführungen zur Herren- und ‚Sklavenmoral und natürlich an Hegels Herr-KnechtKapitel in der Phänomenologie des Geistes (1807);8 außerdem an die kaum zu überblickenden Interpretationen und Transformationen der Hegel’schen Herr-Knecht-Dialektik u. a. bei Karl Marx, Alexandre Kojève, Georges Bataille, Jacques Lacan, Jean-Paul Sartre, Frantz Fanon, Simone de Beauvoir, Gilles Deleuze oder Judith Butler, um nur einige wenige prominente Vertreter zu nennen.9 Auch in dieser Arbeit wird die These vertreten, dass es sich bei literarischen Darstellungen interdependenter Herrschaft primär um eine Denkfigur handelt, bei der kein direkter Zusammenhang zwischen dem literarischen und dem sozialen Phänomen besteht, auch wenn die anhand des Figurenpaars exemplifizierten Ideen nicht nur in einem „intellektuellen
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Vgl. dazu u. a. Bluhm 2004, Rothe 174. Vgl. dazu Kuch 2012: 171–222, hier 172.
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Diskussionszusammenhang“ stehen, sondern oft auch einen „,realweltlichen‘ Bezug“ (Werle 2009: 259) besitzen. Die literarischen Texte werden also mit Rainer Warning als ‚inszenierte Diskurse‘ (vgl. Warning 1983) begriffen, die mit literarischen Mitteln eine Debatte über Macht und Herrschaft auf interpersonaler, mitunter auch auf intrapersonaler Ebene zu eröffnen suchen. Als wahrhaft souverän gilt häufig nämlich nur derjenige Herr oder Knecht, dem es gelingt, seine ihn ‚knechtenden‘ leiblichen Begierden zu negieren und als ‚Herr seiner selbst‘ zu agieren. Dabei wird zu zeigen sein, dass die hier analysierten literarischen Texte auffällig oft philosophische Gehalte transportieren, wenn auch in spezifisch vermittelter Form. Das scheint nicht weiter bemerkenswert zu sein, obwohl zu konstatieren ist, dass die Forschung die hier im Fokus stehenden Texte bislang äußerst selten im Hinblick auf ihre sozialphilosophischen bzw. -ethischen Implikationen untersucht hat.10 Das hängt damit zusammen, dass Herr und Knecht häufig als Vertreter konkreter sozialer Stände gewertet worden sind, so dass die in den Texten verhandelten ‚Ideen‘ nicht in den Blick geraten sind. Nun ist aber die „Geschichte der Literatur […] stets auch die Geschichte der Auseinandersetzung mit philosophischen Thesen, Fragen und Systemen gewesen“ (Schmitz-Emans 2007a: 402). Allerdings lässt sich in einem literarischen Text ohne Begrenzung der Kontextbezüge und ohne „zusätzliche Anforderungen an die Fähigkeit eines Textes zur Exemplifikation […] so viel Philosophie entdecken, wie es einem gefällt“ (Danneberg 1996: 53). Das hat dazu geführt, dass literarische HerrKnecht-Beziehungen, wenn sie denn aus ideengeschichtlicher Perspektive untersucht worden sind, häufig zu Hegels Phänomenologie des Geistes in Bezug gesetzt worden sind, obwohl nicht alle Autoren das Hegel’sche Modell rezipiert haben.11 Wenn in dieser Arbeit nach „dem philosophischen Gehalt einzelner literarischer Werke“ (Schmitz-Emans 2007b: 439) gefragt wird, dann werden nur solche theoretischen Konzepte berücksichtigt, die nachweislich von den jeweiligen Literaten zur Kenntnis genommen worden sind.12 Diese Einschränkung der Kontextbezüge ist dem textorientiert intentionalistischen Ansatz dieser Arbeit geschuldet.13 Wie Dirk Werle in seinem literaturtheoretischen Beitrag Frage und Antwort, Problem und Lösung erklärt, besteht ein „wesentlicher Reiz von
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Eine Ausnahme ist freilich Diderots philosophischer Roman Jacques der Fatalist und sein Herr. Vgl. exemplarisch den nichtsdestotrotz instruktiven Beitrag von Andreas Solbach (1987). Es sei darauf hingewiesen, dass die philosophischen Texte mit Hilfe eines literaturwissenschaftlichen Instrumentariums analysiert werden, um die literarischen Texte in ihrem historischen Kontext verstehen zu können. Zum textorientierten Intentionalismus vgl. Kindt 2008: 24f.
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Literatur“ darin, „daß in ihr Inhalte verschiedenster Art thematisiert werden, insbesondere aber: Ideen“. (Werle 2009: 256) Dem ist nichts hinzuzufügen. Davon ausgehend konstatiert Werle, dass die Rekonstruktion der in literarischen Texten impliziten Ideen ein Ziel sei, das eher ihren ‚Inhalt‘ als ihre ‚Form‘ betreffe. Aus diesem Grund sei es legitim, sich bei der Textanalyse primär auf die Handlungsebene zu konzentrieren, auch wenn das „Ideal des Umgangs mit Literatur darin gesehen“ werde, Handlungsund Darstellungsebene „in ihrer engen Verschränkung“ zu betrachten. (Werle 2009: 255) Die „ideale Vermittlung der beiden Aspekte“ sei aber ohnehin „ein ziemlich leeres Postulat“. (Werle 2009: 256) Auch wenn sich das literaturwissenschaftliche Ideal, bei der Textanalyse die Korrelationen zwischen Inhalt und Form zu berücksichtigen, nicht immer realisieren lässt, wird in dieser Arbeit daran festgehalten. Neben der Handlungsebene wird immer auch die Darstellungsebene analysiert. Warum? Erstens lassen sich die in den jeweiligen Texten proklamierten Handlungsnormen und somit die ihnen inhärenten Ideen nur unter Berücksichtigung der zeithistorischen und gattungsspezifischen Darstellungskonventionen erschließen. Schließlich ist der Auftritt eines widerständigen Dieners in einer auf die Commedia dell’arte-Tradition rekurrierenden Komödie des frühen 18. Jahrhunderts anders zu bewerten als der eines rebellierenden (Staats-)Dieners im republikanischen Trauerspiel. Zweitens wird von Korrelationen zwischen literarischen Darstellungsfunktionen und -strategien ausgegangen. Die inhaltlichen Deutungsthesen lassen sich durch die Analyse der Darstellungsebene verifizieren. Darüber hinaus ergeben sich bestimmte Ideen bzw. Problemlösungsvorschläge auch erst aus der Wechselbeziehung zwischen Form und Inhalt. Drittens kann im Hinblick auf die in dieser Arbeit zu konturierenden Modelle interdependenter Herrschaft gezeigt werden, dass zwischen bestimmten Texten nicht nur motivische und thematische, sondern auch formalästhetische Ähnlichkeiten bestehen. Daran anschließend lassen sich Aussagen über die Wirkungsästhetik bzw. über das Wirkungspotenzial der jeweiligen literarischen Texte treffen.14 Viertens sollen die Texte in ihrer spezifischen Beschaffenheit ernst genommen werden. Sie sollen nicht bloß als „verwässerte Philosophie“ oder Ethik gelesen werden. Auch wenn sich in vielen der analysierten Texte „andernorts Gedachte[s]“ manifestiert, wird „nach dem eigenen Anteil der Literatur, nach ihrer eigenen Bedeutung“ gefragt. (Matuschek
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Zur Wirkungsästhetik vgl. Iser 21984. Zum Wirkungspotential literarischer Texte in kritischer Auseinandersetzung mit Wolfgang Iser vgl. Hillebrandt 2011.
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1991: 4f.) Aus diesem Grund soll die Darstellungsebene nicht ausgeblendet werden. Die zu analysierenden Texte sind nach folgenden Kriterien ausgewählt worden: Sie stammen erstens aus verschiedenen Jahrhunderten, um eine historische Perspektive zu eröffnen. In exemplarischen Fallstudien werden die sich in den jeweiligen Texten manifestierenden herrschaftstheoretischen, primär sozialphilosophischen oder -ethischen Ideen so exakt wie möglich rekonstruiert. Da die Arbeit gattungs- und epochenübergreifend angelegt ist und das Figurenpaar relativ unspezifisch als Modell zur bildhaften Illustration des Verhältnisses von Herrschern und Beherrschten verwendet wird, bezieht sich der Herrschaftsdiskurs zwangsläufig auf verschiedene soziale Gruppen bzw. staatliche Gefüge; oft auch auf die psychische Konstitution der Subjekte. Meistens werden beide Ebenen – die gesamtgesellschaftliche und die individualpsychologische – miteinander verschränkt. So führt das Leben im ‚falschen‘ politischen System nicht selten zu einer psychischen Deformation der Figuren (vgl. u. a. I.2.3, I.2.4); und umgekehrt lassen sich bestehende soziale Missstände für viele Autoren nur durch einen Bewusstseinswandel des Subjekts lösen (vgl. u. a. III.2, II.2.3). Aus diesem Grund werden beide Dimensionen berücksichtigt, auch wenn der diskursgeschichtliche Fokus so an Schärfe verlieren mag. Die vorliegende Arbeit will aber auch keinen historischen Überblick über eine spezifische herrschaftstheoretische Debatte bieten. Vielmehr werden ausgehend von spezifischen Herr-Knecht-Figurationen solche Texte analysiert, die die literarische Diskussion seit der Aufklärung stark prägen bzw. geprägt haben, weil sie von anderen Autoren produktiv rezipiert worden sind und weil sie paradigmatische sozialphilosophische oder -ethische Debatten ihrer Zeit reflektieren.15 Alle Texte verbindet trotz ihrer unterschiedlichen Akzentuierung die Frage, ob der Herr mehr auf seinen ihm überlegenen Knecht angewiesen ist oder umgekehrt, wel-
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Als Beispiele für ersteren Fall lassen sich unter anderem folgende Texte anführen: Diderots Roman Jacques der Fatalist und sein Herr, der von Brecht und Volker Braun produktiv rezipiert worden ist; Strindbergs Drama Fräulein Julie, mit dem sich Brecht kritisch auseinandergesetzt hat; Leo N. Tolstois Erzählung Herr und Knecht, auf die Braun im Hinze-KunzeRoman verweist; oder Beaumarchais’ Komödie Der tolle Tag oder Die Hochzeit des Figaro, die nachweislich von Hugo von Hofmannsthal zur Kenntnis genommen worden ist. Beispiele für zweiteren Fall wären etwa Strindbergs Fräulein Julie und Robert Walsers Jakob von Gunten, die sich beide an Nietzsches Herr-Knecht-Modell abarbeiten; Marie von EbnerEschenbachs Božena und Tolstois Herr und Knecht, die sich auf Arthur Schopenhauers Aufhebungsmodell von Herr- und Knechtschaft durch die Überwindung des ‚Individuationsprinzips‘ (principium individuationis) beziehen; oder Brechts Herr Puntila und sein Knecht Matti und Brauns Hinze-Kunze-Roman, die sich mit Hegels Überlegungen zur Herr- und Knechtschaft auseinandersetzen.
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che Machtstrukturen sich daraus ergeben und welche Formen von Herrschaft dann legitim sind. Davon ausgehend suchen sie nach Lösungen, wie sich die sozialen Missstände ihrer Zeit beseitigen lassen oder wie ein gelingendes Leben trotz bestehender Übel aussehen kann. Die Arbeit versteht sich ferner als typologische Untersuchung. Aus diesem Grund repräsentieren die Texte zweitens paradigmatische literarische Herr-Knecht-Figurationen, deren diskursive Funktion beleuchtet wird. Im Zentrum stehen Diderots Jacques der Fatalist und sein Herr (1778– 1796), Beaumarchais’ Der tolle Tag oder Die Hochzeit des Figaro (La folle journée ou Le mariage de Figaro, 1778), Franz Grillparzers Ein treuer Diener seines Herrn (1828), Strindbergs Fräulein Julie (Fröken Julie, 1888), Leo N. Tolstois Herr und Knecht (Chozjain i rabotnik, 1895) und Walsers Jakob von Gunten (1909). Zur Profilierung der Herr-Knecht-Modelle kommen ergänzend weitere Referenztexte dazu, unter anderem von Bertolt Brecht, Volker Braun, Pierre Carlet de Marivaux, Johann Christian Krüger, Hugo von Hofmannsthal, Ödön von Horváth, Jeremias Gotthelf, Marie von EbnerEschenbach und Hermann Lenz. Der Fokus liegt auf der deutschsprachigen Literatur, wenn die europäische Perspektive auch nicht ausgeklammert wird. Wie erläutert, werden in dieser Arbeit verschiedene Figurationen interdependenter Herrschaft in der literarischen Diskussion seit der Aufklärung vorgestellt. Dazu werden Texte zueinander in Bezug gesetzt, die im Hinblick auf ihre Gattungs- und Traditionszugehörigkeit sehr unterschiedlich sind – und zwar deshalb, weil die Denkfigur der wechselseitigen Abhängigkeit von Herr und Knecht eine epochen- und genreübergreifende ist. Inwiefern lassen sich diese Texte aber miteinander vergleichen? In der komparatistischen Forschung haben sich zwei Typologien des Textvergleichs durchgesetzt, die von Dionýz Ďurišin und Manfred Schmeling entwickelt worden sind.16 Mit Ďurišin lassen sich zwei Typen des komparatistischen Vergleichs unterscheiden: Ähnlichkeiten zwischen literarischen Werken können erstens auf genetische Beziehungen“ bzw. „Kontaktbeziehungen“ zurückgeführt werden. (Ďurišin 1968: 48) Dabei kann es sich um externe oder interne Kontakte handeln. Unter ersteren ist ein „literarische[r] Informationsaustausch“ zu verstehen, „der durch Berichte, Mitteilungen und Übersetzungen zustande kommt“ und der sich in den Paratexten eines Autors manifestiert. Im Unterschied dazu kommen letztere „unmittelbar im literarischen Prozeß zur Geltung“; sie betreffen „die Beziehungs- und
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Vgl. Lamping 2007: 219f.
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Wirkungsdynamik im Kunstwerk selbst und dessen Gesamtstruktur“. (Zelle 2004/05: 17)17 Der fremde Autor wird nicht nur erwähnt oder zitiert, sondern sein Diskurs geht – jenseits aller Zitate – in die neue Textkonstruktion ein und macht sich dort auf semantischer, möglicherweise auch auf narrativer (aktantieller) Ebene bemerkbar (Zima 22011: 146).
Ferner ist zwischen direkten und vermittelten Kontakten zu unterscheiden. Im ersten Fall rezipiert der Autor das „Original“ (Ďurišin 1968: 51), im zweiten Fall nimmt er es vermittelt durch andere zur Kenntnis, etwa durch das Studium von Rezensionen, Übersetzungen oder wissenschaftlichen Arbeiten. In Bezug auf die direkten Kontakte differenziert Ďurišin außerdem zwischen einer aktiven und einer passiven Rezeption: Die aktive führt „zur Aus- und Umgestaltung“, die passive „bezeichne[t] die bloße Übernahme“. (Corbineau-Hoffmann 22004: 95) Zweitens können typologische Zusammenhänge zwischen verschiedenen literarischen Texten hergestellt werden. (Vgl. Ďurišin 1968: 48) Sie lassen sich laut Ďurišin auf „soziale oder ideelle Faktoren“, auf „Gattungsoder Stilpräferenzen bestimmter literarischer Epochen, Strömungen oder Bewegungen“ oder auf die „Affinität zwischen mentalen Dispositionen und historischen Situationen“ zurückführen. (Zelle 2004/05: 19) Die genetischen und typologischen Vergleiche rangieren aber, so Carsten Zelle, „auf unterschiedlichen wissenschaftstheoretischen Ebenen“, weil es in den kontaktologischen Studien „weniger um Vergleichstätigkeit als um das Aufarbeiten von Einflüssen und Beziehungen“ geht, „seien sie nun interner oder externer Art“. (Zelle 2004/05: 19, 20) Dennoch handelt es sich um eine brauchbare „Typologie unterschiedlicher komparatistischer Forschungspraktiken“ (Zelle 2004/05: 20). Mit Zelle ist aber einzuräumen, dass sich beide Vergleichstypen nicht immer scharf voneinander trennen lassen, weil Ähnlichkeiten zwischen literarischen Texten nicht auf Kontakte zurückgehen müssen und weil mitunter typologische Zusammenhänge dort vermutet werden, „wo bloß noch nicht genug Archivarbeit zur Entdeckung der genetischen Beziehung oder zur Namhaftmachung des Vermittlers“ (Zelle 2004/05: 19) geleistet worden ist. Im Anschluss an Ďurišin unterscheidet Schmeling zwischen fünf Vergleichstypen. Ähnlichkeiten zwischen literarischen Texten können nach ihm erstens auf einem „direkten genetischen Bezug zwischen zwei oder mehreren Vergleichsgliedern“ (Schmeling 1981: 12), also auf Kontaktbeziehungen be-
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Zu Recht hat Carsten Zelle darauf hingewiesen, dass Ďurišins Kategorisierungen unterbestimmt bleiben. (Vgl. Zelle 2004/05)
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ruhen. Hier wird aus einflussgeschichtlicher Perspektive nach einem Zusammenhang zwischen verschiedenen literarischen Texten gefragt, ohne die Befunde zu kontextualisieren, d. h. sie in „eine übergreifende literarische Strömung, eine ästhetische Norm, eine biographisch-soziale Entwicklung etc.“ (Schmeling 1981: 12) einzubetten. Auch beim zweiten Vergleichstyp besteht ein kausaler Zusammenhang zwischen mehreren Texten, der allerdings um „eine außerliterarische Dimension“ (Schmeling 1981: 12) erweitert wird. Rekonstruiert wird der „historische Prozeß, in den die Vergleichsglieder eingefügt sind“ (Schmeling 1981: 12), um erklären zu können, „warum bestimmte Textverarbeitungsstrategien zu einem gegebenen Zeitpunkt dominiert haben“ (Zelle 2004/05: 20). Methodisch unterscheidet sich der zweite vom ersten Vergleichstyp dadurch, dass hier nicht der Einfluss des wirkenden Werks, sondern die produktive Rezeption früherer Texte im Zentrum steht (vgl. Schmeling 1981: 13). Es sei allerdings kritisch angemerkt, dass sich die reflektierte Quellen- und Einflussforschung mitunter stark der Rezeptionsforschung annähert. In beiden Fällen geht es um die Wirkungsgeschichte literarischer Texte, die sich als Rezeptions- oder eben als Einflussgeschichte beschreiben lässt. Im Unterschied dazu basiert der dritte Vergleichstyp „auf Kontextanalogien“ (Schmeling 1981: 14): Es lassen sich typologische Zusammenhänge zwischen den Texten herstellen, die auf einen „außerliterarischen Hintergrund“ – etwa auf vergleichbare ‚gesellschaftlich-soziale‘ oder ‚ökonomische‘ Faktoren – zurückzuführen sind. (Schmeling 1981: 14f.) Dabei dürfen die gattungs- und epochenspezifischen Charakteristika der zu vergleichenden literarischen Werke allerdings nicht außer Acht gelassen werden. Viertens lassen sich strukturale Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen Texten, etwa aus ‚formalästhetischer, strukturalistischer, linguistischer, semiotischer oder psychoanalytischer‘ Perspektive herstellen, wobei die genetische oder typologische Vergleichsbasis nicht verabschiedet werden muss (vgl. Schmeling 1981: 16). Der fünfte Vergleichstyp ist für diese Arbeit nicht relevant: Miteinander verglichen werden hier nicht literarische Texte, sondern Literaturtheorien. In welchem Bezug stehen nun die von Ďurišin und Schmeling entwickelten Typologien des Textvergleichs zu den hier zu profilierenden Figurationen interdependenter Herrschaft? Ausgangspunkt meiner Untersuchung ist der Befund, dass es im Hinblick auf die Figurenkonstellation von Herr und Knecht strukturale gattungs- und epochenübergreifende Ähnlichkeiten, d. h. verschiedene als Figurationen beschreibbare Handlungsmodelle gibt (vgl. Schmelings vierten Vergleichstyp). Herr und Knecht können Koalitionspartner oder Gegner sein; der Subalterne kann
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sich seinem Herrn pflichttreu oder freiwillig unterordnen. Davon ausgehend wird danach gefragt, ob und wenn ja, welche diskursive Funktion diesen spezifischen Herr-Knecht-Figurationen zukommt. Ziel ist die Konturierung von vier – zwei konfliktären und zwei konsensuellen – Modellen interdependenter Herrschaft, die trotz aller gattungs- und epochenspezifischer Unterschiede strukturale und motivische Parallelen aufweisen und jeweils ähnliche Vorschläge zur Überwindung von bzw. zum Arrangement mit bestehenden sozialen Missständen machen. Zuerst wird die Koalition zwischen Herr und Knecht in Diderots Jacques der Fatalist und sein Herr, Brechts Herr Puntila und sein Knecht Matti (1940/41) sowie in Brauns Hinze-Kunze-Roman (1985) in den Blick genommen (vgl. I.). In allen drei Texten sind Herr und Knecht zumindest temporär davon überzeugt, aufeinander angewiesen zu sein und ihre Interessen nur mit Hilfe des jeweils anderen durchsetzen zu können. Daher arrangieren sie sich miteinander, auch wenn sie sich in Bezug auf ihre jeweiligen Rechte und Pflichten in einem permanenten Aushandlungsprozess befinden. Diese Figuration ist in den genannten Texten mit der dialektischen Negation des jeweiligen politischen Systems bzw. der jeweiligen Gesellschaftsordnung verknüpft. Diderot stellt die absolutistische Herrschaft im Ancien Régime in Frage, Brecht wendet sich gegen die Herrschaft des Kapitals und Braun gegen den realexistierenden Sozialismus. Wie zu zeigen ist, lässt sich diese Figuration interdependenter Herrschaft mit Ďurišin und Schmeling auf Kontaktbeziehungen zurückführen und rezeptionsgeschichtlich erklären. Zweitens werden widerständige Dienerfiguren in den Komödien Der tolle Tag oder Die Hochzeit des Figaro von Beaumarchais, Die Sklaveninsel (1725) von Marivaux, Die Candidaten, oder: Die Mittel, um zu einem Amte zu gelangen (1748) von J. C. Krüger, Der Unbestechliche (1923) von Hofmannsthal und Pompeji (1937) von Horváth fokussiert (vgl. II.). In allen Lustspielen gelingt es den jeweiligen Bedienten, sich gegen den Willen ihrer jeweiligen Herrn erfolgreich zur Wehr zu setzen. Diese Figuration ist in allen Texten mit der Forderung nach moralischer Integrität zur Beseitigung der bestehenden sozialen, politischen und/oder wirtschaftlichen Missstände verknüpft. Ziel ist ein Bewusstseinswandel des Herrn (bzw. der Leser), durch den sich die Autoren eine Reformierung des bestehenden politischen Systems erhoffen. Zwischen den Texten lassen sich typologische Zusammenhänge bzw. ‚Kontextanalogien‘ herstellen, die allerdings weniger auf vergleichbare soziohistorische oder ökonomische Faktoren zurückzuführen, sondern primär gattungsgeschichtlich zu erklären sind. Dabei lassen sich Kontaktbeziehungen nicht ausschließen, aber auch nicht nachweisen.
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Nach der Profilierung dieser beiden ersten konfliktären Figurationsmodelle werden mit Strindbergs Fräulein Julie und Tolstois Herr und Knecht zwei konträre Grenzfälle interdependenter Herrschaft in den Blick genommen (vgl. III.), denn in beiden Texten wird die Machtbeziehung zwischen Herr und Knecht am Ende des jeweiligen Handlungsverlaufs durch den Tod des Herrn bzw. der Herrin aufgehoben. Während sich Tolstois Herr seinem Knecht unterwirft, indem er sein Leben für ihn opfert, gelingt es Strindbergs Diener Jean, seine Herrin in einem ‚Kampf der Gehirne‘ zu besiegen, so dass sie in ihren Tod einwilligt und sich auf seinen Befehl hin umbringt. Drittens werden literarische Texte beleuchtet, in denen sich moralisch integre Dienerfiguren ihren lasterhaften Herren bis zur Selbstaufgabe verpflichtet fühlen, und zwar Grillparzers Trauerspiel Ein treuer Diener seines Herrn, Gotthelfs Roman Uli der Knecht (1841) sowie Ebner-Eschenbachs Erzählung Božena (1875) (vgl. IV.). Diese konsensuelle Figuration ist – ähnlich wie das anhand der Komödien profilierte Handlungsmodell – mit der Forderung nach einem Einstellungswechsel verknüpft. Herr und Knecht sollen ihre individuellen Interessen negieren und sich für das Allgemeinwohl, d. h. für die bestehende politische Ordnung einsetzen. Die typologischen Zusammenhänge zwischen den Texten lassen sich zum einen darauf zurückführen, dass sich die genannten Autoren an literarischen Topoi sowie Werten und Normen des vergangenen 18. Jahrhunderts orientieren. Zum anderen lassen sie sich gattungstheoretisch begründen. Zuletzt werden Walsers Jakob von Gunten und H. Lenz’ Roman Die Augen eines Dieners (1964) untersucht (vgl. V.) – zwei Texte, in denen sich Dienerfiguren freiwillig ihren Herren unterwerfen, weil sie ihren Willen nicht gegen das Widerstreben eines anderen durchsetzen können und wollen. Ihre Entscheidung, sich den ihnen unterlegenen Herren bedingungslos unterzuordnen, ist hier als Rückzug in ein ‚inneres Exil‘ zu werten. Auch zwischen diesen beiden Texten lassen sich ‚Kontextanalogien‘ herstellen: Aus problemgeschichtlicher Perspektive suchen beide Autoren nach Lösungen, um sich mit der von ihnen als krisenhaft erfahrenen Moderne arrangieren zu können. Über die typologischen Gemeinsamkeiten hinaus sind Kontaktbeziehungen möglich, aber nicht zu belegen.
I. Koalitionen zwischen Herr und Knecht Wie erläutert, ist das Ziel der Arbeit ein doppeltes: Zum einen wird untersucht, wie literarische Texte, in denen interdependente Herrschaftsbeziehungen strukturbestimmendes Thema sind, an den herrschaftstheoretischen Debatten ihrer Zeit partizipieren; zum anderen sollen verschiedene Herr-Knecht-Figurationen profiliert werden. Aus diesem Grund wird zuerst Diderots modellbildender Roman Jacques der Fatalist und sein Herr analysiert. Während die Diderot-Forschung den Text meist hegelianisch gedeutet oder auf die soziale Realität im Ancien Régime bezogen hat, wird in dieser Arbeit die These vertreten, dass er als Auseinandersetzung mit den vertragstheoretischen Debatten der Zeit zu lesen ist. Herr und Knecht werden als Koalitionspartner vorgeführt, die sich mit ihrem jeweiligen sozialen Status arrangieren, ihre Rechte und Pflichten aber immer wieder miteinander aushandeln. Genauso wie die Figuren soll auch der Leser die Positionen von Herr und Knecht kritisch reflektieren, ihre Herrschaftsbeziehung negieren und durch vernunftgeleitetes Denken eine Alternative zu der vorgeführten sozialen bzw. politischen Ordnung entwickeln. Im Anschluss wird nach der diskursiven Funktion dieser konfliktreichen HerrKnecht-Figuration gefragt und gezeigt, dass die Darstellung von Koalitionen zwischen Herr und Knecht nicht nur bei Diderot, sondern nach ihm auch bei Bertolt Brecht in Herr Puntila und sein Knecht Matti und bei Volker Braun im Hinze-Kunze-Roman mit einer dialektischen Negation des jeweiligen politischen Systems verknüpft ist.
1. Herr und Knecht als Koalitionspartner in Diderots Jacques der Fatalist und sein Herr (1778–1796) In den Anmerkungen zu seiner Übersetzung von Diderots Rameaus Neffe (Neveu de Rameau, 1761–1774) konstatiert Johann Wolfgang Goethe: Seine Nation, ja sogar seine Freunde warfen ihm vor, er könne wohl vortreffliche Seiten, aber kein vortreffliches Ganzes schreiben. […] Diejenigen, die also urtheilen, hatten wohl den Jacques le fataliste nicht gelesen; und auch gegenwärtige Schrift gibt ein Zeugniß, wie glücklich er die heterogensten Elemente der Wirklichkeit in ein ideales Ganze zu vereinigen wußte. (Goethe 1987: 206f.)
Die von Goethe bewunderte vielschichtige ästhetische Konzeption von Diderots Roman, in der die disparatesten Elemente so zusammengeführt werden, dass sich der Text einer vereindeutigenden Lesart entzieht, hat viele Rezipienten bis Ende der vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts stark befremdet.1 So behaupten Pierre-Georges Castex und Paul Surer noch in ihrem zuerst 1949 erschienenen Manuel des études littéraires françaises: „Il [Diderot, N.B.] est incapable de composer. Ce sont à chaque instant des digressions, des bavardages, voire des divagations. Jacques le Fataliste est un enchevêtrement de récits hétéroclites.“ (Castex/Surer 1966: 97)2 Erst in den fünfziger Jahren hat sich die Diderot-Forschung „philologisch und hermeneutisch ernsthaft konstituiert“ (Thoma 2006: 212). Seitdem sind zahllose Arbeiten entstanden. Während die einen den Fokus auf die erzähltheoretischen Besonderheiten des Romans gelegt und dabei die inhaltlichen Problemstellungen etwas zu stark aus dem Blick verloren haben,3 haben sich andere, insbesondere die früheren Studien, mit den verschiedenen im Roman entfalteten dichotomischen Konzepten – Herr und Knecht,4 Determinismus und Freiheit,5 Moral und Amoralität,6 Roman
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Zur Rezeptionsgeschichte des Romans vgl. Loy 1950: 1–24. „Er [Diderot] ist unfähig zu schreiben. Jeden Moment sind Abschweifungen, Geschwafel und Faseleien zu erleben. Jacques le fataliste ist ein Gewirr von verschiedenartigen Erzählungen.“ (Übersetzung N.B.) Vgl. u. a. Kavanagh 1973, Warning 1988. Vgl. u. a. Mayer 1971, Mayer 1955. Vgl. u. a. Bailey 2000, May 1980, Richards 1972, Savater 1984.
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Diderot: Jacques der Fatalist und sein Herr
und Romanparodie,7 Leser und Erzähler,8 Kausalität und Teleologie oder Libertinage und Empfindsamkeit9 – auseinandergesetzt und dabei die literarästhetische Gestaltung des Romans um den Preis von Sinnverkürzungen und Vereindeutigungen außer Acht gelassen. Davon ausgehend, dass Handlungs- und Erzählebene in Jacques der Fatalist und sein Herr „auf die komplexeste Weise miteinander verknüpft“ (Dirscherl 1985: 141) sind, haben sich vor allem solche Arbeiten als produktiv erwiesen, die nach den Korrelationen zwischen den Darstellungsfunktionen und -strategien fragen.10 Die meisten Untersuchungen dieser Art befassen sich mit der für den Roman zentralen Opposition Determination vs. Willensfreiheit. Auch die Herr-Knecht-Problematik ist in den Blick genommen worden, insbesondere von Erich Köhler, der in seinem 1965 erschienenen Beitrag zu belegen versucht, dass „die drei inhaltlichen Antinomien: Diener-Herr, Determinismus-Indeterminismus, ErzählerLeser unmittelbar voneinander abhängig sind“ (Köhler 1965: 148). Wie Hans Mayer deutet er Diderots Roman hegelianisch-marxistisch und vertritt die These, dass sich Georg Wilhelm Friedrich Hegel in seinem Kapitel über Herrschaft und Knechtschaft in der Phänomenologie des Geistes (1807) von Diderots Roman hat inspirieren lassen. Hegels Ausführungen über das Verhältnis von Herr und Knecht bezieht er dabei im Anschluss an die Hegel-Lektüren von Georg Lukács, Alexandre Kojève und Karl Marx auf das soziale Verhältnis von Arbeitgeber und Arbeitnehmer bzw. auf das von herrschender und unterdrückter Klasse und deutet sie „konflikttheoretisch emanzipatorisch“ (Bluhm 2004: 67) um. Diderots Protagonisten Jacques bezeichnet Köhler vor diesem Hintergrund als Vertreter der „revolutionärste[n] Ideologie“ (Köhler 1965: 140), weil er den bestehenden Status quo negiere und soziale sowie politische Veränderungen in Betracht ziehe. Zu einem ähnlichen Schluss kommt Mayer, wenn er erklärt, dass Diderot mit seinem Roman entscheidend dazu beigetragen habe, „das Bewußtsein“ der „bürgerlichen Gesellschaft“ seiner Zeit „zu
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Vgl. u. a. Crocker 1961. Vgl. u. a. Mauzi 1964. Vgl. u. a. Conroy 1990, Didier 1982, Didier 1978. Vgl. u. a. Baasner 1988a. Diese Position teilt u. a. Heinz Thoma, der in seinen Ausführungen zum Roman konstatiert: „Produktiver als solche thematisch oder narratologisch zentrierten Vereinseitigungen sind jene Interpretationen, die versuchen, Form und Inhalt dialektisch aufeinander zu beziehen.“ Zu Recht betont er, dass jede systematische Darstellung trotz aller Versuche, Sinnverkürzungen zu vermeiden, dennoch Gefahr läuft, „Struktur und Dialektik dieses hochorganisierten und interpretatorisch nicht auszuschöpfenden Textes zu simplifizieren, wo nicht zu zerstören. – Vom notwendigen Verlust an Leichtigkeit ganz zu schweigen“ (Thoma 2006: 213, 215).
Koalitionen zwischen Herr und Knecht
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formen und ihre politische Machtergreifung vorzubereiten“. (Mayer 1955: 82) Auch in dieser Arbeit soll das für die Struktur des Romans bestimmende Verhältnis von Herr und Knecht untersucht werden. Um thematische und erzähltheoretische Vereinseitigungen zu vermeiden, werden im Folgenden die Korrelationen zwischen den im Roman diskutierten politischen und philosophischen Problemstellungen und der literarästhetischen Gestaltung des Textes analysiert. Dabei wird zunächst die Handlungsebene in den Blick genommen und die interdependente Herrschaftsbeziehung von Jacques und seinem Herrn beleuchtet (vgl. 1.2). Im Unterschied zu den einschlägigen Untersuchungen zum Thema, die den Roman zu Hegels Phänomenologie oder zum politischen Zeitgeschehen in Bezug setzen und ihn als Plädoyer für eine bestimmte Regierungsform – die konstitutionelle Monarchie – verstehen,11 möchte ich zeigen, dass er sich mit den vertragstheoretischen Debatten der Zeit auseinandersetzt. Im Anschluss wird der für den Text zentrale philosophische Diskurs – die Gegenüberstellung von Jacques’ Fatalismus und der vom Herrn proklamierten Willensfreiheit – analysiert, hat die Debatte doch auch politische Implikationen. Schließlich stellt sich die Frage, ob das Subjekt selbstbestimmt agieren und politische Reformen in die Wege leiten kann oder ob es gezwungen ist, soziale, wirtschaftliche und politische Missstände fatalistisch zu akzeptieren (vgl. 1.2.1). Schließlich wird nach dem Zusamenhang zwischen der Handlungsund Darstellungsebene gefragt (vgl. 1.3) und die These aufgestellt, dass Diderot mit seinem Roman darauf zielt, den Leser aus der ‚Knechtschaft‘ gängiger politischer und philosophischer Positionen zu befreien und zur Mündigkeit zu erziehen. Da Diderots Roman „21 eingeschobene Geschichten verschiedenster Art, unterschiedlichen Erzählgrads und jeglichen Umfangs enthält“ und der „Erzählfaden rund 180 mal […] unterbrochen und neu angeknüpft wird“ (Köhler 1965: 129), wird vorab die Erzählstruktur des Textes skizziert (vgl. 1.1).
1.1 Erzählstruktur und ironische Kommunikation Auf der extradiegetischen Ebene des Romans ist ein homodiegetischer Erzähler angesiedelt, der einem fiktiven Leser von Jacques und seinem Herrn erzählt. Die Gespräche des Figurenpaars erfolgen auf zweiter, intradiegetischer Ebene. Dabei nehmen die Geschichten, die Jacques seinem Herrn erzählt, großen Raum ein, insbesondere die von seiner Liebe zu der
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Vgl. u. a. Groh 1984, Treskow 1996.
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Dienstbotin Denise. Allerdings kommt der Subalterne mit seiner Erzählung nur langsam voran und bis zum Romanende nicht zum Schluss, weil er immer wieder durch Nachfragen seines Herrn unterbrochen oder durch äußere Ereignisse am Erzählen gehindert wird.12 Wie der Erzähler ausführt, befinden sich Herr und Diener auf dem Weg von Paris in die Provinz. Der Grund ihrer Reise bleibt im Dunkeln, allerdings beabsichtigt der Herr, die Reise in einem Dorf zu unterbrechen, um dort „der Amme eines ihm durch eine List untergeschobenen Kindes die ihm rechtlich auferlegten Unterhaltszahlungen zu entrichten.“ (Thoma 2006: 215f.) Der Erzähler schildert die relativ ereignislose Reise von Herr und Knecht, ihre Gespräche und Auseinandersetzungen, wird dabei aber von den Nachfragen eines fiktiven Lesers immer wieder unterbrochen. Ungefähr nach der Hälfte der Reise kehren Herr und Knecht in ein Wirtshaus ein, wo sie in einen Streit darüber geraten, ob der Herr das Recht hat, seinen Willen auch gegen Jacques’ Widerstreben durchzusetzen. Im Verlauf der Auseinandersetzung akzeptiert der Herr, dass er trotz seines höheren sozialen Status von Jacques gelenkt wird.13 Um solche Kontroversen zukünftig zu vermeiden, wird die Überlegenheit des Dieners in einem Vertrag schriftlich fixiert. Nachdem Herr und Knecht am Ziel ihrer Reise, dem Wohnort des Kindes, angekommen sind, trifft der Herr zufällig – wie der Erzähler betont – auf den tatsächlichen Kindsvater, den Chevalier de Saint-Ouin, den er im Duell umbringt. Anstelle des Herrn, der nach der Tat sofort flieht, wird Jacques verhaftet, vom Dorfrichter verurteilt und ins Gefängnis gebracht. Durch dieses Ereignis verändert sich das in der Wirtschaft neu bestimmte Kräfteverhältnis von Herr und Knecht erneut, dieses Mal zu Ungunsten von Jacques. Mit der Inhaftierung des Knechts endet die Reisefabel; der Erzähler betont, „von diesen beiden Leuten alles erzählt“ (Diderot 1972: 325) zu haben, was er weiß.14 Auf den folgenden letzten Seiten des Romans ändert sich der Erzählmodus. Bis zu Jacques’ Inhaftierung haben wir es mit einem Erzähler zu tun, der in das Geschehen sehr knapp narrativ einführt, um dann in einen dramatischen Modus mit autonomer, direkter Figurenrede zu wechseln. Auf diese Weise entsteht passagenweise der Eindruck einer unmittelbaren Nähe zu den erzählten Ereignissen – eine Illusion, die
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Neben der intradiegetischen Ebene ist im Roman noch eine „dritte, metadiegetische Diskursebene angelegt, die dadurch konstituiert ist, dass Jacques als Erzähler zweiten Grades die Geschichte eines gewissen M. Le Pelletier ankündigt, sie allerdings nicht selbst wiedergibt, sondern in eine Szenerie einführt, in der ein unbekannter Barbier vorkommt, der jene Geschichte sodann erzählt.“ (Lafon 2011: 126) Vgl. Diderot 1972: 200 bzw. Diderot 1981a: 185. Vgl. Diderot 1981a: 287: „[J]e vous ai dit de ces deux personnages tout ce que j’en sais“.
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durch die Thematisierung der Erzählsituation, etwa durch die Einwürfe des fiktiven Lesers, zugleich immer wieder gestört wird. Nach Ende der Reisefabel wechselt der Erzähler in den narrativen Modus. Er meldet sich als homodiegetischer Herausgeber zu Wort, der den zeitlichen Abstand zum Erzählten betont und erklärt, im Besitz einer fragwürdigen Quelle zu sein, die Auskunft über den weiteren Handlungsverlauf gibt. Es handelt sich um drei Zusätze zu dem in seinem Besitz befindlichen Manuskript der ‚Unterhaltungen Jacques’ des Fatalisten mit seinem Herrn‘, die allerdings auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu prüfen sind, so der Herausgeber. Alle drei fraglichen Kapitel beziehen sich auf Jacques’ Liebesgeschichte. Der ersten „als Rührstück aufgebauten Sequenz“, in der Jacques versucht, seine Geliebte Denise zu verführen, „folgt kontrapunktisch eine als Sterne-Plagiat bezeichnete zweite Ergänzung, die an der gleichen Stelle des Handlungsablaufs platziert ist und mit der anspielungsreichen Suggerierung einer sexuellen Handreichung libertine Akzente setzt.“ (Thoma 2006: 217) Nur der letzte Zusatz knüpft an die Reisefabel an und gibt der Handlung eine neue Wendung: ein Happy End. Jacques wird von der Räuberbande Mandrins aus dem Gefängnis befreit.15 Der Herr wird vorübergehend inhaftiert, dank seiner guten Beziehungen zu den Inhabern der politischen Macht aber frühzeitig wieder auf freien Fuß gesetzt. Beide treffen sich zufällig auf dem Schloss Desglands wieder, wo Jacques eine Stellung als Pförtner annehmen und seine Geliebte Denise heiraten kann. Offen bleibt, ob das märchenhafte Ende nicht dadurch gebrochen wird, dass Denise ihren Mann eines Tages mit dem Herrn und Desglands betrügen wird. Wie zuerst Rainer Warning deutlich gemacht hat, ist für Diderots Roman die „ironische[ ] Kommunikation im Dialog mit dem Leser“ (Groh 1984: 18) kennzeichnend. Warning differenziert mit Harald Weinrich zwischen rhetorischer und sokratischer Ironie und begreift die rhetorische Ironie als „[u]neigentliche[n] Sprachgebrauch, bei dem das Gemeinte durch sein Gegenteil ausgedrückt wird“ (Müller 2000: 185). In diesem Fall richten sich beide sprachlichen Mitteilungen – das Gesagte und das Gemeinte, oder mit Weinrich: die Behauptung und das begleitende Ironiesignal16 – an denselben Empfänger. Im Unterschied dazu besitzt die sokratische Ironie, die für Diderots Roman grundlegend ist, verschiedene Empfänger.
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Louis Mandrin (1724–1755), berühmter Räuberhauptmann. Sein Leben war ein populärer Stoff für Literatur und Theater, vgl. u. a. Lüsebrink 1983. Zum Begriff des Ironiesignals vgl. auch Warning 1976: 419f.
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Die sprachlichen Mitteilungen, die von Sokrates ausgehen, gehen […] in zwei verschiedene Richtungen. Sie spalten sich gleichsam; eine Informationskette geht zum angesprochenen Hörer und sagt Ja, während eine zweite, begleitende Informationskette zu einem mitangesprochenen Dritten geht und Nein sagt. (Weinrich 2000: 68)
Dieses Kommunikationsprinzip übertragen Warning und nach ihm u. a. Ruth Groh und Yann Lafon auf Diderots Roman. Dabei beziehen sie sich auf das von Wayne C. Booth entwickelte Konzept vom impliziten Autor.17 Mit Booth unterscheiden sie zwischen dem realen, dem impliziten und dem fiktiven Leser auf der einen und dem realen, dem impliziten und dem fiktiven Autor auf der anderen Seite. Neben dem empirischen Leser bzw. Autor nehmen sie zwei textimmanente Kommunikationspartner an, zum einen die im Roman thematisierte fiktive Leser- bzw. Erzählerfigur, zum anderen den impliziten Leser und Autor. Dabei wird der implizite Autor […] als ein ‚zweites Selbst‘ des realen Autors bestimmt. Während er sein Werk schreibe, schaffe der reale Autor eine ‚höhere Version von sich selbst‘ […]. Analog wird der implizite Leser definiert als der ‚postulierte Leser‘ […], als der ideale Empfänger aller Signale, über die der implizite Autor seine Botschaft vermittelt. Jeder reale Leser ist aufgefordert, in die Rolle des impliziten Lesers einzutreten. (Groh 1984: 18)18
Bezogen auf das Verfahren ironischer Kommunikation in Diderots Roman gehen Warning, Groh und Lafon davon aus, dass der fiktive Leser und der fiktive Autor miteinander kommunizieren, dabei aber der implizite Leser mitangesprochen wird. „Was ihm bedeutet wird, ist nicht ausformuliert, die Botschaft ist implizit wie Sender und Empfänger.“ (Warning 1988: 472)19 Der reale Leser wird in seiner Rolle als impliziter Leser dazu aufgefordert, die implizite Botschaft zu dekodieren. Im Unterschied dazu verzichtet diese Arbeit auf das in der Forschung aufgrund seiner Vagheit umstrittene Konzept des impliziten Autors.20 Stattdessen bemüht sich diese ‚textorientiert intentionalistische‘ Analyse „um die Bestimmung genau der Attribution auktorialer Intentionen […], die vor dem Hintergrund des betreffenden literarischen Textes sowie verschiedener historischer Kontexte am besten begründet erscheint.“ (Kindt 2008: 24) Solch eine intentionalistische Textinterpretation kommt – wie Tom Kindt überzeugend dargestellt hat – ohne das Konzept des impliziten Autors aus, gilt doch die Intention des empirischen Autors „nicht nur
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Vgl. Booth 1974. Vgl. Booth 1974: 156, 162. Vgl. auch Groh 1984: 18f., Lafon 2011: 141f. Vgl. u. a. Kindt 2008, Kindt/Müller 2006, Kindt/Müller 1999, Nünning 1993.
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als Bezugs-, sondern als Zielpunkt der Interpretation“ (Kindt 2008: 24).21 Davon ausgehend muss das von Warning im Rekurs auf Weinrich beschriebene ironische Kommunikationsprinzip leicht modifiziert werden: Im Folgenden wird davon ausgegangen, dass in Diderots Roman der fiktive Leser und Erzähler miteinander kommunizieren und dabei der empirische Leser mitangesprochen wird, der aus dem Gespräch der Figuren implizite Botschaften deduzieren soll. Während die rhetorische Ironie mit dem Gegensatz von Behauptung und Bedeutung spielt, macht die sokratische Ironie auf Widersprüche anderer Art aufmerksam. Um das zu illustrieren, führt Warning den in der strukturalen Semantik verwendeten Begriff der Opposition ein. Darunter versteht er „Gegensatzpaare lexikalischer Einheiten, die sich komplementär zueinander verhalten“ (Groh 1984: 19), etwa die oppositiven Differenzen Herrschaft vs. Knechtschaft, Determinismus vs. Willensfreiheit oder romaneskes vs. historisch wahres Schreiben. Solch ein System von Oppositionen funktioniert als Code, der es erlaubt, Wirklichkeit adäquat zu beschreiben. Die Geltung von Oppositionen garantiert dem Sprecher in seiner Rede über die Welt die Möglichkeit, binäre Ja-Nein-Entscheidungen zu treffen. Die sokratische Ironie legt es nun darauf an, diesen Code zu erschüttern. Während nämlich dem fiktiven Leser eine der beiden Wahlmöglichkeiten als die richtige angeboten wird, entzieht der Erzähler dem impliziten [bzw. dem empirischen, N.B.] Leser die Möglichkeit einer binären Ja-Nein-Entscheidung. An ihn geht das Signal: weder x noch y, oder […] sowohl x als auch y; eine Formel, die ebenfalls die jeweilige Opposition ironisch auflöst. (Groh 1984: 19)
Dieses Verfahren ironischer Kommunikation hat Warning am Beispiel der Opposition roman vs. histoire dargestellt und deutlich gemacht, dass die beiden poetologischen Positionen im Erzählverlauf ironisch aufgelöst werden, so dass der Leser nicht „aus einer traditionellen Romanillusion in die einer ‚wahren Geschichte‘“ gelockt, sondern in „kritische Distanz zu seinem eigenen Illusionsbedürfnis“ gebracht wird. (Warning 1988: 476) Laut Warning sind die meisten Reiseabenteuer so angelegt, daß sie mehrere semantische Achsen zugleich außer Kraft setzen: Lüge/Wahrheit, Herrschaft/Knechtschaft, Freiheit/Notwendigkeit. Immer geht es um Personen, Handlungen, Ereignisse, Situationen, die sich oppositiver Semantisierung entziehen und das heißt: die den impliziten Leser,
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Mit Tom Kindt begreife ich den Autor in dieser Untersuchung als einen „rational kommunizierenden Sprecher[ ]“, wie ihn „der Sprachphilosoph Herbert Paul Grice in einer Reihe von Studien entworfen hat.“ Die Interpretation geht von der Unterstellung aus, „dass Autoren das Ziel verfolgen, verstanden zu werden, und dass sie ihre Texte diesem Vorhaben entsprechend gestalten.“ (Kindt 2008: 25)
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statt ihm eine binäre Wahl zu ermöglichen, mit der Unentscheidbarkeit eines Falles, eines Kasus konfrontieren. (Warning 1988: 476)22
Ähnlich argumentiert Roland Galle. Wie Warning ist er davon überzeugt, dass sich die im Roman dargestellten Gegensätze nicht vermitteln lassen. Die „angesprochenen Probleme“ (Galle 1980: 242) würden nicht geklärt, sondern führten in die Aporie. Im Gegensatz dazu vertrete ich mit Groh, Lafon, Ronald Grimsley und Isabella von Treskow die These, dass sich die „antagonistischen Elemente des Werks“ sehr wohl „in ein vernünftiges System“ einordnen lassen, weil die gegensätzlichen Positionen dialektisch aufgehoben werden können. (Groh 1984: 15)23 Allerdings ist zu betonen, dass Diderot die „zu Dogmatismen erstarrten überlieferten Wahrheiten“ nicht ironisch auflöst, um andere „verallgemeinerungsfähige[ ] Einsichten“ zu propagieren. (Groh 1984: 30, 32) Stattdessen soll der Leser sich selbst eine Meinung bilden. Daher werden alle Erkenntnisse nur als vorläufige, zu diskutierende Positionen dargestellt. Das soll anhand der zentralen Oppositionen Herrschaft vs. Knechtschaft und Determination vs. Willensfreiheit verdeutlicht werden.
1.2 Zur Handlungsebene Wie im Folgenden zu zeigen ist, handelt es sich bei dem interdependenten Herrschaftsverhältnis von Jacques und seinem Herrn um ein Denkmodell, das vor dem Hintergrund der vertragstheoretischen Debatten der Zeit gelesen werden muss. Diderot bricht mittels des für den Roman konstitutiven ironischen Kommunikationsverfahrens mit den traditierten politischen Positionen, nach denen die absolute Herrschaft über den/die bedingungslos gehorchenden Untergebenen legitim ist und plädiert – auf der höheren Ebene der Synthesis – für eine vernünftige Herrschaftsbeziehung auf der Basis eines Herrschaftsvertrages, der Souverän und Untertanen dazu verpflichtet, sich am ‚allgemeinen Willen‘ zu orientieren. Diese Position wird zugleich problematisiert und damit als eine für den Leser kritisch zu prüfende markiert, lässt doch der Romanverlauf offen, ob ein Vertrag
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Zum Begriff des ‚Kasus‘ vgl. auch Warning 1965: 112: „Ein Kasus ergibt sich immer dann, wenn die Gültigkeit absoluter Normen in Frage gestellt ist und stattdessen verschiedene Normen gegeneinander abgewogen werden. Dieses ‚Wägen‘ von Norm gegen Norm ist die ‚Geistesbeschäftigung‘, aus der der Kasus hervorgeht. Jeder Kasus stellt somit eine Frage, gibt aber nicht Antwort. In dem Moment, wo er entschieden wird, hört er auf, Kasus zu sein.“ Vgl. Galle 1980, Grimsley 1961, Groh 1984, Lafon 2011, Treskow 1996, Warning 1995, Warning 1988, Warning 1975.
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zwischen Herr und Knecht eine gerechte Machtausübung ermöglichen kann. 1.2.1 Herrschaft vs. Knechtschaft oder: Die kontraktualistische Legitimation interdependenter Herrschaft Schon der Romantitel Jacques der Fatalist und sein Herr macht deutlich, dass Diderot den Gegensatz von Herr- und Knechtschaft in Frage stellt, wird doch der namenlose Herr trotz seines höheren sozialen Standes zum Attribut des Dieners degradiert. Als uneigenständig wird er auch von dem Erzähler beschrieben, wenn er dem fiktiven Leser rät, dem Herrn keine Gesellschaft zu leisten: [D]ann wärst du zwar höflich, würdest dich aber schauerlich langweilen; du kennst diesen Menschenschlag noch nicht. Er hat wenig Ideen im Kopf; und wenn es ihm widerfährt, daß er etwas Gescheites sagt, so entstammt es der Erinnerung oder der Eingebung. Er hat Augen wie du und ich; aber die meiste Zeit weiß man nicht, ob er überhaupt sieht. Er schläft nicht und wacht auch nicht; er läßt sich existieren: das ist seine gewöhnliche Funktion. (Diderot 1972: 29)24
Vor allem im ersten Drittel des Romans wird der Herr von dem parteilichen Erzähler als passiver, reflexartig handelnder „Automat“ (‚automate‘) geschildert, der nicht weiß, „was er ohne seine Uhr, seine Tabaksdose und ohne Jacques anfangen“ soll. (Diderot 1972: 29, 30)25 Zum einen ist er auf die Erzählungen seines Dieners angewiesen. Da er sich selbst nicht beschäftigen kann, will er einem anderen zuhören. Zum anderen braucht er Jacques zur Bewältigung aller lebenspraktischen Herausforderungen. So schützt der Diener seinen ängstlichen Herrn in dem „schäbigsten aller Gasthäuser“ vor einem „Dutzend Buschklepper“ (Diderot 1972: 10)26 oder er macht sich auf, um ihm seine verlorene Taschenuhr wiederzubeschaffen. Jacques’ Lebensklugheit wird mit der Trägheit und Einfalt des Herrn kontrastiert, der sich etwa im Schlaf sein Pferd stehlen lässt. Indem Diderot den Subalternen vernünftig agieren lässt, den Herrn aber als primär affektiv Handelnden zeigt, stellt er die seit der Antike tra-
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Vgl. Diderot 1981a: 45: „[V]ous serez poli, mais très ennuyé; vous ne connaissez pas encore cette espèce-là. Il a peu d’idées dans la tête; s’il lui arrive de dire quelque chose de sensé, c’est de réminiscence ou d’inspiration. Il a des yeux comme vous et moi, mais on ne sait la plupart du temps s’il regarde. Il ne dort pas, il ne veille pas non plus; il se laisse exister, c’est sa fonction habituelle.“ Vgl. Diderot 1981a: 45: „[I]l ne savait que devenir sans sa montre, sans sa tabatière et sans Jacques“. Vgl. Diderot 1981a: 29: „Ils s’arrêtèrent dans la plus misérable des auberges. […] Ils entendaient à coté d’eux les ris immodérés et la joie tumultueuse d’une douzaine de brigands“.
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dierte Position in Frage, die das Verhältnis von Herr und Knecht mittels der Zuordnung von Vernunft bestimmt. So definiert Aristoteles den Leibeigenen in seiner staatsphilosophischen Schrift Politik als „lebendiges Besitzstück (ktêma)“, das seinen Empfindungen unterworfen ist und „an der Vernunft nur so weit teilhat, um ihre Gebote zu verstehen, ohne sie zu besitzen“. (Aristoteles 32009: 50, 53) Auf ähnliche Weise wird im römischen Recht argumentiert, und auch Gottfried Wilhelm Leibniz ist noch der Auffassung: Die dritte natürliche Gemeinschaft ist zwischen Herr und Knecht, welche der Natur gemäß, wenn eine Person Mangel an Verstand hat, nicht aber Mangel an Kräften, sich zu ernähren. Denn eine solche Person ist ein Knecht von Natur, welcher arbeiten muß, wie es ihm ein Ander vorschreibt, und hat davon den Unterhalt; der Ueberschuß ist des Herrn. Denn alles, was der Knecht ist, ist er seines Herrn wegen, dieweil alle ander Kräfte nur des Verstandes wegen sein. Nun ist der Verstand im Herrn, alle andern Kräfte aber nur im Knechte. (Leibniz 1838: 415)27
Herrschaft und Knechtschaft werden noch bis ins 18. Jahrhundert mit der ‚natürlichen‘ Ungleichheit – den unterschiedlichen Verstandeskräften der Menschen – legitimiert, die ein Subjekt berechtigen, über ein anderes zu verfügen.28 Indem Diderot einen Diener vorführt, der seinem Herrn an Verstand überlegen ist, entzieht er der Herrschaftsbeziehung die traditionelle Legitimation. Mit welchen Argumenten wird das hierarchische Verhältnis stattdessen gerechtfertigt? Bevor Jacques und sein Herr ihre Rechte und Pflichten vertraglich festlegen, wird darauf hingewiesen, dass ihre Beziehung von gegenseitiger Wertschätzung geprägt ist. Von seinem Herrn wird Jacques mehrfach als ‚Freund‘ bezeichnet und auch der Erzähler weist darauf hin, dass es sich bei Jacques und seinem Herrn um ein ‚Freundespaar‘ handelt (vgl. Diderot 1972: 20).29 Die emotionale Bindung zwischen Herr und Knecht führt – zumindest temporär – zur Aufhebung des für eine Herrschaftsbeziehung konstitutiven Machtgefälles. Darauf weist Jacques hin, wenn er erklärt, dass sein Herr ihn „zehn Jahre lang daran gewöhnt“ habe, „auf gleich und gleich“ mit ihm zu leben. (Diderot 1972: 195)30 Die wechselseitige Achtung manifestiert sich ferner in dem weitgehend humanen Handeln des Herrn. Dieser begreift sich etwa nach Jacques’ Unfall als dessen Diener
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Im Unterschied zu Aristoteles relativiert Leibniz die ‚natürliche‘ Ungleichheit der Menschen allerdings durch die Auffassung, dass der Subalterne durch den Herrn zur Freiheit erzogen werden könne (vgl. Leibniz 1838, Holz 1968: 12). Zu den etablierten Positionen im 18. und 19. Jahrhundert vgl. Koselleck 1982. Vgl. u. a. Diderot 1972: 12, 53 bzw. Diderot 1981a: 32, 65, 38. Vgl. Diderot 1981a: 181: „Comment, Monsieur, après m’avoir accoutumé pendant dix ans à vivre de pair à compagnon…“
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und übernimmt die Aufgabe, ihn gesund zu pflegen.31 Neben der gegenseitigen Wertschätzung, die an die Stelle der Machtausübung bzw. der Autoritätshörigkeit tritt, wird betont, dass beide Figuren voneinander profitieren. Sie ergänzen sich, hört der Herr doch genauso gern zu, wie der Diener erzählt. Vor diesem Hintergrund konstatiert Jacques: „Ich bin für Sie wie geschaffen, und Sie sind es für mich. […] Ich habe genau das Laster, das Ihnen behagt.“ (Diderot 1972: 193) 32 Die Machtbalance zwischen Jacques und seinem Herrn erweist sich allerdings als labil, etwa, wenn der Herr in unkontrollierter Wut zur Peitsche greift, um den Subalternen für sein eigenes Versagen zu bestrafen.33 Die Prügel des Herrn erscheinen damit nicht als ‚objektiv‘ gerechtes Maßregelungsinstrument eines sozial Höherstehenden, sondern als Mittel subjektiver Aggressionsabfuhr eines unausgeglichenen, unkontrollierten Charakters, der sich die Vorrechte seines Standes zunutze macht (Treskow 1996: 220).
Als seinem Knecht überlegen geriert sich der Herr auch, wenn er der Wirtin mit Gesten zu verstehen geben will, dass Jacques geisteskrank sei,34 oder wenn er von Jacques erfährt, dass es sich bei seiner Geliebten um Denise handelt – eine Dienstbotin, um die er selbst erfolglos geworben hat. Verstimmt erklärt er: Die Schurkin! Einen Jacques vorzuziehen! Jacques. Einen Jacques! Ein Jacques, Monsieur, ist ein Mensch wie jeder andere auch. […] Der Herr. Jacques, Du vergißt dich. Fahre mit deiner Liebesgeschichte fort und vergiß nicht, daß du nichts bist und niemals etwas anderes sein wirst als ein Jacques. (Diderot 1972: 194f.)35
In dieser Situation negiert der Herr sein freundschaftliches Verhältnis zu Jacques und verhält sich wie ein Despot, der blinden Gehorsam fordert. Zu lösen ist der Konflikt erst durch den Schiedsspruch der Wirtin, der anschließend durch den von Jacques geforderten Vertrag zwischen Herr und Knecht ersetzt wird. Da der Kontraktabschluss für die Neubestimmung des Kräfteverhältnisses zentral ist, wird die Passage im Folgenden näher beleuchtet.
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Vgl. Diderot 1972: 81 bzw. Diderot 1981a: 87. Vgl. Diderot 1981a: 179: „Jacques a été fait pour vous et vous fûtes fait pour Jacques. […] J’avais tout juste le vice qui vous convenait.“ Vgl. Diderot 1972: 4, 36, 323 bzw. Diderot 1981a: 24, 51, 285. Vgl. Diderot 1972: 123 bzw. Diderot 1981a: 122. Vgl. Diderot 1981a: 180: „La coquine! préférer un Jacques! / Jacques – Un Jacques! Un Jacques, Monsieur, est un homme comme un autre. […] / Le maître – Jacques, vous vous oubliez. Reprenez l’histoire de vos amours, et souvenez-vous que vous n’êtes et ne serez jamais qu’un Jacques.“
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Die konservative Hausherrin fällt ihr Urteil im Sinne des Herrn. Sie hebt „die Gleichheit, die sich im Lauf der Zeit zwischen“ den beiden Figuren „herausgebildet hat“, vorübergehend auf. Jacques soll den Befehlen seines Herrn Folge leisten, um danach „aufs neue in alle Vorrechte ein[zu]treten, die er bis zu diesem Tag genossen hat“. (Diderot 1972: 198) Das eigentliche Problem – die grundlegende Neubestimmung der Rechte und Pflichten von Herr und Knecht – bleibt ungelöst. So betont die Wirtin: „Wir wollen, daß der eine befiehlt und der andere gehorcht, jeder nach besten Kräften; und es möge, was der eine kann und der andere muß, im gleichen Dunkel gelassen werden wie bisher“ (Diderot 1972: 198).36 Im Unterschied zu dem Urteil der Wirtin plädiert Jacques für eine ‚vernünftige Vereinbarung‘, die das soziale Verhalten von Herr und Knecht durch eine gegenseitige Selbstverpflichtung regeln und damit künftigen Konfliktsituationen vorbeugen soll. Davon ausgehend, dass er seinem Herrn überlegen ist, verlangt Jacques erstens, dass er diesen Vorteil „mißbrauchen darf, soweit und sooft sich dazu Gelegenheit bietet“ (Diderot 1972: 199f.).37 Zweitens beansprucht er das Recht, sich seinem Herrn gegenüber unverschämt verhalten zu dürfen, solange es dieser nicht merkt. Bei beiden Forderungen handelt es sich laut Jacques um ‚Naturrechte‘ des Knechtes; denn alles sei „ohne unser Wissen so eingerichtet worden, all das wurde da droben in dem gleichen Augenblick besiegelt, da die Natur Jacques und seinen Herrn schuf. Es wurde verfügt, daß Sie die Titel haben sollten, und ich die Sache“ (Diderot 1972: 200).38 Auf den Vorschlag des Herrn, die sozialen Rollen zu tauschen, weil das Abkommen allein Jacques begünstige, erklärt der Subalterne: Wissen Sie, was dann geschehen würde? Sie würden dabei den Titel verlieren und dennoch nicht die Sache haben. Lassen Sie uns verbleiben, wie wir sind, wir stehen uns dabei außerordentlich gut; […] Alle unsere Streitigkeiten bis auf den gegenwärtigen Tag haben ihre Ursache darin, daß wir uns noch nie unverblümt gesagt hatten: Sie, daß Sie sich mein Herr nennen würden, und daß ich der Ihre
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Vgl. Diderot 1981a: 183: „[J]’annule l’égalité qui s’est établie entre eux par laps de temps, et la recrée sur-le-champ. […] Voulons que l’un ordonne et que l’autre obéisse, chacun de son mieux, et qu’il soit laissé entre ce que l’un peut et ce que l’autre doit la même obscurité que ci-devant.“ Vgl. Diderot 1981a: 184: „Jacques – Mais sans revenir sur cette affaire, ne pourrions-nous pas en prévenir cent autres par quelque arrangement raisonnable? […] Stipulons 1°: qu’attendu qu’il est écrit là-haut que je vous suis essentiel, et que je sens, que je sais que vous ne pouvez pas vous passer de moi, j’abuserai de ces avantages toutes et quantes fois que l’occasion s’en présentera.“ Hervorhebung N.B. Vgl. Diderot 1981a: 184: „Tout cela s’est arrangé à notre insu, tout cela fut scellé là-haut au moment où la nature fit Jacques et son maître. Il fut arrêté que vous auriez le titre et que j’aurais la chose“.
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wäre. Aber nun ist alles geklärt; und wir brauchen uns nur noch danach zu richten. (Diderot 1972: 200f.)39
Diese Textstelle ist von der Forschung vielfach analysiert worden. Allerdings beschränken sich die meisten Untersuchungen auf die Deutung des ersten oder zweiten Teils – das Urteil der Wirtin oder Jacques’ Gespräch mit dem Herrn über ‚Titel‘ (‚titre‘) und ‚Sache‘ (‚chose‘). Der Vertrag zwischen Herr und Knecht wird meist übergangen. Der Schiedsspruch der Wirtin wird in der Regel auf die Auseinandersetzungen zwischen dem König und seinem Parlament (Parlement) im Ancien Régime bezogen.40 Neben seiner Funktion als oberster Gerichtshof kam dem Parlament im 17. und 18. Jahrhundert die Aufgabe zu, die königlichen Erlasse zu verabschieden. Durch das Remonstrationsrecht konnten die Dekrete des Königs aber auch zurückgewiesen werden. Die daraus resultierenden Kontroversen gipfelten 1770/1771, als dem Parlament unter Justizminister René-Nicolas-Charles-Augustin Maupeou untersagt wurde, ein königliches Edikt nach einmaliger Remonstration weiter zu blockieren. Das Parlament verweigerte sich dem Beschluss, wurde aufgelöst und durch einen königlichen Gerichtshof, das Parlement Maupeou, ersetzt. Nach dem Tod von Ludwig XV. wurde das alte Parlament allerdings wieder installiert. Wie Anthony Strugnell betont, hat Diderot Maupeous Reform als „an act of open tyranny“ (Strugnell 1973: 134) bewertet, eine gängige Position der Zeit, wie etwa die Konversationslexika des 18. und 19. Jahrhunderts zeigen.41 Die politischen Auseinandersetzungen lassen sich, so die Forschung, zu Jacques’ Verhalten im Roman in Bezug setzen: Wie der König dem Parlament verbietet der Herr dem Knecht, sich seinen Anordnungen zu widersetzen; und wie der Gerichtshof verweigert sich Jacques dem Beschluss seines Herrn. Dass der Subalterne den Befehlen des Herrn Folge leisten und in den Keller gehen muss, um danach wieder in alle Vorrechte gesetzt zu werden, verweist auf die Auflösung und Wiedereinrichtung des Parlaments in den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts.42 Auf die Verfas-
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Vgl. Diderot 1981a: 185: „Savez-vous ce qui vous en arriverait? Vous y perdriez le titre et vous n’auriez pas la chose. Restons comme nous sommes, nous sommes fort bien tous deux, et que le reste de notre vie soit employé à faire un proverbe. […] Toutes nos querelles ne sont venues jusqu’à présent que de ce que nous ne nous étions pas encore bien dit, vous, que vous vous appelleriez mon mâitre, et que c’est moi qui serais le vôtre. Mais voilà qui est entendu, et nous n’avons plus qu’à cheminer en conséquence.“ Vgl. u. a. Diderot 1971, Didier 1982, Groh 1984, Treskow 1996. Vgl. u. a. Günther 1839, bes. S. 203ff. Vgl. u. a. Treskow 1996: 232.
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sungswirklichkeit des Ancien Régime wird, so die gängige Position, im Roman explizit hingewiesen, wenn der Erzähler konstatiert: Als sie [die Wirtin, N.B.] diesen Schiedsspruch gefällt, den sie irgendeinem zeitgenössischen Werk entnommen hatte, das bei Gelegenheit eines nur zu ähnlichen Streits veröffentlicht worden war, bei dem man von einem Ende des Königreichs bis zum andern den Herrn seinen Diener hatte anschreien hören: „Du gehst hinunter!“ und den Diener seinerseits schreien: „Ich gehe nicht hinunter!“, sagte sie zu Jacques: „Sie geben mir jetzt Ihren Arm, ohne noch mehr zu parlamentieren…“ (Diderot 1972: 198, Hervorhebung N.B.)43
Dass der Erzähler mit seinem Hinweis auf einen ‚ähnlichen Streit‘ die Kontroversen zwischen König und Parlament meint, ist plausibel, zeichnet sich Diderots Roman doch durch zahlreiche Bezüge auf die außerliterarische Realität aus.44 Allerdings muss berücksichtigt werden, dass sich Diderot nicht nur von Maupeous Politik, sondern auch von dem Parlament unter Ludwig XV. distanziert hat. So schreibt er 1773 in seinen Mémoires pour Catherine II: Jouissait-il [das Parlament, N.B.] de la considération publique? Non. Il n’en jouissait pas, parce qu’il ne la méritait pas, et il ne la méritait pas, parce que toutes ses résistances aux volontés du souverain n’étaient que de la mômerie; que l’intérêt de la nation était toujours sacrifié et qu’il ne se battait bravement que pour le sien. (Diderot 1966: 16)45
Aus diesem Grund kann die konfliktäre Herrschaftsbeziehung zwischen Jacques und seinem Herrn nur schwerlich als Chiffre für die konkrete politische Figuration der Zeit gelesen werden. Die Figuren müssen vielmehr als Ideenträger und das Herr-Knecht-Verhältnis als Denkmodell begriffen werden. Dafür spricht zum einen die unbestimmte Namensgebung – die Namenlosigkeit des Herrn und der „Allerweltsname[ ]“ (Weich 1989: 83) des Dieners. Zum anderen wird darauf auf der Ebene der Reisefabel hingewiesen, wenn Jacques betont, dass Verträge zwischen Herren und Dienern „zu allen Zeiten“ geschlossen werden, „so lange die Welt besteht“ (Diderot 1972: 199f.), oder wenn er erklärt: „Jacques lenkt seinen
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Vgl. Diderot 1981a: 183: „En achevant ce prononcé qu’elle avait pillé dans quelque ouvrage du temps, publié à l’occasion d’une querelle toute pareille, et où l’on avait entendu de l’une des extrémités du royaume à l’autre le maître crier à son serviteur, tu descendras, et le serviteur crier de son côté, je ne descendrai pas; allons, dit-elle à Jacques, vous, donnezmoi le bras sans parlementer davantage…“. Vgl. die Kommentare der Herausgeber in Diderot 1981a. „Genoss es [das Parlament, N.B.] allgemeines Ansehen? Nein. Es genoss es nicht, da es das nicht verdiente, und es verdiente es nicht, da all sein Widerstand gegen den Willen des Herrschers nichts als Ungehörigkeit war; da das Anliegen des Volkes immer geopfert wurde und es nur tapfer für seine eigenen Interessen kämpfte.“ (Übersetzung N.B.) Zu Diderots kritischer Beurteilung des Parlaments vgl. Strugnell 1973.
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Herrn. Wir werden die ersten sein, von denen man es gesagt hat; aber man wird es tausend andern nachsagen, die mehr wert sind als Sie und ich.“ (Diderot 1972: 200f.)46 Diese Ansicht teilen Groh und Treskow. Sie abstrahieren vom konkreten Beispiel und lesen das Herr-Knecht-Verhältnis als Modell für eine bestimmte Regierungsform – die konstitutionelle Monarchie. Beide sind davon überzeugt, dass Diderot „in der spielerischen Verfremdung des Konflikts zweier Romanfiguren die Möglichkeit einer Staatsreform“ andeutet, nach der „der König nur mehr den titre, ein Parlament der mündig gewordenen Jacques aber die chose hat.“ (Groh 1984: 269)47 Diese Argumentation wird durch den Rekurs auf Diderots politische Schriften, vor allem auf den von ihm verfassten Artikel Bürger (Citoyen) in der Enzyklopädie (Encyclopédie, 1751–1765), einen Brief an die Fürstin Ekaterina Daschkoff48 und den Text Observations sur le Nakaz (1774)49 untermauert. Sie greift aber zu kurz, weil sich Diderot nicht in allen seinen politischen Texten für eine konstitutionelle Monarchie ausgesprochen hat.50 Zudem gehen beide fast gar nicht auf den Vertragsabschluss zwischen Herr und Knecht ein. Im Unterschied zum Schiedsspruch der Wirtin gibt es in Bezug auf den zweiten Teil der Kontroverse – das Gespräch zwischen Herr und Diener über ‚Titel‘ (‚titre‘) und ‚Sache‘ (‚chose‘) – keinen Forschungskonsens.51 In seiner hegelianischen Analyse stellt Köhler die These auf, dass Jacques sein ‚knechtisches Bewusstsein‘ durch die Arbeit – durch das Erzählen von Geschichten – überwunden und ein ‚selbstständiges Bewusst-
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Vgl. Diderot 1981a: 184f.: „[C]ela s’est fait de tous les temps, se fait aujourd’hui et se fera tant que le monde durera. […] Jacques mène son maître. Nous serons les premiers dont on l’aura dit, mais on le répètera de mille autres qui valent mieux que vous et moi.“ Vgl. außerdem Treskow 1996: 232f. Der Brief, in dem Diderot die Auflösung des Parlaments kommentiert und den König bemerkenswerterweise als ‚maître‘ bezeichnet, zeigt, so Groh, dass Diderot das Parlament als Institution geschätzt hat, weil es „den liberalen und aufgeklärten Kräften als Basis für Reformen, zumindest aber als Basis zur Verteidigung des politischen Status quo dienen konnte, den er in der damaligen Situation stark gefährdet sah“ (Groh 1984: 268). Der Brief vom 3. 4. 1771 findet sich in Diderot 1964, S. 19f. Der genaue Titel lautet: Observations sur l’Instruction de l’impératrice de Russie aux députés pour la confection des lois. Diderot lässt sich nicht in allen seinen politischen Texten auf eine bestimmte Regierungsform festlegen. So betont er in dem Enzyklopädie-Artikel Gesetzgeber (Législateur), dass das ideale politische System eines Landes von dessen Größe abhängig sei. Während sich ein kleines Land selbst verwalten könne und daher eine republikanische Verfassung aufweisen müsse, sei bei größeren Ländern eine monarchische Regierung vorzuziehen (vgl. Diderot 1969c bzw. Diderot 1782a). Zur Deutung des Gesprächs über ‚Titel‘ und ‚Sache‘ vgl. u. a. Albert 1989, Hilker 2006, Köhler 1965, Thoma 2006, Warning 1995.
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sein‘ entwickelt habe. Dadurch sei er im Besitz der ‚Sache‘, verstanden als „neu gewonnene Mündigkeit“. Der Herr habe zwar den höheren sozialen Status, sein ‚selbstständiges Bewusstsein‘ aber durch seine „unselbständige, automatenhafte Lebenspraxis“ verloren. An einem Tausch der sozialen Rollen sei Jacques nicht interessiert, weil er wisse, dass damit der Verlust „jeder echten Produktivität“ und damit seines neu gewonnenen ‚selbstständigen Bewusstseins‘ einhergehe. (Köhler 1965: 134) Im Gegensatz zu Köhler deutet Annette Hilker die ‚Sache‘ als „Herrenprivileg der Freiheit“ und bezieht das auf Jacques’ „kontingente[s] Verhalten[ ]“. (Hilker 2006: 204) Claudia Albert ist hingegen überzeugt, dass der Herr zwar über seine adligen Privilegien (‚Titel‘) verfüge, der Knecht aber die Welt beherrsche (‚Sache‘), „nicht durch Arbeit […] – sondern durch Verstand“ (Albert 1989: 389). Ähnlich argumentiert Treskow, die die Figuration von Herr und Knecht „als Antwort des Bürgertums auf die Begründung der Stellung und der Privilegien des Adels“ (Treskow 1996: 233) begreift. Unter ‚Sache‘ versteht sie die „moralische Urteilsfähigkeit“, die das Bürgertum in der Literatur des 18. Jahrhunderts für sich reklamiert und der „ererbte[n] selbstgesetzte[n] Autorität“ des Adels entgegensetzt. (Treskow 1996: 233f.) Warning meint hingegen, dass der Herr über den Titel – verstanden als Herrschaftstitel – verfügt, dem Knecht aber die Macht zukommt, ihm den Titel zuzusprechen (vgl. Warning 1995: 180); und laut Heinz Thoma sind die Begriffe ‚Titel‘ und ‚Sache‘ auf das Eigentum (rechtliche Herrschaft) und den Besitz (tatsächliche Herrschaft) zu beziehen. In dieser Lesart wäre der Herr Eigentümer und der Knecht Besitzer der Sache, ein Zustand, den der Knecht verstetigen, sich damit auch zum Eigentümer der Sache machen will, womit dem Herrn nicht einmal mehr der bereits ausgehöhlte Rechtstitel bliebe. Erst wenn man die gewählte Metaphorik auf Grund und Boden bezieht, erhellt auch – anders als in der politischen Lesart –, warum der Herr nicht mit dem Knecht tauschen kann, bringt der Besitz der Sache doch deren Gebrauch mit sich, den der Eigentümer, der Herr, nicht leisten kann. (Thoma 2006: 228)
Angesichts der Offenheit des Romans entzieht sich die Textpassage einer eindeutigen Lesart. Beide Teile lassen sich aber konsistent deuten, wenn man den Vertrag zwischen Herr und Knecht entgegen der skizzierten Forschungspositionen auf die politische Philosophie Diderots und seine vertragstheoretischen Argumentationen bezieht.52 Im Folgenden soll daher Diderots Position im Rekurs auf seine politischen Schriften, insbesondere auf die von ihm verfassten Artikel zu Politik und Naturrecht in der Enzyklopädie, skizziert und zum Roman in Bezug gesetzt werden.
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Dass der Vertrag zwischen Herr und Knecht vor dem Hintergrund von Hobbes’ Vertragstheorie gelesen werden muss, meint auch Rainer Warning (vgl. Warning 1995).
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Wie Andreas Heyer deutlich gemacht hat, entfaltet Diderot in der Enzyklopädie kein „eigenes kontraktualistisches System“; er entwickelt aber eine eigenständige Position in Auseinandersetzung mit „anderen neuzeitlichen Vertretern des Naturrechts und der Vertragstheorie, vor allem [Hugo] Grotius, [Thomas] Hobbes, [Algernon] Sidney, [Baruch de] Spinoza, [Samuel von] Pufendorf, [John] Locke, [Christian] Wolff, [Jean] Barbeyrac, [Emerich de] Vattel, [Jean Jacques] Burlamaqui und dann in den späteren Bänden […] auch mit [Jean-Jacques] Rousseau“ (Heyer 2004: 146ff.).53 Auch wenn die Grundlinien von Diderots Argumentation gleich bleiben, muss doch darauf hingewiesen werden, dass er zu einzelnen Aspekten, etwa zu der Frage, ob die Menschen im Naturzustand gleich oder ungleich gewesen sind,54 nicht in allen seinen politischen Schriften dieselbe Position bezogen hat. In allen Texten geht Diderot aber davon aus, dass der Mensch im Naturzustand frei gewesen ist. „Kein Mensch hat von der Natur das Recht erhalten, den anderen zu gebieten“ (Diderot 1969i: 198),55 betont er in dem Artikel Politische Autorität (Autorité politique) in der Enzyklopädie. Trotzdem hat der Naturzustand den Nachteil, dass die Subjekte aufgrund ihrer Leidenschaften miteinander in Konflikt geraten.56 Um sich vor „Gewalttätigkeit und Hilflosigkeit, sei es bei der notwendigen Befriedigung von Bedürfnissen, sei es in Gefahren“ (Diderot 1969c: 210),57 zu schützen, entscheiden sich die zu vernünftigem Handeln fähigen Subjekte dafür, ihre natürliche Freiheit zugunsten der kollektiven Sicherheit einzuschränken und sich zu vergesellschaften. Neben diesem pragmatischen Grund führt auch die Orientierung am ‚allgemeinen Willen‘ – der volonté générale – zum Austritt aus dem Naturzustand. Er wird von Diderot als vernunftgesteuerter Wille der Menschheit definiert, an dem alle Entscheidungen des Individuums geprüft werden. Das ist notwendig,
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Vornamen ergänzt durch N.B. In den Teilen, die Diderot zu der Geschichte beider Indien (Histoire des deux Indes, 1780) von Guillaume Thomas François Raynal beigetragen hat, geht er von der Ungleichheit der Menschen im Naturzustand aus, wenn er erklärt: „Es ist unter den Menschen eine ursprüngliche Ungleichheit, welche nichts zu hindern vermag. Sie muß ewig dauern, und alles, was man auch von der besten Gesetzgebung erhalten kann, ist nicht, sie zu zerstören, sondern ihren Mißbrauch zu hindern“ (Raynal/Diderot 1988: 287). Im Unterschied dazu behauptet er im Artikel Gesetzgeber (Législateur) in der Enzyklopädie, dass die Menschen im Naturzustand gleich und frei gewesen sind (vgl. Diderot 1969c: 210 bzw. Diderot 1782a: 753). Vgl. Diderot 1976a: 537: „Aucun homme n’a reçu de la nature le droit de commander aux autres.“ Vgl. den Artikel Naturrecht (Droit naturel) in der Enzyklopädie (Diderot 1969g, bes. 336 bzw. Diderot 1976c: 24–29). Vgl. den Artikel Législateur (Gesetzgeber) in Diderot 1782a: 753: „violence & la privation des secours, soit dans les besoins nécessaires, soit dans les dangers“.
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da es im Naturzustand keine allgemein verbindlichen Moralvorstellungen und Verhaltenskonventionen gibt. Erst durch die Ausrichtung am allgemeinen Willen kann das Subjekt erfahren, „inwieweit es Mensch, Staatsbürger, Untertan, Vater, Sohn sein soll, und wann es ihm geziemt, zu leben oder zu sterben. Dem allgemeinen Willen obliegt es, die Grenzen aller Pflichten festzulegen.“ (Diderot 1969g: 338)58 Zu den Entscheidungen, die die volonté générale für den Fortschritt des Menschengeschlechts fordert, zählt auch die Überwindung des Naturzustands, die sich im Abschluss eines Gesellschaftsvertrags eines jeden mit jedem manifestiert. Das gegründete Gemeinwesen wird durch den Gesetzgeber ausgestaltet. Als Repräsentant der Gesellschaft hat er sich bei der Abfassung der Verfassungs- und Zivilgesetze am allgemeinen Willen zu orientieren, ist doch die „Sicherheit des Staates und das Glück der Staatsbürger“ (Diderot 1969c: 210)59 das Ziel einer jeden Gesetzgebung. Nach dem Gesellschaftsvertrag, in dem Verfassung und erste Zivilgesetze festgelegt werden, schließt die Gemeinschaft ähnlich wie bei Locke einen Herrschaftsvertrag ab, in dem sie die Staatsgewalt einer oder mehreren von ihr autorisierten Personen überträgt.60 Indem Diderot Gesellschafts- und Herrschaftsvertrag voneinander trennt, spricht er der Gemeinschaft so viel Autarkie zu, dass sie im Fall eines Widerstandes gegen den/die Inhaber der politischen Macht handlungsfähig bleibt und nicht sofort wieder in den konfliktären Naturzustand zurückfällt. Obwohl Diderot den Herrschaftsvertrag selbst als „Unterwerfungsvertrag“ (Diderot 1969i: 201)61 bezeichnet, argumentiert er nicht wie Hobbes für einen Vertrag eines jeden mit jedem zugunsten eines nicht in den Vertrag mit einbezogenen begünstigten Dritten – des Souveräns.62 Als Staatsmitglied und Teilhaber des Gesellschaftsvertrages ist der Inhaber der politischen Macht vielmehr der erste Diener des Staates. So konstatiert Diderot:
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Vgl. Diderot 1976c: 28: „C’est à la volonté générale que l’individu doit s’adresser pour savoir jusqu’où il doit être homme, citoyen, sujet, père, enfant, & quand il lui convient de vivre ou de mourir. C’est à elle à fixer les limites de tous les devoirs.“ Vgl. den Artikel Législateur (Gesetzgeber) in Diderot 1782a: 753: „sécurité de l’état & le bonheur des citoyens“. Vgl. Locke 1977, Kapitel 8, 260–277: Die Entstehung von politischen Gesellschaften bzw. Locke 1988, Chap. 8, 330–349: Of the Beginning of Political Societies. Vgl. Diderot 1976a: 539: „contrat de soumission“. Vgl. Hobbes 1966: 128 bzw. Hobbes 2002: 88; zu den einschlägigen kontraktualistischen Theoriekonzeptionen von Hobbes, Locke, Rousseau u. a. vgl. Kersting 1994; zur Einordnung der vertragstheoretischen Argumentation Diderots in den Diskurs der Zeit vgl. Heyer 2004: 170–180.
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Der Staat gehört nicht dem Fürsten, sondern der Fürst gehört dem Staat; aber es ist Aufgabe des Fürsten, im Staat zu regieren, weil der Staat ihn dafür gewählt hat, weil er sich den Völkern gegenüber zur Führung der Geschäfte verpflichtet hat und weil die Völker sich ihrerseits verpflichtet haben, ihm gemäß den Gesetzen zu gehorchen. (Diderot 1969i: 201f.)63
Wie ausgeführt, wird die Herrschaft des Souveräns durch die staatlichen Gesetze und die volonté générale eingeschränkt. Seine Autorität gründet sich auf die ausdrückliche Zustimmung der Untertanen – wenn sie rechtmäßig sein will. Daher plädiert Diderot in dem Artikel Gesetzgeber (Législateur) in der Enzyklopädie und in den Observations sur le Nakaz für eine demokratische Verfassung, erlaubt sie doch die größtmögliche Sicherheit, Gleichheit und Freiheit der Untertanen.64 Absolutistische Herrschaftssysteme werden von Diderot mit dem Argument verworfen, dass hier eine „Herde von Tieren“ von dem „Gebot der Peitsche“ angetrieben und nach der „Laune“ des Monarchen gegängelt werde. (Diderot 1969i: 203)65 Auch wenn Diderot in der Enzyklopädie die Türkei als Negativbeispiel für solch ein despotisches Herrschaftssystem anführt, lassen sich die Ausführungen – zumindest auch – als versteckte Kritik am französischen Absolutismus lesen.66
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Vgl. Diderot 1976a: 540: „Ce n’est pas l’État qui appartient au prince, c’est le prince qui appartient à l’État: mais il appartient au prince de gouverner dans l’État, parce que l’État l’a choisi pour cela; qu’il s’est engagé envers les peuples à l’administration des affaires, & que ceux-ci de leur côté se sont engagés à lui obéir conformément aux lois.“ Im Artikel Gesetzgeber (Législateur) der Enzyklopädie räumt Diderot allerdings ein, dass sich eine Demokratie nur in kleinen Staaten durchsetzen lasse. In größeren Ländern könne sich das Volk nicht schnell genug zusammenschließen, um Beschlüsse zu fassen oder um „im Nu Befehle, Strafmaßnahmen und Hilfeleistungen von einer Provinz in die andere gelangen“ (Diderot 1969c: 211) zu lassen. Je mehr sich ein Staat ausdehne, desto mehr Autorität müsse einer immer kleineren Anzahl von Menschen zugesprochen werden, bis das Land „schließlich zu einem großen Reich wird, in dem die Gesetze, der Ruhm und das Glück der Völker im Despotismus untergehen“ (Diderot 1969c: 215; vgl. Diderot 1782a: 753, 755: „[L]a promptitude des résolutions & de l’exécution, qui est le grand avantage du gouvernement monarchique, fait passer, quand il le faut & dans un moment, d’une province à l’autre, les ordres, les châtimens, les secours. […] jusqu’à ce qu’enfin devenu un grand empire, les loix, la gloire & le bonheur des peuples aillent se perdre dans le despotisme“). Auch in den Observations sur le Nakaz zweifelt Diderot, ob sich ein demokratisches System durchsetzen lässt. Vgl. Diderot 1976a: 541: „[U]n troupeau d’animaux que l’habitude assemble, que la loi de la verge fait marcher, & qu’un maître absolu mène selon son caprice.“ Diese Position teilt u. a. Heyer mit dem Verweis auf den Roman Die geschwätzigen Kleinode (Les bijoux indiscrets, 1748), in dem „Diderot ebenfalls dieses für die Aufklärung typische Verfahren des Versteckens der Kritik in der Schilderung des orientalischen Despotismus anwandte“ (Heyer 2004: 160). Da die Enzyklopädie der Zensur unterlag, war Diderot keine direkte Kritik am französischen Absolutismus möglich.
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Halten sich die Inhaber der politischen Macht nicht an den Herrschaftsvertrag, indem sie sich über die staatlichen Gesetze oder die volonté générale hinwegsetzen, die natürliche Freiheit des Subjekts missachten oder „Gewalt und Zwang“ (Diderot 1969i: 204)67 ausüben, wird den Untertanen ein Widerstandsrecht eingeräumt. In diesem Fall ist, so Diderots Argumentation in der Enzyklopädie, der Herrschaftsvertrag aufzukündigen. Denn jede „Unterordnung“ müsse „vernünftig“ sein. „[B]lind und rückhaltlos“ dürfe man sich nur dem Schöpfer, nicht aber einem Inhaber der politischen Macht unterwerfen. (Diderot 1969i: 200)68 Wie lässt sich Diderots politische Position nun aber zu der im Roman vorgeführten Herrschaftsbeziehung zwischen Herr und Knecht in Bezug setzen? Ähnlich wie die Subjekte im Naturzustand, die aufgrund ihrer Leidenschaften miteinander in Konflikt geraten, sind Jacques und sein Herr bestrebt, ihre Rechte und Pflichten genau zu bestimmen, um künftige Auseinandersetzungen zu vermeiden. Daher unterwerfen sie sich dem Schiedsspruch der Wirtin. Ihr Urteil verweist auf die politische Situation der Zeit – die Auseinandersetzungen zwischen König und parlement; es ist aber auch und vor allem als kritische Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Vertragstheorie zu lesen, die als Ideologie einer ungerechten, unpolitischen Gesellschaft demaskiert wird, so die These. Mit dem vorgeblich parteilosen Urteil der Wirtin wird die Ungleichheit zwischen Herr und Knecht formal verrechtlicht. Jacques hat den Befehlen des Herrn bedingungslos zu folgen. So erklärt die Wirtin: Es stand da droben geschrieben, daß man in dem Augenblick, da man einen Herrn nimmt, hinuntergeht, hinaufgeht, vorwärtsgeht oder rückwärtsgeht oder stehenbleibt, und zwar ohne daß es den Füßen jemals freistünde, sich den Befehlen des Kopfs zu widersetzen. (Diderot 1972: 198)69
Mit ihrem Schiedsspruch, an den sich Herr und Knecht „[e]hrenwörtlich“ (Diderot 1972: 197)70 zu halten versprechen, schafft sie wie die Gesellschaftsverträge von Grotius, Hobbes und Pufendorf die Rechtsgrundlage für eine absolutistische Herrschaft. Jacques hat sich einen Herrn gewählt, so die Wirtin. Jetzt soll er sich – ähnlich wie die Untertanen bei Hobbes – verpflichten, „dem Willen dieses einen, dem er sich unterworfen hat […],
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Vgl. Diderot 1976a: 542: „violence & de contrainte“. Vgl. Diderot 1976a: 538: „votre soumission soit raisonnable“; „non pas aveuglément & sans réserve“. Vgl. Diderot 1981a: 183: „Il était donc écrit là-haut qu’au moment où l’on prend maître on descendra, on montera, on avancera, on reculera, on restera, et cela sans qu’il soit jamais libre aux pieds de se refuser aux ordres de la tête.“ Vgl. Diderot 1981a: 182.
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keinerlei Widerstand zu leisten“ (Hobbes 21966: 128).71 An Hobbes erinnert auch das von der Wirtin bemühte Bild von Herr und Knecht als Füße und Kopf eines Subjekts. Denn der Staat als „politisch geordnete[s] Gemeinwesen“ ist auch bei Hobbes „ein body politic, beherrscht und bewegt von dem verbliebenen einen freien Willen des Souveräns“. (Kersting 1994: 86) Diderots Kritik an den Vertragstheorien, die eine Friedensstiftung durch eine Machtmonopolisierung proklamieren, teilt Rousseau. In seiner Abhandlung über die Politische Ökonomie (Discours sur l’économie politique, 1755) und in seiner Schrift Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts (Du contrat social ou Principes du droit politique, 1762) wirft er u. a. Hobbes und Grotius vor, in ihren Gesellschaftsverträgen nur die Reichen zu begünstigen. Es handle sich um einen Täuschungs- und Betrugsvertrag, den die Reichen als raffiniertes Instrument ihrer Interessen handhaben, der die Armen, die objektiv nicht das geringste Interesse an der Institutionalisierung der sozio-ökonomischen Ungleichheit und damit an ihrer sozialen Deprivilegierung haben können, mit einer bewußt falschen Darstellung der Interessenlagen einwickelt und so zu einer Stabilisierung einer ihrem Interesse diametral entgegengesetzten sozio-ökonomischen Macht- und Güterverteilung benutzt. (Kersting 1994: 145)72
Dem Vertrag der Reichen – dem contrat des riches –, für den die Wirtin plädiert, folgt die Vereinbarung, die das Figurenpaar miteinander trifft und die Parallelen zu Diderots politischen Ideen aufweist, deutet man den Vertrag zwischen Herr und Knecht als Herrschaftsvertrag zwischen Gesellschaft und Regierung. Mit dem Abkommen zielt Jacques darauf, die in der ersten Hälfte des Romans vorgeführte Machtbalance zwischen Herr und Knecht zu fixieren. Zunächst soll festgehalten werden, dass Jacques seinen Herrn lenkt,73 ein Faktum, das vom Herrn anerkannt wird, wenn er erklärt: „Es steht da droben geschrieben, daß ich mich niemals von diesem Original trennen werde und daß er [Jacques, N.B.], solange ich lebe, mein Herr sein soll und ich sein Diener“ (Diderot 1972: 199).74 Bezogen auf Diderots vertragstheoretische Position wird der Inhaber der politischen Macht hier als erster Diener des Staates definiert. Seine Autorität
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Vgl. Hobbes 2002: 88: „This submission of the wils of all those men to the will of one man, or one Counsell, is then made, when each one of them obligeth himself by contract to every one of the rest, not to resist the will of that one man, or counsell, to which he hath submitted himselfe“. Vgl. außerdem Rousseau 2010, bes. Erstes Buch, Kapitel 4, und Rousseau 1977. Vgl. Diderot 1972: 200 bzw. Diderot 1981a: 185. Vgl. Diderot 1981a: 183: „Il est écrit là-haut que je ne me déferai jamais de cet original-là, et que tant que je vivrai il sera mon maître et que je serai son serviteur…“.
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erlangt er durch die Untertanen, die ihn als Herrscher anerkennen; und seine Macht ist begrenzt durch die staatlichen Gesetze sowie die volonté générale. (Vgl. Diderot 1969i: 201)75 Setzt sich der Herrscher darüber hinweg, ist das Volk berechtigt, Widerstand zu leisten. Diese Auffassung teilt Jacques, der seinem Herrn zu verstehen gibt: Wenn man weiß, daß alle Ihre Befehle in den Wind geredet, wenn sie nicht von Jacques bestätigt waren; nun Ihr Name so gut mit dem meinen verbunden ist, daß der eine nie ohne den andern auskommen kann und daß alle Welt ‚Jacques und sein Herr‘ sagt, da beliebt es Ihnen plötzlich, sie zu trennen. Nein, daraus wird nichts. […] Herr, befehlen Sie mir etwas ganz anderes, wenn Sie wollen, daß ich gehorche. (Diderot 1972: 195f.)76
Die genannten Aspekte werden in dem von Jacques formulierten Vertrag zusammengefasst, in dem der Herr anerkennen soll, dass er von seinem Diener abhängig ist. Wie die Vereinbarung des Figurenpaars lässt sich auch Jacques’ Aussage, dass sein Herr den ‚Titel‘ (‚titre‘) habe, während er selbst die ‚Sache‘ (‚chose‘) besitze, vor dem Hintergrund der politischen Ideen Diderots lesen. In der Enzyklopädie erklärt er: „Kurz: die Krone, die Regierung und die öffentliche Autorität sind Güter, deren Eigentümer die gesamte Nation ist und deren Nutznießer, Verwalter und Treuhänder die Fürsten sind“ (Diderot 1969i: 202). Dem Herrn ist sein Titel vom Eigentümer – dem Volk – nur verliehen worden. Er kann sich zwar entscheiden, den Titel wieder abzugeben, ist aber „nicht berechtigt, die bestehende Regierungsweise irgendwie zu ändern oder ein anderes Oberhaupt einzusetzen“ (Diderot 1969i: 202).77 Da der Herr nicht autorisiert ist, einen anderen an seine Stelle zu setzen, ist ein Wechsel der Positionen im sozialen Raum nicht einfach möglich. Wie Thoma deutlich gemacht hat,78 erhellt diese Lesart aber nicht, warum der Inhaber der politischen Macht als Staatsoberhaupt und Staatsmitglied nach Ablegen seines Titels nicht mehr in den Besitz der Sache kommen kann. Das ist in der Tat nur möglich, wenn man die beiden Meta-
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Vgl. Diderot 1976a. Vgl. Diderot 1981a: 181: „Quand on sait que tous vos ordres ne sont que des clous à soufflet s’ils n’ont été ratifiés par Jacques; après avoir si bien accolé votre nom au mien que l’un ne va jamais sans l’autre, et que tout le monde dit Jacques et son maître, tout à coup il vous plaira de les séparer! Non, Monsieur, cela ne sera pas. […] Monsieur, commandezmoi toute autre chose, si vous voulez que je vous obéisse.“ Vgl. Diderot 1976a: 540: „En un mot, la couronne, le gouvernement, & l’autorité publique, sont des biens dont le corps de la nation est propriétaire, & dont les princes sont les usufruitiers, les ministres & les dépositaires. […] mais ne pouvant rien légitimement pour changer le gouvernement établi, ni pour mettre un autre chef à leur place.“ Vgl. Thoma 2006: 228.
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phern ‚Titel‘ und ‚Sache‘ auch auf das Eigentum bezieht. In dem Artikel Eigentum in der Enzyklopädie erklärt Diderot die Sicherung des Privateigentums zu einer wesentlichen Triebfeder für den Abschluss des Gesellschaftsvertrages – eine Position, die er mit Locke teilt: Sie [die Subjekte im Naturzustand, N.B.] wünschten, daß niemand sie im Genuß ihrer Güter stören könnte; deshalb stimmte jeder zu, einen Teil dieser Güter, den man „Abgaben“ nennt, für die Erhaltung und Unterstützung der ganzen Gesellschaft zu opfern. Dadurch wollte man den Oberhäuptern, die man gewählt hatte, die Mittel liefern, jeden einzelnen im Genuß des Teils zu erhalten, den er sich vorbehalten hatte (Diderot 1969a: 209).79
Die von den Subjekten rechtmäßig erworbenen Güter sind ihr Eigentum.80 Um die Regierung zu stützen, entrichten sie einen Teil davon als Abgaben. Legt der Inhaber der politischen Macht seinen Titel nieder, kann er zwar Eigentum, etwa in Form von Grund und Boden, erwerben, ist aber unfähig, es zu bearbeiten. Ähnlich argumentiert Köhler – allerdings aus hegelianischer Perspektive –, wenn er davon spricht, dass der Herr dem „Knecht die Bearbeitung des Dings“ (Köhler 1965: 134) überlassen und dadurch jede unmittelbare Beziehung zu diesem verloren habe. Auch aus diesem Grund können Herr und Knecht ihre sozialen Rollen nicht tauschen. Nach dieser Neubestimmung des Kräfteverhältnisses setzt das Figurenpaar seine Reise fort. Beide halten sich an den Vertrag. Der Herr erkennt Jacques’ Überlegenheit an, wenn er dem Marquis des Arcis auf die Bemerkung, dass er einen sehr „ungewöhnlichen Diener“ habe, antwortet: „Einen Diener? Sie sind sehr gütig: ich bin nämlich der seine“. (Diderot 1972: 204)81 Im Gegenzug fügt sich Jacques den Befehlen seines Herrn und lässt ihn – wie im Vertrag festgelegt – seine Unverschämtheiten nicht merken. Das wird am deutlichsten, als der Streit zwischen den Figuren erneut auszubrechen droht, weil Jacques die Erzählungen seines Herrn
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Vgl. den Artikel Propriété (Droit naturel & politique) in Diderot 1780b: 618: „[I]ls ont voulu que personne ne pût les troubler dans la jouissance de leurs biens; c’est pour cela que chacun a consenti à en sacrifier une portion que l’on appelle impôts, à la conservation & au maintien de la société entiere; on a voulu par-là fournir aux chefs qu’on avoit choisis les moyens de maintenir chaque particulier dans la jouissance de la portion qu’il s’étoit réservée.“ Obwohl Diderot für den Schutz des Privateigentums plädiert und dem Souverän jedes Recht abspricht, über das Vermögen seiner Untertanen zu verfügen, vertritt er keine klassisch liberale Position. Er ist davon überzeugt, dass die volonté générale die Ausdifferenzierung in arm und reich verhindert, weil sie dafür sorgt, dass die Subjekte ihre Güter mit der Gemeinschaft teilen. Vgl. dazu den Artikel Luxus (Luxe) (Diderot 1969e). Vgl. Diderot 1981a: 188: „La maître – Un serviteur! vous avez bien de la bonté, c’est moi qui suis le sien“.
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Diderot: Jacques der Fatalist und sein Herr
ständig unterbricht – eine Anmaßung in den Augen des Adligen. Anstatt sich gegen die Launen des Herrn offensiv zu Wehr zu setzen, macht Jacques ihm sein Vorrecht nur indirekt streitig, indem er „bescheidentlich“ antwortet: „Herr, ich unterbreche Sie nicht, sondern ich plaudere mit Ihnen, da Sie mir dazu die Erlaubnis gegeben haben.“ (Diderot 1972: 281)82 Später hält er sich mit Einwürfen zurück.83 Trotz des Vertrags bleibt die Machtbalance zwischen Herr und Knecht allerdings instabil. Das Kräfteverhältnis kann sich jederzeit zu Lasten oder zu Gunsten des Subalternen verschieben. Das zeigt sich, wenn die Figuren über den rechtlich anerkannten Sohn des Herrn sprechen. Während der Adlige „einen guten Drechsler oder einen guten Uhrmacher aus ihm machen“ (Diderot 1972: 316) will,84 hält es Jacques für möglich, dass aus ihm auch ein zweiter Oliver Cromwell werden könnte. So fragt er sich: „Ist der, der seinem König den Kopf abschlagen ließ, etwa nicht aus dem Betrieb eines Brauers hervorgegangen, und sagt man nicht in unseren Tagen…?“ (Diderot 1972: 316)85 Diese Äußerung ist von der Diderot-Forschung häufig als „Vorgriff auf die Revolution und die Entmachtung des Ancien régime“ (Galle 1980: 243) gewertet worden. Auch wenn die Textstelle darauf hindeutet, dass sich die Konflikte zwischen Herr und Knecht in der Zukunft verschärfen könnten, ist fraglich, ob die „Umkehr der Hierarchie und der Machtverhältnisse“ (Weich 1989: 157) im Roman wirklich antizipiert wird. Denn das durch den Vertrag neu bestimmte Machtgefälle zwischen Herr und Knecht verschiebt sich am Ende des Romans noch einmal, diesmal zu Gunsten des Herrn. Dass es sich zu Lasten des Knechts verändern könnte,86 wird schon durch Jacques’ Halsentzündung in der zweiten Romanhälfte angedeutet, die dazu führt, dass er die „ihn auszeichnende Gabe der Rede“ (Thoma 2006: 229) verliert und seine Liebesgeschichte nicht weitererzählen kann. 87 Zudem plagen ihn düstere Vorahnungen. Aus Angst davor, dass seine Schilderungen „Unglück bringen“ (Diderot 1972: 316) könnten,88 will er auch nach
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Vgl. Diderot 1981a: 252: „Mais la vérité est que Jacques répondit modestement à son maître: Monsieur, je ne vous interromps pas, mais je cause avec vous, comme vous m’en avez donné la permission.“ Vgl. Diderot 1972: 283 bzw. Diderot 1981a: 253. Vgl. Diderot 1981a: 279: „Le maître – […] J’en ferai un bon tourneur ou un bon horloger.“ Vgl. Diderot 1981a: 280: „Celui qui fit couper la tête à son roi n’était-il pas sorti de la boutique d’un brasseur, et ne dit-on pas aujourd’hui…“ Auf die „pessimistische Struktur“, die in den Roman eingebaut ist und die der konstatierten „Überlegenheit des Knechts“ entgegenläuft, weist auch Thoma hin. (Thoma 2006: 229) Vgl. Diderot 1972: 254, 258 bzw. Diderot 1981a: 229, 234. Vgl. Diderot 1981a: 280: „Jacques – […] que cette histoire ne doit pas finir, que ce récit nous portera malheur“.
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seiner Gesundung den Erzählfaden nicht wieder aufnehmen. So bittet er seinen Herrn: „[M]ir scheint, ich spürte abermals die Hand des Verhängnisses an der Gurgel und fühlte, wie sie mir zusammengedrückt wird; um Gottes willen, Herr, erlauben Sie mir, daß ich schweige“ (Diderot 1972: 325).89 In dieser Äußerung werden Hals und Tod semantisch miteinander verknüpft. Ähnliches gilt, wenn der Herr seinem Diener voraussagt, er werde sich noch den Hals brechen.90 Auch die von Jacques im ersten Teil des Romans geäußerte Vermutung, dass er für die Tat eines anderen gehängt werde, lässt sich vor diesem Hintergrund als „Vorausdeutung auf das Verbrechen des Herrn und die unverschuldete Inhaftierung des Dieners“ (Thoma 2006: 224) am Ende der Reisefabel lesen. Für den Mord des Herrn an seinem Rivalen, dem Chevalier de Saint-Ouin, wird Jacques gefasst und verurteilt. Ob sich das Machtgefälle zwischen Jacques und seinem Herrn zu Lasten oder zu Gunsten des Subalternen entwickeln wird, bleibt aber offen. Denn der Roman endet nicht mit Jacques’ Gefangenschaft, sondern mit dem Kommentar des Herausgebers, der Herr und Knecht auf dem Schloss Desglands wieder zusammentreffen und in Harmonie leben lässt, bis Jacques möglicherweise von seinem Herrn hintergangen werden wird.91 Dass das soziale und politische Spannungsverhältnis nicht aufgelöst wird, lässt sich auch am Beispiel des Pferds zeigen, das dem Herrn zu Beginn der Reise gestohlen wird und das Jacques gegen Ende der Reise bei einem Bauern wiederentdeckt. Das Pferd, das sich nicht zur Feldarbeit bewegen lässt, wird vom Diener als „das Symbol Jacques’“ (Diderot 1972: 306)92 und aller anderen Landleute bezeichnet, die ihren Bauernstand aufgegeben haben und in die Stadt gezogen sind, um dort Bedienstete zu werden, und die lieber Hungers sterben würden, als auf das Land zurückzukehren.93 Das Pferd fungiert aber auch als Symbol des Herrn. Es ist
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Vgl. Diderot 1981a: 287: „Je ne saurais, il m’est impossible d’avancer, il me semble que j’aie derechef la main du destin à la gorge et que je me la sente serrer; pour Dieu, Monsieur, permettez que je me taise“. Vgl. Diderot 1972: 294 bzw. Diderot 1981a: 261. Vgl. Diderot 1972: 331 bzw. Diderot 1981a: 291. Vgl. Diderot 1981a: 272: „symbole de Jacques“. Das Elend der Landleute thematisiert Diderot u. a. in dem von ihm verfassten Artikel Mensch (Politik) (Homme (Politique)) in der Enzyklopädie. Hier führt er die Landflucht der Bauern auf ihre Verelendung zurück und erklärt: „Wenn die Landwirte, das heißt die Menschen im Staat, die am meisten arbeiten, am schlechtesten ernährt werden, so müssen sie entweder ihres Standes überdrüssig werden oder zugrunde gehen. Wer behauptet, die Wohlhabenheit werde sie veranlassen, ihren Stand aufzugeben, ist ein Ignorant und ein Unmensch.“ (Diderot 1969f: 234)
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„zwar schön“, wie der Bauer konstatiert, „aber es taugt zu nichts, als unter einem Reiter stolz einherzustampfen“. (Diderot 1972: 308)94 Darin gleicht es dem „nicht erwerbstätigen, standesbewußten Herrn“ als Repräsentant der „herrschenden Aristokratie“. (Weich 1989: 156) Die Offenheit des Diskurses, die sich auch in der Mehrdeutigkeit der Zeichen manifestiert, ist paradigmatisch für den Roman, in dem sich Diderot gegen alle Formen unbeschränkter Herrschaft wendet.95 Zwar akzeptiert er „um des gemeinsamen Wohles willen und zur Aufrechterhaltung der Gesellschaft, daß die Menschen unter sich eine Rangordnung schaffen“, allerdings nur, wenn das „vernünftig und mit Maß“ geschieht. (Diderot 1969i: 199f.)96 Um das abzusichern, muss ein Herrschaftsvertrag zwischen der Gemeinschaft und den Inhabern der politischen Macht abgeschlossen werden. Ob ein Vertrag die gerechte Machtausübung und die Freiheit des Subjekts aber wirklich sichern kann, bleibt fraglich. Davon zeugt zum einen die Inhaftierung Jacques’ am Ende der Reisefabel. Zum anderen wird der Machtkampf mit dem Ziel der Unterwerfung des Ge-
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Vgl. Diderot 1976d: 424: „Si les agriculteurs, qui sont les hommes de l’État qui fatiguent le plus, sont les moins bien nourris, il faut qu’ils se dégoûtent de leur état, ou qu’ils y pé– rissent. Dire que l’aisance les en ferait sortir, c’est être un ignorant & un homme atroce.“ Vgl. Diderot 1981a: 273: „Il est beau, mais il n’est bon à rien qu’à piaffer sous un cavalier, et ce n’est pas là mon affaire“. Das manifestiert sich auch in der Despotismuskritik des Erzählers, der zu Beginn der Reisefabel die Allegorie des Schlosses als Erdkugel verwendet: „Was Jacques und seinen Herrn am meisten abstieß, war der Umstand, dort an die zwanzig Vermessene vorzufinden, die sich der prächtigsten Räume bemächtigt hatten, wo es ihnen jedoch stets zu eng vorkam; die gegen das allgemeine Recht und den wahren Sinn der Inschrift [„Ich gehöre niemandem und ich gehöre aller Welt“, N.B.] behaupteten, das Schloß sei ihnen als unbeschränktes Eigentum vermacht worden; und die mit Hilfe einer Anzahl von Taugenichtsen in ihrem Sold eine große Anzahl anderer Taugenichtse in ihrem Sold davon überzeugt hatten, die samt und sonders dazu bereit waren, gegen ein kleines Geldstück den ersten besten zu hängen oder umzubringen, der gewagt hätte, ihnen zu widersprechen“ (Diderot 1972: 27). Vgl. Diderot 1981a: 43: „Ce qui choqua le plus Jacques et son maître, ce fut d’y trouver une vingtaine d’audacieux qui s’étaient emparés des plus superbes appartements où ils se trouvaient presque toujours à l’étroit, qui prétendaient contre le commun et le vrai sens de l’inscription, que le château leur avait été légué en toute propriété, et qui à l’aide d’un certain nombre de vauriens à leurs gages, tout prêts pour une petite pièce de monnaie à prendre ou assassiner le premier qui aurait osé les contredire“. Die moralische Botschaft der Allegorie wird weder vom Erzähler noch vom fiktiven Leser in Frage gestellt, auch wenn sich der fiktive Leser von der Allegorie als populärer rhetorischer Stilfigur zeitgenössischer Romane distanziert und sie als „gewöhnliche Hilfsquelle steriler Köpfe“ (Diderot 1972: 27) bzw. als „ressource ordinaire des esprits stériles“ (Diderot 1981a: 43) bezeichnet. Vgl. Diderot 1976a: 538: „Il [Gott, N.B.] permet pour le bien commun & pour le maintien de la societé, que les hommes établissent entre eux un ordre de subordination […] mais il veut que ce soit par raison & avec mesure“.
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genübers als menschlicher Trieb kategorisiert. So stellt Jacques im Gespräch mit seinem Herrn über den Hund der Wirtin die These auf, daß jeder Mensch einem anderen befehlen wolle; und daß, da das Tier in der Gesellschaft unmittelbar nach der letzten Klasse der letzten, von allen übrigen Klassen kommandierten Bürger komme, diese sich ein Tier hielten, um ihrerseits über jemanden befehlen zu können. (Diderot 1972: 203)97
Ähnlich argumentiert der Erzähler, wenn er die Duelle des Hauptmanns mit seinem Freund auf deren „Neigung“ zurückführt, „die schwache Seite des Rivalen […] entdecken und die Überlegenheit über ihn […] erlangen“ zu wollen. (Diderot 1972: 79)98 Dabei handelt es sich um keine individuelle Passion der beiden Offiziere, sondern um ein strukturelles Merkmal von sozialen Interaktionen, wie der Erzähler deutlich macht: Die Zweikämpfe wiederholen sich in der Gesellschaft in allen Arten von Formen, zwischen Priestern, zwischen Richtern, zwischen Literaten, zwischen Philosophen; jeder Stand hat seine Lanze und seine Ritter, und unsere […] gesellschaftlichen Versammlungen sind nichts als kleine Turniere (Diderot 1972: 79).99
Wenn es sich bei dem Bedürfnis des Subjekts, sein Gegenüber zu unterwerfen, um eine anthropologische Konstante handelt, kann sich eine humane Gemeinschaft trotz Gesellschafts- und Herrschaftsvertrag nicht konstituieren. Wie zu zeigen ist, geht Diderot aber davon aus, dass politische, soziale und wirtschaftliche Reformen genauso wie literarische Texte einen starken Einfluss auf die Willensbildung des Subjekts ausüben. Gelingt es dem Individuum, sich von seinen sozialschädlichen Neigungen zu distanzieren oder sie gar zu überwinden, ist ein friedvolles Miteinander denkbar. Um diese These zu belegen, wird im Folgenden die für den Roman zentrale philosophisch-anthropologische Debatte um die (In-)Determination des Subjekts analysiert und im Hinblick auf ihre politischen Implikationen untersucht.
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Vgl. Diderot 1981a: 187: „D’où il conclut que tout homme voulait commander à un autre, et que l’animal se trouvant dans la société immédiatement au-dessous de la classe des derniers citoyens commandés par toutes les autres classes, ils prenaient un animal pour commander aussi à quelqu’un.“ Vgl. Diderot 1981a: 86: „de trouver le côté faible de son rival et d’obtenir la supériorité sur lui“. Vgl. Diderot 1981a: 86: „Les duels se répètent dans la société sous toutes sortes de formes, entre des prêtres, entre des magistrats, entre des littérateurs, entre des philosophes; chaque état a sa lance et ses chevaliers, et nos assemblées les plus respectables […] ne sont que de petits tournois“.
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1.2.2 Fatalismus vs. Willensfreiheit oder: Politik und Anthropologie Wie am Beispiel der Herrschaftsbeziehung von Jacques und seinem Herrn ausgeführt, arbeitet Diderot mit Oppositionen, die im Roman demontiert werden. Indem Jacques sich als seinem Herrn überlegen erweist, wird die Legitimität traditionaler Herrschaft sowie der Gegensatz von ‚allmächtigem Herrn‘ und ‚ohnmächtigem Knecht‘ in Frage gestellt. Der Vertrag zwischen dem Figurenpaar lässt sich als „Absage an die absolutistische Interpretation des Staatsvertrags“ lesen, „die Herrschaft an Gottesgnadentum band und dynastisch auf Dauer stellte“. (Warning 1995: 181) Stattdessen sind Herr und Knecht als gleichberechtigte Vertragspartner zu begreifen, die ihre Rechte und Pflichten miteinander aushandeln müssen. Diderot setzt sich aber nicht nur kritisch mit den gängigen Vorstellungen von Herrschaft und Knechtschaft auseinander; er stellt auch zwei antagonistische philosophische Positionen – den Fatalismus und die Willensfreiheit – einander gegenüber, um beide Standpunkte zu negieren. Die Diderot-Forschung hat den politischen und philosophischen Diskurs vielfach aufeinander bezogen, indem sie Jacques’ Fatalismus und die vom Herrn proklamierte Willensfreiheit als Ausdruck ihres jeweiligen ‚Klassenhabitus‘100 oder ihrer conditions gelesen hat.101 Demnach ist Jacques’ fatalistische Weltanschauung, mit der „Schicksalsergebenheit, Passivität, Verantwortungslosigkeit“ (Warning 1988: 479) konnotiert ist, charakteristisch für die soziale Gruppe der Diensthabenden, die die „schicksalsgewollte Herrenordnung“ (Lafon 2011: 178) tragen. Die Willensfreiheit entspricht dagegen der ‚Denkform‘ des Herrn. Kontrastierend dazu wird Jacques im Roman als selbstständig handelnd vorgeführt, während der Herr vom Erzähler als ‚Automat‘ tituliert wird. Dieser Befund ist unterschiedlich gewertet worden. So bezeichnet Hilker Jacques’ fatalistisches Denken als „Camouflage“, mit dem er all seine Handlungen vor dem Herrn rechtfertigen und damit „hintergründig die absolutistischen, an Gottesgnadentum gebundenen Machstrukturen“ dynamisieren kann, während Köhler davon
_____________ 100 Der Begriff des ‚Klassenhabitus‘ wird in dieser Arbeit mit Pierre Bourdieu auf die wesentlichen Elemente des Habitus bezogen, die ein Subjekt mit einer sozialen Gruppe gemeinsam hat. Unter ‚Habitus‘ versteht Bourdieu die organische und mentale Disposition und die unbewussten Bewertungs- und Denkschemata des Subjekts, was sich in dessen Lebensführung – in Geschmacksunterschieden, Sichtweisen der sozialen Welt und der sozialen Praxis – niederschlägt. Nach Bourdieu besitzt jede soziale Gruppe einen spezifischen ‚Klassenhabitus‘: ihr eigene „Weltsichten und Einstellungen zur Zukunft“, spezifische „Vorstellungen vom ‚richtigen‘ Handeln, vom ‚richtigen‘ Sein, kurz, von einem spezifischen, moralisch fundierten Verhältnis zur Welt“. (Krais/Gebauer 32010: 42) Zum Habitus vgl. u. a. Bourdieu 1982. 101 Vgl. Hilker 2006: 203f., Köhler 1965: 133f., Lafon 2011: 177f., Laufer 1963: 520.
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überzeugt ist, dass Jacques’ theoretische Position durchaus konsequent ist. (Hilker 2006: 203) Im Unterschied zum Herrn, der glaube, dass sein Wille genüge, um den „gesellschaftlichen Status quo zu erhalten und zu perpetuieren“, halte Jacques die Veränderung der bestehenden Machtstrukturen für möglich. Denn seine fatalistische Akzeptanz der bestehenden Herrschaftsverhältnisse gründe sich auf die „absolute Kontingenz eines unvorhersehbaren Schicksals“, wodurch sich eine „optimistische Zukunftsperspektive“ ergebe. (Köhler 1965: 140) Dass zwischen Jacques’ philosophischer Position und der sozialen Praxis ein Widerspruch bestehe, sei Ausdruck des gesellschaftlichen Missverhältnisses – der Überlegenheit des Knechts trotz seines niedrigeren sozialen Status. Sicher lassen sich die philosophischen Positionen der Figuren auf ihren jeweiligen sozialen Status beziehen. Die Ohnmacht des Subalternen manifestiert sich in einer fatalistischen Lebenshaltung, während die Position der Willensfreiheit mit der faktischen Handlungsmacht des Herrn korrespondiert. Vor diesem Hintergrund ist der Gegensatz zwischen Theorie und Handlungspraxis als Unterminierung der bestehenden Herrschaftsverhältnisse bzw. als „Beschreibung eines gesellschaftlichen Widerspruchs“ (Groh 1984: 239) zu lesen. Allerdings muss berücksichtigt werden, dass Jacques sich laufend auf seinen Hauptmann beruft, um seine fatalistische Position zu autorisieren. Die Weltanschauung der Figuren verweist also nicht allein auf die ‚Denkform‘ einer bestimmten sozialen Gruppe. Vielmehr wird deutlich, dass hier nach den Determinanten des Subjekts gefragt wird. Das hat neben der philosophisch-anthropologischen auch eine politische Dimension, weil die aktive Beseitigung bestehender Missstände nur dann denkbar ist, wenn das Geschehen in Natur und Gesellschaft nicht durch ein Fatum unabänderlich vorherbestimmt ist. Im Folgenden soll untersucht werden, wie die antagonistischen Weltanschauungen von Herr und Knecht im Roman destruiert und implizit vermittelt werden. Im Anschluss daran wird nach dem Zusammenhang zwischen dem politischen und dem philosophischen Diskurs gefragt. Jacques geriert sich als Fatalist, der sich die simplifizierten spinozistischen Ansichten seines Hauptmanns zu eigen gemacht hat.102 Er ist davon überzeugt, dass das Subjekt keinen freien Willen hat, weil jede Handlung Folge einer äußeren Ursache ist, auch wenn das Individuum sie nicht
_____________ 102 Vgl. u. a. Diderot 1972: 206, 305 bzw. Diderot 1981a: 189f., 270f. Wie Groh zu Recht betont, vertritt Jacques einen Spinozismus „in vulgarisierte[r] Form“ (Groh 1984: 232). Es geht im Folgenden daher weniger darum, Spinozas philosophische Position zu referieren als Jacques’ Interpretation von Spinozas Ethik darzulegen.
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kennt.103 Davon ausgehend, dass die Menschen „lebende und denkende Maschinen“ (Diderot 1972: 304)104 sind, versagen Jacques die moralischen Kategorien als Bewertungsmaßstäbe für ihr Handeln. So unterscheidet der Subalterne, der „weder das Wort Laster noch das Wort Tugend“ kennt, nicht „zwischen einer physischen und einer moralischen Welt“. (Diderot 1972: 206f.)105 Er glaubt, daß ein Mensch ebenso unausweichlich den Weg zum Ruhm oder zur Schmach zurücklegt wie eine Kugel, die das Bewußtsein ihrer selbst hätte, dem Hang eines Bergs folgt; und daß wir, wenn die Verkettung von Ursachen und Wirkungen, die das Leben eines Menschen vom ersten Augenblick seiner Geburt an bis zu seinem letzten Seufzer gestalten, uns bekannt wäre, bei der Überzeugung verbleiben würden, er habe lediglich getan, was zu tun ihm notwendig war. (Diderot 1972: 206)106
Die einzige Freiheit, die das Subjekt erlangen kann, ist die Überwindung seiner Abhängigkeit von den Leidenschaften. „Wahrhaft frei zu sein bedeutet nichts anderes als vollkommen vernünftig zu sein“ (Röd 2002a: 266), so Jacques’ Auffassung im Rekurs auf Spinoza. Allerdings steht Jacques’ Handeln im Kontrast zu der von ihm proklamierten philosophischen Position, wie der Erzähler ausführt: Auf Grund dieses Systems könnte man sich einbilden, daß Jacques sich nie über etwas gefreut habe oder betrübt gewesen sei; aber dem war durchaus nicht so. Er verhielt sich ungefähr so wie du und ich. […] Er geriet in Zorn über einen Ungerechten; und wenn man ihm entgegenhielt, daß er dann dem Hund gleiche, der den Stein beißt, der ihn getroffen hat, sagte er: „Mitnichten, der vom Hund gebissene Stein bessert sich nicht; der ungerechte Mensch wird durch den Stock verändert.“ Oftmals war er inkonsequent […] und neigte dazu, seine Grundsätze zu verbessern, ausgenommen bei einigen Gelegenheiten, bei denen seine Philosophie ihn offensichtlich beherrschte; dann pflegte er zu sagen: „Es mußte ja so kommen, denn es stand da droben geschrieben.“ (Diderot 1972: 207)107
_____________ 103 Vgl. dazu auch Spinoza 1977: Erster Teil, Lehrsatz 29, S. 73f.; Lehrsatz 36 und Anhang, S. 91ff.; Zweiter Teil, Lehrsatz 35, S. 195f.; Lehrsatz 48, S. 227ff.; außerdem Spinoza 1914: 58. Brief, Spinoza an G. H. Schuller, S. 235–239, bes. S. 236. 104 Vgl. Diderot 1981a: 270: „deux vraies machines vivantes et pensantes“. 105 Vgl. Diderot 1981a: 189: „Jacques ne connaissait ni le nom de vice, ni le nom de vertu“. 106 Vgl. Diderot 1981a: 189f.: „Il croyait qu’un homme s’acheminait aussi nécessairement à la gloire ou à l’ignominie qu’une boule qui aurait la conscience d’elle-même suit la pente d’une montagne, et que si l’enchaînement des causes et des effets qui forment la vie d’un homme depuis le premier instant de sa naissance jusqu’à son dernier soupir nous était connu, nous resterions convaincus qu’il n’a fait que ce qu’il était nécessaire de faire.“ 107 Vgl. Diderot 1981a: 190: „D’après ce système on pourrait imaginer que Jacques ne se réjoussait, ne s’affligeait de rien; cela n’était pourtant pas vrai. Il se conduisait à peu près comme vous et moi. […] [I]l se mettait en colère contre l’homme injuste, et quand on lui objectait qu’il ressemblait alors au chien qui mord la pierre qui l’a frappé, nenni, disait-il, la pierre mordue par le chien ne se corrige pas; l’homme injuste est modifié par le bâton. Souvent il était inconséquent […] et sujet à oublier ses principes, exepté dans quelques cir-
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Wie J. Robert Loy und Groh verdeutlicht haben, weisen Jacques’ Ausführungen große Parallelen zu dem Artikel Freiheit (Liberté, Moral) in der Enzyklopädie auf.108 Die Kongruenzen zwischen Roman und Lexikonartikel lassen sich am Beispiel der von den Spinozisten geforderten Affektkontrolle besonders deutlich machen. Der Verfasser des Artikels nimmt zunächst die spinozistische Position ein und vergleicht den unvernünftigen Zorn des Subjekts – ähnlich wie der Erzähler im Roman – mit einem „Hund, der nach dem Stein schnappt, der ihn getroffen hat“ (Diderot 1969b: 259).109 Diese Position wird anschließend im Rekurs auf François Fénelon und mit Blick auf die Handlungspraxis des Individuums verworfen, weil auch ein Philosoph, der die Willensfreiheit negiere, seine Affekte nicht kontrollieren könne. Er sei genauso unversöhnlich gegenüber denjenigen, die ihn betrogen oder verraten haben, wie jemand, der „sein ganzes Leben lang die Lehre von der größten Freiheit vertreten“ (Diderot 1969b: 275)110 habe. Die geschilderte Inkonsequenz des Philosophen gleicht der von Jacques im Roman. Im Unterschied zum Lexikonartikel, der den Spinoza zugeschriebenen Fatalismus ablehnt und die Willensfreiheit emphatisch bejaht, werden im Roman aber beide Positionen – der Fatalismus und die Willensfreiheit – demontiert. Inwiefern? Jacques’ philosophische Ideen werden erstens durch die Diskrepanz zwischen seinen Worten und Taten in Frage gestellt. Der Subalterne proklamiert die Affektfreiheit, lässt sich aber in zahlreichen Situationen von seinen Emotionen überwältigen;111 ferner verhält er sich „klug bei der größten Verachtung der Klugheit.“ (Diderot 1972: 207)112 Das manifestiert sich in seinem vernunftorientierten situationsbezogenen Handeln. Anstatt sich in dem Bewusstsein, einem unabänderlichen Schicksal ausgeliefert zu sein, passiv zu verhalten, agiert Jacques aktiv, „seinem Sensori-
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constances où sa philosophie le dominait évidemment; c’était alors qu’il disait: Il fallait que cela fût, car cela était écrit là-haut.“ Dass Jacques seine Affekte trotz seiner fatalistischen Position nicht kontrollieren kann, zeigt sich im Roman mehrfach, vgl. Diderot 1972: 30, 47, 192 bzw. Diderot 1981a: 46, 59, 178. Als Verfasser des Artikels hat lange Diderot gegolten (vgl. u. a. Vernière 1951); 1967 hat Jacques Proust den Artikel einem antispinozistischen Anonymus zugeschrieben (vgl. Proust 1967: 156f.); laut Ronald Grimsley ist der Artikel von dem Abbé Yvon verfasst worden (vgl. Grimsley 1974: 113). Vgl. den Artikel Liberté, Moral in Diderot 1782b: 959: „chien qui mort [sic] la pierre qui l’a frappé“. Vgl. den Artikel Liberté, Moral in Diderot 1782b: 968: „qu’il ne sera pas moins implacable contre ces personnes, que s’il avoit soutenu toute sa vie le dogme de la plus grande liberté?“ Vgl. Diderot 1972: 30, 46f., 95, 192 bzw. Diderot 1981a: 46, 59, 100, 178. Vgl. Diderot 1981a: 190: „[I]l était prudent avec le plus grand mépris pour la prudence.“
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um für das jeweils Vernünftige gemäß“ (Behrens 1994: 352). Das zeigt sich etwa, wenn er auf den vorgeblichen Leichenzug seines Hauptmanns zureitet, bis die Häscher der Steuerpächter oder die berittenen Gendarmen auf ihn anlegen und ihm dabei zurufen: „Halt! Zurück, oder du bist des Todes…“ Jacques hielt auf der Stelle an und befragte in seinem Kopf das Schicksal; ihm war, als sage das Schicksal ihm: Mach kehrt! Was er auch tat. (Diderot 1972: 61)113
In dieser Textpassage wird die Existenz einer metaphysischen Schicksalsinstanz durch die ‚Als ob‘-Formulierung des Erzählers in Frage gestellt. Es scheint Jacques, als habe ihn das Fatum zur Kehrtwendung aufgefordert. Allerdings wird deutlich, dass er sich allein an seiner Vernunft – ‚am Schicksal in seinem Kopf‘ – orientiert. „Vor die Alternative gestellt, seinen Gefühlen zu folgen und sich Schaden zuzufügen oder seiner vernünftigen Einsicht und solchen Schaden zu vermeiden,“ entscheidet er sich „für die zweite Möglichkeit.“ (Groh 1984: 240) Dass die Vorstellung von einer das Leben des Subjekts bestimmenden transzendenten Macht profanisiert wird, indem das Schicksal in die empirische Realität verlagert und auf die Interaktion des Individuums in sozialen Situationen bezogen wird, zeigt sich auch, wenn der Erzähler konstatiert: „stets leitet das Schicksal uns: und für Jacques war das Schicksal alles, was ihn berührte oder ihm zu nahe kam, sein Pferd, sein Herr, ein Mönch, ein Hund, eine Frau, ein Maultier, eine Krähe.“ (Diderot 1972: 36)114 Jacques’ fatalistische Weltsicht ist zweitens zu hinterfragen, weil sie sich als unzureichendes Deutungsmuster für scheinbar unerklärliche, über die Grenzen der menschlichen Erkenntnisfähigkeit hinausgehende Begebenheiten erweist. So sind Herr und Knecht davon überzeugt, dass Jacques’ Pferd „inspiriert“ sei. Dass es mehrfach ausbricht, um dann zwischen Galgen stehenzubleiben, werten sie als „Weisung des Schicksals“ und als Vorausdeutung auf Jacques’ bevorstehende Hinrichtung. (Diderot 1972: 66)115 Schließlich müssen sie feststellen, dass das Pferd früher dem örtlichen Henker gehört hat116 und dass sein Verhalten auf seine Sozialisa-
_____________ 113 Vgl. Diderot 1981a: 71: „Il n’en était pas à trente pas, que les gardes de la Ferme ou les cavaliers de maréchaussée le couchent en joue et lui crient: Arrête, retourne sur tes pas ou tu es mort… Jacques s’arrêta tout court et consulta un moment le destin dans sa tête, il lui sembla que le destin lui disait; retourne sur tes pas; ce qu’il fit.“ 114 Vgl. Diderot 1981a: 50: „Nous croyons conduire le destin, mais c’est toujours lui qui nous mène, et le destin pour Jacques était tout ce qui le touchait ou l’approchait, son cheval, son maître, un moine, un chien, une femme, un mulet, une corneille.“ 115 Vgl. Diderot 1981a: 76: „inspiré“, „avertissement du destin“. 116 Dass unerklärliche Vorfälle nicht als Weisung des Schicksals zu werten sind, macht auch die Geschichte von der Frau deutlich, deren Ehering am Operationstag ihres Mannes zer-
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tion und nicht auf eine überirdische Schicksalsinstanz zurückzuführen ist. Dass das Fatum als Erklärung für unheilvolle Ereignisse zu kurz greift, machen auch in die Kommentare des Figurenpaars über die von der Wirtin erzählte Geschichte der Madame de La Pommeraye deutlich. Im Erzählverlauf wird offenbar, dass es nicht „da droben geschrieben“ steht, „daß der Marquis eine Hure heiraten soll“, wie der Herr befürchtet. (Diderot 1972: 172)117 Die Vermählung ist vielmehr Konsequenz der Intrigen der Madame de La Pommeraye.118 Die Existenz einer metaphysischen Schicksalsinszenz wird drittens dadurch demontiert, dass sich die Figuren immer dann auf das Fatum berufen, wenn Unheil eingetreten ist, mit dem Ziel, sich und andere zu beruhigen. So beruft sich Jacques nach seinem Unfall auf das Schicksal; außerdem, wenn er von seinem Bruder Jean erzählt, der bei dem Erdbeben von Lissabon umgekommen ist, oder nachdem sich der Herr sein Pferd hat stehlen lassen.119 Wie der Erzähler zu berichten weiß, greift Jacques immer dann auf sein „Sprüchlein“ zurück, wenn „das Unheil“ eintritt, und ist „getröstet“. (Diderot 1972: 207)120 Ähnliches gilt für die Wirtin, die sich und ihren Schoßhund mit dem Verweis auf das ungerechte Schicksal zu besänftigen versucht, nachdem sie selbst ihn versehentlich auf den Boden fallengelassen hat.121 Die fatalistische Weltsicht wird viertens und letztens durch den Erzähler hinterfragt. Er distanziert sich von Jacques’ Position, wenn er erklärt, ihm mehrmals „aber ohne Nutzen und fruchtlos“ (Diderot 1972:
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bricht und die das Ereignis als „symbolische[ ] Vorahnung“ (Diderot 1972: 87) deutet; vgl. auch Diderot 1981a: 92. Vgl. Diderot 1981a: 162: „J’ai bien peur que le mariage du marquis des Arcis et d’une catin ne soit écrit là-haut“. Als weiteres Beispiel lässt sich mit Lafon die Episode anführen, in der sich Jacques auf den Weg macht, um Uhr und Tabaksdose wieder zu besorgen. Hier erweist sich der zunächst „wundersam erscheinende Fall, dass Jacques vom ortsansässigen Polizeimagistrat geschützt wird, […] als rein logische Folge der Tatsache, dass er und sein Herr bei diesem Mann die Nacht verbracht haben und er folglich in voller Kenntnis der Tatsachen hierher kommt. Ein wundersamer Fall bleibt dies nur solange, wie der Erzähler besagte Information verschweigt. Im Vorfeld der Episode behauptet er im fiktiven Spiel mit der Leserfigur, er wisse nicht, wo die beiden die letzte Nacht verbracht hätten. Als sich diese Frage im Kontext der Episode schließlich aufklärt, bringt er in der gewohnt ironischen Tonlage hervor, er hätte es schlicht vergessen. Indessen impliziert diese Haltung eine rückwirkende Entmystifizierung des Zufalls als vermeintlich schicksalhaftes Fügungselement, hängt doch das ganze Wunder nur am Verschweigen der tatsächlichen Ursache durch den Erzähler“. (Lafon 2011: 161) Vgl. Diderot 1972: 81, 47, 37 bzw. Diderot 1981a: 87, 60, 51. Vgl. Diderot 1981a: 190f.: „Lorsque l’accident était arrivé, il en revenait à son refrain et il était consolé“. Vgl. Diderot 1972: 121 bzw. Diderot 1981a: 119.
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206)122 widersprochen zu haben, oder wenn er erklärt, die Liebesgeschichte des Herrn schon allein deswegen unterbrechen zu wollen, um Jacques zu beweisen, „daß es nicht, wie er glaube, da droben geschrieben stehe, daß er immerfort unterbrochen werden würde und sein Herr niemals“ (Diderot 1972: 287).123 Dass Jacques den Spinoza nicht selbst gelesen hat, sondern ihn nur vermittelt über seinen Hautpmann kennt, rückt dessen philosophische Position zusätzlich „in ironische Distanz […], in die Distanz des abgelehnten metaphysischen Systems“ (Warning 1995: 178). Wie der Fatalismus wird im Roman auch die von dem Herrn proklamierte Willensfreiheit negiert. Dafür sprechen die Inkonsistenzen im Denken des Herrn. Obwohl er die Position vertritt, dass der Mensch in seinem Wollen und Handeln frei ist, und nur deswegen an Vorahnungen glaubt, weil er „von solcherlei Märchen schon so frühzeitig eingewiegt worden“ (Diderot 1972: 86) ist,124 kann er sich von dem Glauben an eine metaphysische Schicksalsinstanz nicht ganz befreien. So ist er wie Jacques davon überzeugt, dass dessen Pferd das „Urteil des Schicksals“ (Diderot 1972: 66) verkündet und Jacques gehängt werden wird. Seine Position wird außerdem durch Jacques widerlegt, der seinem Herrn mehrfach beweist, keinen freien Willen zu haben, etwa, wenn er die These aufstellt, dass sich sein Herr nicht freiwillig vom Pferd stürzen würde.125 Der Widerspruch des Herrn ist für Jacques nur ein Beleg für seine Position. Denn der Herr würde sich nur vom Pferd werfen, um Jacques seine Willensfreiheit zu beweisen. Auf diese Weise würde er entgegen seiner Intention nur zeigen, dass sein Wille durch ein Motiv final determiniert ist.126 Im Ge-
_____________ 122 Vgl. Diderot 1981a: 190: „Je l’ai plusieurs fois contredit, mais sans avantage et sans fruit.“ 123 Vgl. Diderot 1981a: 256: „Son maître […] continua son histoire que j’interromprai, si cela vous convient, ne fût-ce que pour faire enrager Jacques en lui prouvant qu’il n’était pas écrit là-haut, comme il le croyait, qu’il serait toujours interrompu et que son maître ne le serait jamais.“ 124 Vgl Diderot 1981a: 91f.: „On a été bercé de ces contes-là de si bonne heure!“ 125 Vgl. Diderot 1972: 305 bzw. Diderot 1981a: 270f. 126 Ein ähnliches Exempel wird in der Enzyklopädie angeführt. Um seinen freien Willen zu beweisen, will der Verfasser mit dem die Willensfreiheit negierenden Pierre Bayle eine Wette abschließen. Je nachdem, ob Bayle behauptet, dass der Verfasser in der nächsten Viertelstunde seinen Arm dreimal heben wird oder nicht, will er sich gegenteilig verhalten. Sollte sich Bayle auf diese Wette nicht einlassen wollen, wäre das ein Beleg dafür, dass er insgeheim von der Freiheit des Verfassers überzeugt ist (vgl. den Artikel Liberté, Moral, Diderot 1782b). Im Unterschied zum Roman wird das Beispiel in der Enzyklopädie als Beleg für die freie Entscheidung und den freien Willen des Subjekts angeführt. Ob dem Verfasser entgeht, dass mit der Aufforderung, die Hand zu heben, bereits ein Motiv der Willensentscheidung genannt ist, wie von Treskow meint (vgl. Treskow 1996: 332), oder ob es sich bei dem Artikel um ein „Meisterstück an zensurbezogener ironischer Rede“ (Groh 1984: 252) handelt,
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spräch mit Jacques muss der Herr schließlich zugeben, „drei Viertel seines Lebens damit hin[zubringen], zu wollen, ohne zu handeln“, und „zu handeln, ohne es zu wollen.“ (Diderot 1972: 305).127 Das manifestiert sich in seinem reflexhaften, automatenhaften Tun, etwa, wenn er wütend hinter Jacques herläuft, um ihn mit der Peitsche zu verprügeln, oder wenn er den Chevalier im Duell tötet.128 Wie der Gegensatz von Herr und Knecht werden im Roman auch die oppositiven Positionen Fatalismus und Willensfreiheit in Frage gestellt, ohne dass sie miteinander vermittelt würden. Der Erzähler betont, dass sich die Frage nach der (In-)Determination des Subjekts nicht klären lässt. Über das Thema sei „seit zweitausend Jahren so viel geredet und so viel geschrieben worden […], ohne daß man auch nur einen Schritt weitergekommen wäre.“ (Diderot 1972: 9)129 Gerade „aufgrund ihrer provozierenden Ungelöstheit verlangen die aufgeworfenen Fragen jedoch nach Lösungen.“ (Lafon 2011: 146) Während Galle und Warning davon überzeugt sind, dass die gegensätzlichen Positionen im Roman in die Aporie führen bzw. als „Kasus an den Leser weitergegeben“ (Warning 1988: 481) werden, stellen Groh, Lafon und Treskow die These auf, dass „in die Textstruktur Lenkungshinweise eingeschrieben sind, die weiterführende Schlussfolgerungen hinsichtlich der […] Determinationsthematik ermöglichen.“ (Lafon 2011: 146)130 Im Folgenden soll gezeigt werden, dass die von den Figuren proklamierten konträren Positionen auf der Ebene der Reisefabel tatsächlich in einem unaufgelösten Spannungsverhältnis bleiben. Allerdings illustrieren die eingeschobenen Geschichten, dass jedes Phänomen eine es unmittelbar bedingende Ursache hat und dass jede Handlung des Subjekts determiniert ist, weil sie sich auf ein bestimmtes Motiv zurückführen lässt. Im Roman wird thematisiert, dass das Subjekt mit seinem begrenzten Erkenntnisvermögen nicht in der Lage ist, das Wesen der Dinge zu erfassen. Das zeigt sich etwa in dem Gespräch des Figurenpaars über die Flie-
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wie Groh proklamiert, ist für den Argumentationsgang der vorliegenden Arbeit nicht von Belang. Vgl. Diderot 1981a: 271: „Mon maître, on passe le trois quarts de sa vie à vouloir sans faire. […] Et à faire sans vouloir“. Vgl. Diderot 1972: 323, 325 bzw. Diderot 1981a: 285f., 287. Auf das automatenhafte Handeln des Herrn hat die Diderot-Forschung vielfach hingewiesen, vgl. u. a. Hilker 2006, Köhler 1965, Thoma 2006, Warning 1988, Weich 1989. Vgl. Diderot 1981a: 28f.: „Vous concevez, Lecteur, jusqu’où je pourrais pousser cette conversation sur un sujet dont on a tant parlé, tant écrit depuis deux mille ans sans en être d’un pas plus avancé.“ Vgl. Galle 1980, Groh 1984, Treskow 1995.
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gen und die Stechmücken. Von einem teleologischen Weltbild ausgehend, wertet der Herr die Plage durch Stechmücken als sinnvolles Mittel zu dem höherwertigen Zweck einer Blutreinigung. Der Diener dagegen formuliert den entgegengesetzten Standpunkt einer reinen Kausalität, in der die Zweckmäßigkeit von Naturerscheinungen auf die bloße Selbsterhaltung einer gegebenen Einheit reduziert ist. (Behrens 1994: 356)131
Die miteinander kontrastierten Auffassungen werden im Gesprächs- und Handlungsverlauf nicht zugunsten einer Position entschieden; vielmehr erweisen sich alle Versuche der Figuren, die „metaphysische Fragestellung nach den ersten Ursachen und dem Wesen des Seienden“ zu beantworten, als unmöglich. Die einzige Chance, Wissen über die Welt zu erwerben, ist die „Erforschung der [empirischen, N.B.] Natur und ihrer Gesetzlichkeiten“ durch Beobachtung, Erfahrung und Vernunftschlüsse. (Winter 1972: 222f.) Dabei machen insbesondere die eingeschobenen Geschichten deutlich, dass jeder Effekt eine Reihe anderer Effekte voraussetzt.132 Die Figuren agieren nicht selbstbestimmt, weil ihre Willensentscheidungen durch die Handlungen ihres sozialen Umfelds, ihre genetische Disposition, ihre Neigungen und Affekte, ihre materielle Situation sowie durch ihre Sozialisation determiniert sind. „Noch das absonderlichste Verhalten läßt sich durch Aufdecken sozialer Bedingungen und physiologischer, psychologischer und ideologischer Motivierungen erklären.“ (Groh 1984: 223) Dass die Handlungsmöglichkeiten der Figuren erstens von dem Verhalten ihres sozialen Umfelds abhängig sind, kommt zum Ausdruck, wenn der Gevatter den Wirt um Geld bittet und ihm erklärt, dass seine Tochter eine Stellung in Paris annehmen und sein Sohn Soldat werden müsse, sollte der Wirt ihm keinen Kredit gewähren. Da der Wirt „nicht die Ursache von alledem“ (Diderot 1972: 115)133 sein möchte, entscheidet er sich, dem Gevatter das benötigte Geld zu leihen. Auch die PommerayeEpisode illustriert eindrücklich, dass die Figuren nicht selbstbestimmt agieren, liegt doch die besondere Pointe der Erzählung darin, dass die Madame de La Pommeraye eine perfekte Welt des trompe-l’œil aufbaut, in der der Marquis sich frei und sich selbst bestimmend fühlt. Er kann besten Gewissens der Meinung sein, seinem Willen zu folgen und merkt doch nicht, daß sein Wille in den Händen seiner Gegnerin liegt. Die liberté ist hier […] ein Produkt des bloßen Gefühls, sich undeter-
_____________ 131 Vgl. Diderot 1972: 303 bzw. Diderot 1981a: 269. 132 Diese These vertreten u. a. Groh 1984, Lafon 2011, Loy 1950. 133 Vgl. Diderot 1981a: 115: „L’hôte – Et c’est moi qui en serais la cause! Cela ne sera pas.“
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miniert zu bewegen, die volonté ist dagegen von außen wie in einem Experimentierraum determiniert. (Behrens 1994: 361)134
Dass die Willensbildung zweitens von der Sozialisation des Subjekts abhängig ist, manifestiert sich im Gespräch von Herr und Knecht über den jungen Desglands. Das Figurenpaar vermutet, dass aus dem Jungen ein „Taugenichts“ (Diderot 1972: 297)135 werden wird, und führt das auf seine familiäre Situation und die Erziehungsmethoden der Eltern zurück. Da der Knabe das einzige Kind sei, um seinen späteren Reichtum wisse, aufgrund seiner schwachen physischen Konstitution keinen Unterricht erhalte und weder Zwang noch Widerspruch erfahre, habe er sich zu einer egozentrischen Persönlichkeit entwickelt. Wie stark das Subjekt durch seine psychische Disposition sowie seine sozialen Erfahrungen geprägt wird, zeigt sich auch im Dialog zwischen Wirt und Gevatter, wenn der Gastwirt auf die Frage, ob er sich nicht ändern könne, antwortet: Die Natur hat mich zum härtesten und weichsten Mann geschaffen; ich verstehe mich weder darauf, zu gewähren, noch zu verweigern. […] Ich stehe in einem Alter, in dem man sich kaum noch bessert; aber wenn die ersten, die sich an mich wandten, mich so angefahren hätten, wie du es getan hast, würde ich vielleicht ein besserer Mensch geworden sein. (Diderot 1972: 116)136
Die Willensbildung wird drittens von der materiellen Lage des Subjekts bestimmt, wie Jacques’ Erzählung über seinen Aufenthalt bei der ihn pflegenden Familie deutlich macht. Schließlich ist die „Härte“ (Diderot 1972: 22) des Mannes, der den verwundeten Jacques nicht bei sich aufnehmen will, Folge seiner finanziellen Notsituation. Dass das Subjekt viertens seinen Leidenschaften unterworfen ist, wird vor allem in der Pommeraye-Episode thematisiert. Beide Figuren – die Marquise de La Pommeraye und der Marquis – sind nicht Herr bzw. Herrin ihrer Emotionen. So muss der Adlige feststellen, dass seine Liebe für die Marquise gegen seinen Willen „entschwunden“ (Diderot 1972: 128) 137
_____________ 134 Als weiteres Beispiel ließe sich die Liebesgeschichte des Herrn anführen. Wie der Marquis glaubt auch der Herr, einen freien Willen zu haben, und merkt nicht, dass sein Wille von seinem Rivalen – dem Chevalier de Saint-Ouin – gesteuert wird. 135 Vgl. Diderot 1981a: 263: „vaurien“. 136 Vgl. Diderot 1981a: 116: „Nature m’a fait l’homme le plus dur et le plus tendre, je ne sais ni accorder ni refuser. […] Je suis à l’âge où l’on ne se corrige guère; mais si les premiers qui se sont adressés à moi m’avaient rabroué comme tu as fait, […] peut-être en profiteraije?“ Als weiteres Beispiel ließe sich die Pommeraye-Episode nennen, führt doch der Erzähler die ‚Bosheit‘ der Marquise auf ihren ‚Charakter‘ sowie auf das Verhalten ihres untreuen Geliebten und der ‚Gesellschaft‘ zurück, vgl. Diderot 1972: 168, 186 bzw. Diderot 1981a: 159, 172f. 137 Vgl. Diderot 1981a: 126: „l’amour en est sorti“.
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ist. Aus gekränktem Stolz und Rachsucht entwickelt die Madame ihre Intrige mit dem Ziel, den Marquis mit einer Hure zu verheiraten. Dazu evoziert sie in ihm starke Liebesgefühle, die sein Handeln – wiederum gegen seinen Willen – bestimmen. Davon zeugt sein Wunsch, sich die „unselige Liebe“ – die malheureus passion – aus dem Herzen reißen zu können. Denn er kommt sich vor „wie ausgelöscht, mein Kopf verwirrt sich; ich verblöde und weiß nicht, was werden soll“. (Diderot 1972: 173)138 Beide Figuren verfügen über Handlungsalternativen; sie können tun, was sie wollen, ihre Willensentscheidungen sind aber „determiniert, hängen ab von Motiven“ (Groh 1980: 241), von ihren Emotionen. Wie im Roman negiert Diderot auch in seinen theoretischen Abhandlungen die Willensfreiheit des Subjekts. Für ihn kann der Mensch nur dann als wahrhaft frei bezeichnet werden, wenn er ohne jeden Grund handelt. In seinen Augen wird das Subjekt allerdings durch „seinen Körperbau, seinen Charakter, sein Temperament, seine natürliche Anlage dazu getrieben, vorzugsweise diese oder jene Ideen statt bestimmter anderer zu kombinieren“ (Diderot 1961a: 44),139 so Diderot in der Widerlegung von Helvétius’ Werk ‚Vom Menschen‘ (Réfutation d’Helvétius, 1744); und in seiner Schrift Elemente der Physiologie (Eléments de physiologie) erklärt er: „Eine Handlung des Willens ohne Ursache ist ein Hirngespinst.“ (Diderot 1961c: 686)140 Ist unter diesen Bedingungen überhaupt ein selbstbestimmtes Handeln möglich? Auch wenn der Wille des Subjekts determiniert ist, besitzen die Figuren im Roman die Freiheit, ihrer Vernunft gemäß zu agieren.141 Das
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Dass das Subjekt nicht ‚Herr seines Wollens‘ ist, ist auch Thema zwischen Herr und Knecht, wenn Jacques seinen Herrn fragt, warum er keine „häßliche alte Vettel lieben“ will und warum er „nicht aufgehört“ hat, „Agathe zu lieben“ (Diderot 1972: 305; vgl. auch Diderot 1981a: 271). Vgl. Diderot 1981a: 162: „[J]e suis comme anéanti, ma tête s’embarasse, je deviens stupide, et ne sais que devenir“. Gegen seinen Willen handelt auch der Dichter aus Pondichéry, der nicht aufhören kann, schlechte Verse zu verfassen. So erklärt er dem Erzähler: „Ich sehe es ein, aber ich bin darein wider meinen Willen verstrickt…“ (Diderot 1972: 44, vgl. auch Diderot 1981a: 57: „Je le conçois, mais je suis entraîne malgré moi“). Der Poet kann sich nicht gegen seine Neigung – das Dichten – entscheiden. Der Mensch ist also „insofern unfrei, dass er sich in einer bestimmten Situation nicht gegen seinen Charakter entscheiden“ (Winter 1972: 198) kann. Vgl. Diderot 2004: 540: „[M]ais chaque homme est entraîné par son organisation, son caractère, son tempérament, son aptitude naturelle à combiner de préférence telles et telles idées plutôt que telles ou telles autres.“ Vgl. Diderot 1987b: 483: „[U]n acte de volonté sans cause est une chimère.“ Zu Diderots materialistischem Determinismus vgl. Winter 1972. Diese Position teilen u. a. Groh 1984, Köhler 1965 und Treskow 1996.
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kommt vor allem in Jacques’ Handlungen zum Ausdruck, wie bereits am Beispiel seiner Reaktion auf den Leichenzug des Hauptmanns illustriert worden ist. Anstatt seinen Impulsen zu folgen und auf den Leichenzug weiter zuzureiten, hält er inne und entscheidet sich – nachdem er das ‚Schicksal in seinem Kopf‘ befragt hat – für eine Kehrtwende. Im Unterschied zu den reflexartigen Reaktionen des Herrn kann Jacques zwischen verschiedenen Handlungsoptionen, zwischen vernünftigem und unvernünftigem Verhalten, wählen. Diese Wahlmöglichkeit entsteht „durch den Akt des Innehaltens – il s’arrêta –, der ein Akt der Bewußtwerdung, der Reflexion ist“ (Groh 1984: 242). Allerdings ist Jacques’ Entscheidung auch hier nicht frei im Sinne der Freiheit des Willens von jedem determinierenden Motiv, sondern frei in einem noch zu präzisierenden Sinn: da der Vernünftige nur um den Preis eines Selbstwiderspruchs gegen seine vernünftige Einsicht handeln kann, ist seine Freiheit nichts anderes als die – freiwillige – Selbstdetermination des vernünftigen Subjekts aus Einsicht in die Notwendigkeit. (Groh 1984: 240)
Dennoch erhält das Subjekt durch vernunftgeleitetes Handeln ein größeres Maß an Selbstbestimmung. Auch in seinen philosophischen Schriften weist Diderot dem Verstand, durch den sich der Mensch vor dem Tier auszeichnet, einen hohen Stellenwert zu. Während das Tier von seinen Trieben gelenkt werde, so Diderot etwa in der Widerlegung des Helvétius, herrsche zwischen den Sinnen des Subjekts eine solche Harmonie, daß kein Sinn die anderen dermaßen beherrscht, daß er dem Verstand gebieten könnte. Im Gegenteil: sein Verstand, das Organ seiner Vernunft, ist am stärksten. Er ist ein Richter, der von keinem Zeugen bestochen oder unterjocht wird; er bewahrt seine volle Autorität und benutzt sie, um sich zu vervollkommnen; er verbindet alle möglichen Ideen und Sinneswahrnehmungen, weil er nichts stark empfindet. (Diderot 1961a: 55) 142
Die Fähigkeit zu Vernunftschlüssen bildet für Diderot die Grundlage aller Erkenntnis. Sie ist insbesondere dem Philosophen in hohem Maße eigen, wie er in der Enzyklopädie konstatiert: Die Vernunft bedeutet für den Philosophen, was die Gnade für den Christen bedeutet. Die Gnade bestimmt den Christen zum Handeln, die Vernunft bestimmt den Philosophen.
_____________ 142 Vgl. Diderot 2004: 557: „Il est entre ses sens une telle harmonie, qu’aucun ne prédomine assez sur les autres pour donner la loi à son entendement; c’est son entendement au contraire, ou l’organe de sa raison qui est le plus fort. C’est un juge qui n’est ni corrumpu ni subjugué par aucun des témoins. Il conserve toute son autorité; et il en use pour se perfectionner. Il combine toutes sortes d’idées ou de sensations; parce qu’il ne sent rien fortement.“
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Die anderen Menschen lassen sich durch ihre Leidenschaften hinreißen, ohne daß den Handlungen, die sie ausführen, die Überlegung vorausgeht; solche Menschen gehen ihren Weg in der Finsternis, wogegen der Philosoph immer, auch in seinen Leidenschaften, erst auf Grund einer Überlegung handelt. Er sucht den Weg in der Nacht, aber ihm leuchtet eine Fackel voraus. (Diderot 1969h: 343f.)143
Während der Herr im Roman einem ‚Automaten‘ gleicht, weil er sich primär von seinen Affekten leiten lässt, orientiert sich Jacques, der ein „kleines Traktat über alle Arten von Weissagungen“ verfasst hat und von seinem Herrn als „Philosoph“ (‚philosophe‘) bezeichnet wird, an seinem Verstand. (Diderot 1972: 257, 85)144 Auf diese Weise erhält er die Möglichkeit, sein „Potential an Freiheit zu vermehren“ (Groh 1984: 245). Wie Diderot in seinen theoretischen Schriften hervorhebt, bedarf es neben dem Verstand auch der Beobachtung und Erfahrung zur Erforschung und Erkenntnis der empirischen Wirklichkeit. 145 In seinen Gedanken zur Interpretation der Natur (Pensées sur l’interprétation de la nature, 1753) erklärt er: Solange die Dinge nur in unserem Verstand bestehen, sind sie unsere Anschauungen, das heißt Begriffe, die wahr oder falsch, anerkannt oder bestritten sein können. Beständigkeit gewinnen sie nur dadurch, daß sie in Verbindung mit den Dingen außer uns treten. Diese Verbindung erfolgt entweder durch eine ununterbrochene Kette von Erfahrungen – oder aber durch eine ununterbrochene Kette von Vernunftschlüssen, die einerseits an die Beobachtung und andererseits an die Erfahrung anknüpfen, oder endlich durch eine Kette von Erfahrungen, die in gewissen Abständen zwischen Vernunftschlüsse eingefügt sind, gleichwie Gewichte an einer Schnur, die an beiden Enden aufgehängt ist. Ohne diese Gewichte würde die Schnur zum Spielzeug der geringsten Bewegung, die in der Luft entstünde.
Jacques verfügt über alle drei von Diderot genannten „Hauptmittel“ – „Naturbeobachtung, Reflexion und Erfahrung“ – zur richtigen Deutung der Phänomene der empirischen Realität. (Diderot 1961b: 423, 428)146
_____________ 143 Vgl. den Artikel Philosoph (Philosophe) in Diderot 1780a: 633: „La raison est à l’égard du philosophe, ce que la grace est à l’égard du chrétien. La grace détermine le chrétien à agir; la raison détermine le philosophe. / Les autres hommes sont emportés par leurs passions, sans que les actions qu’ils font soient précédées de la reflexion: ce sont des hommes qui marchent dans les ténebres; au lieu que le philosophe, dans ses passions mêmes, n’agit qu’après la réflexion; il marche la nuit, mais il est précédé d’un flambeau.“ Vgl. auch den von Diderot verfassten Encyclopédie-Artikel Gesunder Verstand (Bon-Sens) (Diderot 1969d: 369 bzw. Diderot 1976b: 205). 144 Vgl. Diderot 1981a: 232: „petit traité de toutes les sortes de devinations“. 145 Vgl. u. a. den Artikel Gesunder Verstand (Bon-Sens) (Diderot 1969d bzw. Diderot 1976b) und Philosoph (Philosophe) (Diderot 1969h bzw. Diderot 1780a) sowie Diderots Abhandlung Gedanken zur Interpretation der Natur (Diderot: 1961b bzw. Diderot 1981b). 146 Vgl. Diderot 1981b: 33, 39: „Tant que les choses ne sont que dans notre entendement, ce sont nos opinions; ce sont des notions qui peuvent être vraies ou fausses, accordées ou contredites. Elles ne prennent de la consistance qu’en se liant aux êtres extérieurs. Cette
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Das manifestiert sich im Roman, wenn der Subalterne aufgrund seiner Erfahrung sofort weiß, dass Richard, der ‚absonderliche‘ (vgl. Diderot 1972: 202)147 Reisegefährte des Marquis des Arcis, einmal ein Mönch gewesen ist; wenn er gleich erkennt, dass es sich bei dem sturen Ackergaul um das Pferd seines Herrn handelt (vgl. Diderot 1972: 307),148 oder wenn er seinem Herrn beim Bericht von dessen Liebesgeschichte zu verstehen gibt, dass er selbst die Intrige „schnell durchschaut“ (Diderot 1972: 314) hätte.149 Wie das vernunftgeleitete Handeln ermöglichen Beobachtungsgabe und Erfahrungen dem Subjekt ein höheres Maß an Selbstbestimmung, kann es sich zu den Erscheinungen der empirischen Realität doch erst dann adäquat verhalten, wenn es sie richtig deuten kann. Allerdings ist auch Jacques nicht davor gefeit, falsche Schlüsse zu ziehen. So folgert er aus dem Verhalten seines Wohltäters, der sich als „Henker von ***“ entpuppt, dass es sich um einen verehrungswürdigen Mann „mit einer lange[n] Übung im Wohltun“ handeln müsse. (Diderot 1972: 84)150 Wie die Analyse zeigt, wird die Willensfreiheit im Roman negiert; jede Handlung lässt sich auf die genetische Disposition, die Leidenschaften, die materielle Situation sowie die Sozialisation des Subjekts zurückführen. „Dennoch will Diderot den Menschen nicht zum Rädchen einer materiellen Mechanik herabwürdigen.“ (Treskow 1996: 347) Durch Erfahrungswissen, die Schulung der Beobachtungsgabe, Reflexion und vernunftgeleitetes Handeln kann das Subjekt „Einsicht in den vermuteten ‚Bauplan‘ der Wirklichkeit“ (Dirscherl 1985: 182) erwerben und selbstbestimmter agie-
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liaison se fait ou par une chaîne ininterrompue d’expériences, ou par une chaîne ininterrompue de raisonnements qui tient d’un bout à l’observation, et de l’autre à l’expérience; ou par une chaîne d’expériences dispersées d’espace en espace entre les raisonnements, comme des poids sur la longueur d’un fil suspendu par ses deux extrémités. Sans ces poids, le fil deviendrait le jouet de la moindre agigation qui se ferait dans l’air. […] Nous avons trois moyens principaux; l’observation de la nature, la réflexion et l’expérience.“ Vgl. Diderot 1981a: 186: „allure singulière“. Vgl. Diderot 1981a: 272f. Vgl. Diderot 1981a: 277: „Jacques – […] Au demeurant j’aurais, je crois, entendu votre histoire tout courant si Agathe avait été grosse.“ Dass sein Herr Opfer einer Intrige wird, vermutet Jacques mehrfach im Erzählverlauf. So schließt er aus der Zimmereinrichtung des Monsieur Le Brun sofort, dass es sich bei ihm um einen Pfandleiher handelt (vgl. Diderot 1972: 216 bzw. Diderot 1981a: 236); nur wenige Hinweise genügen ihm, um den Chevalier de Saint-Ouin als „Lump“ zu charakterisieren, der mit seinen Bekannten „unter einer Decke steckt“; (Diderot 1972: 264; vgl. Diderot 1981a: 238: „Je veux dire, que M. le chevalier de Saint-Ouin connaît ces gens-là par nom et surnom, et que c’est un gueux d’intelligence avec toute cette canaille-là“) und er ahnt, dass Mathieu de Fourgeot die Wertsachen bei der „Demoiselle mit den Knicksen“ (Diderot 1972: 269; vgl. Diderot 1981a: 242: „demoiselle aux révérences“) verpfändet hat. Weitere Beispiele ließen sich anführen. Vgl. Diderot 1981a: 89: „longue habitude de bienfaisance“.
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ren. Dennoch lässt sich nicht jede Willensentscheidung durchsetzen; die Lenkung des eigenen Schicksals ist nur begrenzt möglich. Das kommt auf der Ebene der Reisefabel zum Ausdruck, wenn der Erzähler berichtet, dass Herr und Knecht ihren Weg fortsetzten, „ohne zu wissen, wohin sie ritten, obgleich sie ungefähr wußten, wohin sie wollten“ (Diderot 1972: 16).151 Davon zeugen außerdem die eingeschobenen Geschichten. So gelingt es der Madame de La Pommeraye nicht, sich an ihrem ehemaligen Geliebten zu rächen. Sie kann ihren intriganten Plan, den Marquis „in die Arme einer Kurtisane zu treiben“ (Diderot 1972: 186),152 zwar umsetzen, erweist ihm dadurch aber gegen ihren Willen „einen großen Dienst“ (Diderot 1972: 181).153 Ähnlich ergeht es dem Pastetenbäcker Gousse, der den Entschluss fasst, seine Frau zu verlassen und mit seinem Hausmädchen zusammenzuleben. Um den während der Ehe erworbenen Besitz nicht zu verlieren, überführt er seine Habe mittels einer Intrige in die Wohnung seiner Hausgehilfin, ohne damit zu rechnen, dass er es „mit einer durchtriebenen Spitzbübin zu tun“ hat, „die, anstatt sich an seinen Möbeln schadlos zu halten, sich an seine Person hielt und ihn festnehmen und ins Gefängnis werfen ließ“. (Diderot 1972: 99)154 Der Diskurs über die Notwendigkeit und Freiheit menschlichen Handelns hat neben der philosophisch-anthropologischen auch eine politische Dimension. Im Unterschied zu Spinoza, der alles Seiende auf „Gott oder die Substanz, die aus unendlichen Attributen besteht“ (Spinoza 1977: 23),155 zurückführt, ist Diderot davon überzeugt, dass das Subjekt nicht in der Lage ist, die erste Ursache oder den Grund alles Seienden zu erkennen. Da unklar ist, „ob Gott der Welt immanent ist“ (Sander 1972: 349), muss jede Herrschaft, die sich auf Gottes Gnade beruft, um ihre Autorität zu legitimieren, negiert werden. Politische, soziale oder wirtschaftliche Missstände sind nicht fatalistisch zu akzeptieren, sondern zu beseitigen. Das ist möglich, leugnet doch der von Diderot vertretene Determinismus „in keiner Weise die Aktivität des Menschen und ihren realen Wert, sondern sagt lediglich aus, dass die Aktivität aus Motiven begriffen werden“ (Winter 1972: 201) muss.156
_____________ 151 Vgl. Diderot 1981a: 35: „Ils continuèrent leur route, allant toujours sans savoir où ils allaient, quoiqu’ils sussent à peu près où ils voulaient aller“. 152 Vgl. Diderot 1981a: 173: „de jeter le traître entre les bras d’une courtisane“. 153 Vgl. Diderot 1981a: 169: „grand service“. 154 Vgl. Diderot 1981a: 103: „coquine très rusée qui au lieu de le faire exécuter dans ses meubles, se jeta sur sa personne, le fit prendre et mettre en prison“. 155 Vgl. Spinoza 1977: 22: „Deus, sive substantia constans infinitis attributis, quorum unumquodque aeternam, & infinitam essentiam exprimit, necessario existit.“ 156 Diese Position teilt Diderot u. a. mit Voltaire, vgl. Voltaire 1981a: 374f.
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Davon ausgehend, dass die Lebensbedingungen – und damit neben der Erziehung auch die Regierungsform und die Gesetze – maßgeblichen Einfluß auf die handlungsleitenden Motive des Subjekts haben, kann unvernünftiges oder nicht dem Gemeinwohl dienendes Handeln nur durch eine „sinnvolle Reform von Erziehung und Gesetzgebung“ (Winter 1972: 206) reduziert werden. Der zeitgenössische Tugendkatalog wird im Roman als unzureichendes soziales Korrektiv beschrieben. Zum einen „ersteht und vergeht [jede Tugend und jedes Laster] mit der Mode“ (Diderot 1972: 78), wie der Erzähler betont.157 Zum anderen haben die vorherrschenden Wertvorstellungen keine Auswirkungen auf das reale Handeln der Subjekte. So konstatiert Jacques: Ich weiß nicht, was es mit den Grundregeln auf sich hat […]. Ich denke auf eine Art und vermöchte mich nicht daran zu hindern, auf eine andere Art zu handeln. Alle Predigten ähneln den Präambeln der königlichen Edikte; alle Prediger möchten, daß man ihre Lehren befolgt, weil wir uns dabei vielleicht besser stehen würden; sie selber jedoch auf jeden Fall… (Diderot 1972: 103).158
Abgesehen von der dem Subjekt eigenen Diskrepanz zwischen Denken und Handeln kann das moralisch Falsche durch die propagierten sittlichen Normen auch deshalb nicht überwunden werden, weil „die Bösen und die Guten“ dabei „auf ihre Kosten“ kommen. (Diderot 1972: 103)159 Während die ‚Guten‘ für ihr vorbildliches Handeln geschätzt werden, können die ‚Bösen‘ unter dem Deckmantel der Tugend ihre Ziele durchsetzen. Anstatt von den Subjekten zu fordern, sich an den vorherrschenden moralischen Normen zu orientieren, fordert Diderot die Veränderung der Lebensbedingungen, die sich auf die Willensbildung des Subjekts auswirken und erst ein humanes bzw. ein an der volonté générale orientiertes Handeln ermöglichen.
_____________ 157 Vgl. Diderot 1981a: 85: „Chaque vertu et chaque vice se montre et passe de mode“. 158 Vgl. Diderot 1981a: 105f.: „Je ne sais ce que c’est que des principes, sinon des règles qu’on prescrit aux autres pour soi. Je pense d’une façon et je ne saurais préambules des édits du roi; tous les prédicateurs voudraient qu’on pratiquât leurs leçons, parce que nous nous trouverions mieux peut-être, mais eux à coup sûr.“ 159 Vgl. Diderot 1981a: 106: „Le maître – La vertu, Jacques, c’est une bonne chose, les méchants et les bons en disent du bien…“
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Diderot: Jacques der Fatalist und sein Herr
1.3 Zur Darstellungsebene: Romaneskes vs. historisch wahres Schreiben oder: Die Erziehung des Lesers zur Mündigkeit Wie gezeigt worden ist, hinterfragt Diderot in seinem Roman bestehende Wertvorstellungen sowie tradierte politische und philosophische Positionen. Er demontiert die gängigen Ansichten von Herr- und Knechtschaft, indem er Jacques als einen seinem Herrn lebenspraktisch sowie intellektuell überlegenen Diener vorführt. Jacques der Fatalist lässt sich dennoch nicht als Vorausdeutung auf die Französische Revolution lesen, wie die Diderot-Forschung gelegentlich behauptet hat; vielmehr wendet sich der Autor gegen jede Form von uneingeschränkter Herrschaft, insbesondere gegen den sich auf Gottes Gnade berufenden höfischen Absolutismus, und er zeigt, dass jedes Herrschaftsverhältnis nur dann legitim ist, wenn sich Herr und Knecht vertraglich verpflichten, einander zu dienen. Bei Vertragsbruch hat jede Partei das Recht, sich dem anderen zu widersetzen. Eine ähnliche Position vertritt Diderot auch in seinen theoretischen Schriften, unter anderem in seiner Widerlegung des Helvétius, in der er sich gegen jede Form von Willkürherrschaft ausspricht und erklärt: Auch die Willkürherrschaft eines gerechten und aufgeklärten Fürsten ist immer schlecht. Seine Tugenden bedeuten die gefährlichste und wirksamste Verführung: sie gewöhnen unmerklich ein Volk daran, seinen Nachfolger – sei er auch noch so schlecht und geistlos – zu lieben, ihn zu verehren und ihm zu dienen. Er nimmt dem Volk das Recht zu beratschlagen, zu wollen oder nicht zu wollen, sich dem Willen des Herrschers auch dann zu widersetzen, wenn er das Gute befiehlt; doch dieses Recht zur Opposition, so unvernünftig es auch sein mag, ist unantastbar. (Diderot 1961a: 113)160
Der Staatsvertrag zwischen Herr und Knecht, für den Diderot plädiert, wird im Roman aber zugleich problematisiert, schützt doch der Vertrag Jacques am Ende der Reisefabel nicht davor, an Stelle seines Herrn inhaftiert und verurteilt zu werden. Allerdings deutet der Roman mit dem Rekurs auf den Königsmörder Cromwell an, dass sich das Kräfteverhältnis zwischen dem Figurenpaar in der Zukunft auch zu Gunsten des Dieners verändern könnte.
_____________ 160 Vgl. Diderot 2004: 642: „Le gouvernement arbitraire d’un prince juste et éclairé, est toujours mauvais. Ses vertus sont la plus dangereuse et la plus sûre des séductions. Elles accoutument insensiblement un peuple à aimer, à respecter, à servir son successeur, quel qu’il soit, méchant et stupide. Il enlève au peuple le droit de délibérer, de vouloir ou ne vouloir pas, de s’opposer même à sa volonté, lorsqu’il ordonne le bien. Cependant ce droit d’opposition, tout insensé qu’il est, est sacré“.
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Mit dem Diskurs um Herr- und Knechtschaft ist die philosophische Frage nach der Determination bzw. der Willensfreiheit des Subjekts eng verknüpft. Schließlich stellt sich die Frage, inwiefern politische Reformen möglich sind. Ist das Subjekt in der Lage, selbstbestimmt zu agieren oder muss es soziale, wirtschaftliche und politische Missstände fatalistisch akzeptieren? Anstatt dem Leser auf diese Frage eine Antwort zu liefern, negiert Diderot beide Positionen – die vom Herrn proklamierte Willensfreiheit sowie Jacques’ fatalistische Weltanschauung. Während die beiden Gegensätze auf der Ebene der Reisefabel unvermittelt bleiben, machen die eingeschobenen Geschichten deutlich, dass der menschliche Wille determiniert ist, weil jede Handlung motiviert ist. Dabei lässt sich die Willensbildung auf die condition des Subjekts – auf ein „Zusammenspiel von Erbanlage, Erziehung, lebensgeschichtlicher Erfahrung, Vorstellungen vom guten und richtigen Leben“ (Groh 1984: 223) – zurückführen. Davon ausgehend, dass „der Kausalnexus von Motiv und Handeln unbeeinflußbar ist“, sieht Diderot einen Weg, „den moralischen Zustand der Gesellschaft zu verbessern, in der Einflußnahme auf die Motivbildung“. (Groh 1984: 226) Das ist durch die Verbesserung der Lebensbedingungen in Folge politischer Reformen, aber auch durch die Literatur möglich, kann doch das Subjekt bei aller Determiniertheit durch Beobachtung, Erfahrung und Reflexion zu vernünftigem Handeln veranlasst werden. „In diesem Erziehungsmodell […] haben auch die literarischen Werke ihre normbildende Funktion“ (Groh 1984: 227), wie Groh mit Blick auf Diderots Gesamtwerk betont.161 Anstatt feste Grundsätze zu propagieren, will Diderot den Leser aber zur Mündigkeit erziehen. Er soll „aus der Illusion überkommener Weltsicht“ (Groh 1984: 20) aufgerüttelt werden, seinen Verstand schulen und sich ein eigenes Urteil über die im Roman exemplifizierten politischen und philosophischen Problemstellungen bilden. Anstatt „mit Eindeutigkeiten“ konfrontiert zu werden, ist der Eindruck von Unentschiedenheit, Offenheit, immerwährender Wahrheitssuche zu evozieren, um den Dialog mit ihm [dem textexternen Leser, N.B.] in Gang zu setzen und in Gang zu halten, in ihm durch das Exempel der Methode eine Offenheit des Geistes zu wecken, die Bereitschaft, an alte Antworten neue Fragen zu stellen, ihn also zunächst einmal zu einem skeptischen Zeitgenossen zu erziehen und ihn den Weg der Selbstaufklärung […] nachvollziehen zu lassen. (Groh 1984: 31f.)
Aus diesem Grund wendet sich Diderot gegen die ‚Einfühlung‘ des Lesers in das Romangeschehen. Denn nur das Subjekt, das „froidement, mais
_____________ 161 Ähnlich argumentiert Winter 1972: bes. 207.
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Diderot: Jacques der Fatalist und sein Herr
sainement“ (Diderot 1987a: 179) – ‚kalt, aber gesund‘ – urteilt, ist imstande, selbstbestimmt zu agieren. Dass Diderot auf die Reflexion des Rezipienten setzt, zeigt sich erstens auf der Handlungsebene des Romans. Hier wird der Herr wegen seiner ausschließlich affektiven Rezeptionshaltung als zu verlachende Figur vorgeführt, erleidet er doch aufgrund seines überbordenden Gefühls bei Jacques’ Schilderung eines Raubüberfalls kurzzeitig einen Realitätsverlust. Er verwechselt Realität und Fiktion und haut zunächst mit seinem Degen auf die von ihm imaginierten Räuber ein, bevor er sich seinem Diener voller Sorge über dessen entsetzliche Lage in die Arme wirft.162 Wie im Folgenden zu zeigen ist, verhindert Diderot eine affektive Rezeption seines Romans zweitens durch die auf Illusionsstörung hin angelegte Darstellungsebene. Die Distanzierung des Lesers von der Romanillusion fördert eine rationale Verarbeitung des Gelesenen und aktiviert ihn, die im Roman diskutierten widersprüchlichen politischen und philosophischen Positionen zu reflektieren und dialektisch eine (vorläufige) Synthese zu finden. Zu den illusionsstörenden Elementen zählt die quantitative Entwertung der Fabel. „Die histoire-Ebene ist das Herzstück einer jeden illusionsbildenden Erzählung“, weil auf ihr „jene Sachverhalte bereitgestellt werden, die der Leser zu einer vorstellbaren Welt konkretisieren kann.“ Aus diesem Grund läuft jede „Illusionsstörung auch in irgendeiner Form auf eine ‚Entwertung der Geschichte‘ als Illusionszentrum des Textes hinaus“. (Wolf 1993: 266) Davon zeugt in Diderots Roman die Überfülle an Digressionen. Die Reisefabel wird permanent unterbrochen – entweder durch die eingeschobenen Geschichten oder durch die Kommentare von fiktivem Leser und Erzähler –, so dass das „Interesse an der Fabel“ sinkt und „die Kontinuität der auf sie ausgerichteten Illusionsbildung“ beeinträchtigt wird. (Wolf 1993: 311) Zugleich ist eine Pluralisierung der diegetischen Fabeln zu konstatieren. So schildert der Erzähler neben der Reisefabel weitere Parallelgeschichten, etwa die Geschichte des Dichters von Pondichéry oder die von Gousse, was eine Enthierarchisierung der Zentralfabel bewirkt. Zentrales Mittel der Illusionsstörung ist außerdem die sokratische Ironie (vgl. 1.), die die Identifikation des Lesers mit den Figuren und den von ihnen proklamierten Positionen verhindert, wie bereits am Beispiel der Oppositionen Herr- vs. Knechtschaft und Determinismus vs. Willensfreiheit gezeigt worden ist. Im Folgenden wird die ironische Kommunikation mit dem Leser in Bezug auf die im Roman thematisierten poetologischen
_____________
162 Vgl. Diderot 1972: 94f. bzw. Diderot 1981a: 100.
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Positionen – romaneskes vs. historisch wahres Schreiben163 – skizziert. Beide Positionen werden im Erzählverlauf miteinander kontrastiert und ironisch aufgelöst, was sich auf der Ebene der Reisefabel im Gespräch von Herr und Knecht mit der Wirtin über die Geschichte der Madame de La Pommeraye andeutet. Kritisch merkt der Herr an, dass die Wirtin zwar „recht gut“ erzählen könne, bei ihren Schilderungen aber gegen „die Regeln des Aristoteles, des Horaz, des Vida und des Le Bossu verstoßen“ und somit die „Anteilnahme“ des Zuhörerers verhindert habe. (Diderot 1972: 182, 183, 182)164 Diesen Einwand lässt die Wirtin nicht gelten. Sie hat die Ereignisse „so erzählt, wie sie sich zugetragen [haben], ohne etwas auszulassen oder hinzuzufügen“ (Diderot 1972: 183).165 Der fiktionalen, auf die ‚Einfühlung‘ des Lesers bzw. Zuhörers zielenden Literatur stellt sie die historische Wahrheit gegenüber. Auch auf der extradiegetischen Ebene des Romans werden die divergenten poetologischen Positionen einander gegenübergestellt. Der Erzähler rekurriert auf die Gattungsmuster des heroisch-galanten Romans,166 weigert sich dann aber, von den gattungstypischen abenteuerlichen Verwicklungen, „Prügeleien und Liebeleien“ (Diderot 1972: 6)167 oder unwahrscheinlichen Zufällen zu berichten. In seinen Gesprächen mit dem fiktiven Leser betont der Erzähler vielfach, nicht der Autor eines ‚lügnerischen‘ Romans zu sein und sich allein an den historischen Fakten zu orientieren. So konstatiert er: Ein Romanschreiber würde sich das nicht entgehen lassen; aber ich mag nunmal keine Romane […]. Ich schreibe Historie, und ob diese Historie Interesse finden
_____________
163 Zur Bedeutungsgeschichte des Begriffs ‚romanesque‘ vgl. Krauss 1949; zur Definition des Begriffs vgl. u. a. Perry 1967. Der Ausdruck ‚romanesk‘ bezieht sich im Folgenden auf literarische Texte, denen ein märchenhaft-idealisierendes Handlungsschema eigen ist und die auf die ‚Einfühlung‘ des Lesers, d. h. auf Perspektivenübernahme, zielen. 164 Vgl. Diderot 1981a: 169, 170, 169: „assez bien“; „avez peché contre les règles d’Aristote, d’Horace, de Vida et de le Bossu“; „intéressât“. 165 Vgl. Diderot 1981a: 170: „[J]e vous ai dit la chose comme elle s’est passée sans en rien omettre, sans y rien ajouter“. 166 Vgl. dazu auch Lafon 2011: 139, Warning 1965: 80–87. Clemens Lugowski definiert die heroisch-galanten Romane als „Großerzählungen historisch-phantastische[r] Riesenräume in vielbändiger, unendlich verschlungener Handlungsornamentik. […] Staatspolitik und heroische Liebe, das sind die bewegenden Kräfte alles Geschehens, das hier in eine Welt klassisch-antiker oder biblisch-orientalischer Vergangenheit gesetzt ist. Die Substanz des Lebens geht in dynastischen Kriegen und dem Streben ungezählter Liebespaare nach der tausendfach bedrohten Vereinigung auf. Erst dann hat ein solcher ‚roman romanesque‘ sein Ende erreicht, wenn die jeweiligen Feinde endgültig besiegt, die Abenteuer bestanden, die immer neu einfallenden Verwirrungen aufgelöst und die Lebenden endlich ihres Glücks gewiß sind.“ (Lugowski 1936: 1) Ähnliche Definitionen finden sich u. a. bei Frenzel 271993: 124, Gelzer 2007 und Singer 1961. 167 Vgl. Diderot 1981a: 26: „combats et des amours“.
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Diderot: Jacques der Fatalist und sein Herr
wird oder nicht: das ist die geringste meiner Sorgen. Ich beabsichtige wahr zu sein, und das bin ich gewesen. (Diderot 1972: 273)168
Solch ein parodistisches, implizit metafiktionales Narrationsverfahren, das das Gattungsmuster des heroisch-galanten Romans aufruft und zugleich negiert, wirkt – ähnlich wie die quantitative Entwertung der Fabel – illusionsstörend.169 Der Erwartungshorizont des (fiktiven) Rezipienten wird enttäuscht, und „mit der mehr oder weniger deutlichen Bezugnahme auf einen Referenzhorizont“ wird „in selbstreflexiver Manier die Bestimmtheit des eigenes Textes durch fremde Textstrukturen als Textrealität dekuvriert.“ (Lafon 2011: 140) Um die Wahrhaftigkeit seiner Schilderungen zu beglaubigen, geriert sich der Erzähler als Chronist, der sich auf vermeintlich fundierte Quellen stützt und scheinbare Wissenslücken zugibt.170 Auch die zahlreichen Verweise auf historische Personen der textexternen Realität und die Kongruenz zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit sollen die Authentizität des Geschilderten beglaubigen.171 Diese Illusion wird jedoch zerstört. Erstens rekurriert der Erzähler trotz des von ihm proklamierten Anspruchs auf historische Wahrheit vielfach auf andere literarische Texte, vor allem auf den 1769 in französischer Übersetzung erschienenen Roman Leben und Ansichten von Tristram Shandy (The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman, 1759–1767) von Laurence Sterne, wodurch dem Leser die Artifizialität des Romans bewusst gemacht wird. So bezieht er sich auf Sterne, wenn Jacques über seine Knieverletzung spricht; wenn er davon berichtet, in Ohnmacht gefallen zu sein, oder wenn er erklärt, dass jede „Kugel […] ihren Quartierschein“ (Diderot 1972: 3)172 habe.173 Explizit
_____________ 168 Vgl. Diderot 1981a: 246: „Un faiseur de roman n’y manquerait pas, mais je n’aime pas les romans […]. Je fais l’histoire; cette histoire intéressera ou n’intéressera pas, c’est le moindre de mes soucis. Mon projet est d’être vrai, je l’ai rempli.“ Vgl. außerdem Diderot 1972: 4, 16, 19, 43, 71, 274, 326 bzw. Diderot 1981a: 25, 35, 37, 56, 79f., 246, 288. 169 Diderots Roman lässt sich außerdem als kritische Auseinandersetzung mit den „traditionellen Abenteuer- und Liebesromane[n]“ (Groh 1984: 55) und zeitgenössischen „Fatalismusromane[n]“ (Behrens 1993: 350) sowie als „Quijote-Parodie“ (Dirscherl 1985: 142) lesen. Lafon stellt außerdem Bezüge zur Banditenbiographie des 18. Jahrhunderts und zur empfindsamen Literatur her, vgl. Lafon 2011: 150. 170 Vgl. Diderot 1972 73, 259f. bzw. Diderot 1981a: 81, 235. Bei der Forderung nach „historischer Echtheit“ (Geißler 1984: 82) und dem Veweis auf „wahrhaft bedauerliche Lücke[n]“ (Diderot 1972: 259, vgl. Diderot 1981a: 235: „une lacune vraiment déplorable“) im Manuskript handelt es sich um ein populäres ästhetisches Mittel im französischen Roman der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts (vgl. Geißler 1984: 96f.). 171 Vgl. den Kommentar in Diderot 1981a. Hier werden alle historischen Personen, auf die sich Diderot bezieht, aufgeführt. 172 Vgl. Diderot 1981a: 23: „Mon capitaine ajoutait que chaque balle qui partait d’un fusil avait son billet.“
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verweist der fiktive Herausgeber auch nach dem Ende der Reisefabel auf Sternes Roman, vermutet er doch, dass es sich bei dem zweiten Kapitel, das von Jacques’ Liebe zu Denise erzählt, um ein Plagiat handelt.174 Zweitens erweist sich der Erzähler als mimetisch unzuverlässig.175 Durch die Wechsel von dem narrativen in den dramatischen Modus, die Tempuswechsel vom Präteritum ins Präsens und das Zusammenfallen von erzählter Zeit und Erzählzeit wird dem (naiven) Leser suggeriert, „hier begleite ein getreuer Chronist als Augenzeuge Schritt für Schritt ein authentisches Geschehen“ (Groh 1984: 58). Dieser Eindruck wird durch die Behauptung des Erzählers verstärkt, er befinde sich mit Jacques und seinem Herrn im Wirtshaus.176 Im Erzählverlauf wird diese Vorstellung aber destruiert. Das zeigt sich etwa, wenn der Erzähler den fiktiven Leser anspricht, aber nicht von diesem, sondern von Jacques und seinem Herrn eine Antwort erhält.177 Hier muss dem realen Leser deutlich werden: Es ist unmöglich, zugleich in der Geschichte zu sein als handelnde Person – Jacques oder sein Herr – und in ein Gespräch zwischen Erzähler und Leser dieser Geschichte sich einzuschalten. Die Kongruenz der Zeitebenen enthüllt sich daher als zeitlogisches Paradoxon, das die Beteuerung des Erzählers, eine wahre histoire zu berichten, in Frage stellt. (Groh 1984: 58f.)
