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German Pages 232 Year 2017
Hajnalka Halász Differenzen des Sprachdenkens
Lettre
Hajnalka Halász, geb. 1984, lehrt ungarische Literatur- und Kulturwissenschaft mit sprachtheoretischem Schwerpunkt an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Hajnalka Halász
Differenzen des Sprachdenkens Jakobson, Luhmann, Humboldt, Gadamer und Heidegger
Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - HA 8146/1-1 Zugleich: Berlin, Humboldt-Univ., Diss., 2015
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Inhalt
Vorwort | 7
TEIL I. SYSTEM – UNTERSCHEIDUNG – DIFFERENZ 1.
Gesetz zwischen Code und Rauschen. Binäre Systeme vs. Chiasmen bei Saussure und Jakobson | 15
1.1 1.2 1.3 1.4
Sprachliche/technische Codierung? | 16 Saussure/Jakobson – Unterschiede des Begriffs des Unterschiedes | 21 Zeichen/Zahl – Jakobsons Gesetz: der Code als Unterscheidung | 25 Ereignishafte Differenz zwischen Kontrast und Opposition – die Form des Zeichens | 33
2.
Symbolizität und Differenzialität der Medien. Der Begriff des Mediums bei Niklas Luhmann | 43
Systemtheorie und Literaturwissenschaft | 43 Der Begriff der Form zwischen Unterscheidung und Differenz | 48 Die Grenze zwischen Wahrnehmung und Kommunikation | 53 Sprache, Zeichen, Symbol | 58 Das Medium der Kunst | 64 Der Entzug des Ornaments | 67 Zwischen Repräsentation und Entzug – der Bruch im Begriff des Mediums | 73 2.8 Das geschichtliche Ereignis als Medium der Geschichte | 76 2.9 Unwahrnehmbare sprachliche Ereignisse – das Medium der Schrift | 80 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7
3.
Die »ästhetische Nichtunterscheidung« und der Automatismus der Differenz. Differenzen des Bildes bei Husserl und Gadamer | 89
3.1
Das Sich-Darstellen des Dargestellten im Bild – Überschuss oder Verdoppelung? | 93 Das Medium/die Differenz des »Bildobjekts« bei Husserl | 99 Das Medium des Spiegels | 107
3.2 3.3
TEIL II. EREIGNIS – FREMDHEIT – DIE ANDERSHEIT DES ANDEREN 4.
Wer spricht, wenn die Sprache spricht? Zur Differenz zwischen Sprache und Denken bzw. Sprechen und Hören im Sprachdenken von W. von Humboldt, Heidegger und Gadamer | 119
4.1 Heidegger | 119 4.1.1 Heideggers Sprache zwischen Spurhaftigkeit und »Otophilologie« oder die Ohren von Derrida | 119 4.1.2 Die Differenz zwischen Sprechen und Hören in Der Weg zur Sprache | 129 4.2 Humboldt | 145 4.2.1 Heideggers Weg zu Humboldt | 145 4.2.2 Materialität/Immaterialität der Stimme zwischen Sprechen und Hören | 149 4.2.3 Die Stimme als tierischer Laut/affektive Äußerung | 159 4.2.4 Die »Geselligkeit« als Bedingung der Erscheinung der Sprache. Die Differenz der Pronomina und die Stimme des Anderen | 163 4.2.5 Die Unpersönlichkeit der Mehrheit und die unverwechselbare Singularität des Anderen | 181 4.3 Gadamer | 188 4.3.1 Gadamers Weg von der Vergegenständlichung der Sprachform zur Sprache als Weltansicht | 188 4.3.2 Die unbeherrschbare Macht der Tradition und der unwillentliche Wille des Verstehens – das Ausgleichen des Verhältnisses zwischen dem Ich und dem Anderen | 196 4.3.3 Gegensatz/Differenz zwischen der Welt des Tieres und der des Menschen | 201 4.3.4 Die andersartige Andersheit des Tieres – Derrida | 207 4.3.5 Der Schmerz der Differenz zwischen (Er)leiden und Gewalt | 210 Literatur | 221
Vorwort
Es ist wohl kein Zufall, dass sich am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, als sich die Wirkung der Sprache auf das (philosophische) Denken nicht mehr nur durch Symptome und Vorzeichen meldet, sondern auch schon »Zeugen« aufzuweisen hat – d.h. als die ersten fachwissenschaftlichen Reflexionen dieser Erfahrung erscheinen –, der Begriff der Sprache oder des Zeichens bereits als untrennbar vom Begriff der Differenz erweist. Zu der Zeit wird die Sprache, noch bevor sie zum Gegenstand der wissenschaftlichen Reflexion werden könnte, bereits als eine Art von Differenz verstanden, und zwar ohne dass diese eigenartige Erscheinung, dieser begriffliche Zusammenhang an einen bewussten Stiftungsakt – etwa eine Ausgangstheorie – gebunden werden könnte. Eine solche Geste der Intentionalisierung würde nicht nur die Dynamik geschichtlicher Ereignisse verkennen, sondern auch die Sprache auf einen bloßen Gegenstand reduzieren, was aber gerade einer der genannten Wirkung gegensätzlichen Richtung folgen würde: Somit sollte man vom Begriff der Sprache als einer positiven Gegebenheit den logisch-immateriellen Begriff der Differenz als eine äußere Form unterscheiden. Die Sprache tritt nicht plötzlich, infolge eines Interesses als ein Objekt oder ein Thema in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, sondern lässt ihre Wirkung als ein bereits vergangenes, aber die Gegenwart latent prägendes Ereignis spüren, das zwar unterschiedlich interpretiert, aber gemeinsam erfahren wird. Betrachten wir die (Erfolgs- oder Verfalls-)Geschichte des Sprachbegriffes des zwanzigsten Jahrhunderts unter diesem Gesichtspunkt, bzw. lesen wir sie als Antwort auf ein nicht archivierbares, gewissermaßen traumatisches, weil nie gewesenes Ereignis, lässt sich auch die – textuell sehr wohl beweisbare – Tatsache der Verflechtung des Sprachbegriffs mit dem der Differenz besser verstehen. Diese »Tatsachen« lassen sich wohl auch als sporadische Erscheinungen interpretieren; und es ist bei Weitem nicht sicher, dass sie in einer »Geschichte« erzählt werden können oder sollen. Jedoch handelt es sich bei dieser Verflechtung offensichtlich nicht um einen Zusammenhang, der etwa
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einer innovativen Assoziation zu verdanken wäre, oder dessen »Ursprung« bei bestimmten Denkern oder Autoren einfach entdeckt werden könnte. Die Hypothese der vorliegenden Arbeit ist, dass zwischen den Interpretationen der Unterscheidung und der Differenz einerseits und dem Denken der Sprache andererseits nicht nur ein begriffliches Verhältnis besteht, sondern dass sie sich gegenseitig bedingen und immanent zusammengehören. Die Affinität zwischen dem Begriff der Sprache und dem der Differenz würde demnach nicht in der Art und Weise der Betrachtung, sondern in der Sache selbst bestehen. Diesen Zusammenhang können ja gleichzeitig verschiedene, voneinander unabhängige Theorien bezeugen, die jeweils durch eine konsequente Kritik der binären Oppositionen und Gegensätze zu einem Prinzip der Differenzialität gelangten. Auch deshalb empfiehlt es sich, statt eines begrifflichen Zusammenhangs von einer zweifachen und gegensätzlichen Bewegung zu reden: Die Sprache entzieht sich gleichzeitig mit ihrer aufdringlichen Erfahrung; sie zieht sich in sich selbst als eine Differenz zurück und verschwindet just in dem Augenblick, in dem sie als solche erscheint und sich selbst zur Sprache bringt. Sie existiert im Modus des als ob wie ein Ereignis, das zwar nicht unkommentiert gelassen werden kann, das jedoch der zeitlich-kausalen Ordnung der Erzählung und ihren Unterscheidungen widersteht. Immerhin können gerade jene Texte, die sich dieser Herausforderung stellen, diese Erfahrung konsequent zur Sprache zu bringen, das Eintreten dieses nie gewesenen und doch im Kommen bleibenden Ereignisses versprechen. Hierzu könnte man zuerst Saussure zitieren. Stellt man sich die Frage, was der Gegenstand der Sprachwissenschaft sei, stößt man auf das Problem, dass man »nicht einmal sagen [kann], daß der Gegenstand früher vorhanden sei als der Gesichtspunkt, aus dem man ihn betrachtet; vielmehr ist es der Gesichtspunkt, der das Objekt erschafft«.1 Da »das sprachliche Phänomen stets zwei Seiten [zeigt], die sich entsprechen«,2 aber auch ausschließen und unter denen die eine immer in den Hintergrund gerät, sind wir immer der Gefahr ausgesetzt, »die oben bezeichneten Doppelseitigkeiten nicht zu berücksichtigen«.3 Das heißt, die Sprache lässt sich nur durch Unterscheidungen und in Gegensätzen artikulieren, während sie selbst weder mit der einen noch mit der anderen Seite, weder mit dem Bezeichnenden oder dem »Lautbild« noch mit dem Bezeichneten oder der »Vorstellung« zu identifizieren ist. Und von hier aus ist es nur noch ein Schritt zu Saussures bekannter These,
1
F. de Saussure: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, S. 9.
2
Ebd.
3
Ebd.
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daß es in der Sprache nur Verschiedenheiten gibt. Mehr noch: eine Verschiedenheit setzt im allgemeinen positive Einzelglieder voraus, zwischen denen sie besteht; in der Sprache aber gibt es nur Verschiedenheiten ohne positive Einzelglieder. Ob man Bezeichnetes oder Bezeichnendes nimmt, die Sprache enthält weder Vorstellungen noch Laute, die gegenüber dem sprachlichen System präexistent wären.4
Die Folgerichtigkeit dieses Prinzips und die Immanenz des erwähnten Zusammenhangs lassen sich am besten ermessen bzw. auf die Probe stellen, wenn sie einer verwandten Theorie gegenübergestellt werden. Für diesen Zweck hat sich die phonologische Theorie von Jakobson als am besten geeignet erwiesen, die bekanntlich ebenso auf systemischen Unterschieden der bedeutungslosen, aber positiven Elemente der Sprache – der sogenannten »Oppositionen« – basiert. Eine mögliche Applikation dieser Regeln oder Gesetze kann auch die saussureschen Grundsätze und die Seinsweise des sprachlichen »Wertes« schärfer beleuchten. Im ersten Kapitel wird im Schnittpunkt von gegensätzlichen Verhältnissen ein Begriff des Ereignisses entworfen, der in gewisser Hinsicht schon die im zweiten Teil zu erarbeitenden Zusammenhänge vorwegnimmt. Zur erneuten Erwägung der hier gestellten Fragen haben sich die kunsttheoretischen Schriften von Niklas Luhmann als beispielhaft erwiesen. Denn es war Luhmann, der das Problem der Unterscheidung und der Differenz – zumindest unter den im Band befragten Autoren – in der offensichtlichsten Weise, beinahe im wörtlichen Sinne formuliert und ausgearbeitet hat. Der Begriff der Sprache spaltet, löst oder entkoppelt sich bei ihm wörtlich zu einer Differenz: Er wird durch gegenseitig bedingende Unterscheidungsprozeduren – wie etwa die »strukturellen Kopplungen« – ersetzt. Somit stellt sich die Frage, inwiefern diese auf den Gesetzen der Form beruhende »Differenztheorie« jenem unrepräsentierbar latenten Ereignis gerecht werden kann, dessen Gesetz oder Willkür, Kraft oder Macht (dies alles sind Ausdrücke der analysierten Theorien) wiederum die Ordnung – bei Luhmann das System – der Repräsentation organisiert. Wie in der vorliegenden Arbeit nachgewiesen wird, liegt der Theorie Luhmanns eine Interpretation der Differenz zugrunde, die die Spannung in der oben beschriebenen zweifachen Bewegung, d.h. zwischen der symbolischen Repräsentation und dem ereignishaften Entzug der Differenz (oder den Systemen der Gesellschaft und dem der Kunst), nicht reflektiert. Dies ruft eine unaufhebbare Ambiguität (man könnte auch sagen: ein sprachliches Ereignis) hervor, die sich auch auf die Termini der Theorie auswirkt. Diese latent wirkende Differenz verweist – wie
4
Ebd., S. 143.
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schon im ersten Kapitel – auf die andere Seite des Systemgedankens: Den Begriff des Ereignisses. Das dritte Kapitel stellt einen Übergang und zugleich die Grenze zwischen den beiden thematischen Schwerpunkten der Arbeit dar: Die gadamersche Kritik der ästhetischen Unterscheidung führt – parallel zu den Fragerichtungen der ersten beiden Kapitel – einerseits tatsächlich schon zu einer Auffassung der Sprache als einem Ereignis des Verstehens, andererseits tritt im – von Gadamer als Überschuss definierten – Ereignis eine in gewisser Hinsicht automatische Verdoppelung zutage, die auch die anderen Termini von Wahrheit und Methode betrifft, indem sie sie durch eine Zweideutigkeit spaltet. Dadurch wird wiederum eine spaltende Arbeit der Differenzialität in Gang gesetzt, die zwar aus nachträglicher Perspektive das maschinenhafte und unpersönliche Funktionieren der Sprache als System oder Differenz beweist, jedoch die Frage nach der unmöglichen Singularität des Ereignisses sowie der Unersetzbarkeit der Individualität aufwirft. Damit hängt auch die zentrale Frage des Kapitels zusammen: Welche Konsequenzen hat die Differenz von Bild und Sprache bzw. Sehen und Hören im Hinblick auf die Möglichkeit des Verstehens eines Kunstwerks, eines Textes, einer Sprache oder eines Anderen? Der zweite Teil hebt sich vor allem durch die analysierte sprachtheoretische Tradition von den Lektüren des ersten Teils ab, und deshalb wird auch der Akzent der Fragestellung verschoben: Während die Theorien, die die Sprache als Differenz, Form, Struktur oder System denken, die Gesetze, Mechanismen oder eben Zufälle der Repräsentation in den automatischen und unkontrollierbaren Prozessen der Unterscheidung zu erkennen glauben, haben die einflussreichsten Denker der hermeneutischen Tradition vielmehr die unaufhebbare Fremdheit des jeweiligen Anderen, die Unrepräsentierbarkeit bzw. den dialogischen und ereignishaften Charakter der Sprache und des Verstehens in den Mittelpunkt gestellt. Diese thematische Verschiebung hat aber nicht die bloße Entgegensetzung der Begriffe von Differenz und Ereignis, Maschinenhaftigkeit und Singularität oder der Voraussetzungen der strukturalistischen bzw. semiologischen und der hermeneutischen Sprachauffassung zum Ziel, sondern versucht vielmehr ihre gegenseitige Bedingtheit aufzuzeigen. Von dieser Kontamination zeugt dann auch die Ereignishaftigkeit der Unterscheidungsoperationen der ersten beiden Kapitel: Wird die Konsistenz des Systemdenkens bei Luhmann und Jakobson durch die unvorhersehbare und unkontrollierbare, in diesem Sinne ereignishafte Austauschbarkeit der Systemelemente und Bezüge aufrechterhalten und gebrochen, ist der Überschuss des Verstehens – eine Art von sprachlichem »Wert« – bei Gadamer durch spiegelhafte Verdoppelungen sowie die Wiederholungsarbeit der
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Sprache bedingt und zugleich gefährdet, indem sie seinen Mehrwert in Zweifel ziehen können. Der zweite Teil nimmt also im Gegensatz zu den prägnanten Beispielen der Differenztheorien einen einheitlicheren Traditionsstrang unter die Lupe, indem er die – im ersten Teil herausgestellten und unter dem Gesichtspunkt der Hermeneutik eher latenten – Differenzen, Brüche und Diskontinuitäten an den Schnittpunkten der Sprachauffassung von Humboldt, Heidegger und Gadamer, und zwar im Verhältnis von Denken/Hören und Sprache/Sprechen aufzuzeigen versucht. Dieser Teil gliedert sich den drei Philosophen entsprechend in drei Abschnitte, die – schon wegen der Rezeptionszusammenhänge – aufeinander aufbauen. Die Kontinuität zwischen den einzelnen Abschnitten bewahrt auch der Zusammenhang, der sich zwischen der ungreifbaren Spaltung im genannten Verhältnis und der sich-entziehenden Fremdheit des Anderen zeigt. Die Andersheit des Anderen lässt sich im Diskurs der Hermeneutik in der Differenz zwischen Sprechen und Hören bzw. Sprache und Denken situieren, die das (zumindest aus einer hermeneutischen Perspektive) ursprüngliche Zusammengehören und die Wechselwirkung der Letzteren einerseits bewahrt und bekräftigt, andererseits aber auch unterbricht, indem sie für ihre Verbindung – im derridaschen Sinne – verantwortlich ist. Die zweite thematische Einheit geht – den einschlägigen Schriften von Derrida folgend – nicht mehr nur der Frage nach, was die Sprache für diese Denker bedeutet, sondern untersucht auch, inwieweit der Andere – wenn auch latent – in diesen Theorien der Sprache anwesend ist, und vor allem: Wer ist der Andere und wessen Sprache ist es, die in den analysierten Texten zur Sprache kommt? Die im ersten Teil behandelten Probleme können demnach in der bei Humboldt, Heidegger und Gadamer erscheinenden/sich entziehenden »Figur« des Anderen wiedererkannt bzw. neu formuliert werden: Erst im Verhältnis zur Sprache als einem Anderen oder zur Sprache des Anderen erweist sich die Aufgabe der Interpretation und die unmögliche Unterscheidung zwischen den gegensätzlichen Aspekten des – somit nicht mehr neutralen – Differenzbegriffs als eine unmögliche und unvermeidliche, weil je schon vollzogene und zugleich im Kommen bleibende und deshalb bindende Entscheidung, die die Verantwortung für ihre Konsequenzen zu übernehmen hat. Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist, die oben formulierten Hypothesen durch eine genaue Lektüre exemplarischer Texte auf die Probe zu stellen, bzw. in diesen die Verflechtung von Sprache, Differenz und Ereignis zu verfolgen. Sie hat also nicht die systematische Verarbeitung des sprachtheoretischen Begriffs der Differenz zum Ziel, und deshalb sieht sie es nicht als ihre Aufgabe an, einen repräsentativen bzw. geschichtlichen Überblick über die Wandlungen des Begriffs zu geben. Aus diesem Grund werden hier weder Theorien der kulturellen
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Fremdheit noch die einschlägigen Werke von Gilles Deleuze oder Jean-François Lyotard behandelt,5 die aber bei einer systematischen Untersuchung des Differenzbegriffes beachtet werden sollten. Zum Überblick über die philosophischen Kontexte des Begriffs könnte aus der Fachliteratur der letzten Jahrzehnte das einführende Werk von Heinz Kimmerle6 bzw. die von ihm herausgegebene Reihe Schriften zur Philosophie der Differenz7 als Orientierung dienen.
5
Zum Differenzbegriff von Derrida und Lyotard siehe z.B.: Ch. Weber: Philosophien der Differenz.
6
H. Kimmerle: Philosophien der Differenz.
7
Vgl. z.B. H. Kimmerle: Das Andere und das Denken der Verschiedenheit.
Teil I. System – Unterscheidung – Differenz
1. Gesetz zwischen Code und Rauschen Binäre Systeme vs. Chiasmen bei Saussure und Jakobson
Medialitäten, die infolge einer medientheoretischen Fragestellung aus sprachlichen Ereignissen ausdifferenziert wurden, folgen vermutlich anderen Gesetzen als der Sinnbereich, dem sie vorangehen und den sie präformieren. In diesem Fragehorizont scheint sich die Annahme zu bestätigen, dass sprachliche und technisch-mediale Codes jeweils anders funktionieren. Das wohl auf diskursive Weise entstandene Interesse an den Materialitäten der Kommunikation sowie die Frage nach der stummen Logik des Medialen lassen jedoch die hinterlassene Dimension des vielleicht voreilig verabschiedeten Sinns in mimetischen Strukturen erscheinen. Nichtrepräsentative Potenziale wie Performativität, Kontingenz sowie Singularität werden der Sprache durch chiastische Strukturen entzogen und zur gleichen Zeit ihren Medialitäten zugeschrieben. Eine repräsentationsgebundene Auffassung der Sprache kann dadurch nicht in jedem Fall erschüttert und komplexeren Mustern ausgesetzt, sondern auch bekräftigt werden. Einen frühen und paradigmatischen Fall des paradoxen Schnittpunkts solcher Chiasmen kann die poetische Funktion von Roman Jakobson aufzeigen, bei der sich die sinnunabhängigen Strukturen der binär codierten Materialitäten als Abstraktionen enthüllen und auflösen müssen, sobald sie in einem performativen Lesen aktiviert und nicht nach der motivierten Konstitution des Zeichens »decodiert« werden. Eine plötzliche Umkehrung der Chiasmen kann sowohl die Vorstellung der Zweiseitigkeit des Zeichens als auch die der materiellen Kontingenz in komplizierten Zusammenhängen aufweisen, in denen die paradoxale Verflechtung der beiden materielle Ereignisse in Gang setzt.
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1.1 S PRACHLICHE / TECHNISCHE C ODIERUNG ? Gibt es »keinen Sinn, wie Philosophen und Hermeneutiker ihn immer zwischen den Zeilen gesucht haben, ohne physikalischen Träger«,1 werden physikalische Signale – im nichthermeneutischen Kontext – erst als Folge und nach dem Dazwischenkommen einer Codierung und dem sogenannten weißen Rauschen (was auch immer diese meistdiskutierten Faktoren der Kommunikation bezeichnen) denkbar und spürbar. Jedoch sind die Funktionen, die die »strengeren« und die »schwächeren« Richtungen diesen unabdingbaren Bedingungen der technischen Übermittlung der Information zuschreiben, ziemlich verschieden. Friedrich Kittlers »technische Schriften« markieren die diskursiven Grenzen durch ihre bekanntlich skeptische Modalität und oft programmatischen Formulierungen an mehreren Stellen. Ein technischer Codebegriff kann natürlich auf plausible Weise das unüberbrückbare und heterogene Verhältnis zwischen den technischen und den sprachlichen Übersetzungen implizieren. Diese Perspektive löst das Faktum von ihren theoretischen Repräsentationen nicht nur ab, sondern führt notwendig zur Gegenüberstellung der materiellen Kontingenz mit der motivierten Konstitution des Zeichens und somit zu einer Auffassung der Sprache, die auf repräsentationsgebundenen Verhältnissen beruht. Die kritische Grundlage der Medienarchäologie bildet der Vorrang des eigentlichen Sinnes der Codierung gegenüber den Interpretationen, die die Relationen der technischen Übermittlung zur Modellierung sprachlich-metaphorischer Zusammenhänge gebrauchen: »Im Glanz des Wortes Code erglänzen heute Wissenschaften, die noch nicht einmal ihr Einmaleins und Alphabet beherrschen, geschweige denn bewirken, dass aus etwas etwas anderes wird, nicht nur wie bei Metaphern etwas anders heißt«.2
1
F. Kittler: Signal-Rausch-Abstand, S. 161.
2
»Man sollte daher – wie Lily Kay im Fall der Biotechnik – vor Metaphern auf der Hut sein, die den legitimen Codebegriff verwässern, wenn sich zum Beispiel bei der DNS keine Eins-zu-eins-Entsprechung zwischen materiellen Elementen und Informationseinheiten finden lässt. Weil das Wort ja schon in seiner langen Vorgeschichte ›Verschiebung‹, ›Übertragung‹ meinte – von Buchstabe zu Buchstaben, von Ziffern zu Lettern oder umgekehrt –, ist es am anfälligsten von allen, zu falscher Übertragung einzuladen. Im Glanz des Wortes Code erglänzen heute Wissenschaften, die noch nicht einmal ihr Einmaleins und Alphabet beherrschen, geschweige denn bewirken, dass aus etwas etwas anderes wird, nicht nur wie bei Metaphern etwas anders heißt. Codes sollten daher einzig Alphabete im Wortsinn der modernen Mathematik heißen, eineindeutige und abzählbare, ja, möglichst kurze Folgen von Symbolen also, die dank einer Grammatik mit der unerhörten Fähigkeit begabt sind, sich gleichwohl
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Wachsame Theoretiker könnten dabei schnell das Vorhaben, die parasitäre Mimesis der Sprache aus der Technikwelt zu verbannen, entdecken und die Hierarchie auf Anhieb auf den Kopf stellen. Die Auseinandersetzung lässt sich damit aber noch nicht lösen. Obwohl die Trennung von Medienarchäologie und -theorie die Ablösung der begrifflichen Sphäre der Hermeneutik von den materiellen Fakten der Mediengeschichte unumgänglich voraussetzt, trägt auch die Ökonomie der Medientheorien viel dazu bei, den Unterschied von sprachlichen und technischen Codebegriffen weiter zu vertiefen: Eben die Hochkonjunktur der informatischen Begriffe scheint die medientheoretischen Kommentare von den Fakten zu entfernen. Das ist bereits in der Erfolgsgeschichte des Rauschens auszuweisen: Seine theoretischen Behandlungsweisen lassen sich meist nach dem Vorhaben seiner Ästhetisierung und Entrhetorisierung differenzieren. Juri Lotman,3 William R. Paulson4 oder Martin Seel5 sind nur einige von den Theoretikern, die ihre Ästhetik der »so inflationär[en] wie fraglich[en]«6 Devise des Rauschens überlassen. Es ist andererseits wohl kein Zufall, dass in den strengeren dekonstruktiven Ansätzen, die die Verfechter der semiotischen Produktivität oft als die »strengste Theorie vom textualen Rauschen«7 in Evidenz halten, der informationstheoretische Terminus des Rauschens bei Weitem nicht so große Beachtung findet, wie es von den »Ästhetiken des Rauschens« zu erwarten wäre. Die eigentümliche Leere des Begriffs des Rauschens, die ihrer theoretischen
selbst unendlich zu vermehren: Semi-Thue-Gruppen, Markowketten, Backus-NaurFormen usw. Das und nur das unterscheidet solche modernen Alphabete vom vertrauten, das unsere Sprachen ja zwar auseinanderlegte und Homers Gesänge schenkte aber keine Technikwelt zum Laufen bringt wie heutzutage Computercode.« F. Kittler: Code oder wie sich etwas anders schreiben lässt, S. 18. 3
J.M. Lotman: Struktur literarischer Texte.
4
W.R. Paulson: The Noise Of Culture.
5
M. Seel: Ästhetik des Erscheinens.
6
Vgl. im Zusammenhang des Codes: »Der Begriff des Codes, heißt das aber, ist so inflationär wie fraglich. Wenn jede Geschichtsepoche unter einer ersten Philosophie steht, dann unsere unter der des Codes, der mithin – in seltsamer Wiederkehr des ersten Wortsinns, nämlich ›Codex‹ – allem das Gesetz erteilte, genau das also täte, was in der ersten Philosophie der Griechen einzig Aphrodite konnte.« F. Kittler: Code oder wie sich etwas anders schreiben lässt, S. 18.
7
»It is in the context of de Man’s and Derrida’s deconstructions of literary language, not that of the reception theorists, that the concept of self-organization is potentially most relevant to literary studies, for deconstruction is our strongest theory of textual noise.« W.R. Paulson: The Noise Of Culture, S. 92.
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Allegorisierung ausgesetzt ist, kann sich beispielsweise in den Versuchen zeigen, die die verborgenen Potenziale des Rauschens sowohl mit der Disartikulation der Stimme in Bettine Menkes Analysen als auch mit der Dissemination von Derrida in Zusammenhang bringen.8 Wie verschieden das Bestreben seiner Theoretisierung auch sein mag, es lässt sich trotzdem ein gemeinsamer Bezugsrahmen finden, mit Bezug auf den sich die nicht mehr hermeneutischen, aber noch immer diskursiv bedingten informationstheoretischen Termini jeweils (neu) lesen lassen. Sprachliche Prozesse ließen sich nämlich ohne das Kommunikationsmodell von Jakobson, dessen Semiotik sich unter den ersten in den fünfziger Jahren von der nicht-semiotischen Informationstheorie Shannons hat inspirieren lassen, kaum durch Begriffe wie Information, Übertragung oder Decodierung ersetzen.9 Auch wenn die Linguistik und Poetik keine weiteren Anweisungen hinsichtlich der Grenzen von technischen und sprachlichen Codes geben kann (das Modell geht ja eben von der Komplementarität der Linguistik und der Mathematik aus), können die Widersprüche und die dementsprechend diffusen Lektüren des Textes doch die Spaltung der beiden aufzeigen. Durch die Lesart von Friedrich Kittler, die die Funktion des Poetischen in der Maximalisierung vom Signal-Rausch-Abstand und im Reinigen der Artikulation vom Rauschen situiert,10 wird eine repräsentationsgebundene Sprachauffassung eher bekräftigt als infrage gestellt. Jene Lektüren hingegen, die von den Widersprüchen der maximalen Artikulation und der selbstaufhebenden Funktionsfülle der Mehrdeutigkeit ausgehen, können uns der
8
»[Bettine Menke] macht in meinen Augen darüber hinaus deutlich, inwiefern die von mir schematisch mit den Namen Seel und Derrida bezeichneten Positionen zu einem komplementären Pathos des Kunst-Rauschens neigen, dem Menke ein Rauschen der Albernheit und der Oberflächlichkeit entgegenhält, das nicht zuletzt den erhaben hohen Ton sowie die problematische Verallgemeinerungstendenz bestimmter Deutungen des angeblich Sinnsubversiven an Kunstwerken auffällig macht.« R. Sonderegger: Ist Kunst, was rauscht?, S. 37. Die dialektisierenden Tendenzen der allzu schnellen Deutung der derridaschen Dissemination als »quasimystische Darstellungsrelation« sind nicht zu übersehen: »Dank der mystischen Darstellungsrelation kann aus der literarischen Darbietungs- bzw. Markierungspraxis des Sinnfernen etwas Außerordentliches werden: bei Seel die Darbietung einer Fülle von Möglichkeiten, die er im völlig Abstrakten einer leeren Sinnversicherung beläßt, bei Derrida ein Verweis auf das, was aller Darstellung zugrundeliegt, sie aber auch immer verstört und eigentlich undarstellbar ist.« Ebd.
9
Vgl. E. Holenstein: Einführung, S. 14.
10 F. Kittler: Signal-Rausch-Abstand, S. 170.
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Frage der Differenz zwischen technischer und sprachlicher Codierung näher bringen. Nach Erhard Schüttpelz’ Analyse lassen sich die Kommunikationsfaktoren untereinander auch in andere Zusammenhänge stellen. Infolgedessen könnte der verborgene Faktor des Rauschens die Illusion jeglicher Intentionalität und Vorstrukturiertheit bzw. der Existenz eines selbstständigen Codes und das anagrammatische Funktionieren der Dichtung sichtbar machen.11 Es bleibt freilich fraglich, ob zur Beweisführung der anagrammatischen Seinsweise des Lesens der informationstheoretische Apparat überhaupt nötig ist. In seinen Überlegungen zur Möglichkeit einer selbstreflexiven Sprache macht Zoltán Kulcsár-Szabó auf die synekdochische und chronologisch umgekehrte Verbindung aufmerksam, auf der die Poetologien basieren, die von der Semantisierung der Materialität und den symbolischen Figuren der poetischen Funktion ausgehen. Bereits die jakobsonschen Beispiele müssen die Existenz einer referentiellen Lektüre voraussetzen, die der Wahrnehmung der materiellen Oberfläche des Zeichens und den Wiederholungen der Äquivalenzen vorausgeht: »[D]en poetischen Akt der Selbstreflexion, in dem die sprachliche Materie die referentielle und kontextuelle Bedingtheit der Nachricht abbildet, könnte nur die Umkehrbarkeit der Erinnerung garantieren.«12 Es sind also nicht die sich wiederholenden, materiellen Elemente und die äquivalenten Strukturen, die in dieser Einstellung die Semantisierung lenken, sondern vielmehr das ihre Entzifferung überhaupt ermöglichende Lesen, das folglich die Kontingenz der Materialität eher einschränkt als zur Geltung bringt. Der poetischen Funktion, der die motiviert-paronomastische Verbindung des Zusammenfallens von Materialität und Phänomenalität einerseits und der davon abgeleiteten Semantisierung andererseits zugrunde liegt, kann das Modell des Anagramms entgegengestellt werden, in dem sich dieselben sprachlichen Erscheinungen (Wiederholung materieller Strukturen) nicht mehr im motivierten, sondern im arbiträren Verhältnis von Bezeichnenden und Bezeichneten zeigen. Die Semantisierung materieller Einheiten ist in Wirklichkeit nichts anderes als auf einer notwendig vorauszusetzenden materiellen Inskription und der Nachträglichkeit der Referenz beruhendes, prosaisches Lesen. »Die Bedingung der sprachlichen Selbstreflexivität kann in diesem
11 »Das Anagramm übersteigt das Gesetz und die Einstellung, die Zeichenbeziehung der Sprache sei codiert. Es gibt Umschriften – und was sind Anagramme anderes als Umschriften? –, die sich weder Zufall noch Absicht und weder einer gemeinsamen noch einer geheim gehaltenen Sprache verdanken, die es zur Illusion werden lassen, sie verdankten sich der symmetrischen Ver- und Entschlüsselung eines Codes.« E. Schüttpelz: Quelle, Rauschen und Senke, S. 202. 12 Z. Kulcsár-Szabó: Önreflexió, S. 148.
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Fall allein eine Wiederholung sein, die in der referentiellen Identifizierung die Inskription eines primären performativen Aktes aktiviert, zitiert oder wiederholt.«13 Wie dem auch sei, die Leistung des Codes scheint vom Rauschen her Ideologie und Macht gleichzeitig zu sein. Dient er in den Alphabetsystemen der Sprachen zur Reinigung vom Rauschen, macht die Verschlüsselung den Zufall zur Signalquelle und damit »[d]ie experimentelle Verschaltung von Information und Rauschen ›den Diskurs zur Nebensache‹«.14 Einerseits lassen sich die Grenzen, die die einander ausschließenden Leistungen voneinander differenzieren, praktisch deutlich erfassen.15 Andererseits bleibt die Frage, wie das fiktiv-imaginäre Stadium zwischen Code und Rauschen zu beschreiben ist, das Lacan im Spiegelstadium als eine Wiederholung auslösende Inversion präsentierte16 und in dem sich Verschaltungen oder Abkopplungen ereignen, die das Reelle und das Symbolische unwiderruflich trennen. Der Abstand von Signal und Rauschen sei berechenbar und in Zahlen auszudrücken – könnte Friedrich Kittlers Antwort mit Bezugnahme auf Shannons Schreibexperiment lauten: »Fortan erfahren Lettern keine bessere Behandlung als Zahlen mit ihrer schrankenlosen Manipulierbarkeit, fortan sind Signale und Geräusche nunmehr numerisch definiert.«17 Sucht man woanders nach der Verbindung (oder eben Abkopplung) von Lettern und Zahlen, in der unmittelbaren Nähe und doch auf der Kehrseite von Shannons Theorie, bei der allerersten Quelle – wenn auch nicht der des modernen Rauschens, sondern der – der modernen Linguistik und Semiotik, stößt man wiederum auf Roman Jakobson, doch diesmal nicht auf die poetische Funktion, sondern auf Die eigenartige Zeichenstruktur des Phonems.18 Der Einsatz seines Unterfangens ist da nicht weniger als die linguistische »Einverleibung« des Rauschens durch die implizite Ausarbeitung eines Codebegriffs, d.h. die Anordnung des »abschreckende[n] Bild[es] der chaotischen Vielheit«, die paradoxerweise gerade in der phonetischen Einstellung auf die Materialität des Signals hervortritt. Das Zusammenfallen von Signal und Rauschen ist in dieser Einstellung, die sich von der der poetischen durch die Abwesenheit eines Codes unterscheidet, nur in einem vorsprachlichen und fiktiven Zustand, mehr noch: in den Wunsch-
13 Ebd., S. 145. 14 F. Kittler: Signal-Rausch-Abstand, S. 166. 15 Vgl.: »Lacans symbolische Ordnung [ist], von ihren philosophischen Interpretationen weit entfernt, ein probabilistisches Gesetz, das auf dem Rauschen des Reellen aufbaut, mit anderen Worten eine Markow-Kette.« Ebd., S. 179; bzw. siehe Fußnote 2. 16 J. Lacan: Das Spiegelstadium. 17 F. Kittler: Signal-Rausch-Abstand, S. 168. 18 R. Jakobson: Die eigenartige Zeichenstruktur des Phonems.
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vorstellungen eines russischen romantischen Schriftstellers vorstellbar, in einer Parabel, in der eine »böse Hexe […] die Rede seiner Geliebten und die Musik der Dichtung in zahllose artikulatorische Bewegungen und unzählige Schalleindrücke [zerlegt], welche ganz sinnlos und reizlos blieben.«19 Diese chaotische Vielheit ist eine bloße rhetorische Konstruktion und die Sackgasse des »naiven Naturalismus« oder der Phonetik als »Stoffwissenschaft«, welche Theorien, wie Jakobson und Halle in der Grundlagen der Sprache gezeigt haben, sich zwangsläufig in die Aporien der abstrakten Unterscheidung von materiellen Lauten und immateriellen Phonemen verwickeln.20
1.2 S AUSSURE /J AKOBSON – U NTERSCHIEDE DES B EGRIFFS DES U NTERSCHIEDES Die Unterscheidungen der verschiedenen Seiten der Sprache, wie sie auch immer genannt werden, sind bereits bei Saussure nicht von »außen«, von den Unterscheidungen her, sondern von »innen«, von der Sprache als »Verbindungsglied« zu denken. Während aber das Verbindungsglied zwischen den Lauten und dem Denken die weitere Differenzierung der lautlichen Materie – aus Gründen, die später noch geklärt werden müssen – irrelevant macht, haftet die Nichtunterscheidung des Phonems und seiner distinktiven – nicht mehr im stofflichen/phonetischen Sinne materiellen, sondern bereits »einverleibten« – Merkmale bei Jakobson dafür, Sprachgebilde und Sprechhandlung »in einer ordnenden Einheit«21 wieder zu vereinen. Die Einverleibung der Phonetik durch die Phonologie, die durch die und zu den distinktiven Merkmalen führt, definiert die saussuresche langue zum Code um. Und da das System der Merkmale nichts anderes als ein Code ist, sind die Materialitäten der Phonetik bei Jakobson bereits in das Gebilde integriert. Die Kritik der abstrakten Unterscheidung von sprachlicher Form und Verwirklichung, – eine These, die Jakobson neben der Linearität des
19 Ebd., S. 141. 20 »Diese sogenannte ›innere, immanente Auffassung‹ (approach), welche den distinktiven Merkmalen und ihren Gruppierungen eine bestimmte Stelle innerhalb der sprachlichen Laute – sei es auf physiologischer, akustischer oder auditiver Ebene – zuweist, ist die günstigste Voraussetzung für Phonem-Operationen, was allerdings von den Vertretern der ›äußeren‹ Auffassungen, die die Trennung der Phoneme von den konkreten Lauten auf andere Weise vornehmen, wiederholt bestritten worden ist.« R. Jakobson/M. Halle: Grundlagen der Sprache, S. 8. 21 R. Jakobson: Die eigenartige Zeichenstruktur des Phonems, S. 141.
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Zeichens sogar dem Vorbild Saussure vorwirft, – geht also von einem umgedeuteten langue- oder Formbegriff aus und wird durch das Zusammenfallen von Sinn und Materie in den Merkmalen als Unterscheidungsträgern unterstützt.22 In einem Zirkel, der durch das binäre System der Merkmale in Gang gesetzt wird, werden Materialitäten, die bei Saussure von den Verbindungen und Werten entsubstanzialisiert wurden, unter dem Namen des Codes wieder in die Ordnung der Symbole eingefügt. Liegt der jakobsonschen Kritik an Saussure das von ihr bereits einverleibte System der Unterscheidungen zu Grunde, ist leicht einzusehen, dass diese Kritik gerade den wichtigsten Gedanken der Theorie, das Prinzip der Differenzialität des Sprachsystems, übersieht. Wenn man nun an die Kritik von Derrida denkt, ist dieser blinde Fleck im Verhältnis von phone vs. Spur/Schrift/différance zu entdecken: Während Jakobson von der Einheit des Phonems ausgeht, lässt sich aus den Widersprüchen des saussureschen Textes die Möglichkeit einer différance (und zwar innerhalb der phone und im Unter-
22 Der Zusammenfall der Form als Invariant und der materiellen Verwirklichung als Variant ist nicht nur in den Schriften, die die Phonologie als »Form- bzw. Funktionslehre« (Ebd., S. 148) begründen, das Leitprinzip der Analyse, sondern spielt auch bei der Unterscheidung der sprachlichen Funktionen eine wichtige Rolle. Aus einem Beispiel von Jakobson wird ersichtlich, dass die emotiven und die referentiellen Codes der Sprache nur unter der Bedingung des untrennbaren Zusammenhaftens von Form und Materie überhaupt unterscheidbar werden. Würde das Gegenüberstehen von Varianten und Invarianten ein stabiles System bilden, könnten die emotiven Informationsgehalte nicht decodiert und differenziert werden. Je nachdem, von welcher Funktion die Phonemfolgen decodiert werden, können die Realisationen eines einzigen Phonems – nach einem Codewechsel – auch als Invarianten gedeutet werden. Die Möglichkeit der Inversion von Varianten und Invarianten wird angesichts der Jakobsonschen Theorie noch weitere Konsequenzen haben. Vgl.: »Der Unterschied im Englischen zwischen [big] ›groß‹ oder der emphatischen Dehnung des Vokals [bi:g] ist eine konventionelle, codierte, sprachliche Eigenschaft, gleich wie der Unterschied zwischen dem kurzen und dem langem Vokal in tschechischen Paaren wie [vi] ›du‹ und [vi:] ›er kennt‹; in diesem Paar ist die unterschiedliche Information jedoch phonematisch, während sie in jenem emotiv ist. Solange wir an phonematischen Varianten interessiert sind, erscheinen die englischen /i/ und /i:/ als bloße Varianten ein und desselben Phonems, doch wenn es um emotive Einheiten geht, kehrt sich das Verhältnis zwischen Invarianten und Variantem um: Länge und Kürze sind Invarianten, realisiert durch verschiedene Phoneme.« R. Jakobson: Linguistik und Poetik, S. 89.
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schied zur empirischen Differenz zwischen Rede und Schrift) entfalten.23 Ist es für Derrida aus strategischen Gründen wichtiger, die Evidenz der Substanzialität der phone von der sich selbst verzehrenden Metapher der Schrift zu untergraben, soll die Frage nach den materiellen Bedingungen der sprachlichen Gesetze das Konzept der sogenannten Codierung unter die Lupe nehmen. Im vorliegenden Kontext ist es umso irritierender, dass sich die Konzepte der Entsemantisierung mehr von dem ästhetisierten Modell des Kommunikationsmodells Jakobsons und weniger von der konsequenten Formalisierung der Zeichensysteme Saussures angesprochen fühlen, die die Dimension des Sinnes und der Repräsentation schon verlassen hat, noch bevor sie die moderne Semiotik hätte begründen können. Nicht nur, weil bei Saussure sogar die Vorstellung, d.h. die Bedeutung oder die semantischen Ebenen der Zeichensysteme nicht-semantischen Operationen oder Stellenwerten ausgesetzt sind. Die Feststellung, nach der »[d]ie Sprache dem Denken gegenüber nicht die Rolle [hat], vermittelst der Laute ein materielles Mittel zum Ausdruck der Gedanken zu schaffen, sondern als Verbindungsglied zwischen dem Denken und dem Laut zu dienen«,24 hat nicht bloß die Einsicht zur Folge, dass die Träger selbst nur in diesen Operationen und die letzteren gar nicht zu denken sind, sondern dass das Denken ein nachträglicher Effekt dieses Systems ist und folglich nicht einmal dem System angehört. Die Nachträglichkeit aller Sinnphänomene entfaltet sich weiterhin nicht vor dem Hintergrund einer einfachen und leeren, sondern einer doppelten oder im Unterschied zweier Differenzen. Sogar der sprachliche Wert kann erst nach einer doppelten Prozedur, nach dem Vergleich ähnlicher und der Auswechslung unähnlicher Dinge ins jeweilige System, überhaupt eintreten.25 »Beliebigkeit und
23 »Die Linguistik bestimmt in letzter Instanz und in der irreduziblen Einfachheit ihres Wesens die Sprache – den Bereich ihrer Objektivität –, als die Einheit von phone, glossa und logos. Diese Bestimmung geht zu Recht allen möglichen Differenzierungen voran, die in den terminologischen Systemen der verschiedenen Schulen haben entstehen können: Sprache/gesprochenes Wort; Code/Message; (Sprach-)Schema/(Sprach-) Gebrauch; Linguistik/Logik; Phonologie/Phonematik/ Phontik/Glossematik.« J. Derrida: Grammatologie, S. 53. 24 F. de Saussure: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, S. 133. 25 »Zur Antwort auf diese Frage wollen wir zunächst feststellen, daß auch außerhalb der Sprache alle Werte sich von diesem Grundsatz beherrscht zeigen. Sie sind immer gebildet: 1. durch etwas Unähnliches, das ausgewechselt werden kann gegen dasjenige, dessen Wert zu bestimmen ist,
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Verschiedenheit sind zwei korrelative Eigenschaften«,26 d.h. die Auswechslung hat einen Vergleich zur Folge, während der beliebige Austausch den Vergleich motiviert. Wie auch immer diese Formel geordnet wird – es geht um mindestens vier Elemente, die durch zwei verschiedene Verhältnisse ausgetragen werden und dabei mehrere Stellen einnehmen können. Auf den ersten Blick sind nicht nur der Code und die binären Oppositionen im beschriebenen System schwierig zu verorten; auch die Reihe von Unterscheidungen, die Jakobson während seiner Analysen trifft, stellt für die Systematisierungslust eine echte Herausforderung dar. Die Sonderstellung des Phonems besteht einerseits darin, dass es sowohl zum Sprachgebilde als auch zur Sprechhandlung gehört, andererseits ist es »von allen übrigen sprachlautlichen Werten und überhaupt von allen übrigen Sprach- bzw. Zeichenwerten grundverschieden«27. Daraus lässt sich noch ohne logische Schwierigkeiten die Folgerung ziehen: Der Code geht den kritisierten saussurschen Termini von Sprachgebilde und Sprechhandlung als eine Nichtunterscheidung28 voran und schafft eine neue Grundlage für das System der Repräsentation, also für alle übrigen Zeichen, die im Gegensatz zu ihm »ihre eigene, positive, bestimmte und konstante Bedeutung«29 haben. Die Ausdifferenzierung des Phonems aus der Ökonomie der Zeichen, in der »der Gegensatz zweier Zeichenwerte durch eine Opposition auf dem Felde des signatum gegeben [wird], und die letztere für die Stelle dieser Zeichenwerte im bezüglichen System maßgebend [ist]«,30 sollte sein System auf andere Grundlagen stellen. Hat jedes Wort, jedes Morphem, jedes Emphatikon und jedes lautliche Grenzsignal ein Gegenstück auf der Ebene des Signifikats, entspricht dem Phonem »einzig und allein die Tatsache eines Bedeutungsunterschiedes, wogegen der Inhalt dieses Bedeutungsunterschiedes weder bestimmt
2. durch ähnliche Dinge, die man vergleichen kann mit demjenigen, dessen Wert in Rede steht.« Ebd., S. 137. 26 Ebd., S. 141. 27 R. Jakobson: Die eigenartige Zeichenstruktur des Phonems, S. 178. 28 »Die Form wurzelt im Sprachgebilde, aber ist in jeder Sprechhandlung notwendigerweise vorhanden, sonst wäre es ja keine Sprechhandlung, sondern ein bloßes Lallen.« Ebd., S. 148. Die abstrakte Unterscheidung von Form und Verwirklichung, die kaum etwas mit dem saussureschen System gemeinsam hat, wird nach dem Prinzip der Opposition wieder vereinigt: »[E]in wirkliches Oppositionsglied kann nicht ohne das andere Glied gedacht werden.« Ebd., S. 167. 29 Ebd., S. 157. 30 Ebd., S. 164.
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noch konstant ist.«31 In dieser Aufstellung spaltet sich die Sprache in eine horizontale und eine vertikale Weise der »Aufeinanderbezogenheit«, wobei jene ausschließlich aus phonematischen Unterschieden oder vielmehr: Gegensätzen organisiert wird. Es ist hier nicht unsere Aufgabe, in allen Details auf die problematischen Textstellen Jakobsons einzugehen. Jedoch sind die Probleme, die die Klassifizierung und Hierarchisierung der Zeichenwerte,32 die repräsentative Funktion der Schrift33 und die Wiederherstellung der unterbrochenen Verbindung zwischen den semantischen und den phonematischen Ebenen34 aufwerfen, nicht unabhängig von unseren Fragestellungen.
1.3 Z EICHEN /Z AHL – J AKOBSONS G ESETZ : DER C ODE ALS U NTERSCHEIDUNG Bekanntlich zergliedert Jakobson die Phoneme in binäre Unterschiede, die die Frage der phonematischen Unterschiede durch den Begriff des Gegensatzes, der Opposition und des Kontrastes erläutern. So erscheinen »nicht die Phoneme, sondern die distinktiven Qualitäten als die primären Elemente der Wortphonologie.«35 Nach der Rechtfertigung der Phoneme als Grundlagen der Sprache durch ihre Aufspaltung in primäre Werte kommt man aber nicht umhin, nun die Phoneme selbst zum Signifikat der binären Unterschiede zu ernennen, das dazu bestimmt ist, den leeren Unterschied an sich zu manifestieren. Somit ist die Sprache durch die Idee der Repräsentation begründet worden, in der »sich die Phoneme auf ein anwesendes Zeichen beziehen, sie fungieren als Diacritica, als Zeichen am Zeichen.«36 Das Phonem erweist sich als »das erste Zeichen«37 der Sprache, dessen Signifikat »die bloße Tatsache des Andersseins«38 und mit sich selbst identisch ist. Vollendet dadurch »die systematisch und entschieden phonologische Orientierung der Linguistik […] eine ursprünglich Saussuresche Intention«39 und folgt dem Vorhaben der Reduktion der Schrift und der Auszeichnung
31 Ebd., S. 155. 32 Ebd., S. 160. 33 Ebd., S. 159. 34 Ebd., S. 165. 35 Ebd., S. 169. 36 Ebd., S. 170. 37 J. Derrida: Grammatologie, S. 24. 38 R. Jakobson: Die eigenartige Zeichenstruktur des Phonems, S. 170. 39 J. Derrida: Grammatologie, S. 52.
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der phone, sind die blinden Gesetze der Sprache, die keine Rücksicht auf ihren Inhalt oder ihre semantischen Effekte nehmen, nicht in dieser offensichtlich metaphysischen Auslegung, sondern vielmehr in der imaginären Topologie der Merkmale zu suchen. Mag die poetische Funktion von den Oppositionen des signatum her gesehen40 auf den Äquivalenzen, Ähnlichkeiten und Unähnlichkeiten der materiellen Träger der Sprache basieren, ist nur unter Vorbehalt anzunehmen, dass auch die Grundelemente Eigenschaften haben, die miteinander vergleichbar sind. Obwohl das Phonem seiner Beschreibung nach ein Bündel von Qualitäten oder eine komplexe Einheit ist, die den Code als eine sprachliche Behauptung – die Zuordnung eines Prädikats (unterschiedliche Merkmale) zu einem Subjekt (das Phonem als Signifikat) – definiert, ist der Code selbst von seinen eigenen Effekten oder durch das Vergleichen der Phoneme wohl kaum abzulesen. Die schon an sich poetisch und halluzinatorisch wirkende Annahme, es gäbe Phoneme, die sich mehr ähneln als andere, ist jedoch nicht nur in der poetischen Funktion, sondern von den Anfängen der Phonologie am Werk. Die Merkmale, die nach den Eigenschaften der Lautbildungsorgane bestimmt, benannt oder vielmehr gesetzt werden, treten bei Jakobson in einer korrelativen Ordnung auf: Die vermeintlichen 28 Vokalunterschiede des Osmantürkischen lösen sich in drei Grundoppositionen auf: die der Breite und Enge, die der hinteren und vorderen und die der gerundeten und ungerundeten Bildung. Mittels dieser drei Paare unzerlegbarer distinktiver Eigenschaften sind alle 8 Vokalphoneme des Osmantürkischen aufgebaut.41
Wird jedem Phonem eine singuläre Zusammensetzung dreier Eigenschaften zugewiesen, können die »Zeichenwerte« der Elemente durch die Oppositionsglieder anderer bestimmt werden. So können sich drei verschiedene Grade der Ähnlichkeit/Unähnlichkeit zwischen den jeweilig entgegengesetzten Phonemen ergeben: Weichen die Phoneme durch eine einzelne Opposition ab und sind in aller anderen Hinsicht gleich, bilden sie eine einfache Opposition. Auf solche
40 »Zwei Zeichenwerte sind einander entgegengesetzt, falls auf der Ebene des signatum eine Opposition besteht. Einer derartigen Opposition kann eine wirkliche Opposition auf der Ebene des signans entsprechen. So steht zum Beispiel dem fallenden Verlauf der abschließenden Intonation der steigende Verlauf einer weiterweisenden Intonation gegenüber oder der senkrechte Kopfgeste für Bejahung die waagerechte Kopfgeste für Verneinung.« R. Jakobson: Die eigenartige Zeichenstruktur des Phonems, S. 163. 41 Ebd., S. 169.
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Fälle ist der Begriff des Kontrastes zu beschränken, »in denen die polaren Eigenschaften zweier Einheiten durch ihr Nebeneinanderstehen (Kontiguität) in der Hörerfahrung in Erscheinung treten«.42 Andere Gegensätze können zwei Oppositionen enthalten oder in einer anderen Aufstellung in allen drei Oppositionen abweichen. Das gegebene Vokalsystem setzt sich also ebenso aus hierarchischen Verbindungen zusammen wie die Zeichen erster, zweiter und dritter Klasse auf der vertikalen Achse je nach ihrem Abstand zum Inhalt eingestuft werden.43 Man sollte annehmen, dass die bedeutungslosen Elemente des Systems in erster Linie durch ihre Merkmale definiert und individualisiert werden. Diese Vorstellung nimmt nicht nur das Modell der sprachlich-logischen Aussage zu Grunde (der Code wird in der Sendung, die bereits (de)codiert wurde, definiert). Die Sprache kann deswegen und muss schon immer poetisch funktionieren, weil die Phonologie im Grunde und von ihren Anfängen an auf der ästhetischen Figur des Vergleichs basiert. Die Grundlagen der Sprache sind aus der ursprünglichen Idee der poetischen Funktion abgeleitet worden. Als Teil dieses Kreises ist auch die phonologisch/alphabetisch fundierte Idee des sprachlichen Codes in der symbolischen Ordnung der Zeichen gefangen geblieben. Somit stellt sich die Frage, inwiefern und in welchem Sinne von einem »vertrauten« Alphabet, das auch »Homers Gesänge schenkte«,44 und überhaupt vom Code im Bereich des »Geistes« die Rede sein kann, bzw. wo die wirklichen Grenzen – wenn es sie überhaupt gibt – zwischen den Codes »der modernen Mathematik« und denen der Zeichensysteme liegen. Wollen wir das Funktionieren dieses binären Systems erklären, sollten wir des Weiteren von den Oppositionen und dem gegebenen Beispiel des Vokalsystems ausgehen. Die Unterschiede zwischen den acht Vokalen lassen sich also durch die drei erwähnten Oppositionen systematisieren: »die Phoneme /o/, /a/, /ö/, /e/ stellen sich den Phonemen /u/, /ɯ/, /y/, /i/ als breite den engen gegenüber, die Phoneme /o/, /u/, /a/, /ɯ/ den Phonemen /ö/, /y/, /e/, /i/ als hintere den
42 R. Jakobson/M. Halle: Grundlagen der Sprache, S. 4. 43 Während in der ersten Klasse das Bezeichnete in der Aussage als Inhalt fungiert, ist es in der zweiten Klasse ein Zeichen an Zeichen, z.B. die Phoneme. Die Buchstaben gehören der dritten Klasse der Repräsentation an, wo das Bezeichnete das Zeichen eines Zeichens ist. »Das signatum ist freilich zum Gegenstande der Aussage durchwegs näher als das entsprechende signans. Demzufolge ist das letztere dem ersten hierarchisch untergeordnet, besonders wenn es sich um Zeichen der Inhalte, zum Beispiel um Morpheme oder Emphatica, handelt.« R. Jakobson, Die eigenartige Zeichenstruktur des Phonems, S. 163. 44 F. Kittler: Code oder wie sich etwas anders schreiben lässt, S. 18.
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vorderen, und die Phoneme /o/, /u/, /ö/, /ü/ den Phonemen /a/, /ɯ/, /e/, /i/ als gerundete den ungerundeten. 1.
o : u = a : ɯ = ö : ü = e : i
2.
o : ö = u : ü = a : e = ɯ : i
3.
o : a = u : ɯ = ö : e = u : i45.
Müsste man in den oben dargestellten Formeln nur von den Buchstaben ausgehen, sollte es auch möglich sein, die sich wiederholenden Oppositionen durch andere Symbole zu ersetzen. Ein paar Zeilen früher versucht Jakobson sein phonologisches Modell durch das Problem des Optischen und der Schrift zu veranschaulichen, was nach den zahlreichen ähnlichen Beispielen der Grammatologie wohl keinen mehr überraschen kann. Seine Bezugnahme auf die Bedeutung der Wörter beweist eben die offensichtliche Tatsache, dass Decodierer nicht auf der Suche nach Bedeutungen, sondern nach Wiederholungen sind; käme die Ebene des Sinnes dazwischen, wäre die Aufgabe sogar schwieriger zu lösen. »Die Aufgabe ist um so lösbarer, je geringer und geordneter die äußerlichen Unterschiede sind, auf die sich die Buntheit der Buchstaben reduzieren läßt.«46 Um die Gegensätze der Phoneme in den zitierten Formeln zu erklären, braucht man mindestens und nicht mehr als drei Oppositionen. Zur Darstellung der Operationen wäre es sogar nicht einmal nötig, ihre Signale (die Buchstaben) zu benennen: o
:
u
=
a
:
ɯ
breit
eng
breit
eng
hintere
hintere
hintere
hintere
gerundet
gerundet
ungerundet ungerundet
45 R. Jakobson: Die eigenartige Zeichenstruktur des Phonems, S. 168. 46 »Zur Veranschaulichung übertragen wir das Problem ins Optische! Wir wollen uns beispielsweise eine uns unbekannte, zum Beispiel die koptische Schrift aneignen. Die Aufgabe ist ungemein schwer, falls es für uns eine bloße Anhäufung sinnloser Arabesken ist. Die Aufgabe ist leicht, falls für uns jeder Buchstabe einen ständigen und einheitlichen positiven Wert besitzt. Es gibt einen Zwischenfall: Dieser positive Wert der Buchstaben bleibt uns unbekannt, aber wir kennen die Bedeutungen aller Wörter in den gegebenen koptischen Texten, und die Buchstaben fungieren dabei unmittelbar als reine Unterscheidungszeichen. Die Aneignung des Alphabets ist sicher zugänglicher als im ersten, doch bedeutend schwieriger als im zweiten Falle. Die Aufgabe ist um so lösbarer, um je geringer und geordneter die äußerlichen Unterschiede sind, auf die sich die Buntheit der Buchstaben reduzieren läßt.« Ebd., S. 168.
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Wollen wir die Stelle eines Phonems innerhalb des Systems bestimmen, reicht es nicht aus, es in Kontrast zu einem anderen zu stellen. Die Differenzierung erfolgt wohl nicht durch den Kontrast, sondern durch die Wiederholung einer Opposition oder eines Unterschiedes. Der Unterschied zweier Phoneme bleibt eine bloße nicht-systematische Abweichung, solange er nicht imstande ist, auch andere, verschiedene Phonempaare zu differenzieren. Die Oppositionen können nur dann zum System gehören, wenn sie keine kontingenten »Schallunterschiede, sondern phonematische Unterschiede«,47 d.h. wiederholbar sind. Der Kontrast der breiteren und der engeren Bildung hat erst Unterscheidungswert, wenn er auch mit dem gegebenen Paar nicht identische, jedoch »in EINER Hinsicht gleich[e]«48 Elemente anderer Gegensätze voneinander unterscheidet. Der Unterschied von o : u ist an sich noch nichts; er ist auf den Unterschied von a : w angewiesen und umgekehrt. Es sind nicht die Phoneme, die im System einander gegenüberstehen, sondern Oppositionen, die sich in einer iterativen Wiederholung wechselseitig legitimieren; die eine lässt die andere ins System eintreten. Die Gegensätze der Signale lassen sich wohl auch in eine andere Zusammenstellung ordnen, in der gleichzeitig mehrere Kontraste unregelmäßig auftreten. Bei der Dechiffrierung geht man aber nicht von Signalen, sondern von Operationen aus, die das Funktionieren des Systems ermöglichen. Für die Codierung eines Kontrastes bildet die Basis die obere Grundformel, in der die Oppositionen alle drei Grundverhältnisse realisieren, in denen sie untereinander vorkommen können: das Verhältnis der Abweichung (gerundet/ungerundet), der Gleichheit (hintere Bildung) und der Wiederholung (breit/eng). Die binären Merkmale, die im Gegensatz zweier Signale entweder einen Kontrast bilden oder miteinander identisch sind, können nur untereinander, in den erwähnten Verhältnissen oder einer Zweieropposition irgendwelchen Wert aufweisen. Es ist jedoch unmöglich, zwei Oppositionen ihre Unterscheidungswerte gleichzeitig zuzuweisen. Obwohl in den Oppositionsmerkmalen von /a/ : /ö/ = /ɯ/ : /ü/ eine Abweichung und zwei Wiederholungen zweier Merkmale vorhanden sind, ist nicht zu entscheiden, ob der jeweilige Unterschied zwischen den Teilen der Oppositionen der hinteren/ vorderen oder der gerundeten/ungerundeten Bildung zu verdanken ist bzw. ob die doppelte Wiederholung in diesem Fall nicht als Gleichheit anzusehen ist.
47 Ebd., S. 165. 48 »[E]in wirkliches Oppositionsglied kann nicht ohne das andere Glied gedacht werden. […] Die mannigfaltigen Oppositionsbegriffe sind in EINER Hinsicht gleich: Die Begriffe Vater und Mutter, Tag und Nacht, teuer und billig, groß und klein setzen einander voraus.« Ebd., S. 167.
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Zur Legitimierung des systematischen Wertes einer Merkmalopposition (z.B. breit/eng) muss sich auch ihre Abweichung als systembedingt erweisen: Die Abweichung als Möglichkeit der Wiederholung muss ihrerseits auch wiederholbar werden. Sind o : u und a : ɯ jeweils durch die Opposition breit/eng verschieden, muss der Unterschied der beiden Paare durch die Merkmale gerundet/ ungerundet geklärt werden. Das Vertauschen der Gegenüberstellungen gibt das korrelative Gegenstück der Grundformel aus: o
:
a
=
u
:
ɯ
breit
breit
eng
eng
hintere
hintere
hintere
hintere
gerundet
ungerundet gerundet
ungerundet
Die Abweichung des einen Merkmalpaars verwandelt sich in der Inversion in Opposition, und nun bildet die andere als bloßer Unterschied den Hintergrund der Iteration. In der Praxis muss man also Jakobsons theoretische Begriffe von Opposition und Kontrast vertauschen und verdoppeln: »die polaren Eigenschaften zweier Einheiten« oder der Kontrast können »in der Hörerfahrung in Erscheinung treten«,49 wenn sie in der Wiederholung nicht mehr eine Abweichung, sondern eine Opposition bilden. Die Bedingung für das Erscheinen einer Opposition ist hingegen jener Kontrast, der die Alterität des Wiederholten konstituiert. Dem Erkennen einer Opposition gehen Oppositionen identischer und abweichender Merkmale voran, die zwar zur Wiederholung eines Unterschiedes notwendig sind, aber zur gleichen Zeit nicht wahrgenommen werden können. Opposition und Abweichung wiederholen sich in einer Inversion oder einem iterativen Rahmen, der an sich weder wiederholbar noch wahrnehmbar ist. Die drei Oppositionsmerkmale des dargestellten Vokalsystems können jeweils in vier Konstellationen – in verschiedenen Rahmen anderer Merkmale – wiederholt werden. Um einen Unterscheidungswert zu besitzen, müssen sie nicht nur die Signale, sondern auch die anderen Merkmale differenzieren. Aber in dem Rahmen, in dem sie sich als wiederholbar und dadurch systematisch erweisen, können sie die anderen nicht gleichzeitig differenzieren. Um ihrem eigenen Hintergrund einen Wert zu verleihen, müssen sie auch selbst zur bloßen Abweichung werden oder in der Gleichheit untertauchen, wobei sie ihren früheren Wert verlieren. Die Abbildung der inversen Formeln in den obigen Beispielen ist deshalb fiktiv und irreführend. Denn sie setzt voraus, dass die Merkmale, die sich in der Reihe identisch wiederholen (hintere Bildung) und die, die voneinan-
49 R. Jakobson/M. Halle: Grundlagen der Sprache, S. 4.
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der bloß abweichen, mit der wiederholten Merkmalsopposition (in der ersten Formel die von breit/eng, in der zweiten die von gerundet/ungerundet) zur gleichen Zeit erscheinen. Werden die hinteren Merkmale in der Gleichheit unerkennbar bzw. dient die Abweichung jeweils dazu, die Wiederholten zu singularisieren, um sie dadurch zum Vorschein kommen zu lassen, müssen die Merkmalsreihen, die keine doppelten Oppositionen enthalten, notwendigerweise unbestimmt bleiben. Es ist nur in einer abstrakt theoretischen Abbildung vorstellbar, als nächster Schritt der Dechiffrierung eine Inversion durchzuführen. Sie ist nämlich in der Praxis der Entzifferung kaum zu verwirklichen, denn der Hintergrund als das Draußen desselben Systems muss immer unlesbar bleiben. Es ist folglich nicht einmal zu wissen, welche Merkmale zur »Lösung« der Formel vertauscht werden sollen. Stellt man die möglichen Varianten und deren Inversionen in Formeln dar, scheinen die Stellenwerte der Phoneme berechenbar und die Oppositionen gleichzeitig repräsentierbar zu sein. Die abstrakte Repräsentation lässt die Triebfeder des Systems vergessen und verdeckt seine eigentliche Bedingung: Das Aufrechterhalten des undarstellbaren Unterschiedes zwischen Abweichungen und Oppositionen. Technisch gesehen ist es wohl nötig, die Signale durch ein »Bündel von Merkmalen« oder – im jeweiligen Codierungssystem – durch Symbole als Einheiten zu identifizieren und die Unterschiede der abzählbaren Elemente im Voraus zu codieren. Die Annahme der Darstellbarkeit der technischen Methode lässt dafür leicht zu, den Unterschied zwischen den binären Elementen und ihren Signalen abzuschaffen oder ihre Verbindung als motiviert und natürlich (in den physiologischen Eigenschaften der Lautbildungsorgane) aufzuweisen. Es sind aber nicht nur die Phoneme, die sich durch andere Symbole, Buchstaben oder Zahlen ersetzen lassen. Auch die binären Merkmale sind in einem anderen beliebigen System oder einer veränderten Zusammenstellung der Ordnung der Signale zuzuweisen. Das Modell der Codierung in binären Eigenschaften erlaubt die Folgerung und erweckt den Eindruck, manche Phoneme seien einander näher und ähnlicher als diejenigen, die keinen Kontrast zueinander bilden und deren Verhältnisse mehrere Oppositionen enthalten.50 Die Auslegung des Codes macht dabei das Signal und das Signal den Code lesbar. Es ist aber nicht zu vergessen, dass sich in alternativen Codierungssystemen andere Verwandtschaften zwischen den Signalen etablieren ließen. Trotzdem scheint die Annahme fast unvermeidbar, man könne aus den beliebig-historischen Apparaten der Codierung bereits auf das Funktionieren der Sprache folgern. Ein stochastischer Prozess zum Beispiel muss ebenso von den statistischen Eigenschaften der gegebenen Sprache aus-
50 R. Jakobson: Die eigenartige Zeichenstruktur des Phonems, S. 169.
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gehen, wie die distinktiven Merkmale nach den verschiedenen phonologischen Systemen bestimmt werden.51 In Shannons erwähntem Experiment werden Buchstaben durch Wahrscheinlichkeitszahlen codiert, wobei die Symbolfolgen die statistische Struktur der gegebenen Sprache abbilden.52 Diese »Sprache« war aber bereits codiert, noch bevor »die Nachrichtenfolgen mit der richtigen Codierung in Signalfolgen überführt werden«53 konnten. Ist die Interzeptionspraxis statt Äquivalenzen auf der Suche nach Wiederholungen, sind ihre Voraussetzungen in einer Hinsicht trotzdem gleich: Auch wenn bei Shannon das Prinzip der Ähnlichkeit und Unähnlichkeit durch das der Wahrscheinlichkeit (redundante und informative Verbindungen von Wörtern und Buchstaben) ersetzt wird, liegt auch dem letzterem Prinzip die klassifizierende Systematisierung der Wiederholung zugrunde. Ob Signalverbindungen nach einem Code der Ähnlichkeit oder eben der Wahrscheinlichkeit zu messen und zu hierarchisieren sind, ändert nicht ihr Funktionsprinzip, Relationen in Vergleiche zu übersetzen. Der Prozess, der die Wahrscheinlichkeit der Aufeinanderfolge von Elementen in Zahlenwerten codiert, schreibt seinerseits einen anderen Code, und zwar den der Alphabetsysteme, um. Was dabei auszurechnen und codierbar ist, sind Codes weiterer Codes, deren Schaltkreise allem Anschein nach nur in dem der Repräsentation abzubilden sind.
51 »Wir denken eine diskrete Quelle als solche, die eine Nachricht Zeichen für Zeichen generiert. Sie wählt gemäß gewisser Wahrscheinlichkeiten aufeinanderfolgende Zeichen aus, die im allgemeinen ebenso abhängig von vorhergegangenen Auswahlen wie von den jeweiligen Zeichen selbst sind. Ein physikalisches System oder ein mathematisches Modell eines Systems, das eine solche Folge von Zeichen erzeugt, die von einem Satz von Wahrscheinlichkeiten bestimmt wird, bezeichnet man als stochastischen Prozeß.« C.E. Shannon: Eine mathematische Theorie, S. 16. 52 »Der generelle Ausgangspunkt ist, dass durch die Kenntnis der statistischen Eigenschaften der Quelle die benötigte Kanalkapazität reduziert werden kann, indem man die Information auf geeignete Weise codiert. In der Telegraphie zum Beispiel bestehen die zu übertragenden Nachrichten aus Buchstabenfolgen. Diese Folgen jedoch sind nicht völlig zufällig. Im allgemeinen bilden sie Sätze und haben die statistische Struktur von, sagen wir, Englisch.« Ebd., S. 16. 53 Ebd.
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1.4 E REIGNISHAFTE D IFFERENZ ZWISCHEN K ONTRAST UND O PPOSITION – DIE F ORM DES Z EICHENS Ist in der Selbstreferenz der Technikwelt der Code die Botschaft, stellt sich die Frage, durch welche Automatismen Codes selber codieren können. Greifen wir das Funktionieren der Codierung bei den sogenannten Phonemsystemen auf, können wir nunmehr davon ausgehen, dass es keine Phoneme, Signal- oder Nachrichtenfolgen, sondern vielmehr korrelative Verhältnisse sind, die einander gegenüberstehen. Die technische Annahme (das System bestehe aus binären Entscheidungen) lässt sich auf kompliziertere Operationen zurückführen: Statt einem einfachen Kontrast – dem einen oder dem anderen Pol der distinktiven Merkmale – muss man von der Wiederholbarkeit der Oppositionen ausgehen. Eine binäre Einheit realisiert sich – sich verdoppelnd – durch eine Abweichung und eine Gleichheit, die die Korrelation innerhalb und zwischen den Oppositionen bilden. Eine einzige distinktive Opposition (z.B. breit/eng) reicht noch nicht aus, zwei Phoneme (o : u oder a : ɯ) voneinander zu unterscheiden. Wird ihr in der Wiederholung (o : u = a : ɯ) ein Unterscheidungswert verliehen, muss es einen Unterschied zwischen den Wiederholungen geben. Die Wiederholung hat jedoch die Frage des Unterschiedes im Kontrast nicht gelöst, nur umgesetzt: Der Kontrast besteht nun zwischen den sich wiederholenden Oppositionen. Es entspricht ihren Funktionen folglich nicht, sondern widerspricht ihnen eher, nach dem Unterschied oder dem Verhältnis der Oppositionen zu fragen. Sie sind höchstens in ihrem iterativen Weiterschreiben, aber ohne die Möglichkeit einer gleichzeitigen Reflexion zu wiederholen. Das Gleichheitszeichen schafft in den Formeln jeweils eine Tautologie, deren Seiten nicht nur identisch (in der hinteren Bildung) und zugleich unterschiedlich (in gerundeter/ungerundeter Bildung), sondern auch Wiederholungen eines anderen Unterschiedes (der breit/eng Opposition) sind, die sich in jenen ununterscheidbar untermischen. Entscheidend sind nicht die Unterschiedlichkeiten zwischen den Elementen, sondern die Wiederholungen der Operationen, in denen sie sich differenzieren. Was wiederholt wird, sind keine Elemente oder Werte, sondern das inverse Vertauschen von Oppositionen und Abweichungen um die Achse identischer Merkmale. Das identische Erkennen einer Opposition wird nicht nur durch den Faktor der nichtwahrnehmbaren Abweichung untergraben. Es gibt nämlich immer Merkmale, die in der Gegenüberstellung zweier Oppositionen identisch bleiben und deshalb nicht registriert werden können. Es gibt dabei keine Kontrollinstanz zu entscheiden, welcher Pol des gegebenen Merkmalspaars den gemeinsamen Bezugsrahmen der Operationen bildet. Die identischen Merkmale der hinteren Bildung sind in den als Beispiel zitierten Formeln gegen die der vorderen austauschbar, ohne
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dass die bisherigen Prozeduren an irgendeiner Stelle verändert werden müssten. Der Tausch würde jedoch zum symmetrischen Gegenstück des Vokalsystems führen, d.h. völlig andere Phoneme (ö : ü = e : i) ergeben. Die bedeutungsunterscheidende Rolle oder die »bedeutungsverleihende Unterscheidung«54 der Phoneme entpuppt sich dadurch als eine fiktive Einheit, die sich um ihre eigene Achse drehend ihre Bedingungen auf Anhieb als Funktionen weitergibt, die ihr deshalb nicht nur voraus, sondern gleichzeitig über sie hinausgehen. Die Phoneme bilden als »leere[…], negative[…] Grundeinheiten«55 den Dreh- und Angelpunkt des Systems, an dem die horizontalen Unterschiede in vertikale »Aufeinanderbezogenheit« übersetzt werden. Die Abbildung des Aufbaus oder der Code der Sprache einschließlich ihrer Materialitäten erweist sich somit als eine augenblickliche und beliebige Verbildlichung gleichzeitiger Operationen, die sich allerdings nicht stabilisieren lassen und deshalb die von ihnen motivierte Abstraktion, ihre Abbildung in Code, wieder in Bewegung bringen, d.h. zwangsläufig lesen müssen. Das Modell der phonematischen Codierung ist die Ausdehnung einer vorübergehenden Kontiguität, deren Bild selbst gleichsam decodiert und als »historisches Faktum« gelesen werden muss. Der Prozess der Codierung, den Jakobson nirgendwo an sich, sondern jeweils in ihren Effekten – Differenzierung der Merkmale, Abgrenzung der Wörter und Bedeutungen usw. – behandelt, entfaltet sich in einem Modell der rhetorischen Verbildlichung, dessen Motivation erst von der Figur der poetischen Funktion verstanden werden kann. Nichtpräsentierbare semiotische Vorgänge werden dabei durch poetische Figuren historisch-medialer Zusammenhänge ersetzt und alle weiteren Instanzen der Sprache von diesem Zusammenfallen der Zeichen und ihrer jeweiligen Medien abgeleitet. Die in Wahrheit figurativen Zusammenhänge solcher Codierungsmodelle können wohl in den literarischen Lesarten am effektivsten enthüllt und wieder mobilisiert werden. Auf diesen »selbstpräsentierenden Effekt der Lyrik« hat Zoltán Kulcsár-Szabó im poetologischen Zusammenhang aufmerksam gemacht, von dem her sich der auf sein Maximum erhöhte Abstand von Signal und Rauschen als eine ausgedehnte Figur der Selbstreflexion – »Ergebnis eines Fehllesens«56 – entpuppt, die deshalb eben nicht mit der Dichtung oder der Schriftkultur selbst, sondern nur mit ihren – ästhetischen – Effekten gleichzusetzen ist. Der Begriff der Selbstpräsentation, der im Gegensatz zu den Ideen der Selbstreflexion von der figuralen Illusion der sinnlichen Präsenz des Zeichens ausgeht, kann auch die Medialitätskonzepte in
54 R. Jakobson: Die eigenartige Zeichenstruktur des Phonems, S. 166. 55 Ebd., S. 170. 56 Z. Kulcsár-Szabó: Irodalmiság és medialitás a költészetben, S. 32.