_____________ 173 Vgl. das Gespräch von Herr und Knecht über die Knieverletzung mit dem 8. Buch, Kap. XIX, des Romans. Hier heißt es: „There is no part of the body, an’ please your honour, where a wound occasions more intolerable anguish than upon the knee – / Except the groin; said my uncle Toby. An’ please your honour, replied the corporal, the knee, in my opinion, must certainly be the most acute, there being so many tendons and whatd’ye-call’ems all about it“; vgl. Jacques’ Ohnmacht mit den ersten fünf Absätzen aus dem 20. Kap. des 8. Buches; vgl. Jacques’ Äußerung, dass ‚jede Kugel ihren Quartierschein habe‘ mit dem 19. Kap. des 8. Buches. Hier heißt es: „King William was of an opinion, an’ please your honour, quoth Trim, that everything was predestined for us in this world; insomuch, that he would often say to his soldiers, that ‚every ball had its billet‘“ (Sterne 1970: 543, 544f., 542.). 174 Vgl. die zweite Variante der Liebesgeschichte mit dem 22. Kap. des 8. Buches von Sternes Roman. 175 Im Anschluss an Wayne Booth’s Konzept des unzuverlässigen Erzählers in The Rhetoric of Fiction (1961) differenziert Tom Kindt zwischen axiologisch (un-)zuverlässigen und mimetisch (un-)zuverlässigen Erzählern. „Der Ausdruck ‚axiologische Unzuverlässigkeit‘ soll dabei die zuerst von Booth beschriebenen Erzähler beschreiben, die für das Werk, dessen Bestandteil sie sind, in normativer Hinsicht keine repräsentative Geltung besitzen; der Terminus ‚mimetische Unzuverlässigkeit‘ soll für die […] Erzähler stehen, die ihren jeweiligen Gegenstand nicht angemessen darstellen“ (Kindt 2008: 48). 176 Vgl. Diderot 1972: 131 bzw. Diderot 1981a: 128. 177 Vgl. Diderot 1972: 272 bzw. Diderot 1981a: 244.
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Der Erzähler verstößt außerdem gegen die Maxime der Qualität:178 Zahlreiche seiner Aussagen erweisen sich im Erzählverlauf als falsch. So muss der Erzähler auf die Nachfrage des fiktiven Lesers zugeben, gar nicht mit Jacques und seinem Herrn im Wirtshaus gewesen zu sein und seine Figuren inkorrekt zitiert zu haben.179 Auf die Frage des Lesers, ob sich Jacques wirklich „des Ausdrucks Engastrimythe bedient“ und das Wort „hydrophob“ gebraucht habe, bekennt der Erzähler, sich nicht an den Fakten orientiert zu haben;180 und er verteidigt sich mit dem Hinweis darauf, dass jedes literarische Werk von der spezifischen „Ausdrucksweise“ des jeweiligen „Autors“ geprägt sei. (Diderot 1972: 309)181 Dass eine wahrheitsgetreue Wiedergabe der Realität unmöglich ist, kommt auch in seinen Kommentaren über die historiographischen Werke von Titus Livius und Guido Bentivoglio zum Ausdruck. In Bezug auf die ‚Geschichte Roms‘ und die ‚Flandrischen Kriege‘ konstatiert er: „Man liest sie mit Vergnügen, aber sie zerstören die Illusion. Ein Historiker, der seinen Gestalten Reden unterschiebt, die sie nicht gehalten haben, kann ihnen auch Handlungen unterschieben, die sie nicht vollbracht haben.“ (Diderot 1972: 282)182 Wie aus dieser Äußerung hervorgeht, handelt es sich auch bei historiographischen Schriften um Konstruktionen von Wirklichkeit, auch wenn sie die Illusion erwecken, die Ereignisse der empirischen Realität unverfälscht wiederzugeben. Da die faktenorientierte Darstellung historischer Ereignisse keine Wahrhaftigkeit gewährleistet, steht die Dichtung der Geschichtsschreibung in nichts nach; und da die Wahrheit außerdem „häufig kalt, gemein und platt“ (Diderot 1972: 43)183 und uninteressant ist,
_____________ 178 Mit Tom Kindt gehe ich davon aus, dass ein Erzähler dann mimetisch unzuverlässig ist, wenn er gegen die Maximen der Quantität, Qualität, Relation oder Modalität verstößt. Zu prüfen ist daher, ob die Angaben des Erzählers „A) in quantitativer Hinsicht wohlgeformt sind, ob sie so informativ ausfallen, wie es das Erzählinteresse und der Äußerungskontext erfordern und die Erzählsituation erlaubt; B) in qualitativer Hinsicht wohlgeformt sind, ob sie innerhalb des fiktionalen Universums aufrichtig, begründet und wahr sind; C) in relationaler Hinsicht wohlgeformt sind, ob sie bezogen auf die Erzählabsicht und den konkreten Äußerungskontext relevant sind; D) in modaler Hinsicht wohlgeformt sind, ob sie etwa auf Unklarheiten, Ungeordnetheiten, Weitschweifigkeiten und Mehrdeutigkeiten verzichten.“ (Kindt 2008: 66f.) 179 Vgl. Diderot 1972: 100, 116 bzw. Diderot 1981a: 104, 116. 180 Vgl. Diderot 1972: 258, 309 bzw. Diderot 1981a: 258, 274. 181 Vgl. Diderot 1981a: 274: „le mot de l’auteur“. 182 Vgl. Diderot 1981a: 253: „On les lit avec plaisir, mais elles détruisent l’illusion; un historien qui suppose à ses personnages des discours qu’ils n’ont pas tenus, peut aussi leur supposer des actions qu’ils n’ont pas faites.“ 183 Vgl. Diderot 1981a: 56: „souvent froide, commune et plate“.
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wie der Erzähler betont, ist die reine Darstellung geschichtlicher Fakten in der Literatur auch aus poetologischer Perspektive abzulehnen. 184 Dass der Erzähler – entgegen anderer Behauptungen – keinen Wert auf Authentizität verbürgende Fakten legt, wird im Roman auch thematisiert, wenn der Erzähler dem fiktiven Leser eine exakte Auskunft über den Übernachtungsort von Herr und Knecht oder die Beschreibung von Jacques’ nächtlicher Trunkenheit verweigert und ihn auffordert, sich „mit ausgeruhtem Kopf“ diejenige Version auszusuchen, die ihm „am meisten behagt“; (Diderot 1972: 188)185 oder wenn der Erzähler den fiktiven Leser dafür verspottet, die genaue Reiseroute von Herr und Knecht wissen zu wollen, und fragt: Wohin? – Wohin? Lieber Leser, du bist von einer recht lästigen Neugier! Was, zum Teufel, hast du davon? Wenn ich dir gesagt hätte: nach Pontoise oder nach Saint-Germain, nach Notre-Dame de Lorette oder nach Santiago de Compostela, würdest du dadurch weitergekommen sein? (Diderot 1972: 26) 186
Die Erzählerkommentare zeigen, dass sich Diderot sowohl von der heroisch-galanten Romantradition als auch von den vor allem in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts populären literarischen Texten distanziert, die „sich den Anschein authentischer historischer Zeugnisse zu geben suchte[n] und in die dokumentarischen Formen von Briefen, Memoiren, Gesprächen etc. gekleidet wurde[n]“ (Geißler 1984: 97). Die metareferentiellen Kommentare wirken illusionsstörend, tritt die histoire-Ebene doch zugunsten der discours-Ebene und der Reflexion über das Erzählen in den Hintergrund.187 Wie für die anderen zentralen inhaltlichen Antinomien des Romans – Herr- vs. Knechtschaft und Determinismus vs. Indeterminismus – gilt auch für die Kontrastierung von romaneskem und historisch wahrem Schreiben, dass die beiden poetologischen Positionen im Erzählverlauf demontiert werden. Dabei besteht in der Diderot-Forschung kein Konsens darüber, ob die Gegensätze in einem „unaufgelöste[n] Spannungs-
_____________ 184 Zur Reizlosigkeit faktenorientierten Erzählens vgl. auch Diderot 1972: 19. Hier wird thematisiert, dass Jacques seinen Herrn dadurch einschläfert, dass er in seinen Berichten „nicht den geringsten Umstand“ auslässt. 185 Vgl. Diderot 1981a: 175: „à tête reposée“; „celle qui vous conviendra le mieux“. 186 Vgl. Diderot 1981a: 42: „Où? – Où, Lecteur, vous êtes d’une curiosité bien incommode! Et que diable cela vous fait-il? Quand je vous aurai dit que c’est à Pontoise ou à SaintGermain, à Notre-Dame-de-Lorette ou à Saint-Jacques-de-Compostelle, en serez-vous plus avancé?“ 187 Ähnlich argumentiert Treskow, wenn sie davon spricht, dass Diderot „in der Ausgestaltung von fiktivem Erzähler und fiktivem Leser die auf der Ebene der Reiseerzählung entstehende Romanillusion“ aufhebt und „die Reflexion über romaneskes Erzählen in den Vordergrund“ rückt. (Treskow 1996: 87)
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verhältnis“ (Behrens 1994: 359) bleiben oder „dialektisch aufgehoben“ (Groh 1984: 68) werden. So sind Behrens, Hilker, Hans Robert Jauß und Warning davon überzeugt, dass die „philosophische[n] und romaneske[n] Themen“ des Romans „nicht beantwortet, sondern immer wieder neu gestellt“ werden, „um schließlich in einer Aporie zu enden“. (Hilker 2006: 182)188 Für Warning zeigt sich hierin der historische Schritt vom Optimismus der Hochaufklärung zum Skeptizismus der Spätaufklärung, für die mit dem Verlust des Normativen eine kasuistische Wirklichkeitserfahrung kennzeichnend wird. Die Lösung des Problems ist daher wieder nur im Rahmen eines persönlichen Entscheids möglich. (Warning 1965: 110)
Im Unterschied dazu vertritt Groh die These, dass auf der „Ebene der impliziten Rezeption eine doppelte Botschaft“ (Groh 1984: 60) auszumachen ist. Zwar werden die oppositiven Positionen – romaneskes vs. historisch wahres Schreiben – negiert, zugleich lässt sich Jacques der Fatalist aber als Plädoyer für einen Roman lesen, „der ein wahres Bild der Welt vermittelt. […] Die Aufwertung des Wahrscheinlichen gegenüber dem de facto Wahren ist offenkundig.“ (Groh 1984: 60, 62) Dabei wird der Begriff der Wahrscheinlichkeit weit gefasst, zielt Diderot laut Groh doch weniger auf ein „realistisches Abbild des Wirklichen“ als auf die „satirische Illustration wahrer Sätze über das Wirkliche, von Erkenntnissen, gewonnen aus psychologischer, soziologischer oder historischer Einsicht.“ (Groh 1984: 108) Ähnlich argumentiert Lafon. Wie Groh ist er der Auffassung, dass die gegensätzlichen poetologischen Positionen zugunsten einer vérité de l’histoire demontiert werden. Darunter versteht er allerdings nicht die Überzeichnung des modèle dans la nature (vgl. Groh 1984: 111), sondern die Dekuvrierung der eigenen Vertextungsbedingungen […]. Diese Vertextungsrealität […] impliziert zunächst das poetologische Selbstverständnis eines selbstreflexiv am eigenen Schreiben festgemachten Wahrheitsbegriffes. Das Erzählen an sich ist somit Gegenstand des Erzählens, wobei über den Vertextungsvorgang wahre Aussagen getroffen werden (Lafon 2011: 193)
können. Auch wenn die inhaltliche Antinomie romaneskes vs. historisch wahres Schreiben auf der Erzählebene unvermittelt bleibt, verweist die literarästhetische Gestaltung des Romans doch auf Diderots poetologische Position und damit implizit auf sein Konzept der vérité de l’histoire, wie ich im Folgenden im Anschluss an Groh und Lafon zeigen möchte. Wie Dirscherl und Treskow deutlich gemacht haben, handelt es sich bei Jacques der Fatalist um einen komisch-satirischen Roman.189 Während
_____________ 188 Vgl. auch Behrens 1994, Jauß 1984a, Warning 1995, Warning 1988. 189 Vgl. u. a. Dirscherl 1985 und Treskow 1996.
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sich der heroisch-galante Roman an der Wahrscheinlichkeit – der vraisemblance – „als Potentialität im Gegensatz zur reinen Faktizität des Historischen“ (Berger 1984: 25) orientiert und damit häufig die Forderung nach poetischer Gerechtigkeit und Schicklichkeit – bienséance – verbindet, zielt der komisch-satirische Roman auf Wahrhaftigkeit (vérité).190 Dabei geht es den Autoren weniger um eine möglichst plastische, exakte Schilderung der empirischen Realität, sondern um die komisch-satirische Darstellung der Lebenswelt des Lesers. Ihre Kritik richtet sich gegen die institutionalisierte Religion, gegen mit bestimmten sozialen „Gruppen und Schichten“ assoziierte Laster oder gegen konkrete literarische Gattungen und Formen, „was schon aus der oppositiven Stellung der Gattung im literarischen System gegenüber dem hohen Roman zu verstehen ist. […] Durchgängig wird dem hohen Roman der Vorwurf gemacht, er verführe den Leser dazu, Fiktion mit Realität zu verwechseln“, da er auf das Primat der ‚Einfühlung‘ – auf Perspektivenübernahme – setze. Stattdessen wird die „kritische Distanz des Lesers zum Text“ gefordert. (Berger 1984: 165, 132, 135). Um eine Reflexion über das Geschilderte zu evozieren, weist der komisch-satirische Roman häufig einen unzuverlässigen Erzähler auf. Kennzeichnend sind außerdem kontrastierende und parodistische Verfahren. (Vgl. Berger 1984: 247) Vor diesem Hintergrund ist Groh und Lafon rechtzugeben. Diderot liefert vor allem in den eingeschobenen Geschichten – wie für den komisch-satirischen Roman charakteristisch – kein „realistisches“, sondern ein „parodistisch verzerrtes Abbild des Wirklichen“. (Groh 1984: 108) Durch das selbstreflexive, kritisch auf den heroisch-galanten Roman rekurrierende Erzählen stellt sich zugleich „die paradoxe Vertextungskonstellation von selbstgesetzter Textualität in Abhängigkeit von einer gleichzeitigen spezifischen [romanesken, N.B.] Diskursbestimmtheit als vérité de l’histoire“ (Lafon 2011: 193) heraus. Der auf der extradiegetischen Ebene des Romans angesiedelte poetologische Diskurs ist allerdings nicht unabhängig von den anderen politischen und philosophischen Problemstellungen zu sehen; denn Diderot versucht, „auf ästhetische und ideologische Fragen gleichzeitig eine Antwort zu geben und zwar mit einem Text, der beide Komponenten aufs engste verknüpft, auf daß sie sich wechselseitig erhellen.“ (Dirscherl 1985: 141) Diderot macht dem Leser durch die ironische Auflösung der oppositiven Differenz literarisch-fiktionales vs. faktuales Erzählen sowie durch die metafiktionalen Kommentare und die auf Illusionsstörung zielende
_____________ 190 Zur Opposition von Wahrscheinlichkeit und Wahrheit im ‚hohen‘ und ‚niederen‘ Roman in Deutschland vgl. Voßkamp 1973.
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literarästhetische Gestaltung des Textes deutlich, dass er dem Erzählten keinen blinden Glauben schenken, sondern der eigenen Erfahrung und den eigenen Vernunftschlüssen trauen soll. Dass die Wirklichkeit in kaum einer Erzählung objektiv geschildert wird, jede Schilderung also auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu prüfen ist, kommt auf der Ebene der Reisefabel zum Ausdruck, wenn Jacques auf die Bitte seines Herrn, eine Geschichte so zu schildern, „wie sie gewesen ist“ (Diderot 1972: 62),191 antwortet: Das ist nicht ganz einfach. Hat man nicht seinen Charakter, sein Interesse, seinen Geschmack, seine Leidenschaften, denen entsprechend man übertreibt oder verkleinert? Erzähl die Sache wie sie gewesen ist…! Das geschieht vielleicht keine zweimal an einem Tag in einer ganzen Stadt. Und ist der, der einem zuhört, besser gestimmt als der, der spricht? Nein. Woraus sich notwendigerweise ergibt, daß man in einer ganzen großen Stadt kaum zweimal an einem Tag so verstanden wird, wie man spricht. (Diderot 1972: 62)192
Genauso wie das Erzählen und Verstehen ist auch die Bewertung von Handlungen oder Eigenschaften von der condition des Subjekts abhängig. Dass fast nichts „so beurteilt wird, wie man es getan hat“ (Diderot 1972: 63),193 wird von Jacques explizit thematisiert, kommt aber auch in der Geschichte von Le Pelletier zum Ausdruck, der für sein tiefes Mitleid mit den Bedürftigen von den Armen geschätzt und von den Reichen fast ausnahmslos für verrückt erklärt wird. Unterschiedlich wird auch die Ohrfeige bewertet, mit der sich Monsieur Aubertot gegen die aufdringliche Bettelei des Le Pelletier wehrt. Während Jacques’ Hauptmann die Ohrfeige für eine zu milde Strafe hält, verlangt ein anderer Zuhörer der Geschichte von Aubertot, sich für seinen Fehler zu entschuldigen. Beide Positionen bleiben unvermittelt und Jacques resümiert: „[J]eder faßt eine Beleidigung oder eine Wohltat auf seine eigene Weise auf; und vielleicht haben wir darüber in zwei Augenblicken unseres Lebens nicht dasselbe Urteil.“194 Da jede Bewertung vom Charakter und den sich wandelnden Einstellun-
_____________ 191 Vgl. Diderot 1981a: 73: „la chose, comme elle est“. 192 Vgl. Diderot 1981a: 73: „Jacques – Cela n’est pas aisé. N’a-t-on pas son caractère, son intérêt, son goût, ses passions, d’àpres quoi l’on exagère ou l’on atténue? Dis la chose comme elle est!… Cela n’arrive peut-être pas deux fois à peine en un jour dans toute une grande ville. Et celui qui vous écoute est-il mieux disposé que celui qui parle? Non. D’où il doit arriver que deux fois à peine en un jour dans toute une grande ville on soit entendu comme on dit.“ 193 Vgl. Diderot 1981a: 73: „presque rien qui soit jugé comme on l’a fait“. 194 Vgl. Diderot 1981a: 75: „[C]hacun apprécie l’injure et le bienfait à sa manière, et peut-être n’en portons-nous pas le même jugement dans deux instants de notre vie.“
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gen des Subjekts abhängig ist, ist eine objektive, übersituative Urteilsfindung kaum möglich.195 * Die Analyse der Korrespondenzen zwischen Handlungs- und Erzählebene zeigt, dass Diderots Roman nicht nur ein Beitrag zur „Aufklärung des Lesers über den Umgang mit Fiktionen“ (Warning 1988: 472) ist, wie etwa Warning hervorgehoben hat. Vielmehr belegen die Erzählerkommentare und die literarästhetische Gestaltung des Romans, dass Diderot auf die Aufklärung des Lesers zielt, mit Immanuel Kant verstanden als ‚Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit‘. Dazu werden im Roman tradierte politische und philosophische Positionen ironisch aufgelöst und zur Diskussion gestellt. Durch die Lenkungsstrategien im Text wird „der Leser des Textes zwar selbst ständig als Fragesteller aktiviert, als Interpret ermuntert, aber nie allein gelassen. Vielmehr werden seine eigenen Vermutungen gezielt gesteuert und kontrolliert durch ein Angebot von Alternativen“ (Jüttner 1992: 287). Auch wenn der Text implizit bestimmte politische und philosophische Ansichten vermittelt – die Negation jeder Form von unumschränkter Herrschaft oder die Determination des menschlichen Willens – wird dem Leser deutlich gemacht, dass jede Erzählung eine Form der Welterzeugung und -deutung ist und ihre Inhalte kritisch zu prüfen sind. Da auch das Verstehen und die Urteilsbildung von der eigenen condition abhängig ist, soll sich der Leser zugleich über seine eigenen Bewertungskriterien bewusst werden.
_____________ 195 Die innere Unbeständigkeit des Subjekts wird im Roman mehrfach thematisiert, so etwa, wenn Jacques seinem Herrn erklärt, sich seiner selbst nicht sicher zu sein (vgl. Diderot 1972: 51 bzw. Diderot 1981a: 63). Aus diesem Grund kann er ihm auch nicht zusichern, künftig keine Verbrechen zu begehen. Um seine innere Unbeständigkeit weiß auch der Marquis des Arcis, der seiner ehemaligen Geliebten – der Madame de La Pommeraye – trotz seines Trennungswunsches plötzlich gestehen muss: „Nie zuvor sind Sie mir so liebenswert, so schön vorgekommen wie in diesem Augenblick; und wenn mich die früheren Erfahrungen nicht vorsichtig gemacht hätten, würde ich glauben, ich liebte Sie mehr denn je.“ (Diderot 1972: 129; vgl. Diderot 1981a: 126: „Jamais vous ne m’avez paru aussi aimable, aussi belle que dans ce moment, et si l’expérience du passé ne m’avait rendu circonspect, je croirais vous aimer plus que jamais.“)
2. Die dialektische Negation politischer Systeme in Darstellungen von Koalitionen zwischen Herr und Knecht (Hegel, Marx, Brecht, Braun) In seinem Roman Jacques der Fatalist und sein Herr führt Diderot eine Koalition zwischen Herr und Knecht vor, um tradierte herrschaftstheoretische und philosophische Positionen zur Diskussion zu stellen. Anhand der vermeintlichen Freundschaft zwischen Jacques und seinem Herrn wird jede Form von uneingeschränkter Herrschaft problematisiert, insbesondere der die Willkürherrschaft ermöglichende höfische Absolutismus, und es wird gezeigt, dass eine Herrschaftsbeziehung nur dann legitim ist, wenn Herr und Knecht bzw. Souverän und Volk ihre Rechte und Pflichten per (Staats-)Vertrag festlegen. Mit dem Diskurs um Herr- und Knechtschaft ist die philosophische Frage nach der Freiheit des Subjekts (Notwendigkeit vs. Willensfreiheit) eng verknüpft, ist doch zu klären, ob und inwiefern die Menschen zu selbstbestimmtem Handeln und damit zum aktiven Kampf gegen die herrschenden politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Missstände fähig sind. In diesem Zusammenhang illustrieren die in die Reisefabel eingeschobenen Geschichten, dass der Wille des Subjekts determiniert ist, weil jede Handlung motiviert und von seiner condition abhängig ist. Mit seinem Roman will Diderot nun Einfluss auf die Willensbildung seiner Rezipienten nehmen: Anstatt ihnen feste Grundsätze zu vermitteln, sollen sie durch Beobachtung, Erfahrung und durch Vernunftschlüsse eine kritische Haltung zu den exemplifizierten politischen und philosophischen Problemstellungen entwickeln. Das manifestiert sich nicht nur auf der Handlungs-, sondern auch auf der Darstellungsebene des Romans, der auf Illusionsstörung hin angelegt ist, um die ‚Einfühlung‘ des Lesers in das Romangeschehen zu verhindern und eine rationale Auseinandersetzung mit dem Gelesenen zu forcieren. Im Anschluss an die Textanalyse soll nun eine erste Figuration interdependenter Herrschaft in der literarischen Diskussion seit der Aufklärung profiliert werden: die dialektische Negation politischer Systeme in Darstellungen von Koalitionen zwischen Herr und Knecht, so bei Diderot und danach in Bertolt Brechts Herr Puntila und sein Knecht Matti und in Volker Brauns Hinze-Kunze-Roman. In allen drei Texten gehen der Herr und der ihm intellektuell und/oder lebenspraktisch überlegene Knecht ein temporäres
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Bündnis ein, in dem sie ihre Rechte und Pflichten miteinander auszuhandeln gezwungen sind. Durch die Konflikte des Figurenpaares werden Form und Qualität des vorgeführten Herrschaftsverhältnisses hinterfragt und die Rezipienten dazu aufgefordert, eine eigene Haltung zu der in den jeweiligen Texten vorgeführten politischen Ordnung zu entwickeln. Die dialektische Konzeption der Texte liegt angesichts des thematisierten Kräftegleichgewichts zwischen Herr und Knecht nahe, lässt sich aber auch auf eine dominante literarische und literaturwissenschaftliche Rezeptionslinie zurückführen, nach der Diderots Roman als Ausgangspunkt für das von Georg Wilhelm Friedrich Hegel entworfene und vielfach aus- und umgedeutete dialektische Herr-Knecht-Modell in der Phänomenologie des Geistes begriffen wird. Auch wenn es in der HegelForschung keine Position gibt, die einen Einfluss von Diderots Roman auf Hegel registriert,1 handelt es sich um einen Topos, dass sich der Philosoph bei seinen Ausführungen zu Herrschaft und Knechtschaft an Diderots Roman orientiert hat (vgl. u. a. Mayer 1971). Hegels Denkfigur ist unter anderem von Karl Marx „konflikttheoretisch und emanzipatorisch“ (Bluhm 2004: 67) umgedeutet und auf das Verhältnis von Herrscher- und Arbeiterklasse bezogen worden. Den Konflikt zwischen den sozialen Gruppen hat Marx als „sozialökonomische Auseinandersetzung“ (Bluhm 2004: 68) verstanden, der sich in der Zukunft dialektisch – durch eine Revolution – aufheben lassen soll. Diese marxistische Deutung des Herr-Knecht-Modells ist breit rezipiert worden und hat auch in die literarische Diskussion Eingang gefunden, wie sich an den Texten von Brecht und Braun illustrieren lässt. Da beide Autoren außerdem Diderots Roman und Hegels Phänomenologie des Geistes zur Kenntnis genommen haben, werden zunächst die dialektischen Herr-Knecht-Modelle von Hegel und Marx vorgestellt (vgl. 2.1 und 2.2), bevor im Anschluss die Koalitionen von Herr und Knecht bei Brecht und Braun in den Blick genommen werden. Während in Herr Puntila und sein Knecht Matti der Kapitalismus als Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung dialektisch negiert wird (vgl. 2.3), reflektiert Braun im Hinze-Kunze-Roman die Missstände im realexistierenden Sozialismus (vgl. 2.4).
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Hegels Herr-Knecht-Dialektik ist oft sozialphilosophisch gedeutet worden. Wie u. a. Pirmin Stekeler-Weithofer (2008), Ludwig Siep (22006) oder Folko Zander (2009) gezeigt haben, geht es Hegel aber in erster Linie um die Konturierung der „Bewegung der Anerkennung“ (Siep 22006: 118) im Subjekt.
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2.1 Hegel als Rezipient von Diderots Jacques der Fatalist? Zur sozialphilosophischen Deutung des Herr-Knecht-Kapitels in der Phänomenologie des Geistes Davon ausgehend, dass Hegel Diderots Roman Jacques der Fatalist und sein Herr in der Übersetzung von Wilhelm Christhelf Sigmund Mylius (1792) gekannt hat, vertritt Hans Mayer 1971 in seinem viel rezipierten Beitrag Herrschaft und Knechtschaft. Hegels Deutung, ihre literarischen Ursprünge und Folgen die These, dass Hegel sein dialektisches Herr-Knecht-Modell in Auseinandersetzung mit Diderot entwickelt habe (vgl. Mayer 1971: 257) – seitdem und bis heute ein Topos der literaturwissenschaftlichen Forschung. So erscheint noch Isabella von Treskow die „Vermutung einer Adaption der Diderotschen Herr-Knecht-Dialektik durch Hegel […] mithin legitim, obwohl Jacques und sein Herr nicht ideale Typen wie Herr und Knecht in der Phänomenologie sind.“ (Treskow 1995: 238)1 In der Tat hat Hegel Diderots Roman zur Kenntnis genommen. Davon zeugt sein Aufsatz Wer denkt abstrakt? (1807), in dem er sich polemisch gegen das abstrakte Denken als einer Form der Komplexitätsreduktion richtet.2 Laut Hegel denkt derjenige abstrakt, der eine Sache oder ein Subjekt mit einem einzigen Attribut fasst und alle anderen Eigenschaften – etwa aus mangelnder Bildung – ausblendet. Das illustriert er am Beispiel eines Mörders, dem das ‚gemeine Volk‘ (Hegel 1986e: 577) keine positiven Qualitäten zuzuerkennen bereit ist, eben weil es sich um einen Mörder handelt. „Dies heißt abstrakt gedacht, in dem Mörder nichts als dies Abstrakte, daß er ein Mörder ist, zu sehen und durch diese einfache Qualität alles übrige menschliche Wesen an ihm [zu] vertilgen.“ (Hegel 1986e: 578) Den Unterschied zwischen dem vereinseitigenden abstrakten und konkreten Denken, „in dem sich gegenwärtig Wirkliches nicht nur unter irgend einer Hinsicht, sondern in seiner Gesamtverfassung erschließt“ (Henrich 2003: 30), erläutert er anhand Diderots Roman. So heißt es im Aufsatz: Der gemeine Mensch denkt wieder abstrakter, er tut vornehm gegen den Bedienten und verhält sich zu diesem nur als zu einem Bedienten; an diesem einen Prädikate hält er fest. Am besten befindet sich der Bediente bei den Franzosen. Der vornehme Mann ist familiär mit dem Bedienten, der Franzose sogar gut Freund mit ihm; dieser führt, wenn sie allein sind, das große Wort, man sehe Diderots Jacques et son maître, der Herr tut nichts als Prisen-Tabak nehmen und nach der Uhr sehen und läßt den Bedienten in allem Übrigen gewähren. Der vornehme Mann
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Exemplarisch seien hier weitere neuere Arbeiten angeführt, die Bezüge zwischen Hegels Phänomenologie des Geistes und Diderots Roman annehmen: Haase 2001: 172, Hinck 2010: 159, Rattner/Danzer/Fuchs 2001: 93, Sagarra 2006: 225. Zur Deutung von Hegels Aufsatz vgl. u. a. Bennholdt-Thomsen (1969).
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weiß, daß der Bediente nicht nur Bedienter ist, sondern auch die Stadtneuigkeiten weiß, die Mädchen kennt, gute Anschläge im Kopf hat; er fragt ihn darüber, und der Bediente darf sagen, was er über das weiß, was der Prinzipal frug. Beim französischen Herrn darf der Bediente nicht nur dies, sondern auch die Materie aufs Tapet bringen, seine Meinung haben und behaupten, und wenn der Herr etwas will, so geht es nicht mit Befehl, sondern er muß dem Bedienten zuerst seine Meinung einräsonieren und ihm ein gutes Wort darum geben, daß seine Meinung Oberhand behält. (Hegel 1986e: 580)
Wie das Zitat zeigt, unterscheidet Hegel drei Formen der Herrschaftsausübung. Der abstrakt denkende ‚gemeine Mensch‘ muss sich als Herr gerieren, weil er seinen Bedienten ausschließlich als einen ihm Untergebenen wahrnimmt. Im Gegensatz dazu respektiert der ‚wahrhaft Vornehme‘ sein Gegenüber als konkreten Menschen. Er hat es nicht nötig, seinen Bedienten auf ein einzelnes ‚Prädikat‘ unter Ausklammerung aller anderen ihm eigenen Attribute festzulegen und kann ihm daher Denk- und Handlungsfreiheiten einräumen. ‚Wahre‘ Dignität kommt für Hegel somit in einer flachen Hierarchie zwischen Herr und Diener zum Ausdruck. Das darf allerdings nicht zu einem vollständigen Machtverlust des Herrn führen, wie Hegel im Rekurs auf Diderots Roman deutlich macht. Im Unterschied zum ‚Vornehmen‘, der sich durch väterliche Autorität auszeichnet, begreift Jacques’ Herr seinen Bedienten als gleichrangigen ‚Freund‘, so dass er ihm nicht länger befehlen kann, sondern ihn von seinen Meinungen überzeugen muss. Die Umkehrung des Machtverhältnisses verweist hier nicht auf eine ‚dialektische Aufhebung‘ der Herrschaftsbeziehung, sondern dient als komisches – zu verlachendes – Negativbeispiel.3 Schon deshalb ist fraglich, ob Diderots Roman für Hegels dialektisches HerrKnecht-Modell wirklich Pate gestanden hat, wie unter anderem Eda Sagarra im Anschluss an Mayer betont.4 Dagegen spricht auch, dass sich in der Phänomenologie des Geistes weder explizite noch implizite Verweise auf Diderots Roman – nur auf dessen philosophischen Dialog Rameaus Neffe – finden lassen. Zuletzt sei angemerkt, dass Hegels Kapitel zur Herrschaft und Knechtschaft vor allem von marxistisch orientierten Literaturwissenschaftlern und Philosophen wie etwa von Alexandre Kojève oder eben Hans Mayer sowie von den Vertretern der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule als sozialphilosophische Denkfigur gedeutet worden ist. Im
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In ihrer Studie differenziert Treskow nicht zwischen dem Verhalten des ‚vornehmen‘ und dem des ‚französischen Herrn‘. Vor diesem Hintergrund stellt sie die – nicht zu haltende – These auf, dass Hegel in seinem Aufsatz das „lächliche [sic] Element des maître, die Schwäche in Denk- und Handlungsfähigkeit, positiv als bewußtes Entgegenkommen des Überlegenen“, d. h. als konkretes Denken, wertet. (Treskow 1996: 238) Vgl. Sagarra 2006: 225.
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Unterschied dazu wird in der Hegel-Forschung meist die These vertreten, dass im betreffenden Kapitel die Beziehung zwischen Bewusstsein und Selbstbewusstsein über eine Bewegung der Anerkennung auf intra- und transpersonaler Ebene geschildert wird.5 Dabei hat unter anderem Ludwig Siep herausgestellt, dass Hegel vor allem von Johann Gottlieb Fichtes Theorie der Anerkennung inspiriert worden ist (vgl. Siep 22006: 122). Mit Diderot verbindet Hegel allein die Idee interdependenter Herrschaft – eine Denkfigur, die sich schon in Miguel de Cervantes’ Don Quijote und anderen literarischen Texten findet und für die es somit auch andere Quellen gegeben haben kann. Obwohl Bezüge zwischen Diderot und Hegel nicht nachweisbar sind und Hegels dialektisches Herr-Knecht-Modell metaphorisch für verschiedene Formen des (Selbst-)Bewusstseins steht, hat die sozialphilosophische Lesart die literarische und literaturwissenschaftliche Diskussion maßgeblich bestimmt. Aus diesem Grund soll sie im Folgenden skizziert werden.6 Dabei stütze ich mich neben der Phänomenologie des Geistes vor allem auf die wirkungsmächtigen Ausführungen Kojèves, dessen 1947 erschienene Hegel-Vorlesungen die Interpretation des Verhältnisses von Herr und Knecht bis heute entscheidend geprägt haben. Laut Hegel (und Kojève) zeichnet sich der Mensch durch Selbstbewusstsein aus. „Er ist seiner selbst bewußt, seiner menschlichen Wirklichkeit und Würde, und darin unterscheidet er sich wesentlich vom Tier, das über das Niveau des bloßen Selbstgefühls nicht hinauskommt.“ (Kojève 1975: 20)7 Allerdings kann der Mensch sein Selbstbewusstsein nur in Gegenwart von anderen entwickeln, weil er darauf angewiesen ist, dass er als Person mit „selbständige[m] Wert“ (Kojève 1975: 24) anerkannt wird.8 Bevor er in die Interaktion tritt, schreibt er sich selbst einen „selbständigen und absoluten Wert“ (Kojève 1975: 28) zu. Diese Selbsteinschätzung muss von anderen bestätigt werden, um objektive Gültigkeit erlangen zu können. Aus diesem Grund muss der Mensch die „Idee, welche er sich von sich selbst macht, anderen aufzwingen: er muß sich von anderen (im idealen Grenzfall von allen anderen) anerkennen lassen.“ (Kojève 1975: 29) Nur auf diese Weise kann sein subjektives Selbstwertgefühl in eine objektive, von anderen anerkannte Wahrheit verwandelt werden. Vor diesem Hintergrund konstatiert Hegel in der Phänomenologie des Geistes: „Das Selbstbewußtsein ist an und für sich, indem
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Vgl. u. a. Forster 1998, Siep 22006, Stekeler-Weithofer 2008, Zander 2009. Es sei darauf hingewiesen, dass Hegels Modell hier verkürzt vorgestellt wird. Im Fokus stehen die Aspekte, die für die politische und literarische Diskussion bei Marx, Brecht und Braun zentral sind. Alle Kursivierungen der folgenden Kojève-Zitate im Original. Vgl. Zander 2009: 92.
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und dadurch, daß es für ein Anderes an und für sich ist; d. h. es ist nur als ein Anerkanntes.“ (Hegel 1986d: 145)9 Die für jedes Subjekt konstitutive „Begierde nach Anerkennung“ (Kojève 1975: 24) lässt sich als eine Bewegung charakterisieren, in der sich Ego und Alter zueinander in Bezug setzen und versuchen, sich im jeweils anderen geltend zu machen. Für beide ist die volle Anerkennung ihres Gegenübers unabdingbar. Daher suchen sie den jeweils anderen zu verdinglichen und zur Anerkennung ihrer selbst zu nötigen, während sie selbst eigenständig bleiben und sich nicht verdinglichen lassen wollen. Dieses Ringen um Anerkennung nimmt für Hegel (nach Kojève) die Form eines „Kampf[es] auf Leben und Tod“ (Hegel 1986d: 149) an; eines Kampfes „zwischen zwei Wesen, die sich als Menschen ausgeben; eines reinen Prestigekampfes, der um der ‚Anerkennung‘ durch den Gegner geführt wird.“ (Kojève 1975: 29) Wenn Ego und Alter gleichermaßen bereit wären, ihr Leben einzusetzen, um ihr Gegenüber zur Anerkennung ihrer selbst zu zwingen, würde der Kampf mit dem Tod beider Gegner enden. In diesem Fall könnte keiner der beiden ein Selbstbewusstsein entwickeln. Das wäre auch dann nicht möglich, wenn einer getötet werden würde. „Da der Überlebende von dem Toten nicht ‚anerkannt‘ werden kann, ist er außerstande, sich zu verwirklichen und sich in seiner Menschlichkeit zu offenbaren.“ (Kojève 1975: 25) Damit sich zumindest eines der beiden Subjekte als anerkannt und damit als souverän erfahren kann, müssen beide Gegner am Leben bleiben. Das ist aber nur möglich, wenn sie sich im Kampfe verschieden verhalten. […] Der eine muß – ohne hierzu irgendwie ‚prädestiniert‘ zu sein – vor dem anderen Angst haben, ihm gegenüber nachgeben und den Einsatz seines Lebens zum Zwecke der Befriedigung seiner Begierde nach Anerkennung ablehnen. Er muß seine Begierde aufgeben und die des anderen befriedigen: er muß ihn anerkennen, ohne von ihm anerkannt zu werden. Ihn so ‚anerkennen‘ bedeutet aber, ihn als seinen Herrn ‚anerkennen‘ und sich selbst als Knecht anerkennen und vom Herrn als solchen anerkennen zu lassen. (Kojève 1975: 26)
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Das Selbst des Subjekts konstituiert sich für Hegel durch zwei Bewusstseinsformen. Zunächst ist es ‚an sich‘, d. h. das Subjekt ist physisch vorhanden und nimmt seine Umwelt unmittelbar sinnlich wahr. Das Subjekt existiert aber auch ‚für sich‘, d. h. es weiß als reflektierendes Subjekt von sich selbst. Diese doppelte Struktur des Selbstbewusstseins beschreibt Hegel als „Unterscheiden des Unterschiedenen […]. Ich unterscheide mich von mir selbst, und es ist darin unmittelbar für mich, daß dies Unterschiedene nicht unterschieden ist. Ich, das Gleichnamige, stoße mich von mir selbst ab; aber dies Unterschiedene, Ungleich-Gesetzte ist unmittelbar, indem es unterschieden ist, kein Unterschied für mich.“ (Hegel 1986d: 134f.) Indem das Subjekt sich zu sich selbst in Beziehung setzt, betrachtet es sich als Objekt. Dabei hebt es aber den Unterschied zwischen sich selbst als Wissendem (Subjekt) und sich selbst als Gewusstem (Objekt) auf. Im Gegensatz dazu grenzt sich das ‚Ich‘ von ‚ichfremden‘ Personen und Gegenständen ab, weil es sich seine individuelle Identität nur über die Unterschiede und in Abgrenzung zu anderen zuweisen kann.
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Wie das Zitat deutlich macht, geht aus dem ‚Kampf auf Leben und Tod‘ derjenige als Sieger hervor, dem das Bedürfnis, vom anderen anerkannt zu werden, wichtiger ist als seine physische Existenz. Dieser erweist sich somit als ‚wirklich‘ souverän, während der Schwächere aus Angst davor, sein Leben verlieren zu können, darauf verzichtet, seine Interessen durchzusetzen. Der Kampf endet nicht mit dem Tod, sondern mit der Unterwerfung des Gegners, weil sich der Überlegene sonst nicht als anerkannt erfahren kann. Er wird dem Schwächeren „Leben und Bewußtsein lassen und nur seine Selbständigkeit zerstören“, d. h. „ihn knechten“. (Kojève 1975: 32) In der Phänomenologie des Geistes spricht Hegel daher von „zwei entgegengesetzte[n] Gestalten des Bewußtseins; die eine das selbständige, welchem das Fürsichsein, die andere das unselbständige, dem das Leben oder das Sein für ein Anderes das Wesen ist; jenes ist der Herr, dies ist der Knecht“ (Hegel 1986d: 150). Was kennzeichnet nun Herr und Knecht? Der Herr hat im Kampf auf Leben und Tod gezeigt, dass ihm die Erhaltung seiner physischen Existenz nicht alles ist, hat er sie doch für ein ‚höheres‘ Ziel – die Befriedigung seiner Begierde nach Anerkennung – aufs Spiel gesetzt. Damit hat er sich über seine animalischen Bedürfnisse erhoben und kann sich nun als souverän – als „selbständiges Bewußtsein“ (Hegel 1986d: 152) erfahren. So konstatiert Hegel: „Der Herr aber ist die Macht über dies Sein, denn er erwies im Kampfe, daß es ihm nur als ein Negatives gilt; indem er die Macht darüber, dies Sein aber die Macht über den Anderen ist, so hat er in diesem Schluss diesen Anderen unter sich“ (Hegel 1986d: 151). Im Gegensatz dazu ist der Knecht als unselbstständiges bzw. ‚knechtisches Bewusstsein‘ (vgl. Hegel 1986d: 152) zu kategorisieren, weil ihm die Erhaltung seiner physischen Existenz wichtiger gewesen ist als die Begierde, vom anderen anerkannt zu werden. Da er sich nicht über seine unmittelbaren Bedürfnisse hinwegsetzt, gleicht er einem Tier. „Er sieht sich […] selbst als ein solches an und wird auch vom Herren als Tier angesehen.“ (Kojève 1975: 34) Anstatt seine eigenen Wünsche zu realisieren, arbeitet er nun „für den Herrn und für die Befriedigung der Bedürfnisse des Herrn […]. Die Begierde des Herrn ist in und durch den Knecht tätig“ (Kojève 1975: 35f.). Der Knecht wird also zum Medium funktionalisiert. Er dient als verlängerter Arm des Herrn und bearbeitet für ihn die Natur. Auf diese Weise wird der Herr ihr gegenüber „frei“ (Kojève 1975: 35). Indem er „den Arbeiter-Knecht beherrscht, beherrscht er die Natur und lebt in ihr als Herr. In der Natur bestehen, ohne gegen sie zu kämpfen, heißt aber, im Genuß leben.“ (Kojève 1975: 63) Denn der Herr muss selbst nicht mehr arbeiten, um seine Bedürfnisse befriedigen zu können. Wie Hegel (nach Kojève) betont, ist die Herrschaftsbeziehung aufgrund des einseitigen Anerkennungsverhältnisses allerdings ungenügend
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und instabil. Warum? Wie ausgeführt, wünscht sich der Herr, „in seiner menschlichen Wirklichkeit und Würde“ (Kojève 1975: 36) von einem anderen – gleichrangigen – Subjekt anerkannt zu werden. Zur Befriedigung dieses Bedürfnisses hat er sein Leben eingesetzt. Im Kampf hat er aus seinem Gegenüber jedoch einen Knecht gemacht, den er als „Tier, ein Ding“ (Kojève 1975: 36), nicht aber als selbstständiges Bewusstsein wahrnimmt. Die Anerkennung von einem Ding ist für ihn aber wertlos. „Denn er kann nur durch die Anerkennung von seiten desjenigen befriedigt werden, den er als des Anerkennens würdig anerkennt. Die Haltung des Herrn ist also eine existentielle Sackgasse“ (Kojève 1975: 36),10 so Kojève (im Anschluss an Hegel). Das lässt nur einen Schluss zu: Die „Wahrheit des selbständigen Bewußtseins“ muss „das knechtische Bewußtsein“ sein. (Hegel 1986d: 152) Dieses erscheint zwar zunächst außer sich und nicht als die Wahrheit des Selbstbewußtseins. Aber wie die Herrschaft zeigte, daß ihr Wesen das Verkehrte dessen ist, was sie sein will, so wird auch wohl die Knechtschaft vielmehr in ihrer Vollbringung zum Gegenteile dessen werden, was sie unmittelbar ist; sie wird als in sich zurückgedrängtes Bewußtsein in sich gehen und zur wahren Selbständigkeit sich umkehren. (Hegel 1986d: 152)
Im Unterschied zum Herrn, der sein Bedürfnis nach Anerkennung nicht stillen kann, weil er sein Gegenüber nicht in seiner menschlichen Würde anerkennt, ist der Knecht fähig, ein selbstständiges Bewusstsein zu entwickeln und damit zu einem „vollkommenen, freien, endgültig und vollständig durch das, was er ist, befriedigten […] Menschen“ (Kojève 1975: 37f.) zu werden. Dazu muss das einseitige Anerkennungsverhältnis allerdings aufgehoben und durch ein reziprokes ersetzt werden. Das ist aber nur möglich, wenn der Knecht sich emanzipiert, d. h. seine Unselbstständigkeit aufhebt. Wie ist das aber möglich? Laut Hegel (und Kojève) entwickelt der Knecht im ‚Kampf auf Leben und Tod‘ dialektisch ein Bewusstsein seiner selbst – wenn er sich auch nicht als selbstständig erfährt. Das geschieht dadurch, dass ihm durch die erlebte Todesangst der Wert seines Lebens, seiner physischen Existenz, deutlich wird. Als im Kampf Unterworfener arbeitet der Knecht zunächst fremdbestimmt; er macht die Dinge der Natur für den Herrn genussfertig. Während der Herr seine Bedürfnisse befriedigen kann, muss der Knecht darauf verzichten. Indem er gezwungen wird, seine animalischen Begierden zu negieren, geht er aber „über sich hinaus (transzendiert sich); wenn man will, kann man auch sagen, daß er sich bildet, sich kultiviert und sublimiert, indem er seine Instinkte verdrängt. […] In der Arbeit formiert er die Dinge und trans-formiert damit zugleich sich selbst“ (Kojève 1975: 42). Auf diese Weise entwickelt er
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Vgl. auch Hegel 1986d: 152.
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sich von einem Ding hin zu einem Subjekt mit menschlicher Würde. Er wird zum Herrn über die Natur – d. h. zum Herrn der „durch seine Arbeit verwandelten, technischen Welt“ (Kojève 1975: 40) – und damit über sich selbst. Durch die Arbeit gelingt es ihm, ein selbstständiges Bewusstsein auszubilden. So konstatiert Hegel: „Es [das ‚knechtische Bewusstsein‘, N.B.] wird also durch dies Wiederfinden seiner durch sich selbst eigener Sinn, gerade in der Arbeit, worin es nur fremder Sinn zu sein schien.“ (Hegel 1986d: 154) Hegels Ausführungen zur Herrschaft und Knechtschaft enden zwar mit der Emanzipation des Knechts – seiner Entwicklung hin zu einem selbstständigen Bewusstsein –, aber nicht mit der Aufhebung der Herrschaftsbeziehung. Jedenfalls führt Hegel nicht aus, ob und wie sich Form und Qualität der Herr-Knecht-Beziehung ändern. Kojève stellt aber das subversive Potential des Hegel’schen Herr-Knecht-Modells heraus. Da der Knecht zum Herrn über die Natur werde und nicht länger auf einen Herrn angewiesen sei, werde er einen neuen Kampf um Anerkennung wagen. Die Weltgeschichte sei daher als eine „Geschichte der Wechselwirkung (Auseinandersetzung) von Herrschaft und Knechtschaft“ zu begreifen, die „am Ende zu ihrer ‚dialektischen Aufhebung‘ führen“ müsse. (Kojève 1975: 26, 27) Dabei sei die „arbeitsame Knechtschaft im Gegenteil die Quelle allen menschlichen, sozialen und geschichtlichen Fortschritts. Die Geschichte ist die Geschichte des Arbeiter-Knechtes“ (Kojève 1975: 37f.), so Kojève.
2.2 Marx’ sozioökonomische Umdeutung der Hegel’schen Herr-Knecht-Dialektik Wie erläutert, entwirft Hegel in der Phänomenologie des Geistes ein Modell interdependenter Herrschaft, das häufig sozialphilosophisch interpretiert worden ist. Während der Knecht dem Herrn unterworfen ist, weil er den ‚Kampf auf Leben und Tod‘ verloren hat, ist der Herr auf die Arbeit und die Anerkennung des ihm Unterlegenen angewiesen. Der Knecht ist seinem Herrn überlegen, weil nur er fähig ist, ein wahrhaft selbstständiges Bewusstsein zu entwickeln. Im Unterschied zum Herrn, der seine Begierde nach Anerkennung nicht befriedigen kann, weil er nur von einem knechtischen Bewusstsein und nicht von einem gleichrangigen Subjekt anerkannt wird, kann sich der Knecht durch die Arbeit emanzipieren. Indem er die Natur bezwingt, wird er zum Herrn über sie und über sich selbst. Da er – zu einem selbstständigen Bewusstsein gekommen – nicht länger auf einen Herrn angewiesen ist, wird es (nach Kojève) zu einer ‚dialektischen Aufhebung‘ des bestehenden Herrschaftsverhältnisses kommen.
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Wie unter anderem Harald Bluhm betont, werden „Macht und Herrschaft“ bei Hegel „in handlungs-, subjekt- und strukturtheoretischer Hinsicht erörtert“. Diese Perspektivenvielfalt hat sein Modell „für positive und kritische Wiederaufnahmen attraktiv gemacht“, so auch für Karl Marx, der sich vor allem in seinen Ökonomisch-philosophischen Manuskripten (1844) mit Hegels Herr-Knecht-Dialektik kritisch auseinandergesetzt hat. (Bluhm 2004: 66) Wie im Folgenden zu zeigen ist, übernimmt er von ihm einige Ideen – die Vorstellung vom Subjekt als „Resultat seiner eignen Arbeit“ (Marx 2009: 150) und die Denkfigur der ‚dialektischen Aufhebung‘ von Entfremdung – entwickelt aber ein primär sozioökonomisch fundiertes emanzipatorisches Modell von Herrschaft und Knechtschaft. Grund für diese andere Akzentuierung ist unter anderem seine von Hegel abweichende, weniger idealistische als materialistische Vorstellung von der Konstitution des Subjekts. Im Unterschied zu Hegel, für den der Mensch durch seinen ihn auszeichnenden ‚Geist‘ von der Natur und ihren Gesetzen potentiell unabhängig ist, vertritt Marx die Position, dass der Mensch ein „leibliches, Naturkräftiges, lebendiges, wirkliches, sinnliches Gegenständliches Wesen“ (Marx 2009: 155) und somit der Natur und ihren Gesetzen unterworfen ist. Während das Hegel’sche Subjekt sein Wesen allein durch Reflexion bestimmt und seine Souveränität durch die (Um-)Gestaltung der Natur erlangt und zugleich dokumentiert, ist Marx davon überzeugt, dass sich das Subjekt nur durch den geistigen und physisch-sinnlichen Austausch mit der Welt entfalten kann. So konstatiert er in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten: Der Mensch eignet sich sein allseitiges Wesen auf eine allseitige Art an, also als ein totaler Mensch. Jedes seiner menschlichen Verhältnisse zur Welt, Sehn, Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen, Denken, Anschauen, empfinden, wollen, thätig sein, lieben, kurz alle Organe seiner Individualität, wie die Organe, welche unmittelbar in ihrer Form als gemeinschaftliche Organe sind, sind in ihrem gegenständlichen Verhalten oder in ihrem Verhalten zum Gegenstand die Aneignung desselben, die Aneignung der menschlichen Wirklichkeit (Marx 2009: 120).
Davon ausgehend, dass das Subjekt kein „spiritualistisches Wesen“, sondern ein „thätiges Naturwesen“ ist, das nur an „wirklichen sinnlichen Gegenständen sein Leben äussern kann“, hält Marx die schöpferische Arbeit für die freie Entfaltung des Subjekts für notwendig. (Marx 2009: 151, 155) Warum? Nach Marx unterscheidet sich der Mensch vom Tier durch seine Fähigkeit, intentional agieren, d. h. die unorganische Natur planvoll und selbstbestimmt gestalten zu können. Während das Handeln der Tiere von ihren Trieben gelenkt wird, „producirt“ der Mensch „frei vom physischen Bedürfniß“ und „universell“, weil er jeden Gegenstand der Natur adäquat zu bearbeiten weiß. (Marx 2009: 91) Aus diesem Grund ist nur er in der
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Lage, Kunstwerke zu schaffen, die Natur also „nach den Gesetzen der Schönheit“ (Marx 2009: 91) zu formen und zu bilden. Indem der einzelne die unorganische Natur nach seinen Vorstellungen bearbeitet, gestaltet er sein Leben, d. h. ‚er erzeugt sich selbst‘ (vgl. Marx 2009: 150). Damit folgt er seiner Bestimmung als menschlichem „Gattungswesen“ (Marx 2009: 89). In den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten heißt es: „In der Art der Lebensthätigkeit liegt der ganze Charakter einer species, ihr Gattungscharakter, und die freie bewußte Thätigkeit ist der Gattungscharakter d[es] Menschen.“ (Marx 2009: 90) Für Marx besitzt die schöpferische Arbeit aber nicht nur für die Selbstentfaltung des einzelnen einen zentralen Stellenwert. Er nimmt an, dass der Mensch ein „gesellschaftliche[s] Wesen“ (Marx 2009: 119) ist, das sein soziales Umfeld als bedürftig anerkennt und somit auch und vor allem für dessen Bedürfnisbefriedigung produziert. Erst wenn er im Sinne des Allgemeinwohls schöpferisch tätig ist, kann er sein Gattungswesen realisieren. Vor diesem Hintergrund fungiert die Arbeit für ihn als Band mit dem Menschen, als Dasein seiner für d[en] andern und des andern für ihn, erst hier ist sie da als Grundlage seines eignen menschlichen Daseins, wie als Lebenselement der menschlichen Wirklichkeit. Erst hier ist ihm sein natürliches Dasein sein menschliches Dasein und die Natur für ihn zum Menschen geworden. Also die Gesellschaft ist die vollendete Wesenseinheit des Menschen mit der Natur, | der durchgeführte Naturalismus d[es] Menschen und der durchgeführte Humanismus der Natur. (Marx 2009: 118)
Wie aus den bisherigen Ausführungen deutlich geworden sein dürfte, besitzt Marx ein essentialistisches Subjektverständnis. Er nimmt an, dass sich der Mensch durch spezifische Eigenschaften auszeichnet – insbesondere durch seine Fähigkeit, die unorganische Natur für sich und andere gestalten zu können und zu wollen. Kann er „mindestens eine“ seiner „wesentlichen Eigenschaften, aufgrund aktualer Gegebenheiten nicht realisieren“, ist er seinem „Wesen in dem Sinne entfremdet“, dass ihm „die Entfaltung eines Potentials versagt wird“. (Quante 2009: 269) In seinen Schriften setzt sich Marx vor allem mit der von ihm diagnostizierten Entfremdung der Arbeitenden durch die Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung des Kapitalismus auseinander, für ihn eine Form der ‚Knechtschaft‘ (vgl. Marx 2009: 84), wie im Folgenden zu zeigen ist. Dazu sei noch einmal auf Marx’ Handlungs- bzw. Arbeitsmodell eingegangen. In den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten erklärt er: Der Gegenstand, den die Arbeit producirt, ihr Product, tritt ihr als ein fremdes Wesen, als eine, von d[em] Producenten unabhängige Macht gegenüber. Das Product der Arbeit ist die Arbeit, die sich in einem Gegenstand fixirt, sachlich gemacht hat, es ist die Vergegenständlichung der Arbeit. Die Verwirklichung der Arbeit ist ihre Vergegenständlichung. (Marx 2009: 84)
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Das Zitat zeigt, dass Marx zwischen der „Arbeit im Resultatsinn (Produkt) und im Prozeßsinn (arbeiten)“ (Quante 2009: 239) unterscheidet. Das Subjekt bringt während eines Arbeitsprozesses einen Gegenstand hervor. Das Resultat ist ein von ihm unabhängiges, fremdes Produkt, in dem sich seine Handlungen fixiert haben. Davon ausgehend, dass sich jede Tätigkeit in einem Gegenstand vergegenständlicht, gibt es bei Marx ein Primat der Tätigkeit oder der Praxis (des Hervorbringens) vor den Produkten (oder den Sachverhalten). Man könnte auch sagen, daß Marx den Satz unterschrieben hätte: Nichts ist in den Handlungsprodukten, was nicht zuvor im Handlungsprozeß gewesen wäre. (Quante 2009: 246)
Vor diesem Hintergrund differenziert Marx vier Formen der Entfremdung im Kapitalismus. Erstens führt er die Entfremdung des Arbeiters vom Produkt seiner Arbeit an, weil zwischen ihn und die von ihm hergestellten Dinge das Rechtsinstitut des Privateigentums tritt. Im Kapitalismus gehören die vom Arbeiter geschaffenen Gegenstände den Besitzenden. Er kann sie durch den „Lohn, den er für den Verkauf seiner Arbeitskraft erhält, erwerben. Hat er kein Geld, bleiben die Produkte seiner Arbeit als Eigentum des Kapitalisten für ihn in unerreichbarer Ferne“ (Quante 2009: 249). Auf diese Weise wird der Arbeiter zum Knecht seines Gegenstandes, erstens daß er einen Gegenstand der Arbeit, d. h. daß er Arbeit erhält und zweitens, daß er Subsistenzmittel erhält. […] Die Spitze dieser Knechtschaft ist, daß er nur mehr als Arbeiter sich als physisches Subjekt erhalten [kann] und nur mehr als physisches Subjekt Arbeiter ist. (Marx 2009: 86)
Da sich die Produktionsmittel in privatem Besitz befinden, kann der Arbeiter seine existentiellen Bedürfnisse nur dann befriedigen, wenn es ihm gelingt, seine Arbeitskraft zu verkaufen und dafür einen adäquaten Lohn zu erhalten, mit dem er die von ihm hergestellten Produkte kaufen kann. Sie erscheinen ihm daher als ‚fremde und über ihn mächtige‘ Gegenstände. „Dieß Verhältniß ist zugleich das Verhältniß zur sinnlichen Aussenwelt, zu den Naturgegenständen als einer fremden ihm feindlich gegenüberstehenden Welt“ (Marx 2009: 88), so Marx. Zweitens entfremdet sich der Arbeiter vom Arbeitsprozess, da er nicht selbstbestimmt und frei schöpferisch tätig ist. Denn er gestaltet die unorganische Natur nicht nach seinen Vorstellungen, sondern er arbeitet ähnlich wie die Tiere allein zur Erhaltung seiner physischen Existenz. Dabei wird ihm die „Zielsetzung seiner Tätigkeit […] durch den Produktionsprozeß vorgegeben“ (Quante 2009: 251). Da ihm die Arbeit auf diese Weise „äusserlich“ bleibt – sie „nicht zu seinem Wesen gehört“ –, fühlt er sich „unglücklich“ und „erst ausser der Arbeit bei sich“. (Marx 2009: 87) Zu Hause ist er, wenn er nicht arbeitet und wenn er arbeitet, ist er nicht zu Haus. Seine Arbeit ist daher nicht freiwillig, sondern gezwungen, Zwangsarbeit. Sie ist daher nicht die Befriedigung eines Bedürfnisses, sondern sie ist nur ein Mittel, um
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Bedürfnisse ausser ihr zu befriedigen. […] Die äusserliche Arbeit, die Arbeit, in welcher der Mensch sich entäussert, ist eine Arbeit der Selbstaufopferung, der Kasteiung. Endlich erscheint die Aüsserlichkeit [sic] der Arbeit für den Arbeiter darin, daß sie ihm nicht gehört, daß er in ihr nicht selbst, sondern einem andern angehört. (Marx 2009: 87f.)
Genauso wie das von ihm hergestellte Produkt muss der Arbeitende auch den Produktionsprozess als ihm ‚fremd, ihm nicht angehörig‘ (vgl. Marx 2009: 88) erleben. Als notwendige Konsequenz der genannten Aspekte nennt Marx drittens die Entfremdung des Menschen von seinem Gattungswesen. Wie erläutert, ist die menschliche Gattung für ihn zur produktiven, schöpferischen Arbeit bestimmt. Indem das Subjekt im Kapitalismus von dem Produktionsprozess und dem Resultat seiner Arbeit, den Produkten, entfremdet ist, muss es notwendig auch von seiner Gattungsnatur entfremdet sein. Anstatt die Arbeit nämlich als seinen Gattungscharakter zu begreifen und als gesellschaftliches Wesen im Sinne des Allgemeinwohls zu handeln, dient sie ihm – ähnlich wie den Tieren – nurmehr als Mittel zur individuellen Existenzsicherung. So heißt es bei Marx: Indem die entfremdete Arbeit dem Menschen 1) die Natur entfremdet, 2) sich selbst, seine eigne thätige Funktion, seine Lebensthätigkeit, so entfremdet sie dem Menschen die Gattung; sie macht ihm das Gattungsleben zum Mittel des individuellen Lebens. Erstens entfremdet sie das Gattungsleben und das individuelle Leben und zweitens macht sie das leztere [sic] in seiner Abstraktion zum Zweck des ersten, ebenfalls in seiner abstrakten und entfremdeten Form. (Marx 2009: 90)
Im Kapitalismus kann sich das „Gattungswesen des Menschen“ (Marx 2009: 92) nicht entfalten. Konsequenz davon ist viertens und letztens die Entfremdung zwischen den einzelnen Individuen. Wie illustriert, sucht das Subjekt im nichtentfremdeten Zustand seine eigenen und die Bedürfnisse der anderen zu befriedigen. Auf diese Weise realisiert es seinen Gattungscharakter. „Im kapitalistischen Marktzusammenhang wird dieser altruistische Anerkennungszusammenhang dagegen aufgebrochen und in eine ZweckMittel-Relation verkehrt.“ (Quante 2009: 255) Anstatt das Gegenüber als bedürftig anzuerkennen, betrachtet der Mensch im Kapitalismus „d[en] andern nach dem Maaßstab und dem Verhältniß in welchem er selbst, als Arbeiter sich befindet“ (Marx 2009: 92). An die Stelle humaner zwischenmenschlicher Beziehungen treten zweckrationale oder ökonomische Abhängigkeitsbeziehungen. Die aus der Entfremdung des Menschen von seiner Gattungsnatur resultierende Inhumanität kommt für Marx zum einen in der Unterdrückung der Frau durch den Mann zum Ausdruck. Zum anderen zeigt sie sich in der Ausbeutung des Lohnarbeiters durch den Kapitalisten.
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Wie Marx betont, führt die kapitalistische Produktionsweise zu einer ‚Klassengesellschaft‘. Der ‚herrschenden Klasse‘ – der die Produktionsmittel gehören und die die bestehenden Werte und Normen prägt – steht das Proletariat gegenüber, das gezwungen ist, seine Arbeitskraft zu verkaufen, damit es von dem Lohn seine Lebensbedürfnisse befriedigen kann. Dabei ist das Salär so bemessen, dass es seine physische Existenz erhalten, sich selbst aber keine Produktionsmittel kaufen kann. Auf diese Weise bleibt es von der Lohnarbeit abhängig. Obwohl im Kapitalismus de jure alle Bürger frei und rechtsgleich sind, leben die Arbeitnehmer de facto in der ‚Sklaverei‘, so Marx. Denn der Arbeiter ist „gegenüber demjenigen, der ihn verwendet, nicht in der Lage eines freien Verkäufers“ (Marx 2009: 67). Er wird zur „Waare […] und es ist ein Glück für ihn, wenn er sich an den Mann bringen kann. Und die Nachfrage, von der das Leben des Arbeiters abhängt, hängt von der Laune d[es] Reichen und Capitalisten ab“ (Marx 2009: 13). Dieser ist einem absolutistischen Willkürherrscher vergleichbar, weil er das Recht hat, „die Materie jeder Arbeit zu gebrauchen und zu mißbrauchen, d. h. mit ihr zu machen“, was er will. So ist er weder gezwungen, „Nichtbesitzenden Arbeit zu liefern, noch ihnen einen immer ausreichenden Lohn zu zahlen“. (Marx 2009: 57) Da er möglichst viel Kapital akkumulieren will, beutet er den Arbeiter aus, indem er ihm nur einen geringen Teil des von ihm im Produktionsprozess geschaffenen Werts als Lohn auszahlt. Den Mehrwert eignet er sich privat an. Ähnlich wie Hegel hebt auch Marx hervor, dass der Arbeiter (der Knecht) primär für die Bedürfnisbefriedigung des Kapitalisten (des Herrn) produziert. Um dieses Unrecht zu legitimieren, erhebt er die Askese zum Ideal. Er erkennt nur den „nothwendigsten und jämmerlichsten Unterhalt des physischen Lebens“ und die „abstrakteste, mechanische Bewegung“, nicht aber den Genuss und die selbstbestimmte, freie schöpferische Arbeit als menschliche Grundbedürfnisse an. (Marx 2009: 137) Auf diese Weise macht er den Arbeiter zu einem unsinnlichen und bedürfnißlosen Wesen, wie er seine Thätigkeit zu einer reinen Abstraktion von aller Thätigkeit macht; jeder Luxus des Arbeiters erscheint ihm daher als verwerflich und alles, was über das allerabstrakteste Bedürfniß hinausgeht – sei es als passiver Genuß oder Thätigkeitsäusserung – erscheint ihm als Luxus. (Marx 2009: 137)
Im Gegensatz zum Arbeiter kann der Besitzende die im Produktionsprozess entstandenen Güter genießen, aber sein Genuß ist nur Nebensache, […] ökonomischer Genuß, denn er schlägt seinen Genuß zu den | Kosten des Capitals, und sein Genuß darf ihm daher nur so viel kosten, daß das an ihm Verschwendete durch die Reproduction des Capitals mit Gewinn wieder ersezt [sic] wird. Der Genuß ist also unter das Capital, das geniessende Individuum unter das Capitalisierende subsumirt. (Marx 2009: 149)
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Vor diesem Hintergrund erklärt Marx polemisch, dass das Ideal der Kapitalisten der „ascetische aber wuchernde Geizhals und der ascetische aber producirende Sklave“ (Marx 2009: 138) sei. Wie deutlich wird, hält er das kapitalistische System für inhuman, weil es den Arbeiter von seinen Produkten, dem Produktionsprozess, seinem Gattungswesen und von anderen Individuen entfremdet. Aber auch die Kapitalisten sind in seinen Augen nicht ‚wahrhaft‘ souverän. Da sie im Besitz der Produktionsmittel sind, können sie zwar das Proletariat knechten; sie selbst sind aber Knechte des Kapitals (vgl. Marx 2009: 12). Denn sie müssen sich den marktwirtschaftlichen Gesetzen unterwerfen, um ihren Privatbesitz nicht zu verlieren und selbst zum Arbeiter zu werden. So konstatiert Marx in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten: Der Herr, der die Arbeit des Arbeiters zu einem so niedrigen Preis kauft, daß dieser kaum für die dringendsten Bedürfnisse ausreicht, ist weder für die Unzulänglichkeit der Löhne noch für die allzu lange Arbeitsdauer verantwortlich: er unterliegt selbst dem Gesetz, das er auferlegt…das Elend kommt nicht so sehr von den Menschen wie von der Macht der Dinge. (Marx 2009: 63)
Nach Marx regieren im Kapitalismus nicht die Besitzenden, sondern die „ökonomischen Gesetze […] blind die Welt“ (Marx 2009: 61). Damit haben Arbeiter und Kapitalisten zu kämpfen; beide leiden auf unterschiedliche Weise – „der Arbeiter an seiner Existenz, der Capitalist am Gewinn seines todten Mammons“ (Marx 2009: 17). Weder der eine noch der andere besitzt Entscheidungsfreiheit: Beide müssen sich der Macht des Geldes fügen, um ihre physische Existenz erhalten zu können. Das kapitalistische System hält Marx allerdings für instabil. Von einer teleologischen Geschichtsauffassung ausgehend, ist er davon überzeugt, dass sich der Mensch – weniger durch sein Wissen als durch historische Taten – emanzipieren und zu sich selbst finden wird. Dafür wird er das Privateigentum und die daraus resultierenden sozialen Klassen abschaffen und in einer nach kommunistischen Prinzipien organisierten Gemeinschaft leben. In den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten erklärt Marx: Der Communismus als positive Aufhebung des Privateigenthums, als menschlicher Selbstentfremdung und darum als wirkliche Aneignung des menschlichen Wesens durch und für d[en] Menschen; darum als vollständige, bewußt und innerhalb des ganzen Reichthums der bisherigen Entwicklung gewordne Rückkehr des Menschen für sich als eines gesellschaftlichen, d. h. menschlichen Menschen. Dieser Communismus ist […] die wahrhafte Auflösung des Widerstreits des Menschen mit der Natur und mit d[em] Menschen, […] zwischen Individuum und Gattung. Er ist das aufgelöste Räthsel der Geschichte und weiß sich als diese Lösung. (Marx 2009: 116)
Die Idee einer ‚dialektischen Aufhebung‘ der Selbstentfremdung übernimmt Marx von Hegel. Während der Hegel’sche Knecht aber durch die Arbeit ein eigenständiges Bewusstsein ausbilden kann, indem er zum Herrn über die anorganische Natur und damit über sich selbst wird, hält
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Marx eine solche Emanzipation für ausgeschlossen. Er geht vielmehr davon aus, dass sich die ausgebeutete und verelendete Arbeiterklasse gegen die herrschende Klasse erheben und die Aufhebung des Privateigentums durchsetzen wird. Wie kann es aber zu der von ihm prognostizierten sozialen Revolution durch das Proletariat kommen? Nach Marx wird die kapitalistische Produktionsweise in die Krise geraten, weil die ökonomischen Gewinne der Besitzenden sinken und die Arbeiter verarmen werden. Um diese These zu stützen, entwickelt er im dritten Band des Kapitals (1894) das Theorem des ‚tendenziellen Falls der Profitrate‘; in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten erklärt er die zunehmende Verelendung der Arbeiter noch primär mit der zunehmenden Konkurrenz der Kapitalisten untereinander, die sich stets unterbieten müssen, um auf dem Markt bestehen zu können. Um die durch die sinkenden Einnahmen entstehenden Verluste auszugleichen, muss der Kapitalist die Produktionskosten reduzieren, etwa durch Lohnsenkungen, die Verlängerung der Arbeitszeiten oder den Einsatz von Maschinen. Da das Proletariat gezwungen ist, seine Arbeitskraft zu verkaufen, um seine physische Existenz zu erhalten, wird es im Zweifel jedes Arbeitsangebot annehmen müssen. Als „nothwendige Folge“ dieser Entwicklung nennt Marx „Ueberarbeitung und frühe[n] Tod, Herabsinken zur Maschine, Knecht des Capitals, das sich ihm gefährlich gegenüber aufhäuft, neue Concurrenz, Hungertod oder Bettelei eines Theils der Arbeiter“. (Marx 2009: 23) Die fallende Profitrate hat aber nicht nur Konsequenzen für das Proletariat, sondern auch für die Besitzenden. Ihr Konkurrenzkampf führt zu einer Zentralisation des Kapitals, indem große Unternehmen kleinere aufkaufen oder sich zusammenschließen. Indem „die grossen Capitalisten die kleinen“ ruinieren, sinkt „ein Theil der ehemaligen Capitalisten […] zu der Klasse der Arbeiter herab, welche durch diese Zufuhr theils wieder eine Herabdrückung des Arbeitslohns erleidet und in eine noch grössere Abhängigkeit von den wenigen grossen Capitalisten geräth“. (Marx 2009: 22) Mit der Verelendung der Massen wächst aber zugleich die Empörung, bis die „Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit“ einen Punkt erreichen, „wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt. Die Expropriateurs werden expropriiert“. (Ternes 2008: 136) Marx geht also davon aus, dass der Kapitalismus durch eine „wirkliche communistische Aktion“ (Marx 2009: 146) überwunden werden wird. Unterbestimmt bleibt in diesem Zusammenhang allerdings, wie die entfremdeten Arbeiter erkennen sollen, dass sie im Kommunismus zu sich selbst finden können. Wie ausgeführt, vergegenständlicht sich der Mensch in der von ihm gestalteten Natur, die wiederum seine Selbstinterpretation be-
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stimmt. „[W]ie die Gesellschaft selbst den Menschen als Menschen producirt, so ist sie durch ihn producirt“ (Marx 2009: 118), so heißt es in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten. Im Umkehrschluss muss die Entfremdung „auf der Ebene der sozialen und materiellen Realisation“ mit einer „inadäquate[n] Selbstinterpretation“ korrelieren. (Quante 2009: 269) Beide Dimensionen der Entfremdung bedingen sich dann gegenseitig: Falsche Selbstinterpretationen können zu falschen sozialen Verhältnissen führen (oder diese zumindest stabilisieren), falsche gesellschaftliche Zustände können fehlerhafte Selbstinterpretationen hervorrufen. (Quante 2009: 269f.)
Nimmt man mit Marx an, dass die Subjekte aufgrund der kapitalistischen Produktionsweise von sich selbst entfremdet sind und somit zu einer Zementierung der bestehenden sozialen Missstände beitragen, was wiederum zu einer falschen Selbstinterpretation führt, so bleibt unklar, wie diese Kreisbewegung unterbrochen werden und das Subjekt zu sich selbst finden kann. An die Stelle logischer Argumentation tritt bei Marx – zumindest in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten – ein emphatisches Plädoyer für die „Aufhebung des Privatheigentums als Aneignung des menschlichen Lebens“ (Marx 2009: 117). Zusammenfassend sei festgehalten, dass sich Marx mit Hegels HerrKnecht-Modell aus sozioökonomischer Perspektive auseinandersetzt. In den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten wirft er dem Philosophen vor, „alle Entfremdungsphänomene auf eine idealistische Denkfigur“ (Quante 2009: 320) zu reduzieren. Da der Mensch ein physisch-sinnliches Wesen sei, müssten aber auch und vor allem die aus der kapitalistischen Produktionsweise resultierenden Formen der Entfremdung des Subjekts – d. h. seine Entfremdung von den Produkten, dem Produktionsprozess, seinem Gattungswesen und von anderen Individuen – in den Blick genommen werden. Von Hegel übernimmt Marx aber die Vorstellung, dass die (Selbst-)Entfremdung des Subjekts dialektisch aufgehoben werden kann; außerdem hebt er lobend hervor, dass Hegel zuerst die Bedeutung der Arbeit für das Selbstbewusstsein bzw. die Selbstinterpretation des Subjekts reflektiert habe: Das Grosse an der Hegelschen Phänomenologie und ihrem Endresultate – der Dialektik, der Negativität als dem bewegenden und erzeugenden Prinzip – ist also, einmal daß Hegel die Selbsterzeugung d[es] Menschen als einen Proceß faßt, die Vergegenständlichung als Entgegenständlichung, als Entäusserung, und als Aufhebung dieser Entäusserung, daß er also das Wesen der Arbeit faßt und den gegenständlichen Menschen, wahren, weil wirklichen Menschen, als Resultat der eignen Arbeit begreift. (Marx 2009: 150)
Kritisch hält er dem Philosophen allerdings vor, nur „die positive Seite der Arbeit“ (Marx 2009: 151) – nämlich ihre Bedeutung für die Möglichkeit einer freien Entfaltung des Subjekts – beleuchtet zu haben. Im Gegensatz
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dazu konzentriert sich Marx auf die negative Seite der Arbeit – auf die aus der kapitalistischen Produktionsweise resultierende Entfremdung des Menschen. Solange es das Rechtsinstitut des Privateigentums gibt, wird der Mensch nach Marx nicht zu sich selbst finden können und in einer inhumanen Klassengesellschaft leben. Im Kapitalismus werden die Arbeiter geknechtet und – ähnlich wie der Knecht bei Hegel bzw. Kojève – zum Medium funktionalisiert. Sie bearbeiten die unorganische Natur und machen sie für die herrschende Klasse genussfertig. Da sie selbst nur gering entlohnt werden, können sie nur wenige der von ihnen geschaffenen Produkte selbst konsumieren. Auch wenn die Kapitalisten – absolutistischen Willkürherrschern vergleichbar – die Macht haben, über das Wohl und Wehe ihrer Angestellten zu entscheiden, sind sie nicht wirklich autonom. Im Unterschied zu Hegels Herrn, der darunter leidet, nicht von einem gleichrangigen Subjekt anerkannt zu werden, sind Marx’ Besitzende unsouverän, weil sie sich dem kapitalistischen System unterwerfen müssen, um nicht selbst zum Lohnarbeiter zu werden. Beide Philosophen sind schließlich davon überzeugt, dass jede Veränderung nur vom Knecht ausgehen kann. Während es ihm bei Hegel durch die Arbeit gelingt, sein unselbstständiges Bewusstsein zu negieren und zu sich selbst zu finden, kann er seine (Selbst-)Entfremdung bei Marx durch die Aufhebung des Privateigentums überwinden.
2.3 Brechts dialektische Negation des Kapitalismus in Herr Puntila und sein Knecht Matti (1940/41) Wie man weiß, hat Bertolt Brecht Hegels Schriften (wenn auch nur in Auszügen) spätestens in den dreißiger Jahren rezipiert. 1 Darüber hinaus sind ihm dessen philosophische Positionen durch andere Autoren vermittelt worden, „die in je eigener Weise immer wieder auf Hegel verwiesen haben“ (Wagner 2004: 33), so durch Marx, Karl Korsch, Walter Benjamin oder Ernst Bloch. Wie stark Brechts Hegel-Interpretation von Marx ge-
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„Seine [Brechts, N.B.] Glockner-Ausgabe der Hegel’schen Schriften von 1929ff. bezeugt die Lektüre der Wissenschaft der Logik (Bd. 4), der Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (Bd. 11), der Vorlesungen über die Ästhetik (Bd. 12) und der Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie (Bd. 17) durch aufgeschnittene Seiten, Randnotizen und Unterstreichungen.“ (Wagner 2004: 33) Hans Mayer hat darüber hinaus betont, dass Brecht (zumindest) Hegels Vorrede in der Phänomenologie des Geistes gekannt hat (vgl. Mayer 1996: 98). Während Frank Dietrich Wagner die Position vertritt, dass Brecht Hegels Schriften Ende der dreißiger Jahre rezipiert hat (vgl. Wagner 2004: 33), meint Dieter Kraft, dass wir „irgendwann zwischen 1923 und 1926 […] den Hegel bei Brecht als Arbeitslektüre ansetzen“ (Kraft 2010: 194) dürfen.
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prägt ist, kommt in seinen Arbeitsnotizen aus den Jahren 1932/33 zum Ausdruck. Hier heißt es: Marx, der die Hegelsche Technik übernimmt, jene geistreiche Methode, die zu so falschen Resultaten geführt hat. Während die andern, trostloses Schicksal, die Gedanken übernahmen und fortan vergeblich sich selbst zu begreifen suchten, schon deshalb vergeblich, weil sie nichts taten. (Brecht 1992: 566)
Das Zitat verdeutlicht, dass Brecht Hegel für seine dialektische Logik schätzt. Ähnlich wie Marx wirft er dem Philosophen allerdings vor, zu ‚abstrakt‘ zu denken und nur auf eine „Vermehrung des Wissens“, nicht aber auf ein „verwertbares Wissen, d. h. eingreifendes Wissen“ zu zielen. (Brecht 1992: 526)2 Im Gegensatz zu Hegel muss die „Anwendung wirklicher Dialektik“ für ihn „unmittelbar zu direkt revolutionären Aktionen und Organisationen“ und damit zu einer Aufhebung der Klassengesellschaft führen. (Brecht 1992: 526)3 Genauso wie die Schriften von Hegel und Marx hat Brecht auch Diderots Roman Jacques der Fatalist und sein Herr gekannt. So notiert er am 1. Oktober 1940: Ich las in Diderots ‚Jakob der Fatalist‘, als mir eine neue Möglichkeit aufging, den alten Ziffel-Plan zu verwirklichen. Die Art, Zwiegespräche einzuflechten, hatte mir schon bei Kivi gefallen.4 Dazu habe ich vom ‚Puntila‘ noch den Ton im Ohr. 5 Ich schrieb probeweise zwei kleine Kapitel und nannte das Ganze ‚Flüchtlingsgespräche‘. (Brecht 1994: 430)
Wie das Zitat belegt, hat Brecht zeitgleich an seinem Volksstück Herr Puntila und sein Knecht Matti sowie an seinen Flüchtlingsgesprächen gearbeitet. Beide Texte sind unmittelbar nach seiner Diderot-Lektüre und in Kenntnis der Herr-Knecht-Modelle von Hegel und Marx entstanden.6 Bei den Flüchtlingsgesprächen handelt es sich um Dialoge zwischen zwei deutschen Exilanten in einem Bahnhofsrestaurant in Helsinki. Der eine, Ziffel, ist ein intellektueller Akademiker aus ‚guter Familie‘ – ein „Herr“, der „als solcher“ vor seiner Emigration „mehrmals im [sic] Tag warm essen, dazwi-
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Vgl. Marx 2009: 142–144. Zu Brechts ‚eingreifendem Denken‘ vgl. u. a. Gilcher-Holtey 2006, Müller 2009: 118f. Brecht rekurriert hier auf den finnischen Schriftsteller Aleksis Kivi (1834–1872) und seinen Roman Die sieben Brüder (1870), vgl. dazu auch Neureuter 2001: 444. Wie Hans Peter Neureuter nachweist, hat Brecht „systematische Vorstudien zum Sprechton der Figuren“ (Neureuter 1987: 52) gemacht. Dabei lässt sich der ‚Puntila-Ton‘ als „böse[r] Anschnauzgestus des Arbeitgebers“ und als „‚Ton der Herren‘ beim Herabblicken auf das Volk“ beschreiben. (Neureuter 2001: 449) Im Gegensatz dazu soll der ‚Matti-Ton‘ an die Figur des ‚braven Soldaten Schwejk‘ aus dem gleichnamigen Roman von Jaroslav Hašek erinnern. So werden in den Flüchtlingsgesprächen dann auch Hegels Dialektik und Marx’ Revolutionstheorie erläutert (vgl. Brecht 1995: 262–265, 279–281).
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schen rauchen, am Abend in ein Theater gehen und so viele Bäder nehmen“ konnte, wie er „Lust“ hatte. (Brecht 1995: 227) Im Gegensatz dazu ist der andere, der ‚klassenbewusste‘ Kalle, ein ‚einfacher‘ Metallarbeiter, der seine Bildung der Volkshochschule und dem Freidenker-Verband verdankt. Nachdem er zwischenzeitlich im Konzentrationslager Dachau inhaftiert gewesen ist, ist es ihm gelungen, aus Deutschland auszureisen. Beide Figuren verbindet die Ablehnung des nationalsozialistischen Regimes miteinander. Mit „Ironie gegenüber der ‚großen Zeit‘, deren Opfer sie sind“ (Neureuter 2001: 338), sprechen sie über Politik, Moral und Philosophie. Da Ziffel und Kalle als Repräsentanten der ‚herrschenden Klasse‘ und des Proletariats fungieren, ist oft die Position vertreten worden, dass Brecht das „Herr-Knecht-Motiv“ (Treskow 1996: 251) von Diderot übernommen habe. Im Gegensatz dazu sei hier mit Michael Duchardt und Hans Peter Neureuter betont, dass sich Ziffel und Kalle nicht als Herr und Knecht gegenüberstehen.7 Zwischen ihnen besteht kein interdependentes Abhängigkeitsverhältnis, zumal Ziffel durch seine Emigration seiner „privilegierten materiellen und gesellschaftlichen Stellung beraubt“ worden ist – „eine Tatsache, die ihn sozialökonomisch an die Seite des Proletariers ‚herabsinken‘ läßt“. (Bräuer 1991: 112) Da die Figuren ihre Ablehnung des Nationalsozialismus eint, gibt es zwischen den beiden auch kaum eine Kontroverse, obwohl ihre „verschiedene Sozialisation wiederholt zu Irritationen führt“ (Neureuter 2001: 339), was sie dazu veranlasst, einen Aspekt aus mehreren Perspektiven zu beleuchten. Freundschaftlich nähern sie sich einander an, übernehmen mitunter sogar die Argumentation des jeweils anderen. Mit Diderots Roman vergleichbar ist die Figurenkonstellation nur insofern, als Kalle seinem Gesprächspartner – trotz seines niedrigeren sozialen Status – überlegen ist, weil er das „entwickeltere Bewusstsein seiner politischen und sozioökonomischen Lage“ besitzt und daher „die aktuelle Weltlage und die Probleme des Exils angemessener und genauer zu analysieren und praktisch umzusetzen“ vermag. (Stammen 2006: 27)8 Er leitet – zunächst behutsam durch eher lakonische Fragen, dann immer entschlossener und mit didaktischem Geschick – die Bewusstseinsbildung des Intellektuellen Ziffel bis zu dem Punkte, wo dieser endlich seine gesellschaftliche und politische Position an der Seite des Proletariats – gegen Faschismus und Nationalismus und für den Sozialismus – erkennt und annimmt. (Stammen 2006: 27)
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Vgl. Duchardt 2006, Neureuter 2001: 339. Ähnlich argumentiert Neureuter 2001: 338.
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Am Ende verbünden sich beide gegen den Faschismus. Das gipfelt in Kalles Angebot, Ziffel in seiner neu zu gründenden „Wanzenvertilgungsanstalt“ (Brecht 1995: 304) zu beschäftigen. Das tierische „UNGEZIEFER“ (Brecht 1995: 274) dient hier als Metapher für die zu bekämpfenden menschlichen ‚Schädlinge‘ – Kapitalisten und Faschisten – und zugleich als ironischer Verweis auf den nationalsozialistischen Kampfbegriff des ‚Volksschädlings‘. Die Gespräche enden damit, dass Kalle und Ziffel im Restaurant heimlich auf den Sozialismus anstoßen.9 Im Gegensatz zu den Flüchtlingsgesprächen ist das interdependente Abhängigkeitsverhältnis zwischen Herr und Knecht strukturbestimmendes Thema im Volksstück Herr Puntila und sein Knecht Matti. Dabei werden die beiden Titelfiguren wie in Diderots Roman als Koalitionspartner vorgeführt – eine Figuration, die in beiden Texten mit der dialektischen Negation der jeweiligen Staatsform bzw. der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung verknüpft ist.10 Das soll im Folgenden – vor dem Hintergrund von Brechts Diderot-, Hegel-, und Marx-Lektüre erläutert werden. In seinem Aufsatz Herrschaft und Knechtschaft. Hegels Deutung, ihre literarischen Ursprünge und Folgen (1971) konstatiert Hans Mayer:
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Auch im Hinblick auf die dramaturgische Konzeption der Flüchtlingsgespräche sind Bezüge zu Diderots Roman festgestellt worden. So vertritt Neureuter die These, dass Brecht „die alles strukturierende Gesprächssituation“ – die Präsentation des Erzählten im dramatischen Modus – von Diderot übernommen habe. Außerdem nutze er die von ihm „kühn begonnene frühmoderne Entfabelung des Romans“. Darüber hinaus sei der Anfang der Gespräche, wo sich die beiden Männer in einem Bahnhofsrestaurant treffen, ohne dass begründet werde, warum sie „sich gerade hier treffen, woher sie kamen und wer sie überhaupt sind“, bewusst dem Anfang von Diderots Roman nachgebildet. (Neureuter 2001: 336) Im Unterschied dazu stellt Klaus-Detlef Müller Parallelen in Bezug auf die Funktion der jeweiligen Handlungsorte fest: „Brechts zunächst anonyme Protagonisten treffen sich zufällig im Bahnhofsrestaurant von Helsingfors. Das ist ein signifikanter Nicht-Ort, der einerseits darauf verweist, dass sie auf einer ‚Reise‘ sind, der aber andererseits das Reisen am spezifischen Exilort suspendiert. Sie kommen nicht an und sie fahren nicht ab, und sie sind doch nicht an ihrem Ort. Ihre Existenz ist bestimmt von der von Brecht so genannten ‚Inzwischenzeit‘ […], vom Aufschub sinnvoller Tätigkeit. Wie bei Diderot ist also der Schauplatz nur Raum der Gespräche und nur insoweit von Interesse. Als ein ‚Inzwischen-Ort‘ ist er aber bedeutungsvoll.“ (Müller 2006: 244) Es sei darauf hingewiesen, dass die philosophischen Schriften von Hegel und Marx sowie Diderots Roman nicht die einzigen literarischen Anregungen für Brechts Volksstück gewesen sind. Zur Entstehung des Puntila und zur Zusammenarbeit von Brecht und Hella Wuolijoki, die mit ihrer Erzählung Der finnische Bacchus (1926) sowie ihrem Lustspiel und Filmtreatment Die Sägemehlprinzessin (beides aus den dreißiger Jahren) den Stoff dafür geliefert hat, vgl. u. a. Ammondt 1985, Deschner 1978, Neureuter 2001: 440–444, Neureuter 1987: 10–113, Semrau 1971: 25–77 und Valle 1979. Wuolijokis Erzählung ist in deutscher Übersetzung im Brecht-Jahrbuch von 1978 erschienen, vgl. Wuolijoki 1978.
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Durch den Rückgriff auf die veraltete Antithese vom Herrn und seinem Knecht soll die Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Veränderung demonstriert werden. Darum beginnt der Knecht Matti in diesem Volksstück noch als integrierender Bestandteil der feudalen Umwelt seines Herrn und Grundbesitzers. Im Schluß aber kündigt er die unreifen Verhältnisse auf. (Mayer 1971: 270)
Mayers These, dass Brecht ein „halb-feudales Herr-Knecht-Verhältnis“ (Valle 1979: 33) vorführe, ist schon von Outi Valle kritisch hinterfragt worden. Auch in dieser Arbeit wird davon ausgegangen, dass Brechts Kritik nicht dem Feudalismus gilt – wie Mayer meint –, sondern dem Kapitalismus. Wie lässt sich diese (Gegen-)These stützen? Mit Marx lässt sich argumentieren, dass die Herr-Knecht-Verhältnisse im Feudalismus offensichtlich sind. Das Land gehört dem Grundherrn, der als „König des Grundbesitzes“ über die unfreien Bauern herrscht, die teils „sein Eigentum“ sind und teils „in Respects, Unterthanen und Pflichtverhältniß“ zu ihm stehen. (Marx 2009: 77) Anstatt möglichst viel ökonomisches Kapital zu akkumulieren, „verzehrt er, was da ist und überläßt die Sorge des Her|beischaffens ruhig den Leibeignen und Pächtern. Das ist das adlige Verhältniß des Grundbesitzers, welches eine romantische Glorie auf seinen Herrn wirft“ (Marx 2009: 78). Im Gegensatz dazu sind die Herrschaftsbeziehungen im Kapitalismus auf den ersten Blick nicht erkennbar, weil die Arbeiter ‚frei‘ zu sein scheinen, unterstehen sie doch keinem Herrn mit persönlicher Verfügungsbefugnis. Da sie aber keine Produktionsmittel besitzen, sind sie gezwungen, ihre Arbeitskraft zu verkaufen und sich von den Besitzenden ausbeuten zu lassen, um ihre physische Existenz zu erhalten. Daher sind sie von der ‚herrschenden Klasse‘ genauso abhängig wie die unfreien Bauern von ihrem Grundherrn. Matti und die anderen Arbeiter auf Puntila sind nicht als „Leibeigene oder Hörige“,11 sondern als „kapitalistische Lohnarbeiter“ zu kategorisieren, weil sie Arbeitsverträge eingegangen sind oder eingehen wollen; und Puntila ist kein „feudaler Fürst“, sondern ein „kapitalistischer Grossgrundbesitzer“, weil er „ausser seinem Gut und seinen Wäldern auch noch ein Sägewerk betreibt“. (Valle 1979: 44) Vor dem Hintergrund von Brechts Marx-Lektüre lässt sich nun die These aufstellen, dass aus der im Volksstück thematisierten kapitalistischen Produktionsweise eine Entfremdung der Figuren von ihren Ar-
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Hörigkeit meint erstens, dass die Bauern an den Besitz des Grundherrn gebunden sind und sich nicht an anderer Stelle niederlassen dürfen – sie sind der ‚Scholle‘ verpflichtet. Zweitens sind sie der Rechtsprechung des Grundbesitzers unterworfen und drittens sind sie gezwungen, an diesen Abgaben zu entrichten und/oder Frondienste zu leisten. Im Gegenzug besitzen die Grundherren gegenüber den Bauern Fürsorgepflichten.
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beitsprodukten, dem -prozess, ihrer menschlichen Gattungsnatur und von anderen Individuen resultiert. Die Entfremdung vom Produkt kommt vor allem in den Monologen der drei ‚Frühaufsteherinnen‘ zum Ausdruck. Hier beklagt das Kuhmädchen, pro Tag 120 Liter Milch zu melken, davon aber nur zwei behalten zu dürfen. Da der Ertrag nicht ihr, sondern einem anderen gehört, tritt er ihr als „feindlich[e] und fremd[e]“ unabhängige „Macht“ gegenüber. (Marx 2009: 85) Wie vom Produkt sind die Frauenfiguren auch vom Produktionsprozess entfremdet. Anstatt ihr menschliches Grundbedürfnis zu befriedigen und die unorganische Natur nach ihren Vorstellungen zu gestalten, dient die Arbeit ihnen als bloßes Mittel zur Existenzsicherung. Da sie nicht für sich selbst, sondern allein für andere produzieren, fühlen sie sich nicht „wohl, sondern unglücklich“, entwickeln sie „keine freie physische und geistige Energie“, sondern ruinieren aufgrund der harten körperlichen Arbeit „Geist“ und „Physis“. (Marx 2009: 87) So hat das Kuhmädchen nur jeden fünften Sonntag frei, wenn „es schlimm geht“, kriegt es „ein Kind“; (Brecht 1989: 303) und auch das Apothekerfräulein resümiert: „Ich glaub, ich hab ein trauriges Leben.“ (Brecht 1989: 301) Aus den genannten Formen der Entfremdung resultiert nach Marx die Entfremdung des Menschen von seinem Gattungswesen und von anderen Individuen. In diesem Zuge treten zweckrationale oder ökonomische Abhängigkeitsbeziehungen an die Stelle humaner, auf gegenseitiger Anerkennung beruhender zwischenmenschlicher Beziehungen. Im Theatertext manifestiert sich das in den geschäftlichen und den privaten Beziehungen – in Puntilas Verhältnis zu seinen Lohnarbeitern und in Evas Beziehung zu ihrem Verlobten, dem Attaché. Schon in der ersten Szene wird deutlich, dass Puntila seine Angestellten nicht als menschliche Wesen, sondern nur als „Arbeitsthier[e], als | ein auf die striktesten Leibesbedürfnisse reducirtes Vieh“ (Marx 2009: 55), wahrnimmt. So entgegnet er auf Mattis Forderung, ihn als „Menschen“ zu behandeln und nicht länger draußen warten zu lassen: „Bist du ein Mensch? Vorhin hast du gesagt, du bist ein Chauffeur. Gelt, jetzt hab ich dich auf einem Widerspruch ertappt! Gib’s zu!“ (Brecht 1989: 287) 12 Ähn-
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Dass Puntila als Repräsentant der ‚herrschenden Klasse‘ fungiert und somit nicht inhumaner als andere Grundbesitzer ist, machen Mattis Aussagen über seine früheren Arbeitgeber deutlich. So berichtet er: „Ich war im Dienst bei einer Bierbrauerin, die hat eine Tochter gehabt, die hat mich in die Badestube gerufen, daß ich ihr einen Bademantel bring, weil sie so schamhaft war. „Bringen Sie mir einen Bademantel“, hat sie gesagt und ist splitternackt dagestanden, „die Männer schauen her, wenn ich ins Wasser geh.“ (Brecht 1989: 297) Ge-
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lich verhält sich Puntila auf dem Gesindemarkt, wo er Landarbeiter einzustellen sucht und sie wie Lasttiere ausschließlich mit Blick auf die von ihnen zu erwartende Arbeitsleistung begutachtet. Laut Matti besteht der einzige Unterschied zwischen Menschen und Tieren im Kapitalismus darin, dass die Grundbesitzer letzteren mehr Fürsorge angedeihen lassen. So konstatiert er: „Ich hab einen Doktor gekannt, wenn der einen Bauern hat seine Gäul schlagen sehn, hat er gesagt: Er behandelt sie wieder einmal menschlich. Warum, tierisch hätt nicht gepaßt“ (Brecht 1989: 357). Wie der genannte Doktor begegnet auch Puntila dem Vieh mit größerer Wertschätzung als seinen Arbeitern. Während er auf dem Gesindemarkt einen „Tierschinder“ (Brecht 1989: 313) zur Rede stellt, fühlt er sich für seine Lohnarbeiter nicht verantwortlich. Seinen Launen folgend, sichert er etwa dem ‚Kümmerlichen‘ eine Stelle zu, um ihn kurz darauf wieder zu entlassen, ohne für die ihm dadurch entstehenden finanziellen Einbußen aufzukommen. Die aus der kapitalistischen Produktionsweise resultierende Entfremdung von anderen Menschen zeigt sich auch in der Verbindung zwischen Eva und dem Attaché, die ausschließlich ökonomisch motiviert ist. Während der junge Mann mit der Mitgift seine Schulden tilgen will, erhofft sich Puntila von der Heirat einflussreiche Kontakte zu den Inhabern der politischen Macht. Dass Eva für ihren Zukünftigen keine Zuneigung empfindet, ist für Puntila denn auch kein gültiger Einwand gegen eine Hochzeit. Herrisch weist er sie zurecht: Und solche Wörter wie Liebe verbitt ich mir, daß du in den Mund nimmst, das ist nur ein andrer Ausdruck für Schweinerei, und die duld ich nicht auf Puntila. Die Verlobung ist angesetzt, ich hab ein Schwein schlachten lassen, das kann ich nicht rückgängig machen […] und überhaupt hab ich schon disponiert […] und dein Zimmer wird zugeschlossen, richt dich danach! (Brecht 1989: 332)
Da die Herrschaft des Kapitals zu einer Ökonomisierung der sozialen Beziehungen führt, ist eine Verbindung zwischen Matti und Eva unmöglich. Wie illusorisch eine Überwindung der Klassenunterschiede ist, illustriert Matti der jungen Frau im Rollenspiel. In dessen Verlauf wird ihr bewusst, dass sie dem entbehrungsreichen Leben einer Lohnarbeiterin aufgrund ihrer Sozialisation nicht gewachsen ist. Am Ende muss sie bekennen: „Ich glaub jetzt auch, daß meine Erziehung die falsche war. […] Papa, […] du kannst deine Verlobung [mit Matti, N.B.] leider nicht haben“ (Brecht 1989: 355). Genauso wenig, wie sie zu Matti ‚herabsteigen‘
_____________ nauso wie Puntila nimmt das Mädchen Matti nur als Knecht, nicht aber als Mensch, respektive als Mann, wahr.
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kann, kann er zu ihr ‚heraufsteigen‘, würde er von ihr doch nie als gleichrangiges Gegenüber anerkannt werden. So erklärt er ihr: In Karelien war ich auf einem Gut, da war der Herr ein früherer Knecht. Die gnädige Frau hat ihn zum Fischen geschickt, wenn der Probst zu Besuch gekommen ist. Bei den sonstigen Gesellschaften ist er hinten am Ofen gesessen und hat eine Patience gelegt, sobald er mit dem Flaschenaufkorken fertig war. Sie haben schon große Kinder gehabt. Sie haben ihn mit’m Vornamen gerufen: „Viktor hol die Galoschen, aber trödel nicht herum!“ Das wär nicht nach meinem Geschmack, Fräulein Eva. (Brecht 1989: 330)
Wie schon Neureuter betont hat, lässt sich die Beziehung zwischen Eva und Matti als „ironisch-polemischer“ (Neureuter 2001: 444) Verweis auf August Strindbergs Theatertext Fräulein Julie (1888, vgl. III.1) lesen. Schon die Figurenkonstellation weist Parallelen auf. In beiden Dramen empfinden die Töchter der Gutsbesitzer – Eva und Julie – keine Zuneigung für ihre jeweiligen Verlobten und wenden sich lieber ihren jeweiligen Bedienten – Matti bzw. Jean – zu.13 Während sich aber Jean seiner Herrin überlegen weiß und von einem sozialen Aufstieg träumt, ist sich Matti darüber klar, dass eine Änderung oder gar Umkehrung der Machtverhältnisse im Kapitalismus unmöglich ist. Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass sich im Volksstück die von Marx profilierten vier verschiedenen Entfremdungsformen manifestieren. Damit einher geht eine totale Abhängigkeitsbeziehung zwischen Puntila und Matti, die als Repräsentanten der herrschenden Klasse und des Proletariats fungieren. Davon zeugt schon der Titel. Während Diderot die Überlegenheit des Herrn dadurch in Frage stellt, dass er ihn namenlos bleiben lässt und zum Attribut des Dieners degradiert, nennt Brecht die Namen von Herr und Knecht im Titel „traditionell nach der gesellschaftlichen Rangordnung“ (Treskow 1996: 244). Das dadurch angedeutete große Machtgefälle wird im Stück kritisch reflektiert, wie nun zu illustrieren ist.
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Weitere Bezüge lassen sich herstellen. Man denke an Mattis Äußerungen über die Gespräche der „besseren Leut“ (Brecht 1989: 321) im Wagen, die er als Chauffeur mithören muss (vgl. Strindberg 1984a: 788f.); an die Szene ‚Ein Gespräch über Krebse‘ (vgl. Brecht 1989: 324ff.), in der Eva Matti nachts in der Küche aufsucht, um ihn zu verführen, und in der beide erwägen, auf die Insel zu rudern, um dort Krebse zu fangen (vgl. Strindberg 1984a: 789); an Evas Plan, mit dem Zug nach Brüssel zu reisen, der daran scheitert, dass sie kein Geld für die Fahrkarte hat (vgl. Brecht 1989: 328, Strindberg 1984a: 792ff.); an die Äußerung des Richters über die „Alimentationsprozesse“ in Folge der geruchsintensiven „finnische[n] Sommernacht“ (Brecht 1989: 325, vgl. Strindberg 1984a: 762); und an das Gesinde „auf’m Tanzplatz“ (Brecht 1989: 357) sowie das vom roten Surkkala gesungene Lied über die schwedische Gräfin und den Förster.
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Als Repräsentant der herrschenden Klasse muss der Gutsbesitzer Puntila nicht arbeiten, sondern kann – wie für den Herrn bei Hegel und Marx konstitutiv – genießen. Das manifestiert sich in seinem übermäßigen Alkoholkonsum und in seinem Interesse an erotischen Abenteuern.14 So denkt er nach seiner Rückkehr aus dem Wirtshaus ausschließlich daran, mit welcher Frau er eine weitere Flasche leeren könnte; und in der darauffolgenden Szene verlobt er sich mit drei „Frühaufsteherinnen“, weil ihm ein „einzelnes Mädchen“ nicht genügt. (Brecht 1989: 298, 302) Da Puntila im Besitz von Produktionsmitteln ist, kann er diejenigen für sich arbeiten lassen, die gezwungen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, um ihre Lebensbedürfnisse befriedigen zu können. Dabei präsentiert sich Puntila – auch im Alkoholrausch – als inhumaner Willkürherrscher, der über seine Angestellten wie über Leibeigene verfügt. Wie selbstbezogen Puntila agiert, machen schon die ersten Sätze des Theatertextes deutlich, in denen er dem betrunken vom Stuhl fallenden Richter vorwirft: Zwei Täglein, hörst du! Und schon läßt du nach und täuschst Müdigkeit vor! Wenn ich mit dir bei einem Aquavit ein bissel über mich reden will und wie ich mich verlassen fühl und wie ich über den Reichstag denk! Aber so fallt ihr einem alle zusammen (Brecht 1989: 286).
Wie deutlich wird, ist Puntila nicht an einer symmetrischen Kommunikation interessiert; vielmehr sucht er sein Gegenüber für seine Bedürfnisbefriedigung zu instrumentalisieren. Gewohnt zu herrschen, fordert er von anderen bedingungslosen Gehorsam. So muss ihm etwa der Kellner einen falschen Wochentag nennen, weil er sich wünscht, dass „Freitag sein“ (Brecht 1989: 286) solle; Widerworte werden entweder ignoriert oder sanktioniert.15 Um als Grundbesitzer konkurrenzfähig zu bleiben und nicht selbst zum Arbeiter herabzusinken, muss Puntila möglichst viel ökonomisches Kapital akkumulieren. Dazu beutet er die bei ihm beschäftigten Lohnarbeiter durch die Ausdehnung ihrer Arbeitszeit aus. Auf Puntila gibt es keine „Achtstundentag[e]“ (Brecht 1989: 326); und von Matti wird ständige Dienstbereitschaft gefordert. So setzt Puntila voraus, dass er zwei Tage vor dem Wirtshaus auf ihn warten wird, oder er fordert von ihm zu wachen, bis er von seiner Fahrt nach Kurgela zurückkommt. Zudem ent-
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In zahlreichen Texten, in denen der Herr-Knecht-Diskurs strukturbestimmendes Thema ist, wird die Befriedigung sexueller Begierden als ‚Herrenprivileg‘ dargestellt, so auch in Beaumarchais’ Der tolle Tag oder Die Hochzeit des Figaro (1778) (vgl. II.1), in Grillparzers Ein treuer Diener seines Herrn (1828) (vgl. IV.1) oder in Fritz Reuters Kein Hüsung (1857). Vgl. u. a. Brecht 1989: 292, 323.
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lohnt er seine Lohnarbeiter so schlecht, dass sie „elend ausschaun, käsig und lauter Knochen und zwanzig Jahr älter“ (Brecht 1989: 358). Um seine Inhumanität zu legitimieren, erhebt Puntila – wie die Kapitalisten nach Marx – die weltliche Askese zum Ideal. Während er selbst seine Neigungen zu befriedigen sucht, solange sie nicht zu hohe Kosten verursachen, erkennt er den Genuss als Grundbedürfnis seiner Angestellten nicht an. Vor diesem Hintergrund warnt er Matti: ich sag’s dir im Guten, sei bescheiden, es dient zu deinem eigenen Besten. Mit der Begehrlichkeit fängt es an, und im Kittchen endet es. […] Einen Bescheidenen behält man im Dienst, warum nicht? Wenn man sieht, daß er sich abrackert, drückt man ein Auge zu. Aber wenn er nur immer Feierabend haben will und Braten so groß wie Abortdeckel, ekelt er einen einfach und raus mit ihm! (Brecht 1989: 305)
Die „Selbstentsagung, die Entsagung des Lebens, aller menschlichen Bedürfnisse“ (Marx 2009: 138), wird von Matti als kapitalistisches Ideal offengelegt, wenn er Puntilas Position zu teilen vorgibt und erklärt: „Wenn einer zurückhaltend ist und seine Leidenschaften zügelt, kann er’s weit bringen. Der Kotilainen, dem die drei Papierfabriken bei Viborg gehören, soll der bescheidenste Mensch sein.“ (Brecht 1989: 305) Wie verdeutlicht, hält Brecht genauso wie Marx die kapitalistische Produktionsweise für inhuman, weil sie zu (Selbst-)Entfremdung und Ausbeutung führt. Genauso wie das Proletariat ist aber auch die herrschende Klasse unfrei, weil sie gezwungen ist, sich dem kapitalistischen System zu unterwerfen. Das illustriert Brecht anhand der Puntila-Figur, die auf dem Gesindemarkt mit einem „richtige[n] Kapitalist[en]“ – dem Gutsbesitzer von Summala – aneinandergerät, weil dieser ihm „einen Arbeiter […] abspenstig“ machen will. (Brecht 1989: 313) Retrospektiv berichtet Matti, dass sein Herr den Konkurrenten öffentlich beleidigt und gedemütigt hat, obwohl er gewusst hat, dass ihm der einzige Hengst im weiteren Umkreis gehört, der zur Deckung seiner Stuten geeignet ist. Von dem konkreten Ereignis abschweifend, konstatiert er: „Ich hab einmal erlebt, wie einer vor Wut, weil ihm ein Billett aus’m Hutband gefallen ist, wo er’s hineingesteckt hat, damit er’s nicht verliert, seinen eigenen Hut mit Füßen zertrampelt hat in einem gesteckt vollen Zugkupee.“ (Brecht 1989: 314) In welchem Zusammenhang steht diese Anekdote mit Puntilas Verhalten auf dem Gesindemarkt? Wie der Mann im Zug hat sich Puntila von seinen Emotionen leiten lassen und einem anderen Schaden zufügen wollen, damit aber vor allem sich selbst geschadet. Jetzt muss er sich nach einem neuen Hengst für seine Stuten umsehen; darüber hinaus hat er mit der ‚symbolischen Ermordung‘ des Gutsbesitzers die herrschende Klasse und damit sich selbst in Frage gestellt. In diesem Wissen reagiert Puntila „einsilbig“ und „finster“ auf Mattis Erzählungen. (Brecht 1989: 315)
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Dass Puntila trotz seines hohen sozialen Status nur begrenzte Handlungsspielräume besitzt, macht auch die elfte Szene deutlich, in der er vom Probst und dem „Syndikus von der Milchgenossenschaft“ (Brecht 1989: 359) zur Rede gestellt wird, weil er dem ‚roten Surkkala‘ nicht gekündigt hat. Wie Puntila realisiert, wird ihm der ‚Nationale Schutzkorps‘ seine Milch nicht länger abnehmen, sollte er bei seiner Entscheidung bleiben und Surkkala weiter beschäftigen. Die eigene Unfreiheit wird ihm noch einmal von Matti vor Augen geführt. Als sich Puntila in der neunten Szene nach sozialer Gleichheit sehnt und die Idee äußert, eine gemeinsame Kasse für alle Einnahmen des Guts einzurichten, aus der sich Herr und Knechte nach Bedarf bedienen können, räumt Matti ein: „Ich kann’s Ihnen nicht raten. Warum, Sie wären schnell ruiniert und die Bank würd übernehmen.“ (Brecht 1989: 352) Genauso wie seine Lohnarbeiter erweist sich auch Puntila als ‚Knecht‘ des Kapitals. Wie sie ist er außerdem von seinem Gattungswesen entfremdet. Um das zu verdeutlichen, konzipiert Brecht Puntila als eine Figur „im Selbstwiderspruch“ (Neureuter 2001). Im Rausch behauptet er von sich, „beinah ein Kommunist“ (Brecht 1989: 352) zu sein. Als solcher sucht er die Freundschaft und Anerkennung seiner Lohnarbeiter, ohne als Herr in Frage gestellt zu werden. Dieses Paradoxon bringt Eva in der zweiten Szene auf den Punkt, wenn sie dem Attaché erklärt: Eines ist gut, ich kenne meinen Vater unter Hunderten heraus. Ich hab immer gleich gewußt, wenn von meinem Vater die Red war. Wenn wo ein Mann mit einer Viehgeißel einem Knecht nachgelaufen ist oder einer Häuslerswitwe ein Auto geschenkt hat, war’s mein Vater. (Brecht 1989: 293)
Auch wenn sich Puntila im Rausch „ein gutes Herz“ (Brecht 1989: 288) attribuiert und für soziale Gleichheit plädiert, bleibt er allerdings ein inhumaner Repräsentant der herrschenden Klasse. Er beutet die Menschen für sein Vergnügen aus, so den Kellner im Parkhotel und den wartenden Chauffeur, so die Arbeiter auf dem Gesindemarkt, denen er keine Kontrakte gibt, und es ist schließlich der betrunkene Puntila, der den roten Surkkala entlässt […]. Aus der Perspektive derjenigen, die ihm untergeben sind, bilden die Handlungen sowohl des nüchternen als auch des betrunkenen Herren eine böse Einheit. (Neureuter 2001: 448)16
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Puntilas auf den Alkoholkonsum zurückzuführende Persönlichkeitsspaltung ist ein Strukturprinzip des Stücks. In einer frühen Inhaltsangabe charakterisiert Brecht den Gutsbesitzer als eine Figur mit „zwei seelen. wenn er besoffen ist, ist er ein mensch, aber wenn er nüchtern ist, ist er ein gutsbesitzer. wenn er nüchtern ist, prügelt er seinen schofför, aber besoffen engagiert er einen schofför […]. wenn er besoffen ist, heiratet er jede frau, die früh aufsteht und ein gutes leben haben soll, aber nüchtern will er nichts zahlen und fragt empört, ob er jeder kuhmagd, mit der [er] schlief, eine pension geben soll.“ (Neureuter
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Davon ausgehend, dass Puntila nüchtern und betrunken nach Genuss und Gewinnen strebt und dafür die sozial unter ihm Stehenden auszubeuten sucht, stellt sich die Frage, warum sich Puntila unter Alkoholeinfluss als (Menschen-)Freund geriert und Mattis Nähe sucht. Dabei lässt sich mit Hegel und Marx die These aufstellen, dass er – über seine Vergnügungssucht hinaus – das Bedürfnis nach Anerkennung eines gleichrangigen Gegenübers besitzt. Wie erläutert, kann der Mensch laut Hegel nur dann zu Selbstbewusstsein gelangen, wenn er von einem ebenbürtigen Interaktionspartner in seiner ‚menschlichen Wirklichkeit und Würde‘ anerkannt wird. Ego und Alter müssen sich „als gegenseitig sich anerkennend“ (Hegel 1986d: 147) anerkennen. Solch ein wechselseitiges Verhältnis ist in der hierarchischen Beziehung zwischen Herr und Knecht nicht gegeben. Da der Überlegene sein Gegenüber als ‚Ding‘ wahrnimmt, kann er sein Bedürfnis nach Anerkennung nicht befriedigen und somit kein ‚wahrhaft‘ selbstständiges Bewusstsein ausbilden. Diese Denkfigur wird von Marx modifiziert übernommen. Ähnlich wie Hegel vertritt er die Position, dass der Mensch sein Gattungswesen nur in reziproken Anerkennungsverhältnissen realisieren kann. Das ist dann der Fall, wenn ich mein Gegenüber als „Bedürfniswesen“ anerkenne und ihm mit „Liebe“ begegne, weil es mir „durch seine Tätigkeit die Verwirklichung meines eigenen Gattungswesens ermöglicht“. Im Kapitalismus kann sich dieses ‚richtige‘ „ethische Bewußtsein“ aufgrund des Rechtsinstituts Privateigentum weder ausbilden noch durchsetzen. (Quante 2009: 299) Aus diesem Grund müssen die Subjekte der eigenen Gattungsnatur entfremdet bleiben. Dass sich Puntila im Alkoholrausch nach wechselseitiger Anerkennung sehnt, manifestiert sich in seinem Wunsch, von seinen Lohnarbeitern – insbesondere von Matti – als „menschlich“ wahrgenommen und als „Freund“ betrachtet zu werden. (Brecht 1989: 312, 288) Im Gegenzug erklärt er, Matti als ‚Menschen‘ zu ‚achten‘ und ‚wertzuschätzen‘.17 Puntilas Versuch, durch solche Aussagen das Machtgefälle zwischen Herr und Knecht zu nivellieren, muss allerdings scheitern, weil er in jeder Situation als Herr agiert (und agieren muss, wenn er nicht selbst zum Arbeiter herabsinken will). Sein Selbstwiderspruch besteht somit darin, sein Bedürfnis nach reziproker Anerkennung befriedigen zu wollen, ohne als Herr in
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1987: 51) Dass Puntila auch im betrunkenen Zustand – im Gegensatz zu Brechts Ausführungen – ein „soziale[r] Schädling“ (Neureuter 2001: 448) bleibt, ist von der Forschung oft betont worden; vgl. u. a. Bohnen 1980: 195, Müller 2009: 166, Neureuter 2001: 448, Poser 1975: 191. Vgl. u. a. Brecht 1989: 307, 311.
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Frage gestellt zu werden. Darin ist er dem Herrn in Hegels dialektischem Modell vergleichbar. Aufgrund der aus dem kapitalistischen System resultierenden Entfremdung des Menschen von seinem Gattungswesen kann Puntila kein ‚richtiges ethisches Bewußtsein‘ ausbilden, auch wenn er sich humane „Interaktionen nach dem Modell der unmittelbaren und nichtinstrumentellen Beziehung zweier Individuen“ (Quante 2009: 298) wünscht. Im Unterschied zu Puntila weiß Matti, dass es keine Freundschaft zwischen Herr und Knecht geben kann (vgl. u. a. Brecht 1989: 291), weil im Kapitalismus die „Ausbeutung […] die einzig mögliche Form des Verkehrs zwischen den Menschen“ (Brecht 1992: 584) ist. In diesem Wissen hält er es – ähnlich wie Diderots Titelfigur – für unabdingbar, die Rechte und Pflichten von Herr und Knecht kontraktlich zu regeln. Das wird vor allem in der vierten Szene deutlich, in der Puntila seinen potentiellen Arbeitnehmern vor Vertragsabschluss erst einmal „näherkommen“ will, woraufhin Matti ihm versichert: „[K]einer will das […], aber einen Kontrakt wollens.“ (Brecht 1989: 309) Der Handlungsverlauf zeigt, dass Puntilas Weigerung, mit den Arbeitern einen Vertrag einzugehen, dann auch nicht zu einer Verbesserung, sondern zu einer Verschlechterung ihrer Situation führt. So lässt sich der ‚Kümmerliche‘ in der Hoffnung auf Arbeit darauf ein, mit Puntila aufs Gut zu fahren, um kurz darauf, ohne Hoffnung auf eine andere Stelle, wieder vor die Tür gesetzt zu werden. Puntilas Stimmungsschwankungen ist insbesondere Matti ausgesetzt. Während er ihm betrunken seine Geldbörse und seine Tochter anvertraut und ihm darüber hinaus die Hälfte seines Waldes überschreibt, wirft er ihm nüchtern vor, sich auf seine Kosten bereichern zu wollen. Aus diesem Grund ist sich Matti klar: „ich bin ihm ausgeliefert und vor ich mich umschau, wird er menschlich, ich werd kündigen müssen.“ (Brecht 1989: 312) Wie deutlich wird, darf die Vertraulichkeit der Besitzenden nicht als Zeichen von Humanität gewertet werden. Vielmehr kommt jede Freundlichkeit einem ‚Vertragsbruch‘ gleich, der ausschließlich negative Konsequenzen für die Arbeitnehmer hat, weil sie sich nicht länger auf die Rechte und Pflichten beider Vertragspartner berufen können. Ähnlich wie Diderot problematisiert Brecht, dass in jedem vermeintlich freundschaftlichen Verhältnis die Ausbeutung des Knechts forciert wird, weil er den Launen seines Herrn ausgeliefert ist.18 Das wird auch von der Schmuggleremma thematisiert, wenn sie auf dem Heimweg konstatiert:
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Dass unter dem Seelenzwiespalt der ‚Oberen‘ vor allem die ‚Unteren‘ zu leiden haben, manifestiert sich bereits in dem von Brecht zuerst erwogenen Stücktitel „Die zwei Seelen des Herrn von Puntila oder Der Regen fällt immer nach unten“ (Neureuter 1987: 51), den schon Neu-
Brecht: Herr Puntila und sein Knecht Matti
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Wie soll eins wissen, in welcher Laun man sie [die Gutsherrn, N.B.] grad antrifft. Wenns gut gesoffen haben, machens einen Witz und kneifen einen wer weiß wo und man hat seine Müh, daß sie nicht gleich intim werden und rein in Himbeerstrauch, aber fünf Minuten danach ist ihnen was über die Leber gekrochen und sie wollen am liebsten die Polizei holen. (Brecht 1989: 338)
Es sollte deutlich geworden sein, dass Puntila als eine Figur im Selbstwiderspruch konzipiert ist: Dem Herrn in Hegels dialektischem Modell vergleichbar, wünscht er sich die Anerkennung von einem selbstständigen Bewusstsein, kann sie aber nur durch dessen Unterwerfung erlangen. Im Gegensatz dazu besitzt Matti „von Anfang an ein klar ausgebildetes proletarisches Bewußtsein“ (Treskow 1996: 250), durch das er seinem Herrn geistig und lebenspraktisch überlegen ist – eine Parallele zu Diderots Titelfigur. So macht er sich im Gegensatz zu seinem Herrn keine Illusionen über die Realität. Zum einen weiß er, dass es keine Freundschaft zwischen Herr und Knecht geben kann, und plädiert dafür, die Rechte und Pflichten beider Parteien vertraglich festzulegen. Zum anderen ist ihm bewusst, dass er keine (Handlungs-)Freiheit besitzt. Beide Aspekte – der Vertrag zwischen Herr und Knecht und die Frage nach der Freiheit des Subjekts – sind schon in Diderots Roman zentral und werden von Brecht auf das kapitalistische System übertragen. Mattis Überlegenheit kommt im Handlungsverlauf mehrfach zum Ausdruck, insbesondere in der elften Szene, in der Puntila ihm vorwirft, seinen Anordnungen gefolgt zu sein. Denn er habe „sehn müssen, daß die Befehle ohne Sinn und Vernunft waren“ (Brecht 1989: 362). Wie unter anderem Neureuter herausgestellt hat, übergibt Puntila hier seinem Knecht unbemerkt die Schlüsselgewalt, zu entscheiden, welche seiner Befehle zu befolgen sind und welche nicht. Da das Befehlen aber seine einzige Legitimation und seine einzige Funktion ist, erklärt er sich damit selber für überflüssig. Das Bourgeoisie [sic] hat ihren Führungsanspruch verwirkt. (Neureuter 2001: 452)
Ähnlich wie Brecht stellt auch Diderot die bestehenden Herrschaftsbeziehungen dadurch in Frage, dass er dem Subalternen Vernunft attribuiert, während er den Herrn als primär affektiv Handelnden zeigt. Während Jacques und sein Herr aber bis zum Ende des Handlungsverlaufs Koalitionspartner bleiben, kehrt Matti Puntila den Rücken und verlässt das Gut. Der Schluss bleibt – ähnlich wie in Diderots Roman – offen, was zu verschiedenen Deutungen geführt hat. So meint etwa Fritz Martini, dass Matti „das Spiel“ am Ende aufgebe, weil er „an dieser Wirklichkeit nichts verändert“ habe. (Martini 1984: 1984) Im Gegensatz dazu glaubt Mayer,
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Koalitionen zwischen Herr und Knecht
dass er das Gut verlasse, um „städtischer Proletarier“ (Mayer 1971: 270) zu werden. In dieser Arbeit wird hingegen die These vertreten, dass Matti weiß, dass die bestehenden Missstände nur durch die (kollektive) Aufkündigung des ‚Vertragsverhältnisses‘, genauer durch eine soziale Revolution, beseitigt werden können. Für diese Lesart sprechen seine letzten Worte: ’s wird Zeit, daß deine Knechte dir den Rücken kehren. Den guten Herrn, den finden sie geschwind Wenn sie erst ihre eignen Herren sind. (Brecht 1989: 370) 19
Dass Brecht hier – ähnlich wie Marx – eine teleologische Geschichtsauffassung vertritt und die Aufhebung des Privateigentums sowie aller ökonomischen Abhängigkeitsbeziehungen in der Zukunft für unabwendbar hält, kommt auch im Prolog zum Ausdruck. Hier wird Puntila als „vorzeitliches Tier“ bezeichnet, das sich nur noch in einigen Gegenden „hartnäckig“ halten kann. (Brecht 1989: 285) Ziel des Theatertextes ist es, diesen historischen Prozess zu beschleunigen, indem die Zuschauer über die „zur Aufhebung drängenden Widersprüche“ (Müller 2009: 117) der Gegenwart aufgeklärt werden und sich im ‚dialektischen Denken‘ üben, also in einer „Betrachtungsweise, welche in einheitlich auftretenden Formationen wachsende Gegensätze aufspürt, eine auf Veränderungen, Umwälzungen, Entwicklung das Interesse lenkende Betrachtungsweise“ (Brecht 1993: 42).20 Die sozialen Widersprüche werden dabei vor allem durch Matti deutlich gemacht, der im Theatertext als „souveräner Spielleiter“ (Müller 2006: 245) fungiert. Er führt Puntila als Figur im Selbstwiderspruch vor, indem er ihm oder anderen widerspricht,21 seine Ansichten offensiv vertritt22 oder indem er Puntilas Positionen vermeintlich stützt bzw. ironisch kommentiert und damit den Zuschauer zum Widerspruch
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Dass es durchaus „klug sein“ (Brecht 1989: 340) kann, sich der herrschenden Klasse nicht zu unterwerfen, wird auch von der Schmuggleremma thematisiert. Sie berichtet von einem jungen Mann namens Athi, der wegen seiner sozialistischen Überzeugung „ins Lager gesperrt“ (Brecht 1989: 340) worden ist. Dort wird er von seiner Mutter besucht, die ihm Lebensmittel von der Gutsbesitzerin mitbringt, die Athi aber ablehnt. Davon erzählt seine Mutter allen, die sie trifft, „so daß es einen Eindruck gemacht hat am ganzen Weg und der war 80 Kilometer lang“ (Brecht 1989: 341). Vgl. dazu auch Müller 2009: 118f.: „Es [Brechts episches Theater, N.B.] ist Teil der ‚geistigen Aktion‘, einer Kritik herrschender Vorstellungen über das gesellschaftliche Zusammenleben, also Ideologiekritik und Medium ‚eingreifenden Denkens‘. Es bleibt Teil des Überbaus, für den die Widersprüche der gesellschaftlichen Wirklichkeit objektiv vorgegeben und als solche darstellbar sind, aber es kann diese Widersprüche verschärfen und in dialektischer Realitätserkenntnis einen Beitrag zu ihrer Lösung leisten und damit zur Praxis werden.“ Vgl. u. a. Brecht 1989: 289, 292, 307f. Vgl. u. a. Brecht 1989: 298, 312, 317.
Brecht: Herr Puntila und sein Knecht Matti
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herausfordert.23 Die aufklärerische Wirkungsabsicht verbindet Brechts Volksstück mit Diderots Roman. Beide Texte zielen auf die Erziehung der Rezipienten zur Mündigkeit, indem herrschende politische und philosophische Positionen zur Diskussion gestellt und implizit andere vermittelt werden.24 Während Diderot seinen Lesern aber zu signalisieren sucht, dass es keine objektiven Wahrheiten gibt, will Brecht seine Zuschauer zur „Einsicht in die [vermeintlich, N.B.] wirklichen Zusammenhänge, zur Handlungsfähigkeit und zur Selbstverwirklichung in einer revolutionären Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse“ (Müller 2009: 117) führen. So beschreibt er den sein Stück kennzeichnenden ‚kritischen Marxismus‘ nach Karl Korsch wie folgt: „Drängen auf die Krise hin, Herauswicklung der Widersprüche, die Kunst des praktischen Negierens, also einer Kritik, die, der Entwicklungsgesetze eingedenk, im Hinblick auf eine bestimmte mögliche Lösung kritisiert“ (Brecht 1993: 45). Davon ausgehend wendet sich Brecht – ebenso wie Diderot – gegen ‚Einfühlung‘ und Illusion, weil für ihn nur das reflektierende Subjekt zu kritischen Urteilen fähig ist. Da seine Theorie des epischen Theaters hinlänglich bekannt ist, sollen die von ihm zur Verhinderung von Illusion und Empathie eingesetzten dramaturgischen Mittel im Folgenden nur skizziert werden. Zu den Verfahren der Distanzierung des Zuschauers vom dramatischen Geschehen zählen erstens die Verfremdungseffekte (V-Effekte), „durch die das Geläufige auffällig, das Gewohnte erstaunlich“ (Brecht 1993: 211) werden soll, so dass es den Schein der Unveränderbarkeit verliert. Zu nennen sind hier die typisierten Figuren und die stilisierte Sprache – der Prolog und Mattis letzte Worte werden in Versen gesprochen –; außerdem das von Brecht geforderte stilisierte Spiel, weist er doch in seinen Anmerkungen zum Volksstück (ca. 1940) darauf hin, dass man den „‚Puntila‘ in einem Stil […], der Elemente der alten Commedia dell’arte und Elemente des realistischen Sittenstücks enthält“ (Brecht 1991: 298), aufführen müsse. Zweitens ist das dramatische Prinzip der Episodenfolge anzuführen, durch das „die Relationen der Szenen untereinander wichtiger“ werden „als der Bezug der Einzelszene auf den Handlungsausgang“. (Pfister 112001: 104) Rezeptionsästhetisch kommt solchen Dramen
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Vgl. u. a. Brecht 1989: 305, 358, 367. Ähnlich argumentiert Treskow 1996: 59: „Brecht und Diderot mögen also in bezug auf die spezifische Ausprägung ihrer wirkungsästhetischen Vorstellungen gegensätzliche Auffassungen vertreten, sie wollen beide prinzipiell die Stärkung autonomer Urteilskraft bewirken. Dieser Anspruch offenbart sich in ihrem Verständnis vom Theater als gesellschaftlicher Einrichtung, prägt aber auch das literarische Werk.“
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Koalitionen zwischen Herr und Knecht
primär die Funktion einer Ent-Spannung des Zuschauers zu, die ihn zu kritischer Distanz befähigt und seine Aufmerksamkeit für ein reflektiertes Vergleichen und Werten freisetzt; gleichzeitig impliziert bei Brecht die Aufhebung der Finalität ein Modell der Wirklichkeit, das diese als variabel und veränderbar darstellt (Pfister 112001: 104).
Drittens ist der Theatertext als Komödie konzipiert (vgl. Brecht 1991: 312), was eine räumliche, ideelle oder emotionale Distanz des Rezipienten zum dramatischen Geschehen voraussetzt.25 Illusionsstörend wirken viertens und letztens die intertextuellen Verweise auf Diderots Jacques der Fatalist und sein Herr und auf Strindbergs Fräulein Julie, weil sie dem Rezipienten die Artifizialität des Stücks bewusst machen. Zusammenfassend sei festgehalten, dass Brecht – ähnlich wie Hegel und Marx – den Genuss des Herrn der Ausbeutung des Knechts durch Arbeit und Askese gegenüberstellt. Mit Marx übt er massive Kritik an der kapitalistischen Produktionsweise, weil sie zu einer Entfremdung des Subjekts von der Arbeit, dem Arbeitsprozess, seiner Gattungsnatur und von anderen Individuen führt. Das zeigt sich in der Ökonomisierung aller sozialen Beziehungen und in der paradoxen Figurenkonzeption des Puntila, der sich – wie der Herr in Hegels dialektischem Modell – nach der Anerkennung eines gleichrangigen Gegenübers sehnt, diese aber nur durch dessen Unterwerfung erlangen kann. Da sich der Herr im Selbstwiderspruch befindet, kann nur der Knecht ein ‚wahrhaft‘ selbstständiges Bewusstsein erlangen bzw. durch eine soziale Revolution die bestehenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Missstände beseitigen. Das wird am Ende des Handlungsverlaufs angedeutet, wenn Matti seine Koalition mit Puntila aufkündigt und ihm den Rücken kehrt. Darüber hinaus wird im Theatertext – in Anlehnung an Diderots Roman – die Unfreiheit des Subjekts angesichts der Herrschaft des Kapitals und die Unmöglichkeit einer Freundschaft zwischen Herr und Knecht thematisiert. Rechte und Pflichten müssen vielmehr kontraktlich ausgehandelt werden. Wirkungsintention ist die dialektische Negation des kapitalistischen Systems durch ‚eingreifendes Denken‘, mit Brecht verstanden als „jene Einteilung, Anordnung, Betrachtungsweise der Welt, die durch Aufzeigung ihrer umwälzenden Widersprüche das Eingreifen ermöglicht“ (Brecht 1992: 424).
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Zur Komik vgl. u. a. Semrau 1981.
Hegel als Rezipient von Diderots Jacques der Fatalist?
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2.4 Brauns dialektische Negation des realexistierenden Sozialismus im Hinze-Kunze-Roman (1985) Genauso wie Brecht hat auch Volker Braun Hegels Phänomenologie des Geistes und Marx’ sozioökonomisch fundiertes Herr-Knecht-Modell gekannt.1 Dass er auch Brechts Volksstück und die Flüchtlingsgespräche rezipiert hat, kann vorausgesetzt werden, nicht zuletzt deshalb, weil seine Berichte von Hinze und Kunze stark an die Flüchtlingsgespräche erinnern, worauf schon Dieter Schlenstedt hingewiesen hat.2 Darüber hinaus rekurriert Braun dezidiert auf Diderots Roman Jacques der Fatalist und sein Herr. Davon zeugt schon die Erzählstruktur. Auch im Hinze-Kunze-Roman ist auf der extradiegetischen Ebene ein homodiegetischer Erzähler angesiedelt, der fiktiven Lesern von Herr und Knecht – dem DDR-Funktionär Kunze und seinem Chauffeur Hinze – erzählt. Ihre Gespräche erfolgen auf zweiter, intradiegetischer Ebene, wobei die Trennlinien zwischen den beiden Welten durch narrative Metalepsen überschritten werden. Der Erzählfaden wird ähnlich wie bei Diderot häufig durch Digressionen und Einschübe des Erzählers oder der fiktiven Leser abgerissen und wieder aufgenommen. Darüber hinaus verbindet beide Romane der unvermittelte Einstieg in das Geschehen in Form eines Dialogs zwischen Erzähler und fiktivem Leser und das offene Ende. So stimmt „der Schluß des Romans“ nicht „mit dem Schluß der Geschichte von Hinze, Kunze und Lisa […] überein.“ (Treskow 1996: 72) Eine weitere Parallele ist die ironische Kommunikation mit dem Leser. Braun übernimmt die in Diderots Roman zur Diskussion gestellten Oppositionen Herrschaft vs. Freundschaft, Freiheit vs. Notwendigkeit sowie Roman vs. historische Wirklichkeit, modifiziert sie aber, indem er sie vom Ancien Régime auf die DDR-Diktatur überträgt.3 Dabei zielt er ähnlich wie Diderot auf eine dialektische Negation des politischen Systems, wie im Folgenden zu zeigen ist. Indem Braun eine interdependente Abhängigkeitsbeziehung – die Koalition zwischen dem Funktionär Kunze und seinem Fahrer Hinze – zum strukturbestimmenden Thema seines Textes macht, zeigt er, dass die Ein-
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Davon zeugt sein Artikel Abweichen vom bürgerlichen Verkehr anlässlich der Verleihung des Bremer Literaturpreises, der am 31. 1. 1986 in der Zeit erschienen ist. Hier spricht Braun über das Herr-Knecht Motiv in der Literatur des 20. Jahrhunderts, um dann im Rekurs auf Diderots Roman zu konstatieren: „Es mochten der Literatur auch Pferde genügen, auf denen der eine mit dem anderen ritt, bis in Hegels ‚Phänomenologie‘, den radikalen Sprengstoff unter dem Sattel.“ Vgl. Schlenstedt 1995: 135. Zu Brauns Brecht-Rezeption vgl. u. a. Treskow 1996: 54. Zu Diderots Jacques der Fatalist und sein Herr als literarischer Vorlage für Brauns Hinze-KunzeRoman vgl. ausführlich Treskow 1996.
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Koalitionen zwischen Herr und Knecht
führung des ‚Volkseigentums‘ im realexistierenden Sozialismus nicht wie von Marx prognostiziert zu einer Überwindung der Klassengesellschaft geführt hat.4 Vielmehr gibt es nach wie vor mit Vorrechten ausgestattete ‚Kunzes‘ und deren Willen unterworfene ‚Hinzes‘ – „das Werkzeug der Gedanken, die Kunze hegte“ (Braun 1985: 79).5 So darf der Funktionär – wie für den Herrn bei Hegel, Marx und Brecht konstitutiv – genießen. Davon zeugen erstens seine Privilegien, etwa seine Aufnahme in den Reisekader, die ihm Reisen in die BRD ermöglicht, oder sein materieller Wohlstand. Während Hinze und seine Frau Lisa in einer unsanierten, ärmlich ausgestatteten Wohnung im Prenzlauer Berg wohnen – zu DDRZeiten noch ein „schwindsüchtiges Viertel“ (Braun 1985: 20) – leben Kunzes in einer geräumigen Villa mit antikem Mobiliar „voller Gläser und Nippes, Besitz“ (Braun 1985: 80). Zeichen von Kunzes Anspruch auf Genuss sind zweitens seine erotischen Abenteuer, auch bei Brecht, Beaumarchais und anderen ein ‚Herrenprivileg‘. Will der Funktionär seinen sexuellen Trieben nachgehen,
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Das ist auch von der politischen Führung zugegeben worden, die den Sozialismus als „historisch erste Phase der kommunistischen Gesellschaftsformation“ nach Überwindung des Kapitalismus begriffen hat. Wie es im marxistisch-leninistischen Philosophischen Wörterbuch heißt, sollen hier die „Voraussetzungen für den Übergang zum Kommunismus geschaffen werden“, der die „zweite, höhere Phase der kommunistischen Gesellschaftsformation“ bilde. Im Sozialismus müssten erst einmal die „materiellen und ideologischen Voraussetzungen“ für eine nach kommunistischen Prinzipien organisierte Gesellschaft geschaffen werden, so der/die Autor(en). (Klaus/Buhr 1976a: 1115) Gemeinsam sei beiden Systemen „das gesellschaftliche Eigentum an den Produktionsmitteln“, die „planmäßige Leitung der gesellschaftlichen Prozesse“ sowie die Ideologie des Marxismus-Leninismus als notwendiges „theoretische[s] Fundament“ für die ‚geistig-kulturelle‘ Entwicklung der Menschen. (Klaus /Buhr 1976a: 1115f.) „Die wesentlichen Unterschiede, unter denen sich die gesellschaftliche Entwicklung im Sozialismus und im Kommunismus vollzieht, sind folgende: Im Sozialismus gibt es noch kein einheitliches gesellschaftliches Eigentum an den Produktionsmitteln und damit Unterschiede in der Entwicklung der sozialen Klassen und Schichten, ihren Arbeits- und Lebensbedingungen. Im Gegensatz dazu wird der Kommunismus durch das einheitliche und umfassende gesellschaftliche Eigentum an den Produktionsmitteln, durch die Aufhebung der Unterschiede zwischen den sozialen Klassen und Schichten, durch die Verwirklichung der sozialen Gleichheit gekennzeichnet sein. Im Sozialismus bestehen noch Unterschiede zwischen Stadt und Land, zwischen körperlicher und geistiger Arbeit, die mit Unterschieden im Arbeitseinkommen, in den Bedürfnissen und in der Möglichkeit ihrer Befriedigung sowie im Bildungs- und Kulturniveau verbunden sind. […] Der Sozialismus hebt den Klassenantagonismus auf, doch die gesellschaftlichen Schichten sind noch durch die Existenz unterschiedlicher werktätiger Klassen und Schichten bestimmt.“ Um die soziale Ungleichheit überwinden zu können, seien die „gesellschaftlichen Produktivkräfte“ zu stärken, um einen „Überfluß an materiellen Gütern zur Befriedigung der Bedürfnisse“ zu erwirtschaften. (Klaus/Buhr 1976a: 1116) Sobald dieses Ziel erreicht sei, ließen sich auch die kommunistischen Ideale – Freiheit, Selbstentfaltung durch schöpferische Arbeit, Solidarität sowie soziale Gleichheit – erreichen. Zur „Typenhaftigkeit“ der Figuren vgl. u. a. Treskow 1996: 263ff.
Braun: Hinze-Kunze-Roman
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stippt er „versonnen den Zeigefinger in das milchige Abendlicht und leckt[ ] ihn erwartungsvoll ab“ (Braun 1985: 8) – für seinen Fahrer die Anweisung, mit dem Wagen eine von Kunze anzusprechende fremde Frau zu verfolgen. Auch vor Hinzes Frau Lisa macht der Amtsträger nicht halt. Gewohnt, seine Bedürfnisse zu befriedigen, nimmt er auf die Befindlichkeiten seines Fahrers keine Rücksicht. Kunzes Anspruch auf Genuss manifestiert sich drittens und letztens in seiner „Einstellung zu Selbstverpflichtungen. Für notwendig erachteten beide [Hinze und Kunze, N.B.] sie, man mußte die persönlichen Interessen den gesellschaftlichen unterordnen. Aber Kunze nahm sich privat aus“ (Braun 1985: 33). Er stellt seine privaten Wünsche über das ‚gesellschaftliche Interesse‘. Die ohnehin am Drücker waren, sie mußten sich nicht selbst drücken, im Gegenteil: der schwere Stand, den sie hatten, mußte ihnen erleichtert werden. Sie dachten für alle, sie sollten auch an sich denken. Das waren persönlich die Besten, sie konnten das Beste haben, und es waren ja auch die wenigsten. (Braun 1985: 33)
Genausowenig wie zu sozialer Gleichheit hat der realexistierende Sozialismus zur Aufhebung der von Marx profilierten vier Formen der (Selbst-)Entfremdung geführt, so Brauns Diagnose. Das soll zunächst in Bezug auf das Arbeitsprodukt und den Produktionsprozess erläutert werden. Wie im Roman geschildert wird, hat Hinze – bevor er als Fahrer angestellt worden ist – als Dreher in einer Fabrik gearbeitet. Hinter ihm und neben ihm lagen die fertigen Teile, Kurbelwellen, Walzen, stapelten sich auf Paletten, wurden fortgezogen und blieben in seinem Kopf und kamen wieder auf weißen Listen, Stückzahlen, Sollmengen, an denen er gemessen wurde. Die sich drohend hinter ihm erhoben. Die ihm im Nacken saßen. Totes Zeug, das ihn nichts anging, von dem er abhängig war! […] Sie [die Maschine, N.B.] zwang ihn zu immer denselben Bewegungen, die er spielerisch, wie ein Tänzer vollführte, oder wie ein Affe, am späten Vormittag, wie ein Idiot! […] In diesen Momenten ahnte er, worum es hier ging. Das war kein Sport, das war grausamer Ernst. Diese lebendigen Leute hier, Spitzendreher, Bestarbeiter, standen im Krieg gegen tote Dinge, die sich anhäuften, das Vergangne, das Erloschene, das sich wie Lava in die Halle wälzte. (Braun 1985: 82f.)
Das Zitat zeigt, dass es den Arbeitern nicht möglich ist, sich durch schöpferische Arbeit frei zu entfalten. Marx’ Monitum, dass das Proletariat im Kapitalismus „seine Physis abkasteit und seinen Geist ruinirt“ (Marx 2009: 87), ließe sich auch auf Hinzes Arbeitsalltag beziehen, muss er in der Fabrik doch immer die gleichen stupiden, körperlich anstrengenden Tätigkeiten verrichten. Damit kann sich Hinze zunächst allerdings noch arrangieren. Er leidet vor allem unter der Entfremdung von den Produkten, die ihm als ‚fremde‘ Macht gegenüberstehen, nimmt er sie doch als sich anhäufende ‚tote Dinge‘ wahr, die ihn ‚nichts angehen‘ und von denen er ‚abhängig
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Koalitionen zwischen Herr und Knecht
ist‘ (vgl. Marx 2009: 85). Dennoch ist er zunächst gewillt, sich in der Fabrik zu engagieren, um die „überkommenen gesellschaftlichen Bedingungen umzugestalten und ensprechend den Grundinteressen der Arbeiterklasse neu zu schaffen“ (Klaus/Buhr 1976a: 1116). Schnell muss er allerdings die Erfahrung machen, keine Handlungsmacht zu besitzen, weil die „vergangen geglaubte[n] Machtstrukturen“ (Treskow 1996: 182) nach wie vor existieren und alle zentralen Entscheidungen außerhalb des Betriebs von einem undurchschaubaren Verwaltungsapparat gefällt werden. (Vgl. Braun 1985: 84f.) Zunehmend fühlt er sich daher auch vom Arbeitsprozess entfremdet. Ähnlich geht es Lisa, die Kunze über ihre Arbeit im Rechenzentrum berichtet: „Als Operator hier steh ick am Schalter, nehm den Job entgejen, der Betrieb jeht mir nischt an. […] Det is wie überall. Du mußt det doch wissen.“ (Braun 1985: 71) Auch sie kann sich in ihrer Arbeit nicht frei entfalten; die einzige Möglichkeit, selbstbestimmt zu agieren, ist die Sabotage. So erklärt sie Kunze: „Höchstens daß ick een Stromstoß simulier, Ausfall, Sense, und kann Kaffee kochen. Die Programmierer könn uns nischt beweisen. Wir sind ooch ne Macht.“ (Braun 1985: 72) Deutlich wird, dass sich die Entfremdung von der Arbeit im realexistierenden Sozialismus zumindest für die weniger Privilegierten nicht geändert hat – ein Widerspruch zur Staatsideologie, heißt es doch im Artikel Sozialismus und Kommunismus im marxistisch-leninistischen Philosophischen Wörterbuch: Im Sozialismus entwickelt sich eine Gemeinschaft freier Menschen, die durch gemeinsame, freie und schöpferische Arbeit sowie durch die Ideale der sozialistischen Moral – sozialistischer Internationalismus und Patriotismus, das Verantwortungsbewußtsein gegenüber der Gesellschaft, Liebe zur Arbeit und zu den arbeitenden Menschen, sozialistische Arbeitsdisziplin – verbunden sind. (Klaus/ Buhr 1976a: 1115)
Dieses Missverhältnis wird von den Arbeitern als Belastung erfahren, weil sie das „Bewußtsein“ haben, „aber die Arbeit wie eh und je. Das ist ja der Beschiß“ (Braun 1985: 31), so Hinze im Dialog mit Kunze. Genauso wie von den Produkten und dem Produktionsprozess sind die Figuren auch von ihrem Gattungswesen und von anderen Individuen entfremdet. Das manifestiert sich wie in Brechts Volksstück erstens in den weniger emotionalen als zweckrationalen zwischengeschlechtlichen Beziehungen. So kann Kunze seine sexuellen Triebe nur deshalb befriedigen, weil er den von ihm begehrten Frauen Privilegien oder berufliche Aufstiegschancen in Aussicht stellt (vgl. u. a. Braun 1985: 38). Er betrachtet sie primär als käufliche Objekte, was etwa in seiner Entscheidung zum Ausdruck kommt, Hinze seine Geliebte Lieselotte zu übereignen (vgl. Braun 1985: 105) Im Gegensatz zu Kunze kann Hinze – wie der Knecht in Hegels und Marx’
Braun: Hinze-Kunze-Roman
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Modell – seine Bedürfnisse nicht befriedigen. Selbst zur Askese gezwungen, macht er die ‚Dinge‘ für seinen Herrn genussfertig, indem er die von ihm begehrten Frauen mit dem Auto verfolgt oder ihm seine Geliebte Lisa überlässt. Dass er sie – genauso wie Kunze – verdinglicht, wird schon zu Beginn des Handlungsverlaufs deutlich, als er Lisa von hinten „mit einem zärtlichen Blick aber mit den Händen nur ihre Schenkel“ (Braun 1985: 15) umfasst, in der Hoffnung auf sofortigen Geschlechtsverkehr. Ihren Vorwurf, dass er sich um seinen Wagen mehr bemühe als um sie, begreift er nicht. Stattdessen bedauert er, nicht zum Ziel gekommen zu sein und seinen zärtlichen Blick „verschenkt“ (Braun 1985: 15) zu haben. Daraufhin wendet er sich seinem Dienstwagen zu, ein ‚Lustobjekt‘, das ihn genauso erregt wie seine Frau (vgl. Braun 1985: 16). Die Entfremdung der Subjekte von ihrem Gattungswesen kommt zweitens in der paradoxen Figurenkonzeption von Hinze und Kunze zum Ausdruck. Auch wenn Kunze das Privileg besitzt, seine Begierden befriedigen zu dürfen, ist er – ähnlich wie die Herren bei Hegel und Brecht – als eine Figur im Selbstwiderspruch konzipiert, sehnt er sich doch nach der Anerkennung eines gleichrangigen Gegenübers, ohne als Herr in Frage gestellt zu werden. Davon zeugt seine Hypersexualität, insbesondere sein Interesse an Lisa. An ihr fasziniert Kunze: Vor diesem Luder zähl ich nicht, nicht mehr als mein Fahrer (Kunze: heiter dem Gedanken nach). Wir sind gleich. Sie ist eine fantastische Frau, eine utopische Körperschaft, wer ihr nahe kommt wird ausgezogen, seiner Würde entkleidet, fliegt glatt aus dem Amt […]! (Braun 1985: 51)
Deutlich wird, dass sich Kunze von Lisa die Aufhebung sozialer Ungleichheit erhofft. Aus diesem Grund flüchtet er bei ihrer ersten Begegnung aus der Wohnung, als sie sich vermeintlich devot vor ihn hinkniet und ihn fragt, ob sie etwas für ihn tun könne (vgl. Braun 1985: 23f.). Zugleich beunruhigt Kunze die Infragestellung seiner sozialen Position, weil er sich nicht vorstellen kann, als gleichrangige (Privat-)Person von anderen anerkannt und geliebt zu werden. So fragt er sich: Was hatte er Lisa zu geben? […] Ja, mit der Gesellschaft, mit dem Staat hatte er immer ein rundes Angebot, ein ganzes Programm, für die nächsten zehn Jahre. Damit konnte er viele beeindrucken, und einige überzeugen von sich. […] Aber von dir selber Kunze, was nimmt sie dir ab aus deinen Beständen? Wofür liebt sie dich liebt sie dich? Er suchte blindwütig […] zwischen den Fußsteigen hin- und hergetrieben, auf der leeren Schönhauser sich selbst, der mit ihm mitlief, den er nicht sah, weil er mitlief, mitlief – (Braun 1985: 143f.).
Von Kunzes Selbstwiderspruch – seinem „Wunsch nach Überwindung sozialer Unterschiede“ bei „gleichzeitige[r] Forderung nach Anerkennung derselben“ – zeugt auch seine Beziehung zu Lieselotte. (Kirchner 2002:
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Koalitionen zwischen Herr und Knecht
136) Dass sie ihn nicht als Amtsinhaber, als Herr, anerkennt, fasziniert und schreckt ihn zugleich: Aber seine Funktion interessierte Lieselotte nicht: das war es, was ihm gefiel […]. Seine Stellung, auf die sie spitzig pfiff – er hatte sie aber innerlich inne, eben deshalb! Er gab sie nicht auf in Gedanken im Bett. (Braun 1985: 99)
Dieses Paradox lässt sich nicht aufheben, auch nicht im Geschlechtsverkehr, durch den sich Kunze „in-eins“ (Braun 1985: 113) zu kommen erhofft. Am Ende muss er realisieren: „[S]o geht es zu in den Betten. Einer dominiert, der andere unterwirft sich: liebend gern; von Gleichheit keine Spur zwischen den Laken“ (Braun 1985: 126).6 Genauso wie Kunze ist auch Hinze als eine Figur im Selbstwiderspruch konzipiert. Wie Jacques, der Fatalist, und Brechts Chauffeur Matti ist er seinem Herrn intellektuell überlegen. Das wird von Kunze neidisch anerkannt, der „immer wieder über Hinzes Expertentum“ (Braun 1985: 77) staunt. Sein profundes Bildungswissen ist aber nicht mit einem ‚wahrhaften‘ Selbstbewusstsein gleichzusetzen. Der Roman zeigt vielmehr in kritischer Auseinandersetzung mit Hegel, dass es Hinze nicht gelingt, sich durch die Arbeit zu emanzipieren. Wie der Erzähler betont, macht Hinze als Dreher in der Fabrik eine sensationelle Entdeckung. Es gab nichts außer ihnen selbst, was ihrem Leben Sinn gab. Was sie nicht waren und taten und entschieden, war der Tod. Er hielt in der Arbeit inne […] Er wußte nicht, wann der Kampf begonnen hatte. Aber alles deutete darauf hin, daß eine Entscheidung fallen mußte. So oder so; denn der Kampf hatte alles und jeden bis in die Fasern ergriffen. Entweder würden sie in den mächtigen eisernen Bedingungen verschwinden, oder sie müßten sie zerbrechen, wie der Falter die Larve sprengt. […] Er blickte starr in die Halle hinein, er konzentrierte sich auf das Ende. Die ahnungslose Truppe putzte die Schlitten vor Feierabend, vom Fight gezeichnete Gestalten. Er stellte sich das Finish vor, ein sagenhaftes Jahrtausend. Er ging durch das Tor hinaus, mit allen anderen durch die akkurate neonbeleuchtete Unterführung. Er schritt aus, […] ein Krieger, der den Tod gesehn hat, am gestreckten Arm die Faust geballt um die Lohntüte. (Braun 1985: 85f.)
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Auf dieses „Grundparadox“ – Kunzes „Traum von einer herrschaftsfreien Gemeinschaft bei gleichzeitiger Unfähigkeit zur Anerkennung anderer als gleichberechtigt aus Angst vor Herrschaftsverlust“ (Kirchner 2002: 138) – hat bereits Verena Kirchner hingewiesen und zu Hegels Herr-Knecht-Dialektik in Bezug gesetzt. So erklärt sie: „Kunzes Wollen und Tun stehen im paradoxen Widerspruchsverhältnis, identisch mit dem des Herrn bei Hegel, der durch die Unterwerfung des anderen das genaue Gegenteil dessen erreicht, was er anstrebt. In beiden Fällen ist die Befriedigung der Begierde nur möglich über die Anerkennung der Selbständigkeit des anderen, und gerade nicht, indem der andere als nichtig begriffen und auf ein Mittel zum Zwecke reduziert wird.“ (Kirchner 2002: 139)
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Das Zitat zeigt, dass Hinze der Wert seines Lebens ähnlich wie dem Knecht in Hegels dialektischem Modell durch die Auseinandersetzung mit dem Tod bewusst wird. Diese Erkenntnis ist für Hegel eine Voraussetzung für die Entwicklung von Selbstbewusstsein und damit für die Emanzipation des Knechts, für Hinze bleibt sie allerdings folgenlos. Warum? Schon Verena Kirchner hat darauf hingewiesen, dass in „Hinzes Wahrnehmung […] Individuum und Kollektiv verschmolzen“ (Kirchner 2002: 149) bleiben. Das wird allein durch die oben verwendeten Personalpronomina ‚ihnen‘ und ‚sie‘ deutlich. Hinze ist irrtümlich davon überzeugt, dass ‚alle anderen‘ mit ihm gemeinsam für eine nach kommunistischen Prinzipien organisierte Gemeinschaft und gegen die machterhaltenden Institutionen kämpfen – „Produkte langjähriger Arbeit von oben herab, die sich in der Landschaft festgesetzt hatten wie ägyptische Pyramiden“ (Braun 1985: 85). Dabei durchschaut er nicht, dass die gesellschaftlichen Machtstrukturen entgegen der offiziellen Staatsideologie von Menschen willentlich aufrechterhalten werden, es somit kein kollektives Interesse gibt. Es ist deshalb konsequent, daß Hinze den Gedanken an eine revolutionäre Beseitigung des autoritären Staatsapparates sofort ausschließt. […] Hinzes ‚Emanzipation‘ bleibt im ideologisch vorgegebenen Rahmen, schreibt den Status quo fest. (Kirchner 2002: 150)
Der Roman setzt sich aber nicht nur mit Hegel, sondern auch mit Marx kritisch auseinander. Im Bild von der ‚um die Lohntüte geballten Faust‘ wird deutlich, dass die Arbeitenden auch im realexistierenden Sozialismus politisch ohnmächtig und ökonomischen Zwängen ausgesetzt sind, so dass sie ein (selbst-)entfremdetes Leben führen müssen.7 In dem Gefühl, politisch handlungsunfähig zu sein, unterwirft sich Hinze seinem Herrn.8 Darin unterscheidet er sich von Diderots Dienerfigur, die sich zwar als Fatalist bezeichnet, aber aktiv agiert. Von Kunze erwartet Hinze „Einsatz für die Überwindung der Herrschaft (genau für diesen Einsatz anerkennt er ihn als Herrn)“ (Kirchner 2002: 151).9 Er soll ihn vom Sozialismus hin zum Kommunismus führen. Zur Realisierung dieses Ziels ordnet er sich Kunzes Willen – auf die ‚bessere Zukunft wartend‘ (vgl. Braun 1985: 68) – vollständig unter. Das zeigt sich zum einen in seinem Verzicht darauf, für seine privaten Interessen einzutreten, überlässt er seinem ‚Chef‘ doch Lisa und die Vaterschaft; zum anderen in seiner ‚politischen Apathie‘ (vgl. Kirchner 2002: 151). Während er als Dreher
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Vgl. dazu auch Kirchner 2002: 150. Ähnlich argumentiert Wolff 1990: 68. Vgl. Braun 1985: 114f.
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noch einen „Spaß“ daran gehabt hat, „Vorschläge hinzublättern und die anmaßenden Referenten in ihren Quark zu stippen“, verweigert er sich jetzt jeder politischen Diskussion. (Braun 1985: 84) Wenn er gefragt war, war er nicht ansprechbar. Er mußte den Wagen waschen. Der Dienst war sein Brot, das kaute er geflissen. Mit vollem Mund konnte er nicht reden. […] KUNZE Hilf mir regieren, Mensch! HINZE Laß man. Ich steh so im Streß. (Braun 1985: 25)
Wie die Ausführungen zeigen, befindet sich Hinze genauso wie Kunze im Selbstwiderspruch: „Zur Überwindung von Ohnmacht akzeptiert [und verteidigt, N.B.] er einen Zustand völliger Ohnmacht“ (Kirchner 2002: 152). Da Hinze an seiner ‚Knechtschaft‘ mit „Demut“ (Braun 1985: 25) hängt und Kunze als Herr nicht in Frage gestellt werden will, bilden beide eine Koalition, in der sie sich gegenseitig in ihre „Rollen“ verweisen, „immer der eine den andern, und der andre mit; und so blieben sie beieinander“. (Braun 1985: 26) Dass es sich um eine interdependente Herrschaftsbeziehung handelt, wird im Handlungsverlauf mehrfach hervorgehoben: Hinze will von Kunze geführt werden – ganz im Gegensatz zu Jacques, der seinen Herrn führt, – und Kunze will von Hinze als Herr und als gleichrangiges Gegenüber anerkannt werden (vgl. Braun 1985: 117). Die Herrschaftsbeziehung wird allerdings vom Erzähler und seinen beiden Protagonisten – ähnlich wie in Diderots Roman – als Freundschaft deklariert. Das hat zwei Gründe. Zum einen muss das Machtverhältnis aus ideologischen Gründen negiert werden, wird im realexistierenden Sozialismus doch die soziale Gleichheit propagiert. Zum anderen ist die Verbrämung Ausdruck und erhoffte Aufhebung ihres jeweiligen Selbstwiderspruchs. Indem Kunze seinen Chauffeur als Freund tituliert, kann er sich einbilden, von einem gleichrangigen Gegenüber (als Herr) anerkannt zu werden. Im Unterschied dazu kann sich Hinze über seine politische und private Ohnmacht hinwegtäuschen. Als Kunzes Freund kann er sich der Illusion hingeben, die Politik des Landes mitzugestalten, zumal er davon ausgeht, dass Kunze und er die gleichen Interessen vertreten. Vor diesem Hintergrund prahlt er im Wirtshaus: „In meinem Wagen, da weiß ich mal, wer mich regiert. Da sitz ich näher bei der Macht, da rede ich ein Wörtlein mit. Ohne Horror, Fritz. Da ändern wir die Welt.“ (Braun 1985: 69) Zudem kann er zu Gunsten eines Freundes leichter auf die Realisierung der eigenen Wünsche verzichten. Trotzdem ist die Beziehung zwischen Hinze und Kunze instabil und nicht konfliktfrei. Sie wird von den Figuren erstens diskursiv in Frage gestellt. So heißt es in einem Gespräch darüber, „warum wir es so gut miteinander aushalten“ (Braun 1985: 155):
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KUNZE Siehst du, wir haben die gleichen Interessen. HINZE Weshalb wir Freunde sind. Prost. […] KUNZE (nach einer Pause:) Vielleicht sollten wir die Arbeit tauschen. HINZE Und heute habe ich dich gefahren, morgen fährst du mich und ich walte deines Amtes. KUNZE Das könnte mir so passen! […] Vielleicht sollte ich mich selber fahren. […] HINZE Vielleicht sollte der Wagen keinen Fahrer brauchen. (Pause.) Aber braucht deine Arbeit mich? (Braun 1985: 156f.)
Hinze und Kunze behaupten zunächst, gleichrangige Freunde zu sein. Aus diesem Grund könnten sie ihre Arbeit sofort tauschen, so das Gedankenspiel. Im Dialog wird sich Hinze allerdings darüber bewusst, dass der nach wie vor existente Gegensatz von privilegierter Funktionselite und breiter Masse dem proklamierten Ideal der sozialen Gleichheit widerspricht. Die wird es erst geben, wenn ‚Kunzes Wagen keinen Fahrer mehr braucht‘. Daran schließt sich aber die Frage an, ob die Regierenden überhaupt bereit wären, ihre Macht zu teilen – eine Frage, die unbeantwortet bleibt und keine Konsequenzen für den weiteren Handlungsverlauf hat. Die Freundschaft zwischen Hinze und Kunze erweist sich zweitens durch die „Realität“ (Braun 1985: 166) – durch ihre in Wahrheit differierenden Interessen – als brüchig. Als Kunze von Hinze fordert, auch Lisa zu chauffieren, eskaliert die Situation. Hinze weigert sich, wird aggressiv und versucht sogar, Kunze seine Arbeitsbedingungen zu diktieren. Im Unterschied zu Diderots Titelfigur, der es gelingt, ihre Rechte und Pflichten vertraglich festzulegen, scheitert Hinze aber. Seine Versuche, sich zur Wehr zu setzen, enden mit einem von Kunze erzwungenen Handschlag, mit dem die Koalition von Herr und Knecht erneut bekräftigt wird, und mit der Zurechtweisung durch einen Polizisten. Eine Aufhebung des bestehenden Herrschaftsverhältnisses ist für Hinze unmöglich. Das wird nochmals am Ende des Handlungsverlaufs illustriert, als Herr und Knecht eine Übung zum Schutz vor einem möglichen Atomangriff durchführen und sich dafür in einem unter Kunzes Grundstück liegenden Schutzraum verbarrikadieren. Hier ändert sich die Qualität ihrer Beziehung: Plötzlich entsteht ein „vertrauensvolles, kameradschaftliches Verhältnis“, weil sich Hinze von Kunze „wirklich angesprochen“ und als gleichberechtigtes Gegenüber anerkannt fühlt. (Braun 1985: 183) Die Situation gipfelt in der Unterwerfung des Herrn unter den Knecht und damit in der Aufhebung der Herrschaftsbeziehung. So berichtet der Erzähler: Immer waren es ja die Leitungen gewesen, deren Position innerlich gefestigt werden mußte, die Vertrauen brauchten – jetzt war es umgekehrt, er [Kunze, N.B.] ging dem Beschissenen [Hinze, N.B.] zur Hand. Und doch fühlte er sich sicher wie nie in seiner Haut, nicht des Betons wegen, sondern weil ihr Verhältnis seine richtige, dauerhafte, eine neuartige Form gefunden hatte, in der es ewig bestehen konnte. In der ihr unvermeidlicher Umgang es nicht unterwühlte sondern beto-
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nierte. Durch die […] bewußte, aufopferungsvolle Haltung, ihre übertriebene Freundschaft. In der dritten Nacht, als sie sich, mit Schutzmasken, schon einige Zeit im Freien aufzuhalten wagten, ließ Kunze den seinen hinter einem niedrigen Erdwall in Deckung gehn, der Länge nach, mit den Füßen in Richtung Kernschlag, und legte sich – wieder die Übertreibung – auf ihn, deckte ihn mit seinem ganzen Leib, umarmte ihn, hielt ihn sicher und warm – (Braun 1985: 186f.).
Braun rekurriert hier auf Leo N. Tolstois Erzählung Herr und Knecht und dessen utopisches ‚Aufhebungsmodell‘ von Herr- und Knechtschaft (vgl. III.2). Als sich Tolstois Figurenpaar im Schneegestöber verirrt und der Knecht Nikita zu erfrieren droht, rettet ihm sein Herr Brechunow das Leben, indem er sich mit seinem warmen Körper auf ihn legt. In der Extremsituation gelingt es ihm, seinen Egoismus zu überwinden, Mitleid und Nächstenliebe zu empfinden und sich und Nikita als Teil eines allumfassenden göttlichen Willens zu begreifen. Genauso wie Brechunow seinem Knecht unterwirft sich Kunze seinem Fahrer, indem er ihn mit seinem ganzen Leib vor einem möglichen Strahlentod zu schützen sucht. In diesem Moment realisiert er, auf Hinzes, ihn als Herr bestätigende Anerkennung nicht angewiesen zu sein – eine Voraussetzung für die Auflösung seines Selbstwiderspruchs und somit für ‚wahrhafte‘ Souveränität. Diese ‚neuartige Form‘ ihres Verhältnisses lässt sich allerdings nicht stabilisieren, fühlen Hinze und Kunze doch „in diesem Augenblick […] einen körperlosen Schatten zwischen sich fallen, lautloses Dazwischenschlagen“ (Braun 1985: 187). Damit wird die Möglichkeit von Herrschaftsfreiheit im Unterschied zu Tolstois Erzählung negiert. Es sei festgehalten, dass Diderots Jacques der Fatalist und sein Herr als Modell für den Hinze-Kunze-Roman fungiert. Davon zeugt neben der Erzählstruktur die Problematisierung der Freundschaft zwischen Herr und Knecht.10 Darüber hinaus fragt Braun im Anschluss an Diderot nach der Freiheit des Subjekts im realexistierenden Sozialismus. Wie dort hängt das Thema auch hier eng mit dem Herr-Knecht-Diskurs zusammen, weil die „Gleichheitsforderung, um die es Braun bei der Darstellung des Verhältnisses von Hinze und Kunze geht, nach marxistischem Verständnis eine Voraussetzung für die Freiheit des einzelnen in der Gemeinschaft“ (Treskow 1996: 357) ist. Während sich Diderot aber mit der Willensfreiheit auseinandersetzt, fragt Braun nach der Denk- und Handlungsfreiheit des Subjekts in der DDR-Diktatur.
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Vgl. ausführlich dazu Treskow 1996, die überzeugend herausgearbeitet hat, dass und wie Diderots Jacques der Fatalist und sein Herr als Modell für den Hinze-Kunze-Roman fungiert.
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Unter Freiheit wird im marxistisch-leninistischen Philosophischen Wörterbuch das „Verhältnis des Menschen zur objektiven Gesetzmäßigkeit (Notwendigkeit) in Natur und Gesellschaft“ verstanden. Freiheit besteht in der Einsicht in die objektive Notwendigkeit und in der darauf beruhenden Fähigkeit, die Gesetzmäßigkeiten der Natur und Gesellschaft mit Sachkenntnis bewußt anzuwenden und auszunutzen, um eine wachsende Herrschaft über sie zu erlangen. Die Freiheit schließt auch die ökonomischen, politischen, rechtlichen und ideologischen Bedingungen ein, die hierzu erforderlich sind, weshalb sie einem geschichtlichen Entwicklungsprozeß unterliegt. (Klaus/ Buhr 1976b: 423)
Wie ist das gemeint? Marx und nach ihm die Vertreter der marxistischleninistischen Ideologie sind davon überzeugt, dass sich die Gesellschaft notwendig hin zum Kommunismus entwickeln wird. Vor diesem Hintergrund vertreten sie die Position, dass die Menschen erst dann ‚wahrhaft‘ frei sein können, wenn sie diese „objektive[ ] Gesetzmäßigkeit“ (Klaus/ Buhr 1976b: 424) (an-)erkennen und sich aktiv für die Realisierung einer nach kommunistischen Prinzipien organisierten Gemeinschaft einsetzen. Indem wir die Notwendigkeit erkennen und zweckvoll benutzen, indem wir das objektiv Notwendige wollen und entsprechend handeln, hört die Notwendigkeit auf, blind zu wirken, ist sie in der Freiheit aufgehoben, aufbewahrt und verwandelt sich in diesem Sinne in Freiheit, ohne indessen aufzuhören, Notwendigkeit zu bleiben. (Klaus/Buhr 1976b: 424)
Die Entwicklung hin zur Freiheit begreifen die Ideologen also als einen „geschichtliche[n] Prozeß“ hin zum Kommunismus. Schon im Sozialismus „als der ersten Entwicklungsphase der kommunistischen Gesellschaftsformation“ können sich die Menschen allerdings frei entfalten, weil sie nicht mehr vom Kapital beherrscht werden, sondern das gemeinschaftliche Leben den ‚objektiven Notwendigkeiten‘ folgend gestalten können. „In diesem Prozeß erweitert und vertieft sich zugleich auch die individuelle Freiheit der Menschen“, so die Ideologen. (Klaus/Buhr 1976b: 424, 425) In Bezug auf die Hinze-Figur wird die Frage nach der Freiheit des Subjekts vor allem in der Werkskantine gestellt, in der Hinze gezwungen ist, zwischen vier verschiedenen Gerichten zu wählen, und in der sein Verhalten vom Erzähler und den fiktiven Lesern kommentiert wird. Auf die Frage der fiktiven Leser, was Freiheit sei, antwortet der Erzähler zunächst linientreu: „Freiheit, das ist Einsicht in die Notwendigkeit und dementsprechendes Verhalten. […] Die Notwendigkeit zu wählen zwischen Erbsen, Vanillenudeln und Rippchen mit Sauerkraut. Die Notwendigkeit ist die Voraussetzung seiner Freiheit“ (Braun 1985: 41). Der marxistisch-leninistische Freiheitsbegriff wird hier satirisch auf das Essen bezogen und erscheint hier als „Möglichkeit der Willensentscheidung unter Berücksichtigung der vorgegebenen Situation“ (Treskow 1996: 358).
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Hinze ist allerdings nicht daran gewöhnt, sich entscheiden zu müssen; zögerlich greift er zum Gulasch, in dem er aber nur lustlos herumstochert, weil er sich fragt, wie wohl die anderen Wahlessen schmecken würden. Kritisch konstatiert der Erzähler: Je freier Hinzes Urteil in Beziehung auf das Menü, mit desto größerer Notwendigkeit wird der Inhalt seines Urteils, Nudeln, Erbsen, Gulasch, bestimmt sein; während die auf Unkenntnis beruhende Unsicherheit, die zwischen Erbsen, Nudeln und Rippchen scheinbar willkürlich wählt, eben dadurch ihre Unfreiheit beweist, ihr Beherrschtsein von dem Gegenstande […]. Freiheit besteht in der auf Erkenntnis der Naturnotwendigkeit gegründeten Herrschaft über uns selbst und über – (Braun 1985: 42).
Wie Treskow herausgestellt hat, parodiert der Erzähler hier Friedrich Engels’ Ausführungen zur Willensfreiheit im Anti-Dühring. Dort heißt es: Freiheit des Willens heißt daher nichts andres als die Fähigkeit, mit Sachkenntniß entscheiden zu können. Je freier also das Urtheil eines Menschen in Beziehung auf einen bestimmten Fragepunkt ist, mit desto größerer Nothwendigkeit wird der Inhalt dieses Urtheils bestimmt sein; während die auf Unkenntniß beruhende Unsicherheit, die zwischen vielen verschiedenen und widersprechenden Entscheidungsmöglichkeiten scheinbar willkürlich wählt, eben dadurch ihre Unfreiheit beweist, ihr Beherrschtsein von dem Gegenstande, den sie gerade beherrschen sollte. Freiheit besteht also in der auf Erkenntniß der Naturnothwendigkeiten gegründeten Herrschaft über uns selbst und über die äußere Natur. (Engels 1988: 312)
Durch den intertextuellen Verweis wird erstens illustriert, dass Hinze im marxistisch-leninistischen Sinn unfrei ist. Anstatt sich mit ‚Sachkenntnis‘ für eins der Gerichte zu entscheiden, ist sein Handeln von ‚Unkenntnis‘ und ‚Unsicherheit‘ geprägt. Auf diese Weise wird die marxistischleninistische Ideologie in Frage gestellt, kann sich das Subjekt im realexistierenden Sozialismus doch offenbar nicht frei entfalten. Durch die parodistische Applizierung der Freiheitstheorie auf die triviale Alltagsrealität wird zweitens eine „tiefe Skepsis gegenüber dem Anspruch der Verfechter des dialektischen Materialismus“ deutlich, „alle Vorgänge mit ihrer Theorie erklären zu wollen.“ Denn die ideologiegetreuen Kommentare des Erzählers werden aufgrund der Inkongruenz zwischen „dem Alltäglich-Gewöhnlichen und dem Erhabenen der Philosophie“ der Lächerlichkeit preisgegeben. (Treskow 1996: 361) Drittens und letztens wird der Dogmatismus des MarxismusLeninismus massiv kritisiert. Als sich Hinze in der Kantine „die Freiheit nimmt, von allem zu fressen“, und noch einmal zur Essensausgabe läuft, wird er vom linientreuen Erzähler als ‚unfrei‘ und als „uneinsichtige[r] Fantast“ abqualifiziert. (Braun 1985: 42, 43) Unwillig, andere Freiheitskonzepte zu akzeptieren, ist für ihn nur derjenige „einsichtig und frei“, der
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die ‚richtige‘ Erkenntnis hat und im Rahmen der ihm vorgesteckten Grenzen bleibt. Wer die Grenzüberschreitung wagt, wer sich nicht nach dem ungeschriebenen Gesetz des Maßhaltens in der Werkskantine, das heißt, politisch gesehen, an das von der Partei vorgegebene Verhaltensmuster hält, wird für ‚unfrei‘ erklärt. Das Postulat vom Vorrang der objektiven gesellschaftlichen vor den subjektiven Interessen des einzelnen zieht nach sich, daß die ‚richtige‘ Erkenntnis, die Einsicht in die bindende Notwendigkeit der Parteioperationen als Freiheit gilt, unabhängig von den womöglich abweichenden Vorstellungen der Bürger. (Treskow 1996: 363)
Hinze ist aber nicht deswegen unsouverän, weil er ‚aus der Reihe tanzt‘ (vgl. Braun 1985: 42), wie der Erzähler behauptet. Er handelt vielmehr deshalb fremdbestimmt, weil von ihm Einsicht in die „richtige Philosophie“ gefordert wird, obwohl sie „nicht das richtige Leben ist“. (Braun 1985: 43) Genauso unfrei wie der ‚geknechtete‘ Hinze ist der Parteifunktionär Kunze, obwohl er das Privileg besitzt, seine privaten Bedürfnisse im Namen des ‚gesellschaftlichen Interesses‘ befriedigen zu können. Das zeigt vor allem sein Auftritt im Kulturhaus. Hier läuft er zunächst wie „ein stämmiges Zirkuspferd, an einer unsichtbaren Leine gezogen, nach vorn an den rot gedeckten Präsidiumstisch“; später wiegt er seinen „festen Nacken wie ein Zugtier, vor den Betrieb gespannt“. (Braun 1985: 116f.) Einem domestizierten und dressierten Tier vergleichbar, ist Kunze auch als Funktionär nur eine ‚Marionette‘ des politischen Systems.11 Wie ausgeführt, problematisiert Brauns Roman im Rekurs auf Diderot vor allem die von der dogmatischen Staatsideologie proklamierte soziale Gleichheit und damit die vermeintliche Freundschaft zwischen Herr und Knecht sowie die begrenzte Denk- und Handlungsfreiheit im politischen System. Mit Diderot und Brecht verbindet Braun außerdem die aufklärerische Wirkungsintention. Wie die genannten Autoren zielt er auf die Erziehung der Rezipienten zur Mündigkeit, indem er die herrschenden (partei-)politischen und (staats-)philosophischen Positionen zur Diskussion stellt. Daher plädiert auch er gegen ‚Einfühlung‘ und Illusion und für eine verstandesgeleitete Verarbeitung des Gelesenen. Das manifestiert sich in der literarästhetischen Gestaltung des Romans, der ebenso wie die bislang analysierten Texte auf Illusionsstörung hin angelegt ist. Dabei dient Braun insbesondere Diderots Roman als literarisches Vorbild.
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Die Frage nach der Denk- und Handlungsfreiheit des Subjekts wird nicht nur auf der Ebene der Fabel – in Bezug auf die Figuren Hinze und Kunze – erörtert, sondern manifestiert sich auch auf der Ebene des Erzählens, so in aleatorischen Auslassungen, durch die der Eindruck erweckt wird, „die Zensur habe hier ganze Passagen getilgt“ (Mix 1993: 18, vgl. Braun 1985: 17), vor allem aber in der dezidierten Thematisierung von Zensur und Selbstzensur durch den Erzähler (vgl. Braun 1985: 17f., 61f., 166f.).
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Zu den illusionsstörenden Elementen zählt auch bei ihm die aus den zahlreichen Digressionen resultierende quantitative Entwertung der Fabel; außerdem die sokratische Ironie in Bezug auf die im Roman thematisierten poetologischen Positionen (vgl. I.1.1, I.1.3). Während Diderots Erzähler das romaneske mit dem historisch wahren Schreiben kontrastiert, stellt Brauns Erzähler die „Doktrin des sozialistischen Realismus“ (Rüther 21992: 44) der Darstellung der Wirklichkeit gegenüber.12 Er geriert sich als Berichterstatter, der vorgibt, sich „an das Leben“ (Braun 1985: 14) zu halten und keine fiktiven Figuren zu präsentieren. Dadurch gerät er allerdings häufig und unbeabsichtigt in Konflikt mit den kulturpolitischen Vorgaben des DDR-Regimes, so dass er sich gezwungen fühlt, das Erzählte zu korrigieren. Man denke etwa an die Passage, in der sich Lisa bei Kunze über ihre (entfremdete) Arbeit im männerdominierten Rechenzentrum beklagt – eine Fassung, die der Erzähler sofort zurückzieht, um eine zweite, ideologiegetreue Variante anzubieten (vgl. Braun 1985: 72f.). Zur Selbstkorrektur trägt außerdem die Orientierung des Erzählers an den „hauptamtlichen Leser[n]“ (Braun 1985: 148) bei. Er spricht sich beim Schreiben „mit der Hauptverwaltung“ ab und unterzieht sich freiwillig der „Diskussion“ im ‚Gremium‘, das als der Schriftstellerverband der DDR zu entschlüsseln ist. Dort nimmt er die Kritik an seinem Werk unter Selbstbezichtigungen entgegen […] und bezeichnet es selbst als einen ‚mißratenen Roman‘. Widerspruchslos akzeptiert er die Verbesserungsvorschläge, und als es dennoch nicht gelingt, ein Buch nach den geforderten „Strickvorlagen“ des sozialistischen Realismus zu verfassen, bekennt er am Ende, mit dem „Auftrag nicht zu Rande“ gekommen zu sein. (Treskow 1996: 91f.)
Wie Diderots literarische Vorlage zeichnet sich auch Brauns Hinze-KunzeRoman durch ein parodistisches, implizit metafiktionales Narrationsverfahren aus, das illusionsstörend wirkt, weil die ästhetischen, semantischen und ideologischen Muster sozialistisch-realistischer Literatur aufgerufen und zugleich negiert werden. Auf diese Weise wird den Rezipienten die Artifizialität des Textes bewusst gemacht. Genauso wenig wie an der „sozialistischen Parteilichkeit“ (Rüther 1991: 49) orientiert sich der Erzähler aber an der Wirklichkeit, wie er behauptet. So rekurriert er vielfach auf andere literarische Texte, so auf Diderots Roman, Brechts Volksstück oder auf Tolstois Erzählung Herr und Knecht.13 Zudem erweist sich der Erzähler als mimetisch unzuverlässig. Wie in Diderots Roman wird durch den Wechsel vom narrativen in den
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Dieser Aspekt ist von der Forschung vielfach analysiert worden, so etwa von Albert 1989, Köhler 1996, Mix 1998, Treskow 1996. Viele weitere literarische Texte, aber auch politische Reden oder Werke aus der Bildenden Kunst ließen sich anführen, vgl. dazu Köhler 1996: 120ff., Treskow 1996.
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dramatischen Modus suggeriert, dass der Erzähler als Augenzeuge ein authentisches Geschehen schildert, zumal er erklärt, sich mit Hinze und Kunze in der Sauna, im Schutzraum unter Kunzes Grundstück oder im Krankenhaus zu befinden.14 Diese Illusion wird im Handlungsverlauf aber ähnlich wie in Diderots Roman durch narrative Metalepsen destruiert.15 Auf diese Weise werden beide poetologischen Positionen – historisch wahres und sozialistisch-realistisches Schreiben – demontiert. Die metareferentiellen Kommentare des Erzählers wirken illusionsstörend, weil die histoire-Ebene zugunsten der discours-Ebene in den Hintergrund tritt. Auf diese Weise wird der Rezipient zur Reflexion aktiviert. Er soll durch die ‚aufklärerische‘ Lektüre ein ‚wahrhaft‘ souveränes Bewusstsein entwickeln – eine Voraussetzung zur Überwindung der Diktatur.16 Wie genau soll sich das Bewusstsein der Leser aber verändern? Auf der Handlungsebene des Romans finden sich Hinweise vor allem „bei traditionell gesellschaftlichen Außenseitern: bei Frauen und Künstlern“ (Kirchner 2002: 160) – in persona Lisa und der Künstler Hermann, wie nun zu skizzieren ist. Lisa fungiert als (ambivalente) Kontrastfigur zu Hinze und Kunze, weil sie die Unterwerfung unter einen fremden Willen genauso ablehnt wie die Herrschaft über andere. So wirft sie Hinze aus der Wohnung, als er ihr offenbart, dass er auf Kunzes Angebot, sich um sie zu „kümmern“, eingegangen sei. Abschätzig realisiert sie: „der is dem verfallen, […] nischt mehr da. Een jelbet kniffliges Jesicht. Grinst, duckt sich. Grinst immer noch, der Schuft. Der kuscht, der leckt den Wagen. Der braucht det. Der macht et mit.“ (Braun 1985: 63) Später beschwert sie sich beim Autor, Hinze als „Esel“ konzipiert zu haben, der sich von Kunze gegen Entgelt „striezen“ lasse. (Braun 1985: 174) Genauso wie von Hinzes ‚knechtischem Bewusstsein‘ distanziert sie sich auch von Kunzes Herrschaftsdenken, lehnt sie es doch trotz ihres sozialen Aufstiegs ab, sich von Hinze fahren zu lassen.17 Zeichen von Lisas egalitärer Haltung ist außerdem ihr Bedürfnis, selbstbestimmt zu agieren und von ihren Interaktionspartnern als gleichrangiges Subjekt anerkannt zu werden. So erklärt sie Kunze selbstbewusst: Mein Leben is meine Sache, mein Eijentum. Det verpacht ick nich. Und wenn det ausjebeutet wird, denn von mir. […] Een Mann, wenn ick den will, denn will ick
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Vgl. Braun 1985: 149f., 166, 171f., 187. Vgl. u. a. Braun 1985: 167, 173f. Zur aufklärerischen Wirkungsintention des Hinze-Kunze-Romans vgl. u. a. Treskow 1996: 64–69. Vgl. Braun 1985: 160: „ KUNZE Jetzt bist du oben. / LISA Uff. Na und? / KUNZE Jetzt wird er dich fahren. […] / LISA Er? Mir? Fahren? […] Da mach ick mir wat draus.“
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allet. Aber det muß er ooch. Der muß aus sich raus mitn Kopp, wo er an sich denkt. Der muß mir sehn. (Braun 1985: 48f.)