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ein anderes Licht rücken. Selbstpräsentierende Effekte (Ausgangspunkt der Frage nach der Codierung) sind nämlich vielmehr »Figuren als Medien«.57 Es wäre weiterhin kaum möglich, die ästhetisierenden Tendenzen der selbstpräsentierenden Effekte zu registrieren, ohne die im rhetorischen Lesen erschließbaren Differenzen in Rechnung zu stellen, die oben aufgezeigt wurden. Es ist also bei Weitem nicht sicher, dass sich sprachliche und weitere kulturelle Techniken der Codierung in den medialen Figuren unterscheiden, auf die sie einerseits angewiesen und in denen sie präsentierbar und die andererseits von ihnen bereits decodiert oder besser: gelesen worden sind. Wie zu erwarten, sind die beschriebenen phonologischen Verhältnisse auch auf die semantischen Ebenen umzusetzen und lassen dadurch das aufgebaute System der Hierarchie einstürzen. Man kann nämlich nicht umhin festzustellen, dass auch Wörter und Bedeutungen, Lautbilder und Vorstellungen an Chiasmen von Abweichungen und Oppositionen teilhaben müssen. Liest man den Unterschied von Signifikat und Signifikant in den Stellenwerten der doppelten Differenzen, kommt man wiederum bei dem von Saussure diskutierten sprachlichen Wert an. Von dem her zeigt sich der Kontrast der binären Merkmale als eine sich selbst genügende und jedoch fiktive Einheit oder ein vorausgesetztes Element, dessen Wert nicht bestimmt werden kann, »wenn man nur feststellt, daß es ausgewechselt werden kann gegen diese oder jene Vorstellung«58 oder eben Buchstaben. Der Unterschied der zwei Seiten des Zeichens wie der der Merkmale muss wiederholt, in den Kontext anderer Zeichen gesetzt werden; »man muß es auch noch vergleichen mit ähnlichen Werten, mit anderen Wörtern, die man daneben setzen kann«, denn »sein Inhalt ist richtig bestimmt nur durch die Mitwirkung dessen, was außerhalb seiner vorhanden ist.«59 Auch wenn die Elemente der jakobsonschen und der saussureschen Systeme nicht komplementär sind, geht es um die gleichen Prinzipien: Der Kontrast zweier Phoneme muss dem gleichen und doch abweichenden Unterschied anderer Phoneme entgegengestellt, derselbe in Verbindung mit einer anderen Abweichung wiederholt werden, um den Kontrast als »wirkliche Opposition« zum Vorschein kommen zu lassen. Der Einwand, die zwei Modelle seinen inkommensurabel, kann nach der Einsicht nicht mehr aufkommen, nach der es nicht die Verschiedenheiten oder Kontraste der Bestandteile, sondern allein ihr Nichtzusammenfallen mit den anderen ist, das die Prozeduren der Codierung vorschreiben. Es kommt hier aber nicht auf einen ins Leere stürzenden Unterschied, sondern auf eine Differenz
57 Ebd., S. 33. 58 F. de Saussure: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, S. 137. 59 Ebd., S. 138.
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zweier Verhältnisse an. Die Opposition der Merkmale ist auf die Abweichung anderer angewiesen, denn »es ist nicht einzusehen, warum die Beziehung, die zwischen den verschiedenen Stücken A, B, C, D usw. festgestellt wird, nicht verschieden sein sollte von derjenigen, welche besteht zwischen der Vorderseite und der Rückseite eines und desselben Stückes, also A/A', B/B' usw.«60 Der Kontrast der Merkmale soll ebenso in der Abweichung zu anderen Kontrasten wiederholbar und oppositionär werden. Die Verbindungen von Lautbildern und Vorstellungen sind erst vor den Abweichungen ähnlicher Elemente wiederholbar und miteinander auszutauschen. Die beliebige Verbindung soll entweder in den materiellen Unterschieden der Wörter oder im Nichtzusammenfallen der Vorstellungen erkennbar werden. Erst nachdem die Bestandteile durch ähnliche Dinge zu ersetzen sind, sind sie auch auszutauschen. Aber da sich in der bloßen Abweichung kaum etwas Vergleichbares ergeben kann, sind Signifikat und Signifikant vielmehr nach einem Vertauschen der deswegen nur mutmaßlich ähnlichen Elemente, in der beschriebenen inversen Wiederholung auszutauschen. Dieser Prozess ist allerdings auch in einer anderen Hinsicht vorstellbar: Die weiter nicht erklärbare Abweichung von Lautbild und Vorstellung wird wohl auch vor Laut-Vorstellung-Abweichungen zur Opposition. Betrachten wir also die Verbindung von Signifikat und Signifikant als bloßen Kontrast (unähnlicher Dinge), sind die Oppositionen der Lautbilder oder die von Jakobson zitierten Beispiele der phonologischen Kontraste vor dem Hintergrund gewisser Idiome zu erkennen. Die phonologischen Oppositionen wie zum Beispiel »die bedeutungsverleihende Unterscheidung der palatalisierten Phoneme von den nicht-palatalisierten im Russischen«61 können demzufolge erst in der ununterscheidbaren Abweichung oder tautologischen Verbindung von Bezeichnendem und Bezeichnetem, d.h. in anagrammatischen Mustern, zum Vorschein kommen. In der Korrelation von Verwechslung und Auswechslung geht es um nur teilweise symmetrische Bewegungen, deren Richtungen einander ausschließen. Obwohl der vertikale Austausch und die horizontale Vertauschung heterogen sind, gibt es keine von ihnen unabhängigen Bezugspunkte, die ihre Abfolge im Voraus codieren könnten. Der Wechsel der erwähnten Einstellungen wird eben dadurch möglich sein, dass sich die innere beliebige Verbindung innerhalb des Zeichens einerseits, die zwischen unähnlichen Dingen besteht, und diejenige zwischen den Zeichen andererseits, die ähnliche Dinge vergleicht, nicht auseinanderhalten lassen. Treten die Kategorien der Ähnlichkeit und der Unähnlichkeit in der Kreuzung der Prozesse nachträglich hervor, können die ähnlichen Werte des
60 Ebd., S. 137. 61 R. Jakobson: Die eigenartige Zeichenstruktur des Phonems, S. 166.
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gleichen Systems nicht verglichen, sondern höchstens verwechselt, vertauscht werden. Mit anderen Worten: Wollen wir die Sprache nicht »auf eine bloße Nomenklatur zurückführen«,62 dürfen wir keine dem System vorausgehenden Unterscheidungen zwischen der ähnlichen Natur der Reihe von Signifikaten und der der Signifikanten bzw. der Heterogenität der beiden treffen. In der Verwechselbarkeit der beiden Verhältnisse lösen sich die Konturen des Zeichens und damit die Möglichkeit ihrer Ausdifferenzierung aus den Prozessen ihres ZumVorschein-Kommens, des Rauschens auf. Aus den inversen Wiederholungen der Merkmalsoppositionen konnte ersichtlich werden, dass selbst die Stellenwerte des abweichenden Hintergrundes und der erscheinenden Oppositionen ständig verwechselt werden müssen. Das vom Rauschen gereinigte Zeichen und eine den Alphabetsystemen eigene Codierung sind nachträgliche Konstruktionen, denn »die auf sich selbst gerichtete Nachricht basiert nicht auf dem Fehlen referentieller Verbindungen oder bestimmter Codierungen, sondern auf deren unorganisierter Kopräsenz.«63 Die Topografie und damit die Unterscheidung von Lautbild und Vorstellung sind ebenso den sie übertragenden Bewegungen ausgesetzt. Es gibt keine dem System vorangehenden Elemente, die entweder der Ordnung der singulären Abweichungen, materiellen Hintergründe oder der der Oppositionen angehören. Entstehen die miteinander zu Vergleichenden erst in den einander kreuzenden – vertikalen und horizontalen – Operationen, sind auch die Bedingungen der Codierung als nachträglich-zufällige Kontiguitäten aufzufassen. Zum Funktionieren eines Systems sind nur die Prozeduren des Aus- und Vertauschens, zweier korrelativ-ausschließender Bewegungen, vorauszusetzen. Es ist jedoch kein Zufall, dass das doppelte Verhältnis innerhalb der Inversion, das als gleichzeitiger Austausch zweier Doppelheiten praktisch wohl kaum vorzustellen ist, bereits bei Jakobson in zwei heterogene Systeme, in eine immateriell-semantische Aufeinanderbezogenheit des Bezeichneten und des Bezeichnenden und ein gleichzeitiges Gegenüberstehen der Phoneme zerfällt. Die bedeutungslosen Grundelemente der Sprache unterbrechen den Prozess der Repräsentation und besitzen eine eigenartige Anwesenheit, denn sie »sind nicht ›Zeichen für ein Zeichen‹, wie zum Beispiel die chinesische Wortschrift, in der jeder Buchstabe ein Wort, also ein abwesendes Zeichen vertritt. Die Phoneme beziehen sich dagegen auf ein anwesendes Zeichen«.64 Wie auch immer der Unterschied zwischen den von Anwesenheit bzw. Abwesenheit geprägten Verweisen zu begründen ist: Phoneme werden nicht nur durch ihre Anwesenheit,
62 F. de Saussure: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, S. 136. 63 Z. Kulcsár-Szabó: Irodalmiság és medialitás a költészetben, S. 30. 64 R. Jakobson: Die eigenartige Zeichenstruktur des Phonems, S. 170.
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sondern auch durch ihren materiellen Charakter gekennzeichnet, der in der saussureschen Semiose – so die gängige Kritik – in der Leere der Differenzen ein für alle Mal verloren gehe. Es ist nicht nur der Wirkungsgeschichte geschuldet, sondern hat auch sprachinterne Gründe, dass die Ausdifferenzierung der Materialität aus den immateriellen Verweisen des Sinnes immer noch ein Grundmuster des medientheoretischen Diskurses ist. Aus welchem theoretischen Gesichtspunkt auch das Nichthermeneutische wiedergefunden wird, gelten die Zeichentheorien, die sich auf einem tropologischen Begriff der Differenz gründen, gleichermaßen als Tendenzen der Immaterialisierung der Zeichen, die durch ihre vergessenen materiellen Aspekte in einer Theorie entweder ergänzt oder modifiziert werden müssten. Die oft kontradiktorischen Versuche, eine Opposition des Hermeneutischen und Orte der Materialitäten zu lokalisieren, können an sich den Verdacht der Figuralität ihrer Grundlagen erwecken. Scheinen die auf die Grenze des Sinnes hindeutenden Paradoxien aus einer medienarchäologischen Perspektive immer noch in der interpretatorischen Tradition gefangen zu sein, können von einem philosophisch fundierten Standpunkt aus die immer virulenter zutage tretenden Tendenzen der Mediatisierung leicht zu der »fatale[n] Illusion« führen, »alles sei alles übersetzbar, transferierbar, mediatisierbar, konstruierbar.«65 Vorstellungen des »digitalen Zeitalters«, »deren Absolutes das Mathematische, der Algorithmus, die Syntax der Maschinenzustände ist«,66 manifestierten auf akute Weise »die Wut« der Überschreibung, wobei der affirmative Zug der Verkörperung in der mathematischen Relationalität der Codierbarkeit aufgehe. Somit argumentiert Dieter Mersch für eine positive und doch sich entziehende Konstitution der »Ex-sistenz«, deren streng genommen nichtpräsentierbare Präsenz durch mehrfache Paradoxien darzustellen wäre. Die Entscheidung über die Vorrangigkeit der Interzeption vs. Interpretation bzw. die Kritik an den symbolischen Ordnungen des Sinnes scheinen erst von den Diskursen her voreilig zu sein, die, wie auch die von Mersch, die widersprüchlichen sprachtheoretischen Konsequenzen einer solchen Kritik aufweisen und in denen deshalb »Verstehen und Nichtverstehen […] keine entscheidbare Alternative [bilden], sondern eine unentwirrbare Verflechtung.«67 Bei der Gegenüberstellung der Negativität der referentiellen Verweise und der Körperlichkeit des Dargestellten ist trotzdem nicht zu vermeiden, dass die doppelte Differenz der – die Zeichen austragenden – Prozeduren wieder in zwei Sphären – die der Relationalität und der Darstellung – aufgeteilt wird. In den
65 D. Mersch: Paradoxien der Verkörperung, S. 50. 66 Ebd., S. 51. 67 D. Mersch: Orte der Bedeutung, S. 354.
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»Paradoxien der Verkörperung« kehren sich nämlich nur die Verhältnisse des jakobsonschen Musters um: Nachdem »Zeichen […] durch zwei komplementäre Differenzen zerschnitten [werden], der Differenz der Relata innerhalb ihrer Funktion bzw. innerhalb der Stellen ihrer Matrix einerseits sowie der Differenz zwischen Bedeutung und Materialität andererseits«,68 muss die »infinite Oberfläche« der Zeichenrelationen, auf der »Verweise einzig auf Verweise [verweisen]«69 und die die funktionalen und strukturalen Zeichenbegriffe prägt, durch den »affirmativen Zug« der Darstellung, den jene nicht zur Geltung brächte, ergänzt werden. »Denn die Materialität des Zeichens […] ist nicht Teil ihrer Funktion sowenig wie sie ein Element ihrer Struktur darstellt; vielmehr geht sie ihnen voraus.«70 Materialität und Ereignis werden aus der – gewissermaßen mangelhaften – Negativität der Verweise als »Akt des Setzens« oder Affirmation der Präsenz ausdifferenziert.71 Es geht um die Ergänzung der Leere der Differenz durch einen Akt, der selbst nicht weiter differenzierbar und aus den analysierten tropologischen Vorgängen ausgeschlossen, mit seinem eigenen Anderen nicht zu verwechseln und deshalb dennoch substanziell umgrenzt ist.72 Die Relationen der Zeichen enthalten jedoch – wie gezeigt wurde – bereits bei Saussure mindestens noch eine Differenz, die sich von jenen nicht trennen, sondern nur vertauschen oder vielmehr: allzu leicht verkennen lässt. In der Inversion der Systeme lassen sich weder die Gegenüberstellungen der Oppositionen noch die Abweichungen ihres Hintergrundes oder das Verhältnis der beiden auseinanderhalten.
68 D. Mersch: Paradoxien der Verkörperung, S. 43. 69 Ebd., S. 39. 70 Ebd., S. 43. 71 »Das Paradox der Referenz wird dann gewissermaßen durch seine strukturelle Modifikation in einen infiniten Regress transformiert. Analoges findet sich bei Saussure, wenn er von der vertikalen Differenz zwischen Signifikant und Signifikat, die als formale Differenz fungiert und innerhalb der Theorie die weniger relevante bezeichnet, zur horizontalen Unterscheidung zwischen Sème und Parasème übergeht, um benachbarte Stellen zu markieren.« Ebd., S. 39. 72 »Die These wird sein, dass im dekonstruktiven Denken der Status des Performativen ungeklärt bleibt – oder, um genauer zu sein: dass Performativität allein von der Differenz her gedacht wird, nicht jedoch als Akt einer Setzung, als Ereignung. Diese erfordert eine Explikation über Differenz hinaus und weist auf Begriffe wie Präsenz, Augenblick und Materialität.« D. Mersch: Kunst und Sprache, S. 41.
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Man kann also kaum bestreiten, dass es im imaginären Zustand der Zeichen mehr als notwendig ist, die Gegenstücke des Selben zu verkennen.73 In der Verwechslung der Zeichen wird das Verkennen von Bezeichnendem und Bezeichnetem wiederholt, das allerdings ohne den Verdacht einer vorausgehenden Verwechslung kaum als Verkennen bezeichnet werden kann. Die Verwechslung der Lautbilder und der Vorstellungen kompensiert bzw. vertieft das ursprüngliche Verkennen, welches Verkennen nur durch den unbeweisbaren Verdacht derselben Verwechslung ausgelöst und deswegen nie als falsches Erkennen erkannt werden kann. Aber wie dem auch sei, die Beschreibung der Differenzen muss auf einer Prolepse basieren: Ein fiktiver Unterschied (zwischen ähnlichen und unähnlichen Dingen bei Saussure oder dem Imaginären und dem Realen bei Lacan) muss vorweggenommen und vorausgesetzt werden, um die Verbindungen im System erschließen und die Stellenwerte der Signale entschlüsseln zu können. Ist dabei im Idealfall von der Differenz zweier Verhältnisse auszugehen, ist andererseits auch klar, dass auf der Suche nach Wiederholungen und organisierenden Gesetzen das zu Bestimmende eher erschaffen und zustande gebracht oder besser: an bereits vorhandenen Figuren des Medialen gekoppelt statt beschrieben wird. Auswechslung unähnlicher Dinge innerhalb des Zeichens bzw. Vergleich ähnlicher Elemente desselben Systems: »Diese beiden Faktoren sind notwendig für das Vorhandensein eines Wertes«.74 Die scheinbare Geschlossenheit des Systems und die angebliche Einheit seiner Elemente entpuppen sich in ihrer Wechselbeziehung als Abstraktionen: Beide sind der nicht codierbaren oder unprogrammierbaren Verwechslung des anderen, einer konstitutiven Offenheit aufgrund ihrer Arbitrarität ausgesetzt. Der Code wird nicht zusätzlich eingeschaltet, um ein vorhandenes Material zu bearbeiten; er lässt sich nicht von den zu Codierenden unterscheiden: System und Zeichen codieren, d.h. sie verleihen einander durch ihre Verwechselbarkeit gegenseitig die Möglichkeit ihrer Unterscheidungen. Es gibt allem Anschein nach zwei gesetzgebende Kräfte, wobei die eine die andere durch eine willkürliche Vorwegnahme in einem Stellenwert kodifiziert, und dieses Gesetz wird nachher durch die erstere wieder gespaltet, gelesen oder angewendet. Kontinuierliche und diskontinuierliche, motivierte und heterogene Verschiedenheiten, die die Operationen der Aus- und Verwechslung ermöglichen, müssen vorausgesetzt werden, während sie erst in diesen Prozessen entstehen. Erzeugen die Analysen der technischen Welt die überzeugendsten und transparentesten Metaphern und Übertragungen, können sie auch von ihren Diskonti-
73 Vgl. J. Lacan: Das Spiegelstadium. 74 F. de Saussure: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, S. 137.
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nuitäten und Brüchen gezeigt werden, deren Sprünge, in denen nicht einmal die Beschreibung und das zu Beschreibende zu vereinen sind, viel radikaler die Wirkung des Nicht-Symbolischen zutage bringen als die vorausgesetzte Unterscheidung von Alphabeten und Computercodes. Die – selbst unter Bedingungen einer gewissen Vorstellung der Technik gestellte – Frage nach dem Unterschied der technischen und der sprachlichen Codes ist allerdings nach wie vor unbeantwortet. Eins ist jedenfalls sicher: Kommunikationssysteme lassen sich nur im Rahmen ihrer eigenen Voraussetzungen oder nach der Annahme ihrer nicht weiter begründbaren und gewissermaßen willkürlich gesetzten Unterschiede (Hintergrund/Vordergrund; ähnliche/unähnliche Dinge) erklären. In den rhetorischen Verwechslungen der Sprache sind die Unterscheidungen der Technik und die Konturen ihres Materials nicht mehr sicherzustellen. Wenn technische Systeme und ihre Analysen nicht zu vereinbaren sind, dann deswegen, weil diese jeweils noch eine Differenz enthalten, die jene weder im Immateriellen auflöst noch ihr vorausgesetztes Signal decodiert, sondern sie wieder in Bewegung bringt und das rhetorische Bild des Signals – in einem reflektierten Sinne – liest. In der Rückkopplung der Technik codieren Zahlen und Signale wiederum Signale, nicht das Reale. Gesetze der technischen Codierung werden deshalb wohl nicht in der Verschaltung oder Verbindung von Signalen und ihren Trägern eine Erklärung finden, sondern vielmehr in den Möglichkeiten, wie sie sich wiederholen und wiederholbar werden, wie etwa in der Selbstauflösung von binären Systemen.
2. Symbolizität und Differenzialität der Medien Der Begriff des Mediums bei Niklas Luhmann
Einige Jahre später, als Jakobson in Die eigenartige Zeichenstruktur des Phonems (1939) die Grundlagen für die oppositionäre Auffassung der sprachlichen Materialität legt, versucht die Theorie der Sprache, nunmehr die Theorie der Kommunikation (die, wie wir sehen konnten, schon von Anfang an von der Möglichkeit der Repräsentation von sprachlichen Mechanismen ausging), aus den zu dieser Zeit boomenden mathematischen Informationstheorien neue Anregungen zu schöpfen. Der Begriff der Kommunikation ist auch in Luhmanns Systemtheorie eng mit Mathematik verbunden:1 Einer seiner wichtigsten Ausgangspunkte ist bekanntlich die mathematische Differenztheorie von George Spencer-Brown (Laws of Form; 1969), die die Bedingung jeder Form von Bezeichnung im Prozess der Unterscheidung definiert. Nun stellt sich erneut die Frage: Inwiefern lassen sich die Gesetze der Repräsentation durch den Prozess der Unterscheidung repräsentieren?
2.1 S YSTEMTHEORIE
UND
L ITERATURWISSENSCHAFT
Es gibt zwar mittlerweile viele Handbücher, die die Wirkung der Systemtheorie auf die Literaturwissenschaft dokumentieren, aber aus Rezeptionsüberblicken der letzten Jahre geht hervor, dass diese anfangs noch intensive Wirkung die 1990er Jahre nicht überlebte und sich auch nicht als stark genug erwies, die
1
Die Anfänge der Systemtheorie sind ebenso von interdisziplinären Forschungsprojekten der fünfziger Jahre geprägt, die die Grenzen zwischen theoretischen und angewandten Wissenschaften immer mehr aufgelockert haben. Siehe dazu: K. Müller: Allgemeine Systemtheorie, S. 90.
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Grenzen der deutschsprachigen Gebiete zu überschreiten. Ein gutes Beispiel für das anfängliche Interesse ist, dass es nur ein knappes Jahrzehnt brauchte, bis sich die »systemtheoretische Literaturwissenschaft« zu einer auch von Handbüchern registrierten literaturtheoretischen Richtung entwickelte.2 Es wäre jedoch eine Übertreibung, die diffusen Entwicklungen dieser Rezeption als eigenständige literaturtheoretische Richtung zu bezeichnen. Auch in der einführenden Fachliteratur werden die verschiedenen »Schulen« unter den Namen einzelner Literaturwissenschaftler verzeichnet. Zu Beginn hätte man noch einen gemeinsamen Nenner darin finden können, dass diese Literaturwissenschaftler die Literatur als autonomes Teilsystem der Gesellschaft voraussetzten, dessen Code und Funktion durch die mehr oder weniger modifizierten Begriffe der Systemtheorie zu beschreiben sind.3 Nach dem Erscheinen des Bandes Die Kunst der Gesellschaft (1995) verschoben sich die Schwerpunkte jedoch: Während in den frühen Ansätzen noch die Schriften zur allgemeinen Theorie als Ausgangspunkt dienten – und den Akzent auf die Beschreibung der gesellschaftlich-kontextuellen Einbettung der Literatur legten –, erwies sich aus späterer Perspektive nicht nur die Vorstellung eines autonomen Literatursystems als problematisch, sondern auch die Einseitigkeit der Beschreibungen, die »nur wenig über die textuellen Strukturen von Semantiken aussagen […] können.«4 Die neueren Adaptationsversuche, die heute in erster Linie durch die Arbeiten von Oliver Jahraus geprägt sind, betrachten die Literatur nicht mehr als System, sondern als ein Medium, dessen Funktion es ist, die Einheit der Differenz von Bewusstsein und Kommunikation jeweils neu zu definieren.5 Dabei sollte vor allem die starke Diffusität der literaturwissenschaftlichen Rezeption der Systemtheorie zu denken geben, welche das Fach seinerseits schon sehr unterschiedlich zu erklären versuchte.6 Obwohl die Systemtheorie in der Literaturwissenschaft am meisten im Kontext der hermeneutischen und der poststrukturalistischen bzw. der dekonstruktiven Sprachtheorie reflektiert wird (als Beispiel könnte man hier zwei Bände erwähnen, die Mitte der 1990er Jahre von denselben Herausgebern unter den Titeln Systemtheorie und Hermeneutik
2
Vgl. Metzler Lexikon Literatur: S. 74-79; Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie: S. 521-523; T. Köppe/S. Wimko: Neuere Literaturtheorien, S. 260.
3
Vgl. ebd., S. 175; J.F.K. Schmidt: Die Differenz der Beobachtung, S. 8-37.
4
O. Jahraus: Literatur- und Medienwissenschaft, S. 371.
5
Vgl. O. Jahraus: Literatur als Medium.
6
Zur literaturwissenschaftlichen Rezeption der Systemtheorie siehe: J.F.K. Schmidt: Die Differenz der Beobachtung; H. de Berg: Kunst kommt von Kunst; O. Jahraus: Unterkomplexe Applikation; Jahraus, Literatur- und Medienwissenschaft.
S YMBOLIZITÄT
UND
D IFFERENZIALITÄT
DER
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bzw. Differenzen. Systemtheorie zwischen Dekonstruktion und Konstruktivismus veröffentlicht wurden),7 würde ein solcher Überblick über die Rezeption zu nicht minder diffusen Resultaten führen. Einerseits scheint es nämlich, als ob die Systemtheorie per se hermeneutische Aspekte enthielte. Die Adaptationsversuche »einer systemtheoretisch informierten Hermeneutik«8 könnten aber vielmehr in Hinsicht auf die Rezeption der Hermeneutik interessant sein, die sie somit affirmativ modifizieren. So verspricht das systemtheoretische Paradigma für die Richtung, die an der geschichtlich-kontextuellen Interpretation der Literatur interessiert ist, nicht nur den Ausweg aus der »Anarchie«9 der Dekonstruktion, sondern auch die Erneuerung des hermeneutischen Begriffs des Verstehens. Laut den Anhängern der kulturwissenschaftlichen Richtungen, die anstatt von Begriffen wie »Sinn« oder »Verstehen« eine sinnliche Materialität und Präsenz in den Vordergrund stellen, lassen dieselben hermeneutischen Zusammenhänge ganz im Gegenteil die anachronistischen Züge der Theorie erkennen. Einer der vehementesten Vertreter dieser Kritik ist Hans Ulrich Gumbrecht, der schon mehrmals versuchte, die Tendenzen der Immaterialisierung im luhmannschen Werk aufzuzeigen.10 Zu einem ähnlichen Schluss kommt auch Georg Stanitzek in seinem Beitrag zu Die Kunst der Gesellschaft: Er nennt Luhmanns Ästhetik – allerdings ironisch – eine »originelle Hermeneutik«.11 Das Verhältnis von Dekonstruktion und Systemtheorie in der Fachliteratur stellt sich jedoch etwas anders dar: Hier taucht, über die Versuche, beide Theorien zu vergleichen hinaus, noch keine Möglichkeit der Versöhnung auf, obwohl ein solcher Ansatz auch in den Reflexionen Luhmanns eine Bestätigung fände. Dagegen sind
7
H. de Berg/M. Prangel: Systemtheorie und Hermeneutik; H. de Berg/M. Prangel: Differenzen.
8
A. Nassehi: Die Zeit des Textes, S. 48. Nassehi versucht, »auf eine grundlegende Gemeinsamkeit und einen grundlegenden Unterschied literaturwissenschaftlichen und sozialwissenschaftlichen methodisch kontrollierten wissenschaftlichen Verstehens aufmerksam zu machen; eine Gemeinsamkeit und einen Unterschied freilich, die für die begriffliche Fassung einer systemtheoretisch informierten Hermeneutik nicht unbedeutend sein dürften. Die Gemeinsamkeit besteht darin, daß sich beide – sowohl das literaturwissenschaftliche wie das soziologische Geschäft des Verstehens – in der Forschungspraxis selbst auf Texte beziehen. Den Unterschied sehe ich einerseits in der Textgenese, andererseits im Kontext des Textes.« Ebd.
9
H. de Berg: Kunst kommt von Kunst, S. 179.
10 H.U. Gumbrecht: Form ohne Materie; ders., Alteuropa und Der Soziologie; ders., How is Our Future Contingent? 11 G. Stanitzek, Im Rahmen? S. 20.
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mittlerweile sogar zwei Monografien erschienen, die eine dekonstruktive Lektüre der Systemtheorie liefern.12 Diese Richtung der Rezeption ist vielleicht noch heterogener: Die Argumentationen der Autoren im erwähnten Sammelband gehen weit auseinander. Genauso unterschiedlich stellen sich die Meinungen in dem Band Form und Medium von 2002 dar, in dem die Fragen nach dem Zusammenhang von Form und Medium eine Gelegenheit bieten, die Erträge der Systemtheorie gegenüber den poststrukturalistischen Zeichentheorien zu prüfen.13 Berücksichtigt man dabei, dass die Systemtheorie im Gegensatz zur Literaturwissenschaft die Fragen der Sprache kaum bzw. weniger interessieren, ließen sich diese Symptome der Rezeption – da es keinen gemeinsamen Grund oder keine Kontrollinstanz gibt – eventuell auch als natürlich betrachten. So stellt sich aber die Frage, woher das erhöhte Interesse der Literaturwissenschaft für eine Theorie kommt, die gerade dem Begriff der Sprache keine besondere Aufmerksamkeit schenkt. Vielleicht liegt eben darin die Attraktivität der Theorie: Sie lässt die Fragen der Sprache vergessen und eröffnet den Weg für Probleme, die die Literaturwissenschaft seit der »kulturellen Wende« der Geisteswissenschaften beschäftigen – so würde die Terminologie der Systemtheorie dabei helfen, die scheinbar fehlenden theoretischen Grundlagen zum Erforschen der medialen und institutionellen Bedingungen der Kommunikation zu schaffen. Den Medientheorien konnte die luhmannsche Unterscheidung von Medium und Form neue Impulse geben, »kraft derer an die Stelle der Sprache zuerst einmal schlicht die Kommunikationsmedien rücken«, wobei »die konstitutionelle Medialität der Kommunikation und damit nolens volens auch der Sprache« sichtbar werden kann.14 »Was […] Kulturwissenschaftler, Sprachwissenschaftler und Philosophen [gewinnen], wenn sie mit Luhmanns Unterscheidung von Medium und Form arbeiten«,15 lässt sich laut Sybille Krämer vor allem an der Radikalität des Formbegriffs ermessen, der aller Tradition widersprechend nicht mehr ontologische und zeitlose Zusammenhänge bezeichne, sondern vielmehr im performativen Sinn, als Vollzug zu denken sei. Der Begriff der Form zerstöre somit die Idee der »paradiesische[n] Version unserer Sprachlichkeit vor dem Sündenfall ihrer medientechnischen Zurüstung und Realisierung«16 und mache es unmöglich, von der Sprache »die Spur« ihrer Medien abzutrennen. Dadurch ließen sich
12 N. Binczek: Im Medium der Schrift; Stäheli, Sinnzusammenbrüche. Zu den Analogien siehe: B. Marius/O. Jahraus: Systemtheorie und Dekonstruktion. 13 J. Brauns: Form und Medium. 14 S. Krämer: Form als Vollzug, S. 558-559. 15 Ebd., S. 565. 16 Ebd., S. 567.
S YMBOLIZITÄT
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D IFFERENZIALITÄT
DER
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manche – nach der medialen Umorientierung obsolet gewordene – Vorstellungen über die Sprache als »Stilisierungen und Extrapolationen von Attributen eines spezifischen Mediums, nämlich der phonetischen Schrift«17 enthüllen. Jedoch wird der Wert dieses Gewinns von einer anderen Schrift der Autorin relativiert, die Luhmann schon als Vertreter eines früheren sprachtheoretischen Paradigmas auftreten lässt, »das nicht nur die analytische Trennbarkeit von Stoff und Form voraussetzt, sondern radikaler noch annimmt, daß die Funktion der Form prinzipiell unabhängig sei vom Material.«18 Deshalb erweist sich die Mediumkonzeption von Luhmann – allen antihermeneutischen Gesten zum Trotz – am Ende auch für Krämer als allzu »traditionell«. Aber inwieweit ist dieser Formbegriff neu oder traditionell, bzw. in welchem Sinne ist er performativ? Warum lokalisiert Luhmann die Medialität der Form in den »latenten Strukturen« oder im blinden Fleck ihres Vollzugs,19 und warum ist die Theorie der »Latenzbeobachtung«20 oder »die Möglichkeit, zu beobachten, was andere nicht (und zwar: konstitutiv nicht) beobachten können, […] dem Buchdruck zu verdanken«?21 Im Folgenden versuchen wir diese Fragen am Leitfaden von Begriffen wie »Form« und »Unterscheidung« miteinander zu verbinden und in Zusammenhänge zu ordnen, die uns nachher zur latenten Performativität bzw. symbolischen Funktion der Medien führen sollen.
17 Ebd., S. 572. 18 S. Krämer: Das Medium als Spur, S. 77. 19 Vgl. N. Luhmann: Reden und Schweigen, S. 11. 20 N. Luhmann: Die Beobachtung erster und die Beobachtung zweiter Ordnung, S. 138. 21 N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 90. »Der Begriff [der Latenz] bezeichnet die Möglichkeit, zu beobachten und zu beschreiben, was andere nicht beobachten können. In der klassischen Epistemologie kam diese Möglichkeit nicht vor […]. Erst seit gut zweihundert Jahren findet das Problem der Latenz mehr und mehr Aufmerksamkeit, aber man hat den Eindruck einer illegitimen Geburt. Es ist das natürliche Kind der Epistemologie, dem aber nicht erlaubt wird, in die Familie einzutreten und sie fortzusetzen. Die Möglichkeit, zu beobachten, was andere nicht (und zwar konstitutiv nicht) beobachten können, ist als ein uneheliches Kind von Wissenschaft und Literatur auf die Welt gekommen, nämlich mit dem Roman des 18. Jahrhunderts. Sie ist also dem Buchdruck zu verdanken. […] Erst die Theorie beobachtender Systeme ermöglicht es, das Latenzproblem in die Erkenntnistheorie aufzunehmen.« Ebd., S. 89-91.
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2.2 D ER B EGRIFF DER F ORM ZWISCHEN U NTERSCHEIDUNG
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Eines der wichtigsten Momente der Systemtheorie Luhmanns sowie der konstruktivistischen Theorien ist also das Konzept der Unterscheidung, das sich auf die Formtheorie von Spencer-Brown zurückführen lässt und das man oft (grob vereinfacht) als Bruch mit der ontologischen Metaphysik bezeichnet, da dieses Konzept – in sprachtheoretischen Begriffen – von der Untrennbarkeit und strukturellen Gleichzeitigkeit der performativen und der konstativen Aspekte der Unterscheidung (und nicht einfach des Unterschieds) ausgeht, oder anders: Im Formenkalkül werden die Ideen der Unterscheidung und der Bezeichnung nicht getrennt, sondern in ihrem sich wechselseitig bedingenden und ausschließenden Verhältnis in Gang gesetzt. Da jede Bezeichnung eine Unterscheidung voraussetzt, können Unterscheidungen nicht bezeichnet werden, ohne eine wiederholte Unterscheidung zu vollziehen. Wie auch immer wir diese Voraussetzung formulieren, lässt es sich nicht vermeiden, das Wort »Unterscheidung« im doppelten Sinne und doppelt zu verwenden. Geht man zuerst von diesem doppelten Charakter der Unterscheidung aus, wird auch klar, warum der Begriff des Unterschieds, der die Unterscheidung von ihrem eigenen Vollzug trennt, immer schon sekundär und abstrakt ist. Weder die Unterscheidung noch die von ihr unterschiedenen Seiten sind von einem Beobachter, der sie gerade vollzieht, in einer Einheit oder aus einer externen Position zu erkennen. Daraus ergeben sich die Schwierigkeiten, diesen Aspekten der Unterscheidung gerecht zu werden. Wenn eine Unterscheidung in ihrem gleichzeitigen Vollzug als Bezeichnung nicht zu beobachten ist, dann stellt sich die Frage, wie wir diese Unterscheidung immer schon bezeichnet und (voraus)gesetzt haben. Von der ersten, vorausgesetzten Unterscheidung sind wir also durch eine ebenso schwer greifbare, erneute Unterscheidung getrennt, und die Frage ist, wie konsequent Luhmann diese formspaltende Getrenntheit, die Differenz denkt, die bei ihm auch den Begriff des Medium bestimmt. Dieser Begriff der Differenz ist natürlich den modernen Literaturtheorien, die sich aus einer sprachtheoretischen Tradition herausdifferenziert haben, durchaus bekannt, sie teilen sogar die grundsätzlichsten Voraussetzungen des Formbegriffs: Denn eine paradoxe Differenz ist die allererste Grundlage nicht nur der poststrukturalistischen Semiologie, sondern auch der hermeneutischen Sprachtheorie. Dies kommt entweder in der Radikalisierung der Beliebigkeit des saussureschen Zeichens zur Geltung, die dann auch weitere zeichentheoretische Konsequenzen hat, oder eben im unauflösbar trennenden und zugleich verbindenden Charakter des geschichtlichen Abstands, der durch seine Doppelseitigkeit zur Umgestaltung des Begriffs
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der Geschichtlichkeit führt. Hermeneutische Axiome, nach denen man weder über die Sprache noch über die eigene geschichtliche Position hinausgehen kann, deuten ebenso auf eine unüberschreitbare Grenze hin, hinsichtlich derer man sich selbst und das jeweilige Andere verstehen kann, und deren Interpretation auch die Literaturwissenschaft zur Aufgabe hat. Nach der Art und Weise der Auseinandersetzung mit der Unüberschreitbarkeit solcher Grenzen lautet die Frage, wie diese Differenz in den verschiedenen Richtungen interpretiert wird bzw. – mit Luhmann formuliert – durch welche spezifischen Unterscheidungen die Paradoxien des Differenzbegriffs aufgelöst werden. Der kurze Überblick über die modernen sprachtheoretischen Traditionen in Das Zeichen als Form (auf den Text kommen wir noch zurück) kann in dieser Hinsicht ziemlich reduktiv wirken, bzw. könnte noch weiter differenziert werden, insofern hier Luhmann die Tendenz der Absolutisierung des Zeichens, die zur Tilgung der Referenz und somit zur Paradoxie des referenzlosen Zeichens führt, mit einem Programm der Erneuerung der Semiotik verbindet (so »wäre eine Theorie des Zeichens nicht am Ende, sondern am Anfang«22). Die Interpretation dieser Paradoxie weist Luhmann in den Kompetenzkreis der Theorie operativ geschlossener Systeme, der auch die Semiotik »zugeordnet werden kann, ja zugeordnet werden muß, weil sie von Unterscheidungen handelt.«23 Aber kehren wir zunächst zu der Frage zurück, wie diese Differenz überhaupt beobachtbar bzw. wie sie durch den Begriff der Form interpretiert wird. Durch die Verdoppelung der Unterscheidung ist es eigentlich von Anfang an unvermeidlich, diese Unterscheidung durch eine Unterscheidung zu bezeichnen: nämlich durch jene der Unterscheidung und der Bezeichnung, deren Grenze die Form als Differenz ist. Wir müssen die Unterscheidung von den Unterschiedenen unterscheiden. Eine solche Formulierung mag man als rhetorische Spielerei abtun, und Spencer Brown vermeidet sie denn auch durch terminologische Differenzierung. Er unterscheidet Bezeichnung (indication) und Unterscheidung (distinction). Aber Terminologie oder nicht:
22 N. Luhmann: Zeichen als Form. »Es mag so sein [dass das Zeichen ein Zeichen ohne Referenz ist], aber wenn es so wäre, wäre eine Theorie des Zeichens damit nicht am Ende, sondern am Anfang. Sie müßte sich dann ihrer eigenen Paradoxie widmen, müßte ihre Paradoxie ›entfalten‹, müßte sie durch eine Unterscheidung ersetzen, an der dann nur noch die Einheit der Unterscheidung, aber nicht das Unterschiedene selbst einen paradoxen, Beobachtung blockierenden Status hätte.« Ebd., S. 46. 23 Ebd., S. 49.
50 | D IFFERENZEN DES S PRACHDENKENS das Problem bleibt. Wir kommen nicht zur Operation, wenn nicht die Unterscheidung von Unterscheidung und Bezeichnung in die Unterscheidung hineincopiert wird.24
Ohne dieses Hineinkopieren können wir über eine Art von Differenz, die die Gleichzeitigkeit einer Unterscheidung und einer Bezeichnung voraussetzt, gar nicht reden. Auch wir bezeichnen das Ereignis der Unterscheidung durch eine Unterscheidung, d.h. wir haben eine Operation vollzogen. Das Ereignis der Operation, die demnach eine Unterscheidung voraussetzende Bezeichnung ist, geht jeder Reflexion voran. Allein diese einmalige, ereignishafte und unwiederholbare Operation kann als »Grundlage« aller Beobachtung gelten, die aber nur in einer anderen Operation, die wiederum Asymmetrie (d.h. eine Unterscheidung mehr) produziert und voraussetzt, beobachtet werden kann. Die Unterscheidung wiederholt sich dadurch, dass sie in sich selbst oder in die von ihr bedingte Bezeichnung wieder eintritt, wobei die Bezeichnung nur durch diesen Wiedereintritt, durch die ursprüngliche Wiederholung der ersten Unterscheidung zur Bezeichnung wird. Daraus wird ersichtlich, dass diese paradoxe Form – die Figur des »re-entry« – die Voraussetzung jeder Bezeichnung (im Sinne von »dies und nicht etwas anderes«) und sogar jedes Beobachtens ist, die auch als ein Kreuzen von zwei Unterscheidungen beschrieben werden kann. Eine Form entsteht in ihrem selbstreferenziellen Gebrauch und hat eine doppelte, eine wiederholende und eine wiederholte Grenze, sie ist die ursprüngliche Kopie einer Unterscheidung, die ohne diesen Wiedereintritt gar nicht erscheinen könnte. Die Form besteht aus dem selbstreferenziellen Prozessieren ihrer beiden Grenzen, und sie besteht nur insofern, als sie von einem Beobachter vollzogen und beobachtet wird. Es gibt also nie eine Unterscheidung, es gibt sie nur in ihrer Wiederholung, und das erklärt auch, warum sie Spencer-Brown als »perfekte Enthaltsamkeit« definiert. Die ursprüngliche Unterscheidung ist in der Tat nichts anderes als eine Ununterscheidbarkeit, die durch Ein- und Ausschließen der von ihr getrennten Seiten entscheidbar und handhabbar wird. Die Operation, die ebenso eine asymmetrische Unterscheidung ist wie die Differenz, auf die sie sich bezieht, löst die Paradoxie der Differenz (ihre Unzugänglichkeit und permanente Verschobenheit) nicht nur auf, sondern wiederholt sie auch. Das Verhältnis der beiden Unterscheidungen (die sich wohl nur deshalb kreuzen können, weil sie sich nicht auseinanderhalten lassen) ist in mehrerlei Hinsicht paradox: Obwohl die äußere Grenze der Form der inneren Grenze strukturell vorausgeht, wird sie erst von der inneren Operation, die sie wiederholt, erzeugt. Die Operation wiederholt die
24 N. Luhmann: Die Paradoxie der Form, S. 200.
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erste Unterscheidung als ihren eigenen Ursprung, die erst durch ihr Hineinkopieren ursprünglich und gleichzeitig verschoben wird. Die eine Unterscheidung setzt die andere voraus, während diese Voraussetzung erst nachträglich entsteht. Will man der Asymmetrie und dem ambivalenten Charakter der Unterscheidung gerecht werden, sollte der Modus der Wiederholung bzw. die Frage, ob die kopierende Unterscheidung das Wiederholte bloß wiederholt, erschließt, modifiziert oder erzeugt, unbeantwortet bleiben. Da das Verhältnis der zwei asymmetrischen Unterscheidungen selbst asymmetrisch ist und selbst den operierenden Beobachter in die unversöhnlichen Aspekte des Handelns und Erlebens oder der Operation und Beobachtung spaltet, können wir uns der eigentlichen Leistung der Wiederholung nie vergewissern. Es ist also nicht nur die Operation, die einen blinden Fleck hinterlässt, sondern auch die erste Unterscheidung, die eine vorausgehende und zugleich hypothetische Grenze zieht, welche in ihrem nachträglichen Entstehen permanent verschoben wird. Erst hier kann die Frage nach dem Verhältnis der Unterscheidungen gestellt werden: »Ist dann die Unterscheidung, die in sich wiedervorkommt und anders gar nicht vorkommen kann, dieselbe oder nicht dieselbe Unterscheidung?«25 Die Paradoxie der Form ist die paradoxe Identität dieser Differenz. Den Anfang eröffnet der performative Befehl einer Differenz (bei Spencer-Brown: »Mach eine Unterscheidung!«), dessen entfaltende Ausführung nicht die zitierte Frage entscheidet, sondern die Operationen durch weitere Unterscheidungen fortsetzt und wiederholt. Von der inneren, ursprünglich kopierenden Grenze der Form wird der Anfang oder ihre Voraussetzung nicht (oder nicht nur) erschlossen, sondern vielmehr aufrechterhalten. So ist die unüberschreitbare und zu reproduzierende Grenze der Form auch auf ihre Entfaltung angewiesen: Ihre Performativität ist der Komplexität der entfaltenden Operationen ausgesetzt. Dieser Begriff der Form, der der Systemtheorie und den konstruktivistischen Konzepten als Grundlage dient, wird daher nicht durch eine spezifische Unterscheidung konstituiert, sondern geht dieser voran und fragt nach der Art und Weise, wie sie in ihrem Vollzug konstituiert werden. Wie Dirk Baecker formuliert: »Die Herausforderung des von Spencer-Brown vorgelegten Formkalküls besteht darin, einzusehen, dass es etwas Einfacheres als dies nicht gibt.«26 Jede einfachere Auslegung muss die Unentscheidbarkeit der konstitutiven Fragen vergessen und die nicht weiter reduzierbaren Aspekte der Form endgültig unterscheiden oder miteinander identifizieren. Obwohl es in der literaturwissenschaftlichen Rezeption kaum Ansätze gibt, die diese Zusammenhänge mit rhetorischen
25 Ebd., S. 200. 26 D. Baecker: George Spencer-Brown.
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Aspekten der Sprache in Zusammenhang bringen, könnten die paradoxe Identität der Differenz und die Wechselseitigkeit der Unterscheidungen nicht nur den Lesern von Gadamer, sondern auch denen von Heidegger vertraut klingen. Deshalb ist es wohl kein Zufall, dass sich auch Wolfgang Iser von der Hermeneutik Schleiermachers her der Rekursivität der Autopoiesis nähert, damit diese am Ende ihre hermeneutische Aufgabe übernimmt, die Sinnzirkulation der Systeme zu interpretieren.27 Diese kurze Darstellung kann zwar die Komplexität des Formbegriffs nur in Umrissen andeuten, zeigt aber schon auf, dass die Tragweite dieser relativ einfachen Form in dem Sinne »bei weitem nicht ausgeschöpft ist«,28 dass die Komplexität nicht die Vorstellung einer abstrakten Form an sich, sondern deren differenzierte Beschreibung oder Interpretation produziert. Dies könnte man vielleicht am besten durch die Unterscheidung zeigen, mit der Luhmann Spencer-Browns Formbegriff beobachtet und zugleich interpretiert: Durch die Unterscheidung von Operation und Beobachtung löst Luhmann die Paradoxie nicht in sachlicher oder zeitlicher, sondern in »sozialer« Hinsicht auf, indem er »verschiedene Beobachter unterscheidet, die jeweils andere Unterscheidungen zugrundelegen.«29 Obwohl jeder Beobachtung die gleichen Bedingungen – paradoxe Unterscheidungsprozesse – zugrunde liegen, erscheint die Frage wichtiger, wie die verschiedenen Beobachter diese Prozesse reflektieren. Einzelne Beobachter sehen deshalb nicht dasselbe, weil sie dieses Sehen in unterschiedlichem Maße reflektieren. Man kann zwar den blinden Fleck der eigenen Operation nicht loswerden, jedoch macht es einen Unterschied aus, ob dabei der Beobachter nur Operationen vollzieht oder auch auf Unterscheidungen reflektiert. Die Unterscheidung von Operation und Beobachtung sowie der Beobachtung erster und zweiter Ordnung rechnet mit genau dieser Abweichung.30 So kann man auch erkennen, warum eine einzige Unterscheidung noch keinen Sinn ergibt bzw. warum eine Unterscheidung oder eine Operation nur im Kontext anderer Operationen beobachtbar wird. Die Definition der Beobachtung setzt im Vergleich zur Operation schon immer mehr als eine Unterscheidung voraus, indem sie in sich selbst wieder eintritt, d.h. auf sich selbst durch eine Unterscheidung reflektiert. Der Beobachter ist also – aufgrund einer strukturellen Differenz oder der konstitutiven Spannung von Operation und Beobachtung – mit der Form nicht restlos gleichzusetzen. Wegen dieser latenten, formtheoretischen Identifizierung
27 W. Iser: The Range of Interpretation, S. 41-112. 28 N. Luhmann: Die Paradoxie der Form, S. 197. 29 Ebd., S. 204. 30 Dazu siehe: N. Luhmann: Die Beobachtung erster und die Beobachtung zweiter Ordnung.
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der Form mit dem Beobachter scheint für Luhmann »[d]er Formenkalkül schließlich […] die letzte Form zu sein, in der Beobachter sich noch ihrer Übereinstimmung vergewissern können.«31 Die latente Paradoxie der mathematischen Theorie löst Luhmann von der biologischen Theorie der autopoietischen Systeme dadurch auf, dass er verschiedene Beobachter und letztendlich Systeme unterscheidet. Die Möglichkeit der Intersubjektivität wird somit von keiner vorausgesetzten Identität oder irgendwelcher Relation mehr, sondern von einer Differenz – zwischen der Beobachtung erster und zweiter Ordnung – garantiert. Diese Differenz spielt nicht nur in der Autopoiesis der Systeme, sondern auch in ihrem Entstehen eine entscheidende Rolle: Die Teilsysteme der Gesellschaft entfalten sich in und reproduzieren sich aus dieser Differenz. Sie ist nicht nur die äußerste und unüberschreitbare Grenze, durch die sich die Gesellschaft aus ihrer Umwelt ausdifferenziert und sich vom Bewusstsein unterscheidet, sondern geradezu das sprachliche Moment dieses Theoriegefüges: Luhmanns bekanntes Axiom, nach dem nicht das Bewusstsein, sondern die Kommunikation kommuniziert,32 verdeutlicht die Konsequenzen genau dieser Differenz.
2.3 D IE G RENZE ZWISCHEN W AHRNEHMUNG UND K OMMUNIKATION Von daher muss Luhmann auch mit einer radikal unüberschreitbaren Grenze rechnen, die in der Formtheorie noch nicht zur Geltung kam: und zwar mit der Grenze zwischen dem System und seiner Umwelt. Die Grenzen eines Systems sind unüberschreitbar und geschlossen. Eine perfekte Enthaltsamkeit setzt zwar auch Geschlossenheit voraus, sie kann aber in der Operation überschritten werden, auch wenn diese Operation die Grenze wiederholt. »Die Formtheorie ist noch keine Systemtheorie«,33 die Grenzen der Systeme lassen sich nicht durch Operationen kreuzen, sie sind in einem viel radikaleren Sinne geschlossen, da sie nur ihre eigenen Operationen erkennen, die sie in den Rekursionen von Beobachtung und Operation reproduzieren. Sie können mit ihrer Umwelt nicht in Kontakt treten oder in einem anderen System operieren, da die Operationen gerade die Differenz zu ihrer Umwelt wiederholen. Dennoch ist eine gegenseitige Beobachtung der Kommunikations- und Bewusstseinssysteme nicht unmöglich, sondern geradezu notwendig:
31 N. Luhmann: Die Paradoxie der Form, S. 203. 32 Vgl. N. Luhmann: Wie ist Bewusstsein an Kommunikation beteiligt? 33 N. Luhmann: Wahrnehmung und Kommunikation, S. 67.
54 | D IFFERENZEN DES S PRACHDENKENS [D]ie Trennung dieser Systeme setzt offenbar eine Reintegration auf der Ebene des Beobachtens voraus, wobei aber Beobachtungen zwangsläufig getrennte empirische Operationen sind, die nur entweder bewußt oder kommunikativ ablaufen können, aber logisch mächtig genug sind, um gerade diese Unterscheidung in der Form eines »re-entry« in das eigene System wiedereinführen zu können.34
Die Kommunikation kompensiert die Geschlossenheit des Bewusstseins dadurch, dass sie die Unterscheidung zwischen sich selbst und dem Bewusstsein beobachtet und wiederholt. Dabei erschließt sie nicht einen Inhalt oder das Funktionieren des Bewusstseins, sondern nur ihr Getrenntsein vom Bewusstsein, weshalb für jede Kommunikation gelten kann, dass sie immer zugleich ihre eigene Unmöglichkeit mitkommuniziert. Die Beobachtung erster Ordnung, die durch eine Unterscheidung wahrnehmbare Gegenstände bezeichnet, lässt sich mit den Bewusstseinsoperationen parallel setzen, die zwar ihre Operationen beobachten können, jedoch nicht imstande sind, Operation und Beobachtung auseinanderzuhalten, Unterscheidung und Differenz zu unterscheiden oder anders: zu kommunizieren. Die Bewusstseinsoperationen können zwar die Differenz von Innen und Außen reintegrieren und wiederholen, da auch sie die Differenz von Operation und Beobachtung sowie von Selbst- und Fremdreferenz voraussetzen, aber gerade deshalb, weil diese Differenz ihre Bedingung ist, können sie die Differenz der beiden nicht beobachten und bezeichnen und somit für weitere Beobachtungen einsetzen. Es ist hier vielleicht nicht ohne Interesse zu bemerken, dass Luhmann die Autopoiesis des Bewusstseins in sehr ähnlicher Weise wie Saussure beschreibt,35 und zwar nicht nur in metaphorischer, sondern auch in
34 N. Luhmann: Wie ist Bewusstsein an Kommunikation beteiligt?, S. 126. 35 F. de Saussure: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, S. 133-134. »Psychologisch betrachtet ist unser Denken, wenn wir von seinem Ausdruck durch die Worte absehen, nur eine gestaltlose und unbestimmte Masse. Philosophen und Sprachforscher waren immer darüber einig, daß ohne die Hilfe der Zeichen wir außerstande wären, zwei Vorstellungen dauernd und klar auseinander zu halten. Das Denken, für sich allein genommen, ist wie eine Nebelwolke, in der nichts notwendigerweise begrenzt ist. Es gibt keine von vornherein feststehenden Vorstellungen, und nichts ist bestimmt, ehe die Sprache in Erscheinung tritt. […] Die Sprache hat also dem Denken gegenüber nicht die Rolle, vermittelst der Laute ein materielles Mittel zum Ausdruck der Gedanken zu schaffen, sondern als Verbindungsglied zwischen dem Denken und dem Laut zu dienen, dergestalt, daß deren Verbindung notwendigerweise zu einander entsprechenden Abgrenzungen von Einheiten führt. Das Den-
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struktureller Hinsicht. Das Bewusstsein besteht aus einer Menge von labilen und eigenwilligen, sich von Moment zu Moment verändernden Zuständen, die an sich noch nicht imstande sind, sich selbst zu organisieren: »Erst Sprache zwingt das Bewusstsein dazu, Bezeichnendes und Bezeichnetes und in diesem Sinne: Selbstreferenz und Fremdreferenz kontinuierlich auseinanderzuhalten und trotzdem gemeinsam zu prozessieren.«36 Das laufende Unterscheiden von Selbstreferenz und Fremdreferenz ist das »Charakteristikum der Operationsweise dieses Systems, […] das wenn nicht ›Sinn‹, so doch eine Zeichenstruktur voraussetzt, die dazu zwingt, Bezeichnendes (signifiant) und Bezeichnetes (signifié) im Sinne von Saussure simultan zu prozessieren.«37 Luhmann bezieht sich auf die Grundfragen nur selten bzw. nur auf Textstellen, die in seinem Gedankengang als relevant erscheinen.38 Und obwohl sich am Ende die Semiotik von Peirce und der Begriff des Interpretanten für Luhmann als geeigneter erweisen, das rekursive Prozessieren des Zeichens zu erfassen,39 könnte man die Analogie des Formbegriffs mit der saussureschen Zeichenlehre fortsetzen.40 So ließe sich auch
ken, das seiner Natur nach chaotisch ist, wird gezwungen, durch Gliederung sich zu präzisieren«. 36 N. Luhmann: Wahrnehmung und Kommunikation, S. 19. 37 Ebd., S. 18. 38 Vgl. N. Luhmann: Zeichen als Form, S. 46, 48, 50, 52. »Für ihn waren signifiant und signifié notwendige Komponenten einer sprachlichen Einheit, eben des Zeichens. Sie unterscheiden sich nicht ihrer Natur oder ihrem Wesen nach, sondern nur als Komponenten eben dieser Unterscheidung. Das eine könne es nicht ohne das andere geben. Die spätere Diskussion hat diese, vielleicht nicht genügend ausgearbeitete, Einsicht nicht immer beachtet und zum Beispiel die Vorstellung eines referenzlosen Zeichens gebildet.« Ebd., S. 50. 39 Welcher jedoch durch den Begriff des Beobachtens ersetzt werden soll. Ebd., S. 5253. Das ist vielleicht auch der Grund, warum die literaturwissenschaftliche Rezeption bisher nur auf diese Bezüge geachtet hat. Vgl. Jahraus/Ort, Bewußtsein – Kommunikation – Zeichen. 40 Zu den Verbindungen von Semiotik und Systemtheorie in der Rezeption vgl. F. Habermann, Semiotik, S. 313-316; M. Giesecke: Die »Grundfragen der Allgemeinen Sprachwissenschaft«: »Dank der Fortschritte der Systemtheorie und insbesondere der Theorie sozialer Systeme von Niklas Luhmann kann man heute die – nun wirklich uralte – Frage nach den Möglichkeiten, die menschliche Rede ›systematisch‹ zu beschreiben, (wieder) aufgreifen und alternative – ›systemische‹ – Antworten in Aussicht stellen.« Ebd., S. 279; bzw. Stäheli, Sinnzusammenbrüche. Stäheli kommt diesbezüglich zu einem negativen Ergebnis: »Das Wertkonzept zerstört die Illusion,
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zeigen, dass Saussures »sprachlicher Wert« durch isomorphe – und wie Derrida gezeigt hat, zugleich paradoxe41 – Operationen entsteht, wobei sich auch unüberschreitbare und spezifische Unterscheidungen (Beliebigkeit und Unterschiedlichkeit) aufeinander beziehen.42 Bewusstsein und Kommunikation sind zwar aufeinander angewiesen, das eine ist die ausschließliche Umwelt des anderen, jedoch sind sie füreinander geschlossen. In dieser Hinsicht ist das Bewusstsein nicht nur keine Quelle der Kommunikationsinhalte mehr, sondern es ist vielmehr das Bewusstsein, das sich an die Kommunikation anpassen soll, und nicht umgekehrt. Es ist also nicht etwa das Ziel der Kommunikation, sich dem Bewußtsein, das in Anspruch genommen wird, anzupassen. Im Gegenteil: die Kommunikation fasziniert und okkupiert, wenn sie läuft und solange sie läuft, das Bewußtsein. Das ist nicht ihr Zweck, nicht ihr Sinn, nicht ihre Funktion. Nur: wenn es nicht geschieht, geschieht es eben nicht.43
Das Bewusstsein folgt nur den Unterscheidungen (und passt sich ihnen an), die erst in der Kommunikation oder in der Unterscheidung von Mitteilung und Information einen Sinn gewinnen. Die Teilsysteme der Gesellschaft sind zwar gegeneinander auch geschlossen, aber da sie alle auf Kommunikation beruhen, ist die Unüberschreitbarkeit der Grenze nicht so radikal wie zwischen der Kommunikation und ihrer alleinigen Umwelt, dem Bewusstsein. Diese Differenz kann – in wiederum paradoxer, aber konsequenter Weise – nur durch dieselbe Differenz überbrückt werden. Dies leistet die Sprache, die als strukturelle Kopplung die Differenz zwischen Medium und Form aufrechterhält. Nicht zufällig erweist sich in der Luhmann-Rezeption der letzten Jahre die Unterscheidung von Bewusstsein und Kommunikation als produktivste Unterscheidung der Theorie, die sich durch ihre Flexibilität für die unterschiedlichsten Ziele einsetzen lässt, von der Dekonstruktion der System-Umwelt-Unterscheidung44 bis hin zur modifizierenden Weiterentwicklung der Theorie. Oliver
daß ein Zeichen unabhängig von seiner systemischen Position bestimmt werden könnte. Für Luhmann existiert jedoch ein derartiges System, anhand dessen man den Wert bestimmen könnte, nicht.« Ebd., S. 141. Auf diese Argumentation werden wir später noch zurückkommen. 41 J. Derrida: Grammatologie, S. 49-130. 42 Vgl. F. de Saussure: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, S. 135-146. 43 N. Luhmann: Wie ist Bewusstsein an Kommunikation beteiligt?, S. 115. 44 Vgl. z.B. N. Binczek: Im Medium der Schrift; oder: dies., Medium/Form, dekonstruiert. Wie die anderen dekonstruktiven Lektüren geht auch Binczek von der Kritik
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Jahraus nennt diese Unterscheidung die »Ur-Differenz«45 der Systemtheorie, die den Ausgangspunkt für die Konzepte von Kommunikation und Bewusstsein bildet und deshalb zu einer Überprüfung und Veränderung der Theorie Gelegenheit bieten kann. Dabei ist aber der Ausgangspunkt weniger das asymmetrische Verhältnis der beiden Systeme als vielmehr eine Unterscheidung, die zur Erneuerung der Vorstellungen über das Bewusstsein dienen kann. Während nämlich der Kommunikationsbegriff eine radikale Umdeutung erfährt (subjektlose Kommunikation), zeigt sich auf Seiten des Bewußtseins, daß wesentliche Konstituenten einer idealistischen Vorstellung des Bewußtseins aus Transzendental- oder Subjektphilosophie in die Systemtheorie übernommen wurden.46
So arbeitet Jahraus das Konzept der Autoreflexivität aus und versucht zu zeigen, »dass Bewusstseinsprozess und Zeichenprozess lediglich zwei verschiedene Beschreibungen ein und desselben Phänomens von prozessierter Autoreflexivität sind.«47
des Mediumbegriffs aus. Dem Medium werden von Luhmann Eigenschaften wie Passivität, Neutralität, mangelnde Widerstandsfähigkeit und – laut Binczek – eine Art von Unschuld zugeschrieben, die sich aber gegen sich selbst wenden lassen. Binczek versucht den Mediumbegriff als ein »Monstrum« der Theorie aufzuzeigen (dabei anthropomorphisiert sie den Begriff von Derrida), welches das System durch seinen Wiedereintritt bedroht. An diesem entscheidenden Punkt der Argumentation wird aber erkennbar, wie dabei die Asymmetrie der Unterscheidung von Medium und Form symmetrisiert und die Aspekte der Unterscheidungen vereinfacht werden: Dann »tritt nicht nur die Form auf der Seite des Mediums, sondern auch umgekehrt das Medium auf der Seite der Form wieder ein; dann aber lässt jede Form auch Elemente in das System ein, mit denen dieses offenbar nichts anfangen kann.« Ebd., S. 119. 45 O. Jahraus: Bewußtsein und Kommunikation, S. 40. 46 Ebd., S. 28. 47 O. Jahraus: Autoreflexivität, S. 84. Diese strukturelle, man könnte auch sagen: sprachliche oder rhetorische Differenz lenkt auch Peter Fuchs’ Aufmerksamkeit auf die andere Seite der Unterscheidung, auf die Umwelt der sozialen Systeme. Auch für ihn ist das ungeklärte Verhältnis des psychischen Systems, des Bewusstseins und der Wahrnehmung (Luhmann verwendet sie oft als Synonyme) die Quelle der Irritation, die er durch die Einführung des Begriffs »dezidierte Operativität« aufzulösen und dadurch das Bewusstsein von den psychischen Systemen zu unterscheiden versucht. Vgl. P. Fuchs, Der Eigen-Sinn des Bewußtseins bzw. ders., Die Psyche. Die Frage ist aber eher, ob die tautologische Redeweise in diesem Fall überhaupt aufzuheben ist,
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Luhmann rechnet aber auch – sogar noch viel konsequenter – mit diesem in gewissem Sinne rhetorischen Potenzial der Differenz von Kommunikation und Bewusstsein, das die Kommunikation ermöglicht und ihr vorausgeht. Bekanntlich ersetzt Luhmann die Sprache durch den Begriff der Kommunikation, weshalb »weder ein Begriff von Sprache noch ein Begriff von Zeichen […] zu den grundlegenden theoretischen Bausteinen der Systemtheorie gehören.«48 Diese Begriffe sind auch im Wörterverzeichnis der Einführungsbände nicht zu finden, trotzdem lohnt es sich, die Frage zu stellen, wie sich der Begriff der Sprache in der Theorie situieren ließe.
2.4 S PRACHE , Z EICHEN , S YMBOL Dass Luhmann die Sprache nicht als System, sondern als strukturelle Kopplung zwischen Systemen ansieht, entfernt dieses Konzept von anderen Sprachtheorien nur auf ersten Blick. Dies verleiht der Sprache sogar eine noch viel wesentlichere Funktion. Denn eben deshalb, weil sie an der Selbstreproduktion der Systeme nicht teilnimmt, ist sie die Bedingung ihrer Autopoiesis. »Über Sprache wird Bewußtseinsbildung und Gesellschaftsbildung überhaupt erst möglich; oder wenn man nicht so weit gehen will: in einem uns normal erscheinenden Sinne möglich.«49 Die Sprache ist kein System, weil es keine sprachspezifischen Operationen gibt, die Grenzen ziehen und diese aufrechterhalten könnten. Sie ist an sich kein autopoietisches System, sondern »ein Moment der Autopoiesis von Kommunikation und, mehr beiläufig, auch ein Moment der Autopoiesis von Bewußtsein.«50 Die Formen der Sprache entstehen in diesem Sinne nicht durch ihre eigenen Operationen, sondern durch die Operationen von den jeweiligen Kommunikationssystemen. Nicht ihre Systematizität, sondern ihre doppelte Funktion zeichnet sie aus: Sie spielt nicht nur die Rolle einer Form und eines Mediums zugleich, sondern bewahrt sie auch in ihrer Getrenntheit. Von hier aus erweist sich das Fehlen der Definition der Sprache eher als konsequent, denn – wie Luhmann schreibt – »ihre eigene Realität besteht darin, daß ihr Gebrauch beob-
ob es nicht als notwendig zu betrachten ist, dass sich in der Kommunikation die Umwelt oder die andere Seite der Unterscheidung nur in austauschbaren Begriffen zur Sprache bringen lässt. 48 O. Jahraus: Literatur- und Medienwissenschaft, S. 370. 49 N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 47. 50 Ebd., S. 52.
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achtet werden kann.«51 Sie lässt sich folglich nur noch in der Kommunikation oder im Vollzug einer Operation beobachten, mit der sie einerseits nicht zu identifizieren ist, andererseits als identisch erscheint. Sind die Teilsysteme der Gesellschaft durch die Beobachtung ihrer systemeigenen Operationen, ihrer Codes oder Leitunterschiede beschreibbar, kann die Sprache, die weder eigene Grenzen noch einen eigenen Code besitzt, immer schon von einer Unterscheidung beobachtet werden, deren Differenz sie als strukturelle Kopplung vorausgeht und deren Möglichkeit sie permanent bewahrt und garantiert. Dennoch kann man nicht behaupten, dass die Sprache (als eine Differenz von Medium und Form) bloß ein Medium sei: Die Formen prägen sich zwar ins Medium ein, aber »das Medium [wird] von den Systemen, die es benutzen, erst erzeugt.«52 Dabei beschreibt Luhmann die Leistung der Kommunikation als einen eigenwilligen und gewaltigen Setzungsakt, der von den eigenen Gesetzen des Bewusstseins absieht sowie davon abstrahiert, »daß das Bewusstsein in jedem seiner Zustände und in jeder seiner Operationen durch die eigenen Strukturen determiniert ist.«53 Die strukturellen Differenzen der Sprache sind Prägungen, die die Strukturen des Bewusstseins in ähnlicher Weise ignorieren und eliminieren, wie – das Beispiel stammt von Heider – das Wahrnehmen beim Sehen und Hören Licht und Luft benutzt, gerade weil es sie als Medium nicht sieht und nicht hört […]. Als Medium funktioniert das Bewußtsein, indem unterstellt wird, es könne alles aufnehmen, was gesagt wird; es sei eine lose gekoppelte Menge von Elementen fast ohne Eigendetermination, in die sich einprägen läßt, was jeweils gesagt oder gelesen wird.54
Aber auch diese Prägungen oder strukturellen Kopplungen werden in der Kommunikation invisibilisiert, von der sie eingeprägt werden und die trotzdem auf deren Spur ist, indem die Kommunikation als Operation ihre eigenen Prägungen wiederholt. Aber wie kann sich dann die Sprache in diesem Vorgang der Oszillation ankündigen, wenn für Luhmann auch die saussuresche Unterscheidung von Bezeichnendem und Bezeichnetem, auch die Form des Zeichens – da sie schon eine Operation ist – bloß »eine unter mehreren Möglichkeiten [ist], die Paradoxie von Sinn, die Unbestimmbarkeit des Bestimmten, in einer Unterscheidung zu
51 Ebd. 52 Ebd., S. 54. 53 N. Luhmann: Wie ist Bewusstsein an Kommunikation beteiligt?, S. 118. 54 Ebd., S. 119.
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übersetzen und damit zu entfalten«?55 Die Form des Zeichens, das Zeichen als Form kann uns zunächst – wenn auch nicht sofort der Sprache, aber zumindest ihrem symbolischen Medium – dem »Sinn« etwas näher bringen. Die doppelte Bewegung der Zeichenform lässt sich am besten durch Saussures sprachlichen Wert, durch die Operationen von Austauschen und Vergleichen, erhellen. Die notwendige Isolation des Zeichens kann auch nach Luhmann durch Willkür, oder besser: durch eine beliebige Grenzziehung erreicht werden, die jedoch an sich – als eine Unterscheidung – noch keinen Sinn ergibt.56 Diese beliebige Grenze oder die Form des Zeichens muss erst von einer spezifischen (man könnte auch sagen: kodierten oder motivierten) Unterscheidung gekreuzt, aufrechterhalten und überhaupt lesbar gemacht werden. Die spezifische Unterscheidung von Bezeichnendem und Bezeichnetem kann eben für diesen Zweck eingesetzt werden und mithilfe dieser – durch die ursprüngliche Grenze, durch die Form des Zeichens – das Bezeichnete (das die Unterscheidungen als andere Seite ein- und ausschließt sowie erzeugt und zugleich voraussetzt) beobachten. Die beobachtete, jeweils andere Seite der Unterscheidung ist in diesem Zusammenhang das in seiner Prozessualität immer wieder verschobene Bezeichnete, jedoch nicht der Sinn, jene Form des Zeichens, die die unsichtbar bleibende, konstitutive und konstruktive Voraussetzung des Beobachtens ist. Diese Form als Differenz zwischen den beiden Operationen, die im Zeichengebrauch produziert und zugleich invisibilisiert wird, ist der immer unerreichbare Sinn oder das unüberschreitbare Medium des Zeichens, das eben nicht bezeichnet werden kann. Beim Erfassen dieser Latenz kann nach Luhmann eine Art von Reflexion helfen, deren Möglichkeit er im ursprünglichen Sinn des Symbols vermutet: Wenn man bedenkt, daß ein Zeichen, sofern es die Einheit einer Differenz, das heißt die Nichtunterschiedenheit des Unterschiedenen zu sein beansprucht, eine Paradoxie verdeckt, ist es nicht ganz abwegig, von Mystifikation zu sprechen. Das muß nicht unbedingt in respektvoller Distanz oder feierlicher Stimmung enden. Auf das ursprüngliche Verständnis des Wortes symbolon zurückgehend kann man vielmehr einen durchaus funktionalen, wenn nicht pragmatischen Sinn vermuten. Symbolon war ursprünglich Darstellung oder
55 N. Luhmann: Zeichen als Form, S. 64. 56 Oder wie Saussure schreibt: »Sein Wert ist also nicht bestimmt, wenn man nur feststellt, daß es ausgewechselt werden kann gegen diese oder jene Vorstellung, d.h. daß es diese oder jene Bedeutung hat; man muß es auch noch vergleichen mit ähnlichen Werten, mit anderen Wörtern, die man daneben setzen kann; sein Inhalt ist richtig bestimmt nur durch die Mitwirkung dessen, was außerhalb seiner vorhanden ist.« F. de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, S. 138.
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Beweis einer Einheit, vor allem: des durch Gastfreundschaft erworbenen Status, mit Hilfe von Trennstücken, die zusammenpassen. Also Repräsentation eines Zusammenhangs durch Getrenntes. Im semiotischen Kontext kann es sich nur um die Unterschiedenheit von Bezeichnendem und Bezeichnetem handeln.57
Die symbolische Mystifikation der Form, die zugleich die latente Bedingung jedes Beobachtens ist, beschreibt Luhmann auch an einer anderen Stelle als ein Ersetzen, das die beiden Grenzen der Form, ihren blinden Fleck verdeckt. Das ist zum Beispiel auch der Grund dafür, dass »es in allen gesellschaftlichen Selbstbeschreibungen zwei Blindheiten [gibt], die miteinander korrespondieren: die alle Unterscheidungen transzendierende Welteinheit und der jeweils fungierende Beobachter.«58 Diese Leistung des Symbols, die also dafür sorgt, dass »man nicht sieht, daß man nicht sieht, was man nicht sieht«,59 ermöglicht eine Selbstreflexion, die aber nicht mit der Selbstreferenz der Form zu identifizieren ist. Denn diese Selbstreflexion sollte sich durch Repräsentation gerade aus den Verhältnissen herauslösen, die auch sie konstituieren und ermöglichen. Diese objektivierende Perspektive wird von Luhmann oft mit der Position eines Beobachters erster Ordnung verbunden, denn dies ist die »Ordnung«, in der die Illusion einer vom Beobachter unabhängigen und repräsentierbaren Welt entstehen kann. Von hier aus gesehen ist die Beobachtung zweiter Ordnung »ursprünglicher«, da sie durch das Erkennen der konstruktiven Rolle der Unterscheidungen genau den latenten Vorgängen näher kommt, die das Beobachten und sogar den Beobachter selbst ermöglichen. Nach seinem »funktionalen« Sinn sollte sich also das Symbol auf eine Paradoxie einlassen, die vom Zeichengebrauch erzeugt wird. Obwohl es nicht möglich ist, sich von den paradox-wiederholenden Verhältnissen der Form abzulösen, setzt die Unterscheidung zwischen den beiden – den mystifizierenden und den praktischen – Funktionen des Symbols dennoch voraus, dass durch das Erkennen des Symbols als solchen die Form des Zeichens und seine eigentliche Funktion, d.h. das Zeichen als Medium, reflektierbar werden kann. Besteht die Funktion des Zeichens in seiner eigenen Selbsterhaltung, also im Auseinanderhalten der eigenen Unterscheidungen, die es konstituieren, kann seine Funktion nur in einer Art von Trennung oder Disjunktion zum Vorschein kommen (deswegen wird es »erst durch Symbolisierung möglich, das Zeichen selbst vom Bezeichnenden zu unterscheiden«60).
57 N. Luhmann: Zeichen als Form, S. 67. 58 N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 1110. 59 Ebd. 60 N. Luhmann: Zeichen als Form, S. 67.
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Auch hier könnte man eventuell diese Funktion des Zeichens als Form mit dem sprachlichen Wert von Saussure in Parallele setzen. Und zwar nicht nur, weil es auch bei Saussure der Wert ist, der die Bedingungen der Bedeutungszuschreibung sichtbar machen kann. Den sprachlichen Wert könnte man nämlich ebenso als einen Schnittpunkt eines doppelten und gleichzeitigen Austausches beschreiben, der nachher von den durch ihn Unterschiedenen (von der Opposition des Bezeichnenden und Bezeichneten) verdeckt und vergessen wird. Dementsprechend sollte auch das Sich-Darstellen der Zeichenfunktion selbst in einem ereignishaften Prozess erfolgen. Wie dieses Ereignis oder die Fälle der »Selbstbezeichnung des Zeichens«61 vorzustellen sind, »in denen das Zeichen selbst diese eigene Funktion der Vereinheitlichung des Getrennten bezeichnet«,62 diesbezüglich gibt uns das Zeichen als Form keine Anhaltspunkte mehr. Jedenfalls soll das, worauf das Symbol verweist, unsichtbar bleiben, insofern dieser Sinn operativ unzugänglich ist: [W]orauf der Zeiger verweist, ist unerreichbar; kann nicht in die sequentiellen Ketten von Operationen als eins ihrer Glieder eingefügt werden; wird zum Beispiel als »Sinn« nicht zum Wort. In der Sprache kann eben auf einen Satz nur ein Satz folgen und nie das, was die Sätze meinen, bedeuten, bezeichnen. In dem Maße, als die Sprache dies reflektiert und auch reflektiert, daß sie trotzdem (oder gerade deswegen) funktioniert, wird sie als symbolisches Medium gehandhabt.«63
Dieser Verweis zeigt im Lichte des Bisherigen gerade auf den Kern der Sprache als Differenz von Medium und Form. Aber wie auch immer sich dieses Verweisen vollzieht, lassen die dadurch aufgeworfenen Fragen die einseitige Aufmerksamkeit der Kommunikationssysteme besser verstehen – warum sie ihre eigenen paradoxen Bedingungen vergessen und unsichtbar machen müssen, um ihre Operationen fortsetzen zu können. Das Durchsetzen einer solchen unökonomischen und kontraproduktiven Perspektive kann zwar nicht die Aufgabe der Gesellschaft sein (»die Wissenschaft denkt nicht«,64 könnte man mit Heidegger sagen, und das ist wohl gut so), doch die Konsequenzen geben zu denken (nach Heidegger sind sie sogar bedenklich65). Konsequenzen, nach denen es die Gesellschaft nicht nötig hat, auf ihre Medien zu reflektieren bzw. sich mit ihrer
61 Ebd. 62 Ebd. 63 Ebd., S. 68. 64 M. Heidegger: Was heißt denken?, S. 4. 65 Vgl. M. Heidegger: Die Frage nach der Technik.
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Umwelt, dem Bewusstsein und der Wahrnehmung in Übereinstimmung zu bringen. Es erhöht den Einsatz, dass die Kommunikation strukturellen Kopplungen (der Sprache) ausgesetzt ist, welche die Verbindung mit der Umwelt (deren Irritation im System in Information zu verwandeln ist) als alleinige Instanzen aufrechterhalten. Die »besondere[n] Wahrnehmungsgegenstände«66 wie die Sprache, die Schrift oder die gedruckte Sprache gewährleisten die strukturellen Kopplungen zwischen Bewusstsein und Kommunikation. Die Komplexitätschancen autopoietischer Systeme können sich rasch und abrupt ändern, wenn sich die Bedingungen ihrer operativen und strukturellen Kopplung mit der für sie notwendigen Umwelt ändern; also in unserem Falle: wenn die Prägung des Bewußtseins durch Kommunikation sich neue Möglichkeiten erschließt.67
Obwohl diese Prägungen auf die Bedeutung der materiellen Aspekte der Kommunikation hindeuten können, warnt uns Luhmann davor, das Erforschen dieser Zusammenhänge mit kulturwissenschaftlichen Ansätzen gleichzusetzen. Was die Theorie der Beobachtung zweiter Ordnung mit der Dekonstruktion verbindet, ist nach Luhmann unter anderem die Kritik der Annahme, dass etwas vorliege, was daraufhin zu beschreiben sei […], also die Kritik der unterstellten Unterscheidung von vorliegendem Text und Interpretation bzw. materiellem Objekt und dessen Beschreibung. Die Unterscheidung von Text und Interpretation ist ihrerseits die Unterscheidung eines Textes.68
Die mehrmals differenzierten und verwickelten Verhältnisse der Kommunikation und des Bewusstseins konnten auch schon darauf hinweisen, dass [d]ie Materialität der Texte oder anderer Kunstwerke immer zur Umwelt [gehört] und nie Komponente der Operationssequenzen des Systems werden [kann]. Aber die Operationen des Systems bestimmen, wie Texte und andere Objekte der Umwelt identifiziert, beobachtet, beschrieben werden.69
Auch eine Unterscheidung zwischen Bewusstsein und Kommunikation lässt sich nur durch Interpretation treffen. Wir können also nicht mehr tun, als die Position
66 N. Luhmann: Wie ist Bewusstsein an Kommunikation beteiligt?, S. 117. 67 Ebd., S. 118. 68 N. Luhmann: Die Beobachtung erster und die Beobachtung zweiter Ordnung, S. 160. 69 Ebd., S. 161.
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eines Beobachters zweiter Ordnung einzunehmen und geduldig diese – ihrerseits auch komplexe – Form zu lesen. Aber nicht jede Form bietet die gleichen Chancen für die Reflexion. Wie schon vermutet, ist es die Funktion der Kunst, diese sonst nirgendwo auffindbare Möglichkeit für die Gesellschaft exemplarisch zu gewährleisten.
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Hinsichtlich unserer Fragestellungen empfiehlt es sich, von nun an das System der Kunst in den Mittelpunkt zu stellen, und zwar umso mehr, weil nach Luhmann das Medium der Kunst nichts anderes ist als die Differenz zwischen Medium und Form oder eine Kopplung, die der Kommunikation als eine Sprache vor der Sprache vorausgeht. Laut Das Medium der Kunst lässt sich die Autonomie des Kunstsystems aus der paradoxen Umkehrung des Verhältnisses von Medium und Form erklären, weshalb man auch sagen kann, dass das Medium der Kunst nichts anderes als die Kunst selbst ist. Obwohl diese tautologische Feststellung für jedes System der Gesellschaft gleichermaßen gilt, wird erst hier deutlich, wie untrennbar jedes System von seinem symbolisch generalisierten Medium ist. Die Kunst macht also im Gegensatz zu den anderen Systemen die Wahrnehmung – genauer gesagt die Differenz der Kommunikation zur Wahrnehmung – zu ihrem eigenen Medium. Die Wahrnehmung ist zwar die Bedingung jeder Kommunikation in dem Sinne, dass diese von ihr sozusagen umrahmt wird (gäbe es keine Autoren, gäbe es auch keine Schrift; gäbe es keine Texte, gäbe es nichts zu lesen), aber diese Differenz erscheint in den einzelnen Teilsystemen bereits kodiert, sie wird in eine systemspezifische Unterscheidung, einen spezifischen Code übersetzt. Nicht nur die Massenmedien konstruieren ihre eigene Realität,70 denn außerhalb des jeweiligen Systems gibt es keine Realität oder keinen Bezugspunkt, kraft dessen man die Leistung der Operationen, ihre Codes vergleichen könnte. Der Code steht in engem Zusammenhang mit dem Begriff des Mediums, insofern das Medium als Symbol nur durch eine binäre Unterscheidung artikulierbar wird, die aber als Operation diesen eigenen Sinnhorizont zur gleichen Zeit unsichtbar macht. Der Code, der das jeweilige System charakterisiert und von allen anderen Systemen unterscheidet, lässt sich auch als eine innere Grenze beschreiben, deren Einheit – das Medium des Systems – für den Beobachter, der im System operiert, jeweils latent und unsichtbar ist. Das Medium ist als paradoxe Einheit das aus der binären Logik ausgeschlossene und nur
70 N. Luhmann: Die Realität der Massenmedien, S. 30-31.
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latent anwesende Dritte, das – so wie die Form – in keinen Gegensätzen zu lokalisieren ist, indem es den Operationen nicht nur folgt, sondern ihnen zugleich vorausgeht, es ist zur gleichen Zeit »innerhalb« und »außerhalb« des Systems. Die Differenz der strukturellen Kopplung kann jedoch eine Position bieten, die den Sinnhorizont des Beobachters an eine – in einem tieferen Sinne innere oder radikal äußere – Grenze platziert, von der aus die Prozesse der Systembildung und der Autopoiesis der Systeme beobachtbar werden können. Eine solche Position bietet auch die Kunst, die somit der Gesellschaft nicht gegenüber, sondern vielmehr auf deren innerer Grenze steht. Das Medium der Kunst ist die Differenz zwischen Medium und Form. Es geht also nicht darum, dass die Kunst auf primäre Wahrnehmungsmedien zurückgreift, die sie dann durch spezifische Formbildungen verarbeitet. Der Unterschied zwischen dem Kunstsystem und den anderen Teilsystemen der Gesellschaft ist, dass die Kunst, während andere die Differenz von Form und Medium zu weiteren Formbildungen nutzen, den ganzen Prozess umkehrt: Für sie ist dieselbe Unterscheidung ein Medium und nicht bereits eine Form. Fritz Heider erklärt diese Unterscheidung bekanntlich durch lose und feste Kopplungen von Elementen,71 und auch für Luhmann ist es der Begriff der Kopplung, der diese Unterscheidung gegenüber anderen Unterscheidungen der Systemtheorie auszeichnet.72 Die Elemente sind nicht unabhängig von den Kopplungen, sondern entstehen erst in ihnen. Die Unterscheidung von Form und Medium ist also wiederum nicht ontologisch, sondern relativ in dem Sinne, dass sie selbst eine Form ist – eine Form mit zwei Seiten, die auf der einen Seite, auf der FormSeite, sich selbst enthält. […] Formen, die durch feste Kopplung der Möglichkeiten eines Mediums gebildet werden, unterscheiden sich selbst (Innenseite) von den anderen Möglichkeiten, die das Medium bietet (Außenseite).73
Diese Unterscheidung lässt sich zur Unterscheidung von System und Umwelt als analog sehen; beide sind asymmetrisch und enthalten sich selbst. Doch sie unterscheiden sich in einem wesentlichen Punkt: Die System-Umwelt-Differenz ist weder unmotiviert noch beliebig, denn das Identifizieren eines Systems erfolgt nach konventionellen Codes: »Das Belieben des Beobachters liegt in der Wahl des Systems, von dem er ausgeht, nicht aber in der Frage, was er als System
71 F. Heider: Ding und Medium. 72 N. Luhmann: Medium und Form, S. 167. 73 Ebd., S. 169.
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behandeln kann.«74 Die Differenz von Medium und Form ist hingegen weder konventionell noch motiviert, denn von einer gelungenen Formenkombination ausgehend lässt sich im Prinzip alles (auch die System-Umwelt-Differenz) zum Medium machen. Und genau diese Beliebigkeit der strukturellen Kopplung nutzt die Kunst aus: Sie sucht nach neuen Möglichkeiten der Unterscheidung von Wahrnehmung und Kommunikation, um eine – in dieser Form – noch unlesbare Differenz in ein Medium zu schreiben, das vor dieser Schrift so eben nicht existiert. Kunst kommuniziert zwar nicht durch Sprache, d.h. nicht in wiedererkennbaren Unterscheidungen eines Sinnkontextes oder eines Codes, jedoch ist sie »ein funktionales Äquivalent zur Sprache«75 und insofern von sprachlicher Natur, als sie auch die Rolle der strukturellen Kopplung zwischen Wahrnehmung und Kommunikation spielt, wie dies (auf ihre eigene Art) auch die Sprache tut. Kunst ist daher auch Kommunikation, die der Sprache vorangeht und »wie eine Art von ›Schrift‹ die Differenz von Wahrnehmung und Kommunikation überbrückt«.76 Sie ist eine Art von Schrift, die die Möglichkeit der System-UmweltUnterscheidung auf ihre Arbitrarität zurückführt. Die Kunst hebt die Unterscheidungen der in der Kommunikation etablierten Formen nicht auf, sondern macht sie unsicher und ununterscheidbar, um dadurch eine andersartige Kommunikation in Gang zu setzen. Diese Differenz ist von keinem Code her zu lesen, weist jede kodierte Unterscheidung zurück und zeigt sie als ebenso beliebig auf. Die Autonomie und die unverwechselbare Funktion der Kunst wird zwar ebenso von einer binären Unterscheidung gewährleistet, wie in allen anderen Systemen der Gesellschaft (durch den Positivwert ihres Codes schließen sich weitere Formen an, die die paradoxe Einheit des jeweiligen Mediums entfalten), aber da »die Besonderheit des Kunstsystems im Vergleich zu anderen Funktionssystemen weniger in den Namen der Codewerte [liegt], als vielmehr darin, daß die Asymmetrisierung (Konditionierung, Zeitbildung und Zeitgebrauch) weitgehend dem einzelnen Kunstwerk selbst obliegt«,77 zeigt sie den Code in seiner wesentlich tautologischen Funktion auf: Die einzige Bedingung der Fortsetzung der Kommunikation ist die Fortsetzung der Kommunikation. Solche tautologischen Feststellungen gelten exemplarisch, und nicht nur für das System der Kunst: Luhmanns auf den ersten Blick rätselhaft erscheinende Feststellungen, wie zum Beispiel, dass die Kommunikation kommuniziert oder
74 N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 65. 75 N. Luhmann: Wahrnehmung und Kommunikation, S. 36. 76 Ebd., S. 33. 77 N. Luhmann: Selbstorganisation, S. 306.
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dass sich die Unterscheidung unterscheidet, sind gemeinsame Bedingungen der Kunst und der anderen Systeme der Gesellschaft. Wie der Unterscheidungsgebrauch eines Systems und dessen blinder Fleck nur einem externen Beobachter sichtbar werden kann, der die grundlegende Differenz oder die Paradoxie des Systems erschließt, so kann der Beobachter der Kunst eine Position einnehmen, in der die Beobachtung anderer Systeme und der Welt von ihrer innersten Außenseite her möglich wird. Somit verwirklicht die Kunst beispielhaft die Symbolisierung, die gewissermaßen in jedem System vollzogen wird. Denn erst sie macht die Grenzen der Systeme von ihrer Umwelt unterscheidbar oder anders: Sie hält die Form der System-Umwelt-Unterscheidung und das Medium der Medium-Form-Unterscheidung auseinander. So kann man auch die Funktion der Kunst beschreiben: Sie vertieft den Unterschied zwischen dem Realen (System/Umwelt) und dem bloß Möglichen (Medium/Form). Dabei verdoppelt sich die Realität und tritt in sich selbst wieder ein. Das Verhältnis der beiden Unterscheidungen kehrt sich um, die reale Unterscheidung wird zum Medium und die mögliche zur Form. Das Ergebnis ist ein Sich-Zeigen der Realität in einer Komplexität, die zum Beispiel die Gesellschaft als »ein[en] Riesenbereich überschüssiger Kommunikations- und Handlungsmöglichkeiten« bzw. als »konnexionsloses Medium« erscheinen lässt.78 Ist die Kunst von der Gesellschaft her ein Teilsystem unter anderen, medialisiert sie beide Seiten ihrer selbst und wird zu einem Reflexionsmedium, einer inneren und zugleich äußeren Grenze, die das »Wesen« der Sprache ohne Sprache, jedoch idiomatisch mitteilt. So führt zum Beispiel »das literarische Kunstwerk zur Entdeckung der Sprache und nicht zufällig dann zu einer Verwissenschaftlichung dieser Entdeckung: zu einer Sprachwissenschaft, die sich andere Ziele setzt als nur: die Grammatik zu kontrollieren.«79
2.6 D ER E NTZUG
DES
O RNAMENTS
Durch das Medium des Kunstsystems kann also gezeigt werden, dass die Sprache in der Theorie nur eine scheinbar marginale oder insofern nur eine marginale Rolle spielt, als sie als Form oder Grenze alle weitere Unterscheidungen ermöglicht und die ganze Gesellschaft in ihren tiefsten Grundlagen umrahmt.80 Die
78 N. Luhmann: Das Medium der Kunst, S. 138. 79 Ebd., S. 129. 80 Mit Luhmanns Sprachauffassung hat sich Urs Stäheli in seinem bereits erwähnten Band eingehender auseinandergesetzt. Er formuliert seine Kritik an Luhmanns Theo-
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Bezeichnung »Sprache« ist hier wohl nicht ganz adäquat und sie vereinfacht womöglich auch die Zusammenhänge, die aus der Theorie zu gewinnen sind, denn
rie der Sprache aufgrund einer dekonstruktiven Sprachtheorie von Derrida und stellt dabei vor allem die Vorstellung eines isolierten, als identisch vorausgesetzten und substanziellen Zeichens, die in dieser Auffassung dominiere, in den Vordergrund: »Das Wertkonzept [von de Saussure] zerstört die Illusion, daß ein Zeichen unabhängig von seiner systemischen Position bestimmt werden könnte. Für Luhmann existiert jedoch ein derartiges System, anhand dessen man den Wert bestimmen könnte, nicht. […] Die perfekte continence der Form erfordert die Trennung von vorhergehenden und nachfolgenden Formen. Das Zeichen wird so zur doppelt isolierten Form, das sowohl von der Wahrnehmungswelt wie auch von anderen Zeichen isoliert ist. […] Zwar ist auch bei Luhmann die Form des Zeichens, die aus der Unterscheidung zwischen Signifikant und Signifikat besteht, differentiell gebaut, sie bleibt jedoch stets eine isolierte Unterscheidung – eine Unterscheidung ›in perfect continence‹.« U. Stäheli: Sinnzusammenbrüche, S. 140-142. Wie man sieht, lässt diese Kritik die ganze Problematik der Paradoxie der Form außer Acht, insofern sie nur von einer formgebenden Unterscheidung ausgeht, die dann gerade solche Oppositionen impliziert, die vom differenztheoretischen Formbegriff von Anfang an unterminiert werden. Bemerkenswert und vielsagend ist auch die oppositionäre Struktur, in der die Bezüge der strukturalistischen und systemtheoretischen Sprachauffassungen in der Regel interpretiert werden. Henk de Berg zum Beispiel legt den gleichen Gegensatz von offenen und geschlossenen Zeichenstrukturen zugrunde, er versieht sie nur mit umgekehrten Vorzeichen: »Worin, so ist also zu fragen, liegt denn der Unterschied zwischen der Luhmannschen Kommunikationstheorie und der strukturalistischen These, daß die Bedeutung eines Zeichens aus seiner differentiellen Beziehung zu anderen Zeichen resultiert? […] [Luhmann] postuliert kein übergreifendes System von festen differentiellen Beziehungen, aus dem sich die Zeichenbedeutung herleitet, sondern definiert Differenzen als zeitpunktfixierte Ereignisse. […] Im Gegensatz zur strukturalistischen Position gilt deshalb, daß Zeichen keine Werte einer vorgegebenen Struktur von Differenzen sind, sondern erst über eine ephemer in und durch eine historisch-konkrete Kommunikation konstituierte Differenz Bedeutung erlangen.« H. de Berg: Die Ereignishaftigkeit des Textes, S. 36. Von beiden Autoren werden gegensätzliche, aber korrelative, voneinander nicht unabhängige sprachliche Aspekte in ein oppositionäres Muster geordnet, wobei die Richtungen entweder dem einen oder dem anderen Pol des Gegensatzes zugewiesen werden. Jedoch lassen sich diese Gegensätze (motivierte und unmotivierte Unterscheidung sowie geschlossene und offene Strukturen) – wie es auch bei Luhmann zu beobachten ist – nicht voneinander trennen; sie sind in den Theorien gleichzeitig am Werk.
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Luhmann vermeidet es auffällig, diese – mit Jahraus gesagt – »Ur-Differenz« Sprache zu nennen, auch deswegen greift er auf metaphorische Ausdrücke wie »Sprache ohne Sprache« oder »funktionales Äquivalent zur Sprache« zurück. Dasselbe ist auch der Fall beim Begriff der Schrift: Die Gesellschaft der Gesellschaft stellt die Evolution der Kommunikationsmedien sowie das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit auf ziemlich konventionelle Weise dar; und auch Die Form der Schrift, auf die wir später noch zurückkommen werden, grenzt den »gewöhnlichen Sinn«81 der Schrift von den Grundbegriffen der Systemtheorie deutlich ab. Diese Abgrenzung bleibt nicht ohne Konsequenzen bzw. kann auf mehrere Weisen eine Erklärung finden. Zuerst kann sie nur darauf hindeuten, dass das Medium, das sich in den Formenkombinationen der Kunst abzeichnete und das jedes Kommunikationssystem durch einen doppelten Zug umrahmt (in der »Tiefe« der System-Umwelt-Unterscheidung liegt die MediumForm-Differenz), einerseits nicht von sinnlicher Natur ist, andererseits aber in einem eigentlicheren Sinne mit der Wahrnehmung verbunden ist, insofern das Medium der Formen der Kunst die Distanz der Kommunikation zur Wahrnehmung ist. Wenn dieses universale Medium nicht wahrnehmbar ist, dann stellt sich wiederum die Frage, wie diese an sich nicht beobachtbare und die Beobachtung konstituierende Grenze der Form dennoch beobachtbar wird. Zu der Frage, wie und unter welchen Bedingungen die Selbstbezeichnung – sprich das Medium – des Zeichens in der Kunst erscheinen kann, kann uns der Begriff des Ornaments weitere Anhaltspunkte geben. Im Gegensatz zu den Begriffen der Schrift und der Sprache, die die Kunst eher im übertragenen Sinne beschreiben, verwendet Luhmann den Begriff des Ornaments sowohl im übertragenen als auch im wörtlichen Sinne: Das Ornament kann nicht nur »die Grundform des Entwickelns von Formen aus Formen« und damit das allgemeine Problem der Form, die Wiederholung der Form durch die Form, bezeichnen oder besser: symbolisieren,82 sondern auch der Ursprung der Kunst, der vor der Entstehung des Kunstsystems in dieser Form weder als Frage noch als Bezeichnung existiert, ist nach Luh-
81 N. Luhmann: Die Form der Schrift, S. 350. 82 »Die Grundform des Entwickelns von Formen aus Formen ist das (sehr irreführend so genannte) Ornament. Allen Ornamenten liegt das Problem des Symmetriebruchs zugrunde, also das Problem der Form. Es geht um die Projektierung von Asymmetrien, die noch erkennen lassen, aus welchen Symmetrien sie entstanden sind. Ornamente sind Rekursionen, Rückgriffe und Vorgriffe, die sich als solche fortsetzen.« N. Luhmann: Medium und Form, S. 193-194.
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mann »im Ornament zu vermuten«.83 So wie für die Gesellschaft die Sprache als Sinn das symbolische Medium ist, so ist es für die Kunst das Ornament. Aber auch dieses Medium lässt sich nicht unmittelbar erfassen. Denn – entfaltet man die Paradoxie nach den Gesetzen der Form – vor der Ausdifferenzierung des Kunstsystems sowie vor der Unterscheidung zwischen dem Kunstwerk als Objekt und seinem dekorativen Rahmen gibt es das Ornament als Ornament, als das Gegenteil des Kunstwerks noch nicht. Dafür ist das Ornament nach der Bezeichnung des Kunstwerks als ein Kunstwerk, d.h. nach der Bezeichnung des Kunstwerks durch die Unterscheidung von Ornament und Kunstwerk (die auch die Definition und begriffliche Abstraktion des Rahmens und des Außens des Werkes nach sich zieht bzw. voraussetzt), nicht mehr das, was es ist, da es dadurch zum Produkt einer Unterscheidung wird, die wiederum durch das Ornament entstand. Die bezeichnete Seite der Unterscheidung (also das Werk als ein scheinbar mit sich selbst identisches und abgrenzbares Objekt, das ohne seine »ursprüngliche« Selbstverständlichkeit nun auf Definitionen angewiesen ist) schließt das Ornament als bloße Dekoration nicht nur ein, sondern sie schließt es – diesmal als die nicht zu stabilisierende Differenz zwischen Kunst und Nicht-Kunst – auch aus. Der Sinn, der Ursprung und die Identität eines Werkes liegen in seiner ornamentalen Struktur oder anders: in der Differenz zu seiner jeweiligen Umwelt und seinem Außen, welche Differenz jedoch nicht an sich und nicht im Voraus gegeben ist, da diese »äußere« Unterscheidung oder Form erst in den »inneren« Unterscheidungen entsteht. In der Wahrnehmung, d.h. für einen Beobachter erster Ordnung, ist das Werk als Werk, das von seinem Ornament zusammengehalten wird,84 wortwörtlich nicht zu sehen (»mit dem bloßen Auge erkennt man keine künstlerische Qualität«85). Denn die Unterscheidungen der Form sind
83 »Nimmt man die Theorie der Formkombination als Ausgangspunkt, dann liegt es nahe, den Ursprung der Kunst unter Bedingungen, die keinen entsprechenden Begriff, geschweige denn ein autonomes Kunstsystem kennen, im Ornament zu vermuten. Man könnte einen Vergleich wagen: Was für die Evolution der Gesellschaft die Evolution von Sprache bedeutet hatte, ist für die Evolution des Kunstsystems die Evolution des Ornamentalen«. N. Luhmann: Die Funktion der Kunst, S. 348-349. 84 »Das Ornament erzeugt seinen eigenen imaginären Raum durch eine laufende Verwandlung von Formgrenzen in mehrdeutige Übergänge. Es verhindert den Zerfall des Kunstwerks in einzelne Gestalten, denen man sich zuwenden, von denen man sich abwenden kann. Oder anders gesagt: es hält ein Kunstwerk zusammen, ohne an dessen figurativer Einteilung teilzunehmen, und eben dadurch.« N. Luhmann: Medium und Form, S. 195. 85 N. Luhmann: Die Beobachtung erster und die Beobachtung zweiter Ordnung, S. 133.
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nicht im Voraus kodiert; diese Unterscheidungen müssen zuerst selbst als Beobachtungen (Unterscheiden von Unterscheidungen) vollzogen werden: Beobachten zweiter Ordnung ist ein Unterscheiden von Unterscheidungen – aber nicht so, daß man einfach Unterscheidungen nebeneinanderstellt […]. Vielmehr muß das unterscheidend beobachtete Unterscheiden in seinem operativen Gebrauch beobachtet werden, das heißt mit den Merkmalen, die wir soeben für den Begriff des Beobachtens festgelegt haben – also: Simultaneität des Unterscheidens und Bezeichnens (im Auge behalten der anderen Seite) und rekursive Vernetzung in einem Vorher und Nachher weiterer Beobachtungen, die ihrerseits wieder unterscheidende Bezeichnungen sein müssen.86
Sowohl die Interpretation als auch das davon untrennbare Ereignis des Kunstwerks vollziehen sich in ornamentalen Strukturen, oder genauer: Das Werk ereignet sich erst durch die Ausführung seiner performativen Anweisungen. Das Werk hat in diesem Sinne weder äußere und von vornherein gegebene Grenzen noch ist es eine geschlossene Einheit, in der seine Identität verborgen liegt. Diese werden erst durch die beobachtende Entfaltung und permanente Verschiebung der Paradoxie des Kunstwerks erzeugt.87 Die Interpretation endet und beginnt mit dem blinden Fleck des Werkes: Durch die performative Differenz von Wahrnehmung und Kommunikation wird eine Kommunikation in Gang gesetzt, wobei der Beobachter nach Unterscheidungen sucht, die dieser Differenz entsprechen (die also kein Unterschied ist, sondern zur Unterscheidung gemacht werden soll) und sie dadurch verschieben und entfalten; und wodurch der Beobachter der Forderung des Werkes gerecht wird bzw. seine Forderung erfüllt. Der Weg der Beobachtung führt im Medium des Werkes durch die permanente Aktualisierung der Formen zur jeweilig anderen Seite der Unterscheidung und der Entdeckung desselben Mediums und stellt somit einen komplexen Verweisungszusammenhang her, der durch die Unterscheidung von Medium und Form wiederum sich selbst erschließt. Eine aktualisierte Form kehrt in einem anderen Zusammenhang als Medium zurück, die Formen werden wechselseitig voneinander getragen und erschlossen, bis schließlich die eine Seite der Unterscheidung als Kehrseite einer anderen erscheint – zwei Unterscheidungen als die beiden Seiten derselben Differenz. Dabei bleiben die Einheit sowie der Sinn des Kunstwerks unerreichbar.
86 Ebd., S. 101-102. 87 N. Luhmann: Wahrnehmung und Kommunikation, S. 71.
72 | D IFFERENZEN DES S PRACHDENKENS Was man aber erreichen kann, ist: mit Hilfe einer Unterscheidung andere Unterscheidungen zu beobachten. Im Ergebnis entsteht dann ein Werk, das die eigene Form (Unterscheidbarkeit) dadurch gewinnt, daß es intern aus Formen (Unterscheidungen) besteht, die sich wechselseitig auf beiden Seiten spezifizieren können.88
Wir brauchen nun nicht alle Aspekte dieser Kunsttheorie zu rekapitulieren, um zu zeigen: Die Erfahrung der Kunst ist letztendlich nichts anderes als die Erfahrung des Ereignisses der Form, der gleichzeitigen Korrelation von Unterscheidung und Bezeichnung, insofern das Kunstwerk den Beobachter dorthin zurückführt, wo die Beobachtung erst möglich wird, wo die Beobachtung als Form entsteht. In der Kunstkommunikation begegnet der Beobachter nicht mehr den sinnlichen Symbolen, die in anderen Systemen der Gesellschaft im Umlauf sind – Symbolen, die durch Mystifikationen oder Verdecken des doppelten blinden Flecks in der Beobachtung erster Ordnung entstanden und so wahrnehmbar wurden; deren illusorisch natürliche Sinnlichkeit der Beobachter zweiter Ordnung dadurch enthüllt, dass er zwischen Operation (Unterscheidung) und deren paradoxer Möglichkeit (ihrem Medium) unterscheidet, wobei die Symbole als Formen wieder lesbar werden. Denn in der Form des Kunstwerks sind die Operationen nicht wiederzuerkennen, die auf ihr Medium, auf ihre Paradoxie oder genauer: auf die gesellschaftlichen Probleme zurückführen könnten, die in der Regel von der mystifizierenden Arbeit der Symbole behandelt werden sollen. Das Symbol ist in der Kunst nicht von sinnlicher Natur und kann nicht sinnlich werden; die Spur seiner Paradoxie kann nicht durch Bezeichnung in Vergessenheit geraten (»Auch wenn das Unbeobachtbare unbeobachtbar bleibt, ist es wichtig, daran zu erinnern«89), sondern es bleibt, was es ist: eine sich selbst permanent entziehende Differenz, die nicht einmal die Formenkombinationen restlos auflösen und dadurch zum Erscheinen bringen können. Das Symbol bietet in der Kunst die Erfahrung einer Unmöglichkeit oder die Erfahrung der Unmöglichkeit der Erfahrung, denn »[d]as, was als Kunstwerk entsteht und zu sehen ist, ist die Entfaltung der jeweils eigenen Paradoxie, ist die Substitution von aufeinander bezogenen Formen für das, was als Einheit nicht beobachtet werden kann.« Oder: »Was immer in der Kunst zu beobachten ist, ist mithin die Entfaltung einer Paradoxie, die sich ihrerseits der Beobachtung entzieht.«90 Dies kann unter anderem wiederum bestätigen, dass das Beobachten zweiter Ordnung strukturell »ursprünglicher« ist als das Beobachten erster Ordnung, bzw. dass der sinnlichen
88 Ebd., S. 64. 89 Ebd., S. 74. 90 Ebd.
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Wahrnehmung, die mit der Perspektive des letzteren zu verbinden war, eine latente Ebene der Form vorausgeht, die nur dem Beobachten zweiter Ordnung – durch nachträgliche Konstruktion eines Ursprungs – zugänglich wird.
2.7 Z WISCHEN R EPRÄSENTATION UND E NTZUG – DER B RUCH IM B EGRIFF DES M EDIUMS Aber wie lässt sich dieser sich entziehende und nicht-repräsentierbare Charakter des Mediums, der sich für diese Ästhetik nur durch Widerstand der Erfahrung melden kann, mit den symbolisch generalisierten Medien vereinbaren, bei denen »das Symbol den Wiedereintritt einer Unterscheidung in das durch sie Unterschiedene faßbar [macht]«,91 wobei also dieselbe Figur – ganz im Gegenteil – das System für sich selbst repräsentiert? Obwohl diese miteinander unversöhnlichen Begriffe des Mediums in der Fachliteratur selten auf analytische Weise problematisiert werden,92 können systemtheoretisch motivierte Ansätze das Problem nicht umgehen, dass diese Unterschiede miteinander unverwechselbare sprachtheoretische Positionen implizieren. Es scheint nämlich, dass es nicht zwei, sondern mindestens drei Ebenen der symbolischen Repräsentation gibt, die bei den paradox konstituierten Medien zu unterscheiden sind.
91 N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 189. 92 Dirk Baecker versucht zum Beispiel, nachdem er die Spannung der Medienbegriffe bei Heider und Parsons aufgezeigt hat, die Differenz in einer »Medienmatrix« aufzulösen. Vgl. D. Baecker: Beobachtung mit Medien. Jan Künzler kritisiert die marginale Rolle der Sprache bei Luhmann von den sprachtheoretischen Voraussetzungen der analytischen Philosophie her. Die inkonsistente Unterscheidung der Sprache und der Kommunikationsmedien lässt sich nach Künzler durch Luhmanns falsche Auffassung des logischen Widerspruchs erklären: »Entgegen Luhmanns Verständnis handelt es sich bei den Grundlegenden Prinzipien der Logik, dem Satz vom Widerspruch (principium contradictionis), dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten (tertium non datur) und dem Prinzip der doppelten Verneinung (duplex negatio est affirmatio) um allgemeine Sinnbedingungen.« J. Künzler: Grundprobleme der Theorie, S. 330. Jedoch erweist sich für Luhmann die Auffassung des Widerspruchs innerhalb der Disziplin der Logik aus mehreren Gründen als unzureichend. Dass Luhmann das Paradoxieverständnis der rhetorischen Tradition für fundamentaler hält als das der Logik (vgl. N. Luhmann: Reden und Schweigen, S. 8), deutet auf eine grundlegend andere Sprachauffassung als die der analytischen Philosophie.
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In der Beobachtung erster Ordnung lässt sich die Bezeichnung vom Symbol nicht unterscheiden, sinnliche Symbole lassen sich mit den Dingen der Welt vertauschen. Diese Phänomenalität wird von der Beobachtung zweiter Ordnung nicht einfach enthüllt oder modifiziert, denn [d]ie unmittelbar gegebene Welt läßt sich nicht eliminieren. […] Man kann sehr wohl wissen, daß der eigenen Imagination keine wirkliche Welt entspricht, so wie man bei optischen Täuschungen die Täuschung sozusagen wegwissen kann, aber sie trotzdem sieht. Aber selbst dann folgt man noch einem Erleben, das die Welt, wie sie sein könnte, annimmt. Keine Modifikation kann an diesem Grundsachverhalt ändern.93
Die Perspektive der Beobachtung erster Ordnung wird von der Beobachtung zweiter Ordnung sozusagen dialektisiert. Was diese Beobachtung eines anderen Beobachters beobachten kann, sind »dessen blinden Fleck, dessen Apriori, dessen ›latente Strukturen‹«,94 deswegen nennt Luhmann diese Art der Beobachtung »Latenzbeobachtung«.95 Was in dieser zweiten Ordnung als Latenz erkannt wird, hängt natürlich auch von der eigenen Position, also der Operation in der ersten Ordnung ab, deshalb schreibt Luhmann, dass »die Welt des Möglichen eine Erfindung des Beobachters zweiter Ordnung [ist], die für den Beobachter erster Ordnung notwendig latent bleibt.«96 Die Latenz bezeichnet hier wohl bzw. ist ein anderer Name für das symbolisch generalisierte Medium, in dem die Unterscheidung noch einen Hinweis auf ihren eigenen Ursprung enthält: So weist auch das Zeichen auf seine Funktion oder ein Symbol hin, das zwar latent anwesend ist, doch sich erkennen und in die Form einer Frage oder eines Problems bringen lässt. »In all diesen Fällen läßt sich der Paradoxieauflösungsvorgang als solcher (und damit: mit noch erkennbarem Paradoxiebezug) beschreiben. Soll er operativ anschlußfähig und verwendbar werden, bedarf er der ›Mystifizierung‹ – der Symbolisierung.«97 Dieses latente Medium oder Symbol ist zwar nicht mehr von sinnlicher Natur, aber immer noch referenziell in dem Sinne, dass man hierbei – im Gegensatz zum Vergessen der Mystifizierung – nicht nur das sieht, »daß man nicht sieht, was man nicht sieht«,98 sondern auch den sinnhaften Bezug, in dem »das Zeichen selbst diese eigene Funktion der Ver-
93 N. Luhmann: Die Beobachtung erster und die Beobachtung zweiter Ordnung, S. 93. 94 N. Luhmann: Reden und Schweigen, S. 11. 95 N. Luhmann: Die Beobachtung erster und die Beobachtung zweiter Ordnung, S. 138. 96 Ebd., S. 104. 97 N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 190. 98 N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 1110.
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einheitlichung des Getrennten bezeichnet.«99 Dieses Zeichen (oder das Medium oder eine Paradoxie) bewahrt insoweit seine Phänomenalität, als es weiterhin zu bezeichnen ist (und zwar durch das Symbol), denn »eine Selbstbezeichnung des Zeichens«100 und somit die Bezeichnung des Zeichens sind keine Zeichen mehr, sondern Symbole. Dies lässt sich von der Selbstbezeichnung der Kunst, vom Ornament nicht mehr sagen. In diesem Fall wird sogar die Möglichkeit der Unterscheidung fraglich, die die inneren und die äußeren oder die wiederholten und die wiederholenden Grenzen der Form voneinander unterscheidet. Denn sie ist nach der Charakterisierung des Mediums der Kunst nichts anderes als die Gleichzeitigkeit eines blinden Flecks und einer nicht beobachtbaren Differenz, die nicht die Frage entscheidet, ob »die Unterscheidung, die in sich selbst wieder vorkommt und anders gar nicht vorkommen kann, dieselbe oder nicht dieselbe Unterscheidung [ist]«.101 Folglich muss es auch eine Latenz geben, die den symbolisch generalisierten Medien vorausgeht und auf die die Beobachtung zweiter Ordnung keinen Zugriff mehr hat, weil diese Latenz tiefer oder »äußerer« ist als die Form, die durch das Symbol – wenn auch nur als eine Ununterscheidbarkeit – aber immer noch repräsentierbar ist. Auf die latente Möglichkeit, dass die Selbstbezeichnung des Zeichens vielleicht selber ein Zeichen ist, dass jene die Kommunikation durchdringende Differenz (»Eine Kommunikation teilt die Welt nicht mit, sie teilt sie ein«102) eine sich permanent verschiebende Zäsur ist, die sich, auch wenn sie in der Kommunikation thematisiert wird, immer woanders befindet, als wo sie bezeichnet oder erfahren wird, deuten bei Luhmann nicht nur die kunsttheoretischen Schriften und die wiederholten Definitionen der Form, sondern auch andere Texte hin. In Soziale Systeme grenzt Luhmann die beiden Funktionen der (hier noch »Widerspruch« genannten) Paradoxie durch die Unterscheidung von Autopoiesis (Operation) und Beobachtung voneinander ab: Für die autopoietischen Operationen (»die immer weiterlaufen müssen, wenn Beobachtung überhaupt möglich sein soll«103) ist der Widerspruch eine Tautologie, »pure Selbstreferenz«104 oder »eine Form, die es erlaubt, ohne Kognition zu reagieren.«105 Luhmann schreibt:
99 N. Luhmann: Zeichen als Form, S. 67. 100 Ebd. 101 N. Luhmann: Die Paradoxie der Form, S. 200. 102 N. Luhmann: Reden und Schweigen, S. 7. 103 N. Luhmann: Soziale Systeme, S. 491. 104 Ebd., S. 493.
76 | D IFFERENZEN DES S PRACHDENKENS Der Widerspruch scheint, ähnlich wie der Schmerz, eine Reaktion auf ihn selbst zu erzwingen oder doch sehr nahezulegen. Um anschließen zu können, ist es nicht nötig, daß man das, was dem Gewohnten widerspricht, kennt; daß man das Widersprechende in seinem Eigenrecht würdigt.106
Dieser kognitiv unkontrollierbaren und Operationen automatisierenden Reaktion setzt Luhmann ihre blockierende Folge in der Beobachtung entgegen. Dies impliziert aber auch, dass die Paradoxie nur tautologisch zu bezeichnen ist (»wobei die Tautologie, die die Selbigkeit des in der Aussage Unterschiedenen behauptet, ebenfalls eine Paradoxie ist«107) und dass es deshalb unmöglich ist, die Selbstreflexion zu artikulieren; was letztendlich die Unmöglichkeit der Synchronisierung von Operation und Beobachtung sowie Ausdruck und Erfahrung zur Konsequenz haben könnte. Im Gegensatz zu den »mystifizierenden« und »funktionalen« Aufgaben des Symbols wird die Spannung, die zwischen seinem repräsentierenden und sich entziehenden Charakter und somit zwischen dem System der Kunst und den anderen Gesellschaftssystemen entsteht, von Luhmann nicht thematisiert. Die Beschreibung bewegt sich zwischen diesen heterogenen Ebenen der Repräsentation unbemerkt und lässt mithin die daraus resultierenden Medienbegriffe miteinander vertauschen. Was solche unbemerkbaren Differenzen zur Folge haben bzw. wie sie die systemtheoretische Beschreibung ablenken können, werden wir zuerst an den Begriffen der Geschichte und des Ereignisses und schließlich am Medium der Schrift zeigen.
2.8 D AS
GESCHICHTLICHE E REIGNIS ALS M EDIUM DER G ESCHICHTE
»Semantiken«, »Selbstbeschreibungen« und selbstreflexive Begriffe der gesellschaftlichen Kommunikation sind also für Luhmann im Kontext von medialen Veränderungen als Antworten und Reaktionen auf die jeweiligen Probleme und Paradoxien eines Systems zu verstehen. »Kultur«, »Staat«, »Geschichte« oder »Revolution« sind in diesem Sinne selbstreflexive Begriffe, die diese Probleme jeweils in anderer Form überwinden. So kann zum Beispiel die Geschichte als eine die Gegenwart von der Vergangenheit unwiderruflich trennende Zäsur
105 Ebd., S. 505. 106 Ebd. 107 N. Luhmann: Reden und Schweigen, S. 8.
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durch geschichtliche Ereignisse symbolisiert werden, die ihrerseits wiederum und erst durch die sinnstiftende und vereinheitlichende Differenz dieser Zäsur an Bedeutung gewinnen. »Geschichte entsteht, wenn gesellschaftliche Ereignisse im Hinblick auf die Differenz von vorher und nachher (also Ereignisse, und schärfer: als Zäsuren) beobachtet werden« sowie erst »die Differenz des Vorher und Nachher es möglich [macht], die Einheit des Differenten« – schon als gesellschaftliches Ereignis – »zu feiern. Selbst die ›Revolutionen‹ der Neuzeit können auf diese Weise Geschichte machen, als Erfolg für den Menschen oder als Erfolg von Ideen.«108 Ähnlicherweise symbolisieren den Staat im Staat die Begriffe der Utopie und der Revolution, die als Negationen der bestehenden Ordnung seine jeweilige Paradoxie auflösen: Utopien beziehen sich auf ein Staatsgebiet außerhalb des Staatsgebiets, das sich aber »nirgendwo« finden läßt, also ebensogut im Staatsgebiet vermutet werden könnte. Die oben/unten-Differenz und die innen/außen-Differenz werden benutzt – und sabotiert, um die Negation der vorhandenen Ordnung in diese einzubringen und zu verdecken, daß eben dies impliziert ist.109
Zum Begriff der Revolution bezieht sich Luhmann auf einen Handbuchartikel von Reinhart Koselleck, der im Wort »den Doppelsinn einer Rückkehr zum ursprünglich-besseren Zustand und eines gewaltigen Umsturzes« aufzeigt.110 Kurz danach stellt Luhmann fest, dass im Gegensatz dazu das Wort nach der Französischen Revolution einen neuen Sinn gewinnt: Jetzt wird Revolution zu einer Zäsur, die die alte und die neue Gesellschaftsordnung trennt; also zu einer Form von Unterscheidung, die eine Selbstbezeichnung der modernen Gesellschaft ermöglicht, ohne daß man dabei sachliche Sinngrenzen (etwa: System/Umwelt-Beziehungen) definieren müßte.111
108 N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 573. 109 N. Luhmann: Die Politik der Gesellschaft, S. 205-209. 110 Ebd., S. 208; Vgl. noch: »Das macht einen neuen Sinn des Begriffs der ›Revolution‹ verständlich, der erst, gleichsam als Selbstbezeichnung der Geschehnisse, während der Französischen Revolution entsteht. Das Wort war seit langem geläufig gewesen – teils zur Bezeichnung einer (beabsichtigten) Rückkehr zur guten alten Ordnung, teils zur Bezeichnung eines gewaltsames Umsturzes.« N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 1071. 111 Ebd.
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Jedoch steht diese Definition als Form einer Unterscheidung nicht im Gegensatz zum widersprüchlichen Sinn, den Koselleck im Wort entdeckt. Die aus dem Widerspruch entfaltete Spiralmetapher ließe sich sogar auch in diesem Zusammenhang, in der zirkulären Struktur der selbstreferenziellen Form, beschreiben. Die widersprüchliche Semantik des Begriffs wird von Koselleck über einen begriffsgeschichtlichen Umweg entfaltet, der auch in seiner Beschreibung eher an ein Symbol als an eine Metapher erinnert, an ein Symbol, das durch metaphorische Verschiebungen entsteht. Nach dieser Geschichte erhielt der ursprüngliche Sinn des Wortes – »zunächst meinte das Verb ›wegwälzen‹ – etwa den Stein von Christi Grab«112 – schon in der Astronomie einen viel allgemeineren Sinn, den von »Umwälzung« und »Rückkehr«. Der naturwissenschaftliche Diskurs trennt also von der empirischen Erfahrung einen verallgemeinerten Rahmen ab, den sich nachher die Geschichtswissenschaft als Reflexionsrahmen leiht: Die Metapher verblaßt und setzt einen Revolutionsbegriff frei, der als genuin geschichtlich bezeichnet werden darf. Der Kreislauf der Gestirne ermöglichte metaphorische Anleihen, um der Geschichte in einem erborgten Gewände neuen Sinn abzugewinnen, genauer gesagt, um die Geschichte als Revolution zu entdecken.113
Unter dem geborgten Gewand, das der Geschichte eine symbolische, zugleich repetitive und teleologische, singularisierende und verallgemeinernde Verfassung verleiht, werden [d]ie einzelnen Handlungen und Ereignisse […] in langfristige Zusammenhänge gestellt, die sich mit einer quasi naturalen Notwendigkeit abwickeln. Was als Bürgerkrieg sinnloses Morden war, erhielt durch den Begriff Revolution eine überhöhte Notwendigkeit, die die Einzelfälle in langfristige Verläufe einrückte und so begreiflich machte.114
Die geschichtliche Reflexion erhebt die Geschehnisse, die an sich keine über sich hinausweisende Bedeutung haben, zu einem unwiederholbaren und deshalb wiederholbar beispielhaften und allgemeinen, zugleich irreversiblen und reversiblen Ereignis. Das heißt zu einem Symbol, das die determinierten und latenten historischen Vorgänge in einen Augenblick verdichtet, der diese repräsentiert und zum ersten Mal zum Erscheinen bringt.
112 R. Koselleck: Revolution als Begriff, S. 246. 113 Ebd., S. 251. 114 Ebd., S. 246.
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Allem Wandel ins Neue hinein zum Trotz kehren die gleichen Grundmuster menschlichen Verhaltens und menschlicher Organisation wieder – was die Revolution auszeichne, ist nur, daß sie den Durchgang mit wachsender Geschwindigkeit zurücklege. Beschleunigen läßt sich nur, was sich im Ablauf der Zeit sowieso einstellt. Und das Vorweggewußte orientiert sich an der Einholbarkeit des bereits Gewußten.115
Auch die Beschreibung Kosellecks lässt also darauf schließen, dass in diesen »Semantiken« der symbolische Rahmen der Revolution eine Paradoxie entfaltet, wobei er das Grundproblem der historischen Reflexion verdeckt. Der Wiedereintritt der Geschichte in die Geschichte muss mithin alle Konsequenzen der Paradoxie der Form nach sich ziehen: Die Geschichte selbst, die erst in der Beobachtung und durch sie als Form entsteht, bleibt als Grenze, die diese Beobachtung ermöglicht, unsichtbar. Das Symbol des historischen Ereignisses repräsentiert diese Grenze als Geschichte, indem es sie invisibilisiert. Folgte man den Gesetzen der Form, ließe sich auch feststellen, dass Ereignisse nur in dem Maße von der Vergangenheit trennen und den Anfang von etwas Neuem bezeichnen, indem sie diese Vergangenheit – ähnlich einer Unterscheidung, die in der Form ihren eigenen Ursprung wiederholt – zum ersten Mal zeigen, wodurch sie aber eben die Möglichkeit des Vergleichs der Gegenwart mit der Vergangenheit (der beiden Seiten der Form) untergraben. Obwohl ein Ereignis nur im Vergleich zu seiner eigenen Vergangenheit, seiner Vorgeschichte als ihrer Bedingung einen Ereignischarakter hat, wird diese Unterscheidung zwischen Gegenwart und Vergangenheit erst durch das Ereignis selbst, durch die nicht beobachtbare Zäsur ermöglicht, die in die historische Erfahrung eingeschrieben und als Differenz hinterlassen wird. Die tautologische Struktur des symbolischen Ereignisses kann durch das selbstreferenzielle Funktionieren der Form genauer artikuliert werden – die spiralhafte Zeit des revolutionären Ereignisses vertauscht die Unterscheidung des Vorher und Nachher und bringt sie ohne Bezugspunkt in Bewegung; sie aktiviert eine Differenz, die die sich entfaltende Unterscheidung innerhalb der Form als ihren Gegenpol für ihre Selbstlegitimierung und Selbsterhaltung benutzt. Aber Luhmann geht bei der Interpretation symbolischer Begriffe nicht so weit, er lässt die Begriffe nicht über ihre symbolischen Grenzen hinaustreten. Deswegen kann auch nicht sichtbar werden, dass die verschiedenen Funktionen des Symbols, also seine repräsentierende und selbstreflexive Funktion auf der einen Seite und sein sich entziehender und unrepräsentierbarer Charakter auf der anderen Seite, miteinander unvereinbare Geschichts- und Sprachauffassungen implizieren. In der systemtheoretischen Beschreibung lösen sich diese »Semanti-
115 Ebd., S. 248.
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ken« in der Evolution der Systeme ab und sind jeweils an einen engeren geschichtlichen Kontext gebunden. Ein offensichtlicher Grund dafür ist, dass die Aufgabe der symbolischen Selbstreflexion in der Praxis der gesellschaftlichen Kommunikation nach Luhmann eher in der Mystifizierung, der Invisibilisierung der Grenzen sowie der Fortsetzbarkeit der Autopoiesis als in der blockierenden Beobachtung von Paradoxien besteht. Warum der der Repräsentation widerstehende Charakter des Mediums und damit die weitreichenden Konsequenzen, die sich aus der Beschreibung des Mediums der Kunst ergeben, in anderen Analysen Luhmanns nicht zur Geltung kommen, kann vielmehr das Medium der Schrift erklären.
2.9 U NWAHRNEHMBARE SPRACHLICHE E REIGNISSE – DAS M EDIUM DER S CHRIFT Die exemplarisch reflexiven Funktionen der Kunst sind also zum einen einer Position zu verdanken, von der aus die für jedes System grundlegende Differenz zwischen Wahrnehmung und Kommunikation wieder in ihrer eigentlichen »Seinsweise«, nämlich als ein nicht beobachtbares Medium erkennbar und nicht mystifiziert und in der System-Umwelt-Unterscheidung aufgehoben wird. Zum anderen hat diese Beobachterperspektive, in der die gewohnten Formbildungsprozesse umgekehrt werden, eine viel wesentlichere Bedingung: Schreibt die Kunst ihre Formen nicht nachträglich in ein bereits vorhandenes Medium ein, ist die Fixierung nicht nachträglich im Vergleich zu ihrem Medium, dann kehrt diese Art von Beobachtung auf nichts anderes als die Fixierung selbst, auf das Moment der formbildenden Wiederholung, zurück. Die Möglichkeit dieser Umkehrung ist wohl nicht unabhängig vom spezifischen Medium der Kunst, der Wahrnehmung oder genauer: von der wiedergewonnenen Distanz der Kommunikation zur Wahrnehmung. Es besteht aber weiterhin die Frage: Worauf kann man hier zurückkommen und was ist es eigentlich, was in der Kunst wiederholbar und als Kommunikation zu beobachten ist? Inwiefern modifiziert es die Theorien des Lesens, wenn wir den Begriff des Textes »zur Annahme von interpretationsbedürftigen Objekten irgendwelcher Art [erweitern]«,116 wodurch »aus ›Lesen‹ ›Beobachten‹ [wird]«?117 Luhmann beantwortet diese Fragen in der Regel durch die Beobachtung der Beobachtung, also die Theorie der Beobachtung zweiter Ordnung, wie zum
116 N. Luhmann: Die Beobachtung erster und die Beobachtung zweiter Ordnung, S. 160. 117 Ebd.
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Beispiel eine der wenigen Textstellen zeigen kann, in denen die Frage der Fixierung als Bedingung der Wiederholung explizit thematisiert wird: Ohne Formfixierung im Werk, ohne Bereitstellung für erneute Aktualisierung durch andere Beobachter käme diese Art Kommunikation nicht zustande. Sie muß, ähnlich wie Sprache durch Schrift, abspeicherbar sein. Das darf nicht so verstanden werden, als ob identische Reproduktion (Konsens und all das!) beabsichtigt sei. Allein schon die Tatsache, daß die Sequenzen der Beobachtungsoperationen während des Herstellungsprozesses und bei der Betrachtung des fertigen Werkes sich zwangsläufig unterscheiden, sorgt dafür, daß es zu keiner inneren Übereinstimmung kommen kann – und doch zu Kommunikation! Was das Kunstwerk garantieren kann, ist das laufende Beobachten von Beobachtungen, also das Beobachten zweiter Ordnung.118
Von der Theorie her ist diese Antwort durchaus konsequent, denn nach ihr sind vor oder hinter den Unterscheidungen weitere Unterscheidungen und nicht Substanzen oder Identitäten zu finden. Jedoch kann die erste und die zweite Ordnung der Beobachtung nur zwischen den mystifizierenden und den paradox erscheinenden Ebenen der Symbole unterscheiden. Dagegen wird die Differenz zwischen den Aspekten, die der Repräsentation widerstehen, und denen, die sich in die Repräsentation fügen, »mystifiziert« oder verdeckt. Denn wie »speichert« denn die Schrift die Sprache? Natürlich geht es auch bei Luhmann »nicht um eine Repräsentation von Einheiten, sondern um eine Neukonstruktion von Differenzen. Nicht die Laute, die Unterschiede der Laute werden schriftlich fixiert.«119 Schrift ist für Luhmann ein symbolisches Medium, das in der Evolution der Kommunikationsmedien die Symbolisierung der Sprache und ihre objektivierende Reflexion zum ersten Mal ermöglicht. Während die Sprache ganz allgemein ihre Form als Differenz von Laut und Sinn findet, ermöglicht die Schrift eine Symbolisierung genau dieser Differenz in einem anderen Wahrnehmungsmedium, im Medium der Optik. […] Schriftzeichen bringen die Einheit einer Unterscheidung zum Ausdruck, und zwar so, daß mit der Einheit weiter operiert werden kann, also andere Unterscheidungen getroffen werden können.120
118 N. Luhmann: Wahrnehmung und Kommunikation, S. 89. 119 N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 255. 120 Ebd., S. 255-256.
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Gehen wir bei der Interpretation des Verhältnisses von gesprochener Sprache und Schrift nicht von dem Verständnis des Symbols aus, nach welchem es eine differenzielle Einheit repräsentiert, sondern von dem Medienbegriff, den die Definition der Form und die Beschreibung des Mediums der Kunst voraussetzten, also dem Medium als Ornament oder doppelter blinder Fleck, kommen wir zu einer Beschreibung, die von der zitierten wesentlich verschieden ist. Demnach müssen nämlich auch die Operationen der gesprochenen Sprache über die Unterscheidung von Laut und Sinn hinaus eine unüberschreitbare Grenze oder Differenz voraussetzen, die sie wiederholen bzw. erst in dieser Wiederholung »setzen«. Die zitierte Textstelle trennt die Operationen der Schrift und der Sprache aufgrund der vorher beschriebenen Unterscheidung von Bewusstsein und Kommunikation: Weder die Wahrnehmung noch die gesprochene Sprache können die Differenz, die ihnen vorausgeht, bezeichnen oder symbolisieren, wozu sie erst durch die Sprache fähig werden (»[e]rst Sprache zwingt das Bewusstsein dazu, Bezeichnendes und Bezeichnetes und in diesem Sinne: Selbstreferenz und Fremdreferenz kontinuierlich auseinanderhalten und trotzdem gemeinsam zu prozessieren«121). Die Unterscheidung von Wahrnehmung und Kommunikation wiederholt sich innerhalb der Kommunikation im Verhältnis von schriftlicher und gesprochener Sprache. Aber wenn der Beobachter aus den Verhältnissen der Form, die ihn konstituieren, nie hinaustreten kann (denn er entsteht durch die Form, auch wenn er mit ihr nicht identisch ist), können die Wahrnehmungsmedien miteinander nicht verglichen werden: Die Symbolisierung derselben Differenz führt in einem anderen Medium zu anderen Differenzen, ist nicht mehr dieselbe Differenz. Die Möglichkeit des Vergleichs könnten auch manche Behauptungen in Die Form der Schrift in Zweifel ziehen, zum Beispiel die, dass »die Form der Schrift im Bereich der Kommunikation die Unterscheidung von mündlicher und schriftlicher Kommunikation [ist].«122 Denn die Möglichkeit des Vergleichs beruht auf den – an selbstreflexiven Semantiken erst im Nachhinein erkennbar werdenden – Konsequenzen der Verbreitung des Buchdrucks, d.h. auf einem geschichtlichen Ereignis, das den Weg zu seinem eigenen Ursprung und seiner Vorgeschichte unwiderruflich verschließt: Denn wenn Kommunikation die autopoietische Operation ist, die die Gesellschaft aus ihren eigenen Produkten reproduziert, ist das Konzept der Kommunikation selbst eines dieser produktiven Produkte. Der Beginn der Schrift und vor allem der Beginn des
121 N. Luhmann: Wahrnehmung und Kommunikation, S. 19. 122 N. Luhmann: Die Form der Schrift, S. 352.
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Druckes mag das System der Kommunikation in einer Weise verändert haben, die ein neues Verständnis von Kommunikation erfordert, und ein neues Verständnis verlangt eine Neuformulierung von Konzepten. Die Frage ist daher: Wie kann das gesellschaftliche System sich selbst beschreiben, indem es seine autopoietische Operation als Kommunikation beschreibt, wenn dies schriftliche Kommunikation einschließt?123
Schrift verändert zweifellos die Erfahrung der Sprache: »Mit der Einführung von Schrift wird die Zeichenhaftigkeit, die Worthaftigkeit, der Abstand der Worte, ihre Kombinatorik (Grammatik), kurz: die Distanz zur Welt zum Problem, das in der Kommunikation reflektiert wird«.124 Sind das geschichtliche Ereignis der Einführung der Schrift sowie der Verbreitung des Buchdrucks Ereignisse im oben genannten Sinne, Zäsuren oder Grenzen und nicht bereits Symbole, kann im Gegensatz zur Erzählung der geschichtlichen Evolution von Kommunikationsmedien gerade das, worin diese Veränderung besteht, nicht erfasst und beschrieben werden. Dieses Veränderung bringende Ereignis, die Form der Schrift, schließt die Mündlichkeit als Differenz nicht nur aus, sie schließt sie als ihren Gegensatz auch ein; und von da an wird die gesprochene Sprache vom Ornament der Schrift eingerahmt. Offenbar wurde in älteren Gesellschaften das Verhältnis von Oberfläche und Tiefe anders erfahren als heute. Man kann dies an den weit verbreiteten Techniken der Divination erkennen. Auch hier geht es um Zeichen an der sichtbaren Oberfläche, die aber Tiefe verraten. Auch Ornamente werden so verstanden worden sein.125
Die Form der Schrift wird zum selbstreflexiven Symbol, das durch diese Symbolisierung (erste Mystifikation) den doppelten blinden Fleck und damit seine konstitutiven Bedingungen hinter sich zu lassen scheint. Genau demselben Prozess entspricht – jedoch in einem anderen Kontext – der Widerstand und der daraus resultierende Kompensationsprozess, die zur Ausdifferenzierung von Systemen – wie etwa des Bewusstseins und der Kommunikation – führen: Die wahrgenommene Welt ist mithin nichts anderes als die Gesamtheit der »Eigenwerte« neurophysiologischer Operationen. Aber die dies bezeugende Information gelangt nicht aus dem Gehirn ins Bewußtsein. Sie wird systematisch und spurlos ausgefiltert. Das Gehirn unterdrückt, wenn man so sagen darf, seine Eigenleistung, um die Welt als Welt
123 Ebd., S. 362-363. 124 N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 256. 125 N. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 349.
84 | D IFFERENZEN DES S PRACHDENKENS erscheinen zu lassen. Und nur so ist es möglich, die Differenz zwischen der Welt und dem beobachtenden Bewußtsein in der Welt einzurichten.126
Und wie man etwas später lesen kann: »So wie das Bewußtseinssystem die operative Geschlossenheit des Nervensystems kompensiert, so das Sozialsystem Gesellschaft die operative Geschlossenheit der Bewußtseinssysteme.«127 Die Symbolisierung der Form der Schrift macht nicht nur die Unterscheidung von Laut und Schriftzeichen sowie von optischen und akustischen Wahrnehmungsmedien möglich, sondern auch eine Erkenntnis, eine Einsicht in das »Wesen« der Differenz, die sich durch die paradoxe Einheit der Unterscheidung von sichtbaren und hörbaren Aspekten der Sprache ankündigt (so »wäre eine Theorie des Zeichens […] nicht am Ende, sondern am Anfang«128). Die Schrift ermöglicht etwa die Erkenntnis – wir zitieren erneut die luhmannsche Definition des Symbols – daß die Innenseite der Form, nämlich der jeweils aktualisierte Sinn, nur Sinn macht im Hinblick auf die Möglichkeit, andere Möglichkeiten zu aktualisieren, und daß dies dynamische, aus Operationen (Ereignisse) bestehende Systeme voraussetzt. Sinn ist mithin Form als Grenze, die immer mitbeobachtet wird, aber nie operativ überschritten werden kann, da jede Operation auf der Innenseite der Form bleibt, nämlich Sinn aktualisiert. […] Das, worauf der Zeiger verweist, ist unerreichbar; kann nicht in die sequentiellen Ketten von Operationen als eins ihrer Glieder eingefügt werden; wird zum Beispiel als »Sinn« nie zum »Wort«. In der Sprache kann eben auf einen Satz nur ein Satz folgen und nie das, was die Sätze meinen, bedeuten, bezeichnen. In dem Maße, als die Sprache dies reflektiert und auch reflektiert, daß sie trotzdem (und gerade deswegen) funktioniert, wird sie als symbolisches Medium gehandhabt.129
Die Bedingung dieser Reflexion sowie des Erkennens und Vergleichens von symbolischen Medien und mithin der systemtheoretischen Beschreibung ist eine Mystifizierung, der »gewöhnliche Sinn« der Schrift. Was sich »vor« oder »unter« diesen Medien befindet und deren Wiedererkennbarkeit gefährdet und zugleich garantiert, wird von Luhmann auf vielsagende Weise nicht im Widerstand gegen die Grenzen der Form oder in ihrem – in einigen Hinsichten der Inskriptionalität der Schrift de Mans ähnlichen – blinden Fleck, sondern in einer Art von Wörtlichkeit der systemtheoretischen Terminologie identifiziert. So können die »aus126 N. Luhmann: Wahrnehmung und Kommunikation, S. 15. 127 Ebd., 22. 128 N. Luhmann: Zeichen als Form, S. 46. 129 Ebd., S. 63, 68.
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gezeichneten Formen«,130 »die auf Grund einer basalen Eigenschaft der Selbstimplikation zueinander passen und sich wechselseitig interpretieren«,131 sich selbst und ihre inneren Zusammenhänge wörtlich beschreiben. Sie sind Formen, in deren Vergleich andere Begriffe entweder abgeleitet (»Wenn ich über die Form der Schrift spreche, muß ich solch eine erste Spaltung [nach SpencerBrown, H. H.] und d.h. viele erste Spaltungen voraussetzen«132) oder metaphorisch sind: [I]n diesem Essay [wird] der Ausdruck »Schrift« in seinem gewöhnlichen Sinn verwendet. Jacques Derridas verallgemeinerter und radikalisierter metaphorischer Gebrauch ist als wichtig anerkannt – als so wichtig, daß er eine eigene Terminologie verdient. Wenn wir zu der Frage kämen, wie alles beginnt, […] würde ich es vorziehen, Ausdrücke wie Unterscheidung, Anzeichen (darin Spencer Brown folgend) oder Beobachtung und Beschreibung zu verwenden.133
An der Terminologie der Systemtheorie lässt sich zwar zeigen, dass diese Wörtlichkeit nicht auf Identität, sondern auf Tautologie beruht, wobei die Differenz von und zwischen den Begriffen nicht repräsentiert, sondern vielmehr immer wieder verschoben, umgesetzt und neukonstruiert wird. Dies ändert aber nichts daran, dass die Aufgabe des Beobachters zweiter Ordnung im Gegensatz dazu darin besteht, die differenziellen Grenzen, d.h. die Medien der Systeme, hervorzuheben, nachzuzeichnen und zu repräsentieren. Dies kann unter anderem darauf hinweisen, dass die Analogie zwischen der Theorie der Beobachtung zweiter Ordnung und der Dekonstruktion, die selbst Luhmann – mal nur in einzelnen Bemerkungen, mal auch explizit134 – mehrmals verkündigte, allem Anschein zum Trotz135 schon beim Verständnis der Differenz und der Paradoxie der ge-
130 Ebd., S. 64. 131 Ebd., S. 65. 132 N. Luhmann: Die Form der Schrift, S. 350. 133 Ebd. 134 Vgl. N. Luhmann: Die Dekonstruktion als Beobachtung zweiter Ordnung. 135 »Zutreffend scheint zunächst Luhmanns Ausgangspunkt, dass Dekonstruktion wie Systemtheorie beide sinnhafte Ordnungen als wesentlich paradoxal oder aporetisch bestimmen. Sie teilen dabei auch ein grundlegend ähnliches Verständnis von Paradoxie: ›Paradoxie‹ bezeichnet für die Systemtheorie wie für die Dekonstruktion nicht einfach einen Widerspruch, sondern eine Konstellation, in der die Bedingung der Möglichkeit einer Leistung zugleich die Bedingung ihrer Unmöglichkeit darstellt.« Th. Khurana: Verbindungen, Bezüge, Differenzen, S. 302.
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meinsamen Basis entbehrt. Dies kommt besonders dort zum Vorschein, wo Luhmann die dekonstruktive Geste, bei der seiner Meinung nach »die Auflösung damit beschäftigt ist, sich durch ständige Selbstauflösung selbst zu bestätigen«,136 durch die Aufgabe der produktiven Entfaltung von Paradoxien ersetzt: Die [systemtheoretische – H. H.] Analyse endet nicht mit dem Ergebnis, alles sei beliebig, alles sei sinnlos. Sie zeigt vielmehr, daß und wie die Differenz von Paradox und Entfaltung, also die Invisibilisierung des Paradoxes durch hinreichend plausible Identitäten und Unterscheidungen dazu dient, das Kunstsystem dem »Gang der Geschichte« oder, soziologisch gesehen, den jeweiligen Resultaten der gesellschaftlichen Evolution bei Bewahrung seiner autopoietischen Autonomie einzupassen.137
Jedoch lassen sich der Widerstand der Paradoxie gegen die Repräsentation bzw. der Medienbegriff, der sich im Kunstsystem meldete, in kein symbolisches Medium übersetzen. Was sich im einen Medienbegriff entzieht, lässt sich nicht an derselben Grenze der Form hervorheben. Zwischen Differenz und Unterscheidung (im Gegensatz zur Entfaltung der Paradoxie) gibt es somit keinen Übergang, kann keine symbolische Verweisung entstehen – und dies kann nicht einmal die vorausgesetzte Gleichzeitigkeit der beiden Unterscheidungen gewährleisten: Die Form befindet sich (dies legt bereits die luhmannsche Definition der Form nahe) schon immer woanders, als wo sie erscheint; sie wiederholt ihren Ursprung – wie die Schrift den Laut – schon immer in einem anderen symbolischen Medium. Die Einheit der Differenz und die Paradoxien erscheinen nicht dort, wo sich das Ornament entzieht; und das Ornament als Schrift wirkt nicht dort, wo es als Paradoxie erscheint. Setzen die symbolisch generalisierten Medien Luhmanns eine Kontinuität sowie Identität zwischen ihrer Wirkung und ihrem Erscheinen voraus, lassen die Formkombinationen des Ornaments, in denen »der Zusammenhang der Unterscheidungen, die einander wechselseitig artikulieren, nicht generalisierbar [ist]«,138 die Möglichkeit des Sich-Entziehens der Form und somit eine Entfaltung der geschichtlichen Wirkungskraft der Schrift offen. Zum Begriff der »ornamentalen« Form könnte man schon auch Derrida aus Die Wahrheit in der Malerei zitieren, wo er den Zusammenhang von Schrift und Parergonalität von der äußersten, marginalen und zugleich innersten, schriftlichen Grenze philosophischer Texte her liest:
136 N. Luhmann: Die Beobachtung erster und die Beobachtung zweiter Ordnung, S. 160. 137 N. Luhmann: Selbstbeschreibung, S. 488. 138 N. Luhmann: Wahrnehmung und Kommunikation, S. 75.
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Der parergonale Rahmen hebt sich seinerseits vor zwei Hintergründen ab, aber in Bezug auf jeden dieser beiden Hintergründe. […] Es gibt immer eine Form vor einem Hintergrund, aber das Parergon ist eine Form, deren traditionelle Bestimmung es ist, sich nicht abzuheben, sondern zu verschwinden, zu versinken, zu verblassen, in dem Augenblick zu zerfließen, wo es seine größte Energie entfaltet.139
Das latente Identifizieren von Wirkung und Erscheinen sowie Performativität und Phänomenalität der Form bei Luhmann kann durch eine beinahe prosaische Tatsache erklärt werden, deren Konsequenzen aber umso weitreichender sein können. Auch Khurana bemerkt in seinem Beitrag zu den Bezügen der Theorien von Luhmann und Derrida: Während Luhmann […] die Paradoxalität sinnhafter Ordnung letztlich aus der Paradoxalität ihrer basalen Operation (der paradoxen und in sich wieder vorkommenden Einheit von Unterscheidung und Bezeichnung) ableitet […], macht die Dekonstruktion ihre Diagnosen von Aporien in je spezifischen Lektüren bestimmter Zusammenhänge fest.140
Liegen der Systemtheorie symbolisch-selbstreflexive Begriffe sowie die Phänomenalität der Schrift zugrunde (dadurch invisibilisiert sie auch die Probleme
139 J. Derrida: Die Wahrheit in der Malerei, S. 82. 140 Th. Khurana: Verbindungen, Bezüge, Differenzen, S. 302. Khurana sieht die Differenz zwischen den beiden Theorien jedoch nicht in der Spannung zwischen dem repräsentierbaren und dem unrepräsentierbaren Charakter von Paradoxien, sondern im inkonsequenten Konzept der Entfaltung bei Luhmann, statt dessen er ein anderes – der Dekonstruktion entsprechendes – Verständnis von Entfaltung vorschlägt: »Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob Luhmanns Konzeption der Entfaltung von Paradoxien nicht auf eine endlose Kette immer bloß illusionärer Auflösungen oder Verdeckungen und mithin eine ›schlechte Unendlichkeit‹ hinausläuft. Gerade wenn man daran festhalten will, dass sinnhafte Ordnungen irreduzibel und konstitutiv paradoxal sind, drängt sich die Frage auf, ob in Anbetracht dieser Einsicht nicht die durch die Paradoxien provozierten Unterscheidungen einen neuen Charakter annehmen müssen und ob es nicht ›Identitäten‹ anderer Art braucht, um Paradoxien tatsächlich zu entfalten, statt bloß notdürfig zu kaschieren. Wenn man die Dekonstruktion nicht als bloße Feier des Paradoxes auffasst, sondern als Versuch, einen anderen Umgang mit den konstitutiven Aporien des Sinns zu gewinnen, könnte die Dekonstruktion Anregungen geben, wie diese Unterscheidungen anderer Art (Unterscheidungen, die reflexiv auf das in ihnen entfaltete Paradox bezogen bleiben) zu verstehen sind.« Ebd., S. 302-303.
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der Sprachlichkeit und der Textualität), geht die Dekonstruktion von konkreten Lektüren aus, weil ihr die konstitutive Unlesbarkeit, d.h. der unrepräsentierbare Charakter jeder Kommunikation und jedes Textes, zugrunde liegt. All dies kann jedoch nicht nur für die Systemtheorie selbst, sondern vielmehr für deren literaturwissenschaftliche Rezeption aufschlussreich sein. Die Inkompatibilität der Medienbegriffe kann zum einen zu der Einsicht führen, dass Texte, deren symbolisches Medium ohne jeden Widerstand identifizierbar ist, eine Verallgemeinerung des Begriffs des Mediums und somit das Vergessen von Differenzen nach sich ziehen, die gerade die Theorien der Sprache und der Literatur genauer artikulieren können. Zum anderen könnte man auch zu dem plausiblen Schluss kommen, dass für das Erforschen von unkalkulierbaren Wirkungsmechanismen der immateriell-materiellen Medien Formen, (wie etwa literarische) Texte am informativsten sein können, die der generalisierenden Leistung der Beobachtung am stärksten widerstehen.