Trotzdem ist Lisa keine ‚wahrhaft‘ souveräne Figur. Obwohl Kunze auf ihren „Autonomieanspruch mit einem gewalttätigen [sexuellen, N.B.] Übergriff reagiert“ (Kirchner 2002: 161), lässt sie sich auf eine Affäre mit ihm und damit auf die Abmachung der beiden Männer ein. Dabei ordnet sie sich Kunze – zumindest sexuell – vollkommen unter. Die Frage ist nicht mehr, was sie will oder ob der Mann sie sieht. Jetzt ist sie stolz, daß Kunze kurzzeitig spontan handelt und nicht die Funktionärsrolle spielt – und erkennt ihm gleichzeitig völlige Handlungsmacht zu: „Sollte er drauflos leben los auf sie los! Und tun was ihm beliebt“ (Kirchner 2002: 162).18
Auch wenn Lisa für Gleichheit und Freiheit plädiert, gelingt es ihr nicht, sich zu emanzipieren und nach diesen Idealen zu leben. Das macht auch ihre Unterwerfung unter das politische System deutlich, willigt sie doch in die ihr von Kunze angebotene „Kaderschulung im In- und sozialistischen Ausland“ (Kirchner 2002: 162) ein.19 Wie Lisa ist auch der Künstler Hermann als Kontrastfigur zu Hinze und Kunze konzipiert. Jede Form von Herrschaft ablehnend, erklärt er: „Ich würde mich nicht fahren lassen. Und ich würde keinen fahren“ (Braun 1985: 137). Diese Haltung wird von Kunze zugleich abgelehnt und bewundert, weil er erkennt: „Der tat sich keinen Zwang an, bei dem griff die ganze Dialektik nicht.“ (Braun 1985: 137) Wie Treskow überzeugend herausgearbeitet hat, ist hier die Dialektik der Aufklärung von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno gemeint.20 Darauf verweist auch Hermanns ‚schönste Liebesgeschichte‘ in „scheinbar ungebundene[r] Rede“ (Treskow 1996: 128), die sich als zwei Sonette decodieren lässt und die als Kommentar zu Horkheimers/Adornos Interpretation des zehnten Gesangs der Odyssee gelesen werden kann.21 In der Dialektik der Aufklärung vertreten Horkheimer/Adorno die These, dass sich zu Beginn des neuzeitlichen Zivilisationsprozesses das instrumentelle Vernunftdenken durchgesetzt habe. Es diene der Selbstbe-
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Vgl. Braun 1985: 64. Dass es Lisa nicht gelingt, ein unentfremdetes Leben zu führen, betont Braun auch in seinen Arbeitsnotizen. Hier heißt es: „auch lisa, die kolportierte positive heldin, hat nicht die verwandelnde kraft, sie wird nur qualifiziert, als eine sozialistische emanze, mit konventionellem gemüt; sie kommt nicht zu sich in diesen armen beziehungen und ist zu wenig in generatives verstrickt, kommt nicht einmal bis zum ego-trip. die fabel ragt nicht in die utopie (erst der private schluß vielleicht).“ (Braun 1991: 223) Zur Bedeutung der Dialektik der Aufklärung für die DDR-Literatur Ende der siebziger Jahre vgl. Emmerich 1988. Vgl. Treskow 1996: 127–134.
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hauptung des Subjekts und manifestiere sich in der Herrschaft über die innere und die äußere Natur, was notwendig „Hierarchie und Zwang“ (Horkheimer/Adorno 1969: 27) impliziere. Vor diesem Hintergrund deuten Horkheimer/Adorno den zehnten Gesang der Odyssee als „ersten Schritt der Aufklärung, in dem das Subjekt sich als solches konstituiert“ (Treskow 1996: 131). Hier verwandelt die Göttin Kirke Odysseus’ Gefährten in Schweine – für Horkheimer/Adorno ein Bild dafür, dass die Männer zu triebhaftem Handeln verführt werden (vgl. Horkheimer/Adorno 1969: 77). Im Unterschied dazu gelingt es Odysseus, seine Triebe zu negieren. „Darum wird ihm gerade zuteil, was ihr [Kirkes, N.B.] Zauber nur trugvoll denen verheißt, die ihr nicht widerstehen. Odysseus schläft mit ihr.“ (Horkheimer/Adorno 1969: 80) Um seine Lust befriedigen zu können, muss sich Odysseus selbst beherrschen. Sein Ich „formiert sich im Sieg des Logos über die fremde, feindliche“ und über „die eigene Natur“ . (Treskow 1996: 132) Der Gesang illustriert nach Horkheimer/Adorno aber nicht nur die Konstitution des männlichen Subjekts, sondern auch die Unterwerfung der Frau unter den Mann, gehe doch ihre Kraft „über in ihre Hörigkeit dem gegenüber, der als Entsagender ihr die Unterwerfung aufkündigte“ (Horkheimer/Adorno 1969: 80f.). Damit repräsentiere Kirke den „ersten weiblichen Charakter“, der den Mann für ihre Unterwerfung mit dem Verbot bestrafe, sich ihr hinzugeben; und sie trage entscheidend zu der von Horkheimer/Adorno diagnostizierten „bürgerlichen Kälte“ und zur „weiblichen Selbstentfremdung in der patriarchalen Welt“ bei. (Horkheimer/Adorno 1969: 80, 81) In der Liebesgeschichte des Künstlers Hermann wird diese Grundkonstellation nun verkehrt. Hier fungieren die zum Festmahl geladenen Männer – Boten „deutscher Rechentechnik“ (Braun 1985: 130) – als Repräsentanten der von Horkheimer/Adorno kritisierten „szientifischen Gesinnung“. (Horkheimer/Adorno 1969: 32) Ihr sinnliches Erleben ist auf die Befriedigung ihrer Essens-„Gier“ (Braun 1985: 130) beschränkt. Im Unterschied dazu lässt sich Hermann von der schönen Gastgeberin ‚bezirzen‘. Sein Wunsch nach Verführung und lustvoller Hingabe manifestiert sich in seiner Imagination, von ihr als Spanferkel zubereitet zu werden. Allerdings leidet er unter dem „Zerteilen und Zuteilen, mithin Analysieren und Kategorisieren“ (Treskow 1996: 132) des Hausherrn, wie das ‚zweite Sonett‘ deutlich macht. In einem „intuitiven Akt“ (Treskow 1996: 133) gelingt es ihm schließlich, sich von dem ihn quälenden Vernunftdenken zu befreien und eine Nähe zu der schönen Frau herzustellen: Beide beginnen (füreinander) zu ‚brennen‘ (vgl. Braun 1985: 131). An die Stelle der (Selbst-)Beherrschung tritt in Hermanns Erzählung die Selbstbefreiung durch Selbstaufgabe. „Analog hierzu ist das Verhältnis von Mann und
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Frau nicht ein Kampf der Geschlechter, wie Horkheimer/Adorno die Begegnung von Kirke und Odysseus deuten, sondern einverständig.“ (Kirchner 2002: 167) Damit wird die Kunst im Roman ebenso wie in der Dialektik der Aufklärung als „besonderes Ressort“ (Braun 1985: 137) – als Gegenkraft zum ‚aufgeklärten‘ instrumentellen Denken und den daraus resultierenden sozialen Zwängen – vorgestellt.22 Das spürt auch Kunze. Als er einen Blick in die Zukunft wirft, sieht er hinter Hermann wieder Hermann und wieder Hermann, ein Cheruskerheer stieg aus dem Sumpf. Ungebundene Leute, lässige Künstler. Denn es ging offenbar auch so, man konnte so leben, nicht angesehn, aber man konnte arbeiten, ohne Weisungen und Direktive und Rückversicherung, ohne Rücksicht auf Position. Frei davon! (Braun 1985: 138)
Die Ausführungen zeigen, dass im Roman das männlich konnotierte zweckrationale Denken im Rekurs auf Horkheimer/Adorno verworfen wird. Erst eine Veränderung hin zu einer Integration der traditionell weiblich konnotierten Sinnlichkeit ins Bewusstsein kann zu einer Aufhebung der überholten Herrschaftsstrukturen führen. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum Braun der weiblichen Protagonistin Lisa, aber auch der „vernunftunabhängigen, sinnlich-ästhetischen Wirklichkeitswahrnehmung“ (Kirchner 2002: 168) des Künstlers Hermann eine revolutionäre Kraft zuschreibt. Diese These soll mit Blick auf zwei weitere Textpassagen verifiziert werden. Die den Roman kennzeichnende Idealisierung vermeintlich weiblicher Denk- und Verhaltensmuster macht vor allem die vom Erzähler in der Sauna geschilderte Fabel von den Schwänzen und den Löchern deutlich. Die in der politischen Sphäre agierenden Schwänze streben ausschließlich nach Macht und Anerkennung, zwei Ziele, die durch Pläne, Berechnungen und Systematisierungen – also durch zweckrationales Denken – und den Zwang zur „Konformität“ (Horkheimer/Adorno 1969: 19) realisiert werden sollen. Wie der Erzähler betont, resultieren daraus Entsinnlichung, Gewalt und Zerstörung (vgl. Braun 1985: 152f.). Dem setzen die Löcher weiblich konnotierte Qualitäten entgegen: Sie begegnen ihren „erbärmlichen […] Zipfeln“ mit Mitleid, Hilfsbereitschaft, Solidarität, Hingabe, „Lust und Liebe“ sowie der Proklamation von Individualität und Vielfalt. (Braun 1985 154, 152) „Innerhalb des fiktiven Raums stellt die Übertragung der von der Literatur angebotenen Erkenntnis in die Realität dann
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Vgl. Horkheimer/Adorno 1969: 25: „Das Kunstwerk hat es noch mit der Zauberei gemeinsam, einen eigenen, in sich abgeschlossenen Bereich zu setzen, der dem Zusammenhang profanen Daseins entrückt ist. In ihm herrschen besondere Gesetze. […] Als Ausdruck der Totalität beansprucht Kunst die Würde des Absoluten.“
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gar kein Problem mehr dar: Hinze und Kunze springen gemeinsam, ‚Hand in Hand‘, ins kalte Wasser“ (Kirchner 2002: 169). Die utopische Kraft der Kunst entfaltet sich hingegen insbesondere am Ende des Handlungsverlaufs. Hier fährt der Erzähler, sein „eigner Kutscher“, nach Dresden, um dort „die gefährlichsten Texte: Liebesgedichte“ zu lesen. (Braun 1985: 193) Brisant sind sie deshalb, weil sie sich der instrumentellen Vernunft entziehen, haben sie doch Sinnliches, NichtDiskursives zum Thema. Sie setzen „da ein, wo das Wissen die Menschen im Stich läßt.“ (Horkheimer/Adorno 1969: 25) Der Kunst kommt aber auch deshalb ein subversives Potential zu, weil sie mit Marx als ‚wahrhaft‘ schöpferische Arbeit kategorisiert werden kann. Im und durch den „Lust“ und „Vergnügen“ bereitenden künstlerischen Produktionsprozess lässt sich die (Selbst-)Entfremdung des Subjekts überwinden, was sich im Wunsch des Erzählers, sich mit den Anwesenden zu „verbrüdern“, d. h. in seinem Wunsch nach Aufhebung aller sozialen Hierarchien, manifestiert. (Braun 1985: 194) Die Distanz zwischen ihm – dem „aufs Podium erhoben[en]“ Dichter – und dem Publikum scheint zunächst allerdings unüberbrückbar zu sein, so dass er bekennt: „Eine ungleiche Lage, aus der wir uns entließen.“ Das ändert sich beim Anblick einer jungen Frau, durch den der Erzähler „aus der Maske“ fällt, die Selbstbeherrschung verliert und sich seinen Emotionen überlässt. (Braun 1985: 194) In diesem Moment wird er – der ‚Chef‘ – von seinem Chauffeur überfahren: „Und doch hätte ich mich umarmen mögen, den unvorsichtigen Fahrer, die gesengte Sau!“ (Braun 1985: 195)23 Wie das Zitat zeigt, wird der Herr-Knecht-Diskurs hier von der sozialen auf die intrapersonale Ebene verlagert, indem die „Vorsätze des denkenden bzw. planenden ‚Herrn‘“ mit dem das Subjekt ‚knechtenden‘ „präsentischen leiblichen Begehren“ kontrastiert werden. (StekelerWeithofer 2008: 205) Dem Erzähler gelingt es allerdings, Ratio und Emotio zu ihrem Recht kommen zu lassen, indem er verstandesgeleitet und selbstbestimmt agiert, ohne jedoch das Denken auf eine „mathematische Apparatur“ (Horkheimer/Adorno 1969: 33) zu reduzieren und ohne seine Sinnlichkeit zu verleugnen. Durch diese innere Wandlung ist ihm zumindest auf intrapersonaler Ebene die Aufhebung von Herr- und Knechtschaft und damit die Ausbildung eines ‚wahrhaft selbstständigen Bewusstseins‘ möglich. So lauten die letzten Worte des Erzählers: Ich wußte es, ich bin krank, ich kann jetzt nicht mehr weiter. […] Ich begreife mich nicht…Ich setze mich in den Wagen, mein eigner Fahrer, der sich anweist,
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Durch die Selbstbeschreibung als Sau wird die Begegnung zwischen Erzähler und junger Frau mit Hermanns ‚schönster Liebesgeschichte‘ parallelisiert.
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und selber denkt, und stiere stumm aus dem Fenster den Fremden nach. (Braun 1985: 195f.)
Rekapitulierend sei festgehalten, dass Braun im Hinze-Kunze-Roman problematisiert, dass die marxistisch-leninistischen Ideale – soziale Gleichheit, Freiheit, Humanität sowie freie Entfaltung durch schöpferische Arbeit – im realexistierenden Sozialismus der DDR nicht realisiert worden sind. Immer noch gibt es privilegierte ‚Herren‘ wie den Parteifunktionär Kunze, die genießen dürfen, und arbeitende ‚Knechte‘ wie den Fahrer Hinze, die gezwungen sind, ein asketisches Leben zu führen. Immer noch ist das Subjekt von der Arbeit und dem Arbeitsprozess entfremdet. Das verdeutlicht Hinzes stupide Arbeit in der Fabrik, wo er gezwungen ist, ihm fremde ‚tote‘ Produkte in Arbeitsteilung zu produzieren, und wo er erfahren muss, keinen Einfluss auf den Produktionsprozess nehmen zu können, weil nach wie vor alle relevanten Entscheidungen ‚von oben herab‘ getroffen werden. Genauso wie von der Arbeit sind die Figuren auch von ihrer Gattungsnatur und von anderen Individuen entfremdet. Das zeigt sich in den fast ausschließlich ökonomisierten, d. h. zweckrationalen zwischengeschlechtlichen Beziehungen und in der paradoxen Figurenkonzeption von Herr und Knecht. So sehnt sich Kunze ähnlich wie Brechts Puntila nach der Anerkennung eines gleichrangigen Gegenübers, ohne als Herr in Frage gestellt zu werden; und Hinze unterwirft sich einem fremden Willen mit dem Ziel, seine Ohnmacht zu überwinden. Im Unterschied zu den dialektischen Modellen von Hegel, Marx und Brecht gelingt es dem Knecht bei Braun also nicht, sich zu emanzipieren und ein ‚wahrhaft‘ selbstständiges Bewusstsein auszubilden. Im dezidierten Rekurs auf Diderot werden im Roman außerdem die Unfreiheit des Subjekts angesichts von Zensur und marxistisch-leninistischem Dogmatismus sowie die Unmöglichkeit einer Freundschaft zwischen Herr und Knecht thematisiert. Ziel ist – und auch hier lassen sich Parallelen zu Diderot und Brecht ziehen – die dialektische Negation der DDRDiktatur durch eine Veränderung des Bewusstseins. Im Roman wird mit Horkheimer/Adorno das instrumentelle, ‚männlich‘ konnotierte Denken für die bestehenden politischen und sozialen Missstände verantwortlich gemacht. Nicht mehr die Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel bildet im Sozialismus den Schlüssel zur Überwindung von Herrschaft, sondern die Herrschaftsstrukturen in der realsozialistischen Gesellschaft werden quasi zum ‚Nebenwiderspruch‘ einer patriarchalisch geprägten Weltordnung. Das Patriarchat ist das Problem, die Politik des Politbüros sein Symptom. (Kirchner 2002: 168)
Vor diesem Hintergrund wird weiblich konnotierten Denk- und Verhaltensmustern sowie der Kunst eine ‚revolutionäre‘ Kraft attribuiert. Zumindest ermöglicht die „Verbindung“ von „sinnlicher Erkenntnis“ und „intellektueller Einsicht“ die Aufhebung von Herr- und Knechtschaft im
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Subjekt, also die Überwindung der Spaltung von Ratio und Emotio auf intrapersonaler Ebene. (Treskow 1996: 393) Wie für Diderots Roman gilt aber auch für den Hinze-Kunze-Roman, dass die implizit vermittelten politischen und philosophischen Ansichten keinen dogmatischen Charakter haben. Vielmehr soll der Leser zu verstandesgeleitetem, selbstbestimmtem Denken und Handeln erzogen werden, ohne „die Macht der Vernunft“ (Treskow 1996: 385) zu verabsolutieren. * Ziel dieses Kapitels war die Profilierung einer zentralen Figuration interdependenter Herrschaft in der literarischen Diskussion seit der Aufklärung, nämlich die dialektische Negation politischer Systeme in Darstellungen von Koalitionen zwischen Herr und Knecht. In den analysierten Texten werden Herr und Knecht als Bündnispartner vorgeführt, die sich für eine bestimmte Zeit miteinander arrangieren, sich aber – trotz der bestehenden sozialen Rangunterschiede – in einem permanenten Aushandlungsprozess in Bezug auf ihre Rechte und Pflichten befinden. Genauso wie die Figuren ihre wechselseitige Abhängigkeitsbeziehung, wenn auch nur temporär, hinterfragen, soll auch der Rezipient das Herr-Knecht-Verhältnis kritisch reflektieren und durch vernunftgeleitetes Denken eine Alternative zum bestehenden politischen System bzw. zu den tradierten herrschaftstheoretischen Positionen entwickeln. Darauf verweist nicht nur die Handlungs-, sondern auch die Darstellungsebene, die in allen analysierten Texten auf Illusionsstörung und damit auf die Reflexion des Rezipienten hin angelegt ist. Zu bemerken ist, dass die Texte ähnliche Motive miteinander verbindet, insbesondere die Konzeption des Herrn und/oder Knechts als Figur(en) im Selbstwiderspruch; die Problematisierung der als Freundschaft deklarierten Willkürherrschaft und damit einhergehend die Forderung nach einer vertraglichen Regelung der Rechte und Pflichten von Herr und Knecht; nicht zuletzt die Frage der Denk-, Willens- und/oder Handlungsfreiheit des Subjekts. Das ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass Braun und Brecht auf Diderots modellbildenden Roman rekurrieren, den sie als Ausgangspunkt für die von ihnen kritisch diskutierten dialektischen Herr-Knecht-Modelle von Hegel und Marx begreifen.24
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Es sei festgehalten, dass Braun darüber hinaus Martin Walsers Seelenarbeit (1979) rezipiert hat (vgl. Braun 1986). In dem in Westdeutschland spielenden Roman ist das totale Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Chauffeur Xaver Zürn und seinem Chef, dem Fabrikanten Dr. Gleitze, strukturbestimmendes Thema. Da im Roman keine interdependente Herrschaftsbeziehung geschildert wird, ist er nicht Gegenstand dieser Untersuchung. Walsers Dramen sind wiederum stark von Brechts Theaterästhetik geprägt, so auch sein groteskes ‚Requiem für einen Unsterblichen‘ Überlebensgroß Herr Krott (1963). Von der For-
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Ob und inwiefern sich die hier vorgestellte Herr-Knecht-Figuration auch auf Texte oder Filme übertragen lässt, die in keinem erkennbaren Bezug zu Diderots Roman und der daran anschließenden, hier skizzierten Rezeptionslinie stehen, wäre zu überprüfen. Als ein lohnendes Beispiel sei hier Django Unchained (2012) von Quentin Tarantino angeführt. Im Film, der im 19. Jahrhundert in den Vereinigten Staaten spielt, verbünden sich der Sklave Django und der Düsseldorfer Zahnarzt und Kopfgeldjäger Dr. King Schultz. Während Schultz auf Django angewiesen ist, um die gesuchten Brittle Brothers zu finden, und sich von der Koalition hohe finanzielle Gewinne verspricht, erhofft sich Django zuerst die Freiheit, dann ein Wiedersehen mit seiner Frau Broomhilda. Im Unterschied zu den Texten von Brecht und Braun ist hier ein freundschaftliches Verhält-
_____________ schung sind vielfach Bezüge zu Brechts Herr Puntila und sein Knecht Matti hergestellt worden, weil auch hier eine Koalition zwischen Herr und Knecht vorgeführt wird (vgl. u. a. Glaser 31977, Karasek 1971: 107, Mittenzwei 1978: 466, Pezold 1971: 219f.). Dem das kapitalistische System verkörpernden todessehnsüchtigen Fritz Krott wird der ‚parasitäre‘ Diener Ludwig gegenübergestellt, der seinen Herrn am Leben zu erhalten sucht, um nicht wie die Inhaber der politischen Macht in „irgendeine[n] Schlamassel der Zukunft“ (Walser 1997: 214) zu geraten. Ähnlich wie bei Diderot, Brecht und Braun werden die Figuren im Selbstwiderspruch vorgeführt. So unterwirft sich Ludwig seinem Herrn, obwohl er das Feld der Macht ablehnt; und Krott wünscht sich seinen Tod, kann und will sich aber nicht umbringen. Die Freundschaft zwischen Herr und Knecht wird hingegen nur am Rande thematisiert, wenn Krott seinem Diener ähnlich wie Puntila seinem Chauffeur Matti das ‚Du‘ anbietet, was von beiden Subalternen abgelehnt wird. Auch die Frage nach der (Denk-, Willensund/oder Handlungs-)Freiheit wird nicht explizit erörtert. Dafür werden aber wie in den analysierten Texten von Diderot, Brecht und Braun die herrschaftstheoretischen Positionen von Herr und Knecht negiert und die Rezipienten durch Verfahren der Illusionsstörung dazu aufgefordert, eine Alternative zu dem vorgeführten politischen System, zu entwickeln; zu der Herr-Knecht-Beziehung bei Brecht, Walser und Braun vgl. u. a. Mews 1994. Neben Krott kann auch Hartmut Langes Großbauer Marski (1965) als ein „entfernter Verwandter von Brechts Gutsbesitzer Puntila“ (Eke 2007: 33) gewertet werden. Ähnlich wie Puntila wird er als eine Figur im Selbstwiderspruch vorgeführt. Er braucht die Arbeitskraft der Kleinbauern zur Reproduktion seines Besitzes genauso wie die Freundschaft, weil er „ohne Freunde nicht leben kann. […]. Ich würde verhungern, wenn ich einsam zu Tische sitzen müßte, oder ich würde vor Melancholie verkommen und mich erhängen, mit diesem Strick hier.“ (Lange 1965: 25). Freundschaft ist in einem auf Ausbeutung basierenden ökonomischen System allerdings nicht möglich, gründet sich Marskis ‚Glück‘ doch auf das ‚Unglück‘ seiner vermeintlichen Freunde. Als die Kleinbauern nach und nach der Privatwirtschaft abschwören und der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft beitreten, entziehen sie Marski die Basis seines ökonomischen und sozialen Reichtums, so dass dieser entschließt, sich zu erhängen. Im Unterschied zu dem Herrn in Leo N. Tolstois Erzählung Herr und Knecht (vgl. III.2), der sich nach einem Bewusstseinswandel seinem Knecht unterwirft und den eigenen Tod in Kauf nimmt, wird Marski von seinen Freunden vor dem Tod gerettet und in die egalitäre „Solidargemeinschaft des sozialistischen Produktionskollektivs“ aufgenommen, „das den Besitz des gemeinsamen Eigentums aufhebt und so ‚Freundschaft‘ ermöglicht“ (Eke 2007: 36).
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nis zwischen Herr und Knecht möglich – nicht zuletzt deshalb, weil sie ein gemeinsames Ziel haben, den Kampf gegen Calvin Candie, den inhumanen Besitzer der Sklavenplantage Candyland in Chicksaw County. Am Ende gelingt es Django, seine Frau zurückzugewinnen und das Herrenhaus des Plantagenbesitzers in die Luft zu sprengen – allerdings machen zahlreiche Ironiesignale deutlich, dass dieses ‚Happy End‘ nur in der filmischen Fiktion möglich ist. Auch hier wird der Zuschauer durch illusionsstörende intermediale Verweise25 auf sich selbst zurückgeworfen und dazu aufgefordert, sich mit den hier vorgeführten, aus Rassismus und Bigotterie resultierenden Grausamkeiten kritisch und mit Blick auf vergleichbare Missstände in Vergangenheit und Gegenwart auseinanderzusetzen.26
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Unter anderem auf das Western-Genre, insbesondere auf die Filme Django (1966) und Leichtern pflastern seinen Weg (Il grande silenzione, 1968) von Sergio Corbucci, und auf das Blaxploitation-Genre. So zum Beispiel mit dem rassenbiologischen Denken im Nationalsozialismus – man denke an die von Calvin Candy vorgestellte, vermeintlich biologisch fundierte Rassentheorie.
II. Herr und Knecht als Gegner Nachdem Herr und Knecht im letzten Kapitel als Koalitionspartner vorgeführt worden sind, sollen nun interdependente Herrschaftsbeziehungen in den Blick genommen werden, in denen es dem Subalternen gelingt, seine Interessen gegen den Willen seines Herrn durchzusetzen und auf diese Weise dessen Anerkennung zu erzwingen. Als paradigmatisches Beispiel für solch eine gegnerische Herr-Knecht-Figuration wird Pierre Augustin Caron de Beaumarchais’ Der tolle Tag oder Die Hochzeit des Figaro (1778) analysiert (vgl. 1.). Dabei wird im Unterschied zu der kanonisierten Auffassung, dass die Komödie als Kritik an den Privilegien des höfischen Adels und als Antizipation der französischen Revolution zu lesen sei, die These vertreten, dass sich Beaumarchais gegen den Machtmissbrauch des absolutistischen Souveräns wendet und von ihm – ähnlich wie die intellektuelle Elite seiner Zeit – moralisches Handeln fordert. Herr und Knecht sind also keine Vertreter konkreter sozialer Stände, wie gemeinhin behauptet wird, sondern Ideenträger, deren asymmetrische Machtbeziehung metaphorisch für das Verhältnis von absolutistischem Herrscher und Untertanen steht. Daran anschließend wird gezeigt, dass die Gegnerschaft von Herr und Knecht vor allem eine zentrale Konfiguration der Komödie ist und dass diese nicht nur im 18., sondern auch im 20. Jahrhundert – in Der Unbestechliche (1923) von Hugo von Hofmannsthal und in Pompeji (1937) von Ödön von Horváth – mit der Forderung nach moralischer Integrität verknüpft ist (vgl. 2.).
1. Herr und Knecht als Gegner in Beaumarchais’ Der tolle Tag oder Die Hochzeit des Figaro (1778) In seinem Vorwort zu Der tolle Tag oder Die Hochzeit des Figaro – eine Komödie, deren Aufführung mehrere Jahre lang von der königlichen Zensurbehörde untersagt worden ist – konstatiert Beaumarchais: „Beim Barbier von Sevilla hatte ich das Staatsgefüge nur erschüttert. Mit meinem neuen Werk, das noch unverschämter und noch aufsässiger war, brachte ich den Staat offenbar völlig zum Einsturz. Wenn man dieses Stück erlaubte, so war nichts mehr heilig.“ (Beaumarchais 1965: 139)1 Die revolutionäre Kraft, die Beaumarchais seiner Komödie attribuiert, ist ein Topos der Kritik.2 Überliefert und viel zitiert ist die heftige Reaktion Ludwigs XVI., dem die Komödie zur Beurteilung vorlegt worden ist und der erklärt haben soll: „Das ist abscheulich; das soll niemals gespielt werden! Man müßte die Bastille zerstören, damit die Aufführung dieses Stücks nicht als eine gefährliche Inconsequenz erschiene. Dieser Mensch spielt mit allem, was man bei einer Regierung achten muß.“ (Campan 1824: 71)3 Noch bekannter ist der Kommentar von Napoleon, der die Komödie als „révolution déjà en action“ (Las Cases 1956: 929) – als ‚Revolution schon in Aktion‘ – bezeichnet hat. Auch in der Forschung ist oft die These vertreten worden, dass Beaumarchais mit seinem Stück auf die Unterminierung der absolutistischen Monarchie ziele. So schreibt Gustave Lanson 1894 in seiner Histoire de la littérature française: Dans ce Figaro, Beaumarchais a mis tous ses instincts de révolte; par la bouche de Figaro, il verse le ridicule sur tout ce qui soutenait l’ancien régime: noblesse, jus-
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Vgl. Beaumarchais 1988a: 360: „Ainsi dans Le Barbier de Séville je n’avais qu’ébranlé l’État; dans ce nouvel essai, plus infâme et plus séditieux, je le renversais de fond en comble. Il n’y avait plus rien de sacré si l’on permettait cet ouvrage.“ Der Theatertext ist erstmals am 27. 4. 1784 öffentlich aufgeführt worden. Zur Zensur im Ancien Régime und dem Aufführungsverbot vgl. Schroeder-Angermund 1993, bes. 62ff. und Beaumarchais 1988: 1355–1363. Vgl. Campan 41823: 262: „C’est détestable, cela ne sera jamais joué: il faudrait détruire la Bastille pour que la représentation de cette pièce ne fût pas une inconséquence dangereuse. Cet homme déjoue tout ce qu’il faut respecter dans un gouvernement.“
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tice, autorité, diplomatie; il fait une revendication insolente des libertés de penser, de parler et d’écrire, il réclame contre l’inégalité sociale (Lanson 1951: 815). 4
In neuerer Zeit haben Dietmar Rieger und Hans-Jörg Neuschäfer die „explosive Kraft“ (Petersen 1965: 23) der Komödie hervorgehoben, was sich für sie in der Interdependenz der Herrschaftsbeziehung – der Abhängigkeit des Grafen von Figaro – manifestiert.5 Eine ähnliche Position vertritt Edward McInnes, der davon überzeugt ist, dass Beaumarchais „die treibende Kraft der Klassenfeindschaft bloßlegt in der zentralen Begegnung zwischen Figaro und Almaviva“, auch wenn die ‚politisch-soziale Anklage‘ durch die „komische Lösung“ an Schärfe verliert. (McInnes 1992: 134, 135) Als kühnen Gegner des Ancien Régime hat sich auch Beaumarchais selbst – allerdings erst retrospektiv – bezeichnet, so in einem Brief aus seinem Exil in Lübeck vom 4. 12. 1794, in dem er betont: Je prouverai, par un retour sur tous mes ouvrages connus, que la tyrannie despotique et tous les grands abus de ces temps anciens monarchiques, n’ont pas eu d’adversaire plus courageux que moi; que ce courage, qui surprenait alors tout ce qui est brave aujourd’hui, m’a exposé sans cesse à des vexations inouïes. (Castries 1972: 479)6
Im Unterschied dazu erklärt der Dramatiker in seinem Vorwort zur Hochzeit des Figaro, nicht die monarchische Verfassung, sondern das Fehlverhalten „eines jeden Standes“ (Beaumarchais 1965: 149)7 kritisieren zu wollen. Schließlich sei es „die edle Aufgabe“ des Dichters, die Laster, die sich „in tausend Formen hinter der Maske der herrschenden Sitten“ verbergen,
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„In diesem Figaro hat Beaumarchais alle seine rebellischen Neigungen ausgedrückt; durch Figaros Mund zieht er alle ins Lächerliche, die das Ancien Régime unterstützt haben: Adel, Justiz, Macht, Diplomatie; er stellt die anmaßende Forderung nach der Freiheit zu denken, zu sprechen und zu schreiben. Er erhebt Einspruch gegen die soziale Ungerechtigkeit“ (Übersetzung N.B.). Vgl. auch Lanson 1979: 248. Weitere Rezeptionszeugnisse und Urteile der älteren Forschung finden sich u. a. in Milhaud 1973, Paër 1884, Stackelberg 1984 und Warning 1980. Vgl. Rieger 1977 und Neuschäfer 1970. In seinem Beitrag betont Neuschäfer, dass „eine völlige Revolutionierung der gesellschaftlichen Hierarchie im Theater des Ancien Régime noch nicht möglich“ (Neuschäfer 1970: 534) gewesen sei. Vor diesem Hintergrund müsse die Darstellung eines seinem Herrn überlegenen Dieners, der „auch noch das Recht auf seiner Seite“ (Neuschäfer 1970: 533) habe, mit Napoleon als ‚révolution en action‘ bewertet werden. „Ich werde durch einen Rekurs auf alle meine bekannten Werke beweisen, dass die despotische Tyrannei und all die großen Verfehlungen der alten monarchischen Epoche(n) keinen mutigeren Gegner als mich gehabt haben; dass dieser Mut, der alle überraschte, die heutzutage als tapfer gelten, mich ununterbrochen unerhörten Beleidigungen ausgesetzt haben.“ (Übersetzung N.B.) Vgl. Beaumarchais 1988a: 371: „[O]n n’attaque point les états, mais les abus de chaque état“.
Beaumarchais: Der tolle Tag oder Die Hochzeit des Figaro
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„entblößt zu zeigen“. (Beaumarchais 1965: 135)8 Auch diese Position teilen zahlreiche Studien seit dem 19. Jahrhundert bis heute. So findet Barbara L. Surowska „nicht viel an revolutionärem Zündstoff“ (Surowska 2006: 301) in der Komödie und auch Wulf Brandt, William D. Howarth, Elke Klein, Dorothea Klenke, Jürgen Petersen, Jacques Scherer, Jürgen von Stackelberg oder Werner Wolf erklären, dass die „emphatische Stilisierung des Mariage de Figaro zur Revolutionskomödie, ja zum ersten Akt der Revolution […] ein Rezeptionsprodukt“ (Warning 1980: 563) sei.9 Sie sind davon überzeugt, dass Beaumarchais auf eine „Korrektur, nicht auf eine Umwälzung der Verhältnisse“ (Stackelberg 1984: 302) ziele. Er kritisiere die Privilegien10 und die „Korrumpiertheit des Adels“ (Miller 1981: 387) sowie die „verrotteten Justizzustände“ (Istel 1914: 173); außerdem problematisiere er den „Widerspruch zwischen dem elitären Anspruch der gesellschaftlichen Führungsrolle und der menschlichen Nichtswürdigkeit ihres Repräsentanten“ (Schoell 1984: 424) und fordere „eine Umverteilung von Privilegien und Machtpositionen zugunsten derjenigen, die sie aufgrund persönlicher Qualifikationen und Leistungen am ehesten verdienen“ (Klenke 1992: 277).11 Mitunter wird der Komödie eine subversive Intention auch ganz abgesprochen, so etwa von Jules Michelet, der die These aufstellt, dass sich Beaumarchais mit den vordergründig diskreditierten Inhabern der politischen Macht solidarisiert habe. Als Beleg dient ihm der Fakt, dass die Komödie noch vor der öffentlichen Erstaufführung am 27. 3. 1783 zu Ehren des Grafen von Artois in Gennevilliers auf die Bühne gebracht worden ist.12 Vor diesem Hintergrund erklärt Michelet in seiner Histoire de France: Je n’y sens nullement l’esprit de la Révolution. Stérile, tout à fait négative, la pièce est à cent lieues du grand cœur révolutionnaire. Ce n’est point du tout l’homme du peuple. C’est le laquais hardi, le bâtard insolent de quelque grand seigneur (et point du tout de Bartholo). (Michelet 1966: 391)13
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Vgl. Beaumarchais 1988a: 356: „Les vices, les abus, voilà ce qui ne change point, mais se déguise en mille formes sous le masque des mœurs dominantes; leur arracher ce masque et les montrer à découvert, telle est la noble tâche de l’homme qui se voue au théâtre.“ Vgl. Brandt 2000, Howarth 1995, Klein 1978, Klenke 1992, Petersen 1965, Scherer 1954 und Stackelberg 1992. Vgl. u. a. Brandt 2000, Klein 1978, Scheel 1968 und Schneider 2010. Diese Position wird u. a. von Brandt 2000 und Howarth 1995 geteilt. Vgl. Beaumarchais 1870, S. XXIV. „Ich spüre dort [in der Hochzeit des Figaro] nirgends den Geist der Revolution. Steril und durch und durch negativ ist das Stück, Welten vom Herzen der Revolution entfernt. Das ist ganz und gar kein Mann des Volkes. Das ist der kühne Lakai, der freche Bastard irgendeines Herrn (und niemals eines Bartholo).“ (Übersetzung N.B.)
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Herr und Knecht als Gegner
Wie Michelet liest auch Rainer Warning die Komödie als „aristokratischgroßbürgerliche[s] Divertissement“, wenn er auch einräumt, dass ihm „mit dem Agon von Herr und Knecht die historische Krise eingezeichnet“ sei. (Warning 1980: 563) Diese divergierenden Deutungen sind auf die dramaturgische Konzeption des Theatertextes zurückzuführen. Wie Warning und Wolf angedeutet haben, verlieren die von Beaumarchais thematisierten sozialen Missstände durch die die Komödie kennzeichnende, nicht moralisch funktionalisierbare Komik an Schärfe.14 Die Kritik scheint außerdem „sozial diffus“ (Wolf 1984: 336) zu sein, wird der Graf doch weniger für sein politisch-soziales als für sein moralisches Fehlverhalten – seine Libertinage – verurteilt. Auf diese Weise lässt sich die Popularität des Stücks bei einem „ständisch höchst heterogenen Publikum“ (Wolf 1984: 313) erklären. Mit John Lough muss das Stück zu den „größte[n] Theatererfolg[en] des Jahrhunderts“ gezählt werden, ist es doch zwei Jahre nach der öffentlichen Erstaufführung bereits hundert Mal aufgeführt worden.15 In seiner Studie weist Lough darauf hin, daß der binnen kurzem sich etablierende Ruhm dieser Komödie selbst Bevölkerungsschichten ins Theater zog, die traditionellerweise dem Theater eher fern standen: Es kann sich hierbei nur um Teile des peuple handeln. Somit erfaßt der Erfolg des Mariage bereits im Ancien Régime alle Bevölkerungsschichten vom niederen Volk bis in die höchste Aristokratie. (Wolf 1984: 313)
Im Folgenden soll nicht aus rezeptionsästhetischer Perspektive nach den Gründen für den außerordentlichen Erfolg bei den verschiedenen Bevölkerungsgruppen gefragt werden. Die textorientiert intentionalistische Analyse nimmt vielmehr den strukturbestimmenden Konflikt zwischen Herr und Knecht in den Blick (vgl. 1.1). Dabei wird entgegen der skizzierten Forschungspositionen die These vertreten, dass das Lustspiel weder als ‚Revolutionskomödie‘ noch als bürgerliche Adelskritik zu lesen ist. Vielmehr wendet sich Beaumarchais gegen den Machtmissbrauch Almavivas, der hier den absolutistischen Souverän repräsentiert. Dabei illustriert er, dass Gehorsam nur „einem solchen Herrn“ zu leisten ist, „der sich den Forderungen der Moral unterwirft. Erst die moralische Legitimation macht den Herrscher zum Souverän“ (Koselleck 1973: 121). Im Anschluss wird der Zusammenhang zwischen der Handlungs- und der Dar-
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Vgl. Warning 1980: 560–562 und Wolf 1984: 330–334. Vgl. Lough 1978: 223. Allerdings muss festgehalten werden, dass die Komödie zur Zeit der Revolution trotz ihres großen Anfangserfolgs nicht sehr häufig auf die Bühne gebracht worden ist. Philippe van Tieghem berichtet von drei Aufführungen im Jahr 1789 (vgl. Van Tieghem 1967). An Popularität hat die Komödie erst wieder während der Restauration gewonnen.
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stellungsebene untersucht (vgl. 1.2). Dabei soll gezeigt werden, dass die subversive Kritik am höfischen Absolutismus mit der Abkehr von den gängigen Komödienschemata korreliert. Beaumarchais rekurriert auf das Handlungsschema der Intrigenkomödie, das Motiv des ius primae noctis und die Figurenkonzeption der Commedia dell’arte, stellt die Lustspielelemente aber in den Dienst der Herrschaftskritik. Auf diese Weise findet eine Umwertung „tradierte[r] Rollenklischees“ (Klenke 1992: 281) statt. Zuletzt wird die Wirkungsästhetik fokussiert (vgl. 1.3) und dargestellt, dass die satirische Kritik durch die der Komödie inhärente karnevaleske Komik entschärft wird, so dass sie auch als höfisches divertissement gelesen werden kann.
1.1 Zur Handlungsebene: Figaro als Gegner des Grafen Während die meisten Studien annehmen, dass Beaumarchais’ Protagonisten als Vertreter bestimmter Stände – Geburtsadel und Bürgertum – konzipiert sind, wird in dieser Arbeit davon ausgegangen, dass es sich um Ideenträger handelt. Davon ausgehend wird die Komödie nicht als bürgerliche Kritik an den Adelsprivilegien gelesen, sondern die Position vertreten, dass sich Beaumarchais, ähnlich wie Denis Diderot in seinem Roman Jacques der Fatalist und sein Herr (vgl. I.1), gegen jede Form von uneingeschränkter Herrschaft wendet und für einen aufgeklärten Absolutismus plädiert. Dabei gilt Beaumarchais’ satirische Kritik dem Souverän, der durch sein Fehlverhalten – seinen Despotismus und seine mangelnde moralische Integrität – „zum Gespött seiner Diener“ (Beaumarchais 1965: 141)16 bzw. seiner Untertanen wird. 1.1.1 Satirische Kritik an den Inhabern der politischen Macht In seinem langen Monolog im fünften Akt beklagt Figaro, dass nur diejenigen geachtet werden, die über einen Adelstitel und ein großes Vermögen verfügen, und dass zum „Geldverdienen Gewandtheit wichtiger ist als Wissen.“ (Beaumarchais 1981a: 226)17 Als „Kind aus der obskuren Men-
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Vgl. Beaumarchais 1988a: 362: „la risée de ses valets“. Vgl. Beaumarchais 1988a: 470: „[J]e commençais même à comprendre que pour gagner du bien, le savoir-faire vaut mieux que le savoir.“
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ge“ (Beaumarchais 1981a: 224)18 ist ihm die soziale Anerkennung trotz seiner Qualifikationen und Leistungen verwehrt geblieben. So hat er als gelernter Barbier nach einem Studium der Chemie, Pharmazie und Chirurgie nur eine Stelle als Viehdoktor erlangen können; seine Komödien, journalistischen Texte und ökonomischen Theorien sind von den Zensurbehörden aus Angst vor Unterminierung des politischen Systems verboten worden;19 und seine Position als Diener hat er sich nur dadurch gesichert, dass er Almaviva „seine Frau verschafft“ hat. Nun will dieser ihm als „Dank dafür“ seine Braut „wegschnappen“. (Beaumarchais 1981a: 226)20 Figaros Lebensweg erscheint vor diesem Hintergrund als „Illustration der empörenden Chancenlosigkeit, die eine auf Geburtsprivilegien basierende Gesellschaftsordnung mit sich bringt“ (Klenke 1992: 277). Dennoch ist Die Hochzeit des Figaro nicht primär als Kritik an den Vorrechten des Erbadels zu lesen. Zwar wendet sich Beaumarchais gegen Geburt und Vermögen als entscheidende Kriterien für die „Verteilung von Machtpositionen“ (Klenke 1992: 278), Hauptangriffspunkt ist aber die uneingeschränkte Willkürherrschaft des Grafen, der hier als Repräsentant der politischen Macht fungiert. Das legt schon ein Blick auf die Zusammensetzung des Adels im Ancien Régime nahe. Wie Rainer Gömmel und Rainer Klump hervorgehoben haben, zählten im frühen 18. Jahrhundert nur fünf Prozent des Adels zum Geburtsadel. Einer weit größeren Gruppe wurde der Titel „für geleistete Dienste und Aufgaben“ oder für „bestimmte Staatsämter“ verliehen. „Zusätzlich konnte man im Laufe des Militärdienstes […] in den Adelsstand erhoben werden“ oder den Titel käuflich erwerben. (Gömmel/ Klump 1994: 11) Dass Beaumarchais’ Kritik dieser kleinen Gruppe gilt, ist fraglich. Dagegen spricht allein, dass er die adlige Gräfin21 als „liebenswürdigen und tugendhaften Charakter“
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Vgl. Beaumarchais 1988a: 469: „FIGARO: […] tandis que moi, morbleu! perdu dans la foule obscure“. Diese Position teilen Brandt 2000: 38, Klenke 1992: 277 und Stackelberg 1984: 304. In der frühesten überlieferten Fassung des Monologs äußert sich Figaro ausführlicher über die von ihm entworfene ökonomische Theorie. Laut William Howarth rekurriert Beaumarchais hier auf die physiokratischen Theorien seiner Zeit, vgl. Howarth 1995: 177f. Vgl. Beaumarchais 1988a: 471: „Un grand seigneur passe à Seville; il me reconnaît, je le marie; et pour prix d’avoir eu par mes soins son épouse, il veut intercepter la mienne!“ Wie aus dem Personenverzeichnis des ersten Teils der Trilogie – Der Barbier von Sevilla – hervorgeht, handelt es sich bei der Gräfin Almaviva um eine Frau „adliger Herkunft“ (Beaumarchais 1981b: 11; vgl. Beaumarchais 1988b: 289: „ROSINE, jeune personne d’extractio noble“). Richard Bletschacher irrt also, wenn er konstatiert: „Aber ist sie [die Gräfin Almaviva, N.B.] nicht auch wie all die anderen Sieger eine Bürgerliche, ist sie nicht auch Rosina, das ehemalige Mündel eines Kurpfuschers?“ (Bletschacher 2004: 187)
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(Beaumarchais 1981a: 99)22 konzipiert hat. Zudem betont er in seinem Vorwort zu der Komödie: Man sollte nicht vergessen, was man den höheren Ständen schuldet: Im Gegenteil sollte von allen Vorteilen der der Geburt am wenigsten verächtlich sein. Denn dieses unentgeltliche Erbe, das auf den Taten, Tugenden oder Eigenschaften der Vorfahren beruht, kann die Eigenliebe derer, denen es nicht zuteil wurde, nicht im geringsten verletzen. Wenn man nämlich in einer Monarchie die mittleren Stände abschaffte, so wäre ein zu großer Abstand zwischen dem König und seinen Untertanen; bald gäbe es nur noch einen Despoten und seine Sklaven: Eine allmähliche Abstufung vom Herrscher bis zum Arbeiter liegt im Interesse der Menschen aller Stände und ist die stärkste Stütze der monarchischen Verfassung. […] In dem Werk, das ich verteidige, werden nicht die Stände, sondern der Mißbrauch eines jeden Standes angegriffen: Allein diejenigen, die sich eines solchen Mißbrauchs schuldig gemacht haben, können das Stück schlecht finden (Beaumarchais 1965: 148f.).23
Anstatt davon auszugehen, dass Beaumarchais seine Kritik aus Angst vor der Zensurbehörde im Vorwort zu entschärfen gesucht hat, gehe ich davon aus, dass er sich tatsächlich gegen die uneingeschränkte Willkürherrschaft und den Machtmissbrauch Almavivas wendet. Nicht zufällig wird dieser als Inhaber zahlreicher politischer Ämter vorgeführt. Er fungiert nicht nur als örtlicher Feudalherr an der Spitze einer umfangreichen und sozial genau differenzierten Gesellschaftspyramide, sondern zudem auch als der offizielle Vertreter der königlichen Gerichtsbarkeit, fernerhin als Regimentsführer und hochrangiger Diplomat. Demnach besitzt der Graf neben seiner lokalen Autoritätsposition auch weiterreichende juristische, militärische und politische Machtbefugnisse, die bezeichnenderweise für die zentrale Handlung des Stücks völlig unerheblich sind. (Klenke 1992: 272)
Almavivas Fehlverhalten besteht darin, dass er „seinen Launen alles preisgeben will, was von ihm abhängig ist“ (Beaumarchais 1965: 141),24 anstatt seine Privatinteressen – wie gefordert – hinter das Allgemeinwohl zurück-
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Vgl. Beaumarchais 1988a: 378: „caractère aimable et vertueux“. Vgl. Beaumarchais 1988a: 370f.: „[N]on qu’il faille oublier, dit-il, ce qu’on doit aux rangs élevés: il est juste au contraire que l’avantage de la naissance soit le moins contesté de tous, parce que ce bienfait gratuit de l’hérédité, relatif aux exploits, vertus ou qualités des aïeux de qui les reçut, ne peut aucunement blesser l’amour-propre de ceux auxquels il fut refusé; parce que dans une monarchie, si l’on ôtait les rangs intermédiaires, il y aurait trop loin du monarque aux sujets; bientôt on n’y verrait qu’un despote et des esclaves; le maintien d’une échelle graduée du laboureur au potentat intéresse également les hommes de tous les rangs, et peut-être est le plus ferme appui de la constitution monarchique […]. Dans l’ouvrage que je défends, on n’attaque point les états, mais les abus de chaque état; les gens seuls qui s’en rendent coupables ont intérêt à le trouver mauvais“. Vgl. Beaumarchais 1988a: 362: „[C]’est qu’un seigneur assez vicieux pour vouloir prostituer à ses caprices tout ce qui lui est subordonné“.
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zustellen. Sein lasterhaftes Handeln lässt sich mit Axel Honneth als Missachtung, verstanden als verweigerte soziale Anerkennung, definieren, wie im Folgenden illustriert wird. In seiner Studie Kampf um Anerkennung (1994) setzt sich Honneth mit dem von Georg Wilhelm Friedrich Hegel im Herr- und Knechtschaftskapitel seiner Phänomenologie des Geistes (1807) entwickelten Denkmodell des ‚Kampfes um Anerkennung‘ auseinander und stellt die These auf, dass das Streben des Subjekts nach sozialer Anerkennung eine universale anthropologische Konstante ist. Dabei unterscheidet er zwischen „drei Formen der wechselseitigen Anerkennung“ (Honneth 1992: 151): Liebe, Recht und Solidarität. Die Liebe als emotionale Zuwendung in Primärbeziehungen stellt für Honneth die erste Stufe reziproker Anerkennung dar, weil sie dem Subjekt „emotionale[ ] Sicherheit“ (Honneth 1992: 172) bietet und damit die Basis für eine selbstbestimmte Teilnahme am öffentlichen Leben bildet. Als zweite Stufe der Anerkennung nennt er die Gewährung bestimmter Rechte für den einzelnen, „deren Einhaltung er im Normalfall unter Anrufung einer mit Autorität ausgestatteten Sanktionsgewalt einklagen kann.“ (Honneth 1992: 176) Diese Anerkennungsform hat sich erst in modernen Gesellschaftsformen herausgebildet, so Honneth. Mit dem Übergang zur Moderne dringen nämlich die postkonventionellen Grundbegriffe, die schon vorher in der Philosophie und Staatstheorie entwickelt worden waren, in das geltende Recht ein und unterwerfen es den Begründungszwängen, die mit der Idee einer rationalen Vereinbarung über strittige Normen verknüpft sind; das Rechtssystem muß von nun an als Ausdruck der verallgemeinerbaren Interessen aller Gesellschaftsmitglieder verstanden werden können, so daß es seinem Anspruch nach keine Ausnahmen und Privilegierungen mehr zulassen darf. (Honneth 1992: 177)
Schon in der Hochzeit des Figaro ist diese Anerkennungsform des Rechts zentral, werden doch die Privilegien des Grafen genauso wie sein Anspruch auf uneingeschränkte Herrschaft in Frage gestellt. Zuletzt führt Honneth die Solidarität, definiert als soziale Wertschätzung, als dritte Stufe wechselseitiger Anerkennung an. Sie ermöglicht dem Subjekt, sich über die Erfahrung affektiver Zuwendung und rechtlicher Anerkennung hinaus auf eigene Leistungen und Eigenschaften positiv zu beziehen. Diese drei Formen der Anerkennung bilden für Honneth die Voraussetzung für ein befriedetes Zusammenleben in Gesellschaften. Jede Unrechtserfahrung ist für ihn Konsequenz einer asymmetrischen Beziehung, bei der eine Seite der anderen die geschuldete Anerkennung verweigert oder entzieht. Die Erfahrung der Missachtung ist wesentliches Thema und Ausgangspunkt der Handlung in Beaumarchais’ Komödie, erfährt Figaro doch in der ersten Szene, dass sein Herr – der Graf Almaviva – seine Verlobte
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Suzanne begehrt. Um an sein Ziel – die Verführung der Dienerin – zu gelangen, hat der Graf verschiedene Pläne ersonnen. Zunächst hat er Figaro befördert und zum Depeschenkurier ernannt. Während der Subalterne als „Beauftragte[r] für waghalsige politische Unternehmungen“ (Beaumarchais 1981a: 108)25 unterwegs ist, will er Suzanne näher kommen. Überdies erpresst Almaviva die Dienerin, indem er droht, ihr die notwendige Mitgift für die Heirat mit Figaro vorzuenthalten, sollte sie ihm nicht das ius primae noctis26 einräumen, das er bei seiner eigenen Hochzeit offiziell abgeschafft hat. „[K]ein Rendez-vous – keine Mitgift, keine Hochzeit“ (Beaumarchais 1981a: 179),27 so lautet Almavivas Beschluss. Dafür hat er dem Brautpaar das für ihn „günstigste Zimmer im Schloß, das zwischen den Gemächern des Grafen und der Gräfin liegt“ (Beaumarchais 1981a: 106),28 zugeteilt. So kann er sich in Figaros Abwesenheit schnell Zugang zum Zimmer und damit zu Suzanne verschaffen. Mit seinen Intrigen entzieht Almaviva seinen Untergebenen die Anerkennung in allen drei genannten Bereichen: Liebe, Recht und Solidarität. Seine Ansprüche auf Suzanne bedrohen erstens ihre „physische Integrität“ (Honneth 1992: 211). Die Dienerin wird an der freien Wahl eines Ehepartners gehindert; ihr wird außerdem die „Entscheidungsgewalt über den eigenen Körper“ (Boureau 2000: 9f.) genommen, für Honneth eine elementare Erfahrung der Missachtung im Bereich der Primärbeziehungen. Denn dem Subjekt wird die „selbstverständliche Respektierung jener autonomen Verfügung über den Leib, die ihrerseits durch Erfahrungen der emotionalen Zuwendung in der Sozialisation überhaupt erst erworben worden ist“ (Honneth 1992: 214), entzogen. Zweitens verletzt der Graf die „soziale Integrität“ (Honneth 1992: 211) der Subalternen, weil er ihnen die geltenden Rechtsansprüche vorenthält. So will Almaviva widerrechtlich vom ius primae noctis Gebrauch machen und sich für den Widerstand der Untergebenen mit der rechtlichen Unterbindung ihrer Hochzeit rächen. Die Justiz wird dabei als korrupte Institution dargestellt, die die „Kleinen hängt“ und die „Großen […] laufen“ lässt. (Beaumarchais 1981a: 176)29 Das ist auf die Unfähigkeit der Richter zurückzuführen, die – wie Brid’oison – ihr Amt nicht aufgrund ihrer Fähigkeiten, sondern durch Kauf oder andere finanzielle Zuwendungen erlangt haben, und die trotz ihrer mangelnden juristischen
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Vgl. Beaumarchais 1988a: 385: „casse-cou politique“. Zum ius primae noctis vgl. u. a. Boureau 2000. Vgl. Beaumarchais 1988a: 437: „point de rendez-vous, point de dot, point de mariage“. Vgl. Beaumarchais 1988a: 383: „la chambre du château la plus commode, et qui tient le milieu des deux appartements.“ Vgl. Beaumarchais 1988a: 435: „Indulgente aux grands, dure aux petits“.
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Kenntnisse die Befugnis haben, über andere Recht zu sprechen. 30 Wie Brandt, Lemonnier-Delpy, Scherer und Stackelberg deutlich gemacht haben, manifestiert sich die Unzulänglichkeit der Amtsinhaber bereits in der Namensgebung der Figuren.31 So erinnert „Brid’oison an den Richter Bridoie bei Rabelais, der seine Urteile mit Hilfe von Würfeln zu fällen pflegte (Tiers livre Kap. 40–41). ‚Brid’oison‘ – das ist ein kleiner Bridoie und zugleich ein ‚Gänschen‘“ (Stackelberg 1984: 302). Im Gegensatz dazu verweist der Name des Gerichtsdieners Double-Main auf die französische Redewendung ‚Il mange à deux râteliers‘ als Bezeichnung für einen Opportunisten, der sich von verschiedenen Parteien für seine Dienste bezahlen lässt. Double-Mains Bestechlichkeit, die auch für die anderen Amtsinhaber gilt, wird explizit von Marceline – Figaros Mutter und Gouvernante der Gräfin – thematisiert. Auf die Frage des Schlossgärtners Antonio, was denn die Richter alles miteinander „zu beschwatzen“ hätten, antwortet sie nüchtern: „Der oberste Richter ist bestochen; er besticht jetzt die andern, und ich verliere meinen Prozeß.“ (Beaumarchais 1981a: 188)32 Dass sich die Rechtspfleger nicht an das Gesetz halten, sondern ihre eigenen Interessen durchzusetzen suchen, zeigt sich auch in der Rechtsprechungspraxis des Grafen. Als Groß-Corregidor von Andalusien und Vorsitzen-
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Vgl. Beaumarchais 1981a: 181 bzw. Beaumarchais 1988a: 438f.; zur Ämterkäuflichkeit im Ancien Régime vgl. den Forschungsüberblick von Malettke (1980). Vor Beaumarchais hat u. a. Voltaire große Kritik an der Ämterkäuflichkeit geübt, so etwa in seinem Text Das A. B. C. oder Dialoge zwischen A. B. C (L’A, B, C ou Dialogues entre A B C, 1768–69). Hier erklärt A: „Und von der Käuflichkeit des Richteramtes, von jenem schwunghaften Handel mit Gesetzen, den auf der ganzen Welt nur die Franzosen kennen, sprechen Sie gar nicht. Diese Leute müssen die größten Händler der Welt sein, denn sie kaufen und verkaufen sogar das Recht, über Menschen zu richten. Teufel auch! wenn ich die Ehre hätte, in der Picardie oder der Champagne geboren und Sohn eines Zwischenhändlers oder Lebensmittellieferanten zu sein, so könnte ich kleiner Wicht mit Hilfe von zwölf- bis fünfzehntausend Talern der absolute Herrscher über Glück und Leben meiner Mitbürger werden!“ (Voltaire 1981: 174f.) Vgl. Voltaire 1784: 231: „Vous ne me parlez pas de la vénalité des emplois de judicature, de ce beau trafic des lois que les Français seuls connaissent dans le monde entier. Il faut que ces gens-là soient les plus grands commerçants de l’univers puisqu’ils vendent & achètent jusqu’au droit de juger les hommes! Comment diable! Si j’avais l’honneur d’être né Picard ou Champenois, & d’être le fils d’un traitant ou d’un fournisseur de vivres, je pourrais, moyennant douze ou quinze mille écus, devenir moi septième le maître absolu de la vie & de la fortune de mes concitoyens!“ (Voltaire 1784: 231). Der Verweis auf Voltaire ist hier deshalb von Belang, weil Beaumarchais im abschließenden Vaudeville des Mariage de Figaro auf Voltaire rekurriert (vgl. Beaumarchais 1988a: 488). Vgl. u. a. Brandt 2000: 36, Lemonnier-Delpy 1987: 185f., Scherer 1954: 28 und Stackelberg 1984: 302. Vgl. Beaumarchais 1988a: 443: „ANTONIO, à Marceline, montrant les juges: Qu’ont-ils tant à balbucifier? / MARCELINE: On a corrompu le grand juge, il corrompt l’autre, et je perds mon procès.“
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der des Gerichts spricht er sich nicht nur gegen die Heirat von Suzanne und Figaro aus, sondern weigert sich auch, ein Urteil im Fall „André Petrutchio, Bauer, gegen den Provinz-Steuereinnehmer“ (Beaumarchais 1981a: 184)33 wegen einer unbegründeten Steuerauflage zu fällen. Um sich nicht gegen den Steuereintreiber bzw. den für den Erlass verantwortlichen König stellen zu müssen, leitet Almaviva die Angelegenheit mit dem Hinweis darauf, für den Fall selbst nicht zuständig zu sein, an den König weiter. Drittens wird Figaro missachtet, weil Almaviva ihm keine soziale Wertschätzung entgegenbringt, muss der Subalterne doch in der ersten Szene feststellen, dass er Mitgift und berufliche Beförderung nicht seinen „guten Dienste[n]“ (Beaumarchais 1981a: 106),34 sondern Almavivas intriganten Plänen zu verdanken hat, für Figaro der ausschlaggebende Grund, sich gegen seinen Herrn zu wehren. So erklärt er: „Was gibt es Einfacheres? Sich an denen zu rächen, die unseren Plänen schaden, indem man die ihren durchkreuzt, das macht jeder, und wir werden es auch machen. Das ist alles.“ (Beaumarchais 1981a: 133)35 1.1.2 Die utopische Vision von einem moralisch integren Herrscher Wie ausgeführt, kritisiert Beaumarchais die bestehenden politischen Missstände im Ancien Régime. Darüber hinaus wendet er sich gegen die höfischabsolutistische Regierungsform, weil sie die soziale Missachtung der Untergebenen legitimiert, und fordert von den Inhabern der politischen Macht moralische Integrität. Die moralische Be- und Verurteilung des herrschenden Staates ist – wie Reinhart Koselleck in seiner Studie Kritik und Krise (1959) hervorgehoben hat – signifikant für die kritischen Schriften der aufgeklärten intellektuellen Elite der Zeit. Grund ist die für das absolutistische System konstitutive Polarität von anthropologisch-moralischem und staatlich-politischem Bereich (vgl. Koselleck 1973: 8). Während die Moral in der privaten Sphäre Richtschnur des Handelns ist, wird der Souverän „bewußt von jeder moralischen Instanz ausgespart […], um durch die Machtkonzentration im Repräsentanten des Staates auf rein
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Vgl. Beaumarchais 1988a: 441: „André Petrutchio, laboureur; contre le receveur de la province.“ Vgl. Beaumarchais 1988a: 383: „SUZANNE: Tu croyais, bon garçon! que cette dot qu’on me donne était pour les beaux yeux de ton mérite?“ Vgl. Beaumarchais 1988a: 403: „[Q]uoi de plus simple encore? Se venger de ceux qui nuisent à nos projets en renversant les leurs; c’est ce que chacun fait; ce que nous allons faire nous-mêmes. Eh bien! voilà tout pourtant.“
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politische Weise eine Ordnung herzustellen.“ (Koselleck 1973: 121) Im Laufe des 18. Jahrhunderts wird aber auch die herrschende Politik „dem moralischen Richtspruch unterworfen“ und „das moralische Urteil“ verwandelt sich „in ein Politicum: in politische Kritik.“ (Koselleck 1973: 84) Das illustriert Koselleck unter anderem anhand der Schriften Voltaires und Anne-Robert-Jacques Turgots. Wie Voltaire, den Figaro im abschließenden Vaudeville der Komödie als ‚unsterblichen Dichter‘ rühmt, hat Beaumarchais auch den französischen Staatsmann und Ökonomen gekannt.36 Wahrscheinlich hat er auch dessen physiokratische Abhandlungen rezipiert, bezieht sich Figaro doch in der frühesten Fassung seines langen Monologs im fünften Akt auf die ökonomische Theorie der Physiokraten.37 In ihren Schriften unterwerfen Voltaire und Turgot den Souverän den Forderungen der Moral. Seine Legitimität beruht nicht länger auf einer von Gott abgeleiteten oder im König selbst gegründeten Gerechtigkeit seiner Macht, sondern diese kann nur dann als legitim betrachtet werden, wenn der König sich innerhalb der Grenzen bewegt, die ihm ein aus der Moral abgeleitetes Recht setzt. (Koselleck 1973: 121)
Obwohl beide Autoren die äußere Machtstruktur des Staates nicht in Frage stellen, unterminieren sie das absolutistische System, weil sie die „souveräne Gewalt ihrer politischen Entscheidungsfreiheit, d. h. ihrer absoluten Souveränität“ (Koselleck 1973: 122), berauben. Wie Voltaire und Turgot kritisiert auch Beaumarchais die Inhaber der politischen Macht im Namen der Moral. Dazu zeigt er die öffentliche höfisch-politische Sphäre als Ort der Verstellung und Intrige, an dem man sich nur mit „Mittelmäßigkeit und Kriecherei“ (Beaumarchais 1981a: 175)38 durchsetzen kann.39 Repräsentanten dieses Bereichs sind neben
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Dass Beaumarchais Voltaire geschätzt hat, ist bekannt, hat er doch von 1783–1789 die erste umfassende Gesamtausgabe der in Frankreich offiziell verbotenen Schriften Voltaires herausgegeben. Da sich Voltaire mit Turgots reformatorischen Ideen auseinandergesetzt hat (vgl. Mensching 1986: 336, Anm. 7), hat auch Beaumarchais sie vermutlich rezipiert; auf Beaumarchais’ Bekanntschaft mit Turgot weist u. a. Bergner hin, vgl. Bergner 1990: 172. Vgl. dazu Howarth 1995: 177; die frühe Fassung des Monologs findet sich in Beaumarchais 1988: 1419ff. Vgl. Beaumarchais 1988a: 434: „Médiocre et rampant; et l’on arrive à tout.“ Die politische Sphäre wird vom Grafen als Ort der Verstellung beschrieben, wenn er erklärt: „Wir bilden uns ein, etwas von Politik zu verstehen, und sind doch nur Stümper. Sie, Madame, Sie sollte der König als Botschafter nach London schicken! Ihr Frauen müßt wahrhaftig die Kunst der Verstellung gründlich studiert haben, um sie so gut zu beherrschen.“ (Beaumarchais 1981a: 155, vgl. Beaumarchais 1988a: 420: „Nous croyons valoir quelque chose en politique, et nous ne sommes que des enfants. C’est vous […], madame, que le roi devrait envoyer en ambassade à Londres! Il faut que votre sexe ait fait une étude
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Almaviva die beiden Amtsträger Brid’oison und Double-Main. Diesen lasterhaften, als zu verlachende Typen konzipierten Figuren werden Figaro, Suzanne und die Gräfin gegenübergestellt. Alle drei im Personenverzeichnis positiv hervorgehobene Figuren orientieren sich an den moralisch-empfindsamen Tugenden. Der Begriff der Empfindsamkeit bzw. der sensibilité bezieht sich im Diskurs der Zeit auf die „Empfänglichkeit für ein über physische Attraktion hinausgehendes Liebesgefühl […] sowie die Fähigkeit zum Mitleid“ (Baasner 1988b: 226). Er bezeichnet nicht die Leidenschaften des Subjekts, sondern einen halb-bewußte[n], vernunftkontrollierte[n] Affekt zwischen ‚ratio‘ und ‚passio‘ […]. ‚Sentiment‘ entwickelt sich als Begriff gerade zwischen den beiden Extremen. Im Vergleich zu ‚passion‘ könnte ‚sensibilité‘ als Versuch der Rationalisierung eines Teilbereichs menschlicher Affekte angesehen werden. (Baasner 1988b: 229)
Die Seelenqualität der Empfindsamkeit ist nicht dem Adel vorbehalten, sondern gilt als anthropologische Grunddisposition des Subjekts. Wie Frank Baasner betont, ist die Liebe des homme sensible von keinerlei Taktik oder Verstellung gekennzeichnet, die Ehre der Geliebten ist ihm höchstes Gut. Treue und Aufrichtigkeit in der Liebesbeziehung sind fester Bestandteil auch nach der Erfüllung der Liebe in der Ehe. […] Fremdes Leid läßt ihn nicht gleichgültig, die aktive Seite der ‚sensibilité‘ drängt ihn zur helfenden Tat, die ihm sowohl Gebot des Christentums […] als auch der Menschlichkeit ist. (Baasner 1988b: 229)
Auch wenn das Ideal der sensibilité nicht standesspezifisch ist, richtet es sich implizit gegen die Interaktionsformen der höfisch-aristokratischen Elite. Der taktischen, rationalen Voraussicht und Selbstkontrolle des honnête homme wird die aufrichtige, unverstellte Anteilnahme empfindsamer Kommunikationspartner gegenübergestellt. Im Unterschied zur blendenden Selbstpräsentation, die die „kunstvolle Beherrschung von Etikette und Konvention“ voraussetzt, wird „die moralische Empfindungsfähigkeit, die Sensibilität für das Gute“, geschätzt. (Wegmann 1988: 66) Die Anerkennung des anderen wird nicht mehr von seinem sozialen Status, sondern von seiner Tugendhaftigkeit abhängig gemacht. Im empfindsamen Diskurs zählt nicht mehr die noblesse de naissance, sondern nur die noblesse de cœur.
_____________ bien réfléchie de l’art de se composer pour réussir à ce point!“) Dass Politik und Intrige miteinander verwandt sind, wird von Figaro konstatiert (vgl. Beaumarchais 1981a: 175 bzw. Beaumarchais 1988a: 434). Seine Kritik muss allerdings dadurch etwas relativiert werden, dass er im Gespräch mit dem Grafen nach Gründen sucht, um nicht als Depeschenkurier nach London gehen zu müssen.
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Davon ausgehend, dass die sensibilité eine anthropologische Konstante ist, wird die Orientierung an den vermeintlich unpolitischen moralischen Normen auch von den Inhabern der politischen Macht verlangt. „Dienstherr, Landesfürst oder gar König“ sollen sich „durch Aufmerksamkeit“ gegenüber ihren Untergebenen auszeichnen und an ihren Problemen Anteil nehmen. (Baasner 1988b: 229) Orientieren sie sich an der Moral, lassen sich „Libertinage und Laster“ (Baasner 1988b: 230) beseitigen – ein erster Schritt zur Überwindung der bestehenden sozialen und politischen Missstände, so die Position im empfindsamen Diskurs. Obwohl die sensibilité in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zunehmend kritisch beurteilt wird, bleibt sie bis in die Revolutionszeit hinein ein „utopischer Wert, der in vielen fiktionalen Werken als solcher Darstellung findet“ (Baasner 1988b: 227), so auch in Beaumarchais’ Komödie. Das zeigt sich bereits in der ersten Szene, in der Figaro und Suzanne dem Zuschauer vorgestellt werden. Im Unterschied zu den „traditionell sehr triebbestimmten und moralisch indifferenten“ (Klenke 1992: 273) Dienergestalten der Commedia dell’arte erscheint Suzanne als „tugendhaft[e]“ (Beaumarchais 1981a: 236)40 Braut, die jungfräulich in die Ehe gehen will und ihren Mann aufrichtig und treu liebt.41 Selbstbewusst grenzt sie sich mit ihrer Aufrichtigkeit und Natürlichkeit von der unredlichen und manierierten „Lebensart der vornehmen Welt“ (Beaumarchais 1981a: 166)42 ab. Ähnliches gilt für Figaro, der wie Suzanne großen Wert auf die eheliche Treue legt.43 Seine Integrität zeigt sich im vierten Akt, in dem er Suzanne verdächtigt, ihn zu betrügen. Anstatt sich von seinen Empfindungen überwältigen zu lassen, entscheidet er sich, kontrolliert zu agieren und die Situation genau zu prüfen.44 Darin unterscheidet er sich von Almaviva, der sich von seinen Affekten leiten lässt und mit seiner Eifersucht die „Achtung zwischen zwei Eheleuten“ (Beaumarchais 1981a: 149)45 zerstört, wie die Gräfin bedauert. Als empfindsam wird Figaro in der Anagnorisis-Szene des gleichen Aufzugs vorgeführt. Nachdem er in Marceline seine Mutter erkannt hat, wandelt sich seine Enttäuschung allmählich zu der zärtlichen Sohnesliebe, die für die comédie larmoyante charakteristisch ist.46 Vor Rührung und Ergrif-
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Vgl. Beaumarchais 1988a: 477: „FIGARO, très vite: Cette Suzon qu’on croyait si vertueuse“. Vgl. Beaumarchais 1981a: 201 bzw. Beaumarchais 1988a: 453. Vgl. Beaumarchais 1988a: 428: „l’usage du grand monde“. Vgl. Beaumarchais 1981a: 174 bzw. Beaumarchais 1988a: 433. Vgl. Beaumarchais 1981a: 219 bzw. Beaumarchais 1988a: 466. Vgl. Beaumarchais 1988a: 415: „les égards entre deux époux“. Zum empfindsamen Drama vgl. u. a. Pikulik 21981: Kap. I.4, Steinmetz 21966: 45f., Wolf 1984: 328.
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fenheit beginnt er, „Freudentränen“ (Beaumarchais 1981a: 196)47 zu vergießen, die von ihm sofort thematisiert und analysiert werden. Wie Werner Wolf betont, fehlt hier nichts für eine empfindsame Rührszene. Angefangen von der Selbstthematisierung der Tränen durch den Weinenden, über deren Deutung und lustvolles Auskosten bis hin zu jener malerischen Figurenkonstellation sich umarmender Familienmitglieder, die Diderot bereits in seinen Entretiens als pathetisch höchst wirkungsvolle tableaux dem Dramenautor empfohlen hatte (Wolf 1984: 328).
Die moralisch-empfindsamen Normen besitzen aber nicht nur für die Subalternen, sondern auch für die Gräfin Gültigkeit. Zeichen ihrer Tugendhaftigkeit ist ihre Aufrichtigkeit, durch die es ihr nicht möglich ist, sich geschickt zu verstellen. So kann sie ihren Mann nicht davon überzeugen, dass sich ihr vermeintlicher Liebhaber Cherubim nicht im Nebenzimmer befindet. Auf seine Nachfragen reagiert sie mit großer Unsicherheit, worauf nicht nur die Regieanweisungen, sondern auch ihre Wortwiederholungen und die in Form von drei Punkten gestalteten Pausen innerhalb ihrer Sätze verweisen. Als Beispiel dafür sei folgende Replik angeführt: DIE GRÄFIN. Verwirrt Ich…ich habe meine Hauben durchgesehen…ja, ich habe mit Suzanne meine Hauben durchgesehen…sie ist einen Augenblick in ihr Zimmer gegangen. (Beaumarchais 1981a: 144)48
Wie die Bedienten orientiert sich die Adlige an der katholischen Sexualmoral, nach der zwischengeschlechtliche Beziehungen nur in der Ehe legitim sind. Figaros Absicht, Suzanne vor der Hochzeit zu küssen, wertet sie vor diesem Hintergrund als Raub an „Zukunft“, „Ehe“ und „sich selbst“. (Beaumarchais 1981a: 201)49 Ihre eigene Tugendhaftigkeit wird durch ihre Zuneigung für Cherubim auf die Probe gestellt. Der junge Page ist mit Northrop Frye und Warning als „Eros figure“ (Frye 1965: 82) einzustufen.50 Er inkarniert eine quasi-mythische Triebhaftigkeit, die sich aller Moral entzieht. Chérubin ist männlichen Geschlechts und wirkt zugleich […] weiblich; er ist noch ein Kind und zugleich schon männlich erwachsen; er inkarniert das Leben und steht als Soldat zugleich an der Schwelle zum Tod (Warning 1980: 561).
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Vgl. Beaumarchais 1988a: 449: „elles [les larmes, N.B.] sont de joie“. Vgl. Beaumarchais 1988a: 412: „LA COMTESSE, troublée: Je…je chiffonnais…oui, je chiffonnais avec Suzanne; elle est passée un moment chez elle.“ Vgl. Beaumarchais 1988a: 453: „LA COMTESSE: […] c’est voler l’avenir, le mariage et vousmême, que d’ursuper un tête-à-tête.“ Vgl. Brandt 2000: 47 und Warning 1980: 561.
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Wie für die Darstellung des Eros in Literatur und Kunst charakteristisch, wird Cherubim als halbwüchsiger, androgyner Jüngling dargestellt (vgl. Full 2008). Davon zeugt das Personenverzeichnis, in dem die Figur als ‚Hosenrolle‘ beschrieben wird: Der Page soll von „einer jungen, sehr hübschen Frau“ (Beaumarchais 1981a: 100)51 gespielt werden. Die dadurch angedeutete Unterminierung des binären Geschlechtersystems wird im Handlungsverlauf thematisch, wenn Cherubim von Suzanne für seine femininen „langen […] Wimpern“ und ‚weißen Arme‘ bewundert und von der Gräfin im vierten Akt für ein Bauernmädchen gehalten wird (vgl. Beaumarchais 1981a: 137, 141).52 Zu Recht wertet Claudia Liebrand die Figur als ein „die Geschlechterdifferenz irritierendes“ und damit „prinzipiell anarchisches Prinzip“. (Liebrand 2000: 68) Zeichen dafür ist auch die Cherubim eigene moralische Indifferenz. Er orientiert sich nicht an den in der Komödie propagierten tugendhaft-empfindsamen Wertvorstellungen, sondern „stürzt sich planlos, kenntnislos in die Männlichkeit und gibt sich voll jedem Erlebnis hin“ (Beaumarchais 1981a: 100f.).53 Er liebt weder treu noch zärtlich und richtet sein erotisches Begehren auf alle Frauen. So erklärt er Suzanne: Ich weiß nicht mehr ein noch aus; seit einiger Zeit fühle ich etwas in meiner Brust sich regen; mein Herz beginnt zu klopfen, wenn ich nur eine Frau sehe; die Wörter Liebe und Lust lassen es zittern. Das Bedürfnis, jemand zu sagen ich liebe dich, ist so dringend in mir geworden, daß ich es sage, wenn ich ganz allein durch den Park laufe, zu deiner Herrin, zu dir, zu den Bäumen, zu dem Wind […] – Gestern habe ich Marceline getroffen… (Beaumarchais 1981a: 117)54
Wegen dieser libertinen Haltung bezeichnet Klein den Pagen als „galanten adligen Verführer[ ]“ (Klein 1978: 147), der dem Grafen in nichts nachsteht. Dabei verkennt sie, dass Cherubim im Unterschied zu Almaviva zwischen moralischem und unmoralischem Verhalten noch nicht differenzieren kann. Er ist ein „Kind von dreizehn Jahren mit seiner ersten Herzensregung, das noch alles sucht, ohne sich schon irgend etwas klar-
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Vgl. Beaumarchais 1988a: 379: „Ce rôle ne peut être joué, comme il l’a été, que par une jeune et très jolie femme“. Vgl. Beaumarchais 1988a: 405f.: „Le bon jeune homme! avec ses longues paupières hypocrites“; 409: „Ah! qu’il a le bras blanc! c’est comme une femme! plus blanc que le mien!“ Vgl. Beaumarchais 1988a: 379: „Il s’élance à la puberté, mais sans projet, sans connaissances, et tout entier à chaque événement“. Vgl. Beaumarchais 1988a: 391: „je ne sais plus ce que je suis; mais depuis quelque temps je sens ma poitrine agitée; mon cœur palpite au seul aspect d’une femme; les mots amour et volupté le font tressaillir et le troublent. Enfin le besoin de dire à quelqu’un je vous aime est devenu pour moi si pressant que je le dis tout seul, en courant dans le parc, à ta maîtresse, à toi, aux arbres, aux nuages, au vent qui les emporte avec mes paroles perdues. Hier je rencontrai Marceline…“
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machen zu können“ (Beaumarchais 1965: 144), 55 so Beaumarchais im Vorwort zu seiner Komödie. Aus diesem Grund wird er für seine erotischen Begierden von den tugendhaften dramatis personae auch nicht verurteilt und im Personenverzeichnis als Sohn beschrieben, wie ihn sich „jede Mutter im Grunde ihres Herzens“ (Beaumarchais 1981a: 101)56 wünscht. Aber welche dramaturgische Funktion kommt Cherubim zu – einer Figur, die die in der Komödie propagierten moralisch-empfindsamen Tugenden unterläuft, ohne dass sie an Sympathie in den Augen der anderen Figuren und des Lesers bzw. Zuschauers verlöre? Davon ausgehend, dass Cherubim „metonymisch für die das gesamte Stück charakterisierende sexuelle Anarchie, für den temporären Rollentausch aller Figuren“ und „für die Aufhebung aller Ordnung in der Tollheit dieses Tages“ steht, stellt Warning die These auf, dass der Page „der geheime Gegenpol Figaros“ ist, weil „er all dessen Intrigen ungewollt zunichte macht in seiner unkontrollierten Allgegenwärtigkeit.“ (Warning 1980: 561) Dagegen spricht, dass die Omnipräsenz des Pagen nicht der Grund für das Scheitern von Figaros Intrigen und weniger ein Ärgernis für ihn als für den Grafen ist, der missmutig feststellen muss: „Überall stoße ich auf diesen verwünschten Pagen!“ (Beaumarchais 1981a: 150)57 Als Kontrahent von Almaviva und Personifikation des erotischen Begehrens, der auch „allen anderen ein[flößt]“, was „er unbewußt empfindet“, kommt Cherubim eine doppelte Funktion zu. (Beaumarchais 1965: 144)58 An seiner Figur entzündet sich erstens die für das empfindsame Drama charakteristische ‚Tugendprobe‘. Dabei erweist sich die Gräfin im Unterschied zu Almaviva als moralisch integre Figur, weil sie ihre Zuneigung für den Pagen unterdrückt.59 Das Fehlverhalten des Grafen wiegt schwer, weil von ihm als Amtsinhaber verlangt wird, seine privaten Neigungen dem Allgemeinwohl unterzuordnen, und weil die von ihm und anderen verführten Mädchen sozial ausgegrenzt werden, wie Marceline betont.60 Beaumarchais problematisiert hier die „fundamentale Ungleich-
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Vgl. Beaumarchais 1988a: 365: „Un enfant de treize ans, aux premiers battements du cœur, cherchant tout sans rien démêler.“ Vgl. Beaumarchais 1988a: 379: „enfin il est ce que toute mère, auf fond du cœur, voudrait peut-être que fût son fils“. Vgl. Beaumarchais 1988a: 416: „Je trouverai partout ce maudit page!“ Vgl. Beaumarchais 1988a: 365: „Ce qu’il éprouve innocemment, il l’inspire partout de même.“ Vgl. in diesem Zusammenhang auch das Vorwort von Beaumarchais 1965: 142. Vgl. Beaumarchais 1981a: 192f. bzw. Beaumarchais 1988a: 446f.
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heit zwischen den Geschlechtern, die für das Ancien Régime kennzeichnend ist.“ (Losfeld 2009: 20)61 Zweitens wird Cherubim zu Almavivas Konkurrent bei der Werbung um Fanchette, Suzanne und die Gräfin. Dabei gelingt es ihm im Gegensatz zu dem Grafen, die weiblichen Figuren für sich einzunehmen. Aus Eifersucht lässt sich Almaviva durch Cherubims bloße Präsenz zur Weißglut treiben und zu unkontrollierten Handlungen verleiten. So nimmt er etwa einen „öffentlichen Skandal“ (Beaumarchais 1981a: 146)62 in Kauf, um seine Frau zu überführen, in deren Ankleidezimmer er den Pagen vermutet.63 Damit verstößt Almaviva gegen das Ideal der galanten conduite und somit gegen die „Habitusformen der höfischen Gesellschaft“ (Steigerwald 2009: 66).64 Der Begriff impliziert Affektkontrolle bis zur Verstellung und Selbstinszenierung im Sinne einer verfeinerten Präsentation der eigenen Person […]. Im Kontext des höfischen Absolutismus ist Galanterie eminent politisch, ein differenziertes Distinktionsmodell, über das diejenigen, die es beherrschen, sich als zugehörig zur vornehmen Gesellschaft erweisen (Florack 2011: 210).65
Dieses doppelte Fehlverhalten des Grafen ist sicher ein Grund für den Erfolg der Komödie bei einem heterogenen Publikum. Während die einen Almavivas Eifersucht als Verstoß gegen die von Beaumarchais propagierten Prinzipien des aufgeklärten Absolutismus und damit als Herrschaftskritik gelesen haben, haben die anderen den Grafen für seine Unfähigkeit, dem Verhaltensleitbild des höfischen Adels gerecht zu werden, verlacht. Almaviva selbst erkennt nicht die höfisch-aristokratischen Interaktionsformen des galant homme, sondern die moralisch-empfindsamen Normen als vorbildlich an, wenn er ihnen auch nicht immer entsprechen will. Das gilt für den privaten und den politischen Bereich. So reagiert er bestürzt auf den Vorwurf seiner Ehefrau, dass sie „Verlassenheit und Eifer-
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Zur geschlechtsspezifischen Ungleichheit im Ancien Régime vgl. auch Albistur/Amogathe 1977: 173–209. Vgl. Beaumarchais 1988a: 414: „scandale public“. Im Unterschied dazu vertritt Klein die These, dass Almaviva die Untreue seiner Frau und den damit korrelierenden Ehrverlust befürchtet. Die Eifersucht des Grafen sei „Ausdruck seiner vor der Öffentlichkeit verletzten Ehre. Die Ehre ist aber ein Standesmerkmal des Adels, das gerade in der politisch brisanten Zeit aufrechterhalten werden muß, um die standesmäßigen Unterschiede zum Bürgertum hin zu betonen.“ (Klein 1978: 141) Klein verkennt, dass Almaviva aus Eifersucht einen ‚öffentlichen Skandal‘ in Kauf nimmt; sie kann also nicht als Reaktion auf einen befürchteten Ehrverlust gewertet werden. Zur Galanterie als Verhaltensideal und Distinktionsmodell vgl. u. a. Beetz 1990, Florack/ Singer 2012, Fulda 2009, Scheffers 1980, Viala 2008 und Wegmann 1988: 59ff. Dass Almavivas Eifersucht kein „Identitätsmerkmal […] des Adligen, des höfischen Liebhabers“ (Warning 1980: 555) ist, hat auch Warning hervorgehoben.
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sucht zu ertragen“ habe, und erklärt reumütig: „Du hast recht, ich sollte beschämt sein…Verzeihung, ich bin völlig verwirrt!“ (Beaumarchais 1981a: 153)66 Auch als Groß-Corregidor von Andalusien weiß er, dass er sittlich agieren muss. Nur so lässt sich seine Verlegenheit erklären, als ihn Figaro für seine Abschaffung des ius primae noctis öffentlich preisen will.67 Trotz dieses Wissens und des versöhnlichen Komödienschlusses bleibt offen, ob Almaviva am Ende zur Einsicht gelangt und zukünftig moralisch handeln wird. Seine Bitte um ein „großmütiges Verzeihen“ (Beaumarchais 1981a: 247)68 wirkt wie eine Phrase, weil er die Redewendung im Handlungsverlauf mehrmals gebraucht, um sich für sein Fehlverhalten zu entschuldigen. Diese Position teilt Steffen Schneider. Er ist davon überzeugt, dass Almaviva seine Frau um Verzeihung bittet, weil er dazu verpflichtet wird […] und seine Frau verzeiht ihm, weil Frauen das immer tun […]. Die Handlungsautonomie geht also nicht mit dem Erwerb moralischer Autonomie einher, sondern bleibt in einem […] Sinn oberflächlich: Das Innere der Personen ist für Beaumarchais uninteressant, vielleicht auch intransparent und daher nicht Gegenstand des Theaters (Schneider 2010: 52).
Die These, dass das ‚Innere der Person‘ für Beaumarchais ‚uninteressant‘ oder ‚intransparent‘ sei, ist nicht überzeugend. Dagegen sprechen Figaros Monologe im ersten und fünften Akt sowie die Darstellung von Rosines innerem Konflikt.69 Dass sich die Zuschauer am Ende nicht sicher sein können, ob Almaviva wirklich geläutert ist, muss vielmehr als Zeichen für die subversive Intention der Komödie gelesen werden: Die in der textexternen Realität bestehenden Übel werden auf dem Theater zwar als lösbar vorgeführt, sie werden aber nicht gelöst. Als Provokation ist auch die moralische Inferiorität des Grafen zu werten, der sich am Ende bei seiner Frau und den Subalternen öffentlich für seine Fehler entschuldigen muss. Das hebt auch auch Klein hervor, wenn sie betont, dass in der Komödie die anti-höfischen Wertvorstellungen der Bedienten als „Maßstab für gesellschaftliches Handeln gesetzt“ und die Inhaber der politischen Macht „auf ihre moralische Integrität hin überprüft und verurteilt“ werden.
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Vgl. Beaumarchais 1988a: 418: „LA COMTESSE […]: Me suis-je unie à vous pour être éternellement dévouée à l’abandon et à la jalousie […]. LE COMTE: Tu as raison, et c’est à moi de m’humilier…Pardon, je suis d’une confusion!“ Vgl. Beaumarchais 1981a: 1. Akt, 10. Szene, S. 124ff. bzw. Beaumarchais 1988a: 397ff. Vgl. Beaumarchais 1988a: 485: „un pardon bien généreux“. Schon im Vorwort wird darauf hingewiesen, dass Rosine von „zwei einander widersprechenden Gefühlen bewegt“ wird (Beaumarchais 1981a: 99, vgl. Beaumarchais 1988a: 378: „agitée de deux sentiments contraires“) – von ihrer Zuneigung zu Cherubim und dem Gebot der ehelichen Treue. Dieser innere Konflikt manifestiert sich etwa im Kontrast zwischen ihren Worten und ihrer Körpersprache (vgl. Beaumarchais 1981a: 136 bzw. Beaumarchais 1988a: 405).
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(Klein 1978: 155f.) Ähnlich argumentiert Neuschäfer, der das Faktum, dass „der Graf am Ende nicht nur der Unterlegene ist, sondern […] einem Untergebenen unterlegen ist, und daß dieser Untergebene auch noch das Recht auf seiner Seite hat“ (Neuschäfer 1970: 533), als progressiv einstuft, auch wenn die soziale Hierarchie nicht in Frage gestellt wird.70
1.2 Zur Darstellungsebene: Herrschaftskritik und literarästhetische Innovation Die herrschaftskritische Intention der Komödie kommt nicht nur auf der Handlungs-, sondern auch auf der Darstellungsebene zum Ausdruck. Das manifestiert sich in Beaumarchais’ Entscheidung, den Machtmissbrauch des Grafen in komödiantischer Form zu thematisieren, wie im Folgenden gezeigt wird. 1.2.1 Die Provokation der Komödie Im Vorwort zu seiner Komödie stellt Beaumarchais die These auf, dass die Gattungswahl der Grund für das „durchdringende Zetergeschrei“ (Beaumarchais 1965: 140) von Zensurbehörde und Literaturkritik gewesen sei. So konstatiert er: Oh wie ich es bedaure, daß ich aus diesem moralischen Thema keine blutige Tragödie gemacht habe? [sic] Ich hätte dem gekränkten Gatten, den ich nicht Figaro genannt hätte, einen Dolch in die Hand gegeben und ihn in seiner zornigen Eifersucht mit edler Geste den mächtigen Lüstling erstechen lassen. Und da er seine Ehre mit gestelzten, hochtrabenden Versen gerächt hätte, und da mein Eifersüchtiger, mindestens ein Armeebefehlshaber, einen fürchterlichen Tyrannen zum Rivalen gehabt hätte, der ein schreckliches Regiment über ein unglückliches Volk führte, so hätte alles das, wie ich glaube, niemand verletzt, weil es sehr weit von unseren Sitten entfernt ist. Man hätte gerufen: „Bravo! Welch ein moralisches Stück!“ Wir wären gerettet, ich und mein ungebärdiger Figaro. (Beaumarchais 1965: 140)71
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Im Unterschied dazu vertreten Hinck und Wolf die These, dass Almavivas „privilegierte Stellung“ am Ende nicht angetastet wird: „[I]m Gegenteil, seine Läuterung zum guten Ehemann und milden Seigneur festigt seine Position inmitten der ihm nun wohlwollend gegenüberstehenden Untertanen aller Stände. […] Nach der moralischen Besserung des reuigen Comte kann hier aller sozialer Streit in heiteren ‚chansons‘ enden.“ (Wolf 1984: 337) Vgl. auch Hinck 1982b: 148. Vgl. Beaumarchais 1988a: 360f.: „D’où naissaient donc ces cris perçants? […] Oh! que j’ai de regret de n’avoir pas fait de ce sujet moral une tragédie bien sanguinaire! Mettant un
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In der Tat kann Beaumarchais’ Entscheidung für die Komödie trotz des für das Genre konstitutiven versöhnlichen Ausgangs als Provokation gewertet werden, weil sie „traditionellerweise und per definitionem der höfischaristokratischen Weltsicht viel weniger verhaftet ist und somit einem zunehmend bürgerlichen Publikum nähersteht.“ (Schoell 1983: 119) Noch im frühen 18. Jahrhundert ist die Ständeklausel als Norm der doctrine classique maßgeblich für die Theaterpraxis. Demnach thematisieren die heroisch-klassizistischen Tragödien innere und äußere Konflikte vornehmer Protagonisten, die vom Zuschauer gefürchtet, bewundert oder bemitleidet werden. Da ihr „zeitlicher Standort […] die Historie oder der Mythos“ (Klotz 141999: 59) ist, besitzen die geschilderten Problemstellungen keinen expliziten Zeitbezug. Im Unterschied dazu zielen die Komödien programmatisch darauf, realitätsnahe Probleme bürgerlicher Figuren vorzuführen. Indem Beaumarchais beschließt, den Machtmissbrauch eines Herrschenden in komödiantischer Form zu thematisieren, hebt er die politische Aktualität seines Theatertextes hervor. Zudem wendet er sich ostentativ nicht (nur) an ein aristokratisches Publikum, dessen Spott er den vornehmen Protagonist aussetzt. Beaumarchais’ Entschluss, Die Hochzeit des Figaro als Intrigenkomödie zu konzipieren, hat aber auch thematische Gründe. Wie ausgeführt, wird die höfisch-politische Sphäre im Theatertext als Ort der Täuschung und Intrige beschrieben, während der private Bereich, in dem Suzanne und Figaro agieren, mit Tugend und Vernunft in Verbindung gebracht wird. Als Figaro feststellen muss, dass sein privates Liebesglück durch Almavivas Intrigenspiel gefährdet ist, entscheidet er sich, „ebenso methodisch vorzugehen wie der Herr Graf“ (Beaumarchais 1981a: 134)72 und ihn mit einer Gegenintrige in die Schranken zu weisen. Da er weder über einen hohen Rang noch über Vermögen verfügt, bleibt ihm die List als einziges Mittel, um wie die Herrschenden seine Interessen durchzusetzen. Mit diesem Entschluss verwandelt sich das bürgerliche Schauspiel, das die erste Szene ankündigte, prozessual in ein Rokokokunststück zurück […]: Figaro, die Gräfin und Suzanne, also das listige Trio, bedienen sich des Materials höfischer Selbstinszenierung: der
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poignard à la main de l’époux outragé, que je n’aurais pas nommé Figaro, dans sa jalouse fureur je lui aurais fait noblement poignarder le puissant vicieux; et comme il aurait vengé son honneur dans des vers carrés, bien ronflants, et que mon jaloux, tout au moins général d’armée, aurait eu pour rival quelque tyran bien horrible et régnant au plus mal sur un peuple désolé, tout cela, très loin de nos mœurs, n’aurait, je crois, blessé personne; on eût crié: „Bravo! ouvrage bien moral!“ Nous étions sauvés, moi et mon Figaro sauvage.“ Vgl. Beaumarchais 1988a: 403: „FIGARO: […] Or, pour agir aussi méthodiquement que lui“.
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doppelbödigen Sprache, Dinge, die zur symbolischen Kommunikation taugen wie z. B. die Kleidernadel, mit der die Gräfin ihren fingierten Brief an den Grafen versiegelt; Geld und Kleidung. (Schneider 2010: 58)
Die Intrige wird im Stückverlauf zum zentralen Thema und dient der kritischen Auseinandersetzung mit den absolutistischen Herrschaftsstrukturen, die mit solchen (moralisch verwerflichen) Interaktionsformen assoziiert werden.73 Dabei geriert sich Figaro zu Beginn der Komödie als der „geborene Höfling“ und behauptet, „drei, vier“ Komplotte „gleichzeitig, und so verworren wie möglich“ schmieden und durchführen zu können. (Beaumarchais 1981a: 135)74 Allerdings wird im Handlungsverlauf deutlich, dass der Subalterne nicht souverän agiert. So wird sein Vorhaben, nachts im Park ein Treffen zwischen dem Grafen und dem als Suzanne verkleideten Cherubim zu arrangieren, von Almaviva vereitelt. In den darauffolgenden Plan der Gräfin, sich selbst mit ihrem Mann zu treffen, wird Figaro gar nicht mehr eingeweiht; und der ihm juristisch auferlegten Pflicht, Marceline zu heiraten, kann er sich nur deshalb entziehen, weil sich zufällig herausstellt, dass sie seine Mutter ist. Auch den Triumph über den Grafen verdankt Figaro „zum guten Teil dem Zufall“ (Klenke 1992: 274), der Gräfin und Suzanne, die im vierten Akt ernüchtert feststellen muss, dass „nichts von dem eingetroffen“ (Beaumarchais 1981a: 199)75 ist, was Figaro geplant hat. Die diffizile Intrigenführung und Figaros fehlende Souveränität sind von den Kritikern der Zeit, aber auch von der Forschung oft als handwerkliche Schwächen gewertet worden.76 So heißt es in den Mémoires secrets vom 1. 5. 1784: „L’intrigue n’en est pas plus claire; elle est tellement compliquée qu’aucun spectateur ne peut s’en rendre compte, & qu’il n’est point de journaliste qui ait osé l’entreprendre“ (Mémoires secrets 1786: 312);77 und in der Correspondance littéraire wird 1783 konstatiert: „Les fils dont l’intrigue de cette pièce est tissue sont si fins, si déliés, quelquefois aussi tellement embrouillés, qu’il en est plusieurs sans doute qu’il nous a
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Diese Position teilt Gunter Reiß, wenn er in Bezug auf Wolfgang Amadeus Mozarts Le Nozze di Figaro erklärt, dass die Thematisierung der Intrige zugleich „Kritik an dieser Gesellschaft“ impliziert, „zu deren Gewohnheiten Intrige mit all ihren Mitteln wie Bestechung, Lüge, Berechenbarkeit des Menschen, List etc. gehört.“ (Reiß 1965: 167) Vgl. Beaumarchais 1988a: 404: „FIGARO: Deux, trois, quatre à la fois; bien embrouillées, qui se croisent. J’étais né pour être courtisan.“ Vgl. Beaumarchais 1988a: 452: „SUZANNE: Aucune de choses que tu avais disposées, que nous attendions, mon ami, n’est pourtant arrivée!“ Darauf weist auch Miller hin, vgl. Miller 1981: 385. „Die Intrige ist auch nicht viel überschaubarer; sie ist so kompliziert, dass kein Zuschauer sich darüber klar werden kann und kein Journalist es gewagt hat, sich ihrer anzunehmen.“ (Übersetzung N.B.)
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été impossible de bien démêler“ (Grimm/Diderot 1813: 53).78 Noch Scherer kritisiert: „Malgré toute l’ingéniosité qu’il apporte à l’agencement des détails, Beaumarchais a souvent eu du mal à construire solidement une intrigue jusqu’à un cinquième acte.“ (Scherer 1954: 50)79 Allerdings verkennen die Autoren, dass die vermeintlichen Mängel Zeichen für Figaros positiv zu bewertende fehlende Verstellungsgabe sind. Seine selbstbewusste Behauptung, sein soziales Umfeld wie ein ‚Höfling‘ täuschen zu können, stellt sich im Handlungsverlauf als falsch heraus. Diese Inkongruenz zwischen Selbsteinschätzung und Fremdwahrnehmung ist ein Gestaltungsmittel ‚textueller Komik‘;80 noch wichtiger als die Komik ist aber Beaumarchais’ Bruch mit der Komödientradition, erteilt er doch „dem Intrigieren, der jahrtausendealten Hauptfunktion der Dienergestalt, eine eindeutige Absage“ (Klenke 1992: 275). Er zeigt Figaro nicht als raffinierte, sondern als moralisch integre, zur Verstellung unfähige Bedienstetenfigur, der man bereits am „Gesicht“ ablesen kann, dass sie „gegen allen Augenschein“ lügt. (Beaumarchais 1981a: 157)81 Figaros Aufrichtigkeit ist Zeichen des homme sensible, eine Qualität, durch die er sich – genauso wie die Gräfin – vor Almaviva auszeichnet, durch die er dem Machtmissbrauch des Herrschenden aber auch wenig entgegensetzen kann. Figaro muss die Erfahrung machen, nicht selbstbestimmt agieren zu können, und im vierten Akt zugeben: Der Zufall hat besser gearbeitet, als wir alle […]. So geht es in der Welt. Man strengt sich an, plant und ordnet hier, das Glück entscheidet dort, und dem machtgierigen Eroberer, der sich die ganze Erde unterwerfen möchte, bis zum friedlichen Blinden, der sich von seinem Hund führen läßt, sind alle der Spielball seiner Launen; dabei wird der Blinde mit dem Hund oft noch besser geführt und
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„Die Fäden, aus denen diese Intrige gesponnen ist, sind so filigran, so fein, mitunter auch so verworren, dass es zweifellos einige [Fäden] gibt, die wir nicht entwirren konnten.“ (Übersetzung N.B.) „Trotz des Einfallsreichtums, mit dem er die Details ausgestaltet, fällt es Beaumarchais oft schwer, eine Intrige schlüssig bis zu einem fünften Akt zu konstruieren.“ (Übersetzung N.B.) Zur Komiktheorie der Inkongruenz vgl. u. a. Hinck 1977: 15, Kindt 2011. Damit ein Text komisch wirken kann, muss ein Missverhältnis zwischen dem Erwarteten und dem Eintretenden vorliegen. Kindt spricht von einem „Missverhältnis zwischen Erwartung und Erfahrung […] zwischen normativen Vorstellungen und konkreten Verhaltensweisen, […] zwischen dem Verlauf und der Beachtung von Grenzen oder auch […] zwischen der Idee der Lebendigkeit und der Beobachtung der Starrheit.“ (Kindt 2011: 47) Vgl. Beaumarchais 1988a: 421: „LE COMTE: Quand je ne le saurais pas d’ailleurs, fripon! ta physionomie qui t’accuse me prouverait déjà que tu mens.“
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weniger getäuscht als der andere Blinde mit seinem ganzen Drumherum. (Beaumarchais 1981a: 199f.)82
In dieser Replik räumt Figaro ein, dass nicht jedes Widerstreben gegen die Willensäußerung eines Herrschenden erfolgreich sein muss – ein Zeichen dafür, dass die Komödie nicht agitatorisch als Plädoyer für eine politische Revolution gelesen werden kann. Der Subalterne wendet sich aber auch gegen die passive Erduldung von sozialen und politischen Missständen. Auch wenn unklar ist, ob sich die eigenen Ziele durchsetzen lassen, lohnt es sich, den „Kampf mit dem Wolf“ zu wagen, denn: „Leute, die niemals etwas unternehmen wollen, bringen es zu nichts und sind zu nichts zu gebrauchen.“ (Beaumarchais 1981a: 165, 135)83 Figaros aktiver Widerstand gegen Almaviva führt schließlich zum Erfolg, weil auch die Inhaber der politischen Macht nicht souverän, sondern vom ‚Glück‘ abhängig sind. Davon zeugt der Handlungsverlauf, in dem Almaviva „stolz sich aufspielt als Herr über seine Untertanen“, diese aber „nicht länger zu beherrschen vermag.“ (Klotz 1993: 105) Wie Volker Klotz mit Recht betont, kommt der Autoritätsverlust des Grafen bereits in der Unruhe zum Ausdruck, die durch die ständigen Auf- und Abgänge der dramatis personae entsteht. „Wieder und wieder kommt wer unversehens zur Tür herein und schlüpft hinaus. […] So muß der Graf sich erst recht fragen, wieweit er noch der Herr im Haus ist, der souverän überblickt und lenkt, was alles hier kommt und geht.“ (Klotz 1993: 103) 1.2.2 Der Bruch mit den Gattungskonventionen Wie erläutert, zielt Beaumarchais nicht auf eine Revolution, aber sehr wohl auf politische Reformen. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass diese subversive Intention mit literarästhetischen Innovationen korreliert. Das mag überraschend scheinen, denkt man an Hans Ulrich Gumbrecht, der in seinen Ausführungen zum französischen Theater des 18. Jahrhunderts konstatiert:
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Vgl. Beaumarchais 1988a: 452: „FIGARO: Le hasard a mieux fait que nous tous, ma petite: ainsi va le monde; on travaille, on projette, on arrange d’un côté; la fortune accomplit de l’autre: et depuis l’affamé conquérant qui voudrait avaler la terre, jusqu’au paisible aveugle qui se laisse mener par son chien, tous sont le jouet de ses caprices; encore l’aveugle au chien est-il souvent mieux conduit, moins trompé dans ses vues, que l’autre aveugle avec son entourage.“ Vgl. Beaumarchais 1988a: 427: „lutter contre le pot de fer“; 404: „[L]es gens qui ne veulent rien faire de rien, n’avancent rien et ne sont bons à rien.“
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Jeder Literarhistoriker weiß, daß sich […] Beaumarchais für die ersten beiden Dramen der Figaro-Trilogie […] die Tradition der commedia dell’arte zunutze machte, und […] daß dieser Rückgriff alles andere als innovativ oder gar – strukturgeschichtlich – ‚vorrevolutionär‘ war. (Gumbrecht 1981: 83)
Ähnlich äußert sich Scheel, der sämtliche „Themen und Motive“ des Stücks für unoriginell, zum Teil sogar für „banal“ hält. Denn es handle sich bei dem ius primae noctis, der Gerichtsszene, der Wiederentdeckung des verloren geglaubten Sohns, dem „untreue[n] Ehemann, der von seiner Frau durch einen Rollentausch mit der Geliebten zurückerobert wird“, und der „listige[n] Ehefrau, die einen Besucher vor dem eifersüchtigen Ehemann versteckt“, um gängige Novellen- oder Komödien-Motive. (Scheel 1968: 95)84 In der Tat greift Beaumarchais auf Elemente der parade,85 der Commedia dell’arte und der comédie larmoyante zurück. Zudem lassen sich Bezüge zur Opéra comique feststellen.86 Sie werden aber in den Dienst der Herrschaftskritik gestellt. Auf diese Weise entsteht ein „gattungsgeschichtlich höchst ambiges Gebilde“ (Wolf 1984: 314), das sich durch die Unterminierung der Gattungskonventionen auszeichnet. Von Beaumarchais’ Rekurs auf die Commedia dell’arte-Tradition zeugt vor allem die Figurenkonzeption.87 So trägt Figaro, der ursprünglich
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Diese Position teilen u. a. Hammerstein 1987: 248 und Pomeau 1987: 151f. Auf die Bezüge zwischen der Hochzeit des Figaro und der parade hat vor allem Scherer hingewiesen; vgl. Scherer 1954. Die parade ist durch die Schauspieler des Théâtre de la Foire populär geworden, die vor der eigentlichen Aufführung ihrer Stücke kurze komische Szenen improvisiert haben, um Zuschauer in ihre Jahrmarktsbuden zu locken. Daraus hat sich das literarische Genre der parade entwickelt, das die Typen der Commedia dell’arte weitgehend übernimmt und das „als pseudo-volkstümliche Unterhaltung in den Salons und von den Adligen und reichen Bürgern selbst aufgeführt wird. Es sind nun allerdings geschriebene, nicht mehr improvisierte Stücke, aber von der einfachsten Personenkonstellation und mit einer minimalen Intrige, die in Anlehnung an die italienische Tradition ein junges Liebespaar, das der Diener (Gilles) unterstützt, und einen älteren Rivalen, der vom Vater favorisiert wird, gegenüberstellt. Als Konventionen der Gattung, die ihren angeblich volkstümlichen Charakter kennzeichnen sollen, kommen sprachlich affektierte Fehler“ (Schoell 1983: 152) hinzu. In seinem Beitrag zu Beaumarchais, Da Ponte und Mozart befasst sich Reinhold Hammerstein mit der Bedeutung der musikalisch-lyrischen Einlagen in Die Hochzeit des Figaro. „Während der 1. Akt noch ganz ohne Musik auskommt, nimmt ihr Anteil (und damit die Nähe zur Opéra comique) im 2. Akt merklich zu.“ (Hammerstein 1987: 248) Davon zeugen beispielsweise die Romanze, die Cherubim vor der Gräfin singt; die Seguidilla, die Figaro in der 23. Szene vorträgt und dazu tanzt; die Festszenen des vierten Akts, während der „die eigentliche Handlung (fast) still“ steht und allenfalls „wortlos-pantomimisch“ weiterläuft, Baziles Lied über die Liebe im gleichen Akt und das finale Vaudeville im fünften Akt, auf das abschließend ein Ballet général folgt. (Hammerstein 1987: 249) Zu den Masken und den Handlungsschemata der Commedia dell’arte vgl. u. a. Brauneck 1993: 429–439, Hinck 1965, Krömer 1990: 30–44, Mehnert 2003: 30–42, 105–121.
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Arlequin heißen sollte,88 Züge des Arlecchino – der agilen, ausgelassen lustigen, geistreichen und schlagfertigen, mitunter tölpelhaft naiven Dienerfigur der Commedia.89 Seine Verlobte Suzanne erinnert an die „vorlaute Magd“ bzw. die „espritvoll kokette[ ] Soubrette“ Colombina. (Brauneck 1996: 49) Die Gräfin und der Graf, der anfänglich den Namen Léandre tragen sollte,90 haben ihre Vorfahren in den Innamorati – den Liebenden –, während Bartholo zu den komischen Alten zählt. Reinhold Hammerstein bezeichnet ihn zu Recht als „Abkömmling des Bologneser Doktor Gratiano alias Baloardo, zugleich mit Zügen des Pantalone“ (Hammerstein 1987: 248). Im Unterschied dazu erinnert Brid’oison an Tartaglia, „jener oft als stotternden, als Notar, Advokat oder Richter eingesetzten Hilfsfigur der Commedia.“ (Brauneck 1993: 433) Durch diesen Rückbezug auf die Commedia dell’arte-Tradition ist Beaumarchais erst die kritische Thematisierung des Herr-und-KnechtVerhältnisses möglich, so die These. Denn die Abwendung von der Typenkomödie und die Hinwendung zur comédie larmoyante und zum drame bourgeois korreliert in der Mitte des 18. Jahrhunderts mit einem sinkenden Interesse an der Darstellung von Herrschaftsbeziehungen.91 Das hat wirkungsästhetische und weltanschauliche Gründe. Ziel der ‚bürgerlichen Dramen‘ (vgl. Szondi 1973) ist nicht länger die Darstellung zu verlachender Schwächen und Fehler, sondern die Demonstration tugendhafter Handlungen mit der Absicht, beim Zuschauer Rührung und Mitleid zu erregen. Die komische, moralisch indifferente Figur des Dieners wird daher von den meisten Dramentheoretikern der Zeit abgelehnt, so auch von Nicolas Chamfort und Joseph de La Porte, die in ihrem Dictionnaire dramatique (1776) über die für die Typenkomödien konstitutiven ‚Scenes de valets‘ schreiben: Les plaisanteries d’un Valet, & son avidité pour l’argent, sont très grossieres. On n’a que trop long-temps avili la Comédie par ce bas Comique, qui n’est point du tout Comique. Les Scènes de Valets & de Soubrettes ne sont bonnes, que quand elles sont absolument nécessaires à l'intérêt de la Piéce, & quand elles renouent l'intrigue: elles sont insipides dès qu’on ne les introduit que pour remplir le vuide de la Scène; & cette insipidité, jointe à la bassesse des discours, deshonorent un
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Vgl. Scherer 1954: 28. Die Figur des Figaro hat ihre Wurzeln in der römischen Komödie. Sie zählt zu dem „eironTypus“, einer Figur, „die die Ränke und Pläne für den Sieg des Helden zu schmieden hat. In der römischen Komödie ist es fast immer ein listenreicher Sklave (dolosus servus); in der Renaissance, vor allem auf dem Kontinent, wird daraus der erfinderische Diener, den die Spanier den gracioso nennen. Heutzutage kennt man ihn am besten als Figaro und Leporello.“ (Frye 1964: 175f.) Zu den Sklavenfiguren in der römischen Antike vgl. Spranger 1961. Vgl. Scherer 1954: 28. Vgl. u. a. Boom 1979: 61f. und Klenke 1992: 259.
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Théâtre fait pour amuser, & pour instruire les honnêtes gens. (Chamfort/La Porte 1776: 117)92
In den neuen Genres wird auf die gesamtgesellschaftliche Perspektive verzichtet und stattdessen die „Intimität der Kleinfamilie“ (Szondi 1973: 126) fokussiert. Das gilt auch für die vor der Figaro-Trilogie entstandenen Bühnenstücke von Beaumarchais. In diesen sowie in den Dramen von Denis Diderot, Pierre Claude Nivelle de La Chaussée und anderen werden die „Tugenden und die Pflichten des Menschen“ (Diderot 1986b: 294)93 vorgeführt und trotz der de facto bestehenden sozialen Unterschiede die anthropologische Gleichheit propagiert. Für Herr und Knecht haben die gleichen Handlungsnormen Gültigkeit. Vor diesem Hintergrund lässt sich erklären, dass die Bedientenfiguren zwischen 1742 und 1767 allmählich aus den Theatertexten verbannt oder gebändigt worden sind.94 „Ihre ur-
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„Die Scherze eines Dieners und seine Gier nach Geld sind sehr primitiv. Man hat die Komödie nur allzu lange schon durch diese niedrige Komik entwürdigt, die überhaupt nicht komisch ist. Die Szenen der Diener und der Zofen sind nur dann gut, wenn sie absolut notwendig sind für die Intention des Stücks und wenn sie an die Intrige anknüpfen: Sie sind geschmacklos, sobald man sie nur einführt, um die Leere der Bühne zu füllen, und diese Geschmacklosigkeit, zusätzlich zur Erbärmlichkeit der Rede, entehren ein Theater, gemacht, um die ehrbaren Leute zu unterhalten und zu belehren.“ (Übersetzung N.B.) Kritisch wird die komische Figur, die mit der Bedientenfigur „zwar nicht immer kongruent, […] aber teilweise deckungsgleich“ (Boom 1979: 25) ist, auch schon von Theaterschaffenden des 17. und frühen 18. Jahrhunderts beurteilt. Der bekannteste Kunstrichter im deutschsprachigen Raum ist Johann Christoph Gottsched, der den Harlekin 1737 gemeinsam mit Friederike Caroline Neuber von der Bühne verbannt hat. Gegen die komische Dienerfigur haben sich aber auch Johann Elias Schlegel, Christian Felix Weiße, Pierre Corneille, André Mareschal, Samuel Richardson oder die Autoren der deutschen Moralischen Wochenschriften ausgesprochen (vgl. Boom 1979 und Martens 1968: 469ff.). Wie Boom hervorhebt, stand „das Schicksal der lustigen Personen“ immer dann auf dem Spiel, wenn „das Lustspiel höheren literarischen Ansprüchen genügen sollte, wenn Natürlichkeitsforderungen an es herangetragen oder wenn es in den Dienst moralischer Aufklärung gestellt wurde“. Denn die komischen Figuren waren „durch ein extemporiertes Spiel einer Literarisierung im Wege, als Hauptträger der Komik der animalischen Seite des Lebens zugewandt und aufgrund ihres Zoten- und Possenspiels für die Darstellung menschlicher Probleme ungeeignet.“ (Boom 1979: 26). Vgl. Diderot 1980b: 333: „La comédie sérieuse qui a pour objet la vertu & les devoirs de l’homme.“ Im Verlauf des 18. Jahrhunderts fordern zahlreiche Dramentheoretiker eine ‚lebenswahrere‘ Gestaltung der Subalternen. Sie werden unter anderem von Weiße oder Richardson moralisch aufgewertet und nicht mehr dem Spott der Zuschauer preisgegeben. Andere Dramatiker verzichten ganz auf die Dienerfiguren, so etwa Christian Fürchtegott Gellert, der nur in seinem rührenden Lustspiel Das Loos in der Lotterie (1746) eine Dienstmagd auf die Bühne bringt. Kritisch äußert sich auch Diderot in seinen Unterredungen über den ‚Natürlichen Sohn‘ (Entretiens sur le ‚Fils Naturel‘, 1757) über die Bedientenfiguren auf dem Theater. Er ist davon überzeugt, dass die Einheit der Handlung gewahrt werden müsse, um das Interesse des Zuschauers am Stück nicht zu schwächen. Die „Intrigen der Bedienten und
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sprünglich komische, oft die Komödie konstituierende Rolle weicht der moralischen Vorführung wohlerzogener, vorbildlicher Diener“ (Wichert 1989: 121). Als paradigmatisches Beispiel für diesen Funktionswandel lassen sich Gotthold Ephraim Lessings Miss Sara Sampson (1755) und Minna von Barnhelm (1767) anführen. In beiden Dramen werden die Subalternen als moralisch handelnde, ihren Herren treu ergebene und freundschaftlich verbundene Figuren vorgeführt. Trotz dieser moralischen Aufwertung wird die hierarchische Herrschaftsbeziehung in keinem ‚bürgerlichen‘ Drama der Zeit in Frage gestellt.95 Werden Interessenskonflikte von Herr und Knecht auf die Bühne gebracht, zeigen die Theaterautoren „in erster Linie konservative, ja herrschaftsstabilisierende Lösungswege“ (Klenke 1992: 261) auf. Dabei wird der Subalterne für jede Tat, die das bestehende Herrschaftsverhältnis gefährden könnte, mit aller Härte bestraft.96
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Mädchen, mit welchen man die Haupthandlung unterbricht“, seien daher inakzeptabel. (Diderot 1986a: 93; vgl. Diderot 1980a: 89: „Ces intrigues de valets et de soubrettes dont on coupe l’action principale, sont un moyen sûr d’anéantir l’intérêt“). Auch eine realitätsnahe Darstellung der Subalternen schließt er im Unterschied zu Weiße und Richardson aus: „Denn ehrbare Leute halten ihre Angelegenheiten vor ihnen [den Bedienten, N.B.] verborgen und wenn alle Auftritte nur unter der Herrschaft vorgehen, so werden sie um so viel interessanter sein. Spricht ein Bedienter auf der Bühne so, wie er wirklich im gemeinen Leben spricht, so ist er plump; spricht er anders, so ist er falsch“ (Diderot 1986a: 144; vgl. Diderot 1980a: 132: „Je n’y veux point de valets. Les honnêtes gens ne les admettent point à la connaissance de leurs affaires; et si les scènes se passent toutes entre les maîtres, elles n’en seront que plus intéressantes. Si un valet parle sur la scène comme dans la société, il est maussade; s’il parle autrement, il est faux“). Zur Ablehnung der Dienerfiguren auf dem Theater vgl. auch Diderots Abhandlung Von der dramatischen Dichtkunst (De la poésie dramatique, 1760) (Diderot 1986b: 370 bzw. Diderot 1980b: 399; einen Überblick über die zeitgenössische Auseinandersetzung mit der ‚dramatis persona des Bedienten‘ gibt Boom 1979: 24–63. Vgl. Klenke 1992: 259. Als Beispiel führt Klenke u. a. Denis Diderots Der Hausvater (Le Pére de famille, 1758) und Marc Antoine Jacques Rochon de Chabannes’ Einakter Les valets, maîtres de la maison (1768) an. In beiden Theatertexten ist die Beziehung der Herren zu ihren Dienern von „Vorsicht und Mißtrauen“ sowie „dem Bestreben nach Distanzierung“ geprägt. (Klenke 1992: 260) So zeigt Diderots Hausvater für seinen Schuldner Verständnis und gewährt ihm großmütig einen Zahlungsaufschub, während er die Unehrlichkeit seines Dieners mit der sofortigen Entlassung bestraft. „Wenn schon eine simple Falschaussage“ so schwer geahndet wird, kann „die oberste Maxime der hier exemplarisch illustrierten Herrschaftspraxis nur lauten: rigorose Repression jeglichen Fehlverhaltens von Dienern zur dauerhaften Herrschaftssicherung.“ (Klenke 1992: 354, Anm. 139) Ähnliches gilt für Chabannes’ Komödie, in der Bedienstetenfiguren vorgeführt werden, die sich in Abwesenheit ihrer Herrschaft selbst als Hausherren ausgeben. „Entgegen aller komödientypischen Konventionen“ führt „der Vertrauensbruch der Diener“ auch hier zur sofortigen Beendigung des Dienstverhältnisses, besteht doch die „Gewißheit, daß Diener mit hochstaplerischen Neigungen eine gefährliche Bedrohung der etablierten Hierarchie darstellen“ (Klenke 1992: 260).
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Entgegen dieser Entwicklung macht Beaumarchais den Konflikt zwischen Herr und Knecht zum strukturbestimmenden Thema. Dazu rekurriert er auf die Commedia dell’arte-Tradition. Auf diese Weise kann er die „Kritik und Satire konkreter aktueller gesellschaftlicher Verhältnisse“ wieder ins Zentrum rücken, die „das drame mit seinem moralischen und rührenden Anspruch nicht leisten kann und will.“ (Schoell 1984: 425) Den Machtmissbrauch Almavivas veranschaulicht er durch den Bruch mit den Figurentypen. So konzipiert er den Grafen nicht – wie für die Innamorati üblich – als ‚sympathetische Identifikationsfigur‘,97 sondern attribuiert ihm im Personenverzeichnis ein ‚verdorbenes Herz‘. Die in der privaten Sphäre agierenden Figuren – die Gräfin und das Liebespaar Figaro und Suzanne – werden hingegen positiv hervorgehoben. Dabei weist insbesondere der Diener individualistische Züge auf. Allein die Tatsache, daß Beaumarchais ihm als einziger Person des Stückes ein eigenes und höchst wechselvolles Vorleben zugesteht, ist […] bezeichnend. Zudem wird Figaro als gebildeter, kreativer und freier Mann vorgestellt, der sich seinen Lebensunterhalt durch ein ehrliches Handwerk verdient. (Klenke 1992: 263)
Der Subalterne soll daher auch nicht als niedrig-komischer Typ dargestellt werden. Im Gegensatz zu den Dienerfiguren der Commedia dell’arte, die der „Lachlust des Publikums preisgegeben“ werden, weil sie primär an der Befriedigung ihrer physischen Begierden interessiert sind, zeichnet sich Figaro durch „Witz, Intelligenz, Liebe und Treue“ aus. (Bletschacher 2004: 187) Um die „vielen Nuancen“ der Figur erfassen zu können, fordert Beaumarchais vom Schauspieler, sich in die Rolle „hineinzuversetzen.“ (Beaumarchais 1981a: 99)98 Die innovative Abkehr von den gängigen Komödienschemata betrifft nicht nur die Figurenkonzeption, sondern auch die Handlungsstruktur. Wie Northrop Frye hervorgehoben hat, ist für eine auf die neue griechische Komödie zurückgehende und bis ins frühe 20. Jahrhundert dominierende Komödientradition folgendes stereotype Handlungsschema kennzeichnend: Für gewöhnlich dreht es sich darum, daß ein junger Mann ein junges Mädchen will, daß diesem Wunsch eine Opposition, meist von elterlicher Seite, entgegensteht und daß gegen das Ende des Stückes eine plötzliche Wendung dem Helden zustatten kommt, so daß er sich durchsetzen kann. (Frye 1964: 165)
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Zur ästhetischen Identifikation und insbesondere zur ‚sympathetischen Identifikation‘ mit dem ‚literarischen Helden‘ vgl. Jauß 41984b: 244–293, bes. 271–276. Vgl. Beaumarchais 1988a: 378: „L’on ne peut trop recommander à l’acteur qui jouera ce rôle de bien pénétrer de son esprit“.
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Die Komödie endet in der Regel mit der Hochzeit der Verliebten. Beaumarchais’ erster Teil der Figaro-Trilogie, Der Barbier von Sevilla oder Die nutzlose Vorsicht (Le Barbier de Séville ou La précaution inutile, 1775), entspricht eben diesem Handlungsschema. In dem Lustspiel will der verkleidete Almaviva seine Geliebte mit Figaros Hilfe aus den Fängen ihres geldgierigen Vormunds Bartholo befreien, der das Mädchen selbst heiraten möchte. Nach Intrigen und Gegenintrigen endet die Typenkomödie mit der Heirat der Innamorati. Dieses Komödienschema gilt auch für Die Hochzeit des Figaro. Im Zentrum steht allerdings nicht länger der Konflikt zwischen jung und alt, sondern der Agon zwischen Herr und Knecht, wobei nicht die Hochzeit der jungen Aristokraten, sondern die Heirat der Domestiken „zum Dreh- und Angelpunkt des Bühnengeschehens wird und nach etlichen Peripetien im Happy-End unter den Beifallsstürmen des Publikums gefeiert werden kann“ (Klenke 1992: 271). In diesem Bruch mit den Gattungskonventionen manifestiert sich deutlich die herrschaftskritische Textintention.99 Das Gleiche gilt für die in der Komödie bis dato unüblichen Massenszenen (I, 10 / II, 22–23 / III, 15 / IV, 4–6 / IV, 9 / V, 2 / V, 12–19), in denen zahllose „STUMME PERSONEN“ (Beaumarchais 1981a: 102)100 auftreten, die in der Gerichtsszene Richter und Verteidiger, vor allem aber das Volk repräsentieren: Diener, Landarbeiter, Bäuerinnen und Bauern sowie junge nicht-aristokratische Mädchen. Diese Szenen machen zum einen die „Isolierung des Grafen, der sich mit der Gegnerschaft seines Dieners zugleich die Antipathie aller seiner Untergebenen eingehandelt hat, […] augenscheinlich.“ (Neuschäfer 1970: 533) Zum anderen wird vorgeführt, dass und wie sich Amalviva von der Autorität der öffentlichen Meinung moralisch unter Druck setzen lässt. So verpflichtet er sich im ersten Akt, das ius primae noctis „für alle Hochzeiten“ (Beaumarchais 1981a: 125)101 aufzugeben; im vierten Akt errötet er – der Libertin –, weil die Öffentlichkeit erfährt, dass er dem Bauernmädchen Fanchette Avancen gemacht hat;102 und im fünften Akt wird Almaviva beschämt, weil ihm nicht nur die Gäfin, sondern alle Hochzeitsgäste sein Fehlverhalten verzeihen, ohne wie sie „an seiner Untreue gelitten zu haben“ (Klein 1978: 155).103 Auf diese Weise wird deutlich, dass es sich bei dem dramatischen
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Diese Position teilen u. a. Klenke 1992 und Rieger 1977. Vgl. Beaumarchais 1988a: 382: „personnages muets“. Vgl. Beaumarchais 1988a: 397: „adoptez-en la cérémonie pour tous les mariages“. Vgl. Beaumarchais 1981a: 206. bzw. Beaumarchais 1988a: 456. „DER GRAF. […] Da kann nur ein großmütiges Verzeihen… / DIE GRÄFIN. Lachend Sie an meiner Stelle würden sagen: Nein, nein; doch ich gewähre es bedingungslos – zum dritten Mal heute. Erhebt sich / SUZANNE. Aufstehend Ich auch. / MARCELINE. Aufstehend Ich
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Konflikt weniger um einen privaten zwischen Herr und Knecht als um einen zwischen Herrscher und Untertanen handelt. Im Dienst der Herrschaftskritik steht auch der Rekurs auf das Motiv des ius primae noctis – ein Recht, das im Ancien Régime nicht existiert hat. Laut Maurice Bouvier-Ajam ist es offiziell erst am 4. 11. 1789 von der Nationalversammlung abgeschafft worden.104 Dagegen vertritt Alain Boureau die These, dass es das Herrenrecht in Frankreich zu keiner Zeit gegeben hat. „Wo Schuld zugewiesen, Ansprüche geltend gemacht wurden, hatte der Diskurs nie Bezug zur Realität.“ (Boureau 2000: 318) Diese fehlende tagespolitische Aktualität werten Klenke und Hans Ludwig Scheel als Indiz dafür, dass das Motiv metaphorisch gedeutet werden muss. Genauso wie Beaumarchais die ursprünglich in Frankreich angesiedelte Handlung aus Zensurgründen nach Spanien verlegt habe,105 sei das Herrenrecht „symbolisch für alle ‚Privilegien‘ des Adels“ (Scheel 1968: 94)106 zu lesen. Für Richard Bletschacher ist der Rückgriff auf das Motiv gar Zeichen einer „schlecht verhohlenen demagogischen Absicht“. Der Dramatiker ziele darauf, die Zuschauer zu emotionalisieren, „Widerstand aufzustacheln und den Aufstand der Unbotmäßigen im voraus mit allgemein verständlichen Argumenten zu bewaffnen.“ (Bletschacher 2004: 184) Im Gegensatz dazu schließt Warning eine „metaphorische Indienstnahme“ des Motivs aus. Er verdeutlicht, dass das Herrenrecht seit Ende des 17. Jahrhunderts als „komödienspezifisches Handlungshindernis“ fungiert, für ihn Zeichen einer eher affirmativen Textintention. (Warning 1980: 554) Da es für das ius primae noctis keine reale, sondern nur eine innerliterarische Referenz gebe, werde
_____________ auch. / FIGARO. Aufstehend Ich auch. Hier gibt es ein Echo. / Alle [die Hochzeitsgesellschaft, N.B.] erheben sich / DER GRAF. Ein Echo! – Ich wollte sie überlisten, und sie haben mich wie ein Kind behandelt! / DIE GRÄFIN. Lachend Bedauern Sie es nicht, Graf.“ (Beaumarchais 1981a: 247) Vgl. Beaumarchais 1988a: 485: „LE COMTE […] Il n’y a qu’un pardon bien généreux… / LA COMTESSE, en riant: Vous diriez ‚Non, non‘, à ma place; et moi, pour la troisième fois d’aujourd’hui, je l’accorde sans condition. / Elle se relève. / SUZANNE se relève : Moi aussi. / MARCELINE se relève: Moi aussi. / FIGARO se relève: Moi aussi; il y a de l’écho ici! / Tous se relèvent. / LE COMTE: De l’écho! J’ai voulu ruser avec eux ; ils m’ont traité comme un enfant! / LA COMTESSE, en riant: Ne le regrettez pas, monsieur le comte.“ 104 Vgl. Bouvier-Ajam 1973: 103. 105 Lintilhac und Scheel haben hervorgehoben, dass die Komödie ursprünglich in Frankreich spielen sollte, wie eine frühe handschriftliche Fassung des Stücks zeigt; vgl. Lintilhac 1969: 16 und Scheel 1968: 93. 106 Ähnlich argumentiert Klenke. Sie vertritt die These, dass Almaviva als „Repräsentant jener gesellschaftlichen Kräfte“ fungiert, „die die réaction aristocratique trugen und eine Wiedereinsetzung des Adels in seine verfallende Machtposition anstrebten“. (Klenke 1992: 272)
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das moralische Skandalon bereits im Ansatz neutralisiert. Die Bedrohung der Virginität wird irrealisiert zum Komödienmotiv, und wenn sich auch ein Herr und ein Knecht gegenüberstehen, so verlagert sich doch der Fokus der Aufmerksamkeit aufs Naturhafte, auf das sexuelle Begehren des einen wie des anderen. (Warning 1980: 554)
Tatsächlich handelt es sich bei dem Herrenrecht um ein populäres Komödienmotiv im 17. und 18. Jahrhundert.107 Allerdings lässt Warning außer Acht, dass das Thema in fast allen Theatertexten der Zeit „auf die häusliche Posse beschränkt“ (Boureau 2000: 49) bleibt. Zumindest kommt der Subalterne in keiner der Sittenkomödien „als ernsthafter Rivale des Herrn“ in Betracht.108 „Wenn Dienergestalten […] in naiver Selbstüberschätzung im eigenen Namen bei Höhergestellten als Brautwerber auftreten, so liegt darin in erster Linie eine komiksteigernde Wirkungsintention“ (Klenke 1992: 187). Auch in Voltaires Komödie Das Herrnrecht oder Die Klippe des Weisen (Le Droit du Seigneur ou l’Écueil du sage, 1762) – laut Boureau der einzige Autor, der „polemische Absichten“ (Boureau 2000: 49) verfolgt,109 – werden Herr und Knecht nicht als Gegner dargestellt. Der hier vorgeführte adlige Protagonist, der Marquis von Carrage, ist ein tugendhafter Herrscher, der sich im Handlungsverlauf in das Mündel eines Bedienten verliebt. Anstatt vom ius primae noctis Gebrauch zu machen, entscheidet er sich dafür, seine Gefühle zu unterdrücken, zumal das Mädchen namens Acante bereits einem anderen versprochen ist und er selbst eine „vernünftige Heirath“ (Voltaire 1765: 64)110 anstrebt. Nachdem sich herausstellt, dass Acante die Liebe des Marquis erwidert und sie in Wahrheit die Tochter der tugendhaften Adligen Orphise ist, steht einem glücklichen Ausgang nichts mehr im Weg. Die Komödie endet mit einem Heiratsversprechen.
_____________ 107 Vgl. Boureau 2000: 48ff, Howarth 1961 und Litvack 1984. 108 Zu den Theatertexten, in denen das Droit du Seigneur zentrales Thema ist, zählen u. a. La Noce Interrompue (1699) von Charles Dufresny, Le Droit du Seigneur ou le Mari retrouvé et la femme fidèle (1735) von Louis de Boissy, Le Droit du Seigneur (1763) von Pierre-Jean-Baptiste Nougaret oder Le Droit du Seigneur (zuerst 1784 publiziert) von Pierre François Guyot Desfontaines; vgl. Howarth 1961, Boureau 2000 und Klenke 1992. 109 In seinen Schriften hat Voltaire das mittelalterliche ius primae noctis mehrfach kritisiert, so etwa im 52. Kapitel seines Essai sur les mœurs et l’esprit des nations (1756); vgl. Voltaire 2010: 248f. 110 Vgl. Voltaire 1986: 124: „Je veux affermir ma maison, / Par un hymen qui soit tout de raison.“
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1.2.3 Wirkungsästhetik: Zwischen moralischer ‚Lektion‘ und höfischem divertissement Wie illustriert worden ist, spielt Beaumarchais mit den Gattungskonventionen. Er rekurriert auf die Figurenkonzeption der Commedia dell’arte, die Handlungsstruktur der „traditionsreiche[n] Intrigenkomödie“ (Klenke 1992: 261) und das gängige Lustspielmotiv des ius primae noctis. Alle Elemente werden in den Dienst der Herrschaftskritik gestellt. Dennoch ist die Komödie mitunter verharmlosend als höfisches divertissement gewertet worden. Wie lässt sich das erklären? Entschärfend wirkt der verfremdende Bruch mit der Gattungstradition, durch die dem Zuschauer die Artifizialität der Komödie bewusst gemacht wird, so die These. Das lässt sich am Beispiel der letzten Szenen des dritten Aktes besonders deutlich machen, die als Parodie der für das genre sérieux charakteristischen Anagnorisis-Szene zu lesen sind.111 Hier erkennt Figaro in Marceline und Bartholo Mutter und Vater, zeigt sich von dieser Familienzusammenführung aber nicht gerührt, sondern schockiert. Auf Marcelines theatralische Frage, ob die „Stimme der Natur“ Figaro „nicht tausendmal gesagt“ habe, dass Bartholo sein Vater sei, antwortet der Subalterne nüchtern: „Nie.“ (Beaumarchais 1981a: 191)112 Das populäre Handlungsmotiv wird „komisch entwertet“. Erst im Szenenverlauf weicht die „heitere parodistische Atmosphäre […] dem Ernst.“ (Wolf 1984: 327) Marceline entwirft die für das ‚bürgerliche‘ Drama konstitutive Vision einer empfindsamen Familie, deren Mitglieder sich mit Rührung und zärtlicher Liebe begegnen (vgl. Beaumarchais 1981a: 193), und Figaro findet „allmählich zu jener zarten Sohneszuneigung, wie sie in einem empfindsamen Drama von Anfang an gegeben gewesen wäre“ (Wolf 1984: 328). Umarmungen und Tränen besiegeln die Familienidylle. Auf die Artifizialität der Komödie verweist auch die vierte Szene des zweiten Aktes. Das szenische Tableau soll hier Carle van Loos Kupferstich Die Spanische Konversation (La Conversation Espagnole, 1755) entsprechen.113 Zitiert wird außerdem das populäre Lied Marlbrough s’en va t-en guerre, singt Cherubim der Gräfin doch eine Romanze auf die bekannte Melodie vor. Durch solche metareferentiellen Verweise tritt die interne theatrale Kommunikation hinter die externe zurück. Die auf Herrschaftskritik zielenden
_____________ 111 Auf den parodistischen Charakter der Szene haben u. a. Warning 1980 und Wolf 1984 hingewiesen. 112 Vgl. Beaumarchais 1988a: 446: „MARCELINE: Est-ce que la nature ne te l’a pas dit mille fois? / FIGARO: Jamais.“ 113 Vgl. Beaumarchais 1981a: 137 bzw. Beaumarchais 1988a: 406.
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Bühnenvorgänge werden sekundär, stattdessen wird dem Publikum der Konstruktionscharakter des Theatertextes bewusst gemacht. Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass die Betonung der Wirkungs- und Materialebene den Zuschauer erst in eine reflexive Distanz zu den Bühnenereignissen versetzt, durch die er sich über die politischen Implikationen des Stücks bewusst werden kann. Zudem muss eingeräumt werden, dass sich Beaumarchais nicht nur auf Elemente „aus ganz verschiedenen Bereichen der literarischen und der Theatertradition“ (Scheel 1968: 96), sondern auch auf die textexterne Realität bezieht, zum einen in der Gerichtsszene, zum anderen in Figaros langem Monolog im fünften Akt. So verweist der Name des Dorfrichters Don Gusman Brid’oisin auf Beaumarchais’ Prozessgegner Louis Valentin de Goëzman – ein Verfahren, das bei der gebildeten Öffentlichkeit über die nationalen Grenzen hinweg großes Aufsehen erregt hat, weil Beaumarchais seinen Standpunkt in vier Mémoires judiciaires (1773–1774) publiziert hat.114 In diesen Texten,
_____________ 114 Beaumarchais wandte sich an die Frau des Juristen in der Hoffnung, über ihn Einfluss auf einen gegen Alexandre Falcoz de la Blâche angestrengten Gerichtsprozess zu nehmen. Für die Vereinbarung eines Termins verlangte Goëzmans Ehefrau eine hohe Vermittlungsgebühr. Bei dem vereinbarten Zeitpunkt wurde Beaumarchais jedoch abgewiesen. Es stellte sich heraus, dass der Comte de Blâche ihm zuvorgekommen und Goëzman bereits einen Besuch abgestattet hatte. Beaumarchais verlor den Prozess; der von ihm im Voraus bezahlte Betrag wurde ihm von Mme Goëzman bis auf fünfzehn Louis d’or zurückerstattet. Dieses Geld bestritt sie jemals erhalten zu haben. „Beaumarchais gegenteilige Behauptung erregte in der Öffentlichkeit starkes Interesse, da die Angelegenheit mit Goetzmann [sic] einen conseiller des neuen von Maupeou durch einen ‚Staatsstreich‘ eingesetzten Parlement de Paris betraf. M. Goetzmann […] versuchte, sich aus der Affaire zu ziehen, indem er dem Buchhändler LeJay eine Falschaussage aufzwang. Durch diese Aussage wurde Beaumarchais der versuchten Bestechung der Mme Goetzmann beschuldigt und die Ehefrau des Richters von jeder Schuld freigesprochen, denn sie habe ‚mit Erhabenheit und Entrüstung‘ die von Beaumarchais angebotenen ‚Geschenke‘ zurückgewiesen. […] Beaumarchais strengte einen Prozeß an. Zu seiner öffentlichen Verteidigung schrieb er vier Mémoires, die er unter dem Namen seines Anwalts Malbête publizierte, da die Streitschriften der Anwälte generell von der Zensur ausgenommen waren. […] Bei diesem Tauziehen gelang es Beaumarchais, […] Goetzmann durch die Aufdeckung einer unehrenhaften ‚Geschichte‘ öffentlich bloßzustellen – Goetzmann hatte versucht, seine Vaterschaft eines unehelichen Kindes dadurch zu verbergen, daß er in das kirchliche Geburtsregister eine [sic] falschen Namen eintrug“ (Schroeder-Angermund 1993: 69). Wieviel Aufmerksamkeit die Ereignisse rund um die ‚Affäre‘ Goëzman erregt haben, manifestiert sich in der Auflagenhöhe der Mémoires. Wie Christiane Schroeder-Angermund hervorhebt, hat sich die vierte Abhandlung an drei Tagen sechstausendmal verkauft. Tilly Bergner spricht gar von zehntausend Exemplaren in zwei Tagen. (Vgl. Bergner 1990: 114) Der Prozess endete mit einer Strafe für Beaumarchais. Sein „Verhalten wurde als ehrenrührig verurteilt. Das bedeutete den Ausschluß von allen öffentlichen Ämtern, das Publikationsverbot und den Verlust der Ehre. Beaumarchais’ Mémoires wurden verbrannt. Mit Hilfe des Prince de Conti gelang es Beaumarchais, sich durch Flucht nach Flandern und England der Vollstreckung des Urteils zu entziehen. Der Tod Louis XV und Beaumarchais
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die „von zielsicherer Angriffslust und einem souveränen Humor“ geprägt sind, prangert er die Willkür und die „Parteilichkeit der Gesetze“ an. (Bergner 1990: 104, 102) Wie Tilly Bergner herausstellt, war ihre Wirkung „außerordentlich, zumal sie ihres Umfangs wegen nicht zensurpflichtig waren und sich wegen des schnellen Verkaufs etwaiger Beschlagnahme entzogen.“ (Bergner 1990: 102f.) Die ‚Affäre-Goëzman‘, auf die Beaumarchais mit der Figur des Brid’oison rekurriert, kann bei dem zeitgenössischen Publikum als bekannt vorausgesetzt werden. Im Unterschied zu der Gerichtsszene, in der Beaumarchais ähnlich wie in seinen Mémoires die Willkür und die Bestechlichkeit der Richter anprangert, werden in Figaros Monolog die mangelnden beruflichen Aufstiegschancen für qualifizierte Personen ohne Adelstitel und großes Vermögen, vor allem aber die absolutistische Zensurpraxis kritisiert. Auch wenn es zwischen Figaros Monolog und Beaumarchais’ Leben keine unmittelbaren Parallelen gibt, sind wiederholt Entsprechungen konstatiert worden.115 Das lässt sich auf die dem Dramatiker und seiner Figur eigene Bereitschaft zurückführen, dem Willen der Inhaber der politischen Macht Widerstände entgegenzusetzen. In „Anbetracht dieser Analogie[ ] mögen Figaros Ausfälle gegen die Kräfte, die seine literarische Karriere sabotiert haben, dem zeitgenössischen Zuschauer als Echo Beaumarchais’ eigener bitterer Erfahrungen mit den Autoritäten erschienen sein“ (Klenke 1992: 265). Durch die Verweise auf die textexterne Realität verliert der scheinbar so „stereotype Rekurs auf die Picarotradition zweifellos an Harmlosigkeit, gewinnt Figaros scharfzüngige Kritik eine zeitbezogene Dimension“ (Klenke 1992: 265). Dem Monolog kommt aber auch aufgrund seiner ungewöhnlichen Länge, durch die er sich von dem übrigen Text absetzt, besondere Bedeutung zu. Während des langen Selbstgesprächs, das nicht für die innere, sondern die äußere theatrale Kommunikation von Bedeutung ist, wird Figaro zum Kommentator des Bühnenspiels. In dieser Rolle problematisiert er die fehlende Pressefreiheit, wenn er davon spricht, eine „Komödie über die Sitten im Harem“ geschrieben zu haben, die aus Zensurgründen „auf dem Scheiterhaufen“ gelandet ist, oder wenn er erklärt, ungehindert publizieren zu können, vorausgesetzt, er schriebe in seinen
_____________ Spitzeltätigkeit in England – er beobachtete hier im Auftrag Sartines und Louis XVI Autoren regierungsfeindlicher Pamphlete – änderten Beaumarchais Situation. Im März erhielt er schließlich die Erlaubnis, den Barbier de Séville aufzuführen.“ (Schroeder-Angermund 1993: 70, Anm. 61) Ausführlich zur Affäre Goëzman vgl. u. a. Bergner 1990, Howarth 1995 und Lemaitre 1949. 115 Vgl. Klenke 1992: 265.
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„Artikeln weder über Regierung, Kirche, Politik, Moral, einflußreiche Persönlichkeiten, angesehene Berufsstände, die Oper oder andere Theater, noch über irgend etwas, auf das irgend jemand Wert legt“. (Beaumarchais 1981a: 224, 225)116 Auf diese Weise macht Beaumarchais den Zuschauern deutlich, dass auch die vorliegende Komödie „von zwei oder drei Zensoren“ (Beaumarchais 1981a: 225)117 geprüft worden ist und er seine satirische Kritik an den politischen Missständen der Zeit hat abschwächen müssen. Entschärfend wirkt außerdem die karnevaleske Komik.118 Obwohl Beaumarchais die moralisch-empfindsamen Tugenden idealisiert, orientiert er sich nicht an der Wirkungsästhetik des genre sérieux, sondern konzipiert Die Hochzeit des Figaro primär als „komödiantisch-heitere Satire“ (Wolf 1984: 335). Die verschiedenen Formen der ‚textuellen Komik‘ sollen im Folgenden skizziert werden. Zunächst ist festzuhalten, dass sich die Komik „nur zu einem geringen Teil aus der unmittelbaren Ehehandlung bezieht.“ (Wolf 1984: 319) Beaumarchais führt nicht die für eine aufklärerische Farce charakteristische „lächerliche Verkehrung der innerfamiliären Machtverhältnisse“, sondern „die Störung empfindsamer Seelenharmonie zwischen den Eheleuten“ vor. (Wolf 1984: 319) Almaviva steht denn auch statt eines tyrannischen Hausdrachens eine Rosine gegenüber, die zwar ihre Sache auch mit der farcentypischen Schlauheit des Eheweibs zu vertreten weiß, die aber vor allem, und dies konstituiert die empfindsame Überlagerung des Farcenstoffes, an der Ehekrise leidet. (Wolf 1984: 319)
Aufrichtig spricht sie mit Almaviva über die erfahrenen Kränkungen und appelliert (zumindest temporär) erfolgreich an sein Mitgefühl. Sein Fehlverhalten einsehend, gelobt der Graf Besserung und bittet um Verzeihung. Für die ‚Dienerhandlung‘ sind die komödiantischen Spielsituationen hingegen konstitutiv. Hier muss zwischen moralisch funktionalisierbarer und karnevalesker, in der Commedia dell’arte-Tradition stehender Komik
_____________ 116 Vgl. Beaumarchais 1988a: 469: „comédie dans les mœurs du sérail“, „ma comédie flambée“; Beaumarchais 1988a: 470: „mes écrits, ni de l’autorité, ni du culte, ni de la politique, ni de la morale, ni des gens en place, ni des corps en crédit, ni de l’opéra, ni des autres spectacles, ni de personne qui tienne à quelque chose“. 117 Vgl. Beaumarchais 1988a: 470: „sous l’inspection de deux ou trois censeurs“. 118 Der Begriff ist mit Michail Bachtin als „Ausdruck einer völligen Freisetzung des Individuums in einer Ausnahmesituation, einer Befreiung von allen inneren und äußeren Zwängen und der uneingeschränkten, fröhlichen Bejahung einer Gegenwelt von Kreatürlichkeit und Sinnlichkeit“ zu definieren. „Es ist auch eine Komik der Imagination und des Phantastischen, der Grenzüberschreitung und des herrschaftsfreien Raums“. (Schwind 2001: 374) Vgl. Bachtin 1969.
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unterschieden werden. Moralisch funktionalisierbar sind die komischen Wirkungen, die aus den Normverfehlungen der lasterhaften Figuren resultieren. Davon ausgehend, dass „jedes komische Phänomen […] als eine Form von Inkongruenz“ (Bachmaier 2005: 124) bestimmt werden kann, lässt sich die komische Wirkung von Brid’oison mit Beaumarchais auf den „Gegensatz zwischen dem Ernst seines Amtes und dem Lächerlichen seines Charakters“ (Beaumarchais 1981a: 101)119 zurückführen. Bei dem Grafen resultiert sie aus dem Missverhältnis zwischen den „normativen Vorstellungen“ der Zuschauer und den „konkreten Verhaltensweisen“ der Figur. (Kindt 2011: 47) Zu nennen sind erstens seine unbeherrschten Reaktionen auf harmlose Vorfälle – etwa seine übertriebene Wut auf Cherubim, den er im ersten Akt unter einem Kleid versteckt auf dem Sessel entdeckt, – zweitens die Diskrepanz zwischen seinen vorgeblichen und seinen wahren Interessen. Das kommt etwa zum Ausdruck, wenn Almaviva behauptet, sich über Cherubim als vermeintlichem Liebhaber von Suzanne deshalb so zu echauffieren, weil er Figaro so hoch schätzt. 120 Zuletzt sei der Kontrast zwischen seinem hegemonialen Anspruch und den „ständig[en] Niederlagen“ (Beaumarchais 1981a: 99),121 die er erleidet,122 genannt. Das Lachen des Publikums über die Amtsträger lässt sich mit Eugène Dupréel als rire d’exclusion – als ‚ausgrenzendes Lachen‘ – kategorisieren. „Auf der Basis eines (gesellschaftlich) gültigen Normensystems, dessen Stabilität erhalten oder intensiviert werden soll, wird die Fehlleistung de[r] (sozialen) Abweichling[e]“ (Schwind 1988: 223) angezeigt. In seiner Arbeit über die Komödie differenziert Bernhard Greiner zwischen einer Komik der Herabsetzung, sich artikulierend im Ver-Lachen, d. i. einem ‚Lachen über‘ […] und auflösendem, ‚grotesken‘ Lachen, d. i. in einem ‚Lachen mit‘, theoretisch bestimmt als Komik des Freisetzens, des Bejahens des Kreatürlichen, des
_____________ 119 Vgl. Beaumarchais 1988a: 380: „Il est tout entier dans l’opposition de la gravité de son état au ridicule du caractère“. 120 Vgl. Beaumarchais 1981a: 123 bzw. Beaumarchais 1988a: 396. 121 Vgl. Beaumarchais 1988a: 378: „le personnage est toujours sacrifié“. 122 Auf dieses Missverhältnis macht Beaumarchais auch in seinem Vorwort aufmerksam, wenn er erklärt, dass der „unumschränkte Gebieter durch das geringste Geschöpf, durch den Menschen, der am meisten sich ihm in den Weg zu stellen fürchtet, in die Verzweiflung getrieben“ (Beaumarchais 1965: 145) wird. (Vgl. Beaumarchais 1988a: 365: „en vous montrant que l’homme le plus absolu chez lui, dès qu’il suit un projet coupable, peut-être mis au désespoir par l’être le moins important, par celui qui redoute le plus de se rencontrer sur sa route.“) Diese Inkongruenz ist für Beaumarchais aber nicht primär ein Mittel ‚textueller Komik‘. Vielmehr wird der Figur des Pagen hier eine moralische Funktion zugeschrieben. Sie soll beweisen, dass ein Inhaber der politischen Macht seinen Willen nicht problemlos durchsetzen kann, „wenn er schändliche Ziele verfolgt“ (Beaumarchais 1965: 145).
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nicht in Sitte gebändigten Körpers, der nicht kanalisierten Affekte. (Greiner 1992: 98)123
Während der Graf für sein normabweichendes Verhalten verspottet – ‚herabgesetzt‘ – wird, lassen sich die durch die komische Figur des Figaro freigesetzten Affekte als ‚Komik der Heraufsetzung‘ beschreiben. Wie für den Harlekin charakteristisch, handelt es sich bei dem Diener um einen „witzige[n], scharfsichtige[n] Bube[n]“, der „an andern jede Schwachheit und Thorheit richtig bemerkt, und auf eine geistreiche aber höchst naive Art, blos stellen kann.“ (Sulzer 1771: 511) Auf diese Weise wird „ein Einvernehmen zwischen Held und Lachgemeinde“ hergestellt, das als „Triumph über Gewalten der normativen Welt“ – über die Autorität der politischen Amtsinhaber – erfahren werden kann. (Jauß 1976: 108, 107) Die für die Komödie konstitutive Komik der Herauf- und der Herabsetzung kommt auch in dem von Scherer beschriebenen Konstruktionsverfahren des troisième lieu124 zum Tragen: Eine Figur gerät in Bedrängnis, weil zwei Orte – etwa Bühne und Kulisse – besetzt sind und ein dritter Ort gebraucht wird. In diese Not gerät vor allem Cherubim, der sich im ersten Akt hinter einem Sessel versteckt. Als sich der von Bazile überraschte Almaviva dort verbergen will, benötigt Cherubim einen ‚dritten Ort‘ und findet ihn im Sessel. Ähnliches gilt für den zweiten Akt, in dem der Page zum Sprung aus dem Fenster gezwungen wird, damit er nicht von Almaviva im Ankleidezimmer der Gräfin entdeckt wird. In beiden Fällen weiß der Zuschauer im Gegensatz zum Grafen, wo sich Cherubim aufhält bzw. aufgehalten hat. Dadurch kann er sich mit Suzanne und der Gräfin darüber freuen, dass Almaviva ihn nicht im Ankleidezimmer findet; und er kann über Almaviva lachen, wenn dieser Cherubim nichtsahnend im Sessel entdeckt. Die Komik steht aber nicht immer im Dienst der ‚moralischen Lektion‘ des Stücks, denkt man an die karnevaleske Sprach-, Figuren-, Verhaltens- und Situationskomik rund um die Figuren Antonio und Bazile125 oder an die Wiederholungen, die Henri Bergson zu den „Verfahrensweisen der klassischen Komödie“ (Bergson 1988: 53) zählt. Sie finden sich im ersten Akt, wenn sich Suzanne und Marceline im Knicksen überbieten, oder im fünften Akt, in dem Suzanne Figaro bei jedem Satz ohrfeigt.126
_____________ 123 Zur Komik der Herab- bzw. der Heraufsetzung vgl. auch Jauß 1976. 124 Vgl. Scherer 1954: 143ff. und 172ff. 125 Vgl. Warning 1980: 562, Wolf 1984: 331. Zu den verschiedenen Formen literarischer Komik, zu denen die Sprach-, Figuren- Verhaltens- und die Situationskomik zählen, vgl. Kindt 2011. 126 Vgl. Beaumarchais 1981a: 114, 237 bzw. Beaumarchais 1988a: 389f., 478.
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Genannt seien ferner die Verwechslungen,127 die aufgrund der Inkongruenz zwischen Schein und Sein und der daraus resultierenden unterschiedlichen Beurteilung der Bühnenereignisse durch die Figuren und die Zuschauer komisch wirken. Wie Wolf hervorgehoben hat, verschließt sich die ‚freie‘ Komik der Komödie nicht nur „jeder moralisch-didaktischen Tendenz“ (Wolf 1984: 311), sie läuft mitunter auch der Textintention zuwider.128 So lassen sich Suzannes Ohrfeigen im dritten und fünften Akt oder die mitunter derbe Sprachkomik nicht mit den im Stück propagierten tugendhaft-empfindsamen Normen in Einklang bringen. Hier zeigen sich die Grenzen der für die Komödie konstitutiven „Verbindung zwischen Empfindsamkeit und Komödie“: Die Flexibilität, die die Empfindsamkeit im Mariage gegenüber der Komödie zeigt, bedeutet für sie zugleich auch eine Relativierung. Sie ist vor allem der normeinschränkenden Eigengesetzlichkeit der Komödie mit ihrem spezifischen Affekt, dem Lachen, zuzuschreiben. (Wolf 1984: 332)
Durch diese ‚Relativierung‘ eignet sich Die Hochzeit des Figaro auch als höfisches divertissement.129 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Beaumarchais nicht die Revolution antizipiert, aber auf die satirische Kritik an den zeitgenössischen „öffentliche[n] Übelstände[n]“ (Beaumarchais 1965: 136) 130 zielt. Er wendet sich primär gegen den Machtmissbrauch im höfischen Absolutismus unter Ludwig XVI. und fordert von den Inhabern der politischen
_____________ 127 Zur komischen Wirkung von Verwechslungen vgl. Bergson 1988: 67ff. 128 Darauf weisen u. a. auch Warning 1980 und Wolf 1984 hin. 129 Vgl. Warning 1980: 563, Wolf 1984: 331. Die Spannung zwischen der Komödie als literarischem Genre und der propagierten empfindsamen Utopie wird auch von Walter Hinck problematisiert (allerdings nicht mit Blick auf die Hochzeit des Figaro), wenn er erklärt: „Es war dem rührend-empfindsamen Lustspiel des 18. Jahrhunderts vorbehalten, mit dem alten Prinzip der Komödie zu brechen und die Darstellung von vorbildhaftem Verhalten zu seiner Hauptabsicht zu machen, also die Tugend auf den Thron zu setzen und der Komik die Tür zu weisen. Doch ließ sich diese Tür auf die Dauer nicht verschließen, und so blieb der Triumph der Tugend nur ein Zwischenspiel. Eine Komödie, deren bestimmendes Moment die Komik ist, bezieht ihre Wirkungen aus der lächerlichen Verfehlung einer Norm – daraus, daß der Zuschauer insgeheim eine Gestalt oder einen Zustand auf die Norm hin korrigiert. / Diese Norm kann die in einem sozialen System geltende oder eine es überschreitende sein, eine Norm also, vor der dieses soziale System selbst nicht besteht. Normen solcher Art setzt die Utopie. Die besondere Schwierigkeit der Utopie aber besteht darin, daß sie ein neues Normenbewußtsein erst durchsetzen muß. Und die Utopie der wahren und gerechten Ordnung hat eine größere Affinität zur Darstellung des vorbildlichen als des Fehlverhaltens. Geht sie eine Verbindung mit der Komödie ein, gerät sie also unter den Druck einer Gegenkraft. Die wahre ‚utopische Komödie‘ lebt aus einem Widerspruch: in ihr werden zugleich Normen gesetzt und verletzt.“ (Hinck 1982a: 8) 130 Vgl. Beaumarchais 1988a: 357: „les maux publics“.
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Macht einen Bewusstseinswandel: Sie sollen sich als ‚erste Diener des Staates‘ begreifen. Diese Position teilt Beaumarchais mit Diderot, aber auch und vor allem mit dem von ihm hochgeschätzten Voltaire, den Figaro in dem die Komödie abschließenden Vaudeville als ‚unsterblichen‘ Dichter preist. Dieser erklärt in seinem Artikel Gleichheit (Égalité) im Philosophischen Taschenwörterbuch (Dictionnaire Philosophique Portatif), dass es „auf unserer unglückseligen Erde“ unvermeidlich sei, „daß die gesellschaftlich lebenden Menschen sich in zwei Klassen teilen, in die Reichen, die Befehlenden, und die Armen, die Dienenden“. (Voltaire 1973: 41f.)131 Auch wenn die Subjekte einander im Prinzip gleichen – sie besitzen alle die ‚göttliche Eigenschaft‘ der Vernunft (vgl. Voltaire 1973: 39) – verfügen sie nicht über die gleichen Fähigkeiten, ihre Bedürfnisse gegebenenfalls auch gegen den Widerstand eines anderen durchzusetzen. Da jeder Mensch „mit einem ziemlich heftigen Hang zum Herrschen, zum Reichsein und zum Genießen geboren“ (Voltaire 1973: 41)132 werde, strebe er danach, andere seinem Willen zu unterwerfen. Die Herausbildung von Herrschaftsverhältnissen sei daher unabwendbar, aber auch notwendig. Schließlich könne das Menschengeschlecht nur dann weiterleben, wenn es eine unendlich große Zahl von Menschen gibt, die nützliche Arbeit tun und selber nichts besitzen; denn ein wohlhabender Mann würde gewiß seinen Acker nicht verlassen, um Ihren Acker zu pflügen, und wenn Sie ein Paar Schuhe brauchen, wird sie Ihnen ein Referent im Staatsrat nicht machen. (Voltaire 1973: 42f.)133
Allerdings seien die Dienenden nicht zwingend unglücklich, würden sie doch aufgrund ihrer „unablässige[n] Arbeit“ daran gehindert, sich „ihre Lage wirklich klar zu machen“. (Voltaire 1973: 41)134 Sobald sie sich ihrer Situation bewusst würden, entstünden Kriege, die aber nur zu einer neuen Unterwerfung des Volkes führten. Eine glückende Revolution hält Voltaire für unmöglich. Er akzeptiert die sozialen Ungleichheiten genauso wie das absolutistische System. Seine Kritik gilt wie die von Beaumarchais
_____________ 131 Vgl. Voltaire 1973: 40f.: „Il est impossible, dans notre malheureux globe, que les hommes vivant en société ne soient pas divisés en deux classes, l’une de riches qui commandent, l’autre de pauvres qui servent“. 132 Vgl. Voltaire 1973: 41: „Tout homme naît avec un penchant assez violent pour la domination, la richesse et les plaisirs“. 133 Vgl. Voltaire 1973: 42f.: „Le genre humain, tel qu’il est, ne peut subsister, à moins qu’il n’y ait une infinité d’hommes utiles qui ne possèdent rien du tout; car, certainement, un homme à son aise ne quittera pas sa terre pour venir labourer la vôtre; et, si vous avez besoin d’une paire de souliers, ce ne sera pas un maître des requêtes qui vous la fera.“ 134 Vgl. Voltaire 1973: 41: „Tous les pauvres ne sont pas absolument malheureux. La plupart sont nés dans cet état, et le travail continuel les empêche de trop sentir leur situation“.
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allein der Willkürherrschaft. In den Dialogen zwischen A, B und C bezeichnet er den Despotismus als „Mißbrauch der Monarchie“, als „Entartung einer guten Herrschaftsform“. (Voltaire 1981b: 174)135 Wie Wolfgang Röd hervorhebt, glaubte Voltaire an die Möglichkeit einer fruchtbaren Zusammenarbeit der aufgeklärten Geister mit den Inhabern der politischen Macht, – ein Glaube, den die Vertreter des radikalen Flügels der Aufklärung, der auf eine revolutionäre Veränderung hindrängte, nicht teilten. (Röd 1984: 183)
Ähnliches gilt für Beaumarchais. Die dennoch als subversiv zu bezeichnende Intention seiner Komödie manifestiert sich nicht nur auf der Handlungs-, sondern auch auf der Darstellungsebene. Der Dramatiker rekurriert auf gängige Lustspielelemente – etwa auf das Motiv des Herrenrechts, das Handlungsschema der Intrigenkomödie und die Figurenkonzeption der Commedia dell’arte – stellt sie aber in den Dienst der Herrschaftskritik, was zu einem Bruch mit den Gattungskonventionen führt. Die experimentelle Verbindung der heterogenen Elemente – insbesondere die karnevaleske Komik – führt aber auch dazu, dass die satirische Kritik an Schärfe verliert. Aus diesem Grund ist die Komödie auch verharmlosend als höfisches divertissement gelesen worden.
_____________ 135 Vgl. Voltaire 1784: 231: „Le despotisme n’est que l’abus de la monarchie, une corruption d’un beau gouvernement.“
2. Die Forderung nach Humanität und moralischer Integrität in Darstellungen widerständiger Dienerfiguren (Marivaux, Krüger, Hofmannsthal, Horváth) Im letzten Kapitel ist gezeigt worden, dass sich Beaumarchais’ Komödie ähnlich wie Diderots Roman Jacques der Fatalist und sein Herr gegen den Despotismus wendet, der sich in der sozialen Missachtung der Bevölkerung manifestiert, entzieht doch Almaviva seinen Dienern die Anerkennung in den drei Bereichen Liebe, Recht und Solidarität. Zur Beseitigung dieses Missstands werden weniger politische Reformen als ein Bewusstseinswandel der – fiktiven und realen – Herrschenden gefordert. Anstatt ihre Macht zu missbrauchen, sollen sie sich human und moralisch integer verhalten. Erst wenn sie sich als ‚erste Diener des Staates‘ begreifen und sich am Allgemeinwohl orientieren, ist ihre Herrschaft legitim. Dass die Komödie nicht für eine Revolution plädiert, wie die Forschung oftmals behauptet hat, wird schon dadurch deutlich, dass Figaros Gegenintrige primär privat motiviert ist und dass er nicht souverän agiert. Er kann sich nicht verstellen, was als Ausweis seiner Tugendhaftigkeit zu werten ist. Im Intrigieren ungeübt, kann und will er sich zwar aktiv gegen Almavivas Ränke zur Wehr setzen, weil sein privates Glück gefährdet ist, muss den Erfolg seiner Handlungen aber dem ‚Zufall‘ überlassen. Beaumarchais’ politische Kritik im Namen der Moral zeigt sich auf der Handlungsebene in der Kontrastierung von lasterhafter höfischpolitischer und tugendhafter privater Sphäre. Während die im öffentlichen Raum agierenden Amtsträger wegen ihrer Schwächen und Fehler zu verlachen sind, fungieren die im privaten Raum situierten moralisch empfindsamen Figuren als sittliche Vorbilder. Dieser Gegensatz manifestiert sich auf der Darstellungsebene in einer ambigen Dramenkonstruktion – in dem Rückgriff auf die Commedia dell’arte-Tradition in Verbindung mit Lustspielelementen der comédie larmoyante. Im Anschluss an die Textanalyse soll nun eine zweite konfliktäre Figuration interdependenter Herrschaft in der literarischen Diskussion seit der Aufklärung vorgestellt werden: die Forderung nach Humanität und moralischer Integrität in (komödiantischen) Darstellungen widerständiger Dienerfiguren, so in der
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Hochzeit des Figaro und anderen Komödien des 18. Jahrhunderts, darüber hinaus in Hugo von Hofmannsthals Der Unbestechliche (1923) und Ödön von Horváths Pompeji. Komödie eines Erdbebens in sechs Bildern (1937). In allen Lustspielen kämpft ein Diener im Namen der Moral erfolgreich gegen soziale oder politische Missstände, die im Fehlverhalten des Herrn ihren Ausdruck finden. Ziel ist die Initiierung eines Bewusstseinswandels im Rezipienten, durch den gesellschaftliche Veränderungen herbeigeführt werden sollen. Wie erläutert, ist die erste in dieser Arbeit vorgestellte Figuration wechselseitiger Herrschaft – die Negation politischer Systeme in Darstellungen von Koalitionen zwischen Herr und Knecht – auf eine dominante Rezeptionslinie in der Literatur und Literaturwissenschaft zurückführbar, die von Diderots Roman über die (sozial-)philosophischen Herr-KnechtModelle von Hegel und Marx hin zu Brecht und Braun führt. Die nun zu skizzierende zweite Figuration lässt sich weniger rezeptions- als gattungsgeschichtlich profilieren, denn auch wenn Hofmannsthal und Horváth Beaumarchais’ Komödie gekannt haben,1 lassen sich keine engen Bezüge zwischen den Lustspielen – jedenfalls nicht zwischen der Hochzeit des Figaro und Pompeji – nachweisen. Warum ist aber der Subalterne, der seine eigenen Interessen gegen den Willen des Herrn durchsetzen kann, vor allem in der Komödie zu finden? In ernsten Genres führt der Widerstand des Untergebenen meist zu einer Aufhebung der Herrschaftsbeziehung durch den Tod des Herrn oder Knechts. Man denke an Fritz Reuters Versepos Kein Hüsung (1857), in dem sich der Knecht Jehann gegen das Heiratsverbot seines Gutsherrn wehrt, indem er ihn im Affekt ersticht; an Karl von Holteis Einakter Hans Jürge (Anfang der 1830er Jahre), in dem der Jägerbursche Karl ein Feuer legt, um seinem inhumanen Herrn, dem Reichsbaron, zu schaden – eine Tat, die der sozial missachtete Knecht Hans Jürge auf sich nimmt, in dem Wissen, sie mit seinem Tod als Kriegssoldat büßen zu müssen; an Robert Heymanns Drama Herrenrecht (1902), in dem der Arbeiter Franz Gabler den Grafen Tertzky erschießt, weil dieser seine Tochter vergewaltigt hat; an Johann Christoph Zedlitz’ Trauerspiel Herr und Sklave (1834), in dem der Sklave Said Frau und Kind seines Herrn mit dem Dolch bedroht und
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Dass Horváth Beaumarchais’ Komödie rezipiert hat, zeigt seine literarische Fortschreibung Figaro läßt sich scheiden (1936). In Pompeji rekurriert er aber vor allem auf Plautus’ Komödie Persa. Im Gegensatz dazu hat Hofmannsthal den Unbestechlichen in einem Brief an Marie Luise Borchardt vom 21. 3. 1923 als eine Komödie bezeichnet, „die eigentlich geradewegs von Terenz deszendiert über den Gil Blas und Figaro“ läuft. (Hofmannsthal, 1975b: 247) Das manifestiert sich in motivischen Parallelen, die zuerst von Richard Alewyn (41967: 126) aufgezeigt worden sind.
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diese Verfehlung mit dem Selbstmord sühnt; oder an Joseph Carl Hubers Theatertext Zanga oder Die Rache (nach Edward Young, 1760), in dem sich der ‚gefangene Mohr‘ Zanga umbringt, nachdem er sich an seinem Herrn Don Alvarez gerächt hat. In keinem der genannten Texte wird ein interdependentes Herrschaftsverhältnis vorgeführt, weil die Herren ihre Untergebenen nicht als ihnen überlegen oder gleichrangig anerkennen und ihren Willen auch gegen ihr Widerstreben durchzusetzen suchen.2 Im Gegensatz dazu kann sich der Diener in der Komödie gegen die soziale Missachtung seines Herrn erfolgreich zur Wehr setzen und Humanität und moralische Integrität einfordern, ohne die Herrschaftsbeziehung grundsätzlich in Frage zu stellen. Das ist der Gattung – dem die Komödie kennzeichnenden glücklichen Ende – und ihrer Geschichte geschuldet. Schon in der antiken Komödie – insbesondere bei Plautus – erscheint der servus callidus als Meister der Intrige, der es oft „ausgezeichnet [versteht], sein peculium auf erlaubte und unerlaubte Weise zu mehren.“ (Spranger 1961: 95) Obwohl er seinem Herrn geistig, wenn auch nicht moralisch, überlegen ist, tritt er dort aber nicht als sein Gegenspieler, sondern als sein Komplize auf (vgl. Spranger 1961: 112f.). Ähnliches gilt für die Dienerfiguren der europäischen Komödie des 17. und 18. Jahrhunderts – man denke an die Commedia dell’arte oder die Komödie der französischen Klassik, zwei Theaterformen, die stark von der antiken Typenkomödie beeinflusst worden sind. Auch hier werden die Bedienten zwar als schlaue Ränkeschmieder, in der Regel aber nicht als Gegner ihrer Herren vorgeführt, auch wenn sie sie bei der Durchsetzung ihrer Interessen unwillentlich behindern, man denke an Truffaldino in Carlo Goldonis Diener zweier Herren (Il servitore di due padroni, UA 1746), dessen Lügen dazu führen, dass sich die beiden Liebenden Florindo und Beatrice erst am Ende des Handlungsverlaufs begegnen. Als treuer Diener agiert auch Mascarille in Molières Der Wirrkopf (L’estourdy ou Les contretemps, 1663), obwohl seine Intrigen durch das unbesonnene Verhalten seines Herrn immer wieder durchkreuzt werden und der ‚Wirrkopf‘ somit zur Zielscheibe seines Spotts wird. Auch wenn die Bedientenfiguren meist an ihren (jungen) Herren hängen, hat der seit der Antike tradierte intrigierende und seinem sozialen Umfeld intellektuell überlegene Dienertypus die Voraussetzung dafür geschaffen, dass er in der Komödie des 18. Jahrhunderts und darüber hinaus mitunter auch zum Gegenspieler seines Herrn avancieren kann. In
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Darin unterscheiden sich die Texte auch von August Strindbergs Fräulein Julie (vgl. III.1), in dem die Grafentochter ihren Diener Jean als ihr überlegen anerkennt und sich auf dessen Geheiß am Ende des Handlungsverlaufs umbringt.
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diesem Zusammenhang ist im letzten Kapitel erläutert worden, dass die Abwendung von der Typenkomödie und die Hinwendung zum rührenden Lustspiel in der Mitte des 18. Jahrhunderts dazu geführt hat, dass die moralisch indifferente Figur des Dieners moralisch funktionalisiert oder vom Theater verbannt worden und statt der ‚gesamtgesellschaftlichen Perspektive‘ zunehmend die ‚Intimität der Kleinfamilie‘ fokussiert worden ist. Beaumarchais’ Komödie ist insofern modellbildend, als sie im Rückgriff auf die überholte Commedia dell’arte-Tradition in Verbindung mit der Tugend-Laster-Antithetik des drame bourgeois Herr und Knecht als Gegner vorführt, um herrschaftstheoretische Probleme auf der Bühne zu erörtern. Ähnlich verfahren Hofmannsthal und Horváth im 20. Jahrhundert (vgl. 2.2 und 2.3). Wie Beaumarchais rekurrieren sie in ihren Komödien auf die Figurentypen der Commedia dell’arte bzw. der antiken Komödie, stellen sie aber in den Dienst einer moralischen Kritik an den politischen Missständen ihrer Zeit, mit dem Ziel, einen Bewusstseinswandel im Rezipienten herbeizuführen und auf diese Weise gesellschaftliche Veränderungen zu bewirken. Beaumarchais’ Komödie besitzt allerdings nicht nur ‚Nachahmer‘, sondern auch ‚Vorläufer‘ – so etwa Pierre Carlet de Marivaux’ Die Sklaveninsel (1725) und Johann Christian Krügers Die Candidaten, oder: Die Mittel zu einem Amte zu gelangen (1748). Die beiden Lustspiele sollen zunächst in den Blick genommen werden, damit die hier vorzustellende Herr-Knecht-Figuration in ihrer Gattungspezifik nachvollziehbar wird (vgl. 2.1). Beide Theatertexte sind in der ersten Jahrhunderthälfte entstanden und führen wie die Hochzeit des Figaro widerständige Dienerfiguren vor, die von ihren Herren Humanität und moralische Integrität fordern. Sie stehen noch ganz in der Tradition der Typenkomödie, integrieren aber bereits empfindsame Lustspielelemente, so dass es sich dramenästhetisch um ähnlich heterogene Gebilde handelt wie Beaumarchais’ Hochzeit des Figaro.
2.1. Die Überwindung des Despotismus durch Humanität und moralische Integrität in Marivaux’ Sklaveninsel (1725) und Krügers Candidaten (1748) In Marivaux’ Komödie erleiden Arlequin und sein Herr Iphricate sowie die Dienerin Cléanthis und ihre Herrin Euphrosine Schiffbruch. Die vier Athener stranden auf einer Insel, auf der die Einheimischen – ehemalige Skaven – sie zu einem Tausch ihrer sozialen Rollen zwingen, mit dem Ziel, „die Barbarei“ in den „Herzen“ der Herrschenden zu „heilen“. So erklärt der Insulaner Trivelin den beiden Adligen:
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Wir machen euch zu Sklaven, damit ihr selbst die Schmach, die man dabei empfindet, am eignen Leib verspürt. Wir erniedrigen euch, damit ihr, uns hochmütig findend, euch vorwerft, so gewesen zu sein. […] [W]ir suchen euch zu heilen. Ihr seid weniger unsere Sklaven als unsere Kranken, und wir brauchen nur drei Jahre, um euch gesund zu machen, das heißt menschlich, vernünftig und großmütig für Euer ganzes Leben. (Marivaux 1995: 9)1
Durch den Rollentausch ist es den Bedienten möglich, Iphricate und Euphrosine mit ihren Lastern zu konfrontieren. Dabei leiden sie ähnlich wie Beaumarchais’ Figaro vor allem unter der sozialen Missachtung ihrer Herrschaft in den drei Bereichen Liebe, Recht und Solidarität. Das Fehlen von emotionaler Zuwendung, das sich in physischer Misshandlung manifestiert, wird schon in der ersten Szene thematisiert, in der Iphricate realisiert, auf der ‚Sklaveninsel‘ gestrandet zu sein, daher um seine Freiheit und sein Leben fürchtet und sich von seinem Diener Hilfe erhofft. In dieser Notsituation versucht er, ihn im Namen der Liebe und Freundschaft für seine Pläne zu gewinnen2 – ein Versuch, der scheitert, weil Arlequin von seinem Herrn in der Vergangenheit geprügelt und „wie ein räudiges Tier“ (Marivaux 1995: 6)3 behandelt worden ist. Jetzt wünscht er sich, dass seinem Herrn ähnliches Unrecht widerfahren möge. Genauso wie die physische Integrität hat Iphricate die soziale Integrität seines Bedienten verletzt. Wie Arlequin betont, hat er in Athen den sozialen Status eines „Sklave[n]“ (Marivaux 1995: 5)4 und nicht den eines gleichwertigen Interaktionspartners gehabt, so dass ihm jeder Rechtsanspruch vorenthalten worden ist. In Athen galt allein das „Recht“ des „Stärkere[n]“, so Arlequin. (Marivaux 1995: 6)5 Den Bedienten wird darüber hinaus keine soziale Wertschätzung entgegengebracht, erklärt doch Cléanthis, von ihrer Herrin vielfach beschimpft und beleidigt worden zu sein. Wie Arlequin ist sie von ihrer Herrin nicht namentlich, sondern nur mit „Spitznamen“ wie „dumme Gans, Trine“ oder „blöde Kuh“ angesprochen und damit herabgewürdigt worden. (Marivaux 1995: 7, 10)6 Ähnlich wie der Graf Almaviva in Beaumar-
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Vgl. Marivaux 1949: 430: „[C]’est la barbarie de vos cœurs que nous voulons détruire; nous vous jetons dans l’esclavage pour vous rendre sensibles aux maux qu’on y éprouve; nous vous humilions afin que, nous trouvant superbes, vous vous reprochiez de l’avoir été. […] nous entreprenons de vous guérir; vous êtes moins nos esclaves que nos malades, et nous ne prenons que trois ans pour vous rendre sains, c’est-à-dire humains, raisonnables et généreux pour toute votre vie.“ Vgl. Marivaux 1995: 5 bzw. Marivaux 1949: 427. Vgl. Marivaux 1949: 427: „pauvres animal“. Vgl. Marivaux 1949: 427: „Esclave“. Vgl. Marivaux 1949: 427: „[T]u disais que cela était juste, parce que tu étais le plus fort.“ Vgl. Marivaux 1949: 428, 431: „sobriquets“, „Sotte, Ridicule, Bête“.
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chais’ Komödie gerieren sich beide Adlige als uneingeschränkte (Willkür-)Herrscher.7 Der noblesse de naissance der Herrschenden stellen Arlequin und Cléanthis – genauso wie Figaro und Suzanne – die noblesse de cœur gegenüber: „Herz, Tugend und Verstand; die braucht man, die zeitigen Respekt und Ehrerbietung, erhöhen einen Menschen über andre“ (Marivaux 1995: 34),8 so Cléanthis in ihrer Abrechnung mit ihrer Herrin. Dabei versteht sie wie Arlequin und die Insulaner unter ‚Tugend‘ neben einer Balance zwischen Gefühl und Vernunft vor allem die empfindsamen Normen: Aufrichtigkeit, Natürlichkeit, die Fähigkeit zum Mitleid, (altruistische) Herzensgüte und „Milde gegenüber demjenigen, der gegen die Norm verstoßen hat“ (Wolf 1984: 162) – Eigenschaften, die Zeichen von „Menschlichkeit“ (Marivaux 1995: 9)9 sind und in der sozialen Anerkennung des Gegenübers zum Ausdruck kommen. Beide Dienerfiguren lehnen daher die galante conduite ihrer Herrschaft und die mit diesem aristokratischen Habitus verbundene Unvernunft, Herzlosigkeit und Unehrlichkeit ab (vgl. Marivaux 1995: 21, 34, 27).10 Ihre Kritik lässt sich aber nicht als Plädoyer für eine Aufhebung aller Herrschaftsverhältnisse verstehen, betont doch der Insulaner Trivelin am Ende des Handlungsverlaufs, dass der „Standesunterschied“ eine „Prüfung“ sei, „die die Götter über uns verhängen“. (Marivaux 1995: 36)11 Als Konstituenten legitimer Herrschaft werden vornehme „Geburt“ und „Erziehung“ nicht in Frage gestellt. (Marivaux 1991: 29)12 Beanstandet wird ähnlich wie in Beaumarchais’ Komödie allein der Machtmissbrauch uneingeschränkter Herrscher. Von ihnen wird Humanität und moralische Integrität gefordert. Sie sollen sich als ‚Freunde‘ (vgl. Marivaux 1995: 31)13 ihrer Untergebenen begreifen und ihnen mit sozialer Wertschätzung begegnen. Erst dann sind sie der Herrschaft „würdig“ (Marivaux 1995: 32).14 Zeichen der neuen empfindsamen Bezie-
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Ähnlich argumentiert Werner Wolf, wenn er erklärt, dass „Gewalttätigkeit, Aberkennung der Menschenwürde und Berufung auf das Recht des sozial Stärkeren“ – also die Missachtung in den Bereichen Liebe, Solidarität und Recht – die „Merkmale des unmoralischen Verhaltens“ seien, „die Arlequin an seinem Herrn unter Anklage stellt“. (Wolf 1984: 166) Vgl. Marivaux 1949: 450: „Il faut avoir le cœur bon, de la vertu et de la raison; voilà ce qu’il faut, voilà ce qui est estimable, ce qui distingue, ce qui fait qu’un homme est plus qu’un autre.“ Vgl. Marivaux 1949: 430: „humanité“. Vgl. Marivaux 1949: 439, 449f., 444. Vgl. Marivaux 1949: 451: „La différence des conditions n’est qu’une épreuve que les dieux font sur nous“. Vgl. Marivaux 1949: 446: „naissance“, „éducation“. Vgl. Marivaux 1949: 447: „[J]e t’avais choisi par un sentiment d’amitié“. Vgl. Marivaux 1949: 448: „[J]e me ressouviendrai toujours que je ne méritais pas d’être ton maître.“
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hung zwischen Herr und Knecht ist die Versöhnung von Arlequin und Iphricate am Ende der neunten Szene, die in einer Umarmung als Zeichen gegenseitiger Verbundenheit und in der Unterwerfung des Dieners unter den Herrn gipfelt. Für dieses ‚glückliche Ende‘ ist ein Bewusstseinswandel von Herr und Knecht notwendig. Nachdem sich Arlequin zunächst einen Spaß daraus macht, die beiden Adligen aus Rache für sein erlittenes Unrecht zu erniedrigen, wird er in der achten Szene von Euphrosine verunsichert, weil sie an sein Mitleid und an seine Herzensgüte appelliert. Sie bittet ihn: Die ganze Welt muß Mitleid mit mir haben, und deshalb, Arlequin, auch du. So steht’s um mich, sag, findest du’s nicht zum Erbarmen? Du bist nun frei und glücklich, muß dich das boshaft machen? Mehr kann ich dir nicht sagen, ich habe dir niemals Böses angetan, vergrößere du nicht, was ich leide. (Marivaux 1995: 29f.)15
Von ihren Worten „niedergeschlagen“ (Marivaux 1995: 30)16 sucht Arlequin das Gespräch mit seinem ehemaligen Herrn Iphricate, der ihn für seine Undankbarkeit und seine Widerständigkeit rügt und um seine Solidarität im Namen der (Menschen-)Liebe bittet. Auch wenn Arlequin unter den Launen seines Herrn gelitten hat, realisiert er plötzlich: „Je nun, ich muß mehr Einsicht zeigen, denn ich leide länger und ich weiß, was Kummer ist.“ (Marivaux 1995: 32)17 Von der „Großmut“ (Marivaux 1995: 32)18 seines ihm moralisch überlegenen Dieners zu Tränen gerührt, vollzieht sich auch im Herrn ein innerer Wandel: Er sieht in Arlequin nicht mehr den Sklaven, sondern sein ‚liebes Kind‘,19 und er verspricht, ihm zukünftig ein ‚würdiger‘, d. h. ein humaner Herr zu sein. Die Ausführungen machen deutlich, dass der Läuterung von Herr und Knecht die Rührung und Empfindung von Mitleid vorausgeht. „Drei Jahrzehnte vor Diderots dramentheoretischen Schriften und mehr als 40 Jahre vor Lessings Hamburgischer Dramaturgie erscheint damit in der Ile des esclaves [sic…] das Mitleid an exponierter Stelle“ (Wolf 1984: 166). Die Empathiefähigkeit avanciert hier zur zentralen anthropologischen Qualität, weil sie die Voraussetzung für Humanität und moralische Integrität
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Vgl. Marivaux 1949: 446: „[J]’ai besoin de la compassion de tout le monde, de la tienne même, Arlequin; voilà l’état où je suis; ne le trouves-tu pas assez misérable? Tu es devenu libre et heureux, cela doit-il te rendre méchant? Je n’ai pas la force de t’en dire davantage: je ne t’ai jamais fait de mal; n’ajoute rien à celui que je souffre.“ Vgl. Marivaux 1949: 446: „abattu“. Vgl. Marivaux 1949: 448: „Eh bien! va, je dois avoir le cœur meilleur que toi; car il y a plus longtemps que je souffre, et que je sais ce que c’est que de la peine.“ Vgl. Marivaux 1949: 448: „générosité“. Vgl. Marivaux 1949: 448: „mon cher enfant“.