3. Die »ästhetische Nichtunterscheidung« und der Automatismus der Differenz Differenzen des Bildes bei Husserl und Gadamer
Obwohl das Problem der Unrepräsentierbarkeit der Differenz durch den Begriff des Mediums bei Luhmann mehr neutralisiert als zutage gefördert wird, kann uns der Begriff der Form dennoch einen guten Anhaltspunkt zum differenzierten Erfassen des Problems bieten. Die latente Ambivalenz im Begriff des Mediums haben wir im Vorigen im Bruch zwischen seinem symbolischen Zum-VorscheinKommen und seinem Entzug entdeckt. Während die Möglichkeit der Symbolisierung eine Kontinuität zwischen den beiden Unterscheidungen oder Seiten der Form voraussetzt, kann der Begriff der Form – zumindest im Medium der Kunst – gerade ihren illusorischen Charakter enthüllen. Auch die Form des Zeichens, d.h. die Sprache, erschien innerhalb dieser Verdoppelung: Die Sprache wurde bei Luhmann einerseits durch die Unterscheidung von Laut und Schrift bzw. Hören und Sehen symbolisiert/repräsentiert, andererseits wurde diese Repräsentation wiederum durch den Begriff der – jedoch in einem anderen Sinne verstandenen, gleichsam ornamentalen – Schrift ermöglicht. Diese Art von Schrift lässt sich nicht mehr dem Laut gegenüberstellen oder von der Opposition von Schrift und Rede her verstehen; sie lässt sich als Form oder Differenz, da sie die Möglichkeit der Repräsentation ist, nicht repräsentieren. Die Form der Schrift macht durch die Unterscheidung der beiden Seiten der Sprache ihre Repräsentation sowohl möglich als auch unmöglich. Aber was bedeutet das in Bezug auf den Unterschied von bildlicher und sprachlicher Repräsentation bzw. die Unterscheidbarkeit der Medien von Bild und Sprache, auf die man – als die Möglichkeit der Entfaltung einer Paradoxie bzw. der Interpretation selbst – doch nicht verzichten kann? Diese Unterscheidung ist im Vollzug der Interpretation nicht nur unentbehrlich, sondern sogar unvermeidlich. Schon die Art und Weise, wie die Frage nach der Möglichkeit
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der Repräsentation gestellt wird, wird in erster Linie dadurch bestimmt, ob ihr das Medium des Lautes oder des Bildes, der Vermittlung des Hörens oder des Sehens zugrunde liegt. Denn während das Medium des Lautes durch die Zirkularität von Sprechen und Hören bzw. die Möglichkeit des sich selbst hörenden Sprechens den kontinuierlichen Vorgang der Bildung des Wortes voraussetzt oder zumindest nahelegt, schließt die parallele und gleichsam fiktive Situation des »sich selbst sehenden Sehens« die Möglichkeit der bruchlosen Selbstreflexion aus, insofern sie in diesem Fall nur durch ein fremdes, vom Selbst grundsätzlich unterschiedenes, getrenntes Moment möglich wird. Das Ereignis der Repräsentation wird aus jener Perspektive als eine Wechselwirkung von Rezeption und Produktion, aus dieser als eine Spannung von gegensätzlichen Aspekten erscheinen. Diese Perspektiven sind aber in den konkreten Fällen voneinander nicht restlos zu trennen; sie erscheinen vielmehr in korrelativen Verhältnissen (deshalb wäre es verfrüht, sie durch den Gegensatz von Hermeneutik und Dekonstruktion zu bezeichnen). Das Problem der Zirkularität von Sprechen und Hören wird in den nächsten Kapiteln ausführlicher behandelt. Hier steht vor allem ihr Zusammenhang mit der Bildlichkeit im Vordergrund, den wir nun in jenen Textstellen von Wahrheit und Methode verfolgen werden, in denen Gadamer die Seinsweise des Bildes und die spekulative, spiegelhafte Struktur der Sprache charakterisiert. Durch die Interpretation der Figur (und zugleich auf Austausch basierenden Trope) der Spiegelhaftigkeit möchte ich im Folgenden zeigen, wie ein Konzept, das von der Universalität des Mediums Sprache ausgeht, zugleich von einem bildhaften Moment konstituiert wird, das sich aber nicht auf die Visualität im gewöhnlichen Sinne reduzieren lässt. Dieses «Bild« bei Gadamer kann durch einen Vortrag von Husserl über die Bildhaftigkeit näher beleuchtet werden, in dem er es gleichsam widerspiegelt oder umkehrt: Nimmt man die Vorgehensweise der phänomenologischen Analyse genauer unter die Lupe, kann zugleich (der vorigen Perspektive nur scheinbar widersprechend) die sprachliche Bedingtheit der bildlichen Wahrnehmung ersichtlich werden (wie bereits Derrida in Die Stimme und das Phänomen gezeigt hat). Darüber hinaus werde ich versuchen, diese untrennbare Verflechtung von Bild und Sprache bzw. ihr paradoxes Verhältnis mit dem Form- und Medienbegriff von Luhmann in Zusammenhang zu bringen bzw. dadurch weiter zu differenzieren. Dementsprechend lässt sich die Figur des Spiegels bei Gadamer bzw. die sprachlich-rhetorische Ambiguität in Husserls Vortrag weder mit der einen noch der anderen Seite der erwähnten Unterscheidungen (Sprache/Bild, gesprochene Sprache/Schrift, Materialität/Immaterialität) identifizieren; man kann sie vielmehr als die Form oder das Medium dieser Diskurse betrachten.
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Der Gegensatz von Sprache und Bild bzw. Hören und Sehen ist bereits bei Heidegger mit dem von Kontinuität und Diskontinuität verbunden. Von der hierarchischen Stellung der beiden zeugen vor allem die Textstellen, in denen er den Vorrang des Hörens gegenüber dem Sehen ausdrücklich thematisiert.1 Auch seine Abhandlung über Die Zeit des Weltbildes ist im Hinblick auf dieses Verhältnis recht vielsagend. Hier wird die metaphysische Vergegenständlichung der Welt, die nach Heidegger mit der Neuzeit beginnt, als ein Prozess der Verbildlichung interpretiert. Die Verfremdung der Welt wird nach seiner Beschreibung durch zwei sich gegenseitig bedingende Operationen in Gang gesetzt und zieht dementsprechend eine zweifache Konsequenz nach sich. Die sich in einem »Weltbild« manifestierende Vorstellung über die Welt setzt ein »vor sich hin und zu sich her Stellen«2 voraus, nach dem der Mensch die Welt in Form eines Bildes ergreift und vor sich stellt, d.h. objektiviert. In dieser vergegenständlichenden Betrachtung, in der im Gegensatz zu den anderen Sinnen das Sehen die führende Rolle übernimmt, löst sich die Welt vom Menschen nicht nur ab, sondern wird zugleich zum Objekt oder Gegen-Stand, zu dem man somit keinen selbstverständlichen Zugang mehr hat, der sich nun nicht mehr von selbst versteht. Der Abstand, der durch diese entfremdende Verfremdung zwischen Mensch und Welt entsteht und in dem sich die ursprüngliche Selbstverständlichkeit des Verstehens verliert, macht auch notwendig, dass er in der Philosophie durch verschiedene Theorien der Erkenntnis überbrückt und somit zugleich verdeckt wird. Die andere Konsequenz dieses vergegenständlichenden Vorstellens ist das Entstehen des Begriffs des Subjekts bzw. des sich selbst wissenden Bewusstseins, dessen Ausdifferenzierung aus dem eigentlichen Vorgang des Selbst- bzw. Weltverstehens ebenso dazu beiträgt, dass man sich die Welt als ein Ganzes der an sich und unabhängig vom Bewusstsein existierenden Seienden vorstellt. Die metaphysischen Begriffe von Subjekt und Objekt sind also gleichsam Ergebnisse einer zweifachen Reflexion: »Daß die Welt zum Bild wird, ist ein und derselbe Vorgang mit dem, daß der Mensch innerhalb des Seienden zum Subjectum wird.«3 Diese Gegenüberstellung von Bild und Sprache bzw. Sehen und Hören prägt auch die Sprach- und Traditionsauffassung von Wahrheit und Methode: Gadamer setzt der kartesianischen philosophischen Tradition, der positivistischen Wissenschaftsbetrachtung und den damit eng verbundenen abstrakten und methodischen Unterscheidungen der ästhetischen Einstellung die »ästhetische
1
Dazu siehe: D. Espinet: Phänomenologie der Hörens.
2
M. Heidegger: Die Zeit des Weltbildes, S. 92.
3
Ebd.
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Nichtunterscheidung«4 als die offenen und unbeherrschbaren, aber zugleich ein Wahrheitsmoment in sich tragenden Geschehnisse des Sinnes entgegen – jenes hermeneutische Prinzip, das im Gegensatz zu den genannten, entfremdendverfremdenden Theorien eine Richtung einschlägt, deren Ziel gleichsam die verdeckt-vergessene Zwischendimension der Sprache ist. Während das Prinzip der ästhetischen Nichtunterscheidung (eine Art von Wiederherstellung der Kontinuität) durch die spekulative Struktur der Sprache geltend gemacht wird, ist die Methode der ästhetischen Unterscheidung, der Selbstreflexion und der Vergegenständlichung auch bei Gadamer mit dem – das sprachliche Verhältnis unterbrechenden – Medium des Bildes bzw. dem Sehen verbunden. Die Sprache erhält im Gegensatz zur Visualität ihren universalen Status gerade dadurch, dass ihre ungreifbare, allumfassende Unmittelbarkeit keine Distanzierung erlaubt: [W]er angeredet wird, [muß] hören, ob er will oder nicht. Er kann nicht in der gleichen Weise weghören, wie man im Sehen dadurch von anderem wegsieht, daß man in eine bestimmte Richtung blickt. Dieser Unterscheid von Sehen und Hören ist für uns deshalb wichtig, weil der Vorrang des Hörens dem hermeneutischen Phänomen zugrunde liegt, wie schon Aristoteles erkannt hat. Es gibt nichts, was nicht für das Hören mittels der Sprache zugänglich würde. Während alle anderen Sinne an der Universalität der sprachlichen Welterfahrung keinen unmittelbaren Anteil haben, sondern nur ihre spezifischen Felder erschließen, ist das Hören ein Weg zum Ganzen, weil es auf den Logos zu hören vermag.5
Es lässt sich jedoch zeigen, dass der Vorgang des sprachlichen Weltverstehens, das Konzept der spekulativen (gleichsam spiegelhaften) Struktur der Sprache, ebenso eine Differenz, einen Bruch oder eine Art von Diskontinuität voraussetzt, die unter anderem auch die obige Gegenüberstellung von Sehen und Hören bzw. Bild und Sprache infrage stellt. Den nicht-objektivierbaren, nicht-reflexiven, medialen »Vorgang der Verständigung«6 beschreibt Gadamer als einen – sich zwischen dem Interpreten und der Tradition vollziehenden – Dialog, der durch eine »unmerkliche und unwillkürliche Wechselübertragung der Gesichtspunkte«7 vollzogen wird. Die spekulative Struktur der Sprache ermöglicht das insGespräch-Treten der geschichtlich verschiedenen Horizonte gerade dadurch, dass in ihr die Gesichtspunkte – wenn auch nur für einen ereignishaft-fiktiven Moment – ununterscheidbar werden:
4
H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 122.
5
Ebd., S. 466.
6
Ebd., S. 389.
7
Ebd., S. 390.
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Im Anschluss an einen bei Hegel nachweisbaren Sprachgebrauch nennen wir das Gemeinsame zwischen der metaphysischen und der hermeneutischen Dialektik das Spekulative. Spekulativ heißt hier das Verhältnis des Spiegelns. Sich spiegeln ist eine ständige Vertauschung. […] Das Spiegelbild ist durch die Mitte des Betrachters mit dem Anblick selbst wesenhaft verbunden. Es hat kein Sein für sich, es ist wie eine »Erscheinung«, die nicht es selbst ist und die doch den Anblick selbst spiegelbildlich erscheinen läßt. Es ist wie eine Verdoppelung, die doch nur die Existenz von einem ist. Das eigentliche Mysterium der Spiegelung ist eben die Ungreifbarkeit des Bildes, das Schwebende der reinen Wiedergabe.8
Diese unbemerkbare Differenz, die das nicht-objektivierbare Medium der Sprache konstituiert, ruft an mehreren Textstellen bzw. in mehreren Begriffen von Wahrheit und Methode ambivalente Verdoppelungen hervor. Im Folgenden wird der Versuch unternommen, die Widersprüche dieser die Dimension der Medialität darstellenden Spiegelhaftigkeit – zunächst am Beispiel der bildenden Künsten bzw. der Seinsweise des Bildes – zu erschließen.
3.1 D AS S ICH -D ARSTELLEN DES D ARGESTELLTEN IM B ILD – Ü BERSCHUSS ODER V ERDOPPELUNG ? Im ersten Teil von Wahrheit und Methode zeigt Gadamer die Seinsweise des Kunstwerkes durch die Beispielhaftigkeit des Spiels im prozesshaften Ereignis der Vorstellung, der Darstellung sowie der Interpretation auf. Die Vorstellung eines Dramas oder eines Musikwerks, aber auch das Zum-Sprechen-Bringen eines literarischen Werkes setzt den ereignishaften Prozess der Vermittlung voraus, der, ohne dass in ihm das »ursprüngliche«, mit sich selbst identische Werk an sich erkennbar wäre, zugleich auch die Interpretation des Werkes vollzieht. Werke sind ohne interpretierende Vermittlung nicht zugänglich; ihre Existenz liegt im Prozess der Interpretation, die aber an sich genauso wenig thematisch wird. Die Interpretation als das Ereignis des Verstehens ist je schon vollzogen, und zwar noch bevor eine ästhetische Betrachtung die Frage nach der Interpretierbarkeit oder der möglichen Methode der Interpretation hätte stellen können. Die Unterscheidung von Gegenstand und Methode bzw. Werk und Interpretation erfolgt in diesem Sinne schon immer nachträglich und ist aus diesem Grunde sekundär. Diese hermeneutischen Prinzipien sind im Fall der bildenden Künste auf den ersten Blick schwer umzusetzen; der alltägliche Begriff des Bildes ist scheinbar
8
Ebd., S. 470.
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nicht mit jener prozesshaften Seinsweise zu vereinbaren, die das Kapitel Die Ontologie des Kunstwerks an einer Reihe von Beispielen präsentiert. Es hat zunächst den Anschein – schreibt Gadamer –, als wäre in den bildenden Künsten das Werk derart eindeutiger Identität, daß ihm keine Variabilität der Darstellung entspricht. […] Man kann ein jedes Werk der bildenden Kunst »unmittelbar«, d.h. ohne daß es einer weiteren Vermittlung bedarf, als es selbst erfahren. […] So scheint die ästhetische Unterscheidung hier ihre volle Legitimität zu besitzen.9
Bilder bedürfen den anderen Künsten gegenüber scheinbar keiner Vermittlung oder Vorstellung, keiner Darstellung oder keines Lesens.10 Sie setzen nur das Sehen voraus, dessen Prozess noch durchsichtiger, immaterieller und unbemerkbarer ist als die Innerlichkeit des Lesens. Andererseits scheint Gadamer das Sehen als eine sich so sehr von selbst verstehende Vermittlung zu betrachten, dass eine analoge Rolle des Sehens im Kapitel Die Seinsvalenz des Bildes nicht einmal auftaucht. Dieser sich selbst aufhebende Charakter des Sehens, das seine eigene mediale Leistung vergessen lässt, ist wiederum der Grund dafür, dass das Bild »wie ein Kronzeuge« für den »universellen Anspruch«11 des ästhetischen Bewusstseins ist. Die ästhetische Einstellung übersieht aufgrund der Ungreifbarkeit und Unrepräsentierbarkeit dieses augenblicklichen Ereignisses die wortwörtlich unsichtbare Leistung der Darstellung, was zugleich dazu führt, dass sie zwischen den Erlebnissen des subjektiven Bewusstseins und dem Bild als Objekt der Urteilskraft abstrakte und falsche, weil irreführende Unterscheidungen trifft. Das Sehen selbst ist derart unsichtbar, dass in ihm das Bild scheinbar unmittelbar erscheint. Deshalb wird die Bildhaftigkeit gleichsam zum Paradigma der ästhetischen Unterscheidung: »Wir machen damit ein jedes Kunstwerk gleichsam zum Bilde; indem wir es aus allen seinen Lebensbezügen und dem Besonderen seiner Zugangsbedingungen ablösen, wird es wie ein Bild in einen Rahmen geschlagen und gleichsam aufgehängt.«12 Gadamer muss also die sich darstellende Seinsweise des Bildes ausweisen, das Bild ins zirkulative Verhältnis des Verstehens und der Interpretation bzw. in die spekulativen Strukturen der Sprache eingliedern, damit auch in diesem extremen und scheinbar legitimen Fall der ästhetischen Unterscheidung der
9
Ebd., S. 139.
10 Auch deshalb sind sie in die hermeneutische Struktur der Frage und der Antwort zu integrieren: Vgl. H.-G. Gadamer: Über das Lesen von Bauten und Bildern, S. 331. 11 Ebd., S. 140. 12 Ebd.
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Vorrang jener ontologischen Dimension gerechtfertigt wird, in der als einem sprachlichen Ereignis sich die Objekte der Interpretation zeigen. Gadamer geht bei der ontologischen Analyse des Bildes (aus dem Mangel an Unterscheidungen, der sich aus der radikalen Unmittelbarkeit des Sehens ergibt), von den Verdoppelungen des ästhetischen Bewusstseins aus und versucht den Unterschied zu fassen, der das abstrakte Verhältnis des Urbildes und des Abbildes von der ursprünglicheren Einheit des Bildes und des Urbildes trennt. Dass die Darstellung die eigentliche Seinsweise des Bildes ist, was zu präsentieren die Aufgabe der Beweisführung wäre, scheint auf den ersten Blick vom Diskurs des ästhetischen Bewusstseins und der alltäglichen Reflexion her unzweckmäßig und tautologisch. Das Bild ist ja nichts anderes als die Darstellung von etwas; das Bild ist dadurch Bild, dass es etwas darstellt. Da es selbst die Darstellung ist, muss es sich scheinbar nicht noch einmal darstellen. Tautologisch ist dies aber nur bis zu dem Punkt, an dem man bemerkt, dass Darstellung, wenn man das Bild als Darstellung von etwas definiert, hier keine Leistung oder keinen Vorgang mehr bedeutet, sondern eben den mit sich selbst identischen Grund der Darstellung, ein Bild oder ein Objekt, das etwas darstellt. Damit hat man bereits zwei Unterscheidungen getroffen: Das Ereignis oder die Leistung der Darstellung wurde zuerst durch ein Subjekt der Leistung oder einen objektmäßigen Ausgangspunkt ersetzt (in diesem Fall durch das, »was der allgemeine Sprachgebrauch ein ›Bild‹ nennt«13 ). Damit ist – einen weiteren Unterschied voraussetzend – bereits das unterschieden und abgegrenzt, was das Bild darstellt. Hingegen lässt sich das Bild von der Darstellung selbst nicht trennen. Insofern man bereits das Ereignis der Darstellung durch ein Objekt ersetzt hat, hat das Abgebildete, das vom objektmäßigen Bild unterschieden wurde, gar nichts mehr mit jenem ereignismäßigen Vorgang zu tun, der doch die Grundlage der bildlichen Darstellung wäre. Unter den beiden gleichzeitigen und sich bedingenden Abstraktionen ist es die zweite (die Verdoppelung und nicht das verdeckende Ersetzen), von der Gadamer ausgeht: Die Frage nach der Seinsart des Bildes, die wir hier stellen, fragt nach etwas, was allen verschiedenartigen Erscheinungsweisen des Bildes gemeinsam ist. Sie nimmt damit eine Abstraktion vor. Aber diese Abstraktion ist keine Willkürlichkeit der philosophischen Re14
flexion, sondern etwas, das sie vom ästhetischen Bewusstsein vollzogen findet.
13 Ebd., S. 139. 14 Ebd., S. 140.
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Diese Unterscheidung entspricht der Beziehung zwischen Urbild und Abbild, die Gadamer als Abbildung von dem eigentlichen und ursprünglichen Verhältnis oder von der »Weise, wie sich [im Bild] die Darstellung auf ein Urbildliches bezieht«,15 unterscheiden muss. Dieses ursprüngliche Verhältnis ist der (beiden Abstraktionen vorausgehende) Vorgang der Darstellung, den das reflexive Bewusstsein nicht nur verkennt, indem es ihn durch einen nicht-ereignismäßigen Ausgangspunkt ersetzt, sondern auch vergisst, wenn es das als Abbild gesehene Bild von einem Urbild her versteht. Obwohl diese Operationen des Ersetzens sich nicht sofort zu überschaubaren Zusammenhängen ordnen lassen, wird sogleich ersichtlich, dass der Weg von der gadamerschen ursprünglichen und medialen Kunstontologie, die noch frei von den Verdoppelungen ist, bis zur Scheinwelt der Ästhetik durch mehrfache tropologische Umsetzungen führt, an deren Ende nichts mehr so ist, wie es erscheint. Denn der ursprüngliche Prozess der Vermittlung wird nicht nur durch Unterscheidungen unterbrochen, sondern auch durch Austauschoperationen unkenntlich gemacht. Diese vorausgesetzten Übertragungen können unter anderem auf die mangelhafte Definition des Bildes hinweisen: »Erst seit wir keinen Platz für Bilder mehr haben, wissen wir wieder, daß Bilder nicht nur Bilder sind, sondern Platz heischen.«16 Aber inwieweit entspricht dieses tropologische Ereignis, das gleichzeitig eine Unterscheidung und einen Austausch ins Werk setzt, jener gadamerschen Paradoxie, der zufolge »das Urbild erst vom Bilde her zum Bilde [wird] – und doch ist das Bild nichts als die Erscheinung des Urbildes«?17 Die Abweichung der Seinsweise des eigentlichen Bildes und des Abbildes lässt sich bei Gadamer auf negative Weise – durch das Ausweisen eines doppelten Mangels – ableiten: dem Abbild fehlt etwas, was das Wesen des eigentlichen Bildes ausmacht; diesem fehlt aber die Funktion, die andererseits die Seinsweise des Abbildes bestimmt. Gadamer nimmt zuerst die Funktion des Abbildes unter die Lupe. Das Verhältnis von Abbild und Urbild ist teleologisch und dialektisch, indem die Funktion des Bildes in diesem Fall darauf beschränkt ist, sich selbst durch die Darstellung des Urbildes aufzuheben: Es ist Abbild, das nichts als die Wiedergabe von etwas sein will und in der Identifikation desselben (z.B. als Paßfoto oder Abbildung in einem Verkaufskatalog) seine einzige Funk-
15 Ebd., S. 142. 16 Ebd., S. 141. 17 Ebd., S. 147.
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tion hat. Das Abbild hebt sich selbst auf in dem Sinne, daß es als Mittel fungiert und wie alle Mittel durch Erreichung seines Zweckes seine Funktion verliert.18
Es stellt sich die Frage, was es genau ist, das wir während des Betrachtens eines Passfotos eigentlich sehen können bzw. inwiefern sich bereits in diesem Fall die Unterscheidung des reflexiven Bewusstseins rechtfertigen lässt, das dem Bild die physische Materialität zuschreibt, von der es danach das dargestellte Bild und gegebenenfalls auch das reale Urbild unterscheidet? Wenn sich im Augenblick der Identifikation weder das materielle und aufgehobene Bild noch das Dargestellte als solches (da es in und auf dem Bild erscheint) sehen lässt, dann – darauf deutet auch schon die phänomenologische Analyse Gadamers hin – scheint sich der Anblick vielmehr im Ereignis und dem Gelingen der Identifikation, d.h. in der ereignismäßigen Darstellung, aufzuheben, die gewissermaßen auch der Seinsweise des eigentlichen Bildes zugehört. Dies wird dadurch bestätigt, dass Gadamer den Unterschied von Bild und Abbild im Verhältnis, in der Art und Weise der Beziehung, und nicht in den abweichenden Eigenschaften der unterschiedenen Elemente sieht – deshalb hält er zwischen ihnen einen ontologischen und keinen ontischen Unterschied fest.19 Der Unterschied ist also auf den ersten Blick im Vorhandensein oder im Fehlen der Funktionalität zu suchen: »Was dagegen ein Bild ist, hat seine Bestimmung überhaupt nicht in seiner Selbstaufhebung. Denn es ist nicht ein Mittel zum Zweck. Hier ist das Bild selber das Gemeinte, sofern es gerade darauf ankommt, wie sich in ihm das Dargestellte darstellt.«20 Während sich die Funktion der Identifikation im restlosen Zusammenfallen von Abbild und Urbild aufzuheben scheint, bleibt im Bild die unsichtbare Differenz von Darstellung und Dargestelltem erhalten: »Daß die Darstellung ein Bild – und nicht das Urbild selbst – ist, bedeutet nichts Negatives, keine bloße Minderung an Sein, sondern vielmehr eine autonome Wirklichkeit.«21 Gadamer sieht aber den Grund für den Widerstand des Bildes nicht in einer sich entziehenden Differenz, die Darstellung und Dargestelltes auseinanderhält, sondern führt ihn auf die produktive Leistung der Darstellung zurück: »Durch die Darstellung erfährt es gleichsam einen Zuwachs an Sein. Der Eigengehalt des Bildes ist ontologisch als Emanation des Urbildes bestimmt. Im Wesen der Emanation liegt, daß das Emanierte ein Überfluß ist.«22 Wie das Bild als Darstellung
18 Ebd., S. 143. 19 Vgl. ebd., S. 158. 20 Ebd., S. 143. 21 Ebd., S. 145. 22 Ebd.
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»mehr als ein Abbild ist«,23 so ist hier wohl auch das Urbild mehr als das Urbild des Abbildes, das sich bereits als eine Komponente jener Darstellung enthüllte, in der sich das Urbild als Dargestelltes zeigt. Das Bild ist einerseits mehr als das Abbild, da es im Gegensatz zu diesem eine positive Existenz besitzt, es lässt sich nicht im Akt der Identifikation aufheben. Diese Positivität bzw. den Überschuss gewinnt das Bild vom Dargestellten, das sich von ihm wiederum nur durch dieses Mehr unterscheidet. Es ist also eine Art von Überschuss, der die einzelnen Begriffe voneinander unterscheidet. Der Überschuss konstituiert nicht nur die Identität des Kunstwerks, sondern ermöglicht auch die Variabilität seiner Darstellung, begründet seine Iterabilität. Durch diese iterable Seinsweise kann das Kunstwerk jeweils anders erscheinen, ohne dass man den Unterschied zwischen seiner Identität und seinem sich ständig verändernden Erscheinen greifen und somit das Kunstwerk vergegenständlichen könnte: »Denn wenn das ursprünglich Eine durch den Ausfluß des Vielen aus ihm nicht weniger wird, so heißt das ja, daß das Sein mehr wird.«24 Aber worin genau besteht dieses Mehr, das dem Kunstwerk seine paradoxe Identität verleiht und das nach Gadamers Beschreibung sowohl das Medium als auch das Dargestellte oder Repräsentierte des Kunstwerks sein kann? Das eigentliche Bild kann offensichtlich deshalb den Unterscheidungen des ästhetischen Bewusstseins Widerstand leisten, weil in seinem Überschuss gerade nicht sichtbar oder greifbar wird, in welchem Rahmen oder Verhältnis das Mehr, das je über sich selbst hinausgeht und sich mit nichts vergleichen lässt, mehr oder anders ist. Diesen Begriff des Mehr könnte man bei Gadamer vor allem mit dem »Gesichtspunkt«25 der Dekoration in Zusammenhang bringen. Gadamer bestimmt die Dekoration nicht von ihrem okkasionellen Charakter her, sondern als einen besonderen Gesichtspunkt, der vor allem in der Baukunst zur Geltung kommt. Ihre »zweiseitige Vermittlung«26 zieht die Aufmerksamkeit auf sich und weist zugleich über sich selbst hinaus; sie lenkt den Blick des Betrachters, ohne dabei als solche zu erscheinen oder hervorzutreten. Sie lässt sich als Rahmen oder Hintergrund des Kunstwerks nicht greifen; sie ist kein nachträgliches oder zusätzliches Moment, sondern konstituiert die Seinsweise des Kunstwerkes: »Schmuck ist eben nicht erst ein Ding für sich, und wird dann an etwas anderem angebracht, sondern er gehört zum Sichdarstellen seines Trägers. Gerade auch
23 Ebd. 24 Ebd. 25 Ebd., S. 162. 26 Ebd., S. 163.
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für den Schmuck gilt, daß er zur Darstellung gehört. Darstellung aber ist ein Seinsvorgang, ist Repräsentation.«27 Ob aber nicht auch das Ornament als Form oder Rahmen und das Mehr eine Verdoppelung und somit immer noch eine, unbemerkbare, zweiseitige und zweischneidige Differenz voraussetzt, die den Sinn und Mehrwert des Kunstwerks nicht nur begründet, sondern auch entzieht, mit sich zieht und somit untergräbt? Inwieweit könnte eine solche Differenz das gadamersche Konzept des Verstehens bzw. die theoretische Grundlage jener Bildtheorien modifizieren, deren Unterscheidungen ebenso dieses eigentümliche Mehr zugrunde liegt? Denn die Unterscheidung von Bild und Abbild durch das Mehr zieht zwangsläufig auch den Gegensatz des Lebendigen und des Toten, des Organischen und des Mechanischen, des Wiederholbaren und des Produktiven nach sich. Dieselben Gegensätze legt auch Gottfried Boehm zugrunde, der Gadamers wortkarge »Bildtheorie« – wortwörtlich auf produktive Weise – weiterdenkt: Boehm interpretiert die paradigmatische Abweichung der »schwachen« von den »starken« (einen »Zuwachs an Sein« erbringenden) Bildern durch die Gegenüberstellung der einseitigen und der wechselseitigen Bewegungsrichtungen der Darstellung.28 Es ist weiterhin schwer zu übersehen, dass die Unterscheidung zwischen materiellem [picture] und geistigem [image] Bild einerseits, die auf dem Gegensatz von lebendigem Organismus und Automatismus beruht, und die Rede von einem gewissen Mehrwert von Bildern andererseits ebenfalls korrelative Diskurse sind, wie die Gegensatzpaare von Mitchell, dem anderen namhaften Bildtheoretiker, zeigen: Es ist wohl kein Zufall, dass der »Mehrwert, wie Marx vor langer Zeit gezeigt hat, nur in Begriffen einer Logik belebter Bilder [erklärbar ist].«29
3.2 D AS M EDIUM / DIE D IFFERENZ BEI H USSERL
DES
»B ILDOBJEKTS «
Derrida zeigt in Die Stimme und das Phänomen die verborgene Triebfeder der husserlschen Phänomenologie in der sprachtheoretischen Voraussetzung der Logischen Untersuchungen auf: in der Trennung des unteilbaren und dem sich selbst anwesenden Bewusstsein unvermittelten »Ausdrucks« vom repräsentativen und supplementierenden »Anzeichen«. Seine Lektüre zeigt, inwieweit jene Eigenschaften, die das Anzeichen charakterisieren (Abwesenheit, Supplementa-
27 Ebd., S. 164. 28 G. Boehm: Zuwachs an Sein. 29 W.J.Th. Mitchell: Der Mehrwert von Bildern, S. 294.
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rität, Wiederholbarkeit), sich auch auf die anderen Termini der Phänomenologie ausdehnen lassen, was zugleich auch diese grundlegende Unterscheidung der Untersuchungen, ihr eigentliches Vorhaben (die Reduktion der Äußerlichkeit des Zeichens) unterminiert. Die sich vergegenwärtigende Leistung der Phantasie dient in diesem Zusammenhang der Wiederherstellung bzw. Aufrechterhaltung der Unmittelbarkeit des Bewusstseins für sich selbst. Im Selbstgespräch als einem inneren Dialog etwa verwendet man nach Husserl keine reale, materielle und empirische, sondern bloß vorgestellte und in diesem Sinne bildhafte Zeichen, weshalb es das Bewusstsein nicht nötig hat, seine eigenen Erlebnisse für sich selbst durch empirische Anzeichen zu vermitteln bzw. zu repräsentieren: »In der Phantasie schwebt uns ein gesprochenes oder gedrucktes Wortzeichen vor, in Wahrheit existiert es gar nicht.«30 Das für sich selbst gesagte Wort ist demnach kein wirkliches Wort, sondern nur das Bild des Wortes, das somit vom wirklichen Erscheinen des Phänomens getrennt und als solches unabhängig wird. Diese Trennung der empirischen Erscheinung vom gegenwärtigen Sinn bzw. ihre Reduktion führt nach Derrida letztlich dazu, dass Husserl sowohl das vorgestellte Wort als auch dessen Inhalt für nichtig erklären muss.31 Dadurch erweist sich nicht nur die Idee einer nicht-sprachlichen Repräsentation als Fiktion, sondern auch die Unterscheidung von Wahrnehmung und Bewusstsein sowie Zeichen und Bedeutung, die in der Sprache gerade deshalb nicht möglich ist, weil die Sprache selbst nichts anderes ist als diese Differenz: »Die Sprache schlechthin ist dies.«32 Die Übersetzung bzw. Stabilisierung dieser Differenz in einer Unterscheidung stellt nach Derrida eine »Geste« dar, deren Ziel in Wirklichkeit die »Auslöschung des Zeichens«33 ist. Eine solche Unterscheidung der gegensätzlichen Aspekte des Zeichens oder Bildes wird zwar auch von Gadamer kritisiert, insofern das Wort, wie auch das Bild, in diesem Konzept nichts anderes ist als Darstellung und Sich-Darstellen zugleich, d.h. eine Einheit, in der »ergon« und »energeia« oder die Repräsentation und das Repräsentierte voneinander nicht zu trennen sind.34 Jedoch dient die Interpretation des Überschusses des Bildes als »Emanation« auch bei ihm dazu, die Kontinuität der Repräsentation wiederherzustellen. Wollen wir diesen eigentümlichen Überschuss, auf dem die ganze Analyse beruht, genauer charakterisieren, empfiehlt es sich, die Frage zu stellen, wie sich derselbe Vorgang auf
30 E. Husserl: Logische Untersuchungen II, S. 36. 31 J. Derrida: Die Stimme und das Phänomen, S. 66. 32 Ebd., S. 69. 33 Ebd., S. 71. 34 Zur Interpretation dieses Kapitels siehe: G. Deniau: Bild und Sprache, S. 65.
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eine andere Weise beschreiben ließe. Die bruchlose Kontinuität der bildlichen Repräsentation wird bei Husserl, in seinem Vortrag Phantasie und Bildbewusstsein (1904/5),35 durch den Begriff des »Bildobjekts« garantiert, der zwischen den Bewusstseinsakten von Wahrnehmung und Phantasie nicht nur einen Übergang schafft, sondern sie auch auseinanderhält. Die Fiktionalität und Nichtigkeit dieses Vermittlungsmoments, die ich in diesem Unterkapitel zeigen möchte, wird den Ursprung des gadamerschen Überschusses näher beleuchten. Zu Beginn seines Vortrags setzt Husserl die empirische Unterscheidung von Wahrnehmung und Phantasie der grundlegenden Unterscheidung der Phänomenologie entgegen: der von Gegenständen und den sie entwerfenden Bewusstseinsakten. Wahrnehmung und Phantasie lassen sich »praktisch leicht unterscheiden«.36 Hier besteht nämlich »ein Unterschied, der doch so greifbar und evident ist, dass niemand seine Existenz je anzweifeln könnte.«37 Je evidenter die empirische Tatsache des Unterschiedes ist, umso unmöglicher scheint es, diesen Unterschied auf erfahrungswissenschaftlichen Grundlagen zu theoretischer Klarheit zu bringen. Und eben da setzt die Phänomenologie ein, die den empirischen Unterschieden eine kognitive Unterscheidung gegenüberstellt. Der empirischen Erfahrung bleibt dieser Unterschied zwischen Akt und Gegenstand verborgen, denn die intentionale Seinsweise des Gegenstandes (d.h. der Bewusstseinsakt, durch den sich der Gegenstand konstituiert), wird von seinen inhaltlichen Aspekten restlos verdeckt. Genauso geht es mit den Phantasievorstellungen. Man verwechselt den sinnlichen Inhalt, der in der Phantasievorstellung erlebt ist und der als Repräsentant in der Phantasieauffassung fungiert, mit dem Gegenstand der Phantasie, man identifiziert beides.38
Die Aufgabe der phänomenologischen Analyse ist, vom Gegenstand des Bewusstseins den sinnlichen Inhalt sowie von diesen beiden die Art und Weise des intentionalen Aktes zu trennen. Wahrnehmung und Phantasie lassen sich also unter einem empirischen Gesichtspunkt, von ihren Inhalten her nicht unterscheiden, denn beiderseits kann derselbe Gegenstand zur Erscheinung kommen, und sogar beiderseits mit genau denselben in die Erscheinung fallenden Bestimmtheiten, von derselben Seite, kurz,
35 E. Husserl: Phantasie und Bildbewusstsein. 36 Ebd., S. 15. 37 Ebd., S. 97. 38 Ebd., S. 7.
102 | D IFFERENZEN DES S PRACHDENKENS beiderseits sind auch die Erscheinungen »dieselben«, nur haben wir eben einmal Wahrnehmung und das andere Mal Phantasie. […] Für den, der so etwas wie Unterschiede der Auffassungscharaktere als phänomenologische Unterschiede nicht kennt, entfällt dieses Fundament möglicher Aufklärung, und so kommen die Verlegenheit und Verwechslung.39
Nimmt man das Beispiel genauer unter die Lupe, kann ersichtlich werden, dass wir hier in Wirklichkeit bereits einem semiologischen Problem gegenüberstehen: Die Inhalte der Wahrnehmung und der Phantasie lassen sich als unähnliche Elemente austauschen, durch einander ersetzen oder sogar unbemerkbar identifizieren, ohne dass wir den Wert dieser Differenz bestimmen könnten. Deshalb bedarf es der Unterscheidung der Bewusstseinsakte als miteinander zu vergleichender Elemente, d.h. eines terminologischen Systems, das dazu dient, materielle und immaterielle Systemelemente voneinander zu unterscheiden. Wahrnehmung und Phantasie sind also nicht miteinander zu identifizieren, jedoch lässt sich kein Unterscheid zwischen ihnen feststellen: Als Evidenz können wir es bezeichnen, dass im Sinn idealer Möglichkeit gesprochen zu jeder möglichen Wahrnehmungsvorstellung eine mögliche Phantasievorstellung gehört, die sich auf denselben Gegenstand bezieht und in gewissem Sinn auch genau in gleicher Weise. Vergegenwärtigen wir eine Landschaft, so entspricht ihr die Landschaft der Wahrnehmung, und dem phantasierten Zimmer entspricht das wahrgenommene Zimmer.40
Husserl lehnt Brentanos Konzept, das den Unterscheid in inhaltlichen Eigenschaften wie Intensität, Lebhaftigkeit, Dauerhaftigkeit und Flüchtigkeit erklärt, konsequent ab, da diese keinen »scharfen« Unterschied, sondern einen »bloß relativen«,41 d.h. nur einen Unterschied implizieren. Denn [e]s entsprechen sich wechselseitig […] innerhalb der Auffassung beiderseits verwandte Unterschiede: Z.B. sehen wir ohne weiteres, dass ebenso wie bei der Wahrnehmungsauffassung so bei der Phantasieauffassung zwischen Auffassungsinhalten und Auffassungscharakteren zu unterscheiden ist, dass Gegenstand und Inhalt nicht zu verwechseln ist.42
Es handelt sich also hierbei um zwei korrelative Unterscheidungen. Das tropologische (da durch Austauschoperationen bestimmte) Verhältnis von Inhalt
39 Ebd., S. 10. 40 Ebd., S. 15. 41 Ebd., S. 14. 42 Ebd., S. 16.
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und Gegenstand ist auf den figurativen Vergleich der Auffassungsakte angewiesen und umgekehrt: Ohne die vorausgesetzte Differenz zwischen Inhalt und Gegenstand oder Akt und Gegenstand wären die Auffassungsakte nicht voneinander zu unterscheiden. Die Differenz der beiden Unterscheidungen (die von Trope und Figur) ist in Hinsicht auf das Erhalten des Systems von entscheidender Bedeutung. Dies kann auch dadurch bestätigt werden, wenn man bedenkt, dass diese Art von Differenz, die jeweils zwei Operationen auseinanderhält, bei Saussure nichts anderem als dem sprachlichen Wert, und bei Luhmann der Grenze des Systems, d.h. der Sprache selbst, entspricht. Sie wird im vorliegenden Kontext durch den Begriff des Bildobjekts repräsentiert. Die bildliche Auffassung teilt sich bei Husserl in innere und geistige bzw. äußere und physische Bildvorstellungen, wobei die Letzteren die Bildvorstellungen im gemeinen Wortsinn [sind], also jene merkwürdigen Vorstellungen, bei denen ein wahrgenommener Gegenstand einen anderen durch Ähnlichkeit vorstellig zu machen bestimmt und befähigt ist, und zwar in der bekannten Weise, in der das physische Bild das Original vorstellig macht.43
Die an einen physischen Erreger geknüpfte Bildvorstellung hat nicht nur die Aufgabe, zwischen Physischem und Geistigem sowie zwischen Äußerem und Innerem zu vermitteln, sondern sie sollte auch den Unterschied zwischen Phantasie und Wahrnehmung aufrechterhalten. Deshalb ist es nötig, eine neue Art von Auffassungsakt vorauszusetzen, der weder mit den Wahrnehmungs- noch mit den Phantasieakten gleichzusetzen ist. Dies zieht wiederum eine Unterscheidung bzw. zwei neue Termini nach sich: das Bildobjekt und das Bildsujet. Somit haben wir es in den Bildvorstellungen nach Husserl mit drei »Objekten« zu tun: »Drei Objekte haben wir: 1) Das physische Bild, das Ding aus Leinwand, aus Marmor usw. 2) Das repräsentierende oder abbildende Objekt, und 3) das repräsentierte oder abgebildete Objekt. Für das letztere wollen wir am liebsten einfach Bildsujet sagen.«44 Bei der Auffassung der bildlichen Phänomene haben wir also mit drei Objekten oder abstrakten Momenten und daneben noch mit zwei Bewusstseinsakten zu rechnen, die sie in sich tragen, vermitteln und entwerfen: Das physische Bild verwandelt sich durch die Verbildlichung ins Bildobjekt, welches durch die Phantasie zum Bildsujet, d.h. zum dargestellten Inhalt wird. Obwohl im Text der Begriff des Bildobjekts auf den ersten Blick keine besonders wichtige Rolle spielt, hängt an ihm der Erfolg des ganzen Unterfan-
43 Ebd., S. 17. 44 Ebd., S. 19.
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gens. Das Bildobjekt zeichnet sich zuerst durch seine eigentümliche Zwischenposition aus: Bei der Wahrnehmung des Bildes ist ein physischer Gegenstand vorausgesetzt, der die Funktion ausübt, ein ›geistiges Bild‹ zu wecken, in der Phantasievorstellung im gewöhnlichen Sinn ist das geistige Bild da, ohne an einen solchen physischen Erreger geknüpft zu sein. Beiderseits aber ist das geistige Bild eben Bild, es repräsentiert ein Sujet.45
Das geistige Bild oder das Bildobjekt ist also doch von großem Belang: Verwechseln wir es mit dem physischen Bild oder dem Bildsujet/Gegenstand, haben wir die Möglichkeit der Begründung der Unterscheidung bereits unterminiert, denn im ersten Fall gelangen wir durch einen Umweg zur Wahrnehmung, im zweiten zur Phantasie zurück. Deshalb vermeidet Husserl von diesem Punkt an die Oppositionen, die an den Gegensatz von Wahrnehmung und Phantasie erinnern, wie etwa inneres Bild und äußeres Objekt oder den Gegensatz von Außenwelt und Bewusstsein. Das Bildobjekt kann weder der einen noch der anderen Seite angehören. Aufgrund ihrer mittleren Position nennt Husserl diese Art von Bildern wortwörtlich ein »Nichts«: Im einfacheren Fall der gewöhnlichen Phantasievorstellung hatten wir unter den Titeln Bild und Sache zwei Gegenstände unterschieden. Zwei Gegenstände vorstellig zu machen, bedarf es aber zwei Objektivierungen, zweier Auffassungen, bzw. es müssen in der Einheit der Phantasievorstellung phänomenologisch zwei Richtungen oder Komponenten der Auffassung sich unterscheiden lassen. Die naive Interpretation ist freilich viel einfacher. Im »Geiste« steckt das Bild, und »draußen« ist da allenfalls noch ein Gegenstand. […] Die naive Auffassung irrt aber vor allem darin, dass sie das geistige Bild sich als ein dem Geiste reell immanierendes Objekt denkt. Sie denkt sich das Bild geradeso im Geiste vorhanden, wie in der Wirklichkeit ein Ding. Im Geiste oder besser im Bewusstsein, phänomenologisch, ist aber kein Bildding vorhanden. Der Fall ist genau derselbe bei der physisch bildlichen Repräsentation, wo der gemalte Löwe zwar erscheint, aber nicht existiert, und bestenfalls ein wirkliches Ding, einen gewissen Löwen der Wirklichkeit vorstellig macht, der nun seinerseits existiert, aber im eigentlichen Sinn nicht erscheint. In beiden Fällen sind die Bilder (verstanden als die erscheinenden, analogisch repräsentierenden Gegenstände) in Wahrheit ein Nichts, die Rede von ihnen als Gegenständen hat einen offenbar modifizierten Sinn, der auf ganz andere Existenzen hinweist als diejenigen, als welche sie sich selbst ausgeben. Wahrhaft existiert das Bildobjekt nicht, das heißt nicht
45 Ebd., S. 21.
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nur, es hat keine Existenz außerhalb meines Bewusstseins, sondern auch, es hat überhaupt keine Existenz.46
Das Bildobjekt ist weder Wahrnehmungs- noch Phantasieerscheinung. Es kann folglich nichts anderes sein als das Erscheinen, das Ereignis des Erscheinens selbst, das die zugrunde liegenden Inhalte durch Analogie ins Bildsujet überträgt. Es repräsentiert das Sujet oder bringt es zum Erscheinen, es erscheint, um einen anderen Gegenstand vorstellig zu machen: »[I]ch mache mir [das Sujet] im Bild vorstellig, das Bild schwebt mir vor, ich meine aber nicht das Bild. […] [D]as Meinen richtet sich nun nicht nur auf das Bildobjekt für sich, sondern auf das dadurch Repräsentierte, Analogisierte«.47 Das Bild schwebt vor, ohne sich selbst sichtbar zu machen, es erscheint, ist aber keine Erscheinung im eigentlichen Sinne. Nur wenn das Bildobjekt das Geschehen der Erfahrung bzw. das Ereignis des Sehens selbst ist, lässt es sich nicht erfahren, deshalb ist das Bildobjekt als Erscheinen weder zu sehen noch zu meinen: Aber wohlgemerkt, die Erscheinung, so, wie sie wirklich gegeben ist, meint man dabei nicht; man sieht sie sich nicht etwa an, wie sie ist und erscheint, und sagt sich: Das ist ein Bild. Vielmehr lebt man ganz und gar in dem auf die Erscheinung sich gründenden neuen 48
Auffassen: im Bilde schaut man die Sache an.
Das Bildobjekt lässt sich also weder empirisch noch kognitiv, nur phänomenologisch, d.h. durch rhetorische (tropologische und figurative) Austausch-, Identifizierungs- bzw. Vergleichsoperationen aufzeigen. Es existiert gleichsam nur im Medium der Sprache; es ist selbst ein vermittelndes, sprachlich-rhetorisches Moment der Analyse, insofern es etwa mit dem intentionalen Gegenstand identisch und davon zugleich verschieden ist, je nachdem, welche Funktion es zu erfüllen hat: ob es ein – wenn auch nur vorübergehend erscheinendes – Instrument oder ein transparent-immaterielles Medium ist, wie etwa im folgenden Zitat: »Ihm [dem Gegenstand] entspricht keine Erscheinung. Er steht nicht gesondert da, in einer eigenen Anschauung da, er erscheint nicht als ein zweites neben dem Bild. Er erscheint in und mit dem Bild eben dadurch, dass die Bildrepräsentation erwächst.«49
46 Ebd., S. 21-22. 47 Ebd., S. 24. 48 Ebd., S. 26. 49 Ebd., S. 28.
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Dem phantasierten Gegenstand »entspricht keine Erscheinung«, dem wahrgenommenen aber auch nicht – in der Bildauffassung gehört zum physischen Bild keine eigene Erscheinung: Wir sehen Papier. Die Bildauffassung verdrängt die Papierauffassung, soweit die Auffassungsinhalte sich decken. Oder noch besser: Das Bildobjekt erscheint und ist Träger des Sujet-Bewusstseins. Die Auffassungsinhalte sind für diese Erscheinung aufgebraucht. […] [Die Papierauffassung] ist nicht Erscheinung, da ihr die Auffassungsinhalte geraubt sind. […] Das Bildobjekt siegt, sofern es zur Erscheinung kommt; die Auffassungsinhalte durchdringen sich mit der Bildobjektauffassung, sie verschmelzen zur Einheit der Erscheinung.50
Die Materialität, die inhaltlichen Empfindungen der Wahrnehmung werden durch eine Aufhebung in die des Bildobjekts, in seine Erscheinung umgesetzt. Die Erscheinung des Bildes kann man zwar nicht sehen, dennoch (und eben deshalb) hat sie die Funktion, die Unterscheidungen sichtbar zu machen und sie zur Erscheinung zu bringen. Nicht nur das Erscheinen des Sujets ist auf die »Mittelbarkeit des Vorstellens«,51 auf dieses unsichtbare Objekt angewiesen, sondern auch die perzeptiven Inhalte, die Empfindungen, die »für diese Erscheinung aufgebraucht«52 werden und an sich nicht mehr wahrnehmbar sind. Es scheint, dass sich die tropologische Struktur der Repräsentation (»eine erscheinende Gegenständlichkeit [gilt] nicht für sich, sondern für eine andere, nichterscheinende bildmäßig repräsentierte«53 ) nicht auf die Konstitution des Bildobjekts beschränken lässt. Denn, wie gezeigt, lässt sich die stellvertretende oder repräsentierende Funktion, ebenso wie die iterable Struktur des Anzeichens,54 auch auf die anderen Unterscheidungen des terminologischen Systems ausdehnen. Das Erscheinen der Gegenstände lässt sich demnach weder behaupten noch verneinen, oder es lässt sich (was nicht das Gleiche ist) nur behaupten und verneinen zugleich. Was wir über das Erscheinen behaupten, entfaltet sich in beiden Fällen durch eine Paradoxie. Im einen Fall verneinen wir, in dem anderen bejahen wir die Paradoxie. Diese ihre beiden Erscheinungsformen eröffnen zwei korrelative Wege, die sich nicht leicht unterscheiden lassen: Das gleichzeitige Bejahen der sich ausschließenden Interpretationen des beschriebenen Vorgangs (die Erscheinung erscheint und erscheint nicht) bewahrt die (im strengen Sinne
50 Ebd., S. 46. 51 Ebd., S. 24. 52 Ebd., S. 45. 53 Ebd., S. 29. 54 Vgl. J. Derrida: Die Stimme und das Phänomen, S. 71.
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undenkbare) Paradoxie, ihre gleichzeitige Verneinung (das Bildobjekt kann weder mit dem Inhalt noch mit dem Sujet identisch sein) setzt demgegenüber ein neues Element, einen Ersatz oder einen Überschuss – das Bildobjekt (voraus). Diese unbemerkbare Differenz zwischen Bejahung und Verneinung bildet nicht nur die nichtige Seinsweise, gleichsam die Form des Bildobjekts, sondern ordnet auch die Unterscheidungsoperationen des phänomenologischen Systems in eine Einheit. Wollen wir die Funktion des Bildobjekts im systemtheoretischen Zusammenhang deuten, könnten wir es auch als das symbolische Medium dieses phänomenologischen Systems bezeichnen. Denn es wird, ähnlich wie das Medium des Systems bei Luhmann, durch den Vollzug der Operationen verdeckt; es entzieht sich und tritt zugleich als ausgeschlossenes Drittes in der Form einer Paradoxie hervor. Sein Überschuss ist im System nicht eindeutig zu situieren: Das Bild tritt entweder durch das Sujet oder durch den Inhalt in Erscheinung, oder eben umgekehrt: Es bringt als Erscheinen bald das eine, bald das andere zur Erscheinung. Es lässt sich in der Analyse bald mit dem einen, bald mit dem anderen gleichsetzen; es wechselt durch seine ambigue Erscheinung ständig den Bezugsrahmen oder Sinn des Systems, ohne dass es zu bemerken wäre. Durch diesen Begriff des Bildes werden auch die Operationen des Systems organisiert: Sein Doppelcharakter führt den husserlschen Diskurs zur Anwesenheit des Bewusstseins zurück.
3.3 D AS M EDIUM
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Demnach erscheinen die Unterscheidungen des Systems von einem Überschuss als einem Ereignis der Darstellung her, der jedoch nicht dem dargestellten System angehört. Aber inwiefern entspricht dieser Bildbegriff jenem Mehr, das sich bei Gadamer am Widerstand gegen die ästhetischen Unterscheidungen zeigt? Ob sich wohl auch bei Gadamer ein ähnlich zweideutiger Begriff oder eine Art von »Ornament« entdecken lässt, das das System rahmt, seine Form ständig verändert bzw. die Unterscheidungen aufrechterhält, ohne selbst in den Vordergrund zu treten? Mit der nichtigen Seinsweise des Bildobjekts könnte man aus dem Kapitel über die Seinsvalenz des Bildes vor allem das Spiegelbild in Parallele stellen. Das Beispiel des Spiegelbildes kann den Standpunkt des hermeneutischen bzw. ästhetischen Bewusstseins sowohl bestätigen als auch in Zweifel ziehen, indem es ihren Unterschied bewahrt und zugleich infrage stellt. Das Spiegelbild kann zum einen die Nachträglichkeit der Unterscheidung von Urbild und Abbild enthüllen: »Insofern bestätigt der Spiegel, was hier grundsätzlich zu sagen ist, daß dem Bild gegenüber die Intention auf die ur-
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sprüngliche Einheit und Nichtunterscheidung von Darstellung und Dargestelltem geht. Es ist das Bild des Dargestellten – es ist ›sein‹ Bild (und nicht das des Spiegels), was sich im Spiegel zeigt.«55 Diese Art von Abbildung vermittelt das Bild des in den Spiegel Blickenden auf unmittelbare Weise, d.h. ohne dass die Differenz von Darstellung und Dargestelltem auf irgendeine Weise bemerkbar wäre. Deshalb kann sie nicht nur die Kontinuität der Darstellung als den nichtreflexiven Prozess der Interpretation und die Nichtunterscheidung des dadurch Vermittelten veranschaulichen, sondern zum anderen auch die Funktion der restlosen Identifizierung (etwa des Passfotos) repräsentieren. »Das ideale Abbild wäre insofern das Spiegelbild. Es hat wirklich ein verschwindendes Sein. Es ist nur für den, der in den Spiegel blickt, und ist über sein reines Erscheinen hinaus ein Nichts.«56 Das Beispiel des Spiegels zeigt also einerseits die Ereignishaftigkeit des Blickes bzw. die Priorität jenes Erkenntnisvorgangs auf, den auch der Betrachter des Werkes gleichsam «vollziehen«, oder genauer: auf den er sich ohne das Dazwischenkommen eines reflexiven Aktes einlassen muss, damit das Dargestellte als ein Mehr zum Vorschein kommt. Das Bild des Spiegels gibt uns einfach keine Gelegenheit, es objektiv zu betrachten oder als Gegenstand zu greifen; es widersteht den ästhetischen Unterscheidungen. Aber diese Nichtigkeit und Flüchtigkeit des Spiegelbildes macht nicht nur die immaterielle Materialität der interpretierenden Darstellung sichtbar, sondern stellt andererseits auch die Trennung des eigentlichen Bildes vom Abbild infrage. Von diesem Beispiel her gesehen kann man zwischen den Ereignissen der sich aufhebenden Funktionalität und des Hervortretens des Mehr nicht mehr unterscheiden. Das Spiegelbild lässt sich nur mit diesem flüchtigen und augenblicklichen Ereignis, aber nicht mit der »Materialität« (bei Gadamer: dem »Sein«) der Bilder in Parallele setzen; in dieser Hinsicht unterscheidet es sich sowohl vom Abbild als auch vom eigentlichen Bild. Seine Nichtigkeit ist ein gutes und zugleich schlechtes Beispiel für die Seinsweise des Bildes; es ist diese Eigenschaft, die die beiden Begriffe des Bildes miteinander verbindet und zugleich voneinander trennt. Das Spiegelbild lässt sich also weder mit dem Bild noch mit dem Abbild restlos identifizieren: In Wahrheit ist es [das Spiegelbild – H. H.] aber überhaupt kein Bild oder Abbild, denn es hat kein Fürsichsein. Der Spiegel wirft das Bild zurück, d.h. der Spiegel macht jemandem das, was er spiegelt, nur solange sichtbar, als man in den Spiegel sieht und darin sein eigenes Bild oder was sich sonst in ihm spiegelt gewahrt.57
55 H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 144. 56 Ebd., S. 143. 57 Ebd.
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Das Spiegelbild lässt sich in dieser Hinsicht auch dem eigentlichen Bild entgegensetzen: Das Spiegelbild ist eben ein bloßer Schein, d.h. es hat kein wirkliches Sein und wird in dieser flüchtigen Existenz als abhängig von der Spiegelung verstanden. Wohl aber hat das Bild im ästhetischen Sinne des Wortes ein eigenes Sein. Dies sein Sein als Darstellung, also gerade das, worin es mit dem Abgebildeten nicht dasselbe ist, gibt ihm gegenüber dem bloßen Abbild die positive Auszeichnung, ein Bild zu sein.58
Das Medium oder die Dimension, wodurch man etwas im eigentlichen Sinne sehen kann, ist folglich nichts anderes als jener ungeteilt-homogene, phänomenale Vorgang, der beim Bild als Darstellung, beim Abbild als Identifikation und beim Spiegelbild als Blick das Dargestellte vermittelt. Wenn sich aber diese Vorgänge je durch ihren nicht-reflexiven, unbewussten Charakter auszeichnen, dann kann man letztlich nicht wissen, welche Art der Phänomenalität es ist, die das Dargestellte – wohl aber in allen drei Fällen auf eine andere Weise – vermittelt. Das Spiegelbild unterscheidet sich offensichtlich sowohl vom Abbild als auch vom eigentlichen Bild, denn es besitzt keine selbstständige Materialität, die dieses Bild bleibend und somit wiederholbar machen, d.h. fixieren oder archivieren würde. Betrachtet man dieses Problem von der Kunsttheorie Luhmanns her, könnte man das beispielhafte Ereignis dieses Blickes als das symbolische Medium des Bildes und des Abbildes bezeichnen (das zugleich auch eine Differenz in sich birgt, durch die die Grenze von Wahrnehmung und Bewusstsein oder Materialität und Immaterialität gar ungreifbar wird). Diese drei Arten von Bildern unterscheiden sich nur in der Art und Weise der sie bezeichnenden Unterscheidung, in deren Entfaltung/Darstellung die Differenz als Paradoxie erscheint. Während die Operation des Abbildes die Paradoxie der Differenz verdeckt, kommt sie im eigentlichen Bild zum Vorschein. Es ist aber vielsagend, dass bei Gadamer nicht von Paradoxie oder Differenz, sondern von der Emanation eines Überschusses die Rede ist, deren Bedingung, gerade im Gegenteil, eine Nichtunterscheidung ist. Aber wie kann man von dieser Nichtunterscheidung die ästhetische Unterscheidung unterscheiden, wenn sie als Vollzug bzw. mediales Ereignis gleichermaßen unbewusst oder nicht-reflektierbar sind? Oder anders: Inwieweit kann das Vollziehen/Nicht-Vollziehen einer Unterscheidung das Kriterium ihrer Unterscheidung sein? Nimmt man die terminologischen Gegensätze genauer unter die Lupe, wird auch ersichtlich, dass Gadamer die Unterscheidungen der ästhetischen Reflexion
58 Ebd., S. 144.
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durch das Prinzip der Nichtunterscheidung nicht nur aufhebt oder zurückzieht, sondern zugleich auch verdoppelt. Dadurch entsteht eine Form im luhmannschen Sinne, die durch ihren Wiedereintritt in sich selbst aus sich selbst als solche beobachtbar wird. Denn die Darstellung wird erst dann zum interpretierenden Vollzug, zum eigentlichen Bild, wenn man Urbild und Abbild nicht unterscheidet bzw. sie in ihrer ursprünglichen Einheit belässt. Somit ist das Bild in Wahrheit sowohl Abbild als auch Urbild. Dadurch muss man aber nicht nur den Sinn des Abbildes, sondern auch den des Urbildes modifizieren bzw. verdoppeln. Die Emanation des Urbildes, das Mehr des Dargestellten, ist nichts anderes als das Mehr dieser Verdoppelung: Das Bild ist mehr als das Abbild, weil es nicht mehr nur Abbild, sondern zugleich Urbild ist. Das eigentliche Bild beinhaltet nun die ästhetische Unterscheidung des Urbildes und des Abbildes auf dieselbe Weise zweideutig wie das Urbild. Dies bringt die folgende Paradoxie zum Ausdruck: »das Urbild wird erst vom Bilde her zum Bilde – und doch ist das Bild nichts als die Erscheinung des Urbildes.«59 Diese Verdoppelungen kommen durch die Umkehrung der ästhetisch-teleologischen Beziehung zustande.60 Für die ästhetische Reflexion (oder man könnte auch sagen: für den Beobachter erster Ordnung) bildet nämlich das Abbild ein Seiendes ab, das vor dieser Abbildung und auch unabhängig von ihr existiert. Diese Art von Betrachtung verwechselt aber Ursache mit Wirkung, denn für sie ist zunächst das Abbild gegeben, und erst danach setzt sie dessen Urbild. Vom Urbild lässt sich demnach nicht mehr entscheiden, ob es dem Bild vorangeht oder folgt, ob es Ursache oder Wirkung des Abbildes ist. Bild und Urbild sowie Darstellung und Dargestelltes sind sowohl von performativer als auch konstativer Natur, ebenso wie das husserlsche Bild, das die Unterscheidungen des Diskurses nicht nur darstellt, sondern auch selbst als Differenz einer Unterscheidung erscheint. Obwohl Gadamers Interpretation den Wiedereintritt der Form in sich selbst vollzieht, was gleichsam die Beobachtung einer Paradoxie ermöglicht, wird bei ihm nicht die Frage gestellt, ob »dann die Unterscheidung, die in sich wiedervorkommt und anders gar nicht vorkommen kann, dieselbe oder nicht dieselbe Unterscheidung [ist]?«61 Die Frage könnte in diesem Fall lauten: Wie kann man ästhetisches und hermeneutisches Bewusstsein sowie ästhetische Unterscheidung und hermeneutische Nichtunterscheidung unterscheiden? Inwiefern kann man die Spiegelhaftigkeit als das Medium dieses «Systems« interpretieren?
59 Ebd., S. 147. 60 »So stellt sich die Beziehung des Bildes zum Urbild grundsätzlich anders dar, als sie beim Abbild gilt. Sie ist keine einseitige Beziehung mehr.« Ebd., S. 145. 61 N. Luhmann: Die Paradoxie der Form, S. 200.
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Um wieder auf das Beispiel des Spiegelbildes zurückzukommen: Es scheint zwar, dass das in den Spiegel-Sehen das Abbild mit dem Urbild identifiziert, doch ist diese Unterscheidung gewiss eine Abstraktion: Ursprünglich ist vielmehr ihre unteilbare Identität zu «sehen«. Aber was ist es genau, was man in diesem Augenblick sieht? Ist die immaterielle Materialität des Spiegels ein Ereignis der Darstellung, dann ist das sich in der Differenz entziehende Mehr, das im Spiegel zu sehen ist, nichts anderes als der Blick, durch den auch das Spiegelbild entsteht. Somit sollte dieses Bild sein eigenes Entstehen, den schaffenden Blick selbst präsentieren. Wie hängt diese Konstitution des Bildes mit der spekulativen Struktur der Sprache zusammen und wie kann sie dem Ich das Wiederkennen und die Wiederaneignung seiner selbst ermöglichen? Dieser eigentümliche Gesichtspunkt kann am besten vom lacanschen Spiegelstadium her beleuchtet werden. Bekanntlich symbolisiert bei Lacan das Spiegelstadium die Wurzel der imaginären Funktion. Dieses Stadium bezeichnet den hypothetischen Augenblick der Identifikation, den man als eine katachrestische Operation (einen unbemerkbaren und seinen Ursprung löschenden Austausch von unähnlichen Dingen) beschreiben könnte, und der bei Lacan durch das Beispiel des Sich-Erkennens des Kindes veranschaulicht wird. Dieser Austausch ist eine abstrakte Phase im Prozess der Entstehung des Subjektes, der für die weiteren Verdoppelungen bzw. Unterscheidungen den Ausgangspunkt bildet. Dieser Blick objektiviert, fixiert oder stabilisiert das gesehene Spiegelbild dadurch, dass er es durch eine geschlossene Form oder eine Gestalt ersetzt. Diese Form nennt Lacan »Ich-Ideal (je-idéal)«.62 Im zweiten Schritt identifiziert sich das »Subjekt« mit dieser Form, indem es sie als eine Katachrese an die (vorher leere) Stelle seiner selbst setzt: Was es vorher als Außen identifizierte, wird nun zum Inneren, und die Außenwelt wird wiederum zum Bild dieses inneren Spiegelbildes, dieser Trope oder Katachrese. Die symbolischen Systeme von Innen und Außen wechseln und spiegeln sich in einem unendlich imaginären Vorgang, ohne dass ihr ursprünglich realer Platz wiedererkennbar wäre. Das sich selbst sehende und reflektierende Bewusstsein wird durch diese Verdoppelungen und dieses Verkennen zum Bewusstsein des Selbst, dabei bleiben diesem Selbstbewusstsein die tropologischen Vorgänge, die seine Kehrseite oder gleichsam seine Form bilden, für immer verborgen. Stellt man die beiden Konzepte des Spiegels einander gegenüber, können sie ihre (für sich selbst) verborgenen Voraussetzungen (ihre latenten tropologischen Vorgänge) gegenseitig erhellen bzw. enthüllen. Gadamer etwa erschließt bei der Kritik der ästhetischen Unterscheidungen nicht ihren widersprüchlichen Charak-
62 J. Lacan: Das Spiegelstadium, S. 64.
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ter, sondern geht in der Regel von dem aus, was man »vom ästhetischen Bewusstsein vollzogen findet«.63 Im Gegensatz zu Lacan wird bei Gadamer die Differenz, die den katachrestischen Austausch (die erste Identifikation im Entstehen des Bewusstseins) ermöglicht, und die Operation, die den Darstellungsprozess des Bildes durch die Vorstellung eines ästhetischen Gegenstandes ersetzt, verdeckt. Jedoch situiert er die spekulative Struktur der Sprache bzw. »das auslegende Wort«, das »nicht als solches gegenständlich ist«,64 in diesem ersten »Stadium« der Identifikation bzw. in jenem Vorgang, zu dem man durch die Nichtunterscheidung zurückkehren soll: Denn das – den Verdoppelungen vorausgehende – Ereignis des in-den-Spiegel-Blickens, dieses symbolische Medium wird von Gadamer nicht als falsche Identifikation oder Verkennen, sondern als eine Trope der Wahrheit bzw. die Wiederaneignung der performativen Leistung des eigenen Blickes verstanden. Oder jedenfalls lässt er neben dem lacanschen kartesianisch-ästhetischen Irrweg die Möglichkeit offen, dass das Ereignis des Blickes in der Tropologie des Ersetzens nicht unkenntlich wird. Das sich selbst durch sein Spiegelbild erkennende hermeneutische Bewusstsein verkörpert das »ideale« Ich des Spiegelstadiums. In Gadamers spekulativer Struktur wird zwar auch eine Art von Identifikation vollzogen, jedoch führt dies nicht zum Verkennen, sondern einem Wiedererkennen, in dem das Sein des Ich sich durch die Wiederaneignung der eigenen Darstellung vermehrt und dabei »seine Kontinuität mit sich selbst [vertieft]«. 65 Im Unterschied zum lacanschen ist dieser phänomenale Spiegel, dank seiner Differenzlosigkeit, seltsamerweise durchsichtig. Er trägt nicht die Gefahr in sich, dass die Kehrseite des Spiegels dennoch dunkel ist und in ihm nur eine Gestalt erscheint, die schwanger mit den Entsprechungen [geht], die das Ich (je) vereinigen mit dem Standbild, auf das hin der Mensch sich projiziert, wie mit den Phantomen, die es beherrschen, wie auch schließlich mit dem Automaten, in dem sich, in mehrdeutiger Beziehung, die Welt seiner Produktion zu vollenden sucht.66
Die Differenz des Spiegels bleibt unter Gadamers Gesichtspunkt, der diese zum symbolischen Medium bzw. zur Dimension der Sprache erweitert, unsichtbar. Wegen dieser immanenten Differenz lässt sich jedoch nicht entscheiden, ob man in Wahrheit das Bild bzw. seine ungeteilte Phänomenalität «sieht« oder eine Art
63 H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 140. 64 Ebd., S. 477. 65 Ebd., S. 138. 66 J. Lacan: Das Spiegelstadium, S. 65.
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von geschlossener »Gestalt«, die bezeichnete Seite einer Unterscheidung. Von der ersten katachrestischen Operation kann man folglich nie wissen, wie und wann sie sich vollzieht. Ihr fiktives Ereignis kann aber zugleich auch Lacans Voraussetzung enthüllen: Ist der Spiegel des Verkennens/Erkennens als solchen nicht zu sehen, dann kann auch nicht sicher sein, dass das Ich in diesem Vorgang sich selbst verkennt oder sich falsch mit einem Anderen oder einem ihm unähnlichen Objekt identifiziert. Denn es besteht weiterhin die Möglichkeit, dass das Medium des Spiegels tatsächlich durchsichtig ist und in dieser Spekulation in Wahrheit eine Art von Wiedererkennen passiert. Die beschriebene Nichtigkeit der Differenz meldet sich vor allem an den Textstellen und in den Begriffen, die ihre Bedeutung durch eine Negation erhalten. Dafür könnte man in Wahrheit und Methode zahlreiche Beispiele finden: Wie die Negativität der Erfahrung67 »findet auch die logische Form der Frage und die ihr einwohnende Negativität ihre Vollendung in einer radikalen Negativität, dem Wissen des Nichtwissens.«68 Die hermeneutische Analyse des Bewusstseins des Spielenden gibt auch zu denken, insofern »[d]er Spielende wohl [weiß], was Spiel ist, und daß, was er tut, ›nur ein Spiel ist‹, aber er weiß nicht, was er da ›weiß‹.«69 Aber das prägnanteste Beispiel für die Ambivalenz der Negation ist die grundlegende Unterscheidung von Wahrheit und Methode, durch die Gadamer »der ästhetischen Unterscheidung, dem eigentlichen Konstitutivum des ästhetischen Bewusstseins, die ›ästhetische Nichtunterscheidung‹«70 entgegensetzt. Das Verneinungswort der Nichtunterscheidung macht sich selbstständig, indem es die beiden Seiten der Unterscheidung miteinander nicht nur identifiziert, sondern sie zugleich auch verdoppelt und somit weitere Unterscheidungen produziert. In der ästhetischen Nichtunterscheidung müssen wir nämlich die Verneinung des Unterschiedes gleichzeitig im wörtlichen und übertragenen Sinn nehmen, damit wir das hermeneutische Prinzip des guten Willens geltend machen und den Text entsprechend seiner Intention lesen bzw. das darin Gesagte verstehen können. Die Nichtunterscheidung negiert den Unterschied in der Dimension der ästhetischen Reflexion im wortwörtlichen Sinn (aber nicht aus dem Anspruch der unreflektierten Gegenwart: dies und nicht mehr soll bedeuten, dass »das Vermittelnde als Vermittelndes sich selbst aufhebt«71 ). Die Doppelheiten des spekulativen Spiegels (wie Bild und Dargestelltes, Werk und Darstellung,
67 H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 359. 68 Ebd., S. 368. 69 Ebd., S. 108. 70 Ebd., S. 122. 71 Ebd., S. 125.
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Wort und Sinn sowie Verstehen und Auslegung) sollten hingegen miteinander nicht identifiziert, sondern – um nun den Ausdruck selbst wortwörtlich zu nehmen – voneinander nur nicht unterschieden werden. Das Verstehen lässt sich zwar von der Interpretation nicht trennen (»[a]uch für das auslegende Wort gilt, wie für jedes Wort, in dem sich Denken vollendet, daß es nicht als solches gegenständlich ist. […] [Es ist] ungreifbar seinem eigenen Sein nach und doch das Bild zurückwerfend, das sich in ihm bietet«72 ), jedoch muss ihre Differenz bestehen bleiben. Diese Ambivalenz der Negation ist auch der Grund dafür, dass – vor allem bei den kunstontologischen Erörterungen – oft nicht entscheidbar ist, ob das Prinzip der Nichtunterscheidung auf den ästhetischen Unterschied von Werk und Vorstellung oder auf das hermeneutische Verhältnis von Werk und Darstellung angewendet werden soll. Die Spiegelhaftigkeit als die spekulative Struktur der Sprache symbolisiert für Gadamer die Freiheit und Offenheit des Verstehens bzw. des Dialogs, der durch den unmerklichen Austausch von gegensätzlichen Gesichtspunkten nicht nur die Verbindung, sondern auch die Unterscheidbarkeit der Dialogpartner sowie das (Wieder)Erkennen des Eigenen und des Fremden als solchen garantiert. Die geschichtliche Fremdheit der Tradition wird aus der Perspektive des Ich als ein Spiegelbild erschlossen, dem unter anderem auch der »Zuwachs« seines Seins zu verdanken ist. Das Verhältnis zur Vergangenheit als einem Anderen des Selbst ist kontinuierlich und unterbrochen, vertraut und fremd zugleich – durch diese Zweideutigkeit des Spiegels der Vergangenheit wird die Paradoxie der Differenz repräsentiert: »Eines und dasselbe und doch ein anderes zu sein, dieses Paradox, das von jedem Überlieferungsinhalt gilt, erweist alle Auslegung als in Wahrheit spekulativ.«73 Die Verdoppelungen, die durch die Trope des Spiegels entstehen, können jedoch auf einen Riss dieses Bildes hindeuten, der erneut die Frage nach der Fremdheit der Tradition sowie der Sprache des Anderen aufwirft. Ob man wohl das narzisstische Moment im Verhältnis zum Anderen ausschalten kann,74 das die Trope des Spiegels notwendig (oder zumindest offensichtlicher als die Idee einer Offenheit) impliziert? Was heißt es genau, dass die Gesichtspunkte im Dialog »ausgetauscht« werden? In welchem Sinne können sich die Blicke berühren?75 Von hier aus gesehen wird die Frage entscheidend, wie die Sprache des jeweiligen Anderen vermittelt, ob sie gehört oder gesehen bzw. nach welchem Konzept der Medialität sie verstanden wird. Aber wie lässt
72 Ebd., S. 477. 73 Ebd. 74 Vgl. J. Derrida: »There is No One Narcissism«, S. 199. 75 Vgl. J. Derrida: Berühren, Jean-Luc Nancy, S. 8.
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UND
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sich die Fremdheit des Anderen bzw. sein Unterschied zum Eigenen erkennen oder identifizieren?
Teil II. Ereignis – Fremdheit – die Andersheit des Anderen
4. Wer spricht, wenn die Sprache spricht? Zur Differenz zwischen Sprache und Denken bzw. Sprechen und Hören im Sprachdenken von W. von Humboldt, Heidegger und Gadamer
4.1 H EIDEGGER 4.1.1 Heideggers Sprache zwischen Spurhaftigkeit und »Otophilologie« oder die Ohren von Derrida Wollte man die Sprachauffassung des späten Heidegger in einem einzigen Satz zusammenfassen, könnte einem zuerst etwa die viel zitierte Aussage des Bandes Unterwegs zur Sprache in den Sinn kommen: »Die Sprache spricht«.1 Es ließe sich leicht zeigen, dass diese Aussage, wohl aus verschiedenen Gründen, bei jeder Interpretation widersprüchliche Reaktionen auslöst. Dies ist nicht nur der provokativen und tautologischen Wirkung des aus seinem Kontext herausgerissenen Zitats zu verdanken; es kann sogar, selbst durch eine genaue und gründliche Rekonstruktion der umgebenden Textstellen, unmöglich sein und bleiben, diese Ambivalenz (des Sinnes und der Reaktion) ein für alle Mal aufzuheben. Dass man sich auf dieses Versprechen, das für die Möglichkeit des restlosen Verstehens zu bürgen scheint, nicht unbedingt verlassen kann, daran erinnert die Umschreibung des Satzes durch Paul de Man: »Die Sprache verspricht (sich)«2 – die Sprache verspricht, oder im Gegenteil, sie verspricht sich, während sie spricht. Diese Vorsicht kann die Herausforderung, vor die uns die Sprachauffas-
1
»[W]ie west die Sprache als Sprache? Wir antworten: Die Sprache spricht.« M. Heidegger: Die Sprache, S. 12.
2
P. de Man: Promises (Social Contract), S. 277.
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sung des späten Heidegger stellt, jedoch nicht beseitigen. Die Ambivalenz seiner Aussage, die dem Subjekt seine Rechte abzustreiten bzw. die Differenz zwischen Subjekt und Objekt im Begriff der Sprache aufzuheben scheint, könnte uns in indirekter Weise auch an unsere Verantwortung als Leser erinnern – an eine Verantwortung des Verstehens, die nicht gegenüber etwas (einem Text, Objekt oder Gegenstand), sondern vielmehr gegenüber jemandem (der Sprache eines Anderen) besteht. Die Frage wäre also: Wer spricht, wenn die Sprache spricht? Wäre somit der Begriff der Sprache durch den Begriff des Anderen (und umgekehrt) zu ersetzen? Aber noch bevor wir mit diesen Fragen eine Art von »Rückkehr« des Subjekts und die damit verbundenen theoretischen Ansätze assoziieren, soll auf einen wichtigen Unterschied in der Art und Weise dieser Fragestellungen hingewiesen werden: Während die Frage nach der Rückkehr des Subjekts die Subjektivität immer noch von einem sich selbst gegenwärtigen Bewusstsein her und somit unabhängig von der Leistung der Sprache denkt, lässt sie sich bei den Philosophen, die auf die Geschichte des modernen Sprachdenkens die stärkste Wirkung ausübten, nicht vom Begriff der Sprache trennen. Nach den Sprachauffassungen Wilhelm von Humboldts, Gadamers, Heideggers und Derridas sind die Begriffe der Sprache und des Subjekts durch eine Art von Singularität verbunden, die sich – wie ihre Texte bezeugen – nur als eine Art von Differenz und/ oder Ereignis beschreiben lässt. Wichtiger sind aber über diesen gemeinsamen Ausgangspunkt hinaus die Unterschiede zwischen ihren Denk- und Sprechweisen. Denn es handelt sich hierbei nicht nur um Begriffe, mitteilbare Gedanken und Theorien über die Sprache, sondern ebenso um singuläre Signaturen dieser Autoren, um Schriften als Unterschriften, die ihre Gedanken über die Sprache gleichzeitig auch unersetzbar machen. Aber diese Zusammenhänge sind immer noch zu allgemein, um konkrete Fragen daraus formulieren zu können. Dazu bedarf es noch Geduld. Als Ausgangspunkt werden wir einen Textzusammenhang wählen, der die Begriffe des Ereignisses, der Differenz und der Sprache im zirkulären Verhältnis von Sprechen und Hören artikuliert. Aber bevor wir zu diesem Thema kommen, wenden wir uns zuerst – bzw. erneut – Heidegger zu, der uns zunächst einmal dabei helfen kann, aus dem Zentrum des Problems heraus die wichtigsten einschlägigen Kontexte zu entwerfen. Bekanntlich besteht die ereignishafte »Kehre« (denn »[w]ann und wie sie sich geschicklich ereignet, weiß niemand«3) des heideggerschen Denkens in der Radikalisierung des Denkens der Geschichtlichkeit, wodurch »der Blick sozusagen automatisch auf das Ereignis der Geschichte des sich entziehenden
3
M. Heidegger: Die Technik und die Kehre, S. 41.
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Seins gerichtet wird.«4 Von da an stellt Heidegger in seinen Vorträgen die Geschichtlichkeit des Seins und den – mit dem der Sprache eng zusammenhängenden – Begriff des Ereignisses in den Vordergrund (die Sprache »ist die Weise, in der das Ereignis spricht«5). Auch die Frage nach dem Wesen der Technik ist eng mit dem Wesen der Sprache verbunden. Die technische Redeweise des »Atomzeitalters« etwa zeigt nach Heidegger die Geschichte bzw. das Ereignis des Sich-Entziehens des Seins auf eine eigentümlich singuläre Weise, insofern sie sich selbst als »Geschick«6 oder als eine Art der Entbergung des Seins, d.h. ihre eigene sprachliche Leistung verdeckt, und somit ihr eigenes sprachliches Wesen vergisst.7 Die sich selbst vergessende Sprache der modernen Technik bestimmt nach Heidegger auch die Art und Weise, wie uns die Dinge der Welt erscheinen, wie sie uns ansprechen und dadurch zur Sprache kommen bzw. zur Sprache gebracht werden. Durch diese eigentümliche Sprache erscheinen sie nicht mehr als Gegenstand der Vorstellung (wie seit der Neuzeit des europäischen Denkens8), sondern nur noch als »Bestand«,9 der für einen weiteren Zweck gefördert und so zur Verfügung gestellt wird. Indem die Dinge auf diese Art und Weise bestellt bzw. gestellt, d.h. verstanden werden, werden nicht nur sie, sondern auch das Selbstverstehen des Menschen, das ja auf die hergestellten Dinge der Welt angewiesen und somit »herausgefordert, bestellt«10 ist, entstellt: So ist denn die moderne Technik als das bestellende Entbergen kein bloß menschliches Tun. Darum müssen wir auch jenes Herausfordern, das den Menschen stellt, das Wirkliche als Bestand zu bestellen, so nehmen, wie es sich zeigt. Jenes Herausfordern versammelt den Menschen in das Bestellen. Dieses Versammelnde konzentriert den Menschen darauf, das Wirkliche als Bestand zu bestellen.11
4
I. M. Fehér: Martin Heidegger, S. 280.
5
M. Heidegger: Der Weg zur Sprache, S. 266.
6
M. Heidegger: Die Technik und die Kehre, S. 24.
7
Vgl. ebd., S. 23-36.
8
Vgl. dazu: M. Heidegger: Die Zeit des Weltbildes.
9
»Welche Art von Unverborgenheit eignet nun dem, was durch das herausfordernde Stellen zustande kommt? Überall ist es bestellt, auf der Stelle zur Stelle zu stehen, und zwar zu stehen, um selbst bestellbar zu sein für ein weiteres Bestellen. Das so Bestellte hat seinen eigenen Stand. Wir nennen ihn Bestand.« M. Heidegger: Die Technik und die Kehre, S. 16.
10 Ebd., S. 17. 11 Ebd., S. 19.
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Schon allein an dieser eigentümlichen Redeweise Heideggers ist die Bedeutung der Sprache im Ereignis des Weltverstehens (wie »das Ereignis spricht«12) gut zu erkennen. Der enge – und zugleich schwer interpretierbare, einsehbare – Zusammenhang zwischen Sprache und Ereignis bei Heidegger ist auch der Grund, warum die »Kehre« (d.h. eine Wende des Denkens), die in den beiden Vorträgen über die Technik angekündigt wird, als eine »Kehre« der Sprache, als Einkehr in die oder Rückkehr zur Sprache, d.h. als eine Veränderung unseres Verhältnisses zur Sprache, als ein sprachliches Ereignis erfolgen, oder besser: geschehen soll. Deshalb kann nach Heidegger diese Kehre und der »Einblick in das was ist«13 vor allem durch die Erfahrung des Wesens der Sprache vorbereitet werden. Denn wir können nur als Hörende und Verstehende der Sprache unser Wesen als Menschen erlangen,14 unser Wesen er- oder an-eignen,15 welches Wesen auch das Wesen der Technik braucht, um »in den Wandel seines Geschickes geleitet [zu] werden.«16 Dieser Wandel des Denkens wird von Heidegger im Brief über den »Humanismus« (1946) als eine sprachliche Wiederholung inszeniert, in deren Ereignis der bisher zurückgelegte Weg des Denkens zum ersten Mal und in eigentlicher Weise erfahrbar wird: »Diese Kehre ist nicht eine Änderung des Standpunktes von Sein und Zeit, sondern in ihr gelangt das versuchte Denken erst in die Ortschaft der Dimension, aus der Sein und Zeit zu erfahren ist, und zwar erfahren in der Grunderfahrung der Seinsvergessenheit.«17 In diese Dimension, die also eine Dimension der Sprache oder eine sprachliche Dimension ist, können wir offensichtlich nur durch die Sprache gelangen, durch ihr Sprechen, Ansprechen oder Versprechen, aber vor allem durch das Hören von diesen, denn »[d]er Mensch muß, bevor er spricht, erst vom Sein sich wieder ansprechen lassen«.18 Die Zirkularität der erstmaligen Wiederholung des Ursprungs stellt
12 M. Heidegger: Der Weg zur Sprache, S. 266. 13 M. Heidegger: Die Technik und die Kehre, S. 44. 14 M. Heidegger: Der Weg zur Sprache, S. 260. 15 Ebd., S. 261. 16 »Weil jedoch das Sein sich als Wesen der Technik in das Gestell geschickt hat, zum Wesen des Seins aber das Menschenwesen gehört, insofern das Wesen des Seins das Menschenwesen braucht, um als Sein nach dem eigenen Wesen inmitten des Seienden gewahrt zu bleiben und so als das Sein zu Wesen, deshalb kann das Wesen der Technik nicht ohne die Mithilfe des Menschenwesens in den Wandel seines Geschickes geleitet werden.« M. Heidegger: Die Technik und die Kehre, S. 38. 17 M. Heidegger: Brief über den Humanismus, S. 328. 18 Ebd., S. 319.
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bekanntlich eine der wichtigsten Denkfiguren des heideggerschen Denkens dar, deren vielleicht bekanntestes Beispiel jene Aussage ist, die das Verhältnis des Seins zur Sprache artikuliert: Die Sprache ist das Haus des Seins. Oder wie Heidegger im Humanismusbrief schreibt: »die Sprache [ist] das vom Sein ereignete und aus ihm durchfügte Haus des Seins. Daher gilt es, das Wesen der Sprache aus der Entsprechung zum Sein, und zwar als diese Entsprechung, das ist als Behausung des Menschenwesens zu denken.«19 Aber die »QuasiMetapher«20 des Hauses des Seins will die Aufgabe des Zurückkehrens zum sprachlichen Wesen des Menschen nicht bloß veranschaulichen oder in ein Bild übertragen, sondern vielmehr mit ihren Schwierigkeiten konfrontieren, denen Heidegger zwölf Jahre später in Der Weg zur Sprache – »ohne Seitenblicke«21 – ins Gesicht schauen muss. Derrida bringt den nicht formalisierbaren Charakter dieser Metapher (sie ist keine einfache Inversion einer Trope, ist weder im wörtlichen noch im übertragenen Sinne zu verstehen22) in einem seiner Vorträge (1978), in dem er Heideggers Schriften über die Sprache bzw. ihre Terminologie analysiert, mit dem sichentziehenden Charakter des »Zuges«, des »Entzugs« und des »Risses« in Zusammenhang. Dabei stellt er sich die Frage, was in diesen Schriften mit der Metapher, der Sprache als Metapher geschieht, was ja die Frage voraussetzt, wie in diesen Schriften die Sprache geschieht, spricht, sich ereignet. Somit zeigt sich die heideggersche Sprache als eine Schrift, als Spuren oder Züge über die Sprache und der Sprache, die sich als Metasprache entzieht: »Seine Einschreibung [des Zuges – H. H.]« – schreibt Derrida – »kommt nur an, indem sie verschwindet, sich auslöscht – was auch, wie ich deutlich zu machen versucht habe, von der Spur und der ›différance‹ gilt.«23 Da also mit der eigentümlich-metaphorischen Sprache, durch die Heidegger den Begriff des Zuges und des Risses beschreibt, im Grunde genommen dasselbe wie mit dem beschriebenen Riss bzw. Zug selbst passiert (»es wird zwangsläufig eine im übrigen geteilte Linie gegeben haben, auf der die rhetorische Bestimmung ihre eigene Möglichkeit findet: im Zug, im Riß, d.h. im Entzug«24), hat man es in diesen Texten nach Derrida mit einem doppelten Entzug zu tun. Dem Zug (der Schrift) entspricht immer ein erneuter, dieselbe Schrift weiterschreibender und sie zugleich teilender Zug:
19 Ebd., S. 333. 20 J. Derrida: Der Entzug der Metapher, S. 222. 21 M. Heidegger: Der Weg zur Sprache, S. 242. 22 J. Derrida: Der Entzug der Metapher, S. 222-224. 23 Ebd., S. 229. 24 Ebd., S. 233.
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»Der ›Entzug/doppelte Zug‹ (retrait) ist weder ein Ding, ein Seiendes, noch ein Sinn. Er zieht sich vom Sein des Seienden als solches und von der Sprache zurück, ohne zu sein, ohne daß er an anderer Stelle ausgedrückt wäre; er reißt die ontologische Differenz selber auf.«25 Wie sich diese Beschreibung der Differenz des »Zuges« und des sprachlichen Ereignisses mit der Zirkularität des Sprechens und des Hörens in Zusammenhang bringen lässt – diese Frage können zum Teil Derridas spätere HeideggerLektüren beantworten. Jedoch nur zu einem Teil (und der Rest kann recht verwirrend sein), denn Derrida versteht diese Mehrzahl des heideggerschen Zuges knapp zehn Jahre später schon als eine tautologische »Otologie« von Sprechen und Hören, als eine »Otophilologie«,26 in der das ereignishafte Aufreißen der Differenz zwischen Sprechen und Hören nicht mehr allein durch die Differenzialität einer Spur ermöglicht wird, sondern vielmehr der Stimme des jeweiligen Anderen zu verdanken ist, die das Dasein als ein »Freund-Feind«27 anspricht, und in einem doppelten und zweideutigen Modus spricht. Derrida wendet sich in seinem 1993 erschienenen Beitrag zwar nicht zum letzten Mal dem heideggerschen Lebenswerk zu, jedoch schließt der Text in gewisser Hinsicht eine Reihe von Lektüren ab, die die singulären Merkmale bzw. idiomatischen Ausdrücke Heideggers unter anderem von der Zweideutigkeit des Begriffs des »Geistes«, des »Geschlechts«, der Differenz zwischen den Geschlechtern her öffnen und verdoppeln. In Heideggers Ohr nimmt Derrida auch eine Bruchlinie dieser idiomatischen Sprache als Ausgangspunkt: Er verfolgt die »Otologie« der sich selbst hörenden Sprache Heideggers diesmal durch die Figur des Freundes, die in einem rätselhaften Halbsatz von Sein und Zeit evoziert wird. Diese Lektüre kann auch von einem etwas breiteren Kontext – den Lektüren des Bandes – her gelesen werden, die ebenso um ein an Freunde adressiertes Zitat herum kreisen.28 Die eigentliche Bedeutung des – sich aus dem Kontext des heideggerschen Werkes seltsam abhebenden – Halbsatzes (der »Freund« wird nur an dieser Stelle erwähnt, er lässt sich weder als Terminus noch als Beispiel betrachten) kann erst von den vorigen Analysen her ersichtlich werden: In den Diskursen über die Freundschaft und Brüderlichkeit geht Derrida Ambiguitäten nach, in denen die Oszillation zwischen den sich ausschließenden
25 Ebd. 26 J. Derrida: Heideggers Ohr, S. 482. 27 Ebd., S. 492. 28 »›O meine Freunde, es gibt keinen Freund‹« – so lautet das Zitat von Montaigne, das zwar Aristoteles zugeschrieben wird, dessen genauer Ursprung jedoch unbekannt ist. Vgl. ebd., S. 18.
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Aspekten nicht durch kognitiv-philosophische, sondern »politische« Entscheidungen ermöglicht und aufrechterhalten wird. Eine Definition der Freundschaft zum Beispiel, die die Frage »Was ist Freundschaft?« durch das Aufzählen ihrer Bedingungen zu beantworten sucht, wird nach Derrida niemals die Frage beantworten können, wer der Freund ist. Genauso wird die Idee der Brüderlichkeit, die auf Symmetrie, Abzählbarkeit, dem Prinzip der Zahl und der Berechenbarkeit beruht, von ihrem Wesen her niemals der irreduziblen Singularität des Anderen gerecht werden können. Die Lektüren bringen in den analysierten Texten unter anderem eine konstitutive Spannung zwischen den Fragen nach dem was? und dem wer? sowie der Abzählbarkeit und der darin verschwindenden Singularität zutage. An dieser Spannung wird später in der vorliegenden Arbeit auch ersichtlich, dass das Zustandekommen einer auf der Idee der Freundschaft beruhenden Gesellschaft keines der beiden Prinzipien entbehren kann, die deshalb zwei einander ausschließende, miteinander unversöhnbare Prinzipien in sich vereinigt: Die Idee der Nation setzt nicht nur eine Verantwortung gegenüber der unvergleichbaren Singularität des Anderen voraus, sondern auch eine Berechenbarkeit der Masse und der Mehrzahl. Wie man am Ende der Aristoteles-Lektüre lesen kann: Diese beiden Gesetze lassen sich nicht aufeinander reduzieren; sie sind in tragischer und auf immer verletzender Weise unversöhnbar. Die Verletzung bricht zugleich mit der Notwendigkeit auf, seine Freunde zählen, die anderen abzählen, mit den Seinen haushalten, sie einer Ökonomie unterwerfen zu müssen – dort, wo jeder andere ganz anders ist.29
Das Evozieren der Stimme des Freundes bei Heidegger kann nach Derrida auf keiner der beiden Seiten dieser Verdoppelung oder Spannung eindeutig situiert werden. Denn der heideggersche Verweis auf diesen atopischen Topos lässt sich sowohl als eine geschlechts- und gesichtslose, allgemeine Figur des »Man« von Sein und Zeit lesen, als auch als ein beispielloses Beispiel, das als der Rede vorausgehende Stimme die Seinsweisen des Daseins (etwa das Mitsein) als das Verstehen des Anderen ermöglicht und artikuliert.30 Von hier aus gesehen hat die Stimme des Freundes im heideggerschen Diskurs keine partikuläre Rolle mehr: Seine doppelt artikulierte und gespaltete Figur konstituiert – wie dies von Derrida an einem sich über fast drei Jahrzehnte erstreckenden Textkorpus gezeigt wird – nicht nur die Offenheit und die verschiedenen Seinsweisen des Daseins, sondern dieser Freund ist es auch, der oder (wichtiger Unterschied) wer
29 J. Derrida: Oligarchen, S. 47. 30 J. Derrida: Heideggers Ohr, S. 430-431.
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die Dimension der Phänomenologie als solche, das phänomenologische »Als solche« eröffnet.31 Denn wie Heidegger formuliert: »Das Hören konstituiert sogar die primäre und eigentliche Offenheit des Daseins für sein eigenstes Seinkönnen, als Hören der Stimme des Freundes, den jedes Dasein bei sich trägt.«32 Derrida analysiert sorgfältig die dichte Semantik des Satzes und grenzt ihn von jeder terminologischen Identifizierung ab, um die Wiederherstellung der Kontinuität dieses eigenartigen Bruches im heideggerschen Diskurs zu vermeiden. Der Freund ist kein anderes Dasein, keine Frau, kein Mann, kein Mensch und keine Person, er lässt sich mit keinem dieser Begriffe gleichsetzen. Auch der zweite Teil des Halbsatzes, das »Rätsel des ›bei sich‹«33 lässt sich nach Derrida in der Sprache von Heidegger nicht eindeutig verorten: es »schließt die Exklusion und die Inklusion aus, die Transzendenz und die Zugehörigkeit, die Äußerlichkeit eines absolut Fremden und die Intimität des ganz Nahen, die Ferne und die Nähe.«34 Das Wort »tragen« aktiviert hingegen eine idiomatische Kette, in der sich die einzelnen Idiome – hauptsächlich in den späten Texten Heideggers – als miteinander »identisch« betrachten lassen, insofern sie in gewisser Hinsicht alle das Ereignis der sich in die Differenz zurückziehenden »Identität« benennen: wie etwa der »Unter-Schied«, die »Differenz«, deren »Walten« oder »Austragen«, der »Ruf«, das »Gönnen«, die »Gabe« und das »Ereignis«. Diese unabschließbar erscheinende Kette ist aber nicht lückenlos und homogen, denn sie schließt auch miteinander unvereinbare Begriffe ein: Daraufhin geht Derrida in den Texten von Heidegger den unmerklichen, »lautlosen«35 Verbindungen und Entkoppelungen der Begriffe von »logos«, »philein«, »philia» und »polemos» – man könnte auch sagen: in einer »Hör-weite« von nicht weniger als zwanzig Jahren – nach. Der Modus des »Mitseins« zum Beispiel, der den unmittelbaren Kontext des den Freund evozierenden Zitats bildet, wird von Heidegger in den letzten Kapiteln seines Werkes gerade nicht mit der Freundschaft, sondern dem Kampf, der Auseinandersetzung und dem »polemos« in Zusammenhang gebracht. Nach Sein und Zeit stellt Derrida die Rektoratsrede (Die Selbstbehauptung der deutschen Universität; 1933) und Die Einführung in die Metaphysik (1935) in den Vordergrund und zeigt, warum diese sich auf die Ideologie des Nationalsozialismus reimende Semantik (»Krieg« und »polemos«), die in den Texten Heideggers ab den dreißiger Jahren die Oberhand gewinnt, nicht mit jener sanf-
31 Ebd., S. 426. 32 M. Heidegger: Sein und Zeit, S. 163. 33 J. Derrida: Heideggers Ohr, S. 417. 34 Ebd. 35 Ebd.
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ten Terminologie (mit der »Harmonie«, dem »Einklang« und dem »philein«) in Widerspruch gerät, zu der der Freiburger Philosoph erst ab den Jahren nach dem Krieg zurückkehrt. Denn wenn auch die Auseinandersetzung und der Kampf Modi des Mitseins, des Hörens der Stimme des Anderen und der Offenheit des Daseins sind, dann werden die Widersprüche der Semantik durch die Stimme des Freundes nicht nur geöffnet, sondern – durch eine lautlose Verschiebung – ebenso ausgeglichen und versöhnt. Das Hören dieser »Verkettung«, die »lückenlos, unangreifbar, unauflöslich [scheint]«,36 ist nach Derrida erneut »eine Frage des Ohres«37: Die Frage ist also, wie und ob wir überhaupt die Mehrdeutigkeit hören, die sich – genauso wie die politischen Strategien – nicht formalisieren lässt.38 Das Hören der Obertöne von Kampf und Harmonie, ihr Heraushören aus dem Text setzt politische Entscheidungen voraus und bewegt sich in einem Bereich, »wo eine Entscheidung zuletzt von keinem Wissen sich mehr leiten lassen kann.«39 Aber die Unmöglichkeit der Formalisierung der Mehrdeutigkeit entbindet uns nicht von der Verantwortung ihrer Thematisierung, denn wer (und wie derjenige) diese Schriften oder Vorträge hört, interpretiert sie – dies kann auch reale und nicht nur faktische Konsequenzen haben (bekanntlich hat Heidegger diese Doppeldeutigkeiten seiner Texte nie thematisiert).40 Die zwei dargestellten – sich nicht unbedingt widersprechenden, jedoch schwer zu vereinbarenden – Fragerichtungen deuten auf eine ungreifbare Differenz zwischen der Sprache selbst und der Sprache des Anderen bzw. zwischen den Fragen von »was?« und »wer?«. Nach den Unterschieden dieser zwei Lektüren Derridas (die aus zeitökonomischen Gründen hier nur in groben Zügen vorgestellt wurden) kann sich die Frage stellen, wie man nach alledem den Zusammenhang von Sprechen und Hören verstehen kann: Wie sind die beiden Sprach- und Ereignisauffassungen, die Derrida aus den Texten von Heidegger entfaltet, miteinander in Zusammenhang zu bringen?: Der doppelte und spurhafte Zug/Entzug von Sprache und Metasprache in Der Entzug der Metapher einerseits; und jene eigentümliche »Otophilologie« andererseits, die Derrida später nicht mehr als spurhafte Öffnung beschreibt, sondern ganz im Gegenteil: als ein In-sich-Schließen der sich selbst hörenden Sprache entlang der Frage, was die Sprache sei.
36 Ebd., S. 445. 37 Ebd. 38 Ebd., S. 471. 39 Ebd., S. 486. 40 Ebd., S. 484.
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Zur Beantwortung dieser Frage, oder besser: zur Beleuchtung ihrer Schwierigkeiten kann uns der letzte Beitrag des zitierten Bandes von Heidegger, Der Weg zur Sprache, als Ausgangspunkt dienen. Er scheint ein guter Ausgangspunkt zu sein, nicht nur weil hier Heidegger das Verhältnis von Sprechen und Hören am prägnantesten darlegt, sondern auch, weil uns dieser von der humboldtschen Sprachauffassung ausgehende Vortrag eine gute Gelegenheit bietet, die oben genannten Fragen in einen komplexeren Zusammenhang – und zwar im Verhältnis der beiden Autoren zueinander – zu stellen. Die Zirkularität von Sprechen und Hören stellt für Humboldt eine genauso starke Bewegkraft dar; bei ihm ist sie vielleicht sogar noch ausgeprägter am Werk als im Denken Heideggers. Neben der Frage, wie ähnlich oder unterschiedlich die beiden Philosophen die Art und Weise dieser Zirkularität beschreiben, werden wir auch die Frage im Auge behalten, wie Heidegger die Sprache/das Sprechen von Humboldt versteht, bzw. ob bereits bei Humboldt eine Mehrdeutigkeit zu entdecken ist, die zwischen den Fragen »wer?« und »was?« oszilliert. Im Mittelpunkt dieses Kapitels steht also Heideggers erwähnter Beitrag sowie eine Abhandlung Humboldts (welche und warum, wird später geklärt). Der Grund, dass ich der Letzteren deutlich mehr Umfang gewidmet habe, ist nicht die deutliche Umfangsverschiedenheit der Primärtexte. Denn aus der eigentümlich ökonomischen Sprache Heideggers lassen sich genauso viele Einsichten gewinnen, wenn sogar nicht mehr (aber das ist wiederum keine Frage der Zahl), wie dies auch die zitierten und noch zu zitierenden Heidegger-Analysen zeigen können. Die Erklärung ist also einfach, dass bei Humboldt die Sprache des Du/des Anderen/der Anderen auch (aber natürlich nicht nur) im wörtlichen Sinne eine wesentlich größere Rolle spielt. Die Sprache des Anderen oder die Sprache als Andere ist wohl auch bei Heidegger da, zwar nicht einfach so im wörtlichen, sondern in einem genauso schwer zu beschreibenden Sinn, wie die von Derrida analysierte Figur des Freundes in seinem Lebenswerk. Ich beginne die Analyse mit Der Weg zur Sprache, werde ausführlicher mit Humboldt fortfahren, um danach in einem (wieder kürzeren) Abschnitt zu Gadamer zu kommen und auf den (dritten und) letzten Teil von Wahrheit und Methode einzugehen, auf jene Kapitel also, in denen Gadamer unter anderem Humboldts Sprachauffassung reflektiert. Diese letztere Verbindung wird ihre Bedeutung von der Beschreibung der – bei Humboldt auch in einem wichtigen Zusammenhang erscheinenden – tierischen Lautäußerungen und der Welt des Tieres her erhalten. Da es unter anderen wiederum Derrida war, der auf den Zusammenhang zwischen der Sprache des Anderen und des Tieres aufmerksam gemacht hat, wird es an dieser Stelle nötig sein, auch andere Schriften von Derrida kurz darzustellen. Zum Schluss kehre ich wieder zu Heidegger zurück, um einige Konsequenzen
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aus den Analogien zu ziehen, die, ohne dass ich es jedes Mal signalisiere, die ganze Zeit über gegenwärtig sein werden. Vorhin wurde das »Lebenswerk« Heideggers erwähnt – auch in Hinsicht auf diesen unvorsichtigen Wortgebrauch sollen einige Fragen geklärt werden. Jene unbestimmbare Grenze soll thematisiert werden, deren unmögliches Markieren dazu dienen sollte, den Anschein zu vermeiden, dass die Verfasserin dieser Arbeit in der umfangreichen Sekundärliteratur zu Heidegger oder sogar in den »Lebenswerken« der zitierten Autoren bewandert sei. Während das Kennen der Sekundärliteratur und die Auswahl der Zitate sowie das Herausreißen aus ihrem Kontext das Erwägen von inhaltlichen Aspekten, aber auch ethische Entscheidungen voraussetzen, ist es auch unvermeidbar, eine bestimmte – willkürlich und bis zu einem gewissen Grad immer unbewusst gezogene – Grenze geltend zu machen. Jede Interpretation muss wohl das Risiko eingehen, dass nicht berücksichtigte Texte und Textstellen die formulierten Thesen und Schlussfolgerungen, wenn auch nicht gleich widerlegen, aber gegebenenfalls modifizieren können. Das Ziel der vorliegenden Analyse ist also, bereits vorhandene Fragerichtungen – eher nur in ihren Akzenten – in andere Zusammenhänge zu stellen und dadurch zur differenzierten Artikulation des Problems beizutragen. 4.1.2 Die Differenz zwischen Sprechen und Hören in Der Weg zur Sprache Beginnen wir also mit der Frage, wie Heidegger auf dem Weg zur Sprache das Verhältnis von Sprechen und Hören bzw. »Sagen« und Denken entwirft. Die Formel, von der Heidegger in Der Weg zur Sprache (1959) ausgeht bzw. die er in seinem Text als einen Weg begeht – »Die Sprache als die Sprache zur Sprache bringen«41 – unterscheidet sich ihrem Wesen nach nicht von dem Bereich, in den wir durch das Hören und Verstehen dieser Sprache oder Formel gelangen sollten. Denn diese Formel, die die Sprache selbst zur Sprache bringen will, vermittelt keine Information,42 sondern deutet »auf ein Geflecht von Beziehungen, darein wir selber schon einbezogen sind.«43
41 M. Heidegger: Der Weg zur Sprache, S. 242. 42 »Der Vortrag, der die Sprache als Information bedenkt und dabei die Information als Sprache denken muß, nennt dieses in sich zurücklaufende Verhältnis einen Zirkel und zwar einen unvermeidlichen, zugleich aber sinnvollen. Der Zirkel ist ein besonderer Fall des genannten Geflechtes. Der Zirkel hat einen Sinn, weil die Richtung und die Art des Kreisens von der Sprache selbst durch eine Bewegung in ihr bestimmt
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Auf ein erstes Hören hin könnten wir ja diese Formel als nicht Anderes als eine einfache Tautologie hören (sogar dann, wenn wir den Ort oder den Kontext, aus dem sie spricht, nicht kennen). Wenn wir die Formel bedenken, über sie nachdenken und bei ihr verweilen, können wir versuchen, sie uns als eine Art von Zirkularität vorzustellen. Aber wir werden an der Erfahrung, die sie uns gewähren kann – und das ist der Bereich, in den wir durch Heideggers Erklärungen gelangen sollten – solange nicht teilhaben, bis wir sie nicht selbst wiederholen und erklären können, und zwar so, dass es auch jemand anderes versteht. Dazu reicht es natürlich nicht aus, wenn wir den Text mehrmals durchlesen (hier geht es offensichtlich auch nicht um eine bestimmte Anzahl von Durchleseprozessen) bzw. glauben, ihn zu verstehen oder nach langem Grübeln das darin Gesagte erfahren zu haben. Wir werden letztlich nur durch das Zur-Sprache-Bringen des Verstandenen dorthin gelangen bzw. uns in die Richtung bewegen können, von wo es aber schon immer die Aufgabe des Zuhörers oder des Lesers ist, sich auf denselben Prozess einzulassen und all dies zu wiederholen. Das entspricht natürlich nicht genau dem und der Art und Weise, worüber und wie Heidegger spricht, aber so ließe sich vielleicht am einfachsten die – in dieser Form wohl banal erscheinende – Erfahrung beschreiben und zur Sprache bringen, auf die wir uns im Folgenden einlassen wollen, und die sich offensichtlich auch nicht einfach mitteilen, kommunizieren oder anstelle des Lesers – als die Arbeit der Interpretation – vollziehen lässt. Die Analogie des Sprachweges mit der Übersetzung oder der Praxis der Textinterpretation mag auch im Kontext der anderen Beiträge des Bandes nicht als unbegründet erscheinen, die (bis auf den Dialog mit dem japanischen Freund) ebenso jeweils ein Gedicht interpretieren. Sie kann ferner auch zeigen, dass es dabei zwar nicht um eine Sache geht, mit der man sich alltäglich, zunächst und zumeist beschäftigt, jedoch ist uns ihre Erfahrung in der Tat gar nicht so fern, wie wir sie uns eventuell vorstellen; man könnte sogar sagen, dass wir uns schon in dieser Erfahrung bzw. in ihrer Möglichkeit befinden, unabhängig davon, ob wir davon wissen oder nicht. Daraus sollten wir aber nicht die Konsequenz ziehen, dass die Sprache als eine Art von Fähigkeit im Menschen liegt; wir dürfen uns die Sprache nicht vom Sprechen her als Sprechtätigkeit vorstellen.44 Denn die Bestimmung der Sprache
werden. Den Charakter und die Reichweite dieser Bewegung möchten wir aus der Sprache selbst erfahren, indem wir uns auf das Geflecht einlassen.« Ebd., S. 243. 43 Ebd., S. 242. 44 »Seit dem Griechentum wird das Seiende als das Anwesende erfahren. Sofern die Sprache ist, gehört sie, das je und je vorkommende Sprechen, zum Anwesenden. Man stellt die Sprache vom Sprechen her in der Hinsicht auf die gegliederten Laute, die
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als eine Fähigkeit des Menschen, diese Vorstellung, die nach Heidegger »durch die Jahrhunderte im abendländischen-europäischen Denken die tragende und leitende geblieben [ist]«,45 und die sich »zu ihrer Gipfelhöhe in Wilhelm von Humboldts Sprachbesinnung [sammelt]«,46 denkt die Sprache nicht aus ihr selbst; sie bringt sie nicht als Sprache zur Sprache, sondern begreift sie in Hinsicht auf eine allgemeine Vorstellung, indem sie sie etwa als Ausdruck des Geistes oder Repräsentation der Welt versteht. Heidegger geht nach Humboldt auch vom Sprechen aus. Er bringt es aber gleich als »eine Mannigfaltigkeit von Elementen und Bezügen«47 zur Sprache, die man nicht mehr in Gegensätzen – wie etwa von Ausdruck und Inhalt – ordnen kann, und zwar weil es die verschiedenen grammatischen Formen des Wortes »Sprechen« – wie das folgende Zitat zeigt – einfach unmöglich machen: »All dieses ist je schon bald so, bald anders angesprochen, als Angesprochenes besprochen und durchgesprochen, gesprochen in der Weise, daß die Sprechenden zu- und miteinander und zu sich selber sprechen. Das Gesprochene bleibt indes vielfältig.«48 Dabei geht es natürlich nicht nur um bloß formale Modifizierungen eines Wortes; dadurch, dass wir diese Worte einfach so zusammenfassen, hören wir sie noch nicht in der Weise, wie sie sprechen, wir hören noch nicht das, was sie sagen. Deshalb ist es wichtig, schon hier darauf aufmerksam zu machen, dass – wie Csongor Lőrincz schreibt – »die Mannigfaltigkeit des Gesprochenen keine einfache Mehrzahl von Sprechweisen heißt, sondern – laut dem folgenden Absatz – mit dem Ungesprochenen in Zusammenhang [steht].«49
Träger von Bedeutungen vor. Das Sprechen ist eine Art der menschlichen Tätigkeit.« Ebd., S. 245-246. 45 Ebd. 46 Ebd. 47 Ebd., S. 251. 48 Ebd. 49 Cs. Lőrincz: A »Sage« mint szövegfogalom Heideggernél, S. 195. Bereits in diesen Abschnitten des Textes lässt sich die Denkfigur entdecken, die aber als solche erst später sichtbar wird: »›Das Ungesprochene‹ verhält sich nämlich ähnlich wie das Dasselbe, das die drei Elemente der Wegformel aus dem Eigentümlichen des Einen der Sprache zusammenhält, d.h. es kann sowohl die Momente des Besprochenen, des Ausgesprochenen, als auch die des Zugesprochenen in sich sammeln.« Nur wenn man zu den zitierten Textstellen von der Erfahrung des Textes her zurückkehrt und sie in dieser Weise wiederholt, kann ersichtlich werden, inwieweit bereits »am Anfang« des Textes die Zirkularität am Werk ist, d.h. eine strenge Ökonomie, dank deren, falls man sich auf sie denkend einlässt, kein Wort mehr als überflüssig
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Aber wir fahren hier aus strategischen Gründen fort (und gehen das Risiko ein, das im Text Gesagte zu vereinfachen), um uns auf ein bestimmtes Moment des Textes zu konzentrieren. Die Mannigfaltigkeit des Sprechens sowie seine Bezüge, die das Sprachwesen durchweben und umreißen, wird von Heidegger unter dem Begriff »Aufriß«50 zusammengefasst. Dieses Benennen haben wir uns aber nicht als einen in diesen Zusammenhängen nachträglich und von außen eingreifenden Akt vorzustellen, sondern vielmehr als einen »Ruf«,51 der sich aus der Sprache selbst ergibt, den uns die Sprache selbst gibt. Wie hierzu Derrida bemerkt,52 wird diese Namengebung von Heidegger nicht als ein willkürlicher Akt des Schreibenden inszeniert, sondern als Erschließen von bereits vorhandenen sprachlichen Verhältnissen. Wie Heidegger schreibt: »Die gesuchte Einheit des Sprachwesens heiße der Aufriß. Der Name heißt uns, das Eigene des Sprachwesens deutlicher zu erblicken.«53 Es scheint, dass die im Text Schritt für Schritt eingeführten Begriffe nicht dem Sprechenden/Schreibenden, sondern der Sprache selbst zu verdanken sind, dass sie dem Hören des Schreibenden auf die Sprache entspringen. »Heidegger sagt nicht: ich entscheide willkürlich, welchen Namen der Aufriß erhält, er sagt: sie – die gesuchte Einheit – heiße, in der Sprache, die entscheidet, Aufriß. [Hervorhebung von H. H.]«54 Der Zusammenhang des »Aufrisses« mit den Schlüsselbegriffen des Textes wird von Lőrincz ausführlich analysiert.55 Im vorliegenden Kontext kann dieses Idiom von seiner eigentümlichen Leistung her an Bedeutung gewinnen, aufgrund deren es die geläufigen Begriffe des Hörens und des Sprechens verdoppelt und modifiziert. Denn der Begriff »Aufriß« wird von einer kaum bemerkbaren Bruchlinie durchzogen, die im Text gewisse Doppeldeutigkeiten produziert und somit zu semantischen Widersprüchen führt, deren Widerstreit ich im Folgenden zu verschärfen versuche. Dieser Riss des Textes bzw. die latente Differenz des Aufrisses dient im heideggerschen Gedankengang zunächst einmal dazu, die gewohnten Oppositionen, mit denen das Sprechen und das Hören in der Regel in
erscheint. So zeigt Csongor Lőrincz – unter anderem in diesem Absatz – den Zusammenhang des Ungesprochenen mit der Gabe des Wortes als einem Versprechen auf, das »man somit gerade nicht aussprechen, nur ›zur Sprache bringen‹ (dem Versprechen als der Gabe, der Gabe als dem Versprechen entsprechen) kann.« Ebd., S. 195. 50 M. Heidegger: Der Weg zur Sprache, S. 251. 51 Cs. Lőrincz: A »Sage« mint szövegfogalom Heideggernél, S. 196. 52 J. Derrida: Der Entzug der Metapher, S. 230. 53 M. Heidegger: Der Weg zur Sprache, S. 252-252. 54 J. Derrida: Der Entzug der Metapher, S. 230. 55 Cs. Lőrincz: A »Sage« mint szövegfogalom Heideggernél, S. 196-199.
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Verbindung gebracht werden – Rezeptivität/Produktivität, Passivität/Aktivität –, aufzubrechen oder aufzureißen bzw. sie aus der gewohnten Verbindung, der üblichen Vorstellung herauszulösen. Was uns also dieser Begriff nicht sagt und verrät, ist, wie das Gefüge von Zügen, Bezügen und Rissen, »die Zeichnung des Sprachwesens, das Gefüge eines Zeigens«56 entstanden ist. Wie die Benennung der Mannigfaltigkeit des Sprechens, d.h. des Sprachwesens kein willkürlicher oder intentioneller Akt ist, so ist auch das Aufreißen des Aufrisses nicht im Sinne eines Handlungsaktes, wie etwa als Aufreißen eines Planes zu verstehen. Wie der »Zug«, der »die ontologische Differenz selber auf[reißt]«,57 reißt auch der »Aufriß» sich selber auf. In diesem Verständnis des Sprachwesens, das jeder Opposition vorausgeht und diese erst ermöglicht, können Subjekt und Objekt, Aufreißen und AufgerissenWerden nicht unterschieden werden. Es ist die Sprache selbst, die handelt und spricht, und sie löscht, wie eine Schrift, die Fragen nach ihrer Entstehung aus. Der Aufriss ist zwar weder im aktiven noch im passiven Sinne zu verstehen, er lässt sich weder auf die Handlung eines Subjekts noch auf die bereits vorliegenden Züge einer Zeichnung reduzieren, jedoch wird der Riss, der Zug, die Differenz zwischen diesen Gegensätzen nicht aufgehoben. Dieses Idiom, das die gegensätzlichen Aspekte des Aufreißens und des Aufgerissen-Werdens, des Reißens und des Risses miteinander unmerklich versöhnt und zusammenfügt, reißt das sprachliche Wesen des Menschen nicht in einem Gegensatz von aktivem Sprechen und passivem Hören, sondern – die beiden Aspekte vereinigend und doch nicht identifizierend – in und durch sich selbst, sozusagen als einen reißenden Riss auf. Auch wenn sich diese Gegensätze in den Zügen und Rissen der Zeichnung nicht auseinanderhalten und unterscheiden lassen, bleibt ihre Differenz bestehen. Und das Bestehen bzw. das Wesen dieser Differenz kann weder auf den einen noch auf den anderen Aspekt verzichten. Somit aktiviert der Name »Aufriß« auch die gewaltigen Bedeutungsaspekte des Verbs »aufreißen«. Für Heidegger ist es aber wichtig, dass diese Aspekte nicht als äußere, gewaltig-
56 »Der Name heißt uns, das Eigene des Sprachwesens deutlicher zu erblicken. Riß ist dasselbe Wort wie ritzen. Wir kennen den ›Riß‹ häufig nur noch in der abgewerteten Form, z.B. als Riß in der Wand. Einen Acker auf- und umreißen, heißt aber heute noch in der Mundart: Furchen ziehen. Sie schließen den Acker auf, daß er Samen und Wachstum berge. Der Auf-Riß ist das Ganze der Züge derjenigen Zeichnung, die das Aufgeschlossene, Freie der Sprache durchfügt.« M. Heidegger: Der Weg zur Sprache, S. 251-252. 57 Vgl. J. Derrida: Der Entzug der Metapher, S. 233.
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willkürliche Momente, sondern als durch ein »sanfte[s] Gesetz«58 zwingender Ruf der Sprache erscheinen. Dafür stellt der Ruf des Gewissens in Sein und Zeit59 ein gutes Beispiel dar. Diesen Ruf grenzt Heidegger ebenso von allen realen, von außen, etwa einem autoritären Anderen kommenden Stimmen ab und charakterisiert ihn als einen aus dem Dasein selbst aufbrechenden Ruf, der sich »als eine zum Sein des Daseins gehörende Bezeugung [offenbart], in der es dieses selbst vor sein eigenstes Seinkönnen ruft.«60 Somit hört man durch die Stimme des Gewissens nicht die real-artikulierte Stimme eines anderen Daseins, sondern sich selbst bzw. seine eigentliche Existenz, seine eigenste, unverwechselbare Singularität.61 Schon hier sei darauf hingewiesen, dass die Bedeutung der Differenz zwischen der Sprache als einem Anderen und der Sprache des Anderen auch bei Humboldt in diesem Bruch zwischen dem äußeren und zugleich inneren Ursprung der Sprache des Anderen bzw. der wahrnehmbaren Rede und der unwahrnehmbaren Gewalt des Anderen sichtbar wird. Aber kommen wir auf den »Aufriß« und seinen Zusammenhang mit dem Hören zurück. Wie der Aufriss zeichnet sich auch das Hören durch eine Mehrdeutigkeit aus, die zwischen den aktiven und passiven Momenten der Begriffe oszilliert. Der neu verstandene Begriff des Hörens, den Heidegger an diesem Punkt des Gedankengangs ins Gefüge des Textes einführt, lässt sich wohl von der beschriebenen Mehrdeutigkeit des Aufrisses her verstehen. Auch der Begriff des Hörens versammelt die üblichen Gegensätze und Oppositionen in sich, ohne ihre Differenz aufzuheben. Das Hören ist als Aufriss sogar nichts anderes als das Sichöffnen bzw. das Aufreißen als Aufgerissen-Werden einer Differenz, die die Mannigfaltigkeit des Sprechens in sich selbst zurückzieht; in der sich der gewohnte Begriff des Sprechens entzieht. Denn nachdem die Mannigfaltigkeit des Sprechens in die »Zeichnung«, d.h. Züge und Risse des Aufrisses gesammelt, sozusagen zurückgezogen wurde, beginnen sich diese Risse als ein sich öffnendes Hören abzuzeichnen. Dementsprechend lässt sich das Sprechen eigentlich auf das Hören zurückführen: Nach der Gewohnheit werden Sprechen und Hören einander entgegengesetzt: Der eine spricht, der andere hört. Aber das Hören begleitet und umgibt nicht nur das Sprechen, wie solches im Gespräch stattfindet. Das Zugleich von Sprechen und Hören meint mehr. Das
58 M. Heidegger: Der Weg zur Sprache, S. 259. 59 M. Heidegger: Sein und Zeit, S. 270-289. 60 Ebd., S. 288. 61 Zur Wandlung der Rolle des Hörens in Heideggers Philosophie siehe: D. Espinet: Phänomenologie der Hörens, S. 190-207.
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Sprechen ist von sich aus ein Hören. Es ist das Hören auf die Sprache, die wir sprechen. So ist denn das Sprechen nicht zugleich, sondern zuvor ein Hören.62
Das Hören ist in diesem Sinne kein bloßer Sinn, der das Sprechen wahrnimmt, sondern geht dem hörbaren Sprechen »in der unscheinbarsten Weise vorauf.«63 Während die Sprache vom lautlichen Sprechen her als eine Tätigkeit, Fähigkeit, Auszeichnung, ein Zug des Menschen erscheint, kehrt der neue Sinn des Hörens als Aufriss die Richtung dieses Bezuges um: Zeichnet die Sprache den Menschen aus, dann ist es nicht der Mensch, sondern die Sprache, die den Menschen zeichnet, zu sich zieht, seine Zeichnung aufreißt. Dieser Zug oder diese Zeichnung ist also keine Tätigkeit oder Fähigkeit, sondern das zeichnend-gezeichnete, reißend-aufgerissene Wesen, der Aufriss des Menschen. Das Hören wird vom Aufriss aufgebrochen, aufgerissen oder, was nicht dasselbe ist: Das Hören reißt und öffnet sich als Aufriss auf. Und genau in dieser Differenz, die den Aufriss ausmacht und ihn unbemerkbar teilt, meldet sich auch der veränderte Sinn des Sprechens, der den Weg der Betrachtung wieder, zum zweiten Mal verändert. Diese zweite Wandlung des Weges wurde eigentlich schon von der ersten vorbereitet, durch die wir die Sprache als ein verstehendes Hören erfahren (und nicht mehr als bloße Sprechtätigkeit vorgestellt) haben. Denn der veränderte Begriff des Hörens setzt bereits einen Unterschied zwischen Sprechen und Sagen voraus: »Sagen und Sprechen sind nicht das gleiche. Einer kann sprechen, spricht endlos, und alles ist nichtssagend. Dagegen schweigt jemand, er spricht nicht und kann im Nichtsprechen viel sagen.«64 Es ist also das Hören als ein Zug des Aufrisses, das Sagen und Sprechen voneinander unterscheidet. Denn sprechen »vermögen wir einzig dadurch, daß wir je schon auf die Sprache gehört haben. Was hören wir da? Wir hören das Sprechen der Sprache.«65 Während das Sprechen, das dem Hören in einem materiellen Sinne wahrnehmbar ist, aus Gewohnheit, etwa der gewohnten Vorstellung des Subjekts spricht, ist das Sprechen, das dem verstehenden Hören entstammt, kein Sprechen des Subjekts mehr, sondern ein Sprechen der Sprache. Von hier aus erweist sich die Definition des Sprechens als unzureichend, der die Wahrnehmbarkeit des materiellen Lautes oder des Zeichens zugrunde liegt. Das Hören bzw. das Verstehen des Sprechens der Sprache schließt die Wahrnehmung der eigenen Stimme sogar aus. Diesen veränderten Begriff des Sprechens als
62 M. Heidegger: Der Weg zur Sprache, S. 254. 63 Ebd. 64 Ebd., S. 252. 65 Ebd., S. 254.
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Sagen fasst Heidegger im Namen der »Sage« zusammen: »Das Durchgängige im Aufriß des Sprachwesens ist das vielgestaltige Sagen aus verschiedener Herkunft. Im Hinblick auf die Bezüge des Sagens nennen wir das Sprachwesen im Ganzen die Sage«.66 Nun enthüllt sich die Sage neben dem Hören als ein anderer Zug des Aufrisses, der die beiden trennt und zugleich vereinigt. Und es ist wiederum dieser Riss, an dessen Achse die gegensätzlichen Aspekte wieder ausgetauscht werden, was einen erneuten Perspektivenwechsel und somit die zweite Wandlung des Weges ermöglicht: Denn wie es sich nach dem erneuten Platzwechsel von Sprechen und Hören herausstellt, geht das Sprechen als Sage dem verstehenden Hören ja schon voraus, indem es nun das Sprechen der Sprache als Sage ist, die das Hören aufbricht, aufreißt. Das Sprechen der Sprache als Sage reißt die gewohnten Vorstellungen, das Hören als Verstehen auf, und bricht die Bahn für das Denken: Einen Weg bahnen, z.B. durch verschneites Feld, heißt heute noch in der alemannischschwäbischen Mundart wëgen. Dieses transitiv gebrauchte Zeitwort besagt: einen Weg bilden, bildend ihn bereit halten. Be-wëgen (Be-wëgung) heißt, so gedacht, nicht mehr: etwas nur auf einem schon vorhandenen Weg hin- und herschaffen, sondern: den Weg zu … allererst erbringen und so der Weg sein.67
Diese von uns jeweils schon gesprochene Sage sieht nur für uns in der Rücksicht auf uns wie eine jetzt erst erfolgte Verlagerung aus. In Wahrheit hat der Weg zur Sprache schon immer seine einzige Ortschaft im Sprachwesen selbst. Dies heißt jedoch zugleich: Der zunächst gemeinte Weg zur Sprache wird nicht hinfällig, sondern erst durch den eigentlichen Weg, die er-eignend-brauchende Be-wëgung möglich und nötig.68
Zu Beginn des Weges sind wir also noch von der in sich selbst geschlossenen zirkulären Vorstellung des sich selbst hörenden Sprechens, d.h. der Priorität des Sprechens gegenüber dem Hören ausgegangen (vom wahrnehmbaren Laut her schien die Sprache ein Ziel zu sein, zu dem wir auf dem dargestellten Weg gelangen sollen). Im Laufe des Weges hat diese Vorstellung eine zweifache Wandlung erfahren: Im ersten Schritt kam die Priorität des Hörens gegenüber dem Sprechen, im zweiten die der Sage gegenüber dem Hören zutage. In und zwi-
66 Ebd., S. 253. 67 Ebd., S. 261. 68 Ebd.
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schen diesen verwandelten Begriffen ist die Unterscheidung, die am Anfang den Gegensatz von Sprechen und Hören organisierte, an sich und als solche zwar nicht mehr wahrnehmbar, jedoch lässt sie weiterhin ihre Wirkung spüren: Als ein Unterschied zwischen einer Art von Passivität und Aktivität oder – mit einer Heidegger fremden Formulierung – (Er)leiden und Gewalt. Aber noch bevor sie miteinander in Konflikt geraten könnten, wird der Unterschied im Text durch das Ineinanderprojizieren der beschriebenen Perspektiven ausgeglichen. Die reißend-brechende Bewegung der Sage öffnet, reißt oder bricht zwar den Aufriss des Hörens auf, jedoch ist dieses reißende Sprechen kein gewaltiger oder willkürlicher Akt, weil es (jedenfalls noch vor der zweiten Wandlung des Weges betrachtet) je schon aus dem Hören der Sprache spricht. Die aufreißende Bewegung der Sage wird jeweils durch einen Wechsel bzw. Austausch der Perspektiven und Aspekte ausgeglichen: »Nach dem ältesten Gebrauch des Wortes verstehen wir die Sage vom Sagen als dem Zeigen her und gebrauchen zur Benennung der Sage, insofern in ihr das Sprachwesen beruht, ein altes, gutbezeugtes, aber ausgestorbenes Wort: die Zeige.«69 Die Sage reißt den Weg nicht nur auf, sie heißt nicht nur reißen, sondern auch »zeigen, erscheinen-, sehen- und hören-lassen.«70 Konventionalität oder Beliebigkeit können in diesem dreifachen Verhältnis von Sprechen und Hören, das sich im Laufe des Weges mit jedem Schritt unter einem anderen Blickwinkel zeigt, höchstens auf der ersten Ebene, in der instrumentellen Auffassung der Sprache, vorkommen – eine Vorstellung, die nach Heidegger die ereignishafte Verbindung von Sprache und Denken aufgrund des Begriffes der Information zu formalisieren versucht.71 Hingegen führen die weiteren Schritte des Denkweges zu einem immer ausgeglicheneren und gerechteren Verhältnis von Sprache und Denken, das sie durch ein »sanftes« Gesetz auseinander- und zusammenhält,72 und beiden ihre Rechte erhält. Sprache und Denken, Sprechen und Hören fügen, folgen und überholen sich, kreisen umeinander entlang einer unbemerkbaren, weder hörbaren noch sichtbaren Differenz. Ihre Bewegung wird durch diese Differenz als ein Ereignis »be-
69 Ebd., S. 253. 70 »Doch was heißt sagen? Um dies zu erfahren, sind wir an das gehalten, was unsere Sprache selber uns bei diesem Wort zu denken heißt. ›Sagan‹ heißt: zeigen, erscheinen-, sehen- und hören-lassen.« Ebd., S. 252. 71 Ebd., S. 263-264. 72 »Das Ereignis ist das Gesetz, insofern es die Sterblichen in das Ereignen zu ihrem Wesen versammelt und darin hält.« Ebd., S. 259.
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wëgt«, das den Menschen der Sprache »vereignet«73 bzw. ihm zum ersten Mal sein eigenes Wesen zurückgibt. »Das erbringende Eignen, das Ereignen«,74 dieses eignend vereignende Ereignis, das den Menschen nur dorthin zurückbringt, wo er sich doch schon aufhält (in die Sprache) bzw. ihm nur das zurückgibt, was er von seinem Wesen her schon hat (nämlich die Sprache), muss ebenso wie der Aufriss oder die Sage vor der destruktiven Wechselwirkung ihrer gegensätzlichen Aspekte bewahrt bleiben. Auch Aspekte des Hörens und des Verstehens, die die passiven Momente ein und desselben Phänomens implizieren (genauso wie das »Lassen«, das »Sichzeigenlassen«75 oder das »Sichsagenlassen«76 der Sage), können sich nicht in dem Maße bzw. maß- und bedingungslos auf die reißend-öffnende, einen gewaltigen Akt implizierende Bewegung der Sage verlassen. »Wir lassen ihre lautlose Stimme kommen«77 – das KommenLassen dieses Ereignisses hat nicht die gewaltige Wirkung eines Auf- oder Einbrechens, das uns unerwartet zustößt. Das Sprechen der Sprache als Sage ist dem Menschen, jedenfalls von seinem Wesen her, kein absolut fremdes oder autoritäres Sprechen, da es ja schon aus dem eigenen Wesen, dem Sprachwesen, dem Aufriss spricht. Das Eignen des Ereignisses ist deshalb kein Enteignen, auch seine Gabe wird uns nicht unvorbereitet zuteil, sie kann sich nicht in Gift verwandeln.78 Der Mensch erhält also erst durch das Hören, das Sich-zeigenund Sich-sagen-Lassen, das Sich-Einlassen auf das Ereignis der Sage sein Wesen als Sprache: »Der Mensch aber vermag nur zu sprechen, insofern er, der Sage gehörend, auf sie hört, um nachsagend ein Wort sagen zu können.«79 Der Mensch wird erst durch dieses Sich-zeigen- und Sich-sagen-Lassen zum Menschen, zum Sprechenden. In diesem ereignishaften Zeichen-Werden (im eigentlichen Sprechen) des Menschen, in dem das Sprechen erst möglich wird, im nicht
73 »Das Ereignis ereignet in seinem Er-äugen des Menschenwesens die Sterblichen dadurch, daß es sie dem vereignet, was sich dem Menschen in der Sage von überall her auf Verborgenes hin zusagt. Die Vereignung des Menschen als des Hörenden in die Sage hat dadurch ihr Auszeichnendes, daß sie das Menschenwesen in sein Eigenes entläßt, aber nur, damit der Mensch als der Sprechende, d.h. Sagende, der Sage entgegnet, und zwar aus dem ihm Eigenen.« Ebd., S. 260. 74 Ebd., S. 258. 75 Ebd., S. 254. 76 Ebd., S. 255. 77 Ebd. 78 Zu diesen Aspekten – einer gewissen Unmöglichkeit der Gabe, bzw. des Ereignisses siehe: J. Derrida: Falschgeld, S. 9-48. 79 Ebd., S. 266.
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unbedingt lautlichen »Lauten des Wortes«80 wird selbst der Mensch zur Sprache: »Als die Sage ist das Sprachwesen das ereignende Zeigen, das gerade von sich absieht, um so das Gezeigte in das Eigene seines Erscheinens zu befreien.«81 Am Ende des Weges verwandelt sich selbst der Mensch in ein sprachliches, zeigendes, sagendes Ereignis: »Das Ereignis ist sagend.«82 Haben wir in dieser abgründigen Bewegung der Zirkularität genau die Frage aus den Augen verloren, ob das Hören im Laufe seiner Wandlungen dem eigenen oder einem fremden Sprechen folgt (der Ursprung des Zeigens sei nach Heidegger das »unbekannt Vertraute«83), stellt sich nun nicht nur die Frage, was oder wen das Ereignis zeigt (die Sprache als Sprache oder das Sprachwesen als den Menschen), sondern auch: wem das sagende Ereignis, während es »von sich absieht«, etwas (sich selbst oder die Sprache, das Verstandene) zeigt? Wer ist es, der/die über das Passieren dieses Ereignisses entscheidet? Ist diese Frage überhaupt von Bedeutung? Derrida stellt in seinem zitierten Beitrag in Hinsicht auf das Verhältnis von Denken und Dichten die Begriffe des Risses und des Ereignisses in den Vordergrund. Dieses Verhältnis oder dieser »Bezug« ist nach ihm nichts anderes, als »der Riß eines Aufrisses«, das »das Ereignis als Eignen, als Ereignis des Eignens an[zeigt].«84 Der »Riß« als das Ereignis des Wortes oder des Sprechens hat – wie er schreibt – »keine eigene und unabhängige Phänomenalität; er entzieht sich, er ist aufgrund seiner Struktur entzogen, im Entzug, als Unterschied, Abstand, Öffnung, Differentialität, Spur, Rand, Grenze, Ziehen«,85 denn »[s]eine Einschreibung kommt nur an, indem sie verschwindet«, dieses Ereignis als Spur »geschieht nur, indem sie sich löscht.«86 Aber wie können wir uns dann dieses Ereignisses vergewissern, bzw. wie können wir wissen, ob überhaupt etwas geschehen ist? Csongor Lőrincz hat in seinem bereits zitierten Beitrag versucht, diese Fragen aus der Perspektive der Literaturwissenschaft zu stellen bzw. sie neu zu formulieren. Wie lässt sich das Ankommen des Wortes, dieses sprachliche Ereignis, bezeugen, wenn wir den Begriff der Sage vom Begriff des Textes her und das Verhältnis von Sage und Zeige im Zusammenhang von Text und Referenz denken? Ist das auf das Sprechen der Sprache hörende Sprechen des
80 Ebd., S. 260. 81 Ebd., S. 262. 82 Ebd., S. 262-263. 83 Ebd., S. 258. 84 J. Derrida: Der Entzug der Metapher, S. 228. 85 Ebd., S. 229. 86 Ebd.
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Menschen (bei Heidegger: »Nachsagen«87) nichts anderes, als ein »Zitieren/ Zitat«88 des Sprechens der Sprache als Sage, dann – so Lőrincz – sind die referenziellen Implikationen des Vorgangs nicht zu vermeiden: Das Nachsagen der Sage als nicht-reflektierbares Ereignis zeitigt gleichzeitig referenzielle Effekte, die nicht vorhersehbar oder kontrollierbar sind. Die textuelle Seinsweise bzw. der untrennbar doppelte, sowohl performative als auch kognitive Charakter der Wiederholung/Wiederholbarkeit der Sprache spaltet, wie Lőrincz zeigt, nicht nur das Verhältnis von Hören und Nachsagen entlang einer Differenz, sondern ist auch im unmerklichen Bruch zwischen dem Ereignis und dem Zeichen-Werden des Zeigens am Werk, denn »die ›Sage‹ wird nie als Sage, sondern immer als ›zeigende Sage‹ nachgesagt«.89 Das Moment des Vergessens, das aus keiner Wiederholung zu eliminieren ist, wirft nicht nur die Möglichkeit des MechanischWerdens des Nachsagens auf (»das Nachsagen soll möglicherweise je schon die Sage vergessen, um sie sagen zu können«90), sondern deutet auch darauf, dass »sich das Heideggersche Verhältnis gegebenenfalls auch umkehren kann: das Sagen geht dem Hören als sein ›Verstehen‹ oder seine Figuration voraus.«91 Von hier aus sind die eigentlichen/nicht-eigentlichen (durch die Wandlungen des Weges abgegrenzten) Bestimmungen des Hörens und des Sprechens voneinander nicht mehr zu trennen, und dies zieht auch eine widersprüchliche Auffassung der Materialität der Sprache nach sich: »›[D]as Hören auf die Sprache, die wir sprechen‹ – diese Formulierung ist angesichts des Heideggerschen Diskurses nicht frei von gewissen Ambivalenzen oder Unentschiedenheiten: Handelt es sich um das ›Hören‹ der Sprache vor dem Sprechen (der ›Stille‹), oder der sich im Sprechen manifestierenden Sprache?«92 In Hinsicht auf die referenziellen Konsequenzen des Vorgangs ist wiederum von entscheidender Bedeutung, welcher der beiden Aspekte des Sprechens und des Hörens sich schließlich Geltung verschafft bzw. zum Vorschein kommt. Dies gilt zwar nicht nur für textuelle Zeichen oder Ereignisse, jedoch lässt sich wohl in erster Linie von der als Text existierenden/sich ereignenden Sprache sagen, dass diese Art von Sprache, eine Schrift, wenn sie sich von sich selbst absehend (d.h. jenseits einer bloßen Selbstbespiegelung) bezeugen will, nicht in den »inneren« Dimensionen des Hörens und Verstehens bleiben kann; sie muss
87 M. Heidegger: Der Weg zur Sprache, S. 255. 88 Cs. Lőrincz: A »Sage« mint szövegfogalom Heideggernél, S. 201. 89 Ebd., S. 203. 90 Ebd., S. 208. 91 Ebd., S. 207. 92 Ebd., S. 206.
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sich zwangsläufig manifestieren, in irgendeiner Weise erscheinen, einem Anderen sichtbar oder hörbar werden, auch dann, wenn sie sich als »ereignende[s] Zeigen«,93 als ein Zug wieder entzieht, sich mit ihrem Erscheinen gleichzeitig in sich selbst zurückzieht. Die Behauptung scheint banal zu sein, dass diese Art von Sprechen, d.h. ein Text, sich nicht mehr für sein »Ankommen« verbürgen kann; der zum Zeichen werdende Mensch liefert sich als Zeichen, Spur oder Schrift bzw. das eigene Wort oder sich selbst als Wort unvermeidlich aus. Und nach diesem Ereignis oder dieser referenziellen Erscheinung bleibt es immer ungewiss, ob dieses Zeichen interpretiert oder ob es überhaupt je gehört oder gelesen wird. Das Ereignis des Sprechens oder das Ankommen des Wortes ist also nicht an die gesprochene Sprache gebunden, auch wenn Heidegger das sagende, zeigende Wort als »das Lauten des Wortes«94 charakterisiert. Dieses im Entzug kommende, sich entziehend erscheinende Zeichen ist – wie Lőrincz an einer anderen Stelle schreibt – vielmehr ein »Heissen«, das »das Zeichen, seine Äusserlichkeit (Nüchternheit) [zurück]lässt und treibt die ›eigene‹ sowie die ›poetische‹ Sprache ihrer Übersetzbarkeit zu.«95 Das menschliche Wort ist als Zeichen der Interpretation und der Übersetzung ausgesetzt, ebenso wie in den ersten drei Zeilen von Hölderlins Mnemosyne,96 nach denen Heidegger das Zeichen-Werden des Menschen als ein sich entziehendes Ereignis beschreibt, das sich in seinem eigenen Entzug ereignet. Es kommt an, indem es verschwindet, sich entzieht und selbst zu einem Zug wird: »Auf dem Zug in das Sichentziehende ist der Mensch ein Zeichen. Weil dieses Zeichen jedoch in das Sichentziehende zeigt, deutet es nicht so sehr auf das, was sich da ent-zieht, als vielmehr in das Sichentziehen. Das Zeichen bleibt ohne Deutung.«97 In diesem sich ereignenden Sprechen oder »[i]m Verlauten, sei dies Rede oder Schrift«98 muss letztlich auch der aus dem Hören sprechende Mensch zu einem Zeichen, einem Zug, einer Schrift oder einer Spur werden. Wir haben es also schon mit zwei Zeichen, Zügen, Spuren oder Texten zu tun: Mit einem Original (der »Sage« als Sprechen der Sprache), dessen »Ursprungslosigkeit«99 von dem entgegnenden Text, dem nachsagend-
93 M. Heidegger: Der Weg zur Sprache, S. 262. 94 Ebd., S. 260. 95 Cs. Lőrincz: Zwischen Heissen und Entzug, S. 156. Der Originaltext ist: Cs. Lőrincz: Hívás és megvonás között. 96 »Ein Zeichen sind wir, deutungslos / Schmerzlos sind wir und haben fast / Die Sprache in der Fremde verloren.« F. Hölderlin: Sämtliche Werke 2, S. 195. 97 M. Heidegger: Was heißt Denken, S. 6. 98 M. Heidegger: Die Sprache, S. 31. 99 Cs. Lőrincz: Hívás és megvonás között, S. 208.
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antwortenden Wort her ersichtlich werden kann, und mit dem Letzteren als eine Antwort, Wiederholung oder Übersetzung, die ihrerseits wiederum auf eine Wiederholung bzw. Übersetzung angewiesen und ebenso einer erneuten Übersetzung ausgesetzt ist. Oder wie Derrida schreibt: »Der Zug ist Entzug/ doppelter Zug […]; in der Sprache gibt es stets mehr als eine Sprache.«100 Jedoch ist es wichtig zu bemerken, dass Heidegger selbst im Zusammengang des Ereignisses wörtlich nirgendwo über Übersetzung spricht (während Gadamer etwa mehrmals auf dieses Beispiel zurückgreift). Inwieweit dies von Bedeutung ist, hat Zoltán Kulcsár-Szabó in seinem Beitrag über Das Wesen der Sprache im Zusammenhang von Heideggers George-Lektüre gezeigt.101 Das Zur-SpracheBringen der dichterischen Erfahrung der Sprache, in diesem Fall Das Wort von George, deckt sich, wie der Beitrag überzeugend zeigt, nicht restlos mit dem heideggerschen Konzept des Wortes (was bei Heidegger in der Regel ein einziges Wort, das Wort ist), nach dem es sich dem versammelnden Ruf, dem »Geläut der Stille«,102 folgend in die Differenz von Dichten und Denken zurückzieht, sich in diese Differenz entzieht. Wenn in gewisser Hinsicht bereits die Schwierigkeiten des Auseinanderhaltens von Dichten und Denken darauf hinweisen, dass »das Wort der ›Sage‹, während es sich zurückzieht (und/oder zerbricht), eine Geteiltheit oder jedenfalls eine innere Verschiedenheit, zarte, aber helle Differenzen hervorruft (in diesen oder in diese zerbricht)«,103 dann kann dies erst recht im analysierten Gedicht – von Kulcsár-Szabós Interpretationsvorschlägen her – ersichtlich werden. Denn im Gegensatz zur Argumentation Heideggers ist »das wichtigste Formprinzip des Gedichts nicht der Mangel, sondern die Fülle und der Überfluss. Von allem gibt es zwei (oder: mehr als eins).«104 Im Gedicht werden, darauf macht Kulcsár-Szabó aufmerksam, in Wirklichkeit Synonyme aufgereiht, die somit nicht auf eine Stille der Sprache, sondern vielmehr auf die Erfahrung des Übersetzens zu antworten scheinen bzw. die damit verbundenen Schwierigkeiten (wie etwa die unmögliche Entscheidung zwischen zwei gleichwertigen Synonymen) zur Sprache bringen: Eine Lektüre, die vom Begriff der Übersetzung ausgeht, kann darauf hinweisen, dass die Stille der Unaussprechbarkeit des Wortes auch die Stille des Rauschens oder des Bruchs
100 J. Derrida: Der Entzug der Metapher, S. 231. 101 Z. Kulcsár-Szabó: Szinonímiák. 102 M. Heidegger: Das Wesen der Sprache, S. 215. 103 Z. Kulcsár-Szabó: Szinonímiák, S. 97. 104 Ebd., S. 102.
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zwischen Sprache und Sprache sein kann, wobei es aber gar nicht sicher ist, dass es einen Weg von den Worten zum Wort selbst gibt.105
Die zirkulären Bewegungen und ereignishaften Wandlungen in Der Weg zur Sprache, so scheint es jedenfalls, geben uns nicht einen »Einblick in das was ist«,106 sondern beschreiben vielmehr das, was etwa zwischen zwei Texten passieren sollte oder hätte passieren sollen. Die ereignishafte Vermittlung zwischen den beiden Texten, Zeichen oder Zügen sollte vom Menschen im ersten Schritt dadurch vollzogen werden, dass er seine reflexiven Vorstellungen über sich selbst aufgibt, von sich selbst absieht, den geschlossenen Kreis der Selbstwahrnehmung bricht und aufreißt. Oder genauer: dass er sich selbst loslässt und es vielmehr dem eigentlichen Sprechen der Sprache überlässt, dass es sein in sich selbst geschlossenes Hören bricht, aufbricht, aufreißt. Er verlässt sich auf das sanft zwingende, zu sich ziehende und zugleich reißende Sprechen der Sprache, das ihm den Weg bahnt und freihält und ihn somit zur Sprache gelangen lässt. Der Mensch ist nur Mensch, indem er dieser Erfahrung entspricht und ihr auch entgegnet, d.h. indem er das Sprechen der Sprache nicht nur erfährt oder denkt, sondern auch zur Sprache bringt: »das jeweils zu Sagende ent-fängt und das Empfangene ins lautende Wort hebt.«107 Zu diesem sprachlichen Ereignis reicht es also nicht aus, wenn wir das im Text Gesagte zu verstehen und zu erfahren glauben. Somit ist der Weg zur Sprache – ein Weg des Denkens – noch nicht »bei der Sprache als der Sprache an- und so in sein Ziel gelangt.«108 Diese Sprache soll zur Sprache gebracht werden, denn »[d]ie Sage braucht das Verlauten im Wort.«109 Das Ereignis dieses eigentlichen Sprechens wird nur in einem Hören möglich, das das ereignishaft verlautende Wort gerade nicht hört, nicht reflektiert; das Sagen ist nur möglich, wenn das zeigende Zeichen »von sich absieht«.110 Das Verlauten des Wortes vollzieht sich in einem »hörende[n] Sagen«,111 das, während es das Sprechen der Sprache hört oder versteht, das eigene verlautende Sprechen nicht hört oder wahrnimmt. Dazu soll der Mensch sich selbst, die vermeintliche Fähigkeit des Sprechens aufgeben und selbst zum Monolog, zum Zug oder zur Schrift werden, die aber ihrerseits – und dies wird
105 Ebd., S. 107. 106 M. Heidegger: Die Technik und die Kehre, S. 44. 107 M. Heidegger: Der Weg zur Sprache, S. 262. 108 Ebd., S. 256. 109 Ebd., S. 266. 110 Ebd., S. 262. 111 Ebd., S. 260.
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später noch von Bedeutung sein – der anthropologischen »Fähigkeit« der Selbstreflexion und des Sprechens schon immer von ihrem Wesen her beraubt ist, und zwar ohne dass sie diese Fähigkeiten im Vorfeld hätte aufgeben müssen. Denn die Schrift besitzt noch nicht oder nicht mehr jene menschliche »Fähigkeit«, die durch eine geschlossene Selbstbespiegelung den Weg zur Sprache verschließt.112 Und damit sind wir in gewisser Hinsicht dorthin zurückgekehrt, wo wir uns schon aufhalten: Dementsprechend ist der von Heidegger beschriebene Weg, der
112 Die vorliegenden und im Folgenden zu analysierenden Probleme (das Hören der Stimme des Anderen bei Heidegger und das Wahrnehmbar-Werden bzw. die Rückwirkung der Stimme auf das Denken bei Humboldt) sind nicht unabhängig von den Fragen, die Derrida in Die Stimme und das Phänomen im Zusammenhang mit dem Zeichenbegriff der husserlschen Phänomenologie behandelt. Die Terminologie und die Kohärenz des phänomenologischen Diskurses beruht nach Derrida vor allem auf der anfänglichen Unterscheidung der Logischen Untersuchungen – der Trennung des »Ausdrucks« vom »Anzeichen« bzw. der Ausschließung des Letzteren aus der Sphäre des sich selbst gegenwärtigen Bewusstseins. Derrida zeigt, inwieweit sich der Begriff des Anzeichens bzw. seine von Husserl beschriebenen Eigenschaften – Differenzialität, Wiederholbarkeit, Abwesenheit sowie sein materieller und repräsentierender Charakter – auf den ganzen Bereich der phänomenologischen Terminologie erstreckt bzw. wie die Differenzialität und die Wiederholbarkeit des Zeichens das Vorhaben der Untersuchungen von Anfang an und in seinen tiefsten Motiven prägt. Angesichts des vorliegenden Problems kann das Kapitel Das Bedeuten als Selbstgespräch von Bedeutung sein. Derrida entdeckt hier die – auch das eigene Bewusstsein und die Selbstwahrnehmung spaltende – Arbeit des Anzeichens unter anderem im Verhältnis zum jeweiligen Anderen bzw. in seiner Stimme. Demnach ist unser Zugang nicht nur zum Bewusstsein und zu den Erlebnissen des Anderen auf Vermittlung und repräsentierende Zeichen angewiesenen (diese Art von Zeichen nennt Husserl »Mitteilung« oder »Kundgabe«), sondern auch zu uns selbst bzw. zum eigenen Bewusstsein. Wenn »[a]ll das, was in meiner Rede dazu bestimmt ist, einem Anderen ein Erlebnis kundzutun, durch die Vermittlung der physischen Seite hindurchgehen [muß]« (J. Derrida: Die Stimme und das Phänomen, S. 54), dann sind die differenziellen und Anwesenheit ersetzenden (repräsentierenden) Charaktere des Anzeichens nicht einmal im »Selbstgespräch« zu eliminieren. Auch von unseren eigenen Erlebnissen können wir uns nur durch die Vermittlung von Zeichen vergewissern; wir können sie nur anhand von Zeichen (scheinbar als etwas Originäres) erleben. Schon hier ist also der Begriff des Anderen mit dem des Zeichens untrennbar verbunden, denn »sobald der Andere erscheint, läßt sich die anzeigende Sprache – ein anderer Name für die Beziehung zum Tod – nicht länger ausstreichen.« Ebd., S. 57.
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die Bedingung des sprachlichen Ereignisses ist, im Fall der Schrift ja schon vollzogen, schon passiert, und zwar ohne dass etwas dazu hätte passieren sollen: Die Sprache spricht als ein tauber Monolog, denn »[d]ie Sprache allein ist es, die eigentlich spricht. Und sie spricht einsam.«113 Aber mit welchen Konsequenzen kann es einhergehen, wenn der taube Monolog der Sprache – wie dies in der Schrift der Fall ist – vom Hören unabhängig wird? Was passiert, wenn »das entbindende Band«114 zwischen Hören und Sprechen gebrochen und aufgerissen wird? Denn wie wir sehen konnten, wird im Laufe des Weges der unmerkliche Platzwechsel von Sagen und Sichsagen-Lassen, Aufreißen und Aufgerissen-Werden durch einen sie trennenden Bruch oder eine teilende Differenz zwischen Sprechen und Hören ermöglicht, die nicht nur das sanfte Zusammengehören der beiden, sondern auch deren Unabhängigkeit und somit ihre Spannung oder ihren Streit impliziert. Dies kann auf einen blinden und tauben, nicht anthropomorphen, sondern (nicht im subjektiven Sinne) willkürlichen und autoritären Monolog hindeuten, der das Hören aufbricht und aufreißt, noch bevor wir uns auf ihn verlassen könnten, indem wir seine »lautlose Stimme kommen [lassen]«.115 Aber wie kann sich ein Text in diesem Sinne gegen sich selbst wenden? Lässt sich das verwandtschaftliche Verhältnis der Texte von Heidegger und Humboldt in dieser Weise umkehren? Und wie wird dieses Textverhältnis von Heidegger inszeniert?