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bildet. Sie ‚erhöht‘ den einzelnen über andere und verheißt darüber hinaus die Lösung aller sozialen Probleme.20 Dies geschieht durch die Suggestion, es ließen sich alle Konflikte, eben auch die sozialen, automatisch in dem Augenblick lösen, in dem die Herzen der Menschen in Rührung erweichen und zur Moral finden. Die moralische Rekonstruktion des einzelnen ersetzt damit in der empfindsamen Utopie die politische Revolution, in dem sie sie überflüssig macht. Dies ist der Grund, weshalb die Empfindsamkeit den Bereich des Politischen kaum je thematisieren muß, weshalb sie politische Aktivität auch nie in irgendwie eindeutiger Weise empfiehlt. (Wolf 1984: 173)
Das Lustspiel lässt sich daher nicht nur auf personale Abhängigkeitsbeziehungen, sondern auch auf das Verhältnis zwischen absolutistischem Souverän und Untertanen beziehen. Wie Beaumarchais wendet sich Marivaux gegen den Despotismus uneingeschränkter Herrscher und fordert die Unterordnung der Politik unter die Moral. Erst wenn das Verhältnis zwischen den Inhabern der politischen Macht und den Untertanen auf wechselseitiger Anerkennung beruht, was auch impliziert, dass ihnen eine „Partizipation an den Gütern der Herrschenden möglich“ (Wolf 1984: 184)21 ist, ist die Herrschaftsbeziehung legitim. Aus dem Umstand, daß Umerziehung, Wandlung der Hauptfiguren […] zum Programm des Dramas erhoben wird, ergibt sich eine bedeutsame gattungsgeschichtliche Konsequenz. Die Darstellung einer inneren Reform widerspricht in fundamentaler Weise den Gattungskonventionen und der Funktion der traditionellen Lachkomödie. Der Held einer Komödie, der komische ‚Charakter‘, ist nämlich grundsätzlich unreformierbar […]. Gerade aus dieser Unveränderlichkeit bezieht ja die Lachkomödie wesentlich jene Komik, die der Lust des Zuschauers am Unsinn immer aufs neue entgegenkommt. (Wolf 1984: 163)
Marivaux bricht also mit den Gattungskonventionen der Typenkomödie, indem er sich erstens von der statischen Figurenzeichnung löst und die traditionell triebbestimmten und moralisch indifferenten Dienerfiguren mit empfindsamen Zügen ausstattet. Aufgrund ihrer moralischen Integrität sind sie ihren Herren überlegen, die – wie bei Beaumarchais – nicht als Sympathieträger, sondern als lasterhafte Figuren konzipiert sind. Es sei allerdings darauf hingewiesen, dass Arlequin und Cléanthis komische Figuren bleiben. Auch wenn sie als solche die Schwächen ihres Herren bzw. ihrer Herrin entlarven, manifestiert sich schon in ihrem Habitus – ihrer fehlenden Bildung und ihrem Desinteresse an den höfischen Interaktionsformen –, dass sie diese nicht ersetzen können, der Rollentausch also
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Vgl. Marivaux 1995: 34 bzw. Marivaux 1949: 450. Vgl. Marivaux 1995: 35. Genauso wie Iphricate verspricht auch Euphrosine, ihre Dienerin Cléanthis nicht mehr wie eine ‚Sklavin‘ zu behandeln und „die Güter“, die die „Götter“ ihr geschenkt haben, mit ihr zu teilen.
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keine zufriedenstellende Lösung der bestehenden Missstände sein kann. Ziel ist ja auch nicht die Revolution, sondern – wie bei Beaumarchais – die Reformierung der bestehenden sozialen bzw. politischen Ordnung. Zweitens wendet sich Marivaux vom Handlungsschema der Intrigenkomödie ab. Indem er sein Lustspiel auf einer ‚Sklaveninsel‘ spielen lässt, auf der Arlequin und Cléanthis durch äußere Umstände die Gelegenheit bekommen, ihre primär privat und weniger politisch motivierten Interessen gegen den Willen ihrer Herren durchzusetzen, wird die (Liebes-)Intrige als „Handlungskonstituente“ (Wolf 1984: 160) überflüssig – ein zentraler Unterschied etwa zu Beaumarchais’ Komödie, in der die Intrige strukturbestimmendes Element ist. Zuletzt löst sich Marivaux „von der traditionell dominanten Funktion der Komödie als in erster Linie unterhaltsamer Veranstaltung.“ (Wolf 1984: 163) Mit der hier thematischen Funktion des Dramas, den Zuschauer (um-) zu erziehen [sic], beginnt sich bei Marivaux die Komödie vom divertissement zur ‚moralischen Veranstaltung‘ zu wandeln. Zusammen mit dem hinfort topischen Handlungsmuster der rührenden Bekehrung […] konstituiert die Ile des esclaves [sic] damit innerhalb des französischen Theaters des 18. Jahrhunderts eine neue Dramenform, die nach dem Vorbild der englischen Empfindsamkeit emphatisch in den Dienst moralischer Didaxis gestellt ist. (Wolf 1984: 164)
Marivaux’ Sklaveninsel ist u. a. von Johann Christian Krüger ins Deutsche übersetzt und 1747 publiziert worden.22 Wie sein literarisches Vorbild führt er in seinem Lustspiel Die Candidaten, oder: Die Mittel zu einem Amte zu gelangen (1748) eine interdependente Herrschaftsbeziehung vor – die zwischen dem lasterhaften Grafen und seinem Sekretär Herrmann. Der Adlige weiß, dass er seinen Angestellten „in keiner Sache entbehren“ kann, weil dieser in seinen Geschäften „mehr Herr“ als er selber ist. (Krüger 1986: 289, 321) Gerade das ist ihm aber ein Dorn im Auge, weil er sich durch Herrmanns geistige und moralische Überlegenheit herabgesetzt fühlt. So gesteht er sich ein: [S]o unentbehrlich mir dieser Mann zu meinen Geschäften ist, so sehr hasse ich doch seine Widerspenstigkeit. Er weiß seine Verdienste auf eine Art an den Tag zu legen, und geht so behutsam mit mir um, daß ich oft, ich weiß selbst nicht, was für eine Ehrfurcht gegen ihn trage, und es ärgert mich allemal in der Seele, daß mir ein Mensch von seinem Stande so achtungswürdig vorkommen muß. (Krüger 1986: 327)
Dass ihm Herrmann ‚achtungswürdig‘ erscheint, irritiert den Grafen vor allem deshalb, weil er sein soziales Umfeld – genauso wie die adligen Her-
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Vgl. Schneider 1996: 20f.
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ren in der Hochzeit des Figaro und der Sklaveninsel – in den drei Bereichen Liebe, Recht und Solidarität missachtet. Dass er die physische Integrität seiner Untergebenen verletzt, manifestiert sich in seinem Wunsch, Herrmanns Geliebte Caroline zur Mätresse zu machen. Er will sie an der freien Wahl eines Ehepartners hindern und ihr das Recht der autonomen Verfügung über ihren Leib nehmen. Von Missachtung ist auch die Beziehung des Grafen zu seiner Frau geprägt, sind doch beide Aristokraten bestrebt, den jeweils anderen zu demütigen. Das kommt nicht nur in abfälligen Reden, sondern auch in ihrem Bestreben zum Ausdruck, die vakante Ratsstelle mit dem jeweils eigenen Kandidaten gegen den Willen des anderen zu besetzen. Darüber hinaus hegen beide den Wunsch, sich gegenseitig eifersüchtig zu machen, um den eigenen „Triumph“ (Krüger 1986: 351) umso mehr genießen zu können. Wie die physische Integrität beschädigt der Graf auch die soziale Integrität seiner Untergebenen. Er geriert sich – ähnlich wie Almaviva und Iphricate – als unumschränkter Willkürherrscher, der „zwar die Gnade hat viel zu versprechen, aber auch die Gewalt besitzt wenig zu erfüllen“ (Krüger 1986: 289). Die Bedienten können sich nicht auf eine „rechtliche Ordnung“ (Honneth 1992: 184) berufen, sondern sind vollständig von der Gnade des Grafen abhängig. Zuletzt leiden die Subalternen unter mangelnder sozialer Wertschätzung. So moniert Herrmann, dass freie Ämter nicht nach Verdienst und „Erkenntlichkeit“ (Krüger 1986: 276) vergeben werden. Diensttreue und „Arbeitsamkeit“ seien sogar hinderlich, weil sie im Herrn den Wunsch weckten, den Untergebenen in „Sklaverey zu behalten.“ (Krüger 1986: 311) Für einen sozialen Aufstieg sind im Lustspiel vor allem „Geld“ oder „eine schöne Braut“ ausschlaggebend: „[W]er dergleichen Vortheile besitzt, und damit nicht geitzig ist, der hebt sich empor in der Welt“, so der Graf. (Krüger 1986: 360) Da die Bewerber um die Ratsherrnstelle bis auf Herrmann nicht qualifiziert sind, wird juristischen Fehlurteilen und damit der Missachtung der Bürger im Bereich des Rechts weiter Vorschub geleistet. Auch wenn das Grafenpaar im Zentrum der Kritik steht, zielt Krügers Satire weniger auf den Adelsstand als auf allgemeine gesellschaftlichmoralische Übel.23 Dafür spricht, dass die Trennungslinie zwischen den tugend- und lasterhaften dramatis personae nicht stratifikatorisch begründet wird. So ist Caroline als tugendhafte Aristokratin konzipiert, während mit dem einfältigen Chrysander und dem intriganten Arnold zwei lasterhafte Bürgerliche vorgeführt werden. Krüger beklagt, dass die meisten Menschen unabhängig von ihrer Standeszugehörigkeit ausschließlich aus „Ehr-
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Eine ähnliche Position vertreten Danso 1979: 99, Hinck 1965: 206, Saße 1988: 85.
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geitz“, „Eigennutz“ und „Liebe“, d. h. aus sexuellem Begehren, handeln. (Krüger 1984: 326f.) Das kommt in einem ‚Kampf aller gegen alle‘ zum Ausdruck,24 der sich in der öffentlichen Sphäre in einer ungerechten Praxis der Ämtervergabe manifestert – in Bestechung, Erpressung und Schmeichelei mit negativen Konsequenzen für das Gemeinwesen. In der privaten Sphäre zeigt er sich in der Missachtung anderer. Der „allseitige Drang zu besitzen oder zu schädigen“ (Hinck 1965: 251), schlägt sich auch in der dramaturgischen Konzeption des Lustspiels nieder – in den vielen sich kreuzenden Intrigen: 1. Die Verkleidungsintrige Valers (des Fähnrichs), der sich – eine Beleidigung seines Obristen durch die Gräfin zu rächen – als Kandidat einschleicht und die Gräfin mit seinen Schmeicheleien zum Besten hält; 2. die Intrige des Grafen und seines Hofmeisters Arnold: die Verleumdung Carolines und die Verdächtigung Hermanns [sic] (durch ein gefälschtes Billet), die das Liebespaar vorübergehend entzweien; 3. der – vergebliche – Versuch Carolines und Hermanns [sic], Valer mit Hilfe der Eifersucht des Grafen bzw. durch eigene „Anwerbung“ bei der Gräfin als Rivalen auszuschalten. Für den Mißerfolg dieser letzten Intrige entschädigt der – selbstverständliche – Verzicht des Fähnrichs auf das Amt. (Hinck 1965: 250f.)
Wie in der Hochzeit des Figaro wird die Intrige hier zum zentralen Thema und dient der kritischen Auseinandersetzung mit den lasterhaften „Triebfedern“ (Krüger 1984: 327) menschlichen Handelns. Dabei fühlen sich auch die moralisch integren Figuren Herrmann und Caroline zum Ränkeschmieden gezwungen. Da sie ähnlich wie Figaro weder über soziales noch über ökonomisches Kapital verfügen, bleibt ihnen die List als einziges Mittel, um ihre primär privaten Interessen durchzusetzen. Allerdings misslingen ihre Pläne: „Der ehrliche und wahrheitsliebende Herrmann hält die Verstellung, die schmeichlerische Haltung gegenüber der Gräfin, nicht durch“, und Carolines „Anschlag (ihr Versuch, Eifersucht zu wekken), scheitert an der sittlichen Verdorbenheit des Grafen.“ (Hinck 1965: 252) Durch den Misserfolg der beiden wird deutlich, dass sie zur Hinterlist nicht in der Lage sind – wie in der Hochzeit des Figaro weniger ein Ausweis von Schwäche als von Tugendhaftigkeit, die sie vor dem Grafenpaar auszeichnet, durch die sie ihm aber auch wenig entgegensetzen können.25 Wie Figaro müssen sie die Erfahrung machen, nicht selbstbestimmt agieren zu können und vom Zufall – von Valers Intrige – abhängig zu sein. Aufgrund ihrer Handlungsohnmacht bleibt Herrmann und Caroline nur der Rückzug ins Privatleben. Den Mangel an „äusserlichem Glücke“ soll das „Glück einer zärtlichen und tugendhaften Liebe ersetzen“. (Krüger
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Vgl. Hinck 1965: 251, Schulz 2005: 49. Ähnlich argumentiert Hinck 1965: 252.
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1984: 321) So begegnen sich die beiden Bedienten im Kontrast zu der von sozialer Missachtung geprägten öffentlichen Sphäre mit Hochachtung und zärtlicher Liebe. Auch wenn eine Heirat nur durch einen sozialen Aufstieg möglich ist, wollen sie sich „beständig lieben, und die Erhaltung eines Amtes nur als eine Nebensache betrachten. Eine günstige Gelegenheit thut hierinn öfters mehr als alle unsre Bemühungen“, so Caroline. Ihr Wunsch nach privatem (Liebes-)Glück ist sogar so hoch, dass sie für Herrmann auf „Adel und Reichthum“ verzichten würde: Für sie zählt – ähnlich wie für Marivaux und Beaumarchais – nicht der Geburtsadel – die noblesse de naissance –, sondern ausschließlich der ‚Seelenadel‘ – die noblesse de cœur. (Krüger 1984: 377) Auch wenn Herrmann „Vernunft und Tugend“ (Krüger 1984: 273) attribuiert wird, besitzt er – im Gegensatz zu Caroline – einen „individuellen Fehler“ (Steinmetz 21966: 31) und zwar eine übertriebene Wahrheitsliebe. Inwiefern? Herrmann orientiert sich am Wahrheitsbegriff aufgeklärter Gelehrter „und fühlt sich verpflichtet, die ihn umgebenden Menschen über ihre moralische Beschaffenheit aufzuklären – ob sie es hören wollen oder nicht. Er misst den ‚Schaden‘, den jemand durch die ‚Wahrheit‘ erleiden könnte, nicht wie Caroline am individuellen Selbstwertgefühl, sondern am Ideal menschlicher Vervollkommung“ (Schneider 1996: 145), das er über persönliches „Glück und […] Wohlfahrt“ (Krüger 1984: 274) stellt. Schon in der ersten Szene wird Herrmanns Wahrheitsliebe von Caroline problematisiert. Sie weist ihn erstens darauf hin, dass seine Ideale genauso wie das Handeln aus ‚Ehrgeiz‘, ‚Eigennutz‘ und (sexueller) Begierde zur Missachtung anderer führen. So konstatiert sie: [I]hre Wahrheit, die sie sich einbilden, sieht so liebenswürdig aus, als eine sechzigjährige Jungfer; sie ist eine scheelsüchtige, welche immer über das Gute hinweg sieht, und nur die Flecken und Mängel an den Leuten gewahr wird. Alle Leute, die nicht ihre Maximen haben, sind in ihren Augen häßlich, betrügerisch, abgeschmackt und lasterhaft. Die Wahrheit sagen, heist bey ihnen, den Leuten die Ehre rauben, und grob seyn. Weil sie nicht reich sind, so sind alle Reichen unglückselig, und weil sie kein gnädiger Herr sind, so verdient kein Mensch ein gnädiger Herr zu seyn. (Krüger 1984: 274)
In diesem Zuge hält sie ihm zweitens „Hybris und Arroganz des Gelehrten“ vor, „der alle anderen Lebensentwürfe gering achtet“. (Schneider 1996: 146) Darüber hinaus vermutet sie, dass seine Urteile ressentimentgeladen sind, also gar nicht so objektiv, wie Herrmann behauptet. Drittens begreift Caroline die „Verbalisierung von ‚Wahrheit‘“ als „Luxus“, den sich nur diejenigen leisten können, die autonom sind. (Schneider 1996: 145) Als Dienende fühlt sie sich gezwungen, sich dem Grafenpaar zu unterwerfen, um ihr Glück zu befördern. Herrmanns Wahrheitsliebe wertet sie als (illegitime) „Widerspenstigkeit“ gegen die
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Inhaber der politischen Macht, außerdem als unangemessenen, als einen die eigene soziale Situation verkennenden „Stolz“. (Krüger 1984: 275) Im Unterschied zu Herrman richtet sich Caroline „nicht nach dem Kriterium der ‚Wahrheit‘, sondern nach dem ihrer ‚Ehre‘. Was ihrem persönlichen Selbstwertgefühl nicht schadet und andere in dem ihrigen nicht schädigt, ist vertretbar.“ (Schneider 1996: 145)26 Dass Herrmann trotz seines ‚Fehlers‘ als moralisch-sittliche Figur kategorisiert werden muss, machen Carolines Fremdkommentare deutlich. Sie liebt Herrman – gemäß der empfindsamen Liebeskonzeption – für seine Tugendhaftigkeit, d. h. für sein „verdienstvolles Herz“ (Krüger 1984: 279). Ihr Urteil bewahrheitet sich im fünften Akt, in dem Herrmann die für das empfindsame Drama konstitutive Tugendprobe besteht. Als er erfährt, dass Carolines adlige Privilegien durch eine ständeübergreifende Heirat geschmälert werden würden, ist er bereit, auf sie zu verzichten, weil ihm ihr Glück mehr am Herzen liegt als sein eigenes (vgl. Krüger 1984: 376). Darüber hinaus distanziert er sich schon im zweiten Akt von seinen aufklärerischen Idealen. Als Caroline ihm ihre Liebe gesteht, ist er so glücklich und selbstzufrieden, dass er sich nun vornimmt, seinen Herrn unter anderem mit „Schmeicheleyen“ (Krüger 1984: 278) davon zu überzeugen, der richtige Kandidat für die vakante Ratsstelle zu sein. Es sei allerdings darauf hingewiesen, dass es ihm entgegen seiner Vorsätze nicht gelingt, sein Verhalten zu ändern. Wie Herrmann ist aber auch Caroline nicht fähig, sich mit kritischen Kommentaren zurückzuhalten. Als etwa die Gräfin ihren Mann herabwürdigt und von ihrer Bedienten Komplimente für ihr Aussehen einfordert, reagiert Caroline „boßhaft“ (Krüger 1984: 292), ohne dass ihre ‚Ehre‘ auf dem Spiel stünde. Ihre wenig schmeichelnden Antworten werden von ihrer selbstverliebten Herrin aber überhört. Wie die Ausführungen zeigen, kritisiert Krüger in seinem Lustspiel einen „gesellschaftlich-moralischen“ (Steinmetz 21966: 30) Missstand und zwar das standesunabhängige Handeln aus Egoismus, das mit Thomas Hobbes zu einem Bellum omnium contra omnes – einem ‚Krieg aller gegen alle‘ – führt. Dem wird Herrmanns aufklärerische Wahrheitsliebe, die eine Form des Widerstands gegen den Grafen ist,27 als ‚individueller Fehler‘ gegenübergestellt. Seine Renitenz ist unvernünftig und illegitim, weil er sich selbst und anderen damit schadet: „sich selbst, weil er damit ver-
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Vgl. Krüger 1984: 313. Hier erklärt Caroline, dass sie sich nur so weit dem Grafenpaar unterwirft, wie es ihr „Ehre und Tugend erlauben.“ Vgl. u. a. Krüger 1984: 276. Hier erklärt Herrmann seine Wahrheitsliebe mit dem Wunsch, kein „niederträchtige[r] Sclave[ ] von der Gunst“ seines Patrons sein zu wollen.
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säumt, aufstiegsrelevante Personen für sich zu gewinnen, anderen, da er ihnen unter dem Vorwand, die ‚Wahrheit‘ zu sagen, ‚die Ehre raubt‘“ (Schneider 1996: 145). Gleichwohl ist sein Verhalten weniger lächerlich – wie von der Forschung oft behauptet worden ist28 –, sondern tragikomisch, weil er dem Grafen aufgrund seiner großen Verdienste „Ehrfurcht“ (Krüger 1984: 327) einflößt, gerade deshalb aber von ihm zurückgesetzt wird. Gegen die soziale Missachtung durch seinen Herrn hat Herrmann trotz bzw. gerade wegen seiner aufklärerischen Ideale keine Handhabe: Er ist dem Grafen, der ein „unumschränkter Monarch“ über sein „Glück“ ist, vollkommen ausgeliefert und kann sich von dessen Willkür nicht unabhängig machen. (Krüger 1984: 275) Das durch den Fähnrich Valer am Ende des Handlungsverlaufs herbeigeführte ‚glückliche Ende‘ ist daher auch nur im privaten Bereich möglich.29 Die gesellschaftlichen Missstände bleiben bestehen. Aus diesem Grund ist mitunter die Position vertreten worden, dass Krüger „eine unheilbar korrupte Gesellschaft auf die Bühne [bringe], in der nur ein Komödientrick momentane Gerechtigkeit herzustellen vermag“ (Fulda 2005: 473).30 Auch wenn die bestehenden Übel nicht gelöst werden, werden sie doch wie in der Hochzeit des Figaro und der Sklaveninsel als lösbar vorgeführt, so die These – und zwar durch einen Bewusstseinswandel der Menschen. Das wird durch die Figur des adligen Fähnrichs veranschaulicht. Da seine Intrige gelingt, könnte er seine Interessen durchsetzen und die „Lust“ (Krüger 1984: 375) seines Obristen auf Rache befriedigen. Er entscheidet sich aber gegen das Laster und für die Tugend, indem er das Grafenpaar zwingt, Herrmann die Ratsstelle zu „schenken“ (Krüger 1984: 375). Durch sein altruistisches Verhalten leistet er einen Beitrag zur Beseitigung der bestehenden gesellschaftlichen Übel, sorgt er doch dafür, dass die vakante Stelle mit dem einzig qualifizierten Bewerber besetzt wird und dass sich „zwey Herzen auf zeit Lebens […] vereinigen“ können, „welche durch Tugend und Zärtlichkeit ein Exempel glückselger Ehen seyn werden.“ (Krüger 1984: 376) Laut Krüger lässt sich eine humane Gesellschaft konstituieren, sobald sich die Menschen am Allgemeinwohl orientieren, d. h. die moralisch-empfindsamen Tugenden zur Richtschnur ihres Handelns machen, anstatt ihre eigenen egoistischen Neigungen oder abstrakte
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Vgl. u. a. Cleve 1980: 325: „Krüger has cast his main enlightened character as the fool“; außerdem Saße 1988: 89. Dass Herrmann seine Interessen nur mit Valers Hilfe – der Unterstützung eines Adligen – durchsetzen kann, ist ein weiterer Beleg dafür, dass der Theatertext genauso wie die Hochzeit des Figaro nicht als Plädoyer für eine Rebellion gegen die ‚unumschränkte‘ Herrschaft des Grafen gelesen werden kann, vgl. Krüger 1984: 275. Vgl. etwa Jacobs 1990: 44 oder Schneider 1996: 135.
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aufklärerische Prinzipien zu verabsolutieren. „Folgerichtig“ werden die Ursachen für die bestehenden gesellschaftlichen Übel nicht „in den Strukturen der politisch-sozialen Ordnung gesehen […] die Schuld trifft allein das Individuum, das aus seinem an sich guten ‚Herzen‘ nichts zu machen“ weiß. (Schneider 1996: 132) Wie Marivaux’ Sklaveninsel stehen Die Candidaten noch in der Tradition der Typenkomödie. Allerdings integriert Krüger – ebenso wie Marivaux und Beaumarchais – empfindsame Lustspielelemente. Wie für die frühaufklärerische Typenkomödie charakteristisch, bricht Krüger mit der Commedia dell’arte-Tradition, indem er das „moralische Desinteressement […] zugunsten einer Tugend-Laster-Antithetik“ (Hinck 1965: 252) aufgibt: Die Commedia dell’arte kennt eine scharfe Trennung des Personals, die Trennung zwischen den Favoriten (den jungen Verliebten) und den Glücklosen und Düpierten, zwischen den immer begünstigten Jungen und den immer benachteiligten Alten, zwischen den gewissenlos Listigen und den leicht zu täuschenden Senilen oder Einfältigen; die einzige Ethik […] ist die „Ethik“ des Erfolgs. In den „Candidaten“ wird das Personal nach den Guten und Schlechten geschieden. Und nicht mehr die Skrupellosen gelangen ans Ziel, sondern die Tugendhaften. (Hinck 1965: 252)
Darüber hinaus wird das „alte Konstellationen-Modell des ‚Kampfes aller gegen alle‘ aus der begrenzten Dimension der Liebes- und Betrugsintrigen“ herausgelöst und in die „Stände-Gesellschaft des 18. Jahrhunderts“ transferiert. (Hinck 1965: 253) Wie bei Beaumarchais ist die Intrige strukturbestimmendes Thema des Lustspiels; sie steht im Dienst der Kritik an sozialen Missständen. Dabei wird der ‚satirische Feldzug‘ „an zwei Fronten gleichzeitig geführt […]: er richtet sich […] gegen eine einzelne Untugend“ – gegen Herrmanns übertriebene Wahrheitsliebe – und „gegen ein über den individuellen Fehler hinausreichendes allgemeineres Laster“ – das in allen Ständen zu findende Handeln aus Eigennutz. (Steinmetz 21966: 30f.) Wie Horst Steinmetz herausgestellt hat, ist die enge Verknüpfung zweier Laster, die sich wechselseitig verstärken, für die binomische Typenkomödie konstitutiv. Für dieses Genre ist die „Intrige als Movens der dramatischen Handlung“ (Steinmetz 21966: 30) allerdings unüblich. Während Krügers Lustspiel Die Geistlichen auf dem Lande (1743) noch ganz zum binomischen Typ zu zählen ist, werden in den Candidaten Elemente beider Komödientypen miteinander verknüpft. Das „Formprinzip der sächsischen Typenkomödie“ wird aber nicht „in allen Aspekten gewahrt“, wie etwa Günter Saße behauptet, sondern mit empfindsamen Lustspielelementen verbunden. (Saße 1998: 87) Dazu zählen die Idealisierung „zärtliche[r] und aufrichtige[r]“ (Krüger 1984: 274) Liebe, die Verwandtschaftsanagnorisis, Herrmanns Tugendprobe und zuletzt der ‚glückliche
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Ausgang‘. Am Ende setzt sich nämlich nicht „die Vernunft gegen die vorher dominierende Unvernunft durch. Vielmehr ist der Ausgang dem Edelmut Valers zu verdanken, also einer Haltung, die Rührung hervorrufen soll und die in den Horizont der Empfindsamkeit gehört.“ (Schulz 2005: 51) Sein vorbildliches Verhalten soll die anteilnehmenden Rezipienten zur Nachahmung anregen. Zwar gibt es noch einen moralischen Lehrsatz – der wird bezeichnenderweise aber nicht vom Raisonneur oder einer anderen sympathetischen Identifikationsfigur, sondern von dem noch ganz in der Commedia dell’arte-Tradition stehenden komischen Diener Johann formuliert. Sein Rat: „Ihr Herren Candidaten, befleissiget euch auf gute Canäle!“ (Krüger 1984: 377) ist denn auch weniger moralisch als pragmatisch zu verstehen; und er kann nicht als zu vermittelnder Kerngedanke der Komödie gewertet werden. Zusammenfassend sei festgehalten, dass Marivaux und Krüger genauso wie Beaumarchais moralisch integre Dienerfiguren vorführen, deren Herren sich als unumschränkte (Willkür-)Herrscher gerieren, rücksichtslos ihren egoistischen Neigungen folgen und ihre Bedienten in den drei Bereichen Liebe, Recht und Solidarität missachten. Dagegen wehren sich die Dienerfiguren, indem sie ihre noblesse de cœur der noblesse de naissance entgegensetzen und ihre weniger politischen als privaten Interessen gegen den Willen ihrer Herren durchsetzen. Ihren Erfolg haben sie allerdings nicht ihrer Souveränität, sondern äußeren Umständen zu verdanken – Belege dafür, dass die Komödien nicht auf eine Revolution, sondern auf eine Reformierung der bestehenden politischsozialen Ordnung zielen. Moraldidaktisches Wirkungsziel ist ein Bewusstseinswandel der Rezipienten. Sie sollen sich an den moralisch-empfindsamen Tugenden orientieren und im Sinne des Allgemeinwohls handeln. Auf diese Weise lässt sich eine humane, von wechselseitiger Anerkennung geprägte Gemeinschaft konstituieren. Das manifestiert sich auf der Darstellungsebene in einer Verknüpfung heterogener Lustspielelemente. Auf diese Weise wird die satirische Thematisierung bestehender gesellschaftlicher Übel bei gleichzeitiger Demonstration tugendhafter Handlungen möglich.
2.2 Die Überwindung der als krisenhaft erfahrenen Moderne durch Humanität und moralische Integrität in Hofmannsthals Der Unbestechliche (1923) Während es sich bei Marivaux’ Sklaveninsel und Krügers Candidaten um satirische Typenkomödien handelt, die rührende Lustspielelemente integrieren, wendet sich Beaumarchais, der mit Eugénie (1767) zunächst ein empfindsames Drama vorgelegt hat, mit der Hochzeit des Figaro wieder der (mittlerweile überholten) Verlachkomödie zu. Gemeinhin wird mit seiner
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Figaro-Figur „als dem Höhepunkt des männlichen Dieners […] das Ende des traditionellen valet angenommen“ (Franzbecker 1973: 212). Das hängt – wie ausgeführt – mit der Entwicklung des Genres zusammen. Mit der Hinwendung zum rührenden Lustspiel und der damit korrelierenden Konzentration auf die moralisch-private Sphäre sinkt zum einen das Interesse an der Auseinandersetzung mit herrschaftstheoretischen Debatten, zum anderen werden die in der Commedia dell’arte-Tradition stehenden Dienerfiguren von der Bühne verbannt. Damit verliert der in der Komödie bis dato gängige ‚Herr und Knecht‘-Topos an Relevanz, auch wenn gesellschaftliche Missstände und soziale Abhängigkeitsbeziehungen spätestens im Sturm und Drang und darüber hinaus wieder problematisiert werden – beispielsweise in den Komödien von Jakob Michael Reinhold Lenz oder von Johann Nepomuk Nestroy. Das ändert sich allerdings im 20. Jahrhundert, wie anhand von Hofmannsthals Der Unbestechliche (1923) und Horváths Pompeji. Komödie eines Erdbebens (1937) zu zeigen ist. Beide Autoren rekurrieren auf die Gattungsmuster der Typenkomödie, um anhand der Darstellung widerständiger Dienerfiguren eine moralische Kritik an den politischen Missständen ihrer Zeit zu üben, mit dem Ziel, durch einen Bewusstseinswandel im Rezipienten gesellschaftliche Veränderungen zu initiieren. Zunächst sei Der Unbestechliche in den Blick genommen – ein Lustspiel, in dem sich Hofmannsthal mit der von ihm als krisenhaft erfahrenen Moderne auseinandersetzt.1 Wie unter anderem Horst Thomé herausgestellt hat, unterschätzen viele Intellektuelle des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts die „humanen, demokratischen und emanzipativen Potenzen“ der schon im 18. Jahrhundert einsetzenden Modernisierungsprozesse.2 Sie reagieren mit einem „Modernisierungsschock“ und bilden zu dessen Bewältigung die Semantiken des „Ganzen“, des „Eschatologischen“ und des „Individuellen“ aus […]. Gegen die Pluralität der Meinungen und Werte steht die Suche nach einer integrativen Idee, die die ‚letzten Fragen‘ klärt, gesell-
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Zu dem dieser Arbeit zugrundeliegenden Modernebegriff vgl. V.1.1.1, Fußnote 19. Mit Anke Lohmeyer gehe ich davon aus, dass die Moderne mit drei zentralen Kategorien beschreibbar ist. Für sie ist erstens der Prozess der funktionalen Differenzierung konstitutiv, also der „Übergang von einem primär stratifikatorisch zu einem primär funktional strukturierten Gemeinwesen […], in dessen Verlauf die Komplexität und Unübersichtlichkeit der gesellschaftlichen Strukturen zunimmt.“ (Lohmeyer 2003: 131f.) Zweitens ist die Erfahrung von Kontingenz zu nennen und damit „der Verlust einer sinnstiftenden Instanz, die die Sinnhaftigkeit alles Geschehens gewährleistet“ (Lohmeyer 2003: 132). Drittens sei das Prinzip der Subjektivität angeführt, „aus dem die Moderne ihre neue Einheit, ihre eigenen Maßstäbe zu schöpfen beansprucht“ (Lohmeyer 2003: 134). Vgl. u. a. Lohmeyer 2003: 129f., Thomé 2000: 22.
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schaftliche Ordnung begründet und das individuelle Handeln leitet. (Thomé 2000: 25)
Das gilt auch für Hofmannsthal. Wie andere Kulturkritiker seiner Zeit verklärt er die Vergangenheit und kontrastiert sie mit der Gegenwart, die er aufgrund spürbarer soziostruktureller Veränderungen sowie gemachter Dissoziations- und Differenzerfahrungen für hochgradig defizitär hält. Davon ausgehend sucht er „nach Auswegen in der Zukunft“ (Bollenbeck 2007: 20).3 Ziel ist die (Wieder-)Herstellung des ‚Ganzen‘ – ein unterbestimmt bleibender Begriff, der in zahllosen Reden und Aufsätzen emphatisch beschworen wird und einen verbindlichen ‚Bedeutungszusammenhang‘ (vgl. Rudolph 1971: 39) für die moderne Gesellschaft meint, der es aus „seiner Perspektive massiv an gemeinsamer geistiger Orientierung mangelt“ (Herrmann 2008: 9). Wie genau lässt sich dieser ‚Bedeutungszusammenhang‘ aber beschreiben und wie soll er sich konstituieren? Mit Hermann Rudolph sei hervorgehoben, dass Hofmannsthal genauso wie andere konservative Denker seiner Zeit davon überzeugt gewesen ist, daß den Individuen eine umfassende Ordnung vorgegeben sei, auf die hin sich zu orientieren und die in den verschiedensten Bereichen des Daseins zu verwirklichen ihnen aufgegeben ist. Diese vorgegebene Ordnung ist indessen nicht identisch mit einem historischen Zustand, einem fixen System oder einer expliziten Dogmatik. Sie wird vorgestellt als Ensemble „bestimmte[r] Grundtatsachen“, auf die hin der Mensch „wesensmäßig angelegt ist“, ein „vererbtes Gefüge von inneren und äußeren Bereitschaften zu Handeln und Fühlen, Denken und Empfinden“, die „von Gott herrührende Ausstattung“ und die „innere, gottgegebene Bestimmung“ des Individuums, der „wahre Kern des Daseins“, der „immer der gleiche bleibt, nicht also nur der Kern des Menschen, auch der Kern der Schöpfung“. Die „Welt“ wird als „ein zum Ziele geordnetes Ganzes“ gedacht, in welchem „jeder Mensch schlechthin jeder, … seinen ihm, und nur ihm, bestimmten Platz hat“, dessen Realisierung aber nicht dem „Selbstseinwollen“ der Einzelnen an sich, sondern dessen „angeborene[n] Gebundenheit“ an die vorgegebene Ordnung entspringt. (Rudolph 1971: 7)4
Hofmannsthal imaginiert also eine ‚vorgegebene metaphysische Ordnung‘, in die sich das Subjekt integrieren muss; zum einen, um seine Gattungsna-
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Wie Georg Bollenbeck ausgeführt hat, unterscheidet sich die Kulturkritik durch dieses „triadische Denken […] von einem Fundamentalpessimismus, der nicht nur die gegenwärtige Epoche, sondern das Dasein schlechthin verwirft.“ (Bollenbeck 2007: 20) Um das ‚konservative Denken‘ Hofmannsthals und anderer Kulturkritiker seiner Zeit zu illustrieren, zitiert Rudolph hier aus folgenden Texten: Mühlenfeld, Hans: Politik ohne Wunschbilder. München 1952, S. 178; Leo, Heinrich: Was ist conservativ? Berlin 21864 S. 5; Grabowsky, Adolf: Konservatismus. In: Zeitschrift für Politik 20 (1931), S. 770–792, hier S. 775; Lagarde, Paul de: Programm für die konservative Partei Preußens. In: Deutsche Schriften. Göttingen 51920, S. 350–403, hier S. 394, 395.
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tur realisieren zu können, und zum anderen, weil sich erst auf diese Weise eine humane Gemeinschaft konstituieren lässt, deren Mitglieder sich nicht durch äußere, sondern durch „geistig-metaphysische“ (Tekolf 2004: 103) Gesetze miteinander verbunden fühlen. Diese Position manifestiert sich etwa in seinen Aufzeichnungen zu Reden in Skandinavien (1916). Mit Immanuel Kant teilt Hofmannsthal hier die Position, dass der Mensch als ‚Sinnenwesen‘ von seinen Neigungen und Begierden bestimmt wird, also „unfrei“ ist.5 Ziel ist es, das Subjekt durch „Überwindung des Kausalreiches“ in die Freiheit zu führen. (Hofmannsthal 1975a: 296) Während Kant dazu vom Subjekt fordert, die eigenen Neigungen zu negieren und nach selbst auferlegten Vernunftgesetzen zu handeln, will Hofmannsthal nicht „hinter das Persönliche zurückgehen“, sondern „alle seine Unendlichkeiten hindurchschreiten bis ans Ende.“ (Hofmannsthal 1975a: 296) Wie soll das gehen? Hofmannsthals Ausführungen bleiben in diesem Punkt vage. Allerdings lässt sich festhalten, dass er ähnlich wie etwa Arthur Schopenhauer davon überzeugt ist, dass sich im Subjekt ein „Wille“ (Hofmannsthal 1975a: 296) manifestiert, verstanden als metaphysische Triebkraft, die alles Geschehen hervorbringt und bestimmt.6 Im Unterschied zu Schopenhauer hält er diesen ‚Willen‘ aber nicht für einen „dumpfe[n] gestaltlose[n] Trieb“, sondern für ein „in der objektiven Welt wie im Innern des Menschen“ gültiges „Natur- oder Sittengesetz“. (Hofmannsthal: 1975a: 296, 295)7 In dem Moment, wo das Subjekt diesem moralischen ‚Gesetz‘ folgt, kann es seine Gattungsnatur realisieren und autonom agieren. Das „Ich“ wird zur „Persönlichkeit“, so Hofmannsthal. Aber wo das Ich Persönlichkeit wird, wird es selbst Gesetz und unterliegt nicht mehr dem Schrecken des Seins und der mechanischen Unfreiheit. Wer keinem anderen Gesetz gehorchen muss als dem Gesetz seiner eigenen Person, ist frei. (Hofmannsthal 1975a: 303)
Darüber hinaus schafft das Gesetz eine „Bindung“ zwischen den Menschen, die den „contrat social“ ablöst. (Hofmannsthal 1975a: 298) Wie Hofmannsthal deutlich macht, hält er eine „Überwindung des chaotischen Weltzustands“ für möglich, wenn sich die Menschen an der ‚ewigen‘, in Vergangenheit und Zukunft gültigen „Ordnung“ bzw. an „Gottes Gesetz“ orientieren. (Hofmannsthal 1975a: 298, 294, 298) Statt politischer Reformen fordert er einen Bewusstseinswandel, der sich auf verschiedene Weise vollziehen kann. Als einen „nicht-mystische[n] Weg“ (Hofmannsthal 1980: 602) nennt er in Ad me ipsum (1916-1926) das „Ein-
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Zu Kants Moralphilosophie vgl. IV.1.1.1.1. Zu Nietzsches Willens-Metaphysik vgl. III.1. Zu Schopenhauers Willens-Metaphysik vgl. III.2.2.1.
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gehen von sozialen Beziehungen, deren Modell die ‚Verknüpfung zweier Individuen‘“ (Rudolph 1971: 156) ist.8 Der Weg zum Sozialen als „Weg zu sich selbst“ und „Weg zum Leben“ besteht dann in der „gegenseitige[n] Verwandlung“ […] der beiden Individuen: indem die Individuen miteinander in Beziehung treten, transzendieren sie ihre Subjektivität und finden zugleich, indem sie sich in der gegenseitigen Verwandlung selbst verwandeln, zu sich selbst. Die Verknüpfung mit der Welt erweist sich als Vorgang, der „das Individuum von sich entfernen will, um es zu sich zu bringen.“ (Rudolph 1971: 156)
In und durch die Bindung an ein Gegenüber kann das Subjekt zu sich selbst finden. Auf diese Weise integriert es sich in die Gesellschaft, die es zugleich konstituiert. Mit dem Begriff des Sozialen erhebt Hofmannsthal also die Vermittlung der Selbstverwirklichung des Individuums durch die Teilhabe an gesellschaftlichen Beziehungen einerseits, des Gelingens zwischenmenschlicher Beziehungen durch die Selbstgewinnung andererseits, also die Dialektik zwischen individueller und gesellschaftlicher Daseinsführung als Dialektik von Besonderem und Allgemeinem, Einzelnem und Ganzem zum Programm. Er ist unabdinbar an den Gedanken der sich modern reflektierenden Individualität gebunden, ja ohne ihn nicht einmal denkbar, und verpflichtet diese zugleich auf die Geltung eines Allgemeinen. (Rudolph 1971: 173)
Hofmannsthal zielt somit nicht auf die formale Restitution einer vorgegebenen politischen Ordnung, sondern auf die „Emanzipation des Individuums“, das sich am überzeitlich gültigen Sittengesetz orientieren soll. Allerdings bleibt Hofmannsthal der alteuropäischen Ordnung „als einem formalen, ästhetisch stilisierten Vorbild“ verpflichtet. (Rudolph 1971: 175) Sie repräsentiert für ihn das ‚Ganze‘, d. h. ‚Gottes Gesetz‘, weil für ihn hier die einzelnen Glieder der Gesellschaft – „Oben und unten, Groß und Klein, Herr und Diener“ (Unger 2010: 195) – noch aufeinander bezogen sind. An die Stelle der traditionsgebundenen interdependenten Herrschaftsbeziehungen zu allseitigem Vorteil sind in der Gegenwart strukurelle Machtasymmetrien getreten, wie Hofmannsthal bedauert.9 So erklärt er im Zeitungsartikel über Eduard von Bauernfelds dramatische[n] Nachlaß (1893): Der Diener ist heutzutage uniform wie ein Lampenzylinder, verbeugt sich, macht Türen auf und schweigt. Damals war das anders. Damals hieß er nicht irgendwie, sondern er war ‚unser Johann‘, ‚unser Alois‘. Er war häufig im Haus geboren; jedenfalls war er jahrelang im gleichen Haus; er hatte die jungen Herren, manchmal
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Vgl. Hofmannsthal 1980: 607: „mit dem Sich-verwandeln das Verwandeln eines Andern / Verknüpfung mit der Welt durch Verknüpfung zweier Individuen.“ Der Wandel vom ‚personalen‘ hin zum ‚strukturellen Herrschaftsmodus‘ in der Moderne wird auch in Robert Walsers Roman Jakob von Gunten problematisiert, vgl. dazu V.1.1.2.1.
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auch die jungen Damen, sozusagen aufgezogen. Er hatte etwas von dem Sklaven der antiken Komödie, von dem Gracioso des spanischen Lustspiels. Er hatte eine Lebensanschauung; er machte und empfing Konfidenzen; er ignorierte gewisse Gäste des Hauses, die er nicht gern ‚bei uns‘ sieht, und beehrte andere mit seinem Wohlwollen. Er ist das Gewissen und die Karikatur seiner Herrschaft; er ist eines von den klammernden Organen, mit denen die soziale Komödie sich am Muttergrund des Natürlichen festwachsen will. (Hofmannsthal 1979b: 188)
In seiner Komödie Der Unbestechliche, die „im Jahre 1912“, kurz vor dem Ersten Weltkrieg und dem Zusammenbruch der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn auf dem Gut einer Baronin in Niederösterreich spielt, führt Hofmannsthal einen Diener vor, der als Repräsentant der alteuropäischen Ordnung fungiert und sich mit dem Sittengesetz identifiziert. Seit über fünfundzwanzig Jahren ist er – Theodor – ein loyaler Diener des Hauses. In seiner Jugend hat er dem Oberst zur Seite gestanden, der ihn auf dem Sterbebett verpflichtet hat, seinem Sohn Jaromir zu dienen und als Korrektiv gegen seine „vielen und großen Schwächen“ (Hofmannsthal 1975c: 51) zu wirken. Aufgrund von Differenzen ist er kurz nach Jaromirs Heirat aber in den Dienst seiner Mutter, der Baronin, getreten. Die Handlung setzt ein, nachdem Theodor auch ihr gekündigt hat – „von allen Dingen auf der Welt, die hätten passieren können, ungefähr das einzige, das geeignet ist“, sie „vollkommen aus der Fassung zu bringen“, weil sie auf Theodors Dienste angewiesen ist. (Hofmannsthal 1975c: 40) Ohne ihn bricht auf dem Gut das Chaos aus, wie die ersten Szenen illustrieren. Auf die Frage der Baronin, warum er seinen Dienst quittiert habe, antwortet Theodor: Die Wahrheit ist diese: das ganze Leben, das er [Jaromir, N.B.] geführt hat, war eine fortgesetzte Beleidigung meiner Person. […] Jawohl, meine Eltern haben mir in der heiligen Taufe den lieben Namen Theodor zugeeignet. – Er hat den Namen nicht geliebt. Ich bin bei ihm die Jahre hindurch Franz gerufen worden. Franz, wo ich bitte Theodor zu heißen die Ehre habe! Daran bitte ich zu erkennen, wie er die Menschenwürde in mir geachtet hat! […] Er hat vor meinen sehenden Augen ein Junggesellenleben geführt von einer beispiellosen Frivolität und eiskalten Selbstsucht. (Hofmannthal 1975c: 51)
Wie das Zitat deutlich macht, fühlt sich Theodor von Jaromir missachtet. Er klagt über fehlende soziale Wertschätzung, was sich – ähnlich wie in Marivaux’ Sklaveninsel – in der falschen Namensgebung manifestiert.10 An die Stelle einer von gegenseitiger sozialer Anerkennung geprägten Herr-
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Durch den Hinweis darauf, dass Jaromir seinen Namen „nicht geliebt“ habe, wird darüber hinaus angedeutet, dass Theodor eine affektive Bindung zu seinem Herrn fehlt, er sich also auch im Bereich der Liebe missachtet fühlt, auch wenn Jaromir seine physische Integrität nicht verletzt hat.
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schaftsbeziehung ist durch Jaromir ein funktionales Abhängigkeitsverhältnis getreten, was für Theodor inakzeptabel ist. Darüber hinaus stört er sich an Jaromirs unsittlichem Lebenswandel, genauer: an seiner Instrumentalisierung anderer für die eigenen Interessen – ein Übel, das „den Becher“ für ihn „zum Überflusse“ bringt. Rücksichtslos folgt Jaromir seinen erotischen Neigungen, anstatt seiner (Lebens-)„Aufgabe“ nachzukommen und sich verantwortungsvoll um seine Frau Anna und seine beiden Kinder zu kümmern. (Hofmannsthal 1975c: 52) Ganz auf sein eigenes Wohl bedacht, hat er seine beiden Geliebten – Melanie Galattis und Maria Am Rain – zu sich aufs Gut bestellt. Auch ihnen gegenüber fühlt er sich zu nichts verpflichtet, denkt er doch „zum Beispiel nicht daran, eine der Damen selbst von der Bahn zu holen“ (Hofmannsthal 1975c: 43). Gewissenlos spielt er sie gegeneinander aus und missbraucht sie zu einem „egoistischen Zweck […]: nämlich als Rohmaterial für seine Erotica“ (Graham 1991: 323), denen Theodor und die Baronin konsequenterweise jeden literarischen Wert absprechen. Jaromirs Unverbindlichkeit ist Folge eines ästhetischen (statt ethischen) Blicks auf die Welt, durch den er sogar die Angst und den Zorn seiner Geliebten Melanie noch „über alle Maßen reizend“ (Hofmannsthal 1975c: 64) finden kann.11 Der ästhetische Blick Jaromirs ist nicht zuletzt deshalb blind für den verpflichtenden Rang des Personalen, weil er selber nicht personal verantwortet ist. Er ist vielmehr preisgegeben der Gnade des Augenblicks, der Laune des atmosphärischen Spiels, hüllenlos ‚ausgeliefert‘ der Willkür des Außen. (Rösch 31975: 178)12
Da Jaromir als Sammler sinnlicher Eindrücke nur den Augenblick kennt, setzt er sich zu der das ‚Ganze‘ repräsentierenden Vergangenheit nicht durch stete Reflexion in Bezug, wovon sein „schwache[s] Gedächtnis“ (Hofmannsthal 1975c: 87) zeugt.13 Das unterscheidet ihn von Theodor, in dessen „nichts vergessende[r] Herzkammer“ Jaromirs „Weibergeschichten und Schlechtigkeiten abfotographiert sind bis in die kleinsten und niederträchtigsten Zärtlichkeiten und Meineide“. (Hofmannsthal 1975c: 53) Davon ausgehend, dass sich Theodor mit dem ‚Ganzen‘ identifiziert, ist seine Kündigung nicht nur eine Form des Protests gegen persönliche Kränkungen, sondern auch und vor allem gegen Jaromirs Missachtung des Sittengesetzes. Dafür spricht, dass Hofmannsthal sein Lustspiel ursprünglich Theodor und das Ganze hat nennen wollen.14 Das ‚Ganze‘ ist denn auch
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Zu Jaromirs ästhetischem Blick vgl. u. a. Graham 1991: 323 und Rösch 31975: 178. Vgl. Hofmannsthal 1975c: 63. Vgl. auch Hofmannsthal 1975c: 52. Hier erklärt Theodor: „Bei ihm [Jaromir, N.B.] gibt es keine Vergangenheit, so ist er nicht!“ Vgl. den Brief vom 22. 2. 1934 an Gerty von Hofmannsthal. In: Hofmannsthal 1975c: 245.
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ein textliches Leitmotiv des Lustspiels. So erklärt Theodor, dass ihm „das Ganze“ nicht mehr passe; das „Ganze“ sei nämlich „eine siebzehnjährige automatische Mißachtung“ gewesen. (Hofmannsthal 1975c: 47, 51) Eine „Genugtuung“ könne daher nicht „aus Äußerlichkeiten bestehen, die müßte auf das Große und Ganze gehen! Die müßte zeigen, wo Gott eigentlich Wohnung hat!“ (Hofmannsthal 1975c: 54) Aus diesem Grund fordert er von der Baronin, ihm „die Aufsicht über das Ganze“ zu übertragen, um das „ganze“ von Jaromir errichtete „Gebäude von Eitelkeit und Lüge“ destruieren zu können. (Hofmannsthal 1975c: 58, 56) Ob er seine Kündigung zurückziehe, sei schließlich „von dem Ausgang des Ganzen“ (Hofmannsthal 1975c: 55)15 abhängig.16 Wie den Dienerfiguren der bisher analysierten Komödien geht es Theodor nicht um eine Rebellion, sondern um eine Reformierung bzw. Restitution der bestehenden Ordnung. Er stellt Jaromirs soziale Position nicht in Frage,17 fordert aber von ihm, die „göttlichen und menschlichen Gesetzlichkeiten“ (Hofmannsthal 1975c: 53) zu achten. Dazu bedarf es eines ethischen statt eines ästhetischen Blicks. Für den will Theodor die Bedingungen schaffen, indem er Jaromirs Liebschaften zur Abreise bewegt, und zwar so, „daß die Damen selbst in zartfühlender Weise den Herrn Baron über die Gründe ihres Verschwindens anlügen werden.“ (Hofmannsthal 1975c: 55) Wie in Jaromir will er auch in ihnen einen Bewusstseinswandel auslösen, in dessen Folge sie zu sich selbst finden, dem Sittengesetz folgen und aus freien Stücken abreisen sollen. „Das bedeutet aber, daß Theodor gar nicht im uneingeschränkten Sinne Regisseur, nicht autoritärer Lenker des Spiels ist. Er gibt […] nur den Anstoß […]. Er wirkt von außen, denn über das Innere der Person hat er keine Macht.“ (Altenhofer 1967: 89) Darin gleicht er den Dienerfiguren der bisher in den Blick genommenen Komödien. Wie sie ist auch er von den ethischen Entscheidungen seines sozialen Umfelds abhängig und damit nicht vollkommen souverän.18
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Kursivierung durch N.B. Dass sich Theodor als Vertreter der verletzten metaphysischen Ordnung begreift, ist von der Forschung vielfach herausgestellt worden, vgl. u. a. Altenhofer 1967, Geulen 1988, Graham 1991, Mennemeier 1977, Pickerodt 1968, Pohlheim 1992, Rech 1971, Requardt 1963, Rösch 31975, Unger 2010. Ähnlich argumentiert Norbert Altenhofer: „Auf keinen Fall darf das kritische neben dem affirmativen Moment übersehen werden, denn es geht in dieser Komödie nicht um die Wiederherstellung des ‚Alten‘ schlechthin, sondern um die Wiederbelebung des ‚alten Wahren‘“ (Altenhofer 1967: 81) und damit um eine (konservative) Reformierung der bestehenden Ordnung. Ähnlich argumentieren Altenhofer 1967 und Pickerodt 1968.
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Seiner Vorstellung, dass es nur eines „gezielten Anstoßes bedarf, um die Situation ins Rollen zu bringen“ (Unger 2010: 207), verleiht Theodor mit einer Billiardmetapher Ausdruck. So erklärt er der Baronin: Ich bin mit beiden Weiblichkeiten sehr vertraut aus langjähriger Bekanntschaft. Diese da er zeigt auf die Tür, durch welche Marie eben abgegangen ist ist ein unglückliches Wesen mit einer schönen geängstigten Seele. Diese werde ich direkt anspielen. Die andere Person werde ich von der Bande anspielen. (Hofmannsthal 1975c: 57)
Voraussetzung für die treffsichere Ausführung des Anstoßes sind „Einblicke in die psychische Befindlichkeit der Frauen“ (Unger 2010: 207), wie das Zitat deutlich macht. Hier setzt Theodor an: In Kenntnis ihrer Sorgen und Ängste – die Entdeckung der Affäre bzw. die Enttäuschung des Vaters – redet er Melanie und Marie ins „Gewissen“ (Hofmannsthal 1975c: 77). Auf diese Weise werden ihnen ihre bis dato unbewussten inneren Konflikte präsent, so dass sie die Stärke finden können, eine vernünftige Lösung durch sittliches Handeln herbeizuführen. Während sich Melanie „auf einmal“ über die Grenze „zwischem dem, was man vielleicht noch entschuldigen könnte und dem, was einfach unerlaubt ist“, klar wird, realisiert Marie, dass sie vor ihrem Vater keine Geheimnisse mehr haben und andere Menschen nicht länger belügen will. (Hofmannsthal 1975c: 94, 80) Daraufhin entscheiden sich beide zur Abreise. Theodors ‚Intrige‘ ist somit weniger als „Motor“ denn als „Katalysator des Geschehens“ zu werten. (Altenhofer 1967: 106) Dass sich beide Frauen nach Theodors Intrige im Einklang mit dem ‚göttlichen Gesetz‘ befinden, manifestiert sich in ihrer plötzlichen Hochschätzung der Ehe. So weist Melanie Jaromir zurecht, dass er mit seiner Frau und den Kindern mehr habe, als er verdiene (vgl. Hofmannsthal 1975c: 95), und auch Marie verabschiedet sich mit den Worten: „Ich segne Ihre Ehe. […]. Mögen Ihre Kinder lieben und geliebt werden. […] Geben Sie Ihrer Frau alles, was Sie zu geben vermögen.“ (Hofmannsthal 1975c: 80) Wie Theodor fordern sie von Jaromir, seine erotischen Begierden sowie sein „ungeheures Einsamkeitsbedürfnis“ (Hofmannsthal 1975c: 43) zu überwinden und sich „mit der Welt durch Verknüpfung“ (Hofmannsthal 1980: 607) mit seiner Frau Anna zu verbinden. Erst durch das Eingehen einer sozialen Beziehung kann Jaromir nämlich statt des ästhetischen einen ethischen Blick entwickeln und so zu sich selbst finden, denn – so Hofmannsthal in seinen Aufzeichnungen zu Reden in Skandinavien: „Welteroberung ist Icheroberung“ (Hofmannsthal 1975a: 323).19
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Vgl. auch Hofmannsthals Ad me ipsum. Hier heißt es: „Der Weg zum Sozialen als Weg zu sich selbst“ (Hofmannsthal 1980: 610).
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Schon Hermann Rudolph hat herausgestellt, dass das „Paradigma des angestrebten Zustands“ in Hofmannsthals Komödien „die Ehe“ ist: Sie „verbindet in Hofmannsthals Deutung eine soziale Beziehung mit der Erlangung persönlicher Identität, welche die Figuren gemäß der […] sie bestimmenden ‚Sittlichkeit‘ im Vorgang der Komödie ausbilden.“ (Rudolph 1971: 157) Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass der Autor seine Komödien in Ad me ipsum als das „erreichte Soziale“ (Hofmannsthal 1980: 611) bezeichnet. Indem die Menschen soziale Beziehungen eingehen, finden sie zu sich selbst, d. h. zum Sittengesetz, durch das sie wiederum mit anderen Menschen verbunden werden. Auf diese Weise bauen sich „nicht nur familiäre Bindungen, wie die von Vater und Sohn, oder soziale wie die von Herr und Diener auf, sondern auch das politische Gefüge des Staates als ‚eines Gebildes, eines wahren Organismus‘“ (Altenhofer 1967: 59).20 Der ‚glückliche Ausgang‘ der Komödie – das Zueinanderfinden von Anna und Jaromir – hat demzufolge neben der privaten auch eine politische Dimension. Von der Forschung ist das Ende kontrovers diskutiert werden. Während etwa Franz Norbert Mennemeier, Gerhart Pickerodt und Karl Konrad Pohlheim die Position vertreten, dass Jaromir durch ein metaphysisches Erlebnis einen inneren Wandel hin zur Moralität vollziehe, wodurch die Komödie „am Ende auffällig und echt Hofmannsthalisch in die Dimension des Mysterienspiels“ (Mennemeier 1977: 237) übergehe,21 sind Alfred Doppler und Hans Geulen davon überzeugt, dass der Lustspielschluss „keine substantielle Veränderung“ (Doppler 1983: 212) bringe. Von einem Großen und Ganzen, das erkennbar würde, kann so wenig gesprochen werden wie von einer Restauration, die nicht zugleich eine Karikatur ihrer selbst wäre. Nur pro forma wird in die Ordnung zurückgeführt, ja es wird deren ironische Aufhebung und dahinter das Vakuum deutlich. (Geulen 1988: 110)
Die divergierenden Deutungen sind zum einen darauf zurückzuführen, dass sich Jaromirs innere Haltung zu seiner Frau unvermittelt verändert und dadurch psychologisch unzureichend motiviert ist, wie schon Norbert Altenhofer betont hat: Sie [Jaromirs Bekehrung, N.B.] ist nicht mehr Verwandlung in dem Sinn, daß unter vielen vorher sichtbaren Möglichkeiten des Charakters eine, die notwendige, hervortritt. Sie vollzieht sich nicht im Rhythmus des Spiel, sie ist radikaler Um-
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Die gleiche Position vertreten Herrmann Rudolph (1971: 157) und Karl Konrad Pohlheim (1992: 373): „Diese Ehe [zwischen Jaromir und Anna, N.B.] als wahre, heilige zu begründen und sie darüber hinaus als Allegorie des Sozialen zu verstehen: das müßte, wenn unsere Überlegungen nicht fehl gehen sollen, das Telos dieses Dramas sein.“ Vgl. Pickerodt 1968: 240, Pohlheim 1992: 380.
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bruch […]. So ist der Vorgang der Versöhnung am Ende zeichenhaft verkürzt und wird zur dialogischen Allegorie der Vereinigung. (Altenhofer 1995: 46)
Zum anderen bleibt unklar, wie Annas metaphysisch fundierte Sicherheit, dass ihr der „Herrgott“ (Hofmannsthal 1975c: 105) Jaromir wiedergegeben habe, zu werten ist. Der Handlungsverlauf gibt ihr zwar recht: Durch Theodors Intrige im Namen des ‚Großen und Ganzen‘ reisen Melanie und Marie ab, und damit werden die Voraussetzungen für ein Zueianderfinden der Eheleute geschaffen; allerdings vertritt Anna ihren Glauben gegen die „gesellschaftliche und psychologische Wirklichkeit“ mit einer „Kompromißlosigkeit, die ans Absurde“ grenzt. (Altenhofer 1995: 46) So ist sie sich sicher, dass Jaromir die beiden Frauen „nur aus Güte und Zartgefühl für sie beide“ aufs Gut bestellt habe: „Damit sie fühlen, daß, wenn du sie schon nicht hast wählen können, du sie doch sehr hoch stellst, und immer stellen wirst.“ (Hofmannsthal 1975c: 106, 107) Aufgrund der aus den Ambivalenzen resultierenden Deutungsoffenheit ist die Vereinigung der Eheleute durchaus als „mystische Katharsis“ (Pickerodt 1968: 238) interpretierbar. Mit Blick auf den durch Theodor in Marie und Melanie initiierten Bewusstseinswandel scheint mir allerdings die Lesart plausibler, dass es Anna durch ihre radikale Offenheit, mit der sie Jaromir ihre Gefühle mitteilt, gelingt, an sein Gewissen zu appellieren und ihn auf diese Weise zu „Reue und Umkehr“ (Pickerodt 1968: 238) zu bewegen. Der Schluss kann aber auch als ironische, den Gattungskonventionen geschuldete Lösung der Konflikte gewertet werden. Beide Deutungsmöglichkeiten – das Zueinanderfinden des Ehepaares durch einen Bewusstseinswandel vs. Ironisierung des ‚glücklichen Endes‘ – schließen sich nicht aus, wenn man annimmt, dass Hofmannsthal ein zu restituierendes ‚Ganzes‘ jenseits der empirischen Realität annimmt, die eigenen Erkenntnismöglichkeiten sowie die Erfahrung eines „totale[n] Weltzugangs in Anbetracht der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung, der subjektiven Diversifizierung, ja der Unterschiedlichkeit der Wert- und Weltorientierungen“ (Herrmann 2008: 18) aber zugleich hinterfragt. Dazu dient ihm die Ironie – für ihn ein „zentrales Element der Komödie“ (Hofmannsthal 1979c: 138).22 Für diese These spricht, dass Hofmannsthal in seinem kurz vor dem Unbestechlichen entstandenen Essay Die Ironie der Dinge (1921) seine Zeit mit der der Romantiker parallelisiert. Davon ausgehend, dass durch den Ersten Weltkrieg alle Normen und Werte relativiert worden sind, hält er es nach wie vor für erstrebenswert, aber für unmöglich, Aussagen über das ‚wahre Wesen der Dinge‘ zu treffen. „Das von Zufällen fragmentarisierte
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Zur Ironie als Antwort auf die Moderne vgl. V.1.1.1.
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Gesamtbild als Kriegsfolge wird für von Hofmannsthal zu einem Symbol der Moderne.“ (Müller 1995: 82) Daher sei die jetzige Krise – genauso wie die der Romantiker angesichts der Französischen Revolution und der napoleonischen Zeit – nur mit Ironie beschreibbar. Dazu notiert er: Sie [die Romantiker, N.B.] hielten es für unrecht, wenn man sich zu tief in den Schmerz versenkte, und sie meinten, daß man einen Gegenstand ganz zu lieben auch das Lächerliche an diesem Gegenstand zu sehen wissen müsse. […] wer anders verfahre, dem fehle der Sinn fürs Weltall. (Hofmannsthal 1979c: 141)
Ähnlich verfährt Hofmannsthal im Unbestechlichen, indem er das Zueinanderfinden des Ehepaares als einen ‚Weg zum Sozialen‘ vorstellt, diesen ‚Lösungsansansatz‘ zur Restitution des ‚Ganzen‘ aber unter Vorbehalt stellt.23 Von Ironie zeugt auch die ambivalente Konzeption des Dieners Theodor.24 Das manifestiert sich schon in seinem Beinamen Der Unbestechliche, mit dem Hofmannsthal auf die französische Typenkomödie des 17. und frühen 18. Jahrhunderts rekurriert. Während die Lustspieltitel dort auf die zu verlachenden lasterhaften Figuren hinweisen – man denke an Molières Geizigen (L’Avare, UA 1668), den eingebildeten Kranken (Le malade imaginaire, 1673), den Menschenfeind (Le Misanthrope ou l’Atrabilaire amoureux, 1667) oder den Wirrkopf (1663) – bezeichnet er hier eine Tugend: Theodors Unbestechlichkeit. Darauf stolz, „keine käufliche Seele“ (Hofmannsthal 1975c: 54) zu haben, erklärt der Subalterne, dass die ihm durch Jaromir zugefügten Kränkungen nur durch eine Restitution des ‚Großen und Ganzen‘ wiedergutzumachen seien. Allerdings wird seine Sittlichkeit zum einen dadurch in Frage gestellt, dass sein Ehrentitel auf den Tugendfanatiker und Schreckensherrscher Maximilien de Robespierre verweist,25 zum anderen wird im Handlungsverlauf deutlich, dass Theodor sehr wohl bestechlich ist. Auch wenn ihn die Geldzuwendungen von Melanie „in der
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„Dass Hofmannsthal seine eigenen Positionierungen und ‚Lösungsansätze‘ zeitweise fraglich erschienen“ (Herrmann 2008: 17) sind, hat Katharina Herrmann überzeugend mit Blick auf den Turm (UA 1928) herausgearbeitet. Die hat zu kontroversen Deutungen geführt, wie u. a. Ilse Graham hervorgehoben hat: „Als treuer Diener seines Herrn im Sinne von Grillparzers Bancbanus oder auch von Anton in Hofmannsthals ‚Turm‘ gilt er den einen. Andere wieder sehen in ihm den manipulativen Usurpator des herrschaftlichen Hauses, dem er dienen sollte. Er werfe sich zum kleinen Gott der Welt auf, ja, die göttlichen Prädikate seien in seiner Gestalt in die Komödie transponiert, und so mache er sich blasphemischer Ausfälle schuldig. Dagegen liest man anderswo, er sei das dienende Werkzeug dessen, ‚durch den‘ – in Annas Worten – ‚alles geschieht‘ […]. Ja, durch sein Wesen und Wirken vertiefe sich Hofmannsthals Komödie zu einem Mysterienspiel.“ (Graham 1991: 310) Dass Hofmannsthal auf Robespierre verweist, der als ‚Der Unbestechliche‘ (‚L’Incorruptile‘) bezeichnet worden ist, haben unter anderem schon Altenhofer (1967: 32), Graham (1991: 325), Stern (1982: 147), Sturges (1993: 25) und Unger (2010: 195) herausgestellt.
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Hauptsache als Gradmesser ihrer steigenden Angst und Fluchtbereitschaft“ interessieren, „kassiert [er] die Scheine ein und steckt sie wohlzufrieden in seine Westentasche.“ (Graham 1991: 321) Theodor ist – wie Hofmannsthal über den Diener der alteuropäischen Ordnung in seinem Artikel über Eduard von Bauernfelds dramatischen Nachlaß schreibt, ‚Gewissen und Karikatur seiner Herrschaft‘. Als ‚Gottesgeschenk‘26 agiert er als „Wächter der Tugend und Beschützer der Unschuld“; (Alewyn 41967: 125) zugleich missachtet er seine Geliebte Hermine, indem er sie mit Geringschätzung behandelt (vgl. Hofmannsthal 1975c: 72ff.). Das Gleiche gilt für das ihm unterstehende Personal. So beschwert sich die Beschliesserin im ersten Akt über „Bosheiten“ und „Willkürlichkeiten“, die sich Theodor gegenüber „jedem Einzelnen“ herausnehme. (Hofmannsthal 1975c: 38) Der Subalterne gleicht seiner Herrin in dem „militärischen Tempo“, in dem er Anordnungen trifft, und Jaromir in seiner „krankhafte[n] Empfindlichkeit“. (Hofmannsthal 1975c: 81, 41)27 Wie der Adlige will er außerdem seine Geliebte des Nachts über den Dachsteg aufsuchen – ein Plan, den er zuvor durch seine Intrige im Namen des ‚Großen und Ganzen‘ vereitelt hat. Wie Norbert Altenhofer konstatiert, identifiziert sich Theodor mit dem ‚Ganzen‘ und orientiert seine persönlichen Urteile an dieser Norm. Dann aber identifiziert er das ‚Ganze‘ wiederum mit seiner eigenen Person und läßt alle Objektivität erneut in einen maßlosen Subjektivismus umschlagen, der in seiner ungeheuerlichen Selbstgerechtigkeit komische Triumphe feiert. Wo er sich mit einem ‚Ganzen‘ identifiziert, das aus dem Geist der Erinnerung und dem Geist der Utopie erst noch verwirklicht werden muß, erscheint er als Vorkämpfer der Wahrheit; wo er jedoch die Wahrheit und Integrität des ‚Ganzen‘ mit seiner eigenen Unvollkommenheit gleichsetzt, tritt der Aspekt von Lüge und Heuchelei an ihm hervor. (Altenhofer 1967: 83)
Theodor fungiert also nicht ungebrochen als Repräsentant sittlicher Werte, kennzeichnen ihn doch Hochmut und Selbstgerechtigkeit. Diese Ambivalenz lässt sich erstens auf Hofmannsthals ironische Welthaltung zurückführen, durch die ihm jede apodiktische Aussage über das ‚Wesen der Dinge‘ als ein Zeichen von Hybris erscheinen muss. Davon zeugt nicht zuletzt seine Rede Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation (1926). Hier stellt er den ‚deutschen Bildungsphilistern‘ mit Friedrich Nietzsche die ‚Suchenden‘ gegenüber, die die „herrschende[n] Zeitgedanke[n]“ immer wieder kritisch hinterfragen und somit als „geistige[s] Gewissen der Nation“ zu kategorisieren sind. (Hofmannsthal 1979d: 30) Als
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Der Name Theodor leitet sich von ‚Theodoron‘, griechisch für ‚Geschenk Gottes‘, ab. Vgl. Hofmannsthal 1975c: 45. Hier attribuiert Anna Jaromir eine ‚einfach nicht vorstellbare Empfindlichkeit‘.
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paradigmatische Beispiele für solch mutige ‚Anarchisten‘ nennt Hofmannsthal den „aus dem Chaos hervortretende[n] Geistige[n]“, der „mit dem Anhauch des Genius auf der hohen Stirn“ den Anspruch auf Führerschaft erhebt; (Hofmannsthal 1979d: 32) und kontrastierend dazu den Wissenschaftler, der sich in asketischer Aufopferung mit dem kulturellen Erbe auseinandersetzt, um „dem Überschwellen geistiger Erkenntnis immer wieder die sittliche Norm, das absolute Maß zu entreißen“ (Hofmannsthal 1979d: 34). Beide zeichnen sich trotz bzw. gerade wegen ihrer unbedingten und erstrebenswerten Suche nach ‚Ganzheit‘ und ‚Bindung‘ notwendig durch Hybris aus. War in jenem Tun die Hybris des Herrschenwollens, fußend auf erträumten, vorweggenommenen Ordnungen, so ist in diesem eine Hybris des Dienenwollens, überkommenen Ordnungen das Blutopfer zu bringen (Hofmannsthal 1979c: 25).
Ähnliches gilt für Theodor, der zwischen seinem „Wille[n] zu bestimmen“ und zu „dienen“ hin- und herschwankt. (Rech 1971: 163) Zweitens ist Theodor ähnlich wie die Dienerfiguren in den Komödien von Beaumarchais, Krüger und Marivaux als ambige Figur konzipiert, weil sonst die im Lustspiel vorgeführten Herrschaftsverhältnisse ernsthaft in Frage gestellt würden. Damit die Restitution des ‚Ganzen‘ propagiert werden kann, muss Theodor trotz seiner Tugenden mit komischen Zügen ausgestattet werden, während sich sein Herr als legitimer Herrscher erweisen muss. Wie die Textanalyse gezeigt hat, ist das Herr-Diener-Verhältnis […] für Hofmannsthal, vor aller (im engeren Sinn) sozialen Problematik, eine menschliche Grundkonfiguration. Da eine Störung dieser Konfiguration von ihm nicht primär als Klassenkonflikt aufgefaßt wird, kann sie auch nach keinem sozialpolitischen Rezept bereinigt werden, sondern grundsätzlich nicht anders als ein Konflikt zwischen Ehepartnern oder zwischen Mutter und Sohn. Für Hofmannsthal bleibt das, in der Komödie oder in der Politik, eine Frage individueller Verständigung und persönlicher Wandlung. […] Er ist davon überzeugt, daß nur durch eine Wandlung des Bewußtseins die Verhältnisse geändert werden können. (Altenhofer 1967: 42)
Um das zu veranschaulichen, rekurriert er auf die französische Komödientradition. Das kommt in dem auf die satirische Typenkomödie rekurrierenden Lustspieltitel zum Ausdruck; außerdem in den auffälligen motivischen Parallelen zu Beaumarchais’ Hochzeit des Figaro, die von der Forschung oft bemerkt worden sind.28 Das bezieht sich vor allem auf die Figurenkonzeption: Theodor und Figaro sind ambivalente Figuren, ko-
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Nach Bezügen zwischen dem Unbestechlichen und der Hochzeit des Figaro haben u. a. Alewyn 126ff., Altenhofer 1956: 166f., Mennemeier 1977: 238, Pickerodt 1968: 235, Schnetzer 1972: 32ff., Sturges 1993: 19f. und Yates 1995: 390 gefragt. 41976:
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misch und tugendhaft zugleich. Beide sind als Waisen aufgewachsen und fühlen sich durch äußere Umstände unrechtmäßig zum Diener degradiert. Sie besitzen eine äußerst wechselvolle Biographie29 und werden zu Gegnern ihrer egozentrischen und promiskuitiven Herren, weil sie sich von ihnen missachtet fühlen. Dagegen setzen sie sich zur Wehr, indem sie sich mit ihrer noblesse de cœur gegen die noblesse de naissance zu behaupten suchen. Um ihren Willen durchzusetzen, greifen beide zur Intrige; allerdings ist ihr Erfolg vom Zufall bzw. vom ethischen Willen ihrer Interaktionspartner abhängig – ein Zeichen dafür, dass beide Komödien keine Revolution, sondern eine Reformierung bzw. Restitution der bestehenden politischen Ordnung im Blick haben. Angestrebt wird ein Bewusstseinswandel der Rezipienten. Sie sollen sich am Allgemeinwohl bzw. am ‚Großen und Ganzen‘ orientieren, damit sich eine humane, von wechselseitiger Anerkennung geprägte Gemeinschaft konstituieren kann. Wozu sucht Hofmannsthal aber mit dem Unbestechlichen an die französische Komödientradition ‚produktiv-kritisch‘ (vgl. Geulen 1988: 99) anzuknüpfen? Einen Anhaltspunkt dafür liefert seine Rede zum Schrifttum als geistige[m] Raum der Nation. Hier konstatiert er: Die Literatur der Franzosen verbürgt ihnen ihre Wirklichkeit. Wo geglaubte Ganzheit des Daseins ist – nicht Zerissenheit –, dort ist Wirklichkeit. Die Nation, durch ein unzerreißbares Gewebe des Sprachlich-Geistigen zusammengehalten, wird Glaubensgemeinschaft, in der das Ganze des natürlichen und kultürlichen Lebens eingeschlossen ist; ein Nationalstaat dieser Art erscheint als das innere Universum und von Epoche zu Epoche immer aufs neue als ‚das gedrungene Gegenstück zur deutschen Zerfahrenheit‘. (Hofmannsthal 1979d: 27)
Frankreich wird hier aufgrund ihrer die Menschen einenden ‚Nationalliteratur‘ zum Idealbild der von Hofmannsthal emphatisch beschworenen ‚Ganzheit‘ stilisiert. Die „gesellschaftlich-geistige Verfassung“ (Rudolph 1971: 214) des Landes fungiert für ihn als Gegenmodell zur eigenen Nation, die laut Hofmannsthal keine „wahrhaft repräsentativ[e] noch traditionsbildend[e]“ (Hofmannsthal 1979d: 29) Literatur besitzt. Aus diesem Grund erscheint ihm „die französische Theatertradition […] als ein Vorbild für seine eigenen Bemühungen um das Theater“ (Rudolph 1971: 213).30
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Wie der Leser erfährt, ist Theodor genauso wie Figaro als Waise aufgewachsen. Ursprünglich hat er Geistlicher werden sollen, ist aber „durch Gemeinheit gemeiner Menschen in den dienenden Stand gestoßen worden.“ (Hofmannsthal 1975c: 51) Zwischenzeitlich hat er allerdings auch als Ulan in der Schwadron des Generals gedient. Zur Vorbildfunktion des französischen Theaters (insbesondere des 17. Jahrhunderts) für Hofmannsthal vgl. u. a. Perrig 1994: 95f., Rudolph 1971: 212ff.
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2.3 Die Überwindung des Nationalsozialismus durch Humanität und moralische Integrität in Horváths Pompeji (1937) Wie Hofmannsthal setzt sich auch Horváth mit seiner 1937 fertiggestellten Komödie Pompeji. Komödie eines Erdbebens in sechs Bildern mit der von ihm als krisenhaft erfahrenen Gegenwart auseinander.1 Während Hofmannsthal die gesellschaftlichen Umbrüche der Moderne beklagt, protestiert Horváth gegen die Diktatur der Nationalsozialisten. Anstatt dezidierte Systemkritik zu üben, verschiebt sich die „Problemreferenz“ seiner Komödie aber ähnlich wie bei Hofmannsthal „vom unmittelbar Politischen ins menschlich Allgemeine“. (Friedrich 2009: 353) Wie die bisher in den Blick genommenen Theaterautoren plädiert er für Humanität und moralische Integrität. Das hat Zensurgründe, ist aber auch eine Reaktion auf die von ihm und anderen Autoren empfundene politische Ohnmacht, die dazu geführt hat, dass der „Grad der Politisierung der Dramatik“ nach 1933 „ingesamt rückläufig“ gewesen ist. (Friedrich 2009: 353) Wie Hans-Edwin Friedrich hervorgehoben hat, musste es den Schriftstellern nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten vor allem darum gehen, das dezidiert Humane zu beschwören, eine konsensuelle Basis jenseits des Parteienkampfs herzustellen, übergreifende Zusammenhänge, historische Kausalitäten und Parallelen zu analysieren – eine Tendenz, die zu einem neuen Interesse an archaischen und mythischen Stoffen und zu parabelhaften Überhöhungen, unabhängig von den politischen Positionen der Autoren, führte. […] Dabei handelt es sich nicht um eine unpolitische Regression, sondern um eine Reflexion darüber, daß der Nationalsozialismus als fundamentaler Angriff auf Humanität, Gerechtigkeit und Menschenrechte wahrgenommen wurde (Friedrich 2009: 353, 375).
Wie Hofmannsthal knüpft auch Horváth mit Pompeji an die Komödientradition an. Als literarische Vorbilder dienen ihm aber weniger die französischen satirischen Lustspiele des 17. und frühen 18. Jahrhunderts als drei Bühnenstücke von Plautus, die wiederum für das Theater der französischen Klassik und darüber hinaus stilbildend gewesen sind: Erstens Poenulus, dessen punische Titelfigur Horváth zu K. R. Thago symbolisch kontrahiert; zweitens Miles gloriosus, woraus Horváth die Figur des Gloriosus übernimmt; drittens Persa, von dem Horváth die weiteren Figuren (Toxilus, Lemniselenis, Dordalus, Sophocliska Matrosa, Pägnium, umgearbeitet Parasit und Bagnio),
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Zur Datierung von Pompeji vgl. Gros 1996: 49ff., Ropers 2012: 154.
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einzelne Motive und den Freikauf Lemniselenis mit 600 Doppeldrachmen entlehnt. (Heil 1999: 230)2
Zentrale Figur seiner Komödie ist der widerständige Sklave Toxilus, der das volle „Vertrauen seines Herrn“ (Horváth 1970: 602) K. R. Thago genießt. Immerhin wird er während dessen Abwesenheit zum obersten Verwalter seiner Villa eingesetzt. Selbstbewusst bezeichnet sich der Sklave als „Herrennatur“ – als „Mann voll geistiger Kraft und Gewandtheit, voll Witz und Gesundheit, dem sich eine Umgebung willig unterordnet, meine Mitsklaven nämlich, jedoch auch – Leise – meine Herrschaft!“ (Horváth 1970: 594)3 Diese (Selbst-)Einschätzung muss mit Blick auf den Handlungsverlauf zwar relativiert werden, weil Toxilus durch die Liebe zur Hetäre Lemniselenis mit seinem sozialen Umfeld in Konflikt gerät und seinen Willen gegen dessen Widerstand durchsetzen muss. Allerdings erweist er sich seinen Interaktionspartnern in diesen Auseinandersetzungen als intellektuell und moralisch überlegen. Darin gleicht er Hofmannsthals ‚Unbestechlichem‘. Toxilus und seine Mitsklaven werden von ihrer Herrschaft in den drei Bereichen Liebe, Recht und Solidarität missachtet – eine Parallele zu den bisher analysierten Komödien. Erstens wird ihre physische Integrität verletzt, weil sie von den Aufsehern und ihren Herren körperlich gezüchtigt werden. Das illustriert schon das erste Bild, in dem „zahlreiche Sklavinnen und Sklaven […] vom Ufer Gepäckstücke auf das Schiff“ schleppen und dabei „von einem Aufseher mit Nilpferdpeitsche in drohender Pose beaufsichtigt“ werden. (Horváth 1970: 593) Dabei erweisen sich Idiotima, K. R. Thagos Tochter, und ihr Mann Gloriosus als inhumane (Willkür-)Herrscher. Während Idiotima den Aufseher auffordert, die Sklaven zu schlagen, weil sie sich am „schrillen Ton“ der auf den Boden knallenden Peitsche stört, droht Glo-
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Wie das Zitat andeutet, orientiert sich Horváth vor allem an Persa. Aus diesem Grund soll der Inhalt der Komödie kurz referiert werden: „Der Sklave Toxilus, dessen Herrschaft verreist ist, liebt die Hetäre Lemniselenis und will diese freikaufen. Zu diesem Zweck leiht er sich vom gewissenlosen Sklaven Sagaristio Geld aus, das dieser so lange seinem Herrn unterschlägt. Nachdem Toxilus Lemniselenis mit fremdem Geld freigekauft hat, gewinnt er das Geld mit einer List wieder vom Kuppler Dordalus zurück. Dazu überredet er den heruntergekommenen Parasiten Saturio, sich als Perser zu verkleiden und seine Tochter Lukris als Araberin an Dordalus zu verkaufen. Dieser kauft sie ohne Bedenken als Ersatz für Lemniselenis, muss sie aber, als kurz darauf Saturio unverkleidet wieder erscheint, freilassen, da sie die Tochter eines freien Mannes ist. Am Schluss des Stückes veranstalten die Sklaven ein ausgelassenes Gelage aus Freude über die gelungene Intrige.“ (Gros 1996: 76) Diese (Selbst-)Beschreibung hat Horváth fast wortwörtlich aus Ludwig Gurlitts Einführung zu der von ihm ins Deutsche übersetzten Komödie Persa übernommen, vgl. Plautus 1922: 321.
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riosus, den „Sklavenlausbub“ Paegnium aus Ärger über sich selbst blenden zu lassen. (Horváth 1970: 596, 592) Als käufliche Objekte werden den Sklaven zweitens „keinerlei menschliche Rechte und damit auch nicht das Recht auf Liebe zugestanden“ (Ropers 2012: 167). Davon zeugt die Gerichtsverhandlung im dritten Bild, in dem Toxilus seine Fluchthilfe zur Verblüffung des Vorsitzenden damit rechtfertigt, von Amors Pfeil durchbohrt worden zu sein. Als Unfreier kann er sich den „Kult des Liebesgottes“ (Ropers 2012: 167) aber nicht leisten. Den Sklaven wird drittens keine soziale Wertschätzung entgegengebracht, werden sie von ihren Herren doch als bloße „Ding[e] mit menschlichen Allüren“ (Horváth 1970: 628) wahrgenommen und für ihre Arbeit weder entlohnt noch geachtet. Solidarität ist aber auch innerhalb der sozialen Gruppe der Unfreien nicht zu finden. Darin unterscheidet sich die Komödie von Plautus’ Vorlage, in der Toxilus nur deshalb über die freien Bürger triumphieren kann, weil er in seinen Plänen von Paegnium und seinem ‚Freund‘ Sagaristio unterstützt wird. Während die Plautinischen Sklaven gemeinsam gegen ihre Herren intrigieren, unterwerfen sich Horváths Figuren bedingungslos der politischen Ordnung. Das veranschaulicht das Urteil des Sklavengerichts. Obwohl Toxilus seinen Mitsklaven wiederholt geholfen hat, indem er sie vor der „Hoffart, Wut und Übermut“ der Herrschaft geschützt hat, soll er für seine Überschreitung der „ungeschriebenen Sklavengesetze“ nun hart bestraft und bis zur Rückkehr K. R. Thagos in den Brunnen hinter dem Haus gesperrt werden. (Horváth 1970: 611, 609) Auf diese Weise hoffen die Sklaven, selbst straffrei davonzukommen. Ihr Handeln wird aber nicht nur von Egoismus, sondern auch von stumpfsinnigem Pflichtbewusstsein gelenkt. So reagieren sie irritiert, als sie von Toxilus zu selbstständigem Denken aufgefordert werden: ALLE SKLAVEN horchen auf Denken? Sie sehen sich gegenseitig unsicher an und denken dann, jeder für sich. Stille. VORSITZENDER Wir denken – ALLE SKLAVEN im Sprechor: Doch es kommt nichts dabei heraus. VORSITZENDER Wir denken – ALLE SKLAVEN wie zuvor: Es müßt uns wer was sagen. (Horváth 1970: 613)
Wie das Zitat zeigt, befinden sich die Sklaven im Selbstwiderspruch. Anstatt sich solidarisch zu verhalten und gemeinsam gegen die inhumane politische Ordnung aufzubegehren, stabilisieren sie die bestehenden Ungerechtigkeiten durch ihre Selbstbezogenheit und geistige Unmündigkeit – ein Missstand, der unschwer auf die ‚Sklavenmentalität‘ des deutschen
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Volkes im Nationalsozialismus bezogen werden kann und die u. a. auch in Bertolt Brechts Flüchtlingsgesprächen kritisiert wird (vgl. I.2.3). Liebe und Solidarität finden sich aber auch nicht innerhalb der sozialen Gruppe der Freien. So klagt Idiotima über ihren Mann: [M]ein Gatte ist ein Berufsmensch. Er liebt nur sein Schwert, seinen Schild, seinen Panzer – was gilt ihm der Venusberg neben einem befestigten Hügel? Nichts, oh nichts! Er fürchtet nur immer, ob seine Rüstung auch richtig glänzt. […] Wenn mein Vater kein Krösus wär, wäre mein Gatte ein friedlicher Hirte, aber das Geld meines Vaters läßt ihn nicht arbeiten – so langweilt er sich auf dem Felde der Ehre zu Tode. (Horváth 1970: 596f.)
Anstatt die emotionalen und sexuellen Bedürfnisse seiner Frau zu befriedigen, kreist der narzisstische Gloriosus – der Komödientradition gemäß – ausschließlich um sich selbst.4 Seine Egozentrik und Kriegsbegeisterung führt Idiotima auf den Reichtum ihres Vaters zurück. Da Gloriosus nicht zum Arbeiten gezwungen ist, leidet er an Überdruss, was ihn für einen „flotten Krieg“ (Horváth 1970: 597) empfänglich macht. Auch die Beziehung zwischen Lemniselenis, ihrem Bruder Bagnio und deren beider Vater – dem Parasiten – wird von Egoismus und ökonomischen Faktoren bestimmt. So hat der Schmarotzer seine Tochter als Kind aus Gier für ein „opulentes Menu“ verschachert; und Bagnio weigert sich, sie mit dem von ihm produzierten Falschgeld freizukaufen, weil er „kein Krösus“ sei. (Horváth 1970: 603, 615) Schon Christopher Balme hat darauf hingewiesen, dass Toxilus’ Wille, Geld zu beschaffen, um Lemniselenis auslösen zu können, „viel mehr als nur ein Angelpunkt der Intrige“ ist: „Geld bestimmt weitgehend Handlungsweisen und Überlegungen aller Figuren bis in das Gefühlsleben hinein, allen voran das der Sklaven, da in dieser Gesellschaft ihr Menschenwert genau ihrem Marktwert entspricht“. (Balme 1988: 116)5 Nicht umsonst werden K. R. Thago als Präsident des „Romanisch-phönizischen Geldinstituts“ (Horváth 1970: 542f.) und Bagnio als Geldfälscher vorgestellt. Die aus der politischen und wirtschaftlichen Ordnung resultierenden Missstände manifestieren sich nicht nur in der Missachtung anderer, sondern kommen auch in der (De-)Maskierung der Figuren zum Ausdruck. Inwiefern? Zu Beginn des Handlungsverlaufs tragen alle Figuren – wie für das antike Theater charakteristisch – „pompejanische Masken“ (Horváth
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Plautus hat den Typ des Miles Gloriusus (dt. glorreicher Soldat) – des eitlen, prahlerischen und feigen Offiziers – aus der griechischen Dichtung übernommen. Als Capitano feiert er später in der Commedia dell’arte Erfolge (vgl. u. a. Mehnert 2003: 113f.). Ähnlich argumentiert u. a. Arntzen 1988: 147.
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1970: 593), durch die sie „nach den Vorschriften ihres jeweiligen Rollenfaches charakterisiert bzw. stereotypisiert“ (Bossinade 1988: 271) werden. In diesem Sinne steht Toxilus mit der typischen Prologmaske vor dem Publikum. K. R. Thago ist ein gütiger Börsianer, Lemniselenis ein freches Dirnchen, Matrosa eine alte Dirnchendame, Idiotima gepflegt, versnobt, mit dem leeren Lächeln der Gesellschaftsdame, Gloriosus eitel und aufgeblasen, Paegnium ein pfiffiger Spitzbub, der Aufseher roh und niederträchtig, die Sklaven und die Sklavinnen niedergedrückt, geschunden, bemitleidenswert armselig, so wie es sich eben gehört. (Horváth 1970: 593f.)
Die Masken lassen sich als Zeichen für die den Figuren zugeschriebenen oder erworbenen sozialen Rollen lesen. Solch eine Rollenübernahme ist – zumindest für Georg Simmel, Helmuth Plessner und andere Soziologen bzw. Philosophen der Zeit – unabdingbar, weil jedes Individuum in soziale Strukturen eingebettet ist. So erklärt Plessner in seiner Schrift Grenzen der Gemeinschaft (1924): „Der Mensch verallgemeinert und objektiviert sich durch eine Maske, hinter der er bis zu einem gewissen Grade unsichtbar wird, ohne doch völlig als Person zu verschwinden.“ (Plessner 2002: 82) Auch für Simmel ist die ‚Maske‘ Teil der persönlichen Identität, „aber doch nicht ganz sie selbst […], sondern nur ein Element in einer formal zusammengehaltenen Vereinigung“ (Simmel 1911: 5). Sie macht das Subjekt ‚frei‘ bzw. ‚unangreifbar‘, weil sie ‚nach innen schützt und nach außen wirkt‘. Im Unterschied dazu erfahren Horváths Figuren ihre ‚Maske‘ primär als Zwang, weil sie im Widerspruch zu ihrem Fühlen und Wollen steht. Sie ist Symbol für ihre „Selbstentfremdung“ (Gros 1996: 90) im (falschen) politischen System. So verbirgt sich hinter der Maske des brutalen Aufsehers „ein rundes, gutmütiges Gesicht“ und hinter der der Hetäre ein „schönes Kind mit traurigen Augen und einem frühverbittertem Zug“. (Horváth 1970: 595, 598) Wie stark die Figuren im Selbstwiderspruch leben, weil sie zur Anpassung an die sozialen Normen gezwungen sind, wird anhand der Idiotima verdeutlicht. Als sie auf die Beleidigungen ihres Mannes mit einem Schrei antworten will, binden ihr die Kammersklavinnen „rasch, fast gewalttätig, die frischhergerichtete Maske um“ (Horváth 1970: 597). Auf diese Weise wird ihr die Möglichkeit, ihr Gesicht zu zeigen, verwehrt.6 Wie aufzeigt worden ist, leiden die Figuren unter den sie prägenden sozialen und politischen Strukturen, die sie aber wiederum formen und stabilisieren. Auf diese Weise werden die bestehenden Missstände immer
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Eine Ausnahme bildet Gloriosus. Da er seine Maske seinem ‚wahren Ich‘ vorzieht, erlebt er sie nicht als Zwang. Eigentlich ein „feminines Gesicht“ mit „ängstlichen Augen“ (Horváth 1970: 597), geriert er sich als mutiger Kriegsheld. Auch wenn er sich – im Unterschied zu den anderen Figuren – gern hinter seiner ‚Maske‘ versteckt, befindet auch er sich im Selbstwiderspruch.
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wieder reproduziert.7 Daher können sie – wie in den anderen Komödien auch – nur durch einen Bewusstseinswandel der Subjekte beseitigt werden. Das wird in Pompeji vorgeführt: K. R. Thago, Toxilus und Lemniselenis emanzipieren sich im Handlungsverlauf von den antiken Göttern und damit von den herrschenden sozialen Normen und finden zum Christentum. Auf diese Weise gelingt es ihnen, eine humane Gemeinschaft zu konstituieren. Dieser Paradigmenwechsel bestimmt die dramaturgische Struktur der Komödie: „Die ersten drei Bilder zeigen das römische Bezugssystem, das Horváth in den nächsten drei Bildern sukzessive durch ein christliches ersetzt. Der abschließende Epilog […] mit dem programmatischen Titel ‚Die Verwandlung‘ […] faßt diesen Ablösungsprozeß parabolisch zusammen“. (Heil 1999: 229) Insgesamt lassen sich drei „Oppositionsmotive“ (Heil 1999: 230) herauskristallisieren, die im Folgenden zu beleuchten sind: käufliche vs. altruistische (Nächsten-)Liebe; äußere vs. innere Freiheit und lügnerische Maske vs. wahres Gesicht. Dabei wird das jeweils erstgenannte Motiv im Handlungsverlauf durch das zweite abgelöst. Erstens sei die Liebeskonzeption in den Blick genommen. Wie erläutert, werden in Pompeji alle zwischenmenschlichen und damit auch die Liebesbeziehungen vom Geld bestimmt. Das wird vor allem durch die Hetäre Lemniselenis augenscheinlich, die gezwungen ist, denjenigen zu lieben, der sie käuflich erwirbt. Solche zweckrationalen oder ökonomischen Abhängigkeitsbeziehungen werden im Theatertext mit dem Gott Amor assoziiert. Als sich K. R. Thago zu Beginn des Handlungsverlaufs entscheidet, Lemniselenis wieder zu verkaufen, hat diese nur einen Wunsch: „keine Hetäre mehr zu sein, heraus aus dieser Sklaverei – endlich freigekauft zu werden!“ (Horváth 1970: 601) Auf diese Weise will sie sich aus den herrschenden Zwängen befreien. Paradoxerweise hält Lemniselenis aber an der Vorstellung käuflicher Liebe fest und meint, sich nur an denjenigen emotional binden zu können, der sie freikauft (vgl. Horváth 1970: 602). Sich selbst an den „Amor-Begriff“ (Bossinade 1988: 258) klammernd, unter dem sie leidet, will sie Toxilus für ihre Zwecke instrumentalisieren. Er soll das für ihren Freikauf notwendige ökonomische Kapital stehlen. Nachdem sich Toxilus zunächst weigert, verabschiedet sich Lemniselenis, niedergeschlagen von ihren „Idealen“ und von ihrem Glauben, von den antiken Göttern: „Denn wenn sogar Amor es nicht
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Ähnlich argumentiert Arntzen (1988: 147): „Unfreiheit ist Versklavung, die aber nicht in der gesellschaftlichen Abhängigkeit erst beginnt, sondern schon in der ‚natürlichen psychischen‘. Das gesellschaftlich Falsche wird vom psychisch Falschen, das doch das Natürliche ist, sowohl potenziert wie reproduziert.“
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fertig bringt, daß einer für einen stiehlt, dann gibt es keine Hilfe mehr“, so Lemniselenis. (Horváth 1970: 624) „Ideale und Glaube sind bei ihr jedoch lediglich ideologischer Unterbau für das eigene Gewinnstreben. Sie hat einen Aspekt des privaten Egoismus’ verabsolutiert und ihn auf Kosten der Eigenverantwortlichkeit zu transzendentaler Höhe erhoben.“ (Gros 1996: 80) Das wird ihr durch ihre zum Christentum bekehrte Dienerin Matrosa und durch Toxilus bewusst gemacht, für die nur die bedingungslose, interessenlose und auf den anderen zentrierte (Nächsten-)Liebe zählt. Lemniselenis’ Bewusstseinswandel manifestiert sich in ihrem ‚stummen Weinen‘ über ihre Schuld – ihre Lügen und ihre Anstiftung zum Diebstahl. Altruistisch setzt sie sich fortan für den von ihr geliebten Toxilus ein. Um ihn vor einer Inhaftierung zu schützen, behauptet sie, dass er das gestohlene Geld von K. R. Thago geschenkt bekommen habe; später verhilft sie ihm zur Flucht in dem Wissen: „Amor ist jetzt nicht dabei.“ (Horváth 1970: 634) Wie Lemniselenis findet auch Toxilus im Handlungsverlauf zur ‚Agape‘ – der göttlichen Liebe –, ohne sich aber ausdrücklich zum christlichen Glauben zu bekennen. Von Amor getroffen verhilft er Lemniselenis im zweiten Bild zur Flucht in der Annahme, dass seine Liebe auf Gegenseitigkeit beruht. Als er realisiert, dass sie ihn bloß für ihre Ziele missbrauchen will, „scheint eine Welt in ihm zusammenzubrechen“ (Horváth 1970: 622). Allerdings wird für ihn „dieser Moment äußerster Hoffnungslosigkeit“ ähnlich wie bei Lemniselenis zum „Anbeginn neuen Lebens“, entscheidet er sich doch dafür, für sie zu stehlen, ohne eine Gegenleistung dafür zu erwarten. (Bossinade 1988: 259) So erklärt er ihr nach seiner Rückkehr: Seit ich von dir ging, hab ich nicht mehr geschlafen und hab also auch nichts mehr geträumt. Ich bin erwacht: es gibt nur ein Verbrechen: dich weiter im Joche der Sklaverei zu lassen, dich wieder weiter zu verschachern, wie ein Stück Tier – heute kenne ich nur dieses einzige Verbrechen und sonst sei mir alles recht! (Horváth 1970: 630)
Wie das Zitat zeigt, stellt Toxilus Lemniselenis’ Wohl über sein eigenes. Er macht sich strafbar, um ihr ein Leben in Freiheit zu ermöglichen, in dem Wissen, dass seine Liebe nicht erwidert wird und sie als Freie auch nicht als seine Lebenspartnerin in Frage kommt. Sein Diebstahl ist damit vor allem „ein Akt der Solidarität mit ihr als Mit-Sklavin“ (Gros 1996: 80) und damit eine Form des Widerstands gegen die bestehenden Herrschaftsstrukturen. Insofern besitzt der hier vorgeführte Bewusstseinswandel von der egoistischen hin zur christlichen (Nächsten-)Liebe eine dezidiert politische Dimension. Mit der Liebesauffassung ändert sich zweitens der Freiheitsbegriff der Figuren. Zunächst versteht Lemniselenis unter Freiheit ihre ‚körperlichmaterielle Unabhängigkeit‘ (vgl. Bossinade 1988: 260), also einen Rechts-
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status. Im Handlungsverlauf gelangt sie zu der Einsicht, dass ‚wahre‘ Unabhängigkeit erst durch die christliche Liebe ermöglicht wird. An die Stelle der äußeren tritt die innere Freiheit von den Normen und Werten der Herrschenden.8 Damit schwinden auch ihr Kummer und ihre Angst vor möglichen Repressionen durch die Inhaber der politischen Macht. So ist sie im fünften Bild bereit, sich unschuldig mit Toxilus einkerkern lassen; und im letzten Bild erklärt sie trotz ihrer physischen Gefangenschaft in der Katakombe: „Oh, jetzt gehts mir gut! Plötzlich bin ich reich. Was gehört mir nicht alles! Das Meer und die Luft, die Wolken, der Mond und die silbernen Farben der Nacht! Das alles hast du mir geschenkt. Ich danke dir.“ (Horváth 1970: 646) An die Stelle ihres Strebens nach Anerkennung als Rechtssubjekt ist hier das Gefühl von innerer Freiheit durch das Wissen um die Schönheit der Natur, Toxilus’ Liebe und die Nähe zu Gott getreten. Der hier skizzierte Bewusstseinswandel ist allerdings nicht unproblematisch. Schließlich können sich die Figuren nur „unter Preisgabe jeglichen Raums“ behaupten, in dem sie ihre „neugewonnene Autonomie ‚realiter‘ erproben“ könnten. (Bossinade 1988: 278) Als drittes Motiv ist die lügnerische Maske zu nennen, die durch das wahre Gesicht abgelöst wird. Das verdeutlicht die (De-)Maskierung des dramatischen Personals. Wie erläutert, fungieren die Masken in Pompeji als Symbol für die den Figuren zugeschriebenen sozialen Rollen, die im Widerspruch zu ihrer personalen Identität stehen und damit Zeichen ihrer Selbstentfremdung im (falschen) politischen System sind. Indem sie ihre Masken abnehmen, offenbaren sie ihr fast immer von sozialen Leiderfahrungen gezeichnetes Gesicht. Allerdings belässt es die Komödie nicht bei der Entlarvung des Rollenspiels, dem die Figuren unter dem Zwang einer hierarchischen Herren/Sklaven-Gesellschaft ausgesetzt sind. Sie übersteigt jenes Spiel mit dem Angebot eines ‚wahren Gesichts‘, das die beiden zuerst erscheinenden Formen von Maske und Gesicht gleichermaßen zur ‚Maske‘ degradiert, und das heißt: zur Erscheinungsform einer sozialen Realität, die es nicht zu verändern, sondern aufzuheben gilt. (Bossinade 1988: 271)
Das macht die Figurenkonzeption von Herr und Knecht deutlich, zeigt doch Toxilus von Beginn an sein ‚wahres‘ Gesicht. Seine Prologmaske nimmt er schon nach wenigen Sätzen – vor Einsetzen der dramatischen Handlung – ab, bemerkenswerterweise ohne dass der Leser erführe, wie sein Gesicht darunter aussieht. Darin unterscheidet er sich von den anderen Figuren, deren Mienen in den Regieanweisungen beschrieben werden. Der Grund ist der, dass es sich bei Toxilus um keine Figur im Selbstwiderspruch handelt. Er wird schon im ersten Bild als eine innerlich freie,
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Ähnlich argumentieren u. a. Bossinade 1988: 260 und Heil 1999: 231.
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von Rollenerwartungen sowie von den sozialen Normen und Werten der Herrschenden unabhängige Figur vorgeführt. Das manifestiert sich unter anderem in seiner Frechheit gegenüber dem Aufseher und in der von ihm geleisteten Fluchthilfe, zwei Zeichen des Widerstands gegen die Inhaber der politischen Macht. Auch K. R. Thago zeigt sein ‚wahres‘ Gesicht, allerdings erst am Ende des Handlungsverlaufs. Er wird in die Komödie als ‚Wucherer, Erpresser, Wechsel- und Kontofälscher‘ (vgl. Horváth 1970: 606) eingeführt, aber während seiner Reise nach Kreta durch einen Schiffbruch zum Christentum bekehrt, d. h. zur moralischen Umkehr bewegt. In Folge dessen nimmt er seine Maske ab und anerkennt Toxilus als gleichwertiges Gegenüber. Hat er ihn vor seiner Abreise missachtet, bringt er ihm nun soziale Wertschätzung entgegen, indem er ihn für die von ihm geleistete Arbeit entlohnen und ihn vor dem Tod retten will. Damit unterläuft er implizit auch das Prinzip der Sklaverei. Da Thago nach seiner ‚Wandlung vom Saulus zum Paulus‘ sein ‚wahres‘ Gesicht zeigt, wird er von seinem sozialen Umfeld zunächst nicht erkannt. Wie bei Toxilus erfährt der Leser auch hier nicht, wie es aussieht. Die Ausführungen machen deutlich, dass Toxilus nicht aus eigener Kraft fähig ist, seine Interessen durchzusetzen. Bedingung für seine Begnadigung ist die Bekehrung seines Herrn. In seiner mangelnden Souveränität gleicht er den Dienerfiguren der bisher analysierten Komödien. Sie ist zum einen Zeichen dafür, dass Horváth einen Bewusstseinswandel von Herr und Knecht für notwendig hält, um die bestehenden Missstände beseitigen zu können. Schließlich finden beide Figuren im Handlungsverlauf zur christlichen (Nächsten-)Liebe, was bei beiden mit einer Nivellierung der bestehenden Herrschaftsstrukturen einhergeht. Zum anderen ist sie Zeichen für Horváths eher pessimistisches Weltbild. Zur Beseitigung der bestehenden Missstände ist der Sklave nämlich nicht in der Lage. Dazu bedarf es einer Naturkatastrophe – eines Vulkanausbruches – und eines Wunders – der moralischen Umkehr des Herrschenden: „Und es gibt keine Wunder – bei Thago schon überhaupt nicht! Höchstens Kreditwunder!“ (Horváth 1970: 640) Ähnlich wie die Dienerfiguren der bislang beleuchteten Komödien ist Toxilus außerdem als ambige Figur konzipiert: Obwohl er als Vertreter der Humanität und moralischen Integrität fungiert, besitzt er vor allem in den ersten beiden Bildern komische Züge, weil er sich – wie etwa die Harlekinfigur der Commedia dell’arte – nicht von „gesellschaftlichen Sanktionen“ (Bartl 2009: 24) beeindrucken lässt. Durch seine Frechheit und Unbedarftheit kann er die bestehenden Missstände beim Namen nennen sowie die aus der Diskrepanz zwischen Maske und Gesicht resultierenden Selbstwidersprüche der Figuren offenlegen. So provoziert er etwa den
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brutalen Aufseher, indem er ihm erklärt, sein demaskiertes Gesicht „ein bisserl blöd“ zu finden, oder er versucht Lemniselenis aufzuheitern, indem er ihrer beider Herrn nonchalant als „geizigen Kracher“ bezeichnet. (Horváth 1970: 595, 600) Im Handlungsverlauf gewinnt Toxilus an Solidität und Ernsthaftigkeit, eine Entwicklung, die mit seiner erwachenden altruistischen Liebe korrespondiert. Wie erläutert, wird in Pompeji die Ablösung der inhumanen römischantiken Welt durch eine humane christliche Ordnung vorgeführt. Damit lässt sich die Komödie zum einen als Beitrag zur Konstituierung einer deutschen Volksfront werten, wie sie Mitte der dreißiger Jahre „von bürgerlichen Intellektuellen, namhaften Sozialdemokraten und Kommunisten gemeinsam angestrebt“ (Schiller 2010: 312) worden ist – eine Bewegung, die etwa in Ludwig Marcuses Diktum ihren Ausdruck gefunden hat, dass es „nur eine einzige Zentral-Idee“ gegen den Faschismus gebe, „in der alles wurzelt, was mehr als nur Gegen ist: die Idee der humanitas“. (Marcuse 1936: 66)9 Zum anderen ist das Bühnenstück als „dramatischliterarische Antithese“ (Bossinade 1988: 19) zu dem ‚Römer-Kult‘ der Nationalsozialisten zu werten, galt Hitler doch das antike Römische Reich vor der Kaiserzeit als „staatlich-politisches Vorbild“ (Lorenz 2000: 408). An den Römern bewunderte er vor allem ihren Gemeinsinn und ihre Disziplin, ihren Nationalstolz und ihre Fähigkeit, mit jedem Krieg größer und stärker zu werden. […] Die Kampfkraft der Römer erklärte Hitler aus deren angeblichem Rassebewußtsein, das er seinen deutschen Volksgenossen als Muster vor Augen hielt. Instinktiv habe ‚damals jeder Römer positive Abwehr gegen die Vermischung mit fremdländischem Blut geübt‘. (Demandt 2001: 146)10
Wie vor ihm Friedrich Nietzsche und andere führte Hitler den Untergang des Römischen Reiches auf das Christentum zurück (vgl. Demandt 1984).11 Das kommt etwa in seiner politisch-ideologischen Schrift Mein Kampf (1925/26) zum Ausdruck, in der er „schmerzlich“ feststellt, „dass in die viel freiere antike Welt mit dem Erscheinen des Christentums der erste geistige Terror gekommen ist“. (Hitler 1942: 507)12 Im Anschluss an den
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Vgl. dazu auch Bossinade 1988: 20. Demandt zitiert hier aus Picker, Henry: Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier 1941–1942. Eingeleitet, kommentiert und hg. von Andreas Hillgruber. München 1963, S. 443; diese Ausgabe ist seitengleich mit der von 1968, die hinten im Literaturverzeichnis angeführt wird. Mitunter hat Hitler die Ursachen für den Fall Roms auch bei den Römern selbst gesucht und mit ihrer ‚sittlichen Entartung‘ erklärt (vgl. Lorenz 2000: 422). Vgl. auch Hitlers Tischgespräche aus dem Führerhauptquartier (vom 27. 1. 1942). Hier konstatiert er: „Wäre das Christentum nicht gekommen, wer weiß, wie sich die Geschichte Euro-
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von ihm bewunderten Houston Stewart Chamberlain war er davon überzeugt, dass die „Weltgeschichte“ von einem „darwinistisch interpretierten Rassenkampf um Lebensraum“ bestimmt wird, in dem die „nordischen Völker, verkörpert in einzelnen Helden, Kultur aufbauen, dann aber durch Blutmischung immer wieder untergehen.“ (Demandt 2001: 137) Solch eine ‚Rassenvermischung‘ sei auch für den Fall Roms verantwortlich. Die römische Kultur sei von Ariern gegründet worden (vgl. Lorenz 2001: 420). Ihre zunehmende Macht habe aber zu Luxus geführt, „Luxus zu Laster und Kinderlosigkeit. Statt eigener Kinder“ habe „man sich Sklaven“ angeschafft, die die Rasse verdorben hätten, „zumal seit das Christentum die Grenzlinie zwischen den Ständen weggewischt‘“ habe. Der Untergang des Imperium Romanum sei also der durch „die christliche Nächstenliebe“ begünstigten „‚Blutsvergiftung‘“ geschuldet. (Demandt 2001: 149) Bemerkenswert ist, dass Hitler das Christentum ursprünglich als eine Art „arische Protestbewegung gegen den jüdischen Kapitalismus in Palästina“ begriffen hat, die dann durch Paulus „im jüdisch-kosmopolitischen Sinne umgefälscht worden“ sei. (Demandt 2001: 151) Der Missionar habe „seine Lehre benutzt, die Unterwelt zu mobilisieren und einen VorBolschewismus zu organisieren.“ (Picker 1968: 38) Mit diesem Gedanken übernahm er [Hitler, N.B.] die im 19. Jahrhundert verbreitete Analogie zwischen den ersten Christen und dem gegenwärtigen Proletariat und traf sich darin sowohl mit Nietzsche als auch […] mit Friedrich Engels. Dieser sah ebenfalls in den frühen Christen mit ihrem Sinn für Gemeineigentum eine kommunistische Protestbewegung, die sich gegen die herrschenden Klassen gerichtet habe. Bei Engels trug die Gleichsetzung der frühen Christen mit den Kommunisten positive Züge, wogegen sie bei Hitler negative aufweist. (Demandt 2001: 151)
Hitler identifizierte also das Deutsche Reich mit dem antiken Römischen Reich. „Seine Aufgabe sah er darin, einen neuen Zusammenbruch der Kultur zu verhindern, die er damals durch die Christen und nun durch Bolschewisten und Juden bedroht sah.“ (Demandt 2001: 151)13 Mit seiner Komödie wendet sich Horváth nun gegen die nationalsozialistische Ideologie der Weltgeschichte als Klassen- und Rassenkampf, indem er die Überwindung des antiken Römischen Reichs durch das Christentum idealisiert. Während Hitler der „christliche Friedensgedanke“ als „Verrat an der Evolution“ und damit als „pervertierte Natur“ erschie-
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pas gestaltet hätte. Rom würde ganz Europa erobert haben, und der Hunnensturm wäre an den Legionen zerschellt.“ (Picker 1968: 47f.) Vgl. dazu auch Lorenz 2000: 412f.
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nen ist, bilden die christlichen Werte für Horváth die Grundlage für die Konstituierung einer egalitären, auf gegenseitiger sozialer Anerkennung basierenden humanen Gemeinschaft; (Demandt 2001: 148) und während sich Hitler durch die ‚Bolschewisten‘ bedroht gefühlt hat, kritisiert Horváth die Macht des Geldes, weil sie dazu führt, dass an die Stelle zwischenmenschlicher Beziehungen zweckrationale oder ökonomische Abhängigkeitsbeziehungen treten. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum sich Horváth für die antike Lustspieltradition, insbesondere für Plautus, den produktivsten römischen Komödiendichter, interessiert. Durch den Rekurs auf die römische Antike gelingt es ihm, die nationalsozialistische Ideologie zu demontieren, obwohl eine explizite Kritik des NS-Regimes aus Zensurgründen nicht möglich ist. Darüber hinaus werden die Gattungsmuster der antiken Komödie aufgerufen, um sie durch außertextuelle Verweise auf die Gegenwart, den Bruch mit den Plautinischen Figurentypen sowie die Aufgabe des moralischen Desinteresses zugunsten einer Tugend-LasterAntithetik zu unterlaufen und auf diese Weise eine affektive Rezeption des (gebildeten) Zuschauers zu verhindern. Horváths „Dramaturgie zielt also auf eine verfremdende, zur Kritik herausfordernde Wirkung, die der Absicht Brechts nicht unähnlich ist“ (Balme 1988: 117).14 Wozu bedarf es aber einer kritischen Distanz des Zuschauers zum dramatischen Geschehen, wenn die Komödie zu einem Bewusstseinswandel animieren will? Das wäre ja auch durch eine auf Emotionalisierung zielende Wirkungsästhetik möglich. Wie abschließend zu illustrieren ist, plädiert Horváth für einen kritischen Umgang mit den von der institutionalisierten Religion proklamierten Werten. Das manifestiert sich in der ambivalenten Figurenkonzeption der Matrosa und des unschwer als Apostel Paulus zu erkennenden Herrn in der Katakombe. Obwohl die Dienerin eine bekennende Christin ist und sich eine politische Ordnung wünscht, in der „alle Menschen gleich sind, mit gleichen Rechten, gleichen Pflichten“ (Horváth 1970: 613), ist sie nicht als sympathetische Identifikationsfigur konzipiert. So hat sie zu tadelnde ethnische Vorurteile (vgl. Horváth 1970: 604), und sie unterwirft sich im Gegensatz zu Toxilus und Lemniselenis den Herrschenden. Daher fordert sie von ihrer Herrin, sich ihrem Schicksal zu fügen, und von Toxilus, den von ihm erwogenen Diebstahl zu unterlassen (vgl. Horváth 1970: 599, 602). Damit folgt Matrosa der Paulinischen Lehre, nach der der Widerstand gegen die Inhaber der politischen Macht illegitim ist. So heißt es in Paulus’ Brief an die Römer:
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Zum Bruch mit den Gattungskonventionen vgl. u. a. auch Gros 1996: 84 und Ropers 2012: 162.
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Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit außer von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott angeordnet. Wer sich nun der Obrigkeit widersetzt, der widerstrebt der Anordnung Gottes; die ihr aber widerstreben, ziehen sich selbst das Urteil zu. (Luther 1985: 192)
Matrosas Duldsamkeit wird hier aber nicht positiv, sondern als Furcht vor gesellschaftlichen Sanktionen gewertet (vgl. Horvath 1970: 613). Die Sympathie des Rezipienten gilt denn auch eher dem widerständigen Toxilus, der die Paulinischen Gebote verletzt, indem er zum Dieb und Fluchthelfer wird. Anstatt „Vernunft“ anzunehmen, will er „für einen Menschen“ kämpfen. (Horváth 1970: 614) Ganz seiner altruistischen (Nächsten-)Liebe folgend, handelt er – im Gegensatz zu Matrosa – situativ und nicht regelgeleitet. Wie Matrosa ist auch der Apostel Paulus – dem Herrn in der Katakombe, der Briefe „an ganze Städte“, „zum Beispiel, an die Korinther“, schreibt – eine ambivalente Figur. (Horváth 1970: 645) Er tritt in dem Augenblick auf, in dem Toxilus und Lemniselenis als Liebende zueinander und zu Gott gefunden haben. Sein Hohelied der Liebe aus dem ersten Korintherbrief kann als Gegenentwurf zu den in der antiken römischen Welt propagierten Normen und Werten gewertet werden. Dort wird gepredigt, dass alles Reden angesichts des metaphysischen Erlebnisses der göttlichen Liebe an Bedeutung verlieren wird. In diesem Sinne werden Toxilus, Lemniselenis und Matrosa von Paulus zum Schweigen aufgefordert, denn: „Gott hört Euch auch, wenn Ihr schweigt!“ (Horváth 1970: 646) Allerdings besitzt die Paulus-Figur aufgrund ihres Wunsches, während des die Erde erschütternden Vulkanausbruches beim Briefeschreiben nicht gestört zu werden, auch komische Züge, was ihre „Symbolkraft“ (Heil 1999: 233) relativiert. Die Idealisierung christlicher (Nächsten-)Liebe bei gleichzeitiger Distanzierung von den das Christentum repräsentierenden Figuren lässt sich als Plädoyer für eine kritische Auseinandersetzung mit den christlichen Lehren werten und zeugt darüber hinaus von einer ironischen Welthaltung. Ähnlich wie Hofmannsthal führt Horváth in seiner Komödie einen Weg zur Überwindung der bestehenden Missstände vor, stellt diesen ‚Lösungsansatz‘ aber unter Vorbehalt. Zum einen braucht es neben einem Wunder – K. R. Thagos moralischer Umkehr – eine Naturkatastrophe zur Konstituierung einer humanen Gemeinschaft. Zum anderen bleibt unklar, ob und wenn ja, unter welchen Bedingungen sie Bestand haben kann. Schließlich bricht durch den Vulkanausbruch die „äußere, ‚akzidentelle‘ soziale Welt“ zusammen; was nach der Verwandlung wieder auftaucht, ist laut Aussage der Matrosa „eine andere Welt“ […]: die Welt der inneren Werte, die Welt des „wahren Gesichts“. Die Verbindung zwischen diesen beiden Welten ist abgerissen. Sie liegt unter der Asche des Vulkans […] begraben. (Bossinade 1988: 273)
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Herr und Knecht als Gegner
Horváths Zweifel manifestieren sich auch in seinen Eigenkommentaren zu seinem literarischen Schaffen. So heißt es auf einem Blatt, das sich auf das Jahr 1937 – die Fertigstellung von Pompeji – datieren lässt: So habe ich mir nun die Aufgabe gestellt, frei von Verwirrung die Komödie des Menschen zu schreiben, ohne Kompromisse, ohne Gedanken ans Geschäft. Es gibt nichts Entsetzlicheres als eine schreibende Hur. Ich geh nicht mehr auf den Strich und will unter dem Titel ‚Komödie des Menschen‘ fortan meine Stücke schreiben, eingedenk der Tatsache, dass im ganzen genommen das menschliche Leben immer ein Trauerspiel, nur im einzelnen eine Komödie ist. (Zit. nach Horváth 2011: 259)
Rekapitulierend sei festgehalten, dass Horváth ähnlich wie Beaumarchais, Hofmannsthal, Krüger und Marivaux einen moralisch integren Diener bzw. Sklaven vorführt, dessen Herr sich als unumschränkter (Willkür-)herrscher geriert und der seine Leibeigenen in den drei Bereichen Liebe, Recht und Solidarität missachtet. Dagegen wehrt sich der Subalterne, indem er seine primär privaten Interessen gegen den Willen der Herrschenden durchsetzt. Schließlich wird er aus Liebe und nicht aus politischem Engagement zum Dieb und Fluchthelfer. Auch wenn er das korrupte politische System durch seine noblesse de cœur in Frage stellt, kann er seine Interessen nicht aus eigener Kraft durchsetzen. Sein Erfolg ist allein von äußeren Umständen – der Bekehrung K. R. Thagos zum Christentum und einem Vulkanausbruch – abhängig, ein Zeichen für Horváths eher defätistisches Weltbild. Wirkungsabsicht ist hier wie in den anderen analysierten Komödien ein Bewusstseinswandel der Rezipienten. Sie sollen die christliche (Nächsten-)Liebe zum Motiv ihres Handelns machen. Auf diese Weise lässt sich laut Horváth eine humane, von wechselseitiger Anerkennung geprägte Gemeinschaft konstituieren. Ähnlich wie Hofmannsthal scheut sich der Dramatiker aber davor, apodiktische Gewissheiten zu formulieren. Vielmehr fordert er eine kritische Auseinandersetzung mit den von ihm proklamierten Lösungsangeboten zur Überwindung der herrschenden Missstände. Das manifestiert sich auf der Darstellungsebene in dem Rekurs auf die Gattungsmuster der antiken Komödie, die unterlaufen werden und so eine affektive Rezeption des (gebildeten) Zuschauers verhindern.
* Ziel des Kapitels war die Profilierung einer zentralen Figuration interdependenter Herrschaft in der literarischen Diskussion seit der Aufklärung, nämlich die Forderung nach Humanität und moralischer Integrität in (komödiantischen) Darstellungen widerständiger Subalterner. In den analysierten Texten wird der jeweilige Herr als Despot vorgeführt, der seine Bedienten sozial missachtet. Dagegen setzen sich die ihren Herrn moralisch überlegenen Dienerbzw. Sklavenfiguren erfolgreich zur Wehr. An die Stelle der einseitigen
Horváth: Pompeji
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tritt so am Ende des Handlungsverlaufs eine wechselseitige Anerkennungsbeziehung. Ziel der Komödien ist die Initiierung eines Bewusstseinswandels. Auf diese Weise sollen die bestehenden sozialen, politischen und/oder wirtschaftlichen Missstände beseitigt werden. Während Horváth auf die Aufhebung der Herrschaftsverhältnisse zielt, fordern Beaumarchais, Marivaux und Krüger die Reformierung, Hofmannsthal hingegen die Restitution der politischen Ordnung. Bei allen Theatertexten handelt es sich um ambige Gebilde, weil sie heterogene Lustspielelemente miteinander verbinden. Die Autoren rekurrieren auf die europäische Lustspieltradition – die antike Komödie und die Commedia dell’arte – geben aber das für die beiden Komödienformen konstituitve moralische Desinteresse zugunsten einer Tugend-Laster-Antithetik auf, weil sie mit ihren Theatertexten ein moraldidaktisches Wirkungsziel verfolgen. Der aufklärerische Optimismus von Beaumarchais und Marivaux ist bei Hofmannsthal und Horváth allerdings einer ironischen bzw. pessimistischen Welthaltung gewichen. Beide wissen, dass die eigenen ‚Lösungsangebote‘ nur begrenzte Gültigkeit beanspruchen können oder kaum zu realisieren sind.
III. Grenzfälle: Aufhebung und Umkehrung von Herr- und Knechtschaft (Strindberg, Tolstoi) In den letzten Kapiteln sind zwei konfliktäre Modelle interdependenter Herrschaft vorgestellt worden: zum einen Koalitionen zwischen Herr und Knecht, anhand derer Diderot und nach ihm Brecht und Braun die jeweiligen politischen Systeme ihrer Zeit dialektisch negieren und ihre Leser dazu auffordern, eigenständig eine Alternative zu den von ihnen problematisierten Formen menschlichen Zusammenlebens zu entwickeln. Zum anderen sind widerständige Subalterne fokussiert worden, die von ihren Herren Humanität und moralische Integrität fordern. Sie sollen genauso wie die Rezipienten zu einem Bewusstseinswandel animiert werden, durch den die bestehenden politischen und sozialen Missstände beseitigt werden sollen. Bevor im zweiten Teil der Arbeit zwei konsensuelle Modelle interdependenter Herrschaft profiliert werden, sollen im Folgenden zwei Sonderfälle konfliktreicher Machtbeziehungen in den Blick genommen werden – Sonderfälle insofern, als die dargestellten Herrschaftsverhältnisse im Handlungsverlauf durch den Tod des Herrn bzw. der Herrin aufgehoben werden. Diese eher seltenen, aber nicht singulären Machtkonstellationen liegen in August Strindbergs Theatertext Fräulein Julie (1888) und in Leo N. Tolstois Erzählung Herr und Knecht (1895) vor. Beide Texte haben die literarische Diskussion stark geprägt. So hat sich etwa Brecht in Herr Puntila und sein Knecht Matti mit Strindbergs Drama auseinandergesetzt, während Braun im Hinze-Kunze-Roman auf Tolstois Erzählung rekurriert (vgl. I.2.3, I.2.4). Strindberg und Tolstoi nehmen in ihren Texten wiederum auf sozialphilosophische Debatten Bezug, die breit rezipiert worden sind und in die literarische Diskussion Eingang gefunden haben (vgl. IV.2.2, V.1). Während sich Strindberg nämlich mit Friedrich Nietzsches (und Hegels) Ausführungen zur Herr- und Knechtschaft auseinandersetzt, entwickelt Tolstoi seine philosophische Position in Abgrenzung zu Arthur Schopenhauers Metaphysik. Anhand der Texte von Strindberg und Schopenhauer werden im Folgenden zwei gegensätzliche Grenzfälle interdependenter Herrschaft vorgestellt: die Umkehrung und daraus resultierende Beendigung bestehender Machtbeziehungen durch die psychische Vernichtung der Herrin durch
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Aufhebung und Umkehrung von Herr- und Knechtschaft
den Knecht (vgl. 1.); außerdem die Aufhebung jedweder Herrschaft durch die Unterwerfung des Herrn unter den Knecht (vgl. 2.). In beiden Fällen ordnet sich der Herr bzw. die Herrin am Ende des Handlungsverlaufs dem ihm/ihr überlegenen Diener unter und akzeptiert seinen/ihren Tod.
1. Der Diener als Herr in Strindbergs Fräulein Julie (1888) In Strindbergs Ausführungen zum Intimen Theater (Oeppna brev till Intima Teatern, 1903), das 1906 mit einer Inszenierung von Fräulein Julie eröffnet worden ist, heißt es: Das Stück selbst, das hier in Schweden wie ein Bubenstreich aufgenommen wurde, als es 1888 herauskam, hatte sich nun abgelagert, und der Schauspieler August Palme, der es aus der Vergessenheit ausgrub, merkte nun, dass es ein Figaro ist, der mehr enthält, als eine ungewöhnliche Verführungsgeschichte. (Strindberg 21911: 90)
Bemerkenswerterweise setzt Strindberg sein Trauerspiel zu Beaumarchais’ Komödie Die Hochzeit des Figaro (vgl. II.1) in Bezug. In beiden Dramen werden interdependente Herrschaftsverhältnisse geschildert, müssen die jeweiligen aristokratischen Protagonisten doch erkennen, dass sie ihren Willen nicht gegen das Widerstreben der ihnen überlegenen Bedienten durchsetzen können. Während Beaumarchais den Amtsmissbrauch des Souveräns kritisiert, dessen Autorität aber nicht grundsätzlich in Frage stellt, führt Strindberg die Umkehrung eines Machtverhältnisses vor. Er zeigt einen Machtkampf zwischen der Grafentochter Julie und ihrem Domestiken Jean, der mit ihrer Niederlage endet, bringt sich Julie doch am Ende des Handlungsverlaufs auf Jeans Geheiß um. Strindbergs Theatertext ist vielfach analysiert worden. Dabei dominieren in den frühen Arbeiten biographische Deutungen.1 Hier wird zum einen die These vertreten, dass Strindberg – der ‚Sohn einer Magd‘ – im Drama seine ehelichen Konflikte mit Siri von Essen verarbeite. Unter „seiner geringen Herkunft, besonders gegenüber seiner Frau“ leidend, habe er „nur allzugern die Theorie“ übernommen, „daß die Zukunft der unteren Klasse gehören werde, während der Adel […] dem Untergang geweiht sei“. (Ollén 1968: 38) Zum anderen wird das Trauerspiel mit Strindbergs Aufenthalt auf Schloss Skovlyst bei Holte im Sommer 1888 in Verbindung gebracht. Hier wohnte er bei der Gräfin Louise de Frankenau
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Vgl. u .a. Börge 1974: 161, Ollén 1968: 38ff., Jacobs/Törnqvist 1988: 20ff., Lagercrantz 1984: 270–280.
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Aufhebung und Umkehrung von Herr- und Knechtschaft
und ihrem Halbbruder, dem Schloßverwalter Ludvig Hansen, denen er in Unkenntnis der Familienverhältnisse eine Affäre unterstellte. Die vermeintliche Liebschaft zwischen der Schlossherrin und ihrem Verwalter habe er in seinem Theatertext literarisch gestaltet.2 Im Drama reflektiere er außerdem seine Liaison mit der minderjährigen Schwester des Verwalters. So meint Gunnar Ollén: Strindberg fühlte sich als der Adlige, der sich aus bloßem Trieb mit einem PariaMädchen abgegeben hatte. Ähnlich wie Fräulein Julie erlebte er die unwiderstehliche Anziehungskraft der Leiber und die unwiederbringliche Fremdheit der Seelen. Man kann sich fragen, ob nicht dieses Intermezzo die stärkste Triebfeder zu Strindbergs Drama war (Ollén 1968: 39).3
In den neueren Studien zum Theatertext wird meist entweder die Handlungs- oder die Darstellungsebene fokussiert. Ausgehend von einem Brief an Karl Otto Bonnier vom 10. 8. 1888, in dem Strindberg Fräulein Julie als „erste[s] naturalistische[s] Trauerspiel der Schwedischen Dramatik“ (Strindberg 1966b: 107) bezeichnet, fragen zahlreiche Arbeiten nach der literarästhetischen Gestaltung des Einakters. Dabei wird in der Regel die Position vertreten, dass sich der Autor dem Naturalismus verpflichtet fühlt, worauf die exakten Berufs- und Altersangaben im Personenverzeichnis, die detaillierten Regieanweisungen oder die Forderung nach einem ‚natürlichen‘ Schauspielstil verweisen. Zu Recht wird oft eingeräumt, dass die „psychologische[n], auch symbolische[n] Ebenen“ (Gundlach 1981: 79) des Kammerspiels bereits auf eine Überwindung der naturalistischen Gegenstandsdarstellung hindeuten.4 Edmund A. Napieralski und Philip Dodd haben darüber hinaus deutlich gemacht, dass für das Stück ein ironisches Spiel mit Märchenelementen kennzeichnend ist.5 In Bezug auf die Handlungsebene vertritt Dodd die These, dass Strindberg einen Kampf des Unbewussten mit dem Bewusstsein zeige, wobei Julie das Instinktive und Jean den Verstand repräsentiere. „The eventual outcome of the play – the triumph of reason over instinct, the control of the unconscious by the conscious – enacts the movement from one epoch to another“ (Dodd 1978: 148), so Dodd. Brigitte Marschall stellt hingegen
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Vgl. u. a. Bernhardt 1999: 75, Jacobs/Törnqvist 1988: 20ff., Lagercrantz 1984: 277, Ollén 1968: 39. Genauso wie biographische Bezüge sind intertextuelle Verweise herausgestellt worden, so von Barry Jacobs und Egil Törnqvist, die meinen, dass sich Strindberg von den Romanen Geld (Pengar, 1885) von Victoria Benedictsson, Juliette Faustin (La Faustin, 1882) von Edmond Goncourt und Frau Marie Grubbe (Fru Marie Grubbe, 1876) von Jens Peter Jacobsen hat inspirieren lassen (vgl. Jacobs/Törnqvist 1988: 24f.). Vgl. dazu u. a. Bellquist 1988, Bentson 1965: 387f., Lamm 1971: 212ff., Madsen 1962: 95ff., Parker 1998, Paul 1979: 38ff., Schütze 21997: 79, Törnqvist 1988: 41f. Vgl. Dodd 1978, Napieralski 1977.
Strindberg: Fräulein Julie
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Bezüge zu Strindbergs Vivisektionen (Vivisectioner, 1887) her. Sie ist davon überzeugt, dass das Trauerspiel einen „Kampf der Gehirne“ (Strindberg 1984b: 69) vorführe. Beeinflusst von den suggestionspsychologischen Schriften Hippolyte Bernheims und Jean-Martin Charcots sei Strindberg davon überzeugt gewesen, „daß das Gehirn durch äußere Einwirkung manipulierbar sei und die Beeinflussung bis zur psychischen Zerstörung“ (Marschall 2000: 155) führen könne.6 Solch einen „Kampf um die Macht“, der mit Julies „Seelenmord“ ende, zeige der Theatertext. (Strindberg 1984b: 69, 116)7 Im Unterschied zu den genannten Positionen gehen die meisten Studien davon aus, dass im Drama zwei Hierarchisierungsprinzipien miteinander verschränkt werden: die vertikale soziale Ungleichheit zwischen Herrin und Knecht wird mit der horizontalen geschlechtsspezifischen Differenz zwischen Mann und Frau konterkariert. Dabei wird dem sozialen Abhängigkeitsverhältnis mitunter eine untergeordnete Bedeutung zugewiesen, so etwa von Evert Sprinchorn. Er ist der Auffassung, dass Strindberg einen Geschlechterkampf vorführe und die Standesunterschiede nur thematisiere, um die Fallhöhe der am Ende ihrem männlichen Gegenüber unterlegenen Protagonistin zu vergrößern. 8 In der Regel wird aber behauptet, dass sich Strindberg mit der „Frauenfrage“ (Schütze 21997: 56) und mit den sozialbiologischen und philosophischen Debatten seiner Zeit – insbesondere mit der Evolutionstheorie Charles Darwins und dem ‚aristokratischen Radikalismus‘ (vgl. Brandes 2004) Friedrich Nietzsches – befasst,9 ohne diese These aber in irgendeiner Weise zu belegen. Um ihre Argumentation zu stützen, beziehen sich die Arbeiten denn auch nicht auf Strindbergs Theatertext, sondern auf sein Vorwort zu Fräulein Julie, in dem beteuert wird, dass Julie den „Rest des alten Kriegeradels“ repräsentiere, „der jetzt dem neuen Nerven- oder Großhirn-Adel“ weichen müsse. (Strindberg 1984a: 765) Während sich der Knecht „zum künftigen Herren ausgebildet“ habe, werde der Aristokratin ihr anachronistisches „angeborene[s] oder erworbene[s] Ehrgefühl“
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Vgl. dazu Strindbergs Vivisektionen in Strindberg 1984b, S. 67–126. Dass es Strindberg in seinen Texten weniger um einen ‚Kampf der Geschlechter‘ als um einen ‚Kampf der Gehirne‘ geht, meint auch Karin Hoff: „[E]s geht um Fragen der Macht, um Kommunikation und Kommunikationslosigkeit zwischen den Geschlechtern, um Verständigung und Nicht-Verstehen, um Dialog und Isolation. Dies alles ist auf das Engste mit der Thematisierung von Frauenrollen und Männerbildern verknüpft, das Geschlechterverhältnis steht jedoch paradigmatisch für soziale Relationen überhaupt.“ (Hoff 2003: 115) Diese These verdeutlicht sie allerdings nicht mit Blick auf Fräulein Julie, sondern anhand des Trauerspiels Vater (Fadren, 1887). Vgl. Sprinchorn 1966: 21. Vgl. Jacobs 1998, Jacobs/Törnqvist 1988, Lamm 1971: 213, Madsen 1962: 84, Paul 1979: 38, Steene 1982: 54f.
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Aufhebung und Umkehrung von Herr- und Knechtschaft
zum Verhängnis. (Strindberg 1984a: 765) Nach ihrem Ehrverlust durch ihre unstandesgemäße Liaison gebe es für sie keinen anderen Ausweg als den Selbstmord. Vor dem Hintergrund von Strindbergs Nietzsche-Lektüre (und Michel Foucaults Nietzsche-Rezeption) hat allein Heinrich Detering den Theatertext genauer untersucht.10 In seinem erhellenden, ausnahmsweise nicht nur auf Strindbergs Vorwort, sondern auch auf Nietzsches Schriften Bezug nehmenden Beitrag vertritt er die Position, dass Fräulein Julie „die Dialektik eines Prozesses“ zeige, „in dem die Subjekte als Subjekte nicht nur entmächtigt, sondern überhaupt allererst konstituiert werden – und zwar durch die Macht als Diskurs“. (Detering 2000: 87) Das ‚Ich‘ erweise sich als „‚Fabel‘ und Fiktion‘“, als ein „‚Wortspiel‘ – Spielmaterial und Substrat eines diskursiven Geschehens“. (Detering 2000: 95) Zu dem Schluss, dass die Protagonistin keine stabile Identität besitzt, kommen auch Herlinde Nitsch Ayers, Jenny C. Hortenbach, Richard Gilman und Manfred Karnick in ihren methodisch und analytisch jedoch weit weniger überzeugenden Deutungen.11 Auch die folgende Untersuchung befasst sich mit Strindbergs Nietzsche-Rezeption. Dabei wird im Unterschied zu Detering aber nicht die Subjektkonstitution, sondern die Herr-Knecht-Figuration in den Blick genommen und die These aufgestellt, dass das Trauerspiel als literarische Auseinandersetzung mit Nietzsches Betrachtungen zur Herren- und Sklavenmoral zu lesen ist. Im Rekurs auf dessen philosophische Schriften wird zunächst skizziert, wie sich das Subjekt für beide Autoren konstituiert (vgl. 1.1). Im Anschluss wird Nietzsches dichotomisches Konzept von Herr- und Knechtschaft zu Fräulein Julie in Bezug gesetzt (vgl. 1.2). Wie zu zeigen ist, weisen Jean und Kristin eine große Nähe zu den von Nietzsche profilierten Typen ‚Herr‘ und ‚Sklave‘ auf, während die Titelfigur als ‚dekadente‘12 Aristokratin konzipiert ist. Zuletzt wird nach dem Zusammenhang zwischen der Handlungs- und der Darstellungsebene gefragt (vgl. 1.3).13
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Vgl. Detering 2000. Zu Strindbergs Nietzsche-Lektüre vgl. u. a. Borland 1979, Hoff 2004, Klaf 1963 und Köpnick 1992, die allerdings alle nicht auf Fräulein Julie eingehen. Vgl. Ayers 1995: 62, Hortenbach 1965: 84, Gilman 1999: 103, Karnick 1980: 115. Mit Wolfgang Röd ist von Dekadenz im Nietzsche’schen Sinn dann „zu reden, wenn ein Lebewesen seine natürlichen, auf Wachstum, Dauer, Macht gerichteten Instinkte verliert. Tritt dieser Zustand ein, dann wird gewählt, was dem Lebewesen nachteilig ist. […] Dekadenz ist letztlich Mangel an Willen zur Macht, und deshalb führt sie unvermeidlich zum Untergang.“ (Röd 2002b: 96) Als Textgrundlage dient die überarbeitete Übersetzung von Peter Weiss in der Frankfurter Strindberg-Ausgabe, dem es – so die Communis Opinio – gelungen ist, den Theatertext adäquat ins Deutsche zu übertragen (vgl. Brennecke 1977, Wetzig 1988).
Strindberg: Fräulein Julie
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1.1 Konstitution und Determinanten des Subjekts bei Strindberg und Nietzsche Dass Strindberg Nietzsches Schriften gekannt und „buchstäblich als eine Befruchtung erlebt“ (Detering 2000: 80) hat, ist von der Forschung oft herausgestellt worden.14 So schreibt er am 4. 9. 1888 an Edvard Brandes: „Inzwischen hat mein Geistesleben in seinem Uterus einen wahnsinnigen Samenerguß von Friedrich Nietzche [sic] empfangen, so daß ich mich angefüllt fühle wie eine Hindin [sic] vom Bock. Das ist mein Mann!“15 Bevor Strindberg im Hochsommer 1888 an Fräulein Julie zu arbeiten beginnt, hat er Georg Brandes’ Vorlesungen über den bis dato in Schweden unbekannten Philosophen und Jenseits von Gut und Böse gelesen.16 Im Verlauf des Jahres wird er sich ferner mit Der Fall Wagner, GötzenDämmerung und Zur Genealogie der Moral auseinandersetzen.17 In das Jahr 1888/1889 fällt außerdem der kurze Briefwechsel zwischen Nietzsche und Strindberg.18 Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass sich zwischen Fräulein Julie und Nietzsches Positionen große Parallelen im Hinblick auf die Konstitution und die psychische Verfasstheit des Subjekts feststellen lassen, wie im Folgenden zu zeigen ist.19 Im Unterschied zu Jean-Jacques Rousseau, der die Herrschenden in seinen vertragstheoretischen Schriften als erste Diener des Staates definiert und von ihnen fordert, sich an der volonté générale zu orientieren (vgl. I.1), erklärt Nietzsche in Zur Genealogie der Moral:
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Vgl. u. a. Borland 1979, Borland 1956: 18, Brandl 1983: 409–418, Brandl 1977: 40–44, Hoff 2004, Jolivet 1939, Marcus 1928, Stern 2008: 133–176, 214–281 (hier findet sich auch ein Forschungsüberblick über die in schwedischer Sprache erschienene Forschungsliteratur zu Strindbergs Nietzsche-Rezeption, S. 135–142). Vgl. Strindberg 1961: 127; hier zitiert nach der Übersetzung von Detering 2000: 80; vgl. die englische Übersetzung von Jacobs/Törnqvist 1988: 12. Vgl. Börge 1974: 154 und Jacobs/Törnqvist 1988: 12. Laut Stern hat Strindberg Nietzsche zu dem Zeitpunkt, als er Fräulein Julie geschrieben hat, nicht gekannt (vgl. Stern 2008: 175). An anderer Stelle weist er aber darauf hin, dass Strindberg im Mai 1888 Georg Brandes’ Vorlesungen über Nietzsche zur Kenntnis genommen und Jenseits von Gut und Böse gelesen hat (vgl. Stern 2008: 160). Vgl. Borland 1979: 54. Vgl. Strecker 1921. Meine Ausführungen beziehen sich im Folgenden vor allem auf Jenseits von Gut und Böse, weil Strindberg diese Schriften vor seiner Arbeit an Fräulein Julie gekannt hat. Da Nietzsche einige seiner Theorien in anderen Schriften konkretisiert und weiterführt, werde ich mich zum Beleg meiner Thesen mitunter auch auf andere Werke stützen. Es sei darauf hingewiesen, dass die Analyse nicht abschließend klären kann, welche Positionen Strindberg von Nietzsche bewusst übernommen hat und bei welchen es sich um zufällige Übereinstimmungen handelt. Wie ich meine, ermöglicht der Rekurs auf Nietzsches Herr-Knecht-Modell in jedem Fall aber ein genaueres Verständnis des Theatertextes.
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Aufhebung und Umkehrung von Herr- und Knechtschaft
Ich gebrauchte das Wort ‚Staat‘: es versteht sich von selbst, wer damit gemeint ist – […] eine Eroberer- und Herren-Rasse, welche, kriegerisch organisirt [sic] und mit der Kraft zu organisiren [sic], unbedenklich ihre furchtbaren Tatzen auf eine der Zahl nach vielleicht ungeheuer überlegene, aber noch gestaltlose […] Bevölkerung legt. Dergestalt beginnt ja der ‚Staat‘ auf Erden: ich denke, jene Schwärmerei ist abgethan, welche ihn mit einem ‚Vertrage‘ beginnen liess. Wer befehlen kann, wer von Natur ‚Herr‘ ist, wer gewaltthätig in Werk und Gebärde auftritt – was hat der mit Verträgen zu schaffen! (Nietzsche 112010b: 324)
Polemisch wendet er sich gegen die Vorstellung von einer „herrschaftsrechtlichen Selbstorganisation der Menschen, in der jeder gleichermaßen gleichberechtigter Herrschaftsteilhaber und gleichverpflichteter Herrschaftsunterworfener ist.“ (Kersting 1994: 162) Stattdessen ist er davon überzeugt, dass jede „Gesellschaft nicht um der Gesellschaft willen dasein dürfe, sondern nur als Unterbau und Gerüst, an dem sich eine ausgesuchte Art Wesen zu ihrer höheren Aufgabe und überhaupt zu einem höheren Sein emporzuheben vermag“ (Nietzsche 112010a: 206). Diese antidemokratische Position resultiert aus der Vorstellung, dass alles Seiende „einem einzigen Impuls“ folgt, „und dieser Impuls ist das Streben nach Macht“. Für Nietzsche handelt es sich hierbei um eine „metaphysisch singuläre Triebkraft“, die alles Geschehen hervorbringt und bestimmt und die sich in jedem Subjekt als ‚Wille zum Leben‘ bzw. als ‚Wille zur Macht‘ manifestiert. (Gerhardt 2011: 351)20 Mit der Annahme, dass der Wille als Grundkraft alles Seienden im Einzelwillen des Subjekts hervortritt, korreliert die Auffassung, dass es kein ‚ich‘ – definiert als eine vom Körper getrennte, „eigenständig existierende[ ] geistige[ ] Substanz“ (Salehi 2011: 334) – und keine Freiheit des personalen Willens gibt. Für Nietzsche bildet das ‚ich‘ nur „als Wort eine Einheit“ (Nietzsche 112010a: 32). Mit dem ‚synthetischen Begriff‘ (vgl. Nietzsche 112010a: 33) bezeichnet er die vielen mitunter widersprüchlichen Triebe, Emotionen und Gedanken des Subjekts, die von dem jeweils stärksten Affekt beherrscht werden.21 Dieser „Überlegenheits-Affekt“ (Nietzsche 112010a: 32) wird irrtümlich als freier Wille angenommen. So meint Nietzsche: ‚Freiheit des Willens‘ – das ist das Wort für jenen vielfachen Lust-Zustand des Wollenden, der befiehlt und sich zugleich mit dem Ausführenden als Eins setzt, – der als solcher den Triumph über Widerstände mit geniesst, aber bei sich urtheilt, sein Wille selbst sei es, der eigentlich die Widerstände überwinde. Der Wollende nimmt dergestalt die Lustgefühle der ausführenden, erfolgreichen Werkzeuge, der
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Vgl. dazu Nietzsche 112010a: 27. Hier wird der ‚Wille zur Macht‘ als Grundkraft alles Lebendigen definiert. Zur Fiktion des ‚ich‘ vgl. Nietzsche 102011a: 90ff.
Strindberg: Fräulein Julie
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dienstbaren ‚Unterwillen‘ oder Unter-Seelen – unser Leib ist ja nur ein Gesellschaftsbau vieler Seelen – zu seinem Lustgefühle als Befehlender hinzu. L’effet c’est moi (Nietzsche 112010a: 33).22
Genauso wie den freien Willen hält Nietzsche auch die Determination des Subjekts für eine Fiktion.23 Er negiert die Idee eines Zusammenhangs zwischen Ursache und Wirkung, jede Handlungsnotwendigkeit und die Vorstellung von der Zweckmäßigkeit der Natur (vgl. Nietzsche 112010a: 35f.). Jede Teleologie ist für ihn nur eine Interpretation der empirischen Realität, eine „naiv-humanitäre Zurechtmachung und Sinnverdrehung“ (Nietzsche 112010a: 37). Als einzig herrschendes Prinzip gilt ihm der Wille zur Macht, der sich in der „tyrannisch-rücksichtenlose[n] und unerbittliche[n] Durchsetzung von Machtansprüchen“ (Nietzsche 112010a: 37) zeigt. Davon ausgehend, dass alles Geschehen in der organischen Welt im „Überwältigen“, im „Herrwerden“ besteht, handelt es sich bei der verbreiteten Ansicht von einem ‚ich‘, das frei entscheiden kann, ob es „Raubvogel“ oder „Lamm“ sein will, um eine doppelte Illusion. (Nietzsche 112010b: 314, 280)24 So erklärt Nietzsche: „Wir sind es, die allein die Ursachen, das Nacheinander, das Für-einander, die Relativität, den Zwang, die Zahl, das Gesetz, die Freiheit, den Grund, den Zweck erdichtet haben; […] im wirklichen Leben handelt es sich nur um starken und schwachen Willen.“ (Nietzsche 112010a: 36)25 Laut Nietzsche ist dem Subjekt die objektive Erschließung der empirischen Realität nicht möglich. Er „sieht jedes Wahrnehmen von vornherein als selektiv, als willkürliches Nehmen, Herausnehmen, Sich-Aneignen.“ (Braatz 1988: 86)26 Das lässt sich wesentlich darauf zurückführen, dass sich das Subjekt seine Lebensrealität sprachlich erschließt und dass es sich bei den Worten, die es zur Bezeichnung seiner „einmalige[n] ganz und gar individualisirte[n] Urerlebniss[e]“ (Nietzsche 92012: 879) zur Verfügung hat, um gesellschaftlich festgelegte Begriffe handelt. Diese eignen sich nicht zur Bezeichnung der individuellen Erfahrungen, weil sie „zugleich für zahllose, mehr oder weniger ähnliche, d. h. streng genommen niemals gleiche, also auf lauter ungleiche Fälle passen“ (Nietzsche 92012: 879f.) müssen. Aus diesem Grund antwortet Nietzsche auf die Frage „Was ist also Wahrheit?“:
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Zur Negation des freien Willens vgl. Nietzsche 112010a: 93: „Der Wille, einen Affekt zu überwinden, ist zuletzt doch nur der Wille eines anderen oder mehrer anderer Affekte“, vgl. außerdem Nietzsche 102011: 95ff. Zur Willensfreiheit und Determination bei Nietzsche vgl. u. a. Müller-Lauter 1989. Vgl. dazu auch Brandes 2004: 76. Vgl. dazu u. a. Nietzsche 112010b: 278ff., 315f. Vgl. dazu u. a. Nietzsche 112010b: 364f.
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Aufhebung und Umkehrung von Herr- und Knechtschaft
Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen in Betracht kommen. (Nietzsche 92012: 880f.)27
Mit dieser Erkenntniskritik ist die Annahme verbunden, dass es keinen ‚herrschaftsfreien Diskurs‘ (vgl. Habermas 1981) geben kann. Das hat zwei Gründe: Zum einen wird die Sprache von den Herrschenden modelliert, die damit das Bewusstsein der unterlegenen Subjekte prägen. So konstatiert Nietzsche: Das Herrenrecht, Namen zu geben, geht so weit, dass man sich erlauben sollte, den Ursprung der Sprache selbst als Machtäusserung der Herrschenden zu fassen: sie sagen ‚das ist das und das‘, sie siegeln jegliches Ding und Geschehen mit einem Laute ab und nehmen es dadurch gleichsam in Besitz. (Nietzsche 112010b: 260)
Zum anderen manifestiert sich in jeder Kommunikation der Wille zur Macht. Die Sprache fungiert als Herrschaftsinstrument, weil sie nicht der Verständigung, sondern der Unterwerfung des Gegenübers dient. „Sich mittheilen, ist also ursprünglich seine Gewalt über den Anderen ausdehnen: […] das Zeichen ist das (oft schmerzhafte) Einprägen eines Willens auf einen anderen Willen“ (Nietzsche 1999b: 298), so Nietzsche in seinen nachgelassenen Fragmenten. Ein weiterer Faktor, der das Denken und die Wahrnehmungen des vergesellschafteten Subjekts laut Nietzsche bestimmt, ist die öffentliche Meinung, die wie die Sprache aus „Konventionen über Wahrnehmung ohne Rücksicht auf ‚objektive Wahrheit‘“ (Braatz 1988: 91) besteht. Während des Sozialisationsprozesses entwickelt der Mensch zunächst keine eigenen Standpunkte. Erst „in der Kommunikation, erst angesichts der Meinungen seiner Mitmenschen“ macht er sich „ein Bild von der Welt und von sich selber.“ (Braatz 1988: 104) Wie stark sich das Subjekt andere Meinungen zu eigen macht, zeigt sich etwa darin, dass die erste Position, „welche uns einfällt, wenn wir plötzlich über eine Sache befragt werden“, nicht unsere eigene, „sondern nur die landläufige, unserer Kaste, Stellung, Abkunft zugehörige“ ist. (Nietzsche 1999a: 334)28 Dafür ist auch der große Konformitätsdruck verantwortlich, der meist erst dann wahrgenommen wird, wenn die herrschenden Wertvorstellungen und Verhaltenskonventionen bewusst oder unbewusst missachtet werden. Solch ein
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Ähnlich argumentiert Nietzsche in Jenseits von Gut und Böse, vgl. Nietzsche 112010: 34. Zur Bedeutung der öffentlichen Meinung bei Nietzsche vgl. Braatz 1988.
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‚Fehlverhalten‘ wird sofort sanktioniert, weil die vergesellschafteten Subjekte befürchten, ihr inneres Gefüge könne durch „gefährliche Triebe, wie Unternehmungslust, Tollkühnheit, Rachsucht, Verschlagenheit, Raubgier, Herrschsucht“ (Nietzsche 112010a: 122), gefährdet werden. „Die hohe unabhängige Geistigkeit, der Wille zum Alleinstehn, die grosse Vernunft schon werden als Gefahr empfunden; Alles, was den Einzelnen über die Heerde hinaushebt und dem Nächsten Furcht macht, heisst von nun an böse“ (Nietzsche 112010a: 123) und wird gebrandmarkt, so Nietzsche in Jenseits von Gut und Böse. Aus Furcht davor, sozial isoliert zu werden, orientieren sich die Menschen an den herrschenden Normen und Werten, so seine Position. Neben der Sprache und der öffentlichen Meinung führt Nietzsche die Vererbung sowie die Erziehung und Bildung als weitere das Subjekt prägende Größen an. Er ist davon überzeugt, dass der Mensch die Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata seiner „Vorfahren“ (Nietzsche 112010b: 218) erbt. So erklärt er in Zur Genealogie der Moral: Es ist gar nicht möglich, dass ein Mensch nicht die Eigenschaften und Vorlieben seiner Eltern und Altvordern im Leibe habe; […] irgend eine widrige Unenthaltsamkeit, irgendein Winkel-Neid, eine plumpe Sich-Rechtgeberei […] dergleichen muss auf das Kind so sicher übergehn, wie verderbtes Blut (Nietzsche 112010b: 219).
Jede Kreuzung von „von einander abgetrennten Rasse[n] oder Stände[n]“ hält Nietzsche für fatal, verliert doch das Subjekt durch die ihm vererbten verschiedenen „Maasse und Werthe“ sein physisches und psychisches Gleichgewicht und der Wille zur Macht wird stark geschwächt. (Nietzsche 112010a: 138) Zwar können Erziehung und Bildung über die vererbten mentalen Dispositionen hinwegtäuschen (vgl. Nietzsche 112010b: 219). Beide Elternteile streben aber genauso wie die Lehrer danach, die Kinder ihren „Begriffen und Werthschätzungen“ zu unterwerfen und aus ihnen „etwas ihnen Ähnliches“ zu machen, so dass sie sich nicht frei entfalten können. (Nietzsche 112010a: 116) Nietzsches Vorstellungen von der Konstitution und den Determinanten des Subjekts weisen große Parallelen zu Strindberg auf. Das gilt schon für die vor seiner Nietzsche-Lektüre enstandene Essaysammlung Vivisektionen. Hier vertritt Strindberg – unter anderem beeinflusst von den Schriften Charcots und Bernheims29 – die These, dass jede personale Interakti-
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Wie Max Butt deutlich macht, zählen zu Strindbergs ‚Hauptgewährsleuten‘ in dieser Zeit auch der „italienische Kriminalpsychologe und Anthropologe C[esare] Lombroso, der Engländer H[enry] Maudsley, weiter die Franzosen Th[éodule-Armand] Ribot und Ch[arles Robert] Richet, sowie die Kulturphilosophen M[ax] Nordau und Eduard von Hartmann. Wesentlichen Einfluß […] hatte auch das Beispiel französischer Schriftsteller wie [Guy de]
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on bewusst oder unbewusst ein ‚Kampf der Gehirne‘ ist, der darauf zielt, den anderen dem eigenen Willen zu unterwerfen.30 Diese Machtkämpfe werden in den Vivisektionen allerdings noch anerkennungstheoretisch begründet, so dass die Ausführungen primär als kritischer Kommentar zu Hegels Modell von Herr- und Knechtschaft gelesen werden können (vgl. I.2.1).31 Wie der Philosoph ist Strindberg davon überzeugt, dass sich das Selbstbewusstsein des Individuums nur in Gegenwart eines anderen ausbilden kann, zu dem es sich in Bezug setzt und von dem es anerkannt wird. Während es in der Phänomenologie des Geistes heißt, dass das Selbstbewusstsein „an und für sich“ ist, „indem und dadurch, daß es für ein Anderes an und für sich ist“ (Hegel 1986d: 145), wird in Der Kampf der Gehirne (Hjärnornas kamp) die These aufgestellt: „Jeder Mensch sieht nur seinen eigenen Regenbogen und ist selbst der Mittelpunkt darin. […] Man sieht nur den leuchtenden siebenfarbigen Bogen, der sein Dasein nur dem Auge des Betrachters verdankt“ (Strindberg 1984b: 105). Die volle Anerkennung durch ein anderes Bewusstsein halten beide Autoren für unabdingbar. Sie gehen davon aus, dass jedes Subjekt bestrebt ist, sein Gegenüber zur Anerkennung seiner selbst zu zwingen und es damit zu verdinglichen. Die personale Interaktion, die auf die Versicherung der eigenen Souveränität bzw. „die Gewißheit […], für sich zu sein“ (vgl. Hegel 1986d: 149), zielt, stellen sich Hegel und Strindberg als Kampf um Leben und Tod vor. So heißt es in Der Kampf der Gehirne: doch das blendende Farbspiel [des Regenbogens als Metapher für die Souveränität des Subjekts, N.B.] kann auch nicht sichtbar werden ohne eine dunkle Wolke im Hintergrund. Und die schwarze Wolke, das sind Tod und Untergang ‚der anderen‘, ohne deren Verschwinden das ‚Ich‘ nicht existierte. Wären sie nicht bei der Sterblichkeitsziffer mit draufgegangen, dann wäre ich dran gewesen. (Strindberg 1984b: 105)
Die Konfrontation endet damit, dass ein Bewusstsein durch das andere unterworfen wird. Fortan erfährt sich der Überlegene als Herr – als eigen-
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Maupassant, [Paul] Bourget und der Brüder Goncourt, die in ihren Werken bereits neueste psychologische und medizinische Erkenntnisse verarbeiteten“ (Strindberg 1984a: 848, Vornamen ergänzt duch N.B.). Während der „Kampf um die Macht“ (Strindberg 1984b: 119) in früheren Zeiten physisch ausgetragen und von den an Waffen oder an Körperkraft überlegenen Subjekten entschieden wurde, siegt heute der psychisch Stärkere, so Strindberg. Dass Strindberg Hegels Schriften rezipiert hat, ist nicht unwahrscheinlich. Immerhin will der homodiegetische Erzähler in Der Kampf der Gehirne – eine Erzählung, in der Strindberg „in kaum verhüllter Form seine Version von Erlebnissen einer Reise“ schildert, „die er im Spätsommer 1886 zusammen mit dem Volkswissenschaftler und Soziologen Gustaf Steffen durch Frankreich unternahm“ – sein Gegenüber von Hegels philosophischen Positionen überzeugen. (Strindberg 1984: 877)
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ständiges Subjekt –, während der Unterlegene zum bloßen Medium funktionalisiert wird. Die Möglichkeit, sich durch die Arbeit zu emanzipieren und zu neuer Souveränität zu gelangen, räumt Strindberg dem ‚knechtischen Bewusstsein‘ im Unterschied zu Hegel nicht ein. Stattdessen hebt er ähnlich wie Nietzsche die Macht des Herrn hervor, im anderen seine Entscheidungen realisieren zu können.32 Mit Nietzsche teilt Strindberg nicht nur die Vorstellung, dass jedes Subjekt bestrebt ist, sein Gegenüber zu unterwerfen. Beide sind außerdem davon überzeugt, dass Macht ein Effekt der Rhetorik ist, erklärt doch der homodiegetische, als Strindbergs Alter Ego fungierende Erzähler in Der Kampf der Gehirne, dass ein Redner „der Volksmenge allen möglichen Unsinn weismachen“ könne, „wenn er eine starke Rednergabe besitzt und der Rhetorik mächtig ist“. (Strindberg 1984b: 69) Davon ausgehend, dass die soziale, gesellschaftliche und kulturelle Wirklichkeit mit Hilfe von Sprache konstruiert wird, deutet Strindberg ähnlich wie Nietzsche alle „politischen, religiösen“ und „literarischen Fehden“ als Kampf um die Definitionsmacht. (Strindberg 1984b: 69) Die Herrschenden produzieren Diskurse, die als öffentliche Meinung wahrgenommen werden und die Wahrnehmung, das Denken und das Verhalten der Subjekte steuern. So konstatiert der Erzähler: Erstaunlich, wie groß die Macht der Meinung ist, sogar der hausgemachten, dachte ich. Als ich ihm [dem Gegner im ‚Kampf der Gehirne‘, N.B.] mit Begründungen und Beweisen Hegel in den Kopf träufeln wollte, da ging es nicht, als ich aber die magische Formel ‚alle‘ und ‚Gebildete‘ gebrauchte, ergab er sich der Übermacht. (Strindberg 1984b: 90f.)
Die in den Vivisektionen exemplifizierten Betrachtungen zur Konstitution und den Determinanten des Subjekts sowie zur Herr- und Knechtschaft werden – unter anderem beeinflusst durch die Nietzsche-Lektüre – in Fräulein Julie und im nachträglich dazu entstandenen Vorwort weiterentwickelt. Auch hier geht Strindberg von der Annahme aus, dass jedes Subjekt bestrebt ist, andere in einem Kampf der Gehirne zu unterwerfen (vgl. Strindberg 1984a: 764). Das wird allerdings nicht mehr anerkennungs-
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In den Vivisektionen führt der homodiegetische Erzähler aus: „Bekanntlich gibt es Hautflügler, die ihre Eier in den Körper der Kohlweißlingsraupen legen. Die Eier werden ausgebrütet […], und die Raupen schwellen an, als seien sie in gesegnetem Zustand. Eines schönen Tages aber sollen sie gebären, und dann kommt ein Schwarm von Hautflüglern heraus, während von den Raupen nur die leere Haut bleibt. Ich fühle mich gegenüber Schilf [dem ‚Gegner‘ des Erzählers, N.B.] wie ein solcher Hautflügler. Meine Eier liegen in seinem Gehirn, und meine Gedanken schwärmen aus, während er immer leerer wird. Er redet jetzt wie ich; er gebraucht meinen Wortschatz, meine Scherze, meine geflügelten Worte. Er glaubt, es seien seine Schmetterlinge, doch es ist nur meine Hautflüglerbrut.“ (Strindberg 1984b: 92f.)
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theoretisch begründet. Vielmehr wird mit Nietzsche von einem zu bejahenden Willen zur Macht als Grundkraft alles Seienden ausgegangen. So spricht Strindberg im Vorwort davon, dass der das Dasein bestimmende grausame „Wechsel von Steigen und Fallen“ einer „der größten Reize des Lebens“ sei. (Strindberg 1984a: 760) Ähnlich wie Nietzsche negiert Strindberg außerdem die Existenz einer stabilen und kohärenten Identität. Davon ausgehend, dass sich das ‚ich‘ aus vielfältigen Trieben, Gedanken und Affekten zusammensetzt, muss jede Handlung des Subjekts auf eine „ganze[ ] Reihe mehr oder weniger tiefliegender Motive“ (Strindberg 1984a: 761) zurückgeführt werden. Vor diesem Hintergrund begründet er „Julies trauriges Schicksal“ mit einer ganze[n] Anzahl von Umständen […]: die Grundinstinkte der Mutter, die unrichtige Erziehung des Mädchens durch den Vater; eigenes Naturell und die Suggestionen des Verlobten auf das schwache degenerierte Gehirn; ferner und näher: die festliche Stimmung in der Mittsommernacht; die Abwesenheit des Vaters; ihre Menstruation; […] und schließlich der Zufall, der die beiden in einen abgeschiedenen Raum zusammentreibt, plus der Zudringlichkeit des erregten Mannes. (Strindberg 1984a: 762)
Wie die Textpassage deutlich macht, bestreitet Strindberg wie Nietzsche die Willensfreiheit des Subjekts.33 Julie handelt nicht selbstbestimmt, weil ihre Entscheidungen von ihrer genetischen Disposition, ihrer Sozialisation, den Handlungen ihrer Gegenüber und dem Zufall abhängig sind. Die Figuren werden außerdem von der Sprache sowie von den herrschenden Diskursen, die sich in der öffentlichen Meinung manifestieren, geprägt. Das kommt im Vorwort zu Fräulein Julie zum Ausdruck, wenn Strindberg seine dramatis personae als „Konglomerate vergangener Kulturstufen und bestehender, Brocken aus Büchern und Zeitungen“ (Strindberg 1984a: 764) bezeichnet. Davon zeugt auch der Theatertext, für den eine „nachdrücklich hervorgekehrte Heterogenität der Sprechweisen“ (Detering 2000: 88) kennzeichnend ist. Wie Detering herausgestellt hat, wird der Dialog der beiden Protagonisten durch einen häufigen Wechsel der „Stillagen, der Soziolekte“ und „der Sprachen“ bestimmt. (Detering 2000: 88) Dabei machen vor allem Jeans Äußerungen deutlich, dass die Diktion der Figuren keine „subjektiv-authentische“, sondern eine „erlernte und übernommene“ ist. (Detering 2000: 88) So erklärt der Subalterne, die französische Sprache und die distinguierte Redeweise der aristokratischen Gesellschaft durch Theaterbesuche, Romane und durch die genaue Beobachtung seiner
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Der sich im Subjekt objektivierende ‚freie Weltwille‘ darf laut Nietzsche und Strindberg nicht mit dem unfreien personalen Willen gleichgesetzt werden. Zur Willensfreiheit bei Nietzsche vgl. u. a. Müller-Lauter 1989.
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Arbeitgeber erlernt zu haben (vgl. Strindberg 1984a: 781, 788). „Was als Konfession eines Ich formuliert war, erweist sich als Adaption literarischer Muster (vieler Romane, des Theaters), die ihrerseits als Sonderfälle vorgegebener Redeweisen im allgemeinen erscheinen“ (Detering 2000: 89). Dieser Befund lässt für Detering die Vermutung zu, daß hier entgegen unseren ‚realistischen‘ Hör- und Lesegewohnheiten nicht die Figuren sich der Sprache, sondern umgekehrt die Sprachen sich der Figuren bedienen – sie also jeweils als Gentleman oder Domestik, Kavalier oder Knecht, Herrin oder Hündin konstituieren. (Detering 2000: 89)
Im Unterschied dazu wird in dieser Arbeit die These aufgestellt, dass die Figuren mit der Sprache unterschiedlich umgehen. Während sich Jean geschickt zu verstellen weiß und sich der erlernten sprachlichen Ausdrucksformen bedient, um seine Herrin im Kampf der Gehirne unterwerfen zu können, ist Julie nicht in der Lage, sich gegen den Bedienten rhetorisch zur Wehr zu setzen. Zum Beleg dieser Position soll nun die Figurenkonzeption in den Blick genommen werden.
1.2 Zur Handlungsebene: Die Figuren als Repräsentanten der Nietzsche’schen Herren- und Sklavenmoral In Fräulein Julie setzt sich Strindberg mit Nietzsches Betrachtungen zur Herr- und Knechtschaft auseinander. Wie im Folgenden zu zeigen ist, konzipiert er die Figur des Bedienten als ‚Geistesaristokraten‘, während er der Köchin Kristin ein ‚knechtisches Bewusstsein‘ attribuiert. Die Grafentochter wird hingegen als willensschwache, ‚degenerierte‘ Aristokratin vorgeführt. 1.2.1. Kristin als Repräsentantin des ‚knechtischen Bewusstseins‘ Im Vorwort zu seinem Theatertext charakterisiert Strindberg die Figur der Kristin als weibliche[n] Sklave[n], voll von Unselbständigkeit, Stumpfheit, […] in ihrer Heuchelei tierisch unbewußt, vollgestopft mit Moral und Religion als Deckmäntel und Sündenböcke, die der Starke nicht braucht, weil er seine Schuld selber tragen oder sie wegrationalisieren kann! (Strindberg 1984a: 767)
Wie aus der Textpassage hervorgeht, verwendet Strindberg den Begriff ‚Sklave‘ nicht als Bezeichnung für einen sozialen Stand, sondern für eine
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bestimmte psychische Verfassung des Subjekts.34 Das ‚knechtische Bewusstsein‘ handelt fremdbestimmt, übernimmt keine Verantwortung für seine Taten und orientiert sich an den herrschenden christlichen Moralvorstellungen, anstatt eigene Werte zu schaffen. Wie Strindberg versteht auch Nietzsche unter der Herren- und Sklavenmoral „Einstellungen des Individuums zu sich selber, zum Leben und zur Welt.“ (Braatz 1988: 202) Aus diesem Grund hält er es für möglich, „dass sich heut im Volke […] immer noch mehr relative Vornehmheit des Geschmacks und Takt der Ehrfurcht vorfindet, als bei der zeitunglesenden Halbwelt des Geistes, den Gebildeten.“ (Nietzsche 112010a: 218) Was unterscheidet nun die Herren von den Sklaven? Im Gegensatz zu den Vornehmen sind die Schwachen nicht in der Lage, den Willen zur Macht, der sich in ihren Gefühlen, Gedanken und Affekten manifestiert, mit Hilfe ihrer Vernunft zu kontrollieren 35 – ein Vermögen, das die „Fähigkeit zum selbständigen Entwerfen von Zielen“ (Braatz 1988: 202), nach denen gehandelt werden soll, voraussetzt. So erklärt Nietzsche in Morgenröthe: Immer noch liegt man vor der Kraft auf den Knieen – nach alter SclavenGewohnheit – und doch ist […] nur der Grad der Vernunft in der Kraft entscheidend: man muss messen, inwieweit gerade die Kraft durch etwas Höheres überwunden worden ist und ihr als Werkzeug und Mittel nunmehr in Diensten steht! (Nietzsche 1999c: 318)
Während sich der Herr qua Vernunft selbst beherrschen kann, wird der Sklave von anderen beherrscht. Folglich ist sein Wollen [der Wille des Sklaven, N.B.] im Kern keine SelbstÜberwindung, sondern ein Sich-überwältigen-lassen […], kein Affekt, in dem ein
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Im Unterschied dazu vertreten Lamm und Madsen die These, dass Strindberg mit Kristin ein Porträt der schwedischen Bauern im 19. Jahrhundert zeichne. So konstatiert Lamm: „Kristin – with her sulleness, her uncharitable religiosity, and her inveterate respect for class distinctions – is a typical representative of one aspect of the Swedish national temperament. Herr class consciousness is so great that she is unable to be jealous of Miss Julie.“ (Lamm 1971: 217) Und Madsen erklärt: „To a certain extent, Kristin is a type, but there is nothing abstract about her. Her conventional piety, her lack of imagination, and her consciousness of class distinctions are carefully and objectively observed by Strindberg, firmly rooted as they are (or are a supposed to be) in the temperament of the Swedish peasant.“ (Madsen 1962: 85) Wie Kurt Braatz deutlich gemacht hat, weist Nietzsche der Vernunft des Subjekts als Vermögen, die eigenen Triebe und Affekte kontrollieren zu können, einen zentralen Stellenwert zu. Zugleich wendet er sich aber gegen die „unbedingte Unterwerfung unter die Regeln der Rationalität“, für ihn eine „Verengung der intellektuellen Möglichkeiten des Menschen“. (Braatz 1988: 203) Die Fähigkeit zur Selbstbeherrschung darf nicht als Willensfreiheit gewertet werden. Sie ist nämlich nicht auf einen starken personalen Willen zurückzuführen, sondern Ausdruck eines starken Willens zur Macht; vgl. dazu u. a. Christians 2011.
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eigenverantworteter Befehl gegen das persönliche Selbst verhaltenssteuernd wirkt, sondern das Gehorchen gegen eine reale oder fiktive Außen-Macht dominiert. Wenn der Sklave ‚will‘, agiert er also nicht […], sondern er reagiert nur auf ein ‚Außen‘ oder ‚Oben‘. (Braatz 1988: 202)
Wie Nietzsche deutlich macht, manifestiert sich die Fremdbestimmtheit des Sklaven unter anderem in seinem Bedürfnis, an etwas zu glauben, etwa an die institutionalisierte Religion.36 Denn er ist nicht in der Lage, aus sich heraus eigene Werte zu schaffen. Die christliche Ethik besitzt für die Sklaven nicht nur eine Orientierungsfunktion, mit ihrer Hilfe kann die eigene Willensschwäche auch umgedeutet und ins Positive gewendet werden. In dem Wissen, zu schwach zu sein, um gegen die Herrschenden offenen Widerstand leisten zu können, erklären die Sklaven die weltliche Erniedrigung zur göttlichen Fügung, die Unfähigkeit, sich zu wehren, gilt als Tugend, das stille Verharren im Leiden wird gelobt und alles irdische Streben nach Glück und Macht mit dem Hinweis verworfen, daß erst im Jenseits der ‚wahre Wert‘ diesseitigen Handelns ans Licht käme. (Braatz 1988: 205)37
Diesen Prozess der Abwertung des werteschaffenden Subjekts und seiner „Tugenden“ zu Gunsten von Eigenschaften, die dazu dienen, „Leidenden das Leben zu erleichtern“, bezeichnet Nietzsche mit dem Begriff des ‚Ressentiments‘. (Nietzsche 112010a: 211) Den „Menschen des Ressentiment“ attribuiert er einen „pessimistische[n] Argwohn“ gegenüber den Vornehmen, deren Handlungen im Namen der Moral verurteilt werden. (Nietzsche 112010a: 370, 211) Anstatt eigene Ziele zu entwickeln, werden die Starken (negativ) bewertet, um sie dazu zu bringen, „an ihrem Recht auf Glück zu zweifeln“ (Nietzsche 112010b: 371). Diese Diskreditierungsversuche beschreibt Nietzsche als stille Kämpfe um die Macht, „zumeist mit kleinen Giftpulvern, mit Nadelstichen, mit tückisch[en] Dulder-Mienenspiele[n], mitunter aber auch mit jenem Kranken-Pharisäismus der lauten Gebärde, der am liebsten ‚die edle Entrüstung‘ spielt.“ (Nietzsche 112010b: 370) Zudem schreibt er den Willensschwachen einen fehlenden „Instinkt für das Glück und die Feinheiten des Freiheits-Gefühls“ (Nietzsche 112010a: 212) zu.38
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Vgl. etwa Nietzsche 102011b: 236f.: „Der Mensch des Glaubens, der ‚Gläubige‘ jeder Art ist notwendig ein abhängiger Mensch, – ein Solcher, der sich nicht als Zweck […] ansetzen kann. […] Erwägt man, wie nothwendig den Allermeisten ein Regulativ ist, das sie von aussen her bindet und festmacht, wie der Zwang, in einem höheren Sinn die Sklaverei, die einzige und letzte Bedingung ist, unter der der willensschwächere Mensch […] gedeiht: so versteht man auch die Überzeugung, den ‚Glauben‘.“ Vgl. dazu u. a. Nietzsche 112010: 208ff., 283. Diese Thesen müssen Strindberg vertraut gewesen sein, werden sie doch auch von Brandes in seinen Vorlesungen über Nietzsche referiert, vgl. Brandes 2004: 63, 69ff.
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Vor diesem Hintergrund muss der Figur der Kristin ein ‚knechtisches Bewusstsein‘ attribuiert werden. Darauf verweist bereits ihr Name, der von dem griechischen Wort christos abgeleitet werden kann und sie als Christin ausweist. Anstatt eigene Werte zu schaffen, orientiert sich Kristin an den herrschenden christlichen Moralvorstellungen und Verhaltenskonventionen. Davon ausgehend, dass ein unüberwindbarer sozialer „Unterschied zwischen Leuten und Leuten“ (Strindberg 1984a: 806)39 existiert, besitzt sie kein Verlangen, sich aus den sie bestimmenden sozialen Zwängen zu befreien. Ihr einziges Ziel ist die materielle Absicherung. So fordert sie von Jean, sie zu heiraten und eine „Anstellung als Hausmeister [zu] nehmen“ oder „bei irgendeinem Amt als Aufwärter unterzukommen. Die Löhne beim Staat sind knapp, aber sie sind sicher, und Frau und Kind kriegen Pension“, so die Magd. (Strindberg 1984a: 807) Kristins Vorstellung von „einer stabilen, absoluten Weltordnung“ entspricht für Nietzsche und Strindberg „den Bedürfnissen des schwachen Menschen, der die Welt als chaotisch und ordnungslos nicht“ erträgt. (Schiller 2011: 350) Als ressentimentgeladen erweist sich die Köchin dadurch, dass sie sich gegen die von Jean und Julie erfahrenen Kränkungen nicht offen zu Wehr setzt. Stattdessen deutet sie ihre eigene „Unzulänglichkeit in fiktive Höherwertigkeit“ (Braatz 1988: 206) um. Das zeigt sich in ihrem Gespräch mit Julie, in dem sie ihre eigene Armut zum Vorzug erhebt und der Aristokratin im Rekurs auf das neutestamentarische Gleichnis vom Nadelöhr zu verstehen gibt, als Reiche nicht in den Himmel kommen zu können (vgl. Strindberg 1984a: 814). Das Gleiche gilt für ihren Dialog mit Jean, in dem sie erklärt: Nein, in so einem Haus will ich wirklich nicht länger bleiben, wo man keinen Respekt mehr vor der Herrschaft haben kann. […] Er will doch wohl nicht bei Leuten dienen, die sich so unanständig aufführen? Was? Damit zieht man sich selbst in den Schmutz, find ich. (Strindberg 1984a: 806)
Dieses Zitat illustriert zum einen, dass sich Kristin über ihre Herrschaft stellt, indem sie deren Fehlverhalten aufs Schärfste verurteilt – für Nietzsche die „Lieblings-Rache der Geistig-Beschränkten an Denen, die es weniger sind, auch eine Art Schadenersatz dafür, dass sie von der Natur schlecht bedacht wurden, endlich eine Gelegenheit, Geist zu bekommen und fein zu werden“ (Nietzsche 112010a: 154). Zum anderen wird deutlich, dass die öffentliche Meinung für Kristin Richtschnur des Handelns ist – wie das Ressentiment eine zentrale Eigenschaft des ‚knechtischen Be-
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Aus diesem Grund kann sie das aristokratische Fräulein in ihrem Werben um Jean auch nicht als direkte Konkurrentin wahrnehmen. So antwortet sie auf Jeans Frage, ob sie auf Julie eifersüchtig sei: „Nein, auf sie nicht! Wenns Klara oder Sofie gewesen wär; dann hätt ich dir die Augen ausgekratzt!“ (Strindberg 1984a: 806)
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wusstseins‘. Genauso wie über ihre Herrin erhebt sich Kristin auch über Jean, wenn auch mit einem anderen Ziel. Während sie Julie zu diskreditieren sucht, will sie Jean an sich binden. In dem Wissen, ihm unterlegen zu sein, vermeidet sie den Disput. Stattdessen tritt sie „in der Maske des […] ‚Mahners‘, des ‚moralischen Erziehers‘“ (Braatz 1988: 219) auf und flieht in die Kirche, um von dort „mit einer Vergebung“ zurückzukommen, „die auch für Ihn ausreicht!“ (Strindberg 1984a: 813) Dass die christliche Ethik für Kristin primär eine „Nützlichkeits-Moral“ (Nietzsche 112010a: 211) ist, die dazu dient, sich an den Herrschenden zu rächen (vgl. Skirl 2011a: 312), kommt darin zum Ausdruck, dass sie sich selbst nicht an die christlichen Gebote hält. Dieser Widerspruch wird von Jean thematisiert, wenn er Kristin vorwirft, vom „Gemüsehändler Prozente“ zu nehmen, sich „vom Fleischer bestechen“ zu lassen und wie Julie nicht nach der christlichen Sexualmoral zu leben. (Strindberg 1984a: 813) Aus diesem Grund solle sie weniger „schwatz[en]“. Ansonsten müsse sie sich „wegen der gleichen Sache“, wegen der sie Julie verachte, „selber verachten“. (Strindberg 1984a: 813) Für Kristin besitzt der christliche Glaube darüber hinaus eine Entlastungsfunktion. Anstatt die Verantwortung für ihre Handlungen zu übernehmen, nimmt sie an, dass ihr durch ihren Kirchgang all ihre Sünden vergeben werden (vgl. Strindberg 1984a: 813). Die Forschung hat oft und zu Recht behauptet, dass Kristin die tragische Wende des Einakters einleitet. Schließlich vereitelt sie die Flucht von Jean und Julie und bereitet damit „deren Visionen von sozialem Prestige (Jean) und einem Entkommen aus der unfreien Welt am Hofe ihres Vaters (Julie) ein jähes Ende“ (Stricker 2001: 23).40 Trotz ihres ‚knechtischen Bewusstseins‘ ist sie Jean und Julie durch ihre Kontakte zum Stallknecht, dem sie befiehlt, keine Pferde herauszugeben, „falls jemand reisen wollte“ (Strindberg 1984a: 814), überlegen. Die Macht der ‚Menschen des Ressentiments‘ wird auch von Nietzsche hervorgehoben. In Jenseits von Gut und Böse heißt es: Die ähnlicheren, die gewöhnlicheren Menschen waren und sind immer im Vortheile, die Ausgesuchteren, Feineren, Seltsameren, schwerer Verständlichen bleiben leicht allein, unterliegen […]. Man muss ungeheure Gegenkräfte anrufen,
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Ähnlich argumentieren Jacobs/Törnqvist 1988: 97 („Kristin is the character who opens the way to the tragic conclusion of the play“), Madsen 1962: 85 („She comments drily on the illusions and hopes of Jean and Julie and rudely forces them to face reality“) und Dieckmann 1982: 10 („Kristin, die Köchin […]: die Kleinbürgerin, die an der Ordnung der Dinge festhält, ohne ihren Platz darin – einen unteren, aber sicheren – anzufechten. Sie nagelt ihre Herrin auf den ihren fest, von dem diese sich losreißen will, und betreibt damit deren Untergang.“)
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um […] die Fortbildung des Menschen in’s Ähnliche, Gewöhnliche, Durchschnittliche, Heerdenhafte – in’s Gemeine! – zu kreuzen. (Nietzsche 112010a: 222)41
1.2.2 Jean als Repräsentant des ‚Geistesaristokraten‘ In einem Brief an Georg Brandes vom 1. 12. 1888 konstatiert Strindberg: „Lieber Doktor, Nietzsche ist ja ein unglaublich brillanter Meister […] Bemerken Sie meine Umwerthung des Diener-Figaro im Jahr vor 1889?“42 In seinen Schriften verwendet Nietzsche den Begriff der ‚Umwertung‘ als Bezeichnung für die „radikale Umwälzung des moralisch bislang Gültigen“, mit dem Ziel, die „Entwertung der archaischen Herrenmoral“ durch die herrschende Sklavenmoral rückgängig zu machen. (Sommer 2011: 346) Strindberg rekurriert auf diese Gedankenfigur, indem er die Umkehrung der Machtverhältnisse in Fräulein Julie als ‚Umwertung‘ im Nietzsche’schen Sinne bezeichnet. Mit Blick auf den Theatertext scheint solch eine Deutung zunächst fraglich, gelingt es dem Bedienten im Handlungsverlauf doch nicht, sich aus den ihn bestimmenden Zwängen zu befreien. Nach der Rückkehr des Grafen tauscht er die Redingote wieder gegen die Bedienten-Livree. Dass die Figur dennoch als ‚Geistesaristokrat‘ zu interpretieren ist, soll im Folgenden illustriert werden. Ähnlich wie die knechtische Gesinnung ist die Vornehmheit für Nietzsche keine soziologische, sondern eine psychologische Kategorie. Der ‚Geistesaristokrat‘ lebt nicht „für etwas, für ‚Gott‘, das ‚Glück im Jenseits‘ oder ‚Ideale‘ irgendwelcher Art“, sondern aus der Bejahung des in ihm sich verwirklichenden Willens zur Macht. ‚Gut‘ nennt er im radikalen Gegensatz zur sklavischen Wertungsweise all das, was das Basisfaktum ‚Wille zur Macht‘ positiv in Rechnung stellt; ‚gut‘ ist hier vor allem das Bekenntnis zur Sinnenhaftigkeit und der unausgesetzte Mut zur Überwindung innerer und äußerer Widerstände, soweit sie schaffenden Willen zur Macht in die Reaktivität zu zwingen drohen. (Braatz 1988: 248f.)
Der Vornehme nimmt die herrschenden Wertesysteme nicht als präexistent an, sondern weiß, dass es sich dabei um „historische Konstrukte“ handelt. Davon ausgehend stellt er die „kulturell verbreitete[n] und vorgegebene[n] Handlungsanweisungen“ (Günzel 2000: 253) in Frage und entwickelt eigene Wertvorstellungen und Ziele, ohne sie zum allgemein gültigen Maßstab zu erheben. Seine Pläne kann er durchsetzen, weil er im Unterschied zum Sklaven fähig ist, seine Affekte zu beherrschen und sich
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Vgl. dazu auch Nietzsche 112010a: 272f., ähnlich argumentiert Brandes 2004: 44. Vgl. Brief Nr. 1710 in Strindberg 1961: 186; hier zitiert nach der Übersetzung von Detering 2000: 94.