4.2 H UMBOLDT 4.2.1 Heideggers Weg zu Humboldt Wie schon erwähnt, beginnt Heidegger seinen Weg scheinbar genau dort, wo sich ihm die Sprachauffassung von Humboldt als nicht fortsetzbar erweist: Bei vielerlei Abwandlungen ist diese hier nur im Überschlag angedeutete Vorstellung von der Sprache durch die Jahrhunderte im abendländisch-europäischen Denken die tragende und leitende geblieben. Die im griechischen Altertum anhebende, auf mannigfachen Wegen angestrebte Betrachtung der Sprache sammelt sich aber zu ihrer Gipfelhöhe in
113 Ebd., S. 265. 114 Ebd., S. 262. 115 Ebd., S. 255.
146 | D IFFERENZEN DES S PRACHDENKENS Wilhelm von Humboldts Sprachbesinnung, zuletzt in der großen Einleitung zu seinem Werk über die Kawi-Sprache auf der Insel Java.116
Humboldts Schrift Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues dient aber Heideggers Gedankengang nicht nur als bloßer Hintergrundkontext; Heideggers Weg zur Sprache ist keine einfache Umkehrung der humboldtschen Richtung, auch wenn er sich auf den ersten Blick durchaus auf diese Weise beschreiben ließe. Diese Sprachbetrachtung erscheint ihm also in gewisser Hinsicht als eine Sackgasse, nicht nur weil Humboldt »das Wesentliche der Sprache im Sprechen sieht«,117 sondern auch weil diese Ansicht die Sprache als eine mögliche (wenn auch die wichtigste) Form des Ausdrucks des menschlichen Geistes, als eine Weltansicht betrachtet, d.h. sie in Hinsicht auf eine allgemeine Vorstellung begreift und somit auf eine Tätigkeit des Geistes reduziert. »Wird jedoch die Sprache unter diese gerechnet, dann ist das Sprechen nicht aus seinem Eigenen – aus der Sprache – erfahren, sondern in die Hinsicht auf Anderes abgestellt.«118 Die Kritik der humboldtschen Sprachauffassung ergibt sich zwar direkt aus dem bisher Gesagten, jedoch lässt sie unter anderem den Zusammenhang befremdlich erscheinen, dass das Sprachdenken von Gadamer gerade aus der Auffassung der Sprache als »Weltansicht« seine wichtigsten Anregungen schöpfte, also aus der Ansicht, die hier Heidegger kritisiert.119 Auf diese Frage kommen wir später noch zurück. An dieser Stelle sei nur bemerkt, dass – wie es aus den weiteren Bemerkungen von Der Weg zur Sprache ersichtlich wird – Heideggers Verhältnis zu dieser Tradition auch nicht eindeutig ist. Obwohl die Aussagen der zitierten Abhandlung nach Heidegger »in der Sprache der Metaphysik seines Zeitalters sprechen«,120 welche dem Sprechen den Weg zum »Sprachwesen« versperrt,121 lassen die Schlussworte seines Beitrags auf etwas
116 M. Heidegger, Der Weg zur Sprache, S. 246. 117 Ebd., S. 247. 118 Ebd., S. 247. 119 »Seine eigentliche Bedeutung für das Problem der Hermeneutik liegt woanders: in der Erweisung der Sprachansicht als Weltansicht. Er hat den lebendigen Vollzug des Sprechens, die sprachliche Energeia als das Wesen der Sprache erkannt und dadurch den Dogmatismus der Grammatiker gebrochen. […] Nicht nur ist die Welt nur Welt, sofern sie zur Sprache kommt – die Sprache hat ihr eigentliches Dasein nur darin, daß sich in ihr die Welt darstellt.« H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 446-447. 120 M. Heidegger: Der Weg zur Sprache, S. 249. 121 »Humboldts Weg zur Sprache nimmt die Richtung auf den Menschen, führt durch die Sprache hindurch auf anderes: das Ergründen und Darstellen der geistigen Entwick-
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mehr schließen. Schon in der Einleitung legt Heidegger seinen Zuhörern Humboldts »überall erregende Abhandlung« ans Herz, denn »[d]adurch wäre uns allen ein gemeinsamer Gesichtskreis für den Blick in die Sprache offengehalten.«122 Dies kann bereits am Anfang darauf hindeuten, dass Der Weg zur Sprache tiefer in dieser Tradition wurzelt, als es die kritischen Bemerkungen in Hinsicht auf die Sprache der Metaphysik zeigen. Humboldts Abhandlung kehrt nämlich in den Schlusszeilen des heideggerschen Beitrags – im Gegensatz zu den erwähnten kritischen Urteilen – auf affirmative Weise zurück, und zwar als ein Sprechen, das die Verwandlung des Verhältnisses zur Sprache verspricht. Die beiden Schlusszitate, in denen Humboldt über die Möglichkeit der Veränderung der sprachlichen Form und die Rolle, die Dichtung und Philosophie darin spielen, spricht, werden von Heidegger nur wortkarg kommentiert, wodurch das Ende des Textes und somit auch des Weges zur Sprache in gewisser Weise im Dunkeln bleiben.123 Im vorigen Absatz beschreibt Heidegger das Verhältnis seiner Sprache zu der von Humboldt – wohl nur auf indirekte, unausgesprochene Weise – als ein Zusammengehören zwischen dem Ungesagten eines Denkens und der
lung des Menschengeschlechts. Das aus solcher Hinsicht begriffene Wesen der Sprache zeigt indes nicht auch schon das Sprachwesen: Die Weise, nach der die Sprache als die Sprache west, d.h. währt, d.h. in dem versammelt bleibt, was die Sprache in ihr Eigenes als die Sprache zu ihr selbst gewährt.« Ebd., S. 249-50. 122 »Jeder Hörer der hier versuchten Vortragsreihe müßte die erstaunliche, schwer durchschaubare, in ihren Grundbegriffen dunkel schwankende und doch überall erregende Abhandlung Wilhelm v. Humboldts durchdacht und gegenwärtig haben.« Ebd., S. 246. 123 So lauten die Schlusszeilen des Beitrags: »Wilhelm von Humboldt, dessen tiefdunkle Blicke in das Wesen der Sprache zu bewundern wir nicht ablassen dürfen, sagt: ›Die Anwendung schon vorhandener Lautform auf die inneren Zwecke der Sprache … aber läßt sich in mittleren Perioden der Sprachbildung als möglich denken. Ein Volk könnte, durch innere Erleuchtung und Begünstigung äußerer Umstände, der ihm überkommenen Sprache so sehr eine andere Form erteilen, daß sie dadurch zu einer ganz anderen und neuen würde.‹ (§ 10, S. 84). An einer späteren Stelle (§ 11, S. 100) heißt es: ›Ohne die Sprache in ihren Lauten, und noch weniger in ihren Formen und Gesetzen zu verändern, führt die Zeit durch wachsende Ideenentwicklung, gesteigerte Denkkraft und tiefer eindringendes Empfindungsvermögen oft in sie ein, was sie früher nicht besaß. Es wird alsdann in dasselbe Gehäuse ein anderer Sinn gelegt, unter demselben Gepräge etwas Verschiedenes gegeben, nach den gleichen Verknüpfungsgesetzen ein anders abgestufter Ideengang angedeutet. Es ist dies eine beständige Frucht der Litteratur eines Volkes, in dieser aber vorzüglich der Dichtung und Philosophie.‹ Ebd., S. 268.
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antwortenden Zusage. Wie aus seinem Kommentar zu entnehmen ist, hängt die Verwandlung unseres Verhältnisses zur Sprache von der gegenseitigen Erfahrung von Denken und Dichten ab; dies ist die Erfahrung, die den ereignishaften Wandel vorbereiten und ermöglichen kann. Heidegger setzt diese Gegenseitigkeit von Denken und Dichten mit einer Danksagung in Parallele, dessen antwortendes Sagen »sich schon dem Ungesagten zugesagt hat, weil es der Gedanke ist als der Dank.«124 Wie er gleich danach schreibt: »Daß die Möglichkeit eines gewachsenen Wandels der Sprache in den Gedankenkreis Wilhelm von Humboldts gelangte, bezeugen Worte aus seiner Abhandlung ›Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues …‹.«125 Allein aufgrund dessen wäre es wohl voreilig, Heideggers Humboldt-Lektüre als einen gleichzeitigen Vollzug der im Text dargestellten Verhältnisse zu interpretieren, jedoch gibt es hier noch einen Zusammenhang, der in dieselbe Richtung zeigt und sich dementsprechend deuten lässt. Auf den ersten Blick scheint die Bemerkung belanglos zu sein, dass »[a]n dieser Abhandlung Wilhelm v. Humboldt, wie der Bruder im Vorwort schreibt, ›einsam, in der Nähe eines Grabes‹ bis zu seinem Tode gearbeitet [hat].«126 Obwohl das Kursiv-Setzen des Wortes »Grab« ohne Zweifel den Gedanken der Endlichkeit assoziiert, könnte man im Kontext des hier verfolgten Gedankengangs vielmehr dem »einsamen« Sprechen der Sprache eine Bedeutung zuschreiben. Denn der monologische, »einsam« sprechende Charakter der Sprache kommt im Text ebenso zweimal, und zwar am Anfang und am Ende des Textes, in Form eines Zitats von Novalis vor,127 das genauso wie die Anfangsformel in verschiedene Blickwinkel gestellt wird, je nachdem, wie sich im Laufe des Weges die Erfahrung der Sprache – zusammen mit den zitierten Textstellen – verwandelt. Während aber die Aussage von Novalis durch den Weg zur Sprache oder die Sprache des Weges für ungültig erklärt bzw. umschrieben wird (»Der monologische Charakter des Sprachwesens hat sein Gefüge in dem Aufriß der Sage, der sich mit dem von Novalis ge-
124 »Die Erfahrung könnte erwachen: Alles sinnende Denken ist ein Dichten, alle Dichtung aber ein Denken. Beide gehören zueinander aus jenem Sagen, das sich schon dem Ungesagten zugesagt hat«. Ebd., S. 267. 125 Ebd. 126 Ebd. 127 »Zum Beginn hören wir ein Wort von Novalis. Es steht in einem Text, den er Monolog überschrieben hat. Der Titel deutet in das Geheimnis der Sprache: Sie spricht einzig und einsam mit sich selber. Ein Satz des Textes lautet: ›Gerade das Eigentümliche der Sprache, daß sie sich bloß um sich selbst bekümmert, weiß keiner.‹« Ebd., S. 241.
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dachten ›Monolog‹ nicht deckt, nicht decken kann, weil Novalis die Sprache im Gesichtsfeld des absoluten Idealismus aus der Subjektivität dialektisch vorstellt«128), kann die Einsamkeit der Sprache im heideggerschen Sinne129 in Bezug auf Humboldt auch an den Unterschied erinnern, der zwischen Sprechen und Sagen bzw. Humboldts »Aussagen, die in der Sprache der Metaphysik […] sprechen« und dem »Gesichtskreis« dieser Tradition besteht. Demnach lässt sich die humboldtsche Sprache – im Gegensatz zu Novalis – nicht mit ihren Aussagen über die Sprache identifizieren; dieses einsame Sprechen der Sprache birgt mehr Möglichkeiten; diese Sprache verspricht mehr und sagt eventuell etwas anderes, als was sie auf der Ebene des bloßen Sprechens behauptet. Aber inwiefern lässt sich die humboldtsche Sprache als die Kehrseite der heideggerschen Sprache, als ihre »Andere« auffassen? Und wie bringt Heidegger den Gedanken von Humboldt als Erfahrung der Sprache zur Sprache? Um einen »gemeinsame[n] Gesichtskreis für den Blick«130 in diese Sprachen zu gewinnen, müssen wir uns diesen Fragen zunächst aus einer ferneren Perspektive nähern. 4.2.2 Materialität/Immaterialität der Stimme zwischen Sprechen und Hören Bekanntlich wurden viele Aspekte der Sprachauffassung Humboldts vor allem durch die hermeneutische Sprachtheorie von Heidegger und Gadamer schärfer herausgestellt. Auch die wichtigsten Thesen der zitierten Abhandlung können sich erst aus diesem Fragehorizont heraus in ihrer eigentlichen Bedeutung zeigen: Die organische Einheit und die Unzertrennlichkeit von Denken und Sprache, der nicht-objektivierbare und den logisch-diskursiven Begriffen widerstehende Charakter der Sprache, ihre Universalität sowie die nicht-reflexive Bildung des Wortes als ein Akt des Weltverstehens sind Gedanken dieses »Gesichtskreises«, dem in gewisser Weise auch Heideggers Diskurs angehört und dem er gerecht zu werden bzw. zu entsprechen versucht. Dennoch lassen sich die beiden Wege zur Sprache nicht als parallel betrachten. Obwohl die humboldtsche Definition der Sprache, nach der sie »kein Werk (Ergon), sondern eine Tätigkeit (Energeia)«131 sei, den instrumentalisierenden Deutungsversuchen
128 Ebd., S. 265. 129 »Aber die Sprache ist Monolog. Dies sagt jetzt ein Zwiefaches: Die Sprache allein ist es, die eigentlich spricht. Und sie spricht einsam. […] Einsam besagt: das Selbe im Einigenden des Zueinandergehörenden.« Ebd., S. 265-266. 130 Ebd., S. 246. 131 W.v. Humboldt: Ueber die Verschiedenheit, S. 418.
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gleichermaßen widersteht, ist dieser Gedanke nicht ohne Weiteres mit der Ereignis- und Sprachauffassung zu vereinbaren, die Heidegger in Der Weg zur Sprache bezüglich des Verhältnisses von Denken und Sprechen zur Sprache bringt. Denn die Richtungen bzw. die Perspektiven des Weges, aus denen die Sprache zu denken ist, unterscheiden sich in einem wesentlichen Punkt und schließen sich sogar aus, da sie gegensätzlich sind. Heidegger versteht das sprachliche Wesen des Menschen von einem sprachlichen Ereignis oder der Sprache als einem Ereignis her; Mensch und Sein sind keine im Voraus gegebenen Instanzen, sondern lassen sich erst »aus dem Ereignis denken«.132 Für Humboldt ist der Anfang und das Ende des Weges der menschliche Geist, von dem her gesehen die Sprache nur ein bildender Umweg (wenn auch der wichtigste und wirkungsvollste) ist, »auf dem sie, vom Geiste ausgehend, auf den Geist zurückwirkt.«133 Die geistige Tätigkeit des Menschen ist bei Humboldt – so scheint es jedenfalls, wenn man gewisse Textstellen betrachtet – im Gegensatz zu Heidegger nicht durch eine sprachliche Existenz bedingt. Wie er etwa an einer Stelle bemerkt: »[Man] kann schon unabhängig von der Sprache jede menschliche Individualität als einen eignen Standpunkt der Weltansicht betrachten.«134 Dieses Prioritätsverhältnis zwischen Geist und Sprache lässt sich aber an vielen Stellen seines Werkes umkehren. Dies wird durch die Konsequenzen ermöglicht, die der Gedanke der Unrepräsentierbarkeit des Verhältnisses zwischen Sprache und Denken impliziert. Denn »[d]ie Geisteseigenthümlichkeit und die Sprachgestaltung eines Volkes stehen in solcher Innigkeit der Verschmelzung in einander, dass, wenn die eine gegeben wäre, die andre müsste vollstän-
132 Vgl. mit der folgenden Fußnote in Der Weg zur Sprache: »Heute, da kaum und halb Gedachtes sogleich auch schon in irgendeine Form der Veröffentlichung gejagt wird, mag es vielen unglaubwürdig erscheinen, daß der Verfasser seit mehr denn fünfundzwanzig Jahren das Wort Ereignis für die hier gedachte Sache in seinen Manuskripten gebraucht. Diese Sache, obzwar in sich einfach, bleibt vorerst schwer zu denken, weil das Denken sich zuvor dessen entwöhnen muß, in die Meinung zu verfallen, hier werde ›das Sein‹ als Ereignis gedacht. Aber das Ereignis ist wesenhaft anderes, weil reicher als jede mögliche metaphysische Bestimmung des Seins. Dagegen läßt sich das Sein hinsichtlich seiner Wesensherkunft aus dem Ereignis denken.« M. Heidegger: Der Weg zur Sprache, S. 260. Oder: »Die Lehre der Metaphysik stellt die Identität als einen Grundzug im Sein vor. Jetzt zeigt sich: Sein gehört mit dem Denken in eine Identität, deren Wesen aus jenem Zusammengehörenlassen stammt, das wir das Ereignis nennen.« M. Heidegger: Identität und Differenz, S. 27. 133 W.v. Humboldt: Ueber die Verschiedenheit, S. 426. 134 W.v. Humboldt: Ueber die Verschiedenheiten, S. 224.
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dig aus ihr abgeleitet werden können.«135 Die über sich hinausweisenden Gedanken dieser Sprachauffassung kommen vor allem in den Textstellen stärker zum Vorschein, die – parallel zu dieser Bewegung – die über das Subjekt hinauswachsende und sich verselbstständigende Macht der Sprache sowie ihre Fremdheit erörtern und dadurch die Möglichkeit der Unterbrechung des Wechselverhältnisses und einer (mit der Synthese gleichursprünglichen) Differenz implizieren.136 Somit wäre diese Bewegung der Richtung nicht mehr fremd, in die Heidegger diese Tradition verschiebt.137 Aber noch bevor wir diese Passagen in
135 W.v. Humboldt: Ueber die Verschiedenheit, S. 414. 136 Vgl. Ebd., S. 437. 137 Günter Figal versucht in seinem Buch Gegenständlichkeit am Leitfaden einer gadamerschen Bestimmung der Sprache – ihrer »eigentümliche[n] Sachlichkeit« (H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 449) die Grundprobleme der Hermeneutik bzw. »die Dimensionen des hermeneutischen Raums: Freiheit, Sprache und Zeit« neu zu formulieren (G. Figal, Gegenständlichkeit, S. 4). Im Kapitel über die Sprache geht Figal im Anschluss an Humboldt und Heidegger von der Bestimmung der Sprache als Sprechen aus. Nach einer kurzen Darstellung von Der Weg zur Sprache und der einschlägigen humboldtschen Textstellen stellt er fest, dass durch die These der monologischen Seinsweise der Sprache »der Versuch [Heideggers – H. H.], sich aus Humboldts Verständnis der Sprache zu lösen, wieder zurückgenommen [wird]. Zwar ist die Sprache nun keine Tätigkeit mehr, aber sie ist – übrigens ebenso wie für Gadamer – ein Geschehen. Damit wird sie ebenso wie bei Humboldt vom Sprechen her verstanden; Heideggers Gedanke führt so nicht über Humboldt hinaus.« Ebd., S. 232. Im Gegensatz dazu muss man nach Figal »auf der Differenz von Sprache und Sprechen bestehen und sie als solche entwickeln […], indem man die Offenheit der Sprache als solche bestimmt.« (Ebd.) Diese Offenheit als Sprache gehe als »gesammelte Aufmerksamkeit« (ebd.) dem Hören (und somit auch dem Sprechen) voraus, insofern sie sich nicht auf das Sprechen der Sprache, sondern auf die Sprache als Offenheit von Möglichkeiten richtet. Vom gadamerschen Gedanken der Sachlichkeit der Sprache her gesehen (die »eine eigene Distanz des Sprechenden zur Sache voraussetzt.« H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 449) werden auch die Begriffe und Idiome von Heidegger (etwa das »Zeigen« und das »Sagen«) in einen anderen Zusammenhang und Kontext gesetzt. Die verschiedenen Weisen des Zeigens, die Figal mit Beispielen erläutert, wollen in diesem Gedankengang nicht die Distanz des Zeigens vom Gezeigten veranschaulichen, sondern dass »in etlichen der genannten Beispiele das Zeigen kein Sprechen [ist]. Das gilt für die Aufführung eines Musikstücks und ebenso für das Vorzeigen eines Kunstgegenstands […]. Aber das heißt nicht, daß dieses Zeigen nicht sprachlich sei. Im Sprechen ist es nicht die Arti-
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den Mittelpunkt stellen, müssen einen Schritt zurücktreten und versuchen, uns einen breiteren Horizont zu verschaffen, indem wir zuerst Humboldts Aussagen über die Sprache betrachten. Im Verhältnis von Sprache und Denken sind für Humboldt die wichtigsten Momente die Wechselwirkung und die über Umwege erfolgende Objektivation, gleichermaßen Vorgänge, die durch eine ursprüngliche und organische, aber an sich verborgene und nicht erkennbare Geisteskraft bedingt werden. Das dialektische Zusammenspiel dieser Momente bestimmt auch den Entwicklungsweg des menschlichen Geistes; sie stellen die wesentlichen, sowohl Sprache als auch Geist prägenden Prinzipien dar, die zugleich als Maß für den Vergleich der Nationalsprachen und die Beurteilung von sprachlichen Erscheinungen dienen können. Humboldt sieht das Wesen der Sprache in der lebendigen Synthese von wechselseitigen Kräften, etwa in der Artikulation, die die Kraft des Geistes, die Stimmorgane und den Widerstand der sprachlichen Materie miteinander ver-
kulation von Lauten, die das Artikulierte ein Zeigen sein läßt«. G. Figal: Gegenständlichkeit, S. 238. Aber wenn das Sprechen der Sprache bei Heidegger – wie kurz davor auch Figal bemerkt – »nicht im Sinne einer Verlautbarung gemeint [ist], ebensowenig wie das ›Hören auf die Sprache‹ als Aufnehmen von Lauten« (ebd., S. 232), dann stellt sich die Frage, worin genau Figal den Unterschied zwischen dem (sowohl von Heidegger als auch von Gadamer als Ereignis, jedoch auf unterschiedliche Weise gedachten) Sprechen, dem Zeigen und der hörbaren Verlautbarung sieht. Was ist der Unterschied zwischen dem Begriff der Darstellung, den Gadamer im ersten Teil von Wahrheit und Methode an einer Reihe von Beispielen erarbeitet (und wie dem dritten Teil zu entnehmen ist, als ein Ereignis des Verstehens denkt) und dem Begriff des Ereignisses der Sprache bei Heidegger, der die Differenz von Zeigen und Zeigen-Lassen bewahrt und somit eine Differenz (aus)trägt, die sich nicht mit der eigentümlichen Distanz und Sachlichkeit der Sprache bei Gadamer gleichzusetzen ist? Die zentrale These des Sprachdenkens des späten Heidegger, der monologische Charakter der Sprache, löst auch bei anderen Autoren – vor allem von der dialogischen Vorstellung der Sprache, also von Gadamer her gesehen – mehr Skepsis als Fragen aus. Vgl. z.B. D. Thomä: Die späten Texte. Oliver Jahraus sieht die Bedeutung der heideggerschen Formel und der Monologizität in einer »differenzlose[n] Konzeption« der Sprache, »die nicht in Sprecher und besprochenen Gegenstand oder in Bezeichnendes und Bezeichnetes auseinanderfällt.« O. Jahraus: Martin Heidegger, S. 217-218. Auch hier kann sich die Frage stellen, ob die Vorstellung der Differenzlosigkeit dem Sprachdenken Heideggers gerecht werden und seine terminologischen Differenzen bewahren kann.
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söhnt. Die Artikulation als »die sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes«138 trägt die unverwechselbare innere Form der Sprache in sich, die jeweils auf andere Weise die »hauptsächlichen Fragen löst, welche aller Spracherzeugung als Aufgaben vorliegen.«139 Diese Arbeit »ist etwas beständig und in jedem Augenblicke Vorübergehendes«,140 ein unwiederholbares Ereignis, das sich nicht auf die phänomenale und regelhafte Erscheinung der Sprache reduzieren lässt, denn »[d]as Zerschlagen in Wörter und Regeln ist nur ein todtes Machwerk wissenschaftlicher Zergliederung.«141 Dementsprechend ist auch die innere Sprachform als ein lebendiger »Drang« des Geistes zu denken. Denn auch wenn man nicht umhin kann, »die Gleichartigkeit seines Wirkens in einen todten allgemeinen Begriff zusammenzufassen, [ist] in sich jener Drang Eins und lebendig.«142 Diese in ihrer Totalität nicht erkennbare Einheit lässt sich weder von der Arbeit der Artikulation noch der des Verstehens unabhängig machen. Die Form der Sprache ist nicht der mit sich selbst identische Grund dieser Aktivitäten, sie ist nicht ihre oberste Instanz, sondern ein unformalisierbares Prinzip, das nur in diesen lebendigen Tätigkeiten existiert, oder besser: sich in ihnen ereignishaft vollzieht oder durch sie geschieht. Die Erfahrung der Sprache oder die sprachliche Erfahrung ist für Humboldt mehr als ein bloßes Betrachten einer nach Regeln geformten Materialität. Die Sprache wirkt – genauso wie die menschliche Individualität – mit der Kraft eines lebendigen Eindrucks, die sich ja nur dann durchsetzen und zur Geltung kommen bzw. uns zuteilwerden kann, wenn wir uns ihr nicht verschließen bzw. ihr gegenüber nicht die Position eines objektiven Beobachters einnehmen. Ihre ungreifbare Existenz als eine elementare Wirkung ist der Grund, warum »die Darstellung der Form […] niemals ganz vollständig, sondern immer nur bis auf einen gewissen, jedoch Uebersicht des Ganzen genügenden Grad gelingen [kann].«143 Der Eindruck einer Sprache lässt sich genauso wenig in Begriffe fassen oder übersetzen wie der Anblick eines menschlichen Gesichts mit seinen unverwechselbaren Zügen: »Die Individualität steht unabläugbar da, Aehnlichkeiten werden erkannt, aber kein Messen und kein Beschreiben der Theile, im Einzelnen und in ihrem Zusammenhange, vermag die Eigenthümlichkeit in einen Begriff zusammenzufassen.«144 Dieser Art
138 W.v. Humboldt: Ueber die Verschiedenheit, S. 418. 139 Ebd., S. 417. 140 Ebd., S. 418. 141 Ebd., S. 419. 142 Ebd., S. 420. 143 Ebd., S. 421. 144 Ebd.
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von Sprechen entspricht eine Sprache, die den Sinnebenen der kommunikativen Mitteilung vorausgeht; es ist vielmehr ein Ansprechen, in dessen Erfahrung die »entschiedenste Individualität klar in die Augen [fällt], sich unabweisbar dem Gefühl auf[drängt].«145 Laut und Gedanke lassen sich nach Humboldt nicht nur in der Artikulation, sondern auch im verstehenden Hören nicht trennen. Durch dieses Verhältnis wird auch der Zusammenhang von Sprechen und Hören bestimmt, denn »Verstehen und Sprechen sind nur verschiedenartige Wirkungen der nemlichen Sprachkraft«.146 Obwohl Sprechen und Hören nach demselben organischen Sinn wie Laut und Gedanke zusammengehören, unterscheidet sich ihr Verhältnis von der inneren sinnlichen Einheit der Letzteren in einem entscheidenden Punkt. Denn erst in ihrem zirkelhaften Verhältnis bzw. an ihrer Grenze taucht die Möglichkeit der Objektivation als die notwendige Bedingung der dialektischen Entwicklung auf. An sich ist sowohl die den Laut bearbeitende Fähigkeit der Artikulation als auch das verstehende Hören, das den Gedanken »einem Blitze oder Stosse vergleichbar«147 wahrnimmt, unfähig, den Laut-Gedanken zu objektivieren. Die Möglichkeit der Synthese von Sprechen und Hören ist nun nicht mehr von einer vorausgehenden Spaltung zu trennen: Die Tätigkeit der Sinne muss sich mit der inneren Handlung des Geistes synthetisch verbinden, und aus dieser Verbindung reisst sich die Vorstellung los, wird, der subjectiven Kraft gegenüber, zum Object, und kehrt, als solches aufs neue wahrgenommen, in jene zurück. Hierzu aber ist die Sprache unentbehrlich.148
Das innere Verhältnis von Laut und Gedanken ist also mit der synthetischen Verbindung von Hören und Sprechen nicht restlos gleichzusetzen. Obwohl sich auch die Sinne auf natürlich-organische Weise an die Tätigkeit des Geistes binden, setzen sie schon auch eine Synthese oder Verknüpfung voraus, die erst durch den zirkelhaften Umweg des Lautes sowie durch seine gleichzeitige Äußerung und Verinnerlichung ermöglicht wird:
145 Ebd., S. 420. 146 Ebd., S. 430. 147 Ebd., S. 426. 148 W.v. Humboldt: Ueber die Verschiedenheiten, S. 195.
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Denn indem in [der Sprache] das geistige Streben sich Bahn durch die Lippen bricht, kehrt das Erzeugniss desselben zum eigenen Ohre zurück. Die Vorstellung wird also in wirkliche Objektivität hinüberversetzt, ohne darum der Subjectivität entzogen zu werden.149
Der Unterschied der beiden Verhältnisse besteht im Unterschied zwischen den inneren, vorgestellten und nicht-phänomenalen und den äußeren, sinnlich-phänomenalen Aspekten des Sprachlauts, die gleichermaßen unerlässlich sind, um den zirkulären Austausch bzw. das wechselhafte Verhältnis des Prozesses aufrechtzuerhalten. Somit kommt neben dem organischen Zusammengehören von Laut und Gedanke und der Zirkularität von Sprechen und Hören ein drittes Verhältnis zum Vorschein, das weder auf Organizität noch auf Wechselseitigkeit beruht und in der Argumentation jedes Mal in veränderter Form zurückkehrt. Aufgrund dieser Duplizität treten in der Abhandlung – wie wir gleich sehen werden – Brüche oder Diskontinuitäten zutage, die sich ständig entziehen, versetzen und verschieben. Gerade dadurch, dass sie das Fehlen oder die Unterbrechung von Wirkungsverhältnissen, Wechselhaftigkeit und Verstehen implizieren, können sie das Gleichgewicht zwischen den geistigen und den sinnlichen Aspekten der Sprache bewahren. Diese Brüche organisieren das »bildende Organ« und die empfindliche Ökonomie des Textes, die durch jeden neuen Schritt der Argumentation bzw. Objektivation umzukippen droht. Im Folgenden werden wir diesem Weg, der auch als eine stetige Schwankung und ausgleichende Bewegung beschrieben werden könnte, am verwechselbaren, jedoch nicht austauschbaren Verhältnis des eigenen und des fremden Sprechens folgen. Sobald Humboldt »das eigentliche Wesen der Sprache«150 in der Artikulation bzw. im artikulierten Laut erkennt, stellt er fest, dass der Laut, »wessen das Denken, um den Begriff zu bilden, in der Sprache, strenge genommen bedarf, nicht eigentlich das dem Ohr wirklich Vernehmbare [ist]; oder um es anders auszudrucken, wenn man den articulirten Laut in Articulation und das Geräusch zerlegt, nicht dieses, sondern jene.«151 Dass das Vermögen des Sprechens und der Sprache dem Menschen von Natur aus und von Anfang an, und nicht bloß infolge einer äußeren Wirkung gegeben ist bzw. »[d]ass die Sprache ohne vernommenen Laut möglich bleibt, und insofern ganz innerlich ist, lehrt das Beispiel der Taubstummen.«152 Auch wenn hier der Anblick der Bewegung der Sprechorgane
149 Ebd. 150 Ebd., S. 192. 151 Ebd. 152 Ebd., S. 193. Zur Analogie zwischen dem sekundären, vom hörbaren Laut abgeleiteten Charakter der Schrift und dem ähnlich »verstümmelten« Zeichensystem der
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und die Schrift den wahrnehmbaren Laut ersetzen, ist die Aneignung der Sprache auch in diesem Fall nicht einer nachträglichen Verbindung der Wahrnehmung mit der inneren geistigen Tätigkeit bzw. der Gewöhnung und der Wiederholbarkeit des Zeichengebrauchs zu verdanken. Dass die Sprache sogar unter solchen »verstümmelten« Bedingungen möglich bleibt, ist für Humboldt ein Beweis dafür, dass die Gehörlose »auch Sprachfähigkeit besitzen, Uebereinstimmung ihres Denkens mit ihren Sprachwerkzeugen, und Drang beide zusammenwirken zu lassen.«153 Wäre die Sprachfähigkeit kein ursprüngliches Vermögen, wäre es nicht möglich, die Verbindung des Lautes mit dem Gedanken zu erkennen. Jedoch kann das Beispiel der Taubstummen, das den Gedanken der inneren Ursprünglichkeit und sinnlichen Organizität der Sprache als eine Prothese oder »krankhafte Ausnahme«154 von außen her und künstlich unterstützt, nach Humboldt keine Allgemeingültigkeit erlangen. »Die Articulation […], im Ganzen und Allgemeinen genommen, kann den Ton auch als Geräusch, als auf ein Ohr wirkende Lufterschütterung, nicht entbehren; der Taubstumme kann nur unter Hörenden zur Sprache gelangen.«155 Da »in der Wirklichkeit das Ohr der ausschliesslich für die Articulation bestimmte Sinn [ist]«,156 ist die Wahrnehmung und die objektivierende Wirkung des Lautes eine unabdingbare Voraussetzung des Sprechens und somit sogar auch des Denkens: »Ohne daher irgend auf die Mittheilung zwischen Menschen und Menschen zu sehn, ist das Sprechen eine nothwendige Bedingung des Denkens des Einzelnen in abgeschlossener Einsamkeit.«157 Ihrem Wesen nach und von ihrer organischen Verbindung mit dem Gedanken her gesehen entbehrt zwar die Artikulation den wirklichen Laut, aber in Wirklichkeit kann sie ihn nie entbehren. Zur Objektivation ist ein sinnlich trennendes Moment unentbehrlich, das Sprechen und Hören – wenn auch nur für einen Augenblick – voneinander entkoppelt; zum bloßen Denken ist ein Unterschied ohne Unterscheidung erforderlich, der zwar an sich und als solcher nicht wahrnehmbar werden kann, der aber doch die Wahrnehmbarkeit des Lautes garantiert. Aber diese Objektivierung darf man nicht mit einer Art von Verge-
Taubstummen lassen sich in der Philosophiegeschichte – von Platons Kratylos über Descartes und Kant bis zu Saussure – zahlreiche Beispiele finden. Vgl. dazu: J. Derrida: Grammatologie, S. 92-98. 153 W.v. Humboldt: Ueber die Verschiedenheiten, S. 193. 154 Ebd. 155 Ebd., S. 193-194. 156 Ebd., S. 194. 157 Ebd., S. 195-196.
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genständlichung oder Materialisierung des Lautes verwechseln: Das Aussprechen und das Äußerlich-Werden des Lautes droht nämlich mit seiner Substantialisierung und theoretischen Entgegensetzung dem Gedanken; das Sich-Ablösen des Lautes vom Gedanken – das notwendige Moment einer Differenz – trägt zwangsläufig die Möglichkeit einer mechanischen Reflexion in sich, die das vorausgesetzte Wesen der Sprache durch eine abstrakte Unterscheidung verfälscht. Hingegen denkt Humboldt das Wesen der Sprache von einem hypothetisch-augenblicklichen Ereignis her, das solchen wissenschaftlichen Reflexionen und begrifflichen Unterscheidungen widersteht: Die Sprache ist die Arbeit des Geistes und nicht mit dem identisch, was durch diese Arbeit – etwa in Form von materiellen Gegebenheiten – entsteht. Deshalb vermeidet er konsequent, im Prozess der Begriffsbildung ihre materiellen Aspekte und kommunikativen Funktionen einseitig zu betonen, während er auf diese aber auch nicht verzichten kann. Somit dürfte die Feststellung des unumstritten gesellschaftlichen Charakters der Sprache (»die Sprache muss nothwendig zweien angehören«158) nicht dazu führen, ihre Seinsweise aus kommunikativen Funktionen und der Idee des instrumentellen Zeichens abzuleiten. Deshalb spricht Humboldt der Sprache ihre repräsentierenden Funktionen ab;159 das »Bedürfnis« der Geselligkeit versteht er nicht vom Ziel der Mitteilung von Gedanken her, sondern betrachtet es als die Möglichkeitsbedingung des (nicht genetischen) Ursprungs der Sprache, die somit in einer nicht-repräsentativen Mitteilung realisiert wird. Man könnte diese Argumentation als eine endlose Vermittlungsarbeit zwischen immanenten Tendenzen der Sprache beschreiben, die zwar nicht aufeinander zu reduzieren oder im Prozess der Begriffsbildung zu entbehren sind, die
158 Ebd., S. 225. 159 Vgl. »Wenn eine Sprache bloss und ausschliesslich zu den Alltagsbedürfnissen des Lebens gebraucht würde, so gälten die Worte bloss als Repräsentanten des auszudrückenden Entschlusses oder Begehrens und es wäre von einer inneren, die Möglichkeit einer Verschiedenheit zulassenden Auffassung gar nicht in ihr die Rede. Die materielle Sache oder Handlung träte in der Vorstellung des Sprechenden und Erwiedernden sogleich und unmittelbar an die Stelle des Wortes. Eine solche wirkliche Sprache kann es nun glücklicherweise unter immer doch denkenden und empfindenden Menschen nicht geben.« W.v. Humboldt: Ueber die Verschiedenheit, S. 565; vgl. »Wenn in der Seele wahrhaft das Gefühl erwacht, dass die Sprache nicht bloss ein Austauschungsmittel zu gegenseitigem Verständniss, sondern eine wahre Welt ist, welche der Geist zwischen sich und die Gegenstände durch innere Arbeit seiner Kraft setzen muss, so ist sie auf dem wahren Wege, immer mehr in ihr zu finden und in sie zu legen.« Ebd., S. 567.
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aber doch stets gegeneinander arbeiten. Die Triebfeder und die wichtigste Ursache dieser – in jeder Hinsicht sprachlichen – Bewegung ist das differierende Moment der Objektivation, das zuerst im Hören der eigenen und dann der fremden Stimme verkörpert oder »verwirklicht« wird. Diese fremde Stimme oder die Stimme des Anderen soll dem Subjekt – genauso wie die eigene Stimme – unmittelbar und unvermittelt bleiben, damit die abstrahierenden Implikationen einer Zeichen- oder Kommunikationstheorie vermieden werden können; sie soll vor der Stabilisierung des Unterschiedes (ein Effekt der notwendigen Differenz) zwischen Laut und Gedanke durch die Instrumentalisierung des Zeichens bewahrt bleiben. Die Bewegung der Objektivation trägt immer eine erneute Spaltung in sich: Wie die hörbare Stimme die innere Untrennbarkeit von Laut und Gedanke spaltet und ihre nicht-repräsentierende Einheit (wenn auch nicht repräsentiert, aber) artikuliert, so spaltet und objektiviert die Stimme des Anderen die an sich ununterscheidbaren Aktivitäten des menschlichen Geistes: das Hören und die Artikulation. Denn das freie Entströmen der Laute – »eine Sehnsucht aus dem Dunkel nach dem Licht, aus der Beschränkung nach der Unendlichkeit«160 – wird an diesem Punkt des humboldtschen Gedankengangs nicht mehr allein durch das Bedürfnis des Hörens der eigenen Stimme motiviert.161 »Die wichtigste Ursach, aus welcher die Sprache, vermittelst des Tones, der Wirkung nach aussen bedarf, ist die Geselligkeit, zu welcher der Mensch durch seine Natur unbedingt hingewiesen wird.«162 Die Zirkularität und somit die Wechselwirkung von Hören und Artikulation wird durch eine immaterielle Spaltung – eine ungreifbare aber doch evidente, weil effektiv wirkende Differenz – zwischen der eigenen und der fremden Stimme in Gang gebracht. Diese Differenz dürfte aber wiederum nicht zur einfachen Unterscheidung des Ich und des Anderen führen, die ebenso in eine Herabsetzung der Sprache als bloßes Tauschinstrument münden würde. Auch das Sprechen des Anderen teilt dem Ich nichts mit, was von dieser Stimme abzutrennen wäre; es ermöglicht nur die Verstehbarkeit und die Erkennbarkeit der eigenen Laute: »In der Erscheinung entwickelt sich jedoch die Sprache nur gesellschaftlich, und der Mensch versteht sich selbst nur, indem er die Verstehbarkeit seiner Worte an Andren versuchend geprüft hat.«163 Da also diese nichtkommunikative Begegnung mit dem Anderen »sich ohne Einseitigkeit nicht aus
160 W.v. Humboldt: Ueber die Verschiedenheiten, S. 195. 161 Vgl. Ebd., S. 194. 162 Ebd., 200. 163 Ebd., S. 196.
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dem blossen Bedürfniss ableiten [lässt]«,164 muss die Geselligkeit eine der Repräsentation vorausgehende Funktion erfüllen. Dadurch erhalten der Andere und seine Stimme eine entscheidende und primäre Rolle, deren Hören nichts anderes als das Hören der eigenen Stimme und die Wahrnehmung des Selbst, des Denkens und des Bewusstseins vermittelt. Aber wie spielt sich diese Begegnung ab, die die ersten lautlichen Äußerungen motiviert und unartikulierte Laute in verständliche Worte verwandelt, wodurch dann die Sprache erscheint? 4.2.3 Die Stimme als tierischer Laut/affektive Äußerung Dieses Problem kommt am deutlichsten in der Textstelle über die Entstehung und die Bedeutung der Pronomina zur Sprache, in der Humboldt die Person des Du als den jeweiligen Anderen mit einem wesentlichen »Prüfstein«165 der Gedanken sowie einem »Ueberzeugung und Anregung«166 gewährenden Zeugen vergleicht. Dieses Kapitel, das in der Abhandlung Ueber die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues (1827-1829), die ein paar Jahre vor der KawiEinleitung erschien, zu finden ist,167 enthält exemplarisch jene Komponenten der humboldtschen Sprachauffassung, die einerseits über diese Tradition hinausweisen, insofern sie nicht ohne Weiteres mit ihr zu vereinbaren sind, andererseits für jedes Denken über die Sprache eine Herausforderung darstellen. Diese frühere und etwas weniger bekannte Abhandlung, auf die wir im Folgenden verweisen werden (und deren Titel sich von dem der Kawi-Einleitung nur darin unterscheidet, dass er den Begriff des Unterschiedes im Plural präsentiert), hat im Vergleich zum »Hauptwerk« auch den Vorteil, dass die eventuellen Brüche und Diskontinuitäten zwischen den einzelnen Textstellen hier noch nicht synthetisch verarbeitet sind. Auf die erwähnte Textstelle kommen wir bald zurück. An dieser Stelle sei nur auf einen eigentümlichen Aspekt der Argumentation verwiesen, der an diesem Punkt die inhaltliche Entleerung der Sprache auszugleichen versucht:
164 Ebd., S. 200. 165 Ebd., S. 217. 166 Ebd. 167 Der Kawi-Einleitung gehen zwei Fragment gebliebene und am Anfang des 20. Jahrhunderts entdeckte Schriften voraus, die zum Teil – an einigen Stellen sogar wörtlich – mit dem Inhalt des posthumen Werkes übereinstimmen. Das hier erwähnte Kapitel geht ferner auf eine noch frühere, kürzere Schrift zurück (Ueber den Dualis, 1827), deren Textstellen in überarbeiteter Form auch in der Abhandlung Ueber die Verschiedenheiten zu lesen sind.
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Parallel mit der Hervorhebung der nicht-repräsentativen Funktionen der Sprache treten auch ihre sinnlichen und bedeutungslosen Merkmale in den Vordergrund, die also im Prinzip untrennbar von der Artikulation sowie von den Gedanken sind. In dieser Hinsicht würden vor allem die Textstellen besondere Aufmerksamkeit verdienen, die die menschliche Sprache – in einem Kontext, der uns unablässig an die Unzertrennbarkeit von Laut und Gedanke erinnert – mit dem tierischen Laut vergleichen (»denn der Mensch, als Thiergattung, ist wesentlich ein singendes Geschöpf«168). Die Erörterung der Analogien zwischen menschlicher und tierischer Sprache kann angesichts der philosophischen Tradition natürlich nicht überraschen. Und auch wenn diese im Kontext der Abhandlung die Funktion haben, ein Gegengewicht zu einer instrumentellen und repräsentationsgebundenen Sprachauffassung zu bilden, die die Sprache dem Ziel der Kommunikation unterordnet, tendiert die Beschreibung immer wieder dazu, die menschliche Rede im ästhetischen Genuss der Selbstwahrnehmung aufzulösen. Eine dieser Textstellen ist gleich nach der ersten Erwähnung der Geselligkeit zu finden. Humboldt zählt hier die Ursachen auf, die eine Erklärung für das Hervorbringen von Lauten bei Tieren und Menschen liefern können. Von diesen Motivationsgründen her sind menschliche und tierische Stimmen noch nicht zu unterscheiden; der unartikulierte tierische Laut bedeutet für die Erscheinung der menschlichen Rede die notwendige materielle Bedingung: Wenn der unarticulirte Laut, wie immer bei den Thieren, und bisweilen beim Menschen, die Stelle der Sprache vertritt, so entpresst ihn entweder, wie bei widrigen Empfindungen, die Noth, oder es liegt ihm Absicht zum Grunde, indem er lockt, warnt, zur Hülfe herbeiruft, oder er entströmt, ohne Noth und Absicht, dem frohen Gefühle des Daseyns, dem Gefallen am Schmettern der Töne. Das Letzte ist das Poëtische, ein aufglimmender Funke in der thierischen Dumpfheit. […] In die Sprache gehen dieselben antreibenden Ursachen über: Noth, Absicht und Gefallen am Hervorbringen von Lauten. Da aber Alles in der Sprache an dem ihr eigenthümlichen Charakter der Intellectualität Theil nimmt, so ist sie nicht aus einem Drange zum Hervorbringen blossen Schalles zu erklären. Das Gefallen am Sprechen ist Gefallen an Rede, und mithin auf Gedanken bezogen.169
168 Ebd., S. 197. 169 Ebd., S. 196-197. Diese Textstelle ist auch in der Kawi-Einleitung im Kapitel Natur des artikulierten Lautes zu lesen (Humboldt, Ueber die Verschiedenheit, S. 440-446). Auch dieses Kapitel beginnt mit Beispielen, die den Unterschied zwischen unartikuliertem und artikuliertem Laut veranschaulichen. Das Zitat ist aber in einen etwas anderen Kontext eingebettet: Im Anschluss an die Verbindungsmöglichkeiten der Laute geht Humboldt auch auf ihren Zusammenhang mit der Freude am Hervorbrin-
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Die Idee des repräsentationsgebundenen und kommunikativen Sprachgebrauchs, die Humboldt vorher als einen Irrtum der abstrahierenden Sprachwissenschaft aufgezeigt hat, tritt hier merkwürdigerweise gerade mit den Ursachen von tierischen und »bisweilen« menschlichen Lauten in ein enges (jedoch nicht ganz analoges) Verhältnis.170 Die Ursachen, die unartikulierte Äußerungen auslösen, lassen sich auf verschiedene Quellen zurückführen. Obwohl die Ausdrücke des Schmerzes und der Freude im Gegensatz zu den Äußerungen einer Absicht gleichermaßen von einer inneren und vom Aufbrechen der Stimme untrennbaren
gen von Lauten ein, wodurch das Zitat nicht die tierischen, sondern eher die menschlichen unartikulierten Sprachelemente zeigt. Deshalb steht hier vielmehr das Gefallen am Reden im Mittelpunkt. Dies wird auch durch den eingefügten Halbsatz über den Unterschied zwischen dem rohen und dem ästhetischen Genuss deutlich: »Aber er entströmt auch, ohne Noth und Absicht, dem frohen Gefühle des Daseins und nicht bloss der rohen Lust, sondern auch dem zarteren Gefallen am kunstvolleren Schmettern der Töne.« Ebd., S. 445. 170 Die Frage des tierischen Ursprungs der Sprache lässt sich natürlich nicht unabhängig von der unmittelbaren Vorgeschichte der Sprachauffassung Humboldts betrachten, wie etwa Herders Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772). Die Unterscheidung zwischen der »natürlichen« Welt der Tiere und der sprachlich-kulturell geformten Welt des Menschen steht ferner – wie Ernő Kulcsár Szabó gezeigt hat – auch mit den Anfängen der kulturwissenschaftlichen Ansätze im engen Zusammenhang: »Die kulturelle Trennung des Menschlichen vom (noch nicht) Menschlichen hob also im 18. Jahrhundert in erster Linie damit an, dass in den Bereich des erkenntnistheoretischen und naturwissenschaftlichen (»wahrnehmungstheoretischen«) Weltverstehens die Frage nach dem sprachlich vermittelten Verhältnis zwischen Mensch und Welt mit bisher unbekanntem diskursivem Nachdruck eingetreten ist.« E. Kulcsár Szabó: Kultúra – mítosz – nyelviség, S. 35. Im Anschluss an das Verhältnis von tierischer und menschlicher Stimme können sich auch Analogien zu Hegels Auffassungen ergeben. In seinem Buch über den Zusammenhang zwischen Sprache und Tod analysiert Giorgio Agamben unter anderem eine frühe Schrift von Hegel, die die menschliche Artikulation als eine Zergliederung oder Unterbrechung der rein vokalisch tönenden Stimme des Tiers durch Konsonanten definiert. Im Hinblick auf diese Zerstückelung kann auch die Bemerkung an Bedeutung gewinnen, dass Hegel die Stimme des Tieres, die »sich als aufgehobnes Selbst« ausspricht, mit seinem gewaltsamen Tod in Zusammenhang bringt. Wie Agamben schreibt: »Wenn es stirbt, hat das Tier eine Stimme, haucht es die Seele in einer Stimme aus. Es spricht sich aus und bewahrt sich als totes. Die animalische Stimme ist also Stimme des Todes«. G. Agamben: Die Sprache und der Tod, S. 79.
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Spannung zeugen, werden sie nicht auf der gleichen Ebene situiert: Während die »widrigen Empfindungen«, wie etwa der Schmerz, den lautlichen Äußerungen vorausgehen, insofern sie sie »entpressen« oder erzwingen, werden die puren, sinnlich-materiellen Formen des Genusses nicht in diesem, sondern in einem anderen Zusammenhang erwähnt: Sie erscheinen bereits in der geistigen Form des ästhetischen Genusses, als »Gefallen am Hervorbringen von Lauten«; d.h. sie sind in diesem Sinne keine triebhaften Äußerungen mehr, der Genuss ist nicht die antreibende Ursache der Stimme, denn die Freude ist schon das Resultat der hervorgebrachten Laute. Das Locken, das Warnen und das Hilferufen sind ferner offensichtlich nicht im Sinne von Kommunizieren von Vorstellungen oder Gedanken zu verstehen. Diese lassen sich zwar auch mit gewissen Affekten in Zusammenhang bringen, jedoch entstammen sie im Gegensatz zu den vorigen Beispielen nicht einer inneren Spannung, sondern vielmehr einem äußeren Moment. Dieser Unterschied zwischen innerlicher Not und äußerer Absicht wird im Späteren noch von Bedeutung sein, doch schon hier stellt sich die Frage, inwiefern die Anwesenheit eines Anderen die Anzeichen von Schmerz und Freude bzw. die triebhaften Äußerungen des Ich modifizieren kann, die – aus der Perspektive des Anderen – schon unvermeidlich auch eine Art von Absicht mitkommunizieren. Mehr noch: Sobald der Andere erscheint, lässt sich über den inneren oder äußeren Ursprung oder die Motivation der Äußerung nicht mehr eindeutig entscheiden. Für Humboldt ist es allem Anschein nach der ästhetische Genuss, der, indem er sich vom tierischen Laut ablöst, den ersten Schritt auf dem Weg des Menschlichwerdens der Stimme darstellt. Denn die »freiwillig, ohne Noth und Absicht, der Brust«171 entquellenden Worte sind weder von einer inneren noch einer äußeren Quelle eindeutig abzuleiten, sie widerstehen der kausalen Deutung und der Vergegenständlichung: Die Freude am Singen schließt nicht die Annahme der Ursprünglichkeit der Freude oder der sozusagen aus dem Herzen kommenden Stimme aus. Denn der ästhetische Genuss bewahrt und breitet den vergänglichen Eindruck der Freude gerade dadurch aus, dass er den sinnlichen und den geistigen Ursprung ununterscheidbar und miteinander austauschbar macht.172 Für
171 W.v. Humboldt: Ueber die Verschiedenheiten, S. 197. 172 Zu der Frage, inwiefern diese Dialektik des Geistes auf die sinnlichen Formen des Genusses und die Idee der erotischen (Zeugungs-)Kraft des Geistes zurückzuführen ist bzw. zu ihrem Zusammenhang mit dem »physischen Bedürfnis« in den frühen Schriften Humboldts siehe: J. Trabant: Traditionen Humboldts, S. 111-114. Auf diesen Zusammenhang kommen wir in einer späteren Fußnote noch zurück. Hier macht Jürgen Trabant auch darauf aufmerksam, dass Humboldt zwar auch in den
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Humboldt ist ohne Zweifel das zirkelhafte Moment dieses Prozesses von Bedeutung, wie dies unter anderem auch das Beispiel des Gesangs der Vögel zeigt: »Dass die Vögel allein den Gesang besitzen, liesse sich vielleicht daraus erklären, dass sie freier, als alle andre Thiere, in dem Elemente des Tons, und in seinen reineren Regionen leben«.173 Das »Gefallen am Hervorbringen von Lauten« zeichnet sich also gegenüber den – mehr tierischen – Motiven von Not und Absicht (die beide aus einem Mangelzustand abzuleiten sind) vor allem durch die Möglichkeit der Selbstwahrnehmung durch das Hören der eigenen Stimme aus. Das bloße Sprechen oder Singen ist aber noch keine Rede; die menschliche Rede unterscheidet sich von der triebhaften Reaktion des Tieres nach Humboldt darin, dass sie mit Gedanken verbunden ist. Wie diese Verbundenheit entsteht oder (was nicht dasselbe ist) je schon besteht, kann durch das vierte und laut Humboldt wichtigste Moment der Begriffsbildung, durch die Geselligkeit erklärt werden: »Das Gefallen am Sprechen ist Gefallen an Rede, und mithin auf Gedanken bezogen. Es kommt also in der Sprache noch eine vierte Ursach hinzu, das Bedürfniss geselliger Mittheilung«.174 4.2.4 Die »Geselligkeit« als Bedingung der Erscheinung der Sprache. Die Differenz der Pronomina und die Stimme des Anderen Die Geselligkeit hat also nicht die Funktion, irgendeine Unvollkommenheit der menschlichen Natur auszugleichen, auch sie lässt sich ohne Einseitigkeit nicht aus dem blossen Bedürfnis ableiten. Sie beruht nicht einmal in den Thieren darauf. Keines ist leicht sich so alleingenügend in seiner Stärke, als der gerade vorzugsweise in Heerden lebende Elephant. Auch in den Thieren entspringt daher die bei einigen Gattungen grössere, bei andren geringere Neigung zur Geselligkeit aus viel tiefer in ihrem Wesen liegenden Ursachen.175
späteren Abhandlungen das Wort »Bedürfnis« gebraucht, da versteht er aber darunter entsprechend den Ursprungsgeschichten des 18. Jahrhunderts (in Auseinandersetzung mit den Theorien von Condillac und Herder) schon die »Not« im Sinne eines mangelhaften Zustandes. Hingegen steht das »Bedürfnis geselliger Mitteilung«, in der ebenso die Liebe und die Harmonie dominiert, dem früheren Sinne des Wortes schon näher. 173 W.v. Humboldt: Ueber die Verschiedenheiten, S. 196. 174 Ebd., S. 197. 175 Ebd., S. 200-201.
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Die Neigung zur Geselligkeit ist nicht durch Not zu erklären, »[d]er Mensch ist nicht so bedürftig, und zur Hülfsleistung hätten, wie man an den Thieren sieht, unarticulirte Laute ausgereicht.«176 Diese Neigung lässt sich also weder auf einen inneren Mangel noch auf ein äußeres bedrohliches Moment zurückführen, aufgrund dessen die menschliche Natur auf Ergänzung oder Schutz angewiesen wäre. Die Anwesenheit des Anderen ist dennoch das wichtigste Moment bei der Entstehung und der Entwicklung der Sprachfähigkeit. Da unartikulierte Laute nur in der Anwesenheit von Anderen zur Rede werden, sind es die gesellschaftlichen Kontakte, die den an sich unverständlichen Lauten erst einen Sinn verleihen und sie somit in Sprache verwandeln. Die Bestätigung der Verstehbarkeit der eigenen Stimme durch den Anderen sowie die permanente, aber nicht unbedingt körperliche Anwesenheit eines Anderen beruht natürlich auch bei Humboldt nicht auf der wörtlichen Unterscheidung eines Sprechenden und eines Hörenden oder der lebendigen Gegenwart des Gesprächs. Denn die Tätigkeit des Geistes hat in diesem Konzept im Prinzip keine Erscheinungsform, die eine solche Getrenntheit als Unterbrechung des wechselseitigen Verhältnisses implizierte. Aber in welchem Sinne ist der Andere da? Wer ist der Andere oder was bedeutet die Gesellschaft, von denen hier die Rede ist? Im einzelnen Subjekt bzw. in der inneren Beziehung von Laut und Gedanke entsteht nach Humboldt zuerst eine Vorstellung, die aber an sich in der »bewegten Masse des Vorstellens«177 noch unbestimmt ist. Am Anfang war es also das Hören der eigenen Stimme oder ihrer eigenartigen Schärfe, die die »Masse« der Gedanken strukturierte und somit den Umweg der Objektivation als »die Bedingung des Denkens des Einzelnen in abgeschlossener Einsamkeit«178 garantierte. Aber, wie sich nicht viel später herausstellt, reicht diese Spaltung zwischen der Vorstellung und dem Laut zur Bildung des Begriffs nicht aus: »Es genügt jedoch nicht, dass diese Spaltung in dem Subjecte allein vorgeht, die Objektivität ist erst vollendet, wenn der Vorstellende den Gedanken wirklich ausser sich erblickt, was nur in einem andren, gleich ihm vorstellenden und denkenden Wesen möglich ist.«179 Und weil sie sich voneinander nicht trennen lassen, ist nicht nur die Begriffsbildung, sondern schon das bloße Denken durch diese Art von Objektivität bedingt: »Im Menschen aber ist das Denken wesentlich an gesellschaftliches Daseyn gebunden, und der Mensch bedarf, abgesehen von allen körperlichen und Empfindungsbeziehungen, zum blossen Denken eines dem Ich entsprechen-
176 Ebd., S. 197. 177 Ebd., S. 201. 178 Ebd., S. 196. 179 Ebd., S. 201.
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den Du. […] Der Begriff erreicht seine Bestimmtheit und Klarheit erst durch das Zurückstrahlen aus einer fremden Denkkraft.«180 Der Ort dieser Differenz oder der Spaltung, die sich hier zwischen den Subjekten oder sogar schon im Verhältnis der eigenen Stimme und des Hörens meldet, ist zwar nicht eindeutig zu situieren, jedoch spielt sie in der Abhandlung offensichtlich eine zentrale Rolle. Denn von dieser Differenz hängt nicht nur die Klarheit des Begriffs ab, sondern auch die Möglichkeit der menschlichen Rede.181 Wollen wir die strenge Folgerichtigkeit und Konsistenz der Argumentation Humboldts bewahren, dann dürften wir diese Getrenntheit nicht im Sinne einer dialogischen Realisierung oder Entfaltung der Sprachfähigkeiten des Einzelnen verstehen; auch wenn dieser Erklärung einige vorangehenden Textstellen nicht ganz widersprechen. Die Stimme des Anderen ist im Gegensatz zu den wesentlichen, geistigen Eigenschaften der Sprache sehr wohl ein konkret-reales Moment; entsprechend der Forderung der Objektivation muss die Stimme des Anderen eine tatsächlich hörbare Stimme sein. Dennoch ist diese Wahrnehmbarkeit keine bloße Möglichkeit, die das innere geistige Wesen der Sprache von außen her berührte oder ergänzte. Denn in der Textstelle über die gesellschaftliche Seinsweise der Sprache wird auch die Objektivation zu einem in Wesentlichen inneren Moment, das somit selbst den konkreten gesellschaftlichen Kontakten und sogar der phänomenalen Dimension, d.h. der sinnlichen Wahrnehmung der Stimme, vorausgeht. Humboldt bringt hier das trennende Moment der Objek-
180 Ebd. 181 Diese doppelte Spaltung erkennt Tilman Borsche im Begriff der inneren und äußeren Sprachform. Das spurlos vorübergehende Sich-Vermischen von Laut und Gedanke innerhalb der Vorstellung wird laut Borsche durch bereits gebildete äußere Sprachformen auseinandergehalten: Es sind »sinnlich wahrnehmbare Artikulationen; d.h. äußere Formen, welcher Art auch immer, die es dem Denken ermöglichen, innere Formen zu unterscheiden. Umgekehrt geschieht die sprachliche Artikulation natürlich immer nur im Blick auf unterscheidendes Denken bzw. von ihm her«. T. Borsche: Die innere Form der Sprache, S. 59. Somit wirken innere und äußere, wahrgenommene und erinnerte Sprachform in einem dynamisch dialektischen Zusammenspiel zusammen: »Damit hat die Wirklichkeit ihren Ort gewechselt. Sie liegt nicht mehr ewig über oder, was dasselbe ist, verborgen in uns, sondern immer vor uns als die ständige Aufgabe des umgestaltenden Vergegenwärtigens durch Entäußerung unserer Erinnerung.« Ebd., S. 60-61. Das dialektische Zusammenspiel lässt aber wiederum die (wohl nur augenblickliche und gewissermaßen fiktive) Getrenntheit der Sprache vom Subjekt bzw. die Differenz zwischen Subjekten vergessen, deren Konsequenzen sich auch auf die bekannten Aspekte dieser Sprachauffassung auswirken können.
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tivation mit der wesentlichen Unterscheidung der Pronomina in Zusammenhang, die in jeder einzelnen Sprache gleicherweise zur Geltung kommt. Diese – im Kontext der ganzen Abhandlung – äußerst dichte Textstelle, die wir im Folgenden einer detaillierten Analyse unterziehen werden, müssen wir nun etwas länger zitieren: Das Wort muss also Wesenheit in einem Hörenden und Erwiedernden gewinnen. Diesen Urtypus aller Sprachen drückt das Pronomen durch die Unterscheidung der zweiten Person von der dritten aus. Ich und Er sind an und für sich verschiedene, so wie man eines von beiden denkt, nothwendig einander entgegengesetzte Gegenstände, und mit ihnen ist auch Alles erschöpft, denn sie heissen mit andren Worten Ich und Nicht-ich. Du aber ist ein dem Ich gegenübergestelltes Er. Indem Ich und Er auf innrer und äusserer Wahrnehmung beruhen, liegt in dem Du Spontaneitaet der Wahl. Es ist auch ein Nicht-ich, aber nicht, wie das Er, in der Sphäre aller Wesen, sondern in einer andren, der eines durch Einwirkung gemeinsamen Handelns. In dem Er selbst liegt nun dadurch, ausser dem NichtIch, auch ein Nicht-Du, und es ist nicht bloss einem von ihnen, sondern beiden entgegengesetzt. […] Das Pronomen in seiner wahren und vollständigen Form wird in das Denken bloss durch die Sprache eingeführt, und ist das Wichtigste, wodurch ihre Gegenwart sich verkündet. Solange man nur das Denken logisch, nicht die Rede grammatisch zergliedert, bedarf es der zweiten Person gar nicht, und dadurch stellt sich auch die erste verschieden. Man braucht dann das Darstellende nur vom Dargestellten, nicht von einem Empfangenden und Zurückwirkenden zu unterscheiden. Da nun unsre allgemeine Grammatik ganz und gar von dem Logischen ausgeht, so stellt sich das Pronomen in ihr, die eine Zergliederung der Rede ist, anders, als in der gegenwärtigen Entwicklung, wo wir eine Zergliederung der Sprache selbst versuchen. Hier geht es allem Uebrigen voran, und wird als selbstbezeichnend angesehen, dort folgt es erst der vollendeten Erklärung der Haupttheile des Satzes, und trägt wesentlich, wie auch sein Name besagt, einen repraesentativen Charakter in sich. […] Was in der philosophischen Entwicklung der Sprache allgemeiner Ausdruck eines Nicht-Ich und Nicht-Du ist, erscheint in der Rede, die es nur mit concreten Gegenständen zu thun hat, nur als Stellvertreter von diesen. Neben seinem allgemeinen Ausdruck der dritten Person spaltet es sich in die mehr oder minder verschiednen Arten des Pronomen demonstrativum. Man möchte dies aber eher ein Erheben von diesen zum Allgemeinen nennen, da einige Sprachen gar nicht zu dem letzteren gelangen. In diesen ist dies Pronomen auch wirklich nicht sowohl repraesentativ, d.h. im Geist, als etwas andres Gedachtes vertretend, gedacht, sondern vielmehr nur eine von einer augenblicklichen Verhältniss-Eigenschaft (Er liegender, stehender, u. s. f.) hergenommene, durch die Geberde vervollständigte Bezeichnung angesehen. […] Auf ähnliche Weise als das Pronomen der dritten Person sind in der Rede auch die der beiden ersten repraesentativ, weil das bestimmte Ich und Du, als wahre Substantiva in ihre Stelle treten können. Allein
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der wesentliche Begriff aller drei Pronomina ist immer der durch die Natur der Sprache selbst gegebene, dass sie die ursprünglichen und nothwendigen Beziehungspunkte des Wirkens durch Sprache, als solche, bezeichnen, und dieselben in Individuen verwandeln. Ich ist nicht das mit diesen Eigenschaften versehene, in diesen räumlichen Verhältnissen befindliche Individuum, sondern der sich in diesem Augenblick einem Anderen im Bewusstseyn, als ein Subject Gegenüberstellende, jene concreten Verhältnisse werden nur der Leichtigkeit und Sinnlichkeit wegen dem schwierigen abgezogenen Begriff untergeschoben. Ebenso geht es mit Du und Er. Alle sind hypostasirte Verhältnissbegriffe, zwar auf individuelle, vorhandene Dinge, aber in völliger Gleichgültigkeit auf die Beschaffenheit dieser, nur in Rücksicht auf das Eine Verhältniss bezogen, in welchem alle diese drei Begriffe sich nur gegenseitig durch einander halten und bestimmen.182
Diese relativ kurze Analyse, die das objektivierende real-sinnliche Moment der Stimme genau in dem Augenblick in die innere, geistige und nicht-phänomenale Dimension der Sprache zurückzieht, in dem die Möglichkeit des irreversiblen Sich-Ablösens des Lautes vom Gedanken auftauchen könnte, wirft mehrere Interpretationsprobleme auf. Was unter anderem für Irritation sorgen kann, ist die merkwürdige Tatsache, dass Humboldt hier von der Beschreibung der phänomenalen und anthropologischen Aspekte der Sprache, des Sprechens und des Hörens anscheinend ohne jeden Übergang auf die Erörterung ihrer nicht-repräsentierbaren und theoretischen Konstitution übergeht. Das Wesen der Sprache wurde vorher als eine unzertrennlich organische und nicht weiter erklärbare Verbindung des Denkens mit dem Laut beschrieben. Da auch die »selbstbezeichnenden« und »wesentlichen« Begriffe der Pronomina zu diesem Kontext gehören, sollten diese Zusammenhänge, die gleicherweise der Repräsentation widerstehen, dieselbe organische und verborgene Einheit, »das Eine Verhältnis«, wenn auch unter einem anderen Gesichtspunkt, beleuchten. Und tatsächlich sprechen alle Anzeichen dafür, dass die zitierte Textstelle ebenso den Zusammenhang des Denkens mit der Sprache erörtert und neu formuliert, insofern die drei Pronomina den jeweiligen Komponenten dieser Einheit – das Ich dem Denken, das Du der Sprache und das Er den Gegenständen oder den wahrnehmbaren Erscheinungen der Welt – paradigmatisch entsprechen. Die – zusammen mit den Verhältnissen der drei Pronomina entstehenden – Personen sind auch als Paradigmen für das Verstehen, die Rede und die bezeichneten Gegenständen (die bisher wohl in den Hintergrund geraten sind) zu betrachten. Diese Parallele wird von Humboldt
182 W.v. Humboldt: Ueber die Verschiedenheiten, S. 202-204. Im späteren Werk erwähnt Humboldt die Pronomina hier, während er selbst auf eine seiner früheren Schriften verweist: W.v. Humboldt: Ueber die Verschiedenheit, S. 483.
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allerdings nicht thematisiert, was aber nicht überrascht, denn das über die gesellschaftliche Erscheinungsweise der Sprache Gesagte ist nicht ohne Weiteres mit dem Standpunkt zu vereinbaren, der, ganz im Gegenteil, grundsätzlich von der Ursprünglichkeit der Synthese und somit einer grundsätzlichen Kontinuität ausgeht. Die beiden Standpunkte schließen sich sogar aus, insofern der Analyse der Pronomina nicht die organisch unzertrennbare Einheit der menschlichen Natur, sondern Gegensätze und Gegenüberstellungen – eine primäre Art von Differenzialität – zu Grunde liegen. Eine weitere Schwierigkeit ist, dass – während sich die Auffassung von Sprache als dem »bildende[n] Organ des Gedanken«183 auch in einen anthropologischen Horizont fügt und in diesem Rahmen vorzustellen ist – die Beschreibung der Pronomina das Medium der Stimme und die Anthropologie der Artikulation und des Hörens nicht nur nicht voraussetzt, sondern ganz im Gegenteil: Die Struktur dieser Anthropologie setzt sich aus den pronominalen Verhältnissen zusammen, diese sind ihr Wesen, und sie lässt sich auf diese Verhältnisse zurückführen. Da die drei – weder hörenden noch sprechenden, keine Sprachfähigkeit besitzenden und in dem Sinne abstrakt-hypothetischen – Personen selbst den einzelnen Aspekten der Sprache oder der Semiose entsprechen, bezeichnen oder repräsentieren sie nichts; sie weisen nicht über die Wirkungs- oder Schnittpunkte des sie tragenden und vorausgehenden, gegenseitigen Verhältnisses hinaus. Sie beziehen sich auf immanent sprachliche und nicht auf reale oder phänomenale Beziehungen, die unter Subjekten bestehen. Die Interpretation ihrer Beziehung untereinander erfordert deshalb einen scharfen Perspektivenwechsel: Humboldt geht hier nicht von der bisherigen Idee der menschlichen Natur und des sprechenden Menschen aus, den seine ursprüngliche Sprachfähigkeit auszeichnet und der seine subjektiven Vorstellungen in ihrer Artikulation bzw. ihrem Aussprechen auf die Probe stellt, welche Laute dann erst in Hinsicht auf ihre Wirkung eine Klarheit des Begriffs erhalten. Wenn die Individuen nicht unabhängig bzw. nicht vor der Sprache existieren, sondern erst durch die Verwandlung der »Beziehungspunkte des Wirkens durch Sprache« – durch ein sprachliches Ereignis – entstehen, dann lassen sich auch die genannten anthropologischen Verhältnisse auf rein innersprachliche Beziehungen zurückführen. Jedoch sind die beiden sich ausschließenden Standpunkte nicht restlos voneinander zu trennen; diesen Unterschied kann auch Humboldts Analyse nicht konsequent aufrechterhalten: Subjektive Kategorien wie Intentionalität, Spontaneität oder freie Wahl, die das Verhältnis des Ich zum Du charakterisieren, kündigen bereits die Kontamination
183 W.v. Humboldt: Ueber die Verschiedenheiten, S. 191.
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der beiden sprachlichen Dimensionen, der selbstbezeichnenden und der repräsentierenden Sphäre an. Wollen wir zuerst die unterschiedlichen Verhältnisse zwischen den drei Pronomina überschaubarer machen, sollten wir zuerst den Unterschied zwischen Gegenüberstellung und Entgegensetzung erklären. Denn durch diesen Unterschied wird das Verhältnis des Ich zu den anderen beiden Personen bestimmt: Während das Ich durch die »Spontaneitaet der Wahl« und die Unterscheidung von einer dritten Person sich selbst einem Du gegenüberstellt, wendet es sich durch denselben Akt, durch den eine lebendige Beziehung zum Du entsteht, zugleich von allen Anderen ab; somit kehrt das Ich einem Er den Rücken, mit dem es folglich in keiner Beziehung, sondern in einem bloßen Gegensatz steht. Die anderen beiden Personen werden aus der Perspektive des Ich charakterisiert und daher scheint es, dass es vor allem das Ich ist, das durch die Geste des abwendenden Hinwendens eine Gegenüberstellung und eine Entgegensetzung schafft. Aber das augenblickliche und spontane Sich-Gegenüberstellen des Ich zum Du setzt eine Unterscheidung voraus, die dieser Geste vorausgeht: »die Unterscheidung der zweiten Person von der dritten«, eine – in jedem Sinne unbewusste – Trennung des Du von einem unbestimmten Er oder von den Anderen, nach der das auf diese Weise entstehende Bewusstsein des Ich sich selbst in einem doppelten Verhältnis »als ein Subject Gegenüberstellende« (wieder-)erkennt. Die Unterscheidung des Du von den Anderen kann deshalb nicht als ein bewusster Akt aufgefasst werden, sie ist kein Ansprechen und keine Mitteilung, deren Motivation etwa in der schaffenden Kraft des Geistes läge. Aber warum fällt die Wahl auf ein bestimmtes Du und nicht auf einen Anderen, wenn die Anwesenheit dieses Du unabhängig »von allen körperlichen und Empfindungsbeziehungen« zu bestimmen ist? Die Frage, was genau die Geste des Hinwendens auslöst, kann durch die ersten drei Ursachen der Bildung von Lauten, durch ein affektives Verhältnis zum Anderen beantwortet werden: Es sind »Noth, Absicht und Gefallen am Hervorbringen von Lauten«, durch die die ersten Laute »entpresst«184 werden. Anhand der Textstellen über die gesellschaftliche Erscheinung der Sprache lässt sich der gesamte Prozess der Begriffsbildung rekonstruieren: Dementsprechend wird die affektive, sich selbst restlos ausliefernde und entäußernde Äußerung des Ich von einem äußeren und wirklichen (auch wenn solche Gegensätze vor der Gegenüberstellung noch nicht existieren), jedenfalls der bewussten Wahrnehmung vorausgehenden Moment, einem gewissen Kontakt mit dem Anderen ausgelöst. Die dadurch entpressten, unartikulierten und womöglich nicht einmal menschlichen Laute entstammen
184 Ebd., S. 196.
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also nicht einem inneren Mangel des Menschen oder dem Bedürfnis der Mitteilung von subjektiven Gedanken, sondern einer nicht-kognitiven Reaktion oder einem Affekt, der durch einen weder bekannten (weil nicht kognitiven) noch völlig unbekannten (weil noch reagierbaren) Anderen (»unbekannt Vertrauten«185?) hervorgerufen wird. Dieser Andere, durch den und in dem das Ich sich selbst erkennt, ist vor seinem Ansprechen nicht zu benennen (es geht hier nicht um eine nachträgliche Benennung oder Bezeichnung einer bereits existierenden Person oder einer wahrnehmbaren Sache); weder sein Unterschied zu den »Anderen« noch seine Existenz ist im Voraus gegeben. Auf die Frage, wie diese affektive Äußerung zum Ansprechen wird, können die verschiedenen Wiederholungskonzepte, die sich durch die Argumentation entfalten, mögliche Antworten liefern; darauf werden wir später zurückkommen.186 Von hier aus gesehen drängt sich auch die Frage nach der Priorität zwi-
185 M. Heidegger: Der Weg zur Sprache, S. 258. 186 Diese Problematik steht natürlich mit den philosophischen Diskursen, die den Ursprung der Sprache notwendig allegorisch deuten, in einem engen Zusammenhang. Die Sprachkonzepte von Rousseau und Humboldt wären etwa auf ersten Blick durch gegensätzliche Muster zu deuten: Rousseau geht von der auf gesellschaftlichen Konventionen beruhenden Vorstellung der Sprache aus, die von Humboldt knapp fünfzig Jahre später im Verweis auf die ursprünglich verborgene Geisteskraft des Menschen kritisiert wird. Diese Gegenüberstellung kann aber durch die Rousseau-Lektüren von Derrida und Paul de Man in Frage gestellt werden; de Mans Analyse über Rousseaus Essay über den Ursprung der Sprachen kann sogar auch mit den hier behandelten Fragen in Parallele gestellt werden. De Man zeigt die paradigmatische Rolle der allegorischen Textstelle über den Ursprung der Sprachen in Rousseaus Gesellschaftsphilosophie auf, wobei es sich »nicht um die Repräsentation einer paradigmatischen empirischen Situation handelt […], sondern um die metaphorische Illustration einer sprachlichen Tatsache.« P. de Man: Metapher, S. 249. Rousseaus Wilder gibt dem Anderen aus Furcht, die die erste Begegnung auslöst, den metaphorischen Namen »Riesen«, welche Metapher das Nichtkennen der realen Eigenschaften des Anderen und die offene Bedeutung der Begegnung zähmt, und zwar dadurch, dass sie dem Anderen paradoxerweise eine wörtliche Bedeutung verleiht. Diese Erkenntnis stiftende Metapher wird nachher die Grundlage für die Begriffsbildung bzw. die Unterscheidung von figurativem und übertragenem Sinn sowie inneren und äußeren Wahrnehmungen bilden, die als figurative Metasprache nicht reale Gegenstände, sondern sprachliche Zusammenhänge bezeichnen. Dies macht die allegorische Erzählweise der Begegnung nicht nur möglich, sondern auch nötig; sie ist unvermeidlich auf Mittel der Rhetorik angewiesen. Den Prozess der Begriffsbildung zeigt de Man als
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schen der Gegenüberstellung und der Entgegensetzung auf (denn der Gegensatz ist vor der Gegenüberstellung nichts anderes als eine bloße Differenz zwischen Du und Er, die eigentlich erst nach der Gegenüberstellung zum Gegensatz wird) bzw. nach dem Status der dritten Person, der ja gerade von der Art und Weise dieser Unterscheidung abhängig ist. Im sich gegenseitig bedingenden Verhältnis der Pronomina sind sie zwar gleichzeitig am Werk, sie sind schon immer vorhanden, wie die »wesentlichen Bestandtheile der Rede«, die »bewusstlos auf einmal von dem Sprachvermögen gegeben«187 werden. Jedoch kann die Frage ihrer impliziten Chronologie, worüber Humboldt anscheinend auch spontan und unbewusst entscheidet, Zweideutigkeiten hervorrufen. Die Analyse setzt nämlich stillschweigend eine hierarchische Anordnung dieser Unterscheidungsakte voraus: Sie impliziert die Priorität der Gegenüberstellung sowie des lebendigen Verhält-
einen zweifachen Akt auf: »Der Prozeß besteht zunächst aus einer wilden, spontanen Metapher, die in bestimmter Hinsicht ein Irrtum ist. Diese erste Abweichung ist jedoch nicht international […]. Die von dem Wort bewirkte Verschiebung resultiert ausschließlich aus einem formalen, rhetorischen Potenzial der Sprache.« Ebd., S. 251. Der zweite Schritt des Prozesses – das Ersetzen der Metapher des »Wilden«, aufgrund von zahlreichen Begegnungen, gegen den Begriff des »Menschen« – beruht ebenso auf einem Irrtum, einer irreführenden Eigenschaft: der Gleichförmigkeit der Zahl, die den Dingen ebenso nicht von Natur aus angehört. Aufgrund dieser formalen Identität des Menschen kommt die gesellschaftliche Idee der Gleichheit zustande: »Die Erfindung des Wortes Mensch ermöglicht es den ›Menschen‹, zu existieren, und zwar indem das Wort die Gleichheit innerhalb der Ungleichheit, die Identität innerhalb der Differenz der bürgerlichen Gesellschaft setzt, einer bürgerlichen Gesellschaft, in der die in der Schwebe befindliche potentielle Wahrheit der ursprünglichen Furcht von der Illusion der Gleichheit im Zaum gehalten wird.« Ebd., S. 252. Die Geschichte kann uns laut de Man letzten Endes die sprachliche Bedingtheit politischer Strukturen sowie »die zwangsläufige ›Politizität‹ aller menschlichen Sprachformen« (Ebd., S. 254) zeigen bzw. auf den Grund der Fragilität von gesellschaftlichen Ordnungen und der Notwendigkeit des gesellschaftlichen Vertrags und der Konventionen hinweisen. Hier können wir diesen Problemkomplex nicht weiterverfolgen. Die Vermutung liegt aber nahe, dass die genannten Textstellen von Rousseau und Humboldt grundsätzlich parallel sind, auch wenn sie entgegengesetzten Richtungen folgen. Denn wie die Idee der Konventionalität der Sprache auf ein sprachlich-rhetorisches Moment, den Akt einer (De)figuration zurückgeht, so setzt die Hypothese der Ursprünglichkeit der Sprachkraft das Konzept der Geselligkeit und somit ein konventionelles, auf Differenz und Wiederholung beruhendes Moment voraus. 187 W.v. Humboldt: Ueber die Verschiedenheiten, S. 205.