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dadurch immer wieder selbst zu überwinden.43 Das herrische Bewusstsein zeichnet sich ferner durch selbstverantwortliches Handeln aus. Während das ressentimentgeladene Subjekt die Schuld für die es beherrschenden Zwänge anderen zuweist und jeden Stärkeren abwertet, um sich selbst als ‚gut‘ erfahren zu können, bewertet der Vornehme all das als ‚schlecht‘, was er selbst überwunden hat. Diejenigen, die ihn überwältigen, erkennt er als besser an, für ihn ein Impuls, sich weiter zu steigern. (Vgl. Nietzsche 112010b: 294) In jeder personalen Interaktion muss das Subjekt seine Vornehmheit neu erwerben und festigen. Denn es gerät immer wieder in Situationen, „wo die Versuchung allgegenwärtig und [es] legitim ist, nicht zu wollen und sich treiben zu lassen“ (Braatz 1988: 250). Wie Nietzsche in Jenseits von Gut und Böse betont, zeichnet sich der ‚Geistesaristokrat‘ aber nicht durch bestimmte, als vornehm zu bezeichnende Handlungen aus. Es sind nicht die Werke, es ist der Glaube, der hier entscheidet, der hier die Rangordnung feststellt […]: irgend eine Grundgewissheit, welche eine vornehme Seele über sich selbst hat, Etwas, das sich nicht suchen, nicht finden und vielleicht auch nicht verlieren lässt. – Die vornehme Seele hat Ehrfurcht vor sich. (Nietzsche 112010a: 233)
Die Taten des Subjekts geben keinen Aufschluss darüber, ob es als Herr oder Sklave zu kategorisieren ist. Genauso wenig wie ein angepasstes Verhalten auf ein sklavisches Bewusstsein verweist, ist Nonkonformismus mit Vornehmheit gleichzusetzen. Entscheidend ist vielmehr die Frage, „warum dieser oder jener in der einen oder anderen Situation konform oder abweichend meint und handelt.“ (Braatz 1988: 252) Während sich der Schwache von fremden Zwängen lenken lässt, handelt der Vornehme selbstbestimmt. Dafür ist ein ‚Pathos der Distanz‘ notwendig. Dieser Begriff umfasst drei Dimensionen, wie Kurt Braatz herausgestellt hat. Er bezieht sich erstens auf die vertikale Distanz zwischen Subjekten oder verschiedenen Gruppen. Während die Sklaven bestehende Ungleichheiten zu nivellieren suchen, halten die Vornehmen an der „Rangordnung und Werthverschiedenheit von Mensch und Mensch“ (Nietzsche 112010a: 205) fest.44 Den Abstand zu anderen erfahren sie nicht als Kränkung, sondern er ist ihnen Ansporn, ihren Willen durch Selbstüberwindung weiter zu stärken (vgl. Nietzsche 112010a: 205). Diese Einstellung zum Leben und zur Welt manifestiert sich in einem elitären Habitus, wie Nietzsche in Ecce homo deutlich macht:
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Zur Selbstüberwindung bei Nietzsche vgl. u. a. Christians 2011: 323f. und die dort genannten Literaturhinweise. Vgl. dazu auch Nietzsche 102011: 138. Hier erklärt Nietzsche, dass die Idee der sozialen Gleichheit Zeichen einer ‚schwachen Zeit‘ sei, der es an „positiven Kräften“ mangelt. Für jede ‚starke Zeit‘ sei ein ‚Pathos der Distanz‘ kennzeichnend.
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Aufhebung und Umkehrung von Herr- und Knechtschaft
Das Erste, worauf hin ich mir einen Menschen ‚nierenprüfe‘, ist, ob er ein Gefühl für Distanz im Leibe hat, ob er überall Rang, Grad, Ordnung zwischen Mensch und Mensch sieht, ob er distinguirt: damit ist man gentilhomme: in jedem anderen Fall gehört man rettungslos unter den weitherzigen, ach! so guthmüthigen Begriff der canaille. (Nietzsche 102011c: 362)
Das ‚Pathos der Distanz‘ bezeichnet zweitens den horizontalen Abstand zwischen Subjekten: „[A]uch das Festhalten am Raum inter pares, zwischen Individuen auf ein- und derselben sozialen oder intellektuellen Ebene, ist eine notwendige Bedingung der Vornehmheit.“ (Braatz 1988: 254) So fordert Nietzsche in Jenseits von Gut und Böse: „Nicht an einer Person hängen bleiben: und sei sie die geliebteste, – jede Person ist ein Gefängniss, auch ein Winkel. […] Man muss wissen, sich zu bewahren: stärkste Probe der Unabhängigkeit.“ (Nietzsche 112010a: 59) Drittens besitzt der Vornehme ein ‚Pathos der Distanz‘ im Hinblick auf das Zeitliche. Braatz unterscheidet hier zwischen einer nach innen und einer nach außen gerichteten Souveränität des Subjekts. Wie ist das gemeint? Im Unterschied zu den Schwachen, die jede offene Konfrontation zu vermeiden suchen und ihre negativen Erlebnisse im Langzeitgedächtnis speichern, ist der Starke zum einen fähig, seine Erfahrungen verhältnismäßig schnell zu verarbeiten. Er „hat das Pathos der Distanz auch zu seiner eigenen Geschichte, er ist instinktiv bestrebt, seine intellektuellen Kapazitäten für das Wollen und Schaffen des Zukünftigen freizuhalten und sie nicht in der reaktiven Bewältigung von Vergangenem zu verbrauchen“ (Braatz 1988: 255). Zum anderen zeichnet sich der Vornehme durch eine geistige Autonomie aus, die sich in der Unabhängigkeit von der öffentlichen Meinung manifestiert. Das führt nicht notwendig dazu, dass er sich von seinem sozialen Umfeld sichtbar distanziert, auch wenn er die Einsamkeit ertragen können muss.45 Die Isolation von den anderen kann auch als „innerer Zustand erzeugt werden“ (Braatz 1988: 260). In diesem Fall schützt sich der Vornehme durch eine ‚Maske‘ bzw. eine „schwarze Brille: denn es giebt Fälle, wo uns Niemand in die Augen, noch weniger in unsre ‚Gründe‘ sehn darf.“ (Nietzsche 112010a: 231) Trotz seines ‚Pathos der Distanz‘ ist der Vornehme fast nie fähig, aus dem ‚Kampf ums Dasein‘ als Sieger hervorzugehen, so Nietzsche. Denn die breite Masse orientiert sich nicht an der Position des herausragenden Einzelnen, sondern an der öffentlichen Meinung. Daher wird sie dem Starken „verhalten-skeptisch“ (Braatz 1988: 272) gegenüberstehen. Zudem verfügen die Schwachen über den größeren „prudentielle[n] Instinkt“ (Braatz 1988: 270), so dass sie sich trotz ihrer geistigen Unterlegenheit in
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Vgl. Nietzsche 112010a: 147.
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der Regel besser behaupten können. Nur in Situationen, in denen die herrschenden Normen und Werte an Selbstverständlichkeit verlieren, kann der Vornehme an Einfluss gewinnen: Die sozialfunktionale Bedeutung des ‚Vornehmen‘ hängt ab von der Krisenhaftigkeit der öffentlichen Kommunikation einer gegebenen Bezugsgruppe, Schicht, Klasse, Gesellschaft. Wo solche Einheiten im Zustand der ‚Öffentlichkeit‘ labil werden, kann ihm – unter Umständen unwissentlich – die Rolle des Orientierungshelfers und Vermittlers zufallen. Seine Legitimitation verfällt allerdings mit einiger Wahrscheinlichkeit wieder, sobald es der betreffenden Öffentlichkeit gelingt, ihre Verhältnisse zu klären: dann wird sein Pathos der Distanz nicht mehr als fruchtbar, sondern, wie in stabilisierten Meinungsklimata üblich, als befremdend oder nutzlos empfunden. (Braatz 1988: 273f.)46
Vor diesem Hintergrund muss Jean als ‚Geistesaristokrat‘ kategorisiert werden. Davon zeugt etwa seine große Vitalität, durch die er sich von Julie unterscheidet.47 Mit dem ihm eigenen Willen zur Macht träumt Jean buchstäblich von seinem sozialen Aufstieg.48 Dabei übernimmt er keine Verantwortung für „Weib und Kind“ (Strindberg 1984a: 807), sondern fühlt sich nur den eigenen Interessen verpflichtet. Selbstbewusst erklärt er Julie: [A]uf der Nase liegen, das soll man; aber ich nicht! Dazu bin ich nicht geboren, auf der Nase zu liegen, denn ich hab was in mir, da ist ein Charakter […]. Heute bin ich Diener, aber nächstes Jahr bin ich Hotelbesitzer, in zehn Jahren bin ich Rentier, und dann reise ich nach Rumänien, lasse mir einen Orden anhängen und kann – bitte das kann zu beachten – als Graf enden! (Strindberg 1984a: 793)
Diese Replik zeigt, dass Jean eine vertikale Distanz zu anderen besitzt. Er zielt nicht auf die Nivellierung sozialer Ungleichheiten, sondern will sich
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Vgl. dazu auch Nietzsche 112010a: 215f., 227f. Ihren Vorschlag, sich gemeinsam umzubringen, hält er für ‚dumm‘, für ein Zeichen von ‚Krankheit‘ (vgl. Strindberg 1984a: 801, 803). „Ich träume, daß ich unter einem hohen Baum in einem dunklen Wald liege. Ich will rauf, rauf in den Gipfel, in die Sonne, mich weit umsehn über der hellen Landschaft, und das Vogelnest plündern da oben, mit den goldnen Eiern drin. Und ich klettre und klettre, aber der Stamm ist so dick und so glatt, und es ist so weit bis zum ersten Ast. Aber ich weiß, wenn ich nur den ersten Ast erreiche, dann komme ich rauf zum Gipfel wie auf einer Leiter.“ (Strindberg 1984a: 784) In der Strindberg-Forschung wird Jeans Traum in der Regel als Vision eines sozialen Aufstiegs gelesen. Mitunter wird er auch als Ausdruck unbewusster sexueller Wünsche gewertet, so etwa von Karnick oder Parker, der erklärt, „Jean’s [Traum, N.B.] is a predatory dream of climbing to steal golden eggs from a sexual nest“ (Parker 1998: 102). Ähnlich argumentiert Karnick, der im Rekurs auf Sigmund Freud, Carl Gustav Jung und Alfred Adler die These aufstellt, dass der Baum als Phallussymbol fungiert und „das Gefühl des Kletterns und Steigens“ für den „Geschlechtsakt“ steht. Der Traum verweist aber auch für ihn auf Jeans karrieristische Ambitionen, signalisierten doch die ‚goldenen Eier‘ Jeans Bereitschaft, „Phallus und Vagina zu Mitteln seines Aufstiegs zu machen“. (Karnick 1980: 118)
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Aufhebung und Umkehrung von Herr- und Knechtschaft
selbst als Herrschender durchsetzen und – wenn möglich – einen Adelstitel erwerben. Wie für den Vornehmen charakteristisch, besitzt er Ehrfurcht vor sich selbst; denn er weiß, dass er sich durch ‚Charakter‘ vor denen, ‚die auf der Nase liegen‘, auszeichnet. 49 Selbstbewusst grenzt er sich von den anderen Bedienten ab, wenn er Julie erklärt, kein Interesse daran zu haben, mit „den Leuten da oben zu tanzen“ (Strindberg 1984a: 789). Darüber hinaus fordert er auch von ihr, seine geistige Überlegenheit anzuerkennen (vgl. u. a. Strindberg 1984a: 797). Jeans aristokratische Einstellung zur Welt und zum Leben manifestiert sich in einem distinguierten Habitus.50 Beim Essen legt er Wert auf vorgewärmte Teller, statt Bier trinkt er lieber wohl temperierten französischen Wein aus einem Kelchglas; von Kristin fordert er eine gewählte Ausdrucksweise und er selbst hat sich die Sprache der vornehmen Gesellschaft durch Beobachtung seines sozialen Umfelds, durch Romanlektüre und Theaterbesuche, angeeignet (vgl. Strindberg 1984a: 776f., 788). Solch einen Habitus, der sich durch eine „Distanz zur Notwendigkeit“ auszeichnet, hat Pierre Bourdieu in Die feinen Unterschiede (1982) als „distinktiven Ausdruck einer privilegierten Stellung innerhalb des Sozialraums“ gewertet. (Bourdieu 1982: 100, 104) Als Bekräftigung der Macht über den domestizierten Zwang beinhaltet der Lebensstil stets den Anspruch auf die legitime Überlegenheit denen gegenüber, die – da unfähig, in zweckfreiem Luxus und zur Schau gestellter Verschwendung ihre Verachtung der Kontingenzen geltend zu machen – von den Interessen und Nöten des Alltags beherrscht bleiben. (Bourdieu 1982: 103f.)
Nun ist Jean als Domestik und nicht als ökonomisch privilegierte Figur konzipiert. Mit seinem elitären Habitus bekundet er nicht seine materielle, sondern seine geistige Unabhängigkeit, die ihn als ‚Geistesaristokraten‘ ausweist, so die These. Genauso, wie Jean Ehrfurcht vor sich selbst besitzt, hat er auch Respekt vor seinen Feinden, eine Qualität, die Nietzsche allein den Starken zuschreibt. So heißt es in Zur Genealogie der Moral: „Seine Feinde, seine Unfälle, seine Unthaten selbst nicht lange ernst nehmen können – das ist das Zeichen starker voller Naturen […]; hier allein ist auch das möglich […] – die eigentliche ‚Liebe zu seinen Feinden‘.“ (Nietzsche 112010b: 273) Dass Jean seiner Herrin Anerkennung entgegenbringt, obwohl er sie im
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Sein hohes Selbstwertgefühl manifestiert sich auch in seinen Gesprächen mit Kristin, vgl. Strindberg 1984a: 777, 813. In dieser Arbeit wird der Habitus mit Pierre Bourdieu als eine Struktur der organischen und mentalen Dispositionen und der unbewussten Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata verstanden; zum Habitus-Begriff vgl. Bourdieu/Wacquant: 1992, bes. 115– 140; Krais/Gebauer 32010, Rehbein/Saalmann 2009.
Strindberg: Fräulein Julie
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‚Kampf der Gehirne‘ unterworfen hat, kommt etwa zum Ausdruck, wenn er sie davor warnt, ihm ihre Geheimnisse anzuvertrauen, weil er nur manchmal ihr Freund sei, oder wenn er sie für alles, was er gesagt hat, um Verzeihung bittet. Mit Respekt, aber ohne Mitleid, konstatiert er: Ich schlage keinen Entwaffneten und eine Frau schon gar nicht. Ich kann nicht leugnen, daß es mich einerseits freut, gesehn zu haben, daß es nur Katzengold war, was uns da unten geblendet hatte […] andrerseits tuts mir weh, gesehn zu haben, daß alles, wonach ich selbst strebte, nichts Höheres, Solideres war; es tut mir weh, Sie so tief gesunken zu sehen, daß Sie weit unter Ihrer Köchin stehen, es tut mir weh, wie wenn ich die Herbstblumen vom Regen zerschlagen und zu Schmutz verwandelt sehe. (Strindberg 1984a: 797)
Als ‚Geistesaristokrat‘ erweist sich Jean ferner durch seinen horizontalen Abstand zu anderen. Das wird bereits im Vorwort deutlich, in dem der Subalterne als „gefühllos genug“ beschrieben wird, um „die Ereignisse der Nacht nicht störend in seine Zukunftspläne eingreifen zu lassen.“ (Strindberg 1984a: 766) Im Theatertext zeigt sich Jeans Autonomie in seinem kontrollierten, lösungsorientierten Handeln. Während sich Julie von ihren Affekten überwältigen lässt, fordert Jean von ihr, sich zu „beherrschen“ (Strindberg 1984a: 793) und rational über die ihr möglichen Handlungsoptionen – die alleinige oder die gemeinsame Flucht – nachzudenken. So erklärt er: „Und vor allem, keine Gefühle, sonst ist alles verloren! Wir müssen die Sache kalt nehmen, wir müssen klug sein.“ (Strindberg 1984a: 793) Der Bediente verfügt zuletzt über ein ‚Pathos der Distanz‘ in Bezug auf die Zeit. Von seiner inneren Souveränität zeugt die Fähigkeit, die eigenen Erfahrungen relativ rasch verarbeiten zu können. Im Unterschied zu Julie leidet er nicht unter „seelische[n] Schmerz[en]“ (Nietzsche 112010b: 376). Er will nicht wie sie über leidvolle Kindheitserinnerungen sprechen, sondern sich ganz auf die Realisierung seiner Zukunftspläne konzentieren, für Nietzsche ein Charakteristikum des vornehmen Subjekts, erklärt er doch in Zur Genealogie der Moral: „Ein starker und wohlgerathener Mensch verdaut seine Erlebnisse (Thaten, Unthaten eingerechnet) wie er seine Mahlzeiten verdaut, selbst wenn er harte Bissen zu verschlucken hat.“ (Nietzsche 112010b: 377) Jeans nach außen gerichtetes ‚Pathos der Distanz‘ kommt in seiner geistigen Unabhängigkeit zum Ausdruck. Während Kristin ihrer Herrin bedingungslos gehorcht, wagt es Jean, ihr offen zu widersprechen. So fordert er von Julie, Kristins Schlaf zu respektieren; er hinterfragt ihre Entscheidung, „zweimal hintereinander mit demselben Kavalier zu tanzen“, und er wehrt sich dagegen, Julies „Spielkamerad zu sein, niemals werd ich das, dazu bin ich mir zu gut.“ (Strindberg 1984a: 779, 786) Uneingeschränkt unterwirft er sich ihrem Willen nur „parodistisch scherzend“ (Strindberg 1984a: 782).
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Im Gegensatz zu Julie weiß der Subalterne um die Macht der öffentlichen Meinung51 und dass jeder Bruch mit den herrschenden Moralvorstellungen und Verhaltenskonventionen mit Missachtung oder sozialer Isolation gestraft wird. Auf Julies Frage, ob er um seinen guten Ruf besorgt sei, antwortet er: „Vielleicht schon! Ich mach mich nicht gern lächerlich, ich möcht nicht gern ohne Zeugnis weggejagt werden, wenn ich mich etablieren will und ich finde auch, daß ich gewisse Verpflichtungen Kristin gegenüber hab.“ (Strindberg 1984a: 789) Allerdings beugt sich Jean nicht willenlos dem Druck der öffentlichen Meinung. Vielmehr entscheidet er sich bewusst dafür, sich angepasst zu verhalten, um seine Zukunftspläne nicht zu gefährden, so die These. Darauf verweist schon seine Einschränkung ‚vielleicht‘. Zudem zeigt der Handlungsverlauf, dass Jean entgegen seiner Aussage keine Skrupel hat, seine ‚Verpflichtungen gegenüber Kristin‘ aufzukündigen. Dass Jean wiederholt von der Macht der öffentlichen Meinung spricht, hat vor allem taktische Gründe, wie ich meine. Er sensibilisiert die Aristokratin für den sozialen Konformitätsdruck, um sie mit dem Argument, dass sie beide von den anderen Bedienten gesehen werden könnten, in seine Kammer locken und dort verführen zu können.52 Dafür spricht, dass er dem Tratsch der anderen nach dem Geschlechtsverkehr keine Bedeutung mehr zumisst. So reagiert er auf Julies Angst, Kristin und die „Leute“ könnten von ihrer Affäre wissen, mit den Worten: „Das wissen die nicht, so was könnten die sich nie denken!“ (Strindberg 1984a: 803) Dass sich der Subalterne verstellt – sich mit einer ‚Maske‘ schützt –, um Julie im ‚Kampf der Gehirne‘ zu unterwerfen, ist von der Forschung oft konstatiert worden. Viele seiner Aussagen stellen sich im Handlungsverlauf als Lügen heraus, die dazu dienen, Julie für sich einzunehmen, so etwa seine Beschreibung des Comer Sees (vgl. Strindberg 1984a: 791f. vs. 801), die Geschichte seiner unglücklichen Liebe und die Schilderung seines Selbstmordversuchs (vgl. Strindberg 1984a: 787f.). Schließlich gibt der Bediente zu: JEAN […] Das war nur Gerede! FRÄULEIN Lüge also!
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Vgl. Strindberg 1984a: 778f., 782, 783, 790. In ihrer Untersuchung vertritt Ayers die Position, dass Julie von Jean vergewaltigt wird (vgl. Ayers 1995: 56). Für diese These finden sich keine Anhaltspunkte im Text. Vielmehr ist von einem gegenseitigen erotischen Begehren auszugehen, zumal Julie im Dialog mit Jean erklärt: „Du glaubst, ich bin schwach, du glaubst, ich liebe dich, weil mein Schoß deinen Samen begehrte“ (Strindberg 1984a: 809).
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JEAN […] Oder so was Ähnliches! Ich glaub, ich hab die Geschichte in einer Zeitung gelesen […] Auf was hätt ich sonst kommen sollen, nur mit schönen Reden fängt man doch Frauenzimmer! (Strindberg 1984a: 795f.)53
Diese Verstellungskunst ist mitunter negativ – als „vulgarity“, „callousness“ und „insincerity“ – gewertet worden. (Jacobs/Törnqvist 1988: 47) Wie aus dem Essay Seelenmord (Själamord) hervorgeht, hält Strindberg die Fähigkeit, andere im ‚Kampf der Gehirne‘ täuschen zu können, allerdings für unabdingbar. So heißt es: Als der Kampf, früher Gewalt, nun zu gesetzlichen Übereinkünften wurde, mußten die Individuen ihre Absichten zu verbergen suchen; die Verstellung wurde notwendig und entwickelte sich zu einem Instinkt oder einem unbewußten Trieb. […] Aufrichtig zu sein ist das gleiche, wie sich hereinlegen zu lassen, die Waffen zu strecken, sich auf Gnade und Ungnade auszuliefern. (Strindberg 1984b: 123, 125)
Trotz seines starken Willens zur Macht gelingt es Jean am Ende des Theatertextes nicht, sich aus den ihn bestimmenden sozialen Zwängen zu befreien. Im Vorwort weist Strindberg darauf hin, dass er seine „Sklavenmentalität“ nicht vollständig überwinden könne. Seine „Ehrfurcht“ vor dem Grafen sitze „noch in ihm fest, als er die Tochter des Hauses erobert und gesehen hat, wie hohl die schöne Schale war“. (Strindberg 1984a: 767) In der Tat besitzt Jean großen Respekt vor seinem Vorgesetzten, erklärt er doch dem Fräulein: [W]issen Sie, ich hab nie jemanden getroffen, vor dem ich solchen Respekt habe – […] ich brauch nur die Glocke da oben zu hören, da fahr ich schon zusammen wie ein scheues Pferd […] Aberglauben, Vorurteile, die man uns von Kindheit an beigebracht hat – aber die kann man loswerden. (Strindberg 1984a: 792f.)
Angst und Ehrfurcht vor dem Grafen kommen vor allem im zweiten Teil der Handlung – nach der Verführung – zum Ausdruck. „[B]eklommen“ (Strindberg 1984a: 807) reagiert der Subalterne auf Kristins Nachricht, dass der Aristokrat nach Hause gekommen ist; und nachdem er seine Redingote wieder gegen die Livree getauscht hat – ein Kleidungswechsel, der zugleich den sozialen Rollenwechsel vom Herrn zurück zum Diener markiert54 –, vermag er nicht mehr souverän zu agieren. Er kann seine
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Vor diesem Hintergrund erweist sich Ayers These, dass Jean „immer bemüht“ sei, „sich korrekt zu benehmen“, und Julie „sogar vor den Folgen ihrer Beziehung“ warnt, fraglich. (Ayers 1993: 55) Seine Warnung lässt sich mit Nietzsche eher als ‚Ehrfurcht‘ vor dem Feind deuten. Den Kleidungswechsel interpretieren auch Jacobs und Törnqvist als sozialen Rollenwechsel, vgl. Jacobs/Törnqvist 1988: 67. Darauf verweist auch der Theatertext, wenn Jean erklärt: „Es ist genau so, als wenn diese Jacke hier mir verbietet – Ihnen zu befehlen“ (Strindberg 1984a: 816).
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Affekte nicht mehr kontrollieren und fühlt sich unfähig, Julie weitere Befehle zu erteilen. Diese Wendung, die durch die Rückkehr des Grafen eingeleitet wird, ist von der Forschung im Rekurs auf Strindbergs Vorwort meist als ‚Niederlage‘ des Bedienten gewertet worden. Jean glaubt, seinen Willen auch gegen Widerstände durchzusetzen zu können, aber „the action of the play proves that he is no more free than Julie“ (Jacobs/Törnqvist 1988: 89), so der Forschungskonsens. Das Ende des Theatertextes lässt aber auch noch eine andere Deutung zu. Mit Nietzsche ließe sich die These aufstellen, dass es Jean zwar nicht gelingt, sozial aufzusteigen, dass er aber schließlich in der Lage ist, seine Willensschwäche zu überwinden und seine Affekte mit Hilfe seiner Vernunft zu kontrollieren. Auf diese Weise beweist er sich als ‚Geistesaristokrat‘. Für diese These sprechen die letzten von Jean gesprochenen Sätze des Theatertextes. Hier heißt es: JEAN […] [W]as, ich glaube, die Glocke hat sich bewegt! – Nein! Sollen wir Papier hineinstopfen! – – Sich so vor einer Glocke zu fürchten! – Ja, aber das ist nicht bloß eine Glocke – da sitzt jemand dahinter – eine Hand setzt sie in Bewegung […] halten Sie sich die Ohren zu! Aber dann klingelt er nur noch mehr! […] und dann ist es zu spät! und dann kommt die Polizei – und dann… Die Glocke läutet zweimal stark. Jean fährt zusammen, dann richtet er sich auf. Es ist schrecklich! Aber es gibt kein anderes Ende! – Gehen Sie! (Strindberg 1984a: 817)
Auffällig ist zum einen, dass sich Jean nach seiner affektiven Reaktion auf das Klingeln der Glocke wieder ‚aufrichtet‘, und zum anderen, dass er Julie einen Befehl zu erteilen in der Lage ist – eine Fähigkeit, die er sich nach dem Kleidungswechsel nicht mehr zugetraut hat. Beides lässt sich als Hinweis darauf lesen, dass der Subalterne seine Souveränität am Ende zurückgewinnt.55 Der Schluss ließe sich so als „Selbst-Überwindung“ (Nietzsche 112010a: 205) im Nietzsche’schen Sinn interpretieren, für den Philosophen eine Voraussetzung, um sich weiter steigern und sich als vornehm behaupten zu können. In Jenseits von Gut und Böse erklärt er: Wir Umgekehrten, die wir uns ein Auge und ein Gewissen für die Frage aufgemacht haben, wo und wie bisher die Pflanze ‚Mensch‘ am kräftigsten in die Höhe gewachsen ist, vermeinen, dass dies jedes Mal unter den umgekehrten Bedingungen geschehn ist, dass dazu die Gefährlichkeit seiner Lage erst in’s Ungeheure wachsen […] musste (Nietzsche 112010a: 61).
Auch wenn es Jean nicht gelingt, seine Position im sozialen Raum zu verändern, handelt es sich bei ihm um einen „Steigende[n]“ (Strindberg
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Diese Position vertreten auch Jacobs und Törnqvist. Sie erklären, wenn auch nicht im Rekurs auf Nietzsche: „Jean voices an order, most markedly in the military-sounding ‚Go!‘ His fear has been transformed into will-power.“ (Jacobs/Törnqvist 1988: 110)
Strindberg: Fräulein Julie
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1984a: 767), der oder dessen Nachfahren ein neues Adelsgeschlecht begründen können. Dass es dem Subalternen nicht gelingt, sich gegenüber dem Grafen zu behaupten, ist nicht notwendig ein Zeichen fehlender Vornehmheit. Wie ausgeführt, ist der Starke für Nietzsche fast nie in der Lage, sich im ‚Kampf ums Dasein‘ durchzusetzen. Er gewinnt vor allem dann an Macht, wenn bis dato unhinterfragte Werte und Normen an Selbstverständlichkeit verlieren, in Ausnahmesituationen wie der Mittsommernacht. Sobald sich die betreffende Ordnung wieder stabilisiert – und das geschieht mit der Rückkehr des Grafen – verliert der Vornehme an Einfluss. Wie Nietzsche ist auch Strindberg davon überzeugt, dass die ‚Geistesaristokraten‘ nicht mit den Herrschenden gleichgesetzt werden dürfen. In einem Brief an Verner von Heidenstam vom 25. 5. 1888 erklärt er: „Verwechsle nicht die, die jetzt da oben sitzen, mit den Großen und Starken, und deshalb Berechtigten; und verwechsle nicht die Kleinen da unten mit den zu Unrecht Unterdrückten!“ (Strindberg 1984c: 638)56 1.2.3 Julie als Repräsentantin der ‚degnerierten‘ Aristokratie Im Unterschied zu Jean besitzt Julie kein ‚Pathos der Distanz‘. Schon zu Beginn des Handlungsverlaufs bringt der Subalterne seine Verwunderung darüber zum Ausdruck, dass die Grafentochter die Mittsommernacht lieber mit ihren Bedienten als bei Verwandten verbringen möchte. Anstatt sich selbst als ‚Mächtige zu ehren‘ (Nietzsche 112010a: 210) und die vertikale Distanz zu ihren Untergebenen zu wahren, will Julie die sozialen Unterschiede überwinden, indem sie zu „den Leuten“ buchstäblich ‚herabsteigt‘. (Strindberg 1984a: 776, 783) Darauf verweist schon die Szenerie, spielt die Handlung doch in der ebenerdigen Küche – in den Räumen der Bedienten. Dort sucht Julie den Kontakt zu ihrem Personal, während sich die Gemächer ihres Vaters „oben“ (Strindberg 1984a: 807) im ersten Stock befinden. Julies Bestreben, „jeden Rang“ (Strindberg 1984a: 779) abzulegen, manifestiert sich auch in ihrem Habitus. Im Unterschied zu Jean, der durch sein Gebaren eine ‚Distanz zum Notwendigen‘ dokumentiert, bekundet die Grafentochter einen „Geschmack am Notwendigen“ (Bourdieu 1982: 587). So zieht sie eine Flasche Bier dem Wein vor. Von Jean wird Julies fehlende vertikale Distanz kritisch beurteilt. Für ihn gibt sie zu wenig „acht auf sich und ihre Person. […] So ist es eben, wenn die Herr-
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Ähnlich äußert sich Strindberg in seiner Abhandlung Die Frauenfrage im Licht der Evolutionstheorie (Kvinnosaken enligt Evolutionsteorien, 1888), vgl. Strindberg 1984e: 611.
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schaften sich unters gemeine Volk mischen – dann werden sie gemein!“ (Strindberg 1984a: 777) Dass Julie kein ‚Pathos der Distanz‘ besitzt, manifestiert sich auch auf horizontaler Ebene, verliert sie doch mit der Verführung ihre emotionale „Unabhängigkeit“ und ihre Fähigkeit zum „Befehlen“. (Nietzsche 112010a: 58) Sie redet sich ein, den Subalternen zu lieben, um ihren Fehltritt zu legitimieren, und unterwirft sich ihm bedingungslos. So fordert sie von ihm: „Sag, daß du mich liebst, sonst – ja, was bleibt mir sonst noch?“ (Strindberg 1984a: 793)57 Im Unterschied zu Jean ist Julie nicht in der Lage, ihre Affekte zu kontrollieren und rational die ihr nach der Verführung bleibenden Handlungsoptionen zu reflektieren. Wiederholt fleht sie Jean und Kristin an, ihr einen Ausweg aus ihrer Situation aufzuzeigen.58 Wie stark sich Julie von ihren Emotionen leiten lässt, verdeutlicht vor allem der Nebentext. Hier wird darauf hingewiesen, dass Julie ihre Repliken ‚weinend‘ oder ‚in einem Krampfanfall schreiend‘ hervorbringt. (Vgl. Strindberg 1984a: 794) Auch im Hinblick auf ihren Umgang mit der Zeit besitzt Julie kein ‚Pathos der Distanz‘. Von ihrer fehlenden inneren Souveränität zeugt ihre Unfähigkeit, leidvolle Erfahrungen zügig zu verarbeiten, kann sie sich doch im Unterschied zu Jean nicht von ihrer Vergangenheit lösen. Anstatt sich auf die Realisierung ihrer Zukunftspläne zu konzentrieren, kreisen ihre Gedanken um zurückliegende Ereignisse – um ihre Verführung und ihre als traumatisch erfahrene Kindheit. Auch ein nach außen gerichtetes ‚Pathos der Distanz‘ besitzt Julie nicht, macht sie sich doch von der öffentlichen Meinung abhängig. Zu Beginn des Handlungsverlaufs demonstriert sie noch ihre Souveränität, wenn sie Jeans Warnung vor der üblen Nachrede des Gesindes mit den Worten in den Wind schlägt: „Ich habe höhere Vorstellungen von den Leuten als Sie!“ (Strindberg 1984a: 783)
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Dass sich Julie ihre Liebe nur einbildet, wird von Jean diagnostiziert (vgl. Strindberg 1984a: 797). Dafür spricht auch, dass Julie ihre Gefühle als „schreckliche Macht“ (Strindberg 1984a: 794) beschreibt, die weniger auf eine starke emotionale Bindung als auf eine körperliche Anziehungskraft hindeuten. Wie aus Strindbergs Schriften hervorgeht, war er davon überzeugt, dass sich zwischengeschlechtliche Beziehungen nicht auf romantische Gefühle, sondern auf den Geschlechtsund Herrschaftstrieb des Mannes gründen. So ist der homodiegetische Erzähler im Kampf der Gehirne davon überzeugt, dass die „reine Liebe […] von den Troubadouren in der Provence erfunden worden“ (Strindberg 1984b: 83) ist. Eine ähnliche Position vertritt Nietzsche. So heißt es in der Götzen-Dämmerung: „[M]an gründet die Ehe nicht, wie gesagt, auf die ‚Liebe‘, – man gründet sie auf den Geschlechtstrieb, auf den Eigenthumstrieb (Weib und Kind als Eigenthum), auf den Herrschafts-Trieb, der sich beständig das kleinste Gebilde der Herrschaft, die Familie organisirt, der Kinder und Erben braucht, um ein erreichtes Maass an Macht, Einfluss, Reichthum auch physiologisch festzuhalten“ (Nietzsche 102011a: 142). Vgl. Strindberg 1984a: 796, 803, 804, 810, 814, 816.
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Mit der Verführung verliert sie allerdings ihre geistige Autonomie. In dem Wissen, dass sie gegen die Wertvorstellungen und Verhaltenskonventionen ihres Standes verstoßen hat, und aus Angst vor einer daraus resultierenden sozialen Ausgrenzung kann sie sich nicht länger vorstellen, auf dem Gut ihres Vaters zu bleiben. So gibt sie Jean zu verstehen: „Glauben Sie, ich bleib hier unter diesem Dach, als Ihre Mätresse? Glauben Sie, ich will, daß die Leute mit dem Finger auf mich zeigen; meinen Sie, ich kann meinem Vater noch ins Gesicht sehn? Nein!“ (Strindberg 1984a: 794) Aufgrund ihres fehlenden ‚Pathos der Distanz‘ kann Julie trotz ihres hohen sozialen Status nicht als ‚Geistesaristokratin‘ kategorisiert werden. Im Gegensatz zu Jean fungiert sie vielmehr als Repräsentantin einer durch Vererbung und Sozialisation ‚degenerierten‘ Aristokratie, wie im Folgenden zu zeigen ist. In einem Brief an Georg Brandes vom 2. 10. 1888 äußert sich Strindberg über Nietzsche: „[I]ch finde, er ist der freieste, der modernste von uns allen (natürlich nicht zuletzt in der Frauenfrage)“.59 In ihren Schriften vertreten beide Autoren die Position, dass die Frau dem Mann aufgrund ihres ‚Geschlechtscharakters‘ unterlegen ist. Das wird von Strindberg physisch und psychisch begründet. So betont er in seinem im Mai 1888 erschienenen Zeitungsartikel Die Frauenfrage im Licht der Evolutionstheorie (Kvinnosaken enligt Evolutionsteorien), dass der vergleichsweise schmale Körperbau, die weniger ausgeprägte Muskulatur und das relativ kleine Gehirn der Frau davon zeugen, dass sie im „Kampf ums Dasein weniger gut ausgerüstet“ (Strindberg 1984e: 617) sei als der Mann. Von dem Befund ausgehend, dass es weder bekannte weibliche Künstlerinnen noch Wissenschaftlerinnen gebe, stellt er darüber hinaus die These auf, dass die Intelligenz und die Sinne der Frauen „weniger stark entwickelt“ (Strindberg 1984e: 617) seien. Die biologisch-anatomischen Ungleichheiten sind für Strindberg Zeichen für eine unterschiedliche psychische Beschaffenheit von Männern und Frauen. In seinem Beitrag vergleicht er das Einsetzen der Geschlechtsreife mit dem Beginn einer Geisteskrankheit, wenn er konstatiert: Frau sein, heißt das ganze Leben ein krankes Kind zu sein. Beim Eintritt der Menstruation etwa im zwölften Jahr macht sie eine Krise durch, die bis zum fünfundvierzigsten währt; und dann ist sie dreizehnmal im Jahr außer sich, entweder durch Blutverlust oder Fortpflanzungswut; wird sie schwanger, ist sie neun Monate dem Wahnsinn nahe; stillt sie, ist es noch schlimmer; und während der Meno-
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Vgl. Strindberg 1961: 127, hier zitiert nach der Übersetzung von Detering (2000: 92).
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pause oder dem Aufhören der Menstruation kann sie als unzurechnungsfähig gelten. (Strindberg 1984e: 627)60
Angesichts der „geistige[n] Unterlegenheit“ (Strindberg 1984e: 617) der Frau ist die Idee von der Gleichberechtigung der Geschlechter für den Autor ein Hirngespinst schwacher, ‚entarteter‘ Köpfe (vgl. Strindberg 1984a: 764f.). Sozialdarwinistisch argumentierend, vertritt er im Vorwort zu Fräulein Julie die Auffassung, dass diejenigen Subjekte, die die Gleichheit von Mann und Frau propagieren, „unbestimmte Geschlechter erzeugen, die sich mit dem Leben quälen, glücklicherweise aber untergehen“ (Strindberg 1984a: 765). Von der Idee einer evolutionären Höherentwicklung ausgehend, ist er davon überzeugt, dass sich die „Geschlechtsmerkmale“ und die „Intelligenz“ der Frau künftig in Richtung einer „voll bewußte[n]“ Mutterschaft entwickeln werden; mit Einsicht in die Obliegenschaften der Mutterschaft; eine gewissenhafte Ehefrau mit voller Kenntnis der Verantwortung für die Rasseführung des Mannes; eine kundige Familienmutter, die es von Grund auf verstünde, die erste Erziehung der Kinder anzuleiten und auch die ökonomische Führung des Haushalts zu begreifen. Dann wäre die Arbeitsteilung komplett und die Frau zum Höchsten entwickelt, was sie erreichen kann und soll. (Strindberg 1984e: 628f.)
Ähnlich wie Strindberg argumentiert Nietzsche, hält er doch wie der schwedische Autor die Idee von der Gleichberechtigung der Frau für ein „typisches Zeichen von Flachköpfigkeit“ (Nietzsche 112010a: 175)61 und ihre Gleichstellung für eine ‚Entartung‘ (vgl. Nietzsche 112010a: 176). In Jenseits von Gut und Böse erklärt er: „Indem es [das Weib, N.B.] sich dergestalt neuer Rechte bemächtigt, ‚Herr‘ zu werden trachtet und den ‚Fortschritt‘ des Weibes auf seine Fahnen und Fähnchen schreibt, vollzieht sich mit schrecklicher Deutlichkeit das Umgekehrte: das Weib geht zurück.“ (Nietzsche 112010a: 176) Die ‚Degeneration‘ der emanzipierten Frau manifestiert sich für Nietzsche in einem Verlust ihres ‚weiblichen Instinkts‘, was mit der Schwächung ihrer Willenskraft gleichzusetzen ist.62 Das hat für ihn zum einen zur Folge, dass die Frau an Reiz für den intellektuell überlegenen Mann verliert. Während sie ihn in früheren Zeiten durch „Zucht und feine listige Demuth“ nach ihrem Willen zu manipulieren wusste, kommt ihr Wunsch, dem Mann in allen Rechten gleichgestellt zu sein, einer „Entzauberung“ und damit einem Machtverlust gleich. (Nietzsche 112010a: 177, 178) Zum anderen propagiert Nietzsche ähnlich wie
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Zur Unterlegenheit der Frau vgl. auch das Vorwort zu Fräulein Julie, bes. Strindberg 1984a: 764, 767. Zu Nietzsches Kritik an der Frauenemanzipation vgl. auch Nietzsche 112010a: 170f. Vgl. Nietzsche 112010a: 178, Nietzsche 102011a: 90.
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Strindberg, dass alles ‚Entartete‘ und ‚Erkrankte‘ – und dazu zählen die auf Gleichstellung zielenden Frauen genauso wie die Subjekte, die aus einer „Kreuzung von zu fremdartigen Rassen“ oder „Ständen“ hervorgehen, – „zu Gunde gehn sollte“. (Nietzsche 112010a: 378, 82)63 Schon aufgrund ihres Geschlechts ist Julie ihrem Diener unterlegen.64 Ihre Willensschwäche wird aber vor allem auf ihre genetische Disposition zurückgeführt. Julie ist aus einer ‚Ständekreuzung‘ hervorgegangen, hat doch ihr Vater, der Graf, eine kriminelle, nicht-aristokratische Feministin – eine „Männer-Hasserin“ (Strindberg 1984a: 764) – geheiratet. Für Nietzsche und Strindberg kennzeichnet die aus solch einer Liaison hervorgehenden Kinder notwendig „Nervenschwäche und Kränklichkeit“ (Nietzsche 112010a: 138), weil sie weder ein physisches noch ein psychisches Gleichgewicht angesichts der ihnen vererbten konfligierenden Eigenschaften ausbilden können. Im Theatertext kommt das in Julies innerer Widersprüchlichkeit zum Ausdruck, etwa, wenn sie erklärt, die „Mannsleute“ (Strindberg 1984a: 800) zu hassen, sich durch ihren Geschlechtstrieb aber zugleich zu ihnen hingezogen zu fühlen – ein innerer Konflikt, den sie nicht lösen kann. Jean nennt außerdem den Kontrast zwischen ihrem aristokratischen Stolz und ihrem fehlenden Willen zur Distinktion, wenn er konstatiert: Das Fräulein ist manchmal so hochmütig, und manchmal ist sie zu wenig stolz, genau wie die Gräfin zu Lebzeiten. Der wars am wohlsten in der Küche und im Stall, aber nur einspännig ausfahren, das konnte sie nicht. Ihre Manschetten waren schmutzig, aber die Grafenkrone mußte sie auf den Knöpfen haben. (Strindberg 1984a: 777)
Für Julies ‚Degeneration‘ wird ferner ihre Erziehung verantwortlich gemacht. Jean erläutert sie, dass sie als Kind gezwungen worden ist, „Knabenkleider“ anzuziehen und „Männerarbeiten“ zu verrichten. (Strindberg 1984a: 799) In dieser Zeit hat sie auch die Einstellungen ihrer Mutter übernommen – das Verlangen nach Gleichstellung und die Ablehnung des
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Wie Nietzsche spricht sich auch Strindberg gegen die ‚Ständekreuzung‘ aus, weil sie die ‚Degeneration‘ der ‚Rasse‘ nach sich ziehe. So erklärt er in seinem Essay Die Frauenfrage im Licht der Evolutionstheorie: „Das Mädchen, das den armen Künstler nimmt, hat das Rassengefühl verloren und gibt sich kleinen selbstsüchtigen Spekulationen auf persönliches Vergnügen hin, auf welches dann die Trauer darüber folgt, hungernde Kinder zu sehen“ (Strindberg 1984e: 628); und in einem Brief an Rudolf Wall vom 10. 4. 1888 betont er: „Und wenn einer sterben soll, dann müsste es wohl im Sinne aller Gerechtigkeit derjenige sein, der es am ehesten verdient, aufgrund seines Betragens […] und seiner Verbrechen, denn es ist ein Verbrechen, die Abstammung einer race zu verderben; darum ist nur die Untreue einer Frau ein Verbrechen, weil sie solche Folgen haben kann, daß das Leben des anderen Teils sich eines Tages als auf Sand gebaut herausstellt.“ (Strindberg 1984d: 605) Das wird auch im Theatertext thematisiert, vgl. Strindberg 1984a: 814.
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männlichen Geschlechts –, zumal ihr Vater zu schwach gewesen ist, um den Erziehungsprinzipien seiner Frau etwas entgegenzusetzen. Ähnlich wie in Nietzsches Schriften wird auch im Theatertext behauptet, dass das Subjekt während seines Sozialisationsprozesses zunächst keine eigenen Standpunkte entwickelt, sondern die Meinungen seines sozialen Umfelds übernimmt. Das manifestiert sich etwa in Julies Beziehung zu ihrem Verlobten, dem sie sich nicht unterwerfen will, hat sie doch ihrer Mutter geschworen, „niemals die Sklavin eines Mannes zu werden“ (Strindberg 1984a: 800). Um das zu dokumentieren, hat sie mit ihm hinter dem Stall ‚trainiert‘, wie Jean Kristin berichtet: „Und weißt du wie? Über die Reitgerte ließ sie ihn springen, wie ’nen Hund.“ (Strindberg 1984a: 776) Wie das Trauerspiel deutlich macht, unterliegt Julie im ‚Kampf der Gehirne‘, weil sie kein ‚Pathos der Distanz‘ besitzt und ihren ‚weiblichen Instinkt‘ aufgrund von Vererbung und Erziehung verloren hat. Durch ihre Niederlage muss sie feststellen, dass sich Macht nicht, wie von ihr angenommen, auf „Tradition und Konvention“ gründet, sondern „eine dynamische und oszillierende Größe“ ist, die in jeder personalen Interaktion neu gefestigt werden muss. (Hoff 2003: 120) Zudem muss sie realisieren, dass es sich bei all ihren vermeintlichen Gewissheiten um fiktionale Entwürfe von der Realität handelt, die in der Konfrontation mit der Lebenswirklichkeit keinen Bestand haben, so etwa ihre Idee von der eigenen Souveränität oder die von der anthropologischen Gleichheit des Subjekts. Vor diesem Hintergrund kommt Jeans Sieg einem ‚Seelenmord‘ gleich, auch wenn der Subalterne mit Richard Gilman weniger „as Julie’s executioner“, sondern als „agency of her self-knowledge“ gewertet werden muss. (Gilman 1999: 103) Von ihrem psychischen Tod zeugt zum einen der Nebentext, in dem Julie mehrmals als „vernichtet“ (Strindberg 1984a: 796, 812) bezeichnet wird, und zum anderen ihre körperliche und geistige Erschöpfung, die als Todessehnsucht zu interpretieren ist. Wiederholt spricht die Aristokratin davon, (lebens)müde zu sein und weder „denken“ noch „handeln“ zu können. (Strindberg 1984a: 804)65 Explizit thematisiert sie ihren Todeswunsch, wenn sie mit Jean verreisen will, „so lange man genießen kann, und dann – sterben“ (Strindberg 1984a: 801), oder wenn sie von ihm verlangt, sie zu töten (vgl. Strindberg 1984a: 809). Über ihr eigenes Ende hinaus sehnt sie sich nach dem Tod ihres ganzen Geschlechts, wünscht sie sich doch, dass der Graf von den Ereignissen der letzten Nacht erfahren und infolgedessen an einem Herzschlag ster-
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Vgl. u. a. Strindberg 1984a: 798, 804, 815f. Ähnlich argumentiert Bellquist, wenn er anmerkt, dass Julies Müdigkeit nicht nur der durchzechten Nacht geschuldet, sondern existentiell ist (vgl. Bellquist 1988: 6).
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ben möge. Julie imaginiert: „Und dann ist es aus mit uns – und dann kommt Friede – Stille – ewige Ruhe! – und dann wird das Wappen am Sarg zerschlagen – das Grafengeschlecht ist erloschen“ (Strindberg 1984a: 810). Es sei darauf hingewiesen, dass der Grafentochter schon vor ihrer psychischen Vernichtung durch Jean ein „schwächliche[r] Wille zum Leben“ (Strindberg 1966b: 108) attribuiert werden kann. Davon zeugt ihr Traum, der ihr manchmal kommt. Da sitze ich hoch oben auf einer Säule und sehe keine Möglichkeit, hinunterzukommen; mir schwindelt, wenn ich hinunterblicke, und hinunter muß ich, aber ich habe nicht den Mut, mich fallenzulassen, ich kann mich nicht festhalten und ich möchte so gern fallen, aber ich falle nicht; und doch habe ich keine Ruhe, ehe ich nach unten komme, keinen Frieden, ehe ich nach unten komme, nach unten auf den Boden; und wäre ich unten auf dem Boden, dann wollte ich hinunter in die Erde (Strindberg 1984a: 784).
Dieser Traum ist von der Forschung verschiedentlich gedeutet worden: als Julies Wunsch oder Angst, einer erotischen Versuchung nachzugeben und mit dieser Unterwerfung unter den Mann ihrer ‚natürlichen‘ Bestimmung als Frau zu folgen; als unbewusstes Verlangen, die bestehenden Standesunterschiede zu überwinden; als Furcht davor, „Stellung, Ruf oder Ansehen zu verlieren“ (Karnick 1980: 118); außerdem als Todeswunsch, will Julie doch ‚hinunter in die Erde‘ gelangen.66 Alle diese Interpretationen lassen sich angesichts der Deutungsoffenheit dieser Textpassage plausibilisieren. In jedem Fall attribuiert Strindberg seiner Titelfigur auch in einem Brief an Georg Brandes vom 4. 12. 1888 eine „Unlust zu leben“ (Strindberg 1966b: 108), für Nietzsche häufig die Folge einer ‚Rassenoder Ständekreuzung‘ (vgl. Nietzsche 112010b: 378f.). Julies psychischer Vernichtung folgt ihr physischer Tod. Aus Jeans Perspektive ist kein anderer Ausweg denkbar. Zum einen ist er davon überzeugt, dass Julie als ‚degenerierte‘ Aristokratin und gefallene Frau keine Handlungsalternative besitzt (vgl. Strindberg 1984a: 814). Abhängig von der öffentlichen Meinung und unfähig zur Selbstüberwindung kann sie nicht auf dem väterlichen Gut bleiben. Zum anderen fürchtet er, dass der Graf ihn für die Verführung verantwortlich machen und der Polizei ausliefern könnte (vgl. Strindberg 1984a: 817). Um seine Zukunftspläne realisieren zu können, muss Julie als ‚entartetes‘ und willensschwächeres Subjekt sterben.67 Jeans Perspektive wird von Julie im Handlungsverlauf
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Vgl. u. a. Jacobs 1998: 108, Jacobs/Törnqvist 1988: 89, Karnick 1980: 118, Parker 1998: 102, Steene 1982: 86. Diese Position teilt Strindberg mit seinem Protagonisten, konstatiert er doch im Vorwort zu Fräulein Julie: „Daß mein Trauerspiel auf viele einen traurigen Eindruck macht, ist der
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übernommen. Mit seinem Rasiermesser geht sie von der Bühne, um sich umzubringen. Dennoch ist sie nicht als ausschließlich passives, dem Subalternen ausgeliefertes Medium zu kategorisieren. Schließlich ist sie es, die ihren Selbstmord als letzte ihr verbleibende Handlungsoption zuerst thematisiert, wenn sie Jeans Rasiermesser nimmt, mit einer Geste ihre Tötung andeutet und ihn fragt, ob er diese Tat für den einzigen ihr möglichen Ausweg hält (vgl. Strindberg 1984a: 814). Zudem ermutigt sie den an seiner Willensstärke vorübergehend zweifelnden Jean mehrfach, ihr Befehle zu geben bzw. sie zu hypnotisieren. Trotz seiner Suggestionen agiert Julie aber nicht in Trance, wird doch im Nebentext darauf hingewiesen, dass sie „wach“ und „entschlossen zur Tür hinaus“ geht. (Strindberg 1984a: 816f.)68 Auf diese Weise wird deutlich, dass Julie ihre Willensschwäche und die daraus resultierenden Konsequenzen akzeptiert. Sie entscheidet sich bewusst dafür, ihrem Dasein ein Ende zu bereiten, anstatt sich wie die ‚Menschen des Ressentiments‘ selbst zu betrügen und die eigene Schwäche zur Stärke umzudeuten. Dafür spricht auch ihr Monolog am Ende des Handlungsverlaufs. Hier fragt sie sich: Wer ist denn schuld an allem? Mein Vater, meine Mutter – oder ist es meine eigene Schuld? Aber was hab ich denn Eigenes? […] Ich hab nicht einmal einen Gedanken, den ich nicht von meinem Vater habe, und nicht eine Leidenschaft, die ich nicht von meiner Mutter habe, und dann dies – daß alle Menschen gleich sind – das habe ich von ihm, meinem Verlobten […] Wie kann etwas meine eigene Schuld sein? Die Schuld auf Jesus abzuschieben, wie es Kristin tut – nein, dazu bin ich zu stolz, und zu klug – und das verdank ich wieder meinem Vater – […]
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Fehler dieser vielen. Wenn wir stark werden wie die ersten französischen Revolutionäre, wird es einen unbedingt guten und heiteren Eindruck machen, der Läuterung der Forste von morschen überalterten Bäumen zuzusehen, die anderen mit dem gleichen Recht, ihre Zeit zu wachsen, zu lange im Wege gestanden haben, einen guten Eindruck, wie wenn man sieht, daß ein unheilbar Kranker sterben darf!“ (Strindberg 1984a: 761) Zur einer ähnlichen Deutung gelangt Thomas Fechner-Smarsly, wenn auch aus einer wissenschaftsgeschichtlichen Perspektive. Er deutet den ‚Ofen‘, den Julie vor ihrem inneren Auge sieht, wenn sie Jean auffordert, sie zu hypnotisieren, als eine Laterna Magica: „[T]atsächlich sahen nicht wenige, vor allem kleinere für den Gebrauch im Salon einem gewöhnlichen Kohleofen ähnlich, waren ihm sogar bewußt nachgebildet. Julies rätselhafte Assoziation eines Mannes in Schwarz mit einem Ofen löst sich also unerwartet auf: Es ist die Assoziation eines Apparates zur Projektion, eines Apparates also von äußerst suggestiver Wirkung!“ (Fechner-Smarsly 2003: 198) Davon ausgehend stellt Fechner-Smarsly die These auf, dass Julie nicht als Medium agiert, sondern die Rolle des Hypnotiseurs auf Jean projiziert. Die Auffassung, dass „Julies Hypnosezustand zum Schluß vollständig aufgehoben wird“ (Törnqvist 1980: 144), vertritt auch Törnqvist. Er ist allerdings davon überzeugt, dass weder Jean noch Julie am Ende entschlossen handeln und dass „die eigentliche Willenskraft in eine dritte, außerhalb der Bühne befindliche Instanz – den Grafen – verlegt wird.“ (Törnqvist 1980: 140)
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Wer hat die Schuld? – Und was geht es uns an, wer Schuld hat; ich bin es doch, der die Schuld tragen muß, die Folgen tragen muß! (Strindberg 1984a: 815)
Wie aus dieser Textpassage hervorgeht, realisiert Julie, dass sie für ihre ‚Degeneration‘ nicht verantwortlich ist, sind doch all ihre Gedanken und Affekte Resultat ihrer genetischen und mentalen Disposition sowie ihrer Sozialisation. Vor diesem Hintergrund kann das Trauerspiel nicht als Tragödie im aristotelischen Sinne definiert werden, wonach die tragische Schuld auf die hamartia des Protagonisten zurückzuführen ist.69 Julies Entscheidung, für das Fehlverhalten ihrer Eltern die Verantwortung zu übernehmen, liegt allerdings in ihrer subjektiven Macht. Dadurch, dass sie ihre Willensschwäche anerkennt, beweist sie eine innere Größe, durch die sich laut Strindberg und Nietzsche nur die Vornehmen auszeichnen und durch die sie im Unterschied zu Kristin zur tragischen Heldin des Theatertextes werden kann. Da Strindberg Julie aber nicht als ‚Geistesaristokratin‘, sondern als ‚degenerierte‘ Adlige zeigt, muss sie sich trotz ihrer Vornehmheit als willensschwach erweisen. Sie will ihrem Leben ein Ende bereiten, besitzt aber nicht die Kraft, ihre Entscheidung in die Tat umzusetzen. So muss sie Jean bitten: „Helfen Sie mir! Befehlen Sie mir, und ich werde gehorchen, wie ein Hund! Tun Sie mir den letzten Dienst, retten Sie meine Ehre, retten Sie seinen Namen! Sie wissen, was ich wollen müßte, aber nicht will, wollen Sie es, befehlen Sie mir, es zu tun!“ (Strindberg 1984a: 816)
1.3 Zur Darstellungsebene: Strindbergs Überwindung des Naturalismus Wie ausgeführt, interessiert sich Strindberg weniger für die möglichst objektive Abbildung der empirischen Realität als für die wahrheitsgetreue Darstellung psychischer Konflikte – für einen ‚Kampf der Gehirne‘, der mit der Unterwerfung der Herrin durch ihren Diener endet. Das manifestiert sich nicht nur auf der Handlungs-, sondern auch auf der Darstellungsebene und zwar in der Überwindung des Naturalismus. Diese These soll im Folgenden verifiziert werden. Strindbergs Trauerspiel gilt als avantgardistisches, nämlich als ‚erstes naturalistisches Trauerspiel der schwedischen Sprache‘ (vgl. Strindberg
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Die hamartia (Schuld) wird in dieser Arbeit mit Hellmut Flashar als „charakterbedingte[r], sittlich relevante[r] Denkfehler“ verstanden, „wobei der Ursprung des Falschen in der betreffenden Person selber liegt, die die fehlerhafte Handlung zu verantworten hat, wenn auch kein Vorsatz und keine Böswilligkeit vorliegen.“ (Flashar 1997: 56)
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1966b: 107) – so jedenfalls betitelt es Strindberg in einem Brief an Bonnier und dieser Selbstbeschreibung hat sich die Forschung oft angeschlossen. Wie aus dem Essay Über modernes Drama und Theater (Om modern drama och modern teater, 1889) hervorgeht, zielt Strindberg aber nicht auf die exakte Wiedergabe der Wirklichkeit, erklärt er doch: Das ist Photographie, die alles festhält, sogar das Staubkorn auf dem Objektiv; das ist Realismus, eine zur Kunstart erhobene Arbeitsmethode, oder die Kleinkunst, die den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht; dies ist der mißverstandene Naturalismus, der glaubt, die Kunst bestände nur aus der Kopie der Natur. Aber es ist nicht der große Naturalismus, der sich auf jene Stätten konzentriert, wo die großen Schlachten stattfinden, und das bevorzugt, was man nicht jeden Tag sieht; der sich an dem Kampf der Naturmächte erfreut, ganz gleich, ob an heißer Liebe oder glühendem Haß, an Rebellengeist oder Sozialinstinkt, an schön oder häßlich – wenn es nur groß ist! (Strindberg 1966a: 45)
Als Naturalist begreift sich Strindberg vor allem deshalb, weil er Subjekte in psychischen Extremsituationen ungeschönt und in diesem Sinne wahrheitsgetreu zur Darstellung bringen will.70 Wie aus seinem Vorwort zu Fräulein Julie hervorgeht, hat er das dramatische Personal aus diesem Grund auf drei Figuren reduziert (vgl. Strindberg 1984a: 768). Sein Interesse für die inneren Konflikte des Individuums teilt er mit Nietzsche, fordert dieser doch in Jenseits von Gut und Böse, dass die Psychologie „wieder als Herrin der Wissenschaften anerkannt“ (Nietzsche 112010a: 39) werden solle. Dieser Paradigmenwechsel – die Abwendung von der ‚photographischen‘ Abbildung der empirischen Realität zugunsten der von Diskontinuitätserfahrungen bestimmten (Innen-)Welt des Subjekts – führt zu einer ‚Überwindung des Naturalismus‘, wie sie Hermann Bahr 1891 in seiner gleichnamigen Aufsatzsammlung propagieren wird. Gleichwohl bleibt das Trauerspiel in vielerlei Hinsicht dem Naturalismus verpflichtet. Auf thematischer Ebene zeigt sich die Überwindung des Naturalismus in dem Bruch mit der sozialdarwinistischen Vorstellung von der grundsätzlichen Überlegenheit der Starken. Schon im Vorwort zu Fräulein Julie erklärt Strindberg, dass das Leben „nicht so mathematisch-idiotisch“ sei, „daß nur die Großen die Kleinen fressen“. Es komme ebenso oft vor, „daß die Biene den Löwen tötet oder ihn zumindest verrückt macht.“ (Strindberg
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Auch im Vorwort zu Fräulein Julie macht Strindberg deutlich, dass er nicht das Soziale, sondern die psychische Verfassung des Subjekts in den Blick nehmen will. Hier erklärt er, erkannt zu haben, dass „der psychologische Verlauf das ist, was am meisten interessiert, und unsere wißbegierigen Seelen begnügen sich nicht damit, etwas vorsichgehen zu sehen, sondern zu erfahren, wie es zugeht! Wir wollen gerade die Fäden sehen, die Maschinerie sehen, die doppelbödige Schachtel untersuchen, den Zauberring anfassen, um die Naht zu finden, in die Karten gucken, um zu entdecken, wie sie gekennzeichnet sind.“ (Strindberg 1984a: 768)
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1984a: 761) Im Theatertext thematisiert er den Sieg der Schwachen über die Vornehmen, wenn er Kristin die Flucht der beiden Protagonisten verhindern lässt (vgl. 1.2.1). Wie ausgeführt, teilt Strindberg diese Position mit Nietzsche, der sich etwa in Götzen-Dämmerung dezidiert gegen Darwins Evolutionstheorie wendet. Hier heißt es: Anti-Darwin. – Was den berühmten [‚]Kampf um’s Leben‘ betrifft, so scheint er mir einstweilen mehr behauptet als bewiesen. […] der Gesammt-Aspekt des Lebens ist nicht die Nothlage […] – wo gekämpft wird, kämpft man um Macht […] Gesetzt aber, es giebt diesen Kampf […] so läuft er leider umgekehrt aus als die Schule Darwin’s wünscht […]: nämlich zu Ungunsten der Starken, der Bevorrechtigten, der glücklichen Ausnahmen. Die Gattungen wachsen nicht in der Vollkommenheit: die Schwachen werden immer wieder über die Starken Herr (Nietzsche 102011a: 120).
Im Unterschied zu den meisten naturalistischen Texten gewährt Strindberg seinen Protagonisten ferner einen – wenn auch sehr geringen – Entscheidungsfreiraum. Zwar führt Strindberg Julies Niederlage im ‚Kampf der Gehirne‘ deterministisch auf ihr Geschlecht, ihre genetische Disposition und ihre Sozialisation zurück. Wie die Textanalyse zeigt, ist sie aber kein bloßes Medium, durch das der als Hypnotiseur fungierende Domestik seine Entscheidungen realisieren kann. Sie besitzt die Freiheit, ihre ‚Entartung‘ (vgl. Nietzsche 112010a: 176) anzuerkennen und die „Folgen [zu] tragen“ (Strindberg 1984a: 815), genauer: ihren Tod zu akzeptieren, auch wenn sie zu willensschwach ist, um sich selbst befehlen und umbringen zu können. Ihr Scheitern kann daher mit Strindberg als tragisch bezeichnet werden. Im Vorwort erklärt er mit Blick auf die Figur: Der Typ ist tragisch, das Schauspiel eines verzweifelten Kampfes gegen die Natur bietend, tragisch als ein romantisches Erbe, das jetzt vom Naturalismus, der nur Glück will, vergeudet wird; und Glück setzt starke und gute Arten voraus. (Strindberg 1984a: 765)
In der naturalistischen Dramatik wird das Tragische, verstanden als „unausweichliche Kollision zwischen Freiheit und Notwendigkeit“, in dem Maße obsolet, in dem „das handelnde Subjekt zum Objekt des Milieus wird“ und keine Handlungs- und Entscheidungsfreiheiten mehr besitzt. „Es vollzieht sich der Abbau des Erhabenen zugunsten des Alltäglichen, der ‚geistigen‘ Auseinandersetzungen und Ideale zugunsten der ‚ungeistigen‘ sozialen Determination des Menschen“. (Meyer 2000: 66) Im Unterschied dazu besitzt Julie eine (wenn auch äußerst begrenzte) Entscheidungsmöglichkeit, die sie nach ihrer Anagnorisis – ausgelöst durch ihre Niederlage im ‚Kampf der Gehirne‘ – reflektiert. Wie ausgeführt, bejaht Strindberg den Tod seiner Protagonistin. Auch das unterscheidet ihn von den meisten naturalistischen Autoren. Bei dem durch „außerpersonale Faktoren“ (Mahal 1975: 127) in den Selbstmord getriebenen Subjekt handelt es sich um ein häufiges Motiv in der naturalis-
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tischen Literatur. Während der Freitod hier aber „meist einen eindeutig pessimistischen Zug“ (Muzelle 31992: 656) erhält und zum „Prüfstein sozialen Gewissens und mitmenschlicher Verantwortung“ wird, besitzt Strindberg keine „emotionale Solidarität“ mit den Schwachen. (Mahal 1975: 136) Vielmehr plädiert er mit Nietzsche für die Herrschaft der Starken.71 Vor diesem Hintergrund betont er im Vorwort zu Fräulein Julie: „Daß die Heldin Mitleid erregt, beruht nur auf unserer Schwäche, dem Gefühl nicht widerstehen zu können, dasselbe Schicksal könnte uns widerfahren.“ (Strindberg 1984a: 760) Auch auf literarästhetischer Ebene lassen sich Elemente finden, die auf eine Überwindung des Naturalismus hindeuten. Das ist Strindbergs Interesse an der Darstellung psychischer Konfliktsituationen geschuldet. Hier sei erstens die Figurenkonzeption angeführt. Wie für das naturalistische Drama üblich, stehen im Zentrum nicht die außergewöhnlichen Taten außerordentlicher dramatis personae, sondern die (existentiellen) inneren Konflikte von Herrin und Knecht. Während den Bedientenfiguren im Trauerspiel des 18. und 19. Jahrhunderts in der Regel nur eine untergeordnete Bedeutung zukommt, wird der Domestik bei Strindberg zur zentralen Figur. „Er kann jetzt – ‚demokratisch‘ ein Mensch wie die Komtesse – gleiche Aufmerksamkeit beanspruchen, ist nicht mehr beschränkt auf die Rolle der komischen Figur oder des Boten, der die Meldung von den gesattelten Pferden überbringt.“ (Mahal 1975: 77) Die Entscheidung, eine sozial niedrig gestellte Figur zum Protagonisten zu erheben, resultiert bei den Naturalisten aus dem Bestreben, das Alltägliche, von der literarischen Tradition als das Hässliche und Niedere verworfene, zum Gegenstand zu machen. Das lässt sich auf ihre entschiedene Opposition gegen die „konventionell-arkadische[n] Literaturkonzepte“ und auf ihr „zeitweise für dominant erklärte[s] Sozialengagement“ zurückführen. (Mahal 1975:
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Im Unterschied zu den meisten Naturalisten besitzt Strindberg keine Sympathie für die Sozialdemokratie oder den Sozialismus. Das kommt nicht nur in seinem Theatertext, sondern auch in seinen Briefen zum Ausdruck, die er 1888 – in der Entstehungszeit von Fräulein Julie – verfasst hat. So schreibt er etwa am 17. 3. 1888 an Hjalmar Branting: „Mein Programm ist am ehesten das des Anarchisten […]. Und mit dem Sozialismus, einer Doktrin, einer idealistischen Philosophie, Ausläufer der Romantik und Unterströmungen des Rationalismus, habe ich gebrochen, da der Sozialismus eine neue Gesellschaftsordnung ‚zurichten‘, also die Freiheit einschränken will, während der Anarchismus, Konsequenz der Evolutionslehren, ausschließlich negativ wirken, Neuland roden, den Weg räumen will, damit das Stärkste und Intelligenteste die Freiheit hat, frei zu ‚wachsen‘. Die gegenwärtige Gesellschaft ist eine Sozialistengesellschaft, wo leider die Schwächsten, unter dem Schutz des Christentums für die Kleinen, nach ganz oben gekommen sind, und deshalb zur rohen Gewalt als letzter Wehr greifen mußten, in Gestalt der Armeen.“ (Strindberg 1984d: 595) Vgl. außerdem den Brief an Verner von Heidenstam vom 25. 5. 1888 in Strindberg 1984c: 638f.
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126) Auch Strindberg grenzt sich mit seinem als ‚modern‘ deklarierten Theatertext von der traditionellen Ästhetik ab. Im Vorwort zu Fräulein Julie kritisiert er aber auch all die zeitgenössischen (naturalistischen) Dramatiker, die ihre Theatertexte in den Dienst politischer Interessen stellen, und betont, selbst einen Stoff gewählt zu haben, der „außerhalb der Parteienkämpfe des Tages“ (Strindberg 1984a: 760) liegt. Seine Figuren konzipiert er daher nicht als Vertreter bestimmter sozialer Stände, die in ihrem Milieu vorgeführt werden, sondern als Ideenträger – als Repräsentanten der Herren- und Sklavenmoral sowie der ‚degenerierten‘ Aristokratie. Davon zeugt auch die Figurensprache. Strindberg charakterisiert seine Protagonisten nicht durch eine milieuspezifische Diktion. Auch wenn die Umgangssprache vorherrscht, spricht – zumindest Jean – nicht die Sprache seiner sozialen Schicht. Darauf verweist Strindberg auch in einem Brief an Edvard Brandes vom 4. 10. 1888, in dem er erklärt: „Keine menschl[ichen] Charaktere: alle reden gleich, wie Trunkenbolde!“ 72 Zweitens verweist die symbolische Überhöhung von Dekoration, Requisiten und Figuren auf eine Abwendung von der naturalistischen Ästhetik. Zunächst scheint der Theatertext aufgrund der ausführlichen, detaillierten Beschreibungen der Szenerie als naturalistisch kategorisiert werden zu können. Im Nebentext kontrastiert Strindberg die Arbeitswelt der Bedienten, die große Küche und ihre Ausstattung […] mit den Standesattributen der Herrenschicht außerhalb – Springbrunnen mit Amorette, Pyramidenpappeln –, stellt beide Bereiche durch das Requisit des Sprachrohrs in die Relation von oben und unten – oben die Herren, welche befehlen, unten die Bedienten, welche gehorchen – und bereitet mit dem Birken-, Wacholder- und Fliederschmuck die Atmosphäre der Mittsommernacht vor, in der diese Schranken für kurze Zeit scheinbar durchlässig werden. (Karnick 1980: 110)
Die vertikale Anordnung der verschiedenen sozialen Bereiche deutet aber bereits an, dass Strindberg nicht (nur) daran interessiert ist, die Erfahrungswirklichkeit möglichst objektiv abzubilden. Vielmehr bekommen einzelne Elemente der Dekoration und die Requisiten eine symbolische Bedeutung. So ist der Springbrunnen mit Amorette nicht nur Zeichen der aristokratischen Sphäre, er verweist auch auf die bevorstehenden Ereignisse, die Liebesnacht der beiden Protagonisten. Das Gleiche gilt für die Pyramidenpappeln, die als beliebte Alleebäume herrschaftlicher Schlossanlagen fungieren, aber auch als Symbole des Todes gedeutet werden können (vgl. Hattori 2008: 267f.). Der Flieder dient als festlicher Schmuck für die Mittsommernacht – einem alten heidnischen Fruchtbarkeitsfest – und ist zugleich Zeichen rauschhaft-erotischen Begehrens (vgl. Mergenthaler
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Vgl. Strindberg 1961: 130, hier zitiert nach der Übersetzung von Detering 2000: 93.
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2008: 106).73 Sprachrohr und Reitstiefel stehen metonymisch für den Grafen, der als Figur nie in Erscheinung tritt und der als abstrakte, körperlose Macht die „symbolische Ordnung der dargestellten Welt“ (Detering 2000: 91) repräsentiert. Julies Tiere – die vom Mops des Pförtners trächtige Hündin Diana und der von Jean ermordete Zeisig – antizipieren ihre Verführung und ihren Tod in der finalen Szene.74 Zugleich fungiert der Vogel im Käfig als „symbol of Miss Julie’s own social and psychic imprisonment“ (Parker 1998: 98). John Eric Bellquist und Brian Parker stellen darüber hinaus die These auf, dass die Figur der Julie als Salomé-Figur zu lesen ist, die in der Literatur und der Bildenden Kunst des Fin de siècle als Archetyp der femme fatale vielfach gestaltet worden ist (vgl. Bellquist 1988, Parker 1998).75 Dafür spricht laut Parker, dass die Handlung in der Mittsommernacht – am Gedenktag Johannes des Täufers – spielt. Weitere Bezüge zur Salomé-Legende sieht er in dem destruktiven Einfluss der Mutter auf Julie, in ihrem orgiastischen Tanz, ihrer erotischen Anziehungskraft sowie ihrer barbarischen Phantasie, das ganze männliche Geschlecht und insbesondere Jean vernichten zu wollen. Dadurch sei das Trauerspiel „as much Symbolist as Naturalistic, and clearly it is a play very much of the Decadent period“ (Parker 1998: 105). Dem Naturalismus ist Strindberg vor allem im Hinblick auf die Wirkungsästhetik verpflichtet. An der Illusionsbühne festhaltend, zielt er darauf, mit seinem Bühnenstück eine zweite Wirklichkeit […] zu erzeugen, […] die nicht mehr distanziert und rasch transitorisch als ‚Theater‘ konsumiert werden kann; die vielmehr den Alltag, aus dem die Theaterbesucher kommen, bewußt prolongiert, sie also nicht in ein amü-
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Dem Flieder attribuiert Strindberg im Vorwort zu Fräulein Julie eine ‚starke, aphrodisierende Wirkung‘ (vgl. Strindberg 1984a: 762). Er dient als Mittel der Verführung. So bittet Julie den Domestiken, ihr im Garten etwas Flieder zu pflücken – ein Vorwand, um mit ihm allein sein zu können; und Jean bricht im Handlungsverlauf „eine Fliederblüte ab und hält sie dem Fräulein unter die Nase“ (Strindberg 1984a: 787), um sie verführbar zu machen. Wie Marschall deutlich gemacht hat, gibt es kaum ein Drama Strindbergs, in dem Gerüche keine „narkotisierende Wirkung“ besitzen und „Einfluß auf bestimmte Handlungsweisen und Ereignisse nehmen.“ (Marschall 2000: 105) Im Unterschied dazu wertet Parker den Flieder als „an image that is also traditionally connected with the attractiveness and fragility of woman, which the Decadents saw as ‚fleurs du mal‘.“ (Parker 1998: 100) Dass die Tiere auf Julies physische und psychische Verfassung verweisen, ist eine Communis Opinio der Strindberg-Forschung, vgl. u. a. Ayers 1995: 54, Dieckmann 1982: 14, Jacobs 1998: 108, Lamm 1971: 215, Parker 1998: 98, Sprinchorn 1966: 21. Dieckmann vertritt darüber hinaus die These, dass durch Julies Hund „das Diana-Motiv angeschlagen [wird], das die Geschichte invers variiert: Die unnahbare Jungfrau vernichtet nicht, die ihr zu nahe treten, sondern sie wird in einem Moment der Schwäche nahbar und geht daran zugrunde.“ (Dieckmann 1982: 14) Zur femme fatale und zur Salomé-Legende im Fin de siècle vgl. u. a. Hilmes 1990: 105f.
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santes Spektakel entführt, sondern sie konfrontiert mit ihrer eigenen Welt, ihrer eigenen Zeit, ihren eigenen Problemen. (Mahal 1975: 79)
Aus diesem Grund will er alle illusionsstörenden Elemente eliminieren.76 In diesem Zusammenhang ist seine Entscheidung für die dramatische Form des Einakters zu verstehen. Um die Illusion zu erzeugen, dass der Zuschauer auf dem Theater mit „realen Vorgängen und realen Menschen“ (Mahal 1975: 74) konfrontiert wird, bedarf es der Konzentration der Handlung auf ein „bedeutungsvolle[s] Motiv“ (Strindberg 1966a: 52), der Wahrung der drei Einheiten und der Reduktion der dramatis personae auf wenige wichtige Figuren. Die ungebrochene Aufmerksamkeit der Zuschauer soll durch die Aufgabe der Einteilung des Theatertextes in Akte erreicht werden. Auf diese Weise wird die Handlung nicht durch Pausen gestört, in denen der Zuschauer „Zeit hat zum Reflektieren“ (Strindberg 1984a: 769). Zudem ist die Spieldauer auf neunzig Minuten zu verkürzen, damit einer Ermüdung des Publikums während der Vorstellung vorgebeugt werden kann. Wie Peter Szondi betont, ist im Einakter nicht die Handlung im aristotelischen Sinne, sondern die Situation, in die die Figuren hineingeraten, von Bedeutung (vgl. Szondi 1963: 92). Das ist für das naturalistische Drama von Vorteil, weil es zur Statik neigt, wird doch die Gegenwart der Figuren von zurückliegenden Ereignissen bestimmt. Die naturalistische Dramen-Gegenwart stellt sich dar als komprimierte Vergangenheit, als Summe des Gewesenen, das nicht abgetan werden kann, sondern fortwirkt und bestimmend bleibt. […] Daß die Weichen – streng kausalistisch, deterministisch – längst gestellt sind, läßt sich zwar […] verdrängen, doch die ‚Stunde der Wahrheit‘ bleibt nur aufgeschoben, schlägt dann, wenn das ‚volle Faß‘ durch ‚einen‘ hinzukommenden ‚Tropfen‘ zum ‚Überlaufen‘ gebracht: wenn die vergangenheitsgefüllte Situation der Gegenwart mit ihren Determinanten gezwungen wird. (Mahal 1975: 107)
Die Handlung des Einakters setzt genau in solch einer „Grenzsituation, als Situation vor der Katastrophe“, ein, die „im folgenden nicht mehr abgewendet werden kann“. (Szondi 1963: 92) Das Geschehen wird durch die Mittsommernacht – die „festliche Stimmung“ und die „Abwesenheit des Vaters“ – in Gang gesetzt. (Strindberg 1984a: 762) Auf diese Weise kann einer Episierung entgegengewirkt und ein gewisses Maß an Spannung erzeugt werden. Dass Strindberg das Drama von Ereignissen bestimmt sehen will, manifestiert sich in einem Brief an Edvard Brandes vom 4. 10. 1888. Hier heißt es: „Nietzche [sic] glaubt, wie ich, nicht an Handlung im Drama! Nur Geschehnisse! Das ist recht! Δραω = auf do-
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Diese Position teilt u. a. Törnqvist 1985: 176.
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risch nicht handeln! Geschehen, nicht handeln! Δραµα = Ereigniss!“77 Ähnlich argumentiert Strindberg in seinem Essay Über modernes Drama und Theater, in dem er erklärt: Das Wort ‚Drama‘ soll im Altgriechischen ‚Geschehnis, Ereignis‘ bedeutet haben, nicht etwa ‚Handlung‘ oder was wir bewußte Intrige nennen. Das Leben läuft nämlich durchaus nicht so regelmäßig ab wie ein konstruiertes Drama, und bewußte Intriganten finden äußerst selten Gelegenheit, ihre Pläne im einzelnen auszuführen. Wir haben deshalb den Glauben an diese hinterhältigen Ränkeschmiede verloren (Strindberg 1966a: 52).
Wie die Textpassage deutlich macht, lehnt Strindberg das klassizistische Drama zum einen aufgrund seiner Artifizialität ab, soll sich das Bühnengeschehen doch durch eine möglichst große Realitätsnähe auszeichnen. Zum anderen erteilt er der Vorstellung von einem autonomen Subjekt eine Absage – eine Position, die sich auch auf der Handlungsebene des Trauerspiels manifestiert. Mit seiner Entscheidung für die dramatische Form des Einakters vollzieht er eine „radikale anti-aristotelische Wende: nicht mehr ‚ich handle‘, sondern nun: ‚es geschieht‘ (mir, an mir, durch mich).“ (Detering 2000: 94) Eine Illusionssteigerung soll nicht nur durch die dramatische Form des Einakters, sondern auch durch ein psychologisch realistisches Spiel erreicht werden. Die Darsteller sollen eine differenzierte Mimik besitzen, in der sich „die feinsten Regungen der Seele“ (Strindberg 1984a: 773) widerspiegeln;78 auch Gestik und Proxemik sollen wirklichkeitsgetreu sein. So konstatiert Strindberg im Vorwort zu Fräulein Julie: Ich träume nicht davon, eine ganze wichtige Szene hindurch den Rücken des Akteurs sehen zu können, doch ich habe den lebhaften Wunsch, daß entscheidende
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Vgl. Strindberg 1961: 130; hier zitiert nach der Übersetzung von Detering (2000: 93). Wie Detering und vor ihm Jacobs und Törnqvist (1988: 37) herausgestellt haben, rekurriert Strindberg hier auf Nietzsches Schrift Der Fall Wagner, in der es heißt: „Es ist ein wahres Unglück für die Aesthetik gewesen, dass man das Wort Drama immer mit ‚Handlung‘ übersetzt hat. Nicht Wagner allein irrt hierin; alle Welt ist noch im Irrthum; die Philologen sogar, die es besser wissen sollten. Das antike Drama hatte grosse Pathosscenen im Auge – es schloss gerade die Handlung aus (verlegte sie vor den Anfang oder hinter die Scene). Das Wort Drama ist dorischer Herkunft: und nach dorischem Sprachgebrauch bedeutet es ‚Ereigniss‘, ‚Geschichte‘, beide Worte in hieratischem Sinne. Das älteste Drama stellt die Ortslegende dar, die ‚heilige Geschichte,‘ auf der die Gründung des Cultus ruhte (– also kein Thun, sondern ein Geschehen: δραυ heisst im Dorischen gar nicht ‚thun‘).“ (Nietzsche 112010c: 32) Damit die feine Mimik des Schauspielers zur Geltung kommen kann, fordert Strindberg außerdem theaterpraktische Innovationen: Das Gesicht des Akteurs darf nicht zu stark geschminkt werden, damit es nicht maskenhaft wirkt; und das Rampenlicht – die Beleuchung von unten – soll durch „starkes Seitenlicht (mit Parabolen oder ähnlichem)“ (Strindberg 1984a: 772) ersetzt werden.
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Szenen nicht am Souffleurkasten gegeben werden wie Duette, dazu bestimmt, Applaus hervorzurufen, sondern ich möchte sie an der in der Situation gegebenen Stelle ausgeführt haben. (Strindberg 1984a: 772)
Mit dem Ziel der Illusionierung des Publikums begründet Strindberg auch die drei von ihm verwendeten „Kunstformen“ (Strindberg 1984a: 769) Monolog, Ballett und Pantomime, die von den Naturalisten als zu realitätsfern abgelehnt werden. Strindberg hält das stumme Spiel und das Selbstgespräch auf der Bühne allerdings für glaubhaft, wenn sie motiviert werden. Für das Ballett der Bauersleute führt er hingegen theaterpraktische Gründe an. Da „Volksszenen“ in der Regel „schlecht gespielt werden und eine Menge Grimassenschneider die Gelegenheit benutzen wollen, sich zu produzieren und damit die Illusion“ zu stören, scheint ihm ein choreographierter Tanz die bessere Alternative zu sein. (Strindberg 1984a: 770) Trotz dieser auf Illusionssteigerung zielenden Argumentation deutet sich hier schon die Überwindung des Naturalismus an, weisen Pantomime und Ballett doch auf eine Retheatralisierung hin, wie sie für das avantgardistische Theater um 1900 kennzeichnend ist. Ähnliches gilt für das Bühnenbild. Strindberg entscheidet sich gegen einen Dekorationswechsel, „um die Figuren mit dem Milieu zusammenwachsen zu lassen“ und „um mit dem Dekorationsluxus zu brechen“. Im Vorwort erklärt er, dass er die „Hintergrundwand und den Tisch schräg“ gestellt und das „Unsymmetrische, das Abgeschnittene“ der „impressionistischen Malerei“ entlehnt habe. (Strindberg 1984a: 771) Auch diese Entscheidung wird ästhetisch, theaterpraktisch und mit der Schaffung von Illusion begründet. Wie Fritz Paul betont, verweist Strindberg mit diesen „antinaturalistischen Forderungen an die Dekoration (‚Impressionismus‘, ‚Asymmetrie‘) und seiner Ablehnung des ‚Ausstattungsluxus‘“ aber bereits „auf die Abstraktionsbühne der Nachinfernodramatik.“ (Paul 1979: 40) * Wie ausgeführt, ist Fräulein Julie unter dem Einfluss von Strindbergs Nietzsche-Lektüre entstanden. Herrin und Knecht fungieren nicht als Vertreter bestimmter sozialer Stände, sondern als Ideenträger. Während die Subalternen Repräsentanten der Herren- und Sklavenmoral sind, ist Julie als ‚dekadente‘ Aristokratin konzipiert. Gezeigt wird weder ein Klassen- noch ein Geschlechterkampf, wie von der Forschung meist behauptet wird, sondern eine psychische Auseinandersetzung – ein ‚Kampf der Gehirne‘ –, den Julie trotz ihres höheren sozialen Status verlieren muss, weil sie im Gegensatz zu Jean aufgrund ihrer genetischen Disposition und ihrer Sozialisation kein ‚Pathos der Distanz‘ ausgebildet hat. Im Handlungsverlauf wird die Grafentochter psychisch vernichtet, weil sich all ihre Überzeugungen – die Vorstellung von der anthropologischen Gleichheit
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des Subjekts, die Verachtung der eigenen Weiblichkeit und die Idee von der Herrschaft der Frau über den Mann – als unhaltbar erweisen. Ihrer seelischen Zerstörung folgt ihr physischer Tod. Im Unterschied zu Kristin, die als Subjekt des Ressentiments ihre eigenen Schwächen zu Stärken umwertet, besitzt Julie die Größe, ihre ‚Entartung‘ (vgl. Nietzsche 112010a: 176) zu akzeptieren und die Folgen zu tragen, auch wenn sie zu willensschwach ist, um sich ohne Jeans Hilfe das Leben zu nehmen. Während sich die Naturalisten in der Regel mit dem durch soziale, wirtschaftliche oder politische Missstände in den Tod getriebenen Subjekt solidarisieren, bejaht Strindberg Julies Freitod. Mit Nietzsche plädiert er für eine Herrschaft der „Klugen und Starken“ (Strindberg 1984c: 639). Strindbergs ‚Umwertung aller Werte‘ manifestiert sich nicht nur auf der Handlungs-, sondern auch auf der Darstellungsebene. Auch wenn sich der Autor dem Naturalismus (noch) verpflichtet fühlt, interessiert er sich nicht für die möglichst objektive Abbildung der empirischen Realität, sondern für die wahrheitsgetreue Darstellung psychischer Konflikte. Das kommt in der symbolischen Überhöhung von Figuren, Dekoration und Requisiten, im ‚impressionistischen, asymmetrischen‘ Bühnenbild und in der Verwendung von Monolog, Pantomime und Ballett zum Ausdruck – alles Elemente, die eine Überwindung des Naturalismus andeuten. Wie zu Beginn dieses Kapitels betont, handelt es sich bei der am Beispiel von Strindbergs Drama vorgeführten Umkehrung des Machtgefälles zwischen Herrin und Knecht um einen ‚Sonderfall‘ interdependenter Herrschaft, weil die hierarchische Beziehung am Ende durch den Tod der Herrin aufgehoben wird. Diese Figuration ist selten, aber nicht singulär. Man denke etwa an Robin Maughams Erzählung Der Diener (The servant, 1948), die 1963 von Harold Pinter für den Film adaptiert worden ist (Regie: Joseph Losey). Wie in Strindbergs Drama wird auch hier ein ‚Kampf der Gehirne‘ vorgeführt, den der Diener Hugo Barrett gewinnt. Aufgrund seiner psychischen Stärke gelingt es ihm im Handlungsverlauf gemeinsam mit seiner Schwester, seinen Herrn – den adligen Playboy Tony – zu dominieren und ihn in den Alkoholmissbrauch und die Demenz zu treiben.
2. Der Herr als Diener in Tolstois Herr und Knecht (1895) Im Unterschied zu Strindberg, der mit Nietzsche den jede personale Interaktion bestimmenden Kampf um die Position des Herrn radikal bejaht, erklärt Leo N. Tolstoi in seiner Abhandlung Das Leben (O žizni, 1887): Ich weiß, daß der Mensch – er mag thun, was er will, – das Wohl nicht eher erlangen wird, als bis er übereinstimmend mit dem Gesetze seines Lebens leben wird. Das Gesetz seines Lebens aber ist nicht der Kampf, sondern im Gegenteil das Einander-Dienen der Wesen. (Tolstoi 1902a: 136)
Die hier proklamierte utopische Vision – die Aufhebung aller Herrschaftsverhältnisse durch die Unterwerfung eines jeden unter jeden – hat Tolstoi in seiner Erzählung Herr und Knecht (1895) literarisch gestaltet. Darin schildert er, wie der wohlhabende Grundbesitzer Wassilij Andrejitsch Brechunow und sein Knecht Nikita Stepanitsch trotz Schneesturm zu einer Schlittenfahrt nach Gorjatschkino aufbrechen, um dort vor anderen Interessenten ein Stück Wald günstig erwerben zu können.1 Als sie sich verirren, muss Brechunow erkennen, auf seinen Knecht angewiesen zu sein, um durch das Schneegestöber hindurch auf den befestigten Weg zurückzufinden. Anstatt Nikita Befehle zu erteilen, folgt er gehorsam dessen Anweisungen (vgl. Tolstoi 1985: 75f.). Als beide zu erfrieren drohen, offenbart sich Brechunow schließlich, dass das ‚wahre‘ Wohl nicht in der Befriedigung materieller Bedürfnisse, sondern in dem „Streben nach dem Wohle anderer“ (Tolstoi 1902a: 132) besteht. In dem Wissen, selbst sterben zu müssen, rettet er seinem Knecht das Leben, indem er sich auf ihn legt und ihn wärmt. Obwohl die Forschung Tolstoi in Bezug auf die Erzählung eine „große[ ] künstlerische[ ] Meisterschaft und Eindringlichkeit“ (Koester 1985: 134) der Darstellung attestiert hat, ist sie äußerst selten analysiert worden.2 In Überblicksdarstellungen zum Leben und Werk des Autors wird sie
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Die Schreibweise der russischen Namen orientiert sich an der russisch-deutschen, von Soia Koester bei Reclam herausgegebenen Leseausgabe von Herr und Knecht. Zu den wenigen deutschsprachigen Untersuchungen zählt die von Kasack (1967), in der weniger die Handlungs- als die Darstellungsebene fokussiert und nach der Funktion der Repetitio in den beiden Erzählungen Der Schneesturm und Herr und Knecht gefragt wird.
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meist nur kurz gestreift.3 Diskutiert wird sie vor allem in solchen Untersuchungen, die sich mit dem Motiv des Sterbens und/oder des Todes bei Tolstoi oder in der Literatur allgemein befassen.4 Im Folgenden soll die Erzählung in Bezug auf die von Tolstoi entfaltete Position zur Herr- und Knechtschaft untersucht werden. Dabei wird die These aufgestellt, dass sich der Text als Gegenmodell zu Strindbergs und Nietzsches ‚Überbietungsmodell‘ lesen lässt. Von der anthropologischen Gleichheit der Subjekte ausgehend, fordert Tolstoi die Orientierung an dem christlichen Gebot der Nächstenliebe. Stark von Arthur Schopenhauers philosophischen Schriften beeinflusst, ist Tolstoi davon überzeugt, dass dem Menschen erst „wahres Glück gewährt“ (Tolstoi 1902a: 222) wird, wenn er seinen Egoismus überwindet, sich von allen seinen Begierden lossagt und nach den christlichen Geboten lebt. Bei der Erfüllung dieser Gebote wird das Leben des Menschen ein solches sein, wie jedes Menschen Herz es sucht und wünscht. Alle Menschen werden Brüder sein, jeder wird stets in Frieden mit den andern leben und alle Güter der Welt in dem Zeitraum des Lebens genießen, der ihm von Gott zugeteilt ist. (Tolstoi 1902b: 153)
Zum Beleg dieser These soll zunächst Tolstois ‚Aufhebungsmodell‘ von Herr- und Knechtschaft im Rekurs auf seine theoretischen Schriften konkretisiert werden (vgl. 1.). Im Anschluss wird die Erzählung im Hinblick auf die kontrastive Figurenkonzeption analysiert (vgl. 2.). Zuletzt wird nach den Korrelationen zwischen der Handlungs- und der Darstellungsebene gefragt (vgl. 3.).
2.1 Tolstois utopische Vision der Aufhebung von Herr- und Knechtschaft Wie von der Forschung oft konstatiert worden ist, hat sich Tolstoi seit Ende der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts intensiv mit Schopenhauers philosophischen Schriften auseinandergesetzt.5 „Ab diesem Zeitpunkt haben der deutsche Philosoph und dessen Porträt, das Tolstoj 1869 in sein Arbeitszimmer hängte und nie mehr abnahm, die geistige Entwicklung des russischen Autors stets begleitet, ob als moralische Instanz, Ver-
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Vgl. etwa Braun 1978: 319, Kjetsaa 2001: 314f., Lettenbauer 1984: 99f., Schmid 2010: 59f. Eine Ausnahme bildet Hamburger (21963: 109ff.), die der Erzählung verhältnismäßig große Aufmerksamkeit schenkt. Vgl. etwa Kasack 2005: 145ff., Metzele 1996: 118–127 und Sill 1999: 107–120. Vgl. den Forschungsüberblick von Beretta 2011: 97–110, außerdem u. a. Hamburger 21963: 103ff., Maurer 1966, Philip 1959, Thiergen 2004.
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gleichsfolie oder Feind“ (Beretta 2011: 98). Seine philosophische Position der späten achtziger Jahre soll im Folgenden in Abgrenzung zu Schopenhauers Schrift Die Welt als Wille und Vorstellung rekonstruiert und im Anschluss zu Herr und Knecht in Bezug gesetzt werden. Selbstverständlich zielt die Untersuchung nicht auf eine erschöpfende Darstellung von Schopenhauers Denken; vielmehr soll erläutert werden, welche zentralen Gedanken Tolstoi übernommen, weitergeführt und modifiziert hat. Wie nach ihm Nietzsche stellt Schopenhauer den Begriff des ‚Willens‘, verstanden als singuläre Triebenergie, in das Zentrum seiner Metaphysik. Als „blinder universeller Lebensdrang“ ist er ohne Erkenntnis, ohne Bewußtsein, ohne Raum und Zeit, ohne Grund, ohne Zweck, ohne Ziel, ohne Grenzen. Der Wille zum Leben findet sich nicht infolge der Welt ein, sondern die Welt infolge des Willens zum Leben. – Wille und Wille zum Leben sind sinngleiche Ausdrücke (Spierling 2010: 241).6
Als Grundkraft alles Seienden ‚objektiviert‘ sich der Wille im Einzelwillen des Subjekts. Die Natur bezeichnet Schopenhauer daher als ‚Objektität‘ (Sichtbarwerdung) des Willens (vgl. Schopenhauer 21989: 169). Da der Weltwille nur die Fortpflanzung und die Selbsterhaltung als Zwecke kennt, können seine vielfältigen Erscheinungen in der Natur nicht friedlich koexistieren. Wie Schopenhauer betont, macht jede Objektivation des Willens der andern die Materie, den Raum, die Zeit streitig. […] Die deutlichste Sichtbarkeit erreicht dieser allgemeine Kampf in der Tierwelt, welche die Pflanzenwelt zu ihrer Nahrung hat und in welcher selbst wieder jedes Tier die Beute und Nahrung eines andern wird, d. h. die Materie, in welcher seine Idee sich darstellte, zur Darstellung einer andern abtreten muß, indem jedes Tier sein Dasein nur durch die beständige Aufhebung eines fremden erhalten kann (Schopenhauer 21989: 218).
Aufgrund des steten „Kampf[es] um Leben und Tod“ (Schopenhauer 21989: 424) definiert Schopenhauer alles Leben – verstanden als Bejahung des Willens – als Leiden. Denn alles Wollen ist Ausdruck von Mangel, „Mangel besagt, daß der Wille gehemmt ist, Hemmung des Willens führt zu Leiden.“ (Malter 22010: 79) Gelingt es dem Subjekt, seine Bedürfnisse zu befriedigen, befällt es wiederum eine furchtbare Leere und Langeweile: d. h. sein Wesen und sein Dasein selbst wird ihm zur unerträglichen Last. Sein Leben schwingt also gleich einem Pendel hin und her zwischen dem Schmerz und der Langenweile, welche beide in der Tat dessen letzte Bestandteile sind. (Schopenhauer 21989: 428)
Das Leiden des mit Vernunft begabten Subjekts wird dadurch erhöht, dass es im Gegensatz zum Tier nicht nur die Gegenwart, sondern zwei
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Vgl. Schopenhauer 21989: 380f.
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weitere Zeitdimensionen kennt: die Vergangenheit und die Zukunft, wodurch ihm sein Tod ins Bewusstsein rückt. Während sich das Tier ausschließlich auf die Befriedigung seiner „augenblickliche[n] Bedürfnis[se]“ konzentriert, sorgt der Mensch durch die künstlichsten Anstalten für seine Zukunft, ja für Zeiten, die er nicht erleben kann. […] Das Tier lernt den Tod erst im Tode kennen: der Mensch geht mit Bewußtsein in jeder Stunde seinem Tode näher, und dies macht selbst dem das Leben bisweilen bedenklich, der nicht schon am ganzen Leben selbst diesen Charakter der steten Vernichtung erkannt hat. (Schopenhauer 21989: 74f.)
Leiden und Todesangst können laut Schopenhauer allerdings überwunden werden. Wie erläutert, geht er davon aus, dass das von Zeit und Raum unabhängige ‚Ding an sich‘ ein einziger Wille ist, der sich im Subjekt – in Zeit und Raum – objektiviert (vgl. Schopenhauer 21989: 193). Alles, was in Raum und Zeit existiert, folgt aber dem Prinzip der Individuation. Durch Raum und Zeit wird die Illusion erzeugt, die Vielheit der Dinge und die Verschiedenheit der Individuen seien etwas Unbedingtes, gehörten selbst zur absoluten Ordnung der Dinge. Das Individuum ist in seiner gewöhnlichen, alltäglichen Erkenntnis dieser Auffassung verfallen. Es weiß nichts davon, daß Raum und Zeit apriorische Formen des erkennenden Subjekts sind, daß Raum und Zeit sich gleichsam zwischen das Ding an sich (das Wesen der Welt) und unsere Erkenntnis stellen und dadurch das Ding an sich lediglich individuiert erscheinen lassen. (Spierling 2010: 180)
Die menschliche Todesangst resultiert aus der Überzeugung, dass die eigene Individualität die „eigentliche Realität“ (Schopenhauer 21989: 382) ist, so Schopenhauer. Sobald das Subjekt aber begreift, dass es nur „ein einziges Exempel oder Spezimen“ (Schopenhauer 21989: 381) des Willens zum Leben ist, wird es seinen Tod nicht mehr fürchten. Der Mensch stirbt. Er ist aber nur als Erscheinung vergänglich, hingegen als Ding an sich zeitlos, also auch endlos: […] nur als Erscheinung ist er von den übrigen Dingen der Welt verschieden, als Ding an sich ist er der Wille, der in allem erscheint, und der Tod hebt die Täuschung auf, die sein Bewußtsein von dem der übrigen trennt: das ist die Fortdauer. (Schopenhauer 21989: 390)
Wie die Todesangst begründet Schopenhauer auch den Egoismus der Subjekte mit dem Glauben an das Individuationsprinzip (principium individuationis). Solange der Mensch meint, sich von anderen substantiell zu unterscheiden, wird er seine Bedürfnisse rücksichtslos zu befriedigen suchen – „auch, wenn erforderlich, unter Negation des von ihm für fremd und ungleichartig angesehenen anderen.“ (Malter 22010: 89) Erkennt das Subjekt, dass es das principium individuationis ist, welches uns „die essentielle Verschiedenheit der anderen Individuen von uns selbst vorgaukelt“ (Malter 22010: 90), wird es nicht mehr selbstbezogen handeln. Es realisiert,
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dass der „Quäler und der Gequälte […] eines“ (Schopenhauer 21989: 484) sind, und wird seinem Gegenüber kein Leid mehr zufügen. In Die Welt als Wille und Vorstellung führt Schopenhauer drei graduell voneinander verschiedene Phänomene an, die davon zeugen, dass ein Subjekt das Individuationsprinzip erkannt hat und nicht mehr ichbezogen handelt. Erstens nennt er die freiwillige Gerechtigkeit. Wer sich gerecht verhält, respektiert anderer Leute Recht und Eigentum. Durch seine Handlungsweise zeigt er an, daß er sein eigenes Wesen, nämlich den Willen zum Leben als Ding an sich auch in der fremden, ihm bloß als Vorstellung gegebenen Erscheinung wiedererkennt, also sich selbst in jener wiederfindet, bis auf einen gewissen Grad, nämlich den des Nicht-Unrechttuns, d. h. des Nichtverletzens. In eben diesem Grade nun durchschaut er das principium individuationis, den Schleier der Maja: er setzt insofern das Wesen außer sich dem eigenen gleich: er verletzt es nicht. (Schopenhauer 21989: 504)
Das gerecht handelnde Subjekt bejaht den eigenen Willen nicht bis zur Verneinung des fremden. Daher wird es auch keinen anderen dazu zwingen, ihm zu dienen, so Schopenhauer. Vielmehr wird es „ebensoviel andern leisten wollen, als man von ihnen genießt.“ (Schopenhauer 21989: 505) Zweitens nennt Schopenhauer die Menschenliebe. Im Unterschied zu dem gerecht Handelnden, der seinen Willen nur so weit negiert, dass er kein Unrecht verursacht, selbst aber auf nichts verzichtet, nimmt der andere Menschen Liebende Entbehrungen in Kauf, um Gutes zu tun. Als Beispiel sei ein Vermögender angeführt, der „ein beträchtliches Einkommen besitzt, von diesem aber nur wenig für sich benutzt und alles übrige den Notleidenden gibt“ (Schopenhauer 21989: 506). Ihn befängt das principium individuationis […] nicht mehr so fest; sondern das Leiden, welcher er an anderen sieht, geht ihn fast so nahe an wie sein eigenes: er sucht daher das Gleichgewicht zwischen beiden herzustellen, versagt sich Genüsse, übernimmt Entbehrungen, um fremde Leiden zu mildern. Er wird inne, daß der Unterschied zwischen ihm und andern, welcher dem Bösen eine große Kluft ist, nur einer vergänglichen täuschenden Erscheinung angehört: er erkennt unmittelbar und ohne Schlüsse, da das An-sich seiner eigenen Erscheinung auch das der fremden ist, nämlich jener Wille zum Leben, welcher das Wesen jeglichen Dinges ausmacht und in allem lebt; ja daß dieses sich sogar auf die Tiere und die ganze Natur erstreckt: daher wird er auch kein Tier quälen. (Schopenhauer 21989: 507)
Da der Nächstenliebende sein soziales Umfeld nicht als feindlich und fremd, sondern wie sich selbst als Teil alles Lebenden wahrnimmt, wird er sich durch eine „Heiterkeit der Stimmung“ auszeichnen. Denn er lebt „in einer Welt befreundeter Erscheinungen: das Wohl einer jeden derselben ist sein eigenes“ (Schopenhauer 21989: 509).
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Als höchste Steigerung der Menschenliebe führt Schopenhauer zuletzt das Mitleid an, das sich darin zeigt, dass ein Subjekt zwischen dem eigenen und dem Wohl eines „fremde[n] Individuum[s]“ (Schopenhauer 21989: 510) keinen Unterschied mehr macht. Erst das Mitleid ermöglicht und erklärt für ihn die „vollkommene Güte der Gesinnung bis zur uneigennützigsten Liebe und zur großmütigsten Selbstaufopferung“ (Schopenhauer 21989: 514). Trotz dieser Tugend kann das Leiden nicht vollständig aufgehoben werden, weil der „mitleidig Handelnde immer noch das Leben, nicht sein eigenes, sondern das der anderen, bejaht.“ (Malter 22010: 93) Jede Bejahung des Willens zum Leben ist aber mit einer Bejahung des Leidens gleichzusetzen (vgl. Schopenhauer 21989: 515). Um sein Gegenüber dem nicht aussetzen zu müssen, wird sich derjenige, der das Individuationsprinzip vollständig durchschaut hat, „nunmehr vom Leben ab[wenden]: ihm schaudert jetzt vor dessen Genüssen […]. Der Mensch gelangt zum Zustande der freiwilligen Entsagung, der Resignation, der wahren Gelassenheit und gänzlichen Willenlosigkeit“, die von Schopenhauer als „Quietiv alles und jedes Wollens“ bezeichnet wird. (Schopenhauer 21989: 515) Im Unterschied zur freiwilligen Gerechtigkeit, der Nächstenliebe und dem Mitleid, die sich in tugendhaftem Handeln zeigen, manifestiert sich die Verneinung des Willens in der Askese, etwa in der sexuellen Enthaltsamkeit oder in dem Verzicht auf materielle Güter (vgl. Schopenhauer 21989: 516). Derjenige, der seinen Willen zum Leben negiert, wird außerdem jedes ihm zugefügte Leid und Unrecht ohne Widerstreben ertragen: Er empfängt beides „freudig als die Gelegenheit, sich selber die Gewißheit zu geben, daß er den Willen nicht mehr bejaht, sondern freudig die Partei jedes Feindes der Willenserscheinung, die seine eigene Person ist, ergreift.“ (Schopenhauer 21989: 519) Allerdings ist nicht jedes Subjekt in der Lage, seinen personalen Willen zu negieren und sich damit von seinem Leiden zu befreien. So betont Schopenhauer in Die Welt als Wille und Vorstellung: Weil nun […] jene Selbstaufhebung des Willens von der Erkenntnis ausgeht, alle Erkenntnis und Einsicht aber als solche von der Willkür abhängig ist; so ist auch jene Verneinung des Wollens, jener Eintritt in die Freiheit, nicht durch Vorsatz zu erzwingen, sondern geht aus dem innersten Verhältnis des Erkennens zum Wollen im Menschen hervor, kommt daher plötzlich und wie von außen angeflogen. (Schopenhauer 21989: 549)
Wie angedeutet, hat Tolstoi Schopenhauers Schriften intensiv rezipiert, wenn er sich auch in der Beichte (Ispoved’, 1882) dezidiert von dessen Metaphysik distanziert, weil er sie für pessimistisch und lebensverneinend hält. Früher wie der Philosoph davon überzeugt, dass das Leben „sinnlos und böse“ (Tolstoi 1974a: 111) ist, meint er nun erkannt zu haben, dass sich die Frage nach dem Sinn des Lebens nicht mit dem „Vernunftwissen der
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Gelehrten und Weisen“ (Tolstoi 1974a: 116) beantworten lässt. Stattdessen müsse man sich an den „vom Glauben gegebenen Antworten“ (Tolstoi 1974a: 122) orientieren. Davon ausgehend nimmt Tolstoi keinen grund- und sinnlosen Willen als ‚Ding an sich‘ an, sondern erblickt in einem von ihm als ‚Gott‘ bezeichneten vernünftigen Prinzip des Guten die „Ursache von allem“ (Tolstoi 1974a: 131). Schopenhauers Philosophie erscheint ihm dagegen als eine der „Schwäche“ (Tolstoi 1974a: 110). Polemisch fordert er von jedem, der das Leben verneint, die Stärke, sich umzubringen, statt herumzutanzen und aller Welt weitschweifig zu erzählen und zu beschreiben, du verstündest das Leben nicht. Wenn man in eine lustige Gesellschaft kommt, wo sich alle sehr wohl fühlen und wissen, was sie tun, einem selbst aber alles langweilig und zuwider ist, dann muß man eben gehen. (Tolstoi 1974a: 112)
Trotz dieser divergierenden Positionen – der Annahme eines göttlichen Willens statt eines blinden Willens zum Leben – bleibt Tolstoi Schopenhauers Denken verpflichtet, wie nun zu zeigen ist. Ähnlich wie Schopenhauer geht Tolstoi von dem Befund aus, dass das Leben für „jeden Menschen gleichbedeutend [ist] mit dem Wunsche und der Erlangung seines Wohles“ (Tolstoi 1902a: 34). Da die Subjekte nur an ihrer Selbsterhaltung oder Bedürfnisbefriedigung interessiert sind, erfahren sie das Leben als Kampf um Leben und Tod; außerdem haben sie mit Leid, Langeweile und Todesangst zu kämpfen.7 Diese Übel können laut Tolstoi nur dann überwunden werden, wenn es dem Individuum gelingt, seinen ‚tierischen‘ Begierden zu entsagen und im Einklang mit dem göttlichen Willen zu leben. Wie ist das zu verstehen?
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Vgl. Tolstois Abhandlung über Das Leben, in der seine Definition des ‚wirklichen‘ Lebens als Leiden, Langeweile und Todesangst große Parallelen zu Schopenhauers Philosophie aufweist: „[W]enn […] der Mensch sich in so vorteilhafte Bedingungen gestellt sieht, daß er mit Erfolg gegen andere Persönlichkeiten ankämpfen kann, ohne für die seinige etwas zu befürchten, so zeigen ihm doch sein Verstand und seine Erfahrung sehr bald, daß selbst jene dem Wohl ähnliche Erscheinungen, die er als persönliche Genüsse dem Leben abringt, kein Wohl, sondern gleichsam nur Proben des Wohles sind, die ihm nur darum gegeben werden, damit er noch lebhafter die Leiden empfinde, die stets mit den Genüssen verbunden sind. Je länger der Mensch lebt, um so klarer sieht er, daß der Freuden immer weniger und weniger und der Langeweile, der Uebersättigung, der Mühen, der Leiden immer mehr und mehr werden. Doch auch das ist nicht genug; indem er den Verfall der Kräfte und die Krankheiten zu fühlen beginnt […] bemerkt er auch noch, daß seine eigene Existenz, in der allein er das wirkliche, volle Leben empfindet, sich mit jeder Stunde, mit jeder Bewegung dem Verfalle, dem Alter, dem Tode nähert; daß sein Leben, abgesehen davon, daß es Tausenden von Zufälligkeiten der Vernichtung durch andere mit ihm im Kampf befindliche Wesen und stetig zunehmenden Leiden unterworfen ist, seiner eigenen Natur nach bloß eine unaufhörliche Annäherung an den Tod ist“ (Tolstoi 1902a: 37f.).
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In seiner Abhandlung Das Leben differenziert Tolstoi zwischen dem ‚wahren‘ und dem ‚wirklichen‘ Leben (vgl. Tolstoi 1902a: 70). Unter dem ‚wirklichen‘ Leben versteht er das in Raum und Zeit zur Erscheinung kommende Subjekt, das sich durch seine Individualität – seine Verschiedenheit von anderen – auszeichnet. Bejaht es seine „leibliche, persönliche Existenz“ (Tolstoi 1902a: 76), wird es den eigenen Tod als bedrohlich empfinden, fürchtet es doch um den Verlust des eigenen Wohls (vgl. Tolstoi 1902a: 133). Der physische Tod darf aber nicht mit dem Ende des ‚wahren‘ Lebens gleichgesetzt werden; denn Tolstoi nimmt einen göttlichen Willen als Grundkraft alles Seienden an, der „jenseits von Zeit und Raum“ steht und in seiner „Ewigkeit keine Differentiation und keine Individuation“ kennt. (Beretta 2011: 114)8 Er objektiviert sich im Menschen, dessen tierische Existenz nur ein „zufälliges Spiel der Kräfte in der Materie“ ist. Stirbt das Subjekt, fließt es „als Geist in die ursprüngliche vernünftige Einheit des Geistes zurück.“ (Beretta 2011: 114) Realisiert das Individuum, dass „sein Leben keine Welle, sondern jene ewige Bewegung ist, die in diesem Leben bloß als Welle auftaucht“ (Tolstoi 1902a: 232), so braucht es sich vor seinem leiblichen Tod nicht mehr zu fürchten. Genauso wie seine Todesangst kann das Subjekt laut Tolstoi auch sein Leid überwinden. Wie Schopenhauer führt er das Unglück der Menschen auf die Bejahung ihres personalen Willens zurück. Solange sie ichbezogen nach ihrem Glück streben, werden sie sich bekriegen, sich aus ‚Übersättigung‘ langweilen oder betrübt sein, weil sie einige ihrer Bedürfnisse nicht befriedigen können. Kummer und gegenseitige Vernichtung können aber nicht der göttliche Wille sein, so Tolstoi. Vielmehr muss das Subjekt nach „Eintracht und Einheit“ (Tolstoi 1902a: 139) der Welt streben. Um dieses Ziel zu erreichen, muss der Mensch das principium individuationis durchschauen und begreifen, dass sein ‚wirkliches‘ nicht sein ‚wahres‘ Leben ist. Während diese Erkenntnis für Schopenhauer nicht jedem möglich ist, weil sie ‚von außen angeflogen‘ kommt, vertritt Tolstoi die Position, dass jedes vernunftbegabte Wesen fähig ist, „jene Stufe der Existenz, von der aus sich ihm das wahre Wohl seines Lebens offenbart“ (Tolstoi 1902: 119), zu erreichen. Dazu muss es sich dem ‚Gesetz der Vernunft‘ unterwerfen und seinen personalen Willen negieren. Im Unterschied zu Schopenhauer, der in Die Welt als Wille und Vorstellung drei graduell voneinander unterschiedene Phänomene – die freiwillige Gerechtigkeit, die Menschenliebe und das Mitleid – anführt, die von der Überwindung des Egoismus zeugen, nennt Tolstoi nur die (Nächsten-)Liebe, die er für die „einzige vernünftige Thä-
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Vgl. Tolstoi 1902a: 115.
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tigkeit des Menschen“ (Tolstoi 1902a: 157) hält. Davon ausgehend definiert er das ‚wahre‘ Leben als eine unsichtbare, jedoch unzweifelhafte, in jedem Augenblick zu vollziehende Unterwerfung unserer gegenwärtigen Thierheit unter das Gesetz der Vernunft, die das uns innewohnende Wohlwollen gegen alle Menschen und die diesem entströmende Thätigkeit der Liebe frei macht. (Tolstoi 1902a: 185) 9
Das Durchschauen des principium individuationis soll zu einem von aktiver Menschenliebe bestimmten Verhalten führen. Erstrebt wird „ein Zustand, in dem alle Wesen für das Wohl der anderen leben und die anderen mehr lieben […] als sich selbst“ (Tolstoi 1902a: 130). Während Nietzsche und Strindberg die Herrschaft der Starken über die Schwachen propagieren, fordert Tolstoi die Unterwerfung eines jeden unter jeden bis zu „dem letzten Opfer, zu dem Opfer seiner leiblichen Existenz für das Wohl anderer“ (Tolstoi 1902a: 159).10 Den Verzicht auf die Bejahung der eigenen Individualität wertet er dabei ähnlich wie Schopenhauer nicht als „Heldenthat“ (Tolstoi 1902a: 118), geht er doch davon aus, dass derjenige, der andere mehr liebt als sich selbst, sich in einem „im höchsten Grade vernünftige[n], lichte[n] und darum ruhige[n] und freudige[n] Zustand“ befindet, „wie er Kindern und vernünftigen Menschen eigen ist“. (Tolstoi 1902a: 174) Tolstois Äußerung, dass es vor allem die Kinder sind, die im Einklang mit dem göttlichen Willen leben, lässt sich auf seine Rousseau-Rezeption und seine daraus resultierende Vorstellung zurückführen, dass das von Natur aus ,gute‘ Subjekt durch die depravierenden Einflüsse der Zivilisation deformiert wird.11 Der Mensch entwickelt erst im Laufe seiner Sozialisation den irrigen Glauben, dass sein Wohl in der Bejahung seiner Indivi-
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Vgl. auch Tolstoi 1902a: 157: „Dieses Gefühl, das alle Widersprüche des menschlichen Lebens löst und dem Menschen das größte Wohl giebt, ist allen Menschen bekannt. Dieses Gefühl ist die Liebe.“ Die Liebe, definiert als Nächstenliebe, unterscheidet Tolstoi von der leidenschaftlichen Liebe und der „Vorliebe für gewisse Wesen, wie z. B. für die eigenen Kinder, oder selbst für gewisse Beschäftigungen, wie z. B. für die Wissenschaft, für die Künste […]; aber solche Gefühle der Vorliebe, die unendlich verschiedenartig sind, bilden die ganze Kompliziertheit des sichtbaren, greifbaren tierischen Lebens des Menschen und können nicht Liebe genannt werden, weil ihnen das Hauptmerkmal der Liebe fehlt – die Thätigkeit, die das Wohl zum Zwecke und zur Folge hat.“ (Tolstoi 1902a: 170f.) Zu Tolstois Vorstellung von der Nächstenliebe als Wille Gottes vgl. auch Tolstoi 1974b: 627. Zu Tolstois Vorstellung der sich im Opfer zeigenden Nächstenliebe vgl. auch Tolstoi 1974c: 503. Zu Tolstois Rousseau-Rezeption vgl. u. a. Schmid 2010: 26 oder Masary 1995: 321: „Die bisherige Geschichte ist nach Tolstoj nur eine Verirrung: Er glaubt mit Rousseau, daß der Mensch von Natur aus gut, ja göttlich sei. Die vom Staat getragene Zivilisation hat ihn verdorben.“
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dualität liegt, so Tolstoi. Das betrifft vor allem die gebildeten und wohlhabenden sozialen Schichten, die zum Umdenken bewegt werden müssen. Er ist davon überzeugt, dass der einfache, der sogenannte ungebildete Mensch, der sein ganzes Leben hindurch mit dem Körper gearbeitet hat, seine Vernunft nicht verunstaltet, sondern sie in ihrer ganzen Reinheit und Kraft erhalten hat […]. Der Mensch dagegen, der sein ganzes Leben hindurch nicht nur über nichtssagende kleinliche Dinge, sondern auch über Gegenstände nachgedacht hat, über die zu denken dem Menschen gar nicht eigen ist, hat seine Vernunft verunstaltet: seine Vernunft ist nicht mehr frei. Die Vernunft ist mit einer ihm nicht eigentümlichen Sache, mit dem Nachdenken über die Bedürfnisse der Persönlichkeit beschäftigt, mit der Entwicklung und der Steigerung dieser Bedürfnisse und mit dem Ersinnen von Mitteln zu ihrer Befriedigung. (Tolstoi 1902a: 142)12
Von der anthropologischen Gleichheit der Subjekte ausgehend, lehnt Tolstoi ähnlich wie Schopenhauer jede Form von Herrschaft ab. Vor diesem Hintergrund fordert er von den Wohlhabenden erstens die Aufgabe ihrer „dekadenten, luxuriösen und müßigen Lebensweise“ (Hanke 1993: 21). Anstatt „auf die Stufe eines unvernünftigen Tieres“ herabzusinken und sich „Tabak, Wein und eitlem Tun“ hinzugeben, soll der Mensch im Einklang mit dem göttlichen Willen leben und arbeiten. (Tolstoi 1971: 224) Erst dann kann er zu ‚wahrem‘ Wohl gelangen. So erklärt Tolstoi in einem Brief an seine Tochter Maria im Oktober 1895: Dem Menschen ist das Vergnügen der Übung seiner Muskeln bei der Arbeit und die Freude der Erholung gegeben, und er zwingt andere, alle Arbeit für ihn zu tun, beraubt sich dieser Freuden und verliert die Fähigkeit und das Geschick zur Arbeit (Tolstoi 1971: 224).
Nur wenn jeder arbeitet und „nicht andere für sich arbeiten“ (Tolstoi 1974d: 316) lässt, kann sich laut Tolstoi eine gerechte Weltordnung konstituieren.13 Mit der Ablehnung von Herrschaftsbeziehungen und der Wertschätzung der Arbeit geht zweitens die Forderung nach Verzicht auf Eigentum bzw. nach Enteignung der Grundbesitzer einher. Mit dem amerikanischen Ökonomen Henry George betrachtet Tolstoi den Boden als Geschenk
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Vgl. auch Tolstoi 1902a: 141: „Eine merkwürdige Erscheinung: die arbeitende Klasse, die einfachen Leute, die ihre Denkkraft wenig üben, verteidigen fast nie die Forderungen der Persönlichkeit und fühlen stets Forderungen in sich, die den Forderungen der Persönlichkeit entgegengesetzt sind; der vollständigen Verleugnung der Forderungen des vernünftigen Bewußtseins und namentlich der Widerlegung der Berechtigung dieser Forderungen und der Verteidigung der Rechte der Persönlichkeit begegnet man nur bei den reichen verfeinerten Menschen mit entwickeltem Denkvermögen.“ Zu Tolstois Auffassung von der Arbeit vgl. auch seine Abhandlung Was sollen wir denn tun? (Tak čto že nam delat’?) (Tolstoi 1974d: bes. 438ff.)
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Gottes an die Menschen.14 Aus diesem Grund muss er frei und für diejenigen ertragreich sein, die ihn bearbeiten. Da die Landbesitzer andere von sich abhängig machen und Einnahmen erzielen können, obwohl sie selbst nicht arbeiten, ist für ihn jedes Eigentum unrechtmäßig. Mit George hält er den Grundbesitz für eine moderne Form der „Sklaverei“ (George 41921: 108). Das zeigt sich etwa in einem Brief an den Bauern Timofej M. Bondarjow vom August 1895, in dem er erklärt: Nur bei wilden, unaufgeklärten Menschen gilt der Boden als Eigentum Gottes und befindet sich im Besitz derer, die ihn bearbeiten. Und eben deswegen muß man sich bemühen, den Menschen klarzumachen: Was sie für Aufklärung halten, ist nicht Aufklärung, sondern Finsternis, und solange sie Land besitzen und kaufen und verkaufen, sind sie schlimmer als alle Wilden und alle Götzenanbeter und Räuber. Das ist es, was ich den Menschen vor meinem Tode so deutlich wie möglich zeigen möchte. (Tolstoi 1971: 197)15
Genauso wie das Eigentum lehnt Tolstoi das Geld ab, für ihn kein „harmloses Tauschmittel“, sondern wie der Besitz ein Mittel der „Gewaltanwendung“. (Tolstoi 1974d: 274, 279) Denn derjenige, der Geld hat, kann „alles Brot aufkaufen, den andern hungern lassen und ihn für Brot völlig zu seinem Sklaven machen. Und das geschieht vor unseren Augen in riesigem Ausmaß“ (Tolstoi 1974d: 278). Zur Beseitigung sozialer Missstände hält er daher die Rückkehr zu Tauschwährungen für unabdingbar.16 Wie soll die von Tolstoi proklamierte utopische Vision aber realisiert werden? In seiner Beichte erklärt Tolstoi: Um „gottgefällig leben zu können, muß man allen Lebensfreuden entsagen, sich mühen, sich in sein Schicksal fügen, dulden und barmherzig sein.“ (Tolstoi 1974a: 135) Davon ausgehend, dass die Menschen einander zu dienen bestimmt sind, lehnt der Autor jedes Widerstreben gegen Gewalt und Herrschaft ab. Die „wahrhaft christliche und einzig fruchtbringende Tätigkeit im Leben beruht“ für ihn „in Unterlassungen […], darin, dass man das nicht tut, was gegen Gott und das Gewissen ist“. (Tolstoi 1922: 109) Statt einem politischen Umsturz oder staatlicher Reformen will er – ähnlich wie die bisher in den Blick genommenen Komödienautoren (vgl. II.2) – einen Bewusstseinswandel, insbesondere der Wohlhabenden, in Gang setzen. Dabei rechnet er „darauf, daß die Menschheit mit wachsendem Zivilisationsfortschritt samt den durch ihn ausgelösten Krisen und Katastrophen mehr
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Zu Tolstois Rezeption der Schriften von Henry George vgl. u. a. Kjetsaa 2001: 292, Schmid 2010: 59–61. Wiederholt hat sich Tolstoi gegen den Grundbesitz ausgesprochen und den Verzicht auf Eigentum gefordert, vgl. etwa seine Abhandlung Was sollen wir denn tun? (Tolstoi 1974d: bes. 259ff., 452ff.). Zu Tolstois Kritik am Geld vgl. Tolstoi 1974d: bes. 253–314.
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oder weniger zwangsläufig zur Erkenntnis ihres grundverkehrten Lebensweges geführt werden wird.“ (Doerne 1969: 79) Geläutert und von humanitärem Ethos erfüllt soll eine bessere, befriedete Weltordnung begründet werden.17 So heißt es in einem Brief an Alexandra Michailowna Kalmykowa vom 31. 8. 1896: Es sind also zwei Mittel des Kampfes gegen die Regierung erprobt worden – beide sind untauglich, und es bleibt nur ein drittes übrig, das noch nicht erprobt worden ist und nach meinem Dafürhalten Erfolg bringen muß. Dieses Mittel besteht, kurz formuliert, darin, daß alle Gebildeten und Anständigen sich bemühen müssen, möglichst gut zu sein (Tolstoi 1971: 255).
Als ein zentrales Mittel zur Herbeiführung des Bewusstseinswandels dient Tolstoi die Kunst im Allgemeinen und seine Erzählung Herr und Knecht im Besonderen, wie im Folgenden darzustellen ist.
2.2 Zur Handlungsebene: Herr und Knecht als Repräsentanten des ‚wirklichen‘ und des ‚wahren‘ Lebens Wie erläutert, unterscheidet Tolstoi zwischen dem ‚wirklichen‘ Leben, für das die Bejahung der eigenen Persönlichkeit kennzeichnend ist, und dem ‚wahren‘ asketischen Leben, das in der Unterwerfung eines jeden unter jeden besteht. Als Repräsentanten dieser oppositiven Positionen fungieren Herr und Knecht. Während der Subalterne Nikita Stepanitsch im Einklang mit dem göttlichen Willen lebt, begreift sein Herr Wasilij Andrejitsch Brechunow sein Leben als „persönliches Eigentum“ und sucht den Lebenszweck „im irdischen Heil der Persönlichkeit“. (Tolstoi 1922: 116) Dieser Kontrast manifestiert sich bereits in der Namensgebung. Bei Nikita (griech. Niketas [‚Sieger‘]) handelt es sich um eine Kurzform des Namens Nikolaus, der sich aus den griechischen Worten nikáo (siegen) und laós (Volk) zusammensetzt und ‚Sieger des Volkes‘ bedeutet.18 Der heilige Nikolaus, an dessen Gedenktag die Handlung bezeichnenderweise spielt,
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Tolstois teleologisches Weltbild kommt etwa in einem Brief an Bernhard Eulenstein vom 27. 4. 1894 zum Ausdruck. Hier heißt es: „Die Menschheit befindet sich in ständiger Vorwärtsbewegung im Sinne einer Klärung ihres Bewußtseins und der Schaffung von Lebensformen, die diesem veränderten Bewußtsein angemessen sind. Daher vollzieht sich in jedem Lebensabschnitt der Menschheit einerseits ein Prozeß der Bewußtseinsklärung und andererseits die Realisierung dessen, was vom Bewußtsein geklärt wurde.“ (Tolstoi 1971: 166) Eine ähnliche Bedeutung hat Nikitas Nachname Stepanitsch, der sich von dem griechischen Wort stephanos mit der Bedeutung ‚Der Gekrönte‘, ‚Die Krone‘ bzw. ‚Der Rosenkranzträger‘ (‚Sieger‘) ableitet.
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ist Volksheiliger und Schutzpatron des russischen Volkes und wird in zahlreichen Erzählungen für seine Menschenfreundlichkeit und Hilfsbereitschaft gepriesen. Im Unterschied dazu leitet sich der Name des Herrn – Brechunow – von Brechun ab, in der russischen Sprache die Bezeichnung für „einen prahlerischen, geschwätzigen und verlogenen Menschen.“ (Sill 1999: 111)19 Nikita und Brechunow unterscheiden sich erstens durch ihren Umgang mit Tabak und Alkohol voneinander, zwei Genussmittel, die laut Tolstoi „große Plagen und große Zerstörungen“ hervorbringen. In seinem Lebensbuch konstatiert er im Rekurs auf Arnold Hille: „Gerät man in seine Gewalt [gemeint ist das Dreigespann von Tabak, Alkohol und Fleisch, N.B.], wird man dem Tier ähnlich, verliert seine Menschlichkeit und damit das beste Gut des Menschenlebens, den klaren Verstand und das gute Herz.“ (Tolstoi 2010: 92) Die aus dem Alkoholkonsum resultierende Inhumanität wird in der Erzählung thematisiert, wenn Herr und Knecht auf ihrer Fahrt einem anderen Bauernschlitten begegnen, der von Betrunkenen gelenkt wird. Während Nikita darauf verzichtet, seinen Hengst gewaltsam mit der Peitsche anzutreiben, können die Bauern es nicht lassen, auf ihr Zugpferd „mit der Rute […] einzudreschen.“ (Tolstoi 1985: 43) Diese Tierquälerei wird von Nikita auf den Alkohol zurückgeführt. Den ‚Verlust seiner Menschlichkeit‘ in Folge des Alkoholkonsums hat Nikita selbst erfahren. Im ersten Abschnitt der in zehn Kapitel gegliederten Erzählung wird darauf hingewiesen, dass der Knecht vor einigen Wochen selbst noch getrunken hat. Das hat zum einen zu seinem ökonomischen Ruin geführt: Nikita hat alles „versoff[en], was er besaß“ (Tolstoi 1985: 7). Zum anderen ist der Alkohol ein Grund für Nikitas Entfremdung von seiner Frau Marfa. Während er ihr nüchtern bedingungslos dient und jedes Unrecht still erduldet, fürchtet sie ihn im betrunkenen Zustand „wie das Feuer“, weil er dann „gewalttätig“ und „streitsüchtig“ wird. (Tolstoi 1985: 7) Um die Gefahren des Alkoholkonsums wissend, hat Nikita dem Branntwein abgeschworen. Auf der Reise widersteht er der Versuchung; er gehorcht dem ‚Gesetz der Vernunft‘, um andere – seinen Sohn und seine Frau – materiell unterstützen zu können (vgl. Tolstoi 1985: 55f.). Im Unterschied dazu fühlt Brechunow bloß „die Bedürfnisse der Persönlichkeit“ (Tolstoi 1902a: 145) und erhofft sich von ihrer Befriedigung Glück und Zufriedenheit. Das zeigt sich vor allem im sechsten Abschnitt der Erzählung. In Not geraten, müssen Herr und Knecht „auf offenem Feld“ (Tolstoi 1985: 55) übernachten. Während Nikita dem Tod ruhig ins Auge sehen kann, zittert Brechunow vor „Kälte oder vor Angst“ und
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Vgl. auch Babaev 1980a: 20 und Waegmans 1998: 183.
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Aufhebung und Umkehrung von Herr- und Knechtschaft
versucht sich mit Genussmitteln – mit Tabak – „zu betäuben.“ (Tolstoi 1985: 99) Allerdings kann er sich dadurch nur kurzzeitig ein Gefühl der Freude verschaffen (vgl. Tolstoi 1985: 91). Genauso wie das Rauchen wird auch der Alkohol problematisiert. Sein Konsum führt bei Brechunow wie bei Nikita zu einer Veränderung des Bewusstseins – zu einer Trübung des Verstandes. Der Branntwein steigert nicht nur Brechunows Selbstzufriedenheit „mit allem, was ihm gehörte und allem, was er tat“ (Tolstoi 1985: 17), sondern führt auch dazu, dass er und Nikita sich im Schneesturm verirren. Anstatt seinem Pferd zu vertrauen und es frei laufen zu lassen, beginnt Brechunow, „von Branntwein und Tee angeregt […] ab und zu mit den Zügeln“ zu schlagen. Und „das brave Tier gehorchte und lief, bald im Paßgang, bald im kurzen Trab, wohin es gelenkt wurde, obwohl es wußte, daß man keineswegs den richtigen Weg eingeschlagen hatte“, so der heterodiegtische Erzähler. (Tolstoi 1985: 69)20 Wie bei Tolstoi ist der Alkoholkonsum auch in zahlreichen anderen Texten, in denen Herr-Knecht-Beziehungen strukturbestimmendes Thema sind, Zeichen einer lasterhaften Lebensführung. Man denke etwa an Jeppe vom Berge oder Der verwandelte Bauer (Jeppe paa Bierget eller Den forvandlede Bonde, 1722) von Ludvig Holberg, an Uli der Knecht (1841) von Jeremias Gotthelf oder an Bertolt Brechts Herr Puntila und sein Knecht Matti (1940/ 41). Dass Nikita und Brechunow als Repräsentanten des ‚wahren‘ und des ‚wirklichen‘ Lebens fungieren, zeigt sich zweitens in ihrer Lebensführung – in ihrer Haltung zu Arbeit und Eigentum. Wie der Erzähler betont, ist die ökonomische Bereicherung für Brechunow der einzige „Sinn, die Freude und de[r] Stolz seines Lebens“ (Tolstoi 1985: 85). Sogar im Angesicht des Todes denkt er ausschließlich daran, „wieviel Geld er schon verdient hatte und wieviel er noch verdienen könne“ (Tolstoi 1985: 85). Durch seine Raffgier gerät das Figurenpaar erst in Not. Da Brechunow in Gorjatschkino unbedingt einen „kleinen Wald“ (Tolstoi 1985: 5) kaufen will, schlägt er alle Warnungen vor dem Schneesturm in den Wind und entscheidet sich, mit Nikita dorthin aufzubrechen. In seinem Erwerbsstreben wird Brechunow als äußerst skrupellos vorgeführt, will er für den Kauf doch Kirchengelder veruntreuen und dem jungen Gutsbesitzer nur ein „Drittel vom wirklichen Wert des Waldes“ (Tolstoi 1985: 5) bezahlen. Genauso wie die Kirchengemeinde und den Gutsbesitzer versucht Brechunow auch
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Auch die Figur des Bauern Issaj zeugt davon, dass in der Erzählung Alkoholkonsum und lasterhafte Lebensführung gleichgesetzt werden. Bezeichnenderweise ist der „als Pferdedieb Nummer eins“ berüchtigte Bauer Nikita in eine „Wodkawolke“ gehüllt. (Tolstoi 1985: 37)
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seinen Knecht zu täuschen und ihm ein Pferd für mehr als dessen dreifachen Wert zu verkaufen. Der seinem Herrn überlegene Knecht weiß aber, daß der höchstmögliche Preis für dieses Pferd […] sieben Rubel war und daß Wasilij Andrejitsch ihm […] einen Preis von etwa fünfundzwanzig Rubel berechnen und er dann für ein halbes Jahr kein Geld von ihm erhalten würde. (Tolstoi 1985: 25f.)
Das Geld dient in der Erzählung nicht als Tauschmittel, sondern der ‚Versklavung‘ der Bauern. Ihre totale Abhängigkeit vom Grundbesitzer – ein sozialer Missstand, den Tolstoi auch in seinen theoretischen Schriften wiederholt kritisiert hat,21 – wird in der Erzählung mehrfach thematisiert, so etwa, wenn darauf hingewiesen wird, dass Brechunow Nikita vor allem als „billige Arbeitskraft“ schätzt und ihm seinen Lohn „ohne Abrechnung, in kleinen Raten aushändigte und dies meist auch nicht in bar, sondern in Form von teuer verkauften Waren aus seinem Laden“; oder wenn Nikitas Frau Brechunow für ein wenig Bargeld und ein paar Lebensmittel dankt „wie für eine besondere Gnade, obwohl Wassilij Andrejitsch ihrem Mann, selbst bei niedrigster Entlohnung, noch zwanzig Rubel schuldete.“ (Tolstoi 1985: 7, 9) Im Unterschied zu Brechunow, der seinen Willen egoistisch gegen alle Widerstände durchzusetzen sucht, hat Nikita das principium individuationis durchschaut. Vom Erzähler wird er als sympathetische Identifikationsfigur vorgeführt, die von ihrem sozialen Umfeld für ihren Fleiß, ihre Geschicklichkeit, Ehrlichkeit und „Ausdauer bei der Arbeit“ (Tolstoi 1985: 7) geschätzt wird. Obwohl der Subalterne weiß, dass er von seinem Herrn betrogen wird, verpflichtet er sich, ihm wie seinem „leiblichen Vater“ (Tolstoi 1985: 9) zu dienen. Auch gegen seinen Willen folgt er dessen Anweisungen, die er nicht als Last, sondern als Lust empfindet, führt er doch alle Befehle „fröhlich und willig“ (Tolstoi 1985: 11) aus. Das Gleiche gilt für die anderen hart arbeitenden Bedienten, etwa die Köchin Ari-
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In seiner Abhandlung Was sollen wir denn tun? beschreibt Tolstoi die Herrschaft der über Geld verfügenden Grundbesitzer als eine moderne Form der Sklaverei. So erklärt er: „Als die Leibeigenen noch nicht frei waren, konnte ich Wanka zu jeder Arbeit zwingen […]. Ließ ich Wanka andererseits über seine Kräfte arbeiten, gab ihm kein Land und nichts zu essen, kam die Sache vor die Obrigkeit, und ich mußte mich verantworten. Jetzt nun sind die Menschen frei, aber ich kann Wanka, Sidorka oder Petruschka zu jeder Arbeit zwingen, und wenn er sich weigert, gebe ich ihm einfach kein Geld […]. Und wenn ich jemandem nichts zu essen gebe und ihn zwinge, über seine Kräfte, ja bis zum Zusammenbrechen zu arbeiten, ihn unter die Erde bringe, wird mir niemand auch nur ein Wort sagen; doch wenn ich darüber hinaus noch ein paar Bücher über politische Ökonomie gelesen habe, kann ich fest davon überzeugt sein, daß alle Menschen frei sind und Geld keine Sklaverei verursacht“ (Tolstoi 1974d: 276f.).
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nuschka, die wie Nikita als ‚heiter‘ beschrieben wird (vgl. Tolstoi 1985: 13, 19).22 Woher rührt ihre Fröhlichkeit? Wie ausgeführt, ist die Arbeit für Tolstoi „eine notwendige Bedingung des Lebens“ (Tolstoi 1902b: 277). In Mein Glaube (V čem moja vera? 1885) konstatiert er: Man muß jene, allen unverdorbenen Menschen eigene Vorstellung wiederherstellen, daß die unumgängliche Bedingung zum Glücke des Menschen nicht der Müßiggang, sondern die Arbeit ist; daß der Mensch nicht umhin kann, zu arbeiten, daß es ihm langweilig ist und schwer fällt, nicht zu arbeiten, gleichwie der Ameise, dem Pferde im Stalle und jedem Tiere das Nichtarbeiten langweilig ist und schwer fällt. (Tolstoi 1902b: 275)
Dass nur diejenigen, die arbeiten, und nicht die, die andere für sich arbeiten lassen, ‚wahrhaft‘ glücklich sein können, wird in der Erzählung nicht nur anhand der Subalternen, sondern auch anhand des „nach Bewegung lechzenden“ (Tolstoi 1985: 15) Pferdes Muchortyj illustriert, das sich im Stall stehend langweilt, wie Nikita erkennt, und sich gern vor Brechunows Schlitten spannen lässt. Die unterschiedlichen Lebenshaltungen von Brechunow und Nikita manifestieren sich drittens in der Qualität ihrer sozialen Beziehungen. Wie im Handlungsverlauf deutlich wird, kennt Brechunow keine (Menschen-)Liebe. Sogar das Verhältnis zu seiner Familie ist ökonomisch geprägt. Seinen Sohn nennt er „in Gedanken immer seinen Erben“ und mit seiner Frau spricht er so „gekünstelt“ wie mit „Händlern und Kunden“. (Tolstoi 1985: 17)23 Seine fehlende Empathiefähigkeit zeigt sich vor allem in der Beziehung zu seinem Knecht, etwa in deren Unterhaltung über Böttcher, den Liebhaber von Nikitas Frau Marfa. Davon überzeugt, dass es für den Subalternen „sehr schmeichelhaft sein müßte, sich mit einem so bedeutenden und klugen Menschen wie ihm unterhalten zu können“, kommt es Brechunow „nicht in den Sinn“, dass ihm das Gesprächsthema unangenehm sein könnte. (Tolstoi 1985: 25) Am Deutlichsten kommt seine Egozentrik während der Nacht im Freien zum Ausdruck. Im Angesicht des Todes hält Brechunow nur das eigene Leben für lebenswert. Ihm ist es „egal“ (Tolstoi 1985: 101), ob Nikita stirbt. Seine einzige Sorge ist die, dass er von anderen für Nikitas Tod verantwortlich gemacht werden könnte (vgl. Tolstoi 1985: 93). Dass er sich selbst zu nichts verpflichtet
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Kontrastierend dazu wird Brechunows Familie – seine Frau und sein Sohn – als mager und blass beschrieben (vgl. Tolstoi 1985: 15, 17). Ihr kränkliches Aussehen ist Zeichen ihrer ‚falschen‘ Lebensführung. Genauso gefühllos erweist sich seine Frau, die darauf besteht, dass Brechunow nicht alleine Richtung Stadt aufbricht. Dabei sorgt sie sich allerdings weniger um sein Wohlergehen als um das Geld, das er mit sich führt (vgl. Tolstoi 1985: 17).
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fühlt, kommt schon im ersten Abschnitt der Erzählung zum Ausdruck, wenn Brechunow ironisch erklärt, nur dann mit Nikita abreisen zu wollen, wenn sich dieser einen „wärmeren Staatsrock“ (Tolstoi 1985: 19) anzieht, wohl wissend, dass der Knecht aufgrund seiner niedrigen Entlohung keine warme Kleidung besitzt. Um sich für dessen Elend nicht verantwortlich fühlen zu müssen, führt Brechunow die bestehenden sozialen Missstände auf die „Unwissenheit und Dummheit der Bauern“ zurück, zu denen er auch Nikita zählt.24 Als sich dieser am hinteren Ende des Schlittens eine Grube in den Schnee gräbt und sich dort hineinsetzt, um sich vor „Wind und Schnee“ zu schützen, reagiert Brechunow mit ‚missbilligendem Kopfschütteln‘ angesichts der vermeintlichen Einfältigkeit des Knechts. (Tolstoi 1985: 85) Da Brechunow nun seinerseits beginnt, sich im Schlitten vor ‚Wind und Schnee‘ zu schützen, wird seine Position als Hochmut kenntlich gemacht. Im Unterschied dazu ist Nikitas Handeln von Nächstenliebe geprägt. Das manifestiert sich in seiner Freundlichkeit, hat der Subalterne doch aus „gutmütiger Höflichkeit“ für jeden seiner Gesprächspartner „ein gutes Wort“ parat. (Tolstoi 1985: 21) Entgegenkommend verhält er sich auch Brechunows kleinem Sohn gegenüber, den er zu dessen Freude ein kurzes Stück im Schlitten mitfahren lässt. Seine Menschenliebe kommt ferner in seiner Empathiefähigkeit und Selbstlosigkeit zum Ausdruck. Obwohl er von seinem Herrn und seiner Frau Marfa betrogen und gedemütigt wird, fühlt er sich verpflichtet, für beider Wohl zu sorgen (vgl. Tolstoi 1985: 9, 25). Das gilt auch in der Not, in der er nicht an sich, sondern zuerst an seinen Herrn denkt. Er weiß: „Bei solchem Leben will man nicht sterben. Ganz anders als unsereiner…“ (Tolstoi 1985: 105). Nikitas (Nächsten-)Liebe gilt nicht nur den Menschen, sondern auch den Tieren, mit denen er spricht und spielt (vgl. Tolstoi 1985: 11, 51, 81). Das wird etwa deutlich, wenn Herr und Knecht nach Gorjatschkino aufbrechen. Während Brechunow und seine Frau ausschließlich an Geld und Gewinn denken, macht sich Nikita Gedanken darüber, ob die Gutspferde während seiner Abwesenheit auch gut versorgt sein werden (vgl. Tolstoi 1985: 18f.). Auch später im Freien kümmert sich Nikita erst nach der
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Die Herabsetzung der Armen durch die Reichen verurteilt Tolstoi nicht nur in seiner Erzählung, sondern auch in seinen theoretischen Schriften, etwa in seiner Abhandlung Was sollen wir denn tun? Hier missbilligt er, dass „alles, was in diesem Leben als Glück gilt, allein dadurch errungen wird oder zumindest untrennbar damit verknüpft ist, daß wir uns soweit wie möglich von den Armen fernhalten. Denn das gesamte Leben von uns Reichen – angefangen beim Essen und bei der Kleidung, bei der Wohnung und unserer Reinlichkeit bis hin zu unserer Bildung –, all das dient in erster Linie unserer Trennung von den Armen.“ (Tolstoi 1974d: 237)
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Versorgung des Zugpferds Muchortyj um das eigene Wohl (vgl. Tolstoi 1985: 83). Seine enge Beziehung zu dem Hengst zeigt sich auch in seinem Verzicht darauf, es zu lenken oder mit der Peitsche anzutreiben.25 Nikita ist sich sicher, dass Muchortyj den richtigen Weg schon finden wird. Zuletzt unterscheiden sich Herr und Knecht in ihrer Beziehung zu Natur und Tod voneinander. Im Gegensatz zu seinem Herrn überkommt Nikita auf der Fahrt durch den Schneesturm keine Angst. Fast „vergnügt“ (Tolstoi 1985: 31) stellt er fest, dass der Schlitten vom Weg abgekommen ist. Ruhig deutet er die Zeichen der Natur.26 Ausgehend von der Windrichtung weiß er, in welche Richtung zu fahren ist;27 anhand dem aus dem Schnee hervorragenden Kartoffelkraut erkennt er, dass er sich auf dem Sacharow’schen Kartoffelacker befindet; heranwehende Blätter kann er an ihrer Form als Weidenblätter identifizieren und so auf eine Siedlung in naher Ferne schließen;28 und als Herr und Knecht realisieren, dass sie im Freien übernachten müssen, weiß er am Schlitten ein „Notzeichen“ anzubringen, denn „so haben es uns die alten Leute beigebracht.“ (Tolstoi 1985: 81) Trotz des Wissens, in dieser Nacht sterben zu können, bleibt Nikita gefasst. „Wie alle mit der Natur verbundenen Menschen, die wirkliche Not kennen, war auch er geduldig und konnte Stunden, ja sogar Tage warten, ohne Unruhe oder Aufregung zu verspüren“ (Tolstoi 1985: 101), so der Erzähler. Zum einen weiß Nikita, dass er nichts tun kann, um seinen möglichen Tod zu verhindern (vgl. Tolstoi 1985: 79). Zum anderen scheint ihm der Tod als nicht „sonderlich unangenehm […], weil sein ganzes Leben […] ein unaufhörliches Dienen gewesen“ ist, „dessen er überdrüssig zu werden“ beginnt; (Tolstoi 1985: 103) und drittens hat er keine Angst vor dem Tod, weil er sich in diesem Leben, außer solchen Herren wie Wassilij Andrejitsch, dem er jetzt diente, immer auch dem höchsten Herrn untertan fühlte, der ihn in dieses Leben gesandt hatte, und er wußte, daß er auch nach dem Tode unter der Herr-
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Vgl. Tolstoi 1985: 21, 35, 45. Ein einziges Mal versetzt Nikita dem Pferd einen Hieb in der Hoffnung, es könne den Schlitten schneller durch den Schnee ziehen. Mit Gewalt kommt Nikita allerdings nicht zum Ziel, wie der Erzähler betont. „Das gute Pferd, das die Peitsche nicht gewohnt war, schreckte auf, lief kurz im Trab, ging aber sogleich zum Schritt über.“ (Tolstoi 1985: 71) Vgl. auch Tolstoi 1985: 33. Während Brechunow unbedingt wissen will, wo er sich befindet, behält Nikita während des Schneesturms die Ruhe. Er ist sich sicher, dass sie „schon irgendwo“ ankommen werden. Nikita findet zwar nicht auf den befestigten Weg zurück, lenkt aber den Schlitten, mit dem Brechunow zuvor links abgebogen ist, wieder nach rechts zurück. Auf diese Weise erreichen Herr und Knecht Grischkino, vgl. Tolstoi 1985: 29, 31, 37. Vgl. Tolstoi 1985: 29f., 33.
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schaft dieses Herrn bleiben werde und daß dieser Herr ihm kein Unrecht zufügen werde. (Tolstoi 1985: 103)
Für Nikita verliert der Tod angesichts der seinen Alltag bestimmenden harten physischen Arbeit seinen Schrecken. Vor allem aber lebt er im Einklang mit der Natur. Ihm fällt das Sterben leicht, da er der eigenen Individualität keine Bedeutung zumisst und sich auf diese Weise „fragund klaglos in den Zyklus von Werden und Vergehen fügen“ (Kaibach 2008: 65) kann. Er weiß, dass das ‚wahre‘ Leben nicht mit dem ‚wirklichen‘ Tod endet. Dieses Gottvertrauen ist laut Tolstoi leider nur wenigen Menschen eigen – vor allem den „einfachen Leute[n], die ihre Denkkraft wenig üben“ (Tolstoi 1902a: 141). Trotz der Gewissheit, nach dem leiblichen Tod in „jenes andere Leben […] überzugehen“ (Tolstoi 1985: 131), ist Nikita aber nicht vollkommen frei von Angst. Durch ein Gebet, das ihm bewusst macht, „nicht allein zu sein, sondern von jemandem gehört und nicht verlassen zu werden“ (Tolstoi 1985: 107), gelingt es ihm aber, sich zu beruhigen. Kontrastierend dazu hat sich Brechunow von der Natur entfremdet. Orientierungslos muss er sich von seinem Knecht durch den Schneesturm führen lassen. Er weiß nicht, in welche Richtung er den Schlitten lenken soll; er kann aus dem aus dem Schnee hervorragenden Kartoffelkraut nicht schließen, dass er sich auf dem Sacharow’schen Acker befindet, und er deutet die entfernten Weiden einer Siedlung irrtümlich als „Gorjatschkino-Wald“ (Tolstoi 1985: 33). Während der tierliebende Nikita weiß, dass er dem Instinkt des Zugpferdes vertrauen kann, vertraut Brechunow nur sich selbst. Anstatt den Hengst allein den befestigten Weg finden zu lassen, beginnt er zu lenken – ein Fehler, kommen Herr und Knecht doch dadurch erst vom Weg ab. Da Brechunow nicht im Einklang mit der Natur lebt und sich aufgrund seines „hypertrophen Bewusstsein[s] der eigenen Individualität verzweifelt ans Leben klammer[t]“ (Kaibach 2008: 65), fällt ihm das Sterben schwer. Davon ausgehend, dass das menschliche Leben nur die Zeitperiode von der Geburt bis zum Tod umfasst, überfällt ihn eine große Todesangst, die sich in psychischer und physischer Unruhe manifestiert. „Wie ein Mühlrad drehen sich die Gedanken in [s]einem Kopf“, im Schlitten richtet er sich mehrfach auf, „drehte sich, hüllte sich wieder ein und legte sich wieder hin.“ (Tolstoi 1985: 89, 95) Seine Angst vor dem Sterben versucht Brechunow zunächst mit Genussmitteln zu betäuben, bevor er in der Hoffnung auf das Pferd steigt, eine Siedlung finden und sich in Sicherheit bringen zu können. Wie Nikita beginnt er zwischenzeitlich zu beten. Während sich der Subalterne davon Zuversicht und Kraft erhofft, betrachtet Brechunow die Gebetstätigkeit allerdings als Tauschhandel. Er bittet den
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Wundertäter Nikolaus […] um seine Rettung, wofür er ihm Gebete und Kerzen versprach. Aber sogleich erkannte er klar und unfehlbar, daß […] sie […] hier nichts für ihn ausrichten konnten; daß es zwischen diesen Kerzen und Gebeten und seiner jetzigen elenden Lage keinerlei Verbindung gab und auch nicht geben konnte. (Tolstoi 1985: 113)
Wie das Zitat deutlich macht, wird sich Brechunow im Angesicht des Todes plötzlich darüber bewusst, dass er keine Rettung von dem Heiligen Nikolaus erwarten darf.29 Dass sich dem Subjekt vor allem in existentiellen Notsituationen das ‚Gesetz der Vernunft‘ offenbart, thematisiert Tolstoi nicht nur in seiner Erzählung, sondern auch in seinen Briefen und theoretischen Schriften. So konstatiert er in einem Schreiben vom Juli 1894: Je stärker das materielle Leiden, je näher […] der Tod ist, um so leichter, um so unausweichlicher befreit sich der Mensch von der Verführung des materiellen Lebens, und um so richtiger erkennt er sich selber im Geiste. Freilich, wenn der Mensch sich im Geiste erfasst, erlangt er dadurch nicht jene scharfen Vergnügungen, welche das tierische, materielle Leben gewährt, dafür empfindet er aber volle Freiheit, Unabhängigkeit, Unerschütterlichkeit, – er fühlt seine Einheit mit Gott – als die Grundlage und das Wesen von allem. Dann besteht der Tod schon nicht mehr für ihn, oder er stellt ihn sich vor als Befreiung und Wiedergeburt; wer einmal einen solchen Zustand erlebte, der wird kein materielles Vergnügen dagegen in Tausch nehmen. (Tolstoi 1922: 91)
Ähnlich wie in dem Brief geschildert, durchschaut Brechunow in der Nacht vor seinem Tod das principium individuationis. Um seine Existenzangst zu besiegen, beginnt er – von seinem Ritt durch den Schnee zurückgekehrt – anderen zu dienen. Er bindet den Hengst am Schlitten fest, befreit den sterbenden Nikita vom Schnee, öffnet seinen Pelz und legt sich mit seinem warmen Körper auf ihn (vgl. Tolstoi 1985: 119). Mit der Unterwerfung unter einen anderen überwindet Brechunow seinen Egoismus. Allmählich verschwinden Angst und Unruhe, der Grundbesitzer „hörte weder die Bewegungen des Pferdes noch das Pfeifen des Windes, sondern er horchte nur noch auf das Atmen Nikitas“. An die Stelle der alten Gefühlskälte treten nun Mitleid und Nächstenliebe. Dem Gutsbesitzer kommen „Tränen in die Augen“, durch die er eine „noch niemals verspürte Freude“ empfindet. (Tolstoi 1985: 119) Kreisten seine Gedanken früher ausschließlich um die eigene Person, denkt er nun einzig „da-
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Vgl. dazu auch Tolstoi 1985: 125. Hier heißt es: „Er [Brechunow, N.B.] erinnert sich an das Geld, den Laden, das Haus, Käufe und Verkäufe und die Millionen der Mironows, und kaum kann er verstehen, wozu dieser Wassilij Brechunow genannte Mensch sich mit alldem, womit er sich beschäftigte, beschäftigt hat. „Na ja, er wußte eben nicht, worauf es ankommt“, dachte er über Wassilij Brechunow. „Er wußte nicht, was ich jetzt weiß. Und jetzt ist Irrtum ausgeschlossen. Jetzt weiß ich.“
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ran, wie er den unter sich liegenden Bauern wärmen“ (Tolstoi 1985: 121) kann. Den eigenen Tod empfindet er nicht länger als Bedrohung. So heißt es in der Erzählung: Er [Brechunow, N.B.] will aufstehen – kann es nicht, will den Arm bewegen – kann es nicht, das Bein – und das kann er nicht. […] Er wundert sich, wird jedoch kein bißchen traurig darüber. Er erkennt, daß es der Tod ist und wird auch darüber kein bißchen traurig. Er denkt daran, daß Nikita unter ihm liegt, daß er es warm hat und lebt, und es kommt ihm vor, er selbst sei Nikita, und Nikita sei er, und sein Leben sei nicht in ihm selbst, sondern in Nikita. Er lauscht angestrengt und hört das Atmen, sogar ein leises Schnarchen von Nikita. „Nikita lebt, also lebe ich auch“, sagt er sich feierlich. […] Wieder hört er den Ruf dessen, der sich schon einmal an ihn gewandt hatte. „Ich komme, ich komme“, sagt freudig und voller Rührung sein ganzes Ich. Und er fühlt, er ist frei, und nichts hält ihn mehr. (Tolstoi 1985: 123ff.)
Wie das Zitat zeigt, unterwirft sich Brechunow am Ende dem von Tolstoi als Gott bezeichneten ‚Gesetz der Vernunft‘. Intuitiv durchschaut er das Individuationsprinzip; er spürt, dass jedes in Raum und Zeit existierende Subjekt nur die Objektivation des einen allumfassenden göttlichen Willens ist. Davon ausgehend ist er sich sicher, dass er trotz seines physischen Todes in Nikita weiterleben wird. Zudem schwindet seine Angst vor dem Tod, realisiert er doch, dass das menschliche „Bewußtsein“ nur „ein Funke“ ist, „der aus der Materie aufblitzt“. (Tolstoi 1902a: 194) Nachdem er erlischt, fließt der Geist des Subjekts zurück in die unendliche Einheit des vernünftigen Prinzips des Guten.30
2.3 Zur Darstellungsebene: Herr und Knecht als Volkserzählung Tolstois philosophische Position – seine Forderung der Unterwerfung eines jeden unter jeden zur Konstituierung einer humanen Gesellschaftsordnung – manifestiert sich auch in seiner Kunstauffassung, die ihren deutlichsten Ausdruck in der Abhandlung Was ist Kunst? (Čto takoe iskusstvo? 1898) findet.31 Hier vertritt er die Ansicht, dass sich die Menschheit „unaufhörlich von einer niederen, spezielleren und weniger klaren Lebensauffassung zu einer höheren, allgemeineren und klareren“ (Tolstoi
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Im Unterschied dazu vertritt Ulrich Schmid die These, dass Tolstoi mit Brechunows Wandlung Schopenhauers Quietiv des Willens literarisch gestaltet (vgl. Schmid 2010: 59). Schmid verkennt, dass Tolstoi hier keine ‚gänzliche Willenlosigkeit‘ illustriert. Brechunow verneint zwar den eigenen aber nicht Nikitas Willen. Er opfert sich vielmehr aus tätiger (Nächsten-)Liebe. Zu Tolstois Kunstauffassung vgl. u. a. Dudek 1984, Schmid 2010: 84–91.
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1984a: 83) entwickelt. Von solch einem teleologischen Weltbild ausgehend, begreift er die Kunst als „Wegweiser“; sie soll die Menschen zur „höchsten […] Lebensauffassung“ führen. (Tolstoi 1984a: 84)32 Genauso wie in seinen späten philosophischen Schriften erklärt Tolstoi auch in Was ist Kunst? die liebende Vereinigung der Menschen zum höchsten Ziel. Hier heißt es: Vor der Kunst steht eine riesige Aufgabe: Die Kunst, die echte Kunst […] soll bewirken, daß das friedliche Miteinanderleben der Menschen, das heute durch äußere Maßnahmen, durch Gerichte, durch die Polizei, durch Wohltätigkeitseinrichtungen, Arbeitsinspektionen und dergleichen mehr gewährleistet wird, durch die freie und freudige Tätigkeit der Menschen erreicht wird. Die Kunst soll die Gewalt beseitigen. (Tolstoi 1984a: 223)
Statt sozialer Reformen plädiert Tolstoi für einen durch die Kunst zu erreichenden Bewusstseinswandel, der die „Menschheit zu Einigkeit und Glück“ (Tolstoi 1984a: 204) führen soll. Wie genau soll das aber realisiert werden? Laut Tolstoi wirken theoretische Texte über die Vermittlung von „Gedanken“ (Tolstoi 1984a: 78), Artefakte hingegen über die Evokation von Emotionen. Die Kunst definiert er vor diesem Hintergrund als „eine menschliche Tätigkeit, die darin besteht, daß ein Mensch durch bestimmte äußere Zeichen anderen die von ihm empfundenen Gefühle bewußt mitteilt und daß andere Menschen von diesen Gefühlen angesteckt werden und sie erleben.“ (Tolstoi 1984a: 80) Allerdings sollen nur bestimmte Gefühle erregt werden, nämlich solche, die mit dem „religiöse[n] Bewußtsein von Gut und Böse“ (Tolstoi 1984a: 85) übereinstimmen und dazu dienen, die Menschen in Liebe miteinander zu verbinden. Das können laut Tolstoi nur „zwei Arten von Gefühlen“ leisten: Gefühle, die dem Bewußtsein der Gotteskindschaft und der Brüderlichkeit aller Menschen entstammen,33 und die allereinfachsten Lebensgefühle, die ausnahmslos allen Menschen zugänglich sind, wie die Gefühle der Freude, der Rührung, des Mutes, der Gelassenheit und dergleichen. Nur diese zwei Arten von Gefühlen bilden den Gegenstand inhaltlich guter Kunst unserer Zeit. (Tolstoi 1984a: 181)
Wenn es der Kunst gelingt, in den Rezipienten ein Gefühl der „Brüderlichkeit und Liebe“ zu wecken, dann „wird sie die Menschen auch lehren, unter den realen Bedingungen die gleichen Gefühle zu empfinden“, so Tolstoi. (Tolstoi 1984a: 224) Dieser Effekt kann durch die kollektive Re-
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Der ‚wahre‘ Künstler ist vor diesem Hintergrund mit einem Propheten vergleichbar. Wie dieser begreift er „den Sinn des Lebens klarer als die anderen“ und bringt ihn „durch sein Wort und sein Leben […] zum Ausdruck“, so Tolstoi. (Tolstoi 1984a: 83) So „zum Beispiel die Standhaftigkeit in der Wahrheit, die Ergebenheit gegenüber dem Willen Gottes, die Opferbereitschaft, die Achtung vor dem Menschen und die Liebe zum Menschen“ (Tolstoi 1984a: 182).
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zeption von Artefakten verstärkt werden. In dem Wissen, die gleichen Emotionen zu teilen, werden die Menschen durch das gemeinsame Erleben „wie durch einen elektrischen Funken miteinander verbunden“ (Tolstoi 1984a: 182). Damit die Kunst die Menschen in Liebe miteinander verbinden kann, muss sie erstens allen – den Wohlhabenden und den Armen – zugänglich sein (vgl. Tolstoi 1984a: 101). Aus diesem Grund hat Tolstoi seine Erzählung Herr und Knecht nicht nur in einer Zeitschrift, sondern auch „in zwei Auflagen in einem Verlag drucken“ lassen, der Bücher für das Volk verlegte und sie zu niedrigen Preisen verkaufte. Da es seine Absicht war, daß ‚seine Erzählung im Volk gelesen‘ und ‚jedem Schreib- und Lesekundigen zugänglich‘ sein sollte, verzichtete Leo N. Tolstoi sogar auf sein Honorar. […] Bereits wenige Tage nach ihrem erstmaligen Erscheinen wurde Herr und Knecht von fast allen Zeitungen ohne Ausnahme abgedruckt. Bis dato, so stellte eine Zeitung damals fest, sei keine Dichtung in Rußland so schnell verbreitet worden wie eben die Novelle Herr und Knecht von Leo N. Tolstoi. (Sill 1999: 107f., vgl. Babaev 1980b: 209)
Zweitens muss die Kunst Gefühle vermitteln, die für alle Ethnien, alle sozialen Schichten und alle Gläubigen aller Religionen gleichermaßen von Bedeutung sind. Vor diesem Hintergrund lehnt Tolstoi insbesondere die Literatur der Décadence und des Ästhetizismus ab. Zum einen negierten die jeweiligen Autoren die christlichen Moralvorstellungen (vgl. Tolstoi 1984a: 197), zum anderen vermittelten sie in ihren Werken Gefühle, die nur dem Stand der reichen Müßiggänger eigen sind, das aristokratische Ehrgefühl, die Übersättigung, den Weltschmerz, den Pessimismus und die überfeinerten und lasterhaften Gefühle, die der geschlechtlichen Liebe entspringen und den allermeisten Menschen völlig unverständlich sind (Tolstoi 1984a: 189).
Um einen Bewusstseinswandel im Menschen herbeiführen zu können, muss die Kunst drittens – ähnlich wie die „schlichten Erzählungen der Bibel, die Gleichnisse des Evangeliums, die Volkslegenden, Märchen und Volkslieder“ (Tolstoi 1984a: 125) – jedem verständlich sein. Aus diesem Grund fordert Tolstoi vom Schriftsteller „nicht Schwülstigkeit, Unklarheit und Kompliziertheit der Form, […] sondern ganz im Gegenteil Kürze, Klarheit und Einfachheit des Ausdrucks“ (Tolstoi 1984a: 212). 34 Im Hinblick auf die Figurenkonzeption fordert er „plastische Bildhaftigkeit“ und „psychologische Einsicht“. (Dudek 1984: 465)35 Nur auf diese Weise ließen sich im Leser Gefühle evozieren.
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Ähnlich argumentiert Tolstoi in seiner Schrift Über die Sprache von Büchern für das Volk, vgl. Tolstoi 1984b. Eine ähnliche Position vertritt Hamburger, wenn sie Tolstois „unmittelbare[n], ungekünstelte[n] Erzählungsstil“ hervorhebt – „ein Stil, der ohne Metaphern und Gleichnisse, in di-
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Tolstois Kunstauffassung wird in Herr und Knecht zum Thema, wenn Nikita und Brechunow nach ihrer ersten Irrfahrt durch den Schneesturm einen der reichsten Höfe Grischkinos erreichen und sich dort aufwärmen. Wie der Erzähler erklärt, handelt es sich um eines der wenigen Anwesen, die unter den Kindern noch nicht aufgeteilt worden sind und so von verschiedenen, unter einem Dach lebenden Generationen bewirtschaftet werden. Während des Aufenthalts unterhält sich die Familie über die von einem der Söhne geforderte Landaufteilung, für den Familienvater eine Katastrophe. Mit „tränenerstickter Stimme“ (Tolstoi 1985: 61) klagt er, dass die Aufteilung des Gutes notwendig zur Verarmung der Familie führen müsse. Seine Position wird von seinem Enkel Petrucha mit einer Fabel aus Paulsons Lesebuch kommentiert: „[E]in Vater gab seinen Söhnen einen Rutenbesen, den sie durchbrechen sollten. So konnten sie ihn nicht durchbrechen, aber mit den einzelnen Ruten – hatten sie ein leichtes Spiel. So ist es auch hier“, sagte er und lächelte über das ganze Gesicht. „Fertig!“ fügte er hinzu. (Tolstoi 1985: 63)
In den wenigen Sätzen werden Problem und richtige Konfliktlösung veranschaulicht: Ertragreich ist nicht die selbstbezogene Nutzung des eigenen kleinen Landbesitzes, sondern nur die gemeinsame, arbeitsteilige Bewirtschaftung eines größeren Gutes. Petrucha verweist ein weiteres Mal auf Paulsons Lesebuch, als Nikita und Brechunow sich entscheiden, ihre Fahrt durch den Schneesturm fortzusetzen. Hier zitiert er ein paar Verse aus Alexander S. Puschkins Winterabend (Zimnij vecer, 1825). In dem Gedicht wendet sich ein Erzähler an seine stumme Kinderfrau, die an einem Winterabend müde und traurig an dem Fenster ihrer ‚baufälligen Kate‘ steht. Um die Hütte tobt ein heftiger Schneesturm. Dem Trübsinn der Frau begegnet der Erzähler mit Lebensfreude, indem er sie auffordert, mit ihm zu trinken und zu singen, um das Leid zu vertreiben.36 Als fröhlich wird auch der mit der Natur im Einklang lebende Petrucha beschrieben. Trotz des Schneesturms „dachte [er] nicht an die Gefahr: er kannte den Weg und die ganze Gegend so gut, und außerdem ermutigte ihn der Vers über den ‚treibenden Schnee‘ dadurch, daß er genau das ausdrückte, was draußen vor sich ging.“ (Tolstoi 1985: 65) Wie deutlich wird, fungiert das Lesebuch für den Bauern als ‚Wegweiser‘ für ein gottgefälliges Leben. Es liefert ihm eine Orientierung bei lebens-
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rekter Sicht sozusagen, Personen und Dinge, Gedanken und Gefühle mit ungeheurer Plastik gestaltet.“ (Hamburger 21963: 27) Eine kurze Deutung des Gedichts findet sich in Düwel 1984: 230.
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praktischen Fragen und verschafft ihm ein Gefühl der Sicherheit in unwägbaren Situationen.37 Tolstois kunsttheoretische Position kommt nicht nur auf der Handlungs-, sondern auch auf der Darstellungsebene zum Ausdruck. Wie erläutert, zielt Tolstoi auf einen Bewusstseinswandel durch die Kunst. Die Vermittlung ‚religiöser‘ Gefühle soll in den Rezipienten ein „Bewußtsein der Gemeinschaft und Brüderlichkeit“ (Dudek 1984: 463) wecken. Dazu dient ihm erstens die kontrastive Figurenkonzeption. Tolstoi führt die sozialen Fronten zwischen Herr und Knecht als ethische Gegensätze vor. Während Brechunow einzig an der Befriedigung seiner ‚tierischen‘ Bedürfnisse interessiert ist, orientiert sich Nikita an dem ‚Gesetz der Vernunft‘. Ihre unterschiedlichen Lebenshaltungen werden anhand beider Einstellungen zu Arbeit, Eigentum und Genussmitteln sowie ihrer Beziehung zu Natur, Tod und ihrem sozialen Umfeld exemplifiziert (vgl. 2.2). Zur schärferen Gegenüberstellung der divergenten Positionen werden die Handlungen und Gedanken der Figuren häufig parallelisiert. So beginnen beide in der existentiellen Notsituation zu beten. Während Nikita Beistand sucht, erhofft sich Brechunow Rettung gegen Gebete und Kerzen. Als weiteres Beispiel seien die verschiedenen Traumvisionen von Herr und Knecht angeführt. Während Brechunows Traum seinen Bewusstseinswandel illustriert, phantasiert Nikita von seiner beschwerlichen Arbeit als Knecht (vgl. Tolstoi 1985: 123). Um die inneren Einstellungen der Figuren zu illustrieren, ist die Erzählung ab dem sechsten Abschnitt zweitens überwiegend variabel, mitunter sogar multipel intern fokalisiert. In den ersten fünf Kapiteln werden die Figuren von einem heterodiegetischen, nullfokalisiert berichtenden Erzähler eingeführt, der ihre Reise durch den Schneesturm bis zur ihrer Entscheidung, im Freien zu übernachten, schildert. Im sechsten Abschnitt ändert sich der Modus. Brechunows Handlungen und Gedanken werden hier (teilweise in erlebter Rede) von einem heterodiegetischen aber intern fokalisierten Erzähler berichtet. In dem darauffolgenden Kapitel werden dieselben Stunden noch einmal aus Nikitas Perspektive beschrieben. Bis auf diese Repetition handelt es sich um eine singulative Erzählung. Die Ereignisse der folgenden zwei Abschnitte – Brechunows Ritt durch den Schnee und sein Erkenntnisprozess – werden wieder überwiegend aus seiner Perspektive dargestellt. Das zehnte Kapitel setzt nach Brechunows
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Dass die Literatur für Petrucha ‚Wegweiser‘ für ein gottergebenes Leben im Einklang mit der Natur ist, zeigt sich auch, wenn er das Bellen des Hundes mit einem Zitat kommentiert. Wie Paulsons Lesebuch empfiehlt, betrachtet er seine Tiere als ‚Ratgeber des Hauses‘, vgl. Tolstoi 1985: 51.
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Tod ein, was zu einem erneuten Perspektivenwechsel führt: Nach den intern fokalisierten Traumvisionen Nikitas endet die Erzählung mit einer nullfokalisierten Passage, in der von dessen Rettung und seinem späteren Tod die Rede ist. Wie Wolfgang Kasack herausgestellt hat, tragen drittens die im Handlungsverlauf thematisch werdenden zentralen Motive – das Verirren und das Erfrieren – entscheidend zum „Miterleben des Lesers“ (Kasack 1967: 255) bei. Durch sie gewinnt die Erzählung an Plastizität, wodurch dem Rezipienten erst eine intensive emotionale Teilhabe an der Situation der Figuren ermöglicht wird. Die Gefahr, dass sich Herr und Knecht auf ihrer Fahrt nach Gorjatschkino verirren könnten, kommt zuerst im Gespräch zwischen Brechunow und seiner Frau zur Sprache (vgl. Tolstoi 1985: 17). Tatsächlich kommen Herr und Knecht vom Weg ab. Sie werden nicht nach Gorjatschkino, sondern nach Grischkino geführt, wo Nikita die Befürchtung äußert, sie könnten noch einmal vom Weg abkommen, und wo der Bauer Issaj ihnen rät, im Dorf zu übernachten (vgl. Tolstoi 1985: 39). Ihre Reise endet nach einer weiteren Irrfahrt erneut in Grischkino. Mit denselben Worten wie beim ersten Mal äußert Nikita nun auch bei den Überlegungen, ob man weiterfahren solle, wieder seine Sorge, man könne vom Weg abkommen [vgl. Tolstoi 1985: 59, N.B.]. Unmittelbar vor dem verhängnisvollen letzten Aufbruch gibt Tolstoj die Gedanken von drei Personen wieder, die – ohne zueinander zu sprechen – die große Gefahr ahnen: Vasilij Andrejevič selbst zweifelt, ob man zum Ziel gelangen werde; der alte Bauer, bei dem sie eingekehrt sind, hält es für falsch zu fahren, schweigt aber, weil er meint, es sei das Alter, das ihn so furchtsam gemacht habe; schließlich werden noch Nikitas Gedanken wiedergegeben, der auch nicht fahren möchte, sich aber stets dem Willen seines Herrn unterordnet [vgl. Tolstoi 1985: 65, N.B.]. Bald nachdem Petruška als Führer sie verlassen hat, wird die Darstellung des Herumirrens zum eigentlichen Thema, sie geraten in ein von Schluchten durchzogenes Gebiet, Nikita stürzt beim Suchen nach einem Weg ab, bald gibt es keine andere Lösung, als anzuhalten und die Nacht im Freien zu bleiben. Die höchste Steigerung erreicht das Motiv des SichVerirrens in dem Ritt Vasilij Andrejevičs, als er Nikita im Stich läßt, um sich allein zu retten, dann das Pferd verliert und mit Mühe und Not wieder zu Nikita zurückfindet. (Kasack 1967: 253f.)
Das Herumirren und Im-Kreis-Fahren von Herr und Knecht gewinnt durch die doppelte Beschreibung derselben Gegenstände an Anschaulichkeit. Als Beispiel sei ihre erste Einfahrt nach Grischkino angeführt. Detailliert beschreibt der Erzähler den von beiden zurückgelegten Weg: die Getreidedarre, an der sie vorbeikommen, die Dorfstraße mit dem Hof, auf dem die aufgeleinte Wäsche steif gefroren ist, die Ruhe und Wärme in der Mitte des Dorfes, das Hundegebell und das Singen der Mädchen (vgl. Tolstoi 1985: 35f.). Bei ihrer zweiten Einfahrt werden diese Einzelheiten vom Erzähler mit fast identischen Formulierungen wieder aufgenommen
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(vgl. Tolstoi 1985: 47). Zweimal wird in der Erzählung auch der hier als Symbol des Todes fungierende Beifuß beschrieben. Als Brechunow durch den Schneesturm reitet, um sich zu retten, sieht er plötzlich etwas Schwarzes – einen hohen, „vom Wind geschüttelten“ (Tolstoi 1985: 113) Beifuß – vor sich. Er reitet weiter, bis er wieder auf dieselbe Pflanze stößt „und begreift – und mit ihm der Leser –, daß er nur im Kreise irrt, daß er zum Schlitten zurück muß, seinem Schicksal nicht entgehen kann“ (Kasack 1967: 244, vgl. Tolstoi 1985: 107f.). Das Motiv des Verirrens – das metaphorisch als Abweichung vom ‚richtigen‘ Lebensweg gelesen werden kann – ist mit dem Motiv des (Er-)Frierens und dem damit verbundenen physischen Tod der Figuren eng verknüpft. Die Kälte wird schon im ersten Abschnitt der Erzählung zum Thema, wenn die Kleidung von Herr und Knecht beschrieben wird. Während sich Brechunow vor dem Schneesturm schützen kann – er trägt einen mit Schafsfell gefütterten Mantel und hüllt sich zusätzlich in zwei Pelze –, ist Nikita dem Frost ausgesetzt: Ihn bekleidet ein zerschlissener Halbpelz, so dass Brechunows Frau befürchtet, ihm könne es auf der Fahrt zu kalt werden (vgl. Tolstoi 1985: 21). Wie stark der Schneesturm dem Knecht zusetzt, wird deutlich, als das Figurenpaar seine Reise in Grischkino unterbricht und sich Nikita wünscht, sein „schneeverklebte[s] Gesicht“ und seine „durchkühlten Glieder“ aufwärmen zu können. (Tolstoi 1985: 55, 49) Die echte Befürchtung, dass jemand erfrieren könnte, wird zuerst von Brechunow formuliert – eine Sorge, die Nikita nicht zerstreuen kann, konstatiert er doch: „Mag sein. Auch wenn wir erfrieren, können wir’s doch nicht ändern“ (Tolstoi 1985: 79). Brechunows Annahme, dass der Subalterne die Nacht angesichts seiner dürftigen Kleidung nicht überleben und er dafür verantwortlich gemacht werden könnte, weicht der Sorge um sich selbst. Das Erfrieren wird nun zum Thema der Erzählung, wird Nikita doch immer kälter und kälter, der Mantel wärmt gar nicht mehr, ihm ist es „so kalt, als wäre er nur im Hemd“ [vgl. Tolstoi 1985: 107, N.B.], er weiß nicht mehr, ob er einschläft oder stirbt, die schwachen Worte zu dem zurückgekehrten Vasilij Andrejevič „ich spüre, das ist mein Tod“ [vgl. Tolstoi 1985: 117, N.B.] scheinen der Abschied des Erfrierenden vom Leben zu sein. Mit diesem tragischen Kulminationspunkt der Darstellung des Erfrierens verbindet Tolstoj die Überwindung des Egoismus Vasilij Andrejevičs (Kasack 1967: 254f.).
Der ehemals gefühlskalte Herr rettet seinem Knecht durch seine Körperwärme das Leben. Wie hier deutlich wird, werden in der Erzählung Kälte,
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Tod und ‚wirkliches‘ Leben sowie Wärme, Nächstenliebe und ‚wahres‘ Leben miteinander verknüpft.38 Als letztes Motiv, das die zentrale Thematik der Erzählung veranschaulicht, sei das Einschlafen und Erwachen genannt. Nikita nickt während der Schlittenfahrt mehrfach ein. Nachdem Herr und Knecht sich für ihre Übernachtung im Freien so gut wie möglich präpariert haben, fallen beide für eine kurze Zeit in den Schlaf; später werden die Traumvisionen beider Figuren geschildert. Schließlich stirbt Brechunow. Am Morgen kommt Nikita zu sich und verliert erneut das Bewusstsein, bis er aus den Schneemassen gerettet wird. Das Motiv des Einschlafens und Erwachens besitzt neben der physischen auch eine psychische und eine metaphysische Dimension. Brechunow erwacht am Ende der Erzählung „als ein ganz anderer als der er eingeschlafen war“ (Tolstoi 1985: 123). Der physische Vorgang wird hier mit einem Erkenntnisgewinn – dem Durchschauen des principium individuationis – gleichgesetzt. Am Ende des Handlungsverlaufs bezieht sich das Erwachen auf das Leben nach dem Tod, fragt sich der Erzähler doch, ob es Nikita dort, wo er nach seinem „wirklichen Tod erwachte, besser oder schlechter erging?“ (Tolstoi 1985: 129)39 * Wie erläutert, ist Tolstois Erzählung nach seiner Auseinandersetzung mit der Philosophie Schopenhauers entstanden. Nach seiner ‚religiösen Wende‘ zu Beginn der 1880er Jahre entwickelt er in seinen theoretischen Schriften ein Aufhebungsmodell von Herr- und Knechtschaft. Als Grundkraft alles Seienden nimmt Tolstoi ein vernünftiges Prinzip des Guten an, das sich im Individuum objektiviert und das er Gott nennt. Davon ausgehend vertritt er die Position, dass der Geist des Subjekts nach seinem leiblichen Tod zurück in die ursprüngliche Einheit des göttlichen
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Die Gefahr des Todes angesichts der klirrenden Kälte wird auch durch die aufgeleinte „steifgefrorene Wäsche“ (Tolstoi 1985: 35) illustriert, an der Herr und Knecht mehrmals mit ihrem Schlitten vorbeifahren. Explizit bringt Nikita die Kleidungsstücke mit dem Tod in Verbindung, wenn er bemerkt: „Guck an, entweder ist das Weib zu faul, oder sie liegt im Sterben, daß sie die Wäsche zum Feiertag nicht abgenommen hat“ (Tolstoi 1985: 35). Die Zerstörungskraft der Kälte wird kurze Zeit später veranschaulicht, wenn Nikita und Brechunow noch einmal an dem Hof mit der aufgeleinten Wäsche vorbeifahren. In der Zwischenzeit hat sich ein weißes Hemd bereits losgerissen, so dass es nur noch an „einem gefrorenen Ärmel“ (Tolstoi 1985: 41) an der Leine hängt. Die Position, dass der mögliche Tod der Figuren durch die im Wind flatternde Wäsche antizipiert wird, teilt Josef Metzele, für den die Kleidungsstücke als „de-familiarized memento mori“ (Metzele 1996: 121) fungieren. Zu dem gleichen Schluss kommt Metzele, wenn er erklärt: „Another pair of related activities is: falling asleep and awakening. The motif of awakening can also be considered as part of a presumed after-life as well.“ (Metzele 1996: 126)
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Geistes fließt. Das nur kurz währende ‚wirkliche‘ Leben des Subjekts darf also nicht mit seinem ‚wahren‘ Leben gleichgesetzt werden. Allerdings gehen laut Tolstoi die meisten Menschen irrtümlich davon aus, dass es kein Leben jenseits ihrer physischen Existenz gibt. Sie bekriegen sich, weil sie ihre Individualität bedingungslos bejahen. Die Lebensaufgabe des Subjekts ist es aber, sich dem ‚Gesetz der Vernunft‘ zu unterwerfen. Dafür muss es seinen Egoismus überwinden und sich bis zur Selbstaufgabe von seiner Nächstenliebe leiten lassen, für Tolstoi die einzig vernünftige Tätigkeit des Subjekts. Seine philosophische Position illustriert Tolstoi in seiner bislang kaum beachteten Erzählung Herr und Knecht. Wie bei Strindberg fungieren die Figuren weniger als Vertreter eines bestimmten sozialen Standes denn als Ideenträger. Die sozialen Unterschiede werden als ethische Gegensätze vorgeführt. Während Brechunow ichbezogen nach der Befriedigung seiner ‚wirklichen‘ Begierden strebt, orientiert sich der asketische Nikita an den Geboten des ‚wahren‘ Lebens. Allerdings erkennt der Grundbesitzer seine bisherigen Ideale im Angesicht des Todes als falsch. Er spürt, dass Nikita und er verschiedene Objektivationen des einen göttlichen Willens sind. In dem Wissen, dass er nach seinem Tod in dem Subalternen weiterleben wird, unterwirft er sich ihm aus Nächstenliebe – ein Opfer, das von ihm als höchste Freude erfahren wird. Mit seiner Kunst will Tolstoi einen Bewusstseinswandel herbeiführen: Die Menschen sollen realisieren, dass sie erst dann ‚wahrhaft‘ glücklich werden können, wenn sie einander dienen. Damit die Kunst in diesem Sinne sittlich-erzieherisch wirken kann, muss sie allen Rezipienten ohne Rücksicht auf ihre Nationalität, ihre Ethnie, ihren Glauben und ihren Bildungsgrad die „Wahrheit über die Seele des Menschen“ (Tolstoi 1978: 282) offenbaren und in ihnen das Gefühl der Nächstenliebe evozieren. Dazu dienen Tolstoi die kontrastive Figurenkonzeption, die variable interne Fokalisierung und die Motive des Verirrens, (Er-)Frierens und Einschlafens bzw. Erwachens. Durch die oppositive Figurenzeichnung wird dem Rezipienten ein „religiöses Bewußtsein von Gut und Böse“ (Tolstoi 1984a: 85) vermittelt; die variable interne Fokalisierung ermöglicht es ihm, die Gefühle und inneren Einstellungen der Figuren nachzuvollziehen. Die zentralen Motive verdeutlichen schließlich das Thema der Erzählung; zugleich gewinnen die Schilderungen an Plastizität, wodurch der Rezipient erst in das erzählte Geschehen emotional involviert werden kann. Ob und inwiefern es Tolstoi aber tatsächlich gelungen ist bzw. überhaupt gelingen kann, im Rezipienten die erwünschten Gefühle zu evozieren, muss Gegenstand der Rezeptions- bzw. Emotionsforschung bleiben. Wie die von Strindberg thematisierte Umkehrung des Machtgefälles zwischen Herr und Knecht ist auch die von Tolstoi vorgeführte Nivellie-
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rung des Herrschaftsverhältnisses ein ‚Sonderfall‘ interdependenter Herrschaft, weil die hierarchische Beziehung zwischen Nikita und Brechunow im Handlungsverlauf aufgehoben wird. Es sei darauf hingewiesen, dass Tolstois Text im Hinblick auf die Wirkungsabsicht durchaus eine Nähe zu der hier vorgestellten zweiten Figuration interdependenter Herrschaft aufweist – der Forderung nach Humanität und moralischer Integrität in (komödiantischen) Darstellungen widerständiger Subalterner. Denn auch Tolstoi zielt auf einen Bewusstseinswandel der Rezipienten zur Beseitigung der bestehenden sozialen, politischen und wirtschaftlichen Missstände.