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nisses von Ich und Du gegenüber den stellvertretenden oder supplementierenden, sich spaltenden und vervielfachenden Gegensätzen, die ihrerseits auch auf das lebendige Verhältnis des Dialogs bzw. auf die originäre und organische Einheit der ersten beiden Person zurückzuführen sind. Die gegenseitige Abhängigkeit der Pronomina wird also im Prinzip nicht nur durch die Gegenüberstellung von Ich und Du und die Entgegensetzung von Ich/Du zum Er bestimmt, sondern auch von der latenten Differenz zwischen Du und Er geprägt. Somit haben wir wieder mit drei Verhältnissen/Unterscheidungen zu rechnen, die die Konstitution der Personen als Individuen organisieren. Um die Tragweite des Problems zu ermessen, wären in Hinblick auf die Wechselwirkung der Pronomina noch weitere Fragen zu stellen: Wenn das Ich sich selbst erst in diesem sprachlichen Zusammenhang als Individuum erkennt, dann ist auch sein Selbstverstehen dem Verständnis dieses medialen, Individuen (aus)tragenden Zusammenhangs ausgesetzt. Die erste Person wird dadurch etwa mit der Frage konfrontiert, inwiefern und worin sich die dritte Person von der zweiten unterscheidet, zumal wenn sie beide zweideutig erscheinen. Denn die zweite Person vertritt im Kontext der ganzen Argumentation sowohl die unvergleichbare Singularität des Anderen als auch die Geselligkeit und die Gesellschaft, die Nation und schließlich das ganze Menschengeschlecht. Die Zweideutigkeit der dritten Person ist hingegen nicht nur durch die Spannung zwischen der Unzählbarkeit des Singulars und der Abzählbarkeit des Plurals bestimmt, sondern auch durch den nicht zu fixierenden Unterschied zwischen Lebendigem und Unlebendigem sowie Personen und Gegenständen. Wie aus dem Zitat hervorgeht, kann die dritte Person die unbestimmten und deshalb unzählbaren Anderen und zugleich die unlebendigen Gegenstände repräsentieren, die sich in der Allgemeinheit der Rede konstituieren und die das Ich – im Gegensatz zum Du – nicht direkt ansprechen und deshalb in keinem unmittelbaren Verhältnis mit ihm stehen. Sehen wir nun von den Schwierigkeiten der hypothetischen Existenz der Pronomina ab und wenden wir uns stattdessen dem realen »Anderen« zu, finden wir die schon erwähnte Analogie zwischen der Sprache und dem Anderen (in der Analyse der Pronomina erwies sich das Du als das Paradigma der Sprache) bestätigt. Die Sprache des Anderen oder die Sprache als der Andere zeichnet sich also nicht durch ihre kommunikative oder repräsentierende Funktion aus, sondern durch die Möglichkeit der Objektivation, d.h. einer trennenden oder scheidenden Funktion. Nach Humboldt dient die – nicht unbedingt real körperliche – Anwesenheit einer anderen, sprechenden und hörenden Person eigentlich »nur« dazu, das Sprachvermögen – eine angeborene Fähigkeit des Menschen – zu erwecken und zutage zu fördern, dem Ich »Überzeugung« zu gewähren,
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insofern die Denkkraft »durch das von ihr Geschiedene einen Prüfstein der Wesenheit ihrer innern Erzeugungen [erhält]«.188 Der Andere wiederholt nur die unartikulierten Laute des Ich und bestätigt dadurch ihre Verstehbarkeit. Das erste Wort ist auch das potenziell schon wiederholte Wort: »Man versteht das gehörte Wort nur, weil man es selbst hätte sagen können.«189 Dies erklärt auch, warum der Andere dem Ich streng genommen nichts mitteilt; die Stimme des Anderen vermittelt nichts, was von dieser Stimme zu unterscheiden wäre. Wiederholung setzt aber Differenz voraus; und dies ist das entscheidende Moment, worauf es hier ankommt. Denn der Andere verkörpert allem Anschein nach jene »schneidende Schärfe des Sprachlauts«, die in Humboldts Beschreibung zugleich »eine eindringende, alle Nerven erschütternde Kraft [besitzt].«190 Daher ist im Prozess der Begriffsbildung vor allem seine entscheidend objektivierende, trennende, scheidende oder schneidende Funktion von Bedeutung. Die schneidende Schärfe der Stimme des Anderen scheidet die Ununterscheidbarkeit von Laut und Gedanken sowie Hören und Artikulation, ohne dass sie sie endgültig unterscheidet. Denn gerade wegen der Gleichzeitigkeit des Hörens und des Artikulierens und des nicht beobachtbaren Zusammenwirkens von Stimmorgan und Sinnesorgan ist diese Sprachkraft oder Sprachfähigkeit an sich, aus eigener Kraft unfähig, sich selbst zu koordinieren und ihre Organe zu organisieren; »klar und unmittelbar« fühlt das Ich »nur seine veränderliche Beschränktheit«.191 Deshalb reicht es nicht nur nicht aus, »dass diese Spaltung in dem Subjecte allein vorgeht«,192 sondern sie kann allein durch einen Anderen vorgehen. Ohne die Spaltung zwischen Subjekt und Subjekt, ohne eine irreduzible, nicht wahrnehmbare, aber scheidend-entscheidend wirkende Differenz im Verhältnis zum Anderen wären die bisherigen Doppelheiten und unzertrennlichen Einheiten gar nicht möglich oder denkbar gewesen. Die Spaltung zwischen Ich und Du, die, wie die Analyse der Pronomina zeigte, keine ungeteilte Linie oder einfache Form ist, ist »[d]ie wichtigste Ursach«193 und die Voraussetzung der Artikulation, aber auch des Denkens »des Einzelnen in abgeschlossener Einsamkeit«194 sowie der Objektivierbarkeit des Denkens; ohne diese Spaltung könnte nicht einmal von der unzertrennbaren Einheit oder eben Geschiedenheit von Laut und Gedanken die
188 Ebd., S. 217. 189 Ebd. 190 W.v. Humboldt: Ueber die Verschiedenheit, S. 427. 191 W.v. Humboldt: Ueber die Verschiedenheiten, S. 217. 192 Ebd., S. 201. 193 Ebd., S. 200. 194 Ebd., S. 196.
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Rede sein. Die Spaltung zwischen Subjekt und Subjekt, die wohl auch innerhalb des Subjekts existiert oder geschieht, hat an sich keinen Sinn, sagt nichts, teilt nichts mit, ergänzt die »Masse des Vorstellens«195 durch nichts, jedoch erreicht der Begriff erst durch diese Spaltung »seine Bestimmtheit und Klarheit.«196 Nicht nur für das Pronomen, sondern auch für die wesentliche Spaltung zwischen Hören und Artikulation oder Laut und Gedanken gilt, dass sie in ihrer »wahren und vollständigen Form in das Denken bloss durch die Sprache eingeführt [wird]«. Die Sprache führt sich selber ins Denken ein, »einem Blitze oder Stosse vergleichbar«197 dringt sie ins Denken ein, sie hat eine »alle Nerven erschütternde Kraft.« Von hier aus gesehen kann auch die verborgene Kehrseite der schaffenden Geisteskraft sowie der ganzen Argumentation zutage treten: Das Einzige, was das ursprünglich-natürliche Sprachvermögen nicht besitzt, worüber seine aktivschaffende Kraft nicht verfügt und dem die bewegte Masse des Vorstellens passiv und schutzlos ausgeliefert ist, ist die zur Erscheinung der Sprache unerlässliche, äußere Objektivierung oder Kraft, die in dieser Form eben keine innere, menschliche Fähigkeit ist. Es ist eine Kraft der Sprache oder des Anderen, das Moment des Sich-Einschreibens einer Differenz oder die »reißende« Schärfe des Sprachlauts, die die Vorstellungen des Ich aufteilt und ordnet, indem sie sie aufreißt. Diese die Nerven blitzartig von außen erschütternde Kraft der Stimme verwandelt sich durch einen geheimnisvollen Prozess im Inneren des Ich in die Fähigkeit der Artikulation; die erlittene Gewalt der äußeren Sprachkraft wird mit einem Schlag zu einer inneren Kraft des Geistes. Humboldt geht schon vom Resultat dieser spiegelartigen Umkehrung oder Umwertung der Kraft aus, indem er etwa in der Beschreibung der Fähigkeit der Artikulation denselben Prozess auf inverse Weise zur Sprache bringt: »Die Artikulation beruht auf der Gewalt des Geistes über die Sprachwerkzeuge, sie zu einer Behandlung des Tons zu nöthigen, welche der Form seines Wirkens entspricht.«198
195 Ebd., S. 197. 196 Ebd., S. 201. 197 W.v. Humboldt: Ueber die Verschiedenheit, S. 426. 198 W.v. Humboldt: Ueber die Verschiedenheiten, S. 192. Gerade weil das Wort »Gewalt« im Deutschen – wie Derrida in Gesetzeskraft bemerkt – »zwei Bedeutungen [vereinigt]: die der Gewalt(tätigkeit/samkeit) [violence] und die einer legitimen Macht, einer gerechtfertigten Autorität« (J. Derrida: Gesetzeskraft, S. 13), kann sich die Frage stellen: »Wie soll man einen Unterschied machen zwischen der Gesetzeskraft [force de loi] einer legitimen Gewalt oder Macht und der angeblich ursprünglichen Gewalt(tat) [violence], die diese Gewalt oder Macht instauriert haben muß und sich
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Aber die Differenz, die sich zwischen Hören und Artikulation auftut, bildet an sich noch keinen Begriff, und an diesem Punkt kommt die Wiederholung ins Spiel. Denn nicht nur ihre Entkoppelung, sondern auch ihre Verbindung bedarf stets der Bekräftigung des Anderen; der Andere soll auch das sinnlich-individuelle Zusammengehören von Laut und Gedanken als eine bereits vorhandene Sprachfähigkeit bezeugen und dadurch die Tätigkeit des Organs, die dem Ich nur auf diesem Umweg gegeben ist, bestätigen. Obwohl Humboldt konsequent vermeidet, diese nicht-repräsentierende Bestätigung des Sinnes, die Artikulation des eigenen Wortes, durch den Anderen eine Wiederholung zu nennen, könnte man den Prozess dieser Bestätigung kaum anders beschreiben. Die Vorsicht lässt sich aber verstehen, denn die einseitige Betonung der Wiederholbarkeit der Sprache würde die Möglichkeit ihrer Vergegenständlichung und der Unterbrechung der Wechselwirkung zwischen Denken und Sprache implizieren (insofern die Wiederholung auch unabhängig vom Sinn erfolgen und somit mechanisch werden kann). Und so könnte man darauf schließen, dass das Erlernen und die Aneignung der Sprache nicht oder nicht nur einer menschlichen Fähigkeit, sondern einer äußeren Instanz, einer fremden Prothese oder einer mechanischen Wiederholung zu verdanken ist. Wie Humboldt schreibt: »Die Seele würde aber von diesem künstlichen Mechanismus gar keine Ahndung erhalten, die Articulation ebensowenig, als der Blinde die Farbe, begreifen, wenn ihr nicht eine Kraft beiwohnte, jene Möglichkeit zur Wirklichkeit zu bringen.«199 Aber der mechanische Aspekt der Wiederholung ist auch in diesem Sprachkonzept am Werk und er lässt sich ebenso wenig eliminieren, wie die trennende und das Verhältnis unterbrechende Wirkung der Differenzialität. Diese Aspekte werden wohl durch den zweideutigen Status des Anderen verdeckt, der es erlaubt, seine Stimme sowohl als real und fremd zu charakterisieren als auch als ein Paradigma der Sprache und somit einen inneren organischen Bestandteil der Sprachfähigkeit des Ich. Doch versucht man das Verhältnis der beiden Personen genauer zu artikulieren, kommt man nicht umhin festzustellen, dass hier das fremde Wort – jedenfalls was seine reale Erscheinung betrifft – vor allem eine begleitende und wiederholende Funktion zu erfüllen hat. Denn werden die unartikulierten und an sich sinnlosen Laute erst durch das interpretierende Wort des Anderen, durch
selber nicht auf eine vorgängige Rechtmäßigkeit berufen konnte, so daß sie in diesem anfänglichen Augenblick weder rechtmäßig noch unrechtmäßig war, andere würden überstürzt sagen: weder gerecht noch ungerecht?« Ebd., S. 13-14. Die Differenz der beiden Bedeutungen taucht bei Humboldt erst in Hinsicht auf die Gewalt des Anderen auf, deren Herkunft ebenso schwer zu identifizieren ist. 199 W.v. Humboldt: Ueber die Verschiedenheiten, S. 221.
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seine ursprüngliche Wiederholung zum verstehbaren Wort, dann lässt sich nicht entscheiden, ob der Andere das eigene Wort nur widerspiegelt und zurückstrahlt oder zustande bringt, stiftet und modifiziert, insofern er der affektiven Äußerung des Ich eine Bedeutung verleiht. Auf die Frage, ob das Vermögen der Sprache einer inneren und je schon gegebenen Fähigkeit oder einer äußeren Konventionalität bzw. – nicht-subjektiven – Autorität zu verdanken ist, findet man in der Abhandlung keine eindeutige Antwort, auch wenn Humboldt ausdrücklich für die erste Möglichkeit argumentiert.200 Denn diese – nicht anthropomorphe –
200 Es ist wichtig zu bemerken, dass sich die hier herausgestellten Aspekte der Sprachauffassung Humboldts vom Humboldt-Bild der Fachliteratur erheblich unterscheiden. Man könnte auch sagen, dass die bildende Kraft des menschlichen Geistes, entsprechend der Intention Humboldts, auch in der Rezeption eine Übermacht gegenüber dem Konzept des gesellschaftlichen, konkret-realen Ursprungs der Sprache besitzt. Jürgen Trabant zum Beispiel betont auch im gesellschaftlichen Aspekt der Sprache und der Unvermeidlichkeit des Nicht-Verstehens (»Alles Verstehen ist daher immer zugleich ein Nicht-Verstehen, alle Uebereinstimmung in Gedanken und Gefühlen zugleich ein Auseinandergehen«. W.v. Humboldt: Ueber die Verschiedenheit, S. 439) – und dabei bleibt er dem ursprünglichen Gedanken von Humboldt durchaus treu – die dialektisch-synthetische, ausgleichende und übereinstimmende Leistung des Geistes; darin sieht er auch seine Aktualität für die moderne Sprachwissenschaft. J. Trabant: Apeliotes, S. 65. Unter anderen war es Jürgen Trabant, der auch auf die Einseitigkeit der semiotischen Rezeption aufmerksam gemacht hat, die sich auf den Begriff des Zeichens konzentrierend den Begriff der Sprache selbst vergisst. Deshalb lässt er Humboldt nicht als einen Vorgänger der modernen semiotischen Sprachwissenschaft gelten, sondern versucht vielmehr die Diskontinuität der beiden Traditionen herauszustellen (vgl. ebd., 69-98). Von hier aus gesehen stellt Trabant Heideggers Behauptung infrage, dass die Wirkung Humboldts auf die Sprachwissenschaft und Philosophie eine ununterbrochene Tradition sei. Vgl. ebd., 168. Zum zeitgenössischen wissenschaftsgeschichtlichen Kontext und zur späteren Rezeption des humboldtschen Sprachdenkens siehe noch: J. Trabant: Weltansichten. Tilman Borsche geht in seiner ersten Humboldt-Monografie ebenso von der Kritik der abstrahierend-instrumentalisierenden Betrachtungsweise der Sprachwissenschaft aus (Borsche, Sprachansichten). Brosche liest die Textstellen über die Geselligkeit als eine Widerlegung des sprachlichen Solipsismus und stellt somit ihre Kontinuität mit den anderen Passagen der Abhandlung wieder her. Er geht dabei auch auf die Beschreibung der Verhältnisse zwischen den Pronomina ausführlicher ein, die – entsprechend der Konzeption der Monografie – vor allem vom nicht zu vergegenständlichenden Charakter der Sprache und der sprachlich-dialogischen Natur der
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Gewalt, Kraft oder Willkür, die, wie in der vorliegenden Arbeit aufgezeigt, die Sprache des Anderen prägt, ist nicht mit der Idee der subjektiven Willkür oder einer instrumentalen Sprachauffassung zu verwechseln, die auch Humboldt kritisiert. Die Verbindung von Laut und Gedanke ist auch unter diesem – fremden – Gesichtspunkt nicht zu repräsentieren oder zu berechnen; diese Art von Konventionalität wird nicht durch Gewohnheit gestiftet; die Wiederholung, um die es hier geht, ist nicht durch das häufige Vorkommen des mit sich selbst identischen Zeichens zu erklären.201
Wirklichkeit her ihre Bedeutung erhalten. Nach seiner Interpretation hat zwar am Anfang das einsame Ich eine unmittelbare Beziehung zu den Objekten oder dem Nicht-Ich, jedoch ist es noch nicht imstande, »einen Begriff von sich als Ich zu bilden. Es lebt als dunkles Bewußtsein in Objekten und reibt sich an ihnen auf.« Ebd., S. 285. Durch sein Angesprochen-Werden von einem Du wird diese unmittelbare Beziehung nicht nur unterbrochen, sondern es kommt zugleich eine Art von Objektivität zustande, die die Objekte in der Vermittlung von unterschiedlichen Ansichten in einem dialogischen Verhältnis erscheinen lässt. Somit geht zwar die unmittelbare Gewissheit verloren, jedoch wird eine gemeinsame Welt und Sprache aufgebaut, deren Gegenstand schon »die in der Rede sich ausbreitende Welt [ist]. Jedes von ihnen äußert sich nun, indem es einen eigenen Standpunkt der Weltansicht entwickelt. Die Frage nach der Welt an sich wird gegenstandslos, denn die Welt erscheint nur in verschiedenen Ansichten, und zwar so, wie diese sich in dem allgemeinen Medium reflektieren. So stellt sich in der Rede wirklich eine ›Zwischenwelt‹ dar, nicht aber zwischen Ich und Nicht-Ich, denn diese lassen der Rede keinen freien Raum, sondern zwischen Ich und Du. Diese Zwischenwelt ist eine freie und zugleich gesetzmäßige – die Welt, in der wir wirklich leben. Sie wird in einem unendlichen Gespräch gebildet und stellt sich als die vielfältige Übereinstimmung und Differenz ihrer Ansichten dar.« Ebd., S. 286. Wie dem Zitat zu entnehmen ist, liest Borsche Humboldt in Wirklichkeit aus einem gadamerschen Horizont. Auf den Zusammenhang der Sprachkonzepte von Humboldt und Gadamer kommen wir später zurück. 201 Donatella Di Cesare stellt in einem ihrer Beiträge über Humboldt die hermeneutischen Aspekte dieser Sprachphilosophie in den Mittelpunkt. Dabei erweist sich auch für sie jene, die Kontinuität wiederherstellende sowie den geschichtlichen Abstand überbrückende Leistung der Sprache als maßgebend bei der Interpretation: »Innerhalb der durch die Sprache erschlossenen Perspektive nimmt der Dialog zwei Dimensionen an: eine sozusagen horizontale Dimension, die das Ich mit dem Du verbindet, und eine vertikale Dimension, die das Ich und das Du zu dem durch die Geschichte hindurch allmählich konstituierten Wir in Beziehung setzt.« D. Di Cesare: Individualität der Sprache, S. 180.
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Der Prozess oder das Ereignis der Begriffsbildung ließe sich dementsprechend durch drei einander widersprechende Hypothesen erklären (und hier können wir auch auf die mögliche – wenn auch nicht ganz parallele – Analogie mit den Wandlungen des Weges bei Heidegger hinweisen): 1. Es ist die Konventionalität des Zeichengebrauchs, die durch Gewohnheit und Häufigkeit die allmähliche Aneignung der Sprache ermöglicht; 2. Die Sprachfähigkeit schöpft ihre Kraft aus der Energie des menschlichen Geistes, die in jeder Erscheinung der Welt verborgen am Werk ist und durch die die Sprachwerkzeuge den Ton in artikulierten Laut verwandeln;202 3. Die Welt bildende Kraft oder Gewalt des Geistes
202 Ludwig Jäger unterscheidet in einem seiner Beiträge über Humboldt drei Momente im Prozess der Begriffsbildung: 1. Der Prozess lässt sich erstens als eine »Hinüberversetzung« der Vorstellung in die Objektivität betrachten, die Humboldt wie folgt beschreibt: »Denn indem in [der Sprache] das geistige Streben sich Bahn durch die Lippen bricht, kehrt das Erzeugniss desselben zum eigenen Ohre zurück. Die Vorstellung wird also in wirkliche Objektivität hinüberversetzt, ohne darum der Subjectivität entzogen zu werden.« W.v. Humboldt: Ueber die Verschiedenheit, S. 429. Wir haben dieses Moment zuerst im Hören und der objektivierenden Wirkung der eigenen Stimme identifiziert. Es stellte sich jedoch heraus, dass das Hören der eigenen Stimme bereits das Hören der Stimme des Anderen voraussetzt. 2. Jäger zeigt ein anderes Moment desselben Prozesses in der Bestimmung der Hinüberversetzung als Bezeichnung auf und weist auch darauf hin, dass es sich hierbei nicht um eine repräsentationsgebundene Bezeichnung handelt; der Akt der Bezeichnung ist nicht von abbildender, sondern von konstruktiver begriffsbildender Natur. Die Objektivation wird durch diesen »spezifischen Typus der Bezeichnung« (L. Jäger: Aspekte der Sprachtheorie, S. 176) vervollständigt, in der die Wirkung wichtiger ist als das zeichenhafte Moment. 3. Der dritte Aspekt des Prozesses sei nach Jäger die Verlautbarung, »die Bezeichnung des Begriffes im Ton« (Ebd., S. 177), die aber nicht nur zur Objektivation beiträgt, sondern bereits eine gesellschaftliche Rückwirkung ermöglicht. Die Individualisation der allgemeinen Sprachfähigkeit hängt demnach von einem dialogischen Moment ab. Dadurch wird nach Jäger auch der Begriff des Zeichens modifiziert bzw. dialogisiert: »In das Zeichen selbst ist also, gleichsam als Spur der Individualität von Rede und Verstehen, die unaufhebbare Differenz der Individualitäten als die Differenz zwischen ›Auffassung‹ und ›Bezeichnung‹ eingeschrieben.« L. Jäger: Über die Individualität von Rede und Verstehen, S. 94. Wir haben versucht, die Möglichkeit der Priorität dieses letzten Momentes in Betracht zu ziehen und die Frage zu stellen: Wie modifiziert die durch den Gedankengang notwendig implizierte Tatsache den Prozess der Begriffsbildung und die Sprachauffassung von Humboldt, dass das
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über die Sprachwerkzeuge ist eine Inversion, Wiederholung und produktive Verwandlung einer Gewalt, die aber als Kehrseite des Geistes nicht zum Subjekt gehört. Dieses Subjekt hört und versteht zuerst nicht sich selbst, sondern die Stimme seiner Kehrseite als die Stimme eines Anderen, die das Subjekt wiederholt und in der es sich selbst wiedererkennt. An sich sind alle drei Hypothesen möglich, auch wenn sie im Vergleich zueinander als unmöglich erscheinen. Was in allen drei Fällen festlegt und den einzigen konkreten Anhaltspunkt liefert, ist die unleugbare und gemeinsame Erfahrung irgendeiner Wiederholung. Zunächst einmal scheint die Annahme nahezuliegen, dass die Möglichkeit dieser Wiederholung nicht in einem mechanischen Prozess, sondern in der schaffenden Tätigkeit des menschlichen Geistes besteht; und dass die Wiederholung des gehörten Wortes ein phänomenaler Beweis für sein Verstehen ist: In dem Verstehenden, wie im Sprechenden, muss derselbe aus der eignen, innren Kraft entwickelt werden; und was der erstere empfängt, ist nur die harmonisch stimmende Anregung. Es ist daher dem Menschen auch so natürlich, das eben Verstandene gleich wieder auszusprechen. Auf diese Weise liegt die Sprache in jedem Menschen in ihrem ganzen Umfange.203
Obwohl Humboldt in der Möglichkeit des Nachsagens die Ursprünglichkeit der Sprachfähigkeit bestätigt sieht, ist offensichtlich, dass diese Tatsache an sich nicht für die Richtigkeit der Hypothese bürgen kann. Denn ist es allein der Andere als Zeuge oder »Prüfstein«, in dem das organische Zusammengehören von Laut und Gedanke widergespiegelt wird, dann ist es auch möglich, dass dieses Vermögen vor dem Umweg noch nicht existiert. Das heißt natürlich noch nicht, dass der natürlich-innere Sinn der Sprache in Wirklichkeit auf eine äußere Konventionalität zurückzuführen ist, jedoch bleibt neben den anderen Hypothesen auch diese Möglichkeit offen. Für welche Hypothese man sich auch immer entscheidet, es bleibt eine Frage der Überzeugung, und zwar aus dem einfachen Grunde, dass die Totalität der Sprache der Repräsentation widersteht. Es kann aber auch sein, dass man während der Argumentation eine Interpretation bezeugt, die dem eigenen vermeintlichen Glauben und der eigenen Überzeugung sogar gerade widerspricht. Humboldt erkennt das Prinzip der Unrepräsentierbarkeit der Sprache als für sich
eigene Sprechen erst im Angesicht der Sprache des Anderen verständlich und überhaupt zur Sprache bzw. zum Sprechen wird? 203 W.v. Humboldt: Ueber die Verschiedenheit, S. 430.
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selbst gültig. An einer Stelle inszeniert er auch sich selbst als Zeuge der unrepräsentierbaren und deshalb auch unbeweisbaren Einheit des Geistes, also als ein Subjekt, das seine eigene individuelle Weltansicht durch Interpretation von sprachlichen Erscheinungen gewinnt: Mir nun – denn ich spreche dies lieber in dem Tone innerer Ueberzeugung, als mit der Zuversicht allgemeiner Behauptung aus – scheint das Wesen der Sprache verkannt, der geistige Process ihrer Entstehung […] nur scheinbar erklärt, und ihre mächtige Einwirkung auf das Gemüth unrichtig gewürdigt zu werden, wenn man das Menschengeschlecht als zahllose zu einer Gattung gehörende Naturen, und nicht vielmehr als Eine in zahllose Individuen zerspaltene betrachtet, eine Ansicht, zu der man auch in ganz andren Beziehungen, als in der der Sprache, und von ganz anderen Punkten aus gelangt.204
Diese verborgene und synthetische Kraft, die auch für die Wechselwirkung von Hören und Artikulation verantwortlich ist, hat kein Zeichen,205 ist nicht repräsentierbar oder beweisbar, und deshalb muss auch ihre Voraussetzung eine Glaubensfrage bleiben. Jedoch ist diese Überzeugung keine Weltansicht, die reflektierbar oder darstellbar wäre, sie ist kein Resultat eines Erkennens, sondern – wie wir sehen konnten – ein Effekt des durch den Anderen ausgelösten Affekts. Wie die verschiedenen Weltansichten die an sich nichtssagende, ungreifbare, aber unleugbare Tatsache der Wiederholung reflektieren, ist am Ende der Sprache des Anderen ausgesetzt; das Hören der Stimme des Anderen als Verstehen einer sprachlichen Welt ist womöglich schon eine Übersetzung der unartikulierten Reaktionen des Ich.
204 W.v. Humboldt: Ueber die Verschiedenheiten, S. 219. 205 »Da die Synthesis, von welcher hier die Rede ist, keine Beschaffenheit, nicht einmal eigentlich eine Handlung, sondern ein wirkliches, immer augenblicklich vorübergehendes Handeln selbst ist, so kann es für sie kein besonderes Zeichen an den Worten geben und das Bemühen, ein solches Zeichen zu finden, würde schon an sich den Mangel der wahren Stärke des Actes durch die Verkennung seiner Natur bekunden. Die wirkliche Gegenwart der Synthesis muss gleichsam immateriell sich in der Sprache offenbaren, man muss inne werden, dass sie, gleich einem Blitze, dieselbe durchleuchtet«. W.v. Humboldt: Ueber die Verschiedenheit, S. 606. Ein paar Seiten später sind jedoch mehrere Bemerkungen zu finden, in denen Humboldt diese Vorstellung der Immaterialität der Sprache schon aufgibt und die Synthese der Kraft mit gewissen Zeichen versieht.
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4.2.5 Die Unpersönlichkeit der Mehrheit und die unverwechselbare Singularität des Anderen In welchem Sinne die Sprache des Anderen jeweils schon dem denkenden Ich angehört oder von ihm getrennt bzw. unabhängig ist, wird auch durch die Beschreibung der Sprache als unabhängiger Macht oder Totalität nicht eindeutig geklärt. Die Spannung zwischen dem Glauben, der Überzeugung und der Weltansicht einerseits und den sie bezeugenden, unterstützenden Beispielen oder Argumenten andererseits, gleichsam den Bruch zwischen Willen und Ausdruckskraft, zeigt auch der Widerspruch, dass – auch wenn sich Humboldt von der Ursprünglichkeit der Synthese und der ununterbrochenen Wirkung der Geisteskraft überzeugt sieht – diese Überzeugung immer wieder durch eine gegensätzliche Hypothese bekräftigt wird: Die organische Natur und den natürlichen Sinn der Sprache kann nur ein reales, konkretes und in gewisser Hinsicht konventionelles und autoritäres Moment – ihre gesellschaftliche Seinsweise – beweisen. Nach der Beschreibung der Spracherzeugung und der Begriffsbildung wendet sich Humboldt »zu dem durch das Sprechen, oder vielmehr durch das Denken in der Sprache Erzeugten«.206 Dementsprechend trennt er von der individuellen Tätigkeit des Sprechens die unbestimmte Gesamtheit, die lebendige Masse und die Mehrheit der erzeugten Elemente: »Von dem jedesmal Gesprochenen ist die Sprache, als die Masse seiner Erzeugnisse, verschieden«.207 Die Sprache erhält durch ihren massenhaften, unüberschaubaren und unerschöpflichen Charakter eine über die Einzelnen hinausgehende Macht. Die »dunkle, unenthüllte Tiefe«208 dieser Masse umfasst ein jedes Individuum; die Teilhabe an dieser unergründlichen und sich immer wieder erneuernden Totalität verleiht den Einzelnen und der Gegenwart »das Gefühl« einer historisch-nationalen und familienartigen Verwandtschaft bzw. Zusammengehörigkeit: »Die Sprache hat diese anfangs- und endlose Unendlichkeit für uns, denen nur eine kurze Vergangenheit Licht zuwirft, mit dem ganzen Daseyn des Menschengeschlechts gemein.«209 Die einzelnen Sprecher gehören dieser (sprachlichen) Masse, die jedes Individuum mit sich reißt und assimiliert, einerseits organisch an, andererseits müssen sie im selben Maße auch ihre Unabhängigkeit von ihr bewahren. Sonst könnte sich die Sprache nicht verselbstständigen und sich zu einer
206 W.v. Humboldt: Ueber die Verschiedenheiten, S. 223. 207 W.v. Humboldt: Ueber die Verschiedenheit, S. 436. 208 Ebd., S. 437. 209 Ebd.
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autonom-unabhängigen Macht entwickeln, welche die Voraussetzung dafür ist, dass eine Kontinuität zwischen Vergangenheit und Gegenwart entsteht. Mit der unvermeidlichen Anerkennung der Unabhängigkeit und Autonomie der Sprache taucht wieder die Möglichkeit der Diskontinuität und somit einer unvorhersehbaren und nicht verarbeitbaren Begegnung auf; die Sprache kündigt sich wieder als eine nicht-menschliche, unbekannte und nicht erkennbare, gleichgültig-willkürliche Stimme an. Diese Stimme wird in der Abhandlung durch die universelle Dimension der menschlichen Natur gezähmt. Das folgende Zitat steht exemplarisch für die Textstellen der Abhandlung, in denen Humboldt durch die nicht bemerkbare Identifizierung des Du mit den Anderen bzw. des jeweiligen Anderen mit dem Menschengeschlecht – ein Zusammenfügen von unüberbrückbaren Gegensätzen – die Kontinuität wiederherstellt, die somit nur für einen Augenblick unterbrochen wird: Wir sind im Vorigen darauf aufmerksam geworden, dass der in Sprache aufgenommene Gedanke für die Seele zum Object wird und insofern eine ihr fremde Wirkung auf sie ausübt. Wir haben aber das Object vorzüglich als aus dem Subject entstanden, die Wirkung als aus demjenigen, worauf sie zurückwirkt, hervorgegangen betrachtet. Jetzt tritt die entgegengesetzte Ansicht ein, nach welcher die Sprache wirklich ein fremdes Object, ihre Wirkung in der That aus etwas andrem, als worauf sie wirkt, hervorgegangen ist. Denn die Sprache muss nothwendig zweien angehören und ist wahrhaft ein Eigenthum des ganzen Menschengeschlechts. [Hervorhebung H. H.] […] Die wahre Lösung jenes Gegensatzes liegt in der Einheit der menschlichen Natur. Was aus dem stammt, was eigentlich mit mir Eins ist, darin gehen die Begriffe des Subjects und Objects, der Abhängigkeit und Unabhängigkeit in einander über. Die Sprache gehört mir an, weil ich sie so hervorbringe, als ich thue; und da der Grund hiervon zugleich in dem Sprechen und Gesprochenhaben aller Menschengeschlechter liegt, soweit Sprachmittheilung ohne Unterbrechung unter ihnen gewesen seyn mag, so ist es die Sprache selbst, von der ich dabei Einschränkung erfahre. Alles was mich in ihr beschränkt und bestimmt, ist in sie aus menschlicher, mit mir innerlich zusammenhängender Natur gekommen, und das Fremde in ihr ist daher dies nur für meine augenblicklich individuelle, nicht meine ursprünglich wahre Natur.210
Das Moment der Objektivation sowie die Getrenntheit und Fremdheit des Anderen wurde auch in den früheren Textstellen durch das sinnliche Zusammengehören und die unsichtbare Grenze zwischen dem einzelnen Individuum und der allgemeinen Natur oder einer wesentlichen Eigenschaft des Menschen zurück zum Ich, das dieser Fremdheit begegnete, gebunden. Wie die Masse der Sprache
210 Ebd., S. 437-438.
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die Singularität des Anderen repräsentiert und ersetzt, so vertritt bzw. steht die Fähigkeit des Denkens und die sprachliche Weltansicht für die ebenso unersetzbare Individualität des Ich. Die Weltansicht als Sprachansicht bestimmt nicht nur das einzelne Individuum, sondern auch die Sprachgesellschaft und die Nation, zu denen das Individuum infolge seiner Sprache und Natur von Anfang an angehört. Aber das Verhältnis von Mensch und Sprache bzw. Individuum und Gesellschaft wird nach Humboldt nicht nur durch diese unmerklich natürliche Harmonie, sondern auch durch eine Art von Machtkampf geprägt, der sowohl in der Erzeugung als auch im Erzeugten der Sprache erkennbar ist. Im Prozess der Spracherzeugung bewältigt der Geist zuerst die Sprechorgane, damit die Macht oder Gewalt, die somit auf die Artikulation übertragen wird, den Widerstand der lautlichen Materie bricht und der inneren Sprachform Geltung verschafft, die nachher die Erscheinungen der Welt prägt.211 Die Macht der Sprache stellt zugleich die Macht der Masse über das Einzelne dar: Wenn man bedenkt, wie auf die jedesmalige Generation in einem Volke alles dasjenige bildend einwirkt, was die Sprache desselben alle vorigen Jahrhunderte hindurch erfahren hat, und wie damit nur die Kraft der einzelnen Generation in Berührung tritt und diese nicht einmal rein, da das aufwachsende und abtretende Geschlecht untermischt neben einander leben, so wird klar, wie gering eigentlich die Kraft des Einzelnen gegen die Macht der Sprache ist. Nur durch die ungemeine Bildsamkeit der letzteren […] und durch die Gewalt, welche alles lebendig Geistige über das todt Ueberlieferte ausübt, wird das Gleichgewicht wieder einigermassen hergestellt.212
Nachdem der Mensch seine Sprechorgane bewältigt und somit die Sprache erzeugt hat, übernimmt die Sprache die Macht über den einzelnen Menschen. Diese Macht ist aber keine einschränkende Macht mehr, denn die Kraft der Sprache ist nichts anderes als die Kraft der Artikulation und somit eine Wirkung oder Emanation der Kraft des menschlichen Geistes. Die absolute und uneingeschränkte Gewalt des Geistes entspricht ihrer schrankenlosen Freiheit und einer Kraft, die sich mittels dieser Zirkularität immer wieder erneuert und unerschöpflich bleibt.213
211 Vgl. ebd., S. 441, 459. 212 Ebd., S. 438-439. 213 Zur humboldtschen Versöhnung und Dialektik von Macht und Gewalt bzw. zu ihrem Zusammenhang mit der Diskurstheorie von Lyotard siehe: T. Borsche: Die Gewalt des Wortes.
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Aber der Masse der Sprache, der Kraft der Mehrheit und der ursprünglich menschlichen, allgemeinen Fähigkeit des Sprechens kann gerade jener einzig konkrete, reale, spontane und nicht wiederholbare Moment zum Opfer fallen, durch den das Sprechen und die Sprache überhaupt möglich werden könnten. Denn das Wichtigste, was uns die oben beschriebenen Kraftverhältnisse der
Es wäre wohl interessant, diesen Begriff der Gewalt einer der früheren Schriften von Humboldt entgegenzusetzen (Ueber den Geschlechtsunterschied und dessen Einfluss auf die organische Natur), in welcher – worauf Jürgen Trabant aufmerksam gemacht hat – »die Subjekt-Objekt-Problematik im Sinne eines Liebes-Verhältnisses gedacht [wird]«. J. Trabant: Apeliotes oder Der Sinn der Sprache, S. 18. Sinnlichkeit und Verstand sind demnach als unterschiedliche Formen des Erkennens auf einen gemeinsamen Ursprung zurückzuführen. Somit ließe sich die Kraft der Synthese, die Gegensätze vereinigt und ihre Dialektik in Bewegung setzt, mit dem Gegensatz der Geschlechter und der Zeugungskraft sowie der Sexualität in Zusammenhang bringen. Zur Verdoppelung von Körper und Geist (sowie von Händen, Ohren und Geschlechtern) und der den Geist spaltenden sexuellen Differenz könnte aber vor allem die einschlägige Lektüre von Derrida den Kontext bilden: J. Derrida: Geschlecht (Heidegger). Die Gewalt, die erst im Verhältnis zum Anderen erschien, und die sinnlichen Wurzeln des Geistes, die Trabant analysiert, sind aber nicht ohne Weiteres einander entgegenzusetzen. Denn wie wir es bei den ersten drei Ursachen der lautlichen Äußerungen beobachten konnten, werden die Affekte des Schmerzes und der Freude von Humboldt nicht auf der gleichen Ebene gedacht. Wie das Gefallen am Hervorbringen von Lauten oder der Gesang ästhetisiert auch die geistige Zeugungskraft die sinnlichkörperlichen Formen des Genusses und der Freude (indem sie sie in der Wechselseitigkeit der Synthese situiert), und zwar noch bevor ihre einseitigen, ziel- und funktionslosen, vielleicht sogar destruktiven Aspekte zum Vorschein kommen könnten. Der entscheidende Unterschied besteht also nicht zwischen Schmerz und Freude oder Gewalt und Sexualität, sondern zwischen Bestehen und Fehlen der Gegenseitigkeit oder Synthese. Wie weiter oben beschrieben, entbehrt die Bewegungskraft des Geistes nicht der Gewalt, einer gewaltigen Triebfeder, die aber nicht als Dialektik von Macht und Gewalt zu denken ist. Die Freude am Schmerz, die sich etwa im Übersetzen der Stimme des Anderen in ein sich selbst wahrnehmendes Sprechen meldet, ist wohl auch nicht unabhängig von der Idee der Sexualität, die aber in dieser Form weder auf der Seite des Körpers noch der des Geistes zu situieren ist. Zeugungskraft und Destruktion sind, wie wir spätestens seit Freud wissen, untrennbare Seiten ein und desselben Phänomens; sie können einander ersetzen, ohne dass ihre Differenz verschwindet; es ist sogar die Differenz zu ihrer jeweiligen Kehrseite, von der sie ihre treibende Kraft erhalten.
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Pronomina zeigen, ist, dass ohne ein dem Ich gegenüberstehendes und mit allen Anderen unverwechselbares Du, ohne seine Singularität kein Denken und keine Sprache möglich ist. Diese Singularität hat aber keine erkennbare Identität, sondern meldet sich in der Regel durch eine Spaltung oder Differenz: Die Stimme des Anderen zeichnet sich durch eine konstitutive Zweideutigkeit aus, insofern sie einerseits eine real konkrete Stimme sein und sich in einem hörbaren Wort manifestieren soll (darauf deutete auch schon das Beispiel der Taubstummen hin, die »nur unter Hörenden zur Sprache gelangen«214 können). Andererseits war die Phänomenalität des Wortes nicht mit einer repräsentationsgebundenen Wahrnehmbarkeit zu verwechseln, die selbst durch diese primäre Phänomenalität der Sprache bzw. das lebendige Verhältnis der ersten beiden Pronomina bedingt war: »[Ich und Du] werden wirklich innerlich empfunden, das Ich im Selbstgefühl, das Du in der eigenen Wahl, da hingegen Alles, was sich unter die dritte Person stellt, nur wahrgenommen, gesehen, gehört, äusserlich gefühlt wird.«215 Humboldt beschreibt das objektivierend-objektivierte Wort direkt vor der Analyse der Pronomina als ein Äußerlich- und Sichtbar-Werden des Gedankens, was aber wiederum nicht die sinnliche Gegenständlichkeit des Wortes bedeutet: Das Wort ist kein Gegenstand, vielmehr den Gegenständen gegenüber etwas Subjectives, dennoch soll es im Geiste des Denkenden ein Object, von ihm erzeugt und auf ihn zurückwirkend werden. Es bleibt zwischen dem Wort und seinem Gegenstande eine so befremdende Kluft, das Wort gleicht, allein im Einzelnen geboren, so sehr einem blossen Scheinobject, die Sprache kann auch nur so zur Wirklichkeit gebracht werden, dass an einen gewagten Versuch ein neuer sich anknüpft.216
Die zum Sprechen unentbehrliche, Glauben und Überzeugung gewährende Stimme des Anderen, ihre eigentümliche Phänomenalität, geht also der hörbaren und sichtbaren Dimension der Repräsentation, die sich erst durch die Sprache erschließt, voraus. Diese sinnliche Dimension der Wahrnehmung, in der man »das Darstellende nur vom Dargestellten, nicht von einem Empfangenden und Zurückwirkenden zu unterscheiden [braucht]«,217 beruht auf einer abstrakt-logischen Unterscheidung oder einem bloßen Gegensatz, der, gerade weil er sich vom singulären Verhältnis zum Du abwendet, seinen eigenen sprachlich-dialogischen Ursprung verdeckt. Die Wahrnehmung ist in der Tat eine sprachliche
214 W.v. Humboldt: Ueber die Verschiedenheiten, S. 194. 215 Ebd., S. 207. 216 Ebd., S. 201-202. 217 Ebd., S. 202-203.
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Weltansicht, die aber doch durch den Blick des Anderen gelenkt wird. Und das entscheidende Moment in all diesem ist, dass das Ich, um sprechen, hören und sehen, zu sich selbst, zur Welt und zum Vorschein kommen zu können, nicht eine menschliche Fähigkeit, eine natürliche Eigenschaft, eine Muttersprache oder eine Gesellschaft braucht, sondern einen in jedem konkreten Augenblick (nicht im zeitlich-materiellen Sinne) anwesenden Zeugen – das Dasein eines Du, das nur in dem Sinne anwesend ist, dass es im Ich einen Affekt als Spur hinterlässt. Sprechen kann man deshalb nur zu diesem und aus diesem Anderen als einer singulären Sprache, aus Glauben und Überzeugung, infolge einer spontanen Wahl, Berührung oder Entscheidung, die anstelle der Menschen oder der erkennbaren Anderen immer einen bestimmten (aber nicht als solchen bestimmbaren) Anderen wählt. Unser nächster, sich in unserer unmittelbar-nichtwahrnehmbaren Nähe oder Nachbarschaft befindender »unbekannt Vertraute[r]«218 oder »Freund-Feind«219 bleibt in diesem Sinne für immer unbekannt oder ein Geheimnis. Die Anwesenheit dieses Anderen ist zwar nicht eine sinnlich-körperliche, jedoch ist sie nicht unabhängig von unserer eigenen Körperlichkeit. Somit ist das Sich-Aneignen der Sprache (das auch die hier wohl zu weit führende lacansche Frage aufwirft, wem der eigene Körper gehört und wer über ihn verfügt) zwar nicht mit dem stufenweisen Erlernen und mechanischen Reproduzieren einer Konvention zu vergleichen, jedoch entbehrt es nicht einer gewissen mechanisch-unkontrollierbaren Reaktion: Jede erneute Äußerung entspringt einem »gewagten Versuch«, dem Risiko, einem (vielleicht jedes Mal anderen) Anderen ausgesetzt zu sein. Denn aus der Rekonstruktion des Zirkelprozesses ist ersichtlich, dass das Ich und das Denken an sich (vor der gesellschaftlichen Objektivation)220 nichts anderes
218 M. Heidegger: Der Weg zur Sprache, S. 258. 219 J. Derrida: Heideggers Ohr, S. 492. 220 Hans-Werner Scharf analysiert in seinem Beitrag Differenz und Dependenz die Widersprüche der humboldtschen Argumentation, in denen die sich ausschließenden Gegensätze (z.B. innere und äußere Sprachform, Wesen und Erscheinung) sich gegenseitig begründen und legitimieren. Die Idee der Ursprünglichkeit der Synthese sei demnach eine bloße Fiktion, denn sie lässt sich auf der Ebene der sprachlichen Phänomene nicht mehr beobachten, insofern sie je schon vollzogen wurde. Ihr Ereignis spaltet sich in der Terminologie, die konkrete Phänomene der Sprache beschreibt, zwangsläufig in verschiedene Unterscheidungen: »›Der Geist‹ und ›die Natur‹ sind nichts als spekulative Projektionen der sich selbst rekonstruierenden Sprachlichkeit auf ein unvordenkliches, vor-ursprüngliches Tableau.« H.-W. Scharf: Differenz und Dependenz, S. 152. Das Erschließen der Widersprüche der Argumentation und der
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sind als eine unwillkürliche Reaktion, eine Unmöglichkeit des Unterscheidens, ein Affekt ohne die Fähigkeit zur Reflexion, zur Wahrnehmung oder zum (Hin)hören, dessen unartikulierte Äußerung sich im Angesicht des Anderen sprachlich organisiert und die erst die Bekräftigung des Anderen als ein eigenes Sprechen erkennen lässt. Dadurch ist aber die Fähigkeit des Sprechens nicht ein für alle Mal gegeben: Wir haben gesehen, dass der Begriff der Geselligkeit nicht entbehrt werden kann, wenn man den einfachen Act des Denkens zu zergliedern versucht, dasselbe wiederholt sich aber auch im geistigen Leben des Menschen unaufhörlich; die gesellige Mittheilung gewährt ihm Ueberzeugung und Anregung.221
Obwohl sich weiterhin nicht entscheiden lässt, ob der Sinn der unartikulierten Äußerung vom Anderen wiederholt oder gestiftet wird, bleibt eines sicher: Jede
Unergründlichkeit der Hypothesen kann zum Verständnis der humboldtschen Sprachauffassung ohne Zweifel in erheblichem Maße beitragen. Jedoch bleibt fraglich, ob es überhaupt möglich ist, diese – im gegenwärtigen Kontext Glaube oder Überzeugung genannte – »Fiktion« der Argumentation zu eliminieren, bzw. ob nicht auch die »objektive« sprachwissenschaftliche Forschung, die von evident-gegebenen »Tatsachen« ausgeht, eine Theorie, Hypothese oder Überzeugung benötigt und voraussetzt, deren Reflexion zu ähnlichen widersprüchlichen Mustern des Denkens führen würde. Denn wie oben aufgezeigt, ist bei Humboldt neben der Idee der Ursprünglichkeit der Synthese auch eine gegensätzliche, ursprüngliche Spaltung oder Differenz voraussetzende »Fiktion« vorhanden, die zwar dem humboldtschen Gedanken widerspricht, ihn jedoch nicht widerlegt. Das antihermeneutische und nicht-interpretierende Zurückkehren zu den »für sich selbst sprechenden« Fakten neutralisiert gerade jene Aspekte des humboldtschen Denkens (etwa die nicht-instrumentelle, sondern sinnbildende Funktion der Sprache), durch die – nach der einstimmigen Meinung der Fachliteratur – diese Sprachauffassung an Aktualität gewinnt. Wenn wir im gegenwärtigen Gedankengang in Hinsicht der Getrenntheit von Ich und Du bzw. Subjekt und Sprache von einem fiktiven Moment sprechen, ist dies nicht im Sinne von »bloß möglich, aber nicht beweisbar« gemeint, sondern vielmehr im Sinne einer Unmöglichkeit als einer unmöglichen Entscheidung zwischen zwei sich ausschließenden Hypothesen: Die beiden Aspekte der Sprache lassen sich sowohl in einem konventionellen Verhältnis als auch in der Ursprünglichkeit der Synthese situieren. Nach einer dritten Hypothese, die oben aufgezeigt wurde, ist es ein unmögliches Ereignis, das diese Konzepte der Sprache möglich und zugleich unmöglich macht. 221 W.v. Humboldt: Ueber die Verschiedenheiten, S. 217.
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erneute Äußerung hat mit den hier beschriebenen Schwierigkeiten zu kämpfen. Oder anders gesagt: Nachdem man die Sprache verloren hat oder ihrer beraubt wurde, muss man sie in jedem Augenblick wieder »lernen«. Nach all dem scheint es, dass die Bedingungen der Sprache und des Sprechens gerade in dem Ereignis zu suchen sind, in dem die erlittene Gewalt, eine Art von Unfähigkeit oder Unmöglichkeit, sich in die aktiv-produktive Fähigkeit, die unerschöpfliche Kraft des Geistes und die Auszeichnung des Menschen verwandelt und somit in eine menschliche Sprache übersetzt wird. Während dieses Ereignis bei Humboldt sich in der »dunkle[n], unenthüllte[n] Tiefe«222 des Geistes verliert, zeigt es sich in der Philosophie von Heidegger und Gadamer, die gerade dieses Potenzial der humboldtschen Sprachauffassung zu entfalten suchen, deutlicher. Das Äquivalent dieser Verwandlung oder »Kehre« ließe sich bei Heidegger auf den ersten Blick im Ereignis des Sprechens, im Zur-SpracheBringen der Sprache entdecken. Aber noch bevor wir zu dieser Analogie kommen, müssen wir auf die Beziehung zwischen Humboldt und Gadamer eingehen und zuerst die Frage stellen, welche Rolle in dieser Beziehung die Welt und die Sprache der Tiere, bzw. ihre Welt- und Sprachlosigkeit spielen.
4.3 G ADAMER 4.3.1 Gadamers Weg von der Vergegenständlichung der Sprachform zur Sprache als Weltansicht Der »Geschehenscharakter der Sprache«223 und die nicht reflexive Bildung des Wortes spielt bekanntlich auch bei Gadamer eine zentrale Rolle. Die Analogie mit der humboldtschen Sprachauffassung ist in Wahrheit und Methode an mehreren Stellen deutlich zu erkennen, wie etwa im folgenden Zitat, in dem gewissermaßen auch die Sprache von Humboldt mitspricht oder mitschwingt: »Ein jedes Wort bricht wie aus einer Mitte hervor und hat Bezug auf ein Ganzes, durch das es allein Wort ist. Ein jedes Wort läßt das Ganze der Sprache, der es angehört, antönen und das Ganze der Weltansicht, die ihm zugrundeliegt, erscheinen.«224 Gadamer lehnt sich in der Ausführung seines Sprachdenkens neben dem Sprachbegriff des Griechentums und dem christlichen Denken des Mittelalters an die Sprachbetrachtung von Humboldt, dem »Schöpfer der modernen
222 W.v. Humboldt: Ueber die Verschiedenheit, S. 437. 223 H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 431. 224 Ebd., S. 462.
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Sprachphilosophie«225 an, dessen »eigentliche Bedeutung für das Problem der Hermeneutik« nach Gadamer »in der Erweisung der Sprachansicht als Weltansicht«226 liegt. Gadamer knüpft also nach seiner Intention, wie er deklariert, innerhalb der humboldtschen Tradition an den Gedanken der Nichtunterscheidung von Sprache und Welt an. Darüber hinaus kann man, wie ich nun zeigen möchte, auch einen anderen gemeinsamen, jedoch unausgesprochenen Zug entdecken, durch den der Vorgang der Begriffsbildung, die wir bei Humboldt rekonstruierten, gleichsam als die Kehrseite der spekulativen Struktur der Sprache bei Gadamer erscheint. Deshalb werden wir im Folgenden die Unterscheidung von Mensch und Tier, die gleichzeitig auch andere Differenzen nach sich zieht, in den Vordergrund stellen. Denn in den einschlägigen Kapiteln von Wahrheit und Methode wird das Zusammengehören von Sprache und Welt sowie die Sprachlichkeit der Erfahrung genau durch diese Unterscheidung begründet. Daneben wird auch der Unterschied zwischen dem reflektiert-bewussten und dem unbewussten Charakter der Sprache als Leitfaden der Argumentation dienen. Bevor wir zu den gadamerschen Beispielen – oder vielmehr Gegenbeispielen – für die Welt der Tiere kommen, die seinen Gedankengang sozusagen von außen her zu unterstützen scheinen und deshalb fast als überflüssig wirken, die sich aber im Kapitel doch hartnäckig wiederholen, kehren wir kurz zu Humboldt und der zweideutigen Rolle der unartikulierten, tierischen Sprachelemente zurück, um gleichsam einen Übergang zum Standpunkt Gadamers vorzubereiten. Obwohl sich also die Idee einer sprachlosen oder vorsprachlichen Welt bereits für Humboldt als eine theoretische Fiktion erweist, weist er den unartikulierten Sprachelementen in der vergleichenden Betrachtung der Nationalsprachen eine bedeutende Rolle zu. Die Zweideutigkeit dieser Elemente besteht genau in dieser ihrer Fiktionalität: Einerseits ist es unmöglich, die Elemente der Sprache in ihrer bedeutungslosen Materialität zu betrachten, andererseits ist es auch unvermeidlich, sie im Prozess des Vergleichens in verschiedenem Maße zu abstrahieren und somit zu vergegenständlichen. Die einen »vorzüglichen« Aufbau besitzenden Sprachen lassen sich von den »unvollkommenen«227 allein nach dieser vergegenständlichenden Betrachtung unterscheiden. Humboldt sieht nämlich die Sprachen, in denen die Sprachelemente, die an unartikulierte Lautäußerungen erinnern, die Anwesenheit des Sinnes schwächen (wie etwa die Partikeln oder die Verdopplung von Vokalen in bestimmten Dialekten), wenn auch nicht als untergeordnet, so jedoch als durch ein weniger fruchtbares Prinzip »beseelt«
225 Ebd., S. 443. 226 Ebd., S. 447. 227 W.v. Humboldt: Ueber die Verschiedenheit, S. 654-655.
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an.228 Das »Schmettern« – hier schon »schmetternde Geräusch«229 – der Töne sowie das »Gefallen an blossen Tönen und Reizbarkeit für dieselben«,230 die vorher den ursprünglich ästhetischen und nicht-repräsentationsgebundenen Charakter der Sprache demonstrieren sollten, erscheinen in diesem Kontext schon in einem negativen Licht. Das widerspricht aber nicht unbedingt dem bisherigen Prinzip der Betrachtung (weil diese Töne bzw. Geräusche die Einheit von Laut und Gedanke verstärken und zugleich sprengen – diese ambivalente Funktion ist der Grund, warum der Widerspruch, jedenfalls auf den ersten Blick, unsichtbar bleibt). Diese Elemente, die in einer Sprache durch »die blosse Lautgewohnheit«231 überhandnehmen können, neigen ja von ihrer Natur aus dazu, den Laut vom Gedanken zu trennen. Diese vergegenständlichende Wahrnehmung des Lautes ist wohl selbst relativ bzw. eine Frage der Perspektive (sowie des Hörens und des Ohres): Denn es geht hier um eine Betrachtungsweise, die die jeweilige Sprache nicht von »innen« sieht, nicht in ihr lebt, sie spricht bzw. in ihrem Gebrauch beurteilt. Aber diese Differenz kann sich wiederum als brüchig erweisen. Auf die Unmöglichkeit der Unterscheidung zwischen »innerer« und »äußerer« Perspektive sowie ihre unmerkliche Verwechselbarkeit in der Sprachbetrachtung wies bereits der sowohl materielle als auch immaterielle Charakter der Stimme des Anderen hin, oder eben die »Schärfe des Sprachlauts«,232 die die kognitive Unterscheidung der evidenten Differenz oder die Artikulation des unleugbaren Eindrucks gerade wegen ihrer schneidenden Wirkung unmöglich macht. In der Schärfe des Sprachlauts und der Verständlichkeit der Sprache (in erster Linie natürlich der Muttersprache) verschwinden aber gerade jene Grenzen und Formen, die nach Humboldt den Vergleich der Nationalsprachen ermöglichen. Je mehr sich die Form entzieht, je ungreifbarer die Sprache als solche ist, desto schärfer und stärker tritt ihre unverwechselbare Individualität hervor, desto evidenter ist ihre Erfahrung. Offensichtlich ist es diese Widersprüchlichkeit der Form, die die Prinzipien der vergleichenden Untersuchung der Sprachen immer wieder provoziert und auf die Probe stellt. Die Annahme einer Hierarchie der Sprachen, die der Begriff der (zu beschreibenden und somit vergleichbaren) Form zwangsläufig impliziert, weist Humboldt (wenn auch nicht ganz überzeugend)
228 Ebd., S. 655. 229 W.v. Humboldt: Ueber die Verschiedenheiten, S. 198. 230 Ebd. 231 Ebd., S. 199. 232 W.v. Humboldt: Ueber die Verschiedenheit, S. 427.
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eindeutig zurück;233 die weiteren aufkommenden Widersprüche versucht er durch die Versöhnung der Gegensätze zu entschärfen. Auf die Wiederherstellung der Gleichheit der Sprachen zielt etwa auch die Gerechtigkeit anstrebende Bemerkung, »dass man ebenso richtig sagen kann, dass das ganze Menschengeschlecht nur Eine Sprache, als dass jeder Mensch eine besondere besitzt.«234 Das heißt, zwischen Sprache und Sprache gibt es keinen Unterschied, weil es zwischen den Sprachen der Einzelnen nur Unterschiede gibt. Aber die Sprachen sind nur gleich, wenn sie unvergleichlich sind. Und da es keine unparteiische Position außerhalb der Sprache gibt, von der aus die Verschiedenheit zu beurteilen wäre, bzw. da diese Position nur die eigene Muttersprache sein kann, sagt Humboldt, dass »man in eine fremde Sprache immer, mehr oder weniger, seine eigne Welt-, ja seine eigne Sprachansicht hinüberträgt«.235 Diese Formulierung setzt aber immer noch die Möglichkeit der Unterscheidung des eigenen Standpunktes von der fremden Sprache, des Eigenen vom Fremden voraus. Wenn nicht nur die eigene Sprache, sondern auch die Sprache des Fremden oder Anderen eine eigene Weltansicht ist, dann wird auch der Andere erst als Sehender und nicht als Gesehener sichtbar. Oder noch genauer: Er ist im Augenblick der Begegnung mit seinem lebendigen Blick gar nicht mehr sichtbar. Diese humboldtsche Abstraktion der Weltansicht (durch die die Sprache des Anderen zu einer bloßen Fremdsprache wird), löst Gadamer durch das Prinzip des lebendigen Gesprächs auf, das durch die Umkehrung der Perspektive bzw. die Anerkennung ihrer jeweiligen Umkehrbarkeit das Recht des Anderen zur Geltung bringt. Diese Tendenz zur Vergegenständlichung lässt sich zwar aus der Ansicht des Sprachwissenschaftlers nicht restlos eliminieren, jedoch führt Gadamer die Ursache der Abstraktion der Sprachform bei Humboldt auf einen anderen Grund: die metaphysische Voraussetzung des sich selbst gegenwärtigen Geistes zurück. Von der hermeneutischen Kritik der Unterscheidung von Subjekt und Objekt her stellt ein solcher Begriff von Sprache eine Abstraktion dar, die wir für unsere Zwecke rückgängig machen müssen. Sprachliche Form und überlieferter Inhalt lassen sich in der
233 Das Argument scheint nicht überzeugend zu sein, weil es auf der tautologisch wirkenden Unterscheidung zwischen der Intellektualität und dem beseelenden Drang/ fruchtbaren Prinzip einer Sprache basiert: »Eine unvollkommene Sprache beweist daher zunächst nur den geringeren auf sie gerichteten Trieb der Nation, ohne darum über andere intellectuelle Vorzüge derselben zu entscheiden.« Ebd., S. 654-655. 234 Ebd., S. 424. 235 Ebd., S. 434.
192 | D IFFERENZEN DES S PRACHDENKENS hermeneutischen Erfahrung nicht trennen. Wenn eine jede Sprache eine Weltansicht ist, so ist sie das in erster Linie nicht als ein bestimmter Typus von Sprache (wie der Sprachwissenschaftler Sprache sieht), sondern durch das, was in dieser Sprache gesprochen wird bzw. überliefert ist.236
Gadamer modifiziert also die humboldtsche Definition der Sprache als Weltansicht von der Erfahrung der Fremdheit des jeweiligen Anderen als einer fremden Ansicht her. Diese Verschiebung der Akzente versucht er zunächst am Beispiel der Aneignung einer Fremdsprache zu veranschaulichen. Nach der humboldtschen Textstelle, die von Gadamer kurz zitiert wird, kann zwar die neue Ansicht, die wir durch das Erlernen einer Fremdsprache gewinnen, den Horizont der eigenen erweitern und bereichern, jedoch lässt sie sich nie restlos aneignen, denn es bleibt immer ein gewisser Abstand bestehen.237 Nimmt man
236 H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 445. 237 Gadamer zitiert aus der folgenden Stelle den letzten Satz: »Da aller objectiven Wahrnehmung unvermeidlich Subjectivität beigemischt ist, so kann man, schon unabhängig von der Sprache, jede menschliche Individualität als einen eignen Standpunkt der Weltansicht betrachten. Sie wird aber noch viel mehr dazu durch die Sprache, da das Wort sich der Seele gegenüber auch wieder, wie wir weiter unten sehen werden, mit einem Zusatz von Selbstbedeutung zum Object macht und eine neue Eigenthümlichkeit hinzubringt. In dieser, als der eines Sprachlauts, herrscht nothwendig in derselben Sprache eine durchgehende Analogie; und da auch auf die Sprache in derselben Nation eine gleichartige Subjectivität einwirkt, so liegt in jeder Sprache eine eigenthümliche Weltansicht. Wie der einzelne Laut zwischen den Gegenstand und den Menschen, so tritt die ganze Sprache zwischen ihn und die innerlich und äusserlich auf ihn einwirkende Natur. Er umgiebt sich mit einer Welt von Lauten, um die Welt von Gegenständen in sich aufzunehmen und zu bearbeiten. Diese Ausdrücke überschreiten auf keine Weise das Mass der einfachen Wahrheit. Der Mensch lebt mit den Gegenständen hauptsächlich, ja, da Empfinden und Handeln in ihm von seinen Vorstellungen abhängen, sogar ausschliesslich so, wie die Sprache sie ihm zuführt. Durch denselben Act, vermöge dessen er die Sprache aus sich herausspinnt, spinnt er sich in dieselbe ein, und jede zieht um das Volk, welchem sie angehört, einen Kreis, aus dem es nur insofern hinauszugehen möglich ist, als man zugleich in den Kreis einer andren hinübertritt. Die Erlernung einer fremden Sprache sollte daher die Gewinnung eines neuen Standpunkts in der bisherigen Weltansicht sein und ist es in der That bis auf einen gewissen Grad, da jede Sprache das ganze Gewebe der Begriffe und die Vorstellungsweise eines Theils der Menschheit enthält. Nur weil man in eine fremde Sprache immer, mehr oder weniger, seine eigne Welt-, ja seine eigne Sprach-
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die Textstelle genauer unter die Lupe, kann auch ersichtlich werden, dass dieser nicht zu reduzierende Abstand in Wirklichkeit nichts anderes ist als der Unterschied zwischen Subjekt und Objekt sowie der sprachlichen Konstitution des Ich und des Anderen, der sich aus der Asymmetrie zwischen dem Singular des Ich und dem Plural der Anderen und letztlich aus der Unvereinbarkeit der individuellen und der nationalen Sprache ergibt. Während die Sprache aus der eigenen Perspektive als ein innerer Sinn an das Sehen gebunden ist, ist, jedenfalls in diesem Zitat, die fremde Sprache keine Sprache eines Anderen, sondern die Sprache »eine[r] gleichartige[n] Subjectivität«, in der »eine durchgehende Analogie [herrscht]«.238 Vom eigenen Standpunkt aus betrachtet trägt eine Fremdsprache nicht den jeweiligen Standpunkt eines anderen Subjekts in sich; ihre Ansicht ist kein lebendiger Blick, sondern bloß ein Anblick, der in der Tat niemand zu Wort kommen lässt: Er vermittelt nur das Bild einer allgemeinen Weltansicht. Dieses Bild bringt zwar einen neuen Aspekt in die eigene Weltansicht, jedoch bleibt der Blick des Anderen ein Anblick, den der lebendige Blick des Ich als etwas Sichtbares wahrnimmt. Der einseitige Blick des Ich verwandelt den Standpunkt des Anderen in einen Gegenstand, er nimmt Abstand von ihm und nimmt ihm dadurch die Möglichkeit des Zurückwirkens. Das ist der Grund, warum dieser Anblick nie restlos ein Teil der eigenen Ansicht wird: »Nur weil man in eine fremde Sprache immer, mehr oder weniger, seine eigne Welt-, ja seine eigne Sprachansicht hinüberträgt, so wird dieser Erfolg nicht rein und vollständig empfunden.«239 Im Zitat ist das eigene Sehen der Sichtbarkeit des Anderen entgegengesetzt: Es setzt zwischen dem Sehen und dem Gesehen-Werden bzw. dem Ich und dem Anderen einen formalen Unterschied voraus, durch den die Welt des Anderen als ein stummer und lebloser Gegenstand erscheint. Dabei kann es auch von Bedeutung sein, dass diese Asymmetrie erst durch einen zirkulären Prozess entsteht und als dessen Ergebnis fixiert wird. Humboldt beschreibt nämlich die Sprache zunächst als einen Kreis oder eine Dimension, die die subjektiv-individuelle Sichtweise als eine zwischen Mensch und Gegenstand tretende, allgemeine, nationale Weltansicht erst nachträglich und gleichsam von außen modifiziert. Diese Dimension der Sprache wird erst dann zum inneren Gesichtspunkt, wenn man »in den Kreis einer andren hinübertritt«.240 Das Austreten aus dem Kreis der eigenen Sprache bedeutet nicht das Verlassen dieser
ansicht hinüberträgt, so wird dieser Erfolg nicht rein und vollständig empfunden.« W.v. Humboldt: Ueber die Verschiedenheit, S. 434. 238 Ebd. 239 Ebd. 240 Ebd.