IV. Pflichttreue Knechte In den ersten Kapiteln dieser Arbeit sind zwei konfliktäre Modelle interdependenter Herrschaft vorgestellt worden – Koalitionen zwischen Herr und Knecht, die bei Denis Diderot, Bertolt Brecht und Volker Braun mit der dialektischen Negation des politischen Systems ihrer Zeit verbunden sind; außerdem die Gegnerschaft zwischen Herr und Diener, die in der Komödie bei Pierre Carlet de Marivaux, Johann Christian Krüger, Pierre Augustin Caron de Beaumarchais, Hugo von Hofmannsthal und Ödön von Horváth mit der Forderung nach Humanität und moralischer Integrität zur Konstituierung einer auf gegenseitiger Anerkennung basierenden sozialen Gemeinschaft einhergeht. Im Unterschied dazu sollen im Folgenden zwei konsensuelle Modelle interdependenter Herrschaft profiliert werden, zum einen die Idealisierung der Pflichttreue als Mittel zur Stabilisierung der bestehenden Ordnung bei Franz Grillparzer, Jeremias Gotthelf und Marie von Ebner-Eschenbach (vgl. IV.) und zum anderen die freiwillige Unterwerfung des Knechts unter den Herrn als Rückzug in ein ‚inneres Exil‘ angesichts der als krisenhaft erfahrenen (modernen) Gegenwart bei Robert Walser und Hermann Lenz (vgl. V.). * Zur Einführung sei Otto Ludwigs Erzählung Das Hausgesinde. Eine Laune (1840) vorgestellt, weil sie im Hinblick auf die Figurenkonstellation und den durch Intrigen bestimmten Handlungsverlauf stark an Beaumarchais’ Hochzeit des Figaro erinnert, kontrastierend dazu aber den Widerstand des Dieners als Mittel zur Bildung einer humanen Gemeinschaft sich gegenseitig anerkennender Subjekte verwirft. Im Zentrum der Erzählung steht der treue „Gartenknecht“ (Ludwig 1912: 3) Andres, der sich in Röschen, eine Müllerstochter, verliebt, sie aber nicht heiraten kann, weil ihm dafür das notwendige ökonomische Kapital fehlt. Zudem muss er feststellen, dass seine Geliebte auch vom „geschniegelten Kammerdiener“ (Ludwig 1912: 6) und seinem Herrn, dem Grafen, umworben wird. Als die Gräfin davon erfährt, will sie ihren Mann mit Andres’ Hilfe der Untreue überführen und vor der ganzen Dienerschaft „beschämen“ (Ludwig 1912: 11). Dazu beauftragt sie den Gärtner, nachts im Park einem Boten aufzulauern, der Röschen im Namen des
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Pflichttreue Knechte
Grafen eine Schmuckkassette und einen Brief überbringen soll. Als Gegenleistung verspricht sie ihm die Summe, „an die Röschens Besitz geknüpft“ (Ludwig 1912: 11) ist. Der Plan misslingt, da zu gleicher Zeit Kammerdiener, Hausmeister und Haushälterin gegen den Grafen intrigieren und es zu einer Verwechslung dreier ähnlich aussehender Schmuckkästchen kommt. Da sich in der von Andres konfiszierten Kassette wider Erwarten kein Schmuck, sondern eine „schneeweißgepuderte Perücke“ (Ludwig 1912: 27) befindet, vermag die Gräfin ihren Mann nicht zur Rechenschaft zu ziehen. Kurze Zeit später findet Andres per Zufall die beiden anderen Kästchen. Anstatt sich noch einmal gegen den Grafen zu stellen, entscheidet er sich nun dafür, der „Versuchung“ (Ludwig 1912: 30) zu widerstehen und sie seinem Herrn auszuliefern. Seine Pflichttreue wird belohnt. Der Graf erkennt, dass ihn Kammerdiener, Hausmeister und Haushälterin hintergangen haben und er seinen Knecht verkannt hat. So erklärt er: Du bist die einzige treue Seele unter allen, die um mich sind. Und dazu so ein kluger Bursche, als ich dir nimmermehr zugetraut. Den Dienst will ich dir nicht vergessen, den du mir heute geleistet hast. Sei fort so treu, und brauche deine Klugheit zu meinem Besten wie heute. (Ludwig 1921: 31)
Während das „Schurkenkleeblatt“ (Ludwig 1921: 31) verjagt wird, belohnt er seinen Knecht mit so viel Geld, dass dieser sein geliebtes Röschen heiraten kann. Die Erzählung illustriert, dass nicht der Widerstand gegen den Herrn, sondern allein die Pflichttreue zum Erfolg führt. Solche pflichttreuen Diener, die ihren Herren ethisch-sittlich überlegen sind und auf diese Weise deren Anerkennung gewinnen bzw. erzwingen können, stehen im folgenden Kapitel im Zentrum des Interesses. Als paradigmatisches Beispiel für solch eine interdependente Herrschaftsbeziehung wird zunächst Franz Grillparzers Ein treuer Diener seines Herrn analysiert – ein Trauerspiel, das im Gegensatz zur Communis Opinio als literarische Auseinandersetzung mit der Pflichtethik Immanuel Kants gedeutet wird (vgl. 1.). Daran anschließend wird gezeigt, dass die Pflichttreue nicht nur im republikanischen Trauerspiel des 18. und 19. Jahrhunderts, sondern auch in der regionalen Prosa des 19. Jahrhunderts – insbesondere im Roman Uli der Knecht (1841) von Jeremias Gotthelf und in der Erzählung Božena (1875) von Marie von Ebner-Eschenbach – idealisiert wird und in allen drei Texten zur Stabilisierung der bestehenden politischen und/oder sozialen Ordnung propagiert wird (vgl. 2.).
1. Zur Pflichttreue in Grillparzers Ein treuer Diener seines Herrn (1828) In einem Brief an Robert Zimmermann vom 6. 1. 1866 erklärt Grillparzer: „Der Bankbanus [sic] ist ein alter gutmütiger Kerl, der an seinem gegebenen Worte festhält. Draußen hat man’s geschimpft wegen seiner Loyalität und drinnen hat mirs der Kaiser Franz abkaufen wollen, damit’s nicht aufgeführt wird.“ (Grillparzer 1986b: 901) Wie Grillparzer hier andeutet, ist sein Trauerspiel Ein treuer Diener seines Herrn divergent beurteilt worden. Während ihm Literatur- und Theaterkritiker – vor allem außerhalb Österreichs – vorgeworfen haben, eine „Apologie der knechtischen Unterwürfigkeit“ (Grillparzer 1925: 204) geschrieben zu haben, hat der österreichische Kaiser Franz II./I. die Tragödie für so subversiv gehalten, dass er das Manuskript sowie die existenten Soufflier- und Rollenbücher nach der Uraufführung aufkaufen wollte, um als „alleiniger Besitzer“ (Grillparzer 1925: 205) eine Verbreitung des Stücks zu verhindern. Beide Deutungen hält Grillparzer für Fehlinterpretationen. In seiner Selbstbiographie (1853) betont er, beim Schreiben nicht den Servilismus, sondern den „Heroismus der Pflichttreue im Sinn“ (Grillparzer 1925: 204) gehabt zu haben. Darüber hinaus sei ihm „bis auf diesen Augenblick ein Geheimnis geblieben“, was dem Kaiser an seinem „bis zum Übermaß loyalen Stücke“ hat missfallen können. (Grillparzer 1925: 206)1 Ausgehend von der Rezeptionsgeschichte und den Paratexten hat die Forschung den Theatertext wiederholt auf seine „ideologischen Meriten hin befragt“ (Prutti 2007: 371).2 Dabei ist oft konstatiert worden, dass hier die Diensttreue idealisiert werde und dem Trauerspiel somit eine herr-
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Wie man weiß, hat sich Grillparzer gegen die Zensurbestrebungen von Franz II./I. zur Wehr gesetzt, indem er die Polizeibehörde darauf hingewiesen hat, „gar nicht mehr Herr über [s]ein Stück“ zu sein. Er „selbst hätte [s]ein Manuskript abschreiben lassen, beim Theater sei es wiederholt kopiert worden. Jedermann wisse, daß die mit der Kopiatur betrauten Souffleure der Theater einen heimlichen Handel mit widerrechtlich genommenen Abschriften trieben. Der Kaiser könne sein Geld ausgeben, ohne daß das Stück, und zwar ohne [s]eine Schuld, der Öffentlichkeit entzogen werde.“ (Grillparzer 1925: 205) Vgl. außerdem die Schilderungen in Grillparzers Briefen und Tagebüchern (Grillparzer 1924a: 17– 21, Briefe 339–341 an den Grafen Sedlnitzky und Ferdinand von Paumgartten; außerdem Grillparzer 1916: 294–296, Eintrag vom 5. 3. 1828). Vgl. u. a. die Forschungsberichte von Reichert 1949 und Roe 1995.
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schaftsstabilisierende Funktion zukomme.3 Von den Vertretern dieser Position ist allein der tragische Konflikt unterschiedlich akzentuiert worden. So meint Hilde Haider-Pregler im Anschluss an Georg Wihelm Friedrich Hegels Tragödientheorie, dass die „Tragik des Bancbanus […] aus der Kollision zweier Pflichten“ erwachse: „seiner Treue zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und seiner privaten Pflicht Erny gegenüber.“ (Haider-Pregler 1975: 58) Gerhart Baumann, Oskar Katann, Benno von Wiese und William E. Yates halten Bancbanus hingegen für eine tragische Figur, weil die von ihm geforderte „heroische Treue“ sein „Lebensglück“ vernichte. (Katann 1932: 65)4 Dem Trauerspiel eine restaurative Funktion zuschreibend, führt Richard Alewyn die Zensurbestrebungen von Franz II./I. auf die Demokratiefeindlichkeit des „System[s] Metternich“ zurück. Dessen „Ideal“ sei der Bürger gewesen, „der […] die öffentliche Sphäre widerspruchslos dem Staat“ überlasse und „sich in sein Privatleben“ zurückziehe, so Alewyn. (Alewyn 1974: 283) Aus diesem Grund sei man jedem politischen Stück – sei es auch noch so kaisertreu – mit Misstrauen begegnet. August Sauer begründet das Verbot des Theatertextes hingegen mit der darin geschilderten „Sittenlosigkeit“ (Sauer 1925: 371) des Hofes, in persona Otto von Meran. Als Herzog von Meran war dieser Wüstling bezeichnet. Der Kaiser mochte sich erinnern, daß man, als es sich um einen Titel für seinen Enkel handelte, neben dem Titel des Herzogs von Reichstadt auch den eines Grafen von Meran in Vorschlag gebracht hatte. (Sauer 1925: 371)
Zudem thematisiere der Theatertext einen Aufruhr in Ungarn, „wo es um diese Zeit wieder gährte, wo der Kaiser dem Landtag seine volle Unzufriedenheit aussprach. Und da, wo ein wirkliches Staatsinteresse in Betracht kam, ließ sich anknüpfen.“ (Sauer 1925: 371) Die hier skizzierte Brüchigkeit der politischen Ordnung hat die Forschung häufig auch an einer herrschaftsstabilisierenden Funktion des Theatertextes zweifeln lassen. Als Beleg dafür dient etwa Arnulf Knafl die Darstellung des interdependenten Herrschaftsverhältnisses – der Herrscher ist auf seinen Diener angewiesen. Da Grillparzer mit der seit Aristoteles tradierten Vorstellung, dass die Knechte im Unterschied zu ihren Herren keine Vernunft besäßen, breche und darüber hinaus ein wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis vorführe, erhalte das Dienen im Drama
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Vgl. u. a. Alewyn 1974, Baumann 1965, Berthold 1987, Haider-Pregler 1975, Kaiser 1980, Lattmann 1971, Müller 1976, Nadler 1952: 168–171, Prutti 2007, Sengle 1980: 97–99, Skreb 1976, Träger 1961, Wiese 81973: 412–415, Yates 1972: 132–146. Vgl. Baumann 1965: 35, Wiese 81973: 415, Yates 1972: 132–146.
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eine „geradezu subversive[ ] Energie“ (Knafl 1994: 23). Als herrschaftskritischen Kommentar interpretieren auch Otto E. Lessing und Roy C. Cowen das Trauerspiel. Sie lesen es als Protest gegen die Inhumanität und die fehlende moralische Integrität der Herrschenden. Dabei stellt Cowen Bezüge zu Gotthold Ephraim Lessings Bürgerlichem Trauerspiel Emilia Galotti (1772) her und erklärt, dass Bancbanus den König am Ende ähnlich wie Odoardo Galotti den Prinzen von Guastalla dem „Richter unser aller“ (Lessing 2004: 78) überantworte. Im Gegensatz dazu ist Otto E. Lessing der Auffassung, dass die Herrschaftskritik durch den Kontrast zwischen Bancbanus’ bedingungsloser Treue und der Selbstverständlichkeit, mit der die Inhaber der politischen Macht „das Glück der Unterthanen in den Staub“ träten und „gleichgiltig [sic] darüber“ hinwegschritten, ihr Gewicht erhalte. (Lessing 1901: 699) Wie die genannten Autoren sprechen auch Alfred Doppler, Helmuth Himmel, Friedrich Koch, Peter Lattmann und Mohammed Rassem dem Theatertext eine – wenn auch weniger starke – herrschaftskritische Intention zu. So ist Doppler davon überzeugt, dass sich Grillparzer für eine „Regeneration des Staates“ einsetze. Der König mache sich schuldig, weil er Ruhe und Ordnung ohne „Menschenachtung, Menschenfreundlichkeit und Liebe“ einfordere. Ohne diese Qualitäten werde die von ihm proklamierte Sittlichkeit aber zur bloßen Konvention, die das „Unheil nicht abwendet, sondern herbeiruft“. (Doppler 1990: 24) Ähnlich argumentiert Himmel. Bancbanus werde im Handlungsverlauf von dem Regenten enttäuscht, weil dieser seiner Frau und dessen Bruder vertraue, ihn aber für den entstandenen Aufruhr tadle. Angesichts der gestörten politischen Ordnung werde Bancbanus auf das „Sittengesetz der Vernunftreligion“ zurückgeworfen in der Hoffnung auf ein zukünftig zu realisierendes „Vertrauensverhältnis“ zwischen Herrschendem und Untertanen. (Himmel 1972: 45) Auch Koch und Lattmann meinen, dass Grillparzer an der Existenz eines humanen politischen Systems zweifle. Während Koch aber davon überzeugt ist, dass die Bedrohung des Subjekts durch „Unordnung und Ungerechtigkeit“ (Koch 1956: 21) von dem in der Rahmenhandlung auftretenden König noch „aufgefangen und entkräftet“ (Koch 1956: 22) werde, deutet Lattmann das Trauerspiel als „radikale Absage an den Traum“ von einer heilbringenden „vorbehaltlosen Hingabe an die [staatliche, N.B.] Ordnung“. (Lattmann 1971: 54) Grillparzer zeige, dass und wie ein Subjekt „gerade durch die radikale Unterordnung […] unter die Gesamtheit […] Schaden nimmt.“ (Lattmann 1971: 54) Neben dem Souverän Andreas II. ist mitunter auch Bancbanus kritisch beurteilt worden, so etwa von Ulrich Fülleborn, Heinz Politzer und Adalbert Wichert. Alle drei glauben, dass Bancbanus dem König „weniger unheilvoll gedient“ (Politzer 1965: 64) hätte, wenn er dem „Ruhestörer
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Otto von Meran“ (Fülleborn 1966: 187) entgegengetreten wäre oder den König als fehlbaren Herrscher und nicht als Stellvertreter Gottes auf Erden betrachtet hätte. Mit der Figur des treuen Dieners stelle Grillparzer der „paternalistischen Gesellschaft Alt-Österreichs und damit auch seinem Staat und Hof einen Krankheitsbefund“ (Politzer 1990: 204) aus. Denn Bancbanus’ geistige Beschränktheit sei auf das „politische System“ zurückzuführen, „das ihn zu dem“ gemacht habe, was er sei. (Wichert 1989: 144) Im Unterschied zu den genannten Forschungspositionen vertreten u. a. Gerhard Fricke, Urs Helmensdorfer und Konrad Schaum die These, dass im Trauerspiel weniger herrschaftstheoretische als existentielle Problemstellungen verhandelt werden. So stellt Fricke fest, dass der treue Diener mit seiner selbstlosen Rechtschaffenheit „das gleiche Chaos“ herbeiführe „wie willkürliche Gewalttat.“ (Fricke 1956: 276) Die Erfahrung, die Welt nicht planvoll gestalten zu können, führe zu einer „ängstlichen Abkehr des einzelnen, der nur noch weltlos und weltfern Reinheit und Frieden seiner Seele zu wahren vermag.“ (Fricke 1956: 276) Auch Schaum betont, dass die Figuren bei Grillparzer nie „Sinn und Mittelpunkt des Geschehens, sondern immer […] von überpersönlichen Kräften Bestimmte und von unüberschaubaren Vorgängen Bedrohte“ (Schaum 1960: 74) sind. Im Unterschied zu Fricke vertritt er aber ähnlich wie Helmensdorfer die Position, dass Grillparzer vom einzelnen fordere, „nicht nur eine höhere Weltordnung anzuerkennen, sondern sich ihrer Verwirklichung aktiv zu widmen.“ (Schaum 2001: 25)5 Schließlich verpflichte sich Bancbanus, während der Abwesenheit des Königs seine privaten Interessen zu Gunsten des Allgemeinwohls zurückzustellen und im Land für Frieden und Ordnung zu sorgen. Dabei unterwerfe er sich weniger dem Regenten als seiner „Vernunft und seine[r] natürliche[n] Bindung an unwandelbare Voraussetzungen sittlicher und kultureller Existenz.“ (Schaum 2001: 103) Erst nach Rückkehr des Herrschers bitte er darum, von seinen Ämtern befreit zu werden, um sich auf das Schloss seines Vaters zurückziehen zu können. Die Grillparzer-Forschung hat nicht nur in dem Herr-KnechtVerhältnis, sondern auch in der Beziehung zwischen „Gräfin Erny und Otto von Meran“ den „Handlungskern des Stückes“ gesehen. (Von Matt 1965: 88) Vor diesem Hintergrund haben sich zahlreiche Arbeiten mit der Erny-Figur auseinandergesetzt.6 Ein weiterer großer Schwerpunkt der
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Vgl. auch Helmensdorfer 1960: 64. Für Ernst Howald und Peter Lattmann kommt der Erny-Figur eine bloß dramaturgische Funktion zu: Ihre Treue werde hervorgehoben, „um über den pedantischen Bancban ein
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Forschung liegt auf der Untersuchung intertextueller Bezüge. In diesem Zusammenhang ist die Erny-Figur oftmals mit Emilia Galotti verglichen worden;7 ferner wurden Parallelen zwischen Bancbanus’ Äußerungen und den Reden Franz Déaks festgestellt.8 Mitunter ist nach Grillparzers Quellen gefragt worden und hier neben historiographischen Werken auf Thomas Heywoods Schauspiel The Royal King and the Loyal Subject (UA zwischen 1615 und 1618) und John Fletchers Tragikomödie The Loyal Subject (1647) verwiesen worden.9 Darüber hinaus wurden Bezüge zu George Byrons historischem Drama Marino Faliero (1821), Friedrich Maximilian Klingers Schauspielen Simsone Grisaldo (1776) und Der Günstling (1785) sowie George Lillos Tragödie Elmerick: or, Justice Triumphant (1740) hergestellt.10 Wie in vielen anderen Arbeiten steht auch in der folgenden Untersuchung die für den Theatertext strukturbestimmende Herr-KnechtBeziehung im Zentrum des Interesses (vgl. 1.1). Dabei wird im Gegensatz zu den skizzierten Positionen die These vertreten, dass das Trauerspiel als literarische Auseinandersetzung mit Immanuel Kants Moral- und Rechtsphilosophie zu deuten ist. Davon ausgehend, dass der Mensch die Pflicht hat, selbst auferlegten Vernunftgesetzen und den staatlichen Gesetzen zu folgen, fordert Grillparzer von Herr und Diener, diesen Geboten im privaten und politischen Bereich Folge zu leisten. Jedes Subjekt, das gegen die notwendigen Rechts- und Tugendpflichten verstößt, gefährdet das friedvolle Zusammenleben der Menschen und muss entweder aus der
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freundliches Licht zu verbreiten.“ (Lattmann 1971: 78) Im Unterschied dazu interessieren sich Sigurd Paul Scheichl und Brigitte Prutti für die „geschlechterpolitischen Aspekte“ (Prutti 2007: 369) des Theatertextes. Dabei kommt Prutti zu dem Schluss, dass die Frauenfiguren als „semiotische Chiffre der Unlesbarkeit und des Sinnentzugs“ fungieren (Prutti 2007: 402). Erst die „Elimination der weiblichen Figuren“ gestatte „die nötige Selbstvergewisserung, inklusive der Herrschaftsgewissheit des männlichen Subjekts, die die homosoziale Versöhnungsvision des Dramenschlusses exemplarisch“ vorführe. (Prutti 2007: 373) Wie Prutti betont auch Scheichl, dass der Rezipient „aus den Fremd- wie aus den Eigenkommentaren […] kein einheitliches und geschlossenes Bild“ von Erny gewinnen könne, wobei er die Unstimmigkeiten auf die „Widersprüche im Bild der Grillparzer-Zeit von der Frau“ zurückführt. (Scheichl 2000: 195, 197) Für Adolf D. Klarmann ist Erny hingegen ähnlich wie Emilia Galotti oder Dionysia in Arthur Schnitzlers Novelle Die Hirtenflöte (1909) eine jugendliche Frau, die im Handlungsverlauf ihre Verführbarkeit entdecke. Daher habe sich Bancbanus mit der Frage auseinanderzusetzen, ob er das Recht habe, von seiner Frau die „absolute Treue“ (Klarmann 1975: 197) zu fordern. Richtig entscheide er, Erny keine Vorschriften zu machen; zugleich mache er sich schuldig, weil es ihm nicht gelinge, „die geliebte Frau vor sich selbst“ (Klarmann 1975: 200) zu schützen. Vgl. u. a. Berthold 1987: 141f., Cowen 1983/84: 23. Vgl. Frieberger 1960. Vgl. Knapp 2000, Lehmeyer 1974, Rosenberg 1910. Vgl. Martini 1976, Weilen 1911, Wyplel 1902.
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sozialen Gemeinschaft ausgeschlossen werden oder sich selbst verpflichten, zukünftig moralisch zu handeln. Auch wenn es im Trauerspiel die Königin Gertrude und ihr Bruder Otto von Meran sind, die nicht aus Pflicht, sondern aus „eigennütziger Absicht“ (Kant 1974b: 23) handeln, übt Grillparzer keine Kritik am politischen System. Diese These lässt sich mit Blick auf die von der Forschung bislang kaum analysierte Darstellungsebene stützen (vgl. 1.2). Grillparzers Umgang mit den historischen Quellen, sein Rekurs auf die Tradition des republikanischen Trauerspiels und der Vergleich mit anderen Ban Bánk-Dramen machen deutlich, dass sich sein kritischer Anspruch auf die Verantwortung des einzelnen im Gemeinwesen bezieht. Staatsbürger und Souverän sollen ihre privaten Interessen negieren und sich für die res publica einsetzen.
1.1 Zur Handlungsebene: Dienen als Pflicht für Herr und Diener Dass Grillparzer Kants Schriften rezipiert und geschätzt hat, ist bekannt. 1817 hat ihn Joseph Schreyvogel – der damalige Intendant des Wiener Burgtheaters – auf Kant hingewiesen.11 Am 13. 3. 1817 notiert dieser in seinem Tagebuch, dass Grillparzer „hypochondrisch“ sei; zwei Tage später ist zu lesen: „Ich habe Grillparzern die Hauptwerke von Kant gegeben. Vielleicht findet er Beruhigung darin.“ (Schreyvogel 1903: 243) Wie Walter Seitter betont, hat Grillparzer in der Folge alle philosophischen Schriften an Kants Werk gemessen (vgl. Seitter 1991: 24). Davon zeugen auch seine Tagebucheinträge. So schreibt er etwa im September 1832: „Habe Hegels objektive Logik begonnen. Das Buch ist sehr schlecht geschrieben. Auch das System scheint mir hohl. Man muß übrigens abwarten. Alles was ich philosophisches lese, vermehrt meine Achtung für Kant.“ (Grillparzer 1916a: 78f.) Ob Grillparzers ‚treuer Diener‘ als Repräsentant der Kant’schen Pflichtethik gelten kann, ist von der Forschung gelegentlich diskutiert, in der Regel aber bestritten worden,12 so etwa von Heinz Politzer, der er-
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Zu Grillparzers Kant-Rezeption vgl. insbesondere Kainz 1975: 57–65; von seiner intensiven Beschäftigung mit Kant zeugen auch die von ihm angefertigten umfangreichen Exzerpte zu Kants Kritik der Urteilskraft, vgl. Grillparzer 1914: 323ff. Vgl. Berthold 1987: 136, Fischer: 36, Politzer 1990: 188, Seidler 1973, Sengle 1980: 97. Wichert vertritt zwar die Position, dass sich Bancbanus an den Kant’schen Handlungsnormen orientiert, wertet das Trauerspiel allerdings als kritische Auseinandersetzung mit dessen Pflichtethik, „weil darin das Lebensrecht des Menschen zu kurz komme“ (Wichert 1989: 142). Kainz und Emil Reich sind meines Wissens die einzigen, die davon überzeugt
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klärt: „Aber der Zwang der Sitte, den er [Bancbanus, N.B.] sich selbst auferlegt, ist nicht das Sittengesetz nach der Meinung Kants. Dieses ist auf Freiheit gegründet, während Bancban durch die starre Auslegung des Worts, das er dem König gegeben hat, gebunden ist.“ (Politzer 1990: 188) Grillparzers Trauerspiel lässt sich aber sehr wohl als produktive Auseinandersetzung mit Kants philosophischen Positionen lesen, wie ich meine. Um diese These zu verifizieren, werden zuerst die zentralen Aspekte seiner Moral- und Rechtslehre skizziert (vgl. 1.1).13 Anschließend wird die kontrastive Figurenkonzeption in den Blick genommen, um die im Theatertext proklamierten Handlungsnormen in der privaten und öffentlichen Sphäre zu beleuchten. Wie zu zeigen ist, orientieren sich die staatlichen ‚Ordnungshüter‘ Bancbanus und Andreas II. an Kants Pflichtethik (vgl. 1.2). Im Gegensatz dazu folgen die ‚Ordnungsstörer‘, Königin Gertrude und Otto von Meran, ausschließlich ihren Neigungen (vgl. 1.3). Am Beispiel der Erny-Figur wird im nächsten Schritt die Tugendhaftigkeit aus Neigung problematisiert (vgl. 1.4). Abschließend wird verdeutlicht, dass Grillparzers Text affirmativ – als moralische Utopie und Bestätigung der politischen Ordnung – zu lesen ist (vgl. 1.5). Diese restaurative Textintention korreliert auf der Darstellungsebene mit der Orientierung an literarästhetischen Konventionen (vgl. 1.6). 1.1.1 Dienen als Pflicht in der Moral- und Rechtslehre Immanuel Kants Ähnlich wie Denis Diderot ist Kant davon überzeugt, dass alle raumzeitlichen Ereignisse kausal erklärt werden können. Jede Handlung lässt sich auf eine Ursache in der empirischen Realität zurückführen.14 Allerdings ist Kant kein Determinist, betont er doch in seinen philosophischen Schriften, dass der Wille des Subjekts nicht der Naturkausalität unterworfen ist. Jede Person kann durch ihr Wollen selbst kausale Veränderungen in der Welt der Erscheinungen bewirken. Diese dualistische Position – der
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sind, dass der Theatertext affirmativ – als Plädoyer für Kants moralphilosophische Position – gelesen werden muss, vgl. Kainz 1975: 168–171, Reich 31909: 144. Während Reich diese These aber nicht am Text belegt – Grillparzers vermeintlicher Kant-Bezug wird in einem Satz bloß behauptet –, interessiert sich Kainz primär für Grillparzers ‚philosophische Grundeinstellung‘, für die seine Kant-Rezeption maßgeblich ist, ohne dabei aber dem treuen Diener seines Herrn viel Aufmerksamkeit zu schenken. Es sei darauf hingewiesen, dass Kants philosophische Position im Folgenden nicht in ihrer Komplexität dargelegt werden kann. Vielmehr sollen nur die Aspekte fokussiert werden, die für die Analyse des Trauerspiels gewinnbringend sind. Zu Diderots philosophischer Position vgl. I.1.
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naturgesetzliche Determinismus bei gleichzeitiger Willensfreiheit – lässt sich auf seine Vorstellung von der Konstitution des Subjekts zurückführen: Nach Kant können wir die Gegenstände nie so erkennen, wie sie ‚an sich‘ sind, da wir als sinnliche Vernunftwesen für ihre Erkenntnis auf Anschauungen angewiesen sind. Wir erkennen Gegenstände also immer nur als ‚Erscheinungen‘. Zwar ist nach Kant unsere objektive Erkenntnis beschränkt, allerdings nicht unser Denken. Weil wir die Existenz der ‚Dinge an sich‘ konsistent denken können bzw. sogar denken müssen, ist es uns auch möglich, zwischen der ‚Sinnenwelt‘ und der ‚Verstandeswelt‘ zu unterscheiden. Demnach müssen wir davon ausgehen, daß alle Gegenstände, also auch wir selbst, zugleich beiden Welten angehören. Deshalb können wir auch uns selbst von zwei Standpunkten aus betrachten: Als ‚Sinnenwesen‘ stehen wir unter den ‚Gesetzen der Natur‘, während wir als ‚Verstandeswesen‘ den Gesetzen ‚der Freiheit‘ unterworfen sind. (Horn 2007: 315f.)
Wie das Zitat zeigt, ist das Subjekt für Kant zugleich ein ‚Sinnen‘- und ein ‚Verstandeswesen‘. Als Sinnenwesen nimmt es seine Handlungen als bloße Erscheinungen wahr, die durch seine Neigungen und Begierden kausal bestimmt zu werden scheinen. Als Verstandeswesen ist es in der Lage, nach seinem freien Willen, d. h. nach selbst auferlegten Vernunftgesetzen, zu handeln und damit wiederum Einfluss auf die Welt der Erscheinungen zu nehmen, da die „Verstandeswelt die Gesetze der Sinnenwelt bereitstellt“ (Horn 2007: 288). Deutlich wird, dass Kant unter dem freien Willen entgegen der umgangssprachlichen Bezeichnung keine irrationale Kraft versteht, sondern das Vermögen des Menschen, die ‚Sinnenwelt‘ zu übersteigen und sich selbst vernunftbestimmte (Moral-)Gesetze zu geben, die sich wiederum in Handlungen der empirischen Realität verwirklichen.15 Ein „freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen“ (Kant 1974b: 82) sind folglich identisch.16 Allerdings kann es sein, dass ein Subjekt nach (moralischen) Willensmaximen handelt, aber scheitert – die faktisch erscheinende Realität also nicht nach seinem Willen verändern kann. Aus diesem Grund betont Kant, dass der (freie) Wille „nicht durch das, was er bewirkt, oder ausrichtet, nicht durch seine Tauglichkeit zur Erreichung irgendeines vorgesetzten Zweckes, sondern allein durch das Wollen, d. i. an sich, gut“ (Kant 1974b: 19) ist. Nicht die Wirkung, sondern der Bestimmungsgrund
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Der freie Wille wird, so Kant, „als ein Vermögen gedacht, der Vorstellung gewisser Gesetze gemäß sich selbst zum Handeln zu bestimmen“ bzw. als „Vermögen, nur dasjenige zu wählen, was die Vernunft, unabhängig von der Neigung, als praktisch notwendig, d. i. als gut erkennt.“ (Kant 1974b: 59, 41) Über einen freien Willen verfügt also nur das Subjekt, das seine Neigungen negiert und vernunftbestimmte Gesetze zu seinen Handlungsprinzipien macht. Zum Begriff des Willens bei Kant vgl. u. a. Höffe 2012: 81f., Horn 2007: 201f. Zur Herleitung und Begründung dieser These vgl. u. a. Horn 2007: 271f.
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einer Tat ist für ihre moralische Bewertung ausschlaggebend. Von diesen Voraussetzungen ausgehend, kommt dem Begriff der Pflicht, verstanden als moralisches Sollen, für Kant zentrale Bedeutung zu. Die Pflicht ergibt sich daraus, daß der menschliche Wille nicht nur von der Vernunft, sondern auch von den Neigungen bestimmt wird. Ein ‚schlechterdings guter [bzw. freier, N.B.] Wille‘ würde notwendig mit dem moralischen Gesetz übereinstimmen. Da der menschliche Wille nicht schlechterdings gut ist, trifft das moralische Gesetz ihn in Form einer ‚moralische[n] Nötigung‘ […] bzw. der ‚Verbindlichkeit‘: Pflicht bezieht sich dann auf die ‚objektive Notwendigkeit einer Handlung aus Verbindlichkeit‘ (Horn 2007: 321).
Da das Subjekt nur eingeschränkt vernünftig ist und gern dem „Angenehmen“ folgt, treten ihm die Vernunftgebote als ein „Sollen“ entgegen. (Kant 1974b: 42) Das Subjekt ‚soll‘ sich das moralische Gesetz als Handlungsprinzip selbst auferlegen, auch wenn es sich dadurch einen Nachteil verschafft. Aus diesem Grund bezeichnet Kant die Pflichten des Subjekts auch als Imperative. In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) unterscheidet er zwischen ‚hypothetischen‘ und ‚kategorischen‘ Imperativen. Während die hypothetischen Imperative nur „die Mittel zur Verfolgung bestimmter Neigungszwecke“ angeben, gebietet der kategorische Imperativ „eine Handlung unbedingt, unabhängig von subjektiven Präferenzen oder Absichten.“ (Horn 2007: 319) So erklärt Kant: Wenn nun die Handlung bloß wozu anderes, als Mittel, gut sein würde, so ist der Imperativ hypothetisch; wird sie als an sich gut vorgestellt, mithin als notwendig in einem an sich der Vernunft gemäßen Willen, als Prinzip desselben, so ist er kategorisch. (Kant 1974b: 43)
Nur der kategorische Imperativ kann als notwendiges Gebot der Vernunft gelten. Er lässt sich im Hinblick auf seine „Form“, seine „Materie“ sowie seine „vollständige Bestimmung“ definieren. (Klemme 2004: 76) Die Form des kategorischen Imperativs findet ihren Ausdruck in der viel zitierten „Allgemeine-Gesetzes-Formel (AGF)“ (Horn 2007: 224): „[H]andle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.“ (Kant 1974b: 51) Wie diese Formulierung deutlich macht, wird das Subjekt zur Selbstprüfung aufgefordert. Es soll seine Maximen auf ihre Verallgemeinerungsfähigkeit hin befragen und so agieren, dass seine Handlungsgrundsätze als allgemeine Gesetze bzw. als „Naturgesetze“ (Kant 1974b: 51) gelten könnten. „Kant verwendet den Ausdruck ‚Naturgesetz‘, weil die sich zu Gesetzen qualifizierenden Maximen als Gesetze unserer vernünftigen Natur betrachtet werden können, als Gesetze, durch die unsere Willkürfreiheit rein rational bestimmt wird.“ (Klemme 2004: 76) Die Materie bzw. der Inhalt des kategorischen Imperativs lässt sich mit der sogenannten „Menschheit-als-Selbstzweck-Formel (MSF)“ (Horn
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2007: 246) bestimmen: „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“ (Kant 1974b: 61) Laut Kant darf keiner einen anderen für seine subjektiven Zwecke instrumentalisieren, weil jedes intelligible Subjekt als „Zweck an sich selbst“ (Kant 1974b: 60) existiert und daher einen ‚absoluten Wert‘ besitzt. Dieser Imperativ bezieht sich nicht nur auf die Interaktion zweier Menschen, sondern auch und vor allem auf die moralische Pflicht, die ein Subjekt sich selbst gegenüber hat. Es soll so handeln, als ob es der „Gesetzgeber [s]eines Handelns als Bürger der intelligiblen (noumenalen) Welt wäre“ (Klemme 2004: 79). So heißt es in der Metaphysik der Sitten (1797): Das Subjekt der Sittlichkeit in seiner eigenen Person zernichten, ist eben so viel, als die Sittlichkeit selbst ihrer Existenz nach, so viel an ihm ist, aus der Welt vertilgen, welche doch Zweck an sich selbst ist; mithin über sich als bloßes Mittel zu ihm beliebigen Zweck zu disoponieren, heißt die Menschheit in seiner Person (homo noumenon) abwürdigen, der doch der Mensch (homo phaenomenon) zur Erhaltung anvertrauet war. (Kant 91991a: 555)17
Aus den beiden genannten Prinzipien folgt das dritte – das „Prinzip des Willens, als oberste Bedingung der Zusammenstimmung desselben mit der allgemeinen praktischen Vernunft, die Idee des Willens jedes vernünftigen Wesens als allgemein gesetzgebenden Willens“ (Kant 1974b: 63). Mit dieser sogenannten „Autonomieformel (AF)“ (Horn 2007: 254) meint Kant, dass der Wille des Subjekts keiner ihm fremden Gesetzgebung unterliegt, sondern autonom ist. Der (freie) Wille unterwirft sich einer Pflicht, die er sich selbst gegeben hat. Ziel, d. h. die vollständige Bestimmung des kategorischen Imperativs ist eine aus vernünftigen Lebewesen bestehende Gemeinschaft, die moralisch vollkommen sein soll. […] Ebenso wie alle Entitäten im Bereich der Natur strengen Naturgesetzen unterliegen, soll es im Reich der Zwecke eine (wenn auch mir durch mich selbst auferlegte) allgemeine strikte Regelbefolgung auf der Basis des Kategorischen Imperativs geben. (Horn 2007: 256)18
Jedes Subjekt ist daher aufgefordert, so zu handeln, als ob es Mitglied dieser gedachten moralischen Gemeinschaft wäre.19 Zusammenfassend
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Kant unterscheidet zwischen der Menschheit bzw. dem Menschen als ‚moralischem Wesen‘ (homo noumenon) und dem Menschen als ‚physischem Wesen‘ (homo phaenomenon), vgl. Horn 2007: 247. Unter einem ‚Reich der Zwecke‘ versteht Kant „eine systematische Verbindung verschiedener vernünftiger Wesen durch gemeinschaftliche Gesetze“ (Kant 1974b: 66). Kants Vorstellung von einem ‚Reich der Zwecke‘ als ‚vollständige Bestimmung‘ des kategorischen Imperativs wird als „Reich-der-Zwecke-Formel (RZF)“ (Horn 2007: 257) bezeichnet.
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lassen sich folgende zentrale Aspekte der Kant’schen Moralphilosophie festhalten: (1) Selbstliebe und Moral sind miteinander konkurrierende Prinzipien; Moral im Sinne eines Handelns zugunsten anderer erfordert oft gerade „Selbstverleugnung“ […], eine Beschneidung der Orientierung an den Zielen, die nur für einen selbst gut sind. (2) Die Erfahrungswelt, die Empirie, wird von Kant eng mit dem sinnlichen Teil des Menschen, seinen Neigungen, Bedürfnissen und Interessen zusammengedacht. Die Vernunft, die den Willen bestimmt, wenn eine Handlung als moralisch gelten soll, zeichnet sich demgegenüber gerade durch die Unabhängigkeit ihrer Prinzipien von Bedürfnissen, Neigungen und speziellen Umständen aus. Damit wird auch die Moralbegründung von speziellen Vorlieben und Interessen unabhängig, die von Mensch zu Mensch, von Generation zu Generation und von Kultur zu Kultur variieren können. Das moralisch Gebotene kann „von jedem Menschen gefordert werden“ […], weil hier Unterschiede wie persönliche Begabungen und Neigungen keine Rolle spielen. (3) Die Vernunft ist bei jedem Menschen dieselbe, und insofern sind auch jedem Menschen die durch die Vernunft gegebenen moralischen Gesetze zugänglich. Dieser universalistische Zug der Kantischen Ethik impliziert, daß moralisch richtiges Handeln für jeden möglich ist, der Vernunft hat (und entsprechend auch von jedem verlangt werden kann); […] (4) Eine angemessene Moraltheorie kann nicht auf Beobachtungen oder Erfahrungen gründen. Unsere Beobachtungen sagen uns nur, was geschieht, sie liefern uns aber keinen Anhaltspunkt dafür, was geschehen soll. […] (5) Eine Stabilität moralischer Motivation ist nur dadurch möglich, daß man pathologische, zufällige Motive von ihr fernhält und allein die Vernunft – in der subjektiven Form der Achtung – als Triebfeder zum moralischen Handeln annimmt. (Horn 2007: 198f.)
6. Moralisches Handeln lässt sich als kategorischer Imperativ beschreiben. Kant fordert vom Subjekt, nicht seinen Neigungen, sondern den objektiv notwendigen Gesetzen der Vernunft zu folgen, mit dem Ziel, eine moralische Gemeinschaft intelligibler Wesen zu konstituieren. Handeln aus Pflicht darf daher nicht mit pflichtmäßigem Handeln gleichgesetzt werden, wie Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten am Beispiel eines Krämers illustriert. Dieser bedient seine Kunden ehrlich, weil er um seinen guten Ruf und daraus resultierende etwaige finanzielle Einbußen fürchtet. Er handelt nicht „aus Pflicht“, weil er nicht dem Grundsatz der Ehrlichkeit folgt, sondern nur „pflichtmäßig“, weil es ihm um die eigene Profitmaximierung und damit um die Befriedigung seiner Neigungen geht. (Kant 1974b: 23) „Erst wenn die Pflichterfüllung verlangt, dem eigenen Vorteil ‚Abbruch‘ zu tun bzw. die entgegenstrebenden Neigungen zu überwinden, kann man das Pflichtmotiv deutlich erkennen“ (Horn 2007: 178f.), so Kant. Natürlich sind auch Handlungen denkbar, wo Pflicht und Neigung ohne „einen andern Bewegungsgrund der Eitelkeit oder des Eigennutzes“ (Kant 1974b: 24) zusammenfallen. Als Beispiel führt Kant die Wohltätigkeiten eines Menschenfreundes an. Obwohl dieser moralkonform agiert, besitzen seine Handlungen nur dann einen sittlichen Wert,
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wenn er im Konfliktfall seine Neigungen zurückstellen und seine moralische „Pflicht“ als „Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz“ anerkennen würde. (Kant 1974b: 26)20 Im Unterschied zu den Tugendpflichten, die die inneren Verpflichtungen des einzelnen betreffen, regeln die Rechtspflichten, die im Folgenden fokussiert werden, das äußere Handeln und damit das Zusammenleben der Menschen. In der Metaphysik der Sitten (1797) bestimmt Kant das Recht als „Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann.“ (Kant 91991a: 337)21 Nach dieser Definition sind solche Handlungen unrecht, die ein Subjekt in seiner gesetzlich definierten Freiheit beschränken. Das Recht hat also die Funktion, die äußere Handlungsfreiheit des einzelnen – in Übereinstimmung mit allen anderen – zu sichern. Von dieser Rechtsdefinition ausgehend, formuliert Kant folgendes Rechtsgesetz, das imperativischen Charakter hat: „[H]andle äußerlich so, daß der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen könne“ (Kant 91991a: 338). Wie die Ausführungen deutlich machen, differenziert Kant zwischen den Tugend- und Rechtspflichten. Beide sollen die Freiheit des Subjekts sicherstellen, d. h. nach der ‚Menschheit-als-Zweck-Formel‘ gewährleisten, dass es als Zweck an sich selbst wahrgenommen und nicht als Mittel gebraucht wird. Ich habe nicht nur die innere Tugendpflicht mich anderen nicht zum bloßen Mittel ihrer Willkür zu machen (indem ich mich beispielsweise aus eigenem Entschluss in die Sklaverei begebe), sondern habe zugleich die (äußere) Rechtspflicht, andere nicht zum bloßen Mittel meiner Willkür zu gebrauchen (indem ich andere Personen nicht wie meine Sklaven behandle) (Klemme 2004: 96).
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Unter ‚Achtung‘ versteht Kant ein „durch einen Vernunftbegriff selbstgewirktes Gefühl“, das entsteht, wenn sich das Subjekt seinen moralischen Pflichten unterordnet, und das somit als „moralisch angemessenes Motiv, d. h. als Basis für eine Handlung aus Pflicht, dienen kann.“ (Horn 2007: 314) In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten heißt es: „Die unmittelbare Bestimmung des Willens durchs Gesetz und das Bewußtsein derselben heißt Achtung, so daß diese als Wirkung des Gesetzes aufs Subjekt und nicht als Ursache desselben angesehen wird. […] Alle Achtung für eine Person ist eigentlich nur Achtung fürs Gesetz (der Rechtschaffenheit etc.), wovon uns jene das Beispiel gibt.“ (Kant 1974b: 28) Der Begriff der Willkür lässt sich als das „faktische Wollen“ des Subjekts definieren, als ein Wollen, das „direkt auf Handlungen gerichtet“ ist. (Köhl 1990: 58) Er wird in der Metaphysik der Sitten wie folgt definiert: „Das Begehrungsvermögen nach Begriffen, sofern der Bestimmungsgrund desselben zur Handlung in ihm selbst, nicht in dem Objekte angetroffen wird, heißt ein Vermögen, nach Belieben zu tun oder zu lassen. Sofern es mit dem Bewußtsein des Vermögens seiner Handlung zur Hervorbringung des Objekts verbunden ist, heißt es Willkür“ (Kant 91991a: 317).
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Als intelligible Wesen sind die Menschen ‚innerlich‘ frei, wenn sie selbst auferlegten (Moral-)Gesetzen und nicht ihren Neigungen folgen. Die ‚äußere‘ Freiheit wird hingegen durch das juridische Recht gewährleistet, „sein eigener Herr, sui juris zu sein“ (Kersting 1993: 205). Während die Tugendpflichten also „Moralität fordern, begnügt sich das Recht mit der Legalität meiner Handlung in ihrem äußeren Verlauf“ (Klemme 2004: 94). So erklärt Kant: Alle Gesetzgebung […] kann […] in Ansehung der Triebfedern unterschieden sein. Diejenige, welche eine Handlung zur Pflicht, und diese Pflicht zugleich zur Triebfeder macht, ist ethisch. Diejenige aber, welche das letztere nicht im Gesetze mit einschließt, mithin auch eine andere Triebfeder, als die Idee der Pflicht selbst, zuläßt, ist juridisch. […] Man nennt die bloße Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung einer Handlung mit dem Gesetze, ohne Rücksicht auf die Triebfeder derselben, die Legalität (Gesetzmäßigkeit); diejenige aber, in welcher die Idee der Pflicht aus dem Gesetze zugleich die Triebfeder der Handlung ist, die Moralität (Sittlichkeit) derselben. (Kant 91991a: 324)
Da die von Kant proklamierten Rechtspflichten keine ethischen Pflichten sind, können sie auf zwei Weisen durchgesetzt werden, entweder freiwillig – durch das Handeln in Übereinstimmung mit dem Rechtsgesetz – oder als Folge von „Zwangandrohung und -ausübung bzw. Zwangsvermeidung“ (Kersting 1993: 107). Während das Subjekt zur Einhaltung der Rechtspflichten von anderen genötigt werden kann, muss es sich zur Einhaltung seiner Tugendpflichten selbst zwingen. Auch wenn das Subjekt dem Rechtsgesetz nicht aus Pflicht folgen, sondern nur legal handeln muss, beweist es Moralität, wenn es die „Rechtspflichten als indirektethische Pflichten“ anerkennt. Die juridischen Gesetze gelten dann nicht mehr als reines „Organisationsprinzip“, sondern werden zum „einzigen Movens“ des Handelns. (Kersting 1993: 177, 184) Neben der Freiheit sind für Kant die Gleichheit und Selbstständigkeit aller Bürger Konstituenten eines rechtmäßigen Zustands.22 Denn für ihn kennt das Recht keine Privilegien; die Partner eines Recht-Pflicht-Verhältnisses müssen daher prinzipiell austauschbar sein. Sowenig ein Wesen, das nur Rechte und Pflichten bzw. nur Pflichten und kein Recht hat, Mitglied der Rechtsgemeinschaft sein kann, sowenig kann es in dieser eine ungleichgewichtige Verteilung von Rechten und Pflichten geben. (Kersting 1993: 110)
Davon ausgehend fordert Kant „Rechtsanwendungsgleichheit“ (Kersting 1993: 375) und außerdem die Abschaffung der Adelsprivilegien.
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Vgl. Kersting 1993: 364–392.
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Für Kant kann die ‚äußere‘ Freiheit des Subjekts nur in einer Rechtsgemeinschaft realisiert werden. Ähnlich wie Thomas Hobbes ist er davon überzeugt, dass der Naturzustand von einem ‚Kampf aller gegen alle‘ geprägt ist, da hier keine allgemein verbindlichen Gesetze herrschen. In diesem Zustand der Rechtlosigkeit werden die Menschen notwendig zum bloßen Mittel degradiert. Um ‚Zweck an sich‘ sein zu können, muss der Naturzustand verlassen und das Zusammenleben der Menschen „nach Regeln des Rechts“ (Kersting 1993: 329) gestaltet werden. Erst in einer auf einen Gesellschaftsvertrag gegründeten Rechtsgemeinschaft lassen sich Konflikte gerecht und friedlich lösen. Wie soll solch ein Rechtsstaat aber aussehen? In seiner Schrift Zum ewigen Frieden (1795) unterscheidet Kant zwischen Staats- und Regierungsformen. Während die Staatsform danach zu bestimmen ist, „wie viele Personen die Herrschergewalt in einer bürgerlichen Gesellschaft innehaben“, bezeichnet die Regierungsform „die Art und Weise, in der ein ‚Staat von seiner Machtvollkommenheit Gebrauch macht‘ […]. Sie ist entweder republikanisch oder despotisch“ und prinzipiell mit jeder Staatsform vereinbar. (Klemme 2004: 102)23 Diese beiden Regierungsformen sollen im Folgenden profiliert werden. In der nach Kant rechtmäßigen Republik herrscht Gewaltenteilung:24 Zu unterscheiden sind die „Herrschergewalt (Souveränität)“ des Gesetzgebers, die „vollziehende Gewalt“ des Regenten und die „rechtsprechende Gewalt“ des Richters (Kant 91991a: 431), die im „juridischbürgerlichen Staate notwendig unter drei verschiedenen Subjekten verteilt sein“ (Kant 91991b: 807) müssen, so der Philosoph. Dabei kommt die Legislative dem Volk zu, sind doch nach Kant nur solche Dekrete gerecht, die dem allgemeinen Willen entsprechen. Daher hat der Gesetzgeber, der als Repräsentant des Volkswillens fungiert, bei jedem Gesetzesentwurf zu prüfen, ob alle „Bürger Mitgesetzgeber dieses in Rede stehenden Gesetzes sein“ könnten. Die Verordnung ist nur dann vernünftig und somit rechtens, wenn sie nicht gegen die „Prinzipien der Freiheit und Gleichheit“ verstößt. (Kersting 1993: 353) Die Exekutive liegt im Verantwortungsbereich des Regenten, der „unter allen subordinirten der Oberste“ (Kant 1934: 500) ist. „Durch ihn handelt der Staat; Kant nennt ihn daher auch den ‚Agenten des Staates‘
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Vgl. Kant 91991c: 206. Wie Klemme deutlich macht, differenziert Kant im Rekurs auf die antike Rechtsphilosophie zwischen „Autokratie oder Monarchie (eine Person), […] Aristokratie (mehrere Personen) und […] Demokratie (alle Staatsbürger)“ (Klemme 2004: 102). Vgl. Kant 91991c: 206. Hier definiert Kant den Republikanismus als „das Staatsprinzip der Absonderung der ausführenden Gewalt (der Regierung) von der gesetzgebenden“.
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[…]. Er ist der Chef der gesamten Behördenorganisation. ‚Regiren ist die administration anordnen‘“ (Kersting 1993: 403), so Kant.25 Die Judikative soll ein Gremium von Geschworenen bilden, das von Fall zu Fall in unterschiedlicher Formation zusammentritt, damit es nicht leicht von den Inhabern der politischen Macht korrumpiert werden kann (vgl. Kersting 1993: 407). Solch eine republikanische Rechtsgemeinschaft als Vernunftherrschaft zu konstituieren, ist für Kant die (moralische) Pflicht der Menschen. Allerdings weiß er, dass „jenes nicht so bald zu Stande kommt“. Aus diesem Grund hält er es für die Pflicht der Monarchen, ob sie gleich autokratisch herrschen, dennoch republikanisch […] zu regieren, d. i., das Volk nach Prinzipien zu behandeln, die dem Geist der Freiheitsgesetze (wie ein Volk mit reifer Vernunft sie sich selbst vorschreiben würde) gemäß sind, wenn gleich dem Buchstaben nach es um seine Einwilligung nicht befragt würde. (Kant 91991d: 364f.)
Kant fordert von dem Inhaber der politischen Macht die Bereitschaft, sich an den Prinzipien der Republik zu orientieren. Als Gesetzgeber muss er sich als Stellvertreter des Volkswillens begreifen. Über die zu erlassenden Dekrete muss dabei nicht demokratisch abgestimmt werden, die Befragung der Staatsbürger kann durch ein Gedankenexperiment ersetzt werden. Das republikanische Prinzip der Gewaltenteilung respektiert der Herrscher außerdem dann, wenn er in die „gesetzesanwendende und rechtsdurchsetzende Tätigkeit der von ihm eingesetzten Regierungsinstanzen und Magistrate“ (Kersting 1993: 428) nicht eingreift bzw. die „Exekutivgewalt allein zur Durchsetzung der vertragskonformen Gesetze“ gebraucht „und so gleichsam eine Trennung von Legislative und Exekutive in Übereinstimmung mit der republikanischen Verfassung“ fingiert. (Kersting 1993: 428) Auf diese Weise kann ein Staat „schon republikanisch regieren, wenn er gleich noch, der vorliegenden Konstitution nach, despotische Herrschermacht besitzt“ (Kant 91991c: 233). Eine institutionelle Realisation der Gewaltenteilung ist (vorerst) nicht notwendig. Ziel ist allerdings die Verwirklichung der Vernunftherrschaft in einem republikanischen Staat, eingeleitet nicht durch Revolutionen, sondern durch Reformen der Herrschenden. Die „klassischen Staatsformen“ werden von Kant auf diese Weise zu „historischen Durchgangsstadien“ relativiert, „zu zeitbedingten Hüllen des voranschreitenden, auf die Emanzipation von jeder personengebundenen Herrschaft zielenden republikanischen Gedankens“. (Kersting 1993: 431)
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Auch die Kant-Zitate werden hier nach Kersting zitiert. Sie finden sich in Kant 91991a: 435 und Kant 1934: 480.
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Im Unterschied zum Republikanismus, für den die Gewaltenteilung kennzeichnend ist, definiert Kant den Despotismus als ein Staatsprinzip, das gegen die vernunftrechtlichen Gesetze verstößt, weil die Gefahr besteht, dass sich die Inhaber der politischen Macht nicht am allgemeinen Willen orientieren, sondern ihren Privatwillen durchzusetzen suchen. So konstatiert Kant in seiner Schrift Zum ewigen Frieden: „[D]er Despotism ist das [Staatsprinzip, N.B.] der eigenmächtigen Vollziehung des Staats von Gesetzen, die er selbst gegeben hat, mithin der öffentliche Wille, sofern er von dem Regenten als sein Privatwille gehandhabt wird.“ (Kant 91991c: 207) Solch eine Staats- oder Regierungsform missachtet das Recht der Untertanen auf Freiheit, Gleichheit und Selbstständigkeit. Trotzdem räumt Kant dem Volk kein Widerstandsrecht ein. Auch in despotisch regierten Staaten ist es zu bedingungslosem Gehorsam gegenüber dem Regenten verpflichtet. Dafür führt Kant zwei Argumente – ein logisches und ein inhaltliches – an. Zum einen kritisiert er, dass derjenige, der Widerstand leistet, als „oberste[r] Befehlshaber“ auftritt und sich somit die Stellung des Souveräns anmaßt. Da die Staatsmacht nicht teilbar ist, entsteht ein logischer Widerspruch zum „rechtmäßige[n] Gebieter“. (Kant 91991a: 438) Zum anderen wertet Kant jeden Widerstand gegen die Inhaber der politischen Macht als Rückkehr in den Naturzustand – in die Anarchie. Da der Rechtszustand dem Naturzustand unbedingt vorzuziehen ist, muss jedes Subjekt die herrschenden Gesetze so betrachten, als ob sie „von irgend einem höchst tadelfreien Gesetzgeber herkommen“ würden, und das ist die Bedeutung des Satzes: ‚alle Obrigkeit ist von Gott‘, welcher nicht einen Geschichtsgrund der bürgerlichen Verfassung, sondern eine Idee, als praktisches Vernunftprinzip, aussagt: der jetzt bestehenden gesetzgebenden Gewalt gehorchen zu sollen; ihr Ursprung mag sein, welcher er wolle. (Kant 91991a: 438)
Schon deswegen, weil die verfassungsrechtlich geschützte Freiheit und nicht das individuelle Lebensglück Ziel der Rechtsgemeinschaft ist, muss der einzelne den Gesetzen Folge leisten, auch wenn das den Verlust seines immateriellen und materiellen Wohlstands bedeutet.26 Daher ist jeder Aufstand oder Aufruhr als „Hochverrat“ zu werten, „und der Verräter dieser Art kann als einer, der sein Vaterland umzubringen versucht (parricida), nicht minder als mit dem Tode bestraft werden.“ (Kant 91991a: 439f.)
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Vgl. dazu auch Kersting 1993: 380: „Ein Recht auf Glück kann nach Kant nicht Bestandteil des natürlichen Menschenrechts sein, und die Vernunft nicht den Grund zu einer Ordnung legen, in der ein Recht auf Glück berücksichtigt werden könnte, und das aus dem einfachen und bekannten Grund der Nicht-Verallgemeinerbarkeit individueller Glücksvorstellungen.“
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Widerstand erlaubt Kant nur in Form von öffentlicher Kritik im Rahmen der geltenden Gesetze.27 1.1.2 Die staatlichen ‚Ordnungshüter‘: Herr und Knecht als Repräsentanten der Kant’schen Pflichtethik Wie manifestiert sich Kants Pflichtethik nun in Grillparzers Trauerspiel? Wie im Folgenden zu zeigen ist, orientieren sich die staatlichen ‚Ordnungshüter‘ – König Andreas II. und sein ‚treuer Diener‘ Bancbanus – an Kants Tugend- und Rechtslehre. Das mag überraschend scheinen, hat doch vor allem die ältere Forschung oft behauptet, dass es Grillparzer „in seinen Staatsdramen darauf angekommen“ sei, „einen barocken OrdoGedanken zu verkünden“. (Doppler 1990: 15)28 Andreas II. werde daher nicht als republikanischer, sondern als absolutistischer Herrscher von Gottes Gnaden vorgeführt. Zudem ist die Figur oft kritisch beurteilt worden. So vertritt etwa Joachim Müller die Position, dass sich Andreas II. zwar als eine von Gott eingesetzte sittliche Instanz geriere, aber fehlbar sei und sich im Handlungsverlauf schuldig mache, weil er Bancbanus mit dem Auftrag, für Ruhe und Ordnung zu sorgen, überfordere (vgl. Müller 1976: 233). Noch weiter geht Doppler, der davon überzeugt ist, dass der Souverän die Katastrophe durch sein Vertrauen in Gertrude erst herbeiführe (vgl. Doppler 1990: 24) Kann die Figur vor diesem Hintergrund wirklich als Repräsentant der von Grillparzer proklamierten Kant’schen Handlungsnormen gelten? Auch wenn sich Andreas II. im fünften Akt mit Gott vergleicht,29 leitet er sein Herrschaftsrecht nicht von ihm ab. Als Stellvertreter Gottes wird er auch nicht von Bancbanus betrachtet, fordert ihn dieser doch im fünften Akt auf: „Sei mild und gütig, daß auch Gott dirs sei.“ (Grillparzer
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28 29
Vgl. etwa Kants Ausführungen in Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis. Hier heißt es: „[D]as Unrecht aber, welches ihm seiner Meinung nach widerfährt […]: so muß dem Staatsbürger, und zwar mit Vergünstigung des Oberherrn selbst, die Befugnis zustehen, seine Meinung über das, was von den Verfügungen desselben ihm ein Unrecht gegen das gemeine Wesen zu sein scheint, öffentlich bekannt zu machen. Denn, daß das Oberhaupt auch nicht einmal irren, oder einer Sache unkundig sein könne, anzunehmen, würde ihn als mit himmlischen Eingebungen begnadigt und über die Menschheit erhaben vorstellen. Also ist die Freiheit der Feder – in den Schranken der Hochachtung und Liebe für die Verfassung worin man lebt […] das einzige Palladium der Volksrechte.“ (Kant 91991e: 161) Vgl. u. a. Lattmann 1971: 38, Martini 1976: 172, Prutti 2007: 394, Seidler 1970: 16, Sengle 1980: 99, Wiese 81973: 412. Vgl. Grillparzer 1986a: 590.
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1986a: 594) Andreas II. ist – genauso wie seine Untertanen – der höchsten Instanz unterworfen. Er muss sich als Herrscher bewähren, um nach seinem Tod auf die göttliche Gnade hoffen zu können. Dass der Monarch nicht als Stellvertreter Gottes vorgeführt wird, manifestiert sich außerdem in seiner republikanischen Regierungsform – wenn er auch an der despotischen Staatsform festhält. Als Gesetzgeber begreift sich Andreas II. als Repräsentant des Volkswillens.30 Dafür sprechen zum einen seine Regierungsziele, geht es ihm doch nicht um die Durchsetzung seines privaten Willens, sondern um die Wahrung des Friedens – für Kant eine Bedingung für die Sicherung der unveräußerlichen Freiheitsrechte des Menschen. Zum anderen verweist darauf die Trennung zwischen Person und Amt. Im Handlungsverlauf wird mehrfach thematisiert, dass der König seine Gefühle zu Gunsten seiner Amtspflichten überwindet, so etwa im ersten Akt, in dem er seiner Frau auf ihre Bitte, noch eine Weile bei ihr zu bleiben, erklärt: Schon eine Stunde gab Dir der Gemahl, Der König darf dir keine geben. (Grillparzer 1986a: 522)
Ähnliches gilt für den fünften Akt, in dem Andreas II. seinen Affekten nachgeben möchte, aber weiß, dass ihm das sein Amt verbietet: „O himmlischer Vergelter! Kann ich nicht zürnen und bin so verletzt!“ (Grillparzer 1986a: 592) Auch in seinem Umgang mit der Exekutive manifestiert sich das republikanische Prinzip der Gewaltenteilung. Wie von Kant gefordert, greift Andreas II. in die Tätigkeit der Regierungsinstanzen nur zur ‚Durchsetzung der vertragskonformen Gesetze‘ ein. Das wird im fünften Akt deutlich, in dem er die „Ergebung“ (Grillparzer 1986a: 590) der Aufständischen fordert. Ähnlich wie Kant räumt er seinen Untergebenen hier kein Widerstandsrecht ein. Dafür wird im Theatertext erstens das (logische) Argument angeführt, dass die Staatsmacht nicht teilbar ist und sich jeder Rebell die Stellung des Souveräns anmaßt. So sucht Bancbanus seinen rachedurstigen Bruder Simon im vierten Akt mit folgenden Worten in die Schranken zu weisen: Bist Du der Richter hier in diesem Land? Der Alleswissende du ob den Sternen? Daß du so kühn dein Urteil gibst für Recht? (Grillparzer 1986a: 567)
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Dass der Souverän für Grillparzer kein Stellvertreter Gottes, sondern des Volks ist, manifestiert sich auch in seinen politischen Schriften. So erklärt er 1838: „Der einzelne für sich allein ist nie berühmt, weil er es durch andere wird; aber er kann sich berühmt machen, und dann ist er es. So ist das Volk nie souverän, aber es kann sich einen Souverän geben, der es aber nur ist, weil man ihn dazu gemacht hat.“ (Grillparzer 1924b: 508)
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Zweitens ist jeder Widerstand gleichbedeutend mit einer Rückkehr in den Naturzustand, herrscht doch während des Aufstandes ein Zustand der Rechtlosigkeit. Das wird durch die Ermordung der Königin illustriert. Sie kann für ihr Fehlverhalten nicht nach geltendem Recht verurteilt werden, weil sie während der Kämpfe unbeabsichtigt von Ernys Bruder Peter erstochen wird. Der Mord wiegt doppelt schwer, weil mit ihrer Tötung auch die von ihr als Amtsträgerin repräsentierte „gesetzliche Verfassung“ (Kant 91991a: 440) in Frage gestellt wird. Der Widerstand ist aber nicht nur pflichtwidrig, sondern auch widersinnig, weil Andreas II. kein despotischer, sondern ein republikanisch regierender Herrscher ist. So wird Simon von einem Befehlshaber im fünften Akt kritisch gefragt: Habt Ihr mit Blute Blut nicht aufgewogen? Und dann: heißt Euer König der Gerechte, Und hast du doch gezittert um dein Recht? (Grillparzer 1986a: 587)
Trotz der von den Aufständischen aufgehobenen Rechtsgemeinschaft und dem daraus resultierenden Tod seiner Frau versucht Andreas II., jede Anwendung von Gewalt zu vermeiden. Ihn „widerts, die Verworrnen / Dahinzuschlachten, ihrer Thorheit Opfer.“ (Grillparzer 1986a: 591) Mutig entscheidet er sich, den Dialog zu suchen und sich den Rebellen zu stellen. Nur im Notfall will er den Aufstand niederschlagen, um den notwendigen Rechtszustand wiederzuherstellen. Zuletzt zeichnet sich Andreas II. durch seine Organisation der Judikative als republikanischer Herrscher aus. Wie der zweite Akt deutlich macht, regiert der Monarch mit Hilfe eines königlichen Rates, der auf Grundlage juristischer Dokumente Recht spricht. Aus diesem Grund besitzt Bancbanus in seiner Funktion als Reichsverweser nur einen begrenzten Handlungsspielraum, wie der König betont: Hier, dies Papier bezeichnet deinen Kreis; Wie vorwärts nicht, so rückwärts nicht gefußt! Denn was du darfst, ist dem gleich, was du mußt. (Grillparzer 1986a: 528)
Die despotische Willkürherrschaft der Königin ist vor diesem Hintergrund zu verurteilen. Das wird am Beispiel der im königlichen Rat zu verhandelnden „Erbschaftssache“ (Grillparzer 1986a: 534) illustriert. Da Bancbanus das Kodizill des Testators nicht finden kann, will er über die Klage der Kinder erst im nächsten Rat urteilen, während die Königin dem Einspruch statt gibt. Diese unrechtmäßige Entscheidung kann Bancbanus nicht akzeptieren. Selbstbewusst weist er die Regentin zurecht: „Gewährt! gewährt! Lag diese Schrift nicht vor, / So war nichts zu gewähren.“ (Grillparzer 1986a: 531) Als ihm in dieser Angelegenheit wenig später eine Supplik vorgelegt wird, setzt er sich sogar über das Urteil der Monarchin hinweg, indem er dem Bittsteller zu verstehen gibt, dass über seine Sache im nächsten Rat entschieden werden wird (vgl. Grillparzer 1986a: 535).
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Für eine republikanische Regierungsform spricht ferner die praktizierte Rechtsanwendungsgleichheit. Als Bancbanus erfährt, dass der Prinz und sein Gefolge auf ihrer letzten Jagd die Saat eines Bauern „verwüstet“ (Grillparzer 1986a: 535) haben, sichert er dem Leidtragenden zu, dass sein Schaden geschätzt und vergütet werden wird. Obwohl Otto von Meran als Bruder der Königin zu den Inhabern der politischen Macht zählt, genießt er keine Privilegien. Wie alle Untertanen ist er den gleichen Gesetzen unterworfen. Das wird auch am Ende des Handlungsverlaufs deutlich, an dem über Otto Recht gesprochen wird. Bemerkenswert ist, dass der König den dramatischen Konflikt hier nicht als deus ex machina löst, sondern dass Grillparzer hier ein Gerichtsverfahren inszeniert, in dem Graf Simon als Ankläger, die Versammelten als Zeugen und der König als „höchste[r] Richter“ (Grillparzer 1986a: 596) auftreten. Erst nachdem Otto von Simon ‚verhört‘ worden ist und sich herausstellt, dass der Angeklagte Erny zwar unrechtmäßig verfolgt, aber nicht getötet hat, wird über ihn Recht gesprochen: Der ‚Ordnungsstörer‘ wird des Landes verwiesen. Durch diesen Prozess wird zum einen illustriert, dass der Monarch kein despotischer Herrscher ist. Er handelt nicht aus Willkür, sondern sein Rechtsspruch ist ein „einzelner Akt der öffentlichen Gerechtigkeit“ (Kant 91991a: 436). Zum anderen wird der durch den Aufstand aufgehobene Rechtszustand wiederhergestellt, weil alle Untertanen sich dem Richtspruch des Monarchen unterwerfen. Sie verlassen „die wilde gesetzlose Freiheit“, um ihre „Freiheit überhaupt in einer gesetzlichen Abhängigkeit, d. i. in einem rechtlichen Zustande unvermindert wieder zu finden“. (Kant 91991a: 434) Wie erläutert, führt Grillparzer Andreas II. als republikanisch agierenden Herrscher vor. Lässt sich sein Trauerspiel aber wirklich als literarische Auseinandersetzung mit der Kant’schen Rechtsphilosophie lesen? Im Widerspruch zu Kant scheint erstens Bancbanus’ Appell an den König zu stehen, den „Willen“ und „nicht die Tat“ der Königinnenmörder zu strafen. (Grillparzer 1986a: 594) Da Graf Peter die Herrscherin nicht willentlich umgebracht hat, soll sich der Souverän gnädig zeigen. Solch ein „Begnadigungsrecht“, verstanden als „Milderung oder gänzliche[ ] Erlassung der Strafe“, räumt Kant dem Souverän nicht ein, weil dadurch den geschädigten Untertanen Unrecht widerfährt. (Kant 91991a: 459) Auch wenn für die Moralität des Subjekts der Bestimmungsgrund und nicht die Wirkung seiner Taten ausschlaggebend ist, ist jede Verletzung der Rechtspflichten zu bestrafen. Dabei ist jeder Mord mit der Todesstrafe zu ahnden. (Vgl. Kant 91991a: 455) Allerdings räumt Kant ein, dass der Herrscher „bei einer Läsion, die ihm selbst widerfährt“ (Kant 91991a: 460), von dem Begnadigungsrecht Gebrauch machen kann, solange die Untertanen dadurch nicht in Gefahr geraten. Genau solch eine Situation wird
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im Trauerspiel vorgeführt. Da sich die Rebellen dem König unterwerfen, erwächst aus ihrer Begnadigung keine Bedrohung für die Bevölkerung, so dass er Milde walten lassen kann. Auch Otto kann er verzeihen, ihn im Unterschied zu den Aufständischen aber nicht begnadigen. Da der Prinz Bancbanus Unrecht getan hat, muss er ihn fragen, „was ihn mag versöhnen“ (Grillparzer 1986a: 595). Wie das Begnadigungsrecht scheint zweitens der Paternalismus von Andreas II. einen Bruch mit Kants Rechtsphilosophie zu markieren, klagt dieser doch nach seiner Rückkehr: „O schmerzenvoller Anblick! Meine Kinder, […] sie fliehn vor ihrem Vater.“ (Grillparzer 1986a: 589) Davon ausgehend, dass jedes politische System die Freiheit der Untertanen gewährleisten muss, lehnt Kant jede „Regierung, die auf dem Prinzip des Wohlwollens gegen das Volk als eines Vaters gegen seine Kinder errichtet“ ist, „d. i. eine väterliche Regierung (imperium paternale)“ ab. (Kant 91991e: 145) Eine Regierung, wo also die Untertanen als unmündige Kinder, die nicht unterscheiden können, was ihnen wahrhaft nützlich oder schädlich ist, sich bloß passiv zu verhalten genötigt sind, um, wie sie glücklich sein sollen, bloß von dem Urteile des Staatsoberhaupts, und, daß dieser es auch wolle, bloß von seiner Gütigkeit zu erwarten: ist der größte denkbare Despotismus (Verfassung, die alle Freiheit der Untertanen, die alsdann gar keine Rechte haben, aufhebt). (Kant 91991e: 145f.)
Auch wenn sich Andreas II. im fünften Akt als Vater bezeichnet und von seinen ‚Kindern‘ als Landesherr und ‚höchster Richter‘ anerkannt wird, geriert er sich nicht als despotischer Herrscher, sondern als aufgeklärter Absolutist – als ‚treuer Diener‘ seiner Untertanen. Er regiert weniger ‚väterlich‘ als ‚vaterländisch‘: Patriotisch ist nämlich die Denkungsart, da ein jeder im Staat (das Oberhaupt desselben nicht ausgenommen) das gemeine Wesen als den mütterlichen Schoß, oder das Land als den väterlichen Boden, aus und auf dem er selbst entsprungen, und welchen er auch so als ein teures Unterpfand hinterlassen muß, betrachtet, nur um die Rechte desselben durch Gesetze des gemeinsamen Willens zu schützen, nicht aber es seinem unbedingten Belieben zum Gebrauch zu unterwerfen sich für befugt hält. (Kant 91991e: 146)
Dass der aufgeklärte Absolutismus mit einem „wohlwollenden Paternalismus“ (Vierhaus 21984: 148) verknüpft wird, ist für die politische Philosophie des 18. Jahrhunderts nicht ungewöhnlich, was sich auch in der (politischen) Literatur der Zeit manifestiert, so etwa in den Idyllen Die Erleichterten (1800) und Die Freigelassenen (1776) von Johann Heinrich Voß.31 Es ist daher nicht absonderlich, dass auch Grillparzer der von ihm
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Zu dem Herr-Knecht-Diskurs in den genannten Idyllen vgl. Birkner 2015.
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vorgeführten Herrscherfigur paternalistische Züge verleiht, auch wenn er sich mit Kant gegen den Despotismus wendet. Wie erläutert, setzt sich Andreas II. als republikanischer Herrscher für den Frieden im Staat ein, weil nur dadurch ein die ‚äußere‘ Freiheit des Subjekts garantierender Rechtszustand hergestellt und aufrechterhalten werden kann. Da er nicht Stellvertreter Gottes auf Erden, sondern (menschlicher) Repräsentant des Volkswillens ist, ist er fehlbar. Das kommt im ersten Akt zum Ausdruck, in dem er von Gertrude gebeten wird, ihren Bruder Otto als Reichsverweser einzusetzen. Aus Liebe ist er kurzzeitig geneigt, ihren Wunsch zu erfüllen. Nur weil sich der Prinz nicht auffinden lässt – ein Indiz für seinen lasterhaften Lebenswandel – entscheidet Andreas II., an dem von ihm gefassten Entschluss festzuhalten und Bancbanus das Amt zu übertragen. Aus Neigung ist er außerdem gewillt, sich während seiner Abwesenheit von seiner Frau vertreten zu lassen. „Ob heftig zwar“, sei „sie gerecht und klug“, so die Einschätzung des Monarchen. (Grillparzer 1986a: 529) Erst als sich Gertrude weigert, Bancbanus den notwendigen Respekt entgegenzubringen, realisiert Andreas II., dass seine Frau die bestehende Ordnung gefährden könnte, setzt ihr aber keine Grenzen, da sie verspricht, Bancbanus „gnädig [zu] sein“, wenn er es „verdient“. (Grillparzer 1986a: 528) Bei seiner Rückkehr muss der Souverän erkennen, sich schuldig gemacht zu haben, weil er die von seiner Frau und Otto ausgehende Gefahr nicht erkannt hat. So klagt er: Wie gräbt Erinnerung mit blutgen Zügen, Und zeigt, was ich versehn, wie ich gefehlt. Unsittlichkeit! Du allgefräßger Krebs, Du Wurm an alles Wohlsein tiefsten Wurzeln, Du Raupe in des Staates Lebensmark! Warum ließ ich beim Scheiden dich zurück, Warum zertrat ich nicht, verwies dich nicht? Wie schlecht verwahrtes Feuer gingst du auf, Und fraßest all mein Haus, mein Heil, mein Glück! (Grillparzer 1986a: 591)
In dem Wissen, dass der Frieden im Land nur gewährleistet werden kann, wenn sich die Inhaber der politischen Macht an den Tugendpflichten orientieren, hätte Andreas II. den Prinzen als ‚Ordnungsstörer‘ registrieren und des Landes verweisen müssen. Trotz dieses Fehlers kann er als Repräsentant der von Grillparzer proklamierten Handlungsnormen gelten. Seine Selbstbezichtigung dient hier als Appell an die Herrschenden, umsichtig zu agieren und vernunftgeleitete Entscheidungen zu treffen. Genauso wie sein Herr orientiert sich auch Bancbanus an den Kant’schen Tugend- und Rechtspflichten, wie nun zu zeigen ist. Das ist mitunter angezweifelt worden, hat sich Grillparzer doch schon zu Lebzeiten mit dem Vorwurf auseinandersetzen müssen, den Servilismus zu verherrlichen. Im Folgenden soll daher gezeigt werden, dass Bancbanus aus
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Pflicht und somit sehr wohl autonom handelt. Zugleich hält er sich an die Regeln des Rechts, für ihn eine ‚indirekt-ethische Pflicht‘. Schon im ersten Akt erklärt Bancbanus, sich genauso wie Andreas II. als „Lehensmann“ des Friedens zu begreifen. Dieser scheint gerade in Ungarn häufig bedroht zu sein, betont er doch, dass „Ungar und Gefahr wie Mann und Frau verbunden“ sind. (Grillparzer 1986a: 514) Bancbanus hat sich also bereits das moralische Gesetz gegeben, sein Vaterland gegen äußere und innere ‚Ordnungsstörer‘ zu verteidigen, bevor er vom Monarchen zum Reichsverweser ernannt wird. Dass die Sicherung des Friedens für ihn eine Tugendpflicht ist, wird am Ende des Aufzugs deutlich. Hier betont der König, seinen Diener nicht strafen, sondern nur ‚meiden‘ zu wollen, sollte er sich während seiner Abwesenheit nicht, wie verlangt, für die „fromme Ruhe“ (Grillparzer 1986a: 529) in Ungarn einsetzen. In diesem Fall ließe er außerdem folgende Sätze auf sein Grab setzen: Er war ein Greis, und konnte sich nicht zügeln; Er war ein Ungar, und vergaß der Treu; Er war ein Mann, und hat nicht Wort gehalten! (Grillparzer 1986a: 529)
Das Zitat zeigt, dass es Andreas II. weniger um die Einhaltung der Rechts- als der Tugendpflichten geht. Anstatt Bancbanus für seine mangelnde Diensttreue im Zweifelsfall gerichtlich zu belangen, appelliert er an seine ‚Ehrliebe‘.32 Gelingt es Bancbanus, sich zu ‚zügeln‘ und wider seine Neigungen aus Pflicht zu handeln, wird es keine Unruhen geben, davon ist der Herrschende überzeugt – eine Einschätzung, die sich im Handlungsverlauf als falsch erweisen wird, weil der Frieden erst dann gewährleistet ist, wenn sich alle Untertanen, also auch die Inhaber der politischen Macht, an die sittlichen Gesetze halten. Dieser Fehlschluss ändert aber nichts daran, dass sich Bancbanus – aus ‚innerer‘ und ‚äußerer‘ Verpflichtung – an den Geboten der Vernunft orientiert.33
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Laut Kant wird die Freiheit der Menschen neben dem Recht durch die Ehrliebe gesichert. In dem von Chistoph Gottlieb von Murr 1805 in den Literarischen Blättern publizierten Kant-Autographen heißt es: „Gutmüthige Pflicht ist aus Ehrliebe, die abgenöthigte aus Zwang; und beide stellen jedermann sicher. Ehre und Zwang sind die zwey äusserliche nöthigen den Menschen. Sey Ehrliebend, heisst so viel, thue ungezwungen das Gute. Ehrliebend ist nicht ehrbegierig, sondern Achtung vor sich selbst Ehrenwerth zu seyn. Handle Ehrlich, heisst Verhalte dich Ehrliebend, trete niemandes Recht zu nahe, und sichere jedermann (vor dich) das Seine. Sichere jedermann gegen einen andern das Sein ist, aus Pflicht der Obrigkeit. Sey unterthan den Großen.“ (Kant 1805: 228) Eine ähnliche Position vertritt Schaum, wenn er erklärt: „Seine [Bancbanus’, N.B.] Treue gilt nicht allein dem König und seinem unartikulierten Versprechen, den status quo zu erhalten, sondern einer wesentlich unkodifizierten, universalen Gesetzmäßigkeit, die ebenso vom natürlichen Verstand wie von der rechten Empfindung des Menschen anerkannt wird. Treue zu sich selbst und den geistigen Bedingungen seines altruistisch orientierten Daseins,
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Im Handlungsverlauf wird er mehrmals gezwungen, sich gegen seine Neigungen zum Nutzen der Rechtsgemeinschaft zu entscheiden, so etwa im ersten Akt, in dem seine Frau von ihm fordert, sein Amt zurückzugeben und „Ernys Gatte bloß“ (Grillparzer 1986a: 538) zu sein. Dieses Anliegen muss er aus Pflicht empört zurückweisen: Was fällt dir ein? Weil du nicht gern beim Fest, Soll ich von Hof; Unfrieden herrschen lassen, Verwirrung rings im Land? Ich habs versprochen, Dem König angelobt bei seinem Scheiden, Den Frieden zu bewahren hier, die Ruh, Und werd es halten, trifft was immer zu. Dem Dienste folg ich, folg dem Feste du! (Grillparzer 1986a: 539)
Das Gleiche gilt im vierten Akt. Anstatt sich nach Ernys Tod aus Rache den Aufständischen anzuschließen, entscheidet sich Bancbanus dafür, sein individuelles Leid zu ertragen und die Inhaber der politischen Macht aktiv vor den Rebellen zu schützen. Zum einen vertraut er auf ein gerechtes Urteil des Königs, der nach seiner Rückkehr entscheiden wird, „[w]er rein, wer schuldig“ (Grillparzer 1986a: 567) ist. Zum anderen weiß er, dass jeder Widerstand pflichtwidrig ist; denn „zwischen dem Befehlshaber (imperans) und dem Untertan (subditus)“ ist „keine Mitgenossenschaft; sie sind nicht Gesellen, sondern einander untergeordnet, nicht beigeordnet“ (Kant 91991a: 424). Dass der notwendige Gehorsam dann heikel wird, wenn sich nicht alle Menschen – Untertanen und Inhaber der politischen Macht – an den Tugend- und Rechtspflichten orientieren, macht der Disput zwischen Bancbanus und seinem Bruder deutlich. Während sich Simon an Otto rächen will, fordert Bancbanus, auf die Rückkehr des Königs zu warten. Bancbanus Simon Bancbanus Simon
Es [das Recht, N.B.] soll dir werden, kehrt der Richter heim. Dann ist der Schuldge fern, sie retten ihn. Das soll man nicht! Sie wollens, und sie tuns. (Grillparzer 1986a: 568)
Im Unterschied zu Bancbanus, der fälschlicherweise voraussetzt, dass die Regierenden den notwendigen Vernunftgeboten folgen, vermutet Simon mit Recht, dass die Königsfamilie ihren Neigungen folgen und Otto schützen wird. Trotzdem ist es ihm nicht erlaubt, sich gegen den Machtmissbrauch der Herrschenden zu wehren. Angesichts dieser Problemlage hat die Forschung mitunter darüber diskutiert, ob Bancbanus’ bedingungsloser Gehorsam wirklich situations-
_____________ nicht formelles Versprechen, bestimmt Maß und Ziel seines Handelns.“ (Schaum 2001: 103)
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adäquat ist und er als Vertreter der von Grillparzer proklamierten Normen gelten kann.34 Dagegen spricht für Politzer und Wichert – um nur zwei Autoren zu nennen –,35 dass die Figur durch ihr Pflichtbewusstsein und ihre Pedanterie „oft über die Grenze des Komischen“ (Lattmann 1971: 54) geführt wird.36 In der Tat wird Bancbanus im ersten Akt nicht als sympathetische Identifikationsfigur dargestellt. Von Otto und seinem Gefolge wird er als „alter Mann einer jungen Frau“ (Howald 1957: 240) verhöhnt – eine an die Commedia dell’arte erinnernde Figurenkonstellation und ein Grund dafür, dass die Forschung Bancbanus oft als ‚Komödienfigur‘ bezeichnet hat.37 Zudem fällt sein harscher Umgang mit seinen Untergebenen ins Auge. So kanzelt er seinen Diener dafür ab, nicht gelassen auf die Spottgesänge unter dem Fenster zu reagieren und darüber hinaus zu behaupten, Otto von Meran unter den ‚Ordnungsstörern‘ gesehen zu haben. Mit „halb gezücktem Säbel“ fährt er ihn an: Hätt ichs gesehn mit diesen meinen Augen, Weit eher glaubt ich, daß ich wachend träume, Als Übles von dem Schwager meines Herrn! […] Ei wollt ich doch, du wärst auf Farkahegy, Zwölf Steine über dir! (Grillparzer 1986a: 515)
Ähnlich ungnädig begegnet er seiner Dienerin, als sie auf die Frage, ob seine Frau schon wach sei, mit „Ja wohl!“ antwortet. Kleinlich weist er sie zurecht: Ja wohl ist zweimal Ja; wenn zweimal wach denn, So sollte sie doch mindstens einmal kommen! Ja wohl! Gott segne mir die Redensarten! Ein andermal sprich: Ja! Nun also denn! (Grillparzer 1986a: 515)
Auch zu Beginn des zweiten Akts wird Bancbanus als ‚gemischter Charakter‘ mit komischen Zügen vorgeführt. Während des königlichen Rats kann er die notwendigen Gesetzesdokumente erst finden, nachdem die Königin die Sitzung aufgehoben hat. Sich ganz auf seine Pflichten konzentrierend, nimmt er außerdem nicht wahr, dass er von der höfischen Festgemeinschaft verlacht wird. Bancbanus’ Verhalten ist Konsequenz seiner Pflichttreue, so die These. Ähnlich wie Kant fordert er vom Subjekt, sich von Spott und „übele[r] Nachrede“ (Kant 91991a: 604) nicht provozieren zu lassen. Den Rückzug
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Vgl. dazu den dieses Kapitel einleitenden Forschungsbericht. Vgl. Politzer 1990, Wichert 1989. Zu den komischen Zügen der Figur vgl. u. a. Berthold 1987: 132, Howald 1957, 240ff., Kaiser 1980: 67, Lattmann 1971: 54, Nicholls 1982: 32f., Politzer 1990: 187, Wichert 1989: 143. Vgl. u. a. Howald 1957 und Knafl 1994.
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halten beide für die einzig angemessene Reaktion auf Situationen, in denen durch „bittere Spottsucht“ die „Pflicht der Achtung gegen andere Menschen“ verletzt wird. (Kant 91991a: 606) So antwortet Kant auf die Frage, „ob man auch mit Lasterhaften Umgang pflegen dürfe“, in der Metaphysik der Sitten: Die Zusammenkunft mit ihnen kann man nicht vermeiden […] – Wo aber das Laster ein Skandal, d. i. ein öffentlich gegebenes Beispiel der Verachtung strenger Pflichtgesetze ist, mithin Ehrlosigkeit bei sich führt: da muß, wenn gleich das Landesgesetz es nicht bestraft, der Umgang, der bis dahin statt fand, abgebrochen, oder so viel möglich gemieden werden; weil die fernere Fortsetzung desselben die Tugend um alle Ehre bringt (Kant 91991a: 614).
Ähnlich argumentiert Bancbanus im ersten Akt, wenn er Erny rät, die Spottgesänge zu ignorieren, weil sie „schädgen […], wenn man sich ihnen leiht“ (Grillparzer 1986a: 516). Dass sich sein Diener von dem „Geschrei“ und „Gelächter“ so sehr aus der Ruhe bringen lässt, dass er seine Aufgabe – das Ankleiden – nicht mehr ordnungsgemäß verrichten kann und sogar überlegt, den sozialen Frieden durch die gewaltsame Vertreibung der ‚Ordnungsstörer‘ zu gefährden, ist für Bancbanus nicht akzeptabel. (Grillparzer 1986a: 513) Noch schwerer wiegt für ihn allerdings, dass sein Diener meint, den Prinzen von Meran unter den Spöttern gesehen zu haben. Mit Kant geht Bancbanus davon aus, dass die Inhaber der politischen Macht den allgemeinen Willen repräsentieren. Als „nicht-widerspenstige[r] Untertan muß“ er annehmen können, „sein Oberherr wolle ihm nicht Unrecht tun.“ (Kant 91991e: 161) Die Äußerungen seines Dieners wertet er daher als „Aufwiegelung“, die in Rebellion ausbrechen könnte, für ihn ähnlich wie für Kant das „höchste und strafbarste Verbrechen im gemeinen Wesen […]; weil es dessen Grundfeste zerstört.“ (Kant 91991e: 156) Vor diesem Hintergrund lassen sich seine harschen Worte sowie sein ‚halb gezückter Säbel‘ erklären. Kritisch anzumerken bleibt dennoch, dass Bancbanus die Bedrohung durch Otto hier wie im zweiten Akt nicht realisiert. Genauso wie seine ruppige Zurechtweisung des Dieners lässt sich auch sein pedantischer Umgang mit der Dienerin auf seine Pflichtethik zurückführen. Ähnlich wie Kant plädiert Bancbanus für Offenheit und Aufrichtigkeit, weil er davon überzeugt ist, dass die Lüge Auslöser alles Fatalen ist (vgl. Grillparzer 1986a: 547).38 Aus diesem Grund kann er das
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Komplexer argumentiert Kant. Wie er in der Metaphysik der Sitten betont, schadet die Lüge nicht nur anderen, sie widerspricht auch der ‚Menschheit-als-Selbstzweck-Formel‘. „Da die rationale Handlungsfähigkeit von der Richtigkeit relevanter Handlungsinformationen abhängt und da der Erfolg einer Lüge auf einer Wahrheitsunterstellung seitens des Belogenen basiert, schränkt der Lügner die Zwecksetzungsfähigkeit des Belogenen ein; er respektiert
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‚Ja wohl‘ seiner Untergebenen „als eine unnötige Erweiterung der einfachen Aussage“ (Von Matt 1965: 129) nicht akzeptieren, wie schon Peter von Matt herausgestellt hat. Fraglich bleibt aber, ob seine Schroffheit angemessen ist. Schließlich resultiert auch Bancbanus’ Genauigkeit im Umgang mit dem Gesetz aus seiner Pflichttreue. Im Unterschied zur Königin, die despotisch regiert, weil sie willkürlich Recht spricht, garantiert Bancbanus die von Kant geforderte Rechtsanwendungsgleichheit, indem er sich an den verabschiedeten Gesetzen orientiert. Komisch wirkt aber die Inkongruenz zwischen seinem Amt und seiner Desorganisation.39 Wie gezeigt worden ist, kann Bancbanus’ Pflichttreue trotz seiner menschlichen Schwächen ethisches Richtmaß sein. Warum wird der ‚treue Diener‘ aber als ‚gemischter Charakter‘ vorgeführt? Erstens ist mit Kant auf die „Gebrechlichkeit (fragilitas) der menschlichen Natur“ (Kant 91991a: 583) hinzuweisen. Da das Subjekt nicht vollkommen ist, so gibt’s zwar in der Idee (objektiv) nur eine Tugend (als sittliche Stärke der Maximen), in der Tat (subjektiv) aber eine Menge derselben von heterogener Beschaffenheit, worunter es unmöglich sein dürfte, nicht irgend eine Untugend […] aufzufinden, wenn man sie suchen wollte. (Kant 91991a: 583)
Zweitens hat Grillparzers Entscheidung für mehrdimensionale Figuren wirkungsästhetische Gründe, wie ich meine. Wie für das republikanische Trauerspiel des 18. Jahrhunderts konstitutiv, will Grillparzer nicht nur die Herrschenden, sondern auch und vor allem das „Publikum an die Pflichten eines Staatsbürgers erinnern“ (Meier 1993: 8). Es soll sich an Bancbanus und Andreas II. ein Beispiel nehmen und in einer vergleichbaren Notsituation die Kraft finden, sich gegen die eigenen Neigungen und für das Allgemeinwohl zu entscheiden. Dadurch, dass sich Grillparzer nicht am abstrakten Heroenideal der barocken Märtyrertragödie orientiert und seinen ‚treuen Diener‘ als mehrdimensionale, mit seelischen Konflikten kämpfende Figur konzipiert, gewinnt dessen ‚sittliche Stärke‘ an menschlicher Glaubwürdigkeit. Sie ist bewundernswert, weil Bancbanus die Pflichttreue angesichts seines höheren Alters und seiner damit einhergehenden physischen Schwäche schwer fällt (vgl. Grillparzer 1986a: 528). Durch seine individualistischen Züge werden die Rezipienten zur Nacheiferung motiviert, scheint doch die Überwindung der Leidenschaften jedem ‚Verstandeswesen‘ möglich zu sein.
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die Autonomie des Belogenen nicht und instrumentalisiert ihn vollständig.“ (Horn 2007: 249) Vgl. auch Kant 91991a: 562–565. Zur textuellen Komik vgl. die Ausführungen in II.1.1.2.1.
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1.1.3 Die staatlichen ‚Ordnungsstörer‘: Die ‚Fremden‘ als Repräsentanten der Pflichtvergessenheit Im Gegensatz zu den bisher analysierten Texten teilen Herr und Knecht in Grillparzers Trauerspiel dieselben Handlungsnormen. Der dramatische Konflikt resultiert daher auch nicht aus einer Kontroverse zwischen Herrscher und Untertan, sondern aus einer Bedrohung durch ‚Fremde‘ – die Königin Gertrude und ihren Bruder Otto von Meran, die beide in Deutschland aufgewachsen sind. Während Andreas II. und sein ‚treuer Diener‘ nach selbst auferlegten (Moral-)Gesetzen handeln, folgen Gertrude und insbesondere Otto ausschließlich ihren Neigungen. Das manifestiert sich in der politischen Sphäre in ihrer despotischen Regierungsform. Kontrastierend zu Herr und Knecht, die sich als Diener des Volks begreifen, strebt Otto nach einem Machtzuwachs. Schon im ersten Akt betont er, dass ihn „erborgte Herrschaft, / Geteilte Herrschaft“ (Grillparzer 1986a: 521), nicht befriedigt. Aus diesem Grund ist für ihn Bancbanus’ Angebot, zweihundert Reiter nach Bihar zu führen, wenig reizvoll, zumal die Königin den fälschlichen Verdacht hegt, dass er seine Machtposition in Ottos Abwesenheit ausbauen will.40 Ottos Despotismus kommt vor allem im dritten Aufzug zum Ausdruck. Im Gespräch mit Erny erhebt er seinen Privatwillen zum Gesetz. Als sie ihm ihren Gehorsam verweigert, fällt er sein Urteil – sie soll in Forchtenstein ins Verließ gesperrt werden – und lässt sie von Wachen abführen. Anstatt sich an dem republikanischen Prinzip der Gewaltenteilung zu orientieren, geriert er sich als uneingeschränkter Herrscher, als Inhaber der gesetzgebenden, vollziehenden und rechtsprechenden Gewalt. Ähnliches gilt für Gertrude. Dass sie despotisch regiert, zeigt sich vor allem im zweiten Akt, in dem sie ihre königlichen Pflichten zu Gunsten ihres Privatvergnügens vernachlässigt. Um den Geburtstag ihres Sohnes feiern zu können, verkürzt sie die Ratssitzung durch willkürliche Rechtsprechung. Dass Gertrude und Otto ausschließlich ihren Neigungen folgen, kommt in der privaten Sphäre vor allem in ihrer Liebeskonzeption zum Ausdruck. Andreas II. und Bancbanus werden als empfindsame Figuren
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Gertrude unterstellt Bancbanus, Otto „wie das Tierchen in der Fabel“ (Grillparzer 1986a: 531) schmeicheln zu wollen. Vermutlich rekurriert sie hier auf Jean de La Fontaines Fabel Der Rabe und der Fuchs (Le corbeau et le renard), in der ein Fuchs einem Raben durch Schmeichelei ein Stück Käse abluchst und der Fuchs daraufhin konstatiert: Mon bon Monsieur, / Apprenez que tout flatteur / Vit aux dépens de celui qui l’écoute. (La Fontaine 1991: 32, übersetzt: Mein guter Mann, nun haben Sie gelernt, dass ein Schmeichler auf Kosten derjenigen lebt, die ihn anhören.)
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vorgeführt, die nicht leidenschaftlich, sondern ‚vernünftig‘ lieben. 41 Das wird bereits im ersten Aufzug thematisiert, in dem sich Bancbanus von Erny mit den Worten verabschiedet: Nun denn, leb wohl! Noch einen Kuß! Doch nein! So aufgeregt, das hieße rauben, Komm ich zurück, so gibst du ihn wohl selbst! (Grillparzer 1986a: 517)
Wie das Zitat deutlich macht, billigt Bancbanus nur sanfte, vernunftkontrollierte Affekte. Die Ratio dient „sowohl der endgültigen Versicherung des gefühlsmäßig Erkannten, als auch dem Raffinement des Liebesgenusses.“ (Baasner 1988: 82) Aus diesem Grund will er von Erny erst dann ein Zeichen ihrer Zärtlichkeit erhalten, wenn sie ihre innere Ruhe wiedergefunden hat. Als empfindsam erweist sich Bancbanus außerdem durch seine Sensibilität. So hat er eine Träne im Auge, als er zum Reichsverweser ernannt wird; nach dem Tod seiner Frau will er sich zu Hause „recht satt“ „weinen“; und im fünften Aufzug bittet er Andreas II. in „Tränen“, der im Aufstand umgekommenen Staatsbürger gedenken zu dürfen. (Grillparzer 1986a: 568, 593) Genauso wie Bancbanus wird auch Andreas II. als empfindsam vorgeführt. Dafür spricht zum einen die Träne, die ihm im fünften Akt in den Augen schimmert (vgl. Grillparzer 1986a: 597). Zum anderen betont der Monarch, nur diejenigen zu lieben, die er achtet (vgl. Grillparzer 1986a: 523). Wie für die empfindsame Liebe konstitutiv, ist sie von der Tugendhaftigkeit des Gegenübers abhängig und frei von unkontrollierbaren Affekten. Im Gegensatz zu Herr und Knecht werden Gertrude und Otto als leidenschaftlich Liebende gezeigt. Das macht bereits der erste Auftritt der Königin „im Nachtkleide“ (Grillparzer 1986a: 522) deutlich. „Eine Andeutung erotischer Leidenschaftlichkeit kommt so auf diese Frau zu liegen, aber auch ein Element des Sittenlosen wird damit angedeutet, […] da Gertrude im Nachtkleid auch vor die königlichen Räte tritt.“ (Lattmann 1971: 67f.) Im Namen der Liebe, die „jeden [drängt,] der sie fühlt“ (Grillparzer 1986a: 522), bittet sie ihren Mann in dieser Szene, sich gegen seine königlichen Pflichten zu entscheiden und bei ihr zu bleiben – eine Bitte, der Andreas II. nicht nachkommen kann und will. Im weiteren Gesprächsverlauf wird illustriert, dass sich die Liebe der Königin entgegen der empfindsamen Liebeskonzeption nicht auf die Moralität, sondern auf die Attraktivität ihres Gegenübers gründet. So schwärmt sie ihrem Mann von Ottos „[ä]ußern Gaben“ (Grillparzer 1986a: 523) vor:
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Zur Empfindsamkeit vgl. meine Ausführungen in II.1.1.1.2.
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Pflichttreue Knechte
König Gertrude
König Gertrude König
Des Geistes hohe Gaben acht ich alle, Doch erst wenn so des Äußern Trefflichkeiten, Herolden gleich, vor ihnen her trommelten, Dann ziehn sie ein als Könige der Welt. Du bist begeistert. Ja, ich bins, und weh mir, Wenn ichs nicht wäre, wo es Würdges gilt. Sagt selbst, ist nicht mein Bruder tapfer, klug Entschlossen und verschwiegen, listig, kühn, Kein Zauderer? Ja. Was fehlt ihm also? Sitte! (Grillparzer 1986a: 523f.)
Dass Gertrudes Liebe unvernünftig ist, verraten ihre irrationale Begeisterung und ihre fehlende Wertschätzung der Sittlichkeit. Dabei müssen ihre Gefühle (auch) als Selbstliebe gewertet werden, erklärt sie Andreas II. doch im ersten Akt: „Er [Otto, N.B.] ist mein Ich, er ist der Mann Gertrude“ (Grillparzer 1986a: 525).42 Die Gefahr, die aus solch einer unkontrollierbaren (Eigen-)Liebe erwächst, wird im dritten Akt offenbar, in dem die Königin ihren Neigungen folgt und das tödlich endende Treffen zwischen Erny und ihrem Bruder arrangiert.43 Wie Gertrude handelt auch Otto gefühlsgeleitet und nicht aus Pflicht. Im Unterschied zu seiner Schwester schätzt er allerdings ausschließlich sich selbst. Seine narzisstische Selbstbezogenheit kommt bereits im ersten Akt zum Ausdruck, in dem er seine Diener bittet, ihm Licht zu bringen, damit er sein „Toben sehn“ (Grillparzer 1986a: 519) kann; sie gipfelt im vierten Aufzug, in dem Gertrude von ihrem Bruder fordert, den Rebellen entgegenzutreten, um die drohenden gewalttätigen Auseinandersetzungen abzuwenden. Anstatt sich für eine friedliche Lösung des Konflikts einzusetzen, denkt Otto nur an sein eigenes Wohlergehen. Da er „leben“ will, soll ihn Bela – Gertrudes Sohn und sein Neffe – mit „seiner kleinen Armbrust“ verteidigen; (Grillparzer 1986a: 571)44 und wenig später, als Bancbanus der königlichen Familie die Flucht ermöglicht, will Otto zuerst das rettende Schiff besteigen, um sich vor den anderen in Sicherheit zu
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Vgl. auch das Gespräch zwischen Gertrude und Otto im dritten Aufzug, in dem sie erklärt: „Mein Bruder, höre! Geh nicht von mir, du meines Lebens Glück […] Mein Ich, mein Selbst, mir teurer als mein Selbst!“ (Grillparzer 1986a: 556) Mit Kant können die im Trauerspiel miteinander kontrastierten Liebesauffassungen als praktische und pathologische Liebe kategorisiert werden. Während die praktische Liebe von Andreas II. und Bancbanus durch die Vernunft bewirkt und gelenkt wird, sind die sinnlichen Gefühle der Königin als etwas ‚Pathologisches‘ zu begreifen, „also als etwas, das wir erleiden (griech. pathos: Leiden), ohne darüber bestimmen zu können.“ (Horn 2007: 184) Vgl. auch Grillparzer 1986a: 576.
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bringen (vgl. Grillparzer 1986a: 578). Nicht nur in dieser Situation bringt Otto seinem sozialen Umfeld weder Liebe noch Achtung entgegen. So ist ihm die Zuneigung seiner Schwester „lästig“ (Grillparzer 1986a: 521) und er hat keine Skrupel, sie für seine Pläne – das geheime Treffen mit Erny – zu instrumentalisieren (vgl. Grillparzer 1986a: 557). Auch für die junge Frau empfindet er keine Liebe. Vielmehr will er Bancbanus „ärgern“, der seiner „Werbung / Durch seine Sicherheit zu spotten scheint.“ (Grillparzer 1986a: 520)45 Obwohl Otto andere Menschen aus maßloser Selbstliebe missachtet, will er unabhängig von der Übereinstimmung seiner Gesinnung mit den Forderungen des Sittengesetzes geachtet werden, eine ‚unbescheidene Forderung‘, die Kant als „Eigendünkel“ bzw. als „Hochmut“ bezeichnet. (Kant 91991a: 600, 604)46 In der Metaphysik der Sitten definiert er dieses Laster als eine Art von Ehrbegierde (ambitio), nach welcher wir anderen Menschen ansinnen, sich selbst in Vergleichung mit uns gering zu schätzen […] [D]er Hochmut verlangt von anderen eine Achtung, die er ihnen doch verweigert. […] Daß der Hochmut, welcher gleichsam eine Bewerbung des Ehrsüchtigen um Nachtreter ist, und denen verächtlich zu begegnen er sich berechtigt glaubt, ungerecht und der schuldigen Achtung für Menschen überhaupt widerstreitend sei; daß er Torheit, d. i. Eitelkeit im Gebrauch der Mittel zu etwas, was in einem gewissen Verhältnisse gar nicht den Wert hat, um Zweck zu sein, ja daß er so gar Narrheit, d. i. ein beleidigender Unverstand […] sei […] (denn dem Hochmütigen weigert ein jeder desto mehr seine Achtung, je bestrebter er sich darnach bezeigt) – dies alles ist für sich klar. (Kant 91991a: 603f.)
Dass Otto andere verachtet, von ihnen aber geachtet werden will, wird im Handlungsverlauf vor allem in seinen Gesprächen mit und über Bancbanus und Erny deutlich. Schon im ersten Akt bezeichnet er den Palatin als
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Dass Otto keine Liebe für Erny empfindet, ist von der Forschung oft herausgestellt worden und wird im Theatertext mehrfach thematisiert (vgl. u. a. Grillparzer 1986a: 520, 554, 557). Das kommt auch in einem Brief von Grillparzer an Julie Böwe vom 7. 1. 1828 zum Ausdruck. Hier heißt es: „An den Hof seiner Schwester gekommen, in ein Land, dessen Bewohner er [Otto, N.B.] verachtet, von langer Weile gedrückt, sind ihm die Zeichen einer aufkeimenden Neigung in der Gemahlin des alten Bancbanus höchst willkommen. Sie ist schön; daß nie eine Gelegenheit sich darbiethet, ihr allein zu nahen, reitzt ihn. Doch ist er der Meinung, daß diese Gelegenheit nur erscheinen dürfe, um seines Sieges gewiß zu seyn. Er schätzt Erny’n gering, wie alle Bewohner Ungarns, wie – alle Weiber.“ (Grillparzer 1986b: 890f.) In der Kritik der praktischen Vernunft differenziert Kant zwischen der Eigenliebe und dem Eigendünkel. „Während die Eigenliebe darin besteht, das Wohlwollen gegen sich selbst über alles zu stellen, besteht der Eigendünkel in dem Wahn, seine bloß subjektiven im Ideal der eigenen Glückseligkeit zusammengefaßten Zwecke für objektiv, d. h. für ein absolutes, nicht weiter überschreitbares Ganzes zu halten.“ (König 1994: 224) Zum Hochmut als Eigendünkel vgl. Kant 1974a: 357–360 (Von der Eigenliebe).
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„Feind“ (Grillparzer 1986a: 518), weil dieser ihm in seinen Augen zu wenig Anerkennung entgegenbringt. Daher will er ihn provozieren, bis dieser seine Selbstbeherrschung und damit seine Souveränität verliert. Wie Schaum zu Recht herausgestellt hat, geht es Otto zum einen um die „Aufhebung einer geistig-ethischen Unbedingtheit, deren bloßes Dasein seine sinnlich-materialistische Auffassung auszuschließen droht.“ (Schaum 2001: 217) Zum anderen will er Bancbanus seinem Willen unterwerfen: Er soll sich ‚in Vergleichung‘ mit ihm ‚geringschätzen‘. Dazu versucht er ihn durch üble Nachrede und Verhöhnungen zu kränken, zwei Laster, durch die für Kant die Pflicht, anderen Menschen Achtung entgegenzubringen, verletzt wird.47 So provoziert Otto seinen ‚Gegner‘ im ersten Akt durch Spottgesänge und im zweiten durch unpassende Zwischenrufe (vgl. Grillparzer 1986a: 531). Zugleich wirbt er um Erny. Zunächst will er sie zum Eingeständnis ihrer Zuneigung bewegen. Da diese Strategie erfolglos bleibt, sucht er sie durch Schmeichelei für sich einzunehmen, bevor er ihr schließlich physische und psychische Gewalt androht (vgl. Grillparzer 1986a: 561ff.). Bis zuletzt verweigert Erny ihm allerdings ihre Anerkennung – für Otto eine nicht zu ertragende narzisstische Kränkung.48 So stellt er sie im zweiten Akt zur Rede, wirft sich auf den Boden und beginnt zu rasen; und im dritten Aufzug droht er: Du liebst mich nicht? Was frag ich um dein Lieben? Du hassest mich? Was kümmert mich dein Haß?
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Unter „übele[r] Nachrede“ bzw. dem „Afterreden“ versteht Kant „nicht die Verleumdung (contumelia), eine falsche, vor Recht zu ziehende Nachrede, sondern bloß die unmittelbare, auf keine besondere Absicht angelegte, Neigung […], etwas der Achtung für andere Nachteiliges ins Gerüchte zu bringen“. Das „ist der schuldigen Achtung gegen die Menschheit überhaupt zuwider; weil jedes [sic] gegebene Skandal diese Achtung, auf welcher doch der Antrieb zum Sittlichguten beruht, schwächt, und, so viel wie möglich, gegen sie ungläubig macht.“ (Kant 91991a: 604f.) Im Unterschied dazu wertet Kant die „Verhöhnung“, verstanden als „leichtfertige Tadelsucht und de[n] Hang, andere zum Gelächter bloß zu stellen, die Spottsucht“, als „Bosheit“. Beides hat „etwas von teuflischer Freude an sich und ist darum eine desto härtere Verletzung der Pflicht der Achtung gegen andere Menschen.“ (Kant 91991a: 605f.) Das betont Grillparzer auch in einem Brief an Julie Böwe vom 7. 1. 1828. Hier erklärt er: „Der Grundzug dieses Charakters ist Übermuth, aus zweifacher Quelle: als Prinz und als Liebling der Frauen. Von Kindheit an gewöhnt, allen seinen Neigungen gehuldigt zu sehen, bringt ihn jeder Widerstand außer sich. […] Als er statt Liebe, Verachtung findet, bricht der Ungestümm seines Wesens übermäßig hervor, und Wuth, Trotz, Rachedurst, ja die Spuren einer, durch den Widerstand erst mehr zum Bewußtseyn gekommenen Neigung für die Widerstrebende versetzen ihn in jenen Zustand, in welchem wir ihn am Schluße des zweiten, vornehmlich aber zu Anfang des dritten Aufzuges erblicken. […] Als sie [ihm im dritten Akt, N.B.] noch immer widersteht, erwacht sein Grimm wieder, durch das demüthigende Gefühl, wie viel er sich vergeben, aufs Äußerste gesteigert.“ (Grillparzer 1986b: 890f.)
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Doch, weißt du, Törin, was Verachtung heißt? Verachtest du mich, Weib? Das bitt mir ab, Auf diesen deinen Knieen bitt es ab, Sonst fürchte meinen Zorn! (Grillparzer 1986a: 562)
Im Unterschied zu Bancbanus, der sein Ego zu Gunsten der Tugendpflichten verleugnet und somit von der Anerkennung anderer unabhängig ist, verabsolutiert Otto seinen Willen.49 Jede Missachtung muss er daher als Demütigung erfahren, als psychische Verletzung, die im dritten Akt in einer psychophysischen Krankheit mündet. Wie die Königin konstatiert, ist eine Heilung nur durch „Vernunft“ (Grillparzer 1986a: 551) möglich. Otto muss lernen, die Forderungen der (Sitten-)Gesetze anzuerkennen, anstatt seinen Willen absolut zu setzen.50 Kühl erklärt sie: Es ist nicht not, daß gar so Viele leben, Die Erde trägt unnütze Last genug. Wer sich Notwendigem nicht fügen kann, Mag sterben, wärs mein Bruder, wärs ich selbst! (Grillparzer 1986a: 551)
Wie diese Äußerung offenlegt, vertritt die Königin hier die Position der ‚Ordnungshüter‘. Sie achtet die Vernunftgesetze, wenn es ihr auch nicht gelingt, in Übereinstimmung mit ihnen zu handeln. Dieses Defizit manifestiert sich in ihrer Gefühlskälte. Im Gegensatz zu Andreas II. und Bancbanus wird sie nicht als empfindsame Figur vorgeführt. Ihre harschen Worte mögen ‚gerecht und klug‘ sein, allerdings ist sie im Gegensatz zu den Vertretern der von Grillparzer proklamierten Handlungsnormen nicht zu sanften, Gefühl und Vernunft miteinander verbindenden Empfindungen fähig. Nur Extreme kennend, schwankt sie zwischen ratio und passio hin und her.
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Im Trauerspiel legitimiert Otto fast alle seine Handlungen mit den Worten ‚ich will‘ (vgl. u. a. Grillparzer 1986a: 518, 520, 540, 554). Dass der Prinz sein ‚Wollen‘ verabsolutiert, wird auch von der Königin thematisiert. Sie erklärt seine Tollheit mit seinem „Eigensinn, der will, weil er gewollt.“ (Grillparzer 1986a: 554) Dass die Bejahung der eigenen Individualität Leiden verursacht, ist ein Gedanke, den Grillparzer von Arthur Schopenhauer übernommen haben könnte. „Man weiß, daß Grillparzer Schopenhauers Werke, von denen er einige in seiner Bibliothek besaß, mit regem Interesse studiert und ihnen manches entnommen hat. Wenn er auch als grundsätzlicher Anti-Metaphysiker dessen transzendente Spekulationen ablehnt, so hat dieser doch mit gewissen Nebenprodukten seines Systems auf Grillparzer eingewirkt oder zu schöpferischer Kritik verlanlaßt“, so Friedrich Kainz (1975: 619); zu Schopenhauers Metaphysik des Willens vgl. III.2.
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1.1.4 Tugend aus Neigung: Ernys Scheitern an der Pflichtethik Genauso wie die Königin Gertrude ist auch Erny nicht fähig, sich zu beherrschen und vernunftgeleitet zu agieren. Während die Regentin aber aufgrund ihrer weitgehenden Bejahung des eigenen Willens als lasterhafte Figur konzipiert ist, versucht Erny, die „Grundsätze der Tugend“ (Kant 91991a: 567) zu befolgen – allerdings weniger aus Pflicht denn aus Neigung.51 Wie im Folgenden zu zeigen ist, trägt sie damit ähnlich wie die ‚Ordnungsstörer‘ maßgeblich zur dramatischen Katastrophe bei. Ernys Emotionalität wird von Bancbanus mehrfach problematisiert, weil das für ihn ein Zeichen fehlender Souveränität ist,52 so etwa zu Beginn des Handlungsverlaufs, als Erny zögert, ihn aufzusuchen, weil sie sich von Ottos Spottgesängen gedemütigt fühlt und fürchtet, dass diese auch ihn erzürnt haben könnten. Als gefühlsgeleitetes Wesen wird sie außerdem auf dem von Otto initiierten Fest gezeigt, ist sie doch kurz davor, gegen die höfische Etikette zu verstoßen, weil sie die „Schmach, der Scheelsucht Spötterblicke“ (Grillparzer 1986a: 537), nicht länger ertragen kann; und als Otto sie später auffordert, ihm eine geheime Nachricht zukommen zu lassen, will sie ihm schreiben, fühlt aber, dass es falsch ist, seinem Wunsch nachzugeben. Ihr psychischer Konflikt hat unmittelbare Auswirkungen auf ihre physische Verfassung, findet Bancbanus seine Frau doch „bleich“ und „zitternd“ vor. (Grillparzer 1986a: 544) Obwohl Erny im Gegensatz zu Bancbanus über ihre Gefühle nicht erhaben ist, hat sie in der Vergangenheit bewiesen, dass sie ihre Neigungen überwinden und aus Pflicht handeln kann. Wie Otto weiß, hat Erny früher einmal Gefallen an ihm gefunden. „Minutenlang“ hat sie ihn angeschaut, seine Hand beim Tanzen gedrückt und ihm eine für seine Schwester bestimmte Locke seiner Haare gestohlen.53 Für Otto sind diese Zeichen ihres „Wohlgefallen[s]“ (Grillparzer 1986a: 520) Ausdruck mangelnder Tugendhaftigkeit. Anders argumentiert Erny. Sie gesteht sich ein, dass sie sich einmal für den Prinzen interessiert hat – schien er ihr doch „fromm“ und „gut“ zu sein –, allerdings hat sie sich gegen ihre Neigungen entschieden und Ottos Locke verbrannt. (Grillparzer 1986a: 543)54 Schul-
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Vgl. Lattmann 1971: 65. Gegenüber Simon und Peter betont Bancbanus, dass seine Frau „ruschlich“ (Grillparzer 1986a: 567) ist, d. h. häufig unachtsam handelt. Vgl. Grillparzer 1986a: 559, 542. In seinen Tagebüchern und Notizen hat Grillparzer mehrfach auf Ernys Gefühle für Otto hingewiesen. So heißt es in den ‚Vorarbeiten‘ zum treuen Diener seines Herrn: „Es ist vor allem nöthig ihren Karakter, das Besonderste ihrer Lage und Gemüthsverfaßung festzusetzen. / Liebt sie den Prinzen? – Nein. / Hat sie ihn nie geliebt? – Nein. / War er ihr immer
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dig ist sie nicht dadurch, dass sie ein ‚Sinnenwesen‘ ist, sondern erst dann, wenn sie ihren Neigungen folgt. Vor diesem Hintergrund kann sie ihre „Finger“ dafür verfluchen, dass sie Otto gegen ihren „Willen […] andres kündeten, als Haß und Abscheu“, und Bancbanus „aufgerichtet“ erklären, dass ihr nie ein „Gedanke“ von „Unrecht“ in ihren „armen Sinn“ gekommen ist. (Grillparzer 1986a: 542, 546) Obwohl Erny durchaus in der Lage ist, vernunftbestimmt zu handeln, ist sie – als junge Frau und aufgrund ihres „[k]ühle[n] Temperament[s]“ (Grillparzer 1986b: 886) – innerlich nicht gefestigt. Daher betrachtet sie Bancbanus als „Gatte[n]“ und „Vater“, der sie über ihre Tugendpflichten unterrichten soll. (Grillparzer 1986a: 545) Im Handlungsverlauf geriert sich Bancbanus denn auch mehrfach als ihr Erzieher, so etwa im zweiten Akt, in dem er Erny dafür rügt, dass sie auf die Knie fallen will, um sich bei ihm für ihr Fehlverhalten zu entschuldigen: Was fällt dir ein, zu knien vor mir, und schwören? Dein Wort sei Ja! und Nein! weißt du dich schuldlos, Tritt hin vor mich und sag: Ich bins! Hörst du? Ich bins, bin schuldlos! – Und sieh mir ins Auge! Nichts da! Den Blick nicht auf den Boden! Hier, Auf mich dein Aug! – Ja so, es schwimmt in Tränen! (Grillparzer 1986a: 546)
Bancbanus’ Ablehnung des Kniefalls – außer vor dem Souverän – lässt sich mit Kant als Kritik an der „Kriecherei (humilitas spuria)“ (Kant 91991a: 570) deuten. In der Metaphysik der Sitten zählt der Philosoph die „Selbstschätzung“, verstanden als Wissen des Subjekts um die „Erhabenheit seiner moralischen Anlage“, zu den Tugendpflichten des Menschen. (Kant 91991a: 569) Der Schmeichler, der anderen „vorzügliche Achtungsbezeigung[en] in Worten und Manieren“ entgegenbringt – etwa „Reverenzen, Verbeugungen (Komplimente)“ –, verletzt ebenso wie der Lügner die „Würde der Menschheit in seiner eigenen Person“, weil er sich selbst nicht achtet. (Kant 91991a: 572, 562) Er macht „sich es zum Grundsatz, keinen Grundsatz, und so auch keinen Charakter, zu haben, d. i. sich wegzuwerfen und sich zum Gegenstande der Verachtung zu machen“. „Wer
_____________ ganz gleichgiltig? – Hier muß ebenfalls wieder mit Nein geantwortet werden.“ (Grillparzer 1986b: 886) Vgl. außerdem Grillparzers Tagebucheintrag vom Frühjahr 1821. Hier heißt es: Erny „findet offenbar Wohlgefallen an manchen Männern, besonders an solchen von hübscher Außenseite, aber ihr Wunsch wird nie zum Verlangen, und selbst der Wunsch geht nie so weit, daß sie dächte: O wäre doch ein Solcher mein Mann! sondern höchstens: O wäre doch mein Mann ein Solcher!“ (Grillparzer 1986b: 887) Im September 1827 konstatiert er: „Wenn nicht aus dem Betragen Erny’s hervorgeht, daß sie früher doch einiges, wenn gleich unschuldiges Wohlgefallen an dem Prinzen gehabt, so handeln die ganzen 3 ersten Aufzüge de lana caprina.“ (Grillparzer 1986b: 889)
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sich aber zum Wurm macht, kann nachher nicht klagen, daß er mit Füßen getreten wird“, so Kant. (Kant 91991a: 553, 572) Zudem rät Bancbanus seiner Frau, sich nicht von Provokationen reizen zu lassen, auf Ottos Spottgesänge mit Gelassenheit zu reagieren und ihm ‚auszuweichen‘, anstatt die Konfrontation zu suchen (vgl. Grillparzer 1986a: 547). Seine Empfehlung, die erfahrenen Kränkungen still zu ertragen und den Unruhestifter zu ignorieren, hat die Forschung mitunter als „Unfähigkeit, mit seinen Gegenspielern ins Gespräch zu kommen“ (Politzer 1990: 190), oder als Unvermögen, auf Ernys Sorgen adäquat zu reagieren, gedeutet. Mit Kant ist der Rückzug hingegen positiv zu werten, als einzig angemessene Handlungsmöglichkeit in Situationen, in denen der einzelne dem Hohn anderer ausgesetzt ist. Allerdings muss Bancbanus seine Frau enttäuschen, weil er sie weder „strafen“ noch „hüten“ will, wie sie von ihm fordert. (Grillparzer 1986a: 545) So konstatiert er: Bestrafen? Hüten? Ei, sag nur selbst, Wie fang ichs an? Führ ich dich tobend heim? […] Die Ehre einer Frau ist eine ehrne Mauer; Wer sie durchgräbt, der spaltet Quadern auch. […] Was gibt ein Recht mir, also dich zu quälen? […] Weils so die Sitte will? Wer frägt nach Sitte. Wenn nicht in deiner Brust ein still Behagen, Das Flüstern einer Stimme lebt, die spricht: Der Mann ist gut, auf Rechttun steht sein Sinn, Er liebt wie Keiner mich, und wie zu Keinem Fühl ich Vertraun – wenns so nicht spricht, Dann Gott mit dir, und mit uns allen, Erny, Dann schreib dem Prinzen nur! (Grillparzer 1986a: 545)
Bancbanus’ Weigerung, Erny Vorschriften zu machen, ist keine „Legitimation von Passivität gegenüber der Ordnung.“ (Berthold 1987: 137) Vielmehr wendet er sich gegen einen Tugendrigorismus, wie er beispielsweise in Lessings Emilia Galotti von Odoardo Galotti vertreten wird. Anstatt von seiner Frau zu fordern, sich an den herrschenden Verhaltenskonventionen zu orientieren, nimmt er sie als ‚Verstandeswesen‘ ernst. Sie soll nach selbst auferlegten, vernunftbestimmten (Moral-)Gesetzen handeln. Dann wird sie ihren Neigungen nicht nachgeben und unverführbar sein, davon ist Bancbanus überzeugt. Wie deutlich wird, huldigt er ähnlich wie Kant nicht der „pathologische[n]“, sondern der „praktische[n]“ „Liebe, die im Willen liegt und nicht im Hange der Empfindung, in Grundsätzen der Handlung und nicht schmelzender Teilnehmung“. (Kant 1974b: 25f.) Dass Erny Bancbanus’ Moralvorstellungen – wenn auch eher intuitiv als dezidiert – teilt, manifestiert sich etwa im dritten Aufzug, in dem sie Otto erklärt, ihren Mann aus „freier Wahl“ erkoren zu haben und ihn zu
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achten, obwohl er nicht mehr „jung“ und „blühend“ ist. (Grillparzer 1986a: 560) Obwohl Otto ihr „Gefühl […] in Aufregung“ (Grillparzer 1986b: 886) bringt, bleibt sie ihm gegenüber kühl, weil sie ihren Mann für seine moralische Integrität verehrt und liebt, ihrem ‚Verehrer‘ jedoch nicht trauen kann. Diese Einschätzung ändert sich auch nicht, als Otto Besserung gelobt. Misstrauisch fordert sie ihn auf: „Tilg erst den Schimmer dort aus deinem Auge, / Der lauernd sich gelungner Plane freut.“ (Grillparzer 1986a: 562) Erny spürt, dass ihr Gegenüber nicht aus Pflicht, sondern nur pflichtmäßig handelt, um sie für sich einzunehmen. Aus diesem Grund spricht sie seinen Absichtserklärungen jeden sittlichen Wert ab. Obwohl sich Erny an Bancbanus’ Pflichtethik orientiert, gelingt es ihr im Gespräch mit Otto nicht, sich zu beherrschen. Das wird schon im zweiten Akt angedeutet, in dem sie sich vornimmt, ihr „kindisch Zagen“ (Grillparzer 1986a: 540) zu überwinden und sich gegen Otto zur Wehr zu setzen. Auf seinen „Unbill“ will sie mit „Verachtung“ (Grillparzer 1986a: 539) reagieren, um ihre Souveränität zu demonstrieren. Bancbanus gegenüber geriert sie sich wenig später sogar als Kriegerin – als ‚weiblicher Cäsar‘ –, wenn sie ihm erklärt: „Ausweichen ihm? Ihm stehn, ihn sehn, vernichten!“ (Grillpazer 1986a: 547) Der Aufforderung ihres Mannes, sich zu mäßigen, weil eine übertrieben starke – und damit unvernünftige – Gegenwehr nicht zur Konfliktlösung führt, kann und will sie nicht nachkommen. Offensiv erklärt sie Otto im dritten Aufzug, ihn zu „hasse[n]“, zu „verabscheu[en]“ und zu verachten. (Grillparzer 1986a: 562) „Andere verachten (contemnere), d. i. ihnen die dem Menschen überhaupt schuldige Achtung weigern“, ist für Kant aber auf alle Fälle pflichtwidrig; denn es sind Menschen. Sie vergleichungsweise mit anderen innerlich geringschätzen (despicatui habere) ist zwar bisweilen unvermeidlich, aber die äußere Bezeigung der Geringschätzung ist doch Beleidigung. – Was gefährlich ist, ist kein Gegenstand der Verachtung und so ist es auch nicht der Lasterhafte; […] Nichts desto weniger kann ich selbst dem Lasterhaften als Menschen nicht alle Achtung versagen, die ihm wenigstens in der Qualität eines Menschen nicht entzogen werden kann; ob er zwar durch seine Tat sich derselben unwürdig macht. (Kant 91991a: 601)
Das Zitat macht deutlich, dass Kant den lasterhaften, seinen Neigungen folgenden Menschen als ‚gefährlich‘ einstuft, weil dieser sich und sein soziales Umfeld für seine subjektiven Zwecke instrumentalisiert und damit die zu konstituierende bzw. die zu stabilisierende vernünftige Rechtsgemeinschaft bedroht. Trotzdem darf auch dem Lasterhaften die Achtung nicht verweigert werden, weil er als ‚Verstandeswesen‘ fähig ist, nach
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selbst auferlegten moralischen Gesetzen zu handeln. Für diese Qualität muss der Mensch geschätzt, wenn auch nicht verehrt werden. 55 In der Tat erweist sich Otto als ‚gefährlich‘. Auf Ernys Kränkung reagiert er mit Zorn:56 Er will die junge Frau bestrafen und „in dunkeln Schauerklüften“ (Grillparzer 1986a: 562) lebendig begraben. In Notwehr greift Erny zum Dolch und droht jeden, der sich ihr nahen will, zu erstechen. Da die Wachen durch einen Harnisch geschützt sind, sieht Erny schließlich keine andere Möglichkeit, als die Waffe gegen sich selbst zu richten. Ihr Selbstmord ist von der Forschung kontrovers diskutiert worden. Während Berthold und Lattmann davon überzeugt sind, dass sich Erny aus Angst vor Schmach bzw. aus Angst vor Lebenssituationen ohne die „väterlich sorgende und schützende Liebe ihres Mannes“ (Lattmann 1971: 67) tötet,57 stellt Schaum die These auf, dass der jungen Frau „im Akt der Selbstentleibung“ die „heroische Selbstüberwindung zur geistlichsittlichen Haltung“ gelingt. (Schaum 2001: 225) Im Unterschied dazu wird hier die These vertreten, dass sich Erny umbringt, weil es ihr aufgrund ihres Temperaments nicht gelingt, vernunftkontrolliert zu agieren. Für eine Affekthandlung spricht zum einen Ernys Selbstbeschreibung, dass sie sich als „zürnend Weib“ (Grillparzer 1986a: 563) Otto nicht unterwerfen will, und zum anderen ihre Reaktion auf die eigene Tat. Anstatt gelassen zu sterben, bereut sie ihre Tat: „Es schmerzt! – Muß ich so früh schon sterben?“ (Grillparzer 1986a: 564) Schließlich ist auch Kants Bewertung des Selbstmords als „Verbrechen“ (Kant 91991a: 554) ein Indiz dafür, dass Ernys Tat nicht als ‚Selbstüberwindung zur geistlich-sittlichen Haltung‘ gedeutet werden kann. In der Metaphysik der Sitten betont er, dass „die willkürliche Entleibung seiner selbst“ eine Pflichtverletzung ist, weil der
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Vgl. Kant 91991a: 607: „Ich bin nicht verbunden, andere […] zu verehren, d. i. ihnen positive Hochachtung zu beweisen. Alle Achtung, zu der ich von Natur verbunden bin, ist die vor dem Gesetz überhaupt (reverere legem), und dieses […] ist allgemeine und unbedingte Menschenpflicht gegen andere.“ Ähnlich argumentiert schon Katann, wenn auch nicht im Rekurs auf Kant. So konstatiert er: „Ganz schuldlos ist Erny allerdings nicht; sie hat dadurch, daß sie Otto ihre Verachtung aussprach, ihn schwer gereizt, da man wohl die schlechten Handlungen des Menschen verachten darf, niemals aber den Menschen selbst, dem man nicht in die Verschlungenheiten seines Innern blicken kann.“ (Katann 1932: 69) In der Metaphysik der Sitten plädiert Kant nicht dafür, auf Provokationen mit „falsche[r] (erlogene[r]) Demut“ (Kant 91991a: 570) zu reagieren, lehnt er doch die ‚Kriecherei‘ ab. Stattdessen fordert er vom Subjekt, sich als ‚Verstandeswesen‘ zu würdigen und auf die „Achtung anderer Anspruch“ (Kant 91991a: 601) zu erheben. Ernys Pflicht wäre also nicht die bedingungslose Unterwerfung unter Ottos Willen. Vielmehr hält Kant es für angemessen, „dem Angriffe entweder gar keine oder eine mit Würde und Ernst geführte Verteidigung entgegen zu setzen.“ (Kant 91991a: 606) Vgl. Berthold 1987: 141.
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Mensch „zur Erhaltung seines Lebens, bloß durch seine Qualität als Person verbunden sei, und hierin eine (und zwar strenge) Pflicht gegen sich selbst anerkennen müsse.“ (Kant 91991a: 554) Tötet er sich selbst, schätzt er sich nicht als ‚Zweck an sich‘, sondern gebraucht sich „als bloßes Mittel“. Auf diese Weise würdigt er „die Menschheit in seiner Person (homo noumenon)“ herab, für deren „Erhaltung“ er als „Mensch (homo phaenomenon)“ verantwortlich ist. (Kant 91991a: 555) In Notsituationen darf das Subjekt nach Kant zwar auf die Gefahr des Verlustes seines Lebens etwas wagen, oder auch den Tod von den Händen eines andern erdulden, wenn man ihm nicht ausweichen kann, ohne einer unnachlaßlichen Pflicht untreu zu werden, aber nicht über sich und sein Leben als Mittel, aus welchem Zweck es auch sei, disponieren und so Urheber seines Todes sein. (Kant 91991b: 737)
Aus diesem Grund hat etwa die Römerin Lucretia (vor 500 v. Chr.) ihre Tugendpflichten verletzt. So heißt es in Kants Vorlesung über Ethik: Sie sollte sich […] lieber zur Vertheidigung ihrer Ehre so lange gewehrt haben, bis sie wäre umgebracht worden; denn hätte sie recht gethan, und denn wäre es auch kein Selbstmord. Denn sein Leben gegen seine Feinde zu wagen, und die Pflicht gegen sich selbst zu beobachten, und auch sein Leben aufzuopfern, ist kein Selbstmord. (Kant 1974a: 371)
Wie die tugendhafte Lucretia hat auch die ‚gute, fromme‘ Erny die Pflicht, ihr Leben zu erhalten.58 Durch ihre Unfähigkeit, die eigenen Affekte kontrollieren zu können, trägt sie eine Mitschuld an der Katastrophe. Auf diese Weise wird die Bedeutung der Tugendpflichten in der politischen und privaten Sphäre einmal mehr illustriert. 1.1.5 Grillparzer als ‚konservativer Revolutionär‘?59 Die Pflichttreue als moralische Utopie und Bestätigung der staatlichen Ordnung Von den im Trauerspiel proklamierten Handlungsnormen ausgehend, hat die Forschung vielfach darüber diskutiert, ob Grillparzer auf die Reformierung des politischen Systems zielt oder ob sein Theatertext eine systemstabilisierende Intention besitzt. Wie die Analyse vor dem Hintergrund der Kant’schen Pflichtethik gezeigt hat, ist das Trauerspiel affirmativ, als Bestätigung der politischen Ordnung zu lesen. Das schließt eine Kritik an dem Fehlverhalten der Herrschenden freilich nicht aus. Diese These lässt
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Auf die Parallelen zwischen der Erny-Figur und Lucretia hat u. a. Helmut Bachmaier in seinem Kommentar zum treuen Diener seines Herrn hingewiesen, vgl. Grillparzer 1986a: 903. Vgl. Doppler 1990: 22.
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sich mit Blick auf die Figurenkonzeption verifizieren. Grillparzer differenziert zwischen den aus Pflicht handelnden ‚Ordnungshütern‘ und den pflichtvergessenen ‚Ordnungsstörern‘. Dabei wird die Trennungslinie zwischen den Figurengruppen weniger stratifikatorisch als topographisch begründet – ein Hinweis darauf, dass das Drama keine dezidiert herrschaftskritische Funktion besitzt.60 Wie zuletzt Caroline Anders betont hat, sind die beiden oppositiven Gruppen Repräsentanten zweier stereotyper Kulturräume, „dem östlichen ‚Ungarn‘ und einem nicht eindeutig benannten und eingegrenzten ‚westlichen‘ Raum.“ (Anders 2008: 69)61 Vertreter dieses westlichen Raumes sind Gertrude und ihr Bruder Otto, die in einem „Alpental“ in „Deutschland“ aufgewachsen sind und sich weniger an den ungarischen als an den französischen Sitten orientieren. (Grillparzer 1986a: 555, 560) Der dramatische Konflikt soll aber nicht auf kulturnationale Differenzen zurückgeführt werden, so Grillparzer in einem Gespräch mit Auguste von Littrow-Bischoff im Februar 1866. Vielmehr will er Gertrude und Otto als Fremde ausweisen, „gleichviel, ob sie ihre Nationalität oder irgendeine auch vollwichtig verträten“ (Grillparzer 1986b: 902f.). Indem er zeigt, dass der Landesfrieden nicht von den Ungarn, sondern von ausländischen Unruhestiftern bedroht wird, gerät das politische System nicht in die Kritik, auch wenn Gertrude und Otto zu den Inhabern der politischen Macht zählen. Dennoch geht es Grillparzer nicht darum, auf eine Bedrohung des Friedens durch eine Gefahr von außen – durch Fremde – aufmerksam zu machen. Indem er zeigt, dass Ruhe und Frieden durch Pflichtvergessenheit gefährdet sind, appelliert er an Souverän und Untertanen, auch wider die eigenen Neigungen dem moralischen Gesetz zu folgen. Für eine herrschaftsstabilisierende Textintention spricht ferner die dynamische Konzeption der Otto-Figur. Obwohl Otto und Gertrude die notwendigen Tugend- und Rechtspflichten verletzt haben, werden sie von Bancbanus als Repräsentanten des bestehenden politischen Systems vor den Rebellen geschützt. Bis zuletzt bringt er ihnen Achtung, wenn auch
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Grillparzers Herrschaftskritik beschränkt sich auf den Befund, dass die Inhaber der politischen Macht vor allem im ‚westlichen‘ Raum dazu neigen, ihr Ego zu verabsolutieren. So führt der in Deutschland aufgewachsene Otto seinen lasterhaften Lebenswandel auf seine Sozialisation zurück: Er sei aufgrund seines hohen sozialen Status und seiner äußeren Attraktivität immer umschmeichelt und umschwärmt worden, habe seinen Willen somit immer durchsetzen können. Zudem habe es am Hof keine positiven Vorbilder gegeben. (Vgl. Grillparzer 1986a: 560f.) Aber auch am ungarischen Königshof herrscht „Leichtsinn“ statt „Sitte“ (Grillparzer 1986a: 524). Das manifestiert sich in dem ungebührlichen Benehmen der Hofleute und des Kämmerers, die Bancbanus für seine Pflichttreue verlachen und mit dem Finger auf ihn zeigen. (Vgl. Grillparzer 1986a: 535) Vgl. dazu außerdem Müller 1976.
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keine positive Wertschätzung, entgegen. So vertraut Bancbanus seinem Widersacher den Königssohn Bela in der Hoffnung an, dass dieser moralisch handeln und das Leben des Jungen retten wird. Damit folgt er Kants Tugendlehre, der in der Metaphysik der Sitten betont, dass keinem Menschen – handle er auch lasterhaft – der moralische Wert ganz abgesprochen oder die „Achtung für seinen Verstand“ entzogen werden dürfe: „weil er, nach dieser Hypothese, auch nie gebessert werden könnte; welches mit der Idee eines Menschen, der, als solcher (als moralisches Wesen), nie alle Anlage zum Guten einbüßen kann, unvereinbar ist.“ (Kant 91991a: 602) Wie der Handlungsverlauf zeigt, wird Bancbanus’ Hoffnung nicht enttäuscht: Zu Beginn des fünften Aufzugs lernt Otto, seinen Neigungen zu entsagen und dem politischen System zu dienen, das hier durch Bancbanus in seiner Funktion als Stellvertreter des Königs und durch den Thronfolger Bela repräsentiert wird.62 Während Otto den Reichsverweser in den ersten Akten zu unterwerfen gesucht hat, hört er ihm nun aufmerksam zu und folgt seinen Anweisungen. Auch Bela ordnet er sich unter. Anstatt von ihm wie noch im vierten Aufzug zu verlangen, sein Leben für ihn zu opfern, wirft er „sich vor dem Kleinen [wie später auch vor dem König, N.B.] auf die Kniee, dessen Füße streichelnd und an seine Brust drückend.“ (Grillparzer 1986a: 582) Später schützt er ihn beherzt vor den Aufständischen. Durch Ottos Bekehrung verdeutlicht Grillparzer, dass jedes Subjekt qua Verstand und Vernunft zu moralisch richtigem Handeln fähig ist. Die Pflichttreue kann daher von allen Subjekten – den Regenten und den Untertanen – verlangt werden.63 Für die systemstabilisierende Funktion des Trauerspiels spricht zuletzt die messianische Überhöhung des Thronfolgers Bela am Ende des Handlungsverlaufs. So verzeiht Andreas II. nach seiner Rückkehr allen Aufständischen im Namen des Kindes; und auch Bancbanus huldigt dem Prinzen als „künftige[m] König“ (Grillparzer 1986a: 595), den er auffordert: Sei mild, du Fürstenkind, und sei gerecht:
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Dass Otto Bancbanus als Stellvertreter des Königs anerkennt, manifestiert sich auch in seinem Ausruf: „Bancban! sie rauben mir dein Kind!“ (Grillparzer 1986a: 594) Während der Abwesenheit von Andreas II. gilt ihm der Reichsverweser als Belas ‚Adoptivvater‘. Unklar bleibt, ob Grillparzer auch das weibliche Geschlecht – hier repräsentiert durch Erny und Gertrude – zu vernunftgeleitetem Handeln für fähig hält. Beide Figuren scheitern, weil sie ihre Gefühle nicht kontrollieren können. Wie Kainz herausgestellt hat, ist Grillparzer davon überzeugt gewesen, dass Frauen „ihre Urteile stärker von Gefühlsirradiationen abhängig sein lassen als die Männer“ (Kainz 1975: 578f.). Die Beantwortung der Frage soll aber geschlechtertheoretischen Arbeiten überlassen bleiben.
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Auf dem Gerechten ruht des Herren Segen. Bezähm dich selbst: nur wer sich selbst bezähmt, Mag des Gesetzes scharfe Zügel lenken. Laß dir den Menschen Mensch sein, und den Diener Acht als ein Spargut für die Zeit der Not. Gedenk als Mann der Zeit, da du ein Kind, Und hilflos lagst in eines Mörders Armen. […] Da tat ein alter Mann – was er vermochte. I nu! ein treuer Diener seines Herrn. (Grillparzer 1986a: 598)
Die letzten Worte illustrieren noch einmal, dass Bancbanus, als Repräsentant der von Grillparzer proklamierten Handlungsnormen, vom kommenden Souverän die Achtung seiner Untertanen und die Überwindung der eigenen Neigungen fordert. Dann erst wird sich eine humane Rechtsgemeinschaft konstituieren, so der ‚treue Diener‘. Auch wenn Bancbanus hier vorsichtige Kritik an der defizitären Gegenwart übt, stellt er die Autorität des Königs und das bestehende politische System nicht in Frage. Wie schon Friedrich Sengle hervorgehoben hat, wird durch das Königskind vielmehr die „feste Gestalt des heimkehrenden und ordnungschaffenden Königs von Ungarn transzendiert. Die an keine Person gebundene Heiligkeit des Königtums überhaupt erscheint in den letzten Worten und in der Schlußgebärde des treuen Dieners.“ (Sengle 1980: 99) Während Sengle aber davon ausgeht, dass sich Grillparzer für eine „Humanisierung des Gottesgnadentums“ (Sengle 1980: 99) einsetzt, wird in dieser Arbeit mit Blick auf Grillparzers Kant-Rezeption die These vertreten, dass im Trauerspiel die Notwendigkeit einer humanen Rechtsgemeinschaft proklamiert wird. Die Vorstellung einer ‚Herrschaft von Gottes Gnaden‘ ist für Kant und Grillparzer obsolet, aber Sinnbild der vernünftigen Forderung, den Inhabern der politischen Macht gehorchen zu müssen (vgl. 1.1).
1.2 Zur Darstellungsebene: Konservative Position und literarästhetische Affirmation Die systemstabilisierende Textintention manifestiert sich nicht nur auf der Handlungs-, sondern auch auf der Darstellungsebene – in Grillparzers Umgang mit dem Ban Bánk-Stoff und seinem Rekurs auf die Tradition des republikanischen Trauerspiels – wie nun zu zeigen ist. Wie unter anderem Gábor Vázsonyi gezeigt hat, sind seit der Renaissance zahlreiche literarische Bearbeitungen des Ban Bánk-Stoffs entstanden. Dabei stimmen die deutschen und ungarischen Geschichtsschreiber in Bezug auf die den Texten zugrunde liegenden historischen Ereignisse in Folgendem überein:
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1. Die Ermordung der Königin Gertrud [von Andechs-Meranien, um 1185–1251, N.B] war ein vorwiegend politischer Akt, die Folge einer Verschwörung. Die Ursachen dieser Verschwörung waren: a) Die Hofämter waren von Fremden besetzt. b) Die Würdenträger (weltliche und geistliche) beuteten das Volk aus. c) Die Königin – umgeben von fremden Hofdamen und Rittern – wurde zum Symbol der Fremdherrschaft und Ausbeutung des Landes. 2. Wegen der Unzufriedenheit im Lande ernannte Andreas II. 1212 Bánk aus dem Geschlechte Bor zum Palatin. 3. Reichsverweser wurde dennoch der Bruder Gertruds, Berthold, Erzbischof von Kalocsa, im Jahre 1213, als der König zum Feldzug nach Halics (Galizien) aufbrach. Dieser Entscheid verbitterte den ungarischen Hochadel in größtem Maße, und er entschloß sich zum Aufstand. 4. Seine Rache richtete sich in erster Linie gegen die Königin und Berthold […] 5. Die Aufständischen gewannen Bánk als ihren Anführer (angeblich wegen der Verletzung seiner ehelichen Ehre); sein Schwager Simon (Gespan), Peter (Gespan), die Banen Mihály und Simon leiteten den Angriff: die Königin und viele Fremde wurden niedergemetzelt, Berthold nur verprügelt […] 6. Viele Adelige wurden nach Andreas’ Heimkehr hingerichtet; Bánk wurde begnadigt, blieb Mitglied des königlichen Rates und wurde 1213 Gespan von Pozsony (Preßburg), 1217 bis 1222 Ban von Slawonien. (Vázsonyi 1980/81: 240f.)
Als wichtigste Quelle für Grillparzers Trauerspiel gelten die Geschichten der Ungern und ihrer Landsassen (1815) von Ignaz Aurelius Feßler, in denen der Tod der Königin primär auf Otto von Merans Leidenschaft für Bánks Frau zurückgeführt wird. Hier heißt es, dass der Herzog „durch mancherley Künste die herrliche Frau zur Lust“ begehrte; und dass er „auf Ueberraschung und Genuss durch Gewalt“ zielte, als er von ihr „mit Verachtung zurückgewiesen“ wurde. (Feßler 1815: 417) Schließlich habe er Bánks Frau im Zimmer der Königin vergewaltigt. „Da dort der Verfolgten alle Hülfe und Rettung abgeschnitten war, fiel der Verdacht einer Begünstigung des Verbrechens auf die Königin, und nun trat auch der längst schon unzufriedene Palatin zur Partey der Verbündeten“ (Feßler 1815: 417), die gemeinsam beschlossen, die Regentin zu töten, so Feßler. Während Otto die Flucht gelang, wurde Gertrud – vermutlich unter Mithilfe von Bank – „von dem Biharer Grafen Peter und dem Ban Simon“ (Feßler 1815: 418) umgebracht. Am Tag darauf wurden die beiden Täter von den Anhängern der Königin ermordet; „der schwer beleidigte Bank [sic] wurde von ihnen, und hernach auch von dem Könige verschonet“ (Feßler 1815: 419), so der Chronist. Wie der Vergleich mit den „historischen Vorkommnisse[n]“ (Bachmaier 1986: 903) deutlich macht, hat Grillparzer erstens die Kritik an den Inhabern der politischen Macht entschärft. So tut Otto Erny weder körperliche noch sexuelle Gewalt an: Er stellt ihr zwar nach und bringt sie in Bedrängnis, vergewaltigt und ermordet sie aber nicht. Seine Schuld wird
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ferner dadurch gemindert, dass er sich im Handlungsverlauf sein Fehlverhalten eingesteht und Achtung vor den notwendigen (Sitten-)Gesetzen entwickelt. Auch die Vergehen der Königin werden verharmlost. Trotz ihrer despotischen Regierungsform fungiert sie im Trauerspiel nicht ‚als Symbol der Fremdherrschaft und Ausbeutung des Landes‘. Aus diesem Grund wird sie von den Grafen Peter und Simon auch nicht vorsätzlich umgebracht; ihre Rachegefühle beziehen sich ausschließlich auf Otto. Zweitens führt Grillparzer Bancbanus entgegen der historischen Quellen als ‚treuen Diener seines Herrn‘ vor. Auf diese Weise rückt er weniger die Konflikte zwischen Herrscher und Untertanen als die Bedeutung der Pflichttreue in der privaten und öffentlichen Sphäre in den Fokus. Neben dem treuen Diener seines Herrn sind weitere dramatische Bearbeitungen des Ban Bánk-Stoffes bekannt, darunter George Lillos Elmerick: or, Justice Triumphant (1740) und József Katonas Bánk Bán (1815). Wie Grillparzers Umgang mit den historischen Quellen spricht auch der Vergleich mit den genannten Dramen für eine systemstabilisierende Funktion seines Trauerspiels. Lillos Tragödie setzt mit der Ernennung Elmericks – alias Bánk – zum Reichsverweser ein. Er soll während der Abwesenheit des Königs Andrew II. jede Verletzung der Rechtspflichten unabhängig von dem sozialen Stand der Täter strafen und außerdem die Königin Matilda schützen – ein Auftrag, der sich im Handlungsverlauf als unerfüllbar herausstellen wird, weil sich die Regentin als Verbrecherin erweist. „Ihre unerwiderte Liebe zum Palatin – ein ganz neues Motiv – erfüllt sie mit blinder Eifersucht, und sie läßt dem leidenschaftlichen Verlangen ihres Bruders Conrade nach der schönen Gattin Elmericks (Ismene) [sic] nicht nur freien Lauf, sondern leistet aus Rache Beihilfe“ (Vázsonyi 1980/81: 275). So gesteht sie Elmerick: To wound you where I knew you most secure, To taint your Heaven, to curse you in Ismena, Was my contrivance: Conrade’s desperate passion Subservient to my vengeance, wrought her ruin. (Lillo 1993: 445)64
Um für ihre Vergehen nicht verurteilt zu werden, erklärt sie Elmerick für schuldig. Er habe sich ihr unsittlich genähert, ein „rude attempt upon the Queen“ (Lillo 1993: 437),65 für den sich Conrade mit der Vergewaltigung
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„Dich dort zu verwunden, wo du – wie ich wusste – am sichersten bist, / Dein Glück zu zerstören, Dich in Ismena zu verfluchen, / Das war mein Werk: Conrades verzweifelte Leidenschaft / War meiner Rache förderlich, brachte ihr Verderben.“ (Übersetzung N.B) „ein unverschämter Anschlag auf die Königin“ (Übersetzung N.B.).
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Ismenas gerächt habe. Da Elmerick durch sein Verhalten die öffentliche Sicherheit gefährde, solle er ohne ein ordentliches Gerichtsverfahren verurteilt und ermordet werden. Die Intrige der Regentin schlägt allerdings fehl. Sie wird von Elmerick festgenommen, von ihm nach Anhörung von Zeugen zum Tode verurteilt und Henkern übergeben. Sein Vorgehen ist dabei „frei von jeder affektgesteuerten und unbedachten Handlungsweise.“ (Seth 1991: 221) Während die Königin und ihr Bruder von ihren Leidenschaften dominiert werden, agiert Elmerick vernunftgeleitet. Sein Richtspruch ist […] das, wenn auch harte, Urteil eines Mannes, der sich seiner hohen Verantwortung würdig zeigt und der selbst der Gemahlin seines Königs ein überpersönliches Ideal menschlicher Gerechtigkeit entgegenzusetzen gewillt ist, wo dies notwendig geboten erscheint – und zwar ohne Ansehen von Geburt und Rang (Seth 1991: 221).
Der König wird nach seiner Rückkehr vor eine ‚Tugendprobe‘ gestellt. Er scheint zunächst seinen privaten Rachegefühlen nachgeben und Elmerick umbringen zu wollen. In diesem Fall verstieße er gegen die Grundrechte der Ungarn und zählte zu den „lawless tyrants“ (Lillo 1993: 449), so der Reichsverweser. Allerdings gelingt es dem Souverän, seine Neigungen zu Gunsten des Allgemeinwohls zu unterdrücken. Indem er die Schuld seiner Gattin und deren Bruder anerkennt, erweist er sich als humaner Herrscher. Die Tragödie endet mit Conrades Selbstmord und der Bitte des Königs, dass Elmerick bis zu seiner endgültigen Heimkehr aus Jordanien sein Stellvertreter bleiben möge. Wie Grillparzer kontrastiert Lillo die republikanische Regierungsform der ‚Ordnungshüter‘ mit der despotischen der ‚Ordnungsstörer‘. Während Andrew II. und Elmerick ihren qua Amt übertragenen Pflichten nachkommen, lassen sich die Königin und Conrade von ihren Leidenschaften beherrschen. Im Unterschied zu Grillparzer konzipiert Lillo seine Figuren aber vergleichsweise statisch und eindimensional: Die Regentin und Conrade repräsentieren das Laster, Elmerick und Ismena die Tugend. Als intrigante, ‚unempfindsam-egoistische‘66 Herrscherin instrumentalisiert Matilda alle anderen – auch ihren Bruder – für ihre Zwecke und ist damit für die dramatische Katastrophe maßgeblich verantwortlich. Conrades Schuld wird dadurch nicht gemindert – schließlich wird er als Vergewaltiger vorgeführt.67 Genauso, wie Lillo die Lasterhaftigkeit der ‚Ordnungs-
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In seiner Arbeit über Lillos Dramen betont Wolfgang Seth zu Recht, dass in Elmerick: or, Justice Triumphant ‚empfindsam-altruistische‘ und ‚unempfindsam-egoistische‘ Figurengruppen miteinander konfrontiert werden (vgl. Seth 1991: 206). Vázsonyi vertritt in seiner Untersuchung die Position, dass Conrade zum „erstenmal in der Geschichte der Bánk-Bán-Bearbeitungen […] nicht als Verführer“ dargestellt wird, „der eine schöne Frau nur als Spielzeug seiner Begierde besitzen will […]. Lillos Verführer cha-
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störer‘ auf die Spitze treibt und damit die Kritik an den Inhabern der politischen Macht verschärft, idealisiert er die beiden ‚Ordnungshüter‘ Elmerick und seine Frau Ismena. Während Grillparzer die beiden Figuren als ‚gemischte Charaktere‘ konzipiert, um ihre seelischen Konflikte ins Zentrum rücken zu können – Ernys Scheitern an den Tugendpflichten und Bancbanus’ heroische Pflichttreue –, handeln Elmerick und Ismena in jeder Situation ganz selbstverständlich vorbildlich. In seiner Tragödie muss sich daher auch nicht der ‚treue Diener‘, sondern der Regent bewähren, zumal Lillo den Untertanen – im Anschluss an die Vertragstheorie John Lockes68 – ein Widerstandsrecht einräumt, sollte ein Souverän die „Publick Liberty“ (Lillo 1993: 411) nicht bewahren. So erklärt Andrew II.: Defend it [die Freiheit, N.B.] as you wou’d your fame and virtue. And if, hereafter, some ill-judging Monarch Invade your rights with bold, oppressive power; Under the conduct of your Palatine, Repel by Legal Force the known injustice, And place the sacred crown of holy Stephen, […] On some more worthy head. (Lillo 1993: 411)69
Im Gegensatz zu Grillparzer, der die bestehende politische Ordnung für unantastbar hält und mit Kant den bedingungslosen Gehorsam aller Staatsbürger fordert, sind Lillos Untertanen befugt, über die Inhaber der politischen Macht Recht zu sprechen. Während Bancbanus auf die Rückkehr des Königs wartet, weil er sich nicht dessen Position anmaßen will, verurteilt Elmerick die Königin zum Tod. Genauso wie der Vergleich mit Lillos Elmerick: or, Justice triumphant macht auch der mit Katonas Bánk Bán deutlich, dass Grillparzer die herrschaftskritischen Elemente des Ban Bánk-Stoffes zu minimieren versucht. So fungiert die Königin bei Katona – ähnlich wie in den historischen
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rakterisiert sogar eine gewisse ‚Erhabenheit‘. […] Als Conrade dem verzweifelten Vater der Ismena gegenübersteht […], ist er bereit, sie zu heiraten und auf seinen Thron zu erheben. Sein Selbstmord, nachdem ihm gemeldet wurde, daß Ismena in ihrer Verzweiflung und Schande starb, beweist seine aufrichtige Reue.“ (Vázsonyi 1980/81: 275) Im Unterschied dazu bin ich mit Seth davon überzeugt, dass Conrade kein ‚erhabener Verbrecher‘ ist. Vielmehr wird er „in seiner dumpfen Begierde als mehr oder weniger ferngesteuerte Marionette im Spiel der Leidenschaften, das seine Schwester inszeniert“ (Seth 1991: 213), gezeigt, auch wenn er sich am Ende des Handlungsverlaufs schuldig bekennt und sich umbringt. Vgl. Vázsonyi 1980/81: 273. „Verteidigt sie [die Freiheit, N.B.] wie euren Ruf und eure Tugendhaftigkeit; und wenn künftig ein ungerechter Monarch sich erdreisten sollte, Eure Grundrechte durch repressive Macht zu verletzen, dann macht von Eurem Widerstandsrecht Gebrauch; wehrt Euch gegen das Unrecht unter Führung eures Palatins und setzt die Krone des heiligen Stephans […] einem Würdigeren auf.“ (Übersetzung N.B.)
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Quellen – als ‚Symbol inhumaner Fremdherrschaft‘. Als Meranerin schätzt sie ausschließlich ihre Landsleute und bringt den Ungarn Geringschätzung entgegen. Im Land herrschen „Not und Kummer“ (Katona 1969: 20), weil sie despotisch regiert – auch über ihren von allen Untertanen geliebten Mann Andreas II. – und das Volk bis zum Existenzminimum ausbeutet (vgl. Katona 1969: 76ff.). Aus diesem Grund verschwören sich die Bane Simon, Peter und Petur im ersten Akt gegen die Regentin. Ihre Hoffnung auf Unterstützung durch den Palatin Bánk wird allerdings enttäuscht; dieser fordert nämlich, das Unrecht still zu dulden. Im Handlungsverlauf wird er aber gezwungen, die von ihm proklamierte Position kritisch zu überprüfen. Zum einen fällt es ihm schwer, die inhumane Regierungsart der Königin zu billigen, zum anderen wird seine Frau von Otto von Meranien – dem Bruder der Regentin – vergewaltigt und ermordet. Das ist nicht sein erster Mord, hat er doch bereits König Philipp II. umgebracht. Im Handlungsverlauf tötet er außerdem seinen ehemaligen Komplizen Biberach. Diese Verbrechen werden von der Königin nicht aus moralischen Gründen, sondern aus Furcht vor einem möglichen Machtverlust kritisiert. So weist sie ihn zurecht: Gesetze geben, herrschen über Länder So wie die Sonne über Welten herrscht, das Allein vermag die Qualen wacher Nächte Des kurzen Daseins mich vergessen lassen. […] das zu werden Was uns beliebt, nach eigenem Ermessen; Die andern aber zwingen, so zu sein, Wie wir sie brauchen. – Otto du Verfluchter, Das wirfst du weg und raubst es mir sogar. (Katona 1969: 86f.)
Vor diesem Hintergrund wird Bánk schließlich zum Königinnenmörder. Im vierten Akt tritt er der Regentin als Stellvertreter des Königs und damit als ihr „Herr / Und Richter“ (Katona 1969: 115) entgegen. Dabei wirft er ihr vor, despotisch, hartherzig, hinterlistig und hochmütig zu sein. Diese Schmähungen nicht ertragend, will Gertrudis Bánk niederstechen. Dem Palatin gelingt es allerdings, ihr den Dolch zu entwenden, und er tötet sie im Affekt. Nach seiner Rückkehr liefert sich Bánk dem König aus, auch wenn er ihn nicht als seinen Richter anerkennt, weil er durch sein Fehlverhalten – seine Unterwerfung unter Gertrudis – für das geschehene Urteil mitverantwortlich ist. So erklärt Bánk: Der [Richter, N.B.] kannst du, mein geliebter Fürst, nicht sein! Die Fehde zwischen dir und mir, Arpads Geschlecht und Bors Geblüt, die schlichtet nur Das Land. Auch ist dein Name mehr befleckt Als meiner (Katona 1969: 136).
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Er gesteht, die Königin umgebracht zu haben, ist aber davon überzeugt, dass sie fallen musste, weil sich das Volk sonst gegen die Inhaber der politischen Macht erhoben hätte. Trotz der geschehenen Verbrechen und seiner Kritik an den Herrschenden setzt er sich aber für den Erhalt der bestehenden politischen Ordnung ein. Andreas II. muss schließlich realisieren, dass seine Untertanen den Palatin mehr achten als ihn selbst (vgl. Katona 1969: 138). Diese Erkenntnis verführt ihn fast dazu, seinen Rachegefühlen zu folgen. Allerdings erinnert er sich an die Worte seines Vaters, der seine Kinder auf dem Sterbebett gemahnt hat, „unmenschlich nie zu herrschen“ (Katona 1969: 147). Vor diesem Hintergrund fällt er – nach Befragung der Zeugen – ein gerechtes Urteil: Er spricht seine Frau schuldig und Bánk frei; außerdem verbannt er Otto aus dem Land. Im Vergleich zu Grillparzers Trauerspiel nimmt die Herrschaftskritik bei Katona breiten Raum ein. Das manifestiert sich in der Figurenrede – in langen Beschreibungen der sozialen Missstände – und in dem Plan der Bane, gegen die despotisch regierenden Inhaber der politischen Macht zu rebellieren. Die ‚Ordnungsstörer‘ werden ähnlich wie bei Lillo noch negativer gezeichnet, führt Katona doch die Königin als durch und durch verkommene, machthungrige Fremdherrscherin und Otto als Feigling, Vergewaltiger und Dreifachmörder vor. Auch Andreas II. ist an der dramatischen Katastrophe nicht ganz unschuldig, weil er ein schwacher Herrscher ist, der sich dem Willen seiner Frau bis zu ihrem Tod unterordnet. Im Gegensatz dazu ist Bánk als sympathetische Identifikationsfigur konzipiert, die sich für den Erhalt der politischen Ordnung einsetzt, sich aber nach der „Verletzung“ ihrer „Familienehre […] an die Spitze der Empörung“ stellt, (Görlich 1971: 134) die Königin umbringt, Andreas II. nach seiner Tat „fest und entschlossen“ gegenübertritt und von ihm ein gerechtes Urteil im Sinne des „Vaterland[s]“ fordert. (Katona 1969: 133, 139) Wie Lillo richtet sich auch Katona mit seinem Trauerspiel primär an die Herrschenden, die (keine Götter, sondern) Menschen sind und sich für ihre Taten verantworten müssen. Der Vergleich mit den historischen Quellen und den Ban BánkDramen von Lillo und Katona macht erstens deutlich, dass Grillparzer das herrschaftskritische Potential des historischen Stoffes entschärft, indem er die ‚Ordnungsstörer‘ weniger lasterhaft und Bancbanus als ‚treuen Diener seines Herrn‘ konzipiert. Im Unterschied zu Lillo und Katona stellt er die Autorität des Herrschers – auch des despotischen – nicht in Frage. Zweitens zeigt sich, dass sich Grillparzer – und auch das unterscheidet sein Drama von den anderen – nicht nur an die Herrschenden, sondern an alle Untertanen wendet. Er fordert von Herr und Knecht die Einhaltung der Tugend- und Rechtspflichten zur Konstituierung und Stabilisie-
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rung der notwendigen Rechtsgemeinschaft. Diese doppelte Adressierung ist ein Indiz dafür, dass sein Trauerspiel weniger in der Tradition der Barocktragödie steht, wie von der Forschung oft behauptet worden ist, sondern vielmehr als republikanisches Trauerspiel zu kategorisieren ist. Während das Genre im „protestantischen Norden“ bereits Ende des 18. Jahrhunderts an Popularität verloren hat, erlebt es im „katholischen Süden (speziell im josephinischen Österreich mit seiner starken Tradition des Jesuitentheaters) […] um 1800 eine späte zweite Blüte.“ (Meier 1993: 12) Wie genau lässt sich die Gattung des republikanischen Trauerspiels aber definieren? Zunächst sei mit Albert Meier betont, dass der Begriff ‚republikanisch‘ hier „nicht den Gegensatz zu einer monarchischen Regierung“, sondern „vielmehr die Auffassung vom Staat als einer ‚res publica‘“ bezeichnet, „in der jeder einzelne Bürger Verantwortung für das Ganze besitzt“. (Meier 1993: 20) Der stoffliche Kern muß in einer elementaren Notsituation des Staates bestehen, wobei ‚Staat‘ generell ein Synonym für ‚res publica‘ bildet […]. Damit kommt solchen republikanischen Trauerspielen grundsätzlich eine Appellfunktion zu: Sie richten sich an die Staatsbürger (zu denen im Rahmen der politischen Theorie der Aufklärung auch der Regent zu rechnen ist) als den Individuen in einem immer gesellschaftlichen Zusammenhang und Verantwortungssystem. Auf dieser Basis haben sie die Aufgabe, bestimmte sittliche Werte zu vermitteln, die ebenso im staatlichen wie im individuellen Bereich Wirksamkeit besitzen, so daß sich die Tugenden, um die es dabei geht, allgemein als ‚öffentlich‘ im Gegensatz zu ‚privat‘ definieren lassen. In politisch-ethischer Hinsicht macht der anti-absolutistische Akzent ein unverzichtbares Moment aus, weil eine autokratische Staatsstruktur gerade die Entlastung der Untertanen von der Verantwortung für das Funktionieren des Gemeinwesens zur Folge haben muß. (Meier 1993: 29f.) Der kritische Anspruch bezieht sich auf die Verantwortung des einzelnen im Staat, wobei es grundsätzlich sowohl um den Angriff auf illegitime Gewaltherrschaft (Tyrannei) geht als auch um die Verpflichtung des Staatsbürgers, sein individuelles Interesse im Konfliktfall dem des Staates als der res publica unterzuordnen. (Meier 1993: 24)70
Das republikanische Trauerspiel unterscheidet sich von der Barocktragödie dadurch, dass es keine transzendente Ebene und somit auch keine heilsgeschichtliche Bedeutung besitzt;71 die realpolitische Ebene wird ver-
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Ähnlich bestimmt Peter Hess die Gattung: „Gegenstand [des republikanischen Trauerspiels, N.B.] ist die Republik in Gefahr, wobei der republikanische Heros sich als Widerpart des (potentiellen) Tyrannen für die Errichtung, Erhaltung oder Wiederherstellung der Republik einsetzt.“ (Hess 1984: 44) Die heilsgeschichtliche Dimension fehlt im Theatertext, auch wenn am Ende der Königssohn messianisch überhöht wird. Denn die Geschichte erscheint hier nicht als zweck- und planvolle Abfolge göttlicher Handlungen, die auf die Offenbarung prophezeihten Heils
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absolutiert. Die Herrschenden fungieren daher auch nicht als Stellvertreter Gottes, sondern werden „aus einer Perspektive der politisch-weltlichen Ethik“ bewertet. Sie erweisen sich als republikanische und damit humane Herrscher, wenn sie ihrer „Vernunft als dem Organ der (menschlichen) Natur“ folgen. (Meier 1993: 25) Die Differenzen zwischen Barocktragödie und republikanischem Trauerspiel illustriert Meier am Beispiel von Daniel Casper von Lohensteins Epicharis (1665). Hier wird nicht die Frage nach der Legitimität von Herrschaft oder dem richtigen Verhalten der Staatsbürger erörtert. Vielmehr dient der politische Stoff „als Medium der Demonstration einer unpolitischen Idee“, dem abstrakten ethischen Ideal der constantia, so Meier. Seine Bestätigung setzt den „politischen Mißstand bedingungslos“ voraus. (Meier 1993: 26, 27) Im Verlauf des 18. Jahrhunderts verliert das republikanische Trauerspiel an Popularität. Das neustoizistische Ideal der constantia wird zu Gunsten der empfindsamen Zärtlichkeit bzw. der Leidenschaftlichkeit abgewertet. Das hat Konsequenzen für die Wirkungsästhetik und die Figurenkonzeption. Die Tragödien zielen zunehmend nicht mehr auf eine „rational-distanzierte[ ] Rezeption“, sondern auf „Unmittelbarkeit und Emotionalität“, und die Protagonisten werden tendenziell psychologisch differenzierter gestaltet. (Meier 1993: 311) Während sittliches Handeln für die tugendhaften Figuren im Drama der Frühaufklärung noch eine Selbstverständlichkeit ist – so auch für Lillos Elmerick – macht sich ab der Jahrhundertmitte „immer stärker bemerkbar, daß der Wille zur Tugend mit den privaten Wünschen nicht länger harmoniert“ und die Protagonisten „im Interesse der eigenen sittlichen Normen gezwungen sind, sich selbst unter Druck zu setzen“, so auch Grillparzers Bancbanus. (Meier 1993: 314) Die dramaturgische Konsequenz aus dieser psychologischen Differenzierung besteht in der zunehmenden Abkehr vom aristotelischen Axiom des Primats der Handlung, d. h. die Darstellung eines komplexen Charakters gewinnt das Übergewicht über die Vorführung einer sinntragenden Geschichte. (Meier 1993: 315)
Diese Entwicklung gipfelt darin, dass sich der für das republikanische Trauerspiel grundlegende Antagonismus von Pflicht und Neigung auflöst, weil der Rationalismus vom Sensualismus abgelöst und nicht mehr uneingeschränkt positiv bewertet wird. Damit verändert sich auch die Konflikt-
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struktur der Tragödie und das Genre verliert – außerhalb Österreichs – an Bedeutung. (Vgl. Meier 1993: 309) Grillparzer rekurriert noch 1828 auf die ästhetische Tradition des republikanischen Trauerspiels. Wie für das Genre konstitutiv, führt er im treuen Diener seines Herrn eine gefährdete politische Ordnung vor – gefährdet dadurch, dass der republikanisch regierende Andreas II. in den Krieg zieht und sich von seiner despotischen Gemahlin vertreten lässt. In dieser Notsituation wird an alle Staatsbürger und damit auch an den zurückgekehrten König appelliert, für die Erhaltung der Rechtsgemeinschaft Sorge zu tragen und die eigenen Neigungen dem Wohl des Staates unterzuordnen. Die vermittelten Tugendpflichten sind dabei nicht nur in der politischen, sondern auch in der privaten Sphäre von Bedeutung, wie die ErnyHandlung illustriert. Auch im Hinblick auf die Wirkungsästhetik orientiert sich Grillparzer an den Gattungskonventionen. Der Zuschauer soll sich an dem für seine Pflichttreue zu bewundernden Bancbanus ein Beispiel nehmen und in vergleichbaren politischen und privaten Notsituationen ebenfalls die Kraft finden, vernunftgeleitet zu agieren.72 „Wenn er die hierzu nötige Kraft aufbringt, kann sich auch der Leser – gleichgültig, ob er mit ‚äusserlichem Glück‘ gesegnet ist oder nicht – demselben Seelenadel zugehörig fühlen wie die republikanischen Dramenhelden.“ (Meier 1993: 240) Wie für das republikanische Trauerspiel charakteristisch, besitzt auch Grillparzers Tragödie einen ‚anti-absolutistischen Akzent‘, weil Herr und Knecht für das „Funktionieren des Gemeinwesens“ (Meier 1993: 30) verantwortlich sind. Während die politische Ordnung etwa in Hans Sachs’ dramatischer Bearbeitung des Ban Bánk-Stoffs aus dem Jahr 1561 in keinem Moment gefährdet ist,73 kann der Erhalt der Rechtsge-
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Zur Wirkungsästhetik des republikanischen Trauerspiels vgl. ausführlich Meier 1993. In Sachs’ tragedi, mit zwölff personen zu spielen: Andreas, der ungerisch könig, mit Bancbano, seinem getrewen statthalter wird das Spiel durch einen ‚herold‘ eröffnet, der den Handlungsverlauf und die Moral der Tragödie zusammenfasst: Als Andreas II. in den Krieg zieht, ernennt er Bancbanus zum „statthalter / Deß köngreichs Ungern zu verwalter“ (Sachs 1886: 22). Der dramatische Konflikt entsteht dadurch, dass Friderich – der Bruder der Königin – Bankbanus’ Frau Rosina leidenschaftlich begehrt und sie vergewaltigt. An dieser Straftat ist die Regentin nicht unschuldig, hat sie ein Treffen zwischen den beiden doch erst ermöglicht. Bancbanus rächt sich für das Vergehen, indem er die schuldbewusste Königin ersticht. Dem seine Taten ebenfalls bereuenden Friderich gelingt hingegen die Flucht. In dem Wissen, nicht eigenmächtig über andere richten zu dürfen, unterwirft sich Bancbanus dem Urteil des zurückgekehrten Königs. Der bemüht sich um Gerechtigkeit, indem er neben Rosina weitere Zeugen des Vorfalls befragt, und spricht Bancbanus schließlich frei. (Vgl. Sachs 1886: 54) Abschließend wird die Lehre aus der Tragödie gezogen. Die Königin und ihr Bruder werden für ihre Vergehen – ihre Triebhaftigkeit bzw. ihre Leichtfertigkeit – verurteilt. Solch ein Handeln führt zu „schaden, schand und schmach“, das sollen die Zuschauer lernen. Das Schicksal der Statthalterin lehrt die „ehrenfromme[n]“ Frauen, dass sie
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meinschaft bei Lillo, Katona und Grillparzer erst durch die Pflichttreue aller Staatsbürger gewährleistet werden. Auf diese Weise wird sie als brüchig vorgeführt, zumal ihre Stabilisierung eine große individuelle Anstrengung für die Figuren bedeutet.74 Beide Elemente – die dezidierte Kritik am Despotismus und die Instabilität der politischen Ordnung – hat die Forschung mitunter als subversiv gewertet. Das ist fraglich, berücksichtigt man, dass sich Grillparzer an den Gattungskonventionen eines im protestantischen Norden schon seit gut fünfzig Jahren überholten Genres orientiert. Sein Trauerspiel entpuppt sich vielmehr als literarästhetisch eher konservatives Gebilde, das durch die literarische Auseinandersetzung mit Kants Tugend- und Rechtslehre modernisiert wird. * In seinem Trauerspiel führt Grillparzer ein interdependentes Herrschaftsverhältnis vor: Herr und Knecht sind aufeinander angewiesen, um das
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keinem Verehrer trauen dürfen; Bancbanus dient als positives Beispiel für einen sittlichen und gerechten Statthalter, der die „gottlosn“ straft und die „frommen“ schützt; und auch der König hat Vorbildfunktion: Als gerechter Souverän hält er „darob getrewe hand, / Daß gar niemand unrecht geschech, / Nicht urtheylt also zornig gech, / Ob gleich der handel sie antrifft, / Doch kein gewalt noch hochmut stifft. / Selig ein land gesprochen wird, / Wo solch oberkeit regiert, / Darauß gelück und heyl erwachß / Land und leuten, so spricht Hans Sachs.“ (Sachs 1886: 55, 56) Im Unterschied zu Grillparzer, Lillo und Katona führt Sachs kein interdependentes Herrschaftsverhältnis vor. Bancbanus und Andreas II. sind nicht wechselseitig voneinander abhängig; der Reichsverweser ist seinem Herrn auch nicht moralisch oder lebenspraktisch überlegen. Der Theatertext ist vielmehr als Huldigung eines über allen Zweifel erhabenen Herrschers zu lesen, der seine Neigungen hinter das Allgemeinwohl zurückstellt und gerecht – ohne Rücksicht auf den sozialen Stand des/der Angeklagten – urteilt. (Vgl. Sachs 1886: 24) Außerdem fordert Sachs die Untertanen zu tugendhaftem Verhalten auf, wenn sie sich nicht vor dem weltlichen oder göttlichen Gericht verantworten wollen. Wie Grillparzers Trauerspiel handelt es sich um einen affirmativen Theatertext: In beiden Fällen verkörpern die Figuren primär Laster und Tugenden, ihr sozialer Status ist sekundär. Während die politische Ordnung bei Sachs aber in keinem Moment gefährdet ist, weil sie durch den Souverän verbürgt wird, begreift Grillparzer den Staat als res publica, „in der jeder einzelne Bürger Verantwortung für das Ganze besitzt“ (Meier 1993: 20). Erst durch die Pflichttreue von Herrscher und Untertanen kann der Erhalt der notwendigen Rechtsgemeinschaft gewährleistet werden. Vor diesem Hintergrund muss Grillparzers Trauerspiel als republikanisches Trauerspiel definiert werden. Dass die Überwindung der eigenen Neigungen zu Gunsten der Rechtsgemeinschaft als größte Kraftanstrengung dargestellt wird, ist im republikanischen Trauerspiel nicht unüblich, wie Meier am Beispiel von Salomon Hirzels Junius Brutus (1761) herausstellt. „Die republikanische Pflichtübung zeigt sich als das Resultat eines Zwanges, den der patriotische Held sich wissentlich selbst antun muß, wenn er das für richtig Erkannte auch in die Tat umsetzen will.“ (Meier 1993: 235)
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Bestehen der politischen Ordnung zu garantieren.75 Das wird vor allem in der ersten Reinschrift des Theatertextes betont, in dem Bancbanus Bela am Ende selbstbewusst ermahnt: Gedenk’ als Mann der Zeit, da du ein Kind, Wie deine Nächsten dich dem Unheil weihten, Weil sie nicht hielten, beugten das Gesetz, Daß Gott gegeben, daß es Alle halten. […] Richt’ auf den Schwächern, halt’ im Zaum den Kühnern, Das Gute thu’ und thu’ es rasch und gern. Sey […] ein getreuer Herr erst deinen Dienern […] Dann sind sie treue Diener ihres Herrn (Grillparzer 1939: 607).
Da Andreas II. und sein ‚treuer Diener‘ dieselben Handlungsnormen teilen – beide orientieren sich an Kants Tugend- und Rechtspflichten und begreifen sich als Diener der res publica –, muss die politische Ordnung durch ‚Fremde‘ gestört werden. Im Handlungsverlauf zeigt sich, dass Bancbanus allen anderen Figuren durch seine ‚heroische Pflichttreue‘ überlegen ist. Das wird auch von Andreas II. anerkannt, der ihn im fünften Akt zum ‚Ersten nach ihm im Reich‘ (vgl. Grillparzer 1986a: 597) ernennen will. Seine Autorität als Souverän wird dadurch aber nicht in Frage gestellt. Vielmehr endet das Drama mit einer Unterwerfungsgeste: Alle Anwesenden fallen vor Andreas II. und Bela auf die Knie. Auf diese Weise wird dem Zuschauer die „herrschaftsstabilisierende Funktion der ganzen Dramenhandlung“ (Prutti 2007: 394) noch einmal vor Augen geführt. Obwohl Grillparzer den Souverän mit absoluter Macht ausstattet, plädiert er für eine republikanische Regierungsform,76 durch die erst die Freiheit der Menschen in Relation zu anderen gewährleistet werden kann. Dazu müssen sie ihre eigene Individualität negieren und aus Pflicht handeln. Diese Position wird nicht nur im Trauerspiel, sondern auch in einem seiner Briefe an Georg (ca. 1825) proklamiert, in dem es heißt: Wodurch ist denn der Mensch, was er ist, als durch seine Gattung? Sein ganzer Bestand als Mensch liegt nicht in Einem Individuum, nicht in tausend, sondern in der Menschheit, als Ganzes, als moralisches Wesen, entgegengesetzt dem physi-
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Das wird auch von Baumann hervorgehoben, der konstatiert: „Herrscher und Diener bleiben aufeinander angewiesen […]; beide werden von einem gemeinsamen Geschick, dem gewaltsamen Verlust ihrer Frauen betroffen; die Persönlichkeit entsagt zugunsten des Amtes, sei es in Herrschaft oder Dienst […]; Herrschaft bedeutet auch immer Dienst; Dienen bildet eine der vornehmsten Formen, zu herrschen, und beide Erfahrungsweisen erfassen ihr Tun im Erleiden.“ (Baumann 1965: 32). Es sei darauf hingewiesen, dass hier mit Kant zwischen republikanischer Regierungs- und Staatsform unterschieden wird (vgl. IV.1.1.1). Grillparzers Votum für eine republikanische Regierungsform ist nicht mit einer Kritik an der bestehenden Staatsform verbunden.
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schen, dem einzelnen. […] Der Mensch […] erbt von frühern Jahrtausenden, und spätere Jahrtausende erben von ihm. Ein unreifer Knabe unserer Zeiten weiß Dinge die den Weisen Griechenlands ein Räthsel waren, die Geschichte ist sein Leitstern in Wollen und Handeln; er ißt und trinkt und pflanzt sich fort als Individuum, aber er lebt nur als Mensch, als Glied seiner Gattung. Darin liegt das Heiligthum seiner Existenz, das ist das Palladium seiner Vorzüge, in dieser allgemeinen Menscheneinsicht, in diesem allgemeinen Menschenwillen tritt der Gott ein in die Natur. Daher ist jedes absichtliche Stehenbleiben der einzelnen oder der moralischen Person ein Verbrechen an dem Geschlechte, ein Vergehen gegen Gott. […] Ich wollte lieber ein Hund sein und den Mond anbellen, als ‚ein Mensch und gegen die Entwicklung der Menschheit reden.‘ (Grillparzer 1916b: 180f.)
Ähnlich wie Kant unterscheidet Grillparzer hier zwischen Individuum und Gattungswesen bzw. zwischen dem Subjekt als physischem und moralischem Wesen. Während es als Individuum seinen Trieben folgt, ist es als zu moralischem Handeln fähiges Gattungswesenwesen verpflichtet, dem ‚allgemeinen Menschenwillen‘ zu folgen – in dem sich der göttliche Wille manifestiert – und seine Gattung zu ‚vervollkommnen‘. Dieses teleologische Weltbild manifestiert sich auch im Trauerspiel – in Bancbanus’ Appell an den Thronfolger, aus den Fehlern der Gegenwart zu lernen und einmal human, d. h. republikanisch, zu herrschen.
2. Die Idealisierung der Pflichttreue als Mittel zur Stabilisierung der bestehenden Ordnung (Gotthelf, Ebner-Eschenbach) Wie illustriert, zeigt Grillparzer in seinem Trauerspiel eine politische Ordnung, für deren Erhaltung alle Staatsbürger, also Herr und Knecht, verantwortlich sind, und die durch zwei ‚Ordnungsstörer‘ – Otto von Meran und seine Schwester – gefährdet wird. Anstatt das Sittengesetz zu achten, verabsolutieren beide ihren individuellen Willen. Ihre Egozentrik kommt zum einen in der Missachtung ihrer Interaktionspartner zum Ausdruck, von denen sie umgekehrt soziale Wertschätzung erwarten. Zum anderen fühlen sie sich durch Bancbanus’ moralische Überlegenheit provoziert, die sich in seiner hohen Reputation manifestiert. Im Unterschied zu den ‚Ordnungsstörern‘ unterwirft sich Bancbanus, der ‚Ordnungshüter‘, einer höheren Realität. Er wird zum Herrn über sich selbst, indem er seine Leidenschaften bezwingt und auf die Realisierung seiner unmittelbaren individuellen Interessen für den Erhalt des bestehenden politischen Systems verzichtet, das zugleich Ausdruck einer vernünftigen ethischen Ordnung ist. Indem sich Bancbanus an den Kant’schen Tugend- und Rechtspflichten orientiert, kommt er einer doppelten Pflicht nach: der ‚inneren‘ Verpflichtung, die er sich selbst, und der ‚äußeren‘, die er anderen gegenüber hat. Damit dient das Trauerspiel der Vermittlung von sittlichen Werten, die im öffentlichen und im privaten Bereich Wirksamkeit besitzen. Grillparzers Forderung nach Erhaltung der bestehenden politischen Ordnung, die mit der Forderung nach humaner Herrschaft verknüpft ist, kommt auf der Handlungsebene in einer Entschärfung der Herrschaftskritik zum Ausdruck. So werden die ‚Ordnungsstörer‘ im Vergleich zu den historischen Quellen weniger lasterhaft gezeigt und Bancbanus ist als ‚treuer Diener‘ konzipiert. Im Hinblick auf die Darstellungsebene ist festzuhalten, dass die systemstabilisierende Textintention mit dem Rückgriff auf die Gattungskonventionen des republikanischen Trauerspiels korreliert, ein Genre, das zumindest im protestantischen Norden längst überholt ist. Es handelt sich also um ein literarästhetisch eher konservatives Drama, das allein durch den Rekurs auf Kants Pflichtethik leicht modernisiert wird.
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Im Anschluss an die Textanalyse soll nun eine dritte Figuration interdependenter Herrschaft in der literarischen Diskussion vorgestellt werden: die Idealisierung der Pflichttreue als Mittel zur Stabilisierung der bestehenden Ordnung, so in Grillparzers Trauerspiel und darüber hinaus in den (regionalen) Prosatexten Uli der Knecht (1841) von Jeremias Gotthelf und Božena (1875) von Marie von Ebner-Eschenbach. Im Unterschied zu den bisher profilierten Figurationen wechselseitiger Herrschaft – der dialektischen Negation politischer Systeme in Darstellungen von Koalitionen zwischen Herr und Knecht und der Forderung nach Humanität und moralischer Integrität in (komödiantischen) Darstellungen widerständiger Diener – lässt sich das nun zu skizzierende konsensuelle Modell weder gattungs- noch rezeptionsgeschichtlich erklären.1 Die Idealisierung der Pflichttreue in solch unterschiedlichen Genres wie dem republikanischen Trauerspiel und der Regionalliteratur lässt sich zunächst einmal darauf zurückführen, dass die Frage nach den Pflichten des Subjekts, definiert als „Handlungen, die dem sittlichen Leben“ (Kersting 1989: 405) entsprechen, seit der Antike Gegenstand philosophischer und religiöser Debatten ist und so auch in die literarische Diskussion Eingang gefunden hat. Von den Stoikern wird der Pflichtbegriff in die „ethische und handlungstheoretische Diskussion“ eingeführt, um Handlungen zu beschreiben, „die der Erhaltung und Entwicklung der menschlichen Natur“ dienen. (Kersting 1989: 405) Als naturgemäß gilt den Philosophen das Handeln nach „Lebensregeln und Prinzipien der rationalen Wahl“, was nur in einem „durch Recht und Sitte geprägte[n] Gemeinschaftsleben“ möglich ist. Insofern impliziert der Begriff der Pflicht schon hier eine „Orientierung des Handelns und der Güterwahl an den geltenden gesellschaftlichen Normen und Vorschriften“. (Kersting 1989: 406) Wie Wolfgang Kersting herausgestellt hat, ist die Sitten- und Pflichtenlehre durch die 386 n. Chr. von Ambrosius von Mailand verfasste Schrift De officiis ministrorum religiös fundiert und in den „Dienst der Erlangung der ewigen Seligkeit“ (Kersting 1989: 407) gestellt worden. Mit Cicero unterscheidet der italienische Bischof zwischen sogenannten ‚mittleren‘ und ‚vollkommenen Pflichten‘ (officia media bzw. officia perfecta). Während sich die mittleren Pflichten aus den Handlungsverboten des Dekalogs ableiten, ihren
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Es ließe sich höchstens anführen, dass Ebner-Eschenbach Grillparzer persönlich gekannt und sehr verehrt hat. So finden sich in Božena etwa intertextuelle Verweise auf sein Trauerspiel Libussa (1848). Als Verfasserin von Dorfgeschichten steht sie außerdem Gotthelfs Bauernepik nicht fern.
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Grund also in den im göttlichen Gesetz festgelegten Vorschriften haben (den praecepta) und die Vermeidung von Sünden zum Ziel haben, handelt es sich bei den ‚vollkommenen Pflichten‘ um Ratschläge (den consilia) zur Vollbringung supererogatischer Werke, durch die „sich der Handelnde Gnade und Verdienste“ (Kersting 1989: 407) erwerben kann. Zu den Pflichten dieser Kategorie zählen unter anderem Mildtätigkeit, Barmherzigkeit und Tugendhaftigkeit. Die christliche Adaption des römischen Stoizismus – der Neustoizismus – wird im 17. Jahrhundert zum ethischen Paradigma, was sich in der Barocktragödie manifestiert, aus der sich wiederum das republikanische Trauerspiel entwickelt.2 Aus der Verknüpfung von christlichem Glauben und antiker Philosophie – der griechischen Ökonomik und der römischen Agrarlehre – entsteht darüber hinaus die sogenannte Hausväterliteratur des 16. bis 18. Jahrhunderts, an deren ethischen Normen sich Gotthelfs Roman Uli der Knecht orientiert. Wie in der Antike spielt der Pflichtbegriff auch in den Naturrechtslehren der Frühen Neuzeit und der Aufklärung, insbesondere in den Schriften von Samuel von Pufendorf, Christian Thomasius und Immanuel Kant, eine zentrale Rolle. In seinen äußerst einflussreichen acht Büchern De jure naturae et gentium (1672) definiert Pufendorf die Pflicht als eine Handlung, die dem friedlichen Zusammenleben der Subjekte dient und mit der Anlage und dem Ziel des Menschengeschlechts übereinstimmt (vgl. Kersting 1989: 410). Aus diesem Gebot leiten sich für ihn alle weiteren Pflichten des Menschen gegen Gott, sich selbst und andere ab. Dabei unterscheidet Pufendorf zwischen ‚vollkommenen Pflichten‘, die als Rechtspflichten kategorisiert werden können und erzwungen werden dürfen, und ‚unvollkommenen Tugendpflichten‘, zu denen unter anderem Menschlichkeit, Wohltätigkeit, Frömmigkeit zählen und die nur freiwillig erfüllt werden können. Im Unterschied dazu begreift Thomasius solche Handlungen als Pflichten, die das Glück der Menschen befördern. Aus diesem Prinzip leitet er drei Varianten der seit der Antike verbreiteten, für ihn allerdings nur für sozial Gleichgestellte gültigen ‚Goldenen Regel‘ ab, dass man andere so behandeln solle, wie man selbst von ihnen behandelt werden will. (Vgl. Kersting 1989: 411) Auf diese Weise erhofft er sich für das einzelne Subjekt Seelenruhe und Mäßigung seiner Begierden; außerdem die Konstituierung einer solidarischen humanen Rechtsgemeinschaft sowie die Vermeidung von ordnungsstörenden sozialen Konflikten. Dabei differenziert Thomasius zwischen der ‚inneren Tugendpflicht‘ des Subjekts (obligatio interna), vernunftgeleitet zu agieren, wodurch ihm „die naturgesetzlich
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Vgl. Meier 1993, Welzig 1961.
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eintretenden Folgen der beabsichtigten Handlungen vor Augen“ geführt werden, und der ‚äußeren Rechtspflicht‘ (obiligatio externa), die sich auf einen „zwangsbewehrten Herrscherbefehl“ gründet. (Kersting 1989: 441) Bei keinem anderen Philosophen ist der Pflichtbegriff allerdings so zentral wie bei dem von Grillparzer rezipierten Kant, der ähnlich wie Pufendorf und Thomasius zwischen Tugend- und Rechtspflichten unterscheidet und nur solche Handlungen als moralisch anerkennt, die ohne Rücksicht auf subjektive Neigungen allein aus Pflicht ausgeführt werden (vgl. IV.1.1.1). Gegen diese rigoristische Definition haben sich unter anderem Friedrich Schiller und Arthur Schopenhauer ausgesprochen – zwei von Marie von Ebner-Eschenbach verehrte Autoren. So kritisiert Schiller in seiner Schrift Über Anmut und Würde (1793), dass Kant die „Idee der Pflicht mit einer Härte“ vortrage, „die alle Grazien davon zurückschreckt und einen schwachen Verstand leicht versuchen könnte, auf dem Wege einer finstern und mönchischen Ascetik die moralische Vollkommenheit zu suchen.“ (Schiller 1962: 284) Statt einer strengen Herrschaft der Pflicht plädiert er für eine Balance zwischen Verstand und Gefühl und damit für eine Verbindung von Moral und Sinnlichkeit. Auch Schopenhauer distanziert sich von Kants Moralphilosophie, weil sie „Sympathie und Mitmenschlichkeit sittlich entwerte“. Sie sei eine „‚Apotheose der Lieblosigkeit‘“, weil der „Mitmensch“ nur „als P[flicht]-Erfüllungsanlaß […] ins Blickfeld des kategorischen Imperativs“ trete. (Kersting 1989: 417) Bis ins 20. Jahrhundert hinein bleibt der Pflichtbegriff Gegenstand philosophischer, ethischer und soziologischer Debatten. In der Literatur ist das Motiv der Pflichttreue vor allem in antiindividualistischen Genres3 mit mehr oder minder ausgeprägter restaurativer Tendenz von substantieller Bedeutung. Konstitutiv ist das Motiv etwa für das patriotische republikanische Trauerspiel, in dem der vorbildlich handelnde Protagonist „sein Heldentum dadurch bekundet, daß er auf seine subjektiven Wünsche verzichtet“ und sich aus Pflicht einer „höheren Realität unterwirft, sich darin auflöst.“ (Bauer 1967: 48) Als Beispiele dafür lassen sich neben Grillparzers treuem Diener seines Herrn die Trauerspiele Junius Brutus (1761) von Salomon Hirzel oder Regulus (1801) von Heinrich Joseph von Collin anführen, um nur zwei zu nennen. In Hirzels Drama beteiligen sich die beiden Söhne des heroischen Republikaners Junius Brutus an einer „Verschwörung zur Wiedereinführung der Monarchie in Rom; obwohl das Volk und einflußreiche Freunde um Begnadigung bit-
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Unter ‚antiindividualistischen Genres‘ sind hier solche Textgattungen zu verstehen, in denen der Verzicht auf die Durchsetzung individueller Wünsche zu Gunsten einer höheren Ordnung propagiert wird.
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ten, läßt Brutus seine [geliebten, N.B.] Söhne hinrichten, um im Interesse der politischen Freiheit ein Exempel zu statuieren“ (Meier 2001: 129). Im Unterschied dazu bringt Collins Regulus seinem Vaterland Rom das eigene Leben aus Pflichttreue zum Opfer. Auch in der traditionalistisch-affirmativen Regionalliteratur bzw. Heimatliteratur des 19. Jahrhunderts, zu der die Prosatexte Uli der Knecht und Božena zählen,4 ist die Pflichttreue ein zentrales Motiv – vor allem in der Bauernepik, wie unter anderem Jürgen Hein herausgestellt hat.5 Der für das Genre charakteristische soziale Auf- oder Abstieg der Protagonisten wird hier in der Regel nicht auf sozio-ökonomische Ursachen zurückgeführt, sondern entweder mit Hilfe eines Katalogs moralischer Tugenden und Fehler individualpsychologisch motiviert oder durch äußerlich-zufällige Faktoren wie glückliche Fügung (z. B. Liebe) bzw. widrige Schicksalsschläge erklärt. (Zimmermann 1975: 29)
Zu diesen Tugenden zählt die Pflichttreue, so etwa in Berthold Auerbachs Barfüßele (1856) oder in Peter Roseggers Zuchtdirn aus den Älplern (1872). In beiden Erzählungen werden die jeweiligen Titelfiguren als „Fußschemel, Waschhadern, Aschenbrödl“ behandelt. Dennoch dienen sie ihrer Herrschaft „in Fleiß und Aufmerksamkeit, und geduldig“ – in beiden Fällen eine gute Voraussetzung für ihre Heirat und den damit verbundenen sozialen Aufstieg am Ende der jeweiligen Erzählungen. (Rosegger 1927: 84, 88) Kontrastierend dazu wird etwa in Roseggers Roman Jakob der Letzte (1888) die „Zerstörung der bäuerlichen Welt“ (Zimmermann 1975: 73) geschildert. Im Zentrum des Textes steht der als sympathetische Identifikationsfigur konzipierte Büttnerbauer Jakob Steinreuter, der sich durch Treue zu sich selbst und zur Heimatscholle auszeichnet. Pflichtbewusst und hingebungsvoll bearbeitet er die Natur, was im Roman als eine Form des ‚Gottesdienstes‘ gewertet wird. Sein Niedergang wird auf die rapide „Zunahme der Geldwirtschaft“ und die damit korrelierende „Dschungel-Ethik des Sozialdarwinismus“ zurückgeführt, „die im Kampf ums Dasein nur Sieger und für ihre Niederlage selbstverantwortliche Ver-
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Der Begriff der Regionalliteratur bzw. Heimatliteratur umfasst die Bauernepik, zu der Gotthelfs Roman zählt (vgl. Charbon 2000: 19). Auch Ebner-Eschenbachs Božena ist als (habsburgische) Heimatliteratur definiert worden (vgl. Magris 1966: 152-157). Unter Bauernepik wird in dieser Arbeit mit Peter Zimmermann ein „Erzähltext beliebiger Länge“ verstanden, „dessen Schauplatz zum überwiegenden Teil ein ländlich-dörfliches Milieu ist“ und „dessen Haupthandlungsträger Bauern, Mitglieder bäuerlicher Familien oder andere direkt in der Landwirtschaft tätige Personen vom Landarbeiter bis zum Großgrundbesitzer sind.“ (Zimmermann 1975: 9) Dorfgeschichte und Bauernroman werden hier unter dem Begriff der Bauernepik subsummiert. Zum Motiv der Pflichttreue vgl. den von Hein (1976: 39) aufgestellten Motivkatalog, in dem die ‚treuen Dienstboten‘ als ein den Hof betreffendes Motiv aufgeführt werden.
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lierer kennt“, ein Missstand, der durch die „Rückkehr zur traditionellen Gesellschaftsordnung“ beseitigt werden soll. (Wagner 1989: 281f.) Zusammenfassend sei konstatiert, dass sich zwischen beiden Genres – dem republikanischen Trauerspiel und der traditionalistisch-affirmativen Regionalliteratur des 19. Jahrhunderts – trotz aller Unterschiede folgende Parallelen feststellen lassen: erstens die systemstabilisierende Textintention (die eine Kritik an bestehenden sozialen oder politischen Missständen freilich nicht ausschließt); zweitens die antiindividualistische Forderung, dass der einzelne seinen individuellen Willen einer höheren Ordnung unterzuordnen habe; und drittens die Auffassung, dass alle Subjekte – also Herr und Diener – für die Erhaltung des ‚Ganzen‘ verantwortlich sind. Auf dieser Basis zielen beide Gattungen darauf, bestimmte sittliche Werte und Normen zu vermitteln, die für die private und die öffentliche Sphäre von Bedeutung sind. Häufig ist eine dieser Tugenden die Pflichttreue, die als Mittel zur Erhaltung bzw. Restitution der bestehenden Ordnung propagiert wird. Das bedeutet nicht, dass die Thematisierung interdependenter Herrschaftsverhältnisse für beide Gattungen konstitutiv ist, ist aber ein Grund dafür, warum sich die hier zu profilierende Herr-Knecht-Figuration – die Idealisierung der Pflichttreue als Mittel zur Stabilisierung der bestehenden Ordnung – sowohl in Grillparzers Trauerspiel als auch in den nun zu analysierenden Prosatexten von Gotthelf (vgl. 2.1) und Ebner-Eschenbach (vgl. 2.2) findet. In allen drei Fällen geht die eher restaurative Textintention mit der Orientierung an literarästhetischen Konventionen einher. Wie zu zeigen ist, rekurrieren alle drei Autoren auf Topoi, Werte und Normen des 18. Jahrhunderts, ein weiterer Grund, warum ihre Texte bei allen gattungsspezifischen Differenzen Gemeinsamkeiten aufweisen.
2.1. Die protestantische Pflichtethik als Mittel zur Stabilisierung des ‚Ganzen Hauses‘ in Gotthelfs Uli der Knecht (1841) Wie Grillparzer, der von Staatsbürger und Souverän die Einhaltung der Kant’schen Tugend- und Rechtspflichten zur Festigung der österreichischen Monarchie fordert, setzt sich auch Gotthelf für die Stabilisierung der politisch-sozialen Ordnung seiner Zeit ein. Er ist davon überzeugt, dass die bestehenden sozialen und wirtschaftlichen Missstände, insbesondere die ‚Armennot‘, Folge soziostruktureller Modernisierungsprozesse sind, die dazu geführt haben, dass traditionsgebundene, autoritative per-
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sönliche Herrschaftsbeziehungen durch strukturelle Machtasymmetrien abgelöst worden sind.1 Mit den abstrakten Rechtsnormen seien bloße „Formeln und Formen“ (Gotthelf 1925: 96) an die Stelle christlicher Nächstenliebe getreten – für ihn „das eigentliche Band, das die Menschen aneinanderhalten soll als eine Familie, das verhüten soll, daß die einzelnen Stände nicht auseinandergehen wie die Planken eines gescheiterten Schiffs.“ (Gotthelf 1925: 98) Die ‚Entfremdung‘ der Menschen untereiander sei darüber hinaus durch Arbeitsteilung und Geldwirtschaft befördert worden (vgl. Gotthelf 1925: 101). Beide Faktoren seien für die Verarmung der Menschen (mit-)verantwortlich. Zur Lösung der sozialen Probleme hält Gotthelf daher liberale Reformen oder gar „das blutige Ungeheuer, das man Revolution heißt“ (Gotthelf 1925: 96), für ungeeignet. Stattdessen setzt er sich für die Erziehung bzw. die Bekehrung der Menschen zum christlichen Glauben ein. Denn er meint, dass „dem Volkselend abgeholfen werden“ (Gotthelf 1925: 242) könne, wenn sich die Menschen an den christlichen Tugendpflichten im privaten und „im politischen Leben“ (Tanner 1997: 17) orientierten. So konstatiert er in seiner theoretischen Schrift über die Armennot: Es ist ein Streben nach der Ausbreitung des Reiches Gottes, dem nicht nur äußerliche Glieder zu gewinnen, sondern dessen die Herzen teilhaftig zu machen sind, und nicht nur jenseits des Meeres, sondern rund um uns. Dieses Werk ist die Überwältigung der Armennot oder die Entsumpfung derselben, so daß das Pestartige derselben aufgetrocknet [sic], entfernt, der Schlange der Giftzahn ausgebrochen wird. (Gotthelf 1925: 149)
Gotthelf zielt also auf einen Bewusstseinswandel aller Staatsbürger – darin gleicht er den genannten Komödienautoren (vgl. II.2). „Das Übel muß […] von innen angefaßt werden, Maßregeln und Gesetze helfen da wenig“ (Gotthelf 1925: 149), so der Schweizer Pfarrer. Für ihn ist allein das „Christentum“ ein „Mittel zur Verbesserung der Zustände“ und infolgedessen propagiert er Nächstenliebe und die Gleichheit der Menschen vor Gott und dem Gesetz. (Gotthelf 1928: 346) Dabei stellt er soziale Ungleichheiten aber nicht in Frage, sondern betrachtet sie als göttliche Fügung.2 Schon Albert Tanner hat herausgestellt: An der ‚natürlichen‘ sozialen Ordnung durfte nicht gerüttelt werden. Jeremias Gotthelf verherrlichte und verteidigte eine soziale Welt, die auf dem Prinzip des Patriarchalismus aufgebaut war, wo nicht funktionelle, sondern persönliche Unterordnung dominierten, […] wo ein soziales Netz von personalen, gefühlshalti-
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In dieser Hinsicht ist Gotthelfs Roman mit Hugo von Hofmannsthals Der Unbestechliche und Robert Walsers Jakob von Gunten vergleichbar (vgl. II.2 und V.1). Vgl. dazu u. a. Tanner 1997: 29f.
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Pflichttreue Knechte
gen Bindungen alle menschlichen Beziehungen untereinander bestimmte. (Tanner 1997: 29)3
Wie u. a. Werner Hahl deutlich gemacht hat, ist für Gotthelf das ‚Ganze Haus‘ Inbegriff solch eines patriarchalischen Sozialsystems.4 Was ist unter diesem von Otto Brunner profilierten Begriff zu verstehen? Der Sozialhistoriker geht von der alteuropäischen Ökonomik als einer literarischwissenschaftlichen Gattung aus, deren Gegenstand die „Lehre vom Oikos“ (Brunner 31980: 104), also die Lehre vom Haus bzw. Haushalt, ist. Die ersten Ökonomiken sind in der griechischen Antike enstanden, man denke an Hesiods Werke und Tage, Xenophons Oikonomikos oder an Aristoteles’ erstes Buch der Politik. Davon ausgehend hat die Hauslehre in die römische Agrarliteratur (Cato, Varro, Columella, Plinius und Vergil), das mittelalterliche Schrifttum (u. a. Konrad von Megenberg), in humanistische Ehe- und Erziehungslehren (u. a. Leon Battista Alberti, Francesco und Ermolao Barbaro, Albrecht von Eyb) sowie in die Hausväterliteratur des 16. bis 18. Jahrhunderts Eingang gefunden. Eine zweite Entwicklungslinie führt von den „Haustafeln des Neuen Testaments über die Haustafel in Luthers Kleinem Katechismus zu den Predigten über den christlichen Hausstand“, wobei zwischen „beiden Linien […] wechselseitige Beziehungen“ bestehen. (Hoffmann 1959: 5) Mit dem Begriff des ‚Ganzen Hauses‘ bezeichnet Brunner die Grundform menschlichen Zusammenlebens im gesamten vorindustriellen Europa, vor allem in agrarischen Gebieten: Das Haus bildet einen sozialen Körper der Schöpfungsordnung, in dem der einzelne je nach seiner familiären Rolle als Hausvater, -mutter, Kind, Knecht oder Magd den Platz seines alltäglichen Lebens, den Raum für seine persönliche Entfaltung und für seine Pflichten, die Befriedigung seiner Bedürfnisse findet. Der soziale Status des Menschen ist vom Haus bestimmt, nur die Rolle des Hausvaters weist über das Haus selbst hinaus, indem er die Familie im ‚Außen‘ vertritt. Das Haus enthält potentiell alle Lebensbereiche, so etwa Arbeit und Konsum („Nah-
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Vgl. auch Hahl 1994: 356. Das Theorem des ‚Ganzen Hauses‘ ist von Otto Brunner (1898–1982) entwickelt und von „der deutschen Forschung zunächst vorbehaltlos akzeptiert worden“ (Weiß 2001: 343). Seit den 1980er Jahren ist es jedoch zunehmend kritisch diskutiert worden, weil Brunners Schriften „in hohem Maße von völkischer Ideologie geprägt sind“ (Weiß 2001: 344). In diesem Zuge ist auch das Konzept vom ‚Ganzen Haus‘ auf den Prüfstand gestellt worden. Wie Stefan Weiß gezeigt hat, ist der Vorwurf, dass es „‚sozialromantisch-konservativen Ideologien‘ verpflichtet sei“ (Weiß 2001: 344), aber nicht berechtigt, weil Brunner mit seinem Theorem ein Konzept aufgreift, das unter Wirtschaftswissenschaftlern, Soziologen und Anthropologen schon im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert unter der Bezeichnung ‚Geschlossene Hauswirtschaft‘ bekannt gewesen ist (vgl. Weiß 2001). Aus diesem Grund wird in dieser Arbeit an dem Begriff festgehalten.
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rung“), Erziehung und Gottesdienst. Die Person ist in das Haus hineinintegriert. (Schwab 31992: 264)
Wie das Zitat impliziert, ist das ‚Ganze Haus‘ eine rechtliche, soziale und wirtschaftliche Einheit: eine rechtliche insofern, als alle Mitglieder der Hausgemeinschaft und damit auch das Gesinde unter der Herrschaft und dem Schutz des Hausvaters stehen. „Das Haus (Oikos) ist also ein Ganzes, das auf der Ungleichartigkeit seiner Glieder beruht, die durch den leitenden Geist des Herrn zu einer Einheit zusammengefügt werden.“ (Brunner 31980: 112) Diese Herrschaftsform ist zugleich Fundament und Paradigma für die übergeordnete staatliche Ordnung. Das ‚Ganze Haus‘ ist darüber hinaus eine soziale Einheit, da „die heute übliche Trennung von Familie und Betrieb noch nicht vollzogen“ (Weiß 2001: 342) und es gleichermaßen Arbeits- und Lebensgemeinschaft ist. Die Beziehung zwischen Herr und Knecht ist somit kein reines Dienstverhältnis, verstanden als „vertraglicher Austausch von Lohn und Leistung“, sondern ein Verhältnis familiärer Anteilnahme und Treue, bei dem es dem Dienenden zukam, gehorsam Befehle und Hauszucht (in gewissem Grad sogar Züchtigung) vom Meister anzunehmen, während es dem Meister zukam, seinen Dienstboten religiös, sittlich und nach Möglichkeit beruflich zu bilden, ihm zu gegebener Zeit den Schritt in die Selbständigkeit zu erleichtern oder ihn in Krankheit und Alter zu unterstützen. (Hahl 1994: 355)
Schließlich ist das ‚Ganze Haus‘ eine wirtschaftliche Einheit, weil es eine autarke Gemeinschaft ist. Alle für die Existenzsicherung notwendigen Güter werden von den Angehörigen des Hauses selbst produziert. (Vgl. u. a. Schwab 31992: 272) In diesem hierarchischen Sozialsystem kommt dem Hausvater laut Gotthelf die Aufgabe zu, „Gott zu vertreten gegenüber denen“, die er „für ihre Lebensreise nicht hinlänglich ausgestattet hat.“ Er hat die Pflicht, in Gottes „Liebe und Weisheit zu handeln“ und sein Gesinde zu versorgen. Für Gotthelf ist „beides“ – „geben und nehmen lernen und beides unbeschwert“ – „gleich schwer.“ (Gotthelf 1925: 98) Wie sich hier andeutet, ist die von Gotthelf propagierte patriarchalische Ordnung äußerst störanfällig, weil es vom Hausvater abhängt, ob er sich am „allgemeine[n] Wohl“ (Gotthelf 1925: 145) orientiert oder nicht. Aus diesem Grund heben die Ökonomiken weniger die Rechte als die wechselseitigen moralischen Pflichten beider Stände hervor. Von den Knechten fordern sie Gehorsam, Demut und Diensttreue. „Konservative wie liberale Anhänger solch patriarchalischer Gesellschaftsmodelle verteidigten diese Normen […] immer als höchste christliche Tugenden.“ (Tanner 1997: 30)
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In der Forschung ist es umstritten, ob das Konzept des ‚Ganzen Hauses‘ wirklich die Realität „adliger, bäuerlicher und sogar stadtbürgerlicher ‚Wirtschaften‘“ im vorindustriellen Europa beschreibt oder schon seit dem Mittelalter primär eine ‚sozialromantische Legende‘ ist. (Münch 2000: 16) Spätestens im 18. Jahrhundert, mit dem allmählichen „Ausscheiden der Beziehung zwischen Herrschaft und Hausbediensteten aus dem Familienbegriff“ (Schwab 31992: 275), hat das Sozialmodell aber an Bedeutung verloren. Dennoch wird es bis weit ins 19. Jahrhundert weiter propagiert, so etwa von Wilhelm Heinrich Riehl oder von Gotthelf. Beide halten ihre Gegenwart aufgrund der von ihnen diagnostizierten sozialen und wirtschaftlichen Missstände für hochgradig defizitär. Davon ausgehend suchen sie nach Lösungen und erhoffen sie sich von der Restitution des ‚Ganzen Hauses‘ als Voraussetzung für die (Wieder-)Herstellung einer humanen, durch christliche Nächstenliebe miteinander verbundenen Gemeinschaft.5 Das soll im Folgenden anhand von Gotthelfs Uli der Knecht illustriert werden. Dass Gotthelf mit seinem Roman darauf zielt, die bestehenden sozialen Missstände durch die Bekehrung bzw. Erziehung von Herr und Knecht zum christlichen Glauben zu beseitigen, manifestiert sich in einem Brief an den Regierungsrat Johann Rudolf Schneider vom 18. 10. 1840. Hier konstatiert er: Warum sollte ich nun nicht auch bei diesem allgemeinen Treiben auf Hoffnung hin an der unschuldigen Hoffnung hangen, daß das Heil nicht kommt mit äußerlichen Geberden, sondern von innen heraus, und daß somit auch das Heil für die Armut nicht liege in diesem und jenem Gesetz, dieser und jener Ordnung der Dinge, sondern im Zustand ihrer Seele und daß daher, indem man für den Geist der Armen sorge, man am kräftigsten kämpfe gegen die äußere Armut. […] Und wiederum auf Hoffnung hin habe ich Neues unternommen, nämlich eine Dienstbotenliteratur zu schaffen. (Gotthelf 1949: 87f.)
Mit seinem Roman, der die Tradition der christlichen Ökonomik weiterführt,6 richtet sich Gotthelf an ‚Dienstboten und Meisterleute‘ mit dem Ziel, sie über ihre wechselseitigen Pflichten zu unterrichten bzw. sie ihnen „in lebendiger Form zu Bewußtsein“ (Hahl 1994: 47) zu bringen.7 Wie für
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Im dritten Band seiner Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Socialpolitik befasst sich Riehl mit der Familie (1854)‚ genauer mit dem Sozialmodell des ,Ganzen Hauses‘, das er – ähnlich wie Gotthelf – als den „Grundpfeiler unsers Volksthums retten und bewahren“ (Riehl 1861: 329) will. Wie der Schweizer Pfarrer erhofft er sich von dem ‚Neubau‘ des ‚Ganzen Hauses‘ die Lösung der sozialen Probleme seiner Gegenwart. Vgl. dazu die einschlägigen Studien von Hahl (1994, 1980). Gotthelf ist sich darüber bewusst gewesen, dass sein Roman „zu dick geworden“ ist für „die Klasse, welcher es eigentlich bestimmt ist, und zu wenig fein und mannigfaltig für höhere Ansprüche, daher ihm ein zweifelhaftes Dasein droht.“ (Gotthelf in einem Brief an
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die Hausväterliteratur charakteristisch, gliedert sich der Text in zwei komplementäre Teile, in denen die Pflichten von Herr und Knecht vorgeführt werden „nebst den Problemen, die aus der Unvollkommenheit des Partners und aus den daraus entstehenden Anfechtungen erwachsen.“ (Hahl 1980: 17) Im ersten Teil (Kap. 1–12) wird „die Treue des Meisters zu einem unvollkommenen Knecht“ (Hahl 1980: 11) geschildert. Protagonist ist der besitzlose und verwaiste junge Bauernknecht Uli, der davon überzeugt ist, keine selbstständige Existenz gründen zu können, und sich von seinem Kummer darüber mit nächtlichen Wirtshausbesuchen, Alkohol und Mädchen ablenkt. Mit seinem niedrigen sozialen Rang hadernd, verliert er seine Arbeitslust und sein moralisches Pflichtgefühl, sich selbst und anderen gegenüber. Durch die erzieherische Fürsorge seines Meisters Johannes findet Uli aber zum christlichen Glauben zurück. Dieser verdeutlicht ihm, dass jeder Mensch, egal welchen Standes, glücklich werden kann, wenn er ein „frommes Leben“ führt, und dass Knechte, die sich durch Diensttreue und einen guten Ruf auszeichnen, ein „gutes Auskommen in der Welt“ und den „Himmel und seine Schätze“ erwerben können. (Gotthelf 1962: 355, 30) Selbstlos erzieht er ihn zur Selbstständigkeit, indem er ihm alles beibringt, was ein Bauer wissen muss, und verhilft ihm anschließend zu einer besser entlohnten Stelle bei seinem Vetter Joggeli. Der zweite Teil (Kap. 13–23) des Romans handelt von der „Treue des Knechts zu [s]einem unvollkommenen Meister“ (Hahl 1980: 11). Im Gegensatz zu Johannes ist Joggeli kein frommer Mann, was unter anderem in seiner Unfähigkeit, den eigenen Hof vernünftig zu bewirtschaften, und in seinem Misstrauen zum Ausdruck kommt. Zudem fühlt er sich – ähnlich wie Grillparzers ‚Ordnungsstörer‘ – von Ulis moralischer Überlegenheit provoziert. Anstatt ihn zu unterstützen, fällt er ihm wiederholt in den Rücken, weil er um seine Machtposition fürchtet. Trotz der schlechten Arbeitsbedingungen verlässt der pflichttreue Knecht den Hof nicht und steigt schließlich, an Stelle von Joggelis unfähigen Kindern, zu dessen Pächter auf. Neben dem Gut gewinnt Uli außerdem die Liebe des Mädchens Vreneli (Kap. 24–26), einer elternlosen Verwandten von Joggeli, die treu der Hauswirtschaft dient und sich so als ideale Gattin erweist. Wie sich hier andeutet, sind die beiden Höfe von Johannes und Joggeli als ‚Ganze Häuser‘ – als Arbeits- und Lebensgemeinschaften – organisiert.
_____________ Hagenbach vom 14. 11. 1841: 165) Trotz dieser Bedenken ist Uli der Knecht breit rezpiert worden. Wenige Jahre nach Erscheinen zählte der Roman zu den meistgelesenen Werken Gotthelfs.
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Uli ist kein freier Lohnarbeiter […]. Sein Lohn ist geringer, weil er im Hause verköstigt wird, seine Zeit gehört, nach damaliger Auffassung, ganz dem Dienstherrn, mit Ausnahme des Sonntagnachmittags. Dafür ist er, als Hausgenosse, eine Person, nicht bloß eine Arbeitskraft; er genießt die väterliche Aufsicht und Förderung durch den Meister [Johannes, N.B.], schon deshalb, weil man in der engen Gemeinschaft des Hauses keinen disziplinlosen Menschen dulden kann. […] Ihr Geist ist christlich (Hahl 1980: 11).
Gotthelfs Roman unterscheidet sich in zweifacher Hinsicht von allen bisher in den Blick genommenen Texten. Zum einen handelt es sich bei dem Knecht Uli um eine dynamische Figur, der es am Ende des Handlungsverlaufs gelingt, sozial aufzusteigen. Damit einher geht zum anderen, dass sich nur die Beziehung zwischen Uli und Joggeli, nicht aber die zwischen Uli und Johannes, als interdependentes Herrschaftsverhältnis beschreiben lässt. Für die folgende Untersuchung ist daher vor allem der ‚zweite Teil‘ des Romans – die Darstellung von pflichttreuem Knecht und unvollkommenem Meister – von Interesse. Ähnlich wie bei Grillparzer vertreten der (bekehrte) Knecht und sein Herr Johannes dieselben Handlungsnormen. Bei beiden handelt es sich um ‚Ordnungshüter‘; schließlich kommen sie beide ihrer christlichen Pflicht nach, die sich aus der religiösen Lehre und der volkstümlichen Tradition herleitende gottgewollte Haus- und Dienstordnung zu verwirklichen bzw. zu erhalten. Aus dem Gebot, „die Erde zu einem Vorhofe des Himmels zu machen“ (Gotthelf 1925: 97), leiten sich alle weiteren Pflichten ab. Hier ist erstens die Pflicht des Subjekts zu nennen, zum Herrn über sich selbst zu werden, sich sittlich zu verhalten und auf die Befriedigung der eigenen unmittelbaren Begierden zu Gunsten nützlicher Tätigkeit zu verzichten.8 Demgemäß lernt Uli im Handlungsverlauf, dem Alkohol und seinen ‚Kiltgängen‘ zu entsagen. Beide Laster werden auf Ulis fehlende religiöse Bildung zurückgeführt, ohne die laut dem Erzähler alle Menschen, „auf feinere oder gröbere Weise dem Tiere ähnlich werden“ und sich der „gröbste[n] Sinnlichkeit“ hingeben. (Gotthelf 1962: 70)9 Die aske-
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Ähnliche Empfehlungen finden sich in der Hausväterliteratur des 16. bis 18. Jahrhunderts, vgl. Hoffmann 1959: 171. Zur „Vernichtung der Unbefangenheit des triebhaften Lebensgenusses“ als zentrale Tugend des Protestantismus vgl. auch Weber 91988: 117. Ähnlich argumentiert Gotthelf in der Armennot. Hier klagt er darüber, dass die an den Kindern ausgeübte gesetzliche Armenpflicht nur „das Tier in ihnen ernährt“ habe, „an den Menschen in ihnen dachte man nicht. Das Kind lernte nie, was ein Mensch sei, wurde nicht zur Achtung seiner selbst gebracht, nicht zum Glauben an seine Kräfte, nicht zu Einsicht in ihre [sic] Bestimmung. […] Je weniger in solchen Menschen der vernünftige Mensch sich zeigt, desto mehr tritt das Tier hervor, das durch keine Kraft zurückgedrängt, gezähmt wird. Der Genuß ist ihnen alles, an ihm hängen ihre Gedanken, das Sehnen nach
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tische Lebensführung ist aber nicht nur moralische Pflicht, sondern auch die Voraussetzung für irdisches Glück. So betont der Erzähler mehrfach, dass der Alkoholkonsum der Ablenkung von Problemen diene, pure Geldverschwendung sei und sich negativ auf die Arbeit auswirke. Das habe Bettelei oder Schulden und somit die Verelendung der Bediensteten zur Folge. Ziel des Subjekts müsse es daher sein, entbehren zu lernen. (Vgl. Gotthelf 1925: 152) Eng damit zusammen hängt zweitens die Pflicht zur Sparsamkeit. Anstatt sein Geld zu verprassen, lernt Uli, auf alle überflüssigen Ausgaben um den Preis äußerster Sittenstrenge zu verzichten. Dafür wird er nicht nur mit einem kleinen Vermögen, sondern auch mit innerer Ruhe, Selbstsicherheit und Zufriedenheit belohnt (vgl. Gotthelf 1962: 88).10 Auch für seinen Herrn ist Ulis Wirtschaftlichkeit von Vorteil, denn „je mehr er [der Knecht, N.B.] zu etwas kömmt, umsomehr erkennt er den Wert der Dinge, huset (spart) nicht nur für sich, sondern es reut ihn überhaupt, etwas zu vergeuden, er huset also auch den Meisterleuten“ (Gotthelf 1962: 88). Bei Gotthelf hängen also „[ä]ußere Ökonomie und innere Seelen- und Heilsökonomie […] unauflösbar zusammen. Wer die Prinzipien des rechten Wirtschaftens nicht versteht wie der windige Baumwollhändler oder der Wirt Johannes, der wird von Gotthelf auch als moralisch zwielichtiger Charakter […] gezeichnet“ (Braungart 1999: 27).11 Das hier propagierte Wertesystem, „in dem sich bürgerlicher Erwerbssinn und asketischer Protestantismus zu dem verbinden, was Max Weber als den ‚Geist des Kapitalismus‘ diagnostiziert hat“ (Zimmermann 1975: 36), findet sich auch in anderen Dorferzählungen des 19. Jahrhunderts, so etwa in Heinrich Zschokkes Das Goldmacherdorf, oder wie man reich wird (1817).
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ihm füllt ihr inneres Leben. Was sie auf- und anbringen mögen, das vertrinken, verhoffärteln, verkrämerln, verschlecken sie und gebärden dabei sich wie Tiere.“ (Gotthelf 1925: 107, 108) Mit der Sparsamkeit gehen die Tugendpflichten der Geduld und der Rechtschaffenheit einher. Uli muss seinen Lohn mehrere Jahre lang zurücklegen, um Rücklagen bilden zu können. Wie sein Meister Johannes betont, ist es das Laster der Ungeduld, das „so viele Menschen um Hab und Gut bringt. Wem es auf dem rechten Weg zu langsam geht, wird entweder ein Spitzbube oder ein Hudel.“ (Gotthelf 1962: 87) Ähnlich argumentiert Gotthelf in der Armennot, vgl. Gotthelf 1925: 122ff. Alle Fehler, die Uli „im Lauf seiner Lehrjahre begeht“, sind denn auch „auf Regungen der Ungeduld zurückzuführen“, so etwa sein Wunsch, aus Geldgier Joggelis Tochter Elisi zu heiraten. (Cimaz 1998: 474) Zum Zusammenhang zwischen der protestantischen Ethik und dem kapitalistischen Lebensstil aus (religions-)soziologischer Perspektive vgl. den grundlegenden zweiteiligen Aufsatz von Max Weber Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1904/05).
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Drittens sei die Arbeits- und Erwerbspflicht angeführt.12 Im Roman wird nützliches Tätigsein zum einen als christlicher „Trieb“ beschrieben, „ein vor Gott und den Menschen recht tüchtiger Mensch zu werden“. (Gotthelf 1962: 32) Zum anderen wird die Bearbeitung der Natur als eine Form des ‚Gottesdienstes‘ gewertet. Das wird schon zu Beginn des Handlungsverlaufs deutlich, als Johannes über seine Felder läuft und sich auf die Ernte freut, nicht nur wegen des zu erwartenden finanziellen Ertrags, sondern auch, weil er die Naturprodukte als eine Gottesgabe betrachtet. Indem er seinen Hof bewirtschaftet, preist er den Schöpfer „wie alles Kraut und jedes Tier“ (Gotthelf 1962: 15).13 Da das durch die Arbeit erworbene Eigentum „durch den erweiterten Familienhaushalt sozialverpflichtet bleibt“, mühen sich seine Bedienten nicht für seinen Gewinn ab, „sondern für das Eigentum überhaupt als eine Einrichtung“, die auch zu ihrem „Nutzen bereitsteht“. (Hahl 1994: 86, 63) Verpflichten sich Herr und Knecht dem ‚Ganzen Haus‘, werden sie mit innerer Zufriedenheit und Wohlstand belohnt.14 Zugleich unterwerfen sie sich einer höheren Realität, nämlich dem Willen Gottes. Als vierte Tugendpflicht ist die Treue gegen sich selbst und andere zu nennen.15 Wie Johannes im Rekurs auf die Predigt des Dorfpfarrers erklärt, hat der Mensch die Aufgabe, seine beiden von Gott empfangenen „Kapitale […], nämlich Kräfte und Zeit“ (Gotthelf 1962: 29), sinnvoll zu nutzen, d. h. entweder den eigenen Hof oder den eines anderen zu bewirtschaften. Ungehorsam durch Zeitverschwendung oder Faulheit wird als Untreue gegenüber dem Meister und Gott gewertet, mit der der Mensch auch und vor allem sich selbst schadet. Denn er wird nur dann zu „Eigentum“ und „Ansehen“ kommen, wenn er dem ‚Ganzen Haus‘ und damit Gott ergeben dient. (Gotthelf 1962: 31) Daher ist das Subjekt – ähnlich wie in Grillparzers Drama – nicht nur seinem Meister und Gott, sondern auch sich selbst gegenüber zur Treue verpflichtet. Eng mit der Treue hängt das Vertrauen zusammen, das zwischen Herr und Knecht herrschen soll. Im Handlungsverlauf lernt Uli denn auch, dass
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Die Arbeits- und Erbwerbspflicht wird auch in der Hausväterliteratur propagiert, vgl. Schwab 31992: 272f., Hoffmann 1959: 188–204. Auch vor diesem Hintergrund muss der Meister Ulis Faulheit zu Beginn des Handlungsverlaufs verurteilen. Anstatt Gott durch fleißige Arbeit zu preisen, missbraucht er „schnöde“ die ihm von Gott verliehenen Gaben „Gesundheit und Kraft“. (Gotthelf 1962: 15) Dass Faulheit zu Frustration führt, zeigt sich etwa, als sich Uli von anderen Bedienten zum Nichtstun hinreißen lässt: „Sobald er mitmachte und miträsonierte, war er unzufrieden und mißmutig“ (Gotthelf 1962: 44). In diesem Punkt lassen sich Parallelen zu Tolstois Erzählung Herr und Knecht ziehen (vgl. III.). Auch diesen Pflichten kommt in der Hausväterliteratur zentrale Bedeutung zu, vgl. Hoffmann 1959: 172.
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er sich gegenüber seinem Meister nicht wie ein ‚Diplomat‘ (vgl. Gotthelf 1962: 25) verstellen muss, sondern Zutrauen und damit Gottvertrauen haben kann. Dafür wird er mit guten Ratschlägen und Hilfe in brenzligen Situationen belohnt. Wie illustriert, gelten die angeführten Tugendpflichten für Herr und Knecht, zum einen, weil der Hausvater für seine Bedienten Vorbildfunktion hat,16 und zum anderen, weil er selber ein Knecht Gottes ist. Aus dieser Perspektive ist er auch nicht Herr über sein Eigentum, sondern nur „Verwalter der Gaben Gottes“ (Hahl 1994: 50); und wie seinem Bedienten wird auch ihm einmal „die Stunde schlagen“, in der er „Rechnung ablegen“ muss „dem großen Lehnsherrn da oben.“ (Gotthelf 1925: 191) Um seinen christlichen Pflichten nachzukommen, muss der Meister neben den genannten Geboten – Selbstbeherrschung, Askese, Sparsamkeit, Fleiß und Erwerbsstreben sowie Treue gegenüber sich selbst und anderen – für seinen Knecht Sorge tragen, ihn adäquat entlohnen, ihn in die Familie integrieren und ihn zum christlichen Glauben und zur Selbstständigkeit erziehen.17 Es sollte deutlich geworden sein, dass Gotthelf eine Herrschaftsbeziehung propagiert, die für beide Hausangehörige von Vorteil ist: „Ein Knecht muß sich, auch mit Rücksicht auf sein soziales Fortkommen, einen gottesfürchtigen Meister wünschen; ebenso muß sich ein Meister, auch mit Rücksicht auf sein wirtschaftliches Gedeihen, einen gottesfürchtigen Knecht wünschen.“ Es herrscht laut Gotthelf also „eine praktische Interessengleichheit zwischen beiden Ständen“. (Hahl 1994: 62) Dabei schaden die Bediensteten mit jeder Pflichtverletzung nicht nur dem Meister, sondern auch und vor allem sich selbst. Mit Grillparzers Trauerspiel vergleichbar, wird die im Roman propagierte soziale Ordnung, für deren Erhaltung beide Stände, also Herr und Knecht, verantwortlich sind, im ‚zweiten Teil‘ durch zwei ‚Ordnungsstörer‘ – den episodisch auftretenden Bauern Resli und den Großbauern Joggeli – gefährdet. Resli verabsolutiert seinen privaten Willen, indem er seine Knechte für die eigenen Zwecke instrumentalisiert. Zum einen schmeichelt er ihnen und treibt „sie damit zu übermäßigen Anstrengungen“ (Gotthelf 1962: 45) an. Zum anderen gewährt er ihnen
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Vgl. Gotthelf 1962: 227, Gotthelf 1925: 262f. Zur Pflicht des Meisters, die Dienenden zur Selbstständigkeit zu erziehen, vgl. im Rekurs auf konkrete Bibelstellen Hahl 1994: 357. Wie Julius Hoffmann herausgestellt hat, finden sich in der Hausväterliteratur nur vereinzelt Ermahnungen an die Dienstherren, „zu einer selbständigen Stellung ihrer Dienstboten beizutragen“. Sie sind „weitaus schwächer als die Ermahnungen an die Dienstboten, in ihrem häuslichen Stande zu bleiben“. (Hoffmann 1959: 171)
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Freiheit zu allem Wüsten; Mägde und Knechte konnten miteinander umgehen wie Eheleute; das behielt viele trotz des schlechten Lohns bei ihm. Er streckte ihnen gerne Geld vor; denn wenn sie seine Schuldner waren, so waren sie auch mehr oder weniger seine Sklaven (Gotthelf 1962: 45).
Verschuldet und verrufen verunmöglicht er es seinen Bediensteten, eine bessere Anstellung zu finden. Drittens und letztens versucht er Uli einzureden, dass ein Knecht nicht die gleichen anspruchsvollen Arbeiten zu verrichten habe wie ein Jungbauer. Sein Plädoyer für ‚angemessenere‘ Tätigkeiten ist aber nichts anderes als die Weigerung, ihm das beizubringen, was ein Knecht wissen muss, um eine eigenständige Existenz gründen zu können. „So zerstört Resli ein Ausbildungswesen, um dessen Zögling er doch wirbt, weil er einen ähnlich tüchtigen Arbeiter nicht heranbilden könnte.“ (Hahl 1994: 61)18 Im Unterschied zu Resli, der mit Absicht ans Werk geht, fehlt es Joggeli am christlichen Glauben. Das manifestiert sich nicht nur in der auf seinem Hof üblichen Sonntagsarbeit und damit in dem fehlenden wöchentlichen Kirchgang, sondern auch darin, dass er seiner sozialen Position als Hausvater nicht gerecht wird. Anstatt sich an den „Bedürfnissen des Gutes“ (Gotthelf 1962: 169) zu orientieren, folgt er – ähnlich wie Grillparzers ‚Ordnungsstörer‘ – seinen Neigungen um den Preis, dass sein Hof nicht ordentlich bewirtschaftet wird. Aus mangelnder Arbeitsliebe und fehlendem Erwerbsstreben herrscht auf dem „ganzen Gute nur so eine Stümperei“ (Gotthelf 1962: 168); denn Joggeli weiß seine Bediensteten nicht zu beschäftigen und zur Arbeit anzuleiten, so dass die Tiere verwahrlosen und der Boden nur ungenügend bearbeitet wird (vgl. Gotthelf 1962: 168, 151). Infolgedessen fehlt es dem Gesinde an Respekt und ein jeder macht, „was er will“ (Gotthelf 1962: 139). Joggelis größtes Laster ist allerdings sein Misstrauen – der „systemlogische Gegensatz zu dem Gottvertrauen“, durch das sich Johannes auszeichnet und „auf dem das christliche Haus- und Dienstwesen ruht.“ (Hahl 1994: 59) Anstatt Uli mit Nächstenliebe zu begegnen und ihn bei der Bewältigung seiner Aufgaben vorbehaltlos zu unterstützen, missachtet er ihn, indem er ihn durch bissige Bemerkungen provoziert, seine Arbeit vor den anderen Knechten herabwürdigt und ihn durch Intrigen des Betrugs zu überführen sucht (vgl. Gotthelf 1962: 212, 189). Für diesen Fehler wird Joggeli zum einen mit innerer Unruhe und Unzufriedenheit bestraft (vgl. Gotthelf 1962: 189). Zum anderen untergräbt er durch sein schlechtes Vorbild die Moral seiner Bedienten, was auf ihn selbst zurück-
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Vgl. dazu auch Gotthelfs Klage über die fehlende Erziehung zur Selbstständigkeit in der Armennot (Gotthelf 1925: 196).
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fällt; und er treibt sie zur Kündigung, denn wer „ein rechtes Gefühl hat, kann nicht in einem Hause sein, wo er sieht, daß man eine schlechte Meinung von ihm hat.“ (Gotthelf 1962: 191) Gotthelf konzipiert Joggeli als eine Figur im Selbstwiderspruch: Er missachtet Uli, fordert von ihm aber umgekehrt Gehorsam und soziale Wertschätzung; er kommt seiner hausväterlichen Pflicht, das Gesinde zur Arbeit anzuleiten, nicht nach, will aber auch nicht, dass Uli diese Aufgabe übernimmt (vgl. Gotthelf 1962: 182). Beides rührt daher, dass der Großbauer ähnlich wie Resli sein Ego verabsolutiert, anstatt dem ‚Ganzen Haus‘ und damit der gottgewollten sozialen Ordnung zu dienen. Sich weniger als Diener Gottes denn als Herr begreifend, fürchtet er angesichts von Ulis moralischer und lebenspraktischer Überlegenheit um seine Machtposition (vgl. Gotthelf 1962: 212). Darin gleicht er Grillparzers Otto von Meran. Obwohl Uli mehrmals schwer von Joggeli gekränkt wird, bleibt er auf dem Hof. „Er ist dem Meister nicht nur dann treu, wenn dieser es nicht sieht, sondern auch, wenn er es nicht erkennt in seiner Verblendung.“ (Hahl 1994: 55f.) So kauft er sich von seinem eigenen Lohn eine Sense, weil Joggeli nicht bereit ist, in gute Arbeitsgeräte zu investieren; und er macht ihn „auf tiefe Mängel in der Bewirtschaftung seines Hofes aufmerksam“, obwohl er dadurch dessen „törichte Sticheleien auf sich [zieht], die er sich durch gefälliges Schweigen und Nach-dem-Mund-Reden ersparen könnte.“ (Hahl 1994: 56) Dass Uli den Hof trotz der erfahrenen Demütigungen nicht verlässt, ist auf das für ihn verpflichtende biblische Gebot der Diensttreue zurückzuführen: Ihr Sklaven, ordnet euch in aller Furcht den Herren unter, nicht allein den gütigen und freundlichen, sondern auch den wunderlichen. Denn das ist Gnade, wenn jemand vor Gott um des Gewissens willen das Übel erträgt und leidet das Unrecht. […] wenn ihr um guter Taten willen leidet und es ertragt, das ist Gnade bei Gott. (Luther 1985: 259f.)
Selbst dem ‚Ganzen Haus‘ dienend, fordert Uli das auch von Joggeli. Um den Hof zu bewirtschaften, brauche es eine hierarchische soziale Ordnung: Einer müsse „da sein, der befehle, und die andern müßten wissen, daß sie zu gehorchen hätten“. Joggeli müsse „sehen, was seine Pflicht und was sein Nutzen“ ist. (Gotthelf 1962: 187, 181) Schließlich droht Uli sogar mit der Kündigung des Dienstverhältnisses. Im Unterschied zu Grillparzer und Kant räumt Gotthelf seinem Knecht hier ein Widerstandsrecht gegen den Machtmissbrauch seines Herrn ein, wenn Uli auch nicht leichtfertig seine Entlassung fordern, sondern ‚sein Bündel tragen lernen‘ soll (vgl. Gotthelf 1962: 189). Damit folgt Gotthelf den gesellschaftlichen
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Normen seiner Zeit. So heißt es etwa 1852 in der preisgekrönten Schrift von William Löbe über das Dienstbotenwesen unserer Tage: Sie [die christlichen Dienstboten, N.B.] werden auch mit solchen Herrschaften Geduld haben, welche den Dienst erschweren und bedenken, daß sie sich hierdurch ein großes Verdienst erwerben. Sie werden endlich, wenn eine Herrschaft pflichtvergessen genug sein sollte, ihrer Tugend und ihrer Ehrlichkeit Fallstricke zu legen, nicht nur alle Reizungen zum Bösen mit Standhaftigkeit abweisen, sondern auch ohne allen Verzug von so gefährlicher Verbindung sich losreißen. (Löbe 21855: 23)
Wie das Zitat deutlich macht, geht die soziale Ehre des Bedienten, „die ein Baustein des ‚Reiches‘ Gottes ist, über die abstrakte Opferidee […]. Dem Urheber sozialen Mißtrauens schuldet man keine unbegrenzte Treue, keine Passion.“ (Hahl 1994: 60) Daher ist die Kündigung des Dienstverhältnisses legitim. Mitunter ist Ulis sozialer Aufstieg am Ende des Handlungsverlaufs als Infragestellung der besitzständischen Gesellschaftsordnung gedeutet worden. Dagegen spricht erstens, dass Uli nicht aus eigener Kraft Karriere macht, sondern dafür auf die Initiative und Unterstützung seiner Meisterleute angewiesen ist. Die Voraussetzung für die Pachtübernahme ist zweitens eine pflichttreue Ehefrau, die den Hof bewirtschaften kann und über einen „schönen Sparhafen“ (Gotthelf 1962: 299) verfügt. Dass es Uli gelingt, ausgerechnet Vrenelis Liebe zu gewinnen, die beide Bedingungen erfüllt, wertet Hahl zu Recht als „irdische Erscheinung der [göttlichen, N.B.] Gnade“. Denn Uli muss nicht mit anderen um Joggelis Hof konkurrieren. Vielmehr werden er und Vreneli dazu ‚auserwählt‘, das „Hausregiment an ihrem bisherigen Dienstort [zu] übernehmen“. (Hahl 1994: 359) Gegen eine subversive Textintention spricht drittens, dass Uli in keiner Weise die Stabilität des hausständischen Sozialmodells gefährdet, sondern nur seine Position in dem hierarchischen Gefüge vertauscht. Er „springt für die leiblichen Kinder des Bauern ein, die ‚aus der Art geschlagen‘ sind, und rettet den Fortbestand des Hofes, rettet die sicherste Grundlage, die der Mittelstand nach damaliger Ansicht hatte.“ Somit vollzieht sich Ulis sozialer Aufstieg im Namen der Restitution des ‚Ganzen Hauses‘ und in „Ablehnung der neuen, der reinen Lohnarbeit.“ (Hahl 1994: 49) Viertens und letztens ist Ulis sozialer Aufstieg den Gattungskonventionen der Bauernepik geschuldet, ein weiteres Argument dafür, dass Gotthelf die im Roman geschilderte patriarchalische Ordnung nicht in Zweifel zieht. Zusammenfassend sei festgehalten, dass der Roman zur Beseitigung der ‚Armennot‘ die Erziehung bzw. Bekehrung aller Stände zum christlichen Glauben und damit einhergehend die Restitution des hausständischen Sozialmodells vorschlägt, das sich aus der religiösen Lehre und der volkstümlichen Tradition herleitet. Erst wenn die Menschen nicht mehr
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durch strukturelle, sondern durch auf Nächstenliebe basierende autoritative persönliche Herrschaftsbeziehungen miteinander verbunden sind, lässt sich laut Gotthelf eine humane Gemeinschaft konstituieren. Ähnlich wie Grillparzer zielt er also auf die Vermittlung sittlicher Werte, die im privaten und öffentlichen Bereich wirksam sind. Herr und Knecht sollen der Erhaltung bzw. der Wiederherstellung des patriarchalischen Sozialmodells dienen und werden dafür mit innerer Zufriedenheit, materiellem Besitz und göttlicher Gnade belohnt. In diesem Zusammenhang verhalten sich die beiden ‚Ordnungshüter‘ Uli und Johannes genauso wie Grillparzers ‚treuer Diener‘ vorbildlich. Sie unterwerfen sich dem göttlichen Willen, indem sie den christlichen Tugendpflichten nachkommen, zu denen Selbstbeherrschung, d. h. Meisterschaft über sich selbst, Askese, Sparsamkeit, Arbeitsliebe und Erwerbsstreben sowie die Treue gegen sich selbst und andere zählen. Kontrastierend dazu werden die beiden Bauern Resli und Joggeli ähnlich wie Grillparzers Otto von Meran und die Königin Gertrude von Ungarn als ‚Ordnungsstörer‘ vorgeführt, weil sie ihr Ego verabsolutieren. Das zeigt sich in der Missachtung ihrer Bediensteten, von denen sie umgekehrt soziale Wertschätzung erwarten; dazu kommt bei Joggeli die Furcht vor einem etwaigen Machtverlust, durch die er sich von Ulis moralischer und lebenspraktischer Überlegenheit provoziert fühlt. Die systemstabilisierende Textintention manifestiert sich nicht nur in der Orientierung an den Tugendpflichten der Hausväter- und Dienstbotenliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts und in dem für das Genre konstitutiven moraldidaktischen Wirkungsziel, sondern auch in dem Rekurs auf die Gattungsmuster der restaurativen Bauernepik.19 Angeführt sei die ländlich-bäuerliche Stoffwahl, die einfache Romanstruktur, die „dem gesprochenen Wort angenäherte[ ] Literatursprache“ (Baur 1978: 192) sowie der Anspruch auf realistische Darstellung bei gleichzeitiger Verklärung des Landlebens (vgl. Hein 1976: 29). Darüber hinaus finden sich bei Gotthelf die für das Genre charakteristischen zentralen Motive, so der Gegensatz vom ‚Wunschbild Land und dem Schreckbild Stadt‘,20 hier als Gegenüber-
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Wie unter anderem Bettina Wild und Uwe Baur herausgestellt haben, ist das Genre der Bauernepik im Vormärz entstanden. In der ersten Phase zwischen 1840 und 1850 ist es „eine Parallelerscheinung zum sozialen Roman, eine sozial engagierte, der damaligen Politisierung der Literatur entsprechende kürzere Erzählform.“ (Baur 1978: 37) Nach dem Scheitern der Märzrevolution 1848 lässt sich eine „Verschiebung von der (links)liberalen, revolutionären Sicht auf das Dorf zu einer konservativen, die Tradition bewahrenden Sicht auf das Bauerntum“ (Wild 2011: 48) verzeichnen. Gotthelfs Roman zählt unverkennbar zur zweiten Gruppe, zu den restaurativen Bauernromanen. Zu dem Stadt-Land-Gegensatz in der Bauernepik des 19. Jahrhunderts vgl. u. a. Hein 1976: 32, Wild 2011: 74ff., Zimmermann 1975: 29; vgl. allgemeiner zu diesem Topos in der Literatur Sengle 1963.
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stellung von bäuerlicher Stube und städtischem Salon (vgl. Gotthelf 1962: 108f.), die „Liebe auf dem Lande“ und der soziale Auf- oder Abstieg am Ende des Handlungsverlaufs, der im Bauernroman genauso wie in Uli der Knecht mit der Tugendhaftigkeit der Protagonisten begründet und/oder durch äußere Zufälle motiviert wird. (Zimmermann 1975: 29) Wie in Grillparzers Trauerspiel korrelieren also auch in Gotthelfs Roman restaurative Textintention und konservative Ästhetik.
2.2. Mitleid und Pflichttreue als Mittel zur Stabilisierung der bestehenden politisch-sozialen Ordnung in Ebner-Eschenbachs Božena (1876) Im Unterschied zu Gotthelfs Roman spielt Ebner-Eschenbachs Erzählung Božena vor und nach der Märzrevolution in einer mährischen Kleinstadt. Geschildert wird die Lebensgeschichte der tschechischen Dienstmagd Božena, die sich durch Mitleid und Pflichttreue vor ihrer Herrschaft, dem Weinhändler Leopold Heißenstein, seiner zweiten Frau Nannette und deren gemeinsamer Tochter Regula, auszeichnet. Im Unterschied zu den selbstbezogenen Familienmitgliedern kümmert sie sich aufopferungsvoll um Rosa, Heißensteins Tochter aus erster Ehe. Als sie ihre ‚mütterlichen Pflichten‘ aufgrund ihrer Schwäche für den schönen Bernhard temporär vernachlässigt, gelingt es Rosa, gegen den Willen ihres Vaters mit einem mittellosen Offizier zu fliehen. Von Schuldgefühlen erfüllt, folgt Božena den beiden und nimmt sich nach dem frühen Tod der Eltern deren Tochter Röschen an. Aufgrund ihrer moralischen Integrität gelingt es der Dienstmagd am Ende des Handlungsverlaufs, die als Universalerbin eingesetzte Regula davon zu überzeugen, Röschen die Heirat mit dem Grafen Ronald Rondsperg zu ermöglichen, ihr so zu ihrem rechtmäßigen Erbteil zu verhelfen und auf diese Weise ihre ‚Schuld‘ – ihre fehlende Pflichttreue in der Vergangenheit – zu sühnen. Die Erzählung endet mit dem Hinweis darauf, dass Božena noch „eine dritte Generation auf ihren Armen“ wiegen und von den Kindern als „gute Božena“ (Ebner 1980: 151) hochgeschätzt wird. Wie unter anderem Esther Riehl herausgestellt hat, wird in der Erzählung eine dem ‚Ganzen Haus‘ vergleichbare patriarchalische Ordnung vorgeführt (vgl. Riehl 2000). Die Mitglieder der Kaufmannsfamilie Heißenstein bilden zwar keine wirtschaftliche oder rechtliche Einheit mehr, dafür aber eine soziale; denn zumindest für Božena und den treuen Diener Mansuet ist die Familie eine Arbeits- und Lebensgemeinschaft, der sie sich in familialer Anteilnahme und Treue verbunden fühlen. So setzt sich Mansuet ähnlich wie Lessings treuer Diener Waitwell selbstlos dafür ein,
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dass Heißenstein seiner Tochter Rosa verzeihen möge; und Božena, die ihren Dienst nicht nur mit Fleiß, sondern auch mit „Herz“ (Ebner 1980: 17) verrichtet, hat nach dem Tod von Heißensteins erster Frau deren Tochter Rosa in ihre Obhut genommen, für die sie eine ‚inbrünstige‘ mütterliche Liebe empfindet (vgl. Ebner 1980: 13). Propagiert werden wie in Uli der Knecht die ethischen Werte des Christentums, insbesondere die Selbstbeherrschung, die Treue gegenüber anderen und sich selbst, Aufrichtigkeit, Mitleid und die altruistische (Nächsten-)Liebe. Ebner-Eschenbachs „christliche[s] Weltbild“ (Zeman 1997: 115) manifestiert sich in Boženas Frömmigkeit (vgl. u. a. Ebner 1980: 42, 146). Darüber hinaus finden sich aber auch Bezüge zu Schopenhauers (Mitleids-)Ethik, wie zu zeigen sein wird.1 Anhand von Tagebucheinträgen kann belegt werden, dass die Autorin die Schriften des Philosophen gekannt und geschätzt hat.2 Da es zwischen den von ihm propagierten und den christlichen Normen und Werten große Übereinstimmungen gibt,3 können beide widerspruchsfrei Eingang in die Erzählung finden. Die in der Erzählung geschilderte soziale Ordnung, für deren Erhaltung Herr und Knecht verantwortlich sind, wird ähnlich wie bei Gotthelf und Grillparzer durch ‚Ordnungsstörer‘ – durch Heißenstein, Nannette, Regula und indirekt durch Bernhard und den Grafen Rondsperg – gefährdet. Alle genannten Figuren kennzeichnet eine maßlose Selbstliebe. Das manifestiert sich erstens in ihrer Unfähigkeit, zu anderen eine emotionale Bindung aufzubauen. Selbstbezogen bringen sie ihren Interaktionspartnern weder (Nächsten-)Liebe noch Achtung entgegen, fordern von ihnen aber soziale Wertschätzung und die bedingungslose Unterwerfung unter den eigenen Willen. Jeder Widerstand wird – ähnlich wie von Grillparzers ‚Ordnungsstörer‘ Otto von Meran – als Demütigung, als psychische Verletzung bzw. narzisstische Kränkung erfahren. Schon zu Beginn des Handlungsverlaufs wird Heißenstein als Egomane charakterisiert, wenn der Erzähler erklärt, dass er es gewohnt ist, seine Interessen ohne Rücksicht auf die Empfindungen seiner devoten ersten Frau durchzusetzen. „Was er that, war wohlgethan, und der Eindruck, den es hervorbrachte, gleichgültig. In sicherer Ruhe schritt er dahin, seiner selbst gewiß, nichts fürchtend, nichts bereuend.“ (Ebner 1980: 5) Heißenstein erkennt seine Frau nicht als eigenständiges und gleichwertiges Individuum an; er
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Zu Schopenhauer vgl. III.2.1. Ebner-Eschenbach hat sich mit Schopenhauers Philosophie spätestens 1869 auseinandergesetzt (vgl. die Einträge vom 14. 4. 1866, 6. 11. 1869, 18. 2. 1875, 15. 1. 1876, 13. 11. 1878 in Ebner 1989: 91, 285f., Ebner 1991: 326f., 393f., 594); zum Einfluss von Schopenhauers Mitleidsethik auf Ebner-Eschenbach vgl. u. a. Lohmeyer 2002: 149ff. Vgl. Lemanski 2011, bes. 373–386.
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räumt ihr keinen „Wert“ ein, „der die Quelle von legitimen Ansprüchen ist, die der eigenen Selbstliebe Abbruch tun.“ (Honneth 2003: 22) Vielmehr nimmt er sie als Verlängerung und Bestätigung seiner selbst wahr, so dass er ihren Tod aus Selbstliebe als herben Verlust erfahren muss. Obwohl er seiner „demütige[n] Frau, […] solange sie lebte, nur eine sehr oberflächliche Beachtung gegönnt hatte“, vermisst er sie jetzt so bitter, als ob sie der Mittelpunkt all seiner Interessen gewesen wäre. Das Gefühl des Verlassenseins ergriff ihn, das keinen Menschen mit solcher Trostlosigkeit überfällt wie den Egoisten, wenn die von ihm scheiden, deren Existenz er zu seinen Gunsten ausbeutete. (Ebner 1980: 6)
Bezeichnenderweise sucht sich Heißenstein sofort eine neue Lebenspartnerin – Nannette –, die sich wie seine erste Frau durch eine „demütige Liebenswürdigkeit“ (Ebner 1980: 10) auszuzeichnen scheint – eine Erwartung, die sich nach der Heirat als falsch herausstellt und zu zahlreichen ehelichen Konflikten führt. Zu Auseinandersetzungen kommt es auch mit seiner ersten Tochter Rosa. Im Unterschied zu Regula, die nie widerspricht und ihm „fortwährend stumme Ovationen“ darbringt, ist es Rosa wie ihr Vater nicht gewohnt, „sich einem fremden Willen zu unterwerfen.“ (Ebner 1980: 16, 10) Als sie sich aufgrund fehlender familiärer Zuwendung in den adligen Offizier Wilhelm von Fehse verliebt, fordert sie von ihrem Vater, ihr dazu seinen Segen zu geben, anstatt seinen Willen durchzusetzen und sie mit dem Sohn eines seiner Geschäftsfreunde zu verheiraten – vergeblich. Da Heißenstein diejenigen „besitzen“ (Ebner 1980: 60) will, die er ‚liebt‘, erfährt er ihren Widerstand als narzisstische Kränkung. Aus diesem Grund kann er seine Tochter nach ihrer Flucht mit Fehse auch nicht „aus seinem Herzen“ streichen, nein, sie beschäftigte ihn immer, er führte in Gedanken fortwährend Krieg mit ihr. Mit der vom Verstande nicht mehr streng gezügelten Phantasie des Greises, malte er sich ihr Vergehen in den dunkelsten Farben aus und verwünschte sie, der Schmerzen wegen, die sie nicht aufhörte ihm zu bereiten. (Ebner 1980: 48)
Wie bei Heißenstein handelt es sich auch bei Nannette und Regula um Egozentrikerinnen, die unfähig zu emotionalen Bindungen sind und andere missachten, um sich selbst zu erhöhen. So erspart Nannette Božena „keinen Fußtritt und keinen Nadelstich“; und auch die eitle Regula macht sich eine Freude daraus, sie an ihre Sünden und „an die Unübersteiglichkeit der Kluft“ zu erinnern, die sie „voneinander trennt“, nicht zuletzt deshalb, um ihre Machtposition angesichts der sie provozierenden moralischen Überlegenheit Boženas zu sichern. (Ebner 1980: 13, 89) Auch gegenüber ihren zahlreichen Verehrern geriert sich Regula als unumschränkte Herrscherin. Dabei will sie vor allem nicht auf die „bärbeißige Anbetung“ ihres Hausfreundes verzichten, weil sie es als „sehr schmeichelhaft“ empfindet, „einen Menschen nach Willkür froh oder traurig [zu]
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machen, sein Herz stellen zu können wie eine Uhr, zu wissen: diese Anhänglichkeit ist wie ein gutes Gewehr: sie versagt nie.“ (Ebner 1980: 97f.) Als Egomane ist schließlich auch der ‚schöne Bernhard‘ konzipiert. Aus Eitelkeit hängt er an Božena genauso wie Regula an ihren Bewerbern: Er hatte sie lieb, die Božena, gewiß; er war stolz auf den uneingeschränkten Besitz dieses bisher unbesiegten Herzens. Er freute sich der Gewalt, die ihm über die Gewaltige gegeben war. Sein unsicheres Wesen wurde von ihrem starken, sein schwankender Wille von ihrem festen mächtig angezogen. Im Bewußtsein ihrer unbegrenzten Liebe ruhte er wie in einer goldenen Wolke […]. Schützend umhüllte sie ihn, ohne ihn je gedemütigt zu haben, denn immer war sie bereit, sich ihm zu unterwerfen, und alle Lust und alles Weh kam ihr von ihm. Ein Wort, und die Unbezwingliche lag zu seinen Füßen, die größere Seele beugte sich vor seiner Kleinheit, denn kraft ihrer Liebe war er ihr Herr. (Ebner 1980: 23)
Wie das Zitat deutlich macht, gilt Bernhards eitle Liebe weniger Božena als sich selbst. Aufgrund seines geringen Selbstwertgefühls ist er in besonderem Maße auf Bestätigung durch andere angewiesen. Durch Boženas unterwürfige Liebe fühlt er sich erhöht, stattet sie ihn doch „mit der moralischen Autorität“ aus, „über die eigene Person zu verfügen“. (Honneth 2003: 22) Aus diesem Grund hat er zum einen eine sadistische Freude daran, sich seiner Macht über sie zu vergewissern, und zum anderen ein Problem damit, ihren Trennungswunsch zu akzeptieren. Selbstbezogen und ohne Rücksicht auf ihre Wünsche umschlingt er sie mit dem Ziel, sie am Gehen zu hindern. „Er sah, wie sie erbebte und unsäglich litt, aber die Zärtlichkeit der Selbstsüchtigen ist der Grausamkeit verwandt.“ (Ebner 1980: 44) Die übermäßige Selbstliebe der Figuren zeigt sich zweitens in ihrer fehlenden Empathiefähigkeit, die einen Prozess der Dezentrierung voraussetzt, durch den die Welt erst aus der Sicht eines anderen wahrgenommen werden kann. Solch ein Perspektivenwechsel ist Heißenstein nicht möglich. Als Rosa ihn auf Knien anfleht, sie mit Fehse zu verheiraten, erlischt in ihm „das bißchen Mitleid, das er mit einem Geschöpf empfinden konnte, das sich ihm widersetzte […]. Daß sie es noch hoffte, daß sie noch meinte ihren Willen durchzusetzen, daß sie es noch versuchte, das empörte ihn.“ (Ebner 1980: 35) Anstatt sich mit Rosas Gedanken und Emotionen auseinanderzusetzen, wertet er ihren Widerstand als Angriff auf die eigene Person. Ähnlich hartherzig zeigt sich auch Nannette, die alles dafür tut, eine Versöhnung zwischen Vater und Tochter zu verhindern; und auch Regula ist jedes „tieferen Gefühls“ (Ebner 1980: 130) unfähig, wie der Erzähler betont. Alle Figuren folgen ähnlich wie Grillparzers und Gotthelfs ‚Ordnungsstörer‘ drittens ausschließlich ihren Neigungen und versuchen, ihren individuellen Willen gegen alle Widerstände rücksichtslos durchzusetzen. Genauso wie Heißenstein von Rosa fordert, Fehse zu entsagen, strebt
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Nannette danach, „ihrer Tochter die alleinige Herrschaft über das Haus und all seiner reichen Güter für die Zukunft zu sichern.“ (Ebner 1980: 37) Auch Regula kümmert sich bloß um sich selbst – um ihren sozialen Aufstieg durch die von ihr angestrebte Heirat mit Ronald Rondsperg und die Sicherung ihres materiellen Besitzes. Dabei versuchen insbesondere die weiblichen Figuren ihren Egoismus durch Verstellung zu verbergen. Sie gerieren sich als moralisch integer, indem sie etwa im geeigneten Moment eine „Anstandszäre“ vergießen, mit dem Ziel, die „Bewunderung der ganzen Stadt“ auf sich zu ziehen. (Ebner 1980: 73, 70) Wie der Erzähler betont, ist es Nannette (und Regula) eine Freude, sich einen „Verdienst aus einer Handlung [zu] machen“, die ihnen „zum Nutzen“ gereicht. (Ebner 1980: 70) Während sie zwischen „Schein und Wesen“ nicht differenzieren und davon überzeugt sind, dass jeder, der in den Augen anderer „achtungswert“ (Ebner 1980: 73) wirkt auch achtungswert ist, vertritt der Erzähler wie der von Ebner-Eschenbach verehrte Schopenhauer in seiner Preisschrift über die Grundlagen der Moral (1840) die Position, dass nur solche Handlungen als tugendhaft gelten können, von denen man sich keinen „Nutzen“ erhofft, „sei es in dieser, oder einer andern Welt“; mit denen man also auch nicht „seine Ehre, seinen Ruf bei den Leuten, die Hochachtung irgend jemandes […] u. dgl. mehr im Auge hat“. (Schopenhauer 102012: 738) Nicht die Wirkung, sondern allein das Motiv einer Tat entscheidet über ihren moralischen Wert.4 Im Unterschied zu den weiblichen Figuren handeln die männlichen ‚Ordnungsstörer‘ impulsiv. Ihnen fehlt es an der für eine Verstellung notwendigen Selbstbeherrschung. Wie ungehalten Heißenstein auf Enttäuschungen reagiert, zeigt sich etwa bei der Geburt seiner Tochter. Mit einer Verwünschung stürzte er auf die Verkünderin der unwillkommenen Botschaft [Božena, N.B.] los, stieß sie vor die Brust, daß sie taumelte und ging – nicht zu seiner schwer kranken Frau, nicht zu dem neugeborenen Kinde, sondern zurück in sein Gemach, dessen Thür er hinter sich zuwarf und verriegelte. (Ebner 1980: 14)
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Laut Schopenhauer gibt es nur „einen einzigen Fall […], in welchem dies [der Egoismus, N.B.] nicht statthat: nämlich wenn der letzte Beweggrund zu einer Handlung oder Unterlassung geradezu und ausschließlich im Wohl und Wehe irgendeines dabei passive beteiligten andern liegt, […] ganz allein das Wohl und Wehe eines andern im Auge hat und durchaus nichts bezweckt, als daß jener andere unverletzt bleibe oder gar Hülfe, Beistand und Erleichterung erhalte. Dieser Zweck allein drückt einer Handlung oder Unterlassung den Stempel des moralischen Wertes auf; welcher demnach ausschließlich darauf beruht, daß die Handlung bloß zu Nutz und Frommen eines andern geschehe oder unterbleibe.“ (Schopenhauer 102012: 739)
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Ähnlich aggressiv verhält er sich nach Rosas Flucht. „Augenblicklich fordert seine Qual ein Opfer, an dem sie sich rächen kann. Schäumend, mit der blinden Wut eines Tieres dringt er auf Božena ein und schmettert sie zu Boden.“ (Ebner 1980: 40) Genauso wenig wie Heißenstein ist auch der schöne Bernhard Meister über sich selbst. Hinweis darauf ist – ähnlich wie in Tolstois Herr und Knecht oder Gotthelfs Uli der Knecht – sein übermäßiger, enthemmend wirkender Alkoholkonsum. Ihren individuellen Willen verabsolutierend, vernachlässigen die ‚Ordnungsstörer‘ viertens und letztens ihre Pflichten, hier mit Schopenhauer definiert als solche „Handlungen, deren bloße Unterlassung ein Unrecht ist“ (Schopenhauer 102012: 753). So entscheidet sich etwa Nannette bewusst dagegen, Rosa an ihrer Flucht mit Fehse zu hindern: [I]hr Gewissen ruft ihr zu: Verhindere Unheil – rette das Haus vor Schmach. Auf auf! den Mann geweckt – ein Wort, ein Ruf von ihm führt das verirrte Kind zurück. Noch ist es Zeit – thu deine Pflicht! […] Minuten vergehen, schwerwiegende Minuten. […] Sie läßt sie ungenützt vergehen. (Ebner 1980: 38)
Auch Regula fühlt sich nicht an ihre „heiligste Pflicht“ (Ebner 1980: 66) gebunden, sich nach Heißensteins Tod um Rosa zu kümmern. Lieblos überlässt sie das Mädchen sich selbst bzw. der Obhut Mansuets und Boženas. Genauso wie in der Kaufmannsfamilie Heißenstein und deren sozialem Umfeld finden sich auch ‚Ordnungsstörer‘ in der Aristokratenfamilie Rondsperg. So steht etwa die selbstbezogene und hartherzige Baronin den beiden bürgerlichen Frauen Nannette und Regula in nichts nach (vgl. Ebner 1980: 96f.). Der Familienbesitz und -zusammenhalt wird darüber hinaus durch den Grafen gefährdet, weil er ähnlich wie Heißenstein seinen individuellen Willen verabsolutiert. Angesichts der „fortschreitende[n] Ökonomisierung und Industrialisierung“ (Kucher 2002: 384) sowie den politischen Umwälzungen im Zuge der Revolution wird er als Repräsentant des „Ancien Régime […] unversehens an den Rand gedrängt“, den Ruin seiner „bislang auf Tradition, unrentable Renditen und Verpachtungen gestützten Rolle vor Augen“ (Kucher 2002: 384). Anstatt mit den soziostrukturellen Modernisierungsprozessen – etwa der Aufhebung des Patrimonialrechts – produktiv umzugehen, will er sie nicht anerkennen. Ohnmächtig blendet er die Realität aus und zieht sich in sein Schloss zurück. Fern von den sein Gut bewirtschaftenden Bauern will „er die Wiederkehr der alten Zeiten und die Wiedereinführung der alten, einzig gesetzlichen Gesetze erwarten. Bis dahin sollten die Leute nur sehen, wie sie fertig würden ohne ihn.“ (Ebner 1980: 56) Ganz in seinen „sanguinischen Einbildungen“ (Ebner 1980: 141) lebend, bringt er seiner Frau und seinen Kindern weder Liebe noch Achtung entgegen, was zu einer Entfremdung der Familienmitglieder führt. Wie der Erzähler betont, lebt die Gräfin
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„seit Jahren fast stumm“ neben ihrem Sohn her, weil sie über ihren Mann nicht klagen möchte, aber auch keine Unbekümmertheit vortäuschen kann; und auch zu ihrer entfernt lebenden „Lieblingstochter“ hat sie den Kontakt fast abgebrochen, weil ihr Mann eine allzu lebhafte Korrespondenz missbilligt. (Ebner 1980: 110) Genauso angespannt ist die Beziehung zwischen Vater und Sohn, weil der nicht zur Empathie fähige Graf seinem Sohn Ronald vorwirft, sich mit den rebellierenden Bauern zu solidarisieren, was er als Angriff auf seine Person wertet. Dessen Aufopferung für den Familienbesitz quittiert er daher mit stummen Vorwürfen, Zorn, Spott und Hohn. (Vgl. Ebner 1980: 115, 118f.) Den ‚Ordnungsstörern‘ werden in der Erzählung ähnlich wie bei Grillparzer und Gotthelf ‚Ordnungshüter‘ gegenübergestellt, von denen insbesondere der Dienstmagd Božena eine zentrale Bedeutung zukommt. Sie ist ihrer Herrschaft moralisch weit überlegen, worauf bereits die ihr vom Erzähler attribuierte außergewöhnliche Schönheit sowie ihre „Größe und Stärke“ (Ebner 1980: 17) verweisen. Konträr zu ihrem sozialen Status wird sie außerdem mit „Zügen des Majestätischen, Königlichen versehen und u. a. mit Brünhild, Krimhild und Maria Stuart verglichen“ (Langer 1998: 29).5 Wie im Folgenden zu zeigen ist, gelingt es ihr im Handlungsverlauf ähnlich wie Grillparzers und Gotthelfs Dienerfiguren, die eigenen Neigungen zu überwinden und sich stattdessen von Mitleid, Pflichttreue und Liebe leiten zu lassen. Ihre „Seelenstärke“ (Ebner 1980: 17) wird schließlich auch von Regula anerkannt – insofern handelt es sich um ein interdependentes Herrschaftsverhältnis. Vom Erzähler wird Božena zunächst ähnlich wie Heißenstein als äußerst impulsiv, widerständig und trotz ihrer „mütterliche[n] Zuneigung“ (Ebner 1980: 7) zu Rosa als wenig empathisch beschrieben – alles Eigenschaften, die wie oben erläutert von übertriebener Selbstliebe zeugen. Da „Kind und Haushalt ihres Herrn“ in ihren Augen „schwerlich besser betreut werden“ könnten als von ihr selbst, wertet sie Heißensteins Wunsch, noch einmal zu heiraten, als Entwertung ihrer Person. (Ebner 1980: 7) Aus diesem Grund begibt sie sich mit „ausgezeichnetem Frohmut“ an die Arbeit, als sie glaubt, dass ihr Herr von Nannette eine Abfuhr erhalten habe, und fühlt sich angesichts der bevorstehenden Hochzeit wie ein „König, dem Krone und Scepter plötzlich entrissen“ werden. (Ebner 1980: 8) Ihre neue Herrin kann sie nicht anerkennen. Permanent muss Nannette „auf der Hut sein vor einer stets kampfbereiten, hartnäckigen
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Vgl. u. a. Ebner 1980: 6, 7, 8, 12, 145. Aufgrund ihrer physischen und psychischen ‚Größe und Stärke‘ vertritt Heidi Beutin die Position, dass Božena den aus der Mythologie bekannten Typus der ‚Heldenjungfrau‘ verkörpere, vgl. Beutin 2003, Beutin 21995.
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Plänklerin, die auf jede Gelegenheit lauerte, die Feindseligkeiten selbst zu eröffnen“ (Ebner 1980: 11) und sie vor anderen bloßzustellen. Das ändert sich auch nicht, als Heißenstein ihr bedingungslosen Gehorsam befiehlt. Wie der Erzähler konstatiert, wäre „ein rauchender Vulkan leichter dahin zu bringen gewesen […], seine glühende Lava still hinabzuschlucken anstatt sie auszuwerfen, als Božena den Ausbruch ihres gärenden Grolls zu unterdrücken.“ (Ebner 1980: 11) Bezwungen wird die Dienstmagd schließlich nicht von ihrer Herrschaft, sondern von ihrer (Mutter-)Liebe. Als ein Konflikt mit Nannette eskaliert, entscheidet sie sich zunächst voll „Hochmut“ (Ebner 1980: 12) und Stolz dafür, ihren Dienst sofort aufzukündigen, wird am Gehen aber von Heißensteins Tochter Rosa gehindert: [I]hr Zorn, ihr Trotz, ihre Stärke – alles dahin! Sie hebt den Schützling empor und preßt ihn voll inbrünstiger Liebe an ihre Brust. Ein letzter Kampf und die Gewaltige beugte sich […] vor der Herrin, die sie verabscheute, beinahe bis zur Erde. Zum erstenmal im Leben kam ein Wort der Versöhnung aus ihrem Munde. (Ebner 1980: 13)6
Durch die Liebe zu ihrer ‚Pflegetochter‘ wird Bo žena zur Selbstbeherrschung und zur Überwindung ihrer Selbstliebe fähig. Denn der „letzte Beweggrund“ ihres Handelns – ihrer Entscheidung, im Haus der Heißensteins zu bleiben – liegt hier „geradezu und ausschließlich im Wohl und Wehe“ Rosas. (Schopenhauer 102012: 739) Als „Pflegemutter“ (Ebner 1980: 40) kümmert sich Božena fortan aufopferungsvoll um das ihr anvertraute Mädchen und kommt damit der von den Heißensteins unterlassenen elterlichen Pflicht nach, ihr Kind „zu erhalten, bis es sich selbst zu erhalten fähig ist“ (Schopenhauer 102012: 754). Das ändert sich, als sich Božena in den eitlen Jäger Bernhard verliebt und ihm – ihren Neigungen ausgeliefert – „demütig wie ein Hund seinem Herrn“ (Ebner 1980: 21) folgt. In dieser Zeit ist sie laut dem Erzähler „eine lahmgelegte Kraft“, die all ihre „Seelenstärke“ für sich allein
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Aus Liebe zu Rosa unterwirft sich Božena zwar ihrer Herrschaft, bringt Nannette aber keine Anerkennung entgegen. Das manifestiert sich etwa in ihrer Freude darüber, dass diese keinen Sohn geboren und bei der Geburt stark geschwächt worden ist. ‚Jauchzend‘ erklärt sie der von ihr geliebten Rosa: „Er kann keinen Sohn – er wird keine Tochter haben als dich – du bleibst die einzige…Die dort sterben! […] [D]u lebst, du wirst leben – und schön und reich und glücklich sein!“ (Ebner 1980: 14) Dass sich Božena Nannettes Tod herbeiwünscht, hat die Forschung mitunter als Beleg dafür gedeutet, dass die Dienstmagd „keineswegs ein Muster an Tugend“ (Ebner 1980: 301) ist. Mit Schopenhauer ließe sich Boženas Ausruf aber als Wunsch deuten, „versuchtes Unrecht abzuwehren“ (Schopenhauer 102012: 749). Jede Handlung aber, die der Abwehr dient, ist rechtens. „Denn keine Teilnahme am andern, kein Mitleid mit ihm kann mich auffordern, mich von ihm verletzen zu lassen, d. h. Unrecht zu leiden.“ (Schopenhauer 102012: 749)
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braucht, und das in einer Situation, in der Rosa „einer Stütze am bedürftigsten gewesen wäre“. (Ebner 1980: 17) Ganz auf die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse konzentriert, schätzt sie Rosas Liebe zu Fehse falsch, als „unschuldige Schwärmerei eines Kindes“ (Ebner 1980: 33), ein und ermöglicht ihr unbewusst die Flucht, indem sie die besagte Nacht bei ihrem Geliebten verbringt. Rosa und sich selbst gegenüber zur Treue verpflichtet, macht sich Božena hier auf doppelte Weise schuldig: einmal sich selbst gegenüber, indem sie sich gegen ihre Überzeugung an den unwürdigen Bernhard verliert, zum anderen Rosa gegenüber, weil sie – eben wegen ihrer Liebesleidenschaft – die Sorgepflicht für das Mädchen vernachlässigt und seinen Weg ins Elend nicht verhindert. (Ebner 1980: 314)7
Erst nach Rosas Flucht gelingt es Božena, ihre sexuellen Leidenschaften zu überwinden und die sittliche Stärke aufzubringen, sich von Bernhard loszusagen (vgl. Ebner 1980: 44f.). In dem Wissen, ihren mütterlichen und moralischen (Selbst-)Verpflichtungen nicht nachgekommen zu sein, folgt sie Rosa in die Fremde, „um nicht durch erneutes Unterlassen einer Handlung, nämlich der vorbehaltlosen Unterstützung Rosas, ein abermaliges Unrecht zu begehen“ (Lohmeyer 2002: 156) und um ihre Verfehlungen zu sühnen. Fortan zeichnet sich Božena im Gegensatz zu den ‚Ordnungsstörern‘ durch altruistisches Handeln aus. Das manifestiert sich erstens in ihrer (mütterlichen) Pflichttreue. Aufopferungsvoll sucht sie die ihre beiden Pflegetöchter Rosa und Röschen quälenden „Dornen des Lebens in Blumen“ (Ebner 1980: 42) zu verwandeln. Wie stark sie sich zu Gunsten ihrer Schützlinge zurücknimmt, zeigt sich nicht zuletzt in ihrem „widerspruchslos[en] Gehorsam“ und ihrer „stündliche[n] Selbstverleugnung“ Nannette gegenüber. (Ebner 1980: 94) Zweitens erweist sich Božena – ähnlich wie Grillparzers und Gotthelfs ‚Ordnungshüter‘ – als pflichttreu gegen sich selbst. Die Magd entsagt
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Von der Forschung ist die Frage, ob und inwiefern sich Božena hier wirklich schuldig macht, kontrovers diskutiert worden. So meint etwa Heidi Beutin, dass „die Ereignisse im Hause Heißenstein auch ohne Boženas Pflichtversäumnis auf die Flucht Rosas hinausgelaufen“ (Beutin 21995: 43) wären; und auch Esther Riehl und Enno Lohmeyer halten Boženas Schuld für „minimal; die eigentliche Problematik liegt bei der Zerrüttung auch dieser bürgerlichen Familie, die Rosa zu der Verzweiflungstat veranlasst.“ (Lohmeyer 2002: 112, vgl. Riehl 2000: 19f.) Dagegen hat Kurt Binneberg mit Recht eingewendet, dass „der ,objektive‘ Sachverhalt nicht das ,subjektive‘ Schuldbewußtsein der Titelheldin“ verringert, „ihre Pflicht gegen Rosa versäumt zu haben. Weniger der Tatbestand als die hohe moralische Empfindlichkeit der Magd entscheidet über den Schuldbegriff. Daß Heißenstein der wahre Urheber für das Unglück seines Kindes ist und daß Rosa ihrer eigenen Auffassung zufolge gar nicht ins Unglück geht, kann Božena keine Entlastung bringen.“ (Ebner 1980: 315)
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ab sofort ihren sexuellen Leidenschaften, um nicht noch einmal gegen ihre „Natur“ zu ‚freveln‘, d. h. gegen die selbst auferlegten Tugendpflichten zu verstoßen. (Ebner 1980: 45) Für ihre Pflegetöchter und für sich selbst wird sie zur Meisterin über sich selbst. Indem sie „die Liebe zum Mann mit der Liebe zum Kinde vertauscht“ (Wucherpfennig 1995: 327), wird aus der ‚schönen‘ am Ende des Handlungsverlaufs die ‚gute Božena‘ (vgl. Ebner 1980: 6, 151).8 Voraussetzung für den Božena kennzeichnenden Altruismus ist für Schopenhauer das Mitleid, eine dritte Qualität, die der Magd im Unterschied zu ihrer Herrschaft eigen ist.9 Das zeigt sich etwa in ihrem Schmerz, den sie angesichts von Heißensteins schlechtem Gesundheitszustand bei ihrer Rückkehr mit Röschen nach Weinberg empfindet. Mitleid wird ihr auch von Mansuet und Schimmelreiter attribuiert, die davon überzeugt sind, dass Božena „ohne zu Zögern jedes Opfer“ (Ebner 1980: 82) für Röschen bringen würde. Im Gegensatz zu Nannette und Regula, die ihren Egoismus durch Verstellung zu verbergen suchen, zeichnet sich Božena viertens durch ihre Aufrichtigkeit aus. Darin gleicht sie Grillparzers ‚treuem Diener‘ und Gotthelfs Uli. Laut Mansuet ist sie „wahr wie der Tag“ (Ebner 1980: 81). Aus diesem Grund leidet sie darunter, ihre Gefühle für Bernhard vor ihrem sozialen Umfeld verbergen zu müssen; und als er die Affäre Jahre später öffentlich machen will, gesteht sie ihre Verfehlung trotz der Gefahr, dafür sozial ausgegrenzt zu werden. Wider Erwarten gewinnt Božena durch ihre Offenheit aber die Anerkennung und die „Liebe“ (Ebner 1980: 89) ihrer Mitmenschen. Sogar Regula flößt sie die „Beklemmung und das
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Genauso kontrovers wie die Frage, ob und inwiefern sich Božena schuldig gemacht hat, ist auch erörtert worden, ob sie sich für Rosa wirklich altruistisch aufopfert. Schließlich ist der „selbstlose Einsatz für das Wohl und Wehe des anderen […] offenbar nicht mehr so selbstlos, wenn Božena all die Opfer nur bringt, um ihre eigene Schuld zu tilgen. Es käme dadurch ein Eigeninteresse ins Spiel, und möglicherweise ringt Božena sogar mehr um ihren eigenen Seelenfrieden als um das Glück Röschens.“ Mit Kurt Binneberg lässt sich aber einwenden, dass die „Tatsache, daß Božena sich Rosa gegenüber schuldig fühlt […] überhaupt erst durch eine altruistische Grundeinstellung ermöglicht“ wird. „Schuldbewußtsein kann ohne ein so hohes Maß an Verantwortungsgefühl für den anderen, wie Bo žena es besitzt, nicht zustande kommen. Und dieses Verantwortungsbewußtsein ist ein Ausdruck des Altruismus.“ (Ebner 1980: 315) Vgl. Schopenhauer 102012: 740. Altruistisches Handeln „aber setzt notwendig voraus, daß ich bei seinem Wehe [dem eines anderen, N.B.] als solchem geradezu mit leide, sein Wehe fühle wie sonst nur meines und deshalb sein Wohl unmittelbar will wie sonst nur meines. Dies erfordert aber, daß ich auf irgendeine Weise mit ihm identifiziert sei, d. h. daß jener gänzliche Unterschied zwischen mir und jedem andern, auf welchem gerade mein Egoismus beruht, wenigstens in einem gewissen Grade aufgehoben sei.“
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Unbehagen“ ein, „die in den Seelen engherziger Menschen die Ehrfucht ersetzen.“ (Ebner 1980: 90) Fünftens und letztens strebt Božena nach Gerechtigkeit – für Schopenhauer genauso wie die „Menschenliebe“ eine ‚Kardinaltugend‘, weil aus beiden „alle übrigen praktisch hervorgehn und theoretisch sich ableiten lassen.“ (Schopenhauer 102012: 745) Ihr Ziel, ihrer Pflegetochter zu ihrem rechtmäßigen Erbteil zu verhelfen, kann sie schließlich auch erreichen, indem sie Regula unter Druck setzt. Sollte diese eine Heirat zwischen Ronald und Röschen verhindern und ihnen nicht das Schloss Rondsperg als Mitgift überlassen, will sie ihre Untaten publik machen. In dem Wissen, dass die Öffentlichkeit der aufrichtigen Božena glauben wird, muss Regula der Magd ihren Wunsch erfüllen. Ähnlich wie in Gotthelfs Uli der Knecht werden auch hier die ‚Ordnungshüter‘ für ihr altruistisches und pflichttreues Handeln mit einer inneren Zufriedenheit belohnt, die „man den Beifall des Gewissens nennt“ (Schopenhauer 102012: 736), während die ‚Ordnungsstörer‘ von unangenehmen Gefühlen gequält werden. So verfällt Heißenstein in einen ihn krank machenden „dumpfen Trübsinn“ (Ebner 1980: 54), nachdem er seine Tochter verstoßen hat, und auch Nannette wird sterbenskrank, weil sie ihre ‚heiligsten Pflichten‘ (vgl. Ebner 1980: 71f.) gegenüber Rosa und Röschen verletzt hat. Ob Nannettes Pein wirklich auf ihr schlechtes Gewissen zurückgeführt werden kann, ist allerdings fraglich, weil sie bis zu ihrem Tod auf den eigenen Vorteil bedacht bleibt. Wie sie Regula erklärt, leidet sie weniger darunter, die Versöhnung zwischen Rosa und ihrem Vater verhindert zu haben, als darunter, sich ihrem Mann gegenüber nicht großherziger geriert und sich gegen seinen Wunsch ausgesprochen zu haben, man möge Božena und Röschen entgegen eilen und sie nach Weinberg bringen. „Es wäre dadurch nichts verdorben worden“ – Regula wäre auch als Universalerbin eingesetzt worden, wenn Röschen früher nach Weinberg zurückgekehrt wäre, – und in Heißensteins Augen hätte sie „edel“ gehandelt. (Ebner 1980: 72) Mit Schopenhauer lassen sich Nannettes Melancholie und ihre plötzliche Frömmigkeit als Furcht vor möglichen negativen Folgen ihres Handelns, etwa durch Vorwürfe anderer, werten. In seiner Preisschrift Über die Grundlage der Moral heißt es: Wenigstens gibt es auch eine conscientia spuria [ein unrechtes Gewissen], die oft mit demselben [dem Gewissen, N.B.] verwechselt wird. Die Reue und Beängstigung, welche mancher über das, was er getan hat, empfindet, ist oft im Grunde nichts anderes als die Furcht vor dem, was ihm dafür geschehn kann. Die Verletzung äußerlicher, willkürlicher und sogar abgeschmackter Satzungen quält manchen mit inneren Vorwürfen ganz nach Art des Gewissens. (Schopenhauer 102012: 722)
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Wie erläutert, führt Ebner-Eschenbach den Zerfall der Kaufmannsfamilie Heißenstein auf das egozentrische Handeln der Familienmitglieder zurück. Stabilisiert bzw. wiederhergestellt wird die familiäre Ordnung durch die sich der christlichen und der Schopenhauer’schen Ethik verpflichtende Dienstmagd Božena. Durch ihr altruistisches Handeln widerfährt ihrem Schützling Röschen poetische Gerechtigkeit, während es den ‚Ordnungsstörern‘ nicht gelingt, ihren Willen durchzusetzen.10 Wie in den Texten von Grillparzer und Gotthelf beginnt auch in dieser Erzählung alle „Veränderung […] beim Individuum, nicht bei Institutionen, nicht beim Kollektiv.“ (Rossbacher 1992: 121) Ziel ist die Überwindung der Selbstliebe und die Negation der eigenen Leidenschaften zur Konstituierung einer humanen Gemeinschaft. Dabei ist die familiäre Ordnung genauso wie bei Gotthelf Fundament und Paradigma der politischen. Nicht zufällig ist die Handlung in die Jahre vor und nach der Märzrevolution eingebettet. Dabei ist auffällig, dass die Revolution von fast allen Figuren – auch von den „potentiellen Nutznießer[n] sozialer Veränderungen, Heißenstein und de[m] Dienstbote[n] Mansuet“ (Kucher 2002: 384) – negativ bewertet wird. Das wird deutlich, als Mansuet von den Anhängern der tschechischen Nationalbewegung zur Pflege seiner böhmischen Wurzeln und damit zu politischem Handeln aufgefordert wird.11 Anstatt sich den Aktivisten anzuschließen, ersucht „Mansuet die Herren, sich zum Teufel zu scheren. Er hatte andre Sorgen. Seine Seele, sein Herz, alle seine Gedanken befanden sich auf den Schlachtfeldern in Ungarn“ (Ebner 1980: 58), wo Wilhelm von Fehse stationiert ist. Sein einziges Interesse gilt seiner Herrschaft bzw. der ‚Familie‘, nicht seiner politischen Gleichstellung als Teil der tschechischen Minderheit im Vielvölkerstaat. Genauso wie Božena nimmt er die bestehende politisch-soziale Ordnung ohne Widerspruch hin, ein weiteres Zeichen dafür, dass in der Erzählung nicht für eine politische Revolution, sondern für eine ‚Revolution der Gesinnungen‘ plädiert wird.
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Wie die gendertheoretische Forschungsliteratur häufig hervorgehoben hat, korreliert die Idealisierung der (mütterlich) liebenden Magd Božena mit einer Kritik am Patriarchat (vgl. u. a. Beutin 21995, Langer 1998, Riehl 2000). Beide Familienoberhäupter – Heißenstein und der Graf Rondsperg – werden für ihr selbstbezogenes, gefühlskaltes Handeln verurteilt. Das Gleiche gilt für Nannette und Regula, laut Mansuet „das unmütterlichste Frauenzimmer, das ihm jemals vorgekommen“ (Ebner 1980: 82) ist. Der Erzähler wirbt für die Verknüpfung von männlich konnotierter Seelenstärke mit dem „Herz eines Weibes“ (Ebner 1980: 44). Das ändert aber nichts an der Geschlechterhierarchie, wird doch die Kraft des „dienstbereiten affirmativen, weiblich bestimmten Daseins“ (Schüppen 1997: 50) zum Vorbild erhoben. Zur tschechischen Nationalbewegung im Habsburgerreich vgl. u. a. Koralka 1991.
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Marie von Ebner-Eschenbach versucht zu beweisen, dass es dem Individuum entgegen der Theorien von Marx und des Naturalismus möglich ist, das Milieu und den negativen Einfluss eines von der Obrigkeit gesteuerten sozialen Wertesystems durch das Bekenntnis zum grundsätzlich in der menschlichen Seele im Keim angelegten Guten zu überwinden. (Lohmeyer 2002: 147f.)
Davon zeugen auch ihre Aphorismen, in denen es etwa heißt: „Es gäbe keine soziale Frage, wenn die Reichen von jeher Menschenfreunde gewesen wären.“ (Ebner 1920: 623) Auch wenn sich Ebner-Eschenbach für die Erhaltung der bestehenden politisch-sozialen Hierarchien ausspricht und einen konservativen Wertekatalog propagiert, „der Treue, soziales Empfinden, Humanität, Vernunft, Echtheit und Natürlichkeit umfasst und der seine Wurzeln in der Aufklärung und im Christentum hat“ (Schmid-Bortenschlager 2009: 48f.), ist sie nicht reaktionär. Schließlich wird der alte Rondsperg in der Erzählung für sein „Festhalten an leeren Traditionsformen“ (Ebner 1980: 259) kritisiert. Während er die soziostrukturellen Modernisierungsprozesse seiner Zeit auf Kosten seiner Familie ignoriert, weiß die Gräfin, dass das „zusammenstürzen“ muss, „was morsch und reif zum Untergang ist – der Wechsel alles Irdischen verlangt sein Recht.“ Daher ermutigt sie ihren Sohn, sich über den Willen seines Vaters hinwegzusetzen und sich auf seine „Zukunft“ zu konzentrieren. (Ebner 1980: 111) Angesichts der leidvollen Flucht von Rosa und Wilhelm von Fehse ist die Durchsetzung der eigenen Interessen gegen den Willen der Eltern aber keine Option. Von der Beobachtung ausgehend, dass das Schicksal der beiden Liebenden am engsten „mit den Revolutionsereignissen verbunden“ ist, hat Kurt Binneberg ihre Verbindung als Symbol für eine „revolutionäre Tat“ gewertet. (Ebner 1980: 259) Der Widerstand gegen den patriarchalisch herrschenden Vater kennzeichnet das Aufbegehren der jungen Generation. Darüber hinaus ist die Ehe zwischen einem Hochadligen und einer Bürgerlichen in der Mitte des 19. Jahrhunderts ein ungewöhnlicher Vorgang (Ebner 1980: 259).
Dass Rosa ihre Rebellion mit dem Tod bezahlen muss – ihr Leiden unter der „Unversöhnlichkeit“ (Ebner 1980: 60) des Vaters bringt sie um – zeigt, dass der radikale Bruch mit der Familie bzw. der Tradition durch eine Revolution in der Erzählung genauso abgelehnt wird wie das reaktionäre Festhalten an überholten Normen und Werten. Das illustriert auch Ronalds Begegnung mit den drei Männern – „Großvater, Vater und Enkel“ – auf seinem Spaziergang mit Röschen. Während die beiden Älteren vor ihm den Hut ziehen, hält der Junge die Arme gekreuzt und blickt „gleichgültig vor sich hin“. (Ebner 1980: 124) Dieses ungebührliche Verhalten, das Folge der revolutionären Umwälzungen ist, kann Ronald nicht akzeptieren: „Nicht meinetwegen […] aber deinetwegen. Hut ab, mein
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Junge, wenn dein Vater und dein Großvater die Häupter entblößen, sonst stehst du einst mit dem Hut in der Hand vor deinen Kindern.“ (Ebner 1980: 124) Wie das Zitat deutlich macht, fordert Ronald von seinem Gegenüber, seiner Familie Respekt durch Achtung der Tradition entgegenzubringen. Nur wenn er die Älteren achtet, wird er wiederum von seinen Kindern geachtet und umsorgt werden. Der drohende Generationenkonflikt zwischen Ronald und seinem Vater wird schließlich von Božena gelöst, indem sie Regula davon überzeugt, der Heirat mit Röschen zuzustimmen. Mit der standesübergreifenden Heirat vermittelt sie außerdem zwischen Adel und Bürgertum, wodurch die Grafenfamilie ihr Familienerbe erhalten kann.12 Durch ihre Pflichttreue gewährleistet sie ein dem ‚Ganzen Haus‘ vergleichbares, von Nächstenliebe, Mitleid und Achtung geprägtes stände- und generationenübergreifendes gesellschaftliches Zusammenleben. Rekapitulierend sei festgehalten, dass Ebner-Eschenbach ähnlich wie Gotthelf für die Restitution bzw. Stabilisierung einer dem ‚Ganzen Haus‘ vergleichbaren ständeübergreifenden sozialen Ordnung eintritt, die sich aus der Tradition herleitet und in der sich die Menschen der christlichen Ethik verpflichten. Statt konkreter politischer Reformen zielt die Erzählung also ebenso wie die Texte von Grillparzer und Gotthelf auf die Vermittlung sittlicher Werte, die im privaten und öffentlichen Bereich Wirksamkeit besitzen. Die vorgeführte soziale Ordnung wird ähnlich wie bei Grillparzer und Gotthelf dadurch gefährdet, dass einige Figuren – vor allem Heißenstein, Nannette, Regula, der alte Rondsperg und Bernhard – ihr Ego verabsolutieren. Das manifestiert sich in ihrer fehlenden Empathiefähigkeit, ihrer mangelnden Selbstbeherrschung, der Verschleierung ihres Egoismus durch Verstellung, der Vernachlässigung ihrer Tugendpflichten, ihrer Missachtung anderer, von denen sie umgekehrt soziale Wertschätzung erwarten sowie ihrer Angst vor einem Machtverlust angesichts Boženas moralischer Überlegenheit. Der gelingt es durch ihre mütterliche Liebe zu Rosa, ihre Selbstliebe zu überwinden und sich selbst zu beherrschen. Pflichttreu gegenüber sich selbst und anderen sowie aufrichtig, empathisch und altruistisch liebend, setzt sie sich fortan für das Wohl ihrer Pflegetochter und deren Tochter Röschen ein. Auf diese Weise gelingt es ihr, ihr Pflichtversäumnis Rosa gegenüber zu sühnen, Röschen zu ihrem Recht zu verhelfen und zwischen verschiedenen sozialen Gruppen und Generationen zu vermitteln. Fraglich bleibt aber, ob jedes Individu-
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Mit dieser „bürgerlich-aristokratischen Synthese“ liefert Ebner-Eschenbach ein fiktives Modell für einen „sozialgeschichtlichen Vorgang aus dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, der Mitteleuropa bis zum Weltkrieg prägt.“ (Schüppen 1997: 49)
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um zu solch sittlichem Handeln fähig ist. So ist sich Božena unsicher, ob sich ihr Geliebter Bernhard „anders“ (Ebner 1980: 44), d. h. moralisch integer, verhalten kann. „Wenn die charakterliche Güte aber eine Sache der wesensmäßigen Veranlagung ist, dann wird der Darstellung von sittlicher Entwicklung von etwaigen pädagogischen Tendenzen der Boden entzogen“ (Ebner 1980: 319). Der noch Gotthelfs Roman kennzeichnende aufklärerische Optimismus, dass sich die sozialen Missstände der Gegenwart durch eine ‚Revolution der Gesinnung‘ beseitigen lassen, erweist sich hier als brüchig.13 Wie die Texte von Grillparzer und Gotthelf muss auch Božena als literarästhetisch konservative Erzählung kategorisiert werden. Schon Peter Sprengel hat festgestellt, dass sie einem „recht triviale[n] Handlungsmuster“ folgt und „auch weitgehend mit trivialen Mitteln erzählt wird“. (Sprengel 1998: 276) Davon zeugen unter anderem die in der Erzählung propagierten ethischen Normen, die – wie unter anderem Helmut Koopmann hervorgehoben hat – Ideale der Aufklärung sind (vgl. Koopmann 1997: 175); außerdem das moraldidaktische Wirkungsziel, die TugendLaster-Antithetik und der „Märchenschluß“, an dem die „Bösen bestraft“ werden „und die Tugenhaften ihren Lohn halten“. (Ebner 1980: 301) Dass Ebner-Eschenbachs Erzählungen anachronistisch oder ‚altmodisch‘ wirken, ist vielfach konstatiert worden.14 Das führen Josef Rattner und Gerhard Danzer darauf zurück, dass die „Quellen ihres Denkens, Fühlens und Empfindens“, wie erläutert, „im erziehungsgläubigen 18. Jahrhundert zu suchen“ sind, das „den Menschen ein großes Maß an Freiheit, Aufklärung, Bildung und Entwicklung zugestand. Lessing, Goethe und Schiller ebenso wie die französischen und englischen Aufklärer und Literaten bildeten den geistigen Humus und Hintergrund“ für das literarische Schaffen der Autorin. (Rattner/Danzer 2004: 72) * Ziel des Kapitels war die Profilierung einer konsensuellen Figuration interdependenter Herrschaft in der literarischen Diskussion seit der Aufklärung, nämlich die Idealisierung der Pflichttreue als Mittel zur Stabilisierung der bestehenden politischen bzw. sozialen Ordnung, die zugleich Ausdruck einer höheren vernünftigen ethischen Ordnung ist. In den analysierten Texten wird von Herr und Knecht gefordert, den eigenen individuellen Willen zu Guns-
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Hier ließe sich eine weitere Parallele zu Schopenhauer ziehen, der davon ausgeht, „daß der Charakter unveränderlich sei und daher, was einer einmal getan hat, er unter ganz gleichen Umständen unausbleiblich wieder tun werde.“ (Schopenhauer 202012: 718) Vgl. u. a. Koopmann 1997: 174, Rattner/Danzer 2004: 72.
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ten der sozialen Gemeinschaft zu negieren. Dieser Pflicht kommen die ihr Ego verabsolutierenden Herren nicht nach. Sie missachten ihr soziales Umfeld, insbesondere die ihnen moralisch überlegenen Bedienten, und versuchen, ihre individuellen Interessen gegen den Willen anderer rücksichtslos durchzusetzen. Insofern formulieren die genannten Texte trotz ihrer systemstabilisierenden Intention immer auch (vorsichtige) Kritik an dem Fehlverhalten der Herrschenden und damit an bestehenden sozialen oder politischen Missständen. Aufgrund ihrer sittlichen Größe fühlen sich die pflichttreuen DienerInnen trotzdem an die propagierten Tugend- und Rechtspflichten gebunden und tragen auf diese Weise maßgeblich zur Stabilisierung bzw. Restitution der gefährdeten Ordnung bei. Die systemstabilisierende Textintention korreliert auf der Darstellungsebene in allen Fällen mit der Orientierung an literarästhetischen Konventionen. Alle Autoren rekurrieren darüber hinaus auf Topoi, Werte und Normen des 18. Jahrhunderts, ein Grund, warum die Texte bei allen genrespezifischen Unterschieden Gemeinsamkeiten aufweisen. Wie skizziert, werden pflichttreue DienerInnen vor allem, aber nicht nur in antindividualistischen Genres mit mehr oder weniger ausgeprägter restaurativer Tendenz glorifiziert, so etwa im patriotischen republikanischen Trauerspiel des 18. Jahrhunderts, in der traditionalistisch-affirmativen Heimatliteratur des 19. Jahrhunderts oder auch in der völkischnationalen Blut- und Bodenliteratur des 20. Jahrhunderts.15 Kontrastierend dazu ist die Pflichttreue spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg auch vielfach problematisiert worden, so etwa in Kazuo Ishiguros Was vom Tage übrig blieb (The Remains of the Day, 1989). In dem mit dem Booker Prize ausgezeichneten und 1993 verfilmten Roman wird aus autodiegetischer Perspektive von dem englischen Butler Stevens berichtet, der seinem mit den Nationalsozialisten sympathisierenden Herrn – dem Lord Darlington – pflichttreu ergeben ist. Sein Stolz auf seine Diensttreue wird im Handlungsverlauf demontiert, zum einen, weil er Darlington bei der Durchsetzung seiner verfehlten politischen Ziele unterstützt, und zum anderen, weil er ihm zu Gunsten auf die Realisierung seiner persönlichen Wünsche – auf die Liebe zu Miss Kenton – verzichtet. Dennoch hält er am Ideal der Pflichttreue fest, um seinen Lebensentwurf nicht in Frage stellen zu müssen.
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Angeführt seien etwa die Romane Der getreue Knecht (1934) von Erwin H. Rainalter, Herrin und Knecht (1936) von Rudolf Utsch, Der Knecht (1940) von Erich August Mayer oder Der Knecht Tobias (1941) von August Karl Stöger. In allen Texten zeichnen sich die jeweiligen Knechte, die im Handlungsverlauf sozial auf- oder absteigen (oder sich umbringen wie Roseggers Jakob der Letzte), durch ihre dienende Liebe und Treue zur Scholle aus.
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Genauso wie die Pflichttreue ist auch das von Gotthelf (und EbnerEschenbach) propagierte Sozialmodell des ‚Ganzen Hauses‘ kritisch in den Blick genommen worden, so etwa in Robert Walsers Der Gehülfe (1907). In dem Roman verdingt sich der junge Joseph Marti ein halbes Jahr bei dem erfolglosen Erfinder und ‚Hausvater‘ Carl Tobler, weil er sich von der Integration in seine Familie einen „Ausweg aus Einsamkeit und entfremdet erfahrener Arbeit“ (Wagner 1980: 119) erhofft. Wie u. a. Karl Wagner herausgestellt hat, wird Joseph Martis Hoffnung aber enttäuscht. Auch das ‚Ganze Haus‘, wo Entfremdung und Entpersönlichung aufgehoben werden sollen, vermag keine Nestwärme des Gefühls auszustrahlen, auch hier herrschen verstörte Fremde und Entfernung zwischen den Menschen. Die sozialen Beziehungen in diesem Haus sind von den Stigmata ihrer Zeit geprägt: Der Priorität des Geschäftes vor dem Menschen. (Wagner 1980: 123)
Im Unterschied zu Gotthelfs Roman Uli der Knecht, in dem das ‚Ganze Haus‘ die bestehenden sozialen Konflikte zu lösen vermag, wird es im Gehülfen in seiner Auflösung vorgeführt, ohne dass ein Vorschlag zur Beseitigung der bestehenden Missstände formuliert werden würde. Das lässt sich auf Walsers „Skepsis gegenüber unmittelbarer Didaxe“ (Wagner 1980: 170) zurückführen, die ihn von Gotthelf unterscheidet und die ihn auf einer Wanderung mit Carl Seelig urteilen lässt, dass ihm der Autor wie ein „Volksvergewaltiger“ vorkomme, „der sich erkühne, über alles seine pastorale Sauce zu gießen“. (Seelig 1990: 63)
V. Freiwillige Knechte Wie im letzten Kapitel werden auch im Folgenden interdependente Herrschaftsbeziehungen beleuchtet, in denen sich die Diener ihren Herrn unterwerfen. Im Unterschied zu den pflichttreuen Subalternen, die die bestehende politische und/oder soziale Ordnung zu stabilisieren suchen, ist die Unterordnung der Dienerfiguren hier als eine Form passiven Widerstands zu werten – als „Antwort auf den Verfall der Werte der europäischen, bürgerlichen Zivilisation“, als „Opposition gegen ihre Erfolgs- und Leistungsbesessenheit, gegen die korrupten Formen moderner Herrschaft.“ (Borchmeyer 1980: 2) Als paradigmatisches Beispiel für solch eine freiwillige Unterwerfung des Dieners wird zunächst Robert Walsers Jakob von Gunten (1909) analysiert (vgl. 1.) – ein Roman, der als Gegenmodell zu Friedrich Nietzsches Machtphilosophie zu deuten ist, auch wenn die Titelfigur als ‚Geistesaristokrat‘ konzipiert ist. Daran anschließend wird gezeigt, dass die freiwillige Unterordnung des seinem Herrn überlegenen Dieners auch in Hermann Lenz’ Roman Die Augen eines Dieners (1964) als Rückzug in ein ‚inneres Exil‘ angesichts der als krisenhaft erfahrenen (modernen) Gegenwart zu werten ist (vgl. 2.).
1. Freiwilliges Dienen als Rückzug in ein ‚inneres Exil‘ in Walsers Jakob von Gunten (1909) In seinem Nachwort zu Jakob von Gunten konstatiert Jochen Greven: „Dieser kleine Tagebuch-Roman ist seit seinem Erscheinen für die meisten Leser das merkwürdigste Buch eines merkwürdigen Schriftstellers geblieben – befremdlich und faszinierend, tiefsinnig und charmant, ganz schlicht und überaus kunstvoll“ (Greven 2003: 167). Aufgrund seiner „gänzlich undurchdringlich“ scheinenden „Gefüge von Begriffen, Werten und Absichten“ (Pérez-Minik 1979: 179) ist er so verschiedentlich gedeutet worden, dass Hans Dieter Zimmermann in seiner Studie zu Walser und Franz Kafka ernüchtert feststellt: „Ist der Interpret an Psychologie interessiert, wird er zu einer psychologischen Deutung kommen; ist er an Theologie interessiert, zu einer theologischen etc.“ (Zimmermann 1985: 139)1 In der Tat wird die Frage, was Walsers „‚Dienerschule‘ zu bedeuten“ (Zimmermann 1985: 139) habe, in der Forschung bis heute kontrovers diskutiert. Für Susanne Sethe legt „Walsers Darstellung der Schule und ihrer Lehrer […] eine theologische Deutung nahe. Anscheinend will das Institut Benjamenta junge Menschen auf einen Dienst im Sinne der Heiligen Schrift, auf einen Gottesdienst vorbereiten“ (Sethe 1976: 17), so Sethes Überlegung. Im Unterschied dazu entdeckt Zimmermann Berührungspunkte zu „mystischen Programmen“, zu „Zen-Übungen, […] Meister Eckhart, zur Theosophie“. (Zimmermann 1985: 170) Die meisten Arbeiten befassen sich allerdings mit Jakobs psychischer Konstitution, handelt es sich doch um einen Tagebuchroman, ein Genre, das sich „um 1910 auch jenseits der Unterhaltungsliteratur […] häuft – und zwar gerade in Romanen, die eine Identitäts- und Lebenskrise thematisieren“ (Sprengel 2004: 702).2 Jakobs (Selbst-)Erziehungsprogramm im Institut Benjamenta wird dabei in der Regel – ungeachtet unterschiedlicher Akzentuierungen –
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Vgl. auch den Forschungsüberblick von Zimmermann 1985: 139f. Als Beispiele führt Peter Sprengel neben Jakob von Gunten Rainer Maria Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1911), Gustav Sacks Ein Namenloser (entst. 1912/13), Franziska Gräfin zu Reventlows Herrn Dames Aufzeichungen (1913) und Reinhard Goerings Jung Schuk (1913) an; zum Tagebuchroman der Jahrhundertwende vgl. außerdem Gallus 2006: 42ff.
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Freiwillige Knechte
als Reaktion auf die „alltäglichen Koventionen“ (Gallus 2006: 68) oder repressiven Zwänge der Realität gewertet. Das von ihm proklamierte Ziel, eine „reizende, kugelrunde Null im späteren Leben“ (Walser 1978a: 8) zu werden, erscheint den Interpreten als „der einzig denkbare Widerstand gegenüber einer übermächtigen prosaischen Wirklichkeit“ (Gallus 2006: 74) oder als „Möglichkeit persönlicher Freiheit“ um den „Preis sozialer Anonymität“. (Avery 1979: 99, 120)3 Jakobs innere Konflikte sind außerdem aus psychoanalytischer,4 rollentheoretischer und zeichentheoretischer
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Vgl. u. a. Avery 1979, Gallus 2006, Grenz 1974, Greven 2009, Greven 1978, Hinck 2006, Jakob 1997, Naguib 1970, Pleister 1992, Philippi 1971, Walser 2004. Vgl. Fellner 2003, Liebrand 1999, Peeters 2004 und Von Matt 1991. In den genannten Arbeiten wird davon ausgegangen, dass es sich bei dem das Institut leitenden Geschwisterpaar Benjamenta um „eine Allegorie des Elternpaares“ (Hiebel 1978: 321) handelt. Davon ausgehend betont Liebrand im Rekurs auf Sigmund Freud und Jacques Lacan, dass die Dienerschule „bürgerlich-patriarchale Strukturen und ihre zugehörige Ideologie“ abbildet – „die Macht-Ohnmachts-Beziehungen zwischen Vätern (resp. Müttern) und Söhnen, die scheue (erotisch aufgeladene, wegen des Inzesttabus notwendig frustrierte) Liebe letzterer zu den Müttern“. Sie stellt die These auf, dass „Jakob in seinen Tagebuchaufzeichnungen diese Familienstrukturen nicht nur beschreibt, sondern daß er performative Strategien entwirft, die die familiale Matrix einerseits […] hervorbringen und andererseits außer Kraft setzen“. (Liebrand 1999: 346) So inszeniere der Schüler etwa „ein bürgerliches Familienspiel vom furchtbaren Vater und ausgelieferten Sohn – aus der potentiellen Tragödie eine Farce machend, das, was er mimetisch nachstellt, gleichzeitig subvertierend“ (Liebrand 1999: 353). Während Liebrand die Beziehung von Jakob und Benjamenta bis zum Ende des Romans für ‚uneindeutig‘ hält, wertet Peter von Matt das von Jakob imaginierte Bild einer gemeinsamen Reise durch die Wüste mit Freud als „aufgelösten Ödipus-Komplex“, als „Urversöhnung“ zwischen Vater und Sohn. „Allgemeiner, grundsätzlich-menschlich geredet, bedeutet es die Verwandlung von Herrschaft in Brüderlichkeit, von Macht in Solidarität.“ (Von Matt 1991: 197) Zu einem ähnlichen Schluss kommt Wim Peeters, der Jakob von Gunten mit dem LacanSchüler Pierre Legendre als „Neuinszenierung einer Gründungsszene“ liest, „in der das Verhältnis Gesetz – Vater emblematisch dargestellt wird. Denn wie das Werk Legendres kreist der Roman Jakob von Gunten um die Frage nach der Institution des Vaters. […] Walsers Text erzählt […] von den ‚Schwierigkeiten des symbolischen Platztauschs zwischen den Generationen‘, die nach Legendre symptomatisch für die industrialistische Kultur sind.“ (Peeters 2004: 180f.) Dabei werde das ‚Verwandtschaftsmodell‘ zwischen Jakob und Benjamenta am Ende durch ein ‚Freundschaftsmodell‘ abgelöst, vgl. Peeters 2004: 195. Karin Fellner, die den Roman ähnlich wie Liebrand auch aus geschlechtertheoretischer Perspektive untersucht, ist dagegen der Auffassung, dass Herr und Diener kein freundschaftliches Verhältnis verbindet. „Beide definieren ihre Beziehung zum anderen entscheidend über den Wechsel zwischen Omnipotenz- und Ohnmachtsgefühl. Das Hin- und Herspringen zwischen diesen komplementären Rollen verbindet die Figuren und collagiert sie schließlich zu einer unter Wechselspannung stehenden Persona.“ Ihre Reise sei daher als „Rückzug in ein geschlossenes System, in ein zwischen Größe und Kleinheit schwankendes präödipales Ich“ zu interpretieren. (Fellner 2003: 99)
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Perspektive – die „mathematische […] Metaphorik“ der Ziffer ‚Null‘ „beim Wort“ nehmend – analysiert worden. (Utz 2000: 488)5 Darüber hinaus sind erstens zahlreiche motivgeschichtliche Studien entstanden – etwa zum Großstadtbild oder zur Figur des Hoch- bzw. Tiefstaplers bei Walser und anderen europäischen Autoren der literarischen Moderne;6 zweitens sind die vielen komparatistischen Arbeiten anzuführen, die nach Parallelen zwischen Jakob von Gunten und Kafkas Romanen fragen;7 ein dritter Schwerpunkt der Forschung liegt auf der
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Vgl. Angerer 1995, Utz 2000. In seiner Arbeit vertritt Christian Angerer die These, dass Jakob „zu jenen Jugendlichen gehört, die, so Erik H. Erikson, vor den erdrückenden Erwartungen der Eltern Zuflucht zur ‚negativen Identität‘ inferiorer Rollen nehmen“ (Angerer 1995: 137). Da der Schüler die soziale Rolle des Dieners nicht verkörpere, sondern nur spiele und alle „Rollen, die auf engen persönlichen Bindungen beruhen“ (Angerer 1995: 143), zurückweise, gelange er schließlich zu Souveränität im Umgang mit seinem sozialen Umfeld. „Am Ende des Romans blickt Jakob in die Utopie eines voraussetzungslosen Wiederanfangs vor der im sozialen Rollenspiel manifesten Identitätskrise. Wiedergeburt und Wiederholung der Adoleszenz, wie Benjamenta sie erlebt, gehen dem Zusammenschluß voraus, in dem Jakob und der Vorsteher ihre tödliche Selbstbezogenheit überwinden.“ (Angerer 1995: 154) Im Unterschied zu Angerer fragt Peter Utz in seinem lesenswerten Beitrag nach dem Stellenwert der mathematischen Metaphorik im Roman – nach der Bedeutung des Zeichens ‚Null‘ für Jakobs „Instituts-Identität“ (Utz 2000: 494). Dabei macht er deutlich, dass „Jakobs Selbstdefinition, wenn man sie bei ihrem Zahl-Wort nimmt, durchaus Aussagekraft für die Formulierung von Subjektivität“ besitzt. „Sie zeigt, daß sie ihre ‚Bedeutung‘ nicht als ein inhaltliches ‚Etwas‘ formulieren darf, will sie diese nicht sofort an die Außenwelt abtreten. Deshalb muß sie sich in sich selbst schließen, kann sie sich nur aus sich selbst heraus definieren. So bleibt sie resistent gegen die Fremdbestimmung von außen. Trotzdem insistiert sie auf ihrem Funktionswert innerhalb eines komplexen Systems. Insofern affirmiert sie auch ihre soziale Geltung. Darum kann sie einerseits positiv gelesen werden als jene ‚Souveränität‘, die Walsers Helden alle auszeichne. Andererseits ist sie auch lesbar als das ‚zur Kennlichkeit entstellte Zerrbild neuzeitlicher Subjektivität‘, das sich in Jakob bloß spiegle. Charakteristisch für ihre Funktion als sprachlich-mathematische ‚Chiffre‘ ohne absoluten ‚Betrag‘ ist gerade eine Mehrdeutigkeit, bei der sich die Vorzeichen umkehren, je nachdem, vor welchem Koordinatensystem man sie liest. Wie auch immer man sie einsetzt in die Interpretation, sie bleibt ein resistentes Rätsel, rund und reizvoll. Insofern ist sie auch die Chiffre für die mehrfache Lesbarkeit des ganzen Romans.“ (Utz 2000: 495) Vgl. u. a. Janz 2003, Pleister 1990. Vgl. u. a. Best 1970, Campe 2005, Di Noi 2010, Di Noi 2008, Engel 1986, Menke 1992, Schwerin 2010, Zimmermann 1985. Otto F. Best stellt in seinem Beitrag Bezüge zwischen Walsers Tagebuchroman, Frank Wedekinds Erzählung Mine-Haha oder Über die körperliche Erziehung der jungen Mädchen (1903) und Kafkas Schloß (EA 1926) her. Alle drei Texte thematisieren in seinen Augen die „‚Erziehung des Menschengeschlechts‘, negativ formuliert bei Wedekind und Walser, da erkauft um das sacrificium intellectus, positiv bei Kafka, da dessen K. trotz Bewahrung seiner Persönlichkeit letztlich die tragischen Antinomien zu überwinden vermag.“ (Best 1970: 740f.)
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Untersuchung intertextueller Bezüge. In diesem Zusammenhang ist Walsers ‚Anti-Bildungsroman‘ vor allem als Parodie oder Kommentar zu Goethes paradigmatischem Bildungsroman Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96), mitunter auch zu den Wanderjahren (1829) verstanden worden; außerdem gilt er als „ironische Kontrafaktur der ‚Schulgeschichte‘“ (Kolk 2000: 248).8
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Wie Best stellen auch Barbara Di Noi und Kerstin Gräfin von Schwerin Parallelen zwischen Walsers Jakob von Gunten und Kafkas Romanen fest. Während Schwerin die These vertritt, dass sich die Texte der beiden Autoren darin gleichen, dass sie die „Kleinheit bis zur Unsichtbarkeit“ sowie ein „Wechselspiel von Kleinsein und Selbsterhöhung“ thematisieren und sich stilistisch durch ein „Zerbrechen der Form“ (Schwerin 2010: 175) auszeichnen, untersucht Di Noi in ihren Beiträgen das „Problem des ich und seines Verschwindens“ (Di Noi 2008: 144), das für sie in Walsers und Kafkas Texten im Mittelpunkt steht. „Der wesentliche Unterschied zwischen Walsers Figur und Kafkas besteht“ für sie „jedoch darin, dass Jakob das Spiel stets dominiert, während sowohl der Bankprokurist [im Prozeß, N.B.] wie der Landvermesser [im Schloß, N.B.] eher den Eindruck erwecken, nicht mehr über sich selbst zu verfügen“. (Di Noi 2008: 145) In seinem erhellenden Beitrag fragt auch Manfred Engel nach Parallelen zwischen Jakob von Gunten und Kafkas Roman Der Verschollene (EA 1927) im Hinblick auf ihre „Analyse und Kritik neuzeitlicher Subjektivität […] und deren poetologische Konsequenzen“ (Engel 1986: 534). Beide Protagonisten – Jakob und Karl Roßmann – setzen sich auf verschiedene Weise gegen die „Entmachtung des Einzelsubjekts und die Suspendierung praktischer Vernunft“ sowie gegen den „Gründungsakt neuzeitlicher Subjektivität selbst, die problematische Verschränkung von Autonomie mit Welt- und Selbstbeherrschung“ zur Wehr, so Engel. (Engel 1986: 548) „Beide schließlich entwickeln keinen inhaltlichen Ausweg, sondern erstellen ein komplexes System komplementärer Alternativen, das zwar auf eine Synthese zwischen Herrschaft und Unterwerfung, Distanz und ichauslöschender Gemeinschaft, Selbstkontrolle und Vitalität hindrängt, deren Platz aber leer läßt. Die ausgesparte inhaltliche Vermittlung wird jedoch in der formalen Gestaltung ihrer Romane ästhetisch erfahrbar, in der sich strenge Strukturierung und identitätssprengende Offenheit im Paradoxon einer ‚bestimmten Unbestimmtheit‘ verbinden.“ (Engel 1986: 548) Im Unterschied zu den genannten Arbeiten stellt Rüdiger Campe im Rekurs auf Pierre Daniel Huets Traité de l’origine des romans (1670) die These auf, dass es sich bei Jakob von Gunten ebenso wie bei Kafkas Romanen Der Prozeß (EA 1925) und Das Schloß um einen ‚Institutionenroman‘ handelt. Geschildert werden zwar keine „Gründungsgeschichten von Staaten und Völkern“, dafür aber „Fiktionen von Geschichten, die ihren Formzusammenhang nicht am Leben der Protagonisten, sondern am Fortbestehen und Zerfall, am Dasein von sub- und prästaatlichen Institutionen haben.“ (Campe 2005: 239) Zu den Bezügen zum Bildungsroman vgl. u. a. Gößling 1992, Hong 2002, Lemmel 1999, Lemmel 1990, Middleton 1979. Lemmel (1999) stellt darüber hinaus weitere Bezüge zu Texten her „die alle in irgendeiner Weise für eine Institution repräsentativ sind, zum Beispiel die Bibel für die christlichen Kirchen, die Mönchsregel für das Kloster, der Bildungsroman schlechthin für die Erziehung am humanistischen Gymnasium.“ Dabei vertritt sie die These, dass die genannten Prätexte über „die Referenz auf bestimmte andere Texte […] selbst zum Thema des Romans“ werden. „Meist ist die Absicht erkennbar, den Text selbst gegen seine offizielle Rolle, die das Lesen regelrecht verhindert, zur Geltung zu bringen“. Schließlich interessiere sich Walser für die Bedeutung, die die Texte „im Bewußtsein der Öffentlichkeit“ spielen. (Lemmel 1999: 93, 101)
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Wie die thematische ist auch die literarästhetische Gestaltung des Romans bereits häufig in den Blick genommen worden – vor allem in poststrukturalistischen Arbeiten, die zu klären suchen, wie Bedeutung konstituiert, vor allem aber, wie sie zerstört wird.9 Produktiver scheint mir die Frage nach den Korrelationen zwischen der Handlungs- und der Darstellungsebene zu sein, lässt sich doch mit Manfred Engel und Martin Jürgens die These aufstellen, dass sich Jakobs Bestreben, seine Individualität aufzugeben, auch in der „Formstruktur“ (Jürgens 2004: 77) des Textes manifestiert.10 Auch wenn in fast allen Beiträgen die vorgeführten Herr- und Knechtschaftsverhältnisse problematisiert werden, haben sie bislang nur selten im Zentrum des Interesses gestanden. Einschlägig sind die Arbeiten von Dieter Borchmeyer, Tobias Rochelle, Andreas Solbach und Oliver Steinhoff,11 die aufgrund ihres unterschiedlichen methodischen Zugriffs einen jeweils anderen Fokus setzen und zu divergierenden Ergebnissen gelangen. So meint Steinhoff im Rekurs auf Theodor W. Adorno, dass sich Jakob mit seiner Idee des Dienens gegen „das herrschaftliche Prinzip“ wendet, indem er das „Nichtbegriffliche […] zum Maßstab des Denkens und Hoffens“ macht. (Steinhoff 2008: 75, 77) Im Unterschied dazu vertritt Solbach mit Georg Wilhelm Friedrich Hegel die These, dass die Herr-Knecht-Beziehung zwischen Jakob und Benjamenta eine dialektische ist, die sich auf gegenseitige Anerkennung gründet (vgl. Solbach 1978). Davon ausgehend, dass Walser Jesus verehrt und Nietzsche geringgeschätzt hat, vertritt Borchmeyer hingegen die Position, dass Jakob das „Bild einer asketischen Existenz“ propagiert, welche dem Rausch der Freiheit, der Macht, des Reichtums, des Erfolgs, ja des Glücks entsagt, sich zu freiwilliger Armut, Subordination, Leidensbereitschaft entscheidet. Das sind gewiß spezifisch christliche Werte, wenn auch in einem reduzierten Sinn: ihres metaphysischen Fonds, ihrer heilsgeschichtlichen Bedeutung beraubt. (Borchmeyer 1980: 17)12
Ähnlich argumentiert Rochelle (vgl. Rochelle 2006: 296ff.). Auch die folgende Analyse befasst sich mit der für Walser zentralen Idee des Dienens. Dabei wird im Gegensatz zu den angeführten Forschungspositionen die These vertreten, dass der Roman als kritische Auseinandersetzung mit Nietzsches Idee der ‚Geistesaristokratie‘ zu werten
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Zu Jakob von Gunten und der Tradition der ‚Schulgeschichte‘ vgl. u. a. Kolk 2000 und Luserke 1999: 91–99. Vgl. u. a. Bloemen 1990, Hiebel 1978, Roussel 2008a, Roussel 2008b. Vgl. Engel 1986, Jürgens 2004. Vgl. Borchmeyer 1980, Rochelle 2006, Solbach 1987, Steinhoff 2008. Zu Walsers Nietzsche-Rezeption vgl. u. a. Mächler 1992, Utz 1998: 170–191.
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ist. Angesichts der in Bezug auf Jakob von Gunten vielfach konstatierten „Bedeutungswillkür und Sinnzerstückelung“, durch die sich der Leser „kein fixes Urteil“ erlauben könne, wird zunächst die Darstellungsebene in den Blick genommen; (Hiebel 1978: 333) und es wird gezeigt, dass die für den Roman konstitutiven semantischen Unbestimmtheiten Ausdruck von Jakobs ironischer Welthaltung sind (vgl. 1.1). Anschließend wird die Handlungsebene fokussiert (vgl. 1.2) und erläutert, dass Jakobs intellektuelle Distanz auf seine Ablehnung des ‚Willens zur Macht‘ zurückzuführen ist (vgl. 1.2.1). Seine Entscheidung, auf eine Position im Feld der Macht zu verzichten, manifestiert sich in seinem (Selbst-)Erziehungsprogramm zum Diener im Institut Benjamenta (vgl. 1.2.2). Wie zu illustrieren ist, propagiert Jakob im Romanverlauf zwei alternative Daseinsmodelle. Zunächst begreift er das Dienen mit und gegen Nietzsche als eine Form der ‚Geistesaristokratie‘ (vgl. 1.2.3). Dieser Existenzentwurf weicht der Idee einer auf gegenseitiger Anerkennung basierenden, freiwilligen Koalition zwischen Herr und Knecht (vgl. 1.2.4).
1.1 Zur Darstellungsebene: Jakobs ironische Haltung zur Welt Bei der Deutung des Tagebuchromans sieht sich der Rezipient mit Problemen konfrontiert, weil es ihm nicht möglich ist, „die erzählte Welt als eine stabile und konsistente Totalität zu konstruieren.“ (Martinez/Scheffel 52003: 126) Der Status der geschilderten Ereignisse ist nicht immer klar zu bestimmen, weil Jakob ein autodiegetischer, mimetisch unzuverlässiger Erzähler ist,13 der eine instabile, heterogene Welt entwirft,14 in der sachliche Berichte über das Institutsleben, subjektive Wahrnehmungen, Träume, Phantasien und Erinnerungen an vorgängige Erfahrungen fließend ineinander übergehen.15 Da keine der Tagebucheintragungen mit Ortsangabe oder Datum versehen ist und die geschilderten Ereignisse untereinander nicht in „zeitliche Relation“ (Grenz 1974: 91) gesetzt werden können, erscheinen die Geschehnisse der Außenwelt „lediglich“ in ihrer „Brechung im Bewußtsein des Helden, d. h. in seiner inneren Zeiterfahrung gespiegelt.“ (Naguib 1970: 61)16 Erschwerend kommt hinzu, dass
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Zum mimetisch unzuverlässigen Erzähler vgl. Kindt 2008; außerdem I.1.1 (Diderot). Zu den verschiedenen Dimensionen der erzählten Welt vgl. Martinez/Scheffel 52003: 123– 134. Das stellt auch Engel heraus, wenn er davon spricht, dass die Lesererwartungen durch „Verfremdung[en]“ – durch „Hyperbolisierungen“ und den Umschlag ins „Groteske und Absurde“ – gezielt gestört werden. (Engel 1986: 550) Zur Romanstruktur vgl. insbes. Grenz 1974, Hiebel 1978, Naguib 1970.
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Jakobs Aufzeichnungen – wie Walsers Prosatexte überhaupt – von Ironie, Paradoxien, Negationen und „Unsicherheitsformeln (scheinbar, gleichsam, sozusagen usw.)“ geprägt sind, durch die es kaum möglich zu sein scheint, „aus dem im Augenblick Gesagten konsistente Aussagen abzuleiten“. (Borchmeyer 1980: 9) Hiebel und Dirk Rodewald sprechen daher im Anschluss an Walter Benjamin von einer „Vernichtung alles Thematischen“ (Rodewald 1970: 141).17 In der Arbeit wird davon ausgegangen, dass die narrative Struktur und Stilistik des Romans Ausdruck von Jakobs ironischer Welthaltung sind. Was bedeutet das? Die Ironie wird insbesondere seit dem 18. Jahrhundert nicht mehr nur als rhetorischer Tropus, sondern auch als „‚[e]xistentielle Ironie‘ und somit als Lebensform verstanden (ironia vitae), als eine Figur, die das gesamte Leben, Denken, Reden und Handeln eines Menschen prägt“ (Müller 2000: 178). Davon zeugen etwa die theoretischen Schriften Friedrich Schlegels.18 Für ihn lassen sich mit Hilfe der Ironie die Bedingungen der Erkenntnis veranschaulichen, weil durch sie zweierlei zugleich ausgedrückt werden kann: Einerseits, dass wir über das ‚wahre Wesen der Dinge‘ keine Aussagen treffen können und andererseits, dass eine Annäherung an diese letzten Wahrheiten dennoch erwünscht ist. Der Anspruch, in der Kunst eine universelle Weltdeutungsinstanz zu sehen, wird in Friedrich Schlegels Konzeption der Transzendentalpoesie […] nicht aufgegeben, allerdings wird den subjektiv begrenzten Erkenntnismöglichkeiten Rechnung getragen, eben durch die Verwendung von Ironie. Deshalb ist in der Ironie „alles Scherz und alles Ernst“ zugleich, deshalb drückt sich in ihr zweierlei aus, nämlich die „Unmöglichkeit und Notwendigkeit einer vollständigen Mitteilung“. (Ewen 2011: 13)
Wie das Zitat impliziert, besitzt die Ironie für Schlegel eine doppelte Funktion. Mit Blick auf ein Unendliches hinterfragt der Ironiker zum einen die herrschenden Normen und wissenschaftlichen Erkenntnisse, aber auch die eigenen Positionen. Zum anderen führt er „allen Weltdeutungsversuchen, die Überzeitlichkeit und Absolutheit für sich beanspruchen, ihre Begrenztheit vor Augen“ (Ewen 2011: 13). Wie Jens Ewen in Bezug auf die Bedeutung und Funktion der Ironie bei Thomas Mann deutlich gemacht hat, lässt sich die Ironie als Antwort auf Modernisierungsphänomene – „Rationalisierungs-, Ausdifferenzierungs-, Emanzipations- und Individualisierungsprozesse“ (Ewen 2011: 10)
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Schon Walter Benjamin hat die Position vertreten: „Walsern ist das Wie der Arbeit so wenig Nebensache, daß ihm alles, was er zu sagen hat, gegen die Bedeutung des Schreibens völlig zurücktritt. Man möchte sagen, daß es beim Schreiben draufgeht.“ (Benjamin 1977: 325) Zu Schlegels Ironie-Begriff und dessen Rezeption bei Schelling, Schleiermacher, Novalis, Tieck u. a. vgl. Strohschneider-Kohrs 1977.
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– verstehen.19 Angesichts der seit der Neuzeit zu beobachtenden „generellen Schwächung fester Bindungen in allen gesellschaftlichen Bereichen“ und der „daraus resultierende[n] Erweiterung des Handlungsspielraums, de[m] Zugewinn an Möglichkeiten, an Deutungen und Überzeugungen“, nimmt das Subjekt seine Handlungsoptionen zunehmend als kontingent wahr. „Entscheidend für eine Theorie der Ironie ist“ nun, wie das Verhältnis zu diesem vergrößerten Möglichkeitsspielraum gesehen wird: Ironisch ist in diesem Zusammenhang der Umgang mit dem Bewusstsein, dass alle Beschreibungsmöglichkeiten von Welt perspektivisch abhängig und deshalb nicht endgültig sind, sie sind vielmehr kontingent. Dieser Zustand wird von einem Ironiker weder bejubelt noch beklagt, er sieht ihm ins Gesicht und erreicht damit eine logische Metaperspektive, denn auch diese Überzeugung, die die ironische Haltung zur Folge hat, unterliegt dem Bewusstsein der Kontingenz. (Ewen 2011: 14)
Vor diesem Hintergrund definiert Richard Rorty die ‚Ironikerin‘ in seiner Studie über Kontingenz, Ironie und Solidarität als ein Subjekt, das sich durch „zwei Tugenden“ auszeichnet: Kontingenzbewusstsein und einen daraus resultierenden Sinn für unverwirklichte Möglichkeiten. Ironiker sind bereit anzuerkennen, dass es keine kontextunabhängigen Kriterien gibt, durch die es möglich wäre, die Rationalität ihrer Überzeugungen und Bedürfnisse zu beurteilen. Sie gehen deshalb von einer Vielzahl möglicher Selbst- und Weltbeschreibungen aus (Auer 2003: 66),
immer dessen gewahr, dass ihr Vokabular zur Beschreibung und Bewertung der eigenen Lebenswelt begrenzt, vorläufig und Veränderungen unterworfen ist. Aus diesem Grund werden ‚Ironikerinnen‘ laut Rorty „nie ganz dazu in der Lage“ sein, „sich selbst ernst zu nehmen“. (Rorty 1992: 128) Im Unterschied zu Schlegel, der noch ein – wenn auch nur zu ahnendes – „Ganzes“ (Behler 1997: 101) jenseits der empirischen Realität annimmt, hat Rortys ‚Ironikerin‘ die Vorstellung, dass es irgendeine „Instanz jenseits des raum-zeitlichen Bereiches“ (Rorty 1992: 14) geben könnte, aufgegeben. Dennoch bemüht sie sich darum, sich und ihre Le-
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Ewen verwendet einen weiten Modernebegriff, der keine statische Epochenformation meint, sondern der „einen am Ende des 18. Jahrhunderts beginnenden Langzeitzusammenhang der europäischen Geschichte bezeichnet. Am Beginn dieser Makroepoche Moderne steht das gebündelte Auftreten von gesellschaftlichen und kulturellen Transformationsprozessen, die ihrerseits die letzten 1000 Jahre europäischer Geschichte prägen und zu Veränderungen in allen gesellschaftlichen Bereichen führen. Sie erfassen Staat, Gesellschaft, Wirtschaft, Alltag, Kultur und führen dort zu je spezifischen Mischungsverhältnissen aus Alt und Neu. Moderne hat keinen Beginn, sie besitzt aus dieser Sicht kein Gründungsdatum, aber sie wird in der Rückschau dadurch beschreibbar, dass zu einem konkret benennbaren Zeitpunkt ein ganzes Bündel von Prozessen erkennbar ist, die selbst schon längere Zeit wirksam sind.“ (Ewen 2011: 8)
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benswelt möglichst adäquat zu beschreiben, d. h. „die Kruste ererbter Kontingenzen aufzubrechen und ihre eigenen Kontingenzen zu schaffen, aus der Kruste eines alten abschließenden Vokabulars heraus- und zu einem ganz eigenen zu kommen.“ Im Unterschied zu den ‚Metaphysikern‘, die auf eine „ihnen überlegene Instanz“ (Rorty 1992: 164) hoffen und damit essentialistische Wahrheiten annehmen, streben die ‚Ironikerinnen‘ nach Autonomie, indem sie die herrschenden Weltdeutungsmuster negieren und in dem Wissen um ihre eigene Unwissenheit ein eigenes, immer wieder zu hinterfragendes Vokabular zur (Neu-)Beschreibung ihrer Lebenswelt entwickeln.20 Mit Rorty kann Jakob von Guntens Habitus der Distanz auf eine ironische Haltung zur Welt zurückgeführt werden.21 Dafür spricht erstens die Instabilität und Heterogenität der von ihm erzählten Welt, geht man davon aus, dass für Jakob die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Fiktion verschwimmen, weil es ihm als ‚romanesker Gestalt‘ nicht gelingt, „die
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Wie Dirk Auer deutlich macht, muss das Streben der ‚Ironikerin‘ nach Autonomie scheitern: „Jede aus der Bewusstwerdung kultureller Prägungen resultierende Neubeschreibung des Selbst wird wieder unbewusste Ursachen gehabt haben, die Gegenstand erneuter Erkundungen und Neubeschreibungen sein können. Insofern kann es keine ,letzte SelbstNeubeschreibung‘“ (Auer 2003: 67, Anm. 1) geben. Vielmehr muss von einer permanenten Suchbewegung ausgegangen werden, die im Übrigen für Walsers Prosa charakteristisch ist, vgl. u. a. Utz 1998. Bemerkenswerterweise weist Rortys Figur der ‚Ironikerin‘ große Parallelen zu Robert Musils ‚Möglichkeitssinn‘ auf. Während Rorty zwischen Metaphysikern und Ironikerinnen unterscheidet (vgl. Rorty 1992: 127–135), differenziert der Erzähler im Mann ohne Eigenschaften zwischen Subjekten mit Wirklichkeits- und Möglichkeitssinn. „Wer ihn [den Möglichkeitssinn, N.B.] besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muß geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müßte geschehn; und wenn man ihm von irgend etwas erklärt, daß es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein. So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist. Man sieht, daß die Folgen solcher schöpferischen Anlage bemerkenswert sein können, und bedauerlicherweise lassen sie nicht selten das, was die Menschen bewundern, falsch erscheinen und das, was sie verbieten, als erlaubt oder wohl auch beides als gleichgültig. Solche Möglichkeitsmenschen leben, wie man sagt, in einem feineren Gespinst, in einem Gespinst von Dunst, Einbildung, Träumerei und Konjunktiven; Kindern, die diesen Hang haben, treibt man ihn nachdrücklich aus und nennt solche Menschen vor ihnen Phantasten, Träumer, Schwächlinge und Besserwisser oder Krittler. […] Ein mögliches Erlebnis oder eine mögliche Wahrheit sind nicht gleich wirklichem Erlebnis und wirklicher Wahrheit weniger dem Werte des Wirklichseins, sondern sie haben, wenigstens nach Ansicht ihrer Anhänger, etwas sehr Göttliches in sich, ein Feuer, einen Flug, einen Bauwillen und bewußten Utopismus, der die Wirklichkeit nicht scheut, wohl aber als Aufgabe und Erfindung behandelt.“ (Musil 1952: 16) Walsers Ironie führt auch Ferruccio Masini auf die romantische Ironie zurück, ebenfalls mit dem Unterschied, dass Walsers „Welt“ keine „ontologische[ ] Konsistenz“ besitzt und „in keiner Weise mehr die ‚unendliche Fülle‘ einer Totalität“ darstellt. (Masini 1987: 144)
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Realität ernst zu nehmen“. Er ist außerstande, „das Gegenwärtige sich so zu eigen zu machen, wie es sich präsentiert, das Gegenwärtige in seiner insistierenden und dadurch Schreck auslösenden Präsenz.“ (Bourdieu 2001: 68) Voraussetzung dafür ist das Wissen, dass es keine metaphysischen Wahrheiten gibt und dass die „‚Realität‘, an der wir alle Fiktion messen, lediglich der allgemein verbürgte Referent einer kollektiven Illusion ist.“ (Bourdieu 2001: 35) Für Jakobs ironische Haltung zur Welt spricht zweitens, dass er sich und seine Mitschüler des Instituts als „eifrige, sucherische Leute“ (Walser 1978a: 92) beschreibt. Wie Peter Utz hervorgehoben hat, hält Walser in vielen seiner Prosatexte der „Zweckrationalität, sei sie ökonomisch oder diskursiv, das Glück des Suchens“ (Utz 1998: 376) entgegen. Anstatt essentialistische Wahrheiten anzunehmen, die es zu finden gilt, gehen die ‚Suchenden‘ davon aus, dass alle Theorien, Vokabulare und Sichtweisen historisch und kulturell relativ sind. Alle Positionen – auch die eigenen – sind daher immer wieder kritisch zu prüfen. Demgemäß heißt es in Walsers Naturstudie (1916): „Durch eifriges Suchen gelangen wir zum Finden; möchten aber am liebsten alles Gefundene sogleich wieder verlieren, um uns wieder frisch ins Suchen hineinfinden zu können“ (Walser 1978f: 190). Im Roman zeichnet sich Jakob durch seinen Wunsch, die ‚inneren Gemächer‘ der Benjamentas kennenzulernen, als ‚Suchender‘ aus – laut Engel eine Suche nach einer ‚Hinterwelt‘ im Nietzscheschen Sinne, nach einer quasimetaphysischen Grundlage für das zweckrationale Regelsystem der Institutswelt, nach einer Welt des Ideals, des Guten, Wahren, Schönen und der herrschaftsfreien Gemeinschaft (Engel 1986: 541).
Gegen Romanende muss Jakob zugeben, dass es die von ihm in den Gemächern erhofften „wunderbare[n] Dinge“ (Walser 1978a: 20) – die metaphysischen Wahrheiten – gar nicht gibt. Die geheimnisvollen Zimmer erweisen sich „als prosaisch entzauberte Alltagswirklichkeit“ (Engel 1986: 541). So erklärt der Schüler: „Ich bin übrigens jetzt endlich in den wirklichen inneren Gemächern gewesen, und ich muß sagen, es existieren gar keine. Zwei Zimmer sind da, aber diese beiden Räume sehen nach nichts Gemachartigem aus.“ (Walser 1978a: 130f.) Als ‚Suchender‘ lässt sich Jakob außerdem durch seinen Umgang mit Sprache kategorisieren, ist er doch bestrebt, jede diskursive Fixierung bestimmter Bedeutungen, die als unhinterfragbare soziale Wirklichkeit erscheinen, zu unterlaufen.22 Das manifestiert sich auf der Handlungsebe-
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Ähnlich argumentiert Gallus: „Jakob setzt konventionellen Verhaltenserwartungen und fixierten Wortbedeutungen ein eigenes widerständiges Verhalten und eigene, ganz eigenwil-
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ne in seinem Gespräch mit Kraus über die Juden, in dessen Verlauf es ihm gelingt, Kraus’ antisemitische Vorurteile ad absurdum zu führen. Dessen Äußerung „Die Juden haben alles Geld“ kommentiert Jakob mit den Worten: „Das Geld macht die Menschen erst zu Juden. Ein armer Jude ist kein Jude, und reiche Christen, […] das sind noch die ärgsten Juden.“ (Walser 1978: 48) Er gibt vor, Kraus’ Aussage zu bestätigen, gibt sie aber verfälscht wieder und baut das Vorurteil als vermeintlichen Erfahrungsschatz […] metaphorisch aus; so ist plötzlich der arme Jude kein Jude mehr und der reiche Christ der ‚ärgste‘ Jude. Das konventionelle Vorurteil wird von ihm so verwandelt, daß es sich grundlegend verändert. Es ist im Sprachprozeß zu einer für das konventionelle Bewußtsein ‚unbrauchbaren‘ Metapher geworden. (Gallus 2006: 99)
Wie das Gespräch zeigt, wehrt sich Jakob gegen sprachliche, eine normative Wirkkraft besitzende Zuschreibungen. Das kommt auch in seiner Abneigung gegen „all die treffenden Worte“ (Walser 1978a: 50), in „sein[em] fortwährende[n] Fragen nach der Möglichkeit und Wirklichkeit seines Seins und sein[em] die verschiedenen Widersprüche in sich vereinende[n] Wesen“ (Naguib 1970: 68) zum Ausdruck. Dass Jakob statt letzter Wahrheiten nur jederzeit zu relativierende Deutungsmuster kennt, zeigt sich auch auf der Darstellungsebene. Da die für den Roman konstitutiven narrativen und rhetorisch-stilistischen Mittel von der Forschung bereits im Detail analysiert worden sind,23 kann ich mich auf eine Zusammenfassung der wichtigsten, Jakob als Ironiker ausweisenden Aspekte beschränken. Wie Dagmar Grenz herausgestellt hat, ist für Walsers Roman das „Strukturprinzip der Negation“ (Grenz 1974: 109) kennzeichnend. Davon zeugen Jakobs permanente Perspektivwechsel. Anstatt einen ‚festen‘ Standpunkt einzunehmen, „von dem aus er sich gegen die Wirklichkeit abgrenzen könnte“ (Grenz 1974: 96), befragt der Schüler ständig die von ihm proklamierten Positionen. Aus diesem Grund kann er in seinem Tagebuch behaupten: „Ich lüge woanders, aber nicht hier, vor mir selber“, um sogleich die entgegengesetzte Meinung zu vertreten: „Es ist mir nicht möglich, die Wahrheit zu sagen.“ (Walser 1978a: 135) Neben diesen Relativierungen lassen sich verschiedene, für den Roman konstitutive rhetorische Stilmittel anführen, durch die Jakob seine
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lige und sprachspielerische Deutungsversuche entgegen. Das Selbstverständliche und Konventionelle des Alltags betrachtet er dabei aus seiner spezifischen Perspektive als ein Labyrinth von Sprech- und Verhaltensoptionen, dessen Wege aufgrund seiner Zwischenhaltung immer wieder eine neue (Deutungs-)Herausforderung für ihn darstellen.“ (Gallus 2006: 69) Vgl. u. a. Engel 1986, Grenz 1974: 96–128; Hiebel 1978.
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Setzungen als nur vorläufig gültige kennzeichnet oder gar revidiert. Als „pointierteste Form“ (Grenz 1974: 109) ist das Oxymoron zu nennen, wo ein Einzelwort mit seiner Negation bzw. seinem Gegenteil zu einer Aussage verschmolzen wird, und als die häufigste Form, in der sich die Suche nach dem ‚richtigen‘ Wort auch am besten entfalten kann, das Setzen und Wiedereinschränken, das im Nacheinander erfolgt und sich dabei zu einer mehrgliedrigen Kette ausweiten kann. (Grenz 1974: 109)24
Daneben schränkt Jakob die eigenen Aussagen durch Abschwächungen sowie die Thematisierung von Unsicherheiten, Vorbehalten und bloßen Möglichkeiten ein.25 Von Jakobs Suche nach einem eigenen Vokabular zeugen ferner Relativierungen in Form von „Erweiterung[en]“, zum einen dadurch, dass in einem Satz „mit oder eine oder mehrere Möglichkeiten angefügt werden, vor deren Hintergrund die erste Aussage nun nicht mehr als Tatsache, sondern bloß als Möglichkeit erscheint“;26 zum anderen durch die „Synonymie“, bei der ein Wort „durch ein sinnverwandtes oder bedeutungsgleiches (aber nicht identisches) um eine bestimmte Nuance“ ergänzt wird. (Grenz 1974: 110, 111)27 Dazu kommt „das weitläufige Bereden einer Sache, das doch immer nur dieselben Aspekte variiert“ (Grenz 1974: 112). Neben den vielen Fragen, mit denen Jakob sich und die Welt zu ergründen sucht, sei zuletzt der spöttische, „halb schelmischironische[ ], halb ernsthafte[ ]“ (Borchmeyer 1980: 20) Ton angeführt, durch den sich Jakob als Ironiker auszeichnet. Auf diese Weise werden seine Aussagen unbestimmt, scheint doch jede Position nur unter Vorbehalt formuliert werden zu können. Aufgrund der aus der narrativen Struktur resultierenden semantischen Unbestimmtheiten kann der Leser nichts „ganz beim Wort nehmen […];
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Vgl. u. a.: „So ganz die Natur zu unterdrücken, das geht eben doch nicht. Und doch geht’s“ (Walser 1978a: 103); „Es haben alle dieselben Gesichter. Eigentlich nicht, und doch.“ (Walser 1978a: 115) Vgl. u. a.: „Für ihn gibt es im Grunde genommen keine ziemliche Tätigkeit“ (Walser 1978a: 123); „Er lernt seine Lektionen trocken und unverdrossen, ja doch, eigentlich verdrossen“ (Walser 1978a: 124); „Ja, ich war eitel und hochmütig im Anfang, gekränkt von ich weiß nicht was, erniedrigt auf ich weiß gar nicht mehr welche Weise.“ (Walser 1978a: 30f.) (Hervorhebungen N.B.). Vgl. u. a.: „Ich werde als alter Mann junge, selbstbewußte schlecht erzogene Grobiane bedienen müssen, oder ich werde betteln, oder ich werde zugrunde gehen“ (Walser 1978a: 8); „Entweder sind die Lehrer unseres Institutes gar nicht vorhanden, oder sie schlafen noch immer, oder sie scheinen ihren Beruf vergessen zu haben. Oder streiken sie vielleicht, weil man ihnen die Monatslöhne nicht ausbezahlt?“ (Walser 1978a: 58) Vgl. u. a.: „Mich soll man nur antreiben, zwingen, bevormunden“ (Walser 1978a: 28); „Ja, du forderst geradezu heraus zur Fahrlässigkeit, zur Lockerung, zur Preisgabe der Würde. […] da reizt es einen ganz mächtig, sich vor dir in schönen, wohltuenden Erklärungen und Geständnissen zu verlieren“ (Walser 1978a: 107).
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das jeweils Gesagte ist niemals wahr im Sinne der Allgemeingültigkeit, Verbindlichkeit und Eindeutigkeit.“ (Grenz 1974: 116) Im Gegensatz zu der Vagheit im Detail steht allerdings die äußerst bestimmte „Großkonstruktion“ (Engel 1986: 564) des Romans, wie Engel betont hat. So sind für den Roman zum einen ‚Meta-Metaphern‘ kennzeichnend: Im Rahmen der traditionellen Terminologie für ‚uneigentliches‘ Sprechen ist dieses Phänomen nur schwer zu fassen. Realitätselemente der Romanwelt lassen sich einem gemeinsamen Oberbegriff zuordnen, der sich in einem zweiten Schritt als Metapher – genauer: als Metonymie – erweist und vor dem Hintergrund der modellhaften Gesamtkonstellation einen zeichenhaften Sinn gewinnt. Von traditioneller Symbolik unterscheiden sich solche Meta-Metaphern dadurch, daß sie ihre Zeichenhaftigkeit durch Verfremdungstechniken erhalten, die ihren empirischpsychologischen Realitätswert beeinträchtigen. […] Beispiel[ ] im Jakob von Gunten wäre[ ] die Diener-Idee – aus deren Konkretisation die Institutswelt entsteht […]. Alle diese Meta-Metaphern machen das Romangeschehen transparent auf Grundstrukturen des transzendentalpsychologischen Subjekts und damit auch auf Grundstrukturen der von diesem konstituierten Wirklichkeit. Die allmähliche Entfaltung und Variation dieser Strukturen tritt dabei weitgehend an die Stelle der traditionellen, linear-zielgerichteten Romanhandlung. (Engel 1986: 551f.)
Zum anderen lässt sich der Roman durch die ‚funktionalisierten Figurenkonstellationen‘ erschließen. Wie zu zeigen ist, repräsentieren alle Figuren verschiedene Daseinsmodelle und einzelne Aspekte von Jakobs Existenzentwurf. Kraus steht etwa für die Idee der blinden Subordination, während Schacht als Künstler der Décadence konzipiert ist. Lisa Benjamenta verkörpert die an der Realität scheiternde Sphäre der Ideale, ihr Bruder hingegen die „vitalkraftvolle ‚Lebenslust‘ […] und Selbstbehauptung“ (Engel 1986: 551). Durch diesen Kontrast zwischen der semantischen Unbestimmtheit einzelner Aussagen und der extremen Bestimmtheit der Romankonzeption entsteht eine spannungsvolle Verbindung von Identität und Differenz, Rationalität und Spontaneität, Einheit und Vielheit. […] Dissoziation und Konzentration werden […] an jedem einzelnen Punkt immer wieder neu und für einen Augenblick verbunden – getreu der Walserschen Einsicht: „Unsere Sicherheiten dürfen nichts Starres werden, sonst brechen sie“. (Engel 1986: 564)28
Anstatt mit Hiebel davon auszugehen, dass das „Fehlen eines fixen Punktes im Aussagekontext […] zur Zerstörung der Signifikanz“ (Hiebel 1978: 323) führt, nehme ich an, dass Jakobs dem ‚Strukturprinzip der Negation‘ folgende Rede Ausdruck seiner „Fluchtbewegung vor endgültigen Fixierungen“ (Utz 1998: 378) ist. Ich vertrete also die Position, dass hinter
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Vgl. Walser 1978e: 259.
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Jakobs Äußerungen Anschauungen stehen, die allerdings jederzeit relativiert oder revidiert werden können.
1.2 Zur Handlungsebene: Dienen als Flucht in ein ‚inneres Exil‘ Wie mit Blick auf die Darstellungsebene verdeutlicht worden ist, besitzt Jakob eine ironische Haltung zur Welt, was sich in seiner Suche nach einem eigenen Vokabular und seiner Flucht vor der prosaischen Wirklichkeit in die Imagination manifestiert. Seine intellektuelle Distanz zur empirischen Realität kommt ferner im Umgang mit seinem Vermächtnis, genauer: mit der von seinen aristokratischen Eltern geerbten „gesellschaftliche[n] Position“ (Bourdieu 2005: 337) zum Ausdruck. Wie Pierre Bourdieu hervorgehebt, stellt die „Übertragung der Macht von einer auf die andere Generation […] in der Geschichte der unmittelbaren Familieneinheit immer einen kritischen Moment dar“ (Bourdieu 2001: 32), weil sich der Sohn den materiellen, kulturellen, sozialen und symbolischen Besitz des Vaters erfolgreich aneignen muss. Genau das gelingt Jakob nicht – er weigert sich, das Erbe seines Vaters zu übernehmen und die von ihm erhaltene „Stellung innerhalb der sozialen Struktur einzunehmen“ (Bourdieu 2001: 58). Aus Furcht, von der „Vortrefflichkeit“ seines Vaters „erstickt zu werden“, flieht er ins Institut Benjamenta. (Walser 1978a: 12)29 Bezogen auf die soziale Welt besitzt der Schüler einen „Idealismus“, der den „Blick aus der Vogelperspektive“ voraussetzt; er will „die absolute Perspektive des souveränen Zuschauers“ einnehmen, der sich allen Determinierungen entzieht. (Bourdieu 2001: 59) Grund ist seine Ablehnung der prosaischen Realität, wie im Folgenden zu zeigen ist.
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Dass sich Jakob nicht mit seinem sozialen Sein identifiziert, manifestiert sich auch in seinen Rollenspielen während seiner Ausflüge in die Stadt. So berichtet Jakob von seinen gelegentlichen Friseurbesuchen: „Ob ich Schwede sei, fragt mich der Friseurgehilfe. Amerikaner? Auch nicht. Russe? Nun, was denn? Ich liebe es, derartige nationalistisch angefärbte Fragen mit eisernem Schweigen zu beantworten, und die Leute, die mich nach meinen Vaterlandsgefühlen fragen, im Unklaren zu lassen. Oder ich lüge und sage, ich sei Däne. Gewisse Aufrichtigkeiten verletzen und langweilen einen nur.“ (Walser 1978a: 22)
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1.2.1 Jakobs Ablehnung des ‚Willens zur Macht‘ Ähnlich wie Arthur Schopenhauer und Nietzsche ist Jakob davon überzeugt, dass alles Seiende einem einzigen Impuls – einem ‚Willen zur Macht‘ – folgt,30 gilt doch das einzige Streben der Menschen der Akkumulation von ökonomischem und symbolischem Kapital. Das manifestiert sich vor allem in Jakobs Beschreibungen der Großstadt, die im Roman als Chiffre für die moderne Lebenswelt fungiert. So berichtet er über seine Streifzüge durch die Metropole: „Es sucht hier alles, alles sehnt sich nach Reichtümern und fabelhaften Glücksgütern. Hastig geht man. Nein, sie beherrschen sich alle, aber die Hast, das Sehnen, die Qual und die Unruhe glänzen schimmernd zu den begehrlichen Augen heraus.“ (Walser 1978a: 39)31 Dass das individuelle Streben nach Macht und Geld an die Stelle kollektiver religiöser oder politischer Sinngebungssysteme getreten ist, wird deutlich, wenn Jakob erklärt, dass seine Mitschüler und er sich nicht heroisch für andere Menschen oder eine Sache einsetzen würden, oder wenn er Benjamenta im Gespräch mit folgender Äußerung zu ärgern versucht: „Gott selbst gebietet mir, ins Leben hinaus zu treten. Doch was ist Gott? Sie sind mein Gott, Herr Vorsteher, wenn Sie mir erlauben, Geld und Achtung verdienen zu gehen.“ (Walser 1978a: 62) Jakob provoziert hier dadurch, dass er die Befriedigung seiner weltlichen Bedürfnisse als seine Religion deklariert und den Vorsteher als ‚Gott‘ bezeichnet, weil dieser ihm zu Reichtum und sozialem Prestige verhelfen kann. Auch wenn Jakob den Institutsleiter mit dieser Aussage nur ärgern will, zeigt sich hier, dass die institutionalisierte Religion nicht mehr als kollektiv und individuell verbindliches Sinndach fungiert; sie ist von der Herrschaft des Geldes – „ein Leitmotiv des Romans“ (Engel 1986: 537) – abgelöst worden. Vor diesem Hintergrund konstatiert Jakob in seinem imaginären Gespräch mit seinem Religions- und Geschichtslehrer: „Es schadet nichts, daß Sie schlafen. […] Religion, sehen Sie, taugt heute nichts mehr.“ Und: „Die Welt dreht sich seit einiger Zeit um Geld und nicht mehr um Geschichte. All die uralten Heldentugenden, die Sie auspacken, spielen ja […] längst keine Rolle mehr.“ (Walser 1978a: 58f.)
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Zu Nietzsches und Schopenhauers Willensmetaphysik vgl. III. Diese Position teilt Jakob mit seinem Bruder Johann, der im Gespräch erklärt: „Es gibt ja allerdings einen sogenannten Fortschritt auf Erden, aber das ist nur eine der vielen Lügen, die die Geschäftemacher ausstreuen, damit sie um so frecher und schonungsloser Geld aus der Menge herauspressen können.“ (Walser 1978a: 67)
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Jakob, der sich von dem Wunsch nach materiellem Besitz selbst nicht ganz frei machen kann,32 ist ähnlich wie Schopenhauer davon überzeugt, dass das Streben nach weltlichen Erfolgen zu Angst, Unzufriedenheit und (Lebens-)Müdigkeit führt.33 So attribuiert er den gebildeten Kreisen „eine kaum zu übersehende und mißzuverstehende Müdigkeit […], die Müdigkeit des gesunden-ungesunden Menschen.“ (Walser 1978a: 116) Und über die „Leute, die sich bemühen, Erfolg in der Welt zu haben“, schreibt er: Alle sind einander ähnlich in einer gewissen, rasch dahinsausenden Liebenswürdigkeit, und ich glaube, das ist das Bangen, das diese Leute empfinden. Sie behandeln Menschen und Gegenstände rasch herunter, nur damit sie gleich wieder das Neue, das ebenfalls Aufmerksamkeit zu fordern scheint, erledigen können. Sie verachten niemanden, diese guten Leute, und doch, vielleicht verachten sie alles, aber das dürfen sie nicht zeigen, und zwar deshalb nicht, weil sie fürchten, plötzlich etwa eine Unvorsichtigkeit zu begehen. Sie sind liebenswürdig aus Weltschmerz und nett aus Bangen. Und dann will ja jeder Achtung vor sich selber haben. Diese Leute sind Kavaliere. Und sie scheinen sich nie ganz wohl zu befinden. Wer kann sich wohl befinden, wer auf die Achtungsbezeugungen und Auszeichnungen der Welt Wert legt? Und dann, glaube ich, fühlen diese Menschen, da sie doch einmal Gesellschafts- und durchaus keine Naturmenschen mehr sind, stets den Nachfolger hinter sich. Jeder spürt den unheimlichen Überrumpler, den heimlichen Dieb, der mit irgendeiner neuen Begabung dahergeschlichen kommt, um Schädigungen und Herabsetzungen aller Art um sich herum zu verbreiten, und deshalb ist in diesen Menschenkreisen der ganz Neu-Auftretende immer der Gesuchteste und Bevorzugteste, und wehe den Älteren, wenn sich dieser Neue durch Geist, Talent oder Naturgenie irgendwie auszeichnet. (Walser 1978a: 115)
Wie diese Textpassage deutlich macht, wird das Handeln der Großstädter von einem Kampf um Aufmerksamkeit geprägt, durch den sich ihnen die Chance auf soziale Anerkennung eröffnet. Dieses qua erkämpfter Beachtung erreichte Sozialprestige ist für eine Teilhabe im Feld der Macht unverzichtbar, kann man doch eine „Selbstidentifizierung als Mann von Gewicht nur in einem Milieu erhalten, das diese Identität bestätigt.“ (Berger/Luckmann 1980: 165) Der alle menschlichen Interaktionen bestimmende Kampf um Aufmerksamkeit ist prekär, führt er doch zu einem nur kurzwährenden Interesse am Gegenüber ohne wirkliche Wertschätzung. Durch die ständige Angst, missachtet oder übervorteilt werden zu können, wird eine vertrauensvolle und aufrichtige Kommunikation mit anderen unmöglich. Stets muss man „auf alle möglichen Angriffe und Kränkungen […] ein wenig gefaßt sein.“ (Walser 1978a: 37) An die Stelle tiefer
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Vgl. Walser 1978a: 74. Hier fragt sich Jakob: „Wann werde ich zu Geld gelangen? Diese Frage erscheint mir bedeutsam. Das Geld besitzt in meinen Augen gegenwärtig einen vollkommen idealen Wert.“ Zu Schopenhauers Metaphysik vgl. III.2.1.
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emotionaler zwischenmenschlicher Bindungen treten ökonomisierte Beziehungen, auf die sich Jakob nicht einlassen will. So meidet er ein an ihm interessiertes Mädchen mit der Begründung: „Übrigens hält sie mich für einen Herrn mit monatlichem Salär. Ich sehe so gut, nach etwas so Rechtem aus. Sie irrt sich, und ich ignoriere sie daher.“ (Walser 1978a: 112) Neben der permanenten Angst „vor Entmutigungen und Herabwürdigungen“ (Walser 1978a: 92) läuft das Subjekt, das seinen Willen zum Leben bejaht, Gefahr, seine „geistige[n] Bedürfnisse“ (Schopenhauer 1994: 53) zu verlieren, herrscht doch „[o]ben […] eine Atmosphäre des Genuggetanhabens“ (Walser 1978a: 66). Die genannten Folgen von Reichtum und sozialer Anerkennung werden durch Jakobs Vision von seinem Gang durch die ‚inneren Gemächer‘ illustriert. Auf dem Weg wird der Schüler von Lisa Benjamenta in ein „kleines, mit raffiniertem Wohlbehagen ganz gefüttertes und erfülltes, köstlich nach Träumereien duftendes, reich mit allerhand lüsternen Szenen und Bildern tapeziertes Ruhe-Gemach“ (Walser 1978a: 101f.) geführt. Hier macht es sich Jakob „bequem“ (Walser 1978a: 102), indem er sich sinnlichen Genüssen hingibt. Die ersehnte Ruhe hält allerdings nicht lange an. Schon die Lehrerin warnt ihn: „Das ist nichts für dich. […] Steh auf. Komm lieber. Die Weichlichkeit verführt zur Gedankenlosigkeit und Grausamkeit. Hörst du, wie es zornig einherdonnert und -rollt? Das ist das Ungemach. Du hast jetzt in einem Gemach Ruhe genossen. Nun wird das Ungemach über dich herabregnen und Zweifel und Unruhe werden dich durchnässen.“ – So sprach die Lehrerin, und kaum hatte sie zu Ende gesprochen, da schwamm ich in einem dickflüssigen, höchst unangenehmen Strom von Zweifel […]. O dieses Ungemach. Ich weinte, und ich bereute bitter, mich der lüsternen Bequemlichkeit hingegeben zu haben. (Walser 1978a: 102f.)
Das aus dem Aufenthalt im Gemach (althochdeutsch ‚gimah‘: Bequemlichkeit) resultierende ‚Ungemach‘ macht deutlich, dass die aus dem materiellen Wohlstand resultierenden Annehmlichkeiten zu ‚Gedankenlosigkeit‘ und ,Grausamkeit‘ – zu geistiger Trägheit und Herzlosigkeit gegenüber anderen – führen. Zudem wird das Subjekt von Zweifeln und Unruhe geplagt, muss es doch fürchten, die von ihm erworbenen Reichtümer jederzeit wieder verlieren zu können. Wie Jakob betont, bedarf es in einer solchen auf „Phrase, Lüge und Eitelkeit gestellten und abgerichteten Welt“ (Walser 1978a: 49) besonderer Eigenschaften, um sich im Feld der Macht durchsetzen zu können. Um von anderen als „Herr“ (Walser 1978a: 60) anerkannt zu werden, sind
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weder Intelligenz noch Bildungswissen, sondern Anpassungsfähigkeit und eine distinguierte Selbstpräsentation notwendig.34 So erklärt Jakob: [A]uf die Art und Weise kommt alles an. Es kann einer noch so töricht und unwissend sein: wenn er sich ein wenig zu schicken, zu schmiegen und zu bewegen weiß, ist er noch nicht verloren, sondern findet einen Weg durch das Leben vielleicht besser als der Kluge und Mit-Wissen-Vollgepackte. (Walser 1978a: 31)
Aus diesem Grund ist er davon überzeugt, dass zwei seiner Mitschüler – Schilinski und der ‚lange Peter‘ – „im Leben unverschämt viel Erfolg davontragen“ (Walser 1978a: 42) werden. Da sich Schilinski trotz seiner geringen „Geistesgaben“ durch einen aristokratischen Habitus auszeichnet, hält Jakob ihn für einen „zukünftige[n] Liebling der Frauen“. (Walser 1978a: 24) Auch der ‚lange Peter‘ scheint trotz seiner Unbeholfenheit und Dummheit zum „Avancieren, Hochkommen, Wohlleben und Befehlen“ (Walser 1978a: 43) wie geschaffen zu sein; denn er hält sich für einen „Kavalier“ mit dem „Aussehen eines edlen und eleganten Verbummelten“, und er geriert sich wie „einer der Großen dieses Erdenlebens, wie ein Weltblattredakteur, der die hochkostbare Zeit nicht zu verlieren hat.“ (Walser 1978a: 42)35 Da der weltliche Erfolg des Subjekts nicht von seinen Leistungen, sondern von seiner Fähigkeit zur Selbstpräsentation abhängig ist, verliert die humanistische Bildung an Geltungskraft. Das manifestiert sich in Jakobs Äußerungen über seine Lehrer, die entweder „schlafen“, „gar nicht vorhanden“ sind oder „ihren Beruf vergessen zu haben“ scheinen. (Walser 1978a: 58) Davon ausgehend, dass die Menschen nach ökonomischen und symbolischen Gewinnen streben, um die mit einer Position im Feld der Macht verbundene soziale Anerkennung zu erlangen, kommt Jakob zu dem Schluss, dass es „sehr, sehr viele Sklaven mitten unter uns modernen, hochmütig-fix und fertigen Menschen“ (Walser 1978a: 78) gibt. „Vielleicht sind wir heutigen Menschen alle so etwas wie Sklaven, beherrscht von einem ärgerlichen, peitscheschwingenden […] Weltgedanken“ (Wal-
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Der „Emporkömmling“ ist für Jakob außerdem von einer „permanenten bescheidentuenden Frechheit, oder von einer frechen, fortwährend frechen Unbedeutendheitsgebärde.“ (Walser 1978a: 117) Er gibt sich bescheiden, sucht aber selbstbezogen die eigenen Interessen durchzusetzen. Von dem hohen Stellenwert einer gelungenen Selbstpräsentation für das Erreichen sozialer Anerkennung zeugt auch Jakobs Besuch im Caféhaus mit Schilinski. Hier wird er vom Kellner erst bedient, als er ihn mit „enorm strenger Miene“ anblickt. Jakob weiß: „Ah, man muß auftreten. Wer sich mit gemessenem Anstand in die Brust zu werfen weiß, der wird als Herr behandelt. Man muß Situationen beherrschen lernen. Ich verstehe es ausgezeichnet, meinen Kopf so, als wenn ich über etwas empört, nein, nur erstaunt wäre, zurückzuwerfen. Ich blicke um mich her, als wollte ich sagen: „Was ist das? Wie? Ist man denn hier toll?“ – Das wirkt.“ (Walser 1978a: 60)
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ser 1978a: 78), so Jakob. Bemerkenswert ist, dass er über die von ihm beschriebenen Missstände nicht klagt. Das hat mehrere Gründe. Erstens kann sich Jakob keine herrschaftsfreien sozialen Strukturen denken, hat es doch zu allen Zeiten Herren und Knechte gegeben. Das gilt schon für die in der Bibel geschilderten „alt-israelitischen Zeiten“, in denen die Alten „Achtung“ genossen und ihre „Tage in einem natürlichen Reichtum, der in Länderbesitz bestand“, dahinlebten. (Walser 1978a: 77) Negativer beschreibt Jakob das Spätmittelalter, wenn er davon träumt, ein Feldherr um 1400 zu sein, der mit seiner Macht spielen kann „wie der Sturmwind mit Blättern“ (Walser 1978a: 109). Genauso „fluchwürdig“ (Walser 1978a: 138) erscheint ihm das Soldatenleben unter Napoleon. Auch jenseits von Europa kann sich der Schüler keine herrschaftsfreien Gemeinschaften denken, wird Benjamenta in seiner utopischen Vision von einer gemeinsamen Reise durch Indien doch nach einer geglückten Revolution zum Fürsten erhoben. Im Unterschied zu den von Jakob imaginierten früheren Zeiten haben sich die Herrschaftsformen allerdings geändert. Das wird am Beispiel des alten Dieners Fehlmann illustriert, der für die aristokratische Familie von Gunten gearbeitet hat. Jakob erzählt, dass sich der Subalterne „eines Tages ein grobes Verfehlen zuschulden kommen“ (Walser 1978a: 70) ließ und seine Mutter dafür um Gnade gebeten hat, so dass diese ihn nicht aus dem Arbeitsverhältnis entlassen hat. [I]ch erzähle den Auftritt anderntags meinen Kameraden […] und die lachen mich fürchterlich aus und verachten mich. Sie entziehen mir ihre Freundschaft, weil es, wie sie meinen, in unserem Haus zu royalistisch zugeht. […] Wie echte Buben, ja, aber auch wie kleine Republikaner, denen das Waltenlassen persönlicher und herrschaftlicher Gnade oder Ungnade ein Greuel und ein Gegenstand des Abscheus ist. […] wie bezeichnend ist dieser kleine Vorfall für den Lauf der Zeiten. So wie die Buben Weibel, so urteilt heute eine ganze Welt. Ja, so ist es: man duldet nichts Herren- oder Damenhaftes mehr. (Walser 1978a: 70)
Jakob schildert hier den von ihm in jüngster Zeit beobachteten Wandel von einem personalen hin zu einem strukturellen Herrschaftsmodus.36 An
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In ihrer Studie Titel und Stelle differenzieren Pierre Bourdieu, Luc Boltanski und Monique Saint Martin zwischen zwei historisch distinkten Herrschaftsmodi: „Der personale Herrschaftsmodus […] verlangte Akteure, die die traditionellen (als Grenzwert: militärischen) Autoritätsmodelle intensiv verinnerlicht hatten und die hinreichend über die im Betrieb angewandten technischen Verfahren Bescheid wußten, um zwischen dem Unternehmer und dem untergeordneten Personal (Techniker, Werkmeister usw.) vermitteln zu können. Demgegenüber verlangt der strukturelle Herrschaftsmodus objektiv Akteure, die imstande sind […] das Unternehmen sowohl nach außen (gegenüber anderen Unternehmen, Behörden usw.) werbewirksam zu vertreten, als auch nach innen, im Sinne einer Sicherung der Betriebsordnung“ (Bourdieu/Boltanski/Martin 1981: 41). Die genannten Herrschaftsmodi
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die Stelle traditionsgebundener, autoritativer persönlicher Herrschaftsbeziehungen sind strukturelle Machtasymmetrien getreten. Wie Norbert Christian Wolf herausgestellt hat, ist die „machtbasierte Autorität der Vertreter ‚struktureller Herrschaft‘ viel weniger sichtbar ist als jene der Vertreter ‚personaler Herrschaft‘“. Zudem gewinnen symbolische Euphemisierungsstrategien eine größere Bedeutung für die unmittelbare Machtausübung […] als vordem, wo die bestehenden Machtverhältnisse offen zur Schau gestellt wurden. Insofern kann leicht der Eindruck entstehen, als spielte die plane Ungleichheit hinsichtlich des ökonomischen, sozialen und symbolischen Kapitals nur noch eine untergeordnete Rolle. (Wolf 2011: 487)
Das weiß Jakob, der im Gegensatz zu seinen Schulkameraden eine „leise Sympathie […] mit der feudalen, aristokratischen Gesellschaft“ (Borchmeyer 1980: 13) hegt. Warum? Wie Jakob betont, ist Fehlmann „noch auf altväterliche Art verziehen worden. Tränen der Treue und Anhänglichkeit, wie schön ist das“ (Walser 1978a: 70), so Jakob. Herrin und Knecht bringen einander in der geschilderten Konfliktsituation soziale Wertschätzung entgegen. Davon zeugt ihr christlich humanes Handeln – Fehlmanns ergebene Diensttreue und die großzügige Vergebung seines Fehlverhaltens durch die Mutter. Diese Tugenden haben in der Gegenwart ihre Geltungskraft verloren, ohne dass die Machtasymmetrien beseitigt worden wären, wie Jakobs Bericht über die Reaktion seiner Schulkameraden zeigt. Sie entziehen dem Aristokratensohn angesichts der ‚royalistischen‘ Haushaltsführung seiner Eltern ihre Freundschaft und strafen ihn mit Missachtung. Zweitens beklagt sich Jakob nicht über die von ihm wahrgenommenen Missstände, weil er sich entschieden hat, auf weltliche Erfolge zu verzichten; und er weiß: [M]it der Sentimentalität, mit dem, was man den Schrei nennt, macht man die besten, die emporkömmlichsten und bekömmlichsten Geschäfte. Aber ich bedanke mich für die Mühseligkeiten, für die unfeinen Anstrengungen, auf solche Art zu Ehre und Ansehen zu gelangen. (Walser 1978a: 118)
Jakob rekurriert hier auf Edvard Munchs Gemälde Der Schrei, das in mehreren Versionen ab 1891 entstanden ist und als ‚Signum einer Epoche‘ gilt, in der die Emotionen der Künstler im Zentrum ihrer ästhetischen Produktion stehen (vgl. Zaloscer 1985). Anfang des 20. Jahrhunderts wird der Schrei zum Symbol für den sich in seiner Existenz bedroht fühlenden Menschen, wovon vor allem die Kunst des Expressionismus Ausdruck
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gibt.37 Den Produzenten solch ‚gefühlsbetonter‘ Artefakte wirft Jakob nun vor, strategisch zu agieren, mit dem Ziel, öffentlich beachtet zu werden und auf diese Weise zu Ruhm und zu Geld zu gelangen – ein Kalkül, das Jakob genauso ablehnt wie eine Position im Feld der Macht. Drittens will Jakob keine Zeitkritik üben, weil er das Ressentiment für eine „Revolte aus Unterwürfigkeit“ (Bourdieu 2001: 42) – für einen Trost der Unerfolgreichen und Missachteten – hält. So berichtet er über ein Gespräch mit Johann: [W]ie sagte doch Johann: „Die Mächtigen, das sind die Verhungerten“. – Ich glaube so etwas nicht gern. Und hab’ ich es überhaupt nötig, mich trösten zu lassen? Kann man einen Jakob von Gunten trösten? So lange ich gesunde Glieder habe, ist das ausgeschlossen. (Walser 1978a: 118)
Wie für Bourdieu ist das Ressentiment für Jakob Resultat „frustrierten Ehrgeizes“ (Bourdieu 2001: 43). Darunter leidend, missachtet zu werden oder die eigenen materiellen Bedürfnisse nicht befriedigen zu können, werden diejenigen, die ökonomisches und symbolisches Kapital erworben haben, moralisch verurteilt. Die Enttäuschung stellt, durch den sich darin offenbarenden Ehrgeiz, ein Eingeständnis der Anerkennung dar. Darin hat sich der Konservatismus noch niemals getäuscht; er hat darin die eindrucksvollste Würdigung einer sozialen Ordnung erkannt, die keine andere Revolte hervorbringt als die des Verdrusses, der Niedergeschlagenheit (Bourdieu 2001: 42f.).
Jakob weiß, dass er die von ihm „eindeutig negativ gezeichnete Zivilisationswelt“ (Engel 1986: 537) nicht verändern und ihr nicht entfliehen kann. Jede Klage wäre Ausdruck seiner heimlichen Anerkennung der prosaischen Realität. Die einzige Möglichkeit, sich dem „Geist des Zeitalters“ zu widersetzen, sieht er darin, sich mit der Gegenwart zu arrangieren und „im stillen [s]eine Beobachtungen zu machen“. (Walser 1978a: 70) Darin gleicht er seinem Bruder Johann. Im Unterschied zu dem Dandy,38 der die „anerkannten Sinngebungen des Lebens in Frage stellt“, aber „gesellschaftlichen Erfolg“ sucht, will Jakob aber auf eine Position im Feld der Macht verzichten. (Gnüg 1988: 77, 22)
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Bekannt ist vor allem Hermann Bahrs Diktum aus dem Jahr 1916: „Niemals war eine Zeit von solchem Entsetzen geschüttelt, von solchem Todesgrauen. Niemals war die Welt so grabesstumm. Niemals war der Mensch so klein. Niemals war ihm so bang. Niemals war Freude so fern und Freiheit so tot. Da schreit die Not jetzt auf: der Mensch schreit nach seiner Seele, die ganze Zeit wird ein einziger Notschrei. Auch die Kunst schreit mit, in die tiefe Finsternis hinein, sie schreit um Hilfe, sie schreit nach dem Geist: das ist der Expressionismus.“ (Bahr 2010: 122f.) Als Dandy wird Johann auch von Di Noi charakterisiert, vgl. Di Noi 2010: 199.