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Welt, sondern zieht ihre restlose Aneignung bzw. Verinnerlichung nach sich. Durch das Eintreten in den Kreis einer anderen Sprache bzw. das Kreuzen der Grenze wird nicht nur der bisher äußere Kreis verinnerlicht (nun sieht man die andere Welt mit den Augen der eigenen Sprache), sondern entsteht auch die Möglichkeit der Unterscheidung zwischen Fremdem und Eigenem, Äußerem und Innerem: Nun kann man im Vergleich zum Fremden das Eigene als Eigenes erkennen und das Fremde durch das Eigene beurteilen. Die eigentliche Bedeutung dieser latenten Entgegensetzung der inneren Welt mit der äußeren Umwelt bei Humboldt wird erst aus Gadamers Horizont ersichtlich: Gadamer setzt nämlich zwischen der Welt des Menschen und der der Tiere eine strukturell ähnliche Unterscheidung voraus. Aber bevor wir zu dieser Analogie kommen, müssen wir noch klarstellen, wie Gadamer »die Problemlage«, die er bei Humboldt erkennt, »verschiebt oder besser zurechtrückt«.241 Gadamer modifiziert also diese Idee des Subjekts, die vom Zentrum des sich selbst wissenden Geistes ausgeht, durch das Neuverstehen der Sprache als eines dem Ich gegenübergestellten Anderen, wodurch auch das Ich in ein neues Licht gerückt wird. Da das Selbstverständnis des Ich jeweils vom Verstehen der Sprache des Anderen abhängt, ist es die Interpretation dieser Sprache, die die hermeneutische Situation grundsätzlich prägt. Wir erinnern uns: Die Materialität und Wahrnehmbarkeit der Stimme des Anderen hat sich bereits bei Humboldt als widersprüchlich gezeigt. Aber während Humboldt diesen Widerspruch nicht sieht oder nicht reflektiert, erkennt Gadamer gerade in ihm das wahre Problem, das uns also mit der Frage der Interpretierbarkeit dieser ungreifbaren Sprache bzw. der Sprache als ungreifbare Interpretation oder Weltverstehen konfrontiert. Gadamers Frage lautet also: Wie kann man die Sprache als solche bzw. ihre Leistung interpretieren, ohne sie durch eine formale Unterscheidung (etwa von Form und Inhalt) zu abstrahieren und dadurch zu entstellen? Allerdings stellt für ihn dieses Problem auch keinen Widerspruch dar: Gadamer geht es beim Aufzeigen der geschichtlichen Wandlungen des Sprachbegriffes nicht darum, diesen Widerspruch aufzuzeigen und zu verschärfen, sondern vielmehr einen Traditionsstrang aufzuspüren, der der wahren Seinsweise der Sprache als einem nichtthematischen »Vorgang der Verständigung«242 gerecht werden kann. Die philosophische Tradition hilft ihm vor allem dabei, Anhaltspunkte zur Interpretation der Sprache (der Sprache als Interpretation) jenseits der oder noch vor ihren metaphysischen und kartesianischen Entstellungen zu finden. Das Sprachdenken
241 H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 445. 242 Ebd., S. 389.
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von Humboldt ordnet sich, wie schon erwähnt, durch die Definition der Sprache als Weltansicht in diese Tradition ein. Humboldts Sprachbegriff erhält also für Gadamer seine Bedeutung nicht von seiner gängigen Interpretation her: Sprachen werden auch als Weltansichten nicht zum Gegenstand der Betrachtung; sie lassen sich nicht abbilden und als verschiedene Ansichten miteinander vergleichen. Auch wenn dieser Interpretation einige Textstellen nicht widersprechen, geht es Humboldt nicht darum, die Sprachen ihrem Weltbild nach zu unterscheiden. Auch Gadamer versucht, die gegensätzlichen Implikationen dieser Definition herauszustellen: Die Ansicht kann als Sehen nicht thematisch werden. Oder wie Gadamer formuliert: Wichtiger aber ist, was dieser Aussage zugrunde liegt: daß die Sprache ihrerseits gegenüber der Welt, die in ihr zur Sprache kommt, kein selbstständiges Dasein behauptet. Nicht nur ist die Welt nur Welt, sofern sie zur Sprache kommt – die Sprache hat ihr eigentliches Dasein nur darin, daß sich in ihr die Welt darstellt.243
Aber von der Behauptung, dass die Sprache kein selbstständiges Dasein hat, darf man nicht auf ihre fehlende Autonomie schließen. Die Anerkennung dieses ihres Daseins ist paradoxerweise gerade das, wodurch erst ihre Autonomie zur Geltung kommen kann. Denn es wäre gerade ihre Abstraktion und ihr Fixieren in einer Form, die die autonome, d.h. unkalkulierbare und offene sprachliche Welterfahrung in Schranken halten würde. Wie man die Erfahrung nicht in Worte kleiden oder in Begriffe fassen kann, kann man die Sprache – als Medium der Erfahrung – nicht thematisieren oder bewusst machen, ohne sie gleichzeitig zu entstellen. »[D]ie eigentliche Seinsweise des Sprechens« ist die »Sprachunbewußtheit«,244 sagt Gadamer; es ist eine Art von Nicht-Bewusstheit, in der sich das Verstehen vollzieht. [E]ine fremde Sprache erlernt haben und verstehen – dieser Formalismus des Könnens –, heißt nichts als: in der Lage sein, das in ihr Gesagte sich gesagt sein zu lassen. Die Ausübung dieses Verstehens ist immer schon Inanspruchnahme durch das Gesagte, und eine solche kann es nicht geben, ohne daß man ›seine eigene Welt-, ja seine eigene Sprachansicht‹ mit einsetzt.245
243 Ebd., S. 447. 244 Ebd., S. 409. 245 Ebd., S. 446.
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Das Verstehen des Anderen, das in irgendeiner Weise immer schon vollzogen ist, fängt nicht erst mit der Wahrnehmung seiner Fremdheit an. Wie man diese Fremdheit wahrnimmt, hängt vielmehr vom ursprünglich dialogischen Verhältnis zum Anderen ab, das der reflektierten Wahrnehmung immer schon vorangeht. All dies könnte man allerdings, wie die vorliegende Arbeit gezeigt hat, bereits bei Humboldt, etwa in der Analyse der Pronomina bestätigt finden: Das innere, sprachliche, dialogische Verhältnis zwischen Ich und Du hält auch Humboldt für ursprünglicher als jene repräsentativen und in der Rede erscheinenden Elemente, die erst durch diese Gegenüberstellung entstehen. Die Begriffe der Pronomina sind selbstbezeichnend und nicht repräsentativ, sie gehen den phänomenalen Sprachelementen voraus. Die Fremdheit des Du basiert nicht auf den wahrnehmbaren Eigenschaften einer Form oder Gestalt; die Andersheit, die das Ich unmittelbar anspricht oder berührt, lässt sich nicht identifizieren, hat kein phänomenales Zeichen: »jene concreten Verhältnisse werden nur der Leichtigkeit und Sinnlichkeit wegen dem schwierigen abgezogenen Begriff untergeschoben.«246 Von der Priorität des individuellen Eindrucks gegenüber der bloßen Wahrnehmung kann unter anderem auch die evidente Erfahrung zeugen, dass man den Anderen nie mit den Augen eines objektiven Beobachters sieht; diese »objektive« Wahrnehmung artikuliert sich immer schon in jenem primären Verhältnis, das als Erfahrung oder Eindruck auch die möglichen Aussagen über den Anderen prägt. Unter einem bestimmten (im nicht-gadamerschen Sinne ästhetischen) Gesichtspunkt lässt sich zwar auch dieses Beispiel umkehren und gegen sich wenden, jedoch kann es gut zeigen, inwieweit eine Sprachauffassung, die für ein objektives Urteil vom in der Sprache Gesagten absieht und somit nicht am dialogischen Verhältnis teilnimmt, in Wahrheit eine Abstraktion vollzieht. 4.3.2 Die unbeherrschbare Macht der Tradition und der unwillentliche Wille des Verstehens – das Ausgleichen des Verhältnisses zwischen dem Ich und dem Anderen Da also eine Nationalsprache als allgemeine Ansicht jeder vertreten kann, der zu ihrem Kreis gehört, stellt diese Art von Repräsentation ein Sprechen dar, das in der Tat niemanden anspricht, das dem Einzelnen nichts zu sagen hat. Die Andersheit des Anderen verliert sich bei Humboldt genau in dem Moment, in dem die Fremdheit der Sprache als eine Fremdsprache bewusst wird. Dies erklärt wohl auch, warum Gadamer im letzten Teil von Wahrheit und Methode, in dem er die Sprache als ein universales Medium der hermeneutischen Erfahrung auf-
246 W.v. Humboldt: Ueber die Verschiedenheiten, S. 204.
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zeigt, eine entgegengesetzte Richtung einschlägt: Gerade weil es im Fall der Übersetzung durchaus naheliegend scheint, bei der Interpretation dieses Prozesses von der Verschiedenheit der Sprachen auszugehen, stellt Gadamer seine These an diesem Beispiel auf die Probe und zeigt, inwiefern auch in dieser Vermittlungsarbeit die ursprüngliche Kontinuität des Verständigungsprozesses zur Geltung kommt und keine formale Getrenntheit vorliegt: »Es sind die gestörten und erschwerten Situationen der Verständigung, in denen die Bedingungen am ehesten bewußt werden, unter denen eine jede Verständigung steht.«247 Dieses Beispiel soll also auf negative Weise, durch eine abstrakte Unterscheidung zeigen, was im Zwischenbereich der Vermittlung als Verständigung in Wirklichkeit passiert: Der Übersetzer reflektiert, wenn er den Text verstehen will, weder die Fremdheit der Sprache noch die des Anderen oder sich selbst, sondern richtet sich – während er von seinem von sich selbst wissenden Selbst absieht – vor allem auf das, was durch die Sprache gesagt wird. Er hat den Text, ob falsch oder richtig, in irgendeiner Weise ja schon verstanden, noch bevor er irgendwelche Unterscheidungen (zwischen sich selbst und dem Text oder der Form und dem Inhalt des Textes) hätte vollziehen können. Er ist schon mit dem zu Verstehenden verbunden, oder besser: Es ist der Vorgang der Verständigung, in dem sich alle möglichen Differenzierungen auflösen. Ein paralleles Beispiel in den vorigen Kapiteln war die »Lesbarkeit« des Bildes, die in der Kritik der ästhetischen Unterscheidung im Grunde genommen dieselbe Rolle gespielt hat. Geht man von der sichtbaren Oberfläche des Bildes, der Materialität des Zeichens oder des Gegenstandes aus, muss man auch eine Getrenntheit von Subjekt und Objekt voraussetzen, die im Nachhinein durch eine Art von Verständnismethode zu überbrücken ist. Die nicht-reflexive Bildung und die spekulative Struktur des Wortes, die die Sprachlichkeit der Erfahrung beschreiben, weisen hingegen darauf hin, dass in der Erfahrung des Kunstwerks oder der Fremdsprache keine solche Unterscheidungen vollzogen werden. Was als solche nachträglich bewusst wird, hat man bereits eingesetzt, ins Spiel gebracht oder in den Horizont bzw. den Vorgang des Verstehens mit eingebracht. Somit ist die Sprache »das universale Medium, in dem sich das Verstehen selber vollzieht«,248 das als solches aber nicht bewusst wird. Um wieder ein früheres Beispiel Gadamers aufzugreifen: Die Vollzugsform der sprachlichen Erfahrung ist mit der des Spiels zu vergleichen: Denn auch »[d]ie Seinsweise des Spiels läßt nicht zu, daß sich der Spielende zu dem Spiel wie zu einem Gegenstand verhält. Der Spielende weiß wohl, was Spiel ist, und daß, was er tut, ›nur
247 H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 387. 248 Ebd., S. 392.
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ein Spiel ist‹, aber er weiß nicht, was er da ›weiß‹.«249 Die selbstreflexive, sich selbst gegenwärtige und autonome Idee des Bewusstseins (dessen metaphysisches Prinzip nach Gadamer auch die humboldtsche Sprachkraft, »die ihrer selbst inne ist«,250 prägt), unterscheidet hingegen von sich selbst eine an sich bestehende Welt. Somit »gewinnt der Begriff des ›Ansichseins‹, der das Wesen von ›Erkenntnis‹ ausmacht, den Charakter einer Willensbestimmung. Was an sich ist, ist unabhängig von dem eigenen Wollen und Wählen. Doch indem erkannt ist, wie es an sich ist, ist es eben dadurch in der Weise verfügbar gemacht, daß man mit ihm rechnen, d.h. aber es seinen eigenen Zwecken einordnen kann.«251 Demnach hat dieses Bewusstsein, das sich sich selbst immer noch in einem kartesianischen Rahmen bewusst macht, ein widersprüchliches Verhältnis zur Welt. Denn es will die Welt durch ihre objektive Betrachtung gerade nicht unabhängig, sondern vielmehr berechenbar machen und beherrschen, indem es sich der offenen Möglichkeit der Rückwirkung verschließt. Dasselbe gilt auch für die modernen Wissenschaften: »Als Wissenschaft hat die eine wie die andere ihren Gegenstandsbereich vorentworfen, dessen Erkenntnis seine Beherrschung bedeutet.«252 Dieses einseitige Weltverhältnis des autonom-unabhängigen Geistes kehrt Gadamer durch die Anerkennung der Kraft und Autonomie der sprachlich überlieferten Tradition um. Von ihr her bestimmt sich der Begriff der Zugehörigkeit nicht mehr als die teleologische Bezogenheit des Geistes auf das Wesensgefüge des Seienden, wie sie in der Metaphysik gedacht ist. Daß die hermeneutische Erfahrung die Vollzugsweise der Sprache hat, daß zwischen der Überlieferung und ihrem Interpreten ein Gespräch statthat, stellt vielmehr eine ganz andere Grundlage dar. Entscheiden ist, daß hier etwas geschieht. […] [D]as Bewusstsein des Interpreten [ist nicht] dessen Herr, was als Wort der Überlieferung ihn erreicht«.253 Dieses Geschehen des Verstehens, das sich in der Sprache vollzieht und dem das Bewusstsein des Interpreten ausgesetzt ist, ist »nicht unser Tun an der Sache, sondern das Tun der Sache selbst.254
249 Ebd., S. 108. 250 Ebd., S. 444. 251 Ebd., S. 454. 252 Ebd., S. 456. 253 Ebd., S. 465. 254 Ebd., S. 467.
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Es ist ein nicht kontrollierbares oder beherrschbares Geschehen, das das Subjekt ohne Absicht und Willen beherrscht. Für den Interpreten bedeutet dies ein Ausgesetztsein oder ein »Erleiden«,255 das seinerseits zwar unwillentlich ist, jedoch aus dem eigenen Willen und der eigenen Kraft des Interpreten passiert. »Auch die hermeneutische Erfahrung nämlich hat ihre Konsequenz: die des unbeirrbaren Hörens. Auch ihr stellt sich die Sache nicht ohne ihre eigene Anstrengung dar, und auch diese Anstrengung besteht darin, ›negativ gegen sich selbst zu sein‹.«256 Die Erfahrung der Sache ergibt sich in der Dimension der Sprache nicht von allein, unbemerkbar oder unbewusst, »[d]ie Seinsart der Überlieferung ist freilich keine sinnlich unmittelbare.«257 Die Herrschaft der Tradition lässt sich nur dadurch zur Geltung bringen, dass man sich ihr aussetzt, sich auf sie verlässt, »negativ zu sich selbst« ist, diesem aber geht die Anstrengung des Hörens voraus. Damit das Wort der Tradition vom Interpreten erfahren und eine Erfahrung überhaupt möglich wird, soll er sich bereits im Zustand »einer radikalen Negativität, dem Wissens des Nichtwissens«258 befinden. Eine bewusste Unbewusstheit ist die Bedingung dafür, dass das eigentliche Geschehen möglich wird, »nämlich dass das Wort, das als Überlieferung auf uns gekommen ist und auf das wir zu hören haben, uns wirklich trifft, als rede es uns an und meine uns selbst.«259 Der Wille des Verstehens unterscheidet sich vom Herrschaftswillen des reflexiven Bewusstseins also darin, dass der gute Wille zum Verstehen nichts anderes ist als ein Wille zum Aufgeben des Herrschaftswillens, ein Auf-sichselbst-Verlassen bezüglich des Gesagten, das Verstehen-Wollen des Gesagten. Die »machtvolle Evidenz dieses Axioms«,260 die Effektivität des Prinzips des guten Willens, steht zwar außer Zweifel, jedoch lässt sie sich unter einem bestimmten – zum Beispiel psychoanalytischen – Gesichtspunkt infrage stellen, wie dies Derrida in seiner eben zitierten kürzeren Schrift getan hat, ohne die Frage endgültig entscheiden zu wollen. Ein solcher Verdacht könnte, wie oben aufgezeigt, auch bei Humboldt aufkommen. Denn bekanntlich besteht die Rolle des Psychoanalytikers im Laufe des Gesprächs »nur« darin, das Gehörte als Gegeninstanz, Zeuge oder »Prüfstein« mit verschiedenen Akzenten zu wiederholen. Auf das Verhältnis zwischen Ich und Du bei Humboldt bezogen heißt das: Der Andere bricht und reißt die mechanisch fixierte Struktur der Vorstellungen
255 Ebd., S. 469. 256 Ebd. 257 Ebd., S. 467. 258 Ebd., S. 368. 259 Ebd., S. 465-466. 260 J. Derrida: Guter Wille zur Macht, S. 51.
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auf, ordnet sie um, verbindet sie neu, er nimmt und verleiht ihnen zugleich einen Sinn. Das Ziel dieses in der Tat gewaltigen Aktes ist die widerstandslose Inaugurierung bzw. unmerkliche Legitimierung des neuen Sinnes, d.h. eine Überzeugung, die sich nicht als solche enthüllt. Die Möglichkeit des Erfolgs besteht hier ebenso darin, dass der Eindruck der Wiederholung ihre Kehrseite – die performativ-autoritären Aspekte desselben Prozesses – verdeckt. Wenn man es genau überlegt, steht diese Art von Gespräch dem hermeneutischen Dialog, der die befestigten Vorurteile aufzulockern oder zu dialektisieren versucht (und der den Willen zur Bedingung hat, dem Anderen ausgesetzt zu sein), gar nicht mehr so fern. Denn unabhängig davon, worin psychoanalytische und hermeneutische Gesprächsmodelle die Möglichkeit der Wandlung oder Veränderung (eine Art von Heilung) sehen, ist ihre Voraussetzung, da gewissermaßen beide von praktischen Zielen geleitet werden, im Grunde genommen die Gleiche: Das Selbstverständnis des Daseins, das in der mechanischen Wiederholung seiner Ideen und Vorstellungen sein »eigentliches« Verhältnis zur Welt aus den Augen verliert, es sich selbst verliert und verkennt, lässt sich durch die sanfte Gewalt des dialektisierten Gesprächs heilen; das gestörte Gleichgewicht von gegensätzlichen, in Wirklichkeit miteinander unversöhnbaren Aspekten und Tendenzen lässt sich durch das Verstehen, durch die Wiederaneignung unseres Selbsts wiederherstellen, Spannungen und Konflikte zwischen diesen Aspekten lassen sich durch ein sprachliches Ereignis oder eine eigentliche Sprache ausgleichen. Obwohl die augenblickliche Entkoppelung bzw. die Zerstörung der befestigten Strukturen (die in beiden Fällen die Bedingung der Veränderung ist) mit dem Verlieren des Bewusstseins droht, soll nach diesem «Ausnahmezustand« – nach der abgründigen Verwechslung von eigenen und fremden Stimmen und Meinungen – die Ordnung des Sinnes wiederhergestellt werden. Wenn auch auf veränderte Weise, sollen wir aber letztlich dorthin zurückkehren, wo wir uns schon aufhalten; wir sollen ins – nach diesen Wandlungen immer noch erkennbare und unverwechselbare – Eigene als eine wiederholte Vergangenheit gelangen, uns unser Selbst – wenn auch zum ersten Mal – wiederaneignen. Ob man von der Ursprünglichkeit der Spannung oder der der Kontinuität ausgeht, soll das eigentliche Verstehen in beiden Fällen möglich sein. Aber in welchen Fällen kann das Gleichgewicht, das Gadamer durch die unmerkliche Kontamination von unversöhnbaren Gegensätzen – zwischen dem erleidend-verstehenden Ich und der sanft-herrschenden Tradition (wieder)herstellt, doch ins Wanken geraten? Worauf basiert und was garantiert die Gleichwertigkeit und jene die Andersheit des Anderen anerkennende Freiheit der einander gegenübergestellten Seiten?
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4.3.3 Gegensatz/Differenz zwischen der Welt des Tieres und der des Menschen Bei Gadamer ist es in erster Linie das Verhältnis des Menschen und des Tiers zur Welt sowie die Unterschiede ihrer Weltverhältnisse, die diese Fragen beantworten können. Die »Metaphysik des Willens«261 kommt in Wahrheit und Methode am stärksten wohl in der Entgegensetzung des Menschen mit dem Tier zur Geltung. Hier entsteht nämlich der Eindruck, dass es dieser Gegensatz bzw. die Andersheit des Tieres ist, die dem Menschen zum ersten Mal seine Freiheit und seinen Willen bzw. seine Fähigkeit zur Sprache, die nach diesem Konzept gleichermaßen ursprünglich sind, zurückgibt. Während man also gegenüber der Tradition seinen eigenen Willen verliert (»wer angeredet wird, [muss] hören, ob er will oder nicht. Er kann nicht in der gleichen Weise weghören, wie man im Sehen dadurch von Anderem wegsieht, daß man in eine bestimmte Richtung blickt«262), und ist dazu gezwungen, seine Freiheit aufzugeben (»[d]ie hermeneutische Erfahrung muß sich als echte Erfahrung alles, was ihr gegenwärtig wird, zumuten. Sie hat nicht die Freiheit, vorgängig auszuwählen und zu verwerfen«263), zeichnet sich der Mensch gegenüber dem Tier nach Gadamer doch gerade dadurch aus, dass »[m]it der Umweltfreiheit des Menschen seine freie Sprachfähigkeit überhaupt gegeben [ist]«.264 Und das ist genau der Punkt, an dem Gadamer Humboldt am nächsten steht: Während er die humboldtsche Definition der Sprache als Weltansicht konsequent uminterpretiert, baut er die Idee der natürlichen Gegebenheit der Sprachfähigkeit unbemerkbar und ohne jeden Vorbehalt in seine eigene Sprachauffassung ein. Aus hermeneutischer Perspektive überrascht dies wiederum nicht, denn die Annahme der ursprünglichen Gegebenheit sowie der Universalität der Sprache kann gerade die Fragen nach dem Ursprung der Sprache als künstlich und sinnlos enthüllen und somit jene verfehlten Erklärungen entkräften, die die Sprache als ein für den Zweck der Kommunikation erfundenes Zeichensystem instrumentalisieren.265
261 Ebd., S. 52. 262 H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 466. 263 Ebd., S. 467. 264 Ebd., S. 448. 265 »Vom Begriff der Kraft aus, der sein ganzes Denken über die Sprache leitet, hat er insbesondere auch die Frage nach dem Ursprung der Sprache zurechtgestellt, die durch theologische Rücksichten besonders belastet war. Er hat gezeigt, wie schief diese Frage ist, sofern sie die Konstruktion einer sprachlosen Menschenwelt einschließt, deren Erhebung zur Sprachlichkeit irgendwann und irgendwo vor sich
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Aus der Analyse der Pronomina wurde ersichtlich, dass die Frage nach dem Ursprung der Sprache nicht unbedingt zur Instrumentalisierung der vom Menschen getrennten Sprache führen soll; das Moment des Ursprungs fügt sich nicht gleich an eine genetische Erzählung, sondern lässt sich auch als ein Ereignis der Begriffsbildung denken, das sich jedes Mal singulär und originär wiederholt. Ist die Sprache – jedenfalls unter dem Gesichtspunkt Gadamers – immer schon menschlich, dann ist uns die Welt schon immer in sprachlicher Form, d.h. als eine sprachliche Welt gegeben: »Die ursprüngliche Menschlichkeit der Sprache bedeutet also zugleich die ursprüngliche Sprachlichkeit des menschlichen Inder-Welt-Seins.«266 Demnach ist die Welt keine objektive, an sich bestehende Welt, zu deren Erkenntnis – etwa durch die Sprache als ein Zeichensystem – erst eine Brücke geschlagen werden sollte, sondern ist schon durch eine sprachliche Erfahrung, Sprachansicht gegeben, die der Mensch als einen Gesichtspunkt immer schon in sich trägt: Die Sprache ist nicht nur eine der Ausstattungen, die dem Menschen, der in der Welt ist, zukommt, sondern auf ihr beruht, und in ihr stellt sich dar, daß die Menschen überhaupt Welt haben. Für den Menschen ist die Welt als Welt da, wie sie für kein Lebendiges sonst Dasein hat, das auf der Welt ist. Dies Dasein der Welt aber ist sprachlich verfaßt.267
Welt und Sprache sind für Gadamer – und Gleiches gilt wohl auch für Heidegger – keine Gegebenheiten, zu denen der Mensch erst einen Zugang finden oder die man sich aneignen sollte. Die Welt zeigt und erschließt sich in und durch Sprache, in einem nicht-thematischen Vollzug des Verstehens, welcher den Menschen die Zwischensphäre zur Welt öffnet und ihm zugleich eine gewisse Freiheit gegenüber ihr verleiht. Da Tiere keine Sprache haben, sind sie gegenüber ihrer Welt weder offen noch frei, d.h. sie haben kein Verhältnis zu ihrer Welt, sie können sich zu ihr nicht frei verhalten: In einem umfassenden Sinne läßt sich dieser Begriff von Umwelt jedoch auf alles Lebendige anwenden, um die Bedingungen zusammenzufassen, von denen sein Dasein abhängt. Eben damit wird aber klar, daß der Mensch zum Unterschied von allen anderen Lebewesen »Welt« hat, sofern diese nicht im gleichen Sinne ein Verhältnis zur Welt haben, sondern in ihre Umwelt gleichsam eingelassen sind. […] Es gilt nunmehr geradezu, daß
gegangen sei. Einer solchen Konstruktion gegenüber betont Humboldt mit Recht, daß die Sprache von ihrem Anbeginn an menschlich ist.« Ebd., S. 446. 266 Ebd., S. 447. 267 Ebd., S. 446-447.
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im Gegensatz zu allem anderen Lebendigen das Weltverhältnis des Menschen durch Umweltfreiheit charakterisiert ist. Solche Umweltfreiheit schließt die sprachliche Verfaßtheit der Welt ein. Beides gehört zueinander. Sich über den Andrang des von der Welt her Begegnenden erheben, heißt: Sprache haben und Welt haben. […] Tiere können ihre Umwelt verlassen und die ganze Erde durchwandern, ohne daß sie damit ihre Umweltgebundenheit sprengen. Erhebung über die Umwelt dagegen ist für den Menschen Erhebung zur Welt und bedeutet nicht ein Verlassen der Umwelt, sondern eine andere Stellung zu ihr, ein freies, distanziertes Verhalten, dessen Vollzug jeweils ein sprachlicher ist.268
Tiere können jederzeit ihre Umwelt verlassen, ohne ihre »Umweltgebundenheit« zu sprengen, weshalb sie an jede ihrer Umwelten gebunden sind. Sie leben in einer permanenten Gebundenheit, die sich aber doch auflösen lässt; sie ist aufgrund der Möglichkeit des Ortswechsels keine unlösbare Bindung. Aber diese Geschiedenheit von der Umwelt ist an sich noch keine Freiheit; ihre radikale räumliche Unabhängigkeit bedeutet zugleich ein Höchstmaß an Abhängigkeit. Das ist der Grund, warum Tiere keine eigene, oder genauer: als Eigenes gekannte oder erkannte Welt haben, an die sie sich erinnern und mit der sie etwas Fremdes vergleichen könnten;269 sie haben kein eigenes Weltverhältnis, das sie
268 Ebd., S. 447-448. 269 »Wir halten also fest, daß die Sprachgebundenheit unserer Welterfahrung keine ausschließende Perspektivität bedeutet; wenn wir durch das Eintreten im fremde Sprachwelten die Vorurteile und Schranken unserer bisherigen Welterfahrung überwinden, heißt das keineswegs, daß wir unsere eigene Welt verlassen und negieren. Als Reisende kehren wir mit neuen Erfahrungen heim. Als Auswanderer, die nie heimkommen, können wir doch nicht ganz vergessen.« Ebd., S. 452. Vgl. damit die folgende humboldtsche Textstelle: »Gerade aber die Vertheilung in Nationen beweist die gar nicht äusserliche, sondern ganz innerliche Natur der Sprache, indem sie die Gewalt der Abstammung auf sie zeigt. […] Der innige Zusammenhang der Sprache mit der physischen Abstammung, und dadurch ihr Ursprung aus der Tiefe des Wesens und die durch die Abstammung bedingte Einheit der menschlichen Natur gehen auch aus den gewöhnlichen Thatsachen hervor, dass die vaterländische Sprache für die Gebildeten und Ungebildeten eine viel grössere Stärke und Innigkeit besitzt, als eine fremde, dass sie das Ohr, nach langer Entbehrung, mit einer Art plötzlichen Zaubers begrüsst und in der Ferne mit Sehnsucht berührt, dass dies gar nicht auf dem Geistigen in derselben, dem ausgedruckten Gedanken oder Gefühle, sondern gerade auf dem Unerklärlichen, dem Individuellsten, auf ihrem Laute beruht, dass es ist, als wenn man mit dem heimischen einen Theil seines Selbst vernähme.« W.v. Humboldt: Ueber die Verschiedenheiten, S. 222-223.
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bewahren, in sich tragen und aufgrund dessen sie in fremde Welten eintreten könnten, die sie als fremde und als solche erkennen könnten. Für die Tiere gibt es folglich nicht die Fremdheit einer anderen Welt; für sie erscheint das Andere nicht als Andere, das Fremde nicht als Fremde, weshalb solche Begegnungen für sie keine Quelle neuer Erfahrungen sein können. Für sie gibt es zwischen Umwelt und Umwelt keinen Unterschied; sie ändern ihr »Weltverhältnis«,270 indem sie ihre Umwelt verlassen, ohne durch diese Veränderung Erfahrungen zu sammeln. Das Haben und Besitzen von Welt und Sprache setzt also letztlich die Fähigkeit der Unterscheidung von Eigenem und Fremdem voraus. Wäre die Fremdheit der fremden Welt nicht als solche zu erkennen (auch wenn diese Fremdheit nur im Hören-Wollen zur Geltung kommt und nicht »mit bloßen Augen« zu erkennen ist), könnte dem Ich das Fremde oder Andere nicht die Erfahrung des Wiedererkennens und Neuverstehens des Eigenen geben sowie zu seiner Erweiterung und Bereicherung beitragen. Demnach besteht die Sprachfähigkeit des Menschen nicht nur in der Fähigkeit des Vergleichens und der Unterscheidung (diese Operationen setzt nämlich der Vorgang, den Gadamer hier beschreibt, voraus), sondern vielmehr darin, diese als solche zu erkennen, was Tiere aufgrund ihrer Unfähigkeit zum Erkennen des Eigenen nicht können. Es ist diese zweifache sprachliche Operation, die »ein freies, distanziertes Verhalten«,271 d.h. jenes Wechselverhältnis zur Welt ermöglicht, in dem wir »in einer unmerklichen und unwillkürlichen Wechselübertragung der Gesichtspunkte (wir nennen das Austausch der Meinungen) zu einer gemeinsamen Sprache und einem gemeinsamen Spruch gelangen«.272 Auch Tiere »haben« – wie Gadamer an einer Stelle bemerkt –, ihr eigenes »Weltverhältnis«,273 das sich aber im Gegensatz zu dem des Menschen unbemerkbar verändert. Gadamer streitet also nicht ab, dass auch Tiere ein gewisses Verhältnis zu ihrer Umwelt »haben«, dass sie sich – ähnlich wie Menschen274 –
270 »Sprache haben bedeutet eben eine Seinsweise, die ganz anders ist als die Umweltgebundenheit der Tiere. Indem die Menschen fremde Sprachen erlernen, ändern sie nicht ihr Weltverhältnis, wie etwa ein Wassertier, das zum Landtier wird, sondern indem sie ihr eigenes Weltverhältnis festhalten, erweitern und bereichern sie es durch die fremde Sprachwelt. Wer Sprache hat, ›hat‹ die Welt.« H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 457. 271 Ebd., S. 448. 272 Ebd., S. 390. 273 Ebd., S. 457. 274 »Insoweit ist die menschliche Verständigung im Gespräch von der Verständigung, die die Tiere miteinander pflegen, nicht unterschieden.« Ebd., S. 450.
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untereinander verständigen können und somit eine Art von Sprache und (wenn auch nur Bewegungs-)Freiheit »haben«. Jedoch haben sie sie nicht im eigentlichen Sinne; sie haben die Welt und die Sprache nicht als solche, weil sie dessen nicht bewusst sind. Sie können sich selbst nicht von der Welt unterscheiden und sich mit ihr vergleichen; sie haben und verfügen nicht über das Verhältnis, das somit eine einseitige Beziehung, ein Abhängigkeitsverhältnis, ein Ausgeliefertsein bleibt. Die Andersheit des tierischen Weltverhältnisses besteht in nichts Anderem als dieser Einseitigkeit der Beziehung: Sie wissen nicht von ihrer Umwelt, erkennen nicht ihre Andersheit oder Veränderung und sind ihr deshalb ausgesetzt. Und genau an diesem Punkt kann die Analogie mit der Charakterisierung des kartesianischen Bewusstseins sichtbar werden, die die Grenze zwischen den verschiedenen Weltverhältnissen sowie Bewusstseinsarten – nicht aufheben, sondern vielmehr – vervielfältigen bzw. teilen kann. Denn sowohl das Weltverhältnis der sich selbst gegenwärtigen und selbstreflexiven Konstitution des Bewusstseins als auch das der Tiere zeichnen sich dadurch aus, dass sie ein einseitiges Verhältnis zur Welt haben, weil sie sie verkennen oder gar nicht erkennen. Da etwa das Selbstverständnis der modernen Wissenschaft »auf die Beherrschung des Seienden gerichtet […] und von diesem Herrschaftswillen […] bestimmt«275 ist, ist es nicht in der Lage, dieses Verhältnis als solches – dessen man gerade nicht Herr werden kann – zu erkennen. Wie das metaphysische Bewusstsein, dieses »Herrschaftswissen«276 die Welt zu beherrschen meint und sie dabei verkennt, so wird das Tier von seiner Umwelt beherrscht, weil es sie nicht erkennt. Das selbstreflexive Bewusstsein ist seiner Welt bzw. der Herrschaft der Tradition – zwar aus anderen Gründen, aber – ebenso ausgesetzt. Was aus diesen invers-analogen Richtungslinien der gadamerschen Argumentation bzw. der Gegenüberstellung der (blinden) Bewusstheit des selbstreflexiven Bewusstseins und der Unbewusstheit des Tieres ersichtlich werden kann, ist, dass das hermeneutische Bewusstsein, das das »Wissens des Nichtwissens« und der »Sprachunbewusstheit« konstituiert, in Wirklichkeit in der Kreuzung der beiden ausgeschlossenen und zugleich mit eingeschlossenen Bewusstseinsarten entsteht. Die aufgezeigten Beziehungen lassen sich weder auf einen Gegensatz noch auf eine Analogie reduzieren, und es scheint nicht möglich zu sein, sie in überschaubaren Mustern zu formalisieren. Die Herrschaft der Tradition oder der Geschehnisse des Verstehens lässt sich weder mit der Herrschaft der Umwelt über die Tiere noch mit dem Herrschaftswillen der Wissenschaft identifizieren. Auch der bewusste Verzicht auf die Reflexion des Bewusstseins führt nicht
275 Ebd., S. 454. 276 Ebd., S. 455.
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gleich in den Zustand der Unbewusstheit, sondern zur paradoxen Erfahrung der Erfahrung, in die Mitte der Sprache oder »einer radikalen Negativität, dem Wissen des Nichtwissens«.277 Dieses Nichtwissen und die Sprachunbewusstheit des Sprechens sind wiederum nicht mit der Unbewusstheit des Tieres zu verwechseln, da sie durch eine bewusste Anstrengung ermöglicht werden. Diese bewusste Anstrengung des hermeneutischen Willens bedeutet keine reflexive Bewusstheit, ist kein Herrschaftswille, da sie eine Art von Unbewusstheit anstrebt. Und schließlich: Obwohl der Mensch »die sprachliche Welt« nicht »von oben einsehen« kann und ähnlich wie das Tier in einem »Lebensvorgang« aufgeht, ist er im Gegensatz zum Tier doch in der Lage, sich über seine Umwelt zu erheben, indem er sich »zur Welt«278 erhebt.279 In der Kontamination von Bewusstheit und Unbewusstheit sowie vergegenständlichter Welt und tierischer Umwelt bei Gadamer kann jenes Moment sichtbar werden, ohne das kein Sprechen und kein Verstehen, kein Ereignis der Sprache – weder bei Humboldt noch bei Heidegger – möglich gewesen wäre. Denn das freie und unkalkulierbare Ereignis der Sprache erfordert demnach nicht nur die bewusste Preisgabe der spiegelhaften Reflexion des Bewusstseins, sondern hat, noch bevor man sich entschließen könnte, sich der Sprache bzw.
277 Ebd., S. 368. 278 Ebd., S. 448. 279 »Denn in einer sprachlichen Welt leben, wie man das als Angehöriger einer Sprachgemeinschaft tut, heißt nicht, in eine Umwelt eingelassen sein, wie es die Tiere in ihre Lebenswelten sind. Man kann nicht die sprachliche Welt in entsprechender Weise von oben einsehen wollen.« Ebd., S. 456. Das Eingelassen-Sein in eine Umwelt ist offensichtlich nicht mit der »Sprachunbewusstheit« des Gesprächs zu verwechseln; es gibt ohne Zweifel einen Unterschied, auch wenn man nicht sagen kann, worin dieser besteht. Dazu siehe noch z.B.: »Verständigung als solche bedarf vielmehr überhaupt keiner Werkzeuge im eigentlichen Sinne des Wortes. Sie ist ein Lebensvorgang, in dem sich eine Lebensgemeinschaft darlebt. Insoweit ist die menschliche Verständigung im Gespräch von der Verständigung, die die Tiere miteinander pflegen, nicht unterschieden.« Ebd., S. 450. Zur gadamerschen Idee der Erhebung des Menschen zur Welt siehe das folgende humboldtsche Zitat: »Zum Sprachlaut endlich passt die, den Thieren versagte aufrechte Stellung des Menschen, der gleichsam durch ihn emporgerufen wird. Denn die Rede will nicht dumpf am Boden verhallen, sie verlangt, sich frei von den Lippen zu dem, an den sie gerichtet ist, zu ergiessen, von dem Ausdruck des Blickes und der Mienen, so wie der Gebärde der Hände begleitet zu werden und sich so zugleich mit Allem zu umgeben, was den Menschen menschlich bezeichnet.« W.v. Humboldt: Ueber die Verschiedenheit, S. 428.
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dem Wort des Anderen zu öffnen, ein unbewusst-passives Moment zur Bedingung, das die analysierten Diskurse in der Regel mit der Reaktion bzw. dem Bewusstsein des Tieres in Zusammenhang bringen kann. An diesem Punkt und in diesem Moment, bevor wir zu unseren Anfangsfragen zurückkehren, kann man vielleicht noch einen letzten Umweg über Derrida wagen. Humboldts Umweg – das Hören der eigenen Stimme über den Umweg des Anderen – hat uns zwar gezeigt, dass die unbemerkbare Differenz des Umweges, der Abschweifung und Abweichung immer die Gefahr der irreversiblen Ablösung des Sinnes vom Anfang und Ursprung in sich trägt, jedoch scheint es hier nötig zu sein, jene Schriften Derridas zu Wort kommen zu lassen, ohne die die vorliegenden Zusammenhänge nicht artikulierbar gewesen wären. 4.3.4 Die andersartige Andersheit des Tieres – Derrida Wie schon erwähnt, war es Jacques Derrida, der in seinen Heidegger-Lektüren auf die Problematik des phänomenologischen »Als solches« – auch eine Frage des Hörens – aufmerksam gemacht hat. Diese Problematik hat er nicht nur mit der Phänomenologie des Körpers und der Stimme des Freundes als eines Anderen, sondern auch mit der – auch im Vergleich zum Anderen andersartigen – Andersheit des Tieres in Zusammenhang gebracht. In dem Sammelband, in dem Derrida die Andersheit des Tieres – die Spuren seiner Andersheit – in der philosophischen Tradition verfolgt,280 analysiert er unter anderem auch Die Grundbegriffe der Metaphysik, genauer die drei Thesen von Heidegger (»der Stein ist weltlos, das Tier ist weltarm, der Mensch ist weltbildend«281), und stellt dabei den dadurch entworfenen Begriff der Welt in den Mittelpunkt. In Hinsicht auf den vorliegenden Gedankengang von Bedeutung ist die Perspektive, aus der Derrida zeigt, wie die philosophischen Diskurse, die von Anfang an eine »Auto-Biographie des Menschen«282 schreiben, dem Tier den Gesichtspunkt des »Als solchen«, der Sprache und der Welt sowie alle anderen Unterscheidungsmerkmale nehmen, die mit ihnen zusammenhängen und traditionell den Menschen auszeichnen. Dieser Gesichtspunkt wird von Derrida eindrucksvoll mit dem Blick des Tieres (den die philosophische Tradition in der Regel als ein bloß sichtbares Phänomen präsentiert) und der Möglichkeit des dadurch ausgelösten Schamgefühls konfrontiert. Von diesem Blick, durch den eine konkrete und reale (und nicht bloß mögliche) Beziehung zu einem anderen
280 J. Derrida: Das Tier, das ich also bin. 281 M. Heidegger: Die Grundbegriffe der Metaphysik, S. 261. 282 Ebd., S. 48.
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Lebewesen entsteht, können nach Derrida unter anderem Affekte und nicht kontrollierbaren Reaktionen (wie etwa das Schamgefühl) zeugen, die ihrem Identifizieren als solche vorausgehen und noch vor der Möglichkeit ihrer Reflexion auftreten. Eine solche Beziehung kann natürlich nicht in Bezug auf eine Figur, ein Beispiel des Tieres (oder einer Gesellschaft, Mehrzahl einer Gemeinschaft, einer Rasse, einer Art, einem Geschlecht oder einer Kategorie) entstehen. Deshalb betont Derrida, dass seine Beispiele, wie etwa die Katze, hier keine bloßen Beispiele sind; es geht ihm nicht um philosophische oder literarische Beispiele, die allgemeine Figur der Katze, sondern um eine real und wahrhaftig existierende Katze, oder um ganz genau zu sein: um seine eigene Katze.283 Der Möglichkeit des Gefühls oder Affekts, den der Blick des Tieres auslösen kann, liegt nicht mehr eine aktiv-bildende, sondern eine passiv-(er)leidende »Fähigkeit« zugrunde. Von hier aus gesehen besteht die Aufgabe nicht darin, das Tier mit menschlichen Fähigkeiten zu versehen, ihm diese Merkmale zurückzugeben, sondern im Gegenteil: Das unerwartet auftretende Gefühl der Scham kann vielmehr darauf hinweisen bzw. bezeugen, dass »auch der Mensch, in gewisser Weise«, dieser Fähigkeiten »›beraubt ist‹ – eine Beraubung, die keine Beraubung ist«.284 Diese Perspektiven werden deutlicher, wenn man sich die Frage stellt, inwieweit darin die Erfahrung der Scham symmetrisch oder asymmetrisch ist. Kehrt man die beschriebene Perspektive etwa um (durch eine ähnliche Geste hat auch Gadamer Humboldts Ansicht gewendet), wird man plötzlich mit dem – somit zweifach unwahrnehmbaren – Schamgefühl des Anderen bzw. der Möglichkeit eines Sinnes konfrontiert, den man selbst nur voraussetzen kann. Dies wird von Derrida im ersten Kapitel durch die Aporie der Nacktheit des Tieres demonstriert: Unterscheidet sich das Tier vom Menschen darin, dass es nicht von seiner eigenen Nacktheit weiß, dann lässt sich auch nicht behaupten, dass das Tier nackt ist. Das Tier ist also nicht nackt, weil es nackt ist. Es hat kein Gefühl für seine Nacktheit. Es gibt keine Nacktheit »in der Natur«. Es gibt nur das Gefühl, den Affekt, die (bewußte oder unbewußte) Erfahrung, in der Nacktheit zu existieren. Weil es nackt ist, ohne in der Nacktheit zu existieren, fühlt sich das Tier weder nackt noch sieht es sich nackt. Also ist es nicht nackt. Zumindest denkt man das.285
283 Ebd., S. 23. 284 Ebd., S. 226. 285 Ebd., S. 22.
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Zeichnet sich das Tier durch seine Unbewusstheit aus, lässt sich von ihm noch nicht sagen, dass es nackt ist. Und da der Mensch immer schon im Bewusstsein seiner Nacktheit existiert (das die Bedingung der Kulturtechnik der Bekleidung, aber auch der Sprache, der Geschichte und der Kultur als Technik ist), lässt er sich nicht mehr als nackt betrachten. Somit stehen sich »zwei Nacktheiten ohne Nacktheit«286 gegenüber, zwischen denen die Grenze oder Differenz spaltet, vervielfältigt, verdoppelt und teilt. Dies zeigt zugleich auch den Bruch des Gegensatzes von Tier und Mensch, deutet darauf hin, dass es »zwischen dem, was sich Mensch nennt, und dem, was er Tier nennt«, keine »homogene Kontinuität« gibt.287 Im letzten Kapitel weist Derrida in Bezug auf Heidegger unter anderem auf jene Kontamination hin, in der das Beispiel der Tieres untrennbar mit den Ideen der Zeit, der Endlichkeit und der Welt verflochten wird. Durch die Frage nach dem Verhältnis des Tieres zu seinem Tod wird auch der heideggersche Diskurs vor eine unmögliche Möglichkeit gestellt. Die Frage ist hier wiederum nicht die, ob das Tier dazu fähig ist, sich zum Sein eines Seienden zu verhalten. Denn das Sein-Lassen des Seienden in seinem Sein (der phänomenologische Gesichtspunkt des »Als solchen«) setzt immer noch die Fähigkeit der phänomenologischen Betrachtung voraus.288 Die Frage ist vielmehr, ob der Mensch tatsächlich »über eine Erkenntnisbeziehung zum Seienden ›als solchem‹« verfügt, »solcherart, daß er das Sein des Seienden sein läßt, was es ist, in Abwesenheit jeglicher Art von Absicht, von Lebendem?«289 Die Absage an die biologische Definition des Lebens bei Heidegger schließt auch die Möglichkeit einer – im Sinne von Nietzsche – »›tierliche[n]‹, ›animalische[n]‹ Beziehung«290 zum Seienden aus. Oder auf den vorliegenden Kontext bezogen: Die hermeneutische Kritik der konventionellen Seinsweise der Sprache bewahrt sie zwar vor der Gefahr der Instrumentalisierung und Vergegenständlichung, wodurch sie auch der sprachlichen Erfahrung, diesem unvorhersehbaren Ereignis – aber nur bis zu einem gewissen Grad – Freiheit und Autonomie gewährt, jedoch verschließt sie sich dadurch der Möglichkeit, von »tatsächlichen«,291 unbemerkbar-unbewussten, reflexartigen, im derridaschen Sinne ereignishaften Begegnungen berührt zu werden, denen aber (wie bei Humboldt aufgezeigt) die Fähigkeit des Sprechens zu verdanken ist.
286 Ebd., S. 23. 287 Ebd., S. 56. 288 Ebd., S. 225. 289 Ebd. 290 Ebd., S. 226. 291 J. Derrida, Politik der Freundschaft, S. 42.
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4.3.5 Der Schmerz der Differenz zwischen (Er)leiden und Gewalt Das bei Humboldt rekonstruierte fiktive Ereignis scheint zwar theoretisch auch bei Heidegger nicht möglich zu sein, jedoch schließt Der Weg zur Sprache nicht die Möglichkeit eines solchen unmöglichen Ereignisses aus. Denn während Gadamers (Um-)Weg zur Sprache von Anfang bis zu Ende gesichert zu sein scheint und kaum Gefahren der Diskontinuität birgt, sind es bei Heidegger die Risse des Weges, die das Sprechen nicht nur möglich, sondern zugleich auch unmöglich machen können. Für einen Reisenden ist bei Gadamer die Sprachfähigkeit von Anfang an gegeben;292 er erhält die Sprache nicht erst im fremden Bereich; sie wird ihm nicht von einem Fremden (zum ersten Mal zurück-)gegeben; auch das Fremde kann ihm nicht seine Sprache nehmen oder enteignen; er kann seine Sprache auch im Fremden nicht verlieren. Das Schlimmste, was ihm auf der Reise, unterwegs zur Sprache, in fremden Welten zustoßen kann, ist, dass er schließlich ohne Erfahrungen nach Hause kehrt. Das Hören des Menschen gehört zwar auch bei Heidegger von seinem »unbekannt vertrauten« Wesen her in die Sprache als die Sage (»Diese Hörenden können wir nur sein, insofern wir in die Sage gehören«293). Jedoch wird bei ihm die Wandlung oder das Ereignis des Weges nicht allein in der Erfahrung des Hörens vollzogen, wie dies bei Gadamer der Fall ist294 (bei Gadamer könnte man
292 Wir zitieren erneut die Textstelle: »Wir halten also fest, daß die Sprachgebundenheit unserer Welterfahrung keine ausschließende Perspektivität bedeutet; wenn wir durch das Eintreten im fremde Sprachwelten die Vorurteile und Schranken unserer bisherigen Welterfahrung überwinden, heißt das keineswegs, daß wir unsere eigene Welt verlassen und negieren. Als Reisende kehren wir mit neuen Erfahrungen heim. Als Auswanderer, die nie heimkommen, können wir doch nicht ganz vergessen.« H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 452. 293 M. Heidegger: Der Weg zur Sprache, S. 257. 294 Der Unterschied zwischen der Sprachauffassung von Heidegger und Gadamer würde wohl eine gründlichere Analyse verdienen, umso mehr, da ihre Wege zur Sprache bzw. die Rezeptionsfäden zu Humboldt beinahe untrennbar erscheinen. Dazu trägt unter anderem auch bei, dass die Wahrheit und Methode zwar an einigen Stellen Heideggers späte – einige Jahre vor dem gadamerschen Werk publizierte – Schriften über die Sprache bzw. ihre Schlüsselbegriffe evoziert (»Das ist von jeher schon, vor allem Schriftgebrauch, das wahre Wesen des Hörens, daß der Hörende auf die Sage, den Mythos, die Wahrheit der Alten zu hören vermag.« H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 467), sie aber in einen anderen Zusammenhang stellt. Denn Gadamer versucht sich gerade dadurch von seinem Lehrer zu distanzieren, dass er den
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die Differenz zwischen Denken und Dichten, die sich für den späten Heidegger als entscheidend erweist, im rein harmonischen und spannungsfreien »Mitsprechen«295 des Lesers, im Verhältnis von Text und Interpretation entdecken, das aber letztlich »auf dem paronomastischen Zusammenfallen von ›Sinn‹ und ›Klang‹ beruht«296). Der Weg zur Sprache ermöglicht oder erfordert sogar eine
selbstauslegenden Charakter der Sprache sowie die Dialogizität des Verstehens in den Vordergrund stellt. Vgl. J. Grondin: Von Heidegger zu Gadamer, S. 110. Das Verhältnis zwischen den beiden Sprachdenken wird in der Fachliteratur in der Regel nach thematischen und akzentuellen Verschiebungen bzw. eventuellen »Radikalisierungen« von bestimmten Aspekten, also grundsätzlich als eine homogene Kontinuität interpretiert. Nach Jahraus etwa wird der heideggersche Begriff des Seins bei Gadamer durch den der Sprache ersetzt, der sich aber weiterhin durch seine Ereignishaftigkeit auszeichnet. Vgl: O. Jahraus: Martin Heidegger, S. 222-226. Auch Jean Grondin hebt vor allem die Kontinuität zwischen dem Denken des späten Heideggers und Wahrheit und Methode hervor, auch wenn Gadamer, »anders als sein Lehrer auf dem dialogischen Charakter der Sprache insistier[t].« J. Grondin: Heidegger und Hans-Georg Gadamer, S. 386. Zu diesem Verhältnis siehe noch: O. Pöggeler: Heidegger und die hermeneutische Philosophie, S. 300-306; G. Figal/ H.-H. Gander: »Dimensionen des Hermeneutischen«. Im Gegensatz zu diesen Interpretationen zeigt Robert Bernasconi die Unterschiede in ihrem Verhältnis zur Tradition auf. Während sich Gadamer zur philosophischen Tradition affirmativ verhält und sich aufgrund seines – von dem des heideggerschen unterschiedlichen – Wahrheitsbegriffes ohne Bedenken auf ihre Mitteilungskraft verlässt, zeichnet sich der Standpunkt von Heidegger durch eine grundlegende Ambivalenz aus, insofern bei ihm auch die Diskontinuität eine wichtige Rolle spielt (man muss nur an die Aufgabe der »Destruktion« der »metaphysischen« Tradition denken). R. Bernasconi, Bridging the Abyss. 295 »Literarische Texte sind solche Texte, die man beim Lesen laut hören muß, wenn auch vielleicht nur im inneren Ohr, und die man, wenn sie rezitiert werden, nicht nur hört, sondern innerlich mitspricht.« H.-G. Gadamer: Text und Interpretation, S. 351. 296 Vgl. Z. Kulcsár-Szabó: Az »eminens szöveg« fogalma, S. 170. Hierbei kann sich die Frage stellen, inwieweit die in Text und Interpretation (1983) formulierten Ansichten über die literarische Sprache den Sprachbegriff von Wahrheit und Methode modifizieren. Denn im Fall von literarischen Texten erweist sich auch für Gadamer eine Art von Differenz – zwischen Text und Interpretation – als entscheidend. Welche Effekte diese Differenz – als eine paradoxe Grundlage des literarischen Textes – in der Praxis des Lesens erzeugen kann, hat Zoltán Kulcsár-Szabó in seinem Band über die »Abgründe« der Hermeneutik gezeigt. Diese Differenz meldet sich für Gadamer vor allem in Form eines Widerstands der Materialität des Textes, insofern sich nach
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Perspektive, aus der das Hören als Denken erst durch den blinden und tauben Monolog, »den eigentlichen Weg, die er-eignend-brauchende Be-wëgung, möglich und nötig [wird].«297 Diese Perspektive ist zur Möglichkeit des Ereignisses sowie der »Kehre« unentbehrlich, denn erst von hier aus kann sich die Erfahrung der Wegformel (die aber vielleicht immer nur einem Anderen zugänglich ist) verändern: Im Laufe des Denkweges, am Ende des Weges sind wir noch nicht bei der Sprache angelangt; oder wir sind zwar bei ihr angelangt, aber ohne dass wir diese Erfahrung gesagt, gezeigt, zur Sprache gebracht hätten und somit ihr entgegnet seien,298 sie geschehen gemacht hätten.
seinem Konzept literarische Texte dadurch auszeichnen, dass sie sich im Prozess der Vermittlung oder Interpretation nicht aufheben lassen. »Während bei den nicht eminenten Texten das Dazwischenreden des Interpreten dazu dient, für den Prozess des Kommunikationsvorgangs zum gegebenen Laut eine aktuelle Bedeutung zu vermitteln […], gehören ›Sinn‹ und ›Klang‹ im Fall des literarischen Textes organisch und unzertrennbar zusammen.« Ebd., S. 158. Das performativ wiederholte Wort des Interpreten »offenbart nur durch das Sagen seinen Sinn, es lässt sich also nicht in die Dimensionen von Bezeichnendem und Bezeichnetem bzw. ›Sinn‹ und ›Klang‹ aufteilen.« Ebd., S. 159. Für dieses Zusammengehören von Sinn und Klang ist in diesem Fall, wie Kulcsár-Szabó aufzeigt, nichts anderes, als das Konzept des »inneren Ohrs« verantwortlich. Gadamer unterscheidet literarische und nicht-literarische Texte nach der Art und Weise des Zusammengehörens dieser beiden sprachlichen Komponenten – bei den »textwidrigen« Texten lässt sich diese Einheit nicht aufrechterhalten, insofern sie durch willkürliche Bedeutungszuschreibungen, eine Enteignung des Sinnes gesprengt werden kann. »Angesichts des Zitierens kann jedoch ersichtlich werden, dass die Kohärenz des Systems durch eine seiner eigenen Komponenten bedroht wird.« Wenn auch wegen der nicht-reflexiven Bildung des Wortes der tatsächliche Ablauf dieses Vorgangs unhinterfragbar bleibt, ist es jedoch so, »dass sich die totale Performativität der ›Aussage‹ nicht greifen lässt; die sprachlichen Bedingungen des Zitats und der ›Aussage‹ sind gleich, d.h. es gibt kein sprachliches Merkmal, nach dem man entscheiden könnte, ob ein Text als Zitat oder literarisches Diktat funktioniert.« Ebd., S. 169. 297 M. Heidegger: Der Weg zur Sprache, S. 261. 298 »Die Vereignung des Menschen als des Hörenden in die Sage hat dadurch ihr Auszeichnendes, daß sie das Menschenwesen in sein Eigenes entläßt, aber nur, damit der Mensch als der Sprechende, d.h. Sagende, der Sage entgegnet, und zwar aus dem ihm Eigenen. Dies ist: das Lauten des Wortes. Das entgegnete Sagen der Sterblichen ist das Antworten. Jedes gesprochene Wort ist schon Antwort: Gegensage, entgegenkommendes, hörendes Sagen.« Ebd., S. 260.
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Die Differenz zwischen den zweiten und dritten Ebenen bzw. Wandlungen des Weges als das Moment des Um- oder Übersetzens der Gewalt in eine Kraft wurde sowohl bei Humboldt als auch bei Heidegger aufgezeigt: Einerseits spricht das Sprachwesen dem Hören entsprechend, wie es den Anspruch, den Spruch der Sprache hört. Andererseits ist dieser Spruch nur dank der reißenden Bewegung des Monologs der Sprache zu hören. Das Gesetz dieses Monologs, der aus dem Aufreißen von Hören und Artikulation spricht, gewaltsam und zugleich (da auf ein Hören angewiesen) kraftlos ist, geht immer schon dem Denken voraus. Demnach folgt das Denken immer einer Spur, die vom blinden und tauben sowie gleichgültigen Monolog der Sprache hinterlassen wird. Ohne dieses nicht-archivierbare, nicht-erkennbare Sprachgesetz, das Gesetz des Anderen, ist kein Denken der Sprache, kein Konzept, kein Sprachdenken möglich. Seine ambivalente Stimme, sein doppelter Zug spricht im doppelten Modus: Es ruft und lockt nicht nur, sondern kann auch Schmerz zufügen. Das Sprachwesen, die Züge oder das Sprechen des Anderen verspricht nicht nur die entsprechende Vereinigung von Hören und Artikulation, sondern kann sie auch zertrennen. Aber in welchem Sinne kann beim Aufreißen oder Zertrennen der sinnlichkörperlichen oder konventionellen Verbindung von Hören und Sprechen von Gewalt die Rede sein? Wie kann man zwischen Sprechen und Hören bzw. Gewalt und (Er)leiden unterscheiden? Inwieweit lässt sich die Differenz der beiden wahrnehmen oder spüren? Vom Sichöffnen dieser Differenz als der Wirkung einer fremden Kraft könnte unter anderem der Schmerz als ein phänomenales Zeichen dieser Ereignisse zeugen. Denn ohne das Zeichen des Schmerzes wäre die Gewalt nicht als Gewalt zu erkennen. Der Schmerz kann wiederum nicht nur das Ereignis oder die Ursache des Leidens zeigen, sondern dies – durch eine kognitive Reflexion – auch verursachen. Was sagt darüber Heidegger? Ist die ontologische/sprachliche Differenz durch einen Sinn, einen unserer Sinne, in irgendeinem Sinne zu erkennen? Heidegger analysiert in Die Sprache, im ersten Beitrag von Unterwegs zur Sprache, das Gedicht Ein Winterabend (das als »großgeglückte[s]« Gedicht »Person und Namen des Dichters verleugnen kann«299) von Georg Trakl. Die zentrale Zeile des Gedichts, die darin auch wortwörtlich als Schwelle, als ein das Tor tragender Grundbalken erscheint,300 wird von Heidegger insgesamt fünf Mal wiederholt, getrennt von den anderen Zeilen sowie vom Text: »Schmerz verstei-
299 M. Heidegger: Die Sprache, S. 18. 300 »Die Schwelle ist der Grundbalken, der das Tor im ganzen trägt.« Ebd., S. 26.
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nerte die Schwelle«.301 Ohne hier auf den Text und seine möglichen Kontexte näher einzugehen,302 konzentrieren wir uns auf ein Moment, das sich hinsichtlich unserer Fragestellung als relevant erweist. Heidegger bringt den Begriff des Risses und des Unterschieds nach der zitierten Zeile mit dem des Schmerzes in Zusammenhang.303 Dieser Zeile (die sich von den anderen auch in dem Sinne unterscheidet, dass sie sich aus sich selbst trennt, sich selbst unterscheidet und somit »[e]insam« in bzw. aus der Mitte des Gedichtes »spricht«304) schreibt also Heidegger eine zentrale Bedeutung zu. Es ist nämlich diese durch den Schmerz versteinerte Schwelle, die die Mitte – die Öffnung einer Differenz – hält bzw. trägt und somit auch eine gewisse Berührung der weiteren Gegensätze (etwa von Drinnen und Draußen) ermöglicht.305 Heidegger thematisiert die ambivalente Semantisierbarkeit des Wortes
301 Das ganze Gedicht lautet: »Wenn der Schnee ans Fenster fällt, / Lang die Abendglocke läutet, / Vielen ist der Tisch bereitet / Und das Haus ist wohlbestellt. // Mancher auf der Wanderschaft / Kommt ans Tor auf dunklen Pfaden. / Golden blüht der Baum der Gnaden / Aus der Erde kühlem Saft. // Wanderer tritt still herein; / Schmerz versteinerte die Schwelle. / Da erglänzt in reiner Helle / Auf dem Tische Brot und Wein.« G. Trakl: Gedichte, S. 81. 302 Zu denen auch ein anderer Beitrag des Bandes bzw. die dort analysierte Zeile aus dem Gedicht Nachtlied gehören würde: »Gewaltig ist das Schweigen im Stein.« M. Heidegger: Die Sprache im Gedicht, S. 45. Dieser Beitrag wird von Derrida in seinem Buch Vom Geist – vor allem unter dem Gesichtspunkt des den Geist bezeichnenden sprachlichen Dreiecks (»Geist, geistig, geistlich«) – analysiert. Derrida bringt hier die »Flamme« und den »Schmerz« mit dem Riss – einem sich selbst einschreibenden und versammelnden Zug – in Zusammenhang. J. Derrida: Vom Geist, S. 98132. Zum Zusammenhang von Schmerz und Moralgesetz könnte man auf einen Text von Lacan verweisen (J. Lacan: Die Ethik der Psychoanalyse, S. 76), in dem Lacan – einige Jahre nach dem Erscheinen von Unterwegs zur Sprache – auch die Versteinerung des Schmerzes erwähnt. Auf diesen Zusammenhang macht Michael Schödlbauer aufmerksam: M. Schödlbauer: Psyche – Logos – Lesezirkel, S. 440. 303 Zu diesem Zusammenhang in thematischer Hinsicht siehe noch: P. Emad: Heidegger on Pain. 304 M. Heidegger: Die Sprache, S. 26. 305 »[Der Grundbalken] hält die Mitte, in der die Zwei, das Draußen und das Drinnen, einander durchgehen, aus. Die Schwelle trägt das Zwischen. In seine Verläßlichkeit fügt sich, was im Zwischen aus- und ein-geht. Das Verläßliche der Mitte darf nirgend hin nachgeben. Der Austrag des Zwischen braucht das Ausdauernde und in solchem Sinne Harte. Die Schwelle ist als der Austrag des Zwischen hart, weil Schmerz sie
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»Schwelle« – und zwar durch die Verbform »schwellen« – zwar nicht explizit, jedoch wird seine Interpretation, wenn auch latent, durch diese Ambivalenz geprägt. Die gegensätzlichen Konnotationen des Wortes (eine »Schwellung« ist alles andere als hart) sind wohl der Grund dafür, warum die Härte der Schwelle dann doch einer Erklärung bedarf: »Die Schwelle ist als der Austrag des Zwischen hart, weil Schmerz sie versteinerte. Aber der zu Stein ereignete Schmerz hat sich nicht in die Schwelle verhärtet, um in ihr zu erstarren. Der Schmerz west in der Schwelle ausdauernd als Schmerz.«306 Heidegger hebt die Vergangenheitsform des Wortes »versteinerte« hervor, aber nur um gleich darauf hinzuweisen, dass dieses Wort nicht etwas »Vergangenes, solches, was nicht mehr anwest«,307 benennt, sondern etwas Andauerndes, was gewissermaßen immer noch anwesend ist: »Es nennt Wesendes, das schon gewesen. Im Gewese des Versteinerns west allererst die Schwelle.«308 Dieser immer noch anwesenden Vergangenheit kann man in verschiedener Hinsicht eine Bedeutung zuschreiben. Das ambivalente Verhältnis von Gegenwart und Vergangenheit kann eventuell schon von der vorangehenden Zeile – ihrer Schwelle – her (»Wanderer tritt still herein«) sichtbar werden: Von hier aus gesehen lässt sich nicht entscheiden, um wessen Schmerz es sich handelt, bzw. ob es bei der Versteinerung um einen vergangenen und abgeschlossenen oder gerade passierenden, sich mit dem Eintreten gleichzeitig ereignenden Prozess geht. Ist es der still hereintretende Wanderer, dessen Schmerz die Schwelle formt, dann ist er auch derjenige, der über sich selbst überschreitend, sich selbst aufopfernd die Schwelle bildet und zugleich schafft (Heideggers Interpretation, die die Ereignishaftigkeit der Versteinerung betont, geht jedenfalls in diese Richtung). Liest man hingegen die Zeile von der vorigen getrennt bzw. betont die Vergangenheit, dann scheint es, dass die Versteinerung bereits vollzogen ist, wodurch die Möglichkeit des Eintretens immer schon offen steht. Heideggers Interpretation, nach der also der Schmerz kein vergangener, sondern ausdauernder, andauernder Schmerz ist, kann auch von einem – gleichsam in der Zeile passierenden – sprachlichen Ereignis unterstützt werden. Denn dadurch, dass in der Schwelle das »Schwellen« auch wortwörtlich vorhanden oder anwesend ist, ist auch die »Schwelle« selbst nichts anderes als ein Er-
versteinerte. Aber der zu Stein ereignete Schmerz hat sich nicht in die Schwelle verhärtet, um in ihr zu erstarren. Der Schmerz west in der Schwelle ausdauernd als Schmerz.« Ebd., S. 26-27. 306 Ebd., S. 26-27. 307 Ebd., S. 26. 308 Ebd.
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eignis des Substantiv-Werdens des Verbs. Obwohl die Versteinerung des Verbs zum Substantiv (immer) schon vollzogen ist, erstarrt dadurch das Wort nicht. Denn das Wort, ebenso wie die den Schmerz hart aushaltende Schwelle, kann jederzeit zu einer – somit schon weichen – Schwellung, einer pulsierenden, in Wellen wiederkehrenden, inneren Empfindung, d.h. Bedeutungsprojektion werden. Rückblickend von der Schwelle ist diese nachträgliche Bedeutungszuschreibung eine bloße Projektion. Denn es scheint zwar naheliegend zu sein, dass der Schmerz durch die Schwellung bzw. ihre Stabilisierung und Versteinerung verursacht wird, jedoch bleibt seine eigentliche Ursache – die somit mehrfach unzugänglich ist – unerklärlich. Die Annahme nämlich, dass sich in der Schwelle – eigentlich, wörtlich, in der Tat – eine Schwellung befindet und somit der menschliche Körper selbst zur Schwelle geworden ist, basiert auf nichts anderem als einem zufälligen Zusammenfallen, einer unmotivierten Berührung von Wörtern, einem bedeutungslosen Spiel von Buchstaben, und nicht auf kausalen Verbindungen. Eine anthropologische Interpretation des Schmerzes lehnt zwar auch Heidegger ab, dies tut er aber nicht in Hinsicht auf die semantisch-rhetorischen Beziehungen, die im Gedicht entstehen/sich abbauen, sondern vielmehr in Bezug auf seine eigene Argumentation, um die eventuellen anthropologischen Konnotationen des Zusammenhangs von Schmerz und Riss auszugleichen bzw. diesen vorzubeugen. Nach der Erklärung der Härte des Schmerzes stellt Heidegger die Frage: »Doch was ist Schmerz? Der Schmerz reißt. Er ist der Riß. Allein er zerreißt nicht in auseinanderfahrende Splitter. Der Schmerz reißt zwar auseinander, er scheidet, jedoch so, daß er zugleich alles auf sich zieht, in sich versammelt. […] Der Schmerz fügt den Riß des Unter-Schiedes. Der Schmerz ist der UnterSchied selber.«309 Diese Bedeutung trennt Heidegger gleich von allen Konnotationen, die gleichsam automatisch, reflexartig aufkommen können, ab: »Nur dürfen wir den Schmerz nicht anthropologisch als Empfindung vorstellen, die wehleidig macht. Nur dürfen wir die Innigkeit nicht psychologisch als jenes vorstellen, worin sich die Empfindsamkeit einnistet.«310 Jedoch erweisen sich diese Vorsichtsmaßnahmen in diesem Fall nicht nur als überflüssig, sondern kehrt sich die Situation sogar um: Die semantische Leistung des Textes enthüllt diese häufige Geste Heideggers – die Absage an die Biologisierung des Lebens, die Anthropomorphisierung des Menschen und die Psychologisierung des Bewusstseins – als Teil einer oppositionären Struktur. Denn es ist zwar offensichtlich schwierig, wenn nicht unmöglich, über den Schmerz abgesehen von Empfindun-
309 Ebd., S. 27. 310 Ebd.
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gen zu reden, in diesem Fall aber ist es der Text selbst, der die metaphysische Redeweise über Körper und Bewusstsein destruiert. Hingegen ist es gerade die Interpretation Heideggers, die durch den Begriff des Risses die Idee des reißenden, schneidenden, stechenden Schmerzes, d.h. die anthropologischen Merkmale der Schmerzempfindung assoziiert. Die zitierte Zeile geht also nicht nur über dieses Bedeutungsfeld des Schmerzes hinaus, sondern sie ist es selbst, die die Schmerzempfindung durch ein sprachliches Ereignis ausschaltet. Denn die Grenze oder Schwelle der Zeile bildet auch im buchstäblichen Sinne die Schmerzschwelle (»Schmerz versteinerte die Schwelle«), die durch das Wort »versteinerte« getrennt, gebildet, versteinert – auch in diesem Sinne und somit noch einmal – gezogen wird. Somit hat die Zeile die Schwelle des Schmerzes schon überschritten. Oder genauer: Sie hat sich selbst überschritten, auch in dem Sinne, dass es in ihr der Schmerz selbst ist, wodurch der Schmerz ausgeschaltet wird. Der Schmerz schaltet den Schmerz aus; die durch Schmerz versteinerte Schwelle empfindet durch den Schmerz keinen Schmerz mehr; es ist der Schmerz, der sich selbst versteinert bzw. sich in einen empfindungs-, gefühls- und schmerzlosen Stein verwandelt. Und dies kann offensichtlich nur durch einen Reflex geschehen, der schon von vornherein die Möglichkeit jener Reflexion ausschließt, die nach Heidegger in oder auf die Härte des Steins eine innere Gefühlswelt, Leiden, Selbstmitleid, Wehleidigkeit oder Überempfindlichkeit projiziert. Die Unempfindlichkeit gegenüber dem Schmerz tritt ja bekanntlich gerade infolge der Unerträglichkeit, Untragbarkeit des Schmerzes auf, d.h. in den Fällen, in denen der Schmerz nicht durch eine innere (Selbst-)Reflexion zu verarbeiten ist. Deshalb handelt es sich hier vermutlich nicht um die untere Reizschwelle, sondern vielmehr um die obere Grenze, die Übermacht des Schmerzes. Dass die Schwelle widerstandsfähig gegenüber äußeren oder inneren Einwirkungen – etwa Schmerzen – geworden ist, lässt sich nicht auf eine menschlich subjektive Leistung oder Fähigkeit zurückleiten, anhand derer man im Vorfeld den Schmerz hätte bewältigen und überwinden und sich ihm gegenüber verhärten, oder mit dem Wort Heideggers: verlässlich werden müssen. Das »Verläßliche der Mitte«311 bedeutet zwar auch bei Heidegger keine menschliche Fähigkeit, jedoch lässt sich die Idee des Austragens, Aushaltens und Ausdauerns von solchen Vorstellungen nicht unabhängig machen. Dort aber, wo das Gedicht seinen Ausgang nimmt, nämlich jenseits der Schwelle, ist kein Schmerz mehr zu empfinden; die Schmerzempfindung hört auf, als Unterscheidungsmerkmal zwischen innerer Empfindungswelt und Außenwelt – als Grenze der Identität – zu
311 Ebd., S. 26.
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funktionieren. Dieser tautologisch traumatische Reflex versteinert nicht nur die Empfindungen und die (Reiz-)Schwelle, sondern schaltet auch jene Schutzreflexe aus, die auf einen reißenden Schmerz, einen schneidenden Riss mit Zusammenziehen oder Zusammenschließen reagieren könnten. Deshalb lässt sich nicht entscheiden, ob die Versteinerung der Schwelle, ihr Ereignis, widerstandsfähig oder ganz im Gegenteil: wehrlos macht. Die Grenze wird nirgendwo wahrnehmbar oder spürbar, sichtbar oder hörbar: Wie der auf dunklen Pfaden ans Tor kommende Wanderer die Schwelle des Schmerzes still und unbemerkbar überschreitet, so verweist auch der Stein auf keine Empfindung oder kein Gefühl mehr; er zeigt kein Zeichen von Schmerz, lässt sich nicht mehr als Mensch oder menschlicher Körper erkennen. Jedenfalls ist es dieser versteinerte, tote oder lebendige Körper als Schwelle, der den Wanderer in die Dimension von »reiner Helle« treten lässt, ohne dass die Ursache oder der Ursprung des Schmerzes oder der Schmerz selbst, der all dies ermöglicht, in irgendwelcher Form wahrnehmbar wäre. Der Schmerz des Unter-Schiedes, des Sprachwesens oder des Aufrisses ist kein wahrnehmbarer, bewusster, reflektierbarer Schmerz, man kann ihn weder im wörtlichen noch im anthropologischen Sinne denken (während er von diesen Sinnen wiederum nicht unabhängig ist), aber er lässt sich genauso wenig in einer sprachlichen Übertragung oder einem übertragenen Sinn auflösen. Die obigen Kontexte können erneut durch eine derridasche Analogie miteinander verknüpft werden. Am Ende seiner Heidegger-Lektüre stellt Derrida nach der Stimme des Freundes die Stimme des Opfers in den Vordergrund. Dies tut er nicht nur in dem Sinne und jenem Sinn entsprechend, wie Heidegger dieses Wort gehört/verstanden hat, sondern weist auch auf die idiomatischen Opfer des zwangsläufig gewaltsamen Aktes der Übersetzung oder Interpretation hin, auf Heideggers Opfer und auf Heidegger als Opfer: Der Mittler oder Fürsprecher befindet sich notwendig in der gleichen, ebenso exemplarischen Situation wie der, den für den Augenblick er allein hört und dem er Gehör verschaffen will. In Wahrheit sagt der Mittler stets: »Ich aber bin allein«, Ihr hört mich nicht, wann werdet Ihr mir zuhören, wann werdet Ihr anfangen, mich Heraklit, Hölderlin und einige andere hören zu hören? Wann werdet Ihr sie hören, die Stimme jenes fremdartigen Freundes, den Euer Dasein bei sich trägt, des Freundes-Feindes, der im Herzen einer Feindseligkeit zu euch spricht, aus jener ursprünglichen Feindschaft, die uns auf immer im Guten wie im Schlechten vereint, uns zum Besten und zum Schlimmsten versammelt?312
312 J. Derrida: Heideggers Ohr, S. 492.
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Man kann nicht wissen, wann die Stimme des Freundes, »den jedes Dasein bei sich trägt«, jeder Anstrengung des Verstehens und jedem guten Willen zum Trotz zu einer feindlichen Stimme wird; ob sie die nur für einen Augenblick geopferte Verbindung von Sprechen und Hören, Sprache und Denken wiederherstellt oder willkürlich und zugleich unbewusst verfälscht. Während der Übersetzung/Interpretation hat man nicht nur dafür keine Garantie, dass sich diese Selbstaufopferung des Übersetzers jemals amortisiert, sondern es bleibt auch ungewiss, ob diese mediale Stimme im jeweiligen Anderen überhaupt eine Resonanz findet. Auf unsere Fragestellungen bezogen: Die Bedingung der Sprache und des Verstehens, des Mensch-Werdens des Menschen (seiner Kontinuität mit sich selbst) ist paradoxerweise nichts anderes als die Trennung bzw. Entkoppelung, d.h. eine (wenn auch unmögliche, augenblickliche) Diskontinuität von Sprechen und Denken, Hören und Artikulation. In diesem Ereignis der Differenz (des augenblicklichen Todes) ist man zweifach bzw. in zwei Richtungen und zwei Instanzen ausgesetzt: Die Sprache des Anderen enteignet und beherrscht das Hören und das Sprechen, die Organe und den (somit nicht mehr »eigenen«) Stimm-Körper, der, während er in diesem Nachsagen, dieser Übersetzung oder Wiederholung von sich absieht, sich selbst aufgibt, sich buchstäblich in Differenzen zerreißt, nur einem jeweiligen (vielleicht wiederum anderen) Anderen sichtbar und hörbar wird. Sein Hören und seine Organe sind der Gewalt des Anderen, seine phänomenale Erscheinung, sein Sprechen einem konventionellen Gesetz ausgesetzt. Dies kann nachträglich in Bezug auf Humboldt darauf hinweisen, dass der Andere, der die Lautäußerung und einen Affekt auslöst, einerseits und das Du andererseits, das den Laut mit Bedeutung versieht, miteinander nicht unbedingt identisch (vielleicht zwei Personen oder eine zweifache Person) sind. Aus dieser doppelten Perspektive betrachtet ist man, zwischen Hören und Sprechen oder Sprache und Denken existierend, als sprechend Hörender oder hörend Sprechender sowohl durch sinnlich-organische bzw. mechanisch-reflexartige als auch konventionelle Gesetze des Aufrisses des Sprachwesens geprägt. Ohne die Wiederherstellung der Kontinuität zwischen Sprache und Denken, ohne ihre reflexartige Verknüpfung durch einen Schutzreflex wäre natürlich, von ihrem Erscheinen her gesehen, keine Sprache und kein Denken möglich. Diese sinnliche oder konventionelle Verbindung beruht aber weder auf einem repräsentierbaren oder theoretisierbaren Gesetz noch auf einer organischen Natürlichkeit. Ihre heilende Wirkung steht jedoch außer Zweifel, denn sie verhindert, dass der nicht anthropomorphe, blinde und taube, deshalb den Konsequenzen seiner Tat gegenüber gleichgültige – somit nicht mehr im heideggerschen Sinne verstandene – Monolog der Sprache die eigene Sprache, die Heimatsprache, die Sprache als Heimat oder eben die gewöhnlichen Vorstellungen über die Sprache aufreißt.
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Soziologie Uwe Becker Die Inklusionslüge Behinderung im flexiblen Kapitalismus 2015, 216 S., kart., 19,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3056-5 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3056-9 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3056-5
Gabriele Winker Care Revolution Schritte in eine solidarische Gesellschaft 2015, 208 S., kart., 11,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3040-4 E-Book: 10,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3040-8 EPUB: 10,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3040-4
Johannes Angermuller, Martin Nonhoff, Eva Herschinger, Felicitas Macgilchrist, Martin Reisigl, Juliette Wedl, Daniel Wrana, Alexander Ziem (Hg.) Diskursforschung Ein interdisziplinäres Handbuch (2 Bde.) 2014, 1264 S., kart., 2 Bde. im Schuber, zahlr. Abb. 44,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-2722-0 E-Book: 44,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2722-4
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Soziologie Silke Helfrich, Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.) Commons Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat 2014, 528 S., kart., 24,80 € (DE), ISBN 978-3-8376-2835-7 als Open-Access-Publikation kostenlos erhältlich E-Book: ISBN 978-3-8394-2835-1
Carlo Bordoni Interregnum Beyond Liquid Modernity März 2016, 136 p., 19,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3515-7 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3515-1 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3515-7
Kijan Espahangizi, Sabine Hess, Juliane Karakayali, Bernd Kasparek, Simona Pagano, Mathias Rodatz, Vassilis S. Tsianos (Hg.)
movements. Journal für kritische Migrationsund Grenzregimeforschung Jg. 2, Heft 1/2016: Rassismus in der postmigrantischen Gesellschaft September 2016, 272 S., kart. 24,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3570-6 als Open-Access-Publikation kostenlos erhältlich: www.movements-journal.org
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de