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Als Grund dafür führt Jakob seine Zartheit an, meint er doch, „keine Emporkömmlingstugenden“ zu besitzen. Er hält sich für nicht „frech“ genug, um die eigenen Interessen rücksichtslos durchzusetzen – eine Voraussetzung, um weltliche Erfolge feiern zu können. (Walser 1978a: 117) Von seiner Sensibilität zeugt vor allem seine Freundschaft mit Schacht, der als ‚dekadente‘ Künstlerfigur konzipiert ist.39 Jakob fühlt sich ihm wie in „Bruderliebe“ (Walser 1978a: 15) verbunden, ein Verweis darauf, dass Schacht eine Facette seiner selbst verkörpert.40 Im Vergleich zu seinem empfindsamen Freund, der die prosaische Realität nicht „anerkennen und willkommen heißen“ kann, will sich Jakob „dem Leben und seinen Stürmen“ aber unerschrocken stellen. (Walser 1978a: 123, 64) Dazu will er sich im Institut Benjamenta zum Diener ausbilden lassen. Aber „[w]as bezweckt Benjamenta’s Knabenschule?“ (Walser 1978a: 8) Zur Beantwortung dieser Frage wird im Folgenden Jakobs (Selbst-)Erziehungsprogramm in den Blick genommen. 1.2.2 Jakobs (Selbst-)Erziehung zum Diener im Institut Benjamenta Wie Grenz hervorgehoben hat, geht Jakob im Institut, in dem er sich zum Diener ausbilden lassen will, „im Grunde bei sich selbst zur Schule“. Geschildert wird eine innere „Auseinandersetzung […], die dargestellt wird als Auseinandersetzung mit einer Außenwelt.“ (Grenz 1974: 138) Das wird zum einen dadurch deutlich, dass der Institutsaufenthalt Jakob manchmal wie ein „Traum“ oder ein „Märchen“ vorkommt, so dass unklar ist, ob er real oder imaginiert ist. (Walser 1978a: 10, 62). Zum anderen betont der Schüler, dass er ins Institut eingetreten ist, um sich „quasi selbst zu erziehen“ oder sich „auf eine künftige Selbsterziehung vorzubereiten“. (Walser 1978a: 69) Das von ihm bzw. im Institut Benjamenta propagierte Lernziel besteht in der Negation der eigenen Individualität.
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Schacht weist zahlreiche Eigenschaften eines Décadent auf. Zu nennen sind etwa seine femininen Züge und seine „geschwächte Lebenskraft“ (Rasch 1986: 38), von der seine Schwermut und sein „Seelenleiden ohne Namen“ (Walser 1978a: 13) zeugen; ferner seine „erhöhte Sensibilität“ und „künstlerische Begabung“ (Rasch 1986: 19), seine große „Einbildungskraft“ (Walser 1978: 13), durch die er vor der Realität in Phantasiewelten flüchtet, seine promiskuitive Sexualität und schließlich die Unfähigkeit, „die Normalität des gegebenen Daseins zu bejahen und hinzunehmen“ (Rasch 1986: 55); zu Schacht vgl. Walser 1978a: 13–15, 123f. Auf die „[f]unktionalisierte Figurenkonstellation“ im Roman hat zuletzt Engel hingewiesen. Wie er zu Recht betont, ergibt sich die Funktion aller Figuren aus ihrer „Relation der Charaktere zum Helden als transzendental-psychologischem Subjekt der Romanwelt.“ (Engel 1986: 551)
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Die Schüler sollen ihre „Eitelkeit[en]“ und „Begehrlichkeit[en]“ überwinden und sich auf ein Leben voller „Entsagung[en]“ vorbereiten. (Walser 1978a: 55f.) Während die Schule ihre Zöglinge auf diese Weise zu willigen Arbeitskräften mit knechtischem Bewusstsein auszubilden sucht, erhofft sich Jakob, die mit der Bejahung des ‚Willens zum Leben‘ einhergehende Angst und Unruhe überwinden und zu Souveränität und „Gelassenheit“ (Schopenhauer 21989: 815) finden zu können. Die Verneinung der eigenen Individualität manifestiert sich etwa in der Uniformierung der Zöglinge, in dem Gebot des asketischen Verzichts auf Genussmittel sowie in der Forderung nach Affektkontrolle, Geduld und blindem Gehorsam (vgl. Walser 1978a: 57, 8). Laut Jakob handeln die Zöglinge, weil wir müssen, aber warum wir müssen, das weiß keiner von uns so recht. Wir gehorchen, ohne zu überlegen, was aus all dem gedankenlosen Gehorsam noch eines Tages wird, und wir schaffen, ohne zu denken, ob es recht und billig ist, daß wir Arbeiten verrichten müssen. (Walser 1978a: 36)41
In seinem Tagebuch beschreibt Jakob die Erziehung zum Diener als Dressur.42 Anstatt die Schüler in der Entwicklung ihrer Persönlichkeit zu fördern, sollen sie sich ‚feine Manieren‘ aneignen (vgl. Walser 1978a: 112). Laut Jakob gibt es „nur eine einzige Stunde, und die wiederholt sich immer: ‚Wie hat sich der Knabe zu benehmen?‘ Um diese Frage herum dreht sich im Grunde genommen der ganze Unterricht. Kenntnisse werden uns keine beigebracht.“ (Walser 1978a: 9) Auch die praktischen Unterrichtsstunden zielen auf die bloße Einübung von Handlungsregeln. „Der Gruß, das Eintreten in eine Stube, das Benehmen gegenüber Frauen oder ähnliches wird geübt, und zwar sehr langfädig, oft langweilig“ (Walser 1978a: 63), so Jakob.43
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Die Vorschriften des Instituts werden laut Jakob durch den „Wandschmuck“ illustriert. Im Schulzimmer hängen „noch die Bilder des verstorbenen Kaiserpaares“ und über der Tür, „die in die geheimnisvolle unbekannte Welt der innern Gemächer führt, hängt […] ein ziemlich langweilig aussehender Schutzmannssäbel mit dito quer darüber gelegtem Futteral. Darüber thront der Helm.“ (Walser 1978a: 35) Zeit und Ort der Romanhandlung lassen sich nicht bestimmen, daher können Bilder und Uniform auch nicht zur textexternen Realität in Bezug gesetzt werden. Jakobs Hinweis darauf, dass das Kaiserpaar nicht mehr am Leben ist und die Insignien der Polizeiuniform wahrscheinlich „bei einem alten Trödler“ (Walser 1978a: 35) erworben worden sind, verweisen aber auf eine offenbar vergangene, streng hierarchisch organisierte Gesellschaftsordnung mit einem Monarchen an der Spitze – auf eine Zeit, in der soziale Ungleichheiten (noch) nicht in Frage gestellt worden und die bestehenden Herrschaftsverhältnisse durch unbedingten Gehorsam fordernde, autoritative staatliche Institutionen gesichert worden sind. Vgl. u. a. Walser 1978a: 18, 56. Dass der Unterricht im Institut auf das Erlernen berufsspezifischer Umgangsformen zielt, wird im Roman vielfach thematisiert, vgl. etwa das von den Zöglingen aufgeführte Thea-
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Lernziel ist die gedankenlose Unterordnung unter einen fremden Willen. Um die Schüler empfinden zu lassen, dass sie „nur kleine, arme, abhängige, zu einem fortwährenden Gehorsam verpflichtete Zwerge sind“ (Walser 1978a: 64), wird den Schülern die soziale Anerkennung in allen drei der von Axel Honneth profilierten Bereiche Liebe, Recht und Solidarität verweigert.44 Sie werden erstens physisch misshandelt, wodurch ihre leibliche Integrität verletzt wird, berichtet Jakob doch, von Benjamenta geschlagen worden zu sein (vgl. Walser 1978a: 20). Zweitens werden die Schüler entrechtet, wodurch sie „den Status eines vollwertigen, moralisch gleichberechtigten Interaktionspartners“ (Honneth 1994: 216) verlieren. Das wird am Beispiel der körperlichen Auseinandersetzung zwischen Jakob und Tremala illustriert. Als Jakob vom Vorsteher zur Rede gestellt wird, fragt dieser gar nicht, wer den Streit angefangen habe, sondern gibt mir einen Schlag an den Kopf und geht weg. Ich will ihm nachlaufen um es ihm entgegenzubrüllen, wie ungerecht er ist, doch ich beherrsche mich, besinne mich, werfe einen Blick über die gesamte Knabenschar und gehe wieder an meine Arbeit. (Walser 1978a: 36f.)
Drittens wird den Zöglingen keine persönliche Wertschätzung entgegengebracht. Davon zeugen die Unterrichtsstunden, in denen sich die Schüler „echt dummejungenhaft zehn Minuten lang auf das Aufstehen“ (Walser 1978a: 89) von ihren Plätzen vorbereiten sollen. Wie Jakob betont, liegt eine „kleine Entehrung […] in all diesen kleinlichen Forderungen, die eigentlich lächerlich sind, aber uns soll nichts an unserer persönlichen, sondern uns soll alles an der Ehre des Institutes Benjamenta gelegen sein“ (Walser 1978a: 89). Alle drei Formen der sozialen Missachtung – die physische Misshandlung, die Entrechtung und die Entwürdigung – zielen darauf, die Zöglinge auf ein entbehrungsreiches Leben ohne Sozialprestige vorzubereiten. Der Wille zur Entsagung wird dabei religiös konnotiert. So wird das „gute Benehmen“ (Walser 1978a: 83) im Lehrbuch der Schule mit dem Paradiesgarten gleichgesetzt. Benimmt sich einer dumm, so muß er sich schämen und ärgern, und das ist die peinliche Hölle, in welcher er schwitzt. Ist er dagegen aufmerksam gewesen und hat er sich geschmeidig benommen, so nimmt ihn jemand Unsichtbares an der Hand, etwas Trauliches, Genienhaftes, und das ist der Garten, die gute Fügung, und er lustwandelt nun unwillkürlich in traulichen, grünlichen Gefilden. (Walser 1978a: 84)
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terstück, in dem sich ein Mädchen in einen Benjamentaschüler wegen seines „aristokratische[n] Benehmen[s]“ (Walser 1978a: 112f.) verliebt, oder Jakobs Berichte von der vorschriftsmäßigen Körperhaltung im Unterricht, vgl. Walser 1978a: 55f. Zu Honneths Anerkennungstheorie vgl. II.1.1.1.
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Durch das (Selbst-)Erziehungsprogramm gewinnt Jakob eine andere Einstellung zur modernen Lebenswelt. Die Großstadt erscheint ihm nicht mehr nur als Ort, an dem die Menschen rücksichtslos nach ökonomischem und symbolischem Kapital streben, sondern auch als ‚Erziehungsstätte‘, in der sich das Subjekt angesichts der es umgebenden Menschenmenge seiner eigenen Nichtigkeit bewusst wird. Auf diese Weise lernt es, sich gering zu schätzen, sozial konform zu agieren und sich „schicklich und ohne viel Federlesens durch all den lebendigen Kram hin durchzuwinden.“ (Walser 1978a: 47) Beispielhaft umgesetzt wird die Negation der eigenen Individualität von Kraus – dem „Vertreter aller hier im Institut Benjamenta bestehenden Vorschriften“ (Walser 1978a: 28). Er orientiert sich strikt an den in der Schule propagierten Grundsätzen. Das manifestiert sich in seiner Ernsthaftigkeit. Während Jakob häufig eine Perspektive der Distanz einnimmt und sich lachend über die im Institut geltenden Vorschriften hinwegsetzt, ist Kraus nie vergnügt, „oder wenn es ihn hinreißt, dann nur ganz kurz, und dann ist er zornig, daß er sich zu einem so vorschriftswidrigen Ton hat hinreißen lassen.“ (Walser 1978a: 9) Seine Selbstverleugnung kommt außerdem in seiner fehlenden Fähigkeit zur Verstellung zum Ausdruck. Wie Jakob betont, ist Kraus der „schlechteste Schauspieler“ (Walser 1978a: 113) des Instituts. Während die meisten Menschen im Lügen und Betrügen geübt sind, weil sie ihre Interessen rücksichtslos durchzusetzen suchen, ist Kraus weder willens noch fähig, andere zu hintergehen. „Er ist treu und anständig gegen alle.“ (Walser 1978a: 79) Seine durch „Selbstzucht“ erworbene altruistische Diensttreue ist für Jakob ein Ausweis ‚wahrer‘ „menschliche[r] Bildung“ und höher zu schätzen als alles theoretische Wissen. (Walser 1978a: 80) In einer Zeit des Individualismus, in der jede menschliche Interaktion auf das Erringen weltlicher Erfolge zielt, ist Kraus allerdings eine anachronistische Figur, für Jakob ein „Ritter von Kopf bis zu Fuß. Er gehört eigentlich ins Mittelalter, und es ist sehr schade, daß ihm kein zwölftes Jahrhundert zur Verfügung steht.“ (Walser 1978a: 49) Wie Jakob weiß, wird Kraus im späteren Leben keine Anerkennung erfahren – zum einen wegen seines „unansehnlichen, geringen, unschönen Körper[s]“ (Walser 1978a: 80) und zum anderen wegen seiner Selbstlosigkeit, durch die er für sein soziales Umfeld ‚unsichtbar‘ wird. Im Gespräch konstatiert Benjamenta: Ja, Kraus ist gar nicht wie andere Menschen. […] Von solchen Menschen, wie er einer ist, macht man kein Rühmens und Aufhebens. Man rühmt Kraus eigentlich nie, und kaum ist man ihm dankbar. Man verlangt nur von ihm: Tu das, und dann wieder: Tu dies. Und man spürt kaum, daß man, und wie vollkommen, bedient worden ist, so vollkommen ist man bedient worden. Die Person Kraus ist gar nichts, nur der Schaffer, der Ausüber Kraus ist etwas, aber der macht sich gar
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nicht bemerkbar. Zum Beispiel dich, Jakob, lobt man, es macht einem Freude, dir wohl zu sein. Für Kraus hat man kein Wort, keine Neigung übrig. (Walser 1978a: 121)
Das Zitat zeigt, dass der seine Individualität negierende Kraus hinter seiner Dienerexistenz ‚verschwindet‘. Daher wird er von Benjamenta auch nicht als sozial anzuerkennendes oder gar liebenswürdiges Subjekt wahrgenommen. Das wird von Jakob positiv bewertet, weil sein Mitschüler so vor den Folgen des weltlichen Erfolgs – Selbstzufriedenheit und Eitelkeit – bewahrt wird. (Vgl. Walser 1978a: 83)45 Bewundernd stellt er heraus, dass Kraus auch gar nicht auf soziale Anerkennung angewiesen ist. So erklärt er: „Ja, man wird Kraus nie achten, und gerade das, daß er, ohne Achtung zu genießen, dahinleben wird, das ist ja das Wundervolle und Planvolle“ (Walser 1978a: 81). Diese Unabhängigkeit von der Bestätigung anderer zeichnet den Zögling aus und verleiht ihm in den Augen von Jakob und Lisa Benjamenta etwas „Unsichtbar-Herrscherartiges“ (Walser 1978a: 124). Unanfechtbar ist er außerdem dadurch, dass er nichts „liebt und haßt“ (Walser 1978a: 140). Da er sich selbst verleugnet, besitzt er keine Leidenschaften und kann so auch nicht von unerfüllten Wünschen gequält werden. Vor diesem Hintergrund erscheint Jakob der ungraziöse Kraus […] schöner als die graziösesten und schönsten Menschen. Er glänzt nicht mit Gaben, aber mit dem Schimmer eines guten und unverdorbenen Herzens, und seine schlechten, schlichten Manieren sind vielleicht […] das Schönste, was es an Bewegung und Manier in der menschlichen Gesellschaft geben kann. (Walser 1978a: 81)
Kraus’ Grazie resultiert aus seiner im buchstäblichen Sinn ‚selbstvergessenen‘ Diensttreue. Darin ähnelt er Heinrich, den Jakob für seine mühelose Unterwerfung unter die Institutsvorschriften ebenfalls hoch schätzt. Während Kraus sein Verhalten aber durch totale „Selbstzucht“ steuert – „er ist nie, nie gedankenlos, er unterwirft sich immer gewissen selbstgestellten Geboten“ – agiert Heinrich vollkommen unbewusst wie ein Kind. (Walser 1978a: 80) So charakterisiert ihn Jakob in seinem Tagebuch: Er besitzt keinen Charakter, denn er weiß noch gar nicht, was das ist. Gewiß hat er noch nie über das Leben nachgedacht, und wozu? Er ist sehr artig, dienstfertig und höflich, aber ohne Bewußtsein. Ja, er ist wie ein Vogel. Das Trauliche gelangt an ihm überall zum Vorschein […] Alles ist unschuldig, friedfertig und glücklich an Heinrich. (Walser 1978a: 10)
Diese von Jakob bewunderte ‚Selbstvergessenheit‘ ist Lernziel des Instituts. So heißt es im Tagebuch: „Wenn zum Beispiel ein Zögling des Insti-
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Laut Jakob gibt es keinen Menschen, der weniger eitel ist als Kraus, vgl. Walser 1978a: 32. Grund dafür ist seine Negation der eigenen Persönlichkeit.
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tutes Benjamenta nicht weiß, daß er artig ist, dann ist er es. Weiß er es, dann ist seine ganze unbewußte Zier und Artigkeit weg, und er begeht irgendeinen Fehler.“ (Walser 1978a: 90) Mit Recht hat Borchmeyer darauf hingewiesen, dass Walser hier auf Heinrich von Kleists Schrift Über das Marionettentheater (1810) rekurriert.46 Den Schülern wird hier ‚Zier und Artigkeit‘ attribuiert, weil sie wie der an den Dornauszieher erinnernde Kleist’sche Knabe kein Selbstbewusstsein besitzen. Ähnlich wie Marionetten agieren sie idealerweise rein mechanisch, gesteuert von einem fremden Willen. Als ‚Vorbilder‘ fungieren daher Heinrich und Kraus. Während der eine noch ein naives Selbst besitzt – er hat den Sündenfall der (Selbst-)Erkenntnis noch nicht erlebt –, ist Kraus fähig, sein Selbst zu verleugnen und sich einem anderen blind zu „fügen“ (Walser 1978a: 89). Die beiden Daseinsmodelle bleiben Jakob allerdings verwehrt. Im Unterschied zu Heinrich hat er bereits „von dem Baum der Erkenntnis [geg]essen“ (Kleist 2001: 345), was sich in seinen Kindheitsbeschreibungen manifestiert. Im Tagebuch beschreibt er den Ort, an dem er aufgewachsen ist, als locus amoenus. Alle für das Genre und die Denkfigur der Idylle konstitutiven Topoi wie „Gras, kühle Quelle, schattige Bäume“ (Böschenstein 1967: 8) und Vogelgezwitscher werden aufgerufen. Eine Rückkehr in diesen idealisierten unentfremdeten Naturzustand ist Jakob allerdings nicht möglich. Zum einen hat er mit dem Eintritt in das Institut Benjamenta seine Kindheit hinter sich gelassen, zum anderen muss er zugeben, dass ihm die Natur „schon als ganz klein als etwas HimmlischEntferntes vorgekommen“ (Walser 1978a: 40) ist; schließlich ist er schon in jungen Jahren mit den Schrecknissen der Zivilisation – mit Kriegsgefahr und Tod – konfrontiert worden.47 Auch Kraus’ Existenzweise kommt für Jakob nicht in Frage, kann (und will) er seine Individualität doch nicht vollständig negieren. Das zeigt sich erstens in seiner Sehnsucht nach sozialer Anerkennung. Auch wenn
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Vgl. Borchmeyer 1980: 21. Dass Jakob nicht zurück in die Naivität der Idylle fliehen kann, macht auch seine Beziehung zu seinem Mitschüler Hans deutlich. Dieser wird als „rechte[r] Bauernjunge“ beschrieben, „wie er in Grimms Märchenbuch steht. […] Schlank, grob und knochig ist er, und er spricht eine wunderliche, gutmütig-bäuerische Sprache, die mir eigentlich gefällt, wenn ich mir Mühe gebe, die Nasenlöcher zuzuhalten. Nicht, als ob Hans etwa übel dünste und dufte. Und doch tut man irgendwelche empfindliche Nasen zu, meinetwegen geistige, kulturelle, seelische Nasen […]. Und er merkt so etwas ja gar nicht, dazu sieht, horcht und empfindet dieser Landmensch viel zu gesund und zu schlicht.“ (Walser 1978a: 39f.) Wie das Zitat zeigt, ist für Jakob ein ‚unentfremdetes‘ Leben nur im Märchen möglich. Als Kulturwesen hat er im Unterschied zu seinem Mitschüler keinen Zugang (mehr) zur arkadischen Natur.
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er danach strebt, eine ‚Null‘ zu werden, möchte er sich aus Angst davor, missachtet werden zu können, nicht mit seinem Bruder Johann treffen. (Vgl. Walser 1978a: 54) Zweitens fantasiert Jakob wiederholt von Macht und Reichtum. So möchte er unbedingt zu Geld gelangen, wenn er es auch nicht akkumulieren, sondern auf „sinnverwirrende Art und Weise“ (Walser 1978a: 76) ausgeben will. Von Macht fantasiert Jakob vor allem in seinen Träumen. Einmal imaginiert er sich als Feldherr, ein anderes Mal träumt er davon, sich „auf Kosten […] anderer“ so stark bereichert zu haben, dass er sich die als allegorische Personifikationen auftretende ‚Lebensweisheit‘, die ‚kindliche Unschuld‘, den ‚Lebensernst‘, den ‚Eifer‘ und die ‚Tugend‘ unterwerfen kann (vgl. Walser 1978a: 87f.) Drittens ist er im Gegensatz zu Kraus unfähig, sich einem fremden Willen bedingungslos zu unterwerfen, muss er doch zugeben: Ich habe die schönsten Vorstellungen von Gehorsamkeit und Aufmerksamkeit, und sonderbar: es entwischt mir. Ich bin tugendhaft in der Einbildung, aber wenn es darauf ankommt, Tugenden auszuüben? Wie dann? Nicht wahr, ja, dann ist es eben etwas ganz anderes, dann versagt man, dann ist man unwillig. (Walser 1978a: 49)
Wie ausgeführt, zielt das (Selbst-)Erziehungsprogramm im Institut Benjamenta auf die Negation der eigenen Individualität. Im Unterschied zu Heinrich und Kraus kann und will sich Jakob – der Aristokratensohn – aber nicht ‚selbstvergessen‘ einem anderen Willen fügen. So bewundert und verachtet er Kraus für seine Diensttreue.48 Vielmehr will er im Dienen seine Souveränität bewahren und sich als ‚Geistesaristokrat‘ beweisen, wie nun zu zeigen ist. 1.2.3 Erster Existenzentwurf: Die Dienerexistenz als Form der ‚Geistesaristokratie‘ In seinem Tagebuch betont Jakob, ein „sonderbares Doppelleben“ zu führen – „ein geregeltes und ein ungeregeltes, ein kontrolliertes und ein unkontrollierbares, ein einfaches und ein höchst kompliziertes“. (Walser 1978a: 140) Die hier formulierten Paradoxien sind Ausdruck seines Anspruchs, sich als Diener einem anderen Subjekt zu unterwerfen und dabei souverän bleiben zu können. Dieser Daseinsentwurf ist notwendigerweise
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Dass Jakob Kraus trotz aller Zuneigung verachtet, wird etwa deutlich, wenn er erklärt: „[E]inem Herrn […] werde ich […] dienen, und ehrenhaft dienen, treu, verläßlich, fest, fast ganz gedankenlos, ganz unerpicht auf persönliche Vorteile, denn nur so, nämlich ganz anständig, werde ich überhaupt jemandem dienen können, und jetzt merke ich, daß ich Verwandtes mit Kraus habe, und ich schäme mich beinahe ein wenig.“ (Walser 1978a: 117)
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von Widersprüchen geprägt. So idealisiert Jakob die Gedankenlosigkeit, nutzt aber das Tagebuch als Medium der Selbstreflexion; er propagiert die Selbstverleugnung, sehnt sich aber nach Macht und Geld; er will gehorchen lernen und sich selbstbestimmt über die Institutsvorschriften hinwegsetzen; und er möchte „respektvoll“ (Walser 1978a: 68) zu etwas emporschauen, das er zugleich verachtet. Dieses spannungsreiche Existenzmodell soll im Folgenden näher beleuchtet werden. Im Anschluss an Max Brod lässt sich Jakobs ‚Wille zur Ohnmacht‘ als Antithese zu Nietzsches Machtwillen lesen.49 Zwischen beiden herrschaftstheoretischen Positionen lassen sich aber auch Parallelen ziehen. So besitzt Walsers Zögling wie Nietzsches ‚Geistesaristokrat‘ ein ‚Pathos der Distanz‘ – ein Vermögen, durch das sich das Subjekt laut Nietzsche seine geistige Unabhängigkeit bewahren und selbstbestimmt agieren kann.50 Das zeigt sich erstens in Jakobs Distanz im Hinblick auf das Zeitliche – in seinem Bestreben, „immer wieder Abstand zu dem zu gewinnen, was mit der Zeit auf ihn eingedrungen ist.“ (Braatz 1988: 255) Anstatt sich auf die Bewältigung seiner Vergangenheit zu konzentrieren, hat der Schüler seine Zukunft im Blick, bereitet er sich doch mit Hilfe des (Selbst-)Erziehungsprogramms im Institut auf die Herausforderungen des Erwachsenenlebens vor. Dabei will er sich von der öffentlichen Meinung unabhängig machen, wenn ihm das auch nicht vollständig gelingt.51 Zweitens besitzt Jakob eine vertikale Distanz zu anderen, will er doch bestehende soziale Ungleichheiten nicht nivellieren, sondern aufrechterhalten. Davon zeugt nicht nur sein Wunsch, sich zum Diener ausbilden zu lassen, sondern auch seine Beziehung zu Lisa Benjamenta, zu der er sich emotional hingezogen fühlt. In seinem Tagebuch konstatiert er: Wir gehörten zusammen. Natürlich mit Unterschied. Doch wir stunden uns mit einmal sehr nahe. Immer, immer aber mit Unterschied. Ich hasse es geradezu, so gar wenig oder gar keine Unterschiede zu empfinden. Darin, daß Fräulein Benjamenta und ich zwei sehr verschieden geartete und gestellte Wesen waren, das zu spüren, darin lag für mich ein Glück. (Walser 1978a: 98)
Wie hier bereits angedeutet wird, besteht Jakob drittens auf einer horizontalen Distanz zu anderen, um emotional unabhängig zu bleiben. So erklärt er: Gewisse Leute, die mir zugetan sind, sind mir zuwider, ich kann das hier nicht nachdrücklich genug betonen. Natürlich finde auch ich an der Milde, am Herzlichen Geschmack. […] Aber ich hüte mich stets, nahezutreten, und ich weiß nicht, ich muß darin Talent besitzen, jemanden von der Unklugheit gewisser Annähe-
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Vgl. Brod 1978. Zu Nietzsches Herren- und Sklavenmoral sowie zum ‚Pathos der Distanz‘ vgl. III.1. So fürchtet sich Jakob etwa davor, seinen Bruder zu besuchen, aus Angst davor, „von oben herab“ (Walser 1978a: 54) behandelt werden zu können.
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rungen stumm zu überzeugen, wenigstens halte ich es für schwierig, sich in mein Vertrauen zu stehlen. (Walser 1978a: 105)
Jakobs Streben nach totaler Gefühlskontrolle kommt im Handlungsverlauf mehrfach zum Ausdruck, so etwa in seinen Gesprächen mit Lisa Benjamenta. Als sie ihn nach seinen Gefühlen fragt, gesteht er ihr seine Zuneigung, um sich danach sofort von ihr zu distanzieren. Darüber empört, „fast weinen“ zu müssen, lässt er „ihre Hand schroff fahren“. (Walser 1978a: 120) Ähnlich kühl reagiert er in einer späteren Unterhaltung, in der sie ihm mitteilt, sterben zu müssen. Anstatt an ihrem Schicksal Anteil zu nehmen, kreisen seine Gedanken ausschließlich ums Geld. Er kann (und will) keine starken Emotionen zulassen, um unangreifbar zu sein und um von anderen nicht in die Pflicht genommen werden zu können. „[H]erzliche Erschütterungen senken etwas wie Eiseskälte in meine Seele hinein“ (Walser 1978a: 134f.), so Jakob. Das gilt auch für seine Eltern, zu denen er jeden Kontakt abgebrochen hat, weil er „nicht Auskunft geben“ mag. „Es ist mir zu dumm. Schade, ich sollte nicht Eltern haben, die mich lieben.“ (Walser 1978a: 22) Durch seine horizontale Distanz zu anderen wirkt Jakob gleichgültig; kontrastierend dazu attribuiert ihm Lisa Benjamenta allerdings ein „mitleidendes, mitempfindendes Verständnis“ „für alles und jedes“. (Walser 1978a: 145) Von seiner Sensibilität zeugt auch seine Freundschaft zu Schacht. Davon ausgehend lässt sich Jakobs Gefühlskälte als Reaktion auf die Gefühlskälte deuten, die er den Menschen zuschreibt und an der Lisa Benjamenta zugrunde geht. Wie sie Jakob erklärt, muss sie sterben, weil sie „keine Liebe gefunden“ (Walser 1978a: 145) hat. Um den Jungen vor den eigenen leidvollen Erfahrungen zu bewahren, soll er – im Gegensatz zu ihr – „nie wieder irgend etwas […] begehren“ (Walser 1978a: 146). Um sich nicht von anderen abhängig zu machen, greift Jakob zu verschiedenen Selbstbehauptungsstrategien. Erstens sucht er den Streit mit denjenigen, die ihm am Herzen liegen. Indem er seine Gegenüber von sich stößt, will er die für ihn notwendige Distanz zu ihnen wieder herstellen. So bekennt er Lisa Benjamenta, dass das „Zanken“ bei ihm ein „Zeichen der Liebe und Achtung“ ist. (Walser 1978a: 73f.) Auf diese Weise lässt sich auch erklären, warum Jakob nichts angenehmer ist, als Menschen, die ich in mein Herz geschlossen habe, ein ganz falsches Bild von mir zu geben. […] Übrigens geht das bei mir ein wenig ins Krankhafte. So zum Beispiel stelle ich es mir als unsagbar schön vor, zu sterben, im furchtbaren Bewußtsein, das Liebste, was ich auf der Welt habe, gekränkt und mit schlechten Meinungen über mich erfüllt zu haben. (Walser 1978a: 26)
Ohne eine emotionale Bindung meint Jakob, das Leben leicht negieren und so gelassen sterben zu können.
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Zweitens ‚maskiert‘ sich Jakob ähnlich wie Nietzsches ‚Geistesaristokrat‘, um sich unangreifbar zu machen. Dazu dient ihm die im Institut zu tragende Uniform, wie Rolf-Peter Janz herausgestellt hat. Gunten ist das Tragen der Uniform angenehm, nicht etwa, weil sie ihn auf den gering geschätzten Status des Dieners festlegt, den er sich doch wünscht, sondern weil sie ihm eine Camouflage ermöglicht. Er widerspricht der gängigen Auffassung, dass Kleider Leute machen. Die Uniform macht in diesem Fall eben nicht den Diener; sie kann erniedrigen, ebenso aber auch erheben, sie verrätselt die Identität dessen, der sie trägt. (Janz 2003: 111)
Jakobs ‚Maskerade‘ kommt außerdem in seinen Verstellungen zum Ausdruck, so etwa während seiner Friseurbesuche, bei denen er auf Fragen nach seiner Nationalität die Antwort verweigert oder lügt; oder während seines Aufenthalts im Restaurant „mit Damenbedienung“, bei dem er sich darüber freut, sich als vermögender Herr auszugeben, es ihm aber genauso gefällt, von seiner Begleitung „für dumm“ gehalten zu werden. (Walser 1978a: 26f.) Ausdruck seiner Distanz zur prosaischen Realität ist drittens sein Lachen über sich selbst und andere.52 „Wenn ich so lache, nun, dann steht nichts mehr über mir“ notiert Jakob in seinem Tagebuch. „Dann bin ich etwas an Umfassen und Beherrschen nicht zu Überbietendes. Ich bin in solchen Momenten einfach groß.“ (Walser 1978a: 130) Auch hier lassen sich Parallelen zu Nietzsche ziehen, der dem Lachen in seinen philosophischen Schriften „als Triumph über alle Teleologie und Gesetzlichkeit, als Triumph über alle Einsamkeit und Krankheit, als letzte Reserve gegen Vernünftigkeit und Normalität“ (Skirl 2011b: 268) eine große Bedeutung zuweist. Als ‚Geistesaristokrat‘ zeichnet sich Jakob viertens dadurch aus, dass er sich lustvoll über die Institutsvorschriften hinwegsetzt. „Etwas nicht tun sollen, das ist manchmal so reizend, daß man nicht anders kann, als es doch zu tun“, so Jakob. „Deshalb liebe ich ja so von Grund auf jede Art Zwang, weil er es einem erlaubt, sich auf Gesetzeswidrigkeiten zu freuen. […] Mich soll man nur antreiben, zwingen, bevormunden. Ist mir durchaus lieb. Zuletzt entscheide doch ich, ich allein.“ (Walser 1978a: 28) Wie Peter Utz gezeigt hat, lässt sich diese Äußerung zu Nietzsches Schrift Menschliches, Allzumenschliches (1878) in Bezug setzen. Hier wird der „Zwang“ zur strengen ästhetischen Form, den sich die griechischen „Dichter und Schriftsteller“ selbst auferlegt haben, als eine „Fessel“ beschrieben, die erst das ‚Tanzen‘ – die virtuose Kunst – ermöglicht. (Nietzsche 1999a: 612) So heißt es bei Nietzsche: „‚In Ketten tanzen‘, es sich schwer
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Vgl. u. a. Walser 1978a: 11f., 74, 87, 130, 140.
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machen und dann die Täuschung der Leichtigkeit darüber breiten, – das ist das Kunststück, welches sie uns zeigen wollen.“ Genauso wie die griechischen Künstler unterwirft sich auch Jakob „selbstgelegte[n] Fessel[n]“, (Nietzsche 1999a: 612) weil sie erst das „Kunststück des Tanzes“ (Utz 1998: 185) ermöglichen. In der Tat spielt das Motiv des Tanzes im Roman eine zentrale Rolle. Als Tänzer wird Jakob etwa von Kraus bezeichnet, wenn dieser ihm seine ironische Haltung zur Welt vorhält: Du bildest dir auf eine springerische und tänzerische Leichtfertigkeit ganz gewiß […] Königreiche ein? Du Tänzer, o ich durchschaue dich. Immer lachen über das Richtige und Ziemliche, das kannst du […]. Lerne du auswendig, das, was dir als Lektion vorschweben sollte, statt mir zeigen zu wollen, daß du auf mich herablachen kannst. Ist das ein Herrchen! Es will mir dartun, daß es sich brüsten kann, wenn es ihm paßt. (Walser 1978a: 138)
Wie das Zitat verdeutlicht, fungiert das Tanzen hier als Metapher für Jakobs „anti-ideologische Beweglichkeit“ (Utz 1998: 189). Indem er alle herrschenden Weltdeutungsmuster in Zweifel zieht, sich selbst nicht ernst nimmt und sich jeder Festlegung verweigert, gelingt es ihm trotz aller Repressionen, sich seine ‚innere Freiheit‘ zu bewahren.53 Das illustriert auch sein Gang durch die ‚inneren Gemächer‘. Mit Lisa Benjamenta befindet sich Jakob plötzlich auf einer glatten, offenen, schlanken Eis- oder Glasbahn. Wir schwebten dahin wie auf wunderbaren Schlittschuhen, und zugleich tanzten wir, denn die Bahn hob und senkte sich unter uns wie eine Welle. Es war entzückend. Ich hatte nie so etwas gesehen, und ich rief vor lauter Freude: „Wie herrlich“ […]. „Das ist die Freiheit“, sagte die Lehrerin, „sie ist etwas Winterliches, Nicht-lange-zu-Ertragendes. Man muß sich immer, so wie wir es hier tun, bewegen, man muß tanzen in der Freiheit. (Walser 1978a: 101)
Um autonom zu sein, muss das Subjekt ständig in Bewegung sein – die eigenen Theorien, Vokabulare und Sichtweisen permanent hinterfragen. Diese Position teilt Jakob mit Nietzsche, der ebenfalls davon überzeugt ist, dass es keine metaphysischen Wahrheiten gibt. Stattdessen wird die Wirklichkeit sprachlich konstruiert. Da es nur ein perspektivisches Erkennen gibt, müssen die eigenen Positionen durch das Einnehmen neuer Standpunkte immer wieder überprüft werden. Als Bild dafür dient Nietzsche in Also sprach Zarathustra (1883–85) das Wandern – ein Motiv, das
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Ähnlich argumentiert Engel, wenn er erklärt: „Die absolute, identitätsauslöschende Anpassung an das Realitätsprinzip, die das Institut […] betreibt, übernimmt Jakob jedoch nur als äußeres Verhaltenskorsett, das er innerlich mit einer ebenso verabsolutierten Orientierung am Lustprinzip ausfüllt, für die im Roman die Metapher des Tanzens steht“ (Engel 1986: 538).
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auch für Walsers Prosatexte zentral ist. Indem sich Zarathustra durch die Welt bewegt, verändert sich sein Blickwinkel im wörtlichen und im übertragenen Sinne. Durch die neuen Eindrücke wird er zum ständigen Umdenken und Aushalten der aus der perspektivischen Welterfahrung resultierenden Widersprüche gezwungen. Eine ähnliche Bedeutung wie dem Wandern kommt dem Tanzen zu, mit dem sich Zarathustra vor Fixierungen zu schützen sucht. So heißt es im vierten Buch: Und, wahrlich, zum Standbild ward ich nicht, noch stehe ich nicht da, starr, stumpf, steinern, eine Säule; ich liebe geschwindes Laufen. Und wenn es auf Erden auch Moor und dicke Trübsal giebt: wer leichte Füsse hat, läuft über Schlamm noch hinweg und tanzt wie auf gefegtem Eise. (Nietzsche 1999d: 365f.)
Genauso wie Zarathustra bewegt sich auch Jakob wie auf einer ‚Eisbahn‘, um das Leben „von Grund auf kennen zu lernen“ (Walser 1978a: 114). Die totale ‚kalte und schöne‘ Freiheit, die Jakob mit Lisa Benjamenta auf dem Eis erfährt, lässt sich für ihn aber nur „momentelang, nicht länger“ (Walser 1978a: 101), aufrechterhalten; denn das Subjekt sehnt sich nach Freiheit und zugleich nach ‚Ruhe und Bequemlichkeit‘ (vgl. Walser 1978a: 102f.) durch Anpassung bzw. Unterwerfung, bevor es von neuen Zweifeln weitergetrieben wird. Jakobs Existenzentwurf ist von genau dieser Ambivalenz – einer „Dialektik von Freiheit und Subordinationsbedürfnis“ (Borchmeyer 1980: 16) – geprägt. Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch sein ambivalentes Verhältnis zu Kraus. Jakob ist der demütige, fraglos strebende und inhaltslos gläubige Benjamentaschüler, aber er ist andererseits auch der listenreiche Abenteurer, der, absolut frei und von einer „herrischen Leidenschaft“ der totalen Erfahrung besessen, die Dinge und Menschenschicksale bis auf ihren nackten Grund ausforscht. Er kennt beide Möglichkeiten einer Existenz jenseits der verlorenen Weltordnung von Gut und Böse, Wahr und Unwahr: die bedingungslose Selbstentäußerung und die unbedingte Freiheit der Subjektivität. (Greven 2009: 90)
Wie erläutert, besitzt Jakob ähnlich wie Nietzsches ‚Geistesaristokrat‘ ein ‚Pathos der Distanz‘ auf horizontaler und vertikaler Ebene sowie im Hinblick auf das Zeitliche. Von seiner geistigen Autonomie zeugt außerdem seine ironische Haltung zur Welt, die unter anderem im Lachen und seiner Flucht vor endgültigen Fixierungen zum Ausdruck kommt. Während diese Qualitäten Nietzsches „Vornehmen, Mächtigen, Höhergestellten und Hochgesinnten“ das Recht geben, „Werthe zu schaffen“ und „Namen der Werthe auszuprägen“, verzichtet Jakob aber auf eine Position im Feld der Macht. (Nietzsche: 112010b: 273) Das ist für ihn ein Ausweis ‚wahrer‘ Stärke, betont er doch in seinem Tagebuch: „Nichtstun und dennoch Haltung beobachten, das fordert Energie, der Schaffende hat es leicht dagegen.“ (Walser 1978a: 71) Im Unterschied zu Nietzsche vertritt er außerdem die Position, dass nur derjenige, der nichts will, anderen
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überlegen ist. Das kommt vor allem in seinen Streitereien mit Kraus zum Ausdruck, über die Jakob berichtet: Er hat immer recht: „Willst du jetzt endlich aufstehen, du faules Tuch!“ – Und ich habe immer unrecht: „Ja, ja, gedulde dich. Ich komme“. – Wer im Unrecht ist, der ist frech genug, den, der im Recht ist, stets zur Geduld aufzufordern. Das Rechthaben ist hitzig, das Unrechthaben trägt stets eine stolze, frivole Gelassenheit zur Schau. Derjenige, der es leidenschaftlich gut meint (Kraus), unterliegt stets dem (also mir), dem das Gute und Förderliche nicht gar so ausgesprochen am Herzen liegt. Ich triumphiere, weil ich noch im Bett liege, und Kraus zittert vor Zorn, weil er immer vergeblich an die Tür klopfen […] muß (Walser 1978a: 28f).
Jakob schildert hier einen Kampf um Anerkennung. Kraus – der in dieser Situation die Position des ‚Herrn‘ einnimmt, weil er den eigenen Willen gegen Widerstreben durchzusetzen sucht – unterliegt, weil Jakob seinen Befehlen mit der Bitte um Geduld nicht nachkommt. Während Kraus jeden Ungehorsam als Missachtung erfährt, ist Jakob souverän. Er ist gelassen, weil er keine persönlichen Interessen verfolgt und sein ‚Ich‘ nicht respektiert, auf Kraus’ Anerkennung also nicht angewiesen ist (vgl. Walser 1978a: 144). Die hier geschilderte „subersive Idee der Demut (Geduld, Bescheidenheit)“ (Wagner 1980: 132) hat Walser auch in anderen Prosastücken zum Thema gemacht, so etwa in seinem 1928 im Berliner Tageblatt erschienenen Text Herren und Angestellte.54 Ähnlich wie in Jakob von Gunten problematisiert er hier, dass der Herr von der Anerkennung seines Untergebenen abhängig ist, „zerschmettert“ es ihn doch beinahe, „daß man ihn als Zerschmetterer betrachtet, was er nicht ist, nicht sein will, nicht sein kann.“ (Walser 1978d: 199) Dass er seinem Angestellten deswegen unterlegen ist, wird am Beispiel des Wartens illustriert: Der Angestellte wartet; der Herr läßt warten. Warten kann jedoch bisweilen ebenso angenehm oder sogar noch angenehmer sein als Wartenlassen, wozu Stärke erforderlich ist. Ein Wartender darf sich den lieblichen Luxus des in keiner Weise Verantwortlichseins gönnen; er darf, während er wartet, an seine Frau, seine Kinder, seine Geliebte usw. denken; natürlich darf dies der Wartenlassende ebenfalls, wenn es ihm Freude macht. Es kommt aber vor, daß ihm die nichtssagende Figur des Wartenden absolut nicht aus dem Kopf gehen will, was ihn natürlich belästigt. „Jetzt lächelt dieser von mir Abhängige vielleicht außerordentlich friedlich vor sich hin“, denkt er, und er möchte vor beinahe fassungslosmachendem Herrenzorn vergehen, und daß eine solche gänzlich unbegreifliche Sorte von Zorn überhaupt möglich ist, gehört zu den Mißlichkeiten des Herrenzustandes. (Walser 1978d: 198)
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Darauf hat zuerst Karl Wagner hingewiesen, vgl. Wagner 1980: 131f.
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Da der Wartende keinen eigenen Willen durchzusetzen sucht, ist er souverän. In seinen Gedanken ist er ganz „‚bei sich‘“ (Wagner 1980: 131). Im Gegensatz dazu fürchtet der Wartenlassende, dass ihn sein Gegenüber nicht als Autorität anerkennen könnte. Das erfährt er als Kränkung, wodurch er seine Selbstbeherrschung verliert. Um von dem Wartenden unabhängig zu sein, müsste er ein „Übermensch“ sein, wie der Erzähler konstatiert. Als „Mitmensch“, der er bleibt, wird er seinem Angestellten immer unterlegen sein. (Walser 1978d: 198) Am unabhängigsten ist der Dienende laut Jakob dann, wenn er jemandem dient, der einen „nicht kennt und der einen gar nichts angeht“ (Walser 1978a: 23). Das macht die Episode mit der Dame und dem Hündchen deutlich. Hier heißt es: Ich gehe da so, die Sonne scheint, da sehe ich plötzlich ein Hündchen zu meinen Füßen winseln. Sogleich bemerke ich, daß sich das Luxustierchen mit den kleinen Beinen im Maulkorb verwickelt hat. Es kann nicht mehr laufen. Da bücke ich mich, und dem großen, großen Unglück ist abgeholfen. Nun kommt die Herrin des Hundes heranmarschiert. Sie sieht, was los ist, und dankt mir. Flüchtig ziehe ich meinen Hut vor der Dame und gehe meiner Wege. […] Und wie diese übrigens ganz unhübsche Frau gelächelt hat. „Danke, mein Herr“. Ah, zum Herrn hat sie mich gemacht. Ja, wenn man sich zu benehmen weiß, ist man ein Herr. Und wem man dankt, vor dem hat man Achtung. (Walser 1978a: 23)
Da sich Jakob in keinem Dienstverhältnis befindet, kann er sich freiwillig dafür entscheiden, der fremden Dame seine Unterstützung anzubieten und ‚Herr der Situation‘ zu werden. Für seine Hilfe wird ihm Anerkennung entgegengebracht, ohne dass er irgendeine Verpflichtung eingehen müsste. Wie ausgeführt, propagiert Jakob ein Daseinsmodell, das eine große Nähe und zugleich eine große Ferne zu Nietzsches Idee der ‚Geistesaristokratie‘ aufweist. Dieser paradoxe Existenzentwurf wird gegen Ende des Handlungsverlaufs aber in Bezug auf seine Qualität in Frage gestellt. So erklärt Jakob: „Nein, ich bin kein Krösus. Und was das Doppelleben betrifft, so führt jedermann eigentlich ein solches. Wozu sich da brüsten?“ (Walser 1978a: 141f.) Infolgedessen wird ein alternatives Daseinsmodell vorgestellt, das sich in Jakobs Entscheidung, mit Benjamenta in die Wüste zu gehen und mit dem Denken und Schreiben aufzuhören, manifestiert. Dieses Romanende ist von der Forschung kontrovers diskutiert worden. So werten Angerer, Borchmeyer, Greven und Christoph Jakob die Reise von Herr und Knecht in die ‚Wildnis‘ als positive Utopie. Sie sind davon überzeugt, dass Jakob die depravierte Zivilisation hinter sich lassen und in ein „mythisch-bewußtloses Dasein“ (Borchmeyer 1980: 36) bzw. in ein Leben ohne „Rollenspiel und Verstellung“ (Angerer 1995: 154) aufbrechen kann, in dem die Paradoxie, „gedankenlos eine Null sein zu wollen und sich doch in der Form literarischer Reflexion zu äußern“
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(Borchmeyer 1980: 36), aufgehoben wird.55 Wie die genannten Autoren deutet auch Engel den Aufbruch von Herr und Knecht als Paradigmenwechsel. Die „bisherige verabsolutierte Reflexion [wird] durch eine ebenso verabsolutierte Flucht in die Unmittelbarkeit als Absage an das ‚Denken‘ und als Bekenntnis zum ‚Leben‘ und seinen ‚Wallungen‘ […] ersetzt.“ (Engel 1986: 541) Unklar bleibt für ihn allerdings, ob es sich hier um einen tragfähigen ‚Neubeginn‘ handelt, schließlich erfährt der Leser nichts über den Verlauf der Reise. Auch Nagi Naguib und Reto Sorg betonen, dass Jakob seine Reise mit Benjamenta nur imaginiert. Das ist für Sorg Ausdruck eines „heterotopischen Denkens […] – ein Denken, das die ‚Ordnung der Dinge‘ […] einer poetischen Verfremdung unterzieht“ (Sorg 2010: 176) –, während Naguib kritisch konstatiert, dass das, was „sich als die Aufhebung der europäischen Kultur gibt […], im Grunde ein Rückzug in die subjektive Phantasie“ bleibt. „Jakobs Entschluß und Wunsch, zum realen Leben zu finden, von der Beschäftigung mit sich loszukommen, wirft ihn von neuem auf sich selbst zurück.“ (Naguib 1970: 119) Im Unterschied zu den angeführten Autoren, die sich mit Jakobs psychischer Konstitution auseinandersetzen, nehmen Karin Fellner, Grenz, Janz, Peeters, Klaus-Peter Philippi und Solbach die Beziehung zwischen Jakob und Benjamenta in den Blick. Dabei ist Peeters davon überzeugt, dass das Verhältnis der beiden im Romanverlauf eine neue Qualität gewinnt: Ihre Rivalität weicht einer Freundschaft (vgl. Peeters 2004: 160). Zu einem ähnlichen Schluss kommt Solbach, der die Auseinandersetzung zwischen Herr und Diener mit Hegel als Kampf um Anerkennung deutet, der schließlich in einem gegenseitigen Anerkennen mündet (vgl. Solbach 1987: 233). Dagegen merkt Janz kritisch an, dass auch in der Wüste das Herr- und Knechtschaftsverhältnis nicht aufgehoben wird. Problematisiert wird die asymmetrische Beziehung zwischen Jakob und Benjamenta auch von Philippi, für den an die Stelle der spielerischen Herausforderung eine „unauflösliche personale Bindung“ (Philippi 1971: 66) tritt. Jakobs Verzicht aufs Denken zeige, dass er die Institutsregeln verinnerlicht habe und sich nun bedingungslos einem fremden Willen unterwerfe. Davon ausgehend, dass Benjamenta als Vaterfigur und Jakob als Sohnersatz fungiert, deutet auch Fellner die Reise der beiden nicht als „dialogische Form der Freundschaft, sondern vielmehr als Rückzug in ein geschlossenes System, in ein zwischen Größe und Kleinheit schwankendes präödipales Ich.“ (Fellner 2003: 99) Das Gleiche gilt für Grenz, die davon ausgeht, dass der von Jakob im Handlungsverlauf propagierte paradoxe Lebensentwurf
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Vgl. Angerer 1995: 154, Borchmeyer 1980: 36, Greven 2009: 95, Jakob 1997: 76.
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auch die „Grundlage für sein zukünftiges Leben“ (Grenz 1974: 158) mit Benjamenta sein wird. Auch jenseits der depravierten Zivilisation werde ihm daher kein unentfremdetes, unmittelbares Dasein möglich sein, zumal er mit Benjamenta reise, der zeitweise unter Wahnvorstellungen leide. Dadurch offenbare sich Jakob die „Fremdheit der Welt am erschreckendsten“; schließlich müsse er „unwillkürlich befürchten […], daß ähnliche unbekannte Mächte in ihm selbst aufbrechen könnten.“ (Grenz 1974: 158) Im Unterschied zu Grenz und mit Engel wird in dieser Arbeit die Position vertreten, dass Jakobs Entscheidung, sich mit Benjamenta zusammenzuschließen, Ausdruck eines alternativen Existenzentwurfs ist, auch wenn an der Idee des Dienens festgehalten wird. Dafür spricht das schwindende Machtgefälle zwischen Jakob und Benjamenta. Anstatt sich wie Kraus dem Willen des Vorstehers bedingungslos zu unterwerfen, werden Herr und Knecht zu freiwilligen Koalitionspartnern, die sich gegenseitig anerkennen und ihre Rechte und Pflichten miteinander aushandeln. Damit ändert sich auch Jakobs Haltung zur Welt. Er betrachtet die Spannung zwischen „Freiheit und Bindung“ nicht mehr aus „intellektueller Distanz“, sondern stellt sich ihr in der Interaktion „mit vollem Einsatz“. (Engel 1986: 542) Nach dem (Selbst-)Erziehungsprogramm und dem Austritt aus dem Institut tritt er in das Leben ein, „das heißt in das eine oder andere soziale Spiel“ (Bourdieu 2001: 69), ohne dabei aber eine Position im Feld der Macht für sich zu reklamieren. Ob sich dieses nun zu profilierende Daseinsmodell realisieren lässt, bleibt allerdings ungewiss, wie Engel zu Recht betont. 1.2.4 Zweiter Existenzentwurf: Die Koalition zwischen Herr und Knecht In seinem Tagebuch konstatiert Jakob: „Mit einem edlen Menschen Freundschaft schließen und Turnen, das sind wohl zwei der schönsten Sachen, die es auf der Welt gibt. Tanzen, und einen Menschen finden, der mir Achtung entlockt, ist mir ein und dasselbe. Ich bewege so gern die Geister und Glieder.“ (Walser 1978a: 119) Neben dem Tanzen – wie erläutert eine Metapher für die geistige Unabhängigkeit des Subjekts – sehnt sich Jakob nach einer von gegenseitiger Wertschätzung geprägten sozialen Beziehung. Dieses Verlangen steht im Kontrast zu dem gerade erläuterten ersten Daseinsmodell – der Dienerexistenz als einer Form der ‚Geistesaristokratie‘. Im Handlungsverlauf stellt der Schüler die Tragfähigkeit seines paradoxen Wunsches nach größtmöglicher Autonomie trotz bzw. durch Subordination in Frage. Stattdessen plädiert er für eine freiwillige,
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auf gegenseitiger Anerkennung beruhende Koalition zwischen Herr und Knecht. Das Machtgefälle zwischen ihm und Benjamenta ist zu Beginn seines Institutsaufenhalts allerdings so groß, dass ein freundschaftliches Verhältnis unmöglich zu sein scheint. Während Jakob sich und seine Mitschüler als ‚Nullen‘ oder „Zwerge“ (Walser 1978a: 17) bezeichnet, attribuiert er Benjamenta eine unbezwingbare Stärke, vergleicht er ihn doch mit ‚Simson‘, ‚Goliath‘ und ‚Herkules‘.56 Bedingungslos unterwirft er sich seinem Willen. „[A]ugenblicklich“ händigt er ihm etwa das Schulgeld aus, obwohl er sich sicher ist, „einem Räuber und Schwindler in die Hände gefallen zu sein“; und auch seinen Wunsch, das Institut vorzeitig zu verlassen, kann er nicht durchsetzen. (Walser 1978a: 12) Alle seine „Versuch[e], Revolution zu machen“ (Walser 1978a: 20), scheitern, wie er zugeben muss. Als uneingeschränkter „Lenker und Gebieter“ (Walser 1978a: 17) verweigert Benjamenta seinen Zöglingen die Anerkennung. Genauso wie Jakob seinen von ihm verachteten Mitschüler Fuchs „vergißt oder übersieht“, schenkt Benjamenta seinen Schülern keine „Beachtung“, indem er sich in seine Zeitung vertieft oder ihnen andere „deutliche Beweise seiner Gedankenabwesenheit“ liefert. (Walser 1978a: 43, 19) Zeichen seiner Souveränität ist ferner seine Selbstbeherrschung. Während sich Jakob zu Beginn seines Institutsaufenthalts im doppelten Wortsinn der „Ohnmacht“ (Walser 1978a: 12) nahe fühlt, ist Benjamenta durch nichts aus der Ruhe zu bringen. Das ändert sich im Romanverlauf durch das sich ändernde Kräfteverhältnis zwischen Herr und Diener. Wie Jakob bekennt, hat er es sich zum Ziel gesetzt, Benjamentas Anerkennung zu gewinnen. So erklärt er: „Ja, dieser Mensch hat es mir angetan, er interessiert mich. […] O, ich träume davon – herrlich, herrlich –, dieses Menschen hervorbrechendes Vertrauen zu besitzen.“ (Walser 1978a: 45) Dazu beginnt er, sich ihm zu widersetzen und „zu Zornesausbrüchen zu reizen“ (Walser 1987a: 44).57 Davon ausgehend, dass der Herr auf die Anerkennung seines Untergebenen angewiesen ist, muss Benjamenta Jakobs Widerstreben als Kränkung erfahren, was zu einem Verlust seiner Selbstbeherrschung und dem Eingeständnis der eigenen Schwäche führt. Vor diesem Hintergrund ist Jakobs Reaktion auf die Prügel von Benjamenta zu erklären. In seinem Tagebuch notiert er:
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Vgl. Walser 1978a: 142, 18. So provoziert Jakob Benjamenta etwa dadurch, dass er ihn bittet, ihm eine Anstellung zu verschaffen, mit dem Hinweis darauf, dass er ja „allerlei Beziehungen“ (Walser 1978a: 61) pflege, obwohl er weiß, dass sich der Vorsteher in die soziale Isolation zurückgezogen hat.
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Er hat mich geschlagen, er, dem ich ein wahrhaft großes Herz zumute, und nicht gemuckst habe ich, nicht gezwinkert habe ich, und es hat mich nicht einmal beleidigt. Nur weh hat es mir getan, und nicht um mich selber, sondern um ihn, den Herrn Vorsteher. Ich denke eigentlich immer an ihn, an beide, an ihn und Fräulein, wie sie so dahinleben mit uns Knaben. (Walser 1978a: 20)
Da Jakob den Vorsteher ‚über alles verehrt‘ (vgl. Walser 1978a: 53), sich selbst aber gering schätzt, leidet er nicht unter den Schlägen, sondern darunter, dass Benjamenta seine Gelassenheit und damit seine Souveränität verliert.58 Seine Strategie, die Anerkennung des Lehrers durch Provokationen zu gewinnen, ist erfolgreich: Nachdem er ihm seinen absichtlich „stolz und frech geschrieben[en]“ Lebenslauf ausgehändigt hat, spürt er, „ein Vorpostengefecht gewonnen“ zu haben. (Walser 1978a: 52, 53) Dass und wie sich die Qualität ihrer Beziehung verändert, dokumentiert aber vor allem ein Gespräch der beiden in der zweiten Romanhälfte. Anstatt Jakob wie zu Beginn seines Institutsaufenthalts zu ignorieren, sucht Benjamenta seine Nähe. Auf diese Interessenbekundung reagiert Jakob nicht – wie sonst – mit „Trotz“ (Walser 1978a: 93), sondern mit respektvollem Schweigen. Diese Erfahrung gegenseitiger Anerkennung führt dazu, dass sich Benjamenta seinem Zögling öffnet und ihm gesteht, „eine ganz eigentümliche, jetzt nicht mehr zu beherrschende Vorliebe“ (Walser 1978a: 94) für ihn gewonnen zu haben. Damit geht er ein Risiko ein, weil er genauso wie Jakob weiß, dass jede private Schwäche in dem das soziale Leben bestimmenden Kampf um eine Position im Feld der Macht sofort mit Missachtung bestraft werden kann. Aus diesem Grund will er von Jakob wissen: „Nicht wahr, junger Mensch, jetzt, nachdem ich mir vor dir eine Blöße gegeben habe, wirst du’s wagen, mich mit Wegwerfung zu behandeln? Und du wirst jetzt trotzen? Ist es so, sage, ist es so?“ (Walser 1978a: 94) Der Schüler reagiert allerdings unerwartet. Er verhält sich Benjamenta gegenüber weder despektierlich noch devot, sondern blickt ihm fest in die Augen. Es glich einem innerlichen Wettkampf. Schon wollte ich den Mund öffnen und irgend etwas Unterwürfiges sagen, doch ich vermochte mich zu beherrschen und schwieg. Und nun bemerkte ich, daß der riesenhaft gebaute Vorsteher leise, leise zitterte. Von diesem Augenblick an war etwas Bindendes zwischen uns getreten, das fühlte ich […]. „Herr Benjamenta achtet mich“, sagte ich mir, und infolge dieser wie ein Blitz auf mich niederstrahlenden Erkenntnis fand ich es für […] geboten, zu schweigen. […] Ein einziges Wort würde mich zum unbedeutsamen klei-
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Dass Benjamenta gewalttätig wird, scheint häufiger der Fall zu sein. Dafür spricht Jakobs Äußerung, im Laufe seiner Institutszeit die „Furcht“ vor Benjamentas „Fäusten“ überwunden zu haben. (Walser 1978a: 61)
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nen Eleven erniedrigt haben, und soeben hatte ich doch eine ganz unzöglinghafte, menschliche Höhe erklommen. (Walser 1978a: 94)
Den hier geschilderten Kampf um Anerkennung kann Jakob für sich entscheiden, weil er sich dem fremden Willen nicht unterwirft. Er verzichtet allerdings darauf, seine Überlegenheit zu seinem Vorteil zu nutzen und Benjamenta herabzuwürdigen. Stattdessen zeigt er ihm seine Wertschätzung, indem er seiner Anweisung folgt und zurück an die Arbeit geht. Mit dieser Begegnung ändert sich das Kräfteverhältnis zwischen Jakob und Benjamenta. An die Stelle uneingeschränkter Herrschaft tritt ein wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis – eine Koalition zwischen Herr und Diener –, die sich auf Zuneigung und gegenseitige Wertschätzung gründet. So betont Benjamenta, dass Jakob „vollkommen frei“ sei. Er soll sich „aus einfacher menschlicher Neigung […] oder aus irgendeiner andern“ ihm „zusagenden Empfindung“ entscheiden, mit ihm zu reisen. (Walser 1978a: 160) Jakobs Zustimmung, sich mit Benjamenta zusammenzuschließen, wird denn auch mit einem Handschlag besiegelt (vgl. Walser 1978a: 164). Damit werden Herr und Diener ähnlich wie Diderots Jacques der Fatalist und sein Herr zu ‚Vertragspartnern‘. Ihre Beziehung gründet sich auf gegenseitige Anerkennung, die in der personalen Interaktion ständig neu erworben und stabilisiert werden muss. Trotz ihrer verschiedenen sozialen Positionen bezeichnen sie sich daher als „Freunde“ (Walser 1978a: 95) oder ‚Kameraden‘.59 Benjamenta kommt es mitunter sogar so vor, als sei Jakob sein „junger Bruder oder sonst etwas NatürlichNahes“ (Walser 1978a: 107). Beide Figuren gleichen sich in ihrer Ablehnung der prosaischen Realität. Während Jakob seine Individualität zu negieren sucht, um nicht herabgewürdigt werden zu können, hat sich der von anderen missachtete und enttäuschte Benjamenta in die soziale Isolation zurückgezogen.60 Seine resignative Haltung schwindet allerdings mit
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Vgl. Walser 1978a: 107, 156, 160. Die Interdependenz der Herrschaftsbeziehung manifestiert sich bereits in der Namensgebung. Im Alten Testament ist Benjamin der jüngste Sohn des Patriarchen Jakob. „Hier aber ist Jakob der kleine Schüler im Institut Benjamenta“ (Gallus 2006: 51). Walser invertiert die Figurenkonstellation der biblischen Erzählung, indem er Benjamenta zur ‚Vaterfigur‘ macht, der sich Jakob verpflichtet fühlt. Durch den Rekurs auf die Bibel wird zugleich die Umkehrung dieser Hierarchie angedeutet. Zunächst ahnt Jakob nur, dass Benjamenta in seinem Leben „schwere Schicksalswege und -schläge“ (Walser 1978a: 44) hat hinnehmen müssen. Diese Vermutung wird im Handlungsverlauf bestätigt, wenn Benjamenta ihm gesteht, ein „entthronter Herrscher“ (Walser 1978a: 157) zu sein. Er hat sich in seiner Jugend als „Herr, als Eroberer und als König“ gefühlt, weil er auf weltliche Erfolge gehofft hat. „In diesem Sinne, Jakob, bin ich hoch gewesen, das heißt einfach jung und vielversprechend, und in diesem Sinne geschah die Entfürstung und Entthronung. Ich stürzte. Und ich zweifelte an mir und an allem. Wenn man verzweifelt und trauert, lieber Jakob, ist man so jammervoll klein, und immer mehr Kleinheiten werfen sich über einen, gefräßigem, raschem Ungeziefer gleich, das uns frißt,
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der Erfahrung, von einem respektierten Gegenüber anerkannt zu werden. So konstatiert er: Ich […] bin hier schon ganz eingetrocknet, habe mich hier geradezu begraben. Ich haßte, haßte, haßte die Welt. Unsagbar ist von mir alles dies Wesen, Bewegen und Leben gehaßt und gemieden worden. Da tratest du ein, frisch, dumm, unartig, frech und blühend, duftend von unverdorbenen Empfindungen, und ganz natürlich schnauzte ich dich mächtig an. (Walser 1978a: 156)
Wie das Zitat andeutet, ist das Verhältnis der beiden Figuren trotz ihrer gegenseitigen Wertschätzung nicht konfliktfrei. Das lässt sich auf ihr paradoxes Anliegen zurückführen, sich aneinander binden zu wollen, ohne sich dem anderen zu unterwerfen. Dieses Ziel manifestiert sich in Jakobs Verlangen, den Vorsteher „aushorchen, ausforschen zu gehen“, ihn dabei aber so stark zu provozieren, dass er dafür mit „Leid und Schmach“ bestraft werden könnte. (Walser 1978a: 147) Er sucht Benjamentas Nähe, kann und will aber nicht aufhören, ihn zu reizen, um sich und ihm seine Souveränität zu demonstrieren. Auch Benjamentas Verhalten ist ambivalent. Durch die ihm von Jakob entgegengebrachte Anerkennung fühlt er sich, als sei er „zum Herrscher erhoben und gekrönt worden“; seine Augen strömen über vor „Zärtlichkeit und Lebenslust“. (Walser 1978a: 159, 157) Allerdings wird er zeitweise von seinem ehemaligen Hass auf die Welt übermannt. So erklärt er seinem Schüler: Allerdings kommen mir immer die dunklen, grauenhaft dunklen Stunden, wo mir alles schwarz vor den Augen und hassenswert vor dem gleichsam, versteh mich, verbrannten und verkohlten Gemüt wird, und in solchen Stunden zwingt es mich, zu zerreißen, zu töten. (Walser 1978a: 159f.)
Vor diesen Momenten, in denen sich die von ihm erlebten Enttäuschungen in blinder Gewalt entladen, soll sich Jakob hüten (vgl. Walser 1978a: 106). In der Tat berichtet der Schüler, dass Benjamenta ihn in einem „Anfall“ (Walser 1978a: 142) hat erwürgen wollen. Damit verletzt Benjamenta allerdings nicht nur sein Gegenüber, sondern auch sich selbst, will er doch denjenigen umbringen, den er liebt (vgl. Walser 1978a: 129). Aus diesem Grund muss er sich fragen: „Habe ich dir wehtun wollen?“ Oder wollte „ich mir selber einen tödlichen Streich versetzen?“ (Walser 1978a: 157) Mit Jakobs Entscheidung, sich einem Gegenüber (unter Vorbehalt) zu verpflichten, ändert sich seine Haltung zur Welt. Anstatt die Spannung zwischen Freiheit und Abhängigkeit weiterhin distanziert zu reflektieren, will er sie unmittelbar erfahren. Dieser Einstellungwechsel wird durch Lisa
_____________ ganz langsam, das uns ganz langsam zu ersticken, zu entmenschen versteht. Also das mit dem König war eine Phrase.“ (Walser 1978a: 158f.)
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Benjamentas Tod und Kraus’ Abschied illustriert. Als sein Mitschüler das Institut verlässt, kommt es Jakob so vor, als wenn die Welt einen glühend-zündend-klaffenden Riß von einer räumlichen Möglichkeit bis zur entgegengesetzten anderen bekommen hätte. Mit Kraus war die eine Hälfte meines Lebens gegangen. „Von jetzt an ein anderes Leben“, murmelte ich. (Walser 1978a: 155)
Indem sich Jakob von Kraus verabschiedet, distanziert er sich zugleich von der von ihm verkörperten Idee der totalen Unterwerfung. Im Unterschied dazu repräsentiert die Lehrerin die Sphäre der Ideale, die sich in der prosaischen Realität nicht realisieren lassen.61 Die von Jakob als ‚Vollendete‘, als „höheres Wesen“ und als „Schöpferin des Guten, was in uns ist“, titulierte Frau muss sterben, weil sie sich mit den bestehenden Missständen nicht arrangieren kann. (Walser 1978a: 73, 152) Aus ihrer Perspektive muss das Leben ‚hassenswert‘ erscheinen. So ist sich Jakob in ihrer Nähe sicher: „Nein, ich mag nicht in das Leben […] hinaustreten. Ich verachte alles Zukünftige.“ (Walser 1978a: 125) Wie Benjamenta betont, ist Jakob aber von „beiderlei Blut, von zartem und unerschrockenem.“ (Walser 1978a: 150) Mit dem Tod der von ihm verehrten Lehrerin wendet er sich dem Leben zu. Das illustriert Jakobs Vision am Ende des Romans. Hier träumt er von einem auf einer Bergmatte liegenden Mädchen, das ihn an Lisa Benjamenta erinnert. Anstatt darüber nachzudenken, wer die Schöne sein könnte, entscheidet er sich bewusst gegen das „Deuten“ und dafür, dem plötzlich in Ritterrüstung erscheinenden Vorsteher, dessen Blick „in die Ferne, ins Leben hinab- und hinausgerichtet“ ist, als Knappe zu dienen. (Walser 1978a: 162) Darüber hinaus betont Jakob mehrfach, seine intellektuelle Distanz zur Realität aufgeben und sich gemeinsam mit seinem ‚Herrn‘ dem Leben stellen zu wollen. So konstatiert er in dem Wissen, dass seine Lehrerin sterben muss: „Ach, all diese Gedanken, all dieses sonderbare Sehnen, dieses Suchen, dieses Hände-Ausstrecken nach einer Bedeutung. Mag es träumen, mag es schlafen. Ich lasse es einfach nun kommen.“ (Walser 1978a: 141f.) Ähnlich lauten die letzten Sätze seines Tagebuchs: Wir werden reisen. Schon gut. Mir paßt dieser Mensch, und ich frage mich nicht mehr, warum. Ich fühle, daß das Leben Wallungen verlangt, nicht Überlegungen. […] Mich bindet nichts, verpflichtet nichts, zu sagen: „Wie wär’s, wenn ich – –“ Nein, es gibt nichts mehr zu wären und zu wennen. Fräulein Benjamenta liegt unter der Erde. Die Eleven, meine Kameraden, sind zerstoben in allerlei Ämtern. Und wenn ich zerschelle und verderbe, was zerbricht und verdirbt dann? Eine
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Ähnlich argumentiert Grenz. Für sie ist Lisa Benjamenta das „die Wirklichkeit transzendendierende Moment, das in Kraus geopfert ist“ (Grenz 1974: 146).
Walser: Jakob von Gunten
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Null. Ich einzelner Mensch bin nur eine Null. Aber weg jetzt mit der Feder. Weg jetzt mit dem Gedankenleben. Ich gehe mit Herrn Benjamenta in die Wüste. Will doch sehen, ob es sich in der Wildnis nicht auch leben, atmen, sein, aufrichtig Gutes wollen und tun und nachts schlafen und träumen läßt. […] Nun denn adieu, Institut Benjamenta. (Walser 1978a: 164)
Auch wenn die Koalition mit Benjamenta als Paradigmenwechsel anzusehen ist, hält Jakob an der Dieneridee fest. Er will sich dem Leben stellen, ohne den ‚Willen zur Macht‘ zu bejahen. Dazu entscheidet er sich für eine Koalition mit Benjamenta, ohne aber seine Selbstständigkeit zu verlieren. Wie deutlich wird, ist auch dieses alternative von Jakob proklamierte Daseinsmodell nicht spannungsfrei, zumal ungewiss bleibt, wie tragfähig es ist. Erstens erfährt der Leser nichts über den Verlauf von „Jakobs neuem Lebensexperiment“ (Engel 1986: 542). Zweitens ist der Zusammenschluss mit Benjamenta zwar reizvoll, aber nicht ungefährlich, muss Jakob doch jederzeit damit rechnen, von ihm (physisch und psychisch) angegriffen zu werden. Drittens kann sich der Zögling ein erfülltes Leben nur jenseits der „europäische[n] Kultur“ (Walser 1978a: 162) vorstellen. Auch wenn er seine ironische Haltung zur Welt aufgibt, erkennt er die prosaische Realität auch am Ende des Romans nicht an. Wie zu Beginn der Aufzeichnungen verweigert er sich der „illusio als der einhellig gebilligten und geteilten Illusion, also der Wirklichkeitsillusion“, und flüchtet in die „als solche deklarierte wahre Illusion […], die ihren schlechthinnigen Ausdruck in der romanesken Illusion und dort in deren radikalsten Formen findet“. (Bourdieu 2001: 35) Nicht zufällig beruft sich Walser in Tobold (II) auf die literarische Figur des Don Quijote, um seine ‚Dieneridee‘ zu propagieren. Hier heißt es: Ist nicht Don Quichote in seiner Verrücktheit und Lächerlichkeit ein wahrhaft glücklicher Mann? Ich vermag das keinen Augenblick zu bezweifeln. Ist ein Leben ohne Sonderbarkeiten, ohne sogenannte Verrücktheiten überhaupt ein Leben? Wenn der Ritter von der traurigen Gestalt seine verrückte Ritteridee wahrmachte, so mache ich meinerseits meine Dieneridee wahr, die ohne Zweifel mindestens ebenso verrückt, wenn nicht gar noch um einige Grade verrückter ist als jene. Was nützen mir alle klugen Belehrungen […]? Probieren, sagt man, geht über Studieren, und dementsprechend möchte ich, wenn es möglich ist, durch die Tat und durch die Erfahrung selber belehrt und unterwiesen sein. (Walser 1978c: 321)
Genauso wie Tobold rebelliert auch Jakob gegen die Normalität, indem er sich als Knappe (eines unter Wahnanfällen leidenden Ritters) imaginiert. Neben der Nähe zu Cervantes’ Roman erinnert der von Jakob proklamierte alternative Lebensentwurf an Hegels Ausführungen zum heroischen Weltzustand in seinen Vorlesungen über die Ästhetik. In diesem „staatslosen Zustande“ (Hegel 1986a: 243) wird das soziale Leben nicht wie in der prosaischen Gegenwart durch eine allgemeine gesetzliche Ordnung geregelt. Vielmehr ist das nach seinem eigenen ‚Pathos‘ handelnde
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Freiwillige Knechte
Individuum Träger der Sittlichkeit. So definiert Hegel die Heroen, wie sie vor allem durch die Homer’schen Helden verkörpert werden, als Individuen, welche aus der Selbständigkeit ihres Charakters und ihrer Willkür heraus das Ganze einer Handlung auf sich nehmen und vollbringen und bei denen es daher als individuelle Gesinnung erscheint, wenn sie das ausführen, was das Rechte und Sittliche ist. (Hegel 1986a: 243f.)
Als Beispiel für die „freie Individualität“ aller heroischen Gestalten führt Hegel den Herrscher Agamemnon in der Ilias an. Anstatt von seinen Untergebenen blinden Gehorsam zu fordern, muss er viel Rücksicht nehmen und klug nachzugeben verstehen, denn die einzelnen Führer sind keine zusammenberufenen Statthalter oder Generale, sondern selbständig wie er selber; frei haben sie sich um ihn her gesammelt oder sind durch allerlei Mittel zu dem Zuge verleitet, er muß sich mit ihnen beraten, und beliebt es ihnen nicht, so halten sie sich wie Achilles vom Kampfe fern. Die freie Teilnahme wie das ebenso eigenwillige Abschließen, worin die Unabhängigkeit der Individualität sich unversehrt bewahrt, gibt dem ganzen Verhältnisse seine poetische Gestalt. (Hegel 1986c: 342)
Ähnlich beschreibt Hegel die „Vasallentreue des Rittertums“ in der romantischen Dichtung, weil sich das Subjekt auch hier, „seiner Hingebung an einen Höheren […] zum Trotz, sein freies Beruhen auf sich als durchaus überwiegendes Moment bewahrt.“ (Hegel 1986b: 192) Rittertum und Heroenzeit, wo sich der Herr und Diener – ähnlich wie Benjamenta und Jakob – freiwillig, auf der Basis gegenseitiger Anerkennung, zusammengeschlossen haben, ohne dabei ihre Selbstständigkeit zu verlieren, sind allerdings historisch überholte und unwiederbringliche, nurmehr rein ästhetische Weltzustände, auch wenn sie ideal erscheinen mögen. Ob sich Jakobs ‚poetisches‘ Existenzmodell realisieren lässt, erscheint auch vor diesem Hintergrund fragwürdig. *
Wie erläutert, proklamiert Jakob in seinem Tagebuch, auf eine Position im Feld der Macht verzichten und im späteren Leben eine „reizende, kugelrunde Null“ (Walser 1978a: 8) werden zu wollen. Damit distanziert er sich von dem nach 1890 zunehmenden „Kult der starken Persönlichkeit“ (Gerstner 2008: 201), wie er sich etwa in Julius Langbehns breit rezipierter Schrift Rembrandt als Erzieher (1890) manifestiert. Kontrastierend zu Jakobs (Selbst-)Erziehungsprogramm heißt es dort: [W]er keine Persönlichkeit besitzt oder bewährt, ist eine Null! Und „alle Nullen der Welt sind, was ihren Gehalt und Wert anlangt, gleich einer einzigen Null“, hat Leonardo erklärt; dies gilt selbstverständlich auch von den vielen Nullen im heutigen Deutschland. Würde ihnen der große Einer des echten Individualismus vorgesetzt, so würde sich das geistige Nationalvermögen der Deutschen ganz überraschend vermehren. Er kann ihnen nur vorgesetzt werden dadurch, daß einzelne
Walser: Jakob von Gunten
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geistige Individualitäten – sei es aus der Vergangenheit oder Gegenwart – wieder führend an ihre Spitze treten. (Langbehn 1922: 51)
Jakobs ‚Wille zur Ohnmacht‘ kann außerdem als kritische Auseinandersetzung mit Nietzsches Machtphilosophie gedeutet werden, wenngleich die Titelfigur als ‚Geistesaristokrat‘ konzipiert ist. Erstaunlicherweise ist die Forschung den Nietzsche-Bezügen in Jakob von Gunten bislang noch nicht nachgegangen, obwohl schon Max Brod den Roman als von ihm lang ersehnte „Reaktion auf Nietzsche“ (Brod 1978: 83) gelobt hat.62 Walser selbst hat sich mit Nietzsche etwa in seinem Prosastück Unterhaltung zwischen dem Dämonischen und dem Gutmütigen (1925) auseinandergesetzt. Hier kontrastiert er seine Idee des Kleinseins mit Nietzsches Philosophie. In dem geschilderten Dialog will ein ‚dämonischer Übermensch‘ die „Moral“ eines bescheidenen ‚Dienstmannes‘ vollständig „zerschmettern“. (Walser 1978b: 246) Das gelingt ihm nicht, reagiert der ‚Bescheidene‘ doch auf die affektgeleitete Drohung seines Gegenübers: „Wenn Sie jetzt nicht sofort felsenfest an meine Übermenschlichkeit glauben…“ gelassen mit den Worten: „So glaube ich wenigstens an die Liebenswürdigkeit der Macht meiner mir allezeit Lebensbegleiterin gebliebenen Bescheidenheit. An die Teufel glauben die – Teufel!“ (Walser 1978b: 246) Weiter führt er aus: Ihr Bemühen, mir Furcht einzujagen, ermutigt mich, Ihnen zu sagen, daß Sie ein neiderfüllter, eifersüchtiger, kleinlicher, gern großwärender, bedauernswerter Mensch sind, den ich in seines Wesens Grenzen zurückzutreten bitte. (Walser 1978b: 247)63
In dieser Auseinandersetzung, in deren Verlauf der ‚Dämonische‘ „einschrumpft“ und sich „krank“ zurückzieht, (Walser 1978: 246f.) erweist sich der ‚Bescheidene‘ als überlegen, weil er sich von seinem Gegenüber nicht provozieren lässt und sich „ganz unverhohlen der Mittel seines Gegners bedient. Dessen Rhetorik wird gegen den Dämon des Übermenschen
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Mit Utz sei allerdings angemerkt, dass sich Walser weniger mit Nietzsches Werken als mit der „zeitgenössischen Rezeption“ (Utz 1998: 173) des Philosophen auseinandergesetzt hat. Aus diesem Grund lassen sich – und das unterscheidet Jakob von Gunten etwa von Strindbergs Fräulein Julie – keine direkten Bezüge zwischen dem Roman und Nietzsches philosophischen Schriften herstellen. Ähnlich soll sich Walser über Nietzsche auf seinen Wanderungen mit Carl Seelig geäußert haben. So konstatiert Seelig: „Nietzsche erscheint ihm [Robert Walser, N.B.] als diabolischer, siegessüchtiger und maßlos ehrgeiziger Charakter: „Er besaß durchaus das Verführerische, das dem Genie eigen ist. Aber er hat sich schon früh dem Teufel angebiedert, d. h. dem Unterliegenden, weil er sich selbst als Unterlegener fühlte. Er war kein Sonnenmensch. Aus gekränktem Knechtedasein hochfahrend und widerborstig. Seine Herrenmoral ist für die Frau wohl das Beleidigendste, was man sich vorstellen kann: perfide Rache eines Ungeliebten.“ (Seelig 1990: 83)
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eingesetzt“ (Utz 1998: 187). Während Nietzsche den ressentimentgeladenen ‚Sklaven‘ in seinen Schriften vorwirft, die ‚Vornehmen‘ aus eigener (Willens-)Schwäche moralisch zu verurteilen, unterstellt der ‚Bescheidene‘ seinem Gegenüber im Dialog, sich aus gekränkter Eitelkeit „zum Dämon“ (Walser 1978b: 247) stilisiert zu haben. Wie in der angeführten Unterhaltung wird Nietzsches ‚Übermensch‘ auch in Jakob von Gunten ein Wille zum Dienen entgegengesetzt. So notiert der Schüler in seinem Tagebuch: Ich habe den Stolz, die Ehren-Arten gewechselt. Wie komme ich dazu, so jung schon zu entarten? Aber ist das Entartung? In gewisser Hinsicht ja, andernteils ist es Erhaltung der Art. Ich bleibe vielleicht als irgendwo im Leben verlorener und verschollener Mensch ein echterer, stolzerer Gunten, als wenn ich, auf den Stammbaum pochend, zu Hause verdürbe, entherzte und verknöcherte. (Walser 1978a: 114)
Den Begriff der Entartung, der durch Max Nordaus gleichnamiges Werk (1892/93) popularisiert worden ist, hat Nietzsche vielfach zur Bezeichnung des von ihm kritisierten willensschwachen und somit ‚degenerierten‘ Subjekts verwendet. Der Verzicht auf eine Position im Feld der Macht wird von Jakob allerdings zur Stärke umgedeutet und zum Ausweis einer ‚Geistesaristokratie‘, die den Geburtsadel ablöst – auf diese Weise wird eine „Umwertung der Umwertung der Werte“ (Borchmeyer 1980: 2) vorgenommen. Obwohl sich Walser von Nietzsches Philosophie distanziert, weist Jakobs erster Existenzentwurf große Parallelen zu der Idee des ‚Übermenschen‘ auf. So besitzt der Schüler erstens ähnlich wie Nietzsches ‚Geistesaristokrat‘ ein ‚Pathos der Distanz‘ auf horizontaler und vertikaler Ebene sowie im Hinblick auf das Zeitliche. Zweitens teilt Jakob mit Nietzsche die „Sprach- und Wertskepsis“; zuletzt ähneln sich beide im Hinblick auf die von ihnen propagierte „Dialektik von Norm und Normdurchbrechung“. (Utz 1998: 185) Beide erlegen sich Zwänge auf, um sich über sie hinwegsetzen und sich auf diese Weise als autonom erfahren zu können. Während Nietzsches ‚Geistesaristokrat‘ seinen Willen zum Leben bejaht, negiert Jakob allerdings die eigene Individualität – für ihn eine Voraussetzung, um wirklich autonom sein zu können. Für ihn ist nur derjenige, der sich selbst nicht achtet, vor Herabwürdigungen geschützt. Nur derjenige, der keine eigenen Interessen verfolgt, wird sich außerdem seine innere Gelassenheit bewahren können, weil er nicht unter unerfüllten Wünschen leidet und keine Misserfolge fürchten muss. Das skizzierte Daseinsmodell wird im Handlungsverlauf jedoch hinterfragt und durch ein anderes abgelöst. Auch wenn Jakob an seiner Dienerexistenz festhält, will er sich im Unterschied zu Kraus keinem fremden Willen bedingungslos unterwerfen. Stattdessen plädiert er für eine freiwil-
Walser: Jakob von Gunten
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lige Koalition zwischen Herr und Diener. Die von ihm propagierte Herrschaftsbeziehung soll von gegenseitiger Anerkennung geprägt sein, die in der personalen Interaktion ständig neu zu erwerben und zu festigen ist. Herr und Diener sollen sich einander verpflichten, ohne ihre Selbstständigkeit zu verlieren. Mit Jakobs Entscheidung, sich an ein anderes Subjekt – den Institutsvorsteher Benjamenta – zu binden, ändert sich seine Haltung zur Welt. Er gibt seine intellektuelle Distanz zum Leben auf, wenn er die prosaische Realität auch nach wie vor ablehnt, und erteilt dem „Gedankenleben“ (Walser 1978a: 164) eine Absage. Unklar bleibt allerdings, wie tragfähig die beiden vorgeführten Existenzentwürfe sind.
2. Freiwilliges Dienen als Rückzug in ein ‚inneres Exil‘ angesichts der als krisenhaft erfahrenen (modernen) Gegenwart in Lenz’ Die Augen eines Dieners (1964) Wie illustriert, führt Walser mit Jakob von Gunten einen Protagonisten vor, der sich durch eine ironische und damit distanzierte Haltung zur Welt auszeichnet, nicht zuletzt deshalb, weil er die moderne Lebenswelt ablehnt. Zum einen bedauert der Schüler, dass an die Stelle eines kollektiven metaphysischen Sinnsystems das Streben nach Macht und Geld getreten ist. Zum anderen moniert er, dass die traditionsgebundenen, von gegenseitiger Wertschätzung geprägten personalen Herrschaftsbeziehungen durch inhumane strukturelle Machtasymmetrien abgelöst worden sind. In dem Wissen, die beklagten Missstände nicht beseitigen und ihnen nicht entfliehen zu können sowie keine ‚Emporkömmlingstugenden‘ zu besitzen, entscheidet sich Jakob dafür, dem herrschenden ‚Willen zur Macht‘ einen ‚Willen zur Ohnmacht‘ entgegenzusetzen und sich zum Diener ausbilden zu lassen. Er will seine Individualität negieren und auf diese Weise Herr seiner selbst werden – eine Gedankenfigur, die sich schon bei Epiktet findet (vgl. Bluhm 2004: 61). Ähnlich wie Nietzsches ‚Geistesaristokrat‘ besitzt Jakob als Dienender ein ‚Pathos der Distanz‘ auf horizontaler und vertikaler Ebene sowie im Hinblick auf das Zeitliche, durch das er sich seine geistige Unabhängigkeit bewahren kann.1 Zudem greift Jakob zu verschiedenen Selbstbehauptungsstrategien. So ‚maskiert‘ er sich, indem er sich anderen gegenüber verstellt, um unangreifbar zu werden; und er verweigert sich jeder Festlegung auf eine bestimmte Position, um geistig beweglich zu bleiben. Seine ‚innere‘ Freiheit kann Jakob aber nur durch den Verzicht auf emotionale Bindungen und durch eine intellektuelle Distanz zu seiner Lebensrealität bewahren. Aus diesem Grund wird der von ihm proklamierte Daseinsentwurf im Handlungsverlauf in Frage gestellt und durch einen anderen ersetzt – durch eine auf Zuneigung und gegenseitiger Anerkennung beruhende Koalition von Herr und Knecht. Damit verabschiedet sich Jakob von der Idee der totalen Unterwerfung unter ein Gegenüber und gibt seine innere Distanz zur (prosaischen) Realität auf.
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Zum ‚Pathos der Distanz‘ – einer Gedankenfigur Nietzsches – vgl. III.1.
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Im Anschluss an die Textanalyse soll nun eine vierte und letzte, in der literarischen Diskussion seltene, aber einschlägige Figuration interdependenter Herrschaft profiliert werden und zwar die freiwillige Unterwerfung des Dieners als Rückzug in ein ‚inneres Exil‘ angesichts der als krisenhaft erfahrenen (modernen) Gegenwart, so in Walsers Roman und in Hermann Lenz’ Die Augen eines Dieners (1964). Sie lässt sich nicht einfluss- oder rezeptionsgeschichtlich erklären, weil nicht klar ist, ob Lenz Walsers Roman gekannt hat, auch wenn die Forschung mitunter angenommen hat, dass Lenz in seinem Roman „implizit auf Walser“ (Frerichs 2010: 122) rekurriert.2 Die Figuration ist auch nicht gattungstheoretisch begründbar, obwohl es sicher kein Zufall ist, dass es sich bei beiden Texten um Prosatexte handelt. Denn durch die freiwillige Unterwerfung der Knechte unter ihre Herren gibt es keine äußeren Konflikte, wie sie für das Drama kennzeichnend, wenn auch nicht konstitutiv sind. Der Fokus der intern fokalisierten Romane liegt vielmehr auf der psychischen Disposition und den inneren Konflikten der beiden Dienerfiguren. Eine Erklärung für diese Figuration bietet allerdings ein problemgeschichtlicher Ansatz. Beide Protagonisten erfahren die um die Jahrhundertwende spürbaren soziostrukturellen Modernisierungsprozesse als Last und flüchten in die „Dienerrolle […], um sich vor der unbewältigten Moderne zu retten“ (Hoffmann 2002: 213). Dieses Motiv findet sich in der Literatur der ersten Jahrhunderthälfte häufiger, so etwa in Robert Musils Posse Vinzenz und die Freundin bedeutender Männer (1923), in der sich die Titelfigur im Handlungsverlauf entscheidet, Bedienter zu werden: Findet man sein eigenes Leben nicht, so muß man hinter einem fremden dreingehn. Und da ist es das beste, es nicht aus Begeisterung zu tun, sondern gleich für Geld. Es gibt nur zwei Möglichkeiten für einen ehrgeizigen Mann: ein großes Werk zu schaffen oder Bedienter zu werden. Für das erste bin ich zu ehrlich; für das zweite reicht es gerade noch. (Musil 1978: 452)
In Robert Walsers Romanen und in seiner Kurzprosa wird die „Dieneridee“ (Walser 1978c: 321), d. h. der paradoxe Wunsch nach größtmöglicher ‚innerer‘ Freiheit durch die freiwillige Unterwerfung unter einen anderen, zum strukturbestimmenden Thema. Auch wenn es in der Literatur häufig Figuren gibt, die sich weigern, eine Position im Feld der Macht zu besetzen, und auf diese Weise „über die lebensfeindlich empfundene Anonymität der Berufswelt“ (Wagner 1980: 138) triumphieren,3 ist Wal-
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Zu den Bezügen zwischen Walser und Lenz vgl. u. a. Borchmeyer 1980: 4ff., Hamm 1996: 28, Hoffmann 2002: 213ff., Moritz 1989: 61. Angeführt sei etwa Herman Melvilles Bartleby, the Scrivener (1853); zum ‚Nicht(s)tun‘ als Verweigerungsstrategie in der Literatur seit 1800 vgl. u. a. Fuest 2008.
Lenz: Die Augen eines Dieners
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sers Herr-Knecht-Modell der ‚subversiven Anpassung‘ in der literarischen Diskussion (fast) singulär. Allerdings lassen sich Parallelen zu Lenz’ Roman Die Augen eines Dieners herstellen, so dass sich auch hier von einer Figuration interdependenter Herrschaft sprechen lässt, wie im Folgenden zu zeigen ist. * Ähnlich wie Walser in Jakob von Gunten (und Hofmannsthal in Der Unbestechliche) setzt sich auch Lenz in seinem Roman Die Augen eines Dieners mit der als krisenhaft erfahrenen Moderne auseinander. Geschildert wird die Lebensgeschichte des österreichischen Dieners Wasik, der Ende des 19. Jahrhunderts geboren wird und sich in einer Zeit radikaler gesellschaftlicher Umbrüche behaupten muss. Schließlich erlebt er neben dem Ende der k. u. k. Doppelmonarchie beide Weltkriege mit. Der Zerfall des Habsburgerreiches und der damit verbundenen aristokratischen Werte wird von dem heterodiegetischen, intern fokalisierten Erzähler aus kulturkritischer Perspektive als Verlusterfahrung gewertet und durch zahlreiche Symbole wie etwa den langsam verblassenden Doppeladler auf Wasiks Ring oder die beiden „Todesfarben“ (Lenz 1997: 152, 93) der Habsburgischen Fahne – schwarz und gelb – veranschaulicht.4 Wie Wasik spürt, beginnt spätestens mit dem Ersten Weltkrieg „eine neue Zeit“ (Lenz 1997: 112), für die ähnlich wie in Walsers Roman erstens ihre Brutalität kennzeichnend ist. Die kultivierte Kommunikation und Interaktion weicht dem „Rowdytum“ (Lenz 1997: 111). Wie Wasik konstatiert, gilt das Streben der Menschen allein der rücksichtslosen Befriedigung ihrer Begierden. (Vgl. Lenz 1997: 20) Das wird anhand von Wasiks Herrn, dem Grafen Engelsleben, vorgeführt, der laut dem Diener oft so aussieht, „als werde er geschoben und gedrängt von innen her“ (Lenz 1997: 77). Ganz von seinen sexuellen Leidenschaften gelenkt, sucht er etwa Erika, die Schwester seiner Frau Fanny, als Geliebte an sich zu binden, obwohl er weiß, wie stark sie unter der heimlichen Affäre leidet. Dass er seine rohe Triebnatur verabsolutiert, manifestiert sich außerdem in seiner unreflektierten Begeisterung für den Nationalsozialismus und in seiner Missachtung anderer, die in seinem radikalen Antisemitismus, der Geringschätzung seines „untaugliche[n]“ (Lenz 1997: 152) Sohnes Eduard oder in seinem gefühllosen Gelächter über den Mord an einem französischen Partisanen während des Zweiten Weltkrieges zum Ausdruck kommt. Sinnbild für den im Roman diagnostizierten und von Wasik be-
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Zu den Symbolen für die k. u. k. Monarchie und ihren Verfall in Lenz’ Roman vgl. u. a. Schönert 1992: 56.
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dauerten Verfall der aristokratischen Kultur, der mit dem Ende der Doppelmonarchie korreliert, ist das zu Beginn des Handlungsverlaufs beschriebene, zum Abriss freigegebene Theater, das sich nun „ins Laub der Bäume“ (Lenz 1997: 9) zurückzuziehen scheint. Genauso wie die Kulturstätte hier von der Natur überwuchert wird, verlieren die bis dato geltenden, die Triebnatur des Subjekts zügelnden kulturellen Normen und Werte ihre Orientierungsfunktion.5 Stattdessen wird das „Rohe und Vulgäre“, d. h. die Bejahung der eigenen individuellen Begierden, „schick“. (Lenz 1997: 111). Die moderne „Mischmasch- und Schwindelzeit“ (Lenz 1997: 133) führt zweitens zu einer sich ändernden Zeiterfahrung. Sie läuft „rascher ab als früher“ (Lenz 1997: 144), so dass es für die Subjekte immer schwieriger wird, sich zurechtzufinden. Drittens wird ähnlich wie in Jakob von Gunten der Wandel von einem personalen hin zu einem strukturellen Herrschaftsmodus beklagt. Das illustriert der Stellenwechsel, zu dem Wasik im Handlungsverlauf gezwungen wird, weil ihn seine Herrschaft nicht mehr halten kann. Wie als Diener bei den Engelslebens wird er auch als Beamter der Registraturabteilung „für niedere Dienste“ bezahlt. Allerdings hat er es hier nicht mehr „mit Menschen“, sondern nur noch „mit Papier zu tun; mit Akten und Schatten auf Papier“. (Lenz 1997: 160) Wie zu Zeiten der Doppelmonarchie existieren nach wie vor soziale Ungleichheiten. Während die traditionell hierarchische Beziehung zu den Engelslebens aber von gegenseitiger Treue und Anhänglichkeit geprägt ist, führt die mit der Funktionalisierung der Gesellschaft einhergehende Bürokratisierung zu einer ‚Entmenschlichung‘ der Abhängigkeitsbeziehungen. Das hat schon Daniel Hoffmann herausgestellt, wenn er davon spricht, dass die im Roman geschilderte „Gesellschaft“ mit der „Aufhebung der Herr-Diener-Verbindung“ auch die „Moralität menschlichen Miteinanders“ einbüßt. (Hoffmann 1998: 21) Von dem Wandel hin zu strukturellen Machtasymmetrien zeugt ferner die zufällige Begegnung zwischen Wasik und Eduard während des Zweiten Weltkriegs. Da der junge Graf von seinem nationalsozialistischen Vater aufgrund seiner oppositionellen politischen Position überwacht wird, rät er dem ehemaligen Diener weiterzugehen und sich nicht mit ihm sehen zu lassen. Wasiks Einwand, dass er doch nur „einen alten Freund“ treffe, mit dem er sich „verbunden fühle“, wird von Eduard scharf zurückgewiesen: „Unsinn, Wasik. Ihre Treue in Ehren, aber sie gehört nicht mehr hierher. Gewöhnen Sie sich Ihre Treue ab.“ (Lenz 1997: 171) Wie in Walsers Roman hat die Diensttreue – eine in der Monarchie propagierte Tugend – an
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Ähnlich argumentiert Hoffmann 1998: 26.
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Geltungskraft verloren. An deren Stelle ist im Nationalsozialismus eine „neue Art der Treue“ getreten, die sich nicht in der patriarchalischen Humanität des Herr-Diener-Verhältnisses verwurzelt sieht, sondern im blinden Gehorsam […]. Gegen die Treue des Dienens steht nunmehr das SS-Motto „Unsere Ehre heißt Treue“. Zwischen diesen äußersten Gegensätzen der Treue kann es keine Vermittlung mehr geben. Während der Diener seine Dienstpflicht erfüllt […], folgt sein Gegenpart in der NSZeit nur den Befehlen des Führers. (Hoffmann 1998: 43)
Wie erläutert, wird im Roman eine Zeit radikaler sozialer Umbrüche geschildert, wobei die k. u. k. Monarchie als eine Art ‚Sehnsuchtsepoche‘ (vgl. Moritz 1989: 75) fungiert, weil sie die letzte Friedenszeit vor den beiden desaströsen Weltkriegen markiert und „zum letztenmal eine Kultureinheit zu umschließen“ (Lenz 1986: 69) scheint. Dabei werden die spürbaren „Auflösungs- und Umbruchserscheinungen“ (Graafen 1991: 118) der Moderne mit denen im Römischen Reich unter Marc Aurel parallelisiert. So überlegt Wasik: „Daß sich die Zeiten glichen, war gut möglich, und vielleicht hatte Marc Aurel in einer Zeit gelebt wie der von heute; nur fehlte heut einer wie Marc Aurel.“ (Lenz 1997: 179)6 Der von Lenz geschätzte römische Kaiser dient im Roman als „Repräsentant einer als Spätzeit definierten Epoche“;7 seine in den Wegen zu sich selbst (zwischen 170–187 n. Chr.) fixierten philosophischen Überlegungen fungieren für den Diener Wasik als „Modell der Lebensbewältigung“ (Moritz 1989: 93). Bevor dieses Modell in den Blick genommen wird, sollen Marc Aurels Vorstellungen von der ‚Natur des (Welt-)Ganzen‘ (vgl. Marc Aurel 21992: 18) und der Konstitution des Subjekts skizziert werden. Seine Positionen werden von Wasik geteilt und bilden die Voraussetzung für den von ihm proklamierten Daseinsentwurf. Wie für die stoische Philosophie charakteristisch, ist Marc Aurel davon überzeugt, dass in allem Seienden ein vernünftiges metaphysisches Prinzip präsent ist, durch das sich die Welt permanent erneuert, „so dass auch von einer fortwährenden Schöpfung gesprochen werden kann“ (Ackeren 2011: 365). Mit der Vorstellung von dem zyklischen Vergehen und Entstehen der Welt als Teil des sich ebenfalls stetig wandelnden Kosmos’ ist die Annahme verbunden, dass
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Vgl. dazu auch Lenz’ Gespräch mit Manfred Durzak und seine Frankfurter Vorlesungen, in denen er von einer „Verwandtschaft des Lebensgefühls zwischen der allgemeinen Stimmung der k. und k. Monarchie und der Zeit Marc Aurels“ (Lenz 1986: 63) ausgeht, vgl. Durzak 1976: 225f. Zur Bedeutung von Marc Aurels stoischer Philosophie für Lenz vgl. u. a. Lenz 1986 und Moritz 1989: 84ff.
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sich alles wiederholt und sich gleicht, und dieser Gedanke hat […] nicht nur eine ontologische bzw. epistemische Qualität, sondern ist von konsolatorischer Bedeutung: Wer stirbt, braucht sich nicht zu sorgen, denn er verpasst nichts, weil alles immer das Gleiche war, ist und sein wird. Das menschliche Streben nach Wissen wird demnach durch den Tod nicht unnötig frustriert, denn es ist dem Umfang nach auch in einem kurzen Leben zu erfüllen. (Ackeren 2011: 368)
Wie Marc Aurel besitzt auch Wasik eine zyklische Geschichtsauffassung – die Voraussetzung für sein historisches Analogiedenken. So erklärt er: „[B]is auf das Gefühl, das in der Luft liegt, ist jede Zeit immer dieselbe. Es ändern sich nur die Gefühle wie die Lüfte.“ (Lenz 1997: 89) Zudem ist er, ebenso wie Kemmler und Eduard, davon überzeugt, dass es keinen Unterschied macht, ob man vierzig oder über zehntausend Jahre lebt: Da sich die Zeiten gleichen, wird sich der Mensch durch eine längere Lebenszeit kein größeres Wissen aneignen oder etwas „Neues“ (Lenz 1997: 199) kennenlernen können. Wie der Kosmos ist laut Marc Aurel auch jedes einzelne Subjekt Teil dieses einen, alles verursachenden vernünftigen Prinzips – der ‚Natur des Ganzen‘ – und somit dem steten Wandel von Entstehen und Vergehen unterworfen. Auch vor diesem Hintergrund verliert der Tod seinen Schrecken. Denn die „Existenz eines Menschen und die Begrenzung seines Lebens durch den Tod ist nur Teil der beständig sich wandelnden Manifestation der Vernunft in der Materie“ (Ackeren 2011: 383). Nach seinem Tod wird das Subjekt wieder Teil des kosmischen Ganzen, das es hervorgebracht hat. Insofern kann es ihn in „heiterer Gelassenheit“ (Marc Aurel 1992: 23) erwarten. Dass Wasik diese Vorstellung teilt, kommt in seiner Überzeugung zum Ausdruck, dass „jeder Mensch […] länger auf der Welt“ ist „als seit seinem Geburtstag.“ (Lenz 1997: 15) Als Teil des kosmischen Geschehens ist seine Existenz – freilich in anderer materieller Form – nicht auf seine Lebenszeit beschränkt. Aus diesem Grund sind in seinen Augen auch alle Menschen „gleich alt“ (Lenz 1997: 34). Wie erläutert, geht Marc Aurel davon aus, dass die vernünftige ‚Natur des Ganzen‘ die Entstehung der Welt verursacht hat und den Kosmos „zu jeder Zeit und in jeder Hinsicht“ (Ackeren 2011: 373) durchwaltet. Sie wirkt durch eine „Ursachenkette und durch eine Zusammenfügung von Einzelursachen“ (Ackeren 2011: 373). So heißt es in den Wegen zu sich selbst: Sich den Kosmos ununterbrochen als ein Lebewesen denken, das nur ein Sein und eine Seele besitzt, und wie […] er alles durch einen einzigen Anstoß in Bewegung setzt und wie alles die mitbestimmende Ursache ist von allem, was geschieht, und wie das Verwobensein und die Verflochtenheit aussieht – (das bedenke bei dir). (Marc Aurel 21992: 45)
Wie das Zitat zeigt, ist alles, was geschieht, auf die ‚Vernunft des Ganzen‘ zurückzuführen und somit vorherbestimmt. Das einzelne Subjekt ist also
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nicht geschichtsmächtig. Davon ist auch Wasik überzeugt, der am Grab von Fannys Schwester Erika darüber nachdenkt, ob er ihren Selbstmord hätte verhindern können, und zu dem Schluss kommt: „Wenn man gewußt hätte, was kommen wird […] hätte man es anders gehen lassen; oder man hätte es versucht. Geglückt wäre es nicht.“ (Lenz 1997: 94)8 Im Hinblick auf die hier zum Ausdruck kommende fatalistische Weltsicht ist die Figur des Dieners Sprachrohr des Autors, hat dieser doch unter anderem in seinen Frankfurter Vorlesungen erklärt: Ja, dieser römische Kaiser hat mich bestärkt, übrigens auch in meinem Fatalismus. […] Nun, wer weiß, daß auf Hitler über 200 Attentatsversuche mißglückt sind, wird, falls er so etwas wie Fatalismus in Mißkredit bringen will, zumindest nachdenklich werden. Und es hat schon viel für sich, wenn einer sich dagegen auflehnt, glauben zu müssen, der Mensch könne nichts selbst in die Hand nehmen, sei ausgeliefert dem Zufall. Schön ist’s schon, wenn einer Erfolg hat, weil er Gutes will, und nicht bloß, weil’s jetzt halt gerade so in den Weltenplan oder in den Großen Zusammenhang hineinpaßt. Allerdings dürfte dann nur das Gute und nicht auch das Schlechte erfolgreich sein. (Lenz 1986: 148, 151)9
Die Annahme, dass in allem Seienden ein metaphysisches Prinzip präsent ist, das alles, was passiert, verursacht, führt Wasik zum einen zu der Überzeugung, dass das Subjekt nur begrenzt erkenntnisfähig ist. Es kann weder sich selbst noch die Phänomene der äußeren Welt vollständig ergründen. So ist sich Wasik sicher: „[Ü]ber seelische Vorgänge ließ sich nichts Sicheres sagen; und so etwas wie Krebs blieb letzthin unbekannt; freilich, man mußte versuchen, weiter einzudringen in das Unerforschte, obwohl sich dieses Unerforschte endlos streckte…“ (Lenz 1997: 156).10 Zum anderen
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Vgl. dazu auch Lenz 1997: 117. Hier wird auf ein von Engelsleben verfasstes Manuskript verwiesen, in dem zu lesen ist, dass „[z]eitbedingte Konstellationen […] vom Menschen nicht verändert, nur ausgenützt werden“ können, eine Position, die Wasik teilt. Vgl. dazu auch das 1992 mit Lenz geführte Interview von Werner Jung. Hier heißt es: „Die Welt der k. u. k. Monarchie: Ich werde immer wieder gefragt, warum ich die bevorzuge. […] Aber für mich wird in der Geschichte Österreichs und der k. u. k. Monarchie und wie sie zu Ende geht, die Unerbittlichkeit dessen sichtbar, was man Schicksal nennt, nennen könnte, ein Wort, das heute ja auch von vielen abgelehnt wird, weil sie glauben, der Mensch sei für sich selbst verantwortlich. Aber das sieht man ganz deutlich, daß alle Versuche, die Monarchie, die bestehende Regierungsform, das Reich, das in der 48-Revolution deutlich gefährdet war, und die Habsburger zu retten, zu stärken, ohne Erfolg blieben. […] Der Untergang kündigt sich in differenzierten Verfallserscheinungen an und erscheint als unerbittliches Fatum. Deshalb fasziniert mich die Geschichte Österreichs in den letzten hundert Jahren“ (Jung 2011: 10). Zu Lenz’ fatalistischer Geschichtsdeutung vgl. u. a. Moritz 1989: 80ff. Vgl. dazu auch Wasiks Kommentar zu dem Manuskript seines Herrn, das den Titel ‚Das Tröpfchengewebe des Ichs‘ trägt: „Dieses Tröpfchengewebe war so etwas wie Nebel. Wer den Nebel genau ansah, die Häuser erkennen wollte, diese Stationen der Erinnerung […] oder unter Lampen stehenblieb, die einen engen Kreis hell machten [denn immer war es
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kann sich das Subjekt nicht frei entfalten. Von der ‚Natur des Ganzen‘ determiniert und sich selbst und anderen weitgehend fremd, beschreibt Wasik die Menschen als „[e]ingewoben und zusammengewalkt mit dunklem Filz“ (Lenz 1997: 74).11 In dem Wissen, der als krisenhaft erfahrenen Zivilisationswelt nicht entfliehen und ihr nichts entgegensetzen zu können, weil das Subjekt dem ‚Weltenplan‘ ausgeliefert ist, entscheidet sich Wasik ähnlich wie Jakob von Gunten dafür, sich mit der Gegenwart zu arrangieren, dabei auf eine Position im Feld der Macht zu verzichten und dem Grafen Engelsleben zu dienen.12 Die Entscheidung, sich einem anderen freiwillig zu unterwerfen, begründet Wasik erstens wie Walsers Titelfigur damit, keine ‚Emporkömmlingstugenden‘ zu besitzen. Er weiß: „Du bist kein Mensch, der auf die andern faszinierend wirkt, so daß sie gar nicht anders können, als dir zu Diensten sein.“ (Lenz 1997: 119) Da er sich ähnlich wie Jakob von Gunten keine herrschaftsfreien sozialen Gemeinschaften denken kann und nicht glaubt, von anderen als Herr anerkannt werden zu können, bleibt ihm nur die Dienerexistenz. Zweitens ist Wasik davon überzeugt, dass ein anderer Daseinsentwurf oder eine andere Stelle nicht zu einer Erhöhung seiner Lebensqualität führen würden, weil sich alles gleicht und es nirgends besser ist – eine Position, die seiner Marc Aurel-Lektüre geschuldet ist.13 Drittens ist seine Entscheidung für ein traditionelles persönliches Dienstverhältnis als Protest gegen die negativ bewertete Gegenwart zu begreifen, hält er doch an den ein humanes Miteinander verbürgenden sozialen Tugenden wie etwa der Diensttreue fest und versucht damit, dem von ihm diagnostizierten Kulturverfall etwas entgegenzusetzen.14
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nur ein enger Kreis, den jeder überschaute], der merkte, daß es wichtig war, sich wenigstens im eignen Kopfe eine Heimatstatt zu errichten.“ (Lenz 1997: 117) Wie das Zitat zeigt, ist der Blick des Subjekts ‚vernebelt‘; es kann sich selbst nicht (vollständig) ergründen, weil es nur einen ‚engen Kreis‘ überblickt. Zudem wird deutlich, dass sich das Subjekt maßgeblich durch seine Erinnerungen konstituiert. Vgl. dazu auch Lenz’ Frankfurter Vorlesungen. Hier heißt es: „Nur das Gedächtnis macht es möglich, daß jemand Fehler erkennt, und die Bilder, die jedermann von früher mit sich herumträgt, bestimmen sein Verhalten in jedem Augenblick. Die Erinnerung macht die Erfahrungen dauerhaft“ (Lenz 1986: 149). Wie Wasik weiß auch Kemmler: „Was man denkt, weiß man nie genau.“ (Lenz 1997: 83) Vgl. auch Lenz 1997: 44. Vgl. Lenz 1997: 80. Hier konstatiert Fanny: „Der Wasik ist der Gescheiteste von uns, er arrangiert sich halt“. Vgl. Lenz 1997: 108, 117, 133. Dass Wasik – ähnlich wie etwa Grillparzers ‚treuer Diener‘ – seine eigenen Wünsche negiert, um die soziale und politische Ordnung der k. u. k. Monarchie zu stabilisieren bzw. zu restituieren, zeigt sich etwa, wenn er seine ihm Avancen machende Herrin in Gedanken
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Viertens verzichtet Wasik aus einer ihn seit seinem sechsten Lebensjahr begleitenden „Angst“ (Lenz 1997: 127) auf eine Position im Feld der Macht.15 Wovor genau er sich fürchtet, wird im Roman nicht expliziert. Es liegt aber nahe, sie auf seine Vorstellung zurückzuführen, jeder habe „für den andern eine Henkerschlinge in der Tasche“ (Lenz 1997: 119). Aus Angst, von anderen Menschen missachtet oder übervorteilt zu werden, zieht er sich ähnlich wie Jakob von Gunten in ein ‚inneres Exil‘ – in seine Dienerexistenz – zurück. Als Subalterner kann er zu anderen auf Distanz gehen und sich so vor möglichen Verletzungen schützen. So konstatiert der Erzähler: „[D]ieser Abstand [zu anderen, N.B.] war notwendig, er erhielt Wasik am Leben“ (Lenz 1997: 50). Zu Wasiks Streben nach Distanz hat sich Lenz auch in seinen Frankfurter Vorlesungen geäußert. Hier heißt es: „Der Diener Wasik hat sich einen unsichtbaren Schutzmantel der Zustimmung umgehängt, hinter dem er seine Verletzbarkeit verbirgt. Ihm geht alles zu nahe, rückt ihm auf den Leib, und das ist ihm zuwider, strapaziert ihn. Er erträgt die Menschen nur aus der Distanz“ (Lenz 1986: 62). Genauso wie von anderen distanziert sich Wasik auch von sich selbst. Das ist auf seine Marc Aurel-Lektüre zurückzuführen. Laut dem Philosophen resultiert alles, was sich ereignet, aus der ‚Vernunft des Ganzen‘. Wenn alles Geschehen zweckmäßig ist, müssen auch alle Übel als „notwendige Veränderungen und Wandel“ (Ackeren 2011: 423) gewertet werden. Dafür ist ein Perspektivenwechsel notwendig, durch den das Subjekt von sich selbst abrückt und die ihm widerfahrenden unangenehmen Ereignisse als geboten anerkennt. In den Wegen zu sich selbst heißt es: Alles kommt von dort [dem Kosmos, N.B.], nachdem es von jenem allgemeinen leitenden Prinzip in Gang gesetzt wurde oder als Begleiterscheinung auftrat. Dennoch sind der Rachen des Löwen, das Gift und alles Schädliche […] Folgeerscheinungen des Erhabenen und Schönen. Komm also nicht auf den Gedanken, daß diese Erscheinungen nichts mit dem zu tun hätten, was du verehrst, sondern denk an den Ursprung aller Dinge. (Marc Aurel 21992: 72)16
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zurechtweist: „Was glauben Sie, wie Sie sich heillos fühlten, meine Dame, wenn der Diener einer wäre, der alles bloß als günstige Gelegenheit ausnützte. Und wie verschlampt ihr Haushalt würde und wie ratlos Ihr Sohn würde, wenn alles so abliefe, wie Sie wollen…“ (Lenz 1997: 123). Das sechste Lebensjahr markiert auch einen Bruch in der Welterfahrung von Lenz. Wie er im Interview mit Werner Jung konstatiert, wird der Mensch mit seinem „Eintritt in die Schule“ mit anderen, ihm fremden Menschen konfrontiert, wodurch er einer unter vielen wird: „die Welt wird größer und durch die Größe fremder“ (Jung 2011: 15f.). Im Idealfall soll dem vermeintlich Hässlichen zusätzlich eine ästhetische Qualität abgewonnen werden, vgl. Marc Aurel 21992: 26: „Die sich nach unten neigenden Ähren, die runzlige Stirn des Löwen, der Schaum, der aus dem Maul des Ebers fließt, und vieles andere, das für sich allein betrachtet alles andere als schön ist, trägt dennoch zur Schönheit bei
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Anstatt gegen die zu erleidenden Übel anzukämpfen, sollen sie vom Subjekt (gelassen) akzeptiert werden. Genau das ist Wasiks Ideal, fordert er doch von sich: „Was dir zustößt oder begegnet, läßt du auf sich beruhen; […] Zwischen zwei sich reibenden Mühlsteinen schlüpft nur Wasser durch. Du mußt wie Wasser werden“ (Lenz 1997: 52). In dem Wissen, der inhumanen Gegenwart nichts entgegensetzen zu können, will er sie akzeptieren, um von ihr nicht vernichtet zu werden (wie etwa Erika oder Fanny, die dem Leben nicht gewachsen sind und sich infolgedessen umbringen). Voraussetzung für den Perspektivenwechsel, durch den sich das Subjekt von unangenehmen Ereignissen distanzieren und zu Seelenruhe finden kann, ist die Selbstreflexion. Durch permanente Introspektion soll der Mensch sich seiner Gedanken und Gefühle bewusst werden und seine Vorstellungen so beeinflussen, „daß ihm alles, was geschieht, so erscheint, wie er es will.“ (Marc Aurel 21992: 64) Wie soll das gehen? Obwohl das Subjekt allem, was passiert, ausgeliefert ist, besitzt es dank seiner vernünftigen Denkkraft, die „Teil der göttlichen Vernunft des Ganzen“ (Ackeren 2011: 504) ist, die Fähigkeit, über die ihm widerfahrenden Ereignisse frei – d. h. positiv oder negativ – zu urteilen. So erläutert Marc Aurel in den Wegen zu sich selbst: Das schönste Leben führen: diese Möglichkeit liegt in der Seele, wenn einem die gleichgültigen Dinge gleichgültig sind. Sie werden einem gleichgültig sein, wenn man […] daran denkt, dass uns keines von ihnen eine Auffassung über sich aufzwingt und auch nicht auf uns zukommt, sondern daß die Dinge ohne Bewegung bleiben und wir selbst diejenigen sind, die die Urteile über sie erzeugen und gleichsam in uns selbst aufschreiben (Marc Aurel 21992: 141).
Der Mensch soll sich durch stetige Selbstbeobachtung von seinen negativen Affekten distanzieren und sie durch andere positive Werturteile ersetzen, um so zu Zufriedenheit zu finden. Überwindet er seine Affekte und folgt er seiner Vernunft, befindet er sich im Einklang mit dem Weltganzen. „Darum ist die von Leidenschaften freie Vernunft eine Burg“, so Marc Aurel. „Denn der Mensch besitzt nichts, was noch stärker ist. Wenn der Mensch dort seine Zuflucht sucht, dürfte er in Zukunft unbesiegbar sein“ und die Zeit, die ihm „bis zum Tode noch bleibt, in Ruhe, Heiterkeit und versöhnt“ mit der ihm „innewohnenden göttlichen Kraft verbringen.“ (Marc Aurel 21992: 104, 150)17 Diese Position teilt Wasik, der sich
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und hat seinen eigenen Reiz, weil es die natürlichen Erscheinungen begleitet; wenn also jemand ein Gefühl und ein tieferes Verständnis für das Geschehen im Weltganzen hat, dann wird ihm deutlich werden, daß fast alles auch durch derartige Begleitumstände eine auf seine Weise sehr angenehme und erfreuliche Wirkung hat.“ Vgl. Lenz’ Frankfurter Vorlesungen. Hier proklamiert er mit Marc Aurel, dass der Mensch seiner „von Affekten freie[n] Denkkraft“ (Lenz 1986: 84) folgen solle.
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an Marc Aurels Maxime „,Sieh nach innen‘ oder: ‚Grabe nach innen‘“ (Lenz 1997: 24) orientiert.18 Wie im Folgenden zu zeigen ist, weist der im Roman von Wasik proklamierte Abstand große Parallelen zu Jakob von Guntens ‚Pathos der Distanz‘ auf – wenn sein Streben nach Distanz auch nicht seiner Nietzsche- , sondern seiner Marc Aurel-Lektüre geschuldet ist. Ähnlich wie Jakob besitzt Wasik erstens einen vertikalen Abstand zu anderen, will er doch bestehende soziale Ungleichheiten nicht nivellieren, sondern aufrechterhalten. Davon zeugt nicht nur sein Wunsch, den Engelslebens zu dienen und in deren Villa „ein knochenhartes Inventarstück“ (Lenz 1997: 145) zu werden, sondern auch die Beziehung zu seiner Herrin Fanny, die er heimlich liebt. Obwohl sie seine Nähe sucht und ihn bittet, beim Vornamen genannt zu werden, spricht er sie weiterhin als „gnädige Frau“ an; denn „diese Frau, die seine Herrin war, gehörte in ihr Schloß“. (Lenz 1997: 124, 141) Damit eng verbunden ist zweitens die von Wasik proklamierte horizontale Distanz. Er will „außerhalb“ bzw. „abseits“ stehen, um seine ‚innere‘ Freiheit bewahren und von anderen emotional unabhängig bleiben zu können. (Lenz 1997: 23, 28) Das ermöglicht ihm die Dienerexistenz. Als Subalterner muss Wasik physisch präsent sein, um die Befehle seines Herrn auszuführen; „zugleich hat er sich (geistig) wie absent zu verhalten, um nicht zum ungebetenen Akteur, zum Mitwisser oder Nutznießer fremden Wissens“ (Krajewski 2010: 173) zu werden. Da nur seine körperliche Anwesenheit gefragt ist, hat Wasik „immer frei“ (Lenz 1997: 87). Darin geübt, die Gespräche seiner Herrschaft zu überhören, folgt er während des Dienstes seinen eigenen Gedanken.19 Auf diese Weise gelingt es
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In Bezug auf die hier proklamierte Distanz zu anderen und zu sich selbst ist der Diener Wasik als Lenz’ Sprachrohr konzipiert. So zitiert ihn Rüdiger Wischenbart: „Für mich ist das die persönliche Erfahrung, daß ich im Krieg mir klargemacht habe, ohne eine Distanz zu allem, was um dich geschieht, gelingt dir gar nicht, das aufrechtzuerhalten, was man, nun ja, etwas pathetisch Würde nennen kann. Ich möchte einfach sagen, was mich schützt, womit ich etwas durchstehen kann, das mir sinnlos und verhaßt erscheint, was mich quält und was mich peinigt, da kann ich nur, ich persönlich, durch die Haltung dessen darüber hinwegkommen, der sich sagt, zeige nicht zu viel von dir selber, sieh, wie es wirklich ist. Es steht ja bei Marc Aurel ‚Sehe die Welt nicht so, wie sie dir erscheint, oder wie der andere will, daß sie dir erscheint, sondern wie sie wirklich ist‘. Wie sie wirklich ist, das weiß natürlich niemand […]. Aber – wie soll man es ausdrücken? – die Kraft, sich bemühen zu können, etwas von sich abgerückt zu sehen und auch einen Menschen, der einem persönlich nicht gefällt, zu verstehen versuchen, ihn gelten zu lassen, das ist für mich die Möglichkeit, das Leben zu bestehen.“ (Wischenbart 1988: 101) Vgl. Lenz 1997: 28, 37, 48, 87; vgl. außerdem Lenz’ Gespräch mit Werner Jung, in dem er die Abschottung von der Außenwelt als ‚inneren Bezirk‘ des Subjekts bezeichnet: „Der innere Bezirk ist eine Ecke, ein Winkel, der es mir möglich macht, mich abzudichten gegen
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ihm, sich von anderen und von der prosaischen Realität abzuschotten und unangreifbar zu werden: „Eine gesammelte Person, an die nichts herankonnte, nachgiebig und zäh, so wirst du dich behaupten“ (Lenz 1997: 162), das ist Wasiks Ziel. Um sich zu schützen, distanziert sich Wasik außerdem von den eigenen Wünschen – ein Aspekt, der mit Nietzsches Ausführungen zum ‚Pathos der Distanz‘ freilich unvereinbar ist. Während sein soziales Umfeld, insbesondere Engelsleben, von seinen Trieben gelenkt wird, will sich Wasik ähnlich wie Jakob von Gunten „aus dem Lebensschlamm“ (Lenz 1997: 20) heraushalten, seine individuellen Wünsche negieren und so zu Souveränität gelangen. Wie Kemmler weiß er, dass man die eigenen Gefühle „hinuntersinken“ (Lenz 1997: 84) lassen muss, um von ihnen nicht beschwert zu werden. Aus diesem Grund will er sich auch nicht dauerhaft auf eine Affäre mit Fanny einlassen und ist erleichtert, als sie sie zu beenden sucht. Die Negation der eigenen Begierden ist für Wasik auch deshalb erstrebenswert, weil er meint, nur dann etwas über seine Gegenwart erfahren zu können, wenn er selbst nicht in die eigene Zeit „verstrickt“ (Lenz 1997: 101) ist. Ähnlich wie Jakob von Gunten will er die ‚absolute Perspektive des souveränen Zuschauers‘ einnehmen, der sich allen Determinierungen entzieht. Zuletzt besitzt Wasik eine Distanz im Hinblick auf das Zeitliche – allerdings nur eingeschränkt, weil er auf die Vergangenheit bezogen bleibt, um die Gegenwart bewältigen zu können, anstatt sich ganz auf die Gestaltung des Zukünftigen zu konzentrieren. Ähnlich wie für Marc Aurel ist die Zeit für Wasik ein „Strom aus allem, was geschieht, und ein gewaltiges Fließen. Denn alles ist in dem Augenblick, wo es gesehen wurde, schon vorbeigetrieben, und es treibt etwas anderes heran, und darauf wird wieder Neues herantreiben.“ (Marc Aurel 21992: 45f.) Da es für Wasik nichts „Feste[s]“ (Lenz 1997: 27) gibt – ein Eindruck, der nicht zuletzt auf die „Erfahrung der Beschleunigung“ (Rosa 2013: 16) in der Moderne zurückzuführen ist, – wendet er sich der Vergangenheit zu. Sie gewährt ihm die „Verläßlichkeit, die Gegenwart und Zukunft nicht geben können.“ (Moritz 1989: 89) So überlegt Wasik: Gut, daß alles Künftige unbestimmt war, er hoffte nicht aufs Künftige; das Künftige war nur zu schmecken als Eisengeschmack und zu fühlen als roter Eber, irgendwo zwischen fernen Dächern. Gut, daß das Vergangene fest stand und hereinatmete in das, was er jetzt tat. Das Vergangene durchsetzte alles und saugte es
_____________ das Äußere, um darüber nachzudenken, um es mir klarzumachen, in Bildern, in Überlegungen, Sinnierereien. Das ist notwendig, um nicht von der einstürmenden Wirklichkeit zerfetzt zu werden“ (Jung 2011: 14).
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auf. Vergangenheit war immer; es gab nur Vergangenheit, Vergangenheit und täglichen Dienst, in dem die Freiheit lebte, jederzeit weggehen zu können. (Lenz 1997: 102)
Wie das Zitat deutlich macht, hält sich Wasik am Vergangenen, am ‚Verewigten‘ (vgl. Lenz 1997: 184) fest, um sich mit dem Blick auf das Unveränderliche der bewegten Gegenwart stellen zu können.20 Dabei konzentriert er sich ganz auf die Bewältigung jedes einzelnen Augenblicks und nimmt alles hin, was geschieht. So erklärt er: „Ich bin immer froh. Wie’s kommt, so kommt’s.“ (Lenz 1997: 19) Ähnlich wie Fanny weiß er um die Notwendigkeit, den „Fluß [der Zeit, N.B.] dahingleiten zu lassen, ihn gut zu finden und sich selber auch“ (Lenz 1997: 88), um sich mit der Gegenwart arrangieren zu können. Diese Position ist seiner Marc Aurel-Lektüre geschuldet, erklärt doch der Philosoph in den Wegen zu sich selbst: „[S]ei dir […] dessen bewußt, daß jeder nur in diesem winzigen Augenblick lebt, der gerade gegenwärtig ist. Die übrige Zeit ist entweder schon verlebt oder liegt im Bereich des Ungewissen.“ (Marc Aurel 21992: 31) Aus diesem Grund soll sich das Subjekt auf die augenblickliche Gegenwart konzentrieren, anstatt mit Vergangenem zu hadern oder sich um die Zukunft zu sorgen.21 Insofern besitzt Wasik eine nach innen gerichtete Souveränität – trotz seiner Orientierung am Überzeitlichen. Denn er wahrt einen Abstand zur eigenen Geschichte und akzeptiert das Hier und Jetzt, anstatt seine Kräfte für die ‚reaktive Bewältigung von Vergangenem zu verbrauchen‘ (vgl. Braatz 1988: 255). Wie Walsers Titelfigur zeichnet sich Wasik außerdem durch eine nach außen gerichtete Souveränität aus, die sich ähnlich wie bei Jakob von Gunten in seinem Willen manifestiert, sich zu ‚maskieren‘, d. h. sich hinter der Existenz- und Habitusform des Dienens zu verstecken, um für andere unangreifbar zu werden. Vor diesem Hintergrund wird er vom Erzähler als „Rollenspieler“ bezeichnet, der großen Wert auf Etikette legt; denn „wer sich an die Etikette hielt, blieb ungeschoren. Die Etikette war ein verläßlicher Schild.“ (Lenz 1997: 134, 118)
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Eine ähnliche Funktion wie dem Vergangenen kommt der Natur als „Inbegriff des Konstanten“ zu. „Sie […] figuriert als der Teil der Außenwelt, der den Zeitläuften und insbesondere der modernen Zivilisation zu trotzen und so das Unveränderliche und In-sichGleichbleibende zu bewahren scheint“ (Moritz 1989: 209f.). So berichtet der Erzähler: „Und er [Wasik, N.B.] wiederholte für sich das Wort ‚Gottesacker‘ und dachte, alles sei ein Gottesacker: die Stadt und die Schlachtfelder, die Flüsse und die Hügel. […] Es war notwendig, jetzt das zu sehen, was lange unverändert blieb und schwieg; die Bewegungen der Menschenleiber verebbten alle bald.“ (Lenz 1997: 164) Vgl. dazu auch Ackeren 2011: 589ff.
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Aufgrund der von Wasik gesuchten Distanz zu sich und anderen ist er seinem Herrn überlegen, kann er doch das Zeitgeschehen sowie die Handlungen seines sozialen Umfelds besser einschätzen als dieser. Das weiß auch Engelsleben, wenn er konstatiert: „Sie, Wasik, Sie sehen in solche Geschehnisse schärfer hinein, weil Sie danebenstehen.“ (Lenz 1997: 19) Bei dem geschilderten Dienstverhältnis handelt es sich also um eine interdependente Herrschaftsbeziehung, was im Roman mehrfach thematisiert wird und auch darin zum Ausdruck kommt, dass sich Wasik ähnlich wie Walsers Titelfigur mitunter über die Befehle seines Herrn hinwegsetzt.22 Obwohl es Wasik im Gegensatz zu seinem Herrn gelingt, vernünftig, d. h. selbstbestimmt, zu agieren und sich auf diese Weise seiner Gegenwart zu stellen, ist sein Daseinsentwurf – wie der von Jakob von Gunten – nicht spannungsfrei, weil er von Widersprüchen geprägt ist. So schätzt Wasik seine (Gedanken-)Freiheit, muss sich als Diener aber äußeren Zwängen unterwerfen; er will einen Abstand zu anderen herstellen, verspürt aber zugleich den Wunsch nach emotionalen Bindungen;23 und er sucht sich durch permanente Introspektion über seine Gefühle und Gedanken klar zu werden, sehnt sich aber nach einer möglichst unmittelbaren Welterfahrung. Das wird etwa in einem Gespräch zwischen Wasik und Engelsleben deutlich, in dem der Diener erklärt: [W]enn Sie etwas genau kennen, dann wird die Sache schwierig. Das beste ist, denke ich oft, wenn du alles bloß halb oder viertels weißt, oder noch weniger. Wenn Sie bloß eine Ahnung haben, fällt alles leicht […] Man soll nichts denken, aber wer kann das schon? Der Dumme. (Lenz 1997: 68f.)
Nur in der Natur gelingt es Wasik für Augenblicke, seine Distanz zur Lebensrealität aufzugeben, indem er sich im buchstäblichen Sinne selbstvergessen seinen sinnlichen Empfindungen hingibt. So berichtet der Erzähler über Wasiks Fahrradtour übers Land: „,Die Weite und die Ferne…‘ dachte Wasik. Die Farben, diese Augenhaut der Erde, und daß er allein war, daß er schwitzte und daß die Luft an ihm zerrte, dies genügte ihm. Er sah es an, es flog durch ihn hindurch.“ (Lenz 1997: 81)24 Die hier geschilderte vorbehaltlose Hingabe an die Natur hat Lenz im Interview wieder-
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Vgl. u. a. Lenz 1997: 37, 43. Vgl. u. a. Lenz 1997: 61. Hier bedauert er, als Diener gezwungen zu sein, „hinter einer Mauer [zu] stehen“. Ähnliches gilt für die Kunst: „[S]obald er sang, war er so tief im Text, daß er den anderen Wasik vergessen hatte, denselben, der ein Diener war. Durchs Lied griff er hinaus ins Ferne und hatte Abendlicht im Rücken, das gierig glühte“ (Lenz 1997: 92). In der Kunst und in der Natur gelingt es dem Diener, seine innere Distanz aufzuheben und sich ganz seinen subjektiven Empfindungen hinzugeben. Vgl. dazu auch Graafen 1991: 99f., Moritz 1989: 116f.
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holt als (s)eine Strategie der Lebensbewältigung beschworen. So erklärt er im Gespräch mit Werner Jung: [E]s gibt gewisse Augenblicke, in denen ich mich sozusagen selber vergessen kann – am stärksten konnte ich das als Kind – und wo ich nur gespürt habe, wie ich, na, zu den Blättern gehörte und wie der Boden mir nahe war, der Boden im Wald […] das alles sind Erfahrungen, ohne die es mir nicht möglich wäre, das mich verletzende Eindringen dessen, was man Aktualität nennt, zu ertragen. (Jung 2011: 15)
Angesichts der hier skizzierten Widersprüche wird Wasiks Existenzentwurf im Handlungsverlauf in Frage gestellt und ähnlich wie in Jakob von Gunten durch ein alternatives Daseinsmodell abgelöst – durch die symmetrische, auf Zuneigung und gegenseitige Anerkennung beruhende Paarbeziehung. Wie Wasik konstatiert, gelingt es ihm in der Ehe mit Elise Rabl, seine intellektuelle Distanz zur Realität aufzugeben: „Ich habe früher immer nur alles von außen gesehen, und da war’s aus Stein. Mit dieser Frau sah ich’s von innen, und da war’s ein Leib!“ (Lenz 1997: 181) Durch die ihn ‚belebende‘ emotionale Bindung an eine andere Person wird Wasik allerdings verletzlich, so dass er ihren Tod nur schwer verkraftet und danach erneut die Distanz zu anderen sucht, um sich vor psychischen Verletzungen zu schützen. So ermahnt er sich: „Bleibe der Diener Wasik, bleibe außerhalb. Verliere dich nicht außerhalb des Hauses. Vor deiner Haut beginnt die Fremde.“ (Lenz 1997: 183) Sein abermaliges Streben nach Distanz manifestiert sich auch in seinem Habitus, berichtet doch der Erzähler, dass Wasik in dem Wissen, seine Frau verloren zu haben, „die Treppe in dem Rote-Kreuz-Gebäude“ so „steif“ hinuntergeht, „wie er nur [als Diener, N.B.] im Schloß Schoeneben gegangen war“. (Lenz 1997: 182) Während sich der Bedienstete in ein ‚inneres Exil‘ flüchtet, um den Preis, ‚alles nur von außen zu sehen‘, sind seine Tochter Maria und ihr Lebensgefährte Eduard fähig, die Gegenwart zu akzeptieren, d. h. ihr ohne innere Distanz zu begegnen. Im Gegensatz zu Wasik will Eduard „nichts mehr davon wissen, was früher gewesen“ ist, und auch Maria weiß: „Wir haben keine bessere Vergangenheit; uns genügt die Gegenwart.“ (Lenz 1997: 204, 218) Insbesondere Maria mag das „Neue“ (Lenz 1997: 215). Im Gegensatz zu ihrem Vater will sie lieber in einem Hochhaus als in einer alten Villa wohnen; und während sich Wasik nach Momenten sehnt, in denen die „Zeit still“ (Lenz 1997: 53) steht, liebt Maria die Bewegung und damit die beschleunigte Zeiterfahrung in der Moderne. Mit Wasik gemein haben Maria und Eduard allerdings ein Desinteresse an symbolischem und ökonomischem Kapital. So denken sie nicht daran, den Schatz auszugraben, den Eduards Vater laut Kemmler im „Garten der verwunschenen Villa Engelsleben“ (Lenz 1997: 207) vergraben hat. Beide verdienen zwar nicht viel, haben aber „genug“ (Lenz 1997: 213). Wichtiger als der materielle Reichtum ist ihnen ihre Beziehung, die
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sie als ‚wahren‘ Schatz begreifen (vgl. Lenz 1997: 213). Das ist laut Wasik etwas Neues, weil früher jeder allein gewesen war; der Herr, die Frau, Wasik und auch Kemmler; jetzt wurde es anders, weil Maria und Eduard beisammen waren. Oder glaubte Kemmler trotz allem, Eduard solle alleinbleiben, weil er zu alt für die Maria sei, und es nütze nichts, wenn er sie an sich binde? Aber er band sie nicht an sich, er gehörte nur zu ihr. (Lenz 1997: 218)
Wie das Zitat zeigt, besteht zwischen Maria und Eduard eine starke emotionale Bindung, ohne dass er sie an sich zu fesseln, d. h. zu unterwerfen sucht. Es handelt sich also um eine symmetrische Beziehung, in der beide Partner einander den Halt geben, den (der einsame) Wasik nur im Abstand zur prosaischen Realität finden kann. Wie in den bisher analysierten Texten lassen sich auch in Lenz’ Roman Korrelationen zwischen der Handlungs- und der Darstellungsebene aufzeigen. Schon Birgit Graafen hat herausgestellt, dass das Geschehen aus Wasiks Perspektive häufig nicht direkt, d. h. der chronologischen Abfolge nach […], sondern rückblickend aus der Erinnerung entwickelt [wird]. Beispielsweise wird das Erleben im Ersten Weltkrieg ausgespart und später fragmentarisch in assoziativer Verknüpfung zur Gegenwart eingeblendet. Durch das Zurücktreten einer kausal verknüpften äußeren Handlung zugunsten eines Geflechts ineinanderfließender Assoziationen, Impressionen und Einzelbilder nimmt der Autor nicht nur Wasiks Wahrnehmungsweise als Strukturierungsprinzip des Romans wieder auf, sondern hebt auch den Wert des Vergangenen für die Gegenwart hervor. Besonders auffällig ist diese Verknüpfung, wenn einzelne Motive […] zunächst als Wahrnehmungsbilder gestaltet werden und später in der Erinnerung mehrfach wiederkehren. Dadurch gewinnt im Laufe des Romans die Erinnerungsebene immer stärker an Bedeutung und gipfelt in einem Schlußbild, das zum Anfang zurückführt. Wasik erlebt den eingangs geschilderten Manöverball aus dem Jahre 1912 noch einmal, wobei durch die Wiederaufnahme zahlreicher Details in fast wörtlicher Übereinstimmung von der Struktur her das konservative Menschenbild eines ruhenden, kreislaufhaften Seins unterstrichen wird. (Graafen 1991: 101)25
Indem der Fokus auf Wasiks Träumen, Erinnerungen, Selbstgesprächen und Impressionen liegt, die er der prosaischen Realität entgegensetzt, wird deutlich gemacht, dass er ähnlich wie Jakob von Gunten ein ‚Suchender‘ ist, der unfähig ist, sich ‚das Gegenwärtige zu eigen zu machen‘ – in dem Wissen, dass es keine „objektive Wirklichkeit“ (Lenz 1986: 95), sondern nur subjektive Wahrnehmungen gibt.26 Dennoch ist Wasik auf die (ihm
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Vgl. zu Lenz’ ‚imaginativem Erzählen‘ auch Moritz 1989: insbes. 159–186; außerdem Lenz’ Frankfurter Vorlesungen (Lenz 1986: 47). Dass es keine ,objektive Wirklichkeit‘ gibt, wird im Roman mehrfach thematisiert, so etwa, wenn Wasik überlegt, was er von seinem Herrn weiß, und ihn in seiner Imagination „mit
Lenz: Die Augen eines Dieners
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bewusste) Illusion angewiesen, dass es etwas ‚Festes‘ gibt, an dem er sich orientieren kann, um sich seiner Zeit – der kontingenten Moderne – stellen zu können.27 * Ziel dieses Kapitels war die Profilierung eines konsensuellen Modells interdependenter Herrschaft und zwar die freiwillige Unterwerfung des Dieners als Rückzug in ein ‚inneres Exil‘ angesichts der als krisenhaft erfahrenen Gegenwart, so in Walsers Jakob von Gunten und in Lenz’ Die Augen eines Dieners. In beiden Romanen wird die Moderne von den jeweiligen Dienerfiguren aufgrund spürbarer soziostruktureller Veränderungen und eines von ihnen diagnostizierten Kulturverfalls für hochgradig defizitär gehalten. Beide bedauern, dass an die Stelle personaler Herrschaftsbeziehungen strukturelle Machtasymmetrien getreten sind und dass die christlich-humanistischen Tugenden an Geltungskraft verloren haben. In dem Wissen, die bestehenden sozialen Missstände nicht beseitigen zu können, suchen sie sich mit der Gegenwart zu arrangieren. Da die sensiblen und zum Träumen neigenden Figuren keine ‚Emporkömmlingstugenden‘ besitzen, entschließen sie sich, anderen zu dienen und auf diese Weise zu Souveränität und Gelassenheit zu finden. Inwiefern? In ihrer ‚Rolle‘ als Diener gelingt es Jakob und Wasik erstens, eine horizontale und vertikale Distanz zu anderen herzustellen und so ihre emotionale Unabhängigkeit zu bewahren. Dazu greifen sie zu ähnlichen Selbstbehauptungsstrategien. So ‚maskieren‘ sich beide, um von anderen nicht verletzt werden zu können. Anderen unterworfen sind sie zweitens gezwungen, ihre eigenen Wünsche zu negieren. Da sie sich im Gegensatz zu ihren Herren nicht von ihrer Triebnatur lenken lassen, sind sie zu selbstbestimmtem Handeln fähig. Drittens besitzen beide eine Distanz im Hinblick auf das Zeitliche, weil sie einen Abstand zu ihrer eigenen Lebensgeschichte haben und sich ganz auf die Bewältigung ihrer augenblicklichen Gegenwart konzentrieren. Viertens können die Dienerfiguren eine Dis– tanz zur prosaischen Realität herstellen, weil sie als ‚verlängerte Arme‘ ihrer Herren nur physisch präsent sein müssen und sich ganz ihren Im-
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den Schultern zucken und hochmütig, ironisch oder zornig auf ihn schauen“ sieht, „je nachdem er selber hochmütig, ironisch oder zornig gestimmt war; denn jeder deutete das Mienenspiel des anderen so aus, wie er selbst im Augenblick gestimmt war; eindeutig war da nichts.“ (Lenz 1997: 44) Ähnlich argumentiert Moritz. So erklärt er: Lenz’ Figuren haben „erkannt, daß sie der Illusion des Dauerhaften und der „Tiefe“ bedürfen, daß sie sich in ihrer Lebenspraxis von Illusionen leiten lassen müssen, die sie […] als solche durchschauen. Das Heil liegt darin, an den Zusammenhang zu glauben, weil man um das Zusammenhanglose der Moderne weiß.“ (Moritz 2002: 209)
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Freiwillige Knechte
pressionen und Imaginationen hingeben können. Auf diese Weise erhalten sie sich ihre geistige Unabhängigkeit. Die von Jakob und Wasik proklamierten Existenzmodelle sind aber nicht spannungsfrei, weil sie den Verzicht auf emotionale Bindungen und auf eine unmittelbare Welterfahrung notwendig machen. Aus diesem Grund werden ihre Daseinsentwürfe im Handlungsverlauf in Frage gestellt und durch jeweils andere abgelöst – in Jakob von Gunten durch eine auf gegenseitiger Wertschätzung basierende Koalition von Herr und Knecht und in Die Augen eines Dieners durch die gleichrangige Partnerschaft zweier miteinander harmonierender Menschen. Wie auf der Handlungsebene lassen sich auch auf der Darstellungsebene Parallelen zwischen beiden intern fokalisierten Romanen feststellen. Beide Protagonisten folgen ihren Sinneseindrücken, Erinnerungen und Träumereien, um sich der prosaischen Realität zu entziehen. Ihre zwischen Wirklichkeit und Imagination changierenden Wahrnehmungen strukturieren die jeweiligen Texte – „Gewebe aus Wörtern“, in denen „Handlungselemente, Dialoge, Beschreibungen und berichtende Prosa sich zusammenfügen.“ (Lenz 1986: 47)
Schluss Im Rahmen der vorliegenden Arbeit sind exemplarische Prosa- und Theatertexte vom 18. bis ins 20. Jahrhundert aus ideengeschichtlicher Perspektive untersucht worden, in denen interdependente Herrschaftsbeziehungen strukturbestimmendes Thema sind. Ziel der textorientiert intentionalistischen Studie war es zu zeigen, wie literarische Texte die herrschaftstheoretischen Debatten ihrer Zeit reflektieren. Dabei sollte deutlich geworden sein, dass die wechselseitige Abhängigkeit von Herr und Knecht in der Literatur primär als sozialphilosophische oder sozialethische Denkfigur zu werten ist – ein Befund, der deshalb bemerkenswert ist, weil Herr und Knecht meist als Vertreter konkreter sozialer Stände begriffen und aus sozialgeschichtlicher Perspektive beleuchtet oder ohne Eingrenzung der Kontextbezüge auf Hegels viel rezipiertes Modell interdependenter Herrschaft bezogen werden. Darüber hinaus ist danach gefragt worden, welche diskursiven Funktionen paradigmatischen Herr-Knecht-Figurationen in der Literatur zukommen. In diesem Zusammenhang sind vier – zwei konfliktäre und zwei konsensuelle – Modelle interdependenter Herrschaft profiliert worden. Mit Diderots Roman Jacques der Fatalist und sein Herr ist erstens eine Koalition zwischen Herr und Knecht in den Blick genommen worden. Jacques und sein Herr befinden sich – trotz der bestehenden sozialen Rangunterschiede – in einem permanenten Aushandlungsprozess, wer von beiden der Führende und wer der Geführte ist, bis der Herr Jacques’ Überlegenheit anerkennt und die Figuren ihre jeweiligen Rechte und Pflichten vertraglich miteinander regeln. Der für den Roman konstitutive Herr-Knecht-Diskurs ist von der Forschung kontrovers diskutiert und häufig entweder hegelianisch gedeutet oder auf die soziale Realität im Ancien Régime bezogen worden. Im Unterschied dazu ist in dieser Arbeit die These aufgestellt worden, dass sich Diderots Roman als literarische Auseinandersetzung mit den vertragstheoretischen Debatten der Zeit lesen lässt. Ziel des auf Illusionsstörung hin angelegten Textes ist die aufklärerische Erziehung des Lesers zur Mündigkeit. Er soll die tradierten politischen und philosophischen Positionen hinterfragen und dialektisch einen (vorläufigen) eigenen Standpunkt entwickeln. Die dialektische Negation politischer Systeme in Darstellungen von Koalitionen zwischen Herr und Knecht findet sich nicht nur in Diderots Roman, sondern
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auch in Brechts Volksstück Herr Puntila und sein Knecht Matti und in Brauns Hinze-Kunze-Roman. Das lässt sich rezeptionsgeschichtlich begründen, haben sich doch Brecht und Braun mit Diderots Roman und darüber hinaus mit den Herr-Knecht-Modellen von Hegel und Marx auseinandergesetzt. In allen drei Texten wird die Koalition von Herr und Knecht und damit verbunden das jeweils vorgeführte politische System in Frage gestellt. Dazu werden die herrschaftstheoretischen Positionen des Figurenpaars negiert und die Rezipienten aufgefordert, eigenständig eine Alternative zu der in den jeweiligen Texten problematisierten politischen Ordnung zu entwickeln. Sie sollen das Gelesene weniger emotional als rational rezipieren. Aus diesem Grund arbeiten alle genannten Autoren mit Verfahren der Illusionsstörung. Mit Beaumarchais’ Komödie Der tolle Tag oder Die Hochzeit des Figaro ist zweitens ein widerständiger Subalterner fokussiert worden, dem es gelingt, sich gegen den Willen seines Herrn erfolgreich zur Wehr zu setzen und ihn in die Schranken zu weisen, so dass er sich am Ende des Handlungsverlaufs bei ihm und allen anderen Untertanen für sein Fehlverhalten entschuldigen muss. Während die Forschung die Komödie in der Regel als bürgerliche Kritik an den Privilegien des Geburtsadels oder als Vorwegnahme der Französischen Revolution gedeutet hat, ist hier die Position vertreten worden, dass sich Beaumarchais allein gegen einen etwaigen Machtmissbrauch des absolutistischen Herrschers wendet. Wie die intellektuelle Elite der Zeit fordert er vom Souverän, sich am Allgemeinwohl zu orientieren. Widerständige Dienerfiguren, die von ihren Herren moralische Integrität zur Beseitigung der bestehenden sozialen, politischen und/oder wirtschaftlichen Missstände verlangen, finden sich häufig in der Komödie, so etwa in Marivaux’ Sklaveninsel, in Krügers Die Candidaten, oder: Die Mittel zu einem Amte zu gelangen, in Hofmannsthals Der Unbestechliche oder in Horváths Pompeji. Das lässt sich aus gattungsgeschichtlicher Perspektive auf den auf die antike Komödie zurückgehenden und bis ins 20. Jahrhundert tradierten Typus des intrigierenden Dieners zurückführen. Die genannten Dramen schließen produktiv an diese (Rollenfach-)Tradition an, indem sie mit den Gattungskonventionen der antiken Komödie bzw. der Commedia dell’arte spielen und Bediente vorführen, die sich durch eine subversive Energie auszeichnen, auch wenn sie die bestehende politische Ordnung nicht immer fundamental in Frage stellen. Mit Grillparzers Trauerspiel Ein treuer Diener seines Herrn ist drittens ein pflichttreuer Knecht in den Blick genommen worden. Die Interdependenz der Herrschaftsbeziehung manifestiert sich hier in der moralischen Überlegenheit des ‚treuen Dieners‘ Bancbanus über seinen Herrn, König Andreas II. von Ungarn. Im Gegensatz zum Forschungskanon ist in die-
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ser Arbeit die These vertreten worden, dass auch dieser Text auf die philosophischen und politischen Debatten seiner Zeit rekurriert: Er lässt sich als literarische Auseinandersetzung mit Immanuel Kants Moral- und Rechtsphilosophie lesen. Mit Kant davon ausgehend, dass jedes Subjekt die Pflicht hat, selbst auferlegten Vernunftgesetzen und den staatlichen Gesetzen zu folgen, fordert Grillparzer von Herr und Knecht, diesen Geboten im privaten und öffentlichen Bereich zu folgen. Jeder ‚Ordnungsstörer‘ muss zur Stabilisierung der politischen Ordnung aus der bestehenden Rechtsgemeinschaft ausgeschlossen werden. Im Anschluss an die Textanalyse ist ein konsensuelles Modell interdependenter Herrschaft vorgestellt worden, nämlich die Idealisierung der Pflichttreue als Mittel zur Stabilisierung der bestehenden Ordnung. Sie findet sich nicht nur in Grillparzers republikanischem Trauerspiel, sondern auch in anderen antiindividualistischen Genres mit mehr oder weniger restaurativer Tendenz, so etwa in der (regionalen) traditionalistisch-affirmativen Prosa des 19. Jahrhunderts – in Gotthelfs Roman Uli der Knecht und in Ebner-Eschenbachs Erzählung Božena. In allen genannten Texten wird von Herr und Knecht gefordert, die eigenen Interessen zu negieren und sich stattdessen der Erhaltung der bestehenden politischen und/oder sozialen Ordnung zu verpflichten. Diese systemstabilisierende Textintention korreliert auf der Darstellungsebene mit der Orientierung an literarästhetischen Konventionen. Viertens ist Robert Walsers Roman Jakob von Gunten und damit eine Dienerfigur beleuchtet worden, die sich ihrem Herrn – dem Institutsleiter Benjamenta – freiwillig unterordnet, nicht aber zur Erhaltung der bestehenden sozialen Ordnung, sondern als eine Form passiven Widerstands gegen das Feld der Macht. In dem Wissen, die strukturellen Machtasymmetrien der Moderne nicht aufheben zu können, flüchtet sich Jakob in ein ‚inneres Exil‘ – in ein (Selbst-)Erziehungsprogramm zur ‚reizenden, kugelrunden Null‘. Der Roman lässt sich somit als kritisches Gegenmodell zu Nietzsches Herr-Kecht-Modell deuten, auch wenn die Titelfigur als ‚Geistesaristokrat‘ konzipiert ist. Obwohl Walsers ‚Wille zur Ohnmacht‘ schon von Max Brod als Gegenmodell zu Nietzsches philosophischer Position gewertet worden ist, sind die Nietzsche-Bezüge in Jakob von Gunten bislang noch kaum beleuchtet worden. Jakobs paradoxer Existenzentwurf – sein Wille, sich einem anderen unterzuordnen, um zu Souveränität und Gelassenheit zu finden – wird am Ende des Handlungsverlaufs durch ein anderes Daseinsmodell abgelöst – die Koalition zwischen Herr und Knecht. Die freiwillige Unterwerfung eines seinem Herrn überlegenen Dieners ist auch strukturbestimmendes Thema in Hermann Lenz’ Roman Die Augen eines Dieners. Auch für Wasik fungiert die Dienerexistenz als ‚inneres Exil‘ angesichts der als krisenhaft erfahrenen (modernen) Gegenwart. Die Ähnlich-
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keiten zwischen beiden Romanen lassen sich also problemgeschichtlich begründen. Die von beiden Protagonisten angestrebte Distanz zur prosaischen Realität, die ihnen die Dienerexistenz ermöglichen soll, manifestiert sich auf der Darstellungsebene in einem Verschwimmen der Grenzen zwischen Realität und Phantasie. Davon ausgehend, dass es keine essentialistischen Wahrheiten gibt, geben sich die Dienerfiguren ihren Einbildungen und Träumereien hin. Für die Bewahrung dieser ‚inneren‘ Freiheit nehmen sie äußere Zwänge – nämlich die Unterwerfung unter einen fremden Willen – in Kauf. Darüber hinaus sind zwei breit rezipierte und die literarische Diskussion prägende Grenzfälle interdependenter Herrschaft beleuchtet worden – Grenzfälle insofern, als die vorgeführten Herr-Knecht-Beziehungen im Handlungsverlauf durch den Tod des Herrn bzw. der Herrin aufgehoben werden. In Tolstois Erzählung Herr und Knecht nimmt der Gutsherr den eigenen Tod in Kauf, um seinen Knecht vor dem Erfrieren zu retten. Der bislang kaum analysierte Text lässt sich als produktive Beschäftigung mit Schopenhauers Willensmetaphysik interpretieren. In ihm wird für die anthropologische Gleichheit der Subjekte und für die Orientierung an den christlichen Geboten im Namen der Humanität plädiert. Kontrastierend dazu ist in Strindbergs Fräulein Julie der Widerstand des Subalternen so erfolgreich, dass sich das Machtverhältnis trotz der bestehenden sozialen Hierarchien umkehrt und sich das adlige Fräulein Julie am Ende des Handlungsverlaufs auf Geheiß ihres Dieners Jean umbringt. Im Unterschied zu Tolstoi orientiert sich Strindberg an Nietzsches Überlegungen zur Herren- und Sklavenmoral. Gezeigt wird also weder ein Klassen- noch ein Geschlechterkampf, wie von der Forschung meist behauptet worden ist, sondern eine psychische Auseinandersetzung – ein ‚Kampf der Gehirne‘. Die Umkehrung des Kräfteverhältnisses wird auf die Überlegenheit des männlichen ‚Geistesaristokraten‘ über die durch Vererbung und Sozialisation ‚degenerierte‘ (vgl. Strindberg 1984a: 762) Frau zurückgeführt, ohne dass dem Knecht Jean aber ein sozialer Aufstieg gelänge. Von den in der Arbeit profilierten Herr-Knecht-Modellen ausgehend, sei abschließend skizziert, wann und warum welche Figurationen interdependenter Herrschaft in der literarischen Diskussion virulent geworden sind. Wie erläutert, wird das Gottesgnadentum als Begründung für monarchische Herrschaftsansprüche im Verlauf des 18. Jahrhunderts nicht mehr anerkannt, und so wird die Frage nach der Legitimität von Macht und Herrschaft zu einem gesellschaftlichen und literarischen Thema. In diesem Zusammenhang gewinnt der Herr-Knecht-Topos zur Erörterung und Vermittlung herrschaftstheoretischer Ideen an Bedeutung, wie anhand der
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hier analysierten Texte von Diderot, Beaumarchais, Krüger und Marivaux gezeigt worden ist. Auffällig ist, dass die jeweiligen Autoren politische Reformen auf zwei Wegen zu initiieren suchen: durch eine Veränderung der politisch-sozialen Strukturen (vgl. Diderot) oder durch einen Bewusstseinswandel des Subjekts (vgl. Beaumarchais, Krüger, Marivaux). Während im ersten Fall die jeweilige Staatsform auf dem Prüfstand steht, wird im zweiten Fall die Regierungsform und damit das Fehlverhalten einzelner Herrschender kritisiert. Gefordert wird die moralische Integrität von Herr und Knecht; sie gilt als Voraussetzung für ein humanes Miteinander und soll persönliche Beziehungen genauso wie größere Sozialgemeinschaften stabilisieren (vgl. Beaumarchais, Krüger, Marivaux).1 Noch vor der Französischen Revolution verliert der Herr-KnechtTopos in solchen literarischen Texten, die auf eine Reformierung oder Revolutionierung des politischen Systems zielen, an Bedeutung. Offenbar halten die Autoren die dualistische Herr-Knecht-Logik für die Beschreibung von gesellschaftlichen Missständen und sozialen Abhängigkeitsbeziehungen wenig geeignet. Jedenfalls ist weder im Sturm und Drang noch im Vormärz ein literarischer Text entstanden, in dem eine interdependente Herrschaftsbeziehung strukturbestimmendes Thema wäre. Dafür werden die Texte der französischen Aufklärung (wieder-)entdeckt. So empfiehlt etwa Karl Marx seinem Freund Friedrich Engels die Lektüre von Diderots Roman;2 und Beaumarchais wird wegen seiner Komödie Figaros Hochzeit unter anderem von Ludwig Börne zum Vorkämpfer der Französischen Revolution stilisiert.3 Populär bleibt die Darstellung interdependenter Herrschaftsbeziehungen vor allem in antiindividualistischen Genres mit mehr oder weniger restaurativer Tendenz, so etwa in der traditionalistisch-affirmativen Heimatliteratur des 19. Jahrhunderts und der völkisch-nationalen Blut- und Bodenliteratur des 20. Jahrhunderts. Zwar wird auch in diesen Texten Kritik an bestehenden Missständen geübt. Man denke an EbnerEschenbach, Gotthelf und Grillparzer, die sich in ihren Texten gegen die ausschließlich ihren individuellen Neigungen folgenden Herrn wenden.
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Freilich finden sich im 18. Jahrhundert auch Texte, die nicht auf die Reformierung, sondern auf die Stabilisierung des bestehenden politischen Systems zielen. Es sei etwa an das patriotische republikanische Trauerspiel erinnert, wenn auch dazu gesagt werden muss, dass dieses Genre immer einen anti-absolutistischen Akzent besitzt, weil an Herr und Knecht appelliert wird, die eigenen individuellen Neigungen zu Gunsten der höheren politischen Ordnung zu negieren, vgl. IV.1.2. Vgl. den Brief von Karl Marx an Friedrich Engels vom 20. 7. 1852. In: Marx/Engels 1963: 92–93, hier S. 92. Zur Rezeption der Hochzeit des Figaro vgl. Seligmann 1909.
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Im Fokus ihrer Werke steht aber weniger die Herrscherkritik als die Idealisierung der Pflichttreue, durch die sich die Knechte vor ihren Herren auszeichnen und durch die es ihnen gelingt, die bestehende politische Ordnung zu stabilisieren. Politische Veränderungen werden hier also weniger von den sozialen Strukturen als von den einzelnen Subjekten aus gedacht. Folgt der einzelne seinen Tugend- und seinen Rechtspflichten, lässt sich eine humane Gemeinschaft konstituieren, so die Autoren. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts werden soziale Ungleichheiten wieder zunehmend zum Gegenstand der literarischen Diskussion, und damit wird der Herr-Knecht-Topos in solchen Texten, die sich kritisch mit den bestehenden Macht- und Herrschaftsverhältnissen auseinandersetzen, erneut virulent. Davon zeugen Tolstois Erzählung und Strindbergs Trauerspiel. Beide verlegen die Frage der Legitimität von Herr- und Knechtschaft ins Subjekt, anstatt Gesellschaft vom System her zu denken. So fordert Tolstoi, ähnlich wie die Autoren des 18. Jahrhunderts, einen Bewusstseinswandel des Herrn zur Konstituierung einer humanen Gemeinschaft gleichrangiger Subjekte; und bei Strindberg gründet sich die Herrschaft des einen über den anderen auf einen ‚Kampf der Gehirne‘. Im 20. Jahrhundert bleibt der Herr-Knecht-Topos weiterhin produktiv und zwar erstens in modernekritischen Texten. Während sich Hofmannsthals Diener Theodor aktiv dafür einsetzt, den christlich-humanistischen Tugenden zu neuer Geltungskraft zu verhelfen, wissen Walsers und Lenz’ Dienerfiguren, dass sie der von ihnen als krisenhaft erfahrenen Moderne nichts entgegensetzen können. Sie wählen freiwillig die Dienerexistenz als eine Art ‚inneres Exil‘ in einer Zeit, in der Dienergestalten realgeschichtlich zum Anachronismus geworden sind. Der aufklärerische Optimismus des 18. Jahrhunderts ist hier einer ironischen oder pessimistischen Weltsicht gewichen. Während der Herr-Knecht-Topos noch bei Diderot und Beaumarchais der Vermittlung politischer Ideen diente, wissen Hofmannsthal, Walser und Lenz, dass die soziostrukturellen und kulturellen Umbrüche ihrer Zeit nicht rückgängig zu machen sind. Der Fokus ihrer Texte liegt daher weniger auf den politisch-sozialen Strukturen als auf der psychischen Struktur der Subjekte. Auf das Herr-Knecht-Modell wird zweitens rekurriert, um die Machtund Herrschaftsbeziehungen im Kapitalismus und in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts zu beschreiben (vgl. Horváth, Brecht, Braun). Grund für die Attraktivität des dualen Modells sind die aus der Perspektive der Autoren ‚klaren Fronten‘ zwischen Herrschern und Beherrschten bzw. zwischen ‚Ausbeutern‘ und ‚Ausgebeuteten‘. Im Zentrum der Texte steht also nicht mehr nur die psychische Konstitution von Herr und Knecht, sondern es wird auch der Versuch unternommen, die politisch-sozialen Strukturen der Zeit (als veränderbar) zu beschreiben.
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Ist das Herr-Knecht-Modell zur Beschreibung des Verhältnisses von Herrschern und Beherrschten auch heute noch aktuell? Wie Hans-Thies Lehmann jüngst erklärt hat, lässt sich die Moderne mit Hegel „dadurch bestimmen, daß es nur noch Knechte“ und keine Herren „mehr gibt“. (Lehmann 2013: 97) Denn der Herr zeichnet sich im Hegel’schen Kampf um Leben und Tod vor dem Knecht durch „,sinnlose‘ Verausgabung im Exzeß, […] Risiko und Todesbereitschaft“ (Lehmann 2013: 97) aus. Wir leben heute nun in einer Welt, in der alle profitlose Verausgabung abzuschaffen, zu reduzieren, aufzuschieben ist, um beinahe restlos den Nutzen, die Arbeit, das Produzieren (man muß heute hinzufügen: das effiziente ‚Performen‘) zu privilegieren. Das aber bedeutet die konkurrenzlose Vorherrschaft der Konkurrenz (Lehmann 2014: 97f.).
Man muss Lehmanns eigenwilliger Hegel-Interpretation nicht zustimmen. Offenkundig ist aber, dass die sozialen Machtbeziehungen in den westeuropäischen Demokratien des 21. Jahrhunderts so komplex (geworden) sind, dass sie in der Literatur nur noch äußerst selten mit der dualen Logik der Herr-Knecht-Topik beschrieben werden.4 Im Film werden interdependente Herrschaftsbeziehungen hingegen nach wie vor gerne vorgeführt – allerdings in trivialisierter Form. Man denke an Olivier Nakaches und Éric Toledanos Filmkomödie Ziemlich beste Freunde (Intouchables, 2011) oder Quentin Tarantinos Django Unchained (2012). Während die Freundschaft zwischen Herr und Knecht etwa von Diderot, Brecht und Braun problematisiert wird, weil dadurch die aus dem existenten Machtgefälle resultierenden Interessenskonflikte verbrämt werden (vgl. I.), leben die genannten Filme vor allem davon, dass die Protagonisten im Handlungsverlauf zu Kameraden werden und gemeinsam gegen bestehende soziale Übel kämpfen.
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Bemerkenswerterweise wird die Hegel’sche Herr-Knecht-Dialektik aber nach wie vor produktiv rezipiert; sie spielt vor allem in feministischen, (post-)kolonialistischen, historiographischen und poststrukturalistischen Debatten eine bedeutende Rolle (vgl. Kuch 2012). Wie Kuch herausstellt, gehen die (Sozial-)Theoretiker mit Hegel aber „gewissenmaßen wie mit einem musikalischen Motiv um: Transponierung in eine andere Tonart, neue Instrumentierung, Verwendung bloßer Versatzstücke, Übertragung in einen anderen Stil – all diese Techniken kommen zur Anwendung, und dennoch ist das Motiv wiedererkennbar.“ (Kuch 2012: 173)
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Namensregister Adler, Alfred 247 Adorno, Theodor W. 126–129, 399 Albert, Claudia 36 Alberti, Leon Battista 364 Alewyn, Richard 304 Altenhofer, Norbert 201ff. Ambrosius von Mailand 358 Anders, Caroline 342 Andreas II., König von Ungarn 345 Angerer, Christian 397, 429 Aristoteles 9, 30, 67, 304, 364 Auer, Dirk 403 Auerbach, Berthold 361 Ayers, Herlinde Nitsch 230, 250f. Baasner, Frank 149 Bachmaier, Helmut 341 Bachtin, Michail 172 Bahr, Hermann 262, 415 Balme, Christopher 212 Ban Bánk (Benedikt Bór, Ban von Kroation-Slowenien) 345 Barbaro, Ermolao 364 Barbaro, Francesco 364 Barbeyrac, Jean 37 Bataille, Georges 9 Bauernfeld, Eduard von 198, 206 Baumann, Gerhart 304, 355 Baur, Uwe 375 Bayle, Pierre 54 Beaumarchais, Pierre Augustin Caron de 2, 12f., 16, 102, 135–177, 207, 222f., 227, 301, 462, 465f. Beauvoir, Simone de 9 Beckett, Samuel 8 Behrens, Rudolf 72 Bellquist, John Eric 258, 266 Benedictsson, Victoria 228 Benjamin, Walter 95, 401 Bentivoglio, Guido 70 Bergner, Tilly 148, 170f. Bergson, Henri 174 Bernheim, Hippolyte 229, 235 Berthold, Christian 340
Berthold V. von Andechs 345 Best, Otto Ferdinand 397f. Beutin, Heidi 382, 384 Binneberg, Kurt 384f., 388 Bletschacher, Richard 142, 167 Bloch, Ernst 95 Bluhm, Harald 86 Boissy, Louis de 168 Bollenbeck, Georg 196 Boltanski, Luc 413 Bondarjow, Timofej M. 281 Bonnier, Karl Otto 228, 262 Boom, Rüdiger van den 163 Booth, Wayne C. 26, 69 Borchardt, Marie Luise 180 Borchmeyer, Dieter 399, 421, 429 Börne, Ludwig 465 Bourdieu, Pierre 48, 248, 408, 413, 415 Boureau, Alain 167f. Bourget, Paul 236 Bouvier-Ajam, Maurice 167 Böwe, Julie 333f. Braatz, Kurt 240, 245f. Brandes, Edvard 231, 265, 267 Brandes, Georg 231, 241, 244, 255, 259 Brandt, Wulf 139, 146 Branting, Hjalmar 264 Braun, Volker 12f., 16, 19, 77f., 81, 111– 131, 180, 225, 301, 462, 466f. Brecht, Bertolt 8, 12f., 16, 19, 77f., 81, 94– 110, 123f., 130ff., 180, 212, 220, 225, 284, 301, 462, 466f. Brod, Max 423, 439, 463 Brunner, Otto 364 Burlamaqui, Jean Jacques 37 Butler, Judith 9 Butt, Max 235 Byron, George Gordon 307 Campe, Rüdiger 398 Castex, Pierre-Georges 21 Cato, Marcus Porcius 364 Cervantes, Miguel de 8, 81, 437 Chamberlain, Houston Stewart 219
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Namensregister
Chamfort, Nicolas 162 Charcot, Jean-Martin 229, 235 Cicero, Marcus Tullius 358 Collin, Heinrich Joseph von 360f. Columella, Lucius Iunius Moderatus 364 Corbucci, Sergio 133 Corneille, Pierre 163 Cowen, Roy C. 305 Cromwell, Oliver 44, 64 Danzer, Gerhard 390 Da Ponte, Lorenzo 161 Darwin, Charles 229, 263 Daschkoff, Ekaterina Romanovna 35 Déak, Franz 307 Deleuze, Gilles 9 Desfontaines, Pierre François Guyot 168 Detering, Heinrich 230, 238f., 268 Diderot, Denis 2, 8, 10, 12f., 16, 19, 21–75 77–81, 95ff., 101, 106f., 109ff., 117– 120, 123ff., 130ff., 141, 151, 163, 176, 179f., 185, 225, 301, 309, 461f., 465ff. Dieckmann, Friedrich 266 Di Noi, Barbara 398, 415 Dirscherl, Klaus 72 Dodd, Philip 228 Doppler, Alfred 203, 305, 319 Duchardt, Michael 96 Dufresny, Charles 168 Ďurišin, Dionýz 13ff. Durzak, Manfred 447 Ebner-Eschenbach, Marie von 12f., 17, 301f., 357f., 360ff., 376–390, 463, 465 Elias, Norbert 2–5 Engel, Manfred 398ff., 404, 497, 416, 426, 430f. Engels, Friedrich 122, 219, 465 Epiktet 443 Erikson, Erik H. 397 Essen, Siri von 227 Eulenstein, Bernhard 282 Ewen, Jens 401 Eyb, Albrecht von 364 Fanon, Frantz 9 Fechner-Smarsly, Thomas 260 Fellner, Karin 396, 430 Fénelon, François 51 Feßler, Ignaz Aurelius 345 Fichte, Johann Gottlieb 81 Flashar, Hellmut 261 Fletcher, John 307 Foucault, Michel 230
Frankenau, Louise de 227 Franz II./I., Kaiser des Heiligen Römischen Reichs und Kaiser von Österreich 303f. Freud, Sigmund 247, 396 Fricke, Gerhard 306 Friedrich, Hans-Edwin 209 Frye, Northrop 151, 165 Fülleborn, Ulrich 305 Galle, Roland 28, 55 Gallus, Jörg 404 Gellert, Christian Fürchtegott 163 George, Henry 280f. Gertrud von Andechs-Meranien, Königin von Ungarn 345 Geulen, Hans 203 Gilman, Richard 230, 258 Goering, Reinhard 395 Goethe, Johann Wolfgang 21, 390, 398 Goëzman, Louis Valentin de 170f. Goldoni, Carlo 181 Gömmel, Rainer 142 Goncourt, Edmond [und Jules] de 228, 236 Gotthelf, Jeremias 13, 17, 284, 301f., 357– 376, 463, 465 Gottsched, Johann Christoph 163 Graafen, Birgit 458 Graham, Ilse 205 Greiner, Bernhard 173 Grenz, Dagmar 405, 416, 430f., 436 Greven, Jochen 395, 429 Grice, Herbert Paul 27 Grillparzer, Franz 13, 17, 102, 205, 301f., 303–356, 357f., 360, 362, 367f., 370ff., 375ff., 379, 382, 384f., 387, 389f., 450, 462f., 465 Grimsley, Ronald 28, 51 Groh, Ruth 26, 28, 35, 49, 51, 55f., 58f., 65, 72f. Grotius, Hugo 37, 40f. Gumbrecht, Hans Ulrich 160 Gurlitt, Ludwig 210 Hahl, Werner 364, 374 Haider-Pregler, Hilde 304 Hamburger, Käte 272, 293 Hammerstein, Reinhold 161f. Handke, Peter 8 Hansen, Ludvig 228 Hartmann, Eduard von 235 Hašek, Jaroslav 95 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 3f., 8ff., 12, 22f., 77–85, 90f., 93ff., 97, 102,
Namensregister
105ff., 110ff., 115ff., 130f., 144, 180, 225, 236f., 304, 308, 399, 430, 437f., 461f., 467 Heidenstam, Verner von 253 Hein, Jürgen 361 Helmensdorfer, Urs 306 Herrmann, Katharina 205 Hesiod 364 Hess, Peter 351 Heyer, Andreas 37, 39 Heymann, Robert 180 Heywood, Thomas 307 Hiebel, Hans Helmut 401, 407 Hilker, Annette 36, 48, 72 Hille, Arnold 283 Himmel, Helmuth 305 Hinck, Walter 156, 175, 189 Hirzel, Salomon 354, 360 Hitler, Adolf 218ff., 449 Hobbes, Thomas 9, 36ff., 40f., 191, 316 Hoff, Karin 299 Hoffmann, Daniel 7f., 446 Hoffmann, Julius 371 Hofmannsthal, Hugo von 8, 12f., 16, 135, 179f., 182, 194–208, 221ff., 301, 363, 445, 462, 466 Holberg, Ludvig 284 Holtei, Karl von 180 Homer 438 Honneth, Axel 144f., 418 Horkheimer, Max 126ff. Hortenbach, Jenny C. 230 Horváth, Ödön von 13, 16, 135, 179f., 182, 209–223, 301, 462, 466 Howald, Ernst 306 Howarth, William D. 139, 142 Huber, Joseph Carl 181 Huet, Pierre Daniel 398 Inhetveen, Katharina 3 Ishiguro, Kazuo 391 Jacobs, Barry 228, 251f., 268 Jacobsen, Jens Peter 228 Jakob, Christoph 429 Janz, Rolf-Peter 425, 430 Jauß, Hans Robert 72 Jung, Carl Gustav 247 Jung, Werner 451, 457 Jürgens, Martin 399 Kafka, Franz 395, 397f. Kainz, Friedrich 308f., 335, 343 Kalmykowa, Alexandra Michailowna 282 Kant, Immanuel 75, 197, 302, 307f., 308– 319, 320, 322–325, 328f., 332ff., 337–
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341, 343f., 348, 352, 354ff., 357, 359ff., 362, 373, 463 Karl X., König von Frankreich und Navarra (Graf von Artois) 139 Karnick, Manfred 230, 247 Kasack, Wolfgang 296, 271 Katann, Oskar 304, 340 Katona, József 346, 348, 350, 354 Kersting, Wolfgang 317 Kindt, Tom 26f., 69f., 159 Kirchner, Verena 116f. Kivi, Aleksis 95 Klarmann, Adolf D. 307 Klein, Elke 139, 152, 154f. Kleist, Heinrich von 421 Klenke, Dorothea 139, 164, 166f. Klinger, Friedrich Maximilian 307 Klotz, Volker 160 Klump, Rainer 142 Knafl, Arnulf 304 Koch, Friedrich 305 Köhler, Erich 22, 35f., 43, 49, 59 Kojève, Alexandre 9, 22, 80–82, 84f., 94 Koopmann, Helmut 390 Korsch, Karl 95, 109 Koselleck, Reinhart 147f. Kraft, Dieter 94 Krajewski, Markus 5ff. Krüger, Johann Christian 13, 16, 179, 182, 187–194, 207, 222f., 301, 462, 465 Kuch, Hannes 467 La Blâche, Alexandre-Joseph Falcoz, comte de 170 Lacan, Jacques 9, 396 La Chaussée, Pierre Claude Nivelle de 163 Lafon, Yann 26, 28, 53, 55f., 68, 72f. La Fontaine, Jean de 330 Lamm, Martin 240 Langbehn, Julius 438 Lange, Hartmut 8, 132 Lanson, Gustave 137 La Porte, Joseph de 162 Lattmann, Peter 305f., 340 Legendre, Pierre 396 Lehmann, Hans-Thies 467 Leibniz, Gottfried Wilhelm 30 Lemmel, Monika 398 Lemonnier-Delpy, Marie-Françoise 146 Lenz, Hermann 7, 13, 17, 301, 393, 443– 460, 463, 466 Lenz, Jakob Michael Reinhold 195 Lesage, Alain-René 8
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Namensregister
Lessing, Gotthold Ephraim 1, 164, 185, 305, 338, 376, 390 Lessing, Otto Eduard 305 Liebrand, Claudia 152, 396 Lillo, George 307, 346ff., 350, 352, 354 Lintilhac, Eugène 167 Littrow-Bischoff, Auguste von 342 Locke, John 37f., 42, 348 Löbe, William 373 Lohenstein, Daniel Casper von 352 Lohmeyer, Anke 195 Lohmeyer, Enno 384 Lombroso, Cesare 235 Losey, Joseph 270 Lough, John 140 Louis François I. de Bourbon, prince de Conti 170 Loy, J. Robert 51, 56 Ludwig XV., König von Frankreich und Navarra 33f. Ludwig XVI., König von Frankreich und Navarra 137, 175 Ludwig, Otto 301 Lugowski, Clemens 67 Lukács, Georg 22 Madsen, Børge Gedsø 240, 243 Mandrin, Louis 25 Mann, Thomas 401 Marc Aurel 447f., 450–455. Marcuse, Ludwig 218 Mareschal, André 163 Marivaux, Pierre Carlet de 8, 13, 16, 179, 182–187, 190, 193f., 199, 207, 222f., 301, 462, 465 Marschall, Brigitte 228, 266 Martini, Fritz 107 Marx, Karl 9, 22, 77f., 81, 85–94, 95, 97ff., 101ff., 105, 108, 110–113, 115, 117, 121f., 129ff., 180, 387, 462, 465 Masini, Ferruccio 403 Maudsley, Henry 235 Maugham, Robin 270 Maupassant, Guy de 236 Maupeou, René-Nicolas-Charles-Augustin de 33f., 170 Mayer, Erich August 391 Mayer, Hans 8, 22, 79ff., 94, 98, 107 McInnes, Edward 138 Megenberg, Konrad von 364 Meier, Albert 351f., 354 Melville, Herman 444 Mennemeier, Franz Norbert 203, 207 Metzele, Josef 298
Michelet, Jules 139f. Molière (Jean-Baptiste Poquelin) 181, 205 Moritz, Rainer 459 Mozart, Wolfgang Amadeus 158, 161 Müller, Joachim 319 Müller, Klaus-Detlef 97 Murr, Christoph Gottlieb von 325 Musil, Robert 403, 444 Mylius, Wilhelm Christhelf Sigmund 79 Naguib, Nagi 430 Nakache, Olivier 467 Napieralski, Edmund A. 228 Napoleon I., Kaiser von Frankreich 137f., 205, 413 Nestroy, Johann Nepomuk 195 Neuber, Friederike Caroline 163 Neureuter, Hans Peter 95ff., 101, 106f. Neuschäfer, Hans-Jörg 138, 156 Nietzsche, Friedrich 9, 12, 206, 218f., 225, 229f., 231–239, 240f., 243–246, 248– 253, 255–259, 261–264, 268–273, 279, 393, 399f., 404, 409, 423, 425ff., 429, 439f., 443, 453f., 463f. Nordau, Max 235, 440 Nougaret, Pierre-Jean-Baptiste 168 Ollén, Gunnar 228 Palme, August 227 Parker, Brian 247, 266 Paul, Fritz 269 Peeters, Wim 396, 430 Petersen, Jürgen 139 Philippi, Klaus-Peter 430 Pickerodt, Gerhart 201, 203, 207 Pinter, Harold 270 Plautus, Titus Maccius 180f., 209, 211f., 220 Plessner, Helmuth 1, 213 Plinius Secundus, Gaius 364 Pohlheim, Karl Konrad 203 Politzer, Heinz 305, 308, 327 Proust, Jacques 51 Prutti, Brigitte 307 Pufendorf, Samuel von 37, 40, 359f. Puschkin, Alexander Sergejewitsch 294 Rainalter, Erwin Herbert 391 Rassem, Mohammed 305 Rattner, Josef 390 Raynal, Guillaume Thomas François 37 Reich, Emil 308f. Reiß, Gunter 158 Reuter, Fritz 102, 180 Reventlow, Franziska Gräfin zu 395 Ribot, Théodule-Armand 235
Namensregister
Richardson, Samuel 163f. Richet, Charles Robert 235 Rieger, Dietmar 138, 166 Riehl, Esther 376, 384 Riehl, Wilhelm Heinrich 366 Rilke, Rainer Maria 395, 501, 506 Robespierre, Maximilien de 205 Rochelle, Tobias 399 Rochon de Chabannes, Marc Antoine Jacques 164 Röd, Wolfgang 177, 230 Rodewald, Dirk 401 Rorty, Richard 402f. Rosegger, Peter 361, 391 Rousseau, Jean-Jacques 9, 37, 41, 231, 279 Rudolph, Hermann 196, 203 Sachs, Hans 353f. Sack, Gustav 395 Sagarra, Eda 80 Saint Martin, Monique 413 Sartine, Antoine Raymond Juan Gualbert Gabriel de 171 Sartre, Jean-Paul 9 Saße, Günter 188, 193 Sauer, August 304 Schaum, Konrad 306, 325, 334, 340 Scheel, Hans Ludwig 161, 167 Scheichl, Sigurd Paul 307 Scherer, Jacques 139, 146, 159, 161, 174 Schiller, Friedrich 360, 390 Schlegel, Friedrich 401f. Schlegel, Johann Elias 163 Schmeling, Manfred 13ff. Schmid, Ulrich 291 Schneider, Johann Rudolf 366 Schneider, Steffen 155 Schnitzler, Arthur 307 Schopenhauer, Arthur 12, 197, 225, 272– 280, 291, 298, 335, 360, 377, 380f., 383, 385f., 390, 409f., 464 Schreyvogel, Joseph 308 Schroeder-Angermund, Christiane 170 Schwerin, Kerstin Gräfin von 398 Seelig, Carl 392, 439 Seitter, Walter 308 Sengle, Friedrich 344 Seth, Wolfgang 347f. Sethe, Susanne 395 Sidney, Algernon 37 Siep, Ludwig 78, 81 Simmel, Georg 213 Solbach, Andreas 399, 430 Sorg, Reto 430
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Spinoza, Baruch de 49ff., 54, 62 Sprengel, Peter 390, 395 Sprinchorn, Evert 229 Stackelberg, Jürgen von 138f., 142, 146 Steffen, Gustaf Fredrik 236 Steinhoff, Oliver 399 Steinmetz, Horst 193 Stekeler-Weithofer, Pirmin 78 Stern, Michael J. 231 Sterne, Laurence 68f. Stöger, August Karl 391 Strindberg, August 8, 12f., 17, 101, 110, 181, 225, 227–270, 271f., 279, 299, 439, 464, 466 Strugnell, Anthony 33 Surer, Paul 21 Surowska, Barbara L. 139 Szondi, Peter 267 Tanner, Albert 363 Tarantino, Quentin 132, 467 Thoma, Heinz 22, 36, 42 Thomasius, Christian 359f. Thomé, Horst 195 Titus Livius 70 Toledano, Éric 467 Tolstaya, Maria Lvovna 280 Tolstoi, Leo N. 12f., 17, 120, 124, 132, 225, 271–300, 370, 381, 464, 466 Törnqvist, Egil 228, 243, 251f., 260 Treskow, Isabella von 28, 35f., 55, 59, 71f., 79f., 109, 122, 126 Turgot, Anne-Robert-Jacques 148 Utsch, Rudolf 391 Utz, Peter 397, 404, 425, 439 Van Loo, Carle 169 Van Tieghem, Philippe 140 Varro, Marcus Terentius 364 Vattel, Emerich de 37 Vázsonyi, Gábor 344, 347 Vergil (Publius Vergilius Maro) 364 Voltaire (François-Marie Arouet) 63, 146, 148, 168, 176f. Von Matt, Peter 329, 396 Voß, Johann Heinrich 323 Wagner, Frank Dietrich 94 Wagner, Karl 392, 428 Wall, Rudolf 257 Walser, Martin 8, 131f. Walser, Robert 7, 12f., 17, 198, 301, 363, 391ff., 395–441, 443ff., 450, 455f., 459, 463, 466 Warning, Rainer 10, 25ff., 36, 55, 72, 75, 138, 140, 151, 153f., 167ff., 175
518 Weber, Max 3, 6, 369 Wedekind, Frank 397 Weinrich, Harald 25, 27 Weiss, Peter 230 Weiß, Stefan 364 Weiße, Christian Felix 163f. Werle, Dirk 10f. Wichert, Adalbert 305, 308, 327 Wiese, Benno von 304 Wild, Bettina 375 Wischenbart, Rüdiger 453 Wolf, Norbert Christian 414 Wolf, Werner 139f., 151, 156, 169, 175, 184
Namensregister
Wolff, Christian 37 Wolff, Dorothea 117 Wuolijoki, Hella 97 Xenophon 364 Yates, William E. 207, 304 Yvon, Claude 51 Zander, Folko 78 Zedlitz, Johann Christoph 180 Zelle, Carsten 14 Zimmermann, Hans Dieter 395 Zimmermann, Peter 361 Zimmermann, Robert 303 Zschokke, Heinrich 